Die Spannweite des Daseins: Philosophie, Theologie, Psychotherapie und Religionswissenschaft im Gespräch 9783737003063, 9783847103066, 9783847003069


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German Pages [440] Year 2014

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Die Spannweite des Daseins: Philosophie, Theologie, Psychotherapie und Religionswissenschaft im Gespräch
 9783737003063, 9783847103066, 9783847003069

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Karl Baier / Markus Riedenauer (Hg.)

Die Spannweite des Daseins Philosophie, Theologie, Psychotherapie und Religionswissenschaft im Gespräch

Für Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld O. Praem

V& R unipress Vienna University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0306-6 ISBN 978-3-8470-0306-9 (E-Book) Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Gedruckt mit Förderung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung in Wien. Ó 2014, 2. veränderte Neuauflage, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Ó bpk, Kanon der Proportionen, Leonardo da Vinci. Venedig, Gallerie dell’Accademia Foto von Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld (rechts): Markus Riedenauer Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Existenzdenken, Ontologie und Theologie Rainer Thurnher Existenzdenken und Ontologie – Rekonstruktion eines Paradigmenwechsels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Friedrich-Wilhelm von Herrmann Fundamentalontologie und Gottesfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Günther Pöltner Sein als Ereignis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hubert Philipp Weber Person als theologischer Begriff. Beiträge aus der Theologiegeschichte zur Entwicklung des modernen Menschenbilds . . . . . . . . . . . . . .

73

Wilfried Grießer Kreuz und Freiheit. Überlegungen zu Hegels »spekulativem Karfreitag« . 101

II. Ethik und Befreiung Arno Böhler Das Gedächtnis der Zukunft. Von der Arch¦ zum Archiv

. . . . . . . . . 121

Branko Klun Anderssein. Ontologische Überlegungen zu L¦vinas’ Ethik . . . . . . . . 139 Hans Schelkshorn Eine Moral der Befreiung? Skizzen zu einem Projekt Jean-Paul Sartres . . 155

8

Inhalt

Ingeborg Gabriel Wozu taugt die Tugend? Überlegungen zur Aktualität der Tugendethik

. 175

Günter Virt Menschenwürde schon vor der Geburt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197

III. Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie Markus Riedenauer Dazwischensein: Kritik der Neugier und Rehabilitation des Interesses . . 213 Reinhold Esterbauer Naturgeschichten. Bemerkungen zu Wilhelm Schapps phänomenologischer Fundierung der Naturwissenschaften . . . . . . . . 231 Franz Lackner OFM Ausloten. Mit Johannes Duns Scotus bis an die Grenzen des Denkens und dann … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Silvano Zucal Zwei Denker des Wortes: Max Picard und Ferdinand Ebner . . . . . . . . 261 Gerd Haeffner SJ »Wort Gottes« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

IV. Therapie, Ästhetik, Philosophie der Schönheit Andrea Moldzio Das Cogito als Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Gerlinde Angelika Schopf Augustinus Wucherer-Huldenfelds Beiträge zur daseinsanalytischen Theorie der Lebensalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Hansjörg Reck Schönheit und Kunst, Glaube und Gebet. Zur daseinsgemäßen Bedeutung von Kunst, Therapie und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Hans Gerald Hödl Die antiästhetische Pointe von Schopenhauers Ästhetik . . . . . . . . . . 337

9

Inhalt

V. Religionswissenschaft, Atheismus- und Spiritualitätsforschung Johann Figl Einheitsreligion oder Vielfalt der Religionen? Eine religionswissenschaftliche und -philosophische Analyse . . . . . . . . . . 355 Karl Baier Buddhistische Entsprechungen zum christlichen Auferstehungsglauben . 367 Regina Polak Atheismus und Spiritualität. Zwischentöne in der religiösen Landschaft . 385 Karl Obermayer U JI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Bibliografie Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld

. . . . . . . . . . . . 421

Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431

Einleitung

Die Festschrift Die Spannweite des Daseins bringt das zentrale Thema der Philosophie von Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld zur Sprache. Sie verdankt sich dem Anlass, dass sich 2009 das Dasein des Jubilars zeitlich über achtzig Jahre erstreckte1 – darum wurde in diesem Jahr ihm zu Ehren an der Universität Wien ein Symposium veranstaltet, auf das die Mehrzahl der in diesem Band versammelten Beiträge zurückgeht. Bevor die verschiedenen Bereiche und Inhalte der einzelnen Arbeiten vorgestellt werden, gehen wir etwas näher auf das im Titel angesprochene Phänomen ein, das nicht aufhört, das Philosophieren des Jubilars in Atem zu halten – und zwar in einem durchaus wörtlichen Sinn. Als Philosoph mit langjähriger Zen-Erfahrung weist Wucherer-Huldenfeld immer wieder darauf hin, dass die Spannweite des Daseins in jedem achtsamen Atemzug leiblich zugänglich wird, insofern man sich ausatmend in eine tragende Tiefe loslässt, aus der man im Zuströmen erneuernder Lebenskraft einatmend weit wird und sich mit der Weite der Welt verbindet. Die so im atmenden Dasein sich eröffnende Spannweite ist nichts Vorhandenes, weder ein abmessbarer Abstand zwischen zwei Punkten noch ein subjektiv-psychisches Weitegefühl, das bisweilen an menschlichen Individuen konstatierbar wäre. Es handelt sich vielmehr um unser eigenes leibliches Anwesendsein als Geschehen von Welt- und Ursprungsoffenheit. Aus der Erfahrung dieses Anwesendseins enthüllt sich das Wesen des Menschen als der uns eigene Lebensodem, als psych¦, deren Grenzen man nach Heraklit (Fragment 45) nicht ausfindig machen kann, welchen Weg man dazu auch beschreiten mag, und von der Aristoteles sagt, sie sei »in gewisser Weise das Ganze des Seienden« 1 Zum Lebens- und Denkweg des Jubilars finden sich im Beitrag von Andrea Moldzio einige Hinweise, wie auch in Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld: Befreiung und Gotteserkenntnis, hg. von Karl Baier, Wien (Böhlau) 2009, 11 – 38 sowie 265 – 272. Bei der Wahl des Titels für den vorliegenden Band ließen wir uns inspirieren von Medard Boss: Von der Spannweite der Seele. Ausgewählte Vorträge und Aufsätze aus den Anwendungsbereichen des daseinsanalytischen Menschenverständnisses, Bern 1982.

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Einleitung

(De Anima, 431b). Die Spannweite des menschlichen Daseins erstreckt sich in den Spielraum des Seienden im Ganzen. Sie ist Offenheit zur Welt. Welt zeigt sich darin von sich selbst her als nach allen Dimensionen des Seins sich erstreckende offene Weite, die allem, was ist, den Zeitraum seines Erscheinens gewährt. Wie schon am elementaren Vollzug des Atmens deutlich wird, lässt sich im Phänomen der Spannweite die Weite nicht von der Tiefe entkoppeln. Bloße Weite ohne Zusammenhalt in der tragenden Tiefe bedeutet eine ebenso erschreckende Bedrohung des Daseins wie das Eingeschlossensein in einer Tiefe, die nicht ins Offene kommen lässt, was sie in sich birgt. Zur Spannweite des menschlichen Lebens gehört nicht nur das Durchmessen des Ganzen des Seienden in seiner Offenbarkeit, sondern auch das Hineinreichen in die und Herausreichen aus der Dimension des sich entziehenden Grundes, der uns angeht, indem er uns und alles Seiende füreinander freigibt. Im praktischen Sinn ist die Spannweite des Daseins der Freiheitsspielraum menschlichen Verhaltens, und es ist eine bleibende Aufgabe, diesen Spielraum von seinen jeweiligen Beeinträchtigungen und Verstrickungen zu befreien. Er ist nie etwas fertig Gegebenes, sondern manifestiert sich jeweils als befreiende Öffnung des Menschen aus sozialer, ökonomischer und emotionaler Beengung. Als Grundtugend steht die offene Weite des Daseins darüber hinaus für das immer wieder einzuübende Leersein von egozentrischen Interessen und für das Offensein für das aktive Seinlassen des Seienden, das jeweils im Offenen der Welt begegnet. Augustinus Wucherer-Huldenfeld hat in einer großen Anzahl von Beiträgen gezeigt, wie sich von den skizzierten Grundzügen einer Phänomenologie der Spannweite des Daseins aus mannigfaltige Wege in die verschiedenen Bereiche des Philosophierens bahnen lassen: in die Ontologie, die das in der offenen Weite und Tiefe sich erschließende Sein bzw. Nichts weiter expliziert, ebenso wie in die philosophische Theologie und Religionsphilosophie als explizites Bedenken der Ursprungsdimension dieses Seins und des menschlichen Verhaltens zu ihr ; in die philosophische Anthropologie, die das Wesen und die Personalität des Menschen zur Sprache bringt, in die Sprachphilosophie und Erkenntnislehre sowie in eine Philosophie des Schönen. Die Bedeutsamkeit dieses Ansatzes für die Ethik und für Grundlagenfragen der Psychotherapie liegt auf der Hand. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes durften etwas von der Weite und Offenheit spüren, die Augustinus Wucherer-Huldenfeld nicht nur philosophisch reflektiert, sondern auch lebt und im lebendigen Gespräch auf inspirierende Weise vermittelt. Dazu gehört, dass ihm die Bildung einer philosophischen Schule und die Zementierung von Lehrmeinungen nie ein Anliegen war. Er hat stets ein offenes Ohr für Andersdenkende und ermutigte uns und viele Generationen von Studierenden, eigene Wege zu finden und zu gehen. So bewegen sich die Aufsätze auf ganz unterschiedliche Weisen und von verschiedenen

Einleitung

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Voraussetzungen ausgehend in derselben Gegend, wo der Jubilar zuhause ist: in der offenen Spannweite des Daseins. Im I. Teil »Existenzdenken, Ontologie und Theologie« zeigt Rainer Thurnher zunächst, dass das Existenzdenken keine philosophische Modeströmung am Beginn des 20. Jahrhunderts mit einer rasch überwundenen subjektivistischen Blickverengung war, sondern einen nachhaltigen Paradigmenwechsel der Ontologie initiierte, indem es den Menschen in seinen Bezügen zur Welt und zu Mitmenschen dachte. Erstens wurde die menschliche Existenz als eine spezifische und irreduzible Seinsweise bestimmt, die von den Seinsweisen von Dingen oder Ideen grundverschieden ist. Zweitens wurde dadurch die traditionelle Ontologie mit ihrem Zugang über die theoretische Vergegenständlichung kritisierbar. Der Beitrag Existenzdenken und Ontologie – Rekonstruktion eines Paradigmenwechsels erläutert die »Weisen des Umgreifenden« von Jaspers sowie das »In-der-Welt-Sein« und »Mit-Sein« Heideggers als Grundzüge eines existenzbasierten Seinsverständnisses, welches auch für das Denken von Augustinus Wucherer-Huldenfeld und für die Daseinsanalyse fundamental ist. Die ontologische Differenz wurde aus existenzieller Erfahrung begriffen, der aber ausgewichen werden kann, um Erfahrungen des Nichts zu entgehen. Das bildet eine Brücke zu den therapeutischen Anliegen der Daseinsanalyse, ebenso wie Thurnhers Darlegung der verschiedenen Erweiterungen des Paradigmenwechsels bei Sartre und L¦vinas die Verknüpfung mit ethischen Reflexionen (insbesondere in den Beiträgen von Branko Klun und Hans Schelkshorn) bildet. Auch mögliche Verbindungen zur Theologie werden im ersten Beitrag im Zusammenhang mit L¦vinas bereits angedeutet. Anschließend thematisiert Friedrich-Wilhelm von Herrmann explizit den Zusammenhang von Fundamentalontologie und Gottesfrage. Dafür werden die ersten Anfänge von Heideggers Denkweg rekonstruiert, wo die Suche nach einer »Philosophie des lebendigen Lebens«, später als existierendes Dasein ausgelegt, im Horizont der Gottesfrage steht. Von Herrmann zeichnet nach, wie die Nachkriegs-Vorlesungen die Vorläufer der Existenzialien von Sein und Zeit entwickeln und mit ihrer Hilfe die »wahrhafte Idee der christlichen Philosophie« suchen, indem die »Verunstaltung« durch die griechische Metaphysik aufgedeckt und überwunden wird. Dann aber distanzierte sich Heidegger programmatisch und methodisch von der Gottesfrage. Vor dem Hintergrund dieser Herausforderung wird schließlich der Vortrag »Phänomenologie und Theologie« von 1927 als eine differenzierte Verhältnisbestimmung von Theologie als positiver Offenbarungswissenschaft und hermeneutisch-phänomenologischer Philosophie als Analytik des Daseins

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Einleitung

gedeutet, welche der Auslegung des gläubigen Existenzmodus wesentliche Grundbegriffe und damit eine Mit-Leitung (Korrektion) bietet. Eine »christliche Philosophie« ist demnach in einem bestimmten Sinn unmöglich, wurde in einem anderen Verständnis aber von Heidegger selbst grundgelegt. Günther Pöltner bahnt einen Denkweg, der von der Grund-Erfahrung von Sein als Ereignis zu einem daseinsgemäßen Verständnis von Zeit und Schöpfung führt und somit die Möglichkeit einer christlichen Philosophie, wie sie Augustinus Wucherer-Huldenfeld entfaltet, vorführt. Das Erkennen und Anerkennen der höchst staunenswerten Erfahrung, dass uns Sein gegeben wird, mit immer neuen Möglichkeiten, Gutes zu vollbringen, erschließt den Ursprung unseres Seins und aller Seienden. Acht zu haben auf unser Dasein als normalerweise unthematische, weil nicht fest-stellbare Offenheit lässt den grundlegenden Weltbezug sehen, in dem Mitteilung und Mitsein möglich sind – weil Menschen angesprochen und in Anspruch genommen sind, nicht allein und nicht zuerst voneinander, sondern in vorgängiger Weise vom Sein. Eine ausgezeichnete Weise, dies zu erfahren, ist die Zeit: Zeit, die uns gegeben ist und ständig gegeben wird, solange wir da sind. In dieser Zeitgabe gründet das Zeithaben, in einem Frei-gegeben-Sein in die Freiheit, etwas zu vollbringen, wofür wir uns Zeit nehmen. Wer versteht, dass sich das Sein des Seienden als Gabe ereignet, kann nach dem Vonwoher fragen. Phänomenal erscheint der Ursprung der Seinsgabe als Nichts, hinter dem Geben erscheint kein bewirkendes Seiendes. Aus diesem abgründigen Ereignis wird der biblische Schöpfungsgedanke erläutert und von ontischen Missverständnissen befreit. Ob der Bezug zum Grund des Daseins als ermöglichend und befreiend erfahren wird oder als Last oder gar Zwang, hängt schließlich auch von den persönlichen Erfahrungen mit Anderen ab. Wem diese schwerwiegend defizient waren, dem kann der Weg der Daseinsanalyse helfen, von der Unfreiheit zu einer Selbst- und Seinsannahme zu gelangen, die von Dankbarkeit für die Gabe des Seins geprägt ist. Die folgenden zwei Beiträge gehen weiter in die Geistesgeschichte zurück. Eine Verbindung von philosophischer Begrifflichkeit mit theologischen Interessen, die auf dem Gebiet der Anthropologie bis heute weiterwirkt, rekapituliert Hubert Philipp Weber. Person als theologischer Begriff. Beiträge aus der Theologiegeschichte zur Entwicklung des modernen Menschenbilds setzt bei den theologischen Diskussionen der afrikanischen und kappadokischen Kirchenväter an, die vor der Herausforderung standen, einen Begriff zu entwickeln, der sowohl die Unterschiedenheit von Vater, Sohn und Geist im einen Gott als auch die Einheit und Verschiedenheit der beiden Naturen Christi und das Wesen von Engeln und von Menschen umfassen kann. Ausgehend von Boethius über

Einleitung

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Richard von St. Victor bis zu den Magistern des 13. Jahrhunderts wurden drei Definitionen erarbeitet, die entweder einen substanztheoretischen, einen relationstheoretischen oder einen dynamischen Aspekt hervorhoben. Alexander von Hales führte diesen ein Jahrtausend umspannenden Diskurs zusammen, dessen Ertrag für Trinitätstheologie und Christologie sowie für den anthropologischen Personbegriff von Weber herausgearbeitet wird. In Bezug auf Letzteren kommt die Neuerung Alexanders zum Tragen, über Individualität und Selbststand sowie Bezüglichkeit der Person hinaus ihre Befähigung zu betonen, selbst handeln zu können und sich als moralisches Wesen selbst zu bestimmen. Darin liegt die Würde menschlicher Existenz und Personalität. Eine weitere spezifische Verknüpfung von philosophischer Reflexion und christlicher Theologie analysiert Wilfried Grießer. Kreuz und Freiheit. Überlegungen zu Hegels »spekulativem Karfreitag« rekonstruiert Hegels Denken des Kreuzes in einer »orthodoxeren« Weise, als Interpretationen für möglich erachten, die ihm eine spekulative Entgeschichtlichung, eine pantheisierende Entpersönlichung oder eine Negation göttlicher Freiheit unter der dialektischen Notwendigkeit vorwerfen. Ausgehend von der Grundintention des deutschen Idealismus, die Aufklärung vor einer selbstzerstörerischen Missachtung von Religion, von Anderssein und Freiheit zu bewahren, analysiert Grießer die Rede vom Tod Gottes beim frühen Hegel als Bedingung für die Anerkennung des Anderen und für die Auferstehung gestalthafter, menschlicher Freiheit. Besonders die Phänomenologie des Geistes korrigiert das Anhaften von Religion an Vorstellungen und ihren Weltbildcharakter, der dem Ausweichen vor der eigenen Sterblichkeit wie auch vor Auferstehung dienen kann. Vertiefende Anfragen an die hegelsche Deutung vom Tod Gottes arbeiten den Ereignis- und Gabecharakter von Freiheit und ihren grundlosen Grund in der Liebe heraus. Vor allem erscheint Hegel in dieser Interpretation als Kritiker und Überwinder einer abstrakten Gottesvorstellung, welche die freie Bewegung Gottes auf den Menschen hin, die christliche Kernwahrheit der Inkarnation, nicht zureichend berücksichtigt. Menschwerdung jedoch endet nicht vor dem Kreuz, sondern hat durch diese zeitlose, freie Selbstpreisgabe ihr telos in der Freiheit des Menschen, der notwendigen Versöhnung, dem menschlichen Heil. In den II. Teil, der sich der philosophischen und theologischen Ethik und Moral widmet, führt Arno Böhler mit einer Reflexion auf die ursprüngliche Doppelbedeutung von ethos als Wohn- und Aufenthaltsort und als Sitte, die einen in der Zukunft persönlich zu erfüllenden Anspruch stellt. Dabei kommt auch die – im griechischen Sinn – politische Dimension des Ethos zur Sprache. Das Gedächtnis der Zukunft. Von der Arch¦ zum Archiv setzt naheliegenderweise bei Aristoteles an – allerdings nicht in dessen praktischer Philosophie, sondern in der Physik. Denn alle Wissenschaft muss ein Streben nach der arche sein. Die

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Prinzipien der physis sind aber nicht formalistisch als Bedingung der Möglichkeit von natürlichen Ereignissen engzuführen, sondern enthüllen sich nur als operative Prinzipien, die von der Natur ohne Wissen »befolgt« oder umgesetzt werden. Der Mensch hingegen, jeder einzelne, muss sich selbst zu einer Befolgung bestimmen, und das in einer Gemeinschaft, deren Lebensprinzipien und Regeln festgehalten sind. Der spezifische Charakter von handlungsleitenden Prinzipien bedingt eine zeitliche Kluft zwischen Anspruch und Erfüllung und erfordert damit eine Aufbewahrung und geregelte Zugänglichkeit der Normen – in einem Archiv. Der mithilfe von Derrida erhobene Zusammenhang von Archiv und arche zeigt eine Verschränkung von Topologischem und Nomologischem. Nur so funktioniert ein Gesetz. Das notwendige »Gedächtnis der Zukunft« gewinnt im jüdischen Beschneidungsritus eine Verortung am (männlichen) Leib. Die physische Markierung eines mit der göttlichen Glücksverheißung verbundenen ethischen Anspruchs hat also weit mehr als nur ethnische Bedeutung. Eine andere Verhältnisbestimmung von »theoretischer« und »praktischer« Philosophie behandelt Branko Klun. Anderssein. Ontologische Überlegungen zu L¦vinas’ Ethik wählt dessen Provokation als Ausgangspunkt, die einem Hauptwerk den Titel gab: den Versuch, »jenseits des Seins« zu denken und ausgehend von der nicht einholbaren Andersheit des anderen Menschen die Ethik als erste Philosophie zu etablieren. Klun rekonstruiert L¦vinas’ Verständnis von Transzendenz und seine phänomenologische Analyse der zwischenmenschlichen Begegnung, um zu prüfen, ob seine Opposition gegen die Ontologie nicht in einen Dialog mit ihr verwandelt werden kann – so aber, dass die ethische Spannung in ihr selbst einen Ort erhält. Das heißt, die Asymmetrie der Begegnung von Angesicht zu Angesicht, in der sich der Andere dem intendierenden Akt immer entzieht und transzendent bleibt, muss neu gedacht werden. Der vom Antlitz ausgehende ethische Anspruch geht mit einer Ohnmacht des eigenen Verfügenwollens einher und bricht den nach L¦vinas letztlich egozentrischen, imperialistischen, die Andersheit negierenden Seinshorizont auf. Dagegen rehabilitiert Klun im Anschluss an Heidegger das phänomenologische Verstehen und Verstehen-Sollen als Offenheit gerade für die Andersheit des Anderen. Es widerspricht nicht (notwendigerweise) der Verantwortung, sondern soll Antwort auf den Anspruch des Anderen sein. Das ist ein mithilfe von L¦vinas’ Kritik gewonnenes verwandeltes, ein responsorisches Verständnis von Verstehen. Schließlich will und muss auch Verantwortung in ihrer ontologischen Grundstruktur verstanden werden. Vom Anderen in Anspruch genommen zu sein, muss auch eingesehen werden können. Mit den Grenzen einer enggeführten Ontologie ringt auch Sartre, ohne mit einem gewagten Sprung in ihr Jenseits die Ethik im Sinne eines nicht verein-

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nahmenden, sondern befreiend sein lassenden Zu- und Umgangs zu retten. Vielmehr wurde seinen Versuchen und unvollständigen Skizzen für eine Moralphilosophie attestiert, mit der bewusstseinsphilosophischen Ontologie von Das Sein und das Nichts unvereinbar zu sein. Jedoch lassen sich in seinem Werk Ansätze für eine Moral der Befreiung finden, wie Hans Schelkshorn in seinen Skizzen zu einem Projekt Jean-Paul Sartres zeigt. Was Sartre unter dem Stichwort der Authentizität suchte, war eine befreiende Entfremdung von der dreifachen Entfremdung des freien Subjekts durch seine Natürlichkeit, seine Gedeutetheit und seine Objektposition im Blick des Anderen. Angeblickt zu werden, war ihm nicht wie für L¦vinas ein not-wendiger Appell zur Selbstlosigkeit, sondern eine radikale Gefährdung des Selbst – keine Chance zur Freiheit vom vereinnahmenden Ego, sondern ein Zwang in die Unfreiheit. Schelkshorn zeigt, dass für Sartre ein freies, nämlich selbstschöpferisches Selbstverhältnis des Menschen nicht notwendigerweise eine dogmatische Ablehnung des Schöpfergottes voraussetzt, insoweit in der Renaissance Geschöpfsein und Freisein zusammengedacht werden konnten, während der faktische Atheismus die Herausforderung der Selbstbestimmung verschärft. In einem zweiten Schritt werden »Appell« und »Engagement« als Ansätze zu einem gleichzeitig freien und befreienden Verhältnis zu Anderen gedeutet. Wenn sowohl die Begierde, Gott zu sein, wie auch eine von den konkreten Handlungssituationen und Beziehungen entfremdende Universalität des moralischen Anspruchs (als säkularer Infinitismus) aufgegeben werden, wird befreiendes Engagement möglich. Die Kritik am Kolonialismus in der Sartre korrigierenden Fortschreibung der lateinamerikanischen Philosophie der Befreiung ist ein Beispiel dafür. Im ersten der zwei Beiträge aus der theologischen Ethik beantwortet Ingeborg Gabriel die Frage: Wozu taugt die Tugend? In der Neuzeit wurde unter der Leitidee einer Konstruktion der Gesellschaft, ihrer Strukturen und Normen die Tugendethik weitgehend vernachlässigt, was sich auch in einer Akzentverschiebung der thomistischen Ethik hin zum Naturrecht zeigt. Im Rahmen einer jüngeren Renaissance der Tugendethik verteidigt Gabriel die Notwendigkeit ihres personalen Zugangs als Basis sowohl für die individuelle Normenethik als auch für die Sozialethik. Denn die begriffliche Verarmung des moralischen Diskurses erscheint als schlimmer als der praktische Werteverfall, ja als dessen Grund. Demgegenüber ist mit Martha Nussbaum an einer Universalität wenigstens der allgemeinen menschlichen Erfahrungsbereiche, in denen Tugenden zu einem geglückten Leben und Zusammenleben helfen, festzuhalten. Der personale Aspekt einer Selbstentwicklung auf Glückseligkeit hin wurde vor allem von Thomas von Aquin herausgearbeitet, überdies mit einer überzeugenden Syste-

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Einleitung

matik des Zusammenhangs verschiedener Tugenden. Aktuell bedeutend ist die Tugendethik nicht zuletzt darum, weil sie anschlussfähiger ist an außereuropäische Ethosformen und religiöse Ethiken. Günter Virt stellt eine Kernfrage im gegenwärtigen bioethischen Diskurs, den er als langjähriges Mitglied der Europäischen Ethikkommission bestens kennt: Menschenwürde schon vor der Geburt? Er beantwortet sie im Rückgriff auf Augustinus Wucherer-Huldenfelds Überlegungen zu einer pränatalen Anthropologie positiv, ohne die prinzipiellen Schwierigkeiten einer Datierung des Beginns des individuellen menschlichen Daseins zu ignorieren. Gegen rechtspositivistische, empiristische und bewusstseinsphilosophische Fehlinterpretationen der Menschenwürde ist jedes Mitglied der Menschheit in seiner Würde zu achten und zuvorkommend zu schützen. Diese Anerkennung ist die Basis für die Menschenrechte, die Freiheits- und Sozialrechte. In tragischen Fällen, wie zum Beispiel bei der Problematik des Umgangs mit nicht mehr erwünschten kryokonservierten menschlichen Embryonen, kann eine Abwägung von Rechten gegeneinander unumgänglich sein, wobei die Menschenwürde ohne Graduierung den Maßstab geben muss, als Würde des einen ganzen Menschen, der im Laufe verschiedener Lebensphasen kein anderer wird. Das eigene personale Selbstsein verdankt sich schließlich immer und von Anfang an dem Dasein Anderer, wie die ursprüngliche Erfahrung zeigt – der starke Grund dafür, das Dasein jedes Menschen auch vor der Geburt zu würdigen. Die theologische Interpretation des Menschen als Ebenbild Gottes und seiner Erlösung in Christus ersetzt nicht die philosophische Argumentation, bestärkt aber die Verteidigung besonders der Schwachen und Gefährdeten – in diesem Fall der Menschen vor der Geburt. Der III. Teil »Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie« hebt an mit einer fundamentalontologischen und anthropologischen Reflexion auf den Grund des menschlichen Wissensstrebens, die diesen Teil mit dem ersten verknüpft. Da das Thema der Neugier von Blumenberg im Zuge seiner Legitimierung der Neuzeit in starker Weise besetzt worden ist, beginnt Markus Riedenauer mit einer Auseinandersetzung damit und zugleich mit der klassischen Kritik der Neugier in der Stoa, bei Augustinus und mittelalterlichen Denkern. Dazwischensein: Kritik der Neugier und Rehabilitation des Interesses zeigt, dass Blumenbergs Rehabilitierung der theoretischen Neugierde das methodische, systematische und kollektive Wissensstreben der neuzeitlichen Wissenschaft im Auge hat und am existenzialen und individualethischen Kern der klassischen Neugierkritik vorbeigeht. Diese erscheint aber angesichts des gegenwärtigen Chancenreichtums, im Verfallen an die Welt sich selbst zu entfliehen und in »uneigentlicher« Weise zu existieren, durchaus aktuell. Das Gefährliche daran ist ein Verdecken und Verschütten des tiefsten Grundes für menschliches Wissen-Wollen, der

Einleitung

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auch für eine verantwortete Wissenschaftspraxis und eine Reduktion der Risiken, die den gegenwärtigen Bedingungen von Wissensproduktion inhärieren, wichtig ist. Nach Kierkegaard existiert der Mensch im Modus eines Zwischen-Seins oder Inter-esses, er hat sich selbst durch das Ergreifen und Verwirklichen von bestimmten Möglichkeiten zu wählen. Daraus folgt, dass seine Interessen nicht nur zu viele und fehlgeleitet sein können, sondern auch zu wenig ausgeprägt. Sie sollen Formen des Antwortens auf Sich-Zeigendes sein, das den Menschen anspricht, interessiert, herausruft zum verstehenden Übereinkommen mit der Wirklichkeit – aufgrund eines fundamentalen, aber der Pflege bedürftigen Offenstehens, das die Spannweite des Daseins als Da-zwischen-Sein ausmacht. Im Spannungsfeld von wissenschaftlicher Erkenntnis und Theoriebildung einerseits und personalem Zugang zur Welt andererseits, navigiert auch Reinhold Esterbauer : Seine Naturgeschichten. Bemerkungen zu Wilhelm Schapps phänomenologischer Fundierung der Naturwissenschaften rekonstruieren die Phänomenologie des Juristen und Philosophen, die in aktuellen Debatten über das Verhältnis von naturwissenschaftlicher Dritte-Person-Perspektive und lebensweltlicher oder philosophischer Erste-Person-Perspektive einen Beitrag liefern kann. Unter der Annahme, dass keine vermittelnde dritte Perspektive in Sicht ist, gewinnen Schapps Argumente dafür an Gewicht, dass der primäre und fundierende Zugang zur Welt der Sinnzusammenhang ist, der von Geschichten gebildet wird. Erst wo diese eliminiert werden und damit auch Leiblichkeit und Vollzüge des Umgangs mit den »Wozudingen«, entsteht Materie als Grundkategorie der abstrakten Welt der Naturwissenschaften. Allerdings gelingt diese Abstraktion nur scheinbar – um Atome oder Lichtjahre entfernte Sternsysteme verständlich zu machen, muss immer wieder auf den primären GeschichtenHorizont zurückgegangen werden. In ihm sind Dinge raum-zeitlich so nahe, dass sie gegenständlich werden, indem sie sich zeigen, was Schapps spezifischer Wahrnehmungsbegriff beschreibt. Esterbauer thematisiert Ähnlichkeiten mit und Unterschiede zu Heideggers Bewandtnis-Zusammenhang, der sich seinerseits von Husserls Phänomenologie emanzipierte, aber auch kritische Anfragen an Schapps handwerklich geprägte Welt der Wozudinge, die ja selbst durch die Entwicklung von alltäglich genutzter Technik eine Geschichte durchmacht. Das Erkennen-Wollen des Menschen gerät auch in anderer Weise an eine Grenze – beim Versuch, Gott zu denken. Bischof Franz Lackner OFM widmet sich dem in Ausloten. Mit Johannes Duns Scotus bis an die Grenzen des Denkens und dann … Er gibt einen Überblick über die Wirkungsgeschichte scotistischen Denkens, welche lange Zeit den Zugang zu Duns Scotus ebenso erschwerte wie die Subtilität seiner Begriffsdistinktionen. Dann zeigt er die Bedeutung des großen mittelalterlichen Theologen und Philosophen als einem, der die epochale

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Herausforderung für die Theologie als Wissenschaft durch den Aristotelismus erkannte. Von daher versteht sich sein erkenntniskritischer Ansatz, seine Unterscheidungen von intuitiv aufnehmendem Erfassen und bestimmendem Begreifen sowie von natürlicher und übernatürlicher Erkenntnis. Lackner erläutert die drei ersten Objekte in den Ordnungen des Ursprungs und Werdens, der Angemessenheit und der Vollkommenheit. Für die Gotteserkenntnis ergibt sich daraus ein metaphysischer Minimalbegriff Gottes als unendlich Seiendes, der seinen Erkenntnisanspruch bewusst beschränkt, um der absoluten Transzendenz und Freiheit Gottes Raum zu geben. Silvano Zucal vergleicht im engen Anschluss an die Primärtexte Zwei Denker des Wortes: Max Picard und Ferdinand Ebner. Beide gehen davon aus, dass »das Wort« ursprünglich zum Menschen gehört, vor aller Sprachentwicklung und individuellem Spracherwerb. Vernehmende Vernunft als Sinn für das Wort unterscheidet denn auch den Menschen vom Tier, weil sie Tieferes ist als verständiges Einordnen- und Beherrschen-Können des Realen, zu dem auch das Gebrauchen-Können toter Wörter gehört. Das Wort gründet in der ursprünglichen schöpferischen Ansprache Gottes, die im Schweigen bewahrt ist und im zwischenmenschlichen Dialog bewahrheitet wird. Wo dies vergessen wird, driftet, wie vor allem Picard betont, das vom Schweigen losgelöste Wort ab, verdirbt, wird missbraucht und degeneriert zum Geräusch. Für Ebner entbirgt nur ein pneumatologisches Verständnis des Wortes seine befreiende Kraft, die Mensch und Mensch sowie Gott und Mensch in Einheit mit der Liebe verbindet. Folgerichtig kulminieren die Reflexionen beider Denker über das Wort in einer Christologie des Wortes. Daran schließt Gerd Haeffner SJ mit seinen theologischen Überlegungen zum »Wort Gottes« an. Sein Ziel ist, der Gefahr zu begegnen, dass eine unkritische, formelhafte oder gedankenlose Bezeichnung biblischer Geschichten oder einzelner Verse als »Wort Gottes« obsolete historische Ideen sakralisiert und so das Gottesbild verfremdet. Er zeichnet die Entwicklung der Verwendung des Ausdrucks im ersten Bund nach, vom prophetischen Botenwort über den Dekalog des Mose und Deutungen von Wind, Naturordnung sowie Schöpfung insgesamt. Aus christlicher Sicht ist in Jesus Christus als Selbstaussage Gottes das göttliche Wort unüberbietbar ausgesprochen, was alle früheren wie auch späteren »Worte Gottes« relativiert, also in einen neuen Bezug und begrenzten Sinn einweist. Angesichts dessen, dass die Erkenntnis moralischer Normen heute nicht mehr direkt eines expliziten göttlichen Sprechens bedarf, dass vielmehr ein Schweigen Gottes erfahren zu werden scheint, fragt Haeffner nach den Konsequenzen für Gott suchende Menschen. Gott kann in der Stille zu hören sein, in der Sprache der Wirklichkeit wie auch im Hören auf die Heilige Schrift im Rahmen einer personalen, meditativen Aneignung dessen, was Wort Gottes für

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den Einzelnen in seiner Situation sein möchte, um Glauben, Hoffnung und Liebe hervorzurufen. Die antike Philosophie hatte den Anspruch, zu einem gelingenden Leben zu führen und durch Überwindung falscher Einstellungen und Haltungen zu heilen: therapeuein. Dieses Ziel übernahm ab Sigmund Freud die Psychotherapie als Wort-Kur, deren Weiterentwicklung aber teilweise wieder bewusst an die Philosophie des 20. Jahrhunderts anknüpfte. Existenzdenken, Phänomenologie und Fundamentalontologie boten sich dafür an. So ist es der Sache nach folgerichtig und dem Werk von Augustinus Wucherer-Huldenfeld angemessen, im IV. Teil dieser Festschrift neben Beiträgen aus der philosophischen Ästhetik Aufsätze anzuschließen, welche die Fruchtbarkeit der philosophischen Reflexion vor allem für die Daseinsanalyse dokumentieren. Andrea Moldzio stellt vor dem Hintergrund ihrer therapeutischen Erfahrung mit Schizophrenie die Frage nach der Identität des Ich, die von den methodischen Zweifeln eines Descartes gefährdet erscheinen kann, insofern Schizophrenie und cartesischer Zweifel zu einer Ent-Subjektivierung führen. Das Cogito als Krankheit beginnt, wie es zum individuellen Zugang der Psychotherapie passt, mit einem Blick auf das 80 Jahre umfassende Leben des Jubilars. Aus der Perspektive der ersten Person sind tiefe Ich-Störungen, Verunsicherungen von Selbst und Welt nicht mit der cartesischen Methode der Selbstvergewisserung aus dem Denken zu heilen. Mit Fichte und Lichtenberg ist zu fragen, ob man nicht statt »ich denke« richtiger »es denkt« sagen müsste und der Empfehlung anderer Autoren folgen, auf das Ich begrifflich zu verzichten. Das macht ebenso wie der schizophrene Verlust der Fähigkeit, Gedanken sich selbst zuzuschreiben, deutlich, dass das Selbst-Bewusstsein nicht einfach mitgegeben, sondern aufgegeben ist. Das menschliche Dasein vollzieht sich auch nicht in der Abstraktion einer homogenen Selbstidentität, sondern in Lebensphasen. Die auf Kinder-, Jugendund Alters-Psychiatrie spezialisierte Ärztin Gerlinde Angelika Schopf untersucht deshalb Augustinus Wucherer-Huldenfelds Beiträge zur daseinsanalytischen Theorie der Lebensalter. Damit würdigt sie dessen philosophische Fundierung und Klärung der Psychotherapie, konkret das Verstehen der Lebensalter in einem ontologischen Horizont der Zeitlichkeit, der das Dasein als Ganzes umgreift. In diese Richtung haben bereits Romano Guardini und einige daseinsanalytische Autoren gedacht. Wichtig ist, die chronologische Vorstellung von linear aufeinander folgenden Phasen zu überwinden und in der Einheit und Ganzheit die Verflechtung und Verwiesenheit der einzelnen Spannen und Weiten des Daseins zu sehen – auch in Verbindung mit den vorhergehenden und nachfolgenden Generationen. So deutet Schopf die Lebensalter des Daseins als Verweise auf das gemeinsame abgründige Mysterium des Ursprungs. Der Bogen

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spannt sich vom Zum-Vorschein-Kommen des Daseinsganzen im Dialog schon in der Prä- und Perinatalzeit über die Freigabe zu Selbstständigkeit, Liebe, Abhängigkeit in Kindheit und Jugendzeit, über Ursprungsein, Anwesen, WeitWerden und Befreien im erwachsenen und reifen Alter bis hin zum Tod als Ende im Anfang und Anfang im Ende. In allen Phasen entbirgt sich die Würde des Menschen aus dem Geheimnis und Geschenk des Anfangs, womit Schopf den moraltheologischen Beitrag Günter Virts im zweiten Teil gut ergänzt. Der dritte Beitrag aus ärztlich-therapeutischer Sicht Schönheit und Kunst, Glaube und Gebet. Zur daseinsgemäßen Bedeutung von Kunst, Therapie und Religion widmet sich Entsprechungen zwischen Kunstformen, Gebetsweisen und daseinsanalytischer Therapie. Hansjörg Reck bestimmt Therapie als HeilKunst und führt sie auf das mit Augustinus Wucherer-Huldenfeld verstandene Wesen von Kunst zurück. Sie vermittelt kein ästhetisches Erlebnis, um Bedürfnisse zu befriedigen, sondern lässt den geheimnisvollen, grundlosen Grund von allem hervortreten. Das Ereignis des Schönen ist ein Wahrheitsgeschehen. Das Dasein selbst ist in diesem Sinn ein je einzigartiges Kunstwerk, dessen Entbergungsfähigkeit allerdings beeinträchtigt sein kann. Dagegen versucht Psychotherapie, die Weite und Tiefe wieder freizulegen, wobei dem Patienten auch das Gebet helfen kann – sei es das Gebet des Schweigens, das der Sprache oder sei es die von sakraler Kunst zur Feier gestaltete Liturgie. Auch im therapeutischen Prozess wächst Glaube im Sinne von Vertrauen und Zuversicht – zu Arzt oder Therapeutin, aber zugleich zur natürlichen Heilkraft und möglicherweise implizit zu ihrem göttlichen Grund. Mit der Kunst setzt sich auch Hans Gerald Hödl auseinander, allerdings auf ganz andere Weise: Er arbeitet die antiästhetische Pointe von Schopenhauers Ästhetik heraus. Dafür rekapituliert er Schopenhauers Bestimmung des Wesens der Kunst im Ausgang von seiner transzendentalen Erkenntnistheorie als eine Metaphysik des Schönen. Die Welt ist für ihn Objektivation eines nicht individuellen, blinden Willens, der sich im menschlichen Leib individualisiert. Da dieser Zustand als Übel bewertet wird, stellt sich die Frage, wie die Individuation überwunden und der Wille aufgehoben werden kann. Begriffliche Erkenntnis leistet das nicht in der Weise wie die aus der Korrelation von Subjekt und Objekt, aus der Welt der Kausalität und der Zwecke befreite und befreiende ästhetische Schau, die sich selbst-los einer Art platonischer Ideen hingibt, worin die metaphysische Einheit des Willens angeschaut wird. Doch hebt sich diese Höchstwertung des Ästhetischen selbst auf, weil mit der Rücknahme der Individuation auch die Sinnlichkeit als Basis der Anschauung vernichtet wird. Der V. Teil widmet sich von einem erfahrungsbasierten Begriff von Spiritualität aus den verschiedenen Religionen und dem Atheismus. Johann Figl gibt einen

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Überblick über religionsphilosophische und spirituell motivierte Konzeptionen einer zugrunde liegenden Einheit aller Religionen. Einheitsreligion oder Vielfalt der Religionen? Eine religionswissenschaftliche und -philosophische Analyse stellt im Hauptteil die Ideen der Renaissance und frühneuzeitlichen Aufklärung dar, die in einer natürlichen Religion die gemeinsame Basis wie auch eine kritische Instanz gegenüber den vielfältigen geschichtlichen Religionen sahen. Da diese interreligiös und interkonfessionell miteinander im Streit lagen, war das politische Ziel dahinter, öffentliche Ruhe durch eine intellektuell begründete Toleranz zu erreichen. Ergänzend wird das universalreligiöse Einheitskonzept neureligiöser Bewegungen des 20. Jahrhunderts am Beispiel des Sufi-Ordens im Westen vorgestellt. Die Stärke solcher Bewegungen liegt in einer Verlebendigung religiöser Dynamik, während ihre Schwäche oft in mangelnder philosophischer Klärung zu sehen ist. Hier empfiehlt Figl die religionsphilosophischen Überlegungen von Augustinus Wucherer-Huldenfeld und weist auf die Bedeutung seiner Forschungen zum Atheismus hin. So, wie das Christentum einen entbergenden Rückgang in die ursprüngliche Erfahrung und Selbstdeutung verdient und braucht, um nicht durch spätere Einseitigkeiten oder Verzerrungen missdeutet zu werden, sollten auch die Grunderfahrungen anderer Religionen sorgfältig aufgesucht und aufgedeckt werden. Nur so lässt sich nach dem Vorbild des Jubilars eine philosophisch verantwortete Dialogbasis erreichen. Dieser Aufgabe widmet sich Karl Baier in Bezug auf den Kern des Christentums und sucht buddhistische Entsprechungen zum christlichen Auferstehungsglauben. Solche sind nicht in der wohlfeilen Gegenüberstellung von Auferstehung und Wiedergeburt zu finden, weil das buddhistische Korrelat vielmehr das Nirva¯na als Befreiung vom ˙ Kreislauf der Wiedergeburt ist. Es ist eine unbedingte Wirklichkeit und so die metaphysische Bedingung der Möglichkeit von Erlösung in diesem Leben durch Loslassen von falschen Selbst-Identifikationen, Befreiung von Gier und Leiden sowie durch selbstloses, liebendes Verhalten. Dieses Verständnis von Nirva¯na ˙ entspricht der christlichen Eschatologie als Vorblick auf die endgültige Vollendung aus dem bereits erfahrenen Heil. Beides zielt auf dieselbe Wirklichkeit. Baier arbeitet die Soteriozentrik von Gautamas Lehre heraus, die auch hinter seiner Weigerung steckt, die Frage zu beantworten, ob das wahre Selbst nach dem Tod im Nirva¯na existiere oder nicht. Daraus ist nach frühbuddhistischen ˙ Quellen, die von späteren Interpretationen deutlich unterschieden werden, nicht auf eine endgültige Vernichtung des Vollendeten zu schließen. Obwohl Unterschiede bezüglich leiblicher Auferweckung und personaler Gemeinschaft mit Gott bestehen, ist das nachtodliche Eingehen ins Nirva¯na als Entsprechung zum ˙ christlichen Auferstehungsglauben zu deuten.

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Regina Polak zeigt am auch für den Jubilar zentralen Thema des Atheismus, wie Wucherer-Huldenfelds Denken die Arbeit der praktischen und pastoralen Theologie befruchten kann. Gegen ein verbreitetes »Vergessen« des Atheismus angesichts neuer »Spiritualität« zeigen differenzierte religionssoziologische Studien, dass »atheisierende« Einstellungen in allen Gruppen, auch den kirchlichen, zunehmen. Dabei ist wichtig, verschiedene Formen von aporetischenigmatischem, skeptischem und indifferentem Atheismus von der wenig vorfindlichen kämpferischen Form zu unterscheiden. Jenseits von »Säkularisierung« und »Rückkehr der Religion« ist das religiöse Feld heute fluide, plural, teilweise widersprüchlich; Atheismus und Spiritualität mischen sich und bilden Zwischentöne in der religiösen Landschaft. Eine Polarität von christlichem Gesellschaftssegment und säkularen, naturalistischen Lebenskonzepten zeichnet sich ab, die theologisch auch als eine Chance wahrzunehmen ist, Deutungs- und Handlungsmöglichkeiten für diese fragile Situation zu entwickeln, um die immer weniger vorhandene ursprüngliche Erfahrung Gottes als sich zeigenden Grund und Sinn zu fördern. Denn deren Fehlen ist nach Augustinus Wucherer-Huldenfeld Ursache für die gegenwärtige nihilistische Grundsituation wie auch für diverse atheistische oder spirituelle Antwortversuche. Diese religionsphilosophische Spannweite der Daseinsmöglichkeiten zwischen Nihilismus und Gotteserfahrung bietet der praktischen Theologie eine entscheidende Hilfe für ein tieferes Verstehen der empirischen Daten und für pastorale Konsequenzen. Der letzte Beitrag kommt auf die erfahrbare und alles tragende Spannweite des Daseins zurück, und zwar auf dem Boden einer bestimmten spirituellen Tradition und in der Form eines kurzen Vortrags, den der Zen-Lehrer und katholische Priester Karl Obermayer über eine Kalligraphie hielt: U JI ist das japanische Wort für Sein-Zeit, das Meister Do¯gen, ein Zeitgenosse und Geistesverwandter Meister Eckharts, prägte und erläuterte. Sein-Zeit bedeutet, dass alles, was ist, Zeit ist und dass Zeit immer ist, und zwar nicht im Nacheinander von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem, sondern in der Einheit einer Gegenwart, für die sich die Übenden öffnen wollen. In diese Weite zu kommen entspricht dem daseinsanalytischen Verständnis von Existieren, gemäß Heideggers Sein und Zeit ebenso wie gemäß der Erfahrung vom Berühren des Ewigen im Nun bei den christlichen Mystikern. Selbsterkenntnis ist vom Erkennen von Sein als Sein-Zeit nicht zu trennen; darin kommen die verschiedenen Traditionen überein. Die systematische wie auch historische Bandbreite der hier versammelten Festund Dankesgaben für Augustinus Wucherer-Huldenfeld dokumentiert den außergewöhnlichen Reichtum seines Denkens und Wirkens als Hochschullehrer. Sie spiegelt seine fundamentalethischen, therapeutisch-befreienden, sprach-

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und erkenntnistheoretischen, ontologischen, religionsphilosophischen und natürlich theologischen Interessen und zeigt die inspirierende Kraft seiner Zugangsweise zu den Schätzen, die in der europäischen Philosophie und in anderen Traditionen aufbewahrt sind. Auch in der Tiefe und Weite dieser Beiträge zeigt sich die Spannweite des Daseins. Karl Baier und Markus Riedenauer

I. Existenzdenken, Ontologie und Theologie

Rainer Thurnher

Existenzdenken und Ontologie – Rekonstruktion eines Paradigmenwechsels

I.

Zur Thematik

Was gemeinhin als »Existenzphilosophie« bezeichnet wird – ein Denken, das den Vollzug der menschlichen Existenz zum Ausgangspunkt der Überlegungen machte –, wird in philosophiehistorischen Darstellungen häufig als vorübergehende Erscheinung behandelt.1 Wie andere Modeströmungen auch, die ihr vorausgegangen sind, die ihr nachfolgten oder zur selben Zeit lebendig waren, hat sie ihre Tage gehabt. Man läßt sie beginnen mit der auf breiter Front einsetzenden Kierkegaardrezeption in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und mit Jaspers’ Psychologie der Weltanschauungen, das als Erstlingswerk dieser Denkrichtung gilt. Als ihre Vertreter werden Jaspers, der frühe Heidegger, Wust, Przywara, Sartre, Camus, Marcel, Abbagnano genannt. Ihre Wirkung habe sie vor allem in Deutschland, Frankreich und Italien entfaltet. Sie beruhe auf einer zeitbedingten, durch Krisen evozierten Verengung des Blicks auf den Menschen und seine Lebensnöte. So verkörpere sie einen extremen Subjektivismus, der zu seinem Ende kommen mußte, als man – nicht zuletzt im Rückgriff auf Marx und unter dem wachsenden Einfluß der Soziologie – den Menschen von seinen gesellschaftlichen Bezügen und Verkehrsformen her zu denken begann. Dabei wird allerdings eines übersehen, nämlich daß das Existenzdenken überall dort, wo es ein gewisses Niveau erreichte, den Menschen durchaus nicht isoliert und im Kreisen um sich selbst, sondern gerade in den mannigfaltigen Bezügen dachte, die er zu den verschiedenen Sphären der Wirklichkeit unterhält, in die er eingelassen ist und die ihn beanspruchen; und daß es diese Bezüge in einer Weise, wie dies vorher in der Philosophie nicht der Fall war, ernstnahm und phänomenologisch zu erhellen begann. Indem das existenzorientierte Denken dies leistete, schloß es die Ontologie zwangsläufig mit ein, ja mehr noch: Es stellte sie auf eine neue Grundlage und wies ihr neue Wege, so daß von einer 1 Anmerkung der Herausgeber : Der Autor wünschte ausdrücklich die Beibehaltung der alten Rechtschreibung.

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gründlichen Umorientierung im Bereich der Ontologie gesprochen werden kann; in jenem Bereich also, der als Erste Philosophie ausstrahlt in die Einzelwissenschaften und die Zweige der metaphysica specialis, mit Auswirkungen hinsichtlich der Fragen des primären Zugangs zu ihren Sachgebieten und der angemessenen begrifflich-sprachlichen Erschließung. An diesen irreversiblen Paradigmenwechsel, der sich auf dem Felde der Ontologie im Verlauf des 20. Jahrhunderts ereignet hat, soll mit den nachfolgenden Ausführungen erinnert werden und daran, daß er zu einem guten Teil durch das Existenzdenken angestoßen wurde. Zwei Umstände scheinen mir für den durch das Existenzdenken ausgelösten Wandel in der Behandlung ontologischer Themen ausschlaggebend gewesen zu sein: Erstens enthüllte sich die menschliche Existenz als eine spezifische Seinsweise, die sich nicht auf andere zurückführen oder zurückbiegen läßt. So verlangte die Seinsweise der Existenz zu ihrer Analyse und Erhellung eine eigene Begrifflichkeit. Jaspers spricht diesbezüglich von Existenzbegriffen und Signa der Existenz, Heidegger von den Existenzialien, die den Kategorien zur Seite zu treten haben, da diese zugeschnitten sind auf die Erfassung des innerweltlichen Seienden, nicht aber des Daseins. Schon bei Kierkegaard heißt es: »Das Existieren als ein einzelner Mensch […] ist nämlich nicht Sein in demselben Sinne, wie eine Kartoffel ist, aber auch nicht in demselben Sinne, wie die Idee ist.«2 Damit sah die Ontologie sich einmal mehr veranlaßt, von einem einheitlichen Seinsbegriff abzurücken und sich der Mannigfaltigkeit der Seinsweisen zuzuwenden. Zweitens zeigte sich – und es ist dieser Aspekt, der uns im folgenden vornehmlich beschäftigen wird –, daß der Zugang, den die Ontologie bisher, d. h. ab Parmenides und Aristoteles, zum Sein genommen hatte, nämlich der Zugang über das Denken und das kategoriale Urteil, alles andere als unproblematisch war. Einmal war damit eine Verengung und Uniformierung verbunden. So hat Heidegger darauf hingewiesen, daß durch die Vorherrschaft des noein und legein in der Tradition der Philosophie der sorgende Umgang des Menschen mit sich selbst und dem Seienden übersehen und übersprungen wurde: Dieses zeigte sich damit insgesamt als ein bloßes Gegenüber, als ein Vorfindliches und Vorhandenes, so daß ein durchschnittlicher Seinsbegriff im Sinne der bloßen Vorhandenheit sich breitmachen konnte. Zudem ist mit dem Ausgang vom noein, vom anschauenden Betrachten und Denken als dem vorrangigen oder gar ausschließlichen Zugang zum Seienden, eine Distanznahme und Trennung verbunden: eine Spaltung in erkennend-betrachtende Subjektivität einerseits und in erkannte, das Subjekt nicht weiter berührende Objektivität andererseits. Die Folge ist die Abtrennung des Subjekts 2 Kierkegaard: Nachschrift II, 33.

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vom Objekt und umgekehrt, d. h. die Subjekt-Objekt-Spaltung. Geht man demgegenüber von der Existenz aus, so zeigt sich, daß der Mensch in seinem Existieren den verschiedenen Wirklichkeitsbereichen nicht distanziert gegenübersteht. Er ist in sie eingebunden, verstrickt und eingelassen, ihnen ausgesetzt, von ihnen eingenommen, beansprucht und durchstimmt. Dies hat Jaspers im Auge, wenn er – die Ontologie ablehnend, d. h. der Ontologie im bisherigen Sinne den Rücken kehrend – sich mit den Weisen des Umgreifenden auseinandersetzt. Und dies hat Heidegger im Auge, wenn er von der Gelichtetheit und dem In-der-Welt-Sein des Daseins spricht, d. h. von der vortheoretischen Vertrautheit des Menschen mit unterschiedlichen Seinssphären, wie sie sich aus seinem Eingespieltsein auf und seinem Eingenommensein durch sie ergibt. Dabei ereignet sich dieses mit dem sorgenden Daseinsvollzug einhergehende In-Sein in den Momenten der Befindlichkeit, des Verstehens und der Rede. Befindlichkeit: Wir sind vom Seienden, das uns umgibt und angeht, und vom Seienden, das wir selbst sind, durchstimmt. Verstehen: Wir gehen sorgsam handelnd und Stellung beziehend mit mannigfaltigem Seiendem um und haben so ein implizites Wissen, eine vortheoretische Kenntnis von dessen Sein. Rede: Das Seiende ist – aus unserem befindlich-verstehenden Verhältnis heraus, das wir zu ihm unterhalten – artikuliert, bedeutungshaft gegliedert und besetzt und spricht uns als solches an, so daß wir ihm in der Rede – die weitaus umfassender ist als das kategoriale Urteil – entsprechen können. Damit ist unser Thema, dessen Behandlung wir uns nunmehr im Detail zuwenden können, umrissen.

II.

Jaspers’ »Weisen des Umgreifenden«

Jaspers machte geltend, daß die »Weisen des Umgreifenden« im Existenzvollzug dem Ich in unmittelbarer Weise zugänglich sind, während die Vergegenständlichung in den jeweiligen Einzelwissenschaften diese Wirklichkeitssphären einzig auf der Grundlage ihrer ursprünglichen Zugänglichkeit zu erfassen vermag und sie nur in einer veräußerlichten Weise sowie – entsprechend der kategorialen Gliederung – partiell und aspekthaft zur Darstellung bringt. Zudem wies er mit Nachdruck darauf hin, daß es auch Seinssphären gibt, die sich dem vergegenständlichenden Zugriff der Wissenschaften von vornherein entziehen. So strebt Jaspers, ausgehend von der Einsicht »Kein gewußtes Sein ist das Sein«3, nicht länger ein Seinswissen an (wie von den Ontologien bisher intendiert), sondern ein Seinsbewußtsein, das zur »Grundhaltung […] des philosophie3 Jaspers: Von der Wahrheit, 37.

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renden Menschen« werden soll.4 Da sich jede Vergegenständlichung in geschlossenen Horizonten vollzieht, ist das Sein als das »Umgreifende« zu denken, welches »uns mit dem Offenbarwerden aller entgegenkommenden Erscheinung doch immer nur zurückzuweichen scheint« und »im gegenständlich Gegenwärtigen und in den Horizonten« sich immer nur ankündigt, ohne je Gegenstand zu werden.5 Zwar gibt es einzelne immanente »Weisen des Umgreifenden«,6 die der Vergegenständlichung zugänglich sind. Ihr Sein ist uns aber nicht durch diese vermittelt, sondern von je her vertraut durch unser Eingebundensein in die jeweiligen Horizonte. Das Umgreifende des Daseins – bei Jaspers ist damit, anders als bei Heidegger, nur die Sphäre des elementar Vitalen bezeichnet – ist uns im Vollzug dieses Vitalen vor aller Vergegenständlichung in Biologie, Psychologie und Soziologie erschlossen;7 das des Bewußtseins überhaupt ist uns im wissenschaftlichen Urteilsvollzug näher als in der Vergegenständlichung durch die Transzendentalphilosophie,8 das des Geistes ist uns durch das Eingebundensein in zeitgeistige Strömungen vor aller wissenschaftlichen Objektivation in den Geisteswissenschaften zugänglich,9 das der Welt durch unsere Verschränktheit mit ihr vor aller Vergegenständlichung einzelner Weltgehalte in den Wissenschaften.10 In keiner der immanenten Weisen des Umgreifenden vermag der Mensch Genüge zu finden, so daß er sich darauf verwiesen sieht, den »Aufschwung« zur Existenz zu vollziehen, die sich – wie auch die in ihr offenbar werdende Transzendenz – der Vergegenständlichung grundsätzlich entzieht. Gerade in diesen »transzendenten Weisen des Umgreifenden« jedoch läßt sich Sein nach Jaspers in der intensivsten und ursprünglichsten Weise erfahren.11

III.

Heideggers »vorontologisches Seinsverständnis«

Von demselben Gesichtspunkt ist Heidegger geleitet, wenn er aufzuweisen versucht, daß das »apophantische ›Als‹« der Aussage dem »hermeneutischen ›Als‹« nachgeordnet ist, und zwar in zweifacher Weise: einmal in dem Sinne, daß die apophantische, aufweisend-bestimmende Aussage jene ursprüngliche Erschlossenheit des Bedeutsamkeitsgefüges von »Welt« voraussetzt, das sich im verstehenden Sich-Entwerfen des Daseins auf Möglichkeiten seiner Existenz 4 5 6 7 8 9 10 11

Ebd., 41. Jaspers: Existenzphilosophie, 13 f. [Herv. i. T.]. Jaspers: Von der Wahrheit, 43, 49. Ebd., 55 f., 59 f. Ebd., 67. Ebd., 71, 76. Ebd., 37, 89 ff. Ebd., 111 f.

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konstituiert; zum anderen in dem Sinne, daß das apophantische Als dem hermeneutischen Als gegenüber eine Verengung darstellt, insofern die Aussage in ihrer punktuellen, bestimmend-aufweisenden Tendenz nicht mehr verstehend in jenes Bedeutsamkeitsgefüge ausgreift, dessen Erschlossenheit sie voraussetzt. Gerade Heidegger hat die Existenz konsequent als Erschlossenheit in der bezeichneten Weise gedacht und aufgefaßt und er hat diese »Gelichtetheit des Daseins«, wie er sie nennt, als Seinsverständnis in einem umfassenden Sinne konzipiert und zum Ausgangspunkt seines fundamentalontologischen Denkens gemacht. Unter allem Seienden ist das menschliche Dasein durch Seinsverständnis ausgezeichnet, insofern ihm sein Sein nicht vorgegeben, sondern als Vollzug seiner Existenz selbst aufgegeben ist. So versteht sich das Dasein als jenes Seiende, »dem es in seinem Sein um dieses selbst geht«12, auf sein Sein, d. h. auf sein Existieren. Es versteht darin aber auch das Sein alles dessen, womit es im Vollzug seines Existierens zu schaffen und zu rechnen hat. Die »Sicht« oder »Sichtigkeit«, in der sich das Dasein »gelichtet« ist, bleibt daher bei Heidegger nicht nur auf die Durchsichtigkeit beschränkt, in welcher das Dasein mit seiner eigenen Seinsverfassung der Existenz ursprünglich vertraut ist, sondern diese »Sicht« ist in sich komplex und gegliedert und umfaßt zugleich mit der Durchsichtigkeit auch die Umsicht, in welcher die Gebrauchsdinge (das Zeug) in ihrer Seinsverfassung der Zuhandenheit zugänglich sind, weiters die Rücksicht und Nachsicht, in welchen das alter ego (»das Mitdasein«) in seiner Seinsverfassung des Mitseins verstanden ist, und weiters die theoretische Sicht als bloßes Hinsehen und Vernehmen, welche das Seiende im Seinsmodus bloßer Vorhandenheit auffaßt und zugänglich macht.13 Heideggers umfassende Konzeption jener anfänglichen Erschlossenheit, die der Vollzug der Existenz selbst in sich birgt, erfolgt in genauer Entsprechung zu seiner grundlegenden Konzeption des Daseins, das nicht als isoliertes Ich gedacht, sondern von vornherein seiner »Grundverfassung« nach als »In-der-Welt-Sein« und als »Mitsein mit anderen« aufgefaßt wird.14 Die Gelichtetheit des Daseins in seinen vielfältigen Bezügen hat den Charakter präreflexiver Vertrautheit und wird in diesem Sinne von Heidegger als »vorontologisches Seinsverständnis« gefaßt. Das Ziel des Philosophierens muß es nach Heidegger sein, dieses Seinsverständnis zu heben und zum Thema zu machen. Daher kann er sagen:

12 Heidegger : GA 2, 254; vgl. ebd., 16: »Das Dasein ist ein Seiendes, das nicht nur unter anderem Seienden vorkommt. Es ist vielmehr dadurch ontisch ausgezeichnet, daß es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht.« 13 Vgl. Heidegger : GA 2, 194 – 196; 164, 92 f. 14 Vgl. Heidegger : GA 2, 71, 152 ff.

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»Wenn die Interpretation des Sinnes von Sein Aufgabe wird, ist das Dasein nicht nur das primär zu befragende Seiende, es ist überdies jenes Seiende, das sich je schon in seinem Sein zu dem verhält [und dadurch mit dem vertraut ist, R.Th.], wonach in dieser Frage gefragt wird. Die Seinsfrage ist dann nichts anderes als die Radikalisierung einer zum Dasein selbst gehörigen wesenhaften Seinstendenz, des vorontologischen Seinsverständnisses.«15

Somit zeigt sich, daß mit dem Einsatz bei der menschlichen Existenz, d. h. der Verlegung der philosophischen Optik in die Innenperspektive des Existierens, eine Möglichkeit eröffnet wurde, die grundlegende Fragestellung aller Philosophie, die Frage nach dem Sein des Seienden, einer gänzlich neuartigen Behandlung zuzuführen. Es ist dies eine Behandlung, die nicht mehr vergegenständlichend-bestimmend, also objektivierend verfährt wie die herkömmliche Ontologie, sondern die hermeneutisch-vergewissernd, wie Heidegger sich ausdrückt, »das Ende des Leitfadens alles philosophischen Fragens dort festgemacht hat, woraus es entspringt und wohin es zurückschlägt«16, die also in einer nicht vergegenständlichenden Weise den Bezügen des Menschen zum Sein insgesamt und dessen innerer Artikuliertheit, dessen Differenziertheit in einzelne Seinsweisen, nachfragt.

IV.

Befindlichkeit, Verstehen und Rede bei Heidegger

Angesichts der »Seinsvergessenheit«, die, wie er meint, das abendländische Denken seit Platon in zunehmendem Maße beherrscht, sieht Heidegger die »Notwendigkeit einer ausdrücklichen Wiederholung der Frage nach dem Sein«17 gegeben. Wiederholung meint bei ihm natürlich nicht ein bloßes da capo, ein epigonales Anknüpfen an traditionelle Positionen, sondern vielmehr den »Widerruf dessen, was im Heute sich als ›Vergangenheit‹ auswirkt«18. So ist es auch zu verstehen, daß Heidegger, wo immer er den Menschen in seiner vortheoretischen Vertrautheit mit dem Seienden meint, vom Dasein spricht. Der frühe Heidegger vermeidet die Bezeichnung »Mensch«, da ihm diese durch die Definition als animal rationale belastet erscheint. Mit dem Ansetzen der rationalitas als Kriterium des Menschlichen nährt und transportiert sie das Vorurteil, Denken und Urteilsvermögen eröffneten als solche den Zugang zum eigenen Selbst und zur Welt. Im Gegensatz dazu wählt Heidegger somit bewußt die 15 16 17 18

Heidegger : GA 2, 20. Vgl. GA 31, 44; GA 24, 398 f. Heidegger : GA 2, 51. Heidegger : GA 2, 3. Heidegger : GA 2, 510; vgl. ebd.: »Die Wiederholung läßt sich, einem entschlossenen Sichentwerfen entspringend, nicht vom ›Vergangenen‹ überreden, um es als das vormals Wirkliche nur wiederkehren zu lassen.«

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Bezeichnung »Dasein«, die als »reiner Seinsausdruck« die Gelichtetheit von Selbst und Welt (die Erschlossenheit des »Da«) im Vollzug der Existenz zum Ausdruck bringen soll.19 Wie erwähnt, läßt er die Gelichtetheit des Da in den Existenzialien der Befindlichkeit, des Verstehens und der Rede fundiert sein, d. h. im Affektiven, in den Stimmungen, ferner im Handeln, insofern menschliche Praxis mit einem Sich-Auskennen und -Zurechtfinden einhergeht, und schließlich in der Teilhabe an jener Ausgelegtheit, die dem Sprechen des Menschen in seinen vielfältigen Ausdrucksformen zugrundeliegt. Unser Eingebundensein in Sphären der Wirklichkeit geht damit einher, daß diese uns nicht unberührt lassen, daß sie uns affizieren, so daß unser Verhältnis zu ihnen sich in unseren Befindlichkeiten spiegelt und seinen Niederschlag findet. So sind die Stimmungen nicht etwas Blindes, nicht etwas Beliebiges und Störendes, das unser Denken trübt und von seinen Aufgaben ablenkt. Vielmehr enthalten die Stimmungen, wenn sie in der rechten Weise verstanden und ausgelegt werden, ein kognitives Potential, das es zu nutzen gilt. Sie zeigen an, wie es um uns selbst, um die Welt und um unser Weltverhältnis bestellt ist. So etwa untersucht Heidegger die Rolle der Befindlichkeiten im Hinblick auf unser eigenes Existieren, also im Hinblick auf unser Selbstverständnis, auf die Durchsichtigkeit unserer Existenz. In Befindlichkeiten sieht sich das Dasein vor aller Selbstreflexion und unabhängig von dieser, weil unversehens und unverfügbar vor sich selbst gebracht und mit sich selbst konfrontiert.20 So weisen uns Befindlichkeiten auf Momente unserer Geworfenheit hin, d. h. auf Momente, die unser Dasein grundlegend bestimmen, ohne daß wir je über sie in freier Wahl befinden könnten. Dazu gehören etwa unser Geschlecht und das Zeitalter, der Kulturkreis, die Sprachgemeinschaft sowie das soziale Umfeld, in die wir hineingeboren werden. In Befindlichkeiten sehen wir uns auch auf unser Gewordensein und unsere »Lebensgeschichte« verwiesen. Und in Befindlichkeiten geht uns der Lastcharakter des Daseins auf, das heißt die Notwendigkeit, durch Akte der Wahl und Freiheit unser weiteres Dasein zu bestimmen. Und insofern Dasein In-der-Welt-Sein ist, bekunden sich in den Befindlichkeiten auch das Wie unseres Weltverhältnisses und nicht zuletzt der Charakter der Welt selbst, in die wir eingelassen sind: »Das Dasein stellt uns selbst vor das Seiende im Ganzen. In der Stimmung ist einem so und so – darin liegt also: Die Stimmung macht gerade das Seiende im Ganzen und uns selbst als inmitten desselben befindlich offenbar. Die Gestimmtheit und die Stimmung ist keineswegs ein Kenntnisnehmen von seelischen Zuständen, sondern ist das Hinausgetragenwerden in die spezifische Offenbarkeit des Seienden im Ganzen, und das 19 Heidegger : GA 2, 17 f.; GA 63, 21 ff. 20 Heidegger : GA 2, 182: »Die Stimmung überfällt.«

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sagt: in die Offenbarkeit des Daseins als solchem, so, wie es sich inmitten dieses Ganzen je befindet.«21

Die Stimmung darf somit nicht als ein subjektiver Gemütszustand aufgefaßt werden, der nachträglich eine der jeweiligen Stimmung entsprechende »Einfärbung« der »objektiven« Welt bewirkte. Damit wäre gerade verkannt, daß die Welt nicht vor der Stimmung schon »da« ist und diese ihrerseits nicht ohne den Weltbezug zu denken ist: »Eine Gestimmtheit, d. h. eine eksistente Ausgesetztheit in das Seiende im Ganzen, kann nur ›erlebt‹ und ›gefühlt‹ werden, weil der ›erlebende Mensch‹, ohne das Wesen der Stimmung zu ahnen, je in eine das Seiende im Ganzen entbergende Gestimmtheit eingelassen ist.«22 Wenn Heidegger das Verstehen als eine Weise des In-Seins thematisiert, knüpft er an jene Bedeutung des Wortes an, wonach Verstehen »sich auf etwas verstehen«, »etwas können«, »einer Sache gewachsen sein« bedeutet. Es ist also die Seite des praktischen und tätigen Umgangs mit dem Seienden gemeint, die ein Sich-Auskennen, ein mit der größten Selbstverständlichkeit und Sicherheit vollzogenes Sich-Bewegen in den Verweisungsbezügen zur Folge hat, eine Weltläufigkeit und Sachkenntnis, die wir uns aneignen, indem wir in Lebenspraktiken und Lebensformen hineinwachsen. Aus diesem Verstehen, aus diesem praktisch-tätigen Umgang heraus begegnen uns die Dinge in ihrer Bedeutsamkeit, in ihrer Als-Bestimmtheit als dieses und jenes. Was damit gemeint ist, läßt sich an Beispielen demonstrieren: Jemand entwirft sich auf die Möglichkeit, Musiker zu werden. Er eignet sich eine bestimmte Teilpraxis an, womit er hineinwächst in die Welt der Musik. Er wird mit ihr vertraut und kennt nunmehr die Bedeutsamkeit und Als-Bestimmtheit alles dessen, was zu dieser Welt gehört, wie z. B. Intonation, Klangfarbe, Rhythmus, Phrasierung, Legato, Rubato usw. Oder : Jemand wird Kaufmann, womit er hineinwächst in die zugehörige Welt und nun auf dergleichen wie Marketing, Lagerhaltung, Logistik, Inventur, Buchhaltung, Risikokalkulation etc. sich versteht. Die Welt des Musikers und die Welt des Kaufmanns sind Sonderwelten, die eingebunden sind in eine Lebenswelt. Hier ist die gleiche Verklammerung vorauszusetzen: Wir sind hineingewachsen in die Kultur- und Alltagspraxis des Mitteleuropäers, finden uns daher in der entsprechenden Lebenswelt zurecht und kennen die Bedeutsamkeit und Bewandtnis der Gegebenheiten, die ihr zugehören, d. h. wir nehmen Gegebenheiten unmittelbar wahr als Pult, als Türe, als Straßenbahn usw. Freilich ist dies keine Einbahnstraße: Nicht nur ergibt sich die Vertrautheit mit der Welt und ihren Gegebenheiten aus der Lebenspraxis, sondern es erwächst daraus auch eine Eingenommenheit des Menschen durch das ihm im 21 Heidegger : GA 29 / 30, 410. Vgl. GA 9, 110, 166; GA 20, 352. 22 Heidegger : GA 9, 192.

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Horizont der Welt begegnende Seiende. Unsere Alltagswelt ist uns vertraut, wir fühlen uns in ihr geborgen, sie gibt uns Halt. So sehr diese Geborgenheit uns entgegenkommt und diese Vertrautheit für unser alltägliches Leben bis zu einem gewissen Grade unverzichtbar sein mag, so liegt darin doch auch die Tendenz begründet, an die Welt zu verfallen. Die Dinge in ihrer Als-Bestimmtheit laden uns gewissermaßen ein, von ihnen in der vorgesehenen Weise Gebrauch zu machen; es wohnt ihnen im Horizont der zugehörigen Welt eine Art von Aufforderungscharakter inne, dem wir unvermerkt und allzugern uns fügen. Heidegger hat dies als Verfallen an die Welt thematisiert. Aus dem befindlich-verstehenden In-der-Welt-Sein heraus haben die Gegebenheiten, die uns betreffen und angehen, ihre Als-Bestimmtheit. Die Welt, in welcher wir uns bewegen, ist eine artikulierte, bedeutungshaft gegliederte, die uns anspricht und die von uns in Entsprechung zu diesem Anspruch zur Sprache gebracht wird. So sagt Heidegger schon in Sein und Zeit: »Die befindliche Verständlichkeit des In-der-Welt-seins spricht sich als Rede aus. Das Bedeutungsganze der Verständlichkeit kommt zu Wort. Den Bedeutungen wachsen Worte zu. Nicht aber werden Wörterdinge mit Bedeutungen versehen.«23 Später sagt Heidegger im Blick auf denselben Sachverhalt: »Die Sprache spricht. Der Mensch spricht, insofern er der Sprache entspricht.«24 In diesem Sinne ereignet sich die Erschlossenheit des Daseins nach Heidegger in den gleichursprünglichen Momenten der Befindlichkeit, des Verstehens und der Rede. Die Reihenfolge, in der sie genannt werden, ist dabei alles andere als zufällig. Sie stellt eine bewußte Umkehrung des traditionellen Kanons der psychischen Vermögen dar : Denken, Wollen, Fühlen. Deren Reihung kann als Rangordnung gelten, in der zum Ausdruck kommt, das Wollen und Handeln sei als solches blind und auf die Führung des Denkens angewiesen, das allein Erkenntnis und Wahrheit verbürgt. Das Fühlen ist nach dieser Rangordnung als niedrigstes Seelenvermögen in Betracht zu ziehen als Beeinträchtigung und Trübung des nüchternen Urteils. Demgegenüber macht Heidegger geltend, daß die Befindlichkeiten uns Wesentliches anzeigen und offenbaren können; daß ferner das Handeln mit einem impliziten Wissen, einem Verstehen und SichAuskennen verbunden ist. Die Rede schließlich beinhaltet eine Vielfalt von Äußerungsformen und läßt sich nicht auf das aufzeigende, deskriptive Urteil reduzieren, welches, wie Heidegger mit Nachdruck betont, keineswegs ursprünglich wahrheitsstiftend ist, sondern die Erschlossenheit von Welt je schon voraussetzt: »Das Aufzeigen der Aussage vollzieht sich auf dem Grunde des im Verstehen […] umsichtig Entdeckten. Aussage ist kein freischwebendes Verhalten, das von sich aus 23 Heidegger : GA 2, 214. 24 Heidegger : GA 12, 30.

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primär Seiendes überhaupt erschließen könnte, sondern hält sich immer schon auf der Basis des In-der-Welt-seins.«25

In dieser ihrer Abkünftigkeit ist die Aussage zugleich verengend: Indem sie auf die Darstellung von Bestimmungen an einem Seienden abhebt, greift sie (im Unterschied zu anderen Redeformen) nicht mehr aus auf das Bedeutungsganze, das im befindlich-verstehenden Entwurf erschlossen und in der Rede insgesamt artikuliert ist. Das »hermeneutische ›Als‹« lebensnaher Äußerungen wandelt sich im Urteil, das aus abständiger Betrachtung erwächst, unvermerkt zum bloß »apophantischen ›Als‹«, womit eine Nivellierung des Seinsverständnisses einhergeht. Das Seiende wird in der theoretisch-urteilenden Einstellung nur mehr als Vorhandenes aufgefaßt, womit die Vorhandenheit den Blick auf die mannigfaltigen und originären Seinsweisen verstellt.26

V.

Mannigfaltigkeit und Reichtum der Seinsweisen

Der Primat des Logos und der Theorie, die Tendenz zur wissenschaftlichen Vergegenständlichung, der Umstand, daß die Ontologie sich bisher am innerweltlichen Seienden orientiert hat: All dies hat zur Nivellierung des Seinsbegriffs im Sinne der bloßen Vorhandenheit geführt, die – im Zusammenspiel mit der Mißachtung der ontologischen Differenz – die Seinsvergessenheit ausmacht.27 Schon in der Antike stellte sich, wie Heidegger meint, »ein Durchschnittsbegriff von Sein heraus, der zur Interpretation alles Seienden der verschiedenen Seinsgebiete und Seinsweisen verwendet wurde«.28 Im Gegenzug dazu komme es darauf an, »uns überhaupt das Problem einer Mannigfaltigkeit von Weisen des Seins, über die Einzigkeit des nur Vorhandenen hinaus, näher zu bringen.«29 Und es ist für Heidegger dieses Vorverständnis des Seins, das dem Umgang mit dem Seienden zugrundeliegt. Das vorgängige, im Existenzvollzug angelegte, auf unterschiedliche Seinsweisen eingespielte Verständnis ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, mit verschieden geartetem Seienden sinnvoll umgehen zu können: 25 Heidegger : GA 2, 208; vgl. ebd., 299. 26 Vgl. Heidegger : GA 2, 204 – 213, 295 – 298; GA 21, 143 – 161. 27 Was durch die Phänomenologie der Verdeckung entrissen werden muß, ist nach Heidegger (GA 2, 47) »das Sein des Seienden. Es kann so weitgehend verdeckt sein, daß es vergessen wird und die Frage nach ihm und seinem Sinn ausbleibt.« Vgl. dazu GA 14, 37 f.: »Die Grunderfahrung von ›Sein und Zeit‹ ist somit die der Seinsvergessenheit. […] Die Seinsvergessenheit, die das Wesen der Metaphysik ausmacht und zum Anstoß für ›Sein und Zeit‹ wurde […]«; ferner GA 9, 328, 378. 28 Heidegger : GA 24, 30. 29 Ebd., 171.

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»Verstünden wir nicht, wenngleich zunächst roh und unbegrifflich, was Wirklichkeit besagt, dann bliebe uns Wirkliches verborgen. […] Verstünden wir nicht, was Existenz und Existenzialität besagt, dann vermöchten wir selbst nicht als Dasein zu existieren. Verstünden wir nicht, was Bestand und Beständigkeit bedeutet, dann blieben uns bestehende geometrische Beziehungen und Zahlenverhältnisse verschlossen. Wir müssen Wirklichkeit, […] Lebendigkeit, Existenzialität, Beständigkeit verstehen, um uns positiv zu bestimmtem Wirklichen, […] Lebendigen, Existierenden, Bestehenden verhalten zu können.«30

Dieses Seinsverständnisses sind wir uns in der Regel allerdings nicht bewußt. Es ist ein unthematisches, vorontologisches Seinsverständnis, das sich dadurch auszeichnet, daß es der Unterschiedlichkeit der Seinsweisen verschiedener Regionen weitgehend Rechnung trägt. So ist es, wenngleich unthematisch, doch differenzierter als der durchschnittliche, am Modus der Vorhandenheit sich orientierende Seinsbegriff der philosophischen Tradition. Dies ermöglicht es Heidegger, auf dieses vorontologische Seinsverständnis zu rekurrieren und es auf dem Wege seiner Analytik der Existenz zu thematisieren, weshalb für ihn gilt: »Die Seinsfrage ist […] nichts anderes als die Radikalisierung einer zum Dasein selbst gehörenden Seinstendenz, des vorontologischen Seinsverständnisses.«31

VI.

Ontologische Differenz als existenzielle Erfahrung

Hervorzuheben ist ferner Heideggers Behandlung der ontologischen Differenz. Sie ist nicht nur etwas, was wir im Denken zu beachten und in bewußter Intention zu vollziehen haben. Vielmehr ist sie darüber hinaus und ursprünglicher noch etwas, was sich – wenngleich nur in seltenen Augenblicken – in unserem Existieren ereignet, und zwar wiederum im Affektiven, in Befindlichkeiten, die uns überkommen. Für gewöhnlich sind wir auf das innerweltlich Seiende bezogen und achten nicht eigens auf dessen Sein. Wenn jedoch – wie in der Angst32 oder der tiefen Langeweile33 – unser Weltbezug brüchig wird, das Seiende sich entzieht und das eintritt, was Heidegger als »Hineingehaltenheit in das Nichts«34 bezeichnet, wird uns mit einem Mal – im Entzug – das uns sonst selbstverständliche Sein als solches bewußt.35 Sartre hat dies aufgegriffen. Er sieht im Ekel 30 31 32 33 34 35

Ebd., 14. Heidegger : GA 2, 20. Vgl. Heidegger : GA 9, 111 ff. Vgl. Heidegger : GA 9, 110; GA 40, 3 f.; GA 29 / 30, 230 – 249. Heidegger : GA 9, 115. Ebd.: »Das Nichts ist die Ermöglichung der Offenbarkeit des Seienden als eines solchen für das menschliche Dasein.«

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(naus¦e) und in der Langeweile (ennui) Momente, in welchen das Sein als Phänomen sich dem Menschen geradezu aufdrängt.36 In diesem Sinne ist der Mensch jenes Wesen, in dem die Differenz von Sein und Seiendem zum Ereignis wird. In seinem seinsgeschichtlichen Denken baut Heidegger diesen Gedanken dahingehend aus, daß sich der Mensch der Gegenwart gegen dergleiche Erfahrungen sträubt, daß er dem Nichts in keiner Weise Raum geben will und sich statt dessen in einer Haltung, die Heidegger als »Insistenz« und »Irrnis« bezeichnet, fest im Seienden einzurichten bestrebt ist.37 Um Angst und Langeweile nicht aufkommen zu lassen, schafft sich der Mensch künstliche Ersatzwelten – bei Heidegger als »Erleben« thematisiert – und betreibt hektisch eine inflationäre Vermehrung des Seienden. Der klassischen Frage der Metaphysik »Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?« gibt Heidegger einen neuen Akzent, indem er ihr den Sinn unterlegt: Warum zeigt sich (heute) überall Seiendes und nicht mehr Nichts?38 In diesem Versacken im Seienden, in der Verdrängung des Nichts und der Mißachtung des Seins sieht Heidegger das Wesen des Nihilismus. Für ihn besteht er nicht, wie für Nietzsche, in der »Entwertung der obersten Werte«, sondern darin, »daß es mit dem Sein nichts ist«.39 Den Dichtern und Denkern sei es, wie Heidegger meint, vorbehalten, dem Nichts Raum zu geben.40 Nur als »Platzhalter des Nichts« könne der Mensch »Hirt des Seins« werden.41

VII.

Zur Erschlossenheit des alter ego bei Sartre und Lévinas

An Heideggers Gewichtung der Befindlichkeit und emotionalen Betreffbarkeit anknüpfend, aber in originären, philosophisches Neuland erkundenden Ansätzen wurden von Sartre und L¦vinas Wege gewiesen, wie – die Immanenz des Bewußtseins durchbrechend – das Sein des Anderen in seiner Erschlossenheit zu denken ist. Nicht durch die Wahrnehmung seiner Leiblichkeit, durch Analogieschlüsse und das Vermögen der Einfühlung ist uns der Andere zugänglich, sondern durch jene seinsmäßige Betroffenheit, die er in uns auslöst. Was in der Begegnung mit ihm geschieht, ist ein ohne unser Zutun an uns sich vollziehender Wandel des existenziellen Habitus, in dem sich das Sein des Anderen bekundet. So hat Sartre beschrieben, wie das Auftauchen des Anderen in unserem Gesichtsfeld unser In-der-Welt-Sein dahingehend modifiziert, daß eine »Ausblu36 37 38 39 40 41

Vgl. Sartre: Das Sein und das Nichts, 14; Der Ekel, 148 – 163. Heidegger : GA 9, 194 f. Vgl. Heidegger : GA 9, 382, 420. Heidegger : GA 5, 259, 264. Heidegger : GA 40, 28 f. Heidegger : GA 5, 348; GA 9, 347 f., 359 f., 410.

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tung« der Welt stattfindet. Solange der Andere nicht gegenwärtig ist, sind wir es, die den Dingen ihre Bedeutung und ihren Platz zuweisen und auf diese Weise eine Strukturierung »unserer« Welt vornehmen. Mit dem Auftauchen des Anderen erfahren wir jedoch, daß die Dinge Aspekte haben, die uns notwendigerweise entgehen: jene nämlich, die der Andere durch seine Weise, die Welt um sich zu zentrieren, ihnen verliehen hat. Schmerzhaft erfahren wir, wie die Welt einem Schwinden unterworfen ist, einem ständigen Abfließen auf ein Weltzentrum zu, das der Andere ist.42 Ein Wandel in unserem Selbst- und Weltverhältnis vollzieht sich auch, sobald wir den Blick des Anderen auf uns gerichtet fühlen. Der Blick des Anderen macht uns zum Objekt, enthüllt uns, wie Sartre meint, die Absicht des Anderen, uns auf den gegenwärtigen Aspekt und die gegenwärtige Situation zu fixieren, in welcher er uns zufälligerweise angetroffen hat. So haben wir die Empfindung, durch den Blick des Anderen unserer Subjektivität und Transzendenz beraubt zu sein, was Scham in uns auslöst, von der wir uns nur befreien können, indem wir unsererseits den Anderen anblicken und zum Objekt degradieren.43 Faßt Sartre die Begegnung als eine Art Kampf auf, der unter dem Gesichtspunkt der Dialektik von Herr und Knecht zu sehen ist, so entwickelt L¦vinas eine ganz andere, dem Paradigma der Gewaltlosigkeit verpflichtete Sichtweise. Er sieht im Anderen nicht den Feind, der uns beherrschen will, weil er im selben Maße wie wir auf Anerkennung und Selbstbehauptung bedacht ist. Bei L¦vinas erscheint der Andere als der wehrlose Andere, der sich uns ausliefert. Gerade dadurch aber wird unser herrschaftliches Gebaren unterbrochen und in Frage gestellt. Wir erhalten durch die Begegnung die Chance, unsere Verantwortlichkeit für den Anderen wahrzunehmen und in die Dimension des Ethischen einzutreten. Diese ist für L¦vinas fundamentaler als die Dimension des Denkens und des Seins, die in der abendländischen Philosophie immer im Vordergrund gestanden hat. Die Ontologie hält L¦vinas für eine Bewegung der Totalisierung, in welcher es um Vereinheitlichung, um Unterwerfung des Fremden unter vorgegebene Prinzipien geht.44 Als die innere Logik dieser Bewegung tritt, wie er meint, der Krieg immer deutlicher zutage.45 Ihr Ziel sei Abgeschlossenheit durch Ausmerzung alles Fremden, um jene Beunruhigung loszuwerden, die Fremdheit stets mit sich bringt. Dieser Haltung gegenüber bedeutet die Begegnung mit dem anderen Menschen, wie L¦vinas sie begreift, einen Einbruch in das von ihr gebildete abgeschlossene Universum. Die totalisierende Logik der Immanenz sehe sich durch 42 43 44 45

Vgl. Sartre: Das Sein und das Nichts, 459 – 463. Vgl. ebd., 463 – 537. Vgl. Lévinas: Totalität und Unendlichkeit, 38 – 47 und passim. Vgl. ebd., 19 f., 321 ff.; Lévinas: Jenseits des Seins, 26 ff., 348, 378.

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die unverfügbare Begegnung mit dem Anderen in Frage gestellt. Das Subjekt erfahre eine Verwandlung, eine Umorientierung seiner Sprache und seiner Zeitlichkeitsstruktur sowie eine Öffnung auf Unendlichkeit und Transzendenz hin. L¦vinas spricht von einer »Traumatisierung«, die das Subjekt in der Begegnung erfährt.46 Dabei geht es um den Anderen in seiner Schutzlosigkeit und Not, der uns sein Antlitz zuwendet. Auf dem Antlitz des Anderen, der sich uns ausliefert, sei ein »Du wirst mich nicht töten« ablesbar.47 In solcher Begegnung sind wir nach L¦vinas unbedingt und ohne vorgreifendes Rechnen auf Gegenseitigkeit in Anspruch genommen. Es kommt eine Sprache (dire) in Gang, die sich von dem Diktat (le dit) der totalisierenden Dialektik radikal unterscheidet.48 Zudem erfolgt im Ethischen, wie L¦vinas zu erkennen glaubt, eine Öffnung auf das Unendliche und die Transzendenz hin: Hinter dem Antlitz des Anderen werde »eine Spur« des Göttlichen sichtbar,49 das uns diese Begegnung geschickt und damit in die Verantwortung gerufen hat. Gott lasse sich als der Geber erahnen, der aber in der Gabe sich verberge, der hinter ihr zurücktrete und – anders als in der Metaphysik – sich einer vorstellenden Repräsentation entzieht. Damit sollte deutlich geworden sein, inwiefern die Integration des Existenzdenkens in die Ontologie diese verwandelt und der Philosophie insgesamt neue Gesichtspunkte und Wege erschlossen hat.

Literatur Heidegger, Martin: Gesamtausgabe, Frankfurt / M. (Klostermann) 1975 ff. (Kurztitel: GA; die nachfolgenden Ziffern bezeichnen jeweils Band- und Seitenzahl). Jaspers, Karl: Von der Wahrheit, München (Piper) 1947. Ders.: Existenzphilosophie, Berlin (De Gruyter) 1964. Kierkegaard, Sören: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift II, Gesammelte Werke, Abt. 16, Düsseldorf u. a. (Diederichs) 1959. Lévinas, Emmanuel: Totalität und Unendlichkeit, Freiburg u. a. (Alber) 21993. Ders.: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg u. a. (Alber) 1992. Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek bei Hamburg (Rowohlt) 122006. Ders.: Der Ekel, Hamburg (Rowohlt) 1959.

46 47 48 49

Ebd., 50 f., 245 f., 274 f. Vgl. Lévinas: Totalität und Unendlichkeit, 285, 313. Vgl. Lévinas: Jenseits des Seins, 29 ff., 51 f., 93 ff., 110 ff. Vgl. ebd., 44 ff., 257 ff., 329, 258, 395.

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Fundamentalontologie und Gottesfrage

Um das Verhältnis der Fundamentalontologie von Sein und Zeit zur philosophischen Gottesfrage in hinreichender Weise verstehen zu können, müssen wir in unseren Darlegungen und Überlegungen bis auf die ersten Anfänge der eigensten Fragestellung Heideggers zurückgehen. Deshalb beginnen unsere Ausführungen, die wir in vier Abschnitte gliedern, mit einem Einblick in jene ersten Anfänge.

I.

Wahres Gotteserlebnis – Philosophie des lebendigen Lebens – wahre Religionsphilosophie

Die erstmals im Jahre 2005 veröffentlichten frühen Briefe Martin Heideggers an seine Braut Elfride Petri, beginnend Ende des Jahres 1915, zeigen überaus deutlich, dass Heideggers Grunderfahrung für seine eigenste philosophische Fragestellung im Beginn des Jahres 1916 angesetzt werden muss. In seinem Brief vom ersten Januar 1916 betont er, »daß nur der unendliche, persönlichste Geist Gottes in seiner absoluten Fülle uns u. unserem Dasein letztes Ziel und Ende sein kann«.1 Zwei Tage später heißt es: »›wahres Gotteserlebnis‹ ist eine wundersame, seltene Gnade, deren man nur würdig wird durch Leid«.2 Vor dem Hintergrund dieser Äußerungen kommt es im Brief vom 5. März 1916 zu der programmatischen Feststellung: »ich weiß heute, daß es eine Philosophie des lebendigen Lebens geben darf – daß ich dem Rationalismus den Kampf bis aufs Messer erklären darf – ohne dem Bannstrahl der Unwissenschaftlichkeit zu verfallen – ich darf es – ich muß es – u. so steht heute vor mir die Notwendigkeit des Problems: wie ist Philosophie als lebendige Wahrheit zu schaffen […].«3 1 Heidegger : »Mein liebes Seelchen!«, 29. 2 Ebd., 29 f. 3 Ebd., 36 f.

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Am 12. Mai 1918 setzt er die Entfaltung seines philosophischen Programms fort: »mit den ständig wirksamen Perspektiven religiöser Verinnerlichung wird mir die wahrhafte Religionsphilosophie u. das Philosophieren überhpt. erwachsen.«4 Die in diesen Briefstellen sich aussprechende denkerische Urerfahrung Heideggers für seine eigenste Fragestellung ist die einer Philosophie des »lebendigen Lebens« und der »lebendigen Wahrheit«. Diese Wendungen zeigen das an, was Heidegger in seinen Vorlesungen ab 1919 das vortheoretische, d. h. theoretisch unangetastete faktische Leben und Dasein in dessen eigenster Seinsbewegung nennt. Mit anderen Worten, die Erfahrung des »lebendigen« Lebens und dessen »lebendiger« Wahrheit nimmt das vorweg, was auf dem Weg der frühen Freiburger und der Marburger Vorlesungen ausgearbeitet wird als das existierende In-der-Welt-Sein des Daseins in seiner Sorge- und Zeitlichkeitsverfasstheit. Aber die Erfahrung dieses Lebens hält sich von vornherein im Horizont eines Verständnisses des »unendlichen, persönlichsten Geistes Gottes« und des seltenen »wahren Gotteserlebnisses«, das als »wundersame, seltene Gnade« gewusst wird. Die philosophische Gottesfrage soll aus dem Ursprungsboden des vortheoretischen Lebens zur »wahrhaften Religionsphilosophie« entfaltet werden. Die Philosophie, die aus diesem Ursprung gewonnen werden soll, erschöpft sich nicht in Religionsphilosophie. Außer ihr wird das »Philosophieren überhaupt« genannt, dessen Aufgabe es sei, die Frage nach dem lebendigen Leben als dem Urboden aller philosophischen Fragen auszuarbeiten. Doch auch dieses Philosophieren im umfassenden Sinn soll »den ständig wirksamen Perspektiven religiöser Verinnerlichung« erwachsen. Man kann also sagen, dass die philosophische Grundlegungsfrage nach dem eigensten Sein des lebendigen Lebens als Vorgestalt der später als Fundamentalfrage formulierten hermeneutischen Phänomenologie des Daseins sich von vornherein in einem grundlegenden Gottesbezug hält. Damit haben wir fürs Erste eine wesentliche Einsicht gewonnen, die uns auf dem weiteren Gang unserer Ausführungen begleiten wird.

II.

Hermeneutische Phänomenologie des faktischen Lebens und Daseins als Boden für die wahrhafte Idee der christlichen Philosophie

Noch vor Beginn des ersten Semesters nach Beendigung des Ersten Weltkrieges, des Kriegsnotsemesters 1919 (25. Januar bis 16. April), am 9. Januar 1919, schreibt Heidegger einen seit seiner Auffindung und Erstveröffentlichung durch 4 Ebd., 66.

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Bernhard Casper viel zitierten programmatischen Brief an den mit ihm befreundeten Freiburger Dogmatiker Engelbert Krebs, in dem er seine seit 1916 gewonnene philosophische Grunderfahrung mit folgenden Worten zusammenfasst: »Die vergangenen zwei Jahre, in denen ich mich um eine prinzipielle Klärung meiner philosophischen Stellungnahme mühte […], haben mich zu Resultaten geführt […]. Erkenntnistheoretische Einsichten, übergreifend auf die Theorie geschichtlichen Erkennens haben mir das System des Katholizismus problematisch u. unannehmbar gemacht – nicht aber das Christentum und die Metaphysik (diese allerdings in einem neuen Sinne).«5

Hier gilt es, sehr genau zu unterscheiden: Weder das Katholische als solches noch das Christentum, sondern nur das »System«, also die begrifflich-systematische, die rational-theoretische Durchgestaltung des katholischen Christentums, verträgt sich nicht mehr mit Heideggers Grunderfahrung des vortheoretischen Lebens. In dieser programmatischen Mitteilung an Engelbert Krebs ist angedeutet, dass das Christliche des Christentums aus der Philosophie des lebendigen Lebens eine gewandelte, eine vortheoretische begriffliche Durchdringung erhalten soll. Und was die »Metaphysik« anbetrifft, so wird von Heidegger hervorgehoben, dass in der neuen Philosophie des Lebens an ihr festgehalten wird, wenn auch so, dass sie Metaphysik »in einem neuen Sinne« ist, eben eine Metaphysik, die aus der vortheoretischen Lebenserfahrung geschöpft ist und damit ihren Boden im lebendigen Leben hat. Es ist dieser neue Zugang zum Wesen der Metaphysik, der später in der Freiburger Antrittsvorlesung »Was ist Metaphysik?« den Namen »Metaphysik des Daseins« erhält. Was Heidegger in seinem Brief an Engelbert Krebs und in den Briefen von 1916 andeutet, das findet in seiner ersten Nachkriegsvorlesung unter dem wiederum programmatischen Titel »Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem« seine erste Ausführung im akademischen Rahmen. Jetzt wird die Philosophie des lebendigen Lebens als »vortheoretische Urwissenschaft« vom Umweltleben und Umwelterlebnis gefasst und Letzteres in seiner eigensten Struktur als »Ereignis« bestimmt – Er-eignis insofern, als das Umwelterleben »aus dem Eigenen« lebt, das dann bald darauf »Existenz« genannt werden wird.6 In der nächstfolgenden Vorlesung des Wintersemesters 1919 / 20 »Grundprobleme der Phänomenologie« erhält die philosophische Urwissenschaft vom Umwelterleben den Namen »Ursprungswissenschaft« vom faktischen Leben.7 In der anschließenden Vorlesung vom Sommersemester 1920 »Phänomeno5 Casper : Martin Heidegger, 540 [Herv. i. T.]. 6 Vgl. Heidegger: Zur Bestimmung der Philosophie, 63 – 76. 7 Vgl. Heidegger: Grundprobleme der Phänomenologie, 1 – 3, 25 – 27.

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logie der Anschauung und des Ausdrucks« greift Heidegger das Vorhaben der wahren Religionsphilosophie wieder auf. Hier stoßen wir auf unzweideutige Sätze, die in der bisherigen Forschungsliteratur kaum beachtet worden sind: »Es besteht die Notwendigkeit einer prinzipiellen Auseinandersetzung mit der griechischen Philosophie und der Verunstaltung der christlichen Existenz durch sie. Die wahrhafte Idee der christlichen Philosophie […]. Der Weg zu einer ursprünglichen christlichen – griechentumfreien – Theologie.«8

Die Religionsphilosophie wird dann zu einer wahrhaften, wenn sie ganz, wenn das Christliche ganz aus dem Eigensein des vortheoretisch-faktischen Lebens ergriffen und ausgearbeitet wird. Die griechische Philosophie hat in ihrer Durchdringung des Christentums die christliche Existenz »verunstaltet«, weil sie in ihrem Wesen theoretisch-rational ist und dadurch die vortheoretische Lebendigkeit des urchristlichen Existenzverständnisses verdeckt. Dieses religionsphilosophische Programm wird nun von Heidegger in den beiden folgenden Vorlesungen, in der »Einleitung in die Phänomenologie der Religion« (Wintersemester 1920 / 21) und in »Augustinus und der Neuplatonismus« (Sommersemester 1921), verwirklicht. In der religionsphänomenologischen Vorlesung wird auf dem neuen philosophischen Ursprungsboden des faktischen Lebens und der faktischen Lebenserfahrung die philosophische Gottesfrage neu gestellt. In einem ersten Abschnitt werden, auch im Rückgriff auf die vorhergehenden Vorlesungen, die Grundstrukturen des faktischen Lebens herausgestellt: der Gehaltssinn als der Weltbezug, der Bezugssinn als die Sorge im Sinne des Sorgetragens für etwas oder jemanden und der Vollzugssinn als das unterschiedliche Wie, in dem der Bezugssinn, das Sorgen, vollzogen wird, das »Vollzugswie« des Abfallens an die weltlichen Bedeutsamkeitsbezüge und das »Vollzugswie« des eigentlichen Selbstseins.9 Damit sind bereits die existenzialen Charaktere des faktischen Lebens oder Daseins gehoben: das In-derWelt-Sein, die Sorge und die Vollzugsmöglichkeiten der Sorge, das Verfallen und die Uneigentlichkeit sowie das Eigentlichsein. Das Ganze dieser existenzialen Charaktere wird zugleich in seiner Verfasstheit als Geschichtlichkeit und Zeitlichkeit gesehen. Damit ist der Grundriss der Daseinsanalytik von Sein und Zeit vorweggenommen. Was aber für unsere Fragestellung von großer Bedeutung ist: Diese frühe hermeneutisch-phänomenologische Analytik des faktischen Lebens und Daseins hält sich im Horizont einer neu auszuarbeitenden originär christlichen Philosophie. Im zweiten Abschnitt der religionsphänomenologischen Vorlesung wird auf dem Wege einer hermeneutisch-phänomenologisch vorgehenden Durchdrin8 Heidegger: Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks, 91 [Herv. i. T.]. 9 Vgl. Heidegger: Phänomenologie des religiösen Lebens, 9 – 14, 57 – 65.

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gung der Thessalonicherbriefe die urchristliche Religiosität des Neuen Testaments als urchristliche Lebenserfahrung im Sinne der im ersten Abschnitt grundsätzlich entfalteten faktischen Lebenserfahrung gedeutet.10 In der Augustinus-Vorlesung interpretiert Heidegger die durch die Gottsuche geleitete Selbstauslegung der anima bzw. vita aus dem X. Buch der Confessiones als bestimmt durch die faktische Lebenserfahrung und deren existenziale Charaktere der Umwelt, des Gehaltssinnes, des Bezugs- und des Vollzugssinnes.11 In beiden religionsphänomenologisch ausgerichteten Vorlesungen wird die christliche Existenz ohne Rückgriffe auf aristotelische, neuplatonische oder stoische Begrifflichkeit aus dem faktischen Leben und Dasein und aus dessen Seinscharakteren her ausgelegt. Gleich nach der Augustinus-Vorlesung kennzeichnet Heidegger sich selbst in einem Brief an Karl Löwith vom 19. August 1921 als »christlichen Theologen«.12 Diese Selbstcharakterisierung ist ganz aus den von uns herangezogenen Vorlesungen zu verstehen. Als Philosoph des lebendigen Lebens, der die wahrhafte Idee christlicher Philosophie und die wahrhafte Religionsphilosophie sucht, bezeichnet er sich nun als christlicher Theologe, wobei er die zweite Hälfte des Wortes hervorhebt. Dies will sagen, dass er als hermeneutischer Phänomenologe nach dem Eigenlogos der wahrhaften christlichen Philosophie und christlichen Theologie sucht und dass er dafür das Leben und Dasein in seinem faktischen, vortheoretischen, theoretisch unangetasteten Wesenscharakter freilegt, das als solches zugleich der neue Ursprungsboden für alle echten philosophischen Fragen sein soll.

III.

Prinzipieller A-theismus als theologische Epoché

Nachdem wir Heideggers Weg des ursprünglichen Erfahrens, Fragens und Aufweisens, den Weg von der Forderung nach einer wahrhaften Religionsphilosophie und der programmatischen Idee der christlichen Philosophie bis zu den Vorlesungen über Paulus und Augustinus durchlaufen haben, versetzt uns die anschließende Vorlesung vom Wintersemester 1921 / 22 »Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung« in Erstaunen. Denn hier heißt es auf einem der Einleitung zur Vorlesung beigelegten losen Blatt ganz unerwartet und abrupt, die hermeneutische Phänomenologie des faktischen Lebens müsse von der Gottesfrage freigehalten werden. 10 Vgl. ebd., 67 – 156. 11 Vgl. ebd., 157 – 299. 12 Siehe Tietjen: Drei Briefe, 29 [Herv. i. T.].

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»Philosophie muß in ihrer radikalen, sich auf sich selbst stellenden Fraglichkeit prinzipiell a-theistisch sein. Sie darf sich gerade ob ihrer Grundtendenz nicht vermessen, Gott zu haben und zu bestimmen. Je radikaler sie ist, umso bestimmter ist sie ein weg von ihm, also gerade im Vollzug des ›weg‹ ein eigenes schwieriges ›bei‹ ihm.«13

Die Enthaltsamkeit gegenüber der Gottesfrage kennzeichnet Heidegger an dieser Stelle – höchst missverständlich – als prinzipiellen Atheismus, zwar nicht im Sinne eines dogmatischen, das Nichtsein Gottes behauptenden, wohl aber im Sinne eines methodischen Atheismus, was Heidegger gelegentlich auch durch die Getrenntschreibung »A-theismus«, »a-theistisch« verdeutlicht. Diesen noch näher zu kennzeichnenden methodischen A-theismus können wir unsererseits mit dem phänomenologischen Terminus theologische Epoch¦, Ausschaltung der Gottesfrage, bezeichnen. Das von der zitierten Stelle angesprochene Wegsein der Philosophie von Gott besagt, dass in der hermeneutisch-phänomenologischen Auslegung des faktischen Lebens und Daseins vom Wissen von Gott kein Gebrauch zu machen sei. Zugleich aber schließt das methodische »weg« ein, wie Heidegger sagt, »eigenes schwieriges« Bei-Gott-Sein ein, was u. a. besagt, dass nicht etwa ein Nichtsein Gottes behauptet werde, dass sich aber das Philosophieren einer fragenden und bestimmenden Annäherung an Gott enthält. Die gänzlich neue Haltung gegenüber der philosophischen Gottesfrage und einer Religionsphilosophie verschärft sich noch einmal in dem zeitlich der Vorlesung von 1921 / 22 nahe stehenden sog. »Natorp-Bericht« von 1922. In einer längeren Fußnote heißt es dort, die Charakterisierung der Philosophie als atheistisch sei »nicht im Sinne einer Theorie als Materialismus oder dergleichen« gemeint.14 Die Philosophie müsse »als das faktische Wie der Lebensauslegung gerade dann, wenn sie dabei noch eine ›Ahnung‹ von Gott hat, wissen, daß das von ihr vollzogene sich zu sich selbst Zurückreißen des Lebens, religiös gesprochen, eine Handaufhebung gegen Gott ist. Damit allein aber steht sie ehrlich […] vor Gott.«15 In diesen Sätzen Heideggers spricht sich eine deutlich vernehmbare Distanzierung gegenüber der christlichen Gottesfrage aus, die er in seinen unmittelbar vorangegangenen Vorlesungen gerade erst auf dem philosophischen Ursprungsboden des faktischen Lebens und Daseins nicht etwa spekulativ, sondern hermeneutisch-phänomenologisch neu gegründet hatte. In seinem 1937 und 1938 verfassten »Rückblick« auf seinen bisherigen Weg spricht Heidegger dann auch unverdeckt aus, dass »auf diesem ganzen bisherigen Weg verschwiegen die Auseinandersetzung mit dem Christentum mitging […].«16 Wie 13 14 15 16

Heidegger : Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, 197 [Herv. i. T.]. Heidegger : Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles [Natorp-Bericht], 246. Ebd. Heidegger : Besinnung, 415.

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wir aber gesehen haben, begann der Weg dieser Auseinandersetzung nicht etwa schon 1919 mit dem programmhaltigen Brief an Engelbert Krebs (so wird er gern in der Forschungsliteratur gelesen), sondern erst nachdem Heidegger die christliche Religionsphilosophie aus seiner neuen philosophischen Grundstellung im faktischen Leben und Dasein neu gegründet hatte. Das Wegstück von 1919 bis 1921 hat uns gezeigt, wie die christliche Gottesfrage sich mit der eigensten Grund- und Fragestellung der hermeneutisch-phänomenologischen Philosophie des faktischen Lebens und Daseins ohne sachlichen Bruch und Widerspruch verträgt. In der Marburger Vorlesung vom Sommersemester 1925, die in ihrem Hauptteil eine vorlesungsmäßige Darstellung des ersten Abschnitts von Sein und Zeit, also der vorbereitenden Fundamentalanalyse des Daseins, ist, betont Heidegger erneut: »Philosophische Forschung ist und bleibt Atheismus […].«17 Demzufolge enthält auch der im April 1927 erschienene vollständige Aufriss der Fundamentalontologie von Sein und Zeit im § 8 der Einleitung in deren zwei Teilen mit je drei Abschnitten keinen Hinweis auf die philosophische Gottesfrage. In diesem Zusammenhang ist allerdings Heideggers briefliche Mitteilung an Max Müller aus dem Jahre 1947 hochbedeutsam, wonach in der ersten Ausarbeitung des unveröffentlicht gebliebenen dritten Abschnitts von Sein und Zeit außer der ontologischen als der transzendentalen Differenz von Sein und Seiendem eine »theologische (transzendente) Differenz« von Sein und Gott unterschieden wurde.18 Diese Mitteilung zeigt uns, dass die Gottesfrage im Zusammenhang mit der Antwort auf die Fundamentalfrage nach dem Sinn von Sein überhaupt zwar nicht systematisch entfaltet, wohl aber zumindest in der »theologischen Differenz« angezeigt wurde. In der zweiten Ausarbeitung des dritten Abschnitts, die in der Marburger Vorlesung vom Sommersemester 1927 »Die Grundprobleme der Phänomenologie« vorgetragen wurde, fehlt dieser Hinweis auf die theologische Differenz. Was in der von Heidegger vernichteten ersten Ausarbeitung als theologische Differenz angesprochen wurde, weist zurück auf die lebens- und daseinshermeneutische Behandlungsweise der christlichen Gottesfrage in der Paulus- und Augustinus-Vorlesung. Zugleich aber leuchtet auch ein sachlicher Zusammenhang mit Heideggers daseinshermeneutischen Bestimmungen des christlichen Gottesverständnisses in seinem Vortrag »Phänomenologie und Theologie« auf, den er noch im Erscheinungsjahr von Sein und Zeit ausgearbeitet hat und in dem wir die fundamentalontologische Behandlung der christlichen Gottesfrage sehen dürfen. Diesem für unsere Fragestellung bedeutsamen Text wenden wir uns im vierten und abschließenden Abschnitt zu. 17 Heidegger : Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, 109 f. 18 Vgl. Heidegger : Briefe an Max Müller, 15.

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Friedrich-Wilhelm von Herrmann

IV.

Die Gottesfrage in der Fundamentalontologie als fundamentalontologische Korrektion der theologischen Begriffe

Das Wort »Phänomenologie« im Vortragstitel steht für die hermeneutische Phänomenologie und deren thematischen Gegenstand, die Fundamentalontologie des seinsverstehenden Daseins. »Theologie« aber meint hier die christliche Theologie. Der Titel »Phänomenologie und Theologie« ist somit eine Anzeige für die Frage nach dem Verhältnis der hermeneutischen Phänomenologie des Daseins zur christlichen Theologie und umgekehrt. Heideggers These lautet: »Theologie ist eine positive Wissenschaft und als solche von der Philosophie absolut verschieden.«19 Das Positum, das Vorliegende, für die positive Wissenschaft der Theologie fasst Heidegger als »die Christlichkeit« bzw. als »den Glauben«. Das Wesen dieses Glaubens umgrenzt er formal als »eine Existenzweise des menschlichen Daseins«.20 Diese formale Umgrenzung des Glaubens ist von großer Bedeutung, weil dadurch der Glaube aus der Perspektive der Daseinsphänomenologie von vornherein in seiner Existenz- und Daseinsverfasstheit in den Blick genommen wird. Zugleich erinnert sie an die Bestimmung des Glaubens in der Paulus-Vorlesung. Der christliche Glaube ist somit eine Weise des Existierens im Da als der Erschlossenheit der Bedeutsamkeitswelt mit anderem Dasein beim innerweltlich begegnenden Seienden. Das Eigentümliche dieser Existenzweise des Glaubens, dieses Wie des Existierens, zeigt sich darin, dass sie weder aus dem Dasein noch durch es »aus freien Stücken gezeitigt wird«21 wie die anderen Existenzweisen und Existenzmöglichkeiten des Daseins. Die Existenzweise des Glaubens wird vielmehr gezeitigt aus dem, was allein in ihr und für sie offenbar wird, »aus dem Geglaubten«.22 Das im christlichen Glauben Geglaubte und in ihm Offenbarte ist »Christus, der gekreuzigte Gott«.23 Das Kreuzigungsgeschehnis hat einen »Opfercharakter« mit einer bestimmten »Mitteilungsrichtung auf den je faktisch geschichtlich existierenden […] einzelnen Menschen, bzw. die Gemeinschaft dieser Einzelnen als Gemeinde.«24 Die Mitteilung macht denjenigen, den sie trifft, »zum ›Teil-nehmer‹ an dem Geschehen, welches die Offenbarung = das in ihr Offenbare selbst ist.«25 Im Teil-

19 20 21 22 23 24 25

Heidegger : Wegmarken, 49. Ebd., 52. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 53.

Fundamentalontologie und Gottesfrage

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nehmen bzw. Teil-haben am Kreuzigungsgeschehen wird »das ganze Dasein als christliches, d. h. kreuzbezogenes vor Gott gestellt […].«26 Das Gestelltwerden vor Gott versteht Heidegger als »Umgestelltwerden der Existenz in und durch die gläubig ergriffene Barmherzigkeit Gottes«.27 Das existierende In-der-Welt-Sein, das in die Existenzweise des Glaubens gelangt, nimmt einen neuen Modus an und gewinnt eine neue Orientierung in seiner Welt. Das jeweilige daseinsmäßige In-der-Welt-Sein bleibt, was es ist, aber es modifiziert sich in seiner Ausgerichtetheit in einer Weise, zu der es von sich allein aus nicht fähig wäre. Denn in der Existenzmöglichkeit des Glaubens ist das Dasein »zum Knecht geworden, vor Gott gebracht und so wieder-geboren«.28 Diese Wiedergeburt ist nach Heidegger der »eigentliche existenzielle Sinn des Glaubens«.29 Heidegger fasst die Wiedergeburt als einen Modus des geschichtlichen Existierens des faktischen gläubigen Daseins. Dessen Geschichtlichkeit bestimmt sich – so Heidegger – aus »der Geschichte, die mit dem Geschehen der Offenbarung anhebt«.30 Die Wiedergeburt ist der neue Existenzmodus, in welchem das Dasein zwar weiterhin als In-der-Welt-Sein existiert, jedoch so, dass sein In-der-Welt-Sein nunmehr seine primäre Ausrichtung aus der Wiedergeburt empfängt. In diesem Sinn stellt er eine Aneignung der Offenbarung dar. Die Theologie ist die wissenschaftliche Thematisierung des Glaubens und des mit ihm Enthüllten, die auf die »Durchsichtigkeit des christlichen Geschehens« zielt.31 Heidegger umreißt sie in vier Hinsichten32 : Sie ist 1. Wissenschaft vom Geglaubten, 2. Wissenschaft vom glaubenden Verhalten, d. h. der Gläubigkeit, 3. Wissenschaft des Glaubens, insofern »sie selbst aus dem Glauben entspringt«, und 4. Wissenschaft des Glaubens, sofern sie das Ziel hat, »die Gläubigkeit selbst an ihrem Teil mit auszubilden«. Gläubigkeit und Glaube kennzeichnet Heidegger abschließend als eine gnadenhaft geschenkte Existenzweise.33 Das Geschenk des Glaubenkönnens muss jedoch von der je einzelnen Existenz ergriffen werden und zwar in einem Ergreifen, in welchem die Freiheit des Einzelnen ins Spiel kommt. Wie wird nun von Heidegger einerseits das Verhältnis der Theologie als der Wissenschaft vom Glauben zur Ontologie des seinsverstehenden Daseins und vice versa bestimmt? »Der Glaube [selbst außerhalb der Theologie] bedarf nicht

26 27 28 29 30 31 32 33

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 56. Siehe ebd., 55. Ebd., 56.

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der Philosophie«34, der hermeneutisch-phänomenologischen Ontologie des Daseins. Aber die Theologie als die Wissenschaft vom Glauben bedarf ihrer sehr wohl. Aus welcher Richtung kommt dieses Bedürfnis? Hier gilt es zu scheiden: Die Theologie bedarf der Philosophie »nicht zur Begründung und primären Enthüllung ihrer Positivität, der Christlichkeit«.35 Denn ihr Sachbereich, die Christlichkeit, enthüllt und begründet sich selbst in der Offenbarung, die als eine eigene Faktizität in das faktische Dasein hinein geschieht. Die Theologie bedarf der Existenzialontologie des Daseins »nur mit Rücksicht auf ihre Wissenschaftlichkeit«.36 Im Wiedergeborensein der gläubigen Existenz liegt beschlossen, »daß darin die vorgläubige, d. h. ungläubige Existenz des Daseins aufgehoben ist«.37 Die Begriffe »vor-gläubig« und »un-gläubig« müssen wir in der Bindestrich-Schreibweise hören, die darauf hinweist, dass hier die Existenz und das Existieren vor der Annahme des neuen Existenzmodus des Glaubens gemeint ist. Durch die Annahme des neuen Existenzmodus des Glaubens ist die Existenz in ihrer bisherigen Existenzweise aufgehoben, d. h. hier : »in die neue Schöpfung hinaufgehoben, in ihr erhalten und verwahrt«.38 Im Übergang von der Vor-gläubigkeit in die Gläubigkeit nimmt die Existenz einen neuen Existenzmodus an. »Vorchristlich« hat also bei Heidegger zwei Bedeutungen: Einmal ist die Existenzweise der Vorchristlichkeit gemeint, zum anderen die existenzialontologische Verfasstheit der Existenz, die ihrerseits bestimmend ist für die vor-christliche wie für die christliche Existenzweise. Aus der Unterscheidung zwischen der christlichen Existenzweise und der Existenz als solcher in ihrer existenzialontologischen Verfasstheit ergibt sich, dass »alle theologischen Grundbegriffe« einen christlichen und einen »sie ontologisch bestimmenden vorchristlichen und daher rein rational fassbaren Gehalt«39 haben. Dieser »rein rational« fassbare, nicht selbst aus der Offenbarung stammende Gehalt ist das Existenzialontologische der Existenz, das den christlichen Gehalt der theologischen Begriffe ontologisch bestimmt. Hierzu sagt Heidegger : »Alle theologischen Begriffe bergen notwendig das Seinsverständnis in sich, das das menschliche Dasein als solches von sich aus hat, sofern es überhaupt existiert.«40 Dies ist das Verständnis des Seins als Existenz, das vollzugshafte Existenzverständnis in seinen existenzialen Seinsweisen, die in der Existenzialontologie freigelegt werden. Heidegger führt als Beispiel den theologischen Begriff der Sünde an und hebt 34 35 36 37 38 39 40

Ebd., 61. Ebd. Ebd. Ebd., 63. Ebd. Ebd. Ebd.

Fundamentalontologie und Gottesfrage

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an diesem den zweifachen Gehalt ab. Zuerst ist die Sünde der Begriff eines reinen Glaubensphänomens, das nur im Glauben offenbar ist. Für die theologischbegriffliche Auslegung des Sündenbegriffs ist jedoch der »Rückgang auf den Begriff der Schuld« erforderlich.41 Hier ergibt sich der Bezug der Theologie zur Existenzialontologie des Daseins. Denn Schuld gehört zu den ursprünglichen ontologischen Bestimmungen des Daseins. Nach § 58 von Sein und Zeit besteht die formal existenziale Idee von Schuld und Schuldigsein im »Grundsein für ein durch ein Nicht bestimmtes Sein«, d. h. als »Grundsein einer Nichtigkeit«. Diese existenzialontologische Bestimmung der Schuld gehört in die ontologische Grundverfassung des Daseins. Somit ist der theologische Gehalt der Sünde im existenzialen Gehalt des Schuldigseins ontologisch begründet. Der existenziale Schuldbegriff fungiert als ontologischer »Leitfaden für die theologische Explikation der Sünde«.42 Diese ontologische Leitfadenfunktion der existenzialen Begriffe für die theologischen Grundbegriffe kennzeichnet Heidegger nun mit dem zentralen Begriff der »Korrektion« in der Bedeutung der »Mitleitung«.43 Der Komplementär-Begriff zur Korrektion ist aber der Begriff der »Direktion«. Der theologische Begriff der Sünde erhält durch den existenzialen Begriff der Schuld diejenige Korrektion, also Mitleitung, »die für ihn als Existenzbegriff seinem vorchristlichen Gehalte nach notwendig ist.«44 Der theologische Begriff der Sünde erhält also seine Mitleitung, seine Korrektion, von der Existenzialontologie. Seine »primäre Direktion« aber, d. h. seine »Herleitung«, »den Ursprung seines christlichen Gehaltes«45, empfängt er allein aus dem Glauben. Heidegger unterstreicht nun, dass es zwar nicht zum Wesen der Daseinsontologie gehöre, die Funktion eines Korrektivs für die Theologie zu haben, dass aber die Daseinsontologie »die Möglichkeit« vorgibt, von der Theologie in diesem Sinn in Anspruch genommen zu werden. Wie schon in der Vorlesung von 1921 / 22 wird von Heidegger auch jetzt in »Phänomenologie und Theologie« die Philosophie der Daseinsontologie gekennzeichnet als »das freie Fragen des rein auf sich gestellten Daseins«.46 Es ist also ein Fragen, das sich selbst freihält von der Offenbarung, ein Fragen, das das Dasein nur insoweit zum Thema hat, wie dieses ohne Offenbarungswissen hermeneutisch-phänomenologisch zum Aufweis und zur Auslegung gebracht werden kann. Nun aber folgt aus der Perspektive dieser Selbstbestimmung der Daseinsphilosophie eine Charakterisierung der Existenzmöglichkeit des Glaubens, die erschrecken macht und die auch nicht als folgerichtig aus den vor41 42 43 44 45 46

Ebd., 64. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 65.

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ausgehenden Ausführungen Heideggers erscheint. Der Glaube sei »in seinem innersten Kern als eine spezifische Existenzmöglichkeit« im Verhältnis zur »Existenzform« der Philosophie der »Todfeind« der Philosophie.47 Anders gewendet: Die Existenzialontologie hat, wenn sie sich als das freie Fragen des rein auf sich gestellten Daseins versteht, im Glauben und dessen Geglaubtem insofern ihren »Todfeind«, als der Glaube in der Offenbarung seinen Ursprung hat. Zwar geschieht die Offenbarung in das Dasein hinein, dergestalt, dass das Dasein aus dem Offenbarungsgeschehen in dieses geworfen wird. Dieser glaubensmäßige Geworfenheitscharakter ist jedoch nicht wie der vor-christliche Geworfenheitscharakter des Daseins existenzialontologisch aufweisbar, sondern nur im Glauben und aus dem Glauben verstehbar. Heidegger wählt das harte Wort Todfeind, um die Daseinsontologie selbst von der Quelle der Offenbarung freizuhalten. Gläubigkeit aus der eigenen Faktizität der Offenbarung und »freie Selbstübernahme des ganzen Daseins« stehen für Heidegger in einem »existenziellen Gegensatz«.48 Zugleich aber müsse dieser existenzielle Gegensatz zweier Existenzmöglichkeiten »die mögliche Gemeinschaft von Theologie und Philosophie als Wissenschaften tragen«.49 Abschließend bringt Heidegger den existenziellen Gegensatz zwischen Gläubigkeit und Theologie einerseits und Philosophie als freier Selbstübernahme des ganzen Daseins andererseits in die Form: »Es gibt daher nicht so etwas wie eine christliche Philosophie, das ist ein ›hölzernes Eisen‹«50, also ein Widerspruch in sich.

V.

Weiterführende Überlegungen

Diese beiden Bestimmungen, der Glaube als »Todfeind« der Daseinsphilosophie und eine christliche Daseins-Philosophie als ein »hölzernes Eisen«, müssen von uns kritisch befragt und überprüft werden. Die Rede vom »Todfeind« möchte sagen, dass der Kern des christlichen Glaubens der Feind sei, der auf den Tod, auf die Negation dessen, was die Daseinsontologie vom Wesen der Endlichkeit des Daseins freilegt, abzielt. Wenn etwa der existenziale Begriff des Todes diesen als die »Möglichkeit der schlechthinnigen Daseinsunmöglichkeit« bestimmt, dann scheint dieser existenziale Aufweis durch den Offenbarungsgehalt der »Auferweckung vom Tod« genichtet zu werden. Der christliche Glaube scheint zu verneinen, was die Daseinsphänomenologie als phänomenologischen Aufweis 47 48 49 50

Ebd., 66. Ebd. Ebd. Ebd.

Fundamentalontologie und Gottesfrage

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beansprucht. Doch diesem Schein ist entgegenzuhalten, dass der Glaubensgehalt von der Verheißung des ewigen Lebens sich nicht gegen den phänomenalen Gehalt des Seins zum Tode richtet. Ganz im Gegenteil bleibt die phänomenologische Einsicht in den daseinsmäßigen Tod als der schlechthinnigen Daseinsunmöglichkeit vom Glaubensgehalt unangetastet. Denn der Offenbarungsgehalt von der Auferstehung zielt auf solches, was sich in der abgründigen Verschlossenheit, als welche der Tod sich im eigentlichen Sein zum Tod zu verstehen gibt, verborgen hält. Zugleich gilt auch das Umgekehrte. Der sich als schlechthinnige Daseinsunmöglichkeit zu verstehen gebende Tod vermag seinerseits den Glaubensgehalt vom ewigen Leben nicht in Frage zu stellen. Das ewige Leben bezieht sich nicht auf das Dasein und den daseinsmäßigen Tod. Als was sich der daseinsmäßige Tod im Sein zum Tode erschließt, muss nicht verleugnet werden, um frei zu sein für die geoffenbarte Auferstehung. Diese hat vielmehr den als schlechthinnige Daseinsunmöglichkeit sich erschließenden Tod zur konstitutiven Voraussetzung. Je radikaler die hermeneutisch-phänomenologische Aufschließung des Daseins sich vollzieht, desto vernehmbarer wird der aus der Offenbarung ergehende Anruf an die selbsthaft verfasste Existenz. Solange sich die hermeneutisch-phänomenologische Daseinsanalytik nur innerhalb ihrer Grenzen des rein phänomenologisch Aufweisbaren und somit »rational« Fassbaren hält, gerät sie in keinen Widerspruch zum Offenbarungsgehalt der theologischen Begriffe. In diesem Selbstverständnis ist sie dann zwar keine »christliche« Philosophie, aber auch keine antichristliche Philosophie. Andererseits ist damit die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass eine hermeneutisch-phänomenologische Philosophie des Daseins – im klaren Wissen um den Unterschied zwischen dem rational Aufweisbaren und der Offenbarungsquelle – sich in einem zweiten Schritt auch auf den Boden des Offenbarungswissens stellt. In diesem Fall nimmt sie dann auch den Charakter einer christlichen Philosophie im recht verstandenen Sinne an, ohne zum »hölzernen Eisen« zu werden. Diesen Weg ist Heidegger selbst in seiner religionsphänomenologischen Vorlesung gegangen. Wenn aber die Daseinsontologie in ihrer Selbstbeschränkung das Geoffenbarte der Offenbarung nicht mitthematisiert und in diesem Sinne keine christliche Philosophie ist, hat sie einen wesenhaften Bezug zur Wissenschaft vom christlichen Glauben, der darin besteht, dass sie die Einsichten der Existenzialontologie in der Weise der Korrektion für die theologischen Grundbegriffe bereitstellt. Die fundamentalontologische Korrektion der theologischen Grundbegriffe bestimmt den Bezug der Fundamentalontologie zur christlichen Gottesfrage.

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Friedrich-Wilhelm von Herrmann

Quellen Heidegger, Martin: Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, GA (= Gesamtausgabe, Band) 20, Frankfurt / M. (Klostermann) 1979. Ders.: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung, GA 61, Frankfurt / M. (Klostermann) 1985. Ders.: Zur Bestimmung der Philosophie, GA 56 / 57, Frankfurt / M. (Klostermann) 1987. Ders.: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles [Natorp-Bericht], in: DiltheyJahrbuch 6 (1989), 237 – 269. Ders.: Grundprobleme der Phänomenologie (1919 / 20), GA 58, Frankfurt / M. (Klostermann) 1993. Ders.: Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks, GA 59, Frankfurt / M. (Klostermann) 1993. Ders.: Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, Frankfurt / M. (Klostermann) 1995. Ders.: Besinnung, GA 66, Frankfurt / M. (Klostermann) 1997. Ders.: Briefe an Max Müller und andere Dokumente, Freiburg u. a. (Alber) 2003. Ders.: Wegmarken, GA 9, 3. durchges. Aufl., Frankfurt / M. (Klostermann) 2003. Heidegger, Gertrud: »Mein liebes Seelchen!«. Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride 1915 – 1970, München (Deutsche Verlagsanstalt) 2005.

Sonstige Literatur Casper, Bernhard: Martin Heidegger und die Theologische Fakultät Freiburg 1909 – 1923, in: Freiburger Diözesan Archiv 100 (1980), 534 – 541. Tietjen, Hartmut (Hg.): Drei Briefe Martin Heideggers an Karl Löwith, in: Papenfuss, Dietrich und Pöggeler, Otto (Hg.): Zur philosophischen Aktualität Heideggers, Bd. 2: Im Gespräch der Zeit, Frankfurt / M. (Klostermann) 1990, 27 – 39 f.

Günther Pöltner

Sein als Ereignis

I.

Auslegung einer Grunderfahrung

Im Folgenden wird der Versuch unternommen, eine Grunderfahrung denkend aufzuschließen. Es soll gefragt werden, was diese Grunderfahrung uns zu verstehen gibt. Der Ausdruck »Grunderfahrung« soll zweierlei andeuten. Er soll zum einen anzeigen, dass es nicht um den für die sogenannten Erfahrungs- oder empirischen Wissenschaften ausschlaggebenden Erfahrungsbegriff, sondern um Erfahrung im uneingeschränkten und vollen Wortsinn geht. Und er soll zum anderen auf den ausgezeichneten, fundierenden Charakter dieser Erfahrung aufmerksam machen.

1.

Erfahrung im Unterschied zu Empirie

Bekanntlich deckt sich der für die empirischen Wissenschaften relevante Erfahrungsbegriff nicht mit dem vor- und außerwissenschaftlichen Erfahrungsverständnis. Die Erfahrung im Sinne der empirischen Wissenschaften (die Empirie) ist zwar eine in ihren Grenzen legitime und unverzichtbare, jedoch keineswegs die maßgebliche Form von Erfahrung, sondern ein abgeleitetes Phänomen. Empirisch-wissenschaftliche Daten sind das Resultat einer Reduktion lebensweltlich bekannter Erfahrungsgegebenheiten auf deren berechenbaren Bestand. »Reduktion« meint jene methodische Ausklammerung von Wirklichkeitsdimensionen, durch die einerseits sowohl das erfahrungswissenschaftliche Objekt als auch dessen Subjekt konstituiert und andererseits gleichzeitig von vornherein festgelegt wird, was im wissenschaftlichen Kontext als Erfahrung zugelassen wird und was nicht. Die empirischen Wissenschaften leben von einer Reduzierung der Erfahrung auf das methodisch herbeiführbare und überprüfbare Experiment. »Subjekt« und »Objekt« sind Korrelationsbegriffe. Nicht nur die Gegenstände der empirischen Wissenschaften, sondern auch deren Subjekt ist das Resultat eines das gesamte empirische Vorgehen

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Günther Pöltner

umfangenden und so überhaupt erst ermöglichenden Ausblendungsprozesses. Eines geschieht als das andere: Methodische Selbstausschaltung des daseienden Menschen zugunsten eines allgemeinen Subjekts, dessen Funktion im Prinzip von jedermann übernommen werden kann, und Vergegenständlichung fallen zusammen. Allerdings bleibt zu beachten: Was methodisch ausgeblendet werden kann, ist nicht real zum Verschwinden zu bringen. Vielmehr bleibt das Ausgeblendete in der Vergegenständlichung als deren Ermöglichungsgrund latent anwesend. Eben deshalb kann es sich bemerkbar machen und zu erfahren geben – in einer gegenüber dem empirischen Vorgehen freilich anders strukturierten Weise, die aber sehr wohl Erfahrung zu nennen ist. Dass sich Erfahrung nicht mit Empirie deckt, zeigt nicht zuletzt die bekannte Tatsache, dass jemand viel empirisches Wissen besitzen, und doch als Mensch unerfahren sein kann. Die Empirie verhält sich zum umfassenden Erfahrungsbegriff als das Abgeleitete zum Ursprünglichen. Damit ist weder die Legitimität empirischen Vorgehens bestritten noch eine Herabsetzung ausgesprochen, sondern bloß auf ein Fundierungsverhältnis aufmerksam gemacht. Das empirische Vorgehen hat eine Form von Erfahrung zu seiner Voraussetzung, in die es in einer Weise eingebettet ist, die seinem Zugriff grundsätzlich entzogen bleibt.

2.

Unverkürzte Erfahrung

Ein unverkürztes Erfahrungsverständnis hat Heidegger im Auge, wenn er bemerkt: »Mit etwas, sei es ein Ding, ein Mensch, ein Gott, eine Erfahrung machen heißt, daß es uns widerfährt, daß es uns trifft, über uns kommt, uns umwirft und verwandelt. Die Rede von ›machen‹ meint in dieser Wendung gerade nicht, daß wir die Erfahrung durch uns bewerkstelligen; machen heißt hier : durchmachen, erleiden, das uns Treffende vernehmend empfangen, annehmen, insofern wir uns ihm fügen. Es macht sich etwas, es schickt sich, es fügt sich.«1

An dieser Bestimmung sind in unserem Zusammenhang vor allem folgende Strukturmomente wichtig: (1) das Sich-Zusprechen, Sich-Zeigen von ihm selbst her, (2) die ganzheitliche In-Anspruch-Nahme und (3) die für das Machen von Erfahrung unabdingbare Deutung. Ad (1): Eine Erfahrung lässt sich nicht planen, nicht herbeiführen. Sie überkommt uns. In ihr kommt etwas zur Gegebenheit, spricht sich zu, zeigt sich etwas von ihm selbst her. Auf das »von ihm selbst her« kommt es an. Eine 1 Heidegger: Wesen der Sprache, 149. Vgl. auch ebd., 159: »Erfahren heißt nach dem genauen Sinn des Wortes: eundo assequi, im Gehen, unterwegs etwas erlangen, es durch den Gang auf einem Weg erreichen.«

Sein als Ereignis

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Erfahrung kommt zwar nie ohne unseren Erfahrungshorizont zustande (in diesem Sinne bestimmt die Geschichte des eigenen Vorverständnisses mit, wie und als was sich etwas zusprechen kann), aber er bestimmt sie nicht. Die Erfahrung durchbricht und durchkreuzt ihn, in ihr kommt anderes zum Vorschein – etwas gibt sich selbst zu erfahren. In der Erfahrung kommt die Sache selbst, was auch immer sie sein mag, zur Gegebenheit. Diese Gegebenheit kann Modifikationen aufweisen. Das Erfahrene kann sich zu vernehmen geben in der Weise der Verdeckung, Verstellung, Verdrängung, es kann betont auf sich aufmerksam machen oder uns in Form unausdrücklicher oder ausdrücklicher Mit-Gegebenheit betreffen. Ad (2): Eine Erfahrung betrifft den ganzen Menschen – den Menschen in seiner Offenständigkeit für die gemeinsame Welt, zu der er sich immer schon als Mitmensch, der er wesentlich ist, so oder so verhält. Und wenn es vom Erfahrenen heißt, es zeige sich oder spreche sich zu, so sind damit nicht Korrelationen zu einzelnen Sinnen (Sehen, Hören) im Unterschied zum Denken gemeint. Weder sieht das Auge und hört das Ohr noch denkt das Gehirn, sondern es ist ein namentlich zu nennender Mitmensch, der dies tut. Was wir als Sehen, Hören, Denken unterscheiden, sind nachträgliche Abstraktionsprodukte der einen umfassenden und ungeteilten, in sich strukturierten Weltoffenständigkeit mitmenschlichen Daseins. Eine Erfahrung im vollen Wortsinn ist allemal ein gesamtmenschlicher Vollzug. Ad (3): Erfahrungen geben uns zu verstehen. Das aber können sie nur, wenn ihnen ein entsprechender Raum eingeräumt wird, d. h. wenn sie gedeutet und ausgelegt werden.2 Was immer sich zuspricht, ist darauf angewiesen, in unserem Entsprechen zu seiner Sprache gebracht zu werden. Was immer sich zeigt, sein Sichzeigen geschieht jeweils als unser Gewahren. Hier herrscht kein Nacheinander von Vollzügen, sondern die Identität eines einzigen Vollzugs. Eines geschieht als das andere, das Sichzeigen als Gewahren. Deshalb ist die Auslegung niemals ein äußerlicher Zusatz, weil das, was sich zu erfahren gibt, nur in ihr sich in seiner Bedeutsamkeit zusprechen kann. Wir müssen, was sich zu erfahren geben will, sich zusprechen lassen. Die Auslegung hat den Sinn einer Freilegung. Eine Erfahrung ist erst gemacht, wenn sie ausgelegt ist. Das unterscheidet sie vom bloßen Erlebnis. Eine ungedeutete Erfahrung ist blind, insofern der davon Betroffene nichts zu sehen und zu vernehmen bekommt.3

2 Nach Wucherer-Huldenfeld: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein. Ausgewählte philosophische Studien II (künftig zitiert als UE 2; Bd. I der Aufsatzsammlung wird künftig zitiert als UE 1), 150, gibt sich nur so »dasjenige, mit dem wir die Erfahrung machen, in seiner Bedeutsamkeit zu verstehen«. 3 Vgl. UE 2, 150.

60

II.

Günther Pöltner

Das Gegebensein des Daseins

Im Folgenden haben wir mit der Erfahrung zu tun, »daß wir miteinander in der Welt anwesend sind und uns auf diese Weise ereignishaft Zeit zu sein gegeben ist«.4 Es ist das Staunen darüber, dass es uns gegeben ist, da sein zu können, die Erfahrung, in der wir des Gabecharakters des Daseins und damit des Seins selbst innewerden können. Und unser Dasein ist uns nicht irgendwie gegeben, sondern in der Weise, dass sich uns je und je Möglichkeiten des Guten, des in sich Sinnvollen, zuspielen und wir dahingehend begabt sind, diese sich uns eröffnenden Möglichkeiten zu ergreifen und dem Guten Raum zu geben. Hierbei handelt es sich im mehrfachen Sinn um eine Grunderfahrung: (1) Diese Erfahrung betrifft uns fundamental, weil es in ihr nicht bloß um Verhältnisse geht, die sich in unserem Dasein zeigen und in die wir dann und wann geraten können, sondern in ihr sich derjenige Bezug erschließt, der unser Dasein selbst ausmacht. In ihr ereignet sich (2) die Nähe des Allernächsten, das für gewöhnlich übergangen wird: unser eigener Ursprung und der Ursprung aller Dinge.5 Und sie besitzt (3) die Struktur einer ausdrücklichen Mit-Erfahrung: In ihr wird dasjenige auf ausdrückliche Weise mitgegenwärtig, was für gewöhnlich immer nur verborgen mitanwesend ist.

III.

Klärung von Missverständnissen

Die Erfahrung des Daseins (dies, dass wir da sein können) ist nicht mit der Feststellung zu verwechseln, dass es uns neben so vielen anderen Dingen der Welt auch noch gibt und wir neben Tieren, Pflanzen, Gebirgen etc. ebenfalls vorkommen. Schließlich gibt es auch noch Zahlen – wir zählen ja mithilfe der Zahlen und stellen die Anzahl von Dingen fest. Die Daseinserfahrung ist nicht das Thema des Existenzsatzes »Menschen existieren« und ist mit logischen Mitteln (= dem Existenzquantor) nicht zu fassen. Das Dasein lässt sich mit dem Existenzquantor (in umgangssprachlicher Formulierung: Es gibt = Es gibt mindestens ein x, von dem gilt, x ist F) nicht zum Ausdruck bringen. Der Existenzquantor ersetzt zwar »existieren«, das im umgangssprachlichen Existenzsatz an der Prädikatsstelle steht (»Menschen existieren«), durch den Ausdruck »Mensch« (es gibt mindestens ein x, für welches gilt, x ist Mensch), wird aber damit das Seinsproblem nicht los. Erstens ist mit der Umformulierung im Sinne des Existenzquantors »existieren« keineswegs verschwunden. Es versteckt sich vielmehr im »Es gibt«. Genau formuliert muss 4 Wucherer-Huldenfeld: Freiheit, 211 [Herv. i. T.]. 5 Vgl. UE 2, 335.

Sein als Ereignis

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es nämlich heißen: Unter den existierenden Gegenständen gibt es mindestens einen, von dem gilt, ist Mensch – Zahlen lassen sich ja nicht an der Stelle der Variablen x einsetzen. Und zweitens hat der Existenzquantor »existieren« auf bloße Konstatierbarkeit reduziert. Diese seine Reduktion lebt vom Nichtstellen genau derjenigen Frage, um die es uns zu tun ist: Was es nämlich für ein Seiendes jeweils heißt zu sein.

1.

Dasein – nicht Dass-Sein

Mit »Dasein« ist nicht jenes Dass-Sein gemeint, welches den Gegensatz zum Was-Sein (Sosein) bildet. Das so verstandene Dasein (Dass-Sein, Existenz) bildet die Antwort auf die Ob-Frage (ob etwas ist), das Wassein jene auf die Frage, was etwas ist. Beim Was-Sein (Sosein) wird davon abstrahiert, ob das in ihm intendierte Seiende existiert oder nicht, d. h. das Dass-Sein des so und so Seienden bleibt offen. Dasein im Sinn von Existenz, Dass-Sein, bezeichnet den Aktualitätszustand, in den ein Wasgehalt geraten kann, die positio als sistentia extra nihilum et causas (das Gesetztsein außerhalb des Nichts und außerhalb der Ursachen).6

2.

Das Da als die weltweite Offenheit – Dasein als Weltbezug

(a) Die Vorsilbe »Da« in »Dasein« antwortet nicht auf die Frage, wo sich etwas befindet, sie hat nicht die Funktion einer Stellenangabe, sondern meint dasjenige, was solches Fragen und Antworten überhaupt erst ermöglicht – die weltweite Offenheit, darin wir uns selbst anwesend sind und jegliches sich zeigen und uns ansprechen kann. »Das Da […] soll die Offenheit nennen, in der für den Menschen Seiendes anwesend sein kann, auch er selbst für sich selbst.«7 Das Wörtchen »Da« in der Wortverbindung Dasein meint nicht das Hiersein im Unterschied zum Dortsein, weil es beides umspannt, es »bildet das ringsum Offene unseres, meines und deines Anwesens«.8 Für den Menschen heißt zu sein: 6 Dieses in der skotistischen Tradition beheimatete (und von Heidegger fälschlich für das thomanische gehaltene) Verständnis von Dasein (Dass-Sein, Existenz) ist z. B. bei Kant lebendig, wenn es heißt, Dasein ist kein reales Prädikat, sondern die Position eines Dinges. Schelling redet von Wirklichkeit (Existenz), welche die Vernunftwissenschaft nicht zu erreichen vermag. 7 Heidegger: Zollikoner Seminare, 156 – 157. 8 Wucherer-Huldenfeld: Weltverständnis, 24. Vgl. dazu auch Wucherer-Huldenfeld: Privation, 32: »Das Walten von Offenständigkeit ist daher nicht subjektzentriert, nicht bloß auf die Möglichkeit des eigenen Sichöffnens, nicht auf das freie Sicheinlassen auf uns An-

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da sein, d. h. das Da (die weltweite Offenheit) zu sein, d. h. zu vollbringen.9 Das Wort »sein« in »Dasein« ist zeitwörtlich zu verstehen. Sein besagt: anwesen, verweilen, walten, währen, gewähren. So, wenn wir sagen: Heute sind mehr Leute da als gestern – heute sind mehr anwesend. »Dasein« ist nicht ein anderes Wort für Dass-Sein, sondern nennt einen Bezug: Es nennt die Weltoffenständigkeit, die das Menschsein des Menschen ausmacht, das In-der-Welt-Sein. (b) Das Da, die weltweite Offenheit, ist nichts Anwesendes, nichts Lokalisierbares, nichts, was sich hier oder dort befinden würde. Deshalb wird es ja für gewöhnlich überhaupt nicht beachtet und besitzt den Anschein der Nichtigkeit. Anwesendes kann in ihm sich zeigen, es selbst aber ist nichts in ihm Anwesendes, auf das wir uns richten könnten. Demgemäß ist das Vollbringen dieser Offenheit, das Dasein als Weltbezug, kein intentionaler Vorgang. »Dieses mein Dasein, unser Dasein in der Offenständigkeit für das Offene der Welt und damit für das sich so oder so uns Ansprechende, Sichzeigende ist nichts Vorhandenes, nichts Beobachtbares, auf das man hinzeigen könnte, denn das kann man nur innerhalb des offenen Bezirks des Anwesens bzw. des Offenen unserer Welt.«10 So, wie das Vollbringen der weltweiten Offenheit nicht einer im Laufe des Lebens erwerbbaren Fähigkeit entspringt (wie es etwa der Umgang mit Gebrauchsdingen ist) und nicht gelernt werden kann, so kann es auch nicht unterlassen werden. Wir können uns nicht nicht zur weltweiten Offenheit verhalten. Alles Feststellen, Beobachten, Lokalisieren, jedwedes Aufnehmen oder Unterlassen von Beziehungen gründet im Weltbezug und spielt in ihm. Das Dasein ist zwar nicht gegenständlich aufweisbar, in seiner Gegebenheit und Aufgegebenheit nicht intendierbar, aber nicht alles, was uns erschlossen ist, ist etwas Intendierbares. Der weltweiten Offenheit unseres Daseins sind wir inne.11 (c) Die Rede von einem Innesein oder Gewahren zeigt zweierlei an. Sie bringt einerseits die Ungegenständlichkeit des Weltbezugs und andererseits dies zum Ausdruck, dass die Weltoffenheit in Form des Mitvollzugs vollbracht wird. Sie ist kein eigenständiger, zweiter Vollzug neben den Beziehungen, in denen wir zu unseren Mitmenschen oder zu den Dingen stehen. Wir stehen nicht zu diesem sprechendes zu beschränken. Zu bedenken ist, wie zu diesem Offenen unseres Weltaufenthaltes schon Verschlossenheit und Verdecktsein gehört […].« 9 Vgl. Heidegger: Seminare, 157: »Das Da zu sein zeichnet das Menschsein aus. Die Rede vom menschlichen Dasein ist darnach ein – auch in ›Sein und Zeit‹ – nicht überall vermiedener Pleonasmus.« [Herv. i. T.] 10 Wucherer-Huldenfeld: Weltverständnis, 24. 11 Siehe ebd., 25: »Das Anwesen oder Wohnen ›in‹ der Welt ist ein Innesein, das wir zwar nicht beobachten können, aber dennoch als das Worin des Beobachtbaren gewahren.«

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oder jenem Seienden in Beziehung und zusätzlich noch zur weltweiten Offenheit. Vielmehr wird diese in den ontischen Beziehungen, den Beziehungen zu diesem oder jenem Anwesenden, mitvollzogen – ein Umstand, der (wie noch zu sehen sein wird) für die Auslegung der Daseinserfahrung von ausschlaggebender Bedeutung ist. Das Anwesende ist dabei nicht bloß auf das leibhaftig Gegenwärtige beschränkt, sondern umfasst auch das Abwesende in Gestalt des Gewesenen und Kommenden. Für gewöhnlich bildet der Weltbezug kein eigenes Thema, sondern den unthematischen Hintergrund der ontischen Beziehungen, in denen er sich als deren Ermöglichung verbirgt. Deshalb wird er ja zugunsten dieser Beziehungen übersprungen. Wir halten uns bei diesem oder jenem auf, nicht aber bei der Welt. Thematisch wird der Weltbezug in der Daseinserfahrung. Thematisch heißt: Sein je schon verborgenes Walten zeigt sich, seine Verborgenheit enthüllt sich.

3.

Dasein als Offenständigkeit für die gemeinsame Welt

Überdenken wir das eben Gesagte noch einmal: Es ist hier nicht um die Feststellung von Vorhandenem zu tun, die von einem Beobachter getroffen wird. Eine solche Beobachterhaltung kann ich natürlich auch zu mir selbst einnehmen. Stelle ich selbst mein Vorhandensein neben so vielem anderen Seienden fest, so habe ich eine Selbstdistanzierung vorgenommen und meinen Leib zu einem Körperding vergegenständlicht. Das ist durchaus möglich – nur darf dabei nicht vergessen werden, dass diese Distanzierung immer nur leiblichdaseiend vollzogen werden kann. Jede Vergegenständlichung lebt von der unthematischen Anwesenheit des von ihr methodisch Ausgeschalteten und ist nur im Innesein der Weltoffenheit, nur auf dem Boden unseres Anwesens in vernehmender Offenständigkeit zur Welt möglich.12 Nicht um ein Feststellen geht es, sondern um das Innewerden unseres Daseins und damit jener Offenständigkeit für die weltweite Offenheit, in der jegliches, uns selbst eingeschlossen, sich zeigen und zu vernehmen geben kann. Gibt sich nun jegliches, in welcher Weise auch immer, im Offenen der Welt zu vernehmen, dann ist dieses Offene immer schon die uns gemeinsame Welt. Erfahrung ist zwar je meine, doch was sich mir zu erfahren gibt, ist nichts PrivatSubjektives, sondern allemal solches, was Mitteilung ermöglicht und mich in meinem Mitsein mit Anderen in Anspruch nimmt. Das Mitsein darf freilich 12 Vgl. UE 2, 144, FN 302. Die Erfahrung, da zu sein, ist, so Wucherer-Huldenfeld: Freiheit, 211, nicht zu verwechseln mit der »verdinglichenden Aussage, daß wir als faktische Gegebenheiten in der Welt antreffbar sind. Eine solche Aussage ist ja erst innerhalb unseres Miteinanderanwesens verstehbar und auf dem Grunde unseres gemeinsamen Offenseins für uns ansprechbare Gegebenheiten möglich.«

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nicht auf ein symmetrisches Anerkennungsverhältnis verkürzt werden. Solch eine Verkürzung läge auch dort noch vor, wo dieses Verhältnis als liebendes IchDu-Verhältnis gefasst wird. Im Kontext personal-dialogischen Denkens »bleibt meist das liebende Verhältnis des Anderen (Du) uns gegenüber unberücksichtigt, daß wir selbst zur Mitte der Welt des Anderen werden, daß wir als die zu unserem eigenen Anderssein Freigegebenen uns in dieser Liebe anzunehmen haben und annehmen dürfen«.13 Der Mensch ist primär nicht der Sprechende, sondern der von Anderen Angesprochene. Er ist primär Du der Anderen, verdanken wir uns doch immer schon der Liebe Anderer und kommen in der liebenden Annahme der Anderen allererst zu uns selbst. Das darf freilich nicht dahingehend missverstanden werden, dass wir die Angesprochenen deshalb seien, weil Andere zu Zeiten mit uns zu sprechen begonnen haben, wo wir selbst zu einer Gegenrede noch nicht imstande waren. Wir sind vielmehr in einem fundamentalen Sinne die Angesprochenen, insofern nämlich die Sprachlichkeit einen Grundzug des Seins bildet. Alles, was ist, zeigt sich, indem es sich so oder so zuspricht. Deshalb stehen wir ja so oft vor dem Problem, die rechten Worte zu finden. Dasein bedeutet Offenständigsein für das Anwesende und damit Offenständigsein für das Offensein der Welt – einer Welt, »die uns füreinander gemeinsam ist und die wir miteinander teilen, und zwar in allem, was uns begegnet«.14 Dieses unser Offenständigsein für eine gemeinsame Welt ist uns nun so gegeben, dass es uns zum Vollbringen aufgegeben ist. Das Gegebensein ist in sich ein Aufgegebensein. Wir sind, indem uns Zeit zu sein gegeben ist.

IV.

Zeitgabe des Daseins

Dass uns Zeit gegeben ist, ist insofern zunächst verdeckt, als wir uns für gewöhnlich in der Weise zur Zeit verhalten, dass wir uns für dieses oder jenes Zeit nehmen, für dieses und jenes Zeit haben. Da seiend haben wir immer Zeit. Wenn wir einmal, wie wir sagen, keine Zeit haben, dann haben wir für etwas Bestimmtes keine Zeit, weil wir uns für etwas anderes Zeit genommen haben – etwa fürs Nichtstun. Wir haben ständig Zeit, verfügen über Zeit – nicht dann und wann, schließlich heißt ja Zeit haben so viel wie da sein können. Die Zeit, die wir haben, ist allerdings nicht die als lineare Jetzt-Folge vorgestellte messbare Zeit. Gewiss können wir die Zeit messen. Aber damit wir sie messen können – sei es im vorkalendarischen, im kalendarischen oder im physikalischen Sinn –, müssen wir uns Zeit nehmen. Auch die Zeitmessung ist 13 UE 2, 335, FN 684. 14 Wucherer-Huldenfeld: Weltverständnis, 27.

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etwas, wofür wir Zeit haben müssen, und überdies ein Vorgang in der Zeit. Der trivial klingende Hinweis, dass wir nicht deshalb Zeit haben, weil wir Zeit messen können, sondern umgekehrt, ist keineswegs trivial. Er macht nämlich auf die schlichte Tatsache aufmerksam, dass die gemessene Zeit ein abkünftiges Phänomen darstellt: Die Zeitmessung gründet in der Zeithabe und nicht umgekehrt.15 Dieses Haben meint freilich kein Besitzen, nicht das Resultat einer In-BesitzNahme. Wir haben Zeit, weil uns Zeit gegeben ist. Die Zeithabe gründet in der Zeitgabe. Die Zeit, »die wir in unserer alltäglichen, humanen, geschichtlichen Existenz haben«, ist die Zeit, »die uns im Mit- und Füreinandersein geschenkt ist«.16 Wir verdanken die Zeit einem Geben. Die uns zu sein gegebene Zeit ist kein Nacheinander der Jetzte. Sie kommt nicht aus einer Noch-nicht-Zeit in eine Jetzt-Zeit, die dann in eine Nicht-mehrZeit übergeht. Die uns gegebene Zeit ist vielmehr die dreidimensional in Gegenwart, Zukunft und Gewesenheit erstreckte Zeit. Die Zeitdimensionen sind gleichursprünglich, wenngleich nicht gleichmäßig offen.17 Sie sind gleichursprünglich, weil es keine ohne die anderen gibt und sie auch nicht aufeinander folgen. Und ebenso wenig, wie sie kein lineares Nacheinander von Jetzten bildet, ist die uns gegebene Zeit etwas privativ Nichtiges. Als privativ nichtige erscheint sie nur innerhalb des Horizontes der chronometrischen Zeit, in der einzig das Jetzt-Wirkliche zählt, nicht hingegen das Künftige und Vergangene, sodass beides schon zu Lebzeiten als unwirklich disqualifiziert wird.18 Es ist uns gegeben, da zu sein. Es ist uns Zeit gegeben. Die Frage erhebt sich: Was hat es mit dem Geben selbst auf sich?

15 Jede Zeitmessung ist auf ein Jetzt bezogen: Jetzt – da wir die Zeit messen. Dieses Jetzt ist keineswegs die Grenze, an der ein Noch-nicht-jetzt in ein Nicht-mehr-jetzt übergeht, sondern erstreckt sich in einer Weise dreidimensional, die sich einer rechnerischen Bezugnahme entzieht. »Jetzt ist es 10 Uhr« – Eine rechnerische Bezugnahme auf dieses Jetzt müsste lauten: »Um 10 Uhr ist es 10 Uhr.« Aber selbst solch eine Bezugnahme hätte jenes Jetzt immer noch nicht beseitigt: Jetzt – um 10 Uhr, da es 10 Uhr ist, etc. 16 Heidegger : Seminare, 65. 17 Vgl. ebd., 61. 18 Vgl. UE 2, 339 f.: »Die Zeit ist nicht nur in einem privativen Sinne nichtig. Zwar muß sie so innerhalb des Horizontes chronometrischer Zeit erscheinen. Was darin einzig zählt, ist das Jetzt-Wirkliche. Von diesem her gesehen erscheint alles andere als unwirklicher Schatten: das Zukünftige als das Noch-nicht und das Gewesene als das Nicht-mehr, also als etwas schon zu Lebzeiten Unwirkliches, Vergängliches und Nichtiges.« [Herv. i. T.]

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V.

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Die Gabe des Daseins

Mit dem Geben ist nicht ein innerweltliches Vorkommnis gemeint. Sein Sinn kann nicht im Blick auf eine Geschenkübergabe (jemand schenkt etwas jemandem) ermittelt werden. Dieses ontische Modell lässt sich nach vielen Hinsichten durchspielen. Einmal lässt sich das Geben als sublime Machtentfaltung entlarven, die den Beschenkten in demütigender Abhängigkeit niederhält, deren Ausdruck der lebenslange Dank ist. Im anderen Fall wird der Nachweis der Unmöglichkeit der Gabe zu erbringen versucht. Wie immer es sich mit der Rechtmäßigkeit dieser Deutungen verhalten mag: Die hier zu bedenkende Rede von einem Geben hat keinen ontischen Sinn. In ihr geht es nicht um zwischenmenschliche Beziehungen, sondern um das Menschsein des Menschen. Sie spricht nicht von Seiendem, sondern von Sein.

1.

Geben als Freigeben

Was es mit dem Geben auf sich hat, lässt sich der Gabe entnehmen, zugunsten deren Vernehmbarkeit das Geben an sich hält. Diese Gabe beruht in der Freiheit für die Offenheit, »in der für den Menschen Seiendes anwesend sein kann, auch er selbst für sich selbst«.19 Weil wir frei für die weltweite Offenheit sind, ist uns z. B. der Unterschied zwischen Sinn und Zweck erschlossen, können wir Möglichkeiten ergreifen und zu Beweggründen unseres Handelns erheben. Es ist uns gegeben, frei sein zu können. Geben besagt Freigeben zur Freiheit, zur Selbstständigkeit des Seins und Vollziehens. Freiheit ist freigegebene, zum Vollbringen des sinnspendenden Guten gewürdigte Freiheit.

2.

Geben als Ereignen und Einbergen

Dass uns da zu sein gegeben ist, besagt: Wir sind mit uns selbst begabt, sind uns zur Gänze gegeben. Spätestens an dieser Einsicht versagt das ontische Modell der Geschenküberreichung. Verdanke ich mich zur Gänze in meinem Dasein, dann geht dem Geben schlechterdings nichts voraus, auf das es Einfluss hätte nehmen können. Es erweist sich als allumfassend und damit als jenes Geben, dem sich jegliches Seiende, das Seiende im Ganzen, verdankt. Das Sein des Seienden ereignet sich als Gabe. Ist mein Dasein und damit das Sein selbst ganz und gar Gabe, dann bedeutet das ein Zweifaches. Zum einen wird im Geben nicht nur die Gabe, sondern auch 19 Heidegger : Seminare, 157.

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deren Empfangenkönnen erbracht. Das Geben stiftet die Zweiheit von Gabe und Empfang, waltet als das Ereignis von deren Zusammengehörigkeit und ist so das Ereignis meines Daseins: Es er-gibt mich. Ich bin da, indem ich mir gegeben werde. Und es besagt zum anderen, dass die Gabe nicht aus dem Geben herausfällt – sie ist nicht Setzung (positio) –, sondern in ihm eingeborgen bleibt und gerade deshalb der Selbstständigkeit übereignet ist. Diese Geborgenheit bedeutet nicht unfrei machende Abhängigkeit, sondern besagt freigebende Selbstständigkeit.

VI.

Ursprünglichkeit des Gebens als Geheimnis der Schöpfung

1.

Ernstnahme der Erfahrung der Daseinsgabe

Im Geben bekundet sich ein Vonwoher, das sich nirgendwo orten, mit keinem Seienden identifizieren lässt. Ich verdanke mich einem Geben, dessen Woher sich enthüllt, indem es sich verbirgt. Frage ich, von woher es mir gegeben ist, da zu sein, so zeigt sich dieses Woher phänomenal als Nichts.20 An dieser Stelle kann der Verdacht aufsteigen, die Rede vom Nichts sei nichts anderes als ein hypostasiertes Negationsprodukt, die von mir vorgestellte Negation von allem, was es gibt, und zu dieser Rede komme es nur deshalb, weil eine offenkundige Tatsache verschwiegen werde. Schließlich bin ich doch da, weil ich Eltern habe, die mich gezeugt haben. Vor meiner Zeugung, die ein datierbarer Vorgang ist, hat es mich nicht gegeben, nachher jedoch schon. So richtig dieser Hinweis ist, er trifft dennoch nicht den unverkürzten Sachverhalt. Er übergeht die Daseinserfahrung. Dass ich mir zur Gänze gegeben bin, liegt nicht an meinen Eltern, so sehr es stimmt, dass ich ohne sie nicht da wäre. Aber ich kann meine Eltern nicht an die Stelle des Nichts setzen. Sie sind nicht das Woher jenes Gebens, dem ich mich zur Gänze verdanke, weil mit ihrem Tod nicht mein Dasein endet. Der Anfang meines Mir-Gegebenseins ist nicht ihre Setzung. Über meinen Anfang verfügen sie ebenso wenig wie ich. Ich kann mir zwar »das Leben nehmen«, nicht aber mich selbst anfangen. Diese Bemerkung, die hier nicht weiter ausgeführt werden kann, will nicht 20 Vgl. UE 2, 342. Wir erfahren so, laut ebd., 340, »daß uns zu sein gegeben ist, daß wir zeitlich unser Sein empfangen und diese Anwesenheit (die Gewesenes und Kommendes als Abwesend-Anwesendes einschließt) Gabe ist. Wir haben zwar Zeit und können uns Zeit nehmen, aber nur eine Zeit, für die wir nicht die Geber sind. Wir verdanken alle Zeit einem Geben, das sich zugunsten der Vernehmbarkeit der Gabe verbirgt. Wir erfahren zwar in diesem Sichverbergen den Ursprung und die Herkunft unseres Seins in der Zeit. Doch was wir erblicken, wenn wir nach Herkunft und Ursprung unseres Seins fragen, das zeigt sich phänomenal eben als Nichts: das Nichts des Anfangs unseres Daseins.«

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mehr als ein methodischer Hinweis sein: Was Zeugung heißt, ist vom MirGegebenwerden her zu verstehen. Schließlich ist es meinen Eltern gegeben zu zeugen. Zeugen können ist Folge ihres Daseinkönnens. Die Erfahrung der Daseinsgabe, des Sich-Gegebenseins, ist damit keineswegs außer Kraft gesetzt, sondern will im Gegenteil ernst genommen und dem entsprechend ausgelegt werden.21 Dass ich mich zur Gänze einem Geben verdanke und also einen Anfang habe, bedeutet: Ich bin, indem ich ständig anfange zu sein. Mein Anfang, der sich phänomenal als Nichts zeigt, ist kein Datum der Vergangenheit, nichts, was ich hinter mir zurückgelassen habe oder auch nur könnte. Er umfängt mein Dasein. Deshalb darf gesagt werden: im Nichts des Todes kommt unser Anfang auf uns zu.22

2.

Das Nichts als das zum Anfang freigebende Geheimnis meines Daseins

»Hinter« dem Geben ist in der Tat nichts – nämlich nichts im Sinne eines bewirkenden Seienden. Dem Ereignis des Daseins und damit des Seins alles Seienden wird ausgewichen, wo der Versuch unternommen wird, das Geben zu erklären. Der Versuch ist zum Scheitern verurteilt, weil jedes Erklären in der Rückführung auf etwas Seiendes besteht. Mit welchem Seienden auch immer das Woher des Gebens identifiziert werden mag – als etwas Seiendem ist es ihm gegeben zu sein. Das Ereignis der Seinsgabe weist jedes Erklären ab. Das Geben ist schlechterdings unhintergehbar. Wir sind nicht gehalten, die Daseinserfahrung einem Ableitungspostulat zu unterwerfen – nach dem Motto: »Ein Geben erfordert einen Geber« –, sondern uns an die Phänomenalität des Nichts als des Woher der Seinsgabe zu halten. Zeigt sich das Vonwoher der Seinsgabe phänomenal als Nichts, dann erweist es sich unter Ernstnahme der Seinserfahrung weder als Negationsprodukt noch als nichtiges Nichts. Indem ich mir nämlich »in meinem Dasein gegeben bin, wie durch einen Sprung, den Ur-sprung meines Anfangs und Anfangenkönnens, erfahre ich dieses Nichts durchaus nicht absolut 21 Mit dem Rekurs auf eine naturwissenschaftliche Beschreibung des Zeugungsvorgangs ist die Frage nach der Zeugung keineswegs schon im vollen Umfang beantwortet. Solch eine Beschreibung hat es immer nur mit Zustandsveränderungen zu tun, aus methodischen Gründen jedoch niemals mit dem Ins-Dasein-Treten. Dass ich nicht ohne Veränderungsprozesse in mein Dasein habe treten können, heißt nicht, dass ich durch sie da bin, in Weltoffenständigkeit existiere. 22 Vgl. UE 2, 343: »Wir kommen auf unseren Anfang aus dem Nichts zurück, wenn wir uns dem Ende nähern – gesetzt, dem Daseinsganzen ist jenes Ende eigen, auf das hin es angefangen hat zu sein. Das Woraus, Wodurch, Worin und Wohinein bleibt phänomenal dasselbe.«

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ohnmächtig-leer, sondern als das Entspringenlassende, als den Daseinsursprung, als das zum Anfang freigebende Geheimnis meines Daseins. Es umgreift das Ganze des Daseins, ohne von ihm umgriffen oder begriffen zu werden. Ich erfahre es positiv im Geschehen des Gebens als Sichzurückhalten, Sichentziehen und als Enthüllen des absolut Verborgenbleibenden.«23

Die Positivität des Nichts bestätigt sich, wenn wir uns erinnern, dass wir unser Dasein als Quellgrund erfahren, aus dem uns die Möglichkeiten, das Gute zu tun, jeweils neu entspringen.24

3.

Die Seinsgabe als hermeneutischer Schlüssel des Schöpfungsgedankens

Mit dem Ereignis der Seinsgabe rühren wir an das Schöpfungsgeheimnis. Das Erschaffen beruht im Ereignis des Gebens, in dem die Zusammengehörigkeit von Gabe und Empfang erbracht wird.25 Dazu ein paar knappe philosophiegeschichtliche Hinweise. Die die creatio betreffende Grundaussage bei Thomas von Aquin lautet: Schaffen heißt, das Sein geben: creare autem est dare esse rei creatae.26 Die creatio betrifft die tota substantia, das Seiende zur Gänze,27 nicht aber bedeutet sie poiesis, worauf Thomas ausdrücklich aufmerksam macht.28 Vom Seienden, nicht aber vom Sein kann gesagt werden, dass es ist,29 weshalb Sein nicht subsistiert. Sein besagt Reichtum und Fülle, die aber nicht für sich bestehen,30 d. h. das konkrete Sein des Seienden ist Gabe, die in ein Geben eingeborgen bleibt.31 Das Seiende ist, indem es das Sein empfängt und es ihm gegeben ist zu sein. Sein und Seiendes 23 Ebd., 344. 24 Vgl. ebd., 113. Wiederholt im Nachdenken verweilend nehmen wir wahr, »daß diese Unbedingtheit, diese sich stets erneuernde Möglichkeit wie aus einer Quelle aufsteigt, die sich uns als das unverfügbare Geheimnis unseres Daseins entzieht« (ebd., 99). 25 Die gegenwärtigen Debatten um (naturwissenschaftliche) Evolutionstheorie und Schöpfungsgedanke leiden an mangelndem Methodenbewusstsein. Sie fragen erst gar nicht, was uns überhaupt veranlassen kann, von Schöpfung zu reden, sondern halten es für ausgemacht, dass es um die Rekonstruktion von Entstehungsgeschichten unter Ausschaltung menschlicher Grunderfahrungen geht. Der hermeneutische Schlüssel zur Rede von Schöpfung liegt nicht in wie immer gearteten Vorstellungen ontischer Kausalrelationen, sondern in der Freilegung der ursprünglichen Daseinserfahrung: Dasein als Ereignis des Sichgegebenwerdens, Sein als sich ereignende Gabe. 26 Super Ev. S. Joannis lect. V, n. 133. Thomas wird im Folgenden nach der Werkausgabe bei Marietti, Turin-Rom 1948 f. zitiert. 27 STh I, 45, 2 ad 2: in creatione, per quam producitur tota substantia rerum. 28 Die poiesis besitzt die Struktur der mutatio, des Umschlags von etwas an etwas in etwas. Genau das ist die creatio laut STh I, 45, 2 ad 2 nicht: creatio non est mutatio. 29 In Boetii de Hebd. n. 23: non possumus dicere quod ipsum esse sit. 30 Pot. 1, 1: aliquid completum et simplex sed non subsistens. 31 STh I, 104, 1 versteht creatio als conservatio: omnes creaturae indigent divina conservatione.

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verhalten sich wie gegebene Gabe (receptum): ipsum esse consideratur ut formale et receptum32 und Empfangendes (recipiens): [ipsum esse] non comparatur ad alia sicut recipiens ad receptum: sed magis sicut receptum ad recipiens33. Das darf nicht dahingehend missverstanden werden, dass sich die Gabe an einen seienden Empfänger richtete. Der Seins-Gabe geht nichts voraus, vielmehr wird im Geben der Gabe allererst die Möglichkeit ihres Empfangs eröffnet, sodass Seiendes zur Gänze sich gegeben ist. Mit der Seinsgabe wird zumal das erbracht, was das Sein empfängt.34 Die Differenz von nicht subsistierendem Sein und Seiendem beruht in einem Geben, dessen Quelle sich zeigt, indem sie sich verbirgt: Diese Quelle ist kein Seiendes, sie fällt unter keine der Kategorien.35

4.

Die existenzielle Bedeutung dieser Erfahrung

Gewiss – der Gabecharakter des Seins wird nur selten in voller Ausdrücklichkeit erfahren. Aber das ist kein Einwand. Auf die Häufigkeit kommt es nicht an, sondern auf den Inhalt. Wie für jede Erfahrung gilt auch für die Seinserfahrung, dass sie sich nicht erzwingen, nicht herbeiführen lässt. Wir können uns nur für sie offen halten. Dabei ist mit Wucherer-Huldenfeld auf die Übung der Sammlung zu verweisen, die nicht mit Konzentrations- oder Entspannungsübungen oder autogenem Training verwechselt werden sollte.36 Wer gesammelt ist, ist nicht dem Anwesenden, sondern dem Anwesen des Anwesenden hingegeben. Erfahrungen können aber auch niedergehalten oder verdeckt werden. An dieser Stelle ist an die Verschränkung von ungegenständlichem Innesein und Verhalten zu Seiendem zu erinnern, von der eingangs die Rede war : Die Weltoffenheit, so hatte sich ergeben, wird nie abstrakt für sich vollzogen, sondern in den ontischen Beziehungen mitvollzogen. Wir sind ihrer immer nur im Verhalten zu Anderen und Anderem inne. Wenn dem so ist, gewinnt die Gestaltung des Miteinanderseins eine kaum zu überschätzende Bedeutung, weil sie für die grundlegende Daseinserfahrung mitbestimmend wird. Was hier bedrohlich werden kann, ist für Wucherer-Huldenfeld die Folgelast der »Erfahrung des Ungeliebtseins, der Ablehnung oder des Verlustes der Nähe (Trennungsängste), der Ohnmacht und intensivierten Daseinsangst, die das Selbstverhältnis bestimmen und sich in ihm fortsetzen«.37 Dies wiederum führt 32 33 34 35 36 37

STh I, 4, 1 ad 3. Ebd. Pot. 3, 1 ad 17: Deus simul dans esse, producit id, quod esse recipit. Vgl. STh I, 3, 5 ad 1: non est in genere. Vgl. dazu insgesamt: Baier: Sammlung. UE 1, 54.

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zur Unfähigkeit der Selbstannahme, »weil uns mit der An- und Übernahme jenes unser Dasein begründenden Verhältnisses, durch das wir durch Andere wir selber sind, zugleich auch die tödliche Bedrohung aus der Lieblosigkeit entgegenkommt. Mit der Ablehnung und Verdeckung der eigenen Herkunft ist man unfähig, das Dasein als Empfangenes und Geschenk entgegenzunehmen.«38 Deswegen hängt es auch von der Gestaltung des Miteinander-Daseins ab, wie sich der Bezug zum Ganzen des Seienden gestaltet und sich unserem Verständnis erschließt, ob das belastende Müssen oder das befreiende Können für das Dasein leitend wird. Die Erfahrung des Gabecharakters kann niedergehalten oder pervertiert werden, wo die mitmenschlichen Verhältnisse durch unfrei machende und demütigende Abhängigkeiten bestimmt sind und menschliche Beziehungen vom berechnenden Prinzip des do ut des beherrscht werden. Das kann dazu führen, dass ein therapeuein unverzichtbar wird – sowohl eines im engeren Sinn einer Befreiung aus krankhaften Einengungen des Weltbezugs als auch eines im weiten Sinn eines Dienstes am Anderen im Sinne des Einander-zur-Freiheit-Verhelfens, damit wir die werden können, die wir im Grunde sind: zur Freiheit Freigegebene.39 Die Gabeerfahrung des Seins ist zwar nichts Alltägliches, das schließt aber nicht aus, dass wir mitten im Alltäglichen von ihr berührt werden können. Wir werden es immer dann, wenn wir dankbar gestimmt sind. Dankbar gestimmt sein ist etwas anderes als für ein erhaltenes Geschenk »Danke« sagen. Wir sind dankbar für ein gutes Gespräch, für eine schöne Zeit, die wir miteinander haben verbringen dürfen – in solchen und ähnlichen Fällen sind wir dankbar, da sein zu können. Vom Gabecharakter des Daseins werden wir berührt, wenn wir von schwerer Krankheit genesen. Ihm entspricht die Dankbarkeit dafür, überhaupt da sein zu können, eine Dankbarkeit, die auf keinen menschlichen Adressaten mehr gerichtet ist und so gesehen anonym bleibt, deswegen aber keineswegs ins Leere geht, weil sie sich dem Ursprungsgeheimnis eigenen Daseins überantwortet weiß. Gelingt es, im gesammelten Selberanwesendsein sich auf den Gabecharakter des Seins einzulassen, dann »kann einem das aufgehen, was Gottes Gegenwart genannt wird, mit ihrem Charakter des Vertrauens, der Großmut sowie der zurückhaltenden Vornehmheit uns gegenüber, die nicht in unterdrückende Abhängigkeit zwingt, sondern weltweit den Spielraum schöpferischen Handelns und Selbstseins im Guten eröffnet«.40 Dann darf mit Matthias Claudius gerufen werden: »Ich danke Gott und freue mich Wie’s Kind zur Weihnachtsgabe, Daß ich bin, bin! Und daß ich dich, Schön menschlich Antlitz! habe.« 38 Ebd., 55. 39 Vgl. dazu insgesamt: Wucherer-Huldenfeld: Freiheit. 40 UE 2, 100.

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Literatur Baier, Karl: Phänomenologie der Sammlung, in: Daseinsanalyse 15 (1998), 36 – 44. Heidegger, Martin: Das Wesen der Sprache, in: Gesamtausgabe (GA) 12, Frankfurt / M. (Klostermann) 1985, 149 – 204. Ders.: Zollikoner Seminare, Frankfurt / M. (Klostermann) 1994. Wucherer-Huldenfeld, Augustinus Karl: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein. Ausgewählte philosophische Studien I: Anthropologie, Freud, Religionskritik, Wien u. a. (Böhlau) 1994 (zit. als UE 1). Ders.: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein. Ausgewählte philosophische Studien II: Atheismusforschung, Ontologie, philosophische Theologie, Religionsphilosophie, Wien u. a. (Böhlau) 1997 (zit. als UE 2). Ders.: Freiheit und Befreiung in der Daseinsanalyse, in: Sonderheft zu Daseinsanalyse 15 (1999) (Festschrift Gion Condrau), 211 – 223, jetzt auch in: ders.: Befreiung und Gotteserkenntnis, Wien u. a. (Böhlau) 2009, 115 – 130. Ders.: Daseinsanalytisches Weltverständnis, in: Daseinsanalyse 19 (2003), 20 – 27. Ders.: Was besagt Privation? Zur Sprache der Abwesenheit, in: Daseinsanalyse 23 (2007), 22 – 39.

Hubert Philipp Weber

Person als theologischer Begriff. Beiträge aus der Theologiegeschichte zur Entwicklung des modernen Menschenbilds

Das Wort Person ist in aller Munde. Und doch scheint in der Alltagssprache das, was damit eigentlich gemeint ist, bis zur Unkenntlichkeit verwaschen, ja man kann mit Fug und Recht von einer »Krise des Personbegriffs« sprechen. So ist Person oft nicht viel mehr als eine Zählkategorie, mit der bestimmt wird, wie viele davon in einen Aufzug, eine Seilbahn oder einen U-Bahn-Wagon passen. Für die Einzelnen werden höchste individuelle Rechte eingefordert, die oft genug zulasten anderer gehen. Von daher wird dann die Begrenzung von Persönlichkeitsrechten gefordert. Umgekehrt werden mit einer gewissen Willkür die Grenzen des Personseins festgelegt und damit wird die Schutzwürdigkeit von Menschen an den Lebensgrenzen oder in Situationen besonderer Schwäche untergraben.1 Im Denken von Augustinus Wucherer-Huldenfeld haben die Fragen nach der Person und der Personalität großes Gewicht, wobei er sich auch auf theologische Ansätze und mittelalterliche Autoren bezieht. In der Tat wird der Personbegriff der neuzeitlichen Philosophie nur verständlich vor dem Hintergrund seiner theologischen Entwicklung. Er musste zuerst durch die Trinitätstheologie und die Lehre von der hypostatischen Union gehen, dann wurden im Mittelalter jene Grundsteine gelegt, die für das Verständnis des Menschen als Person mit Freiheit und Würde unabdingbar sind. Im Folgenden werden zwei Stufen dieser Entwicklung dargestellt: im ersten Abschnitt die Diskussionen in der Väterzeit um den dreifaltigen Gott sowie um Gottheit und Menschheit in Christus, danach die Diskussionen des Mittelalters, die bei Boethius ihren Anfang nehmen und bis ins 13. Jahrhundert hineinreichen. Im Zuge dessen wurden drei Definitionen davon entwickelt, was eine Person ist. Alexander von Hales stellte sie zusammen und diskutierte sie als Erster gemeinsam, daher folgt dieser Teil den Argumentationen in seinen Schriften. Der dritte Abschnitt ist der mittelalterlichen Trinitätstheologie und

1 Vgl. Kobusch: Die Entdeckung der Person, 263 – 280.

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Hubert Philipp Weber

der Lehre von der hypostatischen Union gewidmet, der vierte wendet das bis dahin Erarbeitete auf die Rede vom Menschen an.

I.

Der Personbegriff in trinitätstheologischen Diskussionen

Das deutsche Wort »Person« entspricht verschiedenen Termini aus der theologischen Tradition. Die griechische Diskussion benützt zwei Begriffe, prûso¯pon und hypûstasis, die lateinische den Begriff persona. Das lateinische Wort bedeutet zunächst Maske, Rolle und Charakter, wobei die Etymologie unklar ist. Die schon klassisch immer wieder herangezogene Herleitung von personare, »durchtönen«, trifft nicht zu.2 Der Ort für den Begriff ist das Theater, davon ausgehend kann er aber auch in einem gesellschaftlichen Sinn verwendet werden, meint dann das Individuum auf seinem Platz in der Gemeinschaft. Der Begriff prûso¯pon wird in der Septuaginta als Übersetzung für das hebräische pa¯nim gebraucht, das Angesicht, Aussehen, Blick, jemand und in übertragener Bedeutung die Vorderseite bedeutet.3 Das griechische Wort, wörtlich so viel wie »das, was unter die Augen fällt«, bedeutet ebenfalls zuerst Gesicht, Antlitz, sichtbare Gestalt, erst in abgeleiteter Bedeutung Rolle und Maske. Der Begriff hat eine weite Bedeutung, ihm fehlt aber jeder ontologische Aspekt. Weil er für die Trinitätstheologie nicht präzise genug, insbesondere anfällig für modalistische Richtungen ist, findet in der östlichen Theologie eher das Wort hypûstasis Verwendung. Es wird dabei philosophisch verwendet, ausgehend von der bei Aristoteles grundgelegten und in der Stoa weiter ausgearbeiteten Bedeutung, wird aber für den theologischen Gebrauch umgeformt, weil es erstens nahe bei usia bzw. substantia (was hypûstasis wörtlich übersetzt besagt: das unterhalb Stehende) liegt, wovon es gerade unterschieden werden soll, und zweitens weil damit im neuplatonischen Denken die Verwirklichung des Einen auf verschiedenen Ebenen bezeichnet wird.4 Diese Fragen müssen bewusstgemacht werden, stehen hier aber nicht im Mittelpunkt. Für den Personbegriff ist vor allem wichtig, wie in der christlichen Theologie mit den verschiedenen Äquivalenten umgegangen worden ist, um daraus zu ersehen, welche Aspekte im Begriff zu finden sind, auch wenn sie später wieder in Vergessenheit gerieten. Daher soll zunächst nach der Entwicklung von Trinitätstheologie und Christologie in der Spätantike gefragt werden. Zeugen sind hier Tertullian, die Kappadokier und Augustinus.

2 Vgl. Fuhrmann: Person, 269. 3 Vgl. Woude: pa¯nim, 435. 4 Vgl. Greshake: Der dreieine Gott, 78 – 84.

Person als theologischer Begriff

1.

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Tertullian

In der lateinischen Auseinandersetzung über die Trinitätstheologie verwendet Tertullian erstmals in Adversus Praxean das Wort persona, um die Frage nach dem Verhältnis von Vater, Sohn und Geist zu klären. Er wendet sich in dieser Schrift gegen Praxeas, der eine monarchianische Vorstellung vertritt. Um der Einheit und Einzigkeit Gottes willen betrachtet Praxeas nur den Vater als Gott, nicht aber den Sohn oder Geist. Dem entgegnet Tertullian, dass der christliche Glaube, wie die Glaubensregel (regula fidei)5 zeigt, immer an den Dreifaltigen gerichtet ist. Seine Dreifaltigkeitstheologie geht ganz und gar von der Ökonomie, der Heilsgeschichte, aus. Im Glauben erfahren wir Vater, Sohn und Geist je als Einzelne, aber gleichzeitig die Einheit Gottes. Mit Christi Kommen und seinem Offenbarwerden als »Gott und Herr« ist eine Unterscheidung notwendig geworden, die gleichzeitig wieder die Einheit (unio) Gottes sichtbar macht.6 Für die Unterscheidung spricht Tertullian von persona. Dabei hat er die alte Bedeutung der Sprechrolle vor Augen. Die Personen zeichnen sich dadurch aus, dass sie auf je eigene Weise sprechend und handelnd in Erscheinung treten. Der Sohn ist uns in Jesus Christus begegnet und hat zu seinen Jüngern gesprochen. Er hat aber auch zu Gott, dem Vater gesprochen – und dieser zu ihm. Er ist das göttliche Wort, die göttliche Weisheit (sophia) und spricht zu ihrem Urheber : »Der Herr hat mich geschaffen (condidit) als Anfang seiner Wege« (Spr 8,22), und dieses Wort, das hier als Weisheit spricht, war es, durch das alles gemacht ist (vgl. Joh 1,3). Umgekehrt spricht Gott zu ihm: »Mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt.« (Ps 2,7)7 Christus spricht auch über den Vater, woraus deutlich wird, dass Vater und Sohn zwei Personen sind.8 Am deutlichsten treten die Personen bei der Erschaffung des Menschen hervor. Gott spricht: »Lasst uns Menschen machen.« (Gen 1,26) Er möchte durch das Wort schaffen, nicht allein, sondern durch einen anderen. Dieser ist zu verstehen »im Sinne einer Person, nicht der Substanz, zur Unterscheidung, nicht zur Trennung«.9 Tertullian wendet hier eine »prosopografische« Schriftauslegung an. Die Aussage des Textes kommt durch den Dialog der verschiedenen handelnden Subjekte zum Ausdruck, indem jeweils »in der Person« des einen

5 6 7 8 9

Vgl. Tertullian: Adversus Praxean 2, 1 (102 – 105) u. ö. Vgl. ebd., 13, 6 – 7 (158 f.); 21, 5 (198 f.). Vgl. ebd., 7, 2 – 3 (124 – 127). Vgl. ebd., 22, 10 (208 f.). Ebd., 12, 4 – 7 (150 – 55), v. a. 6 (152 f.): personae, non substantiae nomine, ad distinctionem, non ad divisionem.

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oder anderen gesprochen wird.10 Der Begriff wird an dieser Stelle merklich philosophisch gefüllt. Der Sohn, das Wort (sermo), kann deshalb als Person sprechen, weil er Eigenart (species), Ausstattung (ornamentum), Laut (sonum) und Stimme (vox) hat.11 Gott spricht in der Person des Sohnes, des Vaters oder des Geistes, er kann auch im Namen des Sohnes, des Vaters oder des Geistes handeln, denn die Namen sind ihnen jeweils eigen. Wie in Gott drei Personen sind, so auch drei Namen.12 Bedeutungsgleich mit persona ist von nomen die Rede, womit betont wird, dass zum Sprechen gleichbedeutend das Angesprochenwerden, der Ruf bei einem Namen, gehört. Gott begegnet uns dreifach, als Gott Vater, als Sohn, der auch Wort oder Weisheit heißt, und als Geist. Die Abgrenzung der Begriffe ist dabei noch nicht sehr scharf, an einer Stelle sagt Tertullian, das Wort könne auf eine gewisse Weise als Substanz (aliquam substantiam) betrachtet werden, meint aber damit nicht mehr, als dass es wirklich von den anderen abgegrenzt ist. Es ist selber eine Sache (res) und eine Person (persona). Als solche gelte dafür der »Name Sohn« (nomen Filii).13 Aber auch dem Geist gebühre die Benennung als eigene Person, wird er doch in der Schrift als Paraklet bezeichnet und damit als ein anderer, ein Dritter, benannt.14 Die drei Personen werden jeweils durch ihre Eigentümlichkeiten (proprietates) bekannt, die an ihrem Erscheinen in der Ökonomie deutlich werden. So handelt der Vater durch den Sohn, der Sohn wieder bringt des Vaters Wirken zum Vorschein.15 Ähnlich gilt das auch für den Geist.16 Wesentlich an den Eigentümlichkeiten ist ihr jeweiliger Ursprung.17 So führt die Rede von den Eigentümlichkeiten zum Verhältnis der drei und zur Bestimmung des Ursprungs, den der Sohn oder der Geist je für sich im Vater haben. Auch für ein zweites theologisches Problem findet dieser Begriff Verwendung, um in Jesus Christus »eine doppelte Eigentümlichkeit (utriusque proprietas), nicht vermischt, sondern in einer Person verbunden« darzustellen.18 Hier werden von einer Person zwei proprietates ausgesagt, die göttliche und die menschliche. Beide Fragen, die trinitätstheologische und die christologische, sind freilich an dieser Stelle noch nicht gelöst. 10 Vgl. Greshake: Der dreieine Gott, 79 f., Grillmeier : Jesus der Christus, 251 – 253, Hilberath: Der Personbegriff, 202 – 205. 11 Tertullian: Adversus Praxean 7, 1 (122 f.); 23, 4 (212 f.). 12 Ebd., 17, 2 – 4 (182 – 185); 23, 7 (214 f.); 26, 9 (232 f.); 31, 2 (254 f.). 13 Ebd., 7, 5 und 9 (126 – 129). 14 Vgl. ebd., 9, 3 (136 f.). 15 Vgl. ebd., 24, 9 (222 – 225); vgl. Hilberath, Der Personbegriff 207. 16 Vgl. ebd.,11, 10 (148 f.). 17 Vgl. ebd., 8, 7 (132 – 135). 18 Ebd. 27, 11 (238 f.), Übersetzung modifiziert.

Person als theologischer Begriff

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Der Begriff Person scheint Tertullian für seine theologischen Anliegen gut geeignet zu sein, weil er einen bestimmten Einzelnen anspricht. Das gelingt aber nur, weil und indem dieser mit den anderen in einem kommunikativen Verhältnis steht. Vater, Sohn und Geist sprechen je einzeln einander wie die Menschen an und können jeweils angesprochen werden, weshalb auch das Wort »Name« synonym verwendet werden kann. Tertullians gedankliche Auseinandersetzung scheint zu seiner Zeit noch zu weit zu gehen, deshalb dauert es noch einige Jahrzehnte, bis seine Begriffsprägungen Aufnahme in den theologischen Diskurs finden. Freilich wird das Problem, die rechte Fassung des Glaubens an den dreieinigen Gott, immer stärker diskutiert. Das Jahrhundert der trinitarischen Auseinandersetzung schlechthin ist das vierte, in dem das Konzil von Nicaea gegen Arius von der Wesenseinheit des Vaters und des Sohnes spricht. Im Gefolge des Konzils werden auch die für uns wichtigen Termini weiter ausgefaltet.

2.

Die drei Kappadokier

Das Erste Konzil von Nicaea legt in Auseinandersetzung mit Arius eine Grundbestimmung für die Trinitätstheologie fest: Der ewige Sohn Gottes ist dem Vater wesensgleich, also selbst Gott. Gleichzeitig gilt, dass Vater und Sohn (und Geist) jeweils angesprochen werden können, also tatsächlich verschieden zu denken sind. Die begriffliche Fassung der Unterscheidung ist Ergebnis theologischer Arbeit im vierten Jahrhundert, insbesondere durch die drei Kappadokier Basilius von Caesarea, Gregor von Nyssa und Gregor von Nazianz. Sie sind dabei vor allem von der stoischen Philosophie geprägt.19 Der wichtigste Text ist Brief 38, der im Briefkorpus des Basilius von Caesarea überliefert ist, aber von Gregor von Nyssa stammt. In ihm wird die alte Unterscheidung zwischen Allgemeinem und Konkretem, von Aristoteles’ erster und zweiter Substanz aufgegriffen und als Differenz zwischen dem Menschen an sich und bestimmten Menschen, die mit Namen angesprochen werden, dargestellt. Die Fragestellung lautet: Wieso können verschiedene Einzelne gesondert angesprochen werden?20 »Mit dem Wort ›Person‹ (hypûstasis) will etwas Einzelnes bezeichnet sein«, denn »Natur« bezeichnet das Allgemeine, nicht aber »das für sich bestehende und eigens unter den Ausdruck fallende (Einzel-)Ding«. Personalität umschreibt und stellt »das Gemeinsame (tý koinûn) und Unbestimmte (aper†grapton) an einem Dinge mittels der offensichtlichen Eigentümlichkeiten (di— tún epiphainûmeno¯n idio¯m‚to¯n)« fest. Diese Bestimmung wird zunächst 19 Vgl. Grillmeier: Jesus der Christus, 542. 20 Brief 38, 2 (326); vgl. Basilius von Caesarea: De Spiritu sancto 17, 41 (198 – 201).

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für Menschen gebraucht. Davon ausgehend ist sie aber auch auf den dreifaltigen Gott anwendbar. Das Wesen oder das Sein des Vaters ist dasselbe wie das des Sohnes und das des Geistes, und doch sind die drei »mittels charakteristischer Merkmale« unterscheidbar.21 Diese Merkmale werden im Brief jeweils im Gegenüber von zweien benannt. Der Geist wird nach und mit dem Sohn erkannt. Er hat »seine Substanz aus dem Vater«. Der Sohn offenbart den Geist durch und mit sich selbst. Er allein ist geboren oder gezeugt. Gott ist dem Sohn gegenüber der Vater, dieses Vatersein ist seine Eigenart und besagt, »dass er keiner Ursache sein Dasein verdankt«. Durch diese Merkmale wird »der Unterschied der Hypostasen gefunden«.22 »›Person‹ [ist] der Inbegriff der Eigentümlichkeiten eines jeden.«23 Dabei konstituieren sich die Personen gegenseitig. Sohn und Geist haben den Vater als Ursprung, doch er ist nur Vater durch den Sohn und ursprungslos, weil er selbst Ursprung ist. Das macht die Unterscheidung der drei aus. Der Gedanke zielt letztlich auf die Einheit Gottes aufgrund der Untrennbarkeit und Innigkeit der drei.24 Als biblisches Vorbild dafür dient z. B. jene Passage, wonach der, der den Sohn sieht, auch den Vater sieht (Joh 14,9), der Sohn also den Vater sichtbar macht, indem er Ebenbild der väterlichen Person (hypûstasis) ist.25 Gregor von Nazianz macht den Unterschied deutlich, indem er hervorhebt, dass im dreifaltigen Gott einer und ein anderer (‚llos ka‡ ‚llos) ist, nicht aber eines und ein anderes (‚llo ka‡ ‚llo).26 Gott ist als Monarchie verstanden, die nicht aus einer einzigen Person besteht, sondern aus dreien, die aber in ihrem Wesen, ihrem Willen und ihrer Bewegung (k†ne¯sis) übereinstimmen.27 Der dreifaltige Gott wird verstanden als drei unvermischte Personen (hypûstasis), die in der einen Natur (phy´sis) und Würde (ax†a) der Gottheit vereint sind.28 In seiner Schrift über den Heiligen Geist geht Basilius von Caesarea von der Heilsgeschichte aus und unterscheidet die Personen nach den Worten der Schrift. Der Vater ist der, aus (ex) dem alles kommt, das durch (di—) den Sohn wird.29 Der Heilige Geist macht umgekehrt den Sohn, Jesus Christus, bekannt und durch ihn den Vater.30 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30

Brief 38, 3 (328). Ebd., 4 (329). Ebd., 6 (336). Vgl. ebd., 7 (337). Greshake: Der dreieine Gott, 86, hebt hervor, dass diese Einheit begrifflich gewissermaßen erst im »zweiten Schritt« zustande kommt, nachdem zuerst in der Heilsgeschichte die Dreiheit erfahren wird. Vgl. Brief 38, 8 (340). Vgl. Gregor von Nazianz: Epistula 101 (180), Grillmeier : Jesus der Christus, 538 – 539. Vgl. Gregor von Nazianz: Orationes theologicae 3, 2 (170 – 173). Vgl. ebd., 5, 10 (290 – 291). Vgl. Basilius von Caesarea: De Spiritu sancto 5, 7 – 8 (90 – 95). Vgl. ebd., 18, 47 (214 – 217).

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Basilius verwendet an manchen Stellen prûso¯pon für Person,31 synonym aber auch hypûstasis. Wir bekennen die »Eigentümlichkeit der Personen«, einmal ist von idi‚zon to¯n hypost‚seo¯n, dann im selben Kapitel von idûte¯ta tún prosûpo¯n die Rede.32 Die Personen in Gott können nicht dem Wesen nach verschieden sein. Zur Wahrung der Einheit wird der Begriff der Person auf die Einheit hingeordnet, indem die Bestimmung der Individualität nur von den Eigentümlichkeiten her geschieht, die wieder aufeinander verweisen. Die Fragestellung des vierten Jahrhunderts ist von der Dreifaltigkeitstheologie bestimmt. Es gilt, Begriffe zu finden, die sowohl die Einheit Gottes als auch die Dreiheit von Vater, Sohn und Geist aussagen. Dafür ist hypûstasis der bevorzugte Begriff, der nahe bei Person im Sinne von Rolle (prûso¯pon) liegt, weshalb letztlich beide Begriffe verwendet werden können. Das Konzil von Chalcedon wird das explizit tun.33 Das dort angesprochene Problem kündigt sich bei den Kappadokiern deutlich an: die Bezeichnung Christi, des Gott-Menschen, als eine Person, die zwei Naturen, eine göttliche und eine menschliche, trägt. Einheit und Verschiedenheit müssen zweimal begrifflich eingefangen werden. Dabei können »Wesen«, »Natur« oder »Substanz« nicht als Träger der Person aufgefasst werden, weil diese Begriffe einmal die Einheit Gottes und zum andern Unterschiedenheit und Vollständigkeit des Göttlichen und des Menschlichen in Christus aussagen. Daher wird als Unterscheidungsmerkmal die »Eigentümlichkeit« benannt, die wieder die Ursprungsbeziehungen zwischen den dreien zum Ausdruck bringt. Eine Person wird also immer durch die anderen konstituiert.

3.

Augustinus

Die lateinische Tradition ist dem Personbegriff in der Theologie gegenüber generell zurückhaltend und skeptisch. Das lässt sich auch bei Augustinus noch deutlich spüren. Er erkennt die Unzulänglichkeiten des Begriffs. Das griechische usia wird für gewöhnlich mit substantia übersetzt, dem aber wörtlich das griechische hypûstasis entsprechen würde. Damit die Übersetzung nicht zu Missverständnissen führt, verwendet Augustinus als Entsprechung die Formel: ein Wesen (una essentia) oder eine Substanz (una substantia) und drei Personen 31 Vgl. ebd. 5, 8 (94 f.) und 21, 52 (232 f.). 32 Ebd. 18, 45 (208 f.). Sieben, Anm. 9 zur Stelle, sieht hier zwei verschiedene Bedeutungen, einmal eine von den Ursprungsbeziehungen her verstandene ontologische, zum andern eine, die nur unterscheidet. Dabei übersieht Sieben aber, dass die erste aus der zweiten Bedeutung, die im Alltag erfahrbar ist, erwächst. Vgl. ebd. 25, 60 (256 f.). 33 Vgl. Denzinger / Hünermann: Enchiridion Symbolorum, Nr. 302; Grillmeier : Jesus der Christus, 755.

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(tres personae). Doch das Geheimnis von Vater, Sohn und Geist in Gott ist letztlich unergründbar. Deshalb sagt man »drei Personen, nicht um damit den wahren Sachverhalt auszudrücken, sondern um nicht schweigen zu müssen«.34 Die Gotteslehre beginnt bei Augustinus nicht mit einem philosophischen Begriff, sondern mit dem Glaubensbekenntnis des Konzils von Nicaea.35 Er konfrontiert das aristotelische Substanz-Akzidenz-Schema mit der Rede vom einen und dreifaltigen Gott, der zugleich der ewige und unwandelbare ist. Aussagen von der Substanz betreffen immer Gott den Einen, also Vater, Sohn und Geist. Die Einheit Gottes steht bei Augustinus durchwegs im Vordergrund. Ist von einem der drei die Rede, kann nicht die Substanz gemeint sein, weil sonst die Einheit in Gott nicht gewahrt bliebe. Akzidenzien wiederum können von Gott nicht ausgesagt werden, weil er damit in den Bereich des Endlichen, Vergänglichen gezogen werden würde. Daher muss es noch eine andere Kategorie zur Unterscheidung geben, dafür zieht Augustinus die relatio heran. Vater und Sohn sind, was sie sind, durch die unwandelbare Relation zueinander. Diese ist etwas anderes als die Substanz und, weil sie beständig ist, auch keine Akzidenz. Daher wird sie für Augustinus die Bestimmung schlechthin, um Vater, Sohn und Geist zu unterscheiden.36 Auch wenn man Person, in Entsprechung für beide griechischen Begriffe, als Relation bestimmt, bleibt der Ausdruck unklar. Wird der Vater als Person angesprochen, dann ist nicht seine Beziehung zum Sohn gemeint, sondern er selbst, seine »Substanz«, wie Augustinus festhält. Deshalb findet sich für die Gottheit auch der Begriff natura. Wann immer Gott angesprochen wird oder von ihm die Rede ist, ist es der Dreifaltige, der vom Einen nicht zu trennen ist. Das macht die Gottesrede zusätzlich schwierig und gebietet größte Vorsicht beim Gebrauch der verschiedenen philosophischen Begriffe.37 Der Personbegriff muss stark ausdifferenziert werden, da er sowohl für den dreifaltigen Gott als auch für Engel und Menschen und schließlich für den Höchstfall des Menschseins, für den Gottmenschen, gilt und diesem breiten Bedeutungsspektrum entsprechen soll. Gleichzeitig bedarf es größter Vorsicht, um nicht mit einer unbedachten Begriffsverwendung in die Häresie zu fallen. Augustinus ist dem Begriff persona gegenüber skeptisch. Um ihn aber dennoch in der Trinitätstheologie verwenden zu können, versteht er ihn ganz von den gegenseitigen Relationen der Personen her und hebt damit noch einmal jenes Moment hervor, das schon früher wichtig war, als prûso¯pon noch von der Kommunikation der Personen untereinander her verstanden wurde. 34 Augustinus: De trinitate 5, 8, 9 bis 9, 10 (215 – 217), Zitat: 5, 9, 10 (217), vgl. Kible: Person, 284. 35 Vgl. Courth: Trinität, 193 f. 36 Augustinus: De trinitate 5, 5, 6 (210 – 211), vgl. Greshake: Der dreieine Gott, 95 – 97. 37 De trinitate 7, 6, 11 (261 – 265).

Person als theologischer Begriff

II.

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Drei Definitionen der mittelalterlichen Theologie

Was die Väter erarbeiteten, wird in der mittelalterlichen Theologie weitergedacht und systematisiert. Die Entwicklung des Personbegriffs zieht sich vom Ausgang der Antike bis ins 13. Jahrhundert. An dieser Stelle sollen die drei zentralen Definitionen betrachtet werden. Dabei wird die Diskussion vom Ende her aufgerollt, die einzelnen Argumente erscheinen so, wie sie bei Alexander von Hales zum Tragen kommen, bei dem sich erstmals die dritte Definition findet.38 Er nennt die Definitionen von Boethius und von Richard von St. Victor und ergänzt sie um eine eigene. Der Personbegriff ist in der mittelalterlichen Theologie von zentraler Bedeutung. Er ist für die Trinitätstheologie wie für die Christologie wichtig, wird aber auch verwendet, um Menschen und Engel zu bezeichnen. Hier hat auch das spezifisch moderne Verständnis seinen Ursprung. Die verschiedenen Definitionen stehen dabei zunächst nicht in Konkurrenz zueinander, sondern umfassen die komplexe Wirklichkeit, die mit dem Personbegriff angesprochen wird. Alexander von Hales stellt sie zusammen, ohne sie zu bewerten oder abschließend in einer letztgültigen Definition zusammenzufassen.39 Jede einzelne hat ihre spezifische Gültigkeit und deckt Bereiche ab, die bei den anderen zu kurz kommen. Dem entsprechend kann an verschiedenen Stellen bei Alexander von Hales jeweils mit der für den Zusammenhang passenden Definition argumentiert werden. Sein Beitrag zur Klärung des Begriffs hat, vor allem im Vergleich zu seiner übrigen Theologie, einige literarische Beachtung gefunden,40 wenngleich er noch nicht überall rezipiert wurde.41

38 Zum Folgenden vgl. Weber : Sünde und Gnade, 119 – 141; siehe auch ders.: The Glossa, 99 – 104 (mit Quelltexten). 39 Vgl. Alexander von Hales: Glossa 1, 23, 9a (225 – 226). 40 Grundlegend dafür war vor allem der Artikel von Hufnagel: Die Wesensbestimmung, dem im Jahr 1957 erstmals die Glossa als Quelle zugrunde gelegt war. Bereits davor war eine Abhandlung über den Personbegriff im Kontext der Trinitätstheologie entstanden, der die Texte der Summa fratris Alexandri, einem Gemeinschaftswerk von Alexander und seiner Schule, zugrunde lagen, in die aber auch einzelne Passagen aus Alexanders Werken Eingang gefunden hatten: Gunten: La notion de personne. Aus der jüngsten Zeit sind vor allem Kobusch: Die Entdeckung der Person, 23 – 31, und der Artikel im Historischen Wörterbuch der Philosophie Kible: Person zu nennen. Die meisten weiteren Abhandlungen dazu stehen im Gefolge der drei genannten Arbeiten. Principe: Alexander of Hales’ Theology of the Hypostatic Union, 65 – 72, geht von den Quelltexten aus und schließt seine Ausführungen an Hufnagel an. Eigenständig aus philosophischer Sicht hat sich Schlapkohl: Persona, 170 – 188, mit der Glossa und der Summa fratris Alexandri (die sie als von Alexander stammend betrachtet) auseinandergesetzt. 41 So stellt etwa Greshake, dem die Arbeiten von Kobusch und Kible bekannt sind, die dritte Definition als Text der Summa Theologiæ des Thomas von Aquin vor, wiewohl sie dort wortwörtlich von Alexander zitiert ist. Siehe Greshake: Der dreieine Gott, 112.

82 1.

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Die boethianische Definition

Boethius diskutiert die Frage nach dem Personbegriff im Kontext der Christologie. Das Dogma von Chalcedon, Jesus Christus sei eine Person in zwei Naturen, ist gegen Häresien, die für Boethius mit den Namen Nestorius und Eutyches verbunden sind, zu verteidigen. Dazu übersetzt er griechische Termini ins Lateinische, um die Glaubenssätze der Christologie und darin die Begriffe Natur und Person zu erklären. Dabei erweist sich besonders der Personbegriff als problematisch, ja zweifelhaft. Person ist nicht dasselbe wie Natur, sondern die Natur liegt ihr zugrunde. Während Naturen Substanzen oder Akzidenzien sein können, kann die Person immer nur in einer partikulären Substanz sein, in einem einzelnen Lebewesen. Doch hier kommt nicht allen die Bezeichnung Person zu, sondern nur den vernünftigen Lebewesen.42 In Gott gilt es, Einheit und Dreifaltigkeit auszudifferenzieren und die drei in Gott gegeneinander abzugrenzen. Wie bei den Naturdingen (in naturis) kommt auch den göttlichen (in divinis) Gemeinsames und Eigenes zu. Dass es ein Allgemeines geben kann, setzt die Existenz von etwas Partikularem voraus, und umgekehrt: Nur beide zusammen können ein Bestimmtes konstituieren. In Gott ist das Gemeinsame das Wesen (essentia), das Partikulare die Person. Boethius ist klar, dass Person nicht als Substanz verstanden werden kann, ohne dass man damit das trinitarische Dogma verlässt. Vater, Sohn und Geist, die »Dreiheit also erstreckt sich nicht auf die Substanz«.43 Und doch beschreibt er die Person als »die individuelle Substanz einer rationalen Natur« – »naturæ rationabilis individua substantia«.44 Das lateinische persona darf nicht von seinem eigentlichen, griechischen Pendant prûso¯pon her verstanden werden. Das würde einer etymologischen Ableitung des Wortes persona von sonus her entsprechen und die Menschen, die damit benannt sind, wie in einem Theaterstück als Charaktere bezeichnen. Über dieses Verständnis führt hypûstasis weit hinaus, das aber wieder ohne eine individuelle Substanz nicht verstanden werden kann. Substanz ist hier noch einmal unterschieden von subsistentia, der Substanz im allgemeinen Sinn, die auch einer Natur zugrunde liegen kann. Hier kommt das Individuum in den Blick, wobei nur vernünftige individuelle Wesen Personen genannt werden können. »Es hat also der Mensch Essenz, d. h. usia, Subsistenz, d. h. us†o¯sis, hypûstasis, d. h. Substanz, prûso¯pon, d. h. Person. Usia und Essenz hat er, weil er ist, us†o¯sis und Subsistenz, weil er in keinem Zugrundeliegenden ist, hypûstasis und Substanz, weil er 42 Boethius: Theologische Traktate 5, 2 (72 – 75); zur Definition vgl. Schlapkohl: Persona, Fuhrmann: Person, 279 – 280, Greshake: Der dreieine Gott, 101 – 103. 43 Boethius: Theologische Traktate 2 (28 – 33; Zitat: 32 – 33). 44 Ebd. 5, 3 (74 – 75).

Person als theologischer Begriff

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denen, die keine Subsistenzen, d. h. usiûseis sind, zugrundeliegt. Er ist prûso¯pon und Person, weil er ein vernünftiges Individuum ist.«45

Natur ist die Trägerin der spezifischen Eigenheit (specificata proprietas) für jede Substanz, Person hingegen die unteilbare Substanz der spezifisch vernünftigen Natur. Alexander von Hales zitiert diese Definition als erste und führt sie mit den Übertragungen der griechischen Begrifflichkeit an.46 Das Personsein gehört zur Natur, zum Wesen dessen, der Person ist, es ist nicht nachträglich hinzugefügt. Allgemeines und Einzelnes, Wesen und Person sind hier gleich ursprünglich verstanden, also auf einer Ebene angesiedelt.47 Von den Schwierigkeiten bei der Übertragung der Begrifflichkeit und von den möglichen Folgen für die Trinitätstheologie her ist eine Einschränkung zu verstehen: Person ist nicht dasselbe wie Individuum. Folgt man der Definition, müsste jeder Person eine eigene Substanz zugrunde liegen. Substanz (substantia wird hier auch von Alexander wortgetreu synonym verwendet mit hypûstasis)48 und Person wären dann identisch. Das trifft zwar für Menschen und Engel, nicht aber für die göttlichen Personen zu, sonst würde man in einen Tritheismus verfallen. Das hieße, dass die Definition eine wesentliche Anforderung nicht erfüllt, nämlich das Personsein von Mensch, Engel und Gott zu umfassen.49 Das lehnt Alexander aber entschieden ab, für ihn hat diese Definition im Blick auf die Trinität im übertragenen Sinn (translative) Gültigkeit.50 Sie trifft noch nicht die ganze Wirklichkeit dessen, was mit »Person« angesprochen ist, dafür ist die Erweiterung durch andere Definitionen notwendig. Wohl aber ist sie auf ihre Weise für den zu besprechenden Sachverhalt gültig. Sie ist ad rem nominis gegeben. Was damit im Einzelnen gemeint ist, geht aus Alexanders Text nicht hervor, sondern ist vorausgesetzt. Aus dem Zusammenhang wird deutlich, dass Alexander hier umschrieben sieht, was Person zunächst bedeutet, nämlich ein bestimmtes, für sich stehendes, vernunftbegabtes Wesen, das gegen andere Wesen abgegrenzt ist.51 45 46 47 48

Ebd. 5, 3 (79 – 81). Vgl. Alexander von Hales: Glossa 1, 26, 1 (250 – 252). Ebd. 1, 19, 23 – 24 (201 – 203). In der Definition erscheinen die beiden Begriffe austauschbar, individua hypûstasis wird verwendet in Alexander von Hales, Glossa 1, 19, 24c (203), 26, 1 (250), Quaestio 2 (de quatuor nominibus) 2, 18 (1, 16 – 17). 49 Alexander von Hales, Glossa 1, 19, 24c (203), Quaestio 2 (de quatuor nominibus) 2, 7 und 9 (1, 13 und 14); vgl. Glossa 1, 25, 1 (238 – 239). 50 Alexander von Hales, Glossa 1, 25, 4 f (244); vgl. Hufnagel: Die Wesensbestimmung, 154. 51 Alexander von Hales, Glossa 1, 23, 9c (226). Hufnagel: Die Wesensbestimmung, 152 – 153, sucht die Frage nach der Bewertung der ersten Definition aus der Summa fratris Alexandri zu klären und kommt zu dem Schluss, die Definition gebe »das Wesen der Person so wieder, wie es in sich selbst ist«.

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Dem entspricht auch, was Alexander über die von Boethius eingeführte Etymologie zum Personbegriff, die Person sei per se sonans, anführt. Es geht um die Unterscheidung der Einzelnen voneinander, und diese lässt sich nur dort finden, wo sich der eine durch seine Benennung vom andern unterscheidet.52 Die Definition leistet also die Abgrenzung der einzelnen Personen gegeneinander und hält deren Selbstand, ihre Identität fest. Für Richard von St. Victor war diese Definition aus den oben genannten Gründen für die Gottesrede nicht tragfähig. Alexander hingegen geht mit seiner differenzierten Sicht über Richard hinaus. Dass substantia in der Unschärfe zwischen Hypostase und Wesen nicht eindeutig zuzuordnen ist, ermöglicht ihm, die Definition am rechten Ort zu nutzen. Für Boethius machen zwei wesentliche Momente das Personsein aus: Nur ein vernunftbegabtes Wesen kann Person sein, damit ist der Kreis möglicher Personen auf Gott, Engel und Menschen eingegrenzt. Zum anderen gehört zur Person Individualität, eine Person kann nur ein bestimmtes, für sich stehendes, eigenständiges Wesen sein. In den Zusammenhängen, wo die genannten Merkmale ausreichen, argumentiert Alexander ohne weiteres nur mit der Autorität des Boethius.53 Mit den beiden Bestimmungen sieht er aber auch den Grund für weitere Ausdifferenzierungen gelegt, die wegen der Unzulänglichkeiten dieser Definition notwendig sind.

2.

Die Definition des Richard von St. Victor

Anders als Augustinus steht Richard von St. Victor dem Personbegriff nicht skeptisch, sondern überaus positiv gegenüber. Erst damit sei ein angemessenes Verständnis der Dreifaltigkeit möglich. Anders als Boethius will er persona nicht von den griechischen Äquivalenten her verstehen, sondern ganz aus der lateinischen Tradition. Dabei ist jede Bestimmung, die von substantia ausgeht, für ihn ungenügend. Denn Substanz bezeichnet zwar ein »Was«, nicht aber ein »Wer«, das wieder trifft die Person. So verstanden zeichnet sich die Person dadurch aus, dass damit »immer nur ein einziger gemeint [ist], der von allen übrigen durch vereinzelnde Eigentümlichkeit unterschieden (singulari proprietate discretus)« ist.54 So trifft die von Boethius ausgearbeitete Definition für Richard zwar für einzelne Lebewesen zu, die als Personen angesprochen werden, 52 Alexander von Hales: Quaestio 4 (de differentia notionum et relationum) 15 (1, 33). Zur etymologischen Spekulation vgl. Kible: Person, 283. 53 Alexander von Hales begnügt sich mit der boethianischen Definition im Rahmen der Trinitätslehre in Glossa 1, 26, 12 (250), Quaestio 2 (de quatuor nominibus) 2, 7 und 9 (1, 13 und 14) und im Rahmen der Christologie in Glossa 3, 10, 2b (Red. AE, 114). 54 Richard von St. Victor : De Trinitate 4, 7 (170); zum Folgenden vgl. Kible: Person, 285 – 286; Greshake: Der dreieine Gott, 104 – 111.

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nicht aber für den dreifaltigen Gott, wo eine Substanz in drei Personen angesprochen wird.55 Deshalb erarbeitet er eine eigene Definition, die auch mehrere Personen mit einer Substanz zulässt. Sie lautet: »Person ist ein durch sich selbst Existierendes nach einer bestimmten einmaligen Weise vernunfthafter Existenz.« – »Persona est subsistens per se solum iuxta singularem quemdam rationalis existentiæ modum.« In einer zweiten Form erblickt Alexander dieselbe Definition: »Person ist die unmitteilbare Existenz einer geistigen Natur.« – »Persona est exsistentia incommunicabilis intellectualis naturæ.«56 Diese Definition enthält drei Elemente, die eng zusammengehören. Statt von substantia zu reden, geht Richard erstens von existentia aus. Zuvor erarbeitet er, dass sich Personen dadurch auszeichnen können, dass sie sich einerseits in der Substanz, also in ihrem Was, unterscheiden, andererseits aber auch in ihrem Woher, indem die Ursprungsbeziehungen (origo) untersucht werden. Das zeigt sich am Begriff existentia, der aus den beiden Teilen sistere und ex gebildet wird. Ein entscheidender Begriff, der aber nach Richard für die Trinität auch nicht völlig angemessen erscheint, ist das »Erwerben« (obtinentia). So ist »darin nicht nur das Haben von Sein, sondern auch das Woher-haben (alicunde), von irgendwem her (ex aliquo) Erwerben mitgedacht«. So heißt »ex-sistieren« nichts anderes als »Von-einem-anderen-her-Sistieren« (ex aliquo sistere) oder »substantiell Von-einem-anderen-her-Sein« (substantialiter ex aliquo esse).57 Die Existenz kann sich demnach in der Qualität oder im Ursprung oder in beidem unterscheiden, das ermöglicht Richard, den Begriff sowohl für Menschen als auch für Engel und die drei göttlichen Personen anzuwenden.58 In Gott kommt hier das zweite Element zum Tragen, die Unmitteilbarkeit. Eine unmitteilbare Existenz ist ganz und gar einer Person eigen und kann keiner anderen zukommen. Ihr entsprechen eine unmitteilbare, unveräußerliche sowie einzigartige Eigentümlichkeit und eine unmitteilbare Differenz. Daher kann es in Gott immer genau gleich viele Personen wie unmitteilbare Existenzen geben. Schließlich ist drittens in Gott diese Existenz gleichzeitig die Eigentümlichkeit, was ermöglicht, eine Substanz und drei Personen zugleich auszusagen.59 Alexander benützt die Definition und weist eben auf diese drei Elemente hin. Unmitteilbarkeit ist positiv gewendet so viel wie Selbststand, innere Einheit, was 55 Richard von St. Victor : De Trinitate 4, 21 (186 – 187). 56 Ebd. 4, 22 und 24 (187 und 189), zitiert bei Alexander von Hales: Glossa 1, 25, 1c-d (238), 3, 5, 18 (Red. AE, 63), 47 (Red. L, 69 f.). Nur die erste Form findet sich in der Aufstellung aller drei Definitionen in Glossa 1, 23, 9c (226). Die Summa fratris Alexandri zählt diese als zwei eigenständige, führt also insgesamt vier Definitionen an: Summa fratris Alexandri 1, 387, obi. 9 (1, 570). 57 Richard von St. Victor : De Trinitate 4, 11 – 12 (173 – 175), Zitat: 12 (174 – 175). 58 Vgl. ebd., 4, 25 (190 – 192). 59 Vgl. ebd., 4, 17 – 19 (180 – 186).

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auch Abgeschlossenheit nach außen miteinschließt. Die Person ist durch sich selbst einheitlich und daher auch für andere ein Gegenüber. Ihr Eigenes, ihre unmitteilbaren Eigentümlichkeiten konstituieren sie als sie selbst.60 Für Exsistenz verwendet Alexander synonym subsistentia, das in diesem Zusammenhang dann dem griechischen hypûstasis entsprechen soll. Damit wird deutlich, dass es um eine ontologische Erklärung geht. Die Person ist ein »abgegrenztes Seiendes« (ens distinctum), das sich eben mithilfe der boethianischen oder der richardschen Definition bestimmen lässt.61 Diese Definition ist ad rationem nominis gegeben. Boethius umschreibt die res, gibt also das Wesen der Person wieder, Person, so wie sie aus sich heraus ist, Richard hingegen trifft die ratio, also den Begriff, der die gemeinte Sache so wiedergeben soll, wie sie sich in einen größeren Zusammenhang einfügt. Alexander führt das weiter aus, indem er die Etymologie, Person sei eine »res per se una«, zur Verdeutlichung anführt.62 Richard erarbeitet diese Definition, weil für ihn die boethianische Definition für die göttlichen Personen nicht zutrifft. Person muss so charakterisiert werden, dass sie ein Letztes, Eigenes darstellt und dennoch das Geheimnis der Trinität angemessen erklärt. War die vorige Bestimmung vom Menschen her zu verstehen und dann im übertragenen Sinne auch für Gott brauchbar, so ist die nächste umgekehrt von Gott her zu sehen und erst im Weiteren für die Kreaturen passend. Auf den Menschen trifft die Definition auch dem usus nominis, also dem Gebrauch des Begriffs nach zu.63 Richard legt seine Definition auch vor, weil für ihn die des Boethius zu kurz greift. Alexander kann die boethianische Definition allein verwenden, wenn der bloße Selbststand der Person gefragt ist. Wo das nicht ausreicht, bedient er sich des Gedankenganges von Richard. Dabei liegt der Akzent auf Identität, Abgrenzung, wie schon die etymologischen Ausführungen zeigen. Alexander stellt die Person, wie Richard sie versteht, mit der Herleitung aus der Existenzweise in den universellen Zusammenhang, weist ihr ihren Platz im Ganzen zu. Bei allen Ausführungen ist ein metaphysisches Interesse leitend. Der von Richard intendierte Gedanke der Relationalität der Personen untereinander findet in diesem Zusammenhang bei Alexander kein besonderes Interesse. In60 Alexander von Hales: Glossa 3, 5, 18 (Red. AE, 63), 47 (Red. L, 69 f.); vgl. auch die Auslegung der nicht authentischen Red. E (ebd. Anm.), weiters Glossa 1, 25, 1c-d (238 f.). Hier verwendet Alexander ausschließlich Richards Definition. 61 Alexander von Hales: Quaestio 2 (de quatuor nominibus) 4, 18 (1, 17). 62 Vgl. Alexander von Hales: Glossa 1, 23, 9b-c (226), dazu auch Hufnagel: Die Wesensbestimmung, 152. 63 Vgl. Alexander von Hales: Glossa 1, 25, 1d (238 – 239). An anderer Stelle hält Alexander dies allerdings insgesamt für die folgende dritte Definition fest, wie gleich gezeigt wird. Vgl. ebd., 23, 9c (226).

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folgedessen gewinnt die Definition für die christologischen Fragen an Bedeutung, während für die Trinitätstheologie noch weitere Ausdifferenzierungen vonnöten sind, konkret etwa eine Überlegung, die die Eigenheiten einer Person in die Definition miteinbezieht.

3.

Die Definition der magistri

Waren die ersten beiden Definitionen vom Begriff substantia geprägt, so wird bei der dritten die Frage der Eigentümlichkeiten explizit angesprochen. Alexander leitet sie lapidar ein: »Es kann auch so definiert werden: Person ist eine Hypostase, die durch eine die Würde betreffende Eigenheit unterschieden ist.« – »Potest autem sic definiri: ›Persona est hypûstasis distincta proprietate ad dignitatem pertinente‹.«64 Diese Definition ist aus der ersten, die die Abgrenzung der einzelnen Person leistet, abgeleitet und insgesamt auf den Gebrauch des Begriffes (ad usum nominis) ausgerichtet. Andernorts versteht Alexander sie aber auch als Erweiterung der richardschen Definition.65 Es kann zweierlei geben, was eine Person ausmacht. Entweder liegt ihr eine eigene Substanz, ein eigenes Wesen zugrunde, so ist es bei den Geschöpfen der Fall. Für den dreifaltigen Gott kann das aber nicht zutreffen, denn hier liegt dasselbe Wesen drei Personen zugrunde. Daher führt Alexander, Porphyrius vor Augen, als zweite Möglichkeit an, dass die Person im Zusammenspiel von Eigentümlichkeiten (collectio proprietatum) besteht, was sowohl auf die göttlichen als auch auf die geschaffenen Personen zutrifft.66 Das erste Moment dieser dritten Definition ist die Erfassung der Person von einer jeweils bestimmten Eigenheit oder Gruppe von Eigentümlichkeiten her. Daher wird die Definition auch oft abgekürzt zitiert, Person sei eine hypûstasis distincta proprietate.67 Die Eigentümlichkeiten, die in Gott zunächst mit den notiones gleichgesetzt werden können, entsprechen der unmitteilbaren Existenz in der Definition Richards.68 Denn proprietas meint konkret etwas, was dem einen, aber keinem anderen zukommt. Sie ist also auch unmitteilbar wie die Existenz, die im wörtlichen Sinn 64 Ebd., 23, 9b-c (226). 65 Alexander von Hales: Glossa 3, 6, 13 (Red. AE, 78): Persona est hypostasis distincta per proprietatem dignitatis; hypostasis est exsistentia incommunicabilis ex quibuscumque individuantibus supposita essentia.; ähnlich 32 (Red. L, 84 – 85). 66 Alexander von Hales: Glossa 1, 19, 24c (203); vgl. Summa fratris Alexandri 1, 337, ad 6 (1, 501). Die Idee der collectio proprietatum geht zurück auf Porphyrius: Isagoge (7), in der Üs. des Boethius ebd. (33). 67 Vgl. Alexander von Hales: Glossa 1, 23, 5a (223); 25, 2e (241), 4 g (245); 27, 2c (260). Die Rede ist von einer excellens, eminens oder præeminens (in der Redaktion L) proprietas. Ebd. 3, 5, 3 (Red. AE, 58 f.), 23 f. (Red. L, 65 f.); 20 (Red. AE, 64), 44 f. (Red. L, 70 f.). 68 Vgl. ebd., 25, 14 (249) und Richard von St. Victor : De Trinitate 4, 17 (180).

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als »Von-einem-andern-her-Sein« verstanden ist. Die zweite und dritte Bestimmung kommen an diesem Punkt zusammen. Freilich folgt aus dieser Definition noch nicht das Verhältnis dessen, was mit Person gemeint ist, zu dem, was Eigentümlichkeit bedeutet. Die Person ist die Eigentümlichkeit, dennoch sind die beiden Begriffe nicht völlig deckungsgleich. Gerade im Blick auf Gott muss hier eine Differenz gesehen werden, um nicht auch Eigenheit mit Wesen zu identifizieren.69 Doch nicht jede Eigenheit kann eine Person konstituieren, sondern nur eine solche, die auf die Würde angelegt ist. Der Zusammenhang von Person und Würde war Alexander nicht neu, vielmehr taucht er schon in der Diskussion des 12. Jahrhunderts auf. Im allgemeinen Sprachgebrauch des Mittelalters kann persona entweder für Mensch im Sinne eines bestimmten Individuums oder für einen Würdenträger stehen. Alanus ab Insulis etwa hält fest, Person werde genannt, »der durch eine Würde ausgezeichnet ist«.70 In diesem zweiten Sinne wird die Person zum nomen iuris, was Verfügungsmacht (potestas) und Würde ausdrückt.71 Diese Bestimmung, die ins 5. Jahrhundert zurückgeht, dient im Rahmen der Christologie dazu, die Einheit von Gott und Mensch in Christus als Personeinheit verständlich zu machen. Wilhelm von Auxerre, der sich ähnlich wie Alexander mithilfe der ersten beiden Definitionen bemüht, die Person durch Einzigartigkeit (singularitas) und Nichtmitteilbarkeit (incommunicabilitas) metaphysisch zu bestimmen, führt die Würde erst im Rahmen der Christologie ein und nennt »Person einen Begriff des Rechtes, das heißt der Macht und der Würde«.72 Die Verbindung von Würde und Macht steht bei Wilhelm wie auch sonst vor Alexander in einem politisch-juridischen Zusammenhang.73 Im Rahmen der hier vorliegenden Definition hingegen, die die Person metaphysisch zu fassen sucht, ist weder der juridische noch der politische Sinn von Würde angesprochen. Der Begriff dignitas meint hier in einem ontologischen 69 Alexander von Hales: Glossa 1, 33, 1c-e (331). 70 [Persona] dicitur aliquis aliqua dignitate præditus. Alanus zielt hier nicht auf eine neue Definition von Person ab, vielmehr versucht er, die boethianische vom alltäglichen Sprachgebrauch her zu erfassen. Bei der näheren Beschreibung von substantia umschreibt er diese außerdem als subsistens, proprietas, essentia und qui habet officium. Alanus ab Insulis: Liber in distinctionibus, zu persona (898 f., hier : 899 A); vgl. Fuhrmann: Person, 282. 71 Persona res iuris est, substantia res naturæ. Faustus Reiensis: De spiritu sancto 2, 4 (139). Mitunter erscheint auch Hilarius von Poitiers als Quelle. Vgl. Kible: Person, 287. 72 Wilhelm von Auxerre: Summa aurea 3, 1, 3, 8 (34 – 39); Zitat: 37: Persona enim est nomen iuris id est potestatis et dignitatis. Ohne dignitas ist Person bestimmt in Summa aurea 1, 6, 1 (78 – 82). Vgl. Kible: Person, 288. 73 Eine Verbindung dieses rechtlichen Aspektes mit dem des eigenmächtigen menschlichen Handelns findet sich auch andernorts, vgl. Kible: Person, 287 – 288 und 299; sowie Kobusch: Die Entdeckung der Person, 29. Zur Geschichte des juridisch verstandenen Personbegriffs vgl. Landgraf: Dogmengeschichte, 94 – 101 und 107 – 115.

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Sinn so viel wie Selbstmächtigkeit, Verfügungsgewalt, Handlungsfähigkeit. Von den göttlichen Eigenheiten sind nur jene auf die Würde hingeordnet, die etwas hervorbringen, also etwa dass der Vater der Zeugende ist. Nur kraft dieser Eigenheiten ist das Personsein möglich. Anderseits ist damit auch deutlich gemacht, dass Person nicht dasselbe ist wie Wesen, weil mit den Eigenheiten göttliche Akte angesprochen sind, die zwar aus dem Wesen kommen, nicht aber damit identisch sind.74 Die Würde hebt die Person ab von der bloßen Hypostase und mehr noch vom bloßen Individuum.75 Jede Person ist Hypostase im Sinne einer unmitteilbaren Existenz, sie ist Individuum, aber erst die Würde erhebt sie wirklich zur Person. »Daher ist jede Person Hypostase, aber nicht umgekehrt.«76 Soweit die Texte bekannt sind, scheint Alexander der Erste zu sein, der den Begriff der Würde ausdrücklich in einer Definition des Personbegriffs nennt. Die Vermutung, dass diese dritte Definition, die Definition der magistri, von ihm stammt, liegt daher nahe. Die Definition wird in der Folge ausführlich zitiert.77 Alexander trägt mit der dritten Definition einen dynamischen Aspekt zur Bestimmung der Person bei, indem er mit dem Begriff Würde Freiheit, Verfügungsmacht, Fähigkeit zur Selbstbestimmung in die Erklärung einfließen lässt. Gleichzeitig festigt er aber auch Einheit und Abgrenzung, Individualität und Selbststand der Person und entfernt sich damit von einem relationalen Verständnis, ja er lehnt es ausdrücklich ab: »Wenn es heißt, Person wird nicht relativ ausgesagt, so ist das wahr […]. Person nämlich enthält in sich die Hypostase im Blick auf die Eigenheiten«78, nicht aber das Verhältnis einer Person zur anderen. 74 Die Frage, ob der Geist dann nicht Person sei, da ihm nur empfangende proprietates eignen, beantwortet Alexander mit dem Hinweis auf die innascibilitas, die hier nicht ausschließlich negativ verstanden wird, und darauf, dass der Geist gänzlich (tantum) gehaucht ist. Der Hinweis kann auch so verstanden werden, dass der Geist dadurch die Einheit von Vater und Sohn hervorbringt, was ein aktives Moment ausmacht. Glossa 1, 28, (276); siehe auch 27, 2c (260). Zur innascibilitas vgl. Arnold: »Perfecta Communicatio«, 216, dem im Kern zuzustimmen ist, wenngleich er sein Wissen über Alexander hier von Sekundärliteratur über Bonaventura aus dem Jahr 1923 bezieht. Kobusch: Die Person, 84, zeigt mit Blick auf Bonaventura, was auch für Alexander gilt: dass die Würde »keine beiläufige, sondern eine wesentliche Bestimmung der Person« ist. 75 Schlapkohl: Persona, 173 – 177, leitet den Begriff Würde aus der römischen Gesellschaftsordnung ab, macht aber dann den Schritt vom juridischen Begriff zum ontologischen nicht, weshalb für sie die Würde auch innerhalb der Menschen noch nach deren hierarchischer Stellung unterschieden ist. Alexander hat aber für seine Definition den Begriff selbst geweitet, um jedem Menschen Würde zuzusprechen. 76 Glossa 3, 6, 13 (Red. AE, 78): Unde omnis persona est hypostasis, et non convertitur. 32 (Red. L, 84 – 85); vgl. 48c (Red. E, 90); weiters 3, 10, 9d (Red. L, 117). 77 Für eine kurze Darstellung der weiteren Entwicklung vgl. Weber: Sünde und Gnade, 129 – 131. 78 Alexander von Hales, Glossa 1, 25, 4 g (245): Quod autem dicitur, quod persona non dicitur relative, verum est … Persona enim includit in se respectum hypostaseos ad proprietatem. Vgl. Bauer : Die Schöpfungswirklichkeit, 10 – 12, der das Fehlen des relationaldialogischen Elements in der traditionell christlichen Bestimmung der Person besonders

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Die drei Definitionen fassen die Sache, die mit Person angesprochen ist, auf je verschiedene Weise, daher benützt Alexander sie auch jeweils an verschiedenen Stellen. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass die Definitionen einander gegenseitig ergänzen, ja gegeben sind, um in den jeweils anderen vernachlässigte Aspekte zu betonen und einander dadurch gegenseitig zu korrigieren.

III.

Person in Trinitätstheologie und Christologie

Wenn in der Theologie von Person die Rede ist, sind damit durchwegs klassisch theologische Zusammenhänge angesprochen. Zunächst sind die Personen der Dreifaltigkeit oder Jesus Christus, der eine Gott-Mensch, in dem zwei Naturen zusammenkommen, gemeint. Daher soll im Folgenden, wieder Alexander von Hales folgend, zunächst nach den göttlichen Personen gefragt werden, dann gilt es, den Horizont auf Menschen und Engel zu erweitern. Im dritten Abschnitt kommt der Gott-Mensch in den Blick, der hinsichtlich der Persondefinition einen Sonderfall darstellt.

1.

Die Personen der Trinität

Um von Gott reden zu können, bedienen wir uns menschlicher Begriffe, wir benützen verschiedene Ausdrücke, die in der Alltagssprache einen bestimmten Sinn haben und von der Philosophie präzisiert werden. Diese Namen werden auf Gott angewandt, immer aber im Wissen, dass sie seine Wirklichkeit nur in ungenügender Weise umschreiben, das Geheimnis Gottes nur tangieren. Augustinus sieht die Problematik des Personbegriffs für die Trinitätslehre. Dennoch hält er daran fest, weil die Terminologie zur Sprache der Konzilien gehört. Auch Alexander von Hales hat durchaus Vorbehalte gegen eine unkritische Verwendung des Begriffs. Freilich kann nicht darauf verzichtet werden, die Sache zu diskutieren, er betont ausdrücklich, dass der alltägliche Sprachgebrauch bei der Rede vom Menschen auf Gott übertragen wird, um den Häretikern entgegenzutreten. Um die Sprache in einem der Sache angemessenen Sinn zu benutzen, versucht Alexander im Verlauf der Argumentation, den Personbegriff so zu fassen, dass er für die Dreifaltigkeit geeignet ist. Dafür bedient er sich der dreigliedrigen Definition. Dennoch kann das Wort, das im alltäglichen Sprachgebrauch selbstverständlich für den Menschen verwendet wird, nicht herausstreicht. Nur die Konzeption Richards bietet einen Ansatz in dieser Richtung. Vgl. auch Greshake: Der dreieine Gott, 101 – 126.

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unmittelbar für Gott verwendet werden, sondern nur im übertragenen Sinn, analog, oder, wie Alexander sagt, translative.79 Den drei göttlichen Personen liegt nur ein Wesen zugrunde. Die Begriffe essentia und substantia können hier gleichermaßen für dieses eine Zugrundeliegende (sub-stans) stehen. Diese Bestimmungen haben nichts mit der herkömmlichen Unterscheidung von Substanz und Akzidenzien zu tun. Dieser Gedanke trifft für Gott nicht zu. Gott ist simplex, also nicht zusammengesetzt, daher nicht aus Substanzen und Akzidenzien bestehend, und das gilt sowohl für die einzelnen Personen als auch für die unitas in Gott. Gott ist immer schon der, der er ist, seinem Begriff entsprechend, immer schon der, der er seinem Wesen nach sein soll, quod est und quo est sind in Gott identisch. Was Person ausmacht, kann weder der Substanz noch den Akzidenzien zugeordnet werden. Die boethianische Definition trifft die Personen in Gott nur dort, wo Substanz als Hypostase verstanden ist, als das der jeweiligen Eigentümlichkeit Zugrundeliegende.80 Person meint ein Letztes, ein konkret Einzelnes, ein Partikulares. Ein solches kann es aber nur in Verbindung mit einem Allgemeinen, Universellen geben. Dieser Gedanke trifft für die Geschöpfe zu, soll er aber für Gott passend sein, so greift dieses Verständnis zu kurz. Gott ist weder partikular noch universell, auch ist nicht Gottes Wesen allgemein, die Personen hingegen partikular. Die göttlichen Personen als partikulare Einzelwesen eines allgemeinen göttlichen Wesens zu denken, ist ein Gottes unwürdiger Gedanke. Der Personbegriff kann nicht in diese Kategorien gehören. Anders gesagt: Person kann, auf Gott gewendet, nach diesem Verständnis kein Individuum ansprechen. Von Gott als individua hypûstasis zu sprechen, trifft also nur im übertragenen Sinne zu. Ein Individuum kann aber auf zwei Arten charakterisiert werden, einmal als eine erste Substanz (substantia prima separata … sic substantia est individuum vel atomum), oder als eine Gruppe von Eigentümlichkeiten (collectio proprietatum). Nur weil wir den dreien in Gott so etwas wie Eigentümlichkeiten zuschreiben können, ergibt die Rede von göttlichen Personen einen Sinn. Dennoch bleibt auch diese Begrifflichkeit immer noch nur annäherungsweise (ad similitudinem) gültig, denn auch von einer Gruppe von Eigentümlichkeiten in Gott kann nicht wirklich gesprochen werden.81 Welche Eigenheiten bilden nun aber die Personen in Gott? Was macht das Personsein von Vater, Sohn, Geist aus? Die personbildenden Eigenheiten un79 Alexander von Hales: Glossa 1, 25, 4 f. (244); 2e (241); 23, 5a (223). Vgl. Summa fratris Alexandri 1, 395, ad 5 (1, 584); Schlenker : Die Lehre von den göttlichen Namen, 356. 80 Vgl. Alexander von Hales: Quaestio 3 (de hypostasi divina), 22 – 27 (1, 27 f.); vgl. auch Glossa 1, 23, 12 (229). Quaestio 1 (de nomine Trinitatis), 12 – 15 (1, 4 f.); 29 – 31 (1, 10 f.); Quaestio 2 (de quatuor nominibus), 1, 2 – 11 (1, 11 – 14); 1, 22 f. (1, 18 f.). 81 Alexander von Hales: Glossa 1, 19, 24 (202 f.); vgl. 25, 4 f (244 f.); siehe auch Hufnagel: Die Wesensbestimmung, 156 f.

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terscheiden für Alexander die drei Personen voneinander. Davon gibt es sechs: drei des Vaters, er ist ursprungslos, zeugt den Sohn und bringt den Geist hervor, zwei des Sohnes, er ist gezeugt und bringt den Geist hervor, eine des Geistes, er ist hervorgebracht (gehaucht). Die Relationen enthalten in sich die Beziehungen der drei untereinander, wie also eine Person sich zu den anderen verhält. Die Notionen vereinen beide in sich, die Ursprungsbestimmungen und die Beziehungen.82 Besondere Bedeutung kommt dabei jenen Notionen zu, die einen aktiven Zug (non ab alio) haben und denen damit personale Würde eignet, etwa dass der Vater der Zeugende (res generans) ist. Damit ist festgehalten, dass es sich dabei nicht um eine Wesensbestimmung, sondern um einen Akt des Vaters, den aktiven Vollzug seines Vaterseins handelt.83 Dieser Vorrang des Aktiven, der sich schon bei der ersten Bestimmung des Begriffs der Würde gezeigt hat, führt auch dazu, dass Alexander sich über das Personsein des Geistes nicht völlig im Klaren zu sein scheint, da doch seine Eigenheit, aus Vater und Sohn hervorzugehen, passiv verstanden werden muss.84 Person beantwortet dabei die Frage nach dem Wer, nicht nach dem Was, dem Wesen.85 Dabei kommt vor allem die Identität in den Blick. Das Miteinander, das Beziehungsgefüge von Vater, Sohn und Geist, ist auf die Frage nach den Relationen verlagert. Deutlich wird auch hier der aktive Akzent im Personbegriff: Jede Person konstituiert sich selbst durch ihre Eigenheiten und Notionen.

2.

Person – Mensch, Engel, Gott

Der Personbegriff gilt, der boethianischen Definition entsprechend, allen rationalen Wesen, er umfasst also drei Gruppen: göttliche Personen, Engel und Menschen. Die drei Gruppen unterscheiden sich, je nachdem, durch ihren Ursprung oder ihre Eigenheiten. In Gott sind es die verschiedenen Ursprünge, die die einzelnen Personen voneinander scheiden. Die Engel haben einen gemeinsamen Ursprung, daher lässt sich der Unterschied hier nur durch die Eigenheiten oder Qualitäten ausmachen. Bei den Menschen trifft beides zu, jeder hat einen anderen Ursprung und andere Eigenheiten.86 82 Vgl. Alexander von Hales: Quaestio 3 (de hypostasi divina), 21 (1, 26 f.); Glossa 1, 27, 8 (265 – 268). 83 Vgl. Alexander von Hales, Glossa 1, 27, 2c (260). 84 Vgl. ebd., 28, 5 g-h (276 f.). Hier wird in der dritten Definition bezeichnenderweise notio synonym für proprietas verwendet (5 g). 85 Vgl. Alexander von Hales: Glossa 1, 25, 6c (246); 27, 8 f. (268); Gregor von Nazianz: Epistula 101 (180). 86 Vgl. Alexander von Hales: Glossa 2, 3, 4 (26); vgl. 28, 5d (274 f.); zur Fragestellung vgl. Boethius: Theologische Traktate 5, 2 (74 f.); Richard von St. Victor : De Trinitate 4, 25 (190 – 192).

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Zur göttlichen Natur gehört die Einheit des Wesens (hier : substantia) in der Dreiheit der Personen. Personsein ist dem Vater und dem Sohne gemeinsam, weil es jedes Mal auf dasselbe Wesen referiert. Dabei bleibt Gott stets einfach (simplex), das heißt auf keine Art zusammengesetzt. Der Mensch hingegen ist aus mehreren Substanzen, aus Seele und Leib, zu einer Person zusammengesetzt. Bei den Engeln fallen Einheit der Substanz und der Person in eins. Den Geschöpfen ist der Begriff Person daher der Sache nach gemeinsam, wenngleich jedesmal ein anderes Wesen damit gemeint ist.87 Zu Gott gehört auch, dass quod est und quo est identisch sind, dass keine Differenz zwischen Gott und der göttlichen Natur besteht, Gott also immer schon der ist, der er seinem Wesen nach sein soll. Die geschaffenen Wesen hingegen sind nicht dasselbe wie ihre Natur, sie entsprechen ihrem Wesen nicht vollständig, sondern nur in bestimmter Weise. Der Mensch ist (noch) nicht das, was er seinem Wesen, seiner Natur nach sein soll, ebenso gilt das für die Engel bei ihrer Erschaffung. Die geschaffenen und ungeschaffenen Personen unterscheiden sich also auf spezifische Weise, trotzdem werden sie alle als Personen bezeichnet.88 Die Gemeinsamkeiten geschaffener und ungeschaffener Personen ergeben sich, wenn man die genannten Unterschiede mit Richards Definition als die Existenzweisen eigener, unmitteilbarer intellektueller Naturen begreift. Dabei macht es keinen Unterschied, ob die Unmitteilbarkeit wie in Gott durch die verschiedenen Ursprungsbeziehungen bzw. wie bei den Engeln ausschließlich durch verschiedene Eigenschaften zustande kommt, oder aber ob beides zutrifft wie beim Menschen. Die jeder Person eigene Existenzweise macht das Personsein aus.89

3.

Die hypostatische Union als Sonderfall

Der Sonderfall der Person, an dem zugleich Wesentliches über das, was Personsein bedeutet, erkannt werden kann, ist die hypostatische Union. Hier stoßen die drei Definitionen nochmals an ihre Grenzen. In den Geschöpfen ist immer einer Natur eine Person zugehörig, im dreifaltigen Gott kommen einer Natur drei Personen zu. In Jesus Christus aber hat Gottes Sohn menschliche Natur angenommen. Diesem Individuum liegen also zwei rationale Naturen zugrunde, dennoch ist hier nur eine Person. Christus hat nämlich nicht einen Menschen, eine eigene Person angenommen, sondern die menschliche Natur zur göttlichen, und dadurch ist nur eine Person konstituiert. Es kann von Mensch und Gott die 87 Vgl. Alexander von Hales: Glossa 1, 25, 2 h und k (242 f.). 88 Vgl. Alexander von Hales: Glossa 3, 5, 1 – 6 (Red. AE, 58 f.). 89 Vgl. Alexander von Hales: Glossa 1, 25, 1 (238 f.); vgl. auch 3, 5, 24 (Red. L, 65 f.).

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Rede sein, beide Male kommt die vernunftbegabte Natur in den Blick. Die Person ist aber nur angesprochen, wenn »dieser« oder »jener« gemeint ist, also der mit dem Namen Jesus Angesprochene. Erst die göttliche und die angenommene menschliche Natur gemeinsam ergeben die zusammengehörige Gruppe von Eigenheiten (collectio proprietatum), die die Person konstituiert. Diese Argumentation, die von Anselm von Canterbury übernommen ist, fasst Alexander zusammen, indem er festhält, hier sei eine Substanz mit einer Gruppe von Eigenheiten gegeben, also eine Hypostase. »Eine Substanz aber, die eine ausgezeichnete Eigenheit enthält, ist eine Person.«90 Was dem Sohn seiner Natur nach zukommt, das hat der Mensch durch die Gnade und in Christus durch die Vereinigung, nämlich jene besondere personbildende Eigenheit, die eine ausgezeichnete (excellens), eine überaus würdige (nobilior), in Christus sogar hervorragende Eigentümlichkeit (præeminens proprietas) ist. Das Personsein wird dadurch in Christus sogar noch bestärkt. Umgekehrt übertrifft die personale Einheit in Christus die Möglichkeiten der Subjekteinheit. Diese wäre zwar als Wesenseinheit an sich größer, Alexander nennt aber die Personeinheit vollkommener (completior), weil hier die Würde, also das Vermögen aktiver Entfaltung, gegeben ist.91 Die hypostatische Union ist der Höchstfall des Menschseins, sie lässt aber auch auf den Menschen zurückblicken. Mit der menschlichen Natur hat der Sohn bei seiner Geburt aus der Jungfrau Maria zwar ein Individuum angenommen, nicht aber eine Person. Jede Person ist mehr als Individuum durch die ausgezeichnete Einheit, die ihr personalen Selbststand verleiht.92 In Christus freilich hat der Sohn die größere Würde, diese geht auch auf die menschliche Natur über. Doch auch die Würde des einzelnen Menschen ist eine ausgezeichnete. Diese Ausführungen lassen auch erkennen, dass Alexander dem Menschen die Eigentümlichkeit, die ihn würdig macht, eine Person zu sein, grundsätzlich gnadenhaft und nicht gemäß seiner natürlichen Ausstattung zuspricht.

IV.

Der Mensch als Person

Obwohl der Personbegriff in der traditionellen Theologie reiche Verwendung findet, kommt er in der theologischen Anthropologie nicht oft vor. Doch wird deutlich, dass der Ausgangspunkt für die Spekulationen die alltagssprachliche 90 Alexander von Hales: Glossa 3, 5, 20 (Red. AE, 64); vgl. 16b (Red. AE, 62), 44 f. (Red. L, 70 f.), 2, 14 (Red. L, 30). 91 Ebd., 2, 14i (Red. L, 30). 92 Vgl. ebd., 5, 3 (Red. AE, 58 f.); 24 (Red. L, 65 f.).

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Bezeichnung von Menschen als Personen ist. Was am theologischen Gebrauch des Begriffs für die Rede vom Menschen bedeutsam ist, muss an den Aussagen über die göttlichen Personen, die hypostatische Union und die Engel abgelesen werden. Um den Personbegriff für die Frage nach dem Menschen fruchtbar machen zu können, muss daher der Denkweg umgekehrt werden. Von den Reflexionen über Gott im Lichte dessen, was wir vom Menschen kennen, gehen wir zurück, um mehr über den Menschen zu erfahren.

1.

Hermeneutik des Personbegriffs

Der Mensch ist nach dem Bilde Gottes erschaffen. Daher kann er auch, wenn er auf sich selbst blickt, Gottes Bild sehen. Folglich trifft die Bestimmung, der Mensch sei Person, auch auf Gott zu, weil Ähnlichkeiten vorliegen. Freilich bedingt immer größere Ähnlichkeit immer auch je größere Unähnlichkeit, und daher bedarf es der diversen Ausdifferenzierungen, um die Breite des Personbegriffs dergestalt deutlich zu machen, dass dabei nicht wesentliche Aspekte verloren gehen. Richard von St. Victor und Alexander von Hales gehen zwar davon aus, dass die Menschen im Gebrauch des Personbegriffs einig sind, differenzieren aber die Verwendung für die anderen Gruppen von Personen doch deutlich aus. Was unsere Frage nach dem Menschen angeht, so tragen Alexanders Ausführungen zur hypostatischen Union am meisten zur Lösung bei, denn dort wird der Mensch vom Höchstfall des Menschseins, vom Gottmenschen her, betrachtet. In diesem Rahmen ist auch der Gedanke der dreifachen Seinsordnung in der geschöpflichen Welt zwar nicht ausschließlich, aber doch mit besonderer Deutlichkeit ausgeführt.

2.

Drei Seinsbereiche

Bis jetzt war vom »Wesen der Person« die Rede, also davon, was mit dem Begriff Person umschrieben ist. Wie sich der Terminus in das Ganze des Denkens einfügt, was also mit dem Personsein verbunden ist, klassisch ausgedrückt das »Wirken der Person«, kommt in den Blick, wenn Alexander von Hales von der Stellung der Person in der Seinsordnung spricht. Er schließt sich der klassischen Dreiteilung der Philosophie (philosophia rationalis, naturalis und moralis) an und nennt drei Bereiche, mit dem sich kreatürliches Dasein und auch Christi Dasein umschreiben lässt: esse rationale, naturale und morale. Den Bereichen entsprechend ist vom menschlichen Wesen oder vom Individuum die Rede, wenn der rationale Bereich angesprochen ist, von der Natur oder dem Subjekt im

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Hinblick auf den natürlichen Bereich, und für den moralischen Bereich steht die Person. Alexander verwendet in diesem Zusammenhang einmal den Begriff individuum und dann synonym essentia. Im Hinblick auf die Definitionen und den Menschen heißt das im Einzelnen, dass das Wesen des Menschen dahingehend zu verstehen ist, dass er für sich selbst steht. Die synonyme Verwendung von subiectum und natura macht auch deutlich, was Alexander unter natura versteht. Die Natur ist für ihn das einer Sache Zugrundeliegende, das hypoke†menon, nach der aristotelischen Ontologie die erste Substanz. Im konkreten Fall ist die aus Leib und Seele bestehende Natur des Menschen angesprochen.93 Die Person ist eine res moris, was sich konkret darin äußert, dass ihr die Würde zu eigen ist. Moralisches Sein ist hier nicht ausschließlich im ethischen Sinn, sondern vielmehr ontologisch verstanden. Gemeint ist die konkrete Möglichkeit des Menschen, eigenmächtig zu handeln, aus eigener Verantwortung seinen Weg zu gehen und sein Leben dem göttlichen Willen entsprechend auszurichten. Es gibt nur ein Aktzentrum, einen Mittelpunkt für das Handeln des Menschen. Das gilt für Christus, den Gottmenschen, wie auch für jedes einzelne Geschöpf. Dadurch ist die Einheit der Person garantiert und die Würde, die das Personsein ausmacht, angezeigt.94 Die drei Seinsbereiche sind nicht unabhängig voneinander, sondern vielmehr aufeinander verwiesen. Dem entsprechend tangieren die Definitionen der Person auch alle drei. Ist vor allem bei Boethius der rationale Bereich angesprochen, wenn die individuelle Substanz zur Rede steht, gilt Richards Definition der Natur, also dem Ort der Person im Ganzen. Den moralischen Bereich im engeren Sinne spricht die dritte Definition an, indem sie namentlich die Würde anführt. Wenn die Person als res moris definiert ist, also das moralische Sein umfasst, so ist davon das rationale und natürliche Sein nicht abgegrenzt, es gewinnt vielmehr darin erst seine Vollendung.95 Mit dieser Argumentation bestimmt Alexander das Personsein und dessen Inhalt. Gemeinsam mit der dritten Definition stellt sie seinen besonderen Beitrag zur Entwicklung des Personbegriffs dar. 93 Vgl. Alexander von Hales: Glossa 1, 25, 4 f (244 f.); vgl. 3, 6, 18 (Red. AE, 80), noch verfeinert 38 (Red. L, 87). Kobusch stellt diesen Zusammenhang als das zentrale Moment in der Bestimmung dessen, was Personsein ist, heraus. Die Auflistung der drei Seinsbereiche gehört aber – anders als von Kobusch angedeutet – bei Alexander unmittelbar in den Bereich des Kreatürlichen und erst von daher zur Theologie von der hypostatischen Union. Vgl. Kobusch: Die Entdeckung der Person, 23 – 25; ders.: Die Person, 87 f. Zur Dreiteilung vgl. Schlapkohl: Persona, 173 f. 94 Vgl. Alexander von Hales: Glossa 3, 6, 18 (Red. AE, 80), 38 (Red. L, 87). Mit einer weiteren Akzentsetzung ist der Dreischritt auch in der Redaktion E vertreten, die aber nicht als authentisch gelten kann. Demnach gehört der Begriff subiectum zur philosophia naturalis, der Ausdruck individuum zur philosophia rationalis und der Terminus persona zur philosophia moralis. Glossa 1, 25, 7 Anm. (236 f.); vgl. Hufnagel: Die Wesensbestimmung, 165 f. Zur Ausdifferenzierung vgl. Bauer : Die Schöpfungswirklichkeit, 11. 95 Vgl. Kobusch: Die Entdeckung der Person, 25; ders.: Die Person, 88 – 90.

Person als theologischer Begriff

3.

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Zusammenfassung

Das Personverständnis des Mittelalters setzt mit Boethius beim Individuum, beim Einzelnen an und geht von hier aus weiter. Person ist mehr als Individuum, mehr als Selbststand, mehr auch als Eingefügtsein in das Universum. Was bei diesen Ausführungen nach und nach in den Hintergrund rückt, ist der relationale Zug, eine Bestimmung des Miteinanderseins. Die Person ist und bleibt auf sich selbst gestellt, die Bestimmung des Verhältnisses zum anderen kommt auch bei Richard von St. Victor über die Inkommunikabilität nicht hinaus. Der Mensch als Person ist als eigenständiges, in sich abgeschlossenes Wesen gekennzeichnet, das diese Eigenständigkeit allen anderen Geschöpfen und Gott gegenüber zu wahren und zu vertreten hat. Er ist durch seinen ihm eigenen (zeitlichen) Ursprung gekennzeichnet und mit Eigenheiten begabt, beides macht sein Menschsein aus. Das Personsein ist im Besonderen durch eine bestimmte und ausgezeichnete Eigenheit bestimmt: die Würde. Damit gibt Alexander von Hales dem Personbegriff einen deutlich dynamischen Zug und hebt ihn so aus einer bloß statischen Bestimmung heraus. Es eint den Menschen mit allen anderen Geschöpfen, dass er noch nicht vollendet ist, sondern durch die Differenz zwischen dem, was er ist, und dem, was er sein soll, gezeichnet ist. Die ganze Schöpfung ist noch nicht fertig, ist noch auf dem Weg hin zur Vollendung. Was den Menschen als Person im Besonderen auszeichnet, ist, dass er diesem Prozess nicht einfach machtlos überlassen ist. Vielmehr ist er befähigt und gerufen, selbst und eigenmächtig diesen seinen Weg zu gehen. Das folgt aus der menschlichen Würde und ist Ausdruck der menschlichen Freiheit. Theologisch gesprochen bedeutet dies, dass der Mensch, nach dem Ebenbild Gottes geschaffen, sich dem Urbild immer mehr annähern, ihm immer ähnlicher werden soll.

Quellen Belege werden jeweils mit innerer Zitierweise angegeben; die Seitenangabe der Edition folgt in Klammern. Alanus ab Insulis: Liber in distinctionibus dictionum theologicarum, in: Patrologia Latina 210, Paris (Imprimerie Catholique)1853, 685 – 1012. Alexander von Hales u. a.: Summa theologica [seu ab origine dicta Summa fratris Alexandri]. Studio et cura PP. Collegii S. Bonaventuræ ad fidem codicum edita, 4 Bde. (= Buch I-III, Buch IV steht noch aus), Quaracchi (Collegium S. Bonaventurae) 1924 – 1948.

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Wilfried Grießer

Kreuz und Freiheit. Überlegungen zu Hegels »spekulativem Karfreitag«

Hegel meint mit seiner Formel vom »spekulativen Karfreitag« dasjenige denkerisch eingeholt oder wenigstens auf den Punkt gebracht zu haben, was der Glaube bzw. die kirchliche Gemeinde zu Karfreitag mit der biblischen Passion verbindet. Hierbei versteht Hegel die Passion Christi, paulinischen und lutherischen Bahnen folgend, zugleich als Passion Gottes, und diesem Herzstück hegelschen Denkens widmen sich die folgenden Überlegungen.

I.

Der deutsche Idealismus als Passion der europäischen Aufklärung

Liest man Hegel in der Tradition der neuzeitlichen Philosophie, so ist schon Descartes’ im radikalen Zweifel gewonnenes cogito durch so etwas wie das »Kreuz« alles zunächst für sicher und gewiss Gehaltenen errungen. Mit Kant wird das »Ich denke« zum universalen Prinzip der Philosophie, und das Anliegen des an Kant anschließenden deutschen Idealismus ist es bekanntlich, vom Selbstbewusstsein als Prinzip zur umfassenden Wirklichkeit der Freiheit zu gelangen, die sich erst einlösen lasse, wenn dem formellen Selbstdenken nicht das Ansich einer nicht auch durch das Denken gesetzten Wirklichkeit entgegensteht. Dies ist durchaus bereits das wissenschaftliche wie politische Programm der Aufklärung, und viele deutsche Intellektuelle (etwa Goethe) hatten vor 1800 hoffnungsvoll nach Frankreich geblickt. Das Entsetzen über die Phase des terreur rief jedoch nach einer Radikalisierung der Aufklärung, die diesen Namen auch verdient und Radikalität nicht mit Militanz gleichsetzt, ähnlich, wie schon die antike Sophistik mit ihren Untiefen Plato und Aristoteles auf den Plan gerufen hatte. So versteht sich der deutsche Idealismus, sofern er eine über die fachphilosophische Auseinandersetzung hinausgehende gesellschaftliche Strömung ist, als Aufklärungskritik, aber mit dem Ziel, die Errungenschaften der Aufklärung zu retten, also sozusagen die Aufklärung vor sich selbst zu retten,

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Wilfried Grießer

auch um nicht jene triumphieren zu lassen, die das Denken und die Wissenschaft ablehnen, aber kein Bewusstsein davon haben, dass sie denkend das Denken ablehnen, wenn sie sich in einen Positivismus des Glaubens oder auch in einen neuheidnischen Mythos flüchten. Wie kann es gelingen, die Aufklärung vor ihrer Selbstzerstörung zu retten? – Der Idealismus, der dem sogenannten »Dogmatismus« (unter welchem die Idealisten bekanntlich noch die Position Kants verstehen) entgegentritt, kann kein naiver Idealismus sein, für den alles, was ist, nur die Ausgeburt des je einzelnen philosophierenden Ich darstellt (und womöglich nur existiert, indem ich es jetzt gerade denke). Ein solcher Idealismus brächte es gar nicht zur Wirklichkeit, nicht einmal zur eigenen, geschweige denn zur gesellschaftlichen. Er bliebe ein stoizistischer Beruhigungsversuch, der in Skeptizismus umschlägt, weil Ich zugleich nur dieser Einzelne ist, dessen Gedanken schon der Wirklichkeit anderer Subjekte nicht standhalten. Idealismus kann aber auch nicht heißen, dass alles Sein nur die Setzung einer sich als alleinige Substanz verstehenden und sich selbst vergöttlichenden Gesellschaft ist. Eben dies wäre die Position der Aufklärung, die zwar an sich aus der Menschwerdung Gottes und seiner Preisgabe an die Welt schöpft, aber nicht darum weiß, und die sich unversehens an die Stelle Gottes setzt, um nicht von ungefähr zeitlebens die Religion zu bekämpfen. Zum Idealismus, damit er seine Freiheit nicht verliert, sondern sie auch in all ihren gesellschaftlichen, politischen und geschichtlichen Dimensionen bewahren kann, gehört also zugleich der Realismus, gehört zugleich seine eigene Umkehrung, gehört das Kreuz. Und dieses Kreuz ist nicht allein das biblische Kreuz von Golgatha, wie es schon von Paulus in seiner universalen, geschichtlichen, ja kosmischen Dimension gedacht wurde, sondern auch die durch das reine Denken vollzogene Passion des Denkens und selbst noch der Philosophie. Dabei wird es jedoch nicht um ein Sich-Wegwerfen des Denkens gehen können und auch nicht um ein nachträgliches Relativieren der Reichweite der Philosophie, sondern um eine durch das Denken vollbrachte Umwendung des Denkens, das seinen Tod übersteht, gerade weil es sich ihm denkend aussetzt und ihn nicht flieht, ohne nun daraus wieder eine Art Leistungszuschreibung oder gar einen reaktiven Heroismus zu machen. Das Denken wegzuwerfen und in ein übermächtiges Anderes (in ein Sein, einen übermächtigen Gott …) abzuspringen, wäre ebenso eine Flucht vor dem Kreuz wie die forsche Selbstbehauptung des Denkens oder des Ich oder der Gesellschaft. Das hat unter den Philosophen des deutschen Idealismus vor allem Hegel deutlich gesehen und auch ausgeführt. Hegelsche Formeln wie Negation und Negation der Negation bezeichnen wesentlich diese sich vollbringende Bewegung des Denkens, wie es auch nicht in der Bedeutung des bloßen Negierens, Relativierens usw. bei sich stehenbleiben kann. Denn verstünde man unter

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Idealismus nur, dass alles, was ist, Setzung des Ich ist, so ist Ich zugleich das Ausschließende, das nicht nur »alles« negiert, indem es »alles« denkt, sondern das sich selbst negiert, das, indem es sich denkt, seine eigene Unmittelbarkeit noch als Denken negiert.1

II.

Kreuz und Anerkennung

Seinen Tod überstehen heißt bei Hegel konkret: Anerkennung – ein Zentralbegriff, den Hegel weit über eine rechtliche und sozialphilosophische Bedeutung hinaus als ein Wissen vom eigenen Anderssein2, von der unabarbeitbaren eigenen Fremdheit wie Verletzlichkeit, mithin vom Nichtwissen, versteht, und dabei zugleich als ein Wissen vom unableitbaren Anderssein des Anderen, der gerade in seinem Anderssein und seiner Fremdheit (auch seines eigenen Ich) meinesgleichen ist; sowie, drittens, als ein Wissen von der Freiheit Gottes, die gewahrt zu haben man Hegel schon zu Lebzeiten und m. E. zu Unrecht abgesprochen hat. In Hegels Phänomenologie des Geistes ist die Anerkennung das »Element«, in welchem der Geist erscheint. Der Geist ist Geist der Anerkennung. Er ist eine überindividuelle, aber keine totalitäre Größe, weil er sich gerade im befreiendfreigebenden Anerkennen der Fremdheit und des Anderen als das Tragende erweist. Nur wo er verletzt wird, eine »Sünde wider den heiligen Geist« begangen wird, wird er zum Feind und kann als totalitär erscheinen – um in unserem Bekennen der Schuld, ihn immer schon verletzt zu haben und aufs Neue zu verletzen, Verzeihung zu verheißen.3 Der Ort, wo dem nachgegangen wird, was den Geist ermöglicht und trägt, ist die (christliche) Religion. In ihr verbindet Hegel die Passion des reinen Denkens mit der Formel vom Tod Gottes, die üblicherweise mit Nietzsche assoziiert wird.

1 Dabei schließt sich noch sein negativer, ausschließender Charakter aus, was in einem ersten Schritt allerdings nur heißt, dass es sein Ausschließen gar nicht sieht. Ein provokantes Beispiel: »Wir sind Kirche.« Dies mag gut gemeint sein und eine integrative Formel bilden, nur liegt darin auch ein: »Ihr, die ihr behauptet, Kirche zu sein, seid nicht Kirche.« 2 Bestimmter gefasst, sogar der eigenen Heuchelei, dass es mir vielmehr um mich gegangen ist und geht. 3 Vgl. die Schlusspassagen von Hegels Ausführungen zum Gewissen: Hegel: Phänomenologie, 484 ff.

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III.

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Hegels Rede vom Tod Gottes in Glauben und Wissen

Der Tod Gottes steht im Zentrum des »spekulativen Karfreitags«, doch während die Wortschöpfung »spekulativer Karfreitag« von Hegel stammt, geht die Rede vom Tod Gottes – und nicht etwa nur vom Tod Christi oder des Sohnes – auf Tertullian zurück, der es als den Glauben der Christen bezeichnete, dass Gott gestorben ist und dennoch ewig lebe, und der auch schon vom gekreuzigten Gott sprach. Dann ist es ein fälschlich Luther zugeschriebener (tatsächlich 1641 von Johannes Rist gedichteter) Liedvers, in dem es heißt: »O große Not! Gott selbst liegt tot. Am Kreuz ist er gestorben; hat dadurch das Himmelreich uns aus Lieb erworben.«4 Bei Hegel begegnet diese Formel erstmals in der Schlusspassage der 1801 verfassten Druckschrift »Glauben und Wissen«, und zwar in der Verschränkung eines zeitdiagnostischen Befunds mit einer eminent systematischen, philosophischen wie theologischen Bedeutung: »Der reine Begriff aber oder die Unendlichkeit als der Abgrund des Nichts, worin alles Sein versinkt, muß den unendlichen Schmerz, der vorher nur […] als das Gefühl war, worauf die Religion der neuen Zeit beruht – das Gefühl: Gott selbst ist tot […] –, rein als Moment, aber auch nicht als mehr denn als Moment der höchsten Idee bezeichnen und so dem, was etwa auch entweder moralische Vorschrift einer Aufopferung des empirischen Wesens oder der Begriff formeller Abstraktion war, eine philosophische Existenz geben und also der Philosophie die Idee der absoluten Freiheit und damit das absolute Leiden oder den spekulativen Karfreitag, der sonst historisch war, und ihn selbst in der ganzen Wahrheit und Härte seiner Gottlosigkeit wiederherstellen, aus welcher Härte allein – weil das Heitere, Ungründlichere und Einzelnere der dogmatischen Philosophien sowie der Naturreligionen verschwinden muß – die höchste Totalität in ihrem ganzen Ernst und aus ihrem tiefsten Grunde, zugleich allumfassend und in die heiterste Freiheit ihrer Gestalt auferstehen kann und muß.«5

Hegel will das Grundgefühl des neuzeitlichen Menschen, dass kein Gott (mehr) sei, nicht wegwischen und mit vorschnellen Vertröstungen aufwarten, sondern ernst nehmen und ihm auf den Grund gehen. Der Schmerz der Gottverlassenheit, bei der sich selbstverständlich auch an den biblischen Jesus am Kreuz denken lässt, ist unendlicher Schmerz, der nicht mehr distanziert werden kann, wie wenn nur irgend etwas schmerzt, ist Schmerz der Sterblichkeit und Schmerz am Ich, an dem schon die Romantik zwischenmenschlicher Liebe merkwürdig gebrochen ist.6 Keiner kann sagen, woher er kommt und wohin er geht; die Liebenden können einander die Treue nicht garantieren. Der junge Hegel spricht in diesem Zusammenhang – wohl mit einem Blick auf Adam und Eva – von der 4 Siehe Jüngel: Gott als Geheimnis, 83 ff. 5 Hegel: Jenaer Schriften, 432 f. 6 Man denke nur an das an den Augenblick gerichtete »Verweile doch, du bist so schön«.

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Scham.7 Doch zugleich lässt der geistige Schmerz des Bekennens und einander Verzeihens der Endlichkeit, wie sie gerade durch die »Unendlichkeit« des Ich als Macht des Todes gesetzt ist, die Liebe hervortreten. All dies soll philosophisch in seiner ganzen Tragweite gedacht werden. Der historische Karfreitag soll durch den spekulativen Karfreitag vertieft, radikalisiert und universalisiert werden. Dem unendlichen Schmerz korrespondiert das absolute Leiden, das Leiden an der Endlichkeit und das Leiden am Anspruch des Ich, in seiner Bestimmtheit und Einzelheit absolut sein zu wollen. Zwar absolviert das Leiden sich zuweilen von selbst, wie Tränen versiegen, doch ist vielen heutigen Menschen nicht nur das Lachen, sondern auch das Weinen vergangen, und die herrschende Sprachlosigkeit ist schlimmer, als Hegel sie zu seiner Zeit wahrnahm. Bei Hegel finden wir jedenfalls die Zuversicht, dass im Zulassen des Schmerzes eine gleichsam unendliche Liebe hindurchbricht, und dies umso nachhaltiger und universaler, wenn der Schmerz rein gedacht wird, zur Passion des reinen Gedankens wird. Was winkt, ist die »heiterste Freiheit«, die nicht nur Gefühl oder Ahnung bleibt, sondern Gestalt gewinnen darf.8 Dass die »höchste Totalität« auch in die Freiheit der Gestalt auferstehen muss, mag den Verdacht erwecken, Hegel zufolge unterliege selbst Gott noch einer fremden und anonymen Notwendigkeit, doch Hegels Gedanke ist schlicht der : Gott ist freigebende Bewegung auf den Menschen zu, ist Menschwerdung und der bereits Menschgewordene. Freiheit ist schon ereignet, und wer sie nicht zulässt, verstrickt sich in die Notwendigkeit. – Dabei haben wir uns (was die Sache subtiler macht!) zugleich schon in die Notwendigkeit verstrickt; wir sind simul iustus et peccator, und so nimmt es nicht wunder, dass die vorhin skizzierte Anerkennung, die in Hegels Phänomenologie des Geistes die Sphäre der Religion eröffnet, im Kontext der christlichen Religion in Gestalt des Sündenbekenntnisses wiederkehrt.9

IV.

Der Tod Gottes in Hegels Phänomenologie des Geistes

In Hegels frühem Hauptwerk erfährt man Genaueres über den Tod Gottes als Mitte des spekulativen Karfreitags. Diese Formel steht dort ein erstes Mal am Beginn der Ausführungen zur christlichen Religion. Wenn Hegel dabei den Weg zum Christentum von der griechischen und nicht von der jüdischen Religion her 7 Vgl. Hegel: Frühe Schriften, 247. 8 Man kann hier an die Gestaltung einer menschlicheren Welt denken, doch gilt es dabei, schon existierende Freiheit zu wahren und nicht so zu tun, als käme die Freiheit erst durch den Menschen in die Welt. Es wäre dann Tür und Tor geöffnet, den Mitmenschen ein bloßes Konstrukt dessen, was »Freiheit« und was »gerecht« sei, aufzuzwingen. 9 Vgl. Hegel: Phänomenologie, 569 f.

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nimmt, hat dies neben dem Antisemitismus des jungen Hegel einen systematischen Grund: Obwohl die griechische Götterwelt gegen den Monotheismus und den mit Israel mitleidenden, geschichtlichen Gott des Judentums reichlich unentwickelt erscheint, und obwohl das Alte Testament nicht nur den leidenden Gerechten kennt, sondern auch die entsetzliche Gottesferne Hiobs, die dem antiken Griechenland fremd ist, erblickt Hegel den zentralen Gedanken der Menschwerdung Gottes am reinsten in der griechischen Komödie: Die Grundszene von Menschwerdung ereignet sich, wenn der Schauspieler die Maske fallen lässt, denn sofern auch die Komödie die Götterwelt darstellt,10 das Ringen der Götter miteinander und mit den Menschen, geht das szenisch übernommene Göttliche an den Darsteller über, der es als sein Eigenes erkennt, und das Göttliche ist schlussendlich er selbst. Das Fallenlassen der Maske wird sich (wenn auch bei Hegel nicht explizit) im Zerreißen des Tempelvorhangs in gewisser Weise wiederholen. Hier ist allerdings erst der Schauspieler das Subjekt des Handelns, das die göttliche Substanz als Subjekt – als er selbst – entdeckt. Dies nennt Hegel den Leichtsinn,11 und es ist dies auch der Leichtsinn des aufgeklärten Bewusstseins, das das Glück seiner Freiheit verliert, um sich in neuerliche Kämpfe mit der Religion zu verstricken. In der hellenistischen Antike als dem Zeitraum der Entstehung des Christentums – einer Zeit, die durchaus schon so etwas wie eine urbane Stadt- und Individualitätskultur kannte – stellt sich dies als der Übergang vom glücklichen zum (von Hegel an früherer Stelle thematisierten) unglücklichen Bewusstsein dar : »Aber dies Selbst hat durch seine Leerheit den Inhalt freigelassen; das Bewußtsein ist nur in sich das Wesen; sein eigenes Dasein […] ist die unerfüllte Abstraktion; es besitzt also vielmehr nur den Gedanken seiner selbst, oder wie es da ist und sich als Gegenstand weiß, ist es das unwirkliche« und findet »seine Wahrheit in derjenigen Gestalt, die das unglückliche Selbstbewußtsein genannt wurde«.12 »Wir sehen, daß dies unglückliche Bewußtsein die Gegenseite und Vervollständigung des in sich vollkommen glücklichen, des komischen Bewußtseins ausmacht. In das letztere geht alles göttliche Wesen zurück, oder es ist die vollkommene Entäußerung der Substanz. Jenes hingegen ist umgekehrt das tragische Schicksal der an und für sich sein sollenden Gewißheit seiner selbst. Es ist das Bewußtsein des Verlustes aller Wesenheit in dieser Gewißheit seiner und des Verlustes ebendieses Wissens von sich – der

10 In der voraufgegangenen Tragödie bleibt es dagegen noch beim namenlosen Bruch zwischen den Menschen und den durch die Götter symbolisierten Mächten. 11 Eine Manifestation dieses Leichtsinns ist der Xenophanes zugeschriebene (und Ludwig Feuerbachs Religionskritik antizipierende) Ausspruch: »Hätten die Schweine Götter, so wäre ihr Gott ein Schwein.« 12 Hegel: Phänomenologie, 546 f. [Herv. i. T.].

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Substanz wie des Selbsts; es ist der Schmerz, der sich als das harte Wort ausspricht, daß Gott gestorben ist.«13

Das leichtsinnige Bewusstsein des Schauspielers, der die Maske fallen lässt, ist schon die »Entäußerung der Substanz«, es ist die Menschwerdung Gottes, nur weiß es darum noch nicht. Es hat forsch die Maske fallen gelassen und empfängt zwar seine Freiheit, die es unmittelbar als die seine in Besitz nimmt, aber es scheitert schon an der ebensolchen Freiheit der Anderen, die – wie es selbst – durch Besitz von Statussymbolen jeglicher Art ihre innere Leerheit auffüllen. Um den Besitz bricht Streit aus, und am Verlust dessen, was angeblich das Selbst ausmachen soll, bricht erst die andere Wahrheit hervor, nämlich die Gottverlassenheit, der Verlust aller Wesenheit in der Freiheit, die erst die Gewissheit war, frei zu sein, aber weder ihren abgründig-grundlosen Grund kennt noch zu einer angemesseneren zwischenmenschlichen Konkretion gefunden hat. Frei zu sein heißt auch, die eigene Endlichkeit und Sterblichkeit annehmen zu müssen, ohne sich in die Anhäufung von Besitz oder auch in ein Weltbild jeglicher Art flüchten zu können. (Genau dies Letztere, die Flucht in ein Weltbild im weitesten Sinn, wird Hegel noch der Religion vorwerfen. Daher schließt die Phänomenologie des Geistes nicht mit der Religion, sondern mit dem absoluten Wissen, das jedoch keine Hybris ist, die vom hohen Thron der Philosophie überheblich auf die Religion herabblickt, sondern nur diesen Weltbildcharakter der Religion korrigiert.) Es folgt das Auftreten des Jesus von Nazareth, in welchem – faktisch, historisch – von vielen der menschgewordene Gott erkannt wurde. Hegel geht 1807 nicht näher auf Jesu Lehre und Jesu Wirken ein, auch nicht auf die Umstände seines Todes. Interessanter ist für ihn die Gemeinde- und Theologiebildung, die mit Jesu Tod einsetzt: Im Kultus der Gemeinde wird das Erfahrene verinnerlicht, wobei Hegel hier konkret an das Sündenbekenntnis und vermutlich auch an das Abendmahl denkt. Und hier findet sich, gegen Ende der Ausführungen zur christlichen Religion, jene Sequenz, die die ausführlichste Auskunft darüber gibt, was es mit dem spekulativen Karfreitag auf sich hat: »Dasjenige, was dem Elemente der Vorstellung angehört, daß der absolute Geist als ein einzelner oder vielmehr als ein besonderer an seinem Dasein die Natur des Geistes vorstellt, ist also hier in das Selbstbewußtsein selbst versetzt, in das in seinem Anderssein sich erhaltene Wissen; dies stirbt daher nicht wirklich, wie der Besondere vorgestellt wird, wirklich gestorben zu sein, sondern seine Besonderheit stirbt in seiner Allgemeinheit, d. h. in seinem Wissen, welches das sich mit sich versöhnende Wesen ist. Das zunächst vorhergehende Element des Vorstellens ist also hier als aufgehobenes gesetzt, oder es ist in das Selbst, in seinen Begriff, zurückgegangen; das in jenem nur Seiende ist zum Subjekte geworden. Eben damit ist auch das erste Element, das reine 13 Ebd., 547.

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Denken und der in ihm ewige Geist nicht mehr jenseits des vorstellenden Bewußtseins noch des Selbsts, sondern die Rückkehr des Ganzen in sich ist eben dies, alle Momente in sich zu enthalten. Der vom Selbst ergriffene Tod des Mittlers ist das Aufheben seiner Gegenständlichkeit oder seines besonderen Fürsichseins; dies besondere Fürsichsein ist allgemeines Selbstbewußtsein geworden. – Auf der andern Seite ist das Allgemeine eben dadurch Selbstbewußtsein und der reine oder unwirkliche Geist des bloßen Denkens wirklich geworden. – Der Tod des Mittlers ist Tod nicht nur der natürlichen Seite desselben oder seines besonderen Fürsichseins; es stirbt nicht nur die vom Wesen abgezogene, schon tote Hülle, sondern auch die Abstraktion des göttlichen Wesens. Denn er ist, insofern sein Tod die Versöhnung noch nicht vollendet hat, das Einseitige, welches das Einfache des Denkens als das Wesen weiß im Gegensatze gegen die Wirklichkeit; dies Extrem des Selbsts hat noch nicht gleichen Wert mit dem Wesen; dies hat das Selbst erst im Geiste. Der Tod dieser Vorstellung enthält also zugleich den Tod der Abstraktion des göttlichen Wesens, das nicht als Selbst gesetzt ist. Er ist das schmerzliche Gefühl des unglücklichen Bewußtseins, daß Gott selbst gestorben ist. Dieser harte Ausdruck ist der Ausdruck des innersten sich einfach Wissens, die Rückkehr des Bewußtseins in die Tiefe der Nacht des Ich = Ich, die nichts außer ihr mehr unterscheidet und weiß. Dies Gefühl ist also in der Tat der Verlust der Substanz und ihres Gegenübertretens gegen das Bewußtsein; aber zugleich ist es die reine Subjektivität der Substanz oder die reine Gewißheit seiner selbst, die ihr als dem Gegenstande oder dem Unmittelbaren oder dem reinen Wesen fehlte. Dies Wissen also ist die Begeistung, wodurch die Substanz Subjekt, ihre Abstraktion und Leblosigkeit gestorben, sie also wirklich und einfaches und allgemeines Selbstbewußtsein geworden ist.«14

Dem reinen Denken, von dessen Passion schon eingangs die Rede war, entspricht der »ewige Geist«. Aber eben dieses Denken war – sozusagen unbewusst – auch hinter dem bildhaften Vorstellen, dass Gott eine Welt erschaffen habe, dass er Mensch wurde usw., gestanden. Das Vorstellen ist im reinen Festhalten eines Bildes unter der Hand schon Denken gewesen – und es war vom wirklichen Selbst des Gläubigen getrennt. Indem nun alle Vorstellung zerrinnt, tritt jetzt auch dieses Denken heraus, nur hört es dabei zugleich auf, bloßes Denken zu sein, d. h. sobald sich ihm am Abgrund des Kreuzes alles Vorstellen aufhört, ist es zugleich Wirklichkeit dieses Selbsts und nicht nur Denken. Der Mensch ergreift und erfährt sich in seiner Wirklichkeit, die jedoch – anders als in Glauben und Wissen – nicht schon heiterste Freiheit ist, sondern hier ist nur erst überhaupt der Grund eingeholt, dass der Mensch seine Freiheit erlangt, die ihm im Fallenlassen der Maske erst ganz unmittelbar zuteilwurde. Dieser Grund ist zunächst der Mittler, Jesus von Nazareth, aber dabei ist es erst Jesus als der Christus in seiner Gemeinde, erst der theologisch begriffene Jesus am Kreuz, der den noch tiefer liegenden eigentlich tragenden Grund vermittelt: den toten Gott. Es mag empören, dass mit Jesus »nur die vom Wesen 14 Ebd., 571 f.

Kreuz und Freiheit. Überlegungen zu Hegels »spekulativem Karfreitag«

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abgezogene, schon tote Hülle« sterbe. Wird hier der Mensch Jesus von Nazareth in seinem Schmerz am Kreuz zur Marionette entwertet? – Mitnichten: Was Hegel kritisiert, ist vielmehr die Form der abstrakten Trennung, wenn für die Vorstellung hier Gott, dort der Mensch und dazwischen Jesus von Nazareth fixiert werden. Da ist ein Moment so tot wie das andere; und im Übrigen ist kein Mensch nur natürlich, sondern der Mensch ist Geist, ist die Anwesenheit und das Anwesendsein-Wollen Gottes, ist Freiheit aus Freiheit und Liebe. Der Tod der Vorstellung ist zugleich das Ende oder besser : die Grenze der Religion, an der Hegel überhaupt den vorstellenden Charakter kritisiert, nämlich dies, dass sie mehr Weltbild ist als ein Begreifen und Ergreifen dessen, was in ihrer Lehre und ihren kultischen Vollzügen dargestellt ist.15 Hegel proklamiert jedoch kein Ende der Religion, sondern sieht nur sehr klar, dass Religion bzw. Kirche zwar Rückzugsort und Ort der Einkehr sein kann und schon als Ort der Lehre und Erziehung immer neuer Erdenbürger bestehen bleiben muss, aber dabei selbst immer zugleich »Menschwerdung« sein muss, immer ein Ort des Übergangs zur Welt, der sie gleichsam schon angehört. Weitergehende Auskünfte zum Tod Gottes erhalten wir auch aus diesem Text nicht; sie sollen Gegenstand eines vertieften Fragens sein.16

V.

Vertiefende Anfragen an den Tod Gottes

Zunächst: Wer stirbt bzw. ist gestorben? Gewiss nicht nur Jesus von Nazareth, derart, dass Gott davon unberührt zurückbliebe, sondern mit Jesus von Nazareth stirbt Gott selbst. Und zwar nicht nur Gott, insofern er in Jesus von Nazareth inkarniert ist, also ganz zu Jesus von Nazareth geworden war, »hinter« dem noch ein verborgener Gott stünde, sondern Gott ist Menschwerdung und der Menschgewordene, und nichts dahinter.17 Zumindest ist am historischen Kreuz 15 Ob dies Begreifen und Ergreifen schon dadurch erreicht ist, anstelle einer verstaubten Dogmatik, die ja trotz viel Unzureichendem ein Versuch der Universalisierung und Klärung der Inhalte des Glaubens ist, ein möglichst getreues Bild des Wirkens Jesu im historischen Israel zu gewinnen – und mehr als ein Bild der Vorstellung lässt sich schon ob der zeitlichen und kulturellen Distanz auch hier kaum erwarten –, sei (im Übrigen gleichsam schon mit Hegel) bezweifelt. 16 Zur Interpretation der hegelschen Religionsphilosophie sei generell bemerkt, dass sie – wenigstens im deutschsprachigen Raum – meist zwei Einseitigkeiten unterliegt: Man interessiert sich entweder nur für die logisch-architektonische Struktur eines Textes und gibt sich etwa damit zufrieden, bestimmte Schlussfiguren verortet zu haben. Oder man liest Hegel bewusstseinsphilosophisch, und es interessiert nur die Selbstkonstitution des religiösen Bewusstseins, nicht aber, was der Tod Gottes an und für sich bedeutet. 17 Hinter dem Tempelvorhang ist nichts, und auch der Atheismus hat auf seine Weise recht, wenn er behauptet, dass beim Christentum »nichts dahinter« sei. Nur ist der radikalste Atheismus das Christentum selbst.

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von Golgatha, in der Gottesferne, der Jesus sich ebenso ausgesetzt sah wie jeder andere Mensch auch, ja von der auch Jesus geradezu »überrumpelt« wurde, endgültig erschienen, dass Gott Mensch geworden ist, d. h. dass die Freiheit von Gott auf den Menschen übergegangen und diesem überantwortet ist – zunächst noch ganz in der Ambivalenz, ob dies Heil oder vielmehr Unheil bedeute, derart, dass der Mensch ganz auf sich alleine gestellt ist, so, wie Gott Jesus am Kreuz gerade im entscheidenden Moment seine Hilfe versagt, ja nicht einmal dessen Ruf beantwortet. Es gibt keine Antwort, und dies wäre dann die einzige Antwort. Die Freiheit, aus einem grundlosen Grund heraus frei zu sein oder, wie Sartre dies ausdrückt: zur Freiheit verurteilt zu sein, ist zugleich die Antwort. Heißt dies am Ende doch, dass es Gott nie gab? Bleibt dann gar kein Gott mehr? Ja und nein: Gott ist nicht bloß menschliche Projektion und sein Tod nicht bloß der Verlust einer Illusion. Dennoch kann es so erscheinen, dass es Gott von Gott selber her nie gab. Dies wäre der radikalste Atheismus, weil er von Gott selbst ausgeht. Spätestens mit dem Kreuzestod Jesu bzw. dessen spekulativer Durchdringung gibt es keinen Gott mehr, derart, dass hier manifest geworden wäre, dass es Gott von Gott selbst her nie gegeben habe. Doch blicken wir auf den (in Hegels Phänomenologie des Geistes nicht weiter thematisierten) vorösterlichen Jesus zurück – und auf das voraus, was mit dem Titel »Auferstehung« angezeigt sein mag: Es bleibt nicht bei der Radikalität der Freiheit. Die Freiheit hat Gabecharakter, der Mensch empfängt sich – gerade am Kreuz! – in seiner Freiheit; und es wäre Gott mit dem Menschen nicht ernst, nähme er ihm die Antwort ab. Der Mensch erfährt seine Freiheit aus einem grundlosen Grund, der er selbst ist bzw. dessen Ort die menschliche Existenz ist,18 und gerade darin zeigt sich Gottes Preisgegebensein an die Welt »von Anbeginn der Welt«. Doch die Freiheit entspringt auch der Liebe, und dies kann der Blick auf Jesu Wirken lehren, denn im Geist der Anerkennung ist die vermittelte Freiheit nicht Absurdität oder gar Resultat eines göttlichen Sadismus, sondern Ermöglichung zu sein. Sie ist Freiheit aus Liebe und zur Liebe, vielleicht Absurdität der Liebe, wie die Liebe freigebende und nicht erdrückende Liebe ist, die ihrerseits schon Sadismus wäre.19 Wir werden dies im Hinblick auf Gefährdungen der Freiheit im Auge behalten müssen. Musste Gott sterben? Die am Kreuz hereinbrechende Freiheit entspringt einer Freiheit. Gott untersteht keiner Notwendigkeit, auch nicht einer Dialektik, derzufolge er die Welt schaffen musste, Mensch werden musste und als dieser Mensch bzw. mit diesem Menschen sterben musste, um sich als der gestorbene Gott zu erweisen. Dialektik ist vielmehr nur das auslegende Entstehenlassen 18 Vgl. Heidegger : Sein und Zeit, 284 f.: »Nicht durch es selbst, sondern an es selbst entlassen aus dem Grunde, um als dieser zu sein.« 19 Denn warum der Tod, wenn Gott an unserer statt die Antwort gäbe?

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dieser Freiheit. Deren Verborgenheit ist weder anonyme Notwendigkeit noch Willkür, sondern die der Offenbarung selbst – die Grundlosigkeit der Freiheit wie der Liebe. Fassen wir zusammen: Es stirbt also Gott selbst, wie denn schon am Kreuz alles Vorstellens und Denkens die Freiheit ereignishaft widerfährt. Diese Widerfahrnis ist zwar durch das Denken, durch dieses hindurch, wie auch wiederum für das Denken, aber nur indem dieses sich selbst umwendet. Und in dieser universalen und fundamentalen, Denken und Sein zusammenschließenden Bewegung bleibt auch Gott nicht unbeeindruckt auf der »anderen Seite« des Denkens zurück, ohne deswegen nur Gegenstand oder gar Produkt des Denkens zu sein. Mit der »Abstraktion des göttlichen Wesens« ist jedenfalls nicht nur eine menschliche Projektion Gottes gestorben, und sei diese die Vorstellung eines lebendigen Gottes, sondern Gott selbst. Dabei erweist sich nicht nur der »tote« Gott eines höchsten Seienden oder obersten Prinzips als gestorben, sondern indem Gott selbst sich gerade in seiner Liebe zur Freiheit und seiner Freiheit zu Freiheit und Liebe als der zeitlos Tote erweist, stirbt selbst noch der lebendige Gott.20 Die Passion des »ganzen«, des lebendigen Gottes, und nicht nur eines Substanz-Gottes der Philosophen, ist von eminenter Wichtigkeit, um die Sache, der sich auch Jesus ausgesetzt fand, nicht zu verharmlosen und vorschnell abzuspannen, d. h. aber auch: um Menschen in ihrer Gottverlassenheit und ihrem Leiden, die zur Situation eines jeden von uns gehören, ernst zu nehmen und keine vorschnellen Vertröstungen entgegenzuhalten (auch keine idealistischen!). – Nur insofern stirbt der schon Tote, als am Kreuz von Golgatha bzw. in dessen Verinnerlichung in der Gemeinde sowie im philosophischen Begreifen manifest wird, dass Gott »von Anbeginn der Welt an« darauf Verzicht getan hat, Gott zu sein. Auch in diesem Sinne manifestiert sich am geschichtlichen Karfreitag, im geschichtlichen Leiden, das absolute Leiden. Dies Leiden Gottes war für die Heiden und für die griechische Philosophie eine noch größere Torheit als im jüdischen Empfinden. Wahr daran ist, dass Gott nicht leidet wie ein Mensch, und man könnte einen Ausweg derart versuchen, dass Gott nicht leidet, sondern zeitlos gelitten und »von Anbeginn der Welt« auf sich Verzicht getan hat. Dies kann allerdings auch auf einen Deismus hinauslaufen, derart, dass das zeitlose Gelittenhaben Gottes an den Anfang von Zeit und Welt gesetzt wird, auch wenn dieser Deismus ein negativer Deismus ist, der einen gleichsam ungöttlichen, sich an die Welt preisgegeben habenden Gott an den Anfang setzt. – Dagegen muss geltend gemacht werden, dass Gott ebenso sehr »in jedem Augenblick« gestorben ist und »zu jeder Zeit« den Menschen aus sich entlassen hat und diese Freiheit des Augenblicks ergriffen sein will. Auch dass er jeden Menschen zu einem freien geschichtlichen Zeitpunkt in die Freiheit 20 Vgl. Jüngel: Vom Tod des lebendigen Gottes.

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entlassen hat, wie er auch den Zeitpunkt des Todes bestimmt usw. Dennoch ist es der Tod des Jesus von Nazareth bzw. dessen spekulative Durchdringung, an dem dies (selbst kontingenterweise, aber nicht ohne Vorgeschichte21) manifest wurde. Auch die letztere Überlegung bekräftigt, dass Gott nicht definitiv ein für alle Mal tot ist. Aber ist Gott hierdurch nichts weiter als die gesamte Bewegung seines Erscheinens und Wissens? Dies ist vor allem eine Anfrage an Hegel, dessen philosophische Auffassung des Christentums sich vielen Anfeindungen ausgesetzt fand. Hegel bemerkte früh, dass das Absolute weder vor seiner Bewegung ist noch deren Resultat, sondern ebendiese Bewegung selbst, und auch in der Phänomenologie des Geistes liest man: »Gott ist allein im reinen spekulativen Wissen erreichbar und ist nur in ihm und ist nur es selbst, denn er ist der Geist, und dieses spekulative Wissen ist das Wissen der offenbaren Religion.«22 Gott ist also nur das spekulative Wissen selbst. Passagen wie diese sind der Quell vieler Missverständnisse: Vordergründig lassen sich hier pantheisierende Tendenzen verorten, wenngleich wir schon bemerkten, dass der Geist bei Hegel kein numinoses allumfassendes Etwas und auch keinerlei unbestimmte Ganzheit bezeichnet, sondern genau die Anerkennung und Versöhnung sowie das Wissen darum (das Wissen, das seine Grenze kennt und nicht selbst wiederum »Substanz« ist).23 So ist der Geist am Kreuz am intensivsten Geist, nämlich seine eigene Entäußerung, aus der er zugleich erst hervorgeht und erweist, schon das alles Tragende gewesen zu sein. Und hierbei zeigt sich auch Gott als Geist: Wurde gegen Hegel die Persönlichkeit und Freiheit Gottes moniert, so wird man diese (ohne in eine abstrakte Vorstellung von Person und Freiheit qua Willkür zurückzufallen) nur in der schon grundlos geschehenen und geschehenden Preisgabe an die Welt ersehen können und nirgends »davor« oder »dahinter«. Auch die Bewegung des Erscheinens Gottes und des Wissens von Gott und des Erscheinens dessen, was bzw. wer Gott ist, im Wissen, darf nicht als Substrat vorgestellt werden, sondern ist Bewegung auf den Menschen hin, der ihr jederzeit wie auch zu einem freien, bestimmten Zeitpunkt entsprungen ist und entspringt, und kein übergeordnetes anonymes Geschehen. Erst gegen die Vorstellung Gottes als eines beständigen Prozesses24 tritt die Forderung nach Persönlichkeit, welche allzu rasch ebenso abstrakt gefasst ist wie jene Bewegung. Dabei tritt Gott unversehens an den »Anfang« jener Bewegung, was den Deismus ergibt (und sei es den von mir so bezeichneten negativen Deismus), bzw. steht Gott abstrakt und apathisch über der Bewegung oder auch unter derselben, derart, dass er zur 21 22 23 24

An der es wiederum kontingent ist, dass sie in Israel ihren entscheidenden Anfang nahm. Hegel: Phänomenologie, 554. Vgl. ebd., 590. Doch auch deren »Tod« ist jederzeit schon erfolgt!

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Marionette einer Dialektik (und sei es seiner eigenen Dialektik) wird, bzw. behilft man sich, einen »Gott in sich« von seiner Offenbarung zu trennen. All dies wird Hegel nicht gerecht. Gott ist Freiheit als beständige Bewegung zum Menschen hin, aber Gott ist auch frei, schon indem er sich grundlos zu dieser Freiheit bestimmt hat, wie sie am biblischen wie spekulativen Karfreitag manifest wurde. – Diese Bewegung, die nicht abstrakte Prozessualität ist, sondern Menschwerdung, ist zugleich die Menschwerdung des Menschen, und gerade hierin ist sie dieselbe Bewegung, die das spekulative Wissen ist und die dieses zum Vorschein bringt. Diese Bewegung umfassender Menschwerdung ist zugleich dasjenige, was Hegel in seiner Geschichtsphilosophie als ein Fortschreiten im Bewusstsein der Freiheit intendiert. Nur darf auch dies Fortschreiten weder als mechanistisches Geschichtsgesetz genommen noch darf ein inner- oder auch überzeitlicher Endpunkt postuliert werden, noch muss man Hegel einen heroisierten Freiheitsmythos unterstellen (dazu später), sondern was Hegel andenkt, impliziert ein Bewusstsein auch der Gefährdungen der Freiheit, die es immer mit Freiheit zu tun hat, sodass keine Verletzung folgenlos bleibt. Doch wird man nicht davon ausgehen können, dass dies den Menschen immer klarer werden muss. Auch die Preisgabe Gottes an die Welt darf nicht als Garantie und Persilschein genommen werden. Wo die Freiheit in Besitz genommen wird, geht sie verlustig und Gott wird wieder zum namenlosen Feind. Dies ließ sich nicht nur an der Gestalt der Komödie beobachten, auch das Alte Testament lehrt es zur Genüge. Dass Gott stirbt bzw. gestorben ist, bezeichnet also Gottes zeitlose, freie Selbstpreisgabe an die Welt und an den Menschen. Doch sofern Gott über die Freiheit hinaus als Liebe bestimmt ist, der Mensch im Geist der Anerkennung tiefere Wahrheit erfährt als in der Raserei, und sofern Gott auch wieder zum namenlosen Feind werden kann und solche Feindschaft nach Auflösung drängt, kann auch gesagt werden, dass Gott im Leiden des Menschen gerade am Menschen und des Menschen an sich selbst mitleidet und sich nicht in der Bestimmung des »Gelittenen« erschöpft, der nur auf seine eigene Gottheit Verzicht getan hat. Denn das wäre wieder nur die blanke Freiheit – zwar aus Freiheit, aber letztlich unbestimmt, ob zum Heil oder Unheil. Beide Momente zusammengedacht, ist Gott gerade als der »Gelittene« der am Ort und als Ort des Menschen Leidende und ebendies die Erfahrung von Golgatha. Dies weckt, schon am Tod des Jesus von Nazareth, den nach dem Passionslied »Herzliebster Jesu, was hast Du verbrochen?« meine Sünden geschlagen haben, eine weitere Frage: Haben wir Gott getötet? – Zunächst: Als Menschen haben wir die Substanz zeitlos gesprengt und uns auch geschichtlich wie biografisch25 allesamt als Ich gesetzt. Wenn Hegel in deutlicher Anspielung auf Jesu Verrat von 25 Man denke an die Trotzphase.

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der »Nacht, worin die Substanz verraten ward und sich zum Subjekte machte«, spricht26, so hat dies diese allgemeine Bedeutung. Der Verrat an der Substanz ist geradezu das Wesen des Menschen, sodass der Mensch gerade dort, wo er in Treue gegen eine verräterische Welt auftritt – wie schon der biblische Petrus –, untreu wird. Verrat, Heuchelei, Betrug und Selbstbetrug gehören nach Hegel wesentlich zur Genese des Geistes und sind Momente, die es stets auch an sich selbst zu sehen gilt. Sie anzuerkennen wäre allerdings erst eine einseitige Versöhnung; die volle und wechselseitige Versöhnung besteht darin, dass Gott selbst zeitlos auf seine Gottheit Verzicht getan hat; nur so bleibt nicht neben der gereiften Subjektivität die Abstraktion eines absoluten Gottes. Andererseits: Wie können wir Gott getötet haben, wenn Gott der zeitlos Tote ist und dies am biblischen wie spekulativen Karfreitag nur vollends manifest wurde? Oder ist gerade dies Letztere schon der Mord und dessen Verschleierung, derart, dass auch die Schuld keine nur metaphysische und »immer schon« geschehene ist? – Hier zeigt sich besonders eindringlich, was es bedeuten kann, wenn die Bestimmung des Todes Gottes »aber auch nicht als mehr denn als Moment der höchsten Idee« bezeichnet werden, d. h. auch nicht verabsolutiert werden darf: Eine solche Verabsolutierung wäre ein: »Es gibt überhaupt keinen Gott (mehr)« und gab ihn auch nie, und sei es, dass es Gott von Gott selbst her nie gab. Denn wenn wir einen Toten getötet haben, haben wir am Ende gar nicht getötet. Dies kann – schon im Hinblick auf Jesus von Nazareth – eine Rechtfertigung auch der Mörder sein, zumindest derart, mit Jesus nicht zugleich Gott getötet zu haben, sondern »nur« einen Menschen. Doch gerade darin, dass Gott Mensch geworden ist, konkrete menschliche Gestalt angenommen hat und nicht nur (wenngleich aus Freiheit) die Freiheit überhaupt zurücklässt, liegt die Würde des Menschen – und zwar die Würde jedes Menschen, sodass nie nur irgendein (numerischer) Mensch getötet wird. Die nur abstrakte, unmittelbare Freiheit des Menschen, die den Menschen nicht als Dasein Gottes weiß oder die (was im Grunde gleichbedeutend ist) den Menschen unmittelbar als Gott nimmt, ohne die (zeitlose wie geschichtliche) Bewegung Gottes zum Menschen hin am Menschen und an diesem Menschen zu setzen, vermag hingegen in die nur numerische Individualität umzuschlagen, d. h. in die völlige Bedeutungslosigkeit des Menschen. Dieser Freiheit zu entsprechen, wäre das kaltblütige und bedeutungs-lose Morden. Und so tötete sowohl der terreur der französischen Aufklärung, wobei Hegel zur Praxis der Guillotine bemerkt, dieser Tod sei »der kälteste, platteste Tod, ohne mehr Bedeutung als das Durchhauen eines Kohlhaupts oder ein Schluck Wassers«27, als auch der Stalinismus als auch der Nationalsozialismus – der Letztere vielleicht deswegen am rückhaltlosesten, weil er 26 Hegel: Phänomenologie, 514. 27 Ebd., 436.

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sich im Land des deutschen Idealismus vollzog und die blanke Unmittelbarkeit umso abstrakter ist, je höher die gedankliche Durchdringung war. Haben wir also nun getötet oder nicht? Wir haben Gott zeitlos (unserem Wesen nach) wie auch geschichtlich getötet, aber wir haben keinen Toten getötet, sondern einen, der sich als der Preisgegebene unbemerkt töten lässt, der aber durch eben diese Selbstpreisgabe an die Menschen die Schuld zu verzeihen gewillt ist und verziehen hat. Die Verzeihung widerfährt aber nur, wo wir die Schuld bekennen und dies Bekennen immer wieder erneuern, doch ohne dass daraus ein Automatismus wird, eine Art spirituelle Übung, deren Resultat schon feststeht und nur versichert wird.28 Definitiv bleibt nur das Wissen um den Heilswillen Gottes »von Anbeginn der Welt«.

VI.

Engführungen und Gefährdungen

Ich schließe mit geschichtsphilosophischen Überlegungen im Ausgang von Hegels geistig-kulturellem Umfeld: Hegel spricht von der »Begeistung, wodurch die Substanz Subjekt, ihre Abstraktion und Leblosigkeit gestorben, sie also wirklich und einfaches und allgemeines Selbstbewußtsein geworden ist.«29 – Dies einfache und allgemeine Selbstbewusstsein ist – durchaus ungetrennt – ein individuelles wie ein kollektiv-kulturelles, und die Begeistung, aus der Nacht der bloßen Gewissheit an den Tag der Freiheit getreten zu sein, kann auch Begeisterung sein. Wir befinden uns hiermit in einem Land, das sich auf den Weg zu Einigkeit und Recht und Freiheit gemacht hat. Damit sind konnotiert (und werden heute – entgegen einer den deutschen Idealismus zunächst verwerfenden Lesart nach 1945 – auch aus Hegels Philosophie gewonnen): die Grund- und Freiheitsrechte, die die französische Aufklärung nicht sicherstellen konnte, und der liberale Rechtsstaat. Aus dem idealistischen Deutschland gehen aber viel breiter gefächerte Strömungen hervor: der Liberalismus und Frühkapitalismus auch in Deutschland, das liberale Bürgertum, der Sozialismus, aber auch der Nationalismus, der die Einigkeit auf Kosten des Rechts und schließlich auch der Freiheit überbetonen sollte. »Freiheit ist unser und der Gottheit Höchstes« lautet ein bekanntes Zitat Schellings, und auch wir haben im Dialog mit Hegel ein Verständnis von Freiheit skizziert, das sich durch das Kreuz als Mitte hindurch aus göttlicher Freiheit, ja aus dem schöpferischen Nichtsein Gottes – oder jedenfalls dem Nicht-Gott-Sein Gottes – speist: ein Leben aus Freiheit und in Freiheit, abzielend auf Freiheit, die 28 Hierin dürfte, nebenbei bemerkt, der Kern der protestantischen Kritik am katholischen Messopfer liegen. 29 Hegel: Phänomenologie, 572.

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durch den toten Gott geradezu zur universalen Größe wird. Alle deutschen Idealisten wollten im Ausgang von Kant ein umfassendes System der Freiheit erstellen – der Freiheit Gottes, der Welt wie des Menschen. »Nur der Freiheit gehört unser Leben.« Das ist allerdings kein Schelling- oder Hegelzitat, sondern der Titel eines Liedes, das der führende »Liedermacher« des Nationalsozialismus, Hans Baumann, für die Hitlerjugend schrieb. – Gehen wir auf nachhegelsche Engführungen und Gefährdungen der Freiheit wie auch des Kreuzes ein, so ist zunächst der Liberalismus zu nennen, der die empfangene Freiheit unmittelbar in Besitz nimmt und verliert. Wir haben diesen Leichtsinn am komödiantischen Bewusstsein erörtert. Der Verlust der Freiheit gerade auf dem Boden einer auf höchstem Niveau ausgearbeiteten Freiheitstradition, die zudem ebendiesen absoluten Verlust, sprich: das Kreuz als entscheidende Konstitutionsbedingung von Freiheit kennt, kann jedoch zu einer subtileren Engführung führen: Von der Freiheit wird gewusst, dass es sie nur durch das Kreuz hindurch gibt, nur werden nun Kreuz und Leiden heroisiert.30 Dies gibt einen Heroismus des Ertragens des Kreuzes, der sich dies Ertragen unterschwellig als Leistung anrechnet und anderen forsch abspricht. Trutz und Treue stehen dann gegen eine feindselige Welt. So heißt es in einem Lied aus dem Jahr 1859: »O Deutschland hoch in Ehren, du heiliges Land der Treu. Stets leuchte deines Ruhmes Glanz in Ost und West aufs Neu. Du stehst wie deine Berge fest gen Feindes Macht und Trug. Und wie des Adlers Flug vom Nest geht deines Geistes Flug«, dessen Refrain mit der Botschaft endigt: »Haltet aus im Sturmgebraus!« Was hier philosophisch in Rede steht, sind der Nihilismus und dessen Ausbruchs- wie Verschleierungsversuche. Auch bei Hegel stießen wir auf das Problem, dass zwar die heiterste Freiheit der Gestalt winkt, aber zugleich unausgemacht scheint, ob die Freiheit Freiheit aus Liebe ist und offen auf Begegnung, wie sie nicht nur die romantische Verklärung der Liebenden durch den jungen Hegel ist, oder ob mit dem preisgegebenen Gott in der Tat nur der Freiheit unser Leben gehört. Aber so viel ist klar : Es ist die Freiheit selbst, die Erfahrung mit sich macht und in ihrer eigenen Transzendenz das Fortweben ihres Erfahrungsschatzes gar nicht verhindern kann. Auch ist mit dem Gedanken der Anerkennung das entscheidende Element gesehen, die Freiheit nicht nur überhaupt zu erlangen, sondern auch zu bewahren. – So weit zu Hegel. Die Formel vom Tod Gottes wird zumeist mit Nietzsche assoziiert, doch sei es Nietzsche-Kennern überlassen, ob Nietzsches Übermensch die »Götterdämmerung« heroisch erträgt, ob er ihr trotzt, oder ob er durch sie hindurch zur heiteren Gelassenheit findet. Jedenfalls ist der dem romantischen Geniebegriff 30 Dass diese Gefährdung geschichtsmächtig geworden ist, mag der Grund dafür sein, dass eine Theologie des Kreuzes heute nicht ohne Argwohn betrachtet wird.

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entlehnte Übermensch keine explizit gesellschaftswirksame Kraft, sondern vielmehr der große Einsame, sodass man doch sagen wird müssen, dass der Tod Gottes entgegen Hegel wieder in ein diffuses Grundgefühl zurücksinkt. Die Flucht vor dem Kreuz der Anerkennung kann die unter der Hand schon trotzige Selbstbehauptung sein, aber auch die negative Selbstbehauptung trotzenden Ertragens, ein Heroismus, der nur den Nihilismus der Freiheit kaschiert. Alleine, das Kreuz lässt sich nicht ertragen, es lässt sich nur verwandeln oder zumindest akzeptieren. Weder ist ein Sadomasochismus, sich nur im Schmerz zu spüren (im Schmerz gegen andere wie gegen sich), das, worauf Jesus hinauswollte, noch der skizzierte Heroismus des Trotzens und Aushaltens, der jenen Sadomasochismus kaschiert. Angemessen scheint vielmehr ein geistiges Leiden, das sich im denkenden Durchdringen und »Erleiden« des geschichtlichen Kreuzes von Golgatha durch den zeitlos »gelittenen« Gott grundsätzlich versöhnt weiß, aber dabei fernab intellektualisierender Weltflucht, die gleichsam den Nihilismus zur Kehrseite hat und ihren Mord wie Suizid durch einen vorgängigen »Suizid« Gottes rechtfertigt, das reale, schon vorhandene und nicht erst herausgeforderte bzw. geschaffene Leiden akzeptiert bzw. lindert. Das Kreuz lässt sich nicht ertragen, denn der Widerspruch drängt nach Auflösung, so, wie sich auch der Hunger nicht ertragen lässt. Gleich der Autodestruktivität der Anorexie mutiert das Ertragen des Widerspruchs zu dessen Abwurf, welcher das Ertragen selbst in rhetorischer Gestalt schon war, zum SichWegwerfen, zum Morden als einem vorweggenommenen Suizid und schließlich zum Suizid, auch wenn dieser sich selbst noch als Heldentod kaschieren lässt – als eine geradezu selbstverständliche »Weihehandlung«, in der das Individuum und noch dessen Tod ebenso bedeutungslos ist wie unter dem Fallbeil der Guillotine, nur dass es diesen Tod durch sich selbst vollbringt. So heißt es in einem anderen Lied der Hitlerjugend, ebenfalls aus der Feder Hans Baumanns: »Deutschland sieh uns! Wir weihen dir den Tod als kleinste Tat. Grüßt er einst unsre Reihen, werden wir die große Saat.« Den letzten verbleibenden Widerspruch, einzig für den Tod Anerkennung zu ersehnen (»Deutschland sieh uns«), sollte das elendige Verrecken auf den Schlachtfeldern von Stalingrad etc. tilgen.31 – Doch schon das geistlose Sich-Wegwerfen an ein übermächtiges Sein oder Leben oder an einen übermächtigen Gott, der solches Wegwerfen gebiete, auch die Selbstauslegung, nur ein Stück Staub in einem gigantischen Kosmos zu

31 Eine Kehrseite und Wahrheit solcher »Weihe« ist der (sozialdarwinistisch gerechtfertigte) brutale »Herrgott«, wo der Vatermord die Gestalt einer Identifikation mit dem Angreifer hat. Der »Herrgott« wird zur dienstbaren »Vorsehung«, die als grotesker Nachbau der Verheißung an Israel dem deutschen Volk auch schon einmal Prüfungen und Plagen auferlegt, ja es dem Untergang aussetzt, in welchem Gott, gleich ob als der Absolute oder als der Tote, zuletzt noch zum Tragischen wird. Vgl. auch Bucher : Hitlers Theologie, bes. 77 – 124.

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sein,32 ist eine Ohnmacht, die nur wieder in die ganz abstrakte Allmacht umschlägt. Dagegen war es Hegel noch um ein gereiftes Zur-Welt-Kommen gegangen, um eine Vermittlung des berüchtigt tiefen deutschen Geistes mit der Moderne und der europäischen Aufklärung auf der Basis eines philosophischen Begreifens der jüdisch-christlichen Tradition. Weder ist ein Sich-Wegwerfen des Denkens in einen Irrationalismus angezeigt noch eine bloße Selbstbestätigung des Denkens, dem auch die Passion seiner selbst, einmal geleistet, zu einer jederzeit wiederholbaren meditativen Übung verkommt. Selbst wenn der spekulative Geist des deutschen Idealismus der genuin deutsche Geist sein sollte, so ist dieser Geist unleugbar schon in alttestamentlichen Schriften leitend, und der Jude Paulus hat vorgedacht, was Luther wie Hegel (und Hegel via Luther) inspirierte. Das auch bei Hegel zuweilen hindurchschimmernde Stereotyp vom spekulativen Deutschen und dem bloß endlichen Verstand sowie der leeren Spitzfindigkeit des Juden scheint mir mindestens so verhängnisvoll wie der Vorwurf des Gottesmords, von dem die spekulative Philosophie ungeachtet der wahren Täterschaft sagen könnte, er sei geradezu die Bedingung tieferer Einsicht gewesen. Nur hüte man sich auch vor dem Kreieren neuer Sündenböcke und vor Trivialisierungen, die in der schiefen Alternative von bloßer Historisierung und Hysterisierung befangen bleiben. Gerade im Land Sigmund Freuds sollte man um die enden wollende Reichweite von Spaltung und Dämonisierung wissen.

Quellen Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke in 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832 – 1845 neu edierte Ausgabe, Redaktion Eva Mollenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt / M. (Suhrkamp) 1970 ff. – Daraus: Ders.: Bd. 1: Frühe Schriften, 31994. Ders.: Bd. 2: Jenaer Schriften 1801 – 1807, 21990. Ders.: Bd. 3: Phänomenologie des Geistes, 41993.

Sonstige Literatur Bucher, Rainer : Hitlers Theologie, Würzburg (Echter) 2008. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen (Niemeyer) 171993. Jüngel, Eberhard: Gott als Geheimnis der Welt, Tübingen (Mohr Siebeck) 72001. Ders.: Vom Tod des lebendigen Gottes. Ein Plakat, in: ZThK 65 (1968), 93 – 116. 32 Das als anonymer Prozess missverstandene Absolute wäre hierin nur naturalisiert.

II. Ethik und Befreiung

Arno Böhler

Das Gedächtnis der Zukunft. Von der Arché zum Archiv

I.

Die aristotelische Physik als Wissenschaft vom Bewegungscharakter der Arché

Gleich zu Beginn des ersten Buches seiner Vorlesungen über die Physik stellt Aristoteles fest, dass natürlich auch die Wissenschaft von der Natur1 den Versuch machen müsse, die anfänglichen Grundsätze und Ursachen,2 die in der Natur selbst am Werk sind, systematisch zur Sprache zu bringen. Denn als Wissenschaft sei auch sie, die Physik, qua Methode, ein Wissen von der Arch¦. Da die Gegenstände der Natur aber alle, oder doch einige, dem Wechsel unterliegen würden,3 kann Aristoteles die Physik am Anfang seines dritten Buches auch einfach als Wissenschaft von der Bewegung charakterisieren.Da Naturbeschaffenheit nämlich Anfangsgrund von Veränderung und Wandel sei,4 diese Abhandlung aber von der Natur (physis) handle, dürfe einer solchen Wissenschaft auch nicht verborgen bleiben, was Veränderung denn überhaupt sei.5 Die Frage nach der Arch¦ von Bewegung und Veränderung stellt sich für Aristoteles aber nicht nur in Hinblick auf die Bewegung eines bestimmten konkreten Seienden – etwa in Hinblick auf die Rotationsbewegung der Gestirne oder das Wachsen der Lebewesen –, sondern auch in Bezug auf die philosophische Frage nach der Arch¦ selbst als dem Ursprungsprinzip des Seienden im Ganzen. In diesem »archeo-logischen« Sinne hätten etwa die vorsokratischen Denker schon vor ihm zu Recht gefragt, ob der Anfangsgrund des Seienden im Ganzen einer sei oder ob es mehrere Anfangsgründe gebe und ob die Arch¦ an ihr selbst Veränderung ausschließe, wie etwa Parmenides und Melissos be1 2 3 4 5

Aristoteles: Physik, I 184a 14 – 15: per‡ physeos empist¦mes. Ebd., I 184a 13 – 14: t—s archas t—s prûtas […] t— a‡tia […] t— prota. Vgl. ebd. I 185a 12 – 13. Ebd., III 200b 12: archÀ kinÀseos ka‡ metaboles. Ebd., III 200b 11 – 14: Epe‡ d’ he physis mÀn estin archÀ kin¦seos kai metabolÞs, he dÀ m¦thodos hem„n per‡ physeûs estin, de„ mÀ lanth‚nein t‡ esti k†nesis.

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Arno Böhler

hauptet hätten, oder ob sie selbst Modifikationen unterliege, wie die Naturphilosophen, die physiko†, gelehrt hätten.6 Doch diese Ansicht, dass es zwei mögliche Antworten auf die Frage nach der Wandelbarkeit bzw. Nichtwandelbarkeit der Arch¦ gebe, erweist sich für Aristoteles als falsch, weil die Ansicht der Ontologen, der Grund des Seienden im Ganzen sei einer und unwandelbar, für ihn sowohl die Wissenschaft von der Physik als auch die einer »Archeo-Logie« des Ursprungs gänzlich unsinnig machen würde. Wird die Möglichkeit von Bewegung nämlich ontologisch geleugnet, dann macht weder die Physik als Wissenschaft von der Bewegung noch die der Entstehung des Alls aus einem einheitlichen Grund heraus Sinn. »Es gibt nämlich gar keinen Anfang mehr,7 wenn nur eins und in diesem Sinne eines da ist. Denn ›Anfang‹ ist immer Anfang ›von etwas‹,8 einem oder mehrerem.«9 Da eine Ontologie im Sinne von Parmenides oder Melissos den Gedanken der Bewegung für unmöglich erklärt, hört eine solche Lehre für Aristoteles auch auf, überhaupt noch eine Wissenschaft von der Arch¦, von den Ur-Sprüngen, Prinzipien und Grundsätzen der Dinge zu sein. Denn wie sollte etwas anfangen, entstehen und vergehen können, wenn alles eins und dieses Eine unwandelbar wäre? Die einzige Ansicht, die dem Gedanken einer Wissenschaft von der Arch¦ daher gerecht wird, sei folglich die der Naturphilosophen, die, so wie Aristoteles selbst, die Grundannahme vertreten, dass die natürlichen Gegenstände entweder alle oder doch zumindest zum Teil dem Wechsel und Wandel ihres Daseins unterliegen.10 Da auch das Entspringen von etwas eine Form von Bewegung darstellt, gehört die Ontologie, insofern sie den Bewegungscharakter der Arch¦ selbst thematisiert, für Aristoteles in die (philosophische) Physik.

II.

Prinzipien fungieren operativ als Prinzipien der Hervorbringung von etwas

Der einfach anmutende Satz, dass jeder Ursprung immer schon Ursprung von etwas sei, ist für Wolfgang Wieland nicht nur irgendein, sondern vielleicht der entscheidendste Satz der gesamten aristotelischen Philosophie. Artikuliert er doch Aristoteles’ Verständnis davon, wie ein Prinzip in der Tat prinzipiell zu fungieren habe, damit es auf legitime Art und Weise als ein Prinzip angespro6 7 8 9 10

Vgl. ebd., I 184b 15 – 17. u g—r ¦sti archÀ ¦stin, ebd., I 185a 3 – 4. he g—r archÀ tinýs hÀ tinún, ebd., I 185a 4 – 5. Ebd., I 185a 3 – 5. Ebd., I 185a 12 – 14: »Für uns dagegen soll die Grundannahme sein: Die natürlichen Gegenstände unterliegen entweder alle oder zum Teil dem Wechsel. Das ist klar, wenn man von der Einzelerscheinung ausgeht.«

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chen werden darf. »Ein guter Teil seiner Auseinandersetzungen mit den Vorgängern basiert auf diesem Gedanken, daß jedes Prinzip immer als Prinzip von etwas verstanden werden muß und als Prinzip nichts selbständiges sein kann.«11 Wenn aber der Ursprung in seinem Fungieren immer schon als Ursprung von etwas begriffen werden muss – der Ursprung »sich« also ursprünglich immer nur im Akt des Entspringen-Lassens von etwas in seinem eigenen Dasein selbst bezeugt –, dann kann die Arch¦ in ihrem Bewegungscharakter in der Tat nur im poietischen Hervorbringen von Erscheinungen selbst in Erscheinung treten. Mit diesem operativen Prinzipienverständnis wendet sich Aristoteles vor allem gegen zwei gängige philosophische Lesarten, die das Fungieren von Prinzipien seiner Ansicht nach grundlegend missverstehen. Erstens gegen die Auffassung der Arch¦ im Sinne einer parmenideischen Ontologie, die dem Sein selbst jegliches Werden abspricht. Zweitens, vielleicht wesentlicher noch, gegen eine rein formalistische Auffassung von Prinzipien, die grundsätzlich dazu neigt, ein Prinzip unabhängig von dem, was es konstituiert, zu betrachten. So, als würden Prinzipien an sich ideell bestehen, also losgelöst von dem, was sie in der Tat leisten, während sie getätigt werden. »Was Aristoteles [seinen Vorgängern, A. B.] vorwirft, ist nämlich nicht etwa, daß die von ihnen aufgestellten Prinzipien nicht unmittelbar einsichtig seien, sondern nur, daß diese Denker aus ihren Prinzipien nicht das ableiten können, was sie ableiten wollen. Sie machen keinen Gebrauch – oder nicht den richtigen Gebrauch – von ihrem Prinzip.«12 So haben die Naturphilosophen vor ihm zwar zu Recht die Frage nach dem Bewegungscharakter der Arch¦ selbst gestellt. Aber sie haben für Aristoteles noch nicht explizit verstanden, dass es bei Prinzipien vor allem auf das ankommt, »was man mit ihnen macht (chrÞsthai)«.13 Und das heißt eben, wie sie de facto gebraucht, in der Tat also (richtig) getätigt, in actu zitiert14, operativ vollzogen, tatsächlich also verwendet werden. Denn wenn ein Prinzip immer Prinzip von etwas ist, dann »läßt sich ein Prinzipsein nur daraus erkennen, dass es die von ihm verlangte Begründung des Prinzipiierten [in der Tat, A. B.] faktisch leistet.«15 Eine Wissenschaft vom Bewegungscharakter der Arch¦ muss für Aristoteles daher notwendigerweise eine Wissenschaft von den operativen Prinzipien sein, die im Zuge des konkreten Hervorbringens von etwas tatsächlich im Spiel sind. 11 Wieland: Aristotelische Physik, 56 [Herv. i. T.]. Er bezieht sich dabei besonders auf die in Anm. 8 zitierte Stelle. 12 Ebd., 65 [Herv. i. T.]. 13 Ebd. 14 Zum Zitatcharakter von Zeichen vgl. vor allem Derrida: Limited Inc., 32 – 45, Butler: Hass spricht, 26 – 35, Mersch: Was sich zeigt, 106 – 111, Deleuze: Differenz und Wiederholung, 99 – 130, Wirth: Performanz, 17 – 25. 15 Wieland: Aristotelische Physik, 63 [Herv. i. T.].

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Es handelt sich bei ihnen um im Gebrauch befindliche Kräfte, die energetisch am Werk sind, während sie im Zuge der Entstehung von etwas vom tätigenden »Subiectum« tatsächlich auf komplexe Art und Weise performativ vollzogen werden. Weil es sich bei der aristotelischen Physik letztlich also um eine philosophische Ontologie von dem handelt, wie sich der Ursprung im Entspringen-Lassen von Seiendem in der Tat selbst operativ zeitigt und damit zeigt, während er inmitten der Natur tätig in Erscheinung tritt,16 gehört eine Wissenschaft von den ursprünglichen Bewegungsprinzipien der Arch¦ für ihn eben in die Naturphilosophie17 und nicht in die Metaphysik, wie von der Aristotelesforschung lange behauptet.18

III.

Die Arché als operatives Prinzip einer selbstlosen Vertrautheit mit den Prinzipien der Natur

Bei der Bestimmung der Prinzipien und Grundsätze der »Natur« (physis) kann es sich für Aristoteles daher nicht bloß um die Analyse der formalen Bedingungen der Möglichkeit des Hervorbringens von etwas handeln. Vielmehr geht es der aristotelischen Physik um die Bestimmung jener Prinzipien, die im Walten der Natur von der Natur selbst in actu getätigt werden, während sie etwas in der Tat hervorbringt. Kraft ihres Waltens bezeugt die Natur, dass sie mit ihren elementaren Prinzipien operativ vertraut ist. Ein Blitz blitzt, die Sonne scheint, die Gestirne wandeln auf ihren kosmischen Bahnen nach physikalischen Prinzipien, die sie in der Tat realisieren, ohne sie wissentlich zu kennen. Die Familiarität dieser Erscheinungen mit den Prinzipien der Natur wird von ihnen weit ursprünglicher kinetisch-operativ realisiert. Sie findet »naiv« und »selbst-los« im unreflektierten Zitieren der physikalischen Gesetze statt.19 Bevor die Prinzipien der Physik daher als Grundsätze des Wissens fungieren,20 die von Physikern konstatiert21 und damit in ein System des Wissens von der Natur verwandelt werden, werden sie von der Natur in der Natur selbst auf selbstlose Art und Weise kontinuierlich operativ getätigt. 16 Vgl. dazu Böhme: Atmosphären, 191 – 202, Mersch: Negative Präsenz. 17 Zur Bedeutung der Aristotelischen Physik für die abendländische Geschichte der Philosophie vgl. Heidegger : Wegmarken, 240. 18 Vgl. Wieland: Aristotelische Physik, 11 – 141. 19 Vgl. dazu Wieland: Aristotelische Physik, v. a. § 5, 59 – 69, und § 17, 278 – 316. 20 »Hegel’s point against Kant was precisely that we cannot identify such structures first and then apply them to their examples, for in the instance of their ›application‹ they become something other than what they were.« Butler : Restaging, 26. 21 Zur sprachphilosophischen Unterscheidung von konstatierenden und performativen Akten vgl. vor allem Austin: Theorie der Sprechakte, 153 – 165, Searle: Sprechakte, 116 – 121, sowie Derrida: Limited Inc., 15 – 45.

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In Bezug auf die Bestimmung der ersten Prinzipien der Natur ergibt sich für Aristoteles somit der Weg »von dem uns Bekannteren und Klareren« – den einzelnen Naturerscheinungen – »zu dem in Wirklichkeit Klareren und Bekannteren« – den Prinzipien der Natur, die im Erscheinen der Dinge getätigt werden. »Denn was uns bekannter ist und was an sich, ist nicht dasselbe.«22 Gerade weil sich elementare Naturerscheinungen – etwa die vier einfachen Körper Wasser, Erde, Feuer, Luft – nicht darüber im Klaren sind, was sie tun, wenn sie den Prinzipien der Natur in der Tat folgen, werden diese physikalischen Prinzipien von ihnen im Vollzug ihres eigenen Erscheinens automatisch, d. h. eben auf unfehlbare Art und Weise spontan repliziert. Ein Blitz, der sich beim Blitzen nicht an die physikalischen Gesetze halten würde, die bei der Entladung des Blitzes de facto im Spiel sind, würde in der Tat nicht blitzen. Sein Erscheinen würde gänzlich ausbleiben, da das Phänomen des Blitzens zur Gänze an den Vollzug der physikalischen Gesetze gebunden ist, die bei der Entladung eines Blitzes energetisch am Werk sind. Sobald die Bedingungen der Möglichkeit des Blitzens realisiert sind, findet die Entladung des Blitzes auch wirklich statt.

IV.

Die Wendung vom »für uns« zum ursprünglicheren Fungieren der Natur an sich

Ganz anders verhält es sich beim Verhältnis des Menschen zur Natur und ihren Prinzipien. Während Naturerscheinungen wie Blitz, Sonne oder Himmelskörper die Prinzipien der Natur im Zuge ihres eigenen Erscheinens unmittelbar realisieren, nehmen Menschen zunächst die einzelnen Naturerscheinungen wahr und gerade nicht die Prinzipien, die elementaren Bausteine und Grundsätze der Natur insgesamt. Diese werden vom Menschen vielmehr erst im Nachhinein induktiv23 erschlossen, indem er beginnt, über die einzelnen Naturerscheinungen hinaus auf deren Gesetzmäßigkeiten zu achten, die von ihnen selbst regelmäßig phänomenal realisiert werden, sobald sie zeiträumlich in Erscheinung treten. »Deshalb«, fährt Aristoteles fort, »muss also auf diese Weise vorgegangen 22 Aristoteles: Physik, I 184a 16 – 21. 23 Heidegger : Wegmarken, 242: »Man pflegt das Wort epagog¦ mit ›Induktion‹ zu übersetzen; und die Übersetzung ist dem Wortlaut nach fast angemessen, der Sache nach aber, d. h. als Auslegung, ganz irrig. Epagog¦ meint nicht das Durchlaufen einzelner Tatsachen und Tatsachenreihen, aus deren ähnlichen Eigenschaften dann auf ein Gemeinsames und ›Allgemeines‹ geschlossen wird. Epagog¦ bedeutet die Hinführung auf Jenes, was in den Blick kommt, indem wir zuvor über das einzelne Seiende weg blicken, und wohin? Auf das Sein. Nur wenn wir z. B. das Baumhafte schon im Blick haben, vermögen wir einzelne Bäume festzustellen. Das Sehen und Sichtbarmachen dessen, was dergestalt wie das Baumhafte schon im Blick steht, ist epagog¦.«

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werden: Von dem der Natur nach Undeutlicheren uns aber Klareren hin zu dem, was der Natur nach klarer und bekannter ist. Uns ist aber zu allererst klar und durchsichtig das mehr Vermengte. Später erst werden aus diesem bekannt die Grundbausteine und die Grund-Sätze, wenn man es auseinandernimmt.«24 Für uns Menschen ist die Natur (insgesamt) zunächst in partikulären aisthetischen Bezügen zu einzelnen Naturerscheinungen gegeben. Wir nehmen zunächst gerade nicht die fundamentalen Prinzipien und elementaren Grundsätze der Natur selbst insgesamt wahr, sondern lokale sinnliche Erscheinungen in ihrer singulären Gestaltganzheit. Nach der Ordnung der Sinneswahrnehmung ist nämlich »immer das [einzelne, sinnliche, A. B.] Ganze bekannter, Ganzheit bedeutet aber doch so ein Ganzes; denn die allgemeine Ganzheit umfasst viele Einzelmomente als ihre Teile«.25 Da die Sinnesgegenstände, die wir aisthetisch lokalisieren, selbst schon aus elementaren Grundstoffen zusammengesetzt sind, müssen wir Menschen, um ihre Prinzipien zu erkennen, unsere aisthetische Aufmerksamkeit von den einzelnen Sinnesobjekten erst abziehen und auf die elementaren Grundbausteine und physikalischen Prinzipien umlenken, die in der Natur selbst am Werk sind. An sich betrachtet sind es hingegen diese Prinzipien, die das Blitzen des Blitzes, das Scheinen der Sonne, die Bewegung der Himmelskörper operativ bestimmen, während diese Erscheinungen in der Tat in Erscheinung treten und damit inmitten des Seienden im Ganzen weltweit offenkundig werden. Nur weil die Prinzipien der Natur den Dingen selbst also ontologisch zukommen, insofern sie von ihnen im Zuge ihres Erscheinens in der Tat selbst phänomenal repliziert, automatisch getätigt, spontan vollzogen, in actu also verwendet und gebraucht werden, nur darum können sie von uns nachträglich induktiv erkannt werden. »So heißt es in Met. C 3, daß man die Axiome nur soweit gebraucht, als das Gegenstandsgebiet reicht, über das man Beweise anstellen will […]; man gebraucht sie aber, weil sie dem Seienden als solchem zukommen […].«26 Was für den Gebrauch aisthetischer Prinzipien gilt, gilt für Aristoteles auch in 24 Aristoteles: Physik, I 184a 16 – 21. Selbst über die Physik hinaus haftet Prinzipien etwas Operativ-Singuläres an. Die operativen Prinzipien, die etwa im Hervorbringen von Gedanken, Gefühlen, Handlungen implizit am Werk sind, sind nicht nur allgemeine Prinzipien, insofern dem Noema, das sie im Zuge ihrer Performance hervorbringen, auch immer etwas Singuläres anhaftet: Es ist dieser Gedanke, dieses Gefühl, diese Vorstellung, die hier und jetzt hervorgebracht wird und sich damit in actu tatsächlich zeigt. 25 Ebd., I. 184a 23 – 26. 26 Wieland: Aristotelische Physik, 65 [Herv. i. T.]. Zwar deutet Wolfgang Wieland die aristotelische Physik von einem sprachphilosophischen Topos her, aber von dort aus ist es nur ein kleiner Schritt, den operativen Gebrauch der physikalischen Gesetze als ein Moment des ontologischen Waltens der Physis selbst zu deuten. Das Walten der Physis ist selbst der Akt der impliziten Anwendung der physikalischen Gesetze in der Natur. Da die Natur im Zuge ihres Waltens ihre Gesetze selbsttätig anwendet, kommen sie dem von ihrem Walten hervorgebrachten »Seienden« eben per se zu.

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Bezug auf logische Prinzipien. So ist etwa der Satz des Widerspruchs in einem ausgezeichneten Sinne ein Prinzip des Denkens, weil er immer schon getätigt wurde, wann und wo immer ein Gedanke gedacht, im Vollzug des Denkens also tatsächlich hervorgebracht wird. Da sein Gebrauch grundsätzlich vorausgesetzt werden muss, wann und wo immer ein logischer Beweis gefordert wird, kann der Satz des Widerspruchs für Aristoteles sogar als paradigmatisches Musterbeispiel schlechthin fungieren, an dem sich besonders gut erkennen lässt, was es heißt, Prinzip von etwas zu sein.27 Dass die Physis von den Naturphilosophen (physiko†) einst als Arch¦ des Seienden im Ganzen angesprochen werden konnte, verdankt sie demnach vor allem ihrer Fähigkeit, selbst über die Kraft, Macht und Gewalt (»Physis«) zu verfügen, ihre Prinzipien und Grundsätze aktuell tätigen zu können. Und zwar so, dass dadurch in der Tat physikalische Ereignisse inmitten der Natur hervorgebracht werden, in denen die Natur in actu ihre Kraft unter Beweis stellt, im Hervorbringen lokaler Ereignisse selbst schöpferisch tätig zu sein. In diesem Sinne kann mit Nancy gesagt werden, dass die ganze Naturphilosophie neu durchdacht werden muss, wenn die Natur selbst erst einmal als universelle Stätte des Stattfindens lokaler Ereignisse gedacht wird. »Man muss es zugeben: Die gesamte ›Naturphilosophie‹ muss überarbeitet werden, wenn die ›Natur‹ als die Exposition der Körper gedacht werden soll.«28 Denn der »ontologische Körper ist noch nicht gedacht worden. Die Ontologie ist noch nicht gedacht worden, insofern sie fundamental Ontologie des Körpers = der Existenz-Stätte, oder der Stätte der lokalen Existenz ist.«29

V.

Die Verschränkung von Archiv und Arché im anfänglichen Denken der Griechen

Wenn wir uns das griechische Verständnis der Arch¦ in ihrem operativen Walten in Erinnerung rufen wollen, dann genügt es nicht, sie bloß als Tätigkeit des Entspringen-Lassens von etwas zu denken, in dem das Zum-Vorschein-Kommen des Entsprungenen (ekphanes)30 selbst phänomenal Ereignis wird. Stand das antike Verständnis der Arch¦ doch seit jeher in einem innigen Naheverhältnis zu dem, was die Sprache der Antike arche„on nannte: das Archiv als ein 27 Wieland: Aristotelische Physik, 65: »Wie dieser Zusammenhang ergibt, ist vor allem der Satz des Widerspruchs gemeint. Dieser ist das Musterbeispiel für einen Satz, der ohne Beweis wahr ist (vgl. 1006 a 26 ff., 1011a 13), weil man ihn implizit immer schon zugegeben hat und gebraucht, auch wenn man das explizit noch nicht weiß.« 28 Nancy : Corpus, 35. 29 Ebd., 19 [Herv. i. T.]. 30 Zu einem ekphantischen Präsenzverständnis vgl. Mersch: Negative Präsenz, 112 – 115.

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Ort, an dem das, was stattfindet, dokumentiert, gesammelt, ad acta gelegt, also aufbewahrt wird. »Der Begriff Archiv«, so Jacques Derrida, »birgt (abrite) selbstverständlich dieses Gedächtnis des Namens arch¦ in sich. […] Einerseits verweist die Vokabel durchaus, und diese Annahme ist berechtigt, auf die arch¦ im physischen, geschichtlichen, oder ontologischen Sinne, das heißt auf das Ursprüngliche, das Erste, das AnfänglichGründende, das Anfänglich-Einfache, kurz auf den Anfang. Doch mehr noch und eher verweist ›Archiv‹ auf die arch¦ im nomologischen Sinne, auf die arch¦ des Gebotes. Wie das lateinische archivum oder archium […] kommt der Sinn von ›archive‹, sein einziger Sinn, vom griechischen arche?on […]«.31

Das Wort arche?on bezeichnete im antiken Sprachgebrauch aber zuallererst die Residenz der Archonten (‚rchon, ‚rchontos); d. h. »ein Haus, ein[en] Wohnsitz, eine Adresse, die Wohnung der höheren Magistratsangehörigen«32, in der die Korrespondenz der Regierungsbeamten aufbewahrt wurde. Denn ihrer öffentlich anerkannten Autorität wegen »deponierte man zu jener Zeit bei ihnen zuhause, an eben jenem Ort, der ihr Haus ist (ein privates Haus, Haus der Familie oder Diensthaus), die offiziellen Dokumente«.33 Zwar lässt sich das antike Denken der Philosophie zu Recht als ein Denken der Arch¦, der Ursprünge, der herrschenden Prinzipien und Ursachen charakterisieren, die im Walten der Physis selbst energetisch am Werk sind. Der alltägliche Sprachgebrauch der Griechen, die enge sprachliche Verwandtschaft von Arch¦ mit arche?on, ‚rchon und ‚rchontos, deren sachliche Nähe es erst zu denken gilt, spricht aber eine deutliche Sprache. Schon im antiken Griechenland waltete ein inniges Naheverhältnis zwischen der Arch¦, als dem herrschaftlichen Bestimmungsgrund einer in Entstehung begriffenen Sache, und dem Archiv (arche?on) im Sinne der lokalen Bleibe, in der das, was geschieht, permanent festgehalten, registriert, ad acta gelegt, dokumentiert und damit für kommende Zeiten auf bleibende Art und Weise hinterlegt, aufbewahrt und wieder einsehbar gemacht wird. So hatten die Archonten Athens einen Gutteil ihrer Autorität dem architektonischen Umstand zu verdanken, bei sich zuhause privat-familiär Zugang zu den Archiven Athens besessen zu haben. Diese räumliche Nähe erlaubte es ihnen erst, jene Familiarität mit dem Schriftgut Athens auszubilden, die ihnen schließlich das Privileg einbrachte, das Gesetz stellvertretend für all die anderen, denen der Zugang zum arche?on verwehrt blieb, auslegen, vertreten, darstellen und geltend machen zu dürfen. »In der Überkreuzung des Topologischen und des Nomologischen, von Ort und Gesetz, Träger und Autorität,« wird für Derrida 31 Derrida: Archiv, 10 – 11 [Herv. i. T.]. 32 Ebd., 11. 33 Ebd.

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damit »ein Schauplatz verbindlicher Ansiedelungen sichtbar und unsichtbar zugleich«.34 Folgen wir dem Gebot Derridas und denken wir die Arch¦ in Zukunft von ihrer topo-nomologischen Doppeldeutigkeit her verstärkt als den Ort der partikulären Aufbewahrung, lokalen Speicherung und materiellen Festschreibung dessen, was in einer Polis allgemein als geboten gilt, dann verliert der Corpus der Festschreibung von Gesetzen auch bei ihm, wie schon zuvor bei Aristoteles, seine rein formale Bedeutung. Geht es bei der Frage nach der herrschenden Gesetzeslage im topo-nomologischen Sinne von nun an doch nicht mehr nur um die inhaltliche Bestimmung dessen, was in einer Polis als positives Recht gilt, sondern auch um die materielle Architektur ihrer Satzungen: um die Frage also, an welchem Ort die Korrespondenz der Regierenden hinterlegt und unter Verschluss gehalten und unter welchen gesetzlichen Bedingungen sie öffentlich zugänglich gemacht wird. Um als Gesetz fungieren zu können, so könnten wir mit Derrida sagen, braucht das Gesetz offenkundig einen Träger, der ihm als Bleibe dient. Es verlangt strukturell nach einem Ort, an dem es dokumentiert und gespeichert wird, um seine Gesetzeskraft in der Tat ausüben zu können. Ob es um die Notwendigkeit geht, die mosaischen Gebote niederzuschreiben, ob es um die Dokumentation der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen geht oder um die Festschreibung einer lokalen Gesetzgebung in bürgerlichen Gesetzbüchern: Die Gesetzeskraft, die von einem Gesetz ausgeht, geht unter anderem auch von der Art und Weise seiner materiellen Speicherung, Hinterlegung, Dokumentation und physischen Aufbewahrung aus; und damit selbstverständlich auch von der Art und Weise der Regulierung der materiellen Zugangsbedingungen zu den Archiven, die regeln, für wen und unter welchen Umständen die Archive geöffnet bzw. unter Verschluss gehalten werden. So hat es selbstverständlich zur aktuellen Ausübung der Herrschaft der Archonten gehört, im Zuge ihrer Regierungstätigkeit die Archive Athens nicht nur bei sich zuhause privat-familiär unter Verschluss zu halten, sondern auch aufzusuchen, zu öffnen und zu studieren, um aus ihnen wesentliche Weisungen für ihre aktuelle Rechtsprechung zu lukrieren, deren Aktualität daher immer schon eine historisch vermittelte war.

VI.

Das Gebot der Stunde

Wenn Derrida in seiner Bestimmung der Arch¦ deren topo-nomologischen Charakter forciert, dann möchte er mit diesem Akt nicht nur erinnern, sondern in der Tat auch schriftlich demonstrieren, dass sich das Anwesen eines Men34 Ebd., 12.

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schen nicht nur im Vollzug natürlich vorgegebener Prinzipien, Ursachen und Gesetze vollzieht, die in einem Menschenleben im Zuge seines Erscheinens quasi ganz von selbst, d. h. eben automatisch vollzogen werden. Die »Substanz«, die in einem Menschenleben erfüllt wird, bestimmt sich, über die naturphilosophische Bestimmung des Menschen hinaus, auf entscheidende Art und Weise von dem her, wie ein Mensch persönlich vor dem Gesetz leibhaftig zu stehen kommt, indem er das ihm zu Gebote Stehende im Zuge seines Erscheinens jeweils neu, und das heißt auch, jeweils wieder anders re-signiert, also im eigenen Namen autobiografisch verantwortet. Zwar werden die archivierten Gesetzestexte der Ahnen das sittliche Verhalten eines neu ankommenden Menschenwesens in der Regel maßgeblich diktieren, gebietet das »Gesetz der Väter« dem Individuum doch, das eigene Handeln nach den herrschenden Sitten auszurichten. Aber indem das in Entstehung begriffene Individuum dem Sittengesetz unterworfen und im Vorhinein zu seiner Befolgung aufgerufen wird, wird es selbst gerade so vor dasselbe gebracht, dass es von diesem aufgefordert wird, das von ihm Gebotene in der Tat auch wirklich zu tun. Das Sittengesetz fordert das entstehende Individuum also auf, selbst zum Träger und Agenten der herrschenden Sittlichkeit zu werden. Aber die Entscheidung darüber, ob das sittlich heranwachsende Individuum die Gesetze seiner Ahnen in der Tat autobiografisch befolgt haben wird, ist nicht mehr Teil der gebietenden Gesetzeskraft. Offenkundig braucht die Sittlichkeit der Sitte die tatkräftige Unterstützung der Neuankömmlinge, um ihre Kraft wirklich entfalten zu können. Da das Sittengesetz der Ahnen seine Befolgung den Nachkommen also »nur« gebieten kann, muss es in der Tat von jedem Neuankömmling jedes Mal wieder von Neuem bejaht, sittlich befolgt und damit regenerativ erneuert werden, um tatsächlich in Kraft zu treten. Seine Gesetzeskraft verdankt sich demnach dem resignativen Bündnis eines amor fati, in dem das Gesetz des »Vaters« von seinen Nachkommen angenommen, der hochzeitliche Ring des Kommenden mit dem Gewesenen neuerlich bejaht und das Gesetz der Ahnen damit weitertradiert wird.35 Soll das Vokabel »Archiv« in Zukunft also beide Ursprungserfahrungen in sich bergen, sowohl die naturphilosophische Erfahrung von Arch¦ als auch, und 35 Vor allem Deleuze hat im Anschluss an Pierre Kosslowski darauf hingewiesen, dass Nietzsches »Ewige Wiederkehr des Gleichen« ein selektives Prinzip der Gerechtigkeit darstellt, insofern nur das gerechterweise wiederkehrt, was wir in der Tat von ganzem Herzen bejahen, zu dem wir also entschieden Ja sagen, um uns in einem hochzeitlichen Ring an das herzlich Bejahte re-signativ zu binden, und zwar ein für alle Mal. Das unbedingte Ja lässt die wechselseitig affirmierte Verbindung mit dem Bejahten ewig wiederkehren, wodurch das Gewesene auf regenerative Art und Weise wiederkehrt. Die doppelte Bejahung wird so zum wechselseitigen, responsiblen Prinzip der Konstitution der auf diese Weise aneinander gebundenen Seienden. Nur das von uns selbst angenommene Recht kehrt legitimerweise wieder. Vgl. Deleuze: Differenz und Wiederholung, 369 – 373, Deleuze: Nietzsche und die Philosophie, 78 – 80, Böhler : Gemüt, 170 – 175.

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vielleicht sogar wesentlicher, die archontische Erfahrung der Arch¦ im nomologischen Sinne der Archivierung dessen, was zu Gebote stehen soll, dann wird klar, dass der Bedeutungsreichtum des Wortes »Archiv« auf die Möglichkeit einer irdisch lokalen Ansiedelung »sittlicher Verhältnisse« inmitten der Natur (physis) hinausläuft. Wird die Arch¦ in Zukunft nämlich als topo-nomologisches Archiv bestimmt, in dem jeweils wieder von Neuem darüber entschieden wird, was uns allgemein zu Gebote stehen soll, und nicht nur zu Gebote steht, dann hat sich das Denken der Arch¦ in das Denken einer im Kommen befindlichen Gerechtigkeit verwandelt. Einer Gerechtigkeit also, die es, gerade weil sie stets im Kommen ist, irdisch zu archivieren gilt, damit ihr Kommen eben stets im Kommen bleibt.

VII.

Das nomologische Archiv in der jüdischen Tradition des Denkens

Dass die Arch¦ Seiendes nicht nur generiert, sondern auch archiviert, ist ein Gedanke, der für Derrida aber nicht nur bei den Griechen zu finden ist. Weit früher stoßen wir in der jüdischen Tradition des Denkens auf eine Auslegung der Arch¦, die sich dem Archiv und damit dem Überleben eines im Kommen begriffenen Anspruches verschrieben hat. Im alttestamentlichen Sinne offenbart sich die Arch¦ in einem topo-nomologischen Verkündungsakt, indem sie Moses am Berg Sinai die Gebote der Tora überträgt, um ihm die Befolgung des göttlichen Sittengesetzes aufzutragen. Ein Bund, der nicht nur das sittliche Verhältnis zwischen Gott und dem jüdischen Volk neu begründet, sondern das sittliche Leben gemäß der Tora mit dem Glücksversprechen der Befreiung von Knechtschaft verbindet. Moralität und Glückseligkeit beginnen damit einander wechselseitig zu bedingen und zu einer Glück verheißenden Lebensform zu werden, in der sich die Vorzeichen von Macht und Ohnmacht gegenüber dem IstZustand einst verkehrt haben werden. Da es sich bei der topo-nomologischen Offenbarung eines Gebotes ganz grundsätzlich um den Akt der Verkündigung einer Botschaft handelt, in der dem Adressaten der Botschaft die Befolgung des Gebotes allererst aufgetragen wird, muss es sich bei der Verkündigung eines Gebotes strukturell um einen unvollständigen Akt handeln, dessen eigentliche Erfüllung und Bewahrheitung noch aussteht. Dies gilt sowohl in Bezug auf das, was die praktische Erfüllung des zu Gebote Stehenden betrifft, als auch in Bezug auf das zu Gebote stehende Glücksversprechen, dessen Kommen an die Befolgung des Gebotenen gebunden zu sein scheint. Selbst dort, wo es sich in der Tat also um den Akt der ursprünglichen Offenbarung der göttlichen Gebote am Berg Sinai handelt, selbst dort hat dieser lokale Ursprungsakt grundsätzlich einen futuralen Sinn. Denn als

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Fragment einer versprochenen Zukunft stellt er den Zeitraum, in dem das schon jetzt stimulierende Versprechen einst eingelöst sein wird, erst in Aussicht. Da das Geben eines Versprechens und das Einlösen des Versprochenen, in dem das Versprochene selbst gegeben wird, strukturell notwendigerweise durch eine zeitliche Kluft voneinander getrennt sind, weist ein solcher Akt notwendig eine anachronistische Struktur auf.36 Auf diese stoßen wir aber auch in Bezug auf die strukturelle Verfassung dessen, was bei der Erteilung eines Gebotes auf dem Spiel steht. Auch die Verkündigung eines Gebotes kann strukturell mit dem Akt seiner Befolgung nicht zeitlich zusammenfallen, da das Gebotene erst zu Gebote steht, in der Tat also erst noch persönlich erfüllt werden muss, während es jemandem zu befolgen aufgetragen wird. Auch in diesem Fall stellt der ursprüngliche Akt der Erteilung eines Gebotes immer nur den Beginn, aber niemals schon die Erfüllung des Gebotenen dar. Zwischen beiden performativen Akten klafft daher notwendigerweise die Kluft eines gefährlichen Vielleicht,37 in der zwischenzeitlich über die Befolgung bzw. Nichtbefolgung des Gebotes und die Einlösung bzw. Nichteinlösung des gegebenen Versprechens im Einzelnen konkret erst autobiografisch entschieden wird. Gerade diese in jedem erteilten Gebot und Versprechen bestehende Kluft macht aber den Übergang vom Gedanken der Arch¦ zum Gedanken des Archivs notwendig und zu einem Gebot der Stunde. Denn wenn sich der Ursprung selbst ursprünglich im Modus der Ankündigung eines Kommenden offenbaren sollte, dann braucht ein solcher Modus nicht nur Zeit, sondern auch einen Ort, an dem diese anachronistische Differenz zwischenzeitlich aufbewahrt und zugunsten des Kommenden schließlich überbrückt und eingelöst worden sein wird. Nietzsche hat in seiner Schrift Zur Genealogie der Moral darauf hingewiesen, dass ein Lebewesen, das sich einem Versprechen verschreibt, notwendigerweise ein Gedächtnis der Zukunft braucht, in dem seine Vergesslichkeit gegenüber dem, was war, ausnahmsweise ausgehängt wird. Eine solche Lebensform braucht »ein aktives Nicht-wieder-loswerden-wollen, ein Fort- und Fortwollen des ein Mal Gewollten, ein eigentliches Gedächtnis des Willens; so dass zwischen das ursprüngliche ›ich will‹ ›ich werde thun‹ und die eigentliche Entladung des Willens, sein Akt, unbedenklich eine Welt von neuen fremden Dingen, Umständen, selbst Willensakten dazwischen gelegt werden darf, ohne dass diese lange Kette des Willens springt.«38

Die Arch¦ wird demnach also genau dann den Charakter eines Archivs annehmen müssen, wenn es darum geht, den Akt eines stimulierenden Glücksversprechens auf bleibende Art und Weise in Erinnerung behalten zu wollen. Ein solcher Akt des Begehrens muss ad acta gelegt werden. Nicht, um ihn dort der 36 Zur Frage, was es heißt, ein Versprechen zu geben, vgl. Dreisholtkamp: Gabe, 291. 37 Vgl. Nietzsche: Jenseits, 17. 38 Nietzsche: Genealogie, 293 [Herv. i. T.].

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Vergessenheit anheimzugeben, sondern im Gegenteil gerade um ihn dauerhaft am Leben zu erhalten. Ein solches auf Dauer gestelltes Begehren braucht ein Gedächtnis der Zukunft, dem es weniger um die Dokumentation historischer Tatsachen geht, als vielmehr um die Archivierung der Spur eines Kommenden. Es wird daher primär keinen historisch-kritischen, sondern einen plastischen Umgang mit seinen Archiven pflegen, insofern es das, was war, immer schon im Lichte eines Kommenden betrachtet, dessen Kommen noch besorgt und wahr gemacht werden muss, während es sich den Archiven verschreibt.

VIII. Der Akt der Beschneidung als biologisches Merkmal eines kulturellen Versprechens Durch das bisher Gesagte wird, so hoffe ich, nun leichter verständlich, warum sich Derrida in seinem Buch Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression in der Folge gerade dem rituellen Phänomen der Beschneidung zuwendet, um das Verhältnis von Arch¦ und Archiv weiter zu entflechten. Insofern es sich beim Akt der Beschneidung nämlich um den Akt der genitalen Einschreibung eines biologischen Merkmals in das Subjektil eines heranwachsenden Körpers handelt, weist er selbst »naturphilosophische« Züge auf. Weil dem physisch anwesenden Körper dieses biologische Merkmal seines Genitals39 aber nicht auf natürliche Art und Weise naturwüchsig zukommt, sondern als Merk-Mal eines weither kommenden und weit reichenden Versprechens rituell zugefügt wird, handelt es sich beim Akt der Beschneidung um die physische Markierung des nomologischen Anspruchs, das Sittengesetz der Tora am eigenen Leibe zu befolgen, das dem Geschlecht der Juden von alters her kulturell zu Gebote steht. Das Genital des jungen Körpers fungiert in diesem Ritus als biologische Grundlage eines kulturell indizierten physischen Merkmals, das der Körper ein für alle Mal als archiviertes Merk-Mal einer Zukunft, die es zu besorgen gilt, am eigenen Leibe mit sich herumtragen wird. Von der Beschneidung an wird dieses Merkmal den so markierten Körper stets leibhaftig daran erinnern, was ihm das Gesetz seiner Ahnen zu tun gebietet.40 Die ursprüngliche Genese eines beschnittenen Körpers, in der er selbst 39 Vgl. dazu auch Derrida: Genesen, 16 – 19. 40 Der Akt der Beschneidung stellt daher sowohl eine Art »Biopolitik« (Foucault) dar, die von der jüdischen Gemeinde im Namen des Geschlechts der Juden an jüdischen Jungen genital vollzogen wird, andererseits kennzeichnet und markiert das so rituell indizierte biologische Merkmal, als biologisches Merk-Mal, die kulturelle Zugehörigkeit dieses Körpers zum jüdischen Geschlecht, in dem seit alters her der ethnische Anspruch der mosaischen Gebote, die Arch¦ im nomologischen Sinne, waltet.

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physische Merkmale annimmt, die er in Zukunft »direkt auf der Haut«41 mit sich herumträgt, stellt offenbar kein bloß naturwüchsiges Geschehen mehr dar. Stellt sie den beschnittenen Körper doch vor die Aufgabe, das, was diese Markierung sittlich gebietet, in Zukunft in der Tat selbst autobiografisch zu befolgen. Ist eine Beschneidung als physische Einschreibung eines Versprechens folglich vielleicht selbst »eine äußerliche Markierung? Ist sie ein Archiv?«42

IX.

Der futurale Charakter der Bezeugung eines Gebots

Während es etwa beim Buchdruck darum geht, einem äußerlichen Medium Sätze anzuvertrauen, zu denen das Trägermedium selbst in einem indifferenten Verhältnis steht, stellt der Akt der Beschneidung offenkundig ein rituell vollzogenes Geschehen »einer intimen Markierung direkt auf den sogenannten eigenen Körper«43 dar. Die rituelle Unterwerfung eines Körpers unter das Gebot der Tora im Akt der Beschneidung ist demnach gerade kein musealer Akt der bloßen Archivierung einer Vergangenheit, an die der Akt der Beschneidung bloß erinnern möchte. Macht sie den so markierten Körper im Zuge dieses Rituals doch selbst zum Subjektil, zum physischen Träger eines Versprechens, in dem dieser Bund rituell regeneriert wird, um von diesem Körper in Zukunft selbst, d. h. in Person, neuerlich bezeugt zu werden.44 Der Akt der persönlichen Bezeugung eines Anspruchs, der aus der genitalen ethnischen Zugehörigkeit dieses Körpers zum Volk Israel gekommen ist, ist selbst aber nicht mehr ein ethnischer, sondern ein ethischer Anspruch. Geht es in ihm doch darum, im je eigenen Dasein ein Zeugnis davon abzulegen, wie der so markierte Körper diesen Anspruch im eigenen Leben je selbst autobiografisch verantwortet. Dadurch, dass dieser singuläre Körper also zum signifikanten Träger eines weither kommenden Versprechens geworden ist, das in Zukunft von ihm selbst bezeugt werden soll, ist der so markierte Körper nicht nur ethnisch markiert, sondern auch ethisch aufgefordert, auf diesen Anspruch autobiografisch zu antworten.45 Von daher gesehen ist das Merkmal der Beschnei41 42 43 44 45

Derrida: Archiv, 41 [Herv. i. T.]. Ebd., 27. Derrida: Archiv, 19 [Herv. i. T.]. Vgl. dazu auch: Derrida / Kittler : Nietzsche, 20 – 39. Ist sein eigenes Da-Sein von nun an doch zur Zeugenschaft und Bezeugung des an ihn herangetragenen Versprechens geworden, in dessen Dimension er von nun an hinaussteht, um sein eigenes Da-Sein in Zukunft von da-her, von der Erstreckung dieses historischen Anspruchs her, auf singuläre Art und Weise zu bezeugen. Fast könnte man sagen, in Zukunft »bio-politisch« zu regieren. Unter Biopolitik versteht Foucault die Art und Weise, wie unsere Biologie von einem herrschenden Diskurs leibhaftig regiert, dominiert, stratifiziert und kontrolliert wird, sodass andere Formen des Leibens und Lebens von ihm ausgeschlossen,

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dung als einschneidendes autobiografisches Datum ein bio-kulturelles MerkMal, das im Sinne eines biologisch archivierten Denkmals der Zu-Kunft fungiert, das uns zu einer Antwort nötigt, die wir selbst zu verantworten haben. »Nun ist aber die Jüdischheit, die die Zukunft nicht abzuwarten braucht, genau die Erwartung der Zukunft, die Öffnung des Bezugs zur Zukunft, die Erfahrung der Zukunft [selbst, A. B.].«46 Die Notwendigkeit, die Arch¦ in Zukunft als Topo-Nomologie der Zukunft zu denken, gründet für Derrida letztlich also darin, dem Ereignis der Zukunft eine irdische Bleibe zu stiften, indem ihrem Kommen im Ankommen eines Menschen jeweils wieder eine neue, physische Bleibe inmitten der physis eingeräumt wird. Eine Bleibe, in der die Zukunft selbst stets offenbleibt und die gerade daher verlangt, wieder und immer wieder im Entschluss bestimmt und tatsächlich verantwortet zu werden. »Die Einmaligkeit dieses Zuges ist zunächst der unauslöschliche Bindestrich zwischen Jüdischheit und Zu-Künftigem. Jüdisch-sein und Zur-Zukunft-hin-offensein wäre dieselbe Sache, eben diese einmalige Sache, dieselbe Sache als Einmaligkeit […]. Zur Zukunft hin offen sein wäre jüdisch sein.«47 Gleichwohl uns Derrida an dieser Stelle seines Textes, der sich selbst dem Archiv der Zukunft verschrieben hat, an den futuralen Charakter des jüdisch verstandenen Wortes »Archiv« erinnert, vergisst er nicht, uns daran zu erinnern, dass es für den gesunden Menschenverstand eine »Geschichte oder ein Archiv der Zukunft«48 nicht gibt, ja nicht einmal geben kann. Und doch ist es gerade das, was für Derrida ursprünglich jedes Mal wieder auf dem Spiel steht und ins Spiel kommt, wenn ein menschlicher Körper inmitten der Welt-Offenheit anwesend wird. Beruht das Ethos eines Menschenlebens doch auf entscheidende Art und Weise darin, nicht nur den Archiven der Ahnen, sondern auch dem Archiv einer Zukunft, die erst im Kommen ist, im eigenen Leben gerecht zu werden. Ein buddhistisches Koan bringt die existenzielle Blöße, in der sich sensible Körper befinden, die sich einem Gedächtnis der Zukunft verschrieben haben, auf schlichte Art und Weise zur Sprache:49 Erster Schauer im Spätherbst. Auch das Äffchen, so scheint es, hätte gern ein Strohmäntelchen.

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verdrängt und als »unlebbar« ins Abseits geschoben werden. Die Untersuchung einer neoliberalen Gouvernementalität ist daher zum Beispiel immer auch die Erforschung einer Form der Herrschaft über unsere eigenen biologischen Grundlagen und des Umgangs mit ihnen. Vgl. Foucault: Biopolitik, 112 – 138. Derrida: Archiv, 131. Ebd., 134. Ebd., 127. Zitiert nach Böhler: Gedächtnis der Zukunft, 353. Vgl. auch Nishitani: Was ist Religion?, 256.

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Arno Böhler

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Wirth, Uwe: Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt / M. (Suhrkamp) 2002. Zeilinger, Peter, Portune, Dominik (Hg.): nach Derrida. Dekonstruktion in zeitgenössischen Diskursen, Wien (Turia + Kant) 2006.

Branko Klun

Anderssein. Ontologische Überlegungen zu Lévinas’ Ethik

»Nicht anderssein, sondern anders als sein«1, schreibt L¦vinas, der dieses Anliegen, in dem sich eine bemerkenswerte philosophische Suche widerspiegelt, zum Titel seines zweiten Hauptwerks erhoben hat. »Autrement qu’Þtre« will nicht einfach ein »Þtre autrement« bedeuten, sondern stellt den Versuch dar, über jegliches Sein hinauszugehen: »Übergehen zum Anderen des Seins«2 (im Sinne von »transzendieren«). Diese Suche nach einem absoluten Jenseits, epekeina tes ousias, ist jedoch eng mit dem ethischen Anliegen von L¦vinas verbunden. Das Andere (l’autre) des Seins ist der oder die Andere (autrui), der andere Mensch, der trotz seiner Erscheinung »im Sein« dieses übersteigt und es auf eine ethische Weise transzendiert. Nach L¦vinas geht die Ethik über die Ontologie hinaus, bzw. sie geht ihr voraus und soll als »erste Philosophie« betrachtet werden. Es ist ihm bewusst, dass seine ethische Herausforderung des Seins an die Grenzen des Logos (Logischen), der Sprache und des Sinns stößt. Dennoch hält er diese »unmögliche« Aufgabe seines ethisch motivierten Denkens für die einzige Möglichkeit, die wahre Transzendenz zu bewahren. Muss aber die Transzendenz wirklich mit dem Sein brechen? Sollten nicht vielmehr zuerst die Fragen gestellt werden, wie das Sein verstanden wird und inwiefern das von L¦vinas beschriebene Phänomen des Ethischen eine Herausforderung für das geläufige Seinsverständnis darstellt? L¦vinas kann nämlich nur dann ein Übergehen zum Anderen des Seins verlangen, wenn dem Sein keine Möglichkeit zugestanden wird, anders sein zu können, als er es konzipiert. In der Tat fixiert L¦vinas das Sein auf ein Verständnis, das nicht nur hinsichtlich seiner inhaltlichen Bestimmung problematisch ist, sondern vor allem wegen der Endgültigkeit dieser Charakterisierung, die dem Sein keine Möglichkeit, anders verstanden zu werden, offenlässt. Ich möchte einige Überlegungen anstellen, wie durch eine Öffnung des 1 Lévinas: Jenseits des Seins, 24. 2 Ebd., 23.

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Seinsverständnisses das ethische Anliegen von L¦vinas aus der Oppositionshaltung gegen die Ontologie in einen Dialog mit ihr transformiert werden kann. Es geht nicht darum, die ethische »Spannung«, die L¦vinas so überzeugend artikuliert und die größtenteils vom unaufhebbaren Gegensatz zwischen Ethik und Ontologie genährt wird, zu lösen oder gar den Gegensatz aufzuheben. Vielmehr gilt es, diese Spannung in die Ontologie zu übertragen und die ethische Erfahrung der Transzendenz als Aufgabe für ein entsprechendes Seinsverständnis zu betrachten.

I.

Die Transzendenz des Antlitzes und die Ethik

In seinem ersten Hauptwerk Totalität und Unendlichkeit liefert L¦vinas eine phänomenologische Analyse der Begegnung mit dem anderen Menschen. Im Unterschied zu sonstigen Phänomenen, die sich meinem Bewusstsein geben, erfahre ich vor dem Gesicht des Anderen etwas ganz anderes. Anstatt dass ich den Anderen intentional »fassen« könnte, entzieht er sich meinem Intendieren und übersteigt jeden Inhalt meines Verstehens. Der Andere ist gegenwärtig »in seiner Weigerung, enthalten zu sein«.3 In der Begegnung von Angesicht zu Angesicht (face-—-face), die in der Sprache der Phänomenologie die ursprüngliche Art und Weise des Zugangs zum Phänomen des Anderen darstellt, kommt es zu einer paradoxen Situation, wo der intentionale »Gegenstand« nicht mit den intentionalen Akten des Bewusstseins korrelieren kann. L¦vinas sieht darin das Ende des Korrelationsapriori (zwischen den intentionalen Akten und dem intendierten Gegenstand), das für die Phänomenologie von zentraler Bedeutung ist. Wenn die intentionalen Akte teleologisch auf eine Erfüllung ausgerichtet sind, wird diese Erfüllung beim Intendieren des Anderen nie erreicht. Im zeitlichen Sinne bedeutet dieser Entzug des Anderen die Unmöglichkeit, ihn in die Präsenz meines Bewusstseins zu überführen. Der Andere teilt keine gemeinsame Zeit mit mir – er ist der Transzendente, der Zu-Kommende, der eine absolute Zukunft eröffnet, ohne je in die Gegenwart zu gelangen. Oder er ist, wie beim späteren L¦vinas, der Immer-schon-vorbei-Gegangene (pass¦), der einer absoluten Vergangenheit (pass¦ absolu) angehört.4 Der Bruch der Korrelation und die daraus resultierende Asymmetrie zwischen mir und dem Anderen erlauben keine »synchronische« Zeit und führen zur Notwendigkeit einer radikalen »Diachronie«. Wenn sich der Andere durch die Unmöglichkeit auszeichnet, in die Gegenwart (des Verstehens) übergeführt zu werden, so bleibt seine Andersheit jedoch 3 Lévinas: Totalität und Unendlichkeit, 277. 4 Vgl. Lévinas: Die Spur des Anderen, 231.

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nicht eine bloße Negation oder Privation. Der Andere »gibt« sich, ohne auf seine Transzendenz zu verzichten. Er spricht mich an, aber diese Ansprache erfolgt nicht primär durch Worte, sondern als ethischer Anspruch, unter den ich gestellt werde. Hier versucht L¦vinas zu zeigen, wie das Gesicht des Anderen über seine sinnliche Erscheinung hinaus immer schon »spricht«. Bevor der Andere irgendetwas sagt, spricht mich sein Gesicht an mit einer absoluten ethischen Forderung: »Du wirst keinen Mord begehen.«5 Die Macht dieses Gebots, den Anderen nicht seiner Andersheit zu berauben, verbindet sich mit der Ohnmacht des »nackten« und fragilen Gesichts. In Analogie zu Kant könnten wir sagen, der Andere ist ein »Bürger zweier Welten«: Einerseits befindet er sich in der Welt der Erscheinungen, der körperlichen Nacktheit und Verwundbarkeit, andererseits aber ist er nicht von dieser Welt. Durch seine ethische Transzendenz entzieht er sich jener Macht, die die Welt beherrschen kann. Im Unterschied zur Verfügbarkeit des innerweltlichen Seienden kann das Ich nie über den Anderen verfügen. In diesem Sinn ist der Mord am Anderen für L¦vinas kein Ausüben von Macht, sondern vielmehr das Eingeständnis der Ohnmacht, ihn zu beherrschen. Aufgrund dieser ethischen Transzendenz des Anderen ist die Verwendung des Wortes »Antlitz« (als Übersetzung für visage), das eine religiös-ethische Würdigung konnotiert, durchaus berechtigt. Die zwei »Welten« werden von L¦vinas auch als Ontologie und Ethik bezeichnet. Die Ontologie fällt dabei mit der Phänomenologie zusammen. Die Konstitution des intentionalen Gegenstandes kann mit Heidegger als ein Verstehen des Seienden gedeutet werden. Der intentionale Horizont, innerhalb dessen sich ein Phänomen konstituiert, wird bei Heidegger zum Seinshorizont, der dem Seienden vorangeht und es ermöglicht. Die ontologische Differenz drückt die Notwendigkeit aus, von einem als selbstverständlich angenommenen Verstehen des Seienden zur Frage des ihm zugrunde liegenden Seinsverständnisses zu gelangen. Das setzt voraus, dass das Sein keineswegs selbstverständlich ist, sondern unterschiedlich verstanden werden kann. Dem entsprechend ändert sich auch die »Konstitution« jedwedes Seienden. Somit wird deutlich, dass das Sein keine »objektive Realität« ist, sondern eben der Horizont des Verstehens, der zur »Offenheit« des Daseins, des Menschen gehört. Im Einklang mit der phänomenologischen Methode ist jedes Phänomen (Seiendes) auf die intentionale Offenheit des Bewusstseins angewiesen, und es macht wortwörtlich keinen Sinn, über ein Seiendes zu sprechen, das ohne Bezug zum Bewusstsein (Verstehen) stünde. Der Sinn kann vom »sinngebenden« Bewusstsein nicht getrennt werden. Für L¦vinas verbirgt sich darin ein »ontologischer Imperialismus«.6 Das 5 Lévinas: Totalität und Unendlichkeit, 285. 6 Ebd., 53.

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Bewusstsein bzw. das (seinsverstehende) Dasein waltet über die Totalität dessen, was als seiend und denkbar (sinnvoll) zugelassen wird. Da das Bewusstsein bzw. Heideggers Dasein wesentlich auf die Sphäre des Eigenen, des Selben, des Ich, bezogen sind, wird ihre zentrale Rolle als ethisch fraglicher »Egozentrismus« oder »Egoismus« gedeutet. Die »Welt« des Seins ist die Welt des Selben, wo das Eigene herrscht, ohne wahre Andersheit dulden zu können. Die Ausgangsfrage der Ethik, die eigentliche Bedingung ihrer Möglichkeit, betrifft daher die Suche nach einer Andersheit, nach absoluter Transzendenz, die dieses totalitäre Sein durchbrechen kann. L¦vinas findet diese Andersheit im Antlitz des Anderen, worin die andere, ethische »Welt« zum Ausdruck kommt. Der Andere durchbricht den Horizont des Seins(verstehens) und erweist sich als jemand, dessen Sinn nicht von diesem Horizont abhängt. Der ethische Appell offenbart sich im Antlitz des Anderen kath’auto, aus eigener Macht heraus, und in einer »Eigentlichkeit«, die nie in einen intentionalen Sinnzusammenhang überführt werden kann. Der Andere bleibt jedem Seinshorizont fremd und wird von L¦vinas mit einem »Loch in der Welt« verglichen.7 Der frühe L¦vinas begnügt sich mit der Kritik an der Fundamentalontologie Heideggers, die jedes Seiende auf seine vorgängige Konstitution innerhalb des Seins reduziert. Da das Sein von L¦vinas mit einem unpersönlichen Geschehen identifiziert wird, fürchtet er eine Degradierung des Menschen, dessen »Wesen« als ein anonymer Vorgang des Seins (processus d’Þtre) gedeutet werde. Demgegenüber sieht er die Notwendigkeit einer Umkehrung des Prioritätsverhältnisses zwischen dem Sein und dem Seienden,8 weil dadurch der Mensch als »Substantiv« vor seiner Auflösung im »verbalen« Sein bewahrt werde. L¦vinas plädiert für einen ontologischen Pluralismus, in dem jeder Mensch eine Andersheit und eine Ausnahme von der Totalität darstellt. Jeder ist ein Existierender (Seiender), ohne dass eine gemeinsame Existenz (Sein) vorausgesetzt werden müsste. Die zwischenmenschliche Beziehung braucht keine Vermittlung durch eine gemeinsame Teilhabe am Sein; sie erfolgt in der Unmittelbarkeit zwischen den Existierenden. Dabei wird man an die Monaden von Leibniz erinnert, die als metaphysische Substanzen von der physischen Welt unabhängig sind, die aber anders als die Existierenden bei L¦vinas für ihre Beziehungen untereinander einer Vermittlung durch die höchste Monade (Gott) bedürfen. L¦vinas vertritt dagegen einen Pluralismus, der mit keiner Einheit bzw. Totalität vereinbar ist. Eine solche Sichtweise ist aus vielerlei Gründen unstimmig und unhaltbar. Wie kann L¦vinas jede Allgemeinheit als Totalität kritisieren und zugleich selber eine allgemeine Perspektive der Betrachtung einnehmen? Wie kann die Rede 7 Lévinas: Die Spur des Anderen, 227. 8 Der Titel des Frühwerks von Lévinas lautet Vom Sein zum Seienden (De l’existence — l’existant).

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vom Seienden (existant) beibehalten werden, ohne das Sein mitdenken zu müssen? Der spätere L¦vinas reflektiert darüber und zieht die notwendigen Konsequenzen: Es gibt keine allgemeine Perspektive, sondern nur die (eigene) Subjektivität, die immer schon vom Anderen »durchdrungen« ist. Ich kann nur von mir aus sprechen, aber das heißt noch nicht, dass ich auch am Anfang stehe. Vor einem bewussten Ich gibt es »mich«: Am Anfang stehe ich im Akkusativ als der vom Anderen »Angeklagte« und in Anspruch Genommene. Der Einbruch der Transzendenz erfolgt beim späteren L¦vinas nicht primär in der phänomenalen Welt, sondern in den Tiefen meines Selbst. Es ist nicht so, dass ich zuerst bin und draußen dem Antlitz des Anderen begegne, sondern der Andere bestimmt mich in meiner Innerlichkeit, bevor ich überhaupt »bin«, d. h. bevor ich mich im Denken und Bewusstsein »übernehme«. Der Andere-in-mir (l’autre-dans-le-mÞme)9 als ursprüngliche Bestimmung der Subjektivität ist aber nach L¦vinas keine Modalität des Seins, weil jedes Sein auf das Bewusstsein angewiesen ist. Vor dem (Bewusst-)Sein gibt es eine absolute Passivität des Subjekts, das sich als Antwort auf den ethischen Anspruch »konstituiert« und zu einer reinen Verantwortung für den Anderen wird. Verantwortung ist keine Weise zu sein. Vielmehr erfolgt sie als eine unendliche Transzendierung des eigenen Seins, als ein Aufgehen »für den Anderen« (pour-l’autre), als ein Paradoxon, nicht mehr zu sein, weil es mich nur noch für den Anderen gibt. Was sich in der skizzierten Entwicklung von L¦vinas’ Denken kaum ändert, ist sein Verständnis des Seins. In den Frühschriften wird das Sein (Il y a) mit einer anonymen Tätigkeit verglichen, die als völlige Indifferenz nicht wirklich bestimmt werden kann. Es ist – mit Hegel – wie die Nacht, in der alle Kühe schwarz sind. L¦vinas benutzt verschiedene Metaphern, um dieses Sein zu beschreiben: eine Fülle des Leeren, das Murmeln der Stille oder die monotone Dauer von Stille und Dunkelheit in einer schlaflosen Nacht.10 Zu sein bedeutet nicht mehr als das factum brutum eines Vorhandenseins, wo der »Inhalt« des Seins gerade die Leere des bloßen »Dass-Seins« darstellt. Mit der späteren Hinwendung zur (ethisch gedeuteten) Subjektivität verlagert sich der Akzent der Seinsdeutung auf dessen Angewiesenheit auf das Ich, auf das Ego. »Dass-Sein« bekommt einen interessierten Träger, dem es in seinem Sein darum geht, »dass« er ist. Esse besagt interesse – Interessiertsein für das eigene Sein. Dieses Interesse ist für L¦vinas dem conatus essendi von Spinoza vergleichbar. Die frühere Anonymität und die jetzige Egozentrik stehen für L¦vinas nicht in einem Gegensatz zueinander, sondern verstärken einander. Das »Wesen« des Seins (essance) erfolgt als eine totalisierende Tätigkeit des Ego, die insofern als anonym be-

9 Lévinas: Jenseits des Seins, 69. 10 Vgl. Lévinas: Die Zeit und der Andere, 22 f.

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zeichnet werden kann, als sie keinen anderen »Namen« als ihren eigenen (d. h. keinen Anderen) kennt. Im Gegensatz zum Seinsinteresse, das mit dem aktiven Verstehen und Bewusstsein zusammenhängt, besagt die Verantwortung des passiven Subjekts ein Sich-vom-Sein-Lösen, ein Des-Interesse (d¦sint¦ressement)11 im Sinne einer Selbstlosigkeit, in der das Subjekt ein reines »Für-den-Anderen« wird. Der Eine für den Anderen bedeutet keine neue Seinsweise; die unendliche Verantwortung ist anders als Sein. Sie ist auch besser als Sein. Sie zeugt von einer Güte, die jedes Sein unendlich übersteigt.

II.

Zurück zu den phänomenologischen Quellen

L¦vinas beruft sich auf die Phänomenologie und auf die phänomenologische Methode, zugleich aber zeigt er ihre Grenzen auf und versucht das ethische »Phänomen« mit einer neuen Begrifflichkeit, ja mit einer neuen »Logik« zu artikulieren, die über die übliche »Logik der Phänomene« (Phänomenologie) hinausgeht. Hat aber seine »Logik« den Charakter der Notwendigkeit? Erfordert die Befürwortung der Ethik einen Bruch mit dem »Sein« und seinem »Logos« (Ontologie und Logik)? Oder dürfen wir bei L¦vinas’ »(Gegen-)Logik« von einer phänomenologisch-hermeneutischen Möglichkeit sprechen, die als solche nicht exklusiv ist? Hier möchte ich in Anlehnung an die frühen Vorlesungen von Heidegger, in denen um phänomenologisch-methodische Fragen gerungen wird, einen kritischen Dialog mit L¦vinas’ phänomenologischem Zugang eröffnen und überprüfen, auf welche andere Weise dem Anspruch des Anderen entsprochen werden könnte. Die Wege von L¦vinas und der Phänomenologie scheiden sich bei der Rolle des Verstehens (Erkenntnis, Wissen). Nicht nur die Phänomenologie, sondern die gesamte westliche Philosophie als solche entspringt dem Grundmotiv, erkennen (wissen, verstehen) zu wollen. Im berühmten Satz des Aristoteles »Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen«12 drückt sich ein Grundverständnis des Menschen aus. Der Mensch wird primär als derjenige verstanden, der wissen und erkennen kann und der durch diese Erkenntnis einen Bezug zur Welt, zu den Mitmenschen und zu sich stiftet. Wenn L¦vinas mit seiner Kritik bei der Erkenntnis und beim Verstehen ansetzt, dann rüttelt er am Fundament des Denkens, was nicht ohne Konsequenzen für alle weiteren Schritte bleiben kann. Bekanntlich wirft L¦vinas dem Erkennen bzw. Verstehen vor, dass sie keine Andersheit dulden können. Aber diese Kritik, auch wenn sie in bestimmter 11 Lévinas: Jenseits des Seins, 23. 12 Met. 980a 21.

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Hinsicht gerechtfertigt ist, verkennt die eigentlich positive Bedeutung des Verstehens. Ist Verstehen nicht etwas, wonach der Mensch streben soll, worin der Mensch seine (wenngleich nicht die einzige) Verwirklichung sucht? Beim Verstehen, und das sieht L¦vinas zu Recht, haben wir es mit einem Phänomen zu tun, das den Menschen im Ganzen betrifft. Der Mensch kann nicht anders als »verstehend« leben. Würde er nichts verstehen, könnte er (für sich) nicht Mensch sein. Das Verstehen – in all seinen Formen, auch in der Erfahrung seiner Privation (Unverständnis) – gehört untrennbar zum Menschen. Diese ganzheitliche Bestimmung des Menschen kann jedoch nicht als eine negativ verstandene »Totalität« interpretiert werden. Für L¦vinas bedeutet Verstehen eine Verschließung des Menschen in seine eigene Welt, was als »bedrückend« oder »ethisch fragwürdig« problematisiert wird. Im Akt des Verstehens (oder Erkennens) wird nach L¦vinas Unbekanntes, Fremdes, Anderes auf das Eigene reduziert. Ist aber eine solche Kritik wirklich gerechtfertigt? Schafft nicht erst das Verstehen jene Offenheit, die sich für das Andere öffnet? Im Gegensatz zu L¦vinas’ Deutung des Verstehens bzw. des Bewusstseins als Verschließung handelt es sich in der Phänomenologie um eine intentionale Offenheit des Bewusstseins (Husserl) oder Erschlossenheit des Daseins (Heidegger), damit wir uns der »Sache selbst« widmen können. Gerade dieses Offensein motiviert die Phänomenologie, sich von vorgefassten Meinungen und Vorurteilen zu verabschieden und auf denkerische Konstruktionen philosophischer Traditionen zu verzichten, um der Sache selbst, wie sie sich von sich selbst her gibt, Gehör zu schenken. Der phänomenologischen Haltung geht es um das Andere, um die Erkenntnis und um das Verstehen des Anderen als Anderen und nicht um seine Vereinnahmung, wodurch das Andere, das zu Verstehende, auf das Selbe reduziert und somit seiner Andersheit beraubt würde. Das wahre Verstehen tut der zu verstehenden Sache keine Gewalt an, sondern bringt sie so, wie sie in »Wahrheit« ist, eben zum Verstehen.13 Wenn L¦vinas das »Wesen« des Menschen statt im Verstehen (Bewusstsein) in der Verantwortung erblickt, so führt er eine falsche Konkurrenz ein. Die Offenheit des Verstehens verdrängt keine anderen Bestimmungen des Menschen, auch nicht die der Verantwortung. Die Verantwortung muss ebenfalls verstanden werden, nämlich so, wie L¦vinas sie beschreibt: als Antwort auf einen Anspruch, der von einem Anderen an mich gestellt wird und mich immer schon bestimmt. Nicht das Verstehen als solches ist das Problem, sondern seine Verwirkli13 Wucherer-Huldenfeld: Ursprüngliche Erfahrung, 118: »Das Erscheinende ist von sich her, und zwar von sich selbst her, in Bezug auf sich selbst und wie es an sich selbst sich enthüllt und mitteilt, zu wahren und zu bewahren. Dieses Wahren und Bewahren besagt ein Sichloslassen, Freimachen und Sichöffnen für das (wie immer) Verborgene im Phänomen selbst.«

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chung. Das ist die eigentliche Frage der Philosophie und ganz besonders der Phänomenologie: Wie soll die »Sache selbst« erkannt und verstanden werden? Hier kann man aber nicht davon absehen, dass das Verstehen vom Menschen selbst vollzogen wird. Auch wenn das Andere das eigentliche Ziel des Verstehens ist, kann vom verstehenden Menschen nicht abstrahiert werden. Diejenigen Ansätze, die vermeintlich nur die Sache selbst behandeln, ohne die Rolle des Verstehenden (bzw. seines Zugangs zur Sache) mitzubedenken, laufen Gefahr, einem ungerechtfertigten Dogmatismus zu erliegen, ja einer totalitären Deutung, wie L¦vinas sie beschreibt. Wenn die Phänomenologie ihren reflexiven Blick auf den Erkennenden (Vollzug des Verstehens, intentionale Akte des Bewusstseins) richtet, tut sie das um der Sache selbst (um des zu Erkennenden) willen. Wir erkennen und verstehen als Menschen. Die Trivialität dieser Aussage, dass nämlich jede Erkenntnis menschlich ist, erfordert eine notwendige Reflexion auf unsere Zugangsweise zur »Sache selbst«. Das eigentliche Verdienst der Phänomenologie ist die Verlagerung des Blicks von der Sache auf die Zugangsweise, in der die Sache erkannt bzw. verstanden wird. Das, was erkannt wird, hängt vom Wie des Zugangs ab. Diese transzendentale Fragestellung sucht aber nicht in erster Linie eine neue »Objektivität« der Bedingungen der Erkenntnis, sondern betont die prinzipielle Offenheit des Zugangs. Wenn Kant in den transzendentalen Bedingungen eine tiefer liegende (logische) »Wirklichkeit« sucht, so geht es in der Phänomenologie um ein Wie, das als Möglichkeit offengehalten wird. Der Möglichkeitscharakter des Wie will der »Sache selbst« dienen. Es kommt darauf an, bei verschiedenen Möglichkeiten eines Zugangs denjenigen zu suchen, durch den die Sache selbst sich so zeigen kann, wie sie ist. Husserl entwickelt die phänomenologische Methode als Antwort auf die »totalitäre« Deutung verschiedener Phänomene in einer als selbstverständlich und »natürlich« angenommenen Einstellung (Zugangsweise) des Bewusstseins. Logische Gesetze verlangen eine andere Zugangsart (Intentionalität) als Naturobjekte, um als solche verstanden zu werden. Heidegger verschärft die Reflexion auf das Wie bis zu jenem Punkt, an dem auch der Vorrang der theoretischen Einstellung, die die Husserl’sche Intentionalität bestimmt, problematisiert wird. Das Wie des Zugangs bekommt seinen letzten »Grund« nicht in einem besonderen Blick (Verstehen als »theoretisches« Einsehen) des Erkennenden, sondern im »Vollzug« des Lebens, in der Praxis der faktischen Lebenserfahrung. Anders gewendet: Das Verstehen, das vom Menschen vollzogen wird, ist kein theoretischer »Ausstieg« aus dem Leben, sondern eine Modalität eben dieses Lebens. Das Verstehen vollzieht sich als Geschehen des Lebens. Die intentionale Offenheit des Bewusstseins wird zur »Erschlossenheit« des Lebens (Daseins). Die Einstellungen (Formen des Wie) werden gelebt, und innerhalb ihres lebendigen Geschehens (der Geschichte) konstituiert sich das Was der Phänomene.

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Heidegger unterscheidet bei der phänomenologischen Analyse in seinen frühen Vorlesungen verschiedene Sinnebenen.14 Das Was des Phänomens nennt er »Gehaltssinn«. Dieses Was hängt jedoch vom Wie des Zugangs ab, und erst deshalb wird das Phänomen als etwas verstanden. Einerseits vollzieht sich jedes Verstehen in der Form eines »etwas als etwas«, andererseits aber kommt es darauf an, ein solches »als« zu finden, das dem Phänomen möglichst entspricht, sodass es sich von sich selbst aus (d. h. ursprünglich) gibt. Die Zugangsweise bestimmt, als was etwas verstanden wird. Bei dieser Zugangsweise unterscheidet Heidegger den Bezugs- und den Vollzugssinn. Der Bezugssinn beschreibt den Zugang (die Einstellung) im Hinblick auf seine Orientierung.15 Es geht um das, woraufhin etwas erschlossen wird. Wenn ein Forstwirt vor einem Baum steht, hat der Baum wahrscheinlich einen anderen Was-Gehalt als im Fall eines Dichters, der über diesen Baum nachsinnt. In den beiden Fällen handelt es sich um einen jeweils anderen Bezugssinn, der den Gehaltssinn des Phänomens bestimmt. Nach Heidegger gründet aber jeder Bezugssinn in einem faktischen Lebensvollzug.16 Der Vollzugssinn besagt, auf welche Weise (wie) sich ein Phänomen im faktischen Leben vollzieht; wie es er- und gelebt wird. Der Sinn des Baumes konstituiert sich in gelebter Erfahrung – der Mensch »lebt« (transitiv) seine Phänomene bzw. die Bedeutungen, die seine Welt ausmachen. Der Rekurs auf Heideggers frühe phänomenologische Analysen kann besonders lehrreich sein, weil hier die Begrifflichkeit von Sein und Seiendem, die in L¦vinas’ Denken und in seiner Kritik an Heidegger eine wichtige Rolle spielt, kaum vorkommt. Zugleich verbirgt sich in diesem frühen Ansatz die spätere Entwicklung von Heideggers Denken. Vereinfacht könnte man sagen, dass sich in der ontologischen Differenz zwischen dem Seienden und dem Sein das Verhältnis zwischen dem Was (Phänomen) und dem Wie (Zugang) widerspiegelt. Das, was ein Seiendes ist, hängt davon ab, in welchem Seinsverständnis ihm der Mensch (das Dasein) begegnet bzw. innerhalb welches vorangehenden Horizonts das Seiende »entdeckt« wird. Das Sein, im Unterschied zum Seienden, befindet sich nicht auf der Seite der »Sache«, sondern auf der Seite des Menschen (des Daseins) bzw. seines Verstehens. In der Tat gelangt Heidegger zur Seinsfrage durch die Suche nach dem letzten phänomenologischen Horizont, innerhalb dessen sich eine Grundverständlichkeit bzw. ein »Grundsinn« eröffnet, der jedes nachfolgende Verstehen mitbestimmen wird. Das Seinsverständnis beeinflusst auf einer fundamentalen Ebene den »Gehaltssinn« jedes Seienden. Was aber ein 14 Vgl. Heidegger: Grundprobleme der Phänomenologie, 261, ders.: Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks, 34, ders.: Phänomenologie des religiösen Lebens, 63. 15 Heidegger : Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks, 60: »Diese Zugangsbeziehung nennen wir Bezug. Die Beziehung ist etwas Sinnmäßiges, Sinnhaftes; wir sprechen deshalb vom Bezugssinn.« [Herv. i. T.] 16 Ebd., 62: »Der Bezug wird gehabt im Vollzug.«

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Seinsverständnis ausmacht, was als sein »Bezugssinn« beschrieben werden kann, betrifft die Frage nach dem »Wesen« des Seins. Als Beispiel einer solchen Analyse könnte die Beschreibung eines technomorphen Seinsverständnisses (des Gestells) dienen, die nach Heidegger die heutige Epoche beherrscht. Der tiefste Horizont des Seinsverständnisses ist aber der »Vollzugssinn«; es ist das Geschehen des Seins im Dasein, worin Vollzug (Zeitigung, Geschichte) und Verstehen in eins fallen. Das Verstehen bedeutet letztendlich das Leben: Das Wie besagt, wie ich mich selbst, die anderen und die Welt verstehe und dem entsprechend lebe. Vor diesem Hintergrund erweist sich L¦vinas’ Kritik am Sein nicht nur als unzureichend, sondern als ungerechtfertigt. Statt das Sein im Zusammenhang mit der Frage nach dem Wie in seinem Möglichkeitscharakter zu erschließen, reduziert es L¦vinas auf die Wirklichkeit eines einzigen Wie: Sein besagt die Sorge, das Interesse um sich selbst, um (weiter) zu sein. Der Bezugssinn, das »Wesen« des Seins, wird als Selbsterhaltung interpretiert. Der Seinsvollzug wird zum egoistischen Beharren auf das eigene Sein. Da das Sein wesentlich mit dem Verstehen zusammenhängt (und weitgehend damit identifiziert werden kann), kommt es bei L¦vinas zu einer entsprechenden Fixierung des Verstehens. Statt Verstehen als Offenheit und Möglichkeit zu betrachten, wird es als Verschließung vor dem Phänomen, als ein Hindernis für das Offenbarwerden des Phänomens interpretiert. Für L¦vinas ist jede Zugangsweise problematisch, weil sie die (transzendentalen) Bedingungen der Erscheinung eines Phänomens vorgibt. Anstatt das Phänomen zu ent-decken, verdeckt sie es. Der Horizont des Verstehens wird nicht als Offenheit aufgefasst, die einer Sache überhaupt erst Raum gewährt und sie dadurch sein lässt, sondern als Gefängnis, das eine Sache vereinnahmt und dem eigenen Interesse unterordnet. In der bisherigen Rede über das Wie des Zugangs geht es im Grunde genommen um die Frage nach dem Horizont – einem Schlüsselwort der Phänomenologie. Die Phänomenologie leitet von der Frage nach dem Phänomen über zur Frage nach denjenigen Horizonten, innerhalb derer sich ein Phänomen konstituiert. L¦vinas selbst scheint eine doppeldeutige Einstellung zum Horizont zu haben: Einerseits spricht er vom Verdienst der Phänomenologie, bislang unberücksichtigte Horizonte zu thematisieren, die für die Konstitution eines Phänomens bzw. seines Sinnes verantwortlich sind (wobei sich seine eigenen Ausführungen als Erschließung solcher Horizonte des »Phänomens« des Anderen verstehen), andererseits aber verlangt er, über den Horizont hinauszugehen. Für L¦vinas ist es die »Erscheinung« des Anderen, die jeden Horizont durchbricht. Der Andere stellt somit die gesamte Phänomenologie in Frage.

Anderssein. Ontologische Überlegungen zu Lévinas’ Ethik

III.

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Die Begegnung des Anderen und die Frage nach dem Wie

Was bedeutet es aber, wenn der Andere von jedem Horizont losgelöst wird und sich kath’auto offenbart? Horizont besagt Verstehen und somit auch Sein. Jenseits des Horizonts würde jenseits des Verstehens und jenseits des Seins bedeuten. Wenn L¦vinas ein »anders als Sein« verlangt, so muss er auch ein »anders als Verstehen« in Kauf nehmen. Es darf sich nicht um ein »anders verstehen« handeln, sondern erfordert ein »anders als Verstehen«. Was kann das aber heißen? Da L¦vinas in seiner Terminologie das Sein auf subtile Weise objektiviert und ein Jenseits des Seins verlangt, klingt diese paradoxe Forderung nicht befremdlich und in L¦vinas’ Kontext verständlich. Schwieriger wird es aber mit der Forderung, die sich daraus unmittelbar ableitet, nämlich von einem Jenseits des Verstehens zu sprechen. Ein Nicht-Verstehen würde das Ende der »Erschlossenheit« des menschlichen Daseins bedeuten. Wenn ich verstehe, dass (oder was) ich nicht verstehe, ist das kein Nicht-Verstehen im obigen Sinne, sondern eine Modalität (und somit eine Möglichkeit) des Verstehens. Dieses verstehende Nicht-Verstehen könnte man mit Sokrates sogar zur Grunderfahrung der philosophischen Existenz machen. Ein »anders als Verstehen« müsste aber jedes Verstehen ausschließen. Kann auch hier von einem Dritten (zwischen dem Verstehen und dem radikalen Nicht-Verstehen) gesprochen werden, analog zu einem Dritten zwischen dem Sein und dem Nicht-Sein, wie L¦vinas es vorschlägt?17 Doch warum muss man um jeden Preis einen Ausstieg aus dem Verstehen (oder aus dem Sein) suchen, wenn das Verstehen (Sein) eine Möglichkeit ist, die ähnlich wie ein leerer Raum für alles offen ist? Es kommt vielmehr darauf an, ein anderes, angemesseneres Verstehen, ein »anders verstehen«, zu suchen. Parallel dazu besteht auch keine Notwendigkeit, das Sein zu »transzendieren«, vielmehr ist ein bestimmtes Seinsverständnis zu überwinden, das für die Artikulation eines Phänomens hinderlich ist. Es geht um die Suche eines AndersSeins. Die Frage nach dem anderen Menschen führt in der phänomenologischen Perspektive zur Frage nach dem angemessenen Zugang, wie dem anderen Menschen begegnet wird. Das Ziel des Verstehens ist der Mitmensch, aber die Beantwortung dieser Frage führt zurück zum Wie unseres Zugangs zum anderen Menschen. In welcher Einstellung wird der Andere angemessen verstanden? In welcher Zugangsweise kann der Andere sich so geben, wie er von sich aus ist – also sich ursprünglich geben? Wenn in der Phänomenologie nach der ursprünglichen Gegebenheit gefragt wird, korreliert diese Frage mit der Selbstbesinnung des Erkennenden, wie dem Anspruch des Phänomens adäquat entsprochen werden kann. So wird etwa in einer theoretischen Einstellung, die 17 Vgl. Lévinas: Die Spur des Anderen, 255.

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Heidegger in seinen frühen phänomenologischen Analysen mit Kritik belegt, jedes Phänomen als Objekt, als Gegenstand verstanden. Wenn ich in einer solchen objektivierenden Weise auf den Anderen zugehe, verfehle ich ihn in meinem Verstehen. Mit seiner »Phänomenologie« des Antlitzes verlangt L¦vinas eine besondere Zugangsweise zum Anderen: Statt einer allgemeinen Perspektive des Zusammen- oder Mitseins fordert er einen Zugang »von Angesicht zu Angesicht«, nicht mit dem Anderen, sondern vor dem Anderen, vor seinem Antlitz, zu stehen. Erst in dieser (Ein-)Stellung kann ich vom Anderen ursprünglich angesprochen werden, kann ich seinen ethischen Anspruch wahrnehmen und vernehmen. Aber auch in dieser Situation besteht offensichtlich keine Notwendigkeit, dass mich der Andere auf eine solche Weise anspricht, wie L¦vinas sie beschreibt. Um den Anderen als Anderen im Sinne von L¦vinas zu erfahren, wird eine entsprechende Zugangsweise verlangt. Sie unterscheidet sich von der alltäglichen Erfahrung, in der andere Menschen durch ihre Rollen und Funktionen im Bedeutungszusammenhang der Welt erfahren werden. Dieses durchschnittliche Verständnis verdeckt in der Tat die »Andersheit« der Mitmenschen, wie Heideggers Analysen des alltäglichen Mitseins überzeugend gezeigt haben.18 Es bedarf eines »Transzendierens« dieser Erfahrung und einer veränderten »Sicht« auf andere Menschen.19 Diese Sicht muss über das sinnliche Bild (Gesicht) des Anderen hinausgehen, damit man sich von seinem ethischen Anspruch ansprechen lassen kann. Die Offenbarung, die Epiphanie des Anderen, die nach L¦vinas jeden Horizont übersteigt, kann daher ebenso wenig ohne eine entsprechende Einstellung des Subjekts erfolgen. Der Ruf, der vom Anderen kommt, muss verstanden werden. Die Andersheit (Transzendenz) des Anderen muss dergestalt sein, dass sie verstanden werden kann. Wenn mir der Andere völlig fremd wäre, könnte ich keinen Ruf vernehmen. In völliger Abwesenheit des Verstehens kann mich die Offenbarung einer fremden Andersheit nur verwirren. L¦vinas spricht hingegen davon, dass mich der Andere in seiner ethischen Offenbarung so anspricht, dass er mir gebietet und mich unterweist. Dazu aber muss ich ihn verstehen können. Dieses Können ist zugleich der Horizont, innerhalb dessen ich dem (Ruf des) Anderen folgen kann. In der Terminologie des frühen Heidegger könnten wir sagen, der »Gehaltssinn« des Anderen besteht einerseits in der »Weigerung, enthalten zu sein« (ich verstehe, dass ich den Anderen nie erschöpfend verstehen kann), andererseits aber in einem besonderen ethischen Anspruch (ich erfahre mich als Adressat 18 Heidegger : Sein und Zeit, 118: »[D]ie Anderen sind vielmehr die, von denen man selbst sich zumeist nicht unterscheidet«. 19 Im Vorwort zur deutschen Übersetzung von Totalität und Unendlichkeit, 23, schreibt Lévinas: »[D]ie Ethik ist eine Optik. Aber sie ist ein bildloses ›Sehen‹ […]; sie ist eine Beziehung oder eine Intentionalität, die ganz anderer Art ist […].«

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einer ethischen Forderung). Dieser Gehaltssinn kann sich nur in einer bestimmten Einstellung von mir konstituieren, die von einem entsprechenden Bezugssinn gekennzeichnet ist. Ich verstehe den Anderen im Bezug auf seine ethische »Transzendenz« – ich verstehe ihn als denjenigen, der radikal anders ist, der mir gebietet, mich unterweist, mich zur Verantwortung ruft. In dieser Einstellung kommt es zu einer eigentümlichen Umkehrung: Der Andere erhält eine Priorität vor mir ; ich verstehe mich im Ausgang von ihm. Ich sehe, dass ich zuerst von ihm angesehen werde. In dieser Sicht bin ich fähig einzusehen, dass ich vom Anderen immer schon in Anspruch genommen wurde. L¦vinas spricht von einer Umkehrung der Intentionalität, aber sie erfolgt innerhalb meiner intentionalen Offenheit. Den Anderen im Bezug auf seine ethische Erhabenheit zu verstehen, erfordert, dass ich die Priorität des Anderen anerkenne und ein entsprechendes Selbstverständnis erlange. Die Verlagerung der Frage nach dem Anderen von einer Außenperspektive (Antlitz) in die Innerlichkeit des Subjekts (Der-Andere-in-mir), die von L¦vinas im zweiten Hauptwerk (Jenseits des Seins) vollzogen wurde, erweist sich als methodische Notwendigkeit, die vom Was des »Gehalts« auf das Wie des Subjekts verweist. Da die ganze Wirklichkeit im Bezug auf die spezifisch ethische Transzendenz des Anderen gedeutet bzw. verstanden wird, verbirgt sich in diesem Bezugssinn ein allumfassender Horizont, ja ein neues Seinsverständnis, auch wenn es als ein Sich-vom-Sein-Lösen beschrieben wird. Der Bezugssinn verweist seinerseits auf einen Vollzugssinn. Der Bezugssinn konstituiert sich im gelebten Vollzug. Erst wenn ich meine Antwort auf den ethischen Anspruch des Anderen lebe (vollziehe), wenn das »Für-den-Anderen« in meinem faktischen Leben geschieht, ist der Andere keine bloß theoretische Konstruktion mehr, sondern beginnt, als Anderer wirklich zu »sein«.20 Diesen Bezugs- und Vollzugssinn, worin der Andere in seiner ethischen Erhabenheit erscheinen und mich ansprechen kann, möchte ich als ethische Einstellung (ethisches »Wie«) bezeichnen. Erst in dieser ethischen Einstellung wird das Gesicht zum Antlitz, wird der Andere zum Ersten, werde ich vom Sprechenden und Fragenden zum Angesprochenen und Verantwortlichen. Wie jede Einstellung stellt auch sie eine Möglichkeit des Subjekts (des Daseins) dar. L¦vinas glaubt jedoch, dass ihr eine Ursprünglichkeit gebührt. Die Frage nach der Wahrheit deckt sich phänomenologisch mit der Frage nach der ursprünglichen Gegebenheit. In dieser ethischen Einstellung ist nicht nur der Andere ursprünglich gegeben, sondern ich erfahre darin meine »ursprüngliche« Berufung, mein eigentliches Sein. Die Einstellung besagt nämlich Vollzug; das ethische Wie ist eine Weise zu sein. Solange das Sein als egoistisches Beharren auf 20 Mit Wucherer-Huldenfeld: Das ursprünglich Ethische, 234, könnten wir auch von (m)einem Anwesendsein sprechen, das sich als »umwillen [des Selbst-seins] Anderer« versteht und vollzieht.

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das eigene Bestehen interpretiert wird, bleibt diese ethische Seinsweise außerhalb des Seins. Wenn aber das Sein ohne Vorurteile in seiner Offenheit angenommen wird, kann die ethische Erfahrung die Frage nach dem Sein neu entfachen. Das ethische Anderssein behält die Paradoxa bei, die von L¦vinas beschrieben wurden. Die Posteriorität des Subjekts, das sich als Antwort und Verantwortung versteht, erlaubt kein Verständnis des Seins im Sinne des Stehens und Bestehens (substantia, ousia). Das ethische Subjekt (be)steht und ruht nicht in sich selbst, sondern »ist« vom Anderen her und auf den Anderen hin. Es »ist« im Transzendieren: In der Verantwortung geht es auf den Anderen zu, »vergeht« für den Anderen, aber gerade dadurch kommt es zum »eigentlichen« Sein. Dieses Anderssein erfordert auch ein neues Verständnis von Sinn und Logik. L¦vinas kritisiert die ausschließliche Verbindung des Sinnes (der Sinnhaftigkeit) mit dem phänomenologisch aufgefassten Horizont, weil dieser Terminus einen »stehenden« Raum konnotiert, und spricht von einem Bruch des Horizontes, von einer anderen Sinnhaftigkeit (signifiance)21, die gerade dieses Brechen (oder Transzendieren) als »Geschehen« des Sinnes darstellt. Der-Eine-für-den-Anderen (l’un-pour-l’autre) verkörpert ein Sinngeschehen, das einem »stabilen« Sein fremd ist. Wenn wir aber auch hier den Horizont unvoreingenommen verstehen, kann »Der-Eine-für-den-Anderen« als ein dem ethischen Seinsvollzug entsprechender Sinnhorizont betrachtet werden. L¦vinas würde diesem Versuch der Vermittlung zwischen Ethik und Ontologie nicht zustimmen können. Der absolute Bruch, der die Transzendenz des Anderen »rein« hält und sie durch keine Seinslogik kompromittiert, bildet die Grundlage seiner Ethik. Er glaubt, nur so wahre Unendlichkeit zu bewahren, die in einer unendlichen Verantwortung besteht und dem Menschen seine eigentliche Transzendenz und Würde verleiht. Aber ein völliger Bruch mit den ontologischen Grundlagen läuft Gefahr, als naiv empfunden zu werden. Gerade weil die Ethik, wie L¦vinas sie deutet, keine bloß erbauliche Rede sein will, muss sie zeigen können, wie sie im Leben, im »Sein« geschieht. Ihre unendliche Berufung muss sie ins Sein übertragen können. Die ethische Spannung, die vom Verhältnis zur Transzendenz herrührt, bleibt im ethischen Anderssein damit nicht nur erhalten, sondern wird gelebt und bezeugt.

21 Lévinas: Jenseits des Seins, 122.

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Quellen Lévinas, Emmanuel: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg u. a. (Alber) 1992. Ders.: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg u. a. (Alber) 1983. Ders.: Vom Sein zum Seienden, Freiburg u. a. (Alber) 1997. Ders.: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über Exteriorität, Freiburg u. a. (Alber) 1987. Ders.: Die Zeit und der Andere, Hamburg (Meiner) 1984.

Sonstige Literatur Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen (Niemeyer) 1986. Ders.: Grundprobleme der Phänomenologie (1919 / 20), GA 58, Frankfurt / M. (Klostermann) 1993. Ders.: Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks, GA 59, Frankfurt / M. (Klostermann) 1993. Ders.: Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, Frankfurt / M. (Klostermann) 1995. Wucherer-Huldenfeld, Augustinus Karl: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein. Ausgewählte philosophische Studien II: Atheismusforschung, Ontologie, philosophische Theologie, Religionsphilosophie, Wien u. a. (Böhlau) 1997. Ders.: Das ursprünglich Ethische im Ansatz von Heideggers »Sein und Zeit«, in: Esterbauer, Reinhold (Hg.): Orte des Schönen. Phänomenologische Annäherungen. Für Günther Pöltner zum 60. Geburtstag, Würzburg (Königshausen & Neumann) 2003, 217 – 237.

Hans Schelkshorn

Eine Moral der Befreiung? Skizzen zu einem Projekt Jean-Paul Sartres

In Sartres Werk findet sich über alle Brüche hinweg eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit der Frage der Moral. Bereits im frühen Hauptwerk Das Sein und das Nichts (1943)1 wird in den letzten Abschnitten ein Werk über die Moral angekündigt, mit dessen Ausarbeitung Sartre zwar noch in den 1940er Jahren beginnt, das Projekt jedoch schließlich abbricht. Die Fragment gebliebenen Cahiers pour une morale2, die vermutlich in den Jahren 1947 und 1948 entstanden sind, jedoch erst 1983 posthum erschienen, stellen, wie Sartre selbst später rückblickend festhält, nur eine von mehreren Annäherungen zum Problem der Moral dar.3 Noch knapp vor seinem Tod kündigte Sartre in den Gesprächen mit Benny L¦vy noch einmal eine neue Moral, nämlich eine »Moral der Hoffnung«4, an. Die merkwürdige Tatsache, dass Sartre trotz aller Ankündigungen und vorläufigen Skizzen in keiner Phase seines Denkens eine systematische Ausarbeitung einer Moralphilosophie vorlegt, wird von zahlreichen Interpreten auf die Mängel der Intersubjektivitätsphilosophie in Das Sein und das Nichts zurückgeführt. Darin weist Sartre gegenüber Husserls These der analogischen Apperzeption5 die ursprüngliche Bezogenheit des Einzelnen zum Anderen auf – »der Andere erscheint mir nicht als Sein, das zunächst konstituiert ist und mir dann begegnet, sondern als ein Sein, das in einem ursprünglichen Seinsbezug zu mir auftaucht und dessen Unbezweifelbarkeit und faktische Notwendigkeit die meines eigenen Bewusstseins sind«.6 In der phänomenologischen Entfaltung der unableitbaren Präsenz des Anderen, die in dem berühmten Kapitel »Der Blick« vorgestellt wird, zeichnet Sartre jedoch ein äußerst düsteres Bild menschlicher 1 Sartre: Das Sein und das Nichts, 1068 – 1072 (fortan zitiert als SN). 2 Sartre: Entwürfe für eine Moralphilosophie (fortan zitiert als EM). 3 Vgl. dazu Sartre: Ein Film, 64 f. Einen ersten Überblick über die unterschiedlichen Ansätze einer Ethik bei Sartre geben Hunyadi: Sartres Entwürfe und Simont: Sartrean Ethics. 4 Sartre: Anarchie und Moral, 368 f. Vgl. dazu auch Sartre: Brüderlichkeit und Gewalt, 7 ff. 5 Vgl. dazu Husserl: Cartesianische Meditationen, § 50, 138 – 141; SN, 425 – 429. 6 SN, 494.

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Beziehungen. Da das Erblicktwerden primär als objektivierende Deutung durch den Anderen beschrieben wird, die eine Selbstbehauptung des Für-sich-Seins provoziert, in der nun umgekehrt der Andere vergegenständlicht wird, ist – so Sartres bekannte These – der »Konflikt […] der ursprüngliche Sinn des FürAndere-seins«.7 In Sartres These eines ursprünglich konfliktiven Verhältnisses zum Anderen, die in den Analysen konkreter interpersonaler Beziehungen von der erotischen Liebe über den Sadismus bis hin zum Hass entfaltet wird, treten nach Jürgen Habermas die Aporien bewusstseinsphilosophischer Intersubjektivitätstheorien unübersehbar zutage. »Sobald nämlich das Bewußtsein überhaupt in den Pluralismus einzelner weltstiftender Monaden zerfällt, stellt sich das Problem, wie aus deren Sicht jeweils eine intersubjektive Welt konstituiert werden kann, in der die eine Subjektivität der anderen nicht nur als objektivierende Gegenmacht, sondern in ihrer originären, weltentwerfenden Spontaneität begegnen könnte. Dieses Problem der Intersubjektivität wird jedoch unter den angenommenen Prämissen eines Daseins, das sich nur in Einsamkeit authentisch auf seine Möglichkeiten hin entwerfen kann, unlösbar.«8

Einen Ausweg aus den Sackgassen der Bewusstseinsphilosophie bzw. der visuellen Theorie konfliktiver Intersubjektivität eröffnet nach Habermas allein das Paradigma der Verständigung, deren sprachphilosophische Prämissen zugleich die Grundlagen für eine rationale Begründung der Ethik enthalten. Nach Axel Honneth und Thomas Flynn unterbietet Sartres »Kampf der Blicke« die Hegel’sche Theorie der Anerkennung, wie sie in der Dialektik von Herr und Knecht eröffnet wird, und fällt damit auf das Niveau der Hobbes’schen Konflikttheorie zurück.9 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass auch Sartres spätere Ansätze zu einer Ethik zumeist äußerst kritisch bewertet werden. Die Annäherungen an Kants Ethik im berühmten Vortrag Der Existentialismus ist ein Humanismus bleiben nach Waldenfels »fremde Versatzstücke«, da sie »an der phänomenologisch-ontologischen Basis zunächst nicht rütteln«.10 Nach Peter Kampits sind die Skizzen zu einer gelingenden Beziehung zum Anderen in den

7 SN, 638. 8 Habermas: Nachmetaphysisches Denken, 50. 9 Honneth: Kampf um Anerkennung, 81; Flynn: Konkrete Beziehungen, 192. Nach Flynn ist »der soziale Pessimismus« von SN »nur zu überwinden, wenn die scheinbar zeitlose Analyse in ihren historischen Kontext eingebunden wird«, genauer in den Kontext »einer de facto ausbeuterischen und unterdrückerischen Gesellschaft« (ebd., 178). Nach Wucherer-Huldenfeld führt Sartre hingegen die Hegel’sche Dialektik von »Herrschaft und Knechtschaft« weiter. Vgl. dazu Wucherer-Huldenfeld: Ursprünglichkeit und Weisen des Miteinanderseins, 10 – 13. 10 Waldenfels: Phänomenologie in Frankreich, 103.

Eine Moral der Befreiung? Skizzen zu einem Projekt Jean-Paul Sartres

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Cahiers pour une morale und im Humanismus-Vortrag mit dem »ontologischen Grundgerüst des Denkens Sartres […] nicht vereinbar«.11 Auch wenn die unterschiedlichen Versuche über die Moral letztlich auch Sartre selbst nicht überzeugen konnten, so eröffnen sie, wie im Folgenden durch einige Skizzen zu seinem Projekt einer »Moral der Befreiung« gezeigt werden soll, dennoch wertvolle Perspektiven, und zwar nicht nur für die Sartre-Exegese, sondern auch für die aktuelle Moralphilosophie.

I.

Auswege aus der konfliktiven Intersubjektivitätstheorie – Appell und Engagement

Die konfliktive Intersubjektivitätstheorie schließt, wie Sartre am Ende des Kapitels über den Hass in Das Sein und das Nichts andeutet, »die Möglichkeit einer Moral der Befreiung und des Heils« keineswegs von vornherein aus. Allerdings könne eine solche Moral nur »am Ende einer radikalen Konversion erreicht werden, von der wir hier nicht sprechen können«.12 Sartre führt daher die am Konflikt orientierte Intersubjektivitätstheorie von vornherein als eine zu überwindende Konzeption ein.13 Allerdings bleiben auch in der angesprochenen Konversion, zu der sich Sartre erst in den Cahiers pour une morale näher äußert, zentrale Aspekte des Freiheitsbegriffs von Das Sein und das Nichts erhalten. Der Begriff der Freiheit, der einer »Moral der Befreiung« zugrunde liegt, kann nach Sartre nicht von einem souveränen Subjekt bzw. der Durchsichtigkeit eines transzendentalen Ego her gedacht werden. Denn der Mensch ist vielmehr in einer dreifachen Weise mit der Erfahrung unüberwindlicher Fremdheit konfrontiert. Erstens ist das Für-sich-Sein in die Erfahrung der undurchdringlichen Materialität und Massivität der Natur eingelassen. Menschliche Freiheit konstituiert sich in der Negation des An-sich-Seins, das der vollständigen Aufhebung in das Bewusstsein widersteht. Zweitens stößt der Mensch in der Selbstreflexion, wie Sartre bereits in Die Transzendenz des Ego aufweist, auf ein gedeutetes Ich, das wie äußere Naturdinge Objekt unterschiedlicher Auslegungen ist. Dem Menschen ist daher nicht nur eine unmittelbare Einheit mit der Natur, sondern auch eine unmittelbare Einheit zwischen Ich und Bewusstsein verwehrt.14 Die Erfahrung des Fremden verschärft sich schließlich in der Begegnung 11 Kampits: Jean Paul Sartre, 81. 12 SN, 719, Anm. 13 Selbst wenn man zu dem Ergebnis kommt, dass Sartre die angestrebte Überwindung der konfliktiven Intersubjektivitätstheorie nicht gelungen ist, scheint es mir interpretatorisch doch unangemessen zu sein, seine Ansätze für eine Ethik von vornherein im Licht der Analysen von Das Sein und das Nichts zu disqualifizieren. 14 Vgl. Sartre: Die Transzendenz des Ego. Siehe dazu auch SN, 764: »Ich bin verurteilt, für

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mit dem Anderen. Das Phänomen des Blicks enthüllt nach Sartre einerseits die unhintergehbare Gegenwart des Anderen in meinem Selbstverhältnis – ich kann mich nur durch und mit dem Anderen verstehen –, andererseits die Uneinholbarkeit des Weltbezugs des Anderen. Wie der Andere sich selbst, die Welt und mich beurteilt, ist für mich nicht antizipierbar. Das »Erscheinen eines Menschen als Objekt im Feld meiner Erfahrung ist«, wie Sartre gegenüber Husserl betont, »nicht das, was mich lehrt, daß es Menschen gibt«; vielmehr zeigt mir der Blick eines konkreten Menschen eine Grundstruktur meines Menschseins auf, nämlich »meine fundamentale Anwesenheit bei allen Menschen« bzw. »die Anwesenheit aller Menschen bei mir selbst«.15 Diese Erfahrung realisiert man nach Sartre »konkret anläßlich des Auftauchens eines Objekts in meinem Universum, wenn dieses Objekt mit anzeigt, daß ich wahrscheinlich jetzt als differenziertes Dieses für ein Bewußtsein Objekt bin. Die Gesamtheit des Phänomens nennen wir Blick.«16 Ab den späten 1930er Jahren geht Sartre unter dem Stichwort der »Authentizität« immer wieder der Frage nach, wie diese dreifache Ent-fremdung, in die der Mensch als freies Wesen eingelassen ist17, gelebt werden kann. In der Tagebuchnotiz vom 26. November 1939 heißt es: »Es ist sehr einfach, den Kopf zu verlieren – auch sehr einfach, stoisch zu sein. Aber in letzter Zeit spüre ich, daß es fast unmöglich ist, die Authentizität zu halten.«18 Das Thema der »Authentizität« ist daher nicht, wie Michel Foucault vermutete, ein Restbestand des metaphysischen Glaubens an eine feste menschliche Natur,19 sondern bezieht sich auf das Problem, wie der Mensch seine Freiheit qua Selbstgestaltung leben kann, ohne sich in existentielle Widersprüche zu verstricken. Aus der Analyse konstitutiver Ent-fremdungen menschlicher Freiheit ergibt sich zugleich eine wichtige Vorklärung für das Projekt einer »Moral der Befreiung«: Da der Mensch als freiheitliches Wesen sich selbst »ent-fremdet« ist, kann der Sinn von »Befreiung« nicht einfach in der Überwindung jedweder Entfremdung bestehen. Die Idee der Befreiung bezieht sich vielmehr auf Entfremdungen der ursprünglichen

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immer jenseits meines Wesens zu existieren, jenseits der Antriebe und Motive meiner Handlung: ich bin verurteilt, frei zu sein.« SN, 502. SN, 503 f. [Herv. i. T.]. Vgl. dazu SN 904 f., wo Sartre die dreifache Entfremdung als ein »wesentliches Merkmal jeder Situation« beschreibt. Neben dem »inneren Riss« im Selbstverhältnis und der Erfahrung des »Gegebenen als eines rohen Widerstandes« rekurriert Sartre hier vor allem auf die Entfremdung durch die Gegenwart des Anderen; »aber als Freiheit angesichts der anderen zur Welt kommen, heißt entfremdbar zur Welt kommen […]. Dieser Entfremdung können wir nicht entgehen.« Sartre: Tagebücher, 78. Foucault: Zur Genealogie der Ethik, 274.

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»Ent-fremdung« des Menschen, denn »die Freiheit zerstört eine Form der Entfremdung durch eine andere«.20

1.

Befreiung von der nutzlosen Begierde, Gott zu sein

In Das Sein und das Nichts schildert Sartre fast ausschließlich Seinsweisen, in denen der Mensch seiner Freiheit qua Entzogenheit zu entfliehen versucht. Die subtilen Strategien der Flucht vor dem freiheitlichen bzw. schöpferischen Selbstverhältnis zeichnet Sartre in den Studien über die mauvaise foi bzw. bonne foi nach, mit den bekannten Beispielen des Flirts einer Frau bzw. eines Kellners, der sich mit seiner Rolle überidentifiziert.21 Doch das Verständnis von Freiheit als schöpferischer Selbstbestimmung und das Problem der Flucht vor der eigenen Freiheit steht, wie Sartre erst in den Cahiers in aller Deutlichkeit herausstellt, in einem geschichtlichen Kontext, da die Erfahrung der Unbestimmtheit und Selbstentzogenheit letztlich als eine Folge der Infragestellung religiöser Traditionen, d. h. des »Todes Gottes« (Nietzsche) begriffen werden muss. In einer Gesellschaft, in der Religion noch nicht in den Sog kritischer Infragestellung geraten ist, war die menschliche Freiheit normativ auf ein moralisches bzw. religiöses Sein fixiert. Am Beginn der Cahiers pour une morale unterscheidet Sartre drei Phasen in der geschichtlichen Entwicklung von Moral. »Solange man an Gott glaubt, steht es einem frei, das GUTE zu tun, UM moralisch zu sein. Die Sittlichkeit wird zu einem bestimmten ontologischen und sogar metaphysischen Seinsmodus, den wir erreichen müssen […]. Daraus ergibt sich, was ich einen ontologischen Individualismus des Christen nennen möchte […]. Doch wenn Gott stirbt, ist der Heilige nur noch ein Egoist […]. In diesem Moment ist die Maxime ›das Sittliche tun, um moralisch zu sein‹ vergiftet.«22

Auch die Kant’sche Ethik verfehlt nach Sartre die Brisanz des Todes Gottes. »Das Gleiche gilt für ›das Sittliche tun, um das Sittliche zu tun‹.«23 Der Imperativ, das Gesetz um des Gesetzes willen zu achten, zehrt nach Sartre noch von der Aufhebung der Freiheit im religiösen Sein. Nach dem Tod Gottes muss sich die Moral »auf ein Ziel hin überschreiten, das sie nicht selbst ist. Dem Durstigen zu trinken geben nicht, um zu trinken zu geben, noch um gut zu sein, sondern um den Durst zu beseitigen.« Kurz: Die Sittlichkeit »muss Wahl der Welt sein, nicht Wahl ihrer selbst«.24 20 21 22 23 24

EM, 817. Vgl. dazu SN, Kapitel II: Die Unaufrichtigkeit (La mauvaise foi), 119 – 160. EM, 27 [Herv. i. T]. Ebd. Ebd.

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Doch das fragile Freiheitsbewusstsein, das in seiner Radikalität erst mit dem Tod Gottes aufbricht, ist nach Sartre durch die Versuchung, sich durch eine Anverwandlung an das An-sich zu stabilisieren, gefährdet. Die paradoxe Selbstaufhebung menschlicher Freiheit kann sich sowohl durch eine Regression in die unhinterfragte Unmittelbarkeit religiöser Lebensformen als auch im Entwurf säkularer Existenzideale vollziehen. Aus diesem Grund kommen nach Sartre ein dogmatischer Marxist und ein dogmatischer Christ trotz aller ideologischen Differenzen in dem Versuch überein, ihre Freiheit jeweils in einer Idee, einem Sein, erstarren zu lassen; »so gebe ich mir, wenn ich in die Idee schlüpfe, einen Exterioritätspanzer, ich werde ein Kommunist, ein Idealist. Was mich in Versuchung bringt, ist, ein Sozialist zu sein, das heißt, als Exteriorität zu erstarren, während ich die innere Rechtfertigung habe, dass ich den Sozialismus zu leben versuche. An-sich-Für-sich. Von diesem Moment an besitze ich die anerkannten Züge des Sozialismus, den ich tastend leben oder neu erfinden sollte, als hexis.«25 Dieselbe Unaufrichtigkeit diagnostiziert Sartre bei Christen, die sich in ihrem Glauben verbarrikadieren, um die Unruhe ihrer Freiheit stillzustellen. In diesem Sinne könnte man daher mit Sartre sagen: So, wie ich kein Revolutionär sein kann, so kann ich auch kein Christ sein, sondern nur in riskanten Deutungen religiöser Erfahrungen und christlicher Traditionen eine Form des Christseins erfinden und tastend zu leben versuchen. Kurz: Die Begierde, Gott, d. h. An-sich-Für-sich, zu sein, treibt den Menschen in das paradoxe Unternehmen, seine Menschlichkeit, genauer : seine konstitutive Entzogenheit, zu überwinden – eine Bewegung, die Sartre am Schluss von Das Sein und das Nichts im Rückgriff auf die christliche Theologie als Umkehrung der Menschwerdung Gottes beschreibt.26 Sartres »Moral der Befreiung« setzt zwar den Tod Gottes, nicht jedoch einen dogmatischen Atheismus voraus. Diese These scheint mit der emphatischen Proklamation eines atheistischen Existenzialismus in dem berühmten Vortrag Der Existentialismus ist ein Humanismus in Widerspruch zu stehen, in dem Sartre die Möglichkeit menschlicher Freiheit von der Negation des Schöpfergottes, der jedem Seienden, einschließlich des Menschen, ein Wesensgesetz vorschreibt, abhängig macht. Die »Moral der Befreiung« würde – was immer ihr 25 EM, 43 [Herv. i. T.]. 26 Vgl. dazu SN, 1052: »Jede menschliche Realität ist direkter Entwurf, ihr eigenes Für-sich in An-sich-Für-sich umzuwandeln, und zugleich Entwurf zur Aneignung der Welt als Totalität von An-sich-sein in der Art einer grundlegenden Qualität. Jede menschliche Realität ist eine Passion, insofern sie entwirft, zugrunde zu gehen, um das Sein zu begründen und zugleich damit das An-sich zu konstituieren, das als sein eigener Grund der Kontingenz entgeht, das ens causa sui, das die Religionen Gott nennen. So ist die Passion des Menschen die Umkehrung der Passion Christi, denn der Mensch geht als Mensch zugrunde, damit Gott geboren werde. Aber die Gottesidee ist widersprüchlich, und wir gehen umsonst zugrunde; der Mensch ist eine nutzlose Passion.«

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positiver Sinn sein mag – in jedem Fall die Befreiung von einem christlichen Schöpfergott voraussetzen. Sartres Kritik des christlichen Schöpfungsgedankens hat unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen. Josef Pieper verteidigte gegenüber Sartre eine schöpfungstheologisch fundierte essentialistische Anthropologie.27 Dies zeigt, dass Sartres These einer notwendigen Verbindung zwischen ontologischem Essentialismus und christlicher Schöpfungstheologie keineswegs ein Phantom, sondern durchaus eine lebendige christliche Denktradition im Blick hatte. Im Unterschied zu Josef Pieper hat Augustinus Wucherer-Huldenfeld28 Sartres Kritik an einem Schöpfergott im Namen eines originär christlichen Schöpfungsverständnisses zurückgewiesen. Der christliche Schöpfergott dürfe nicht, wie dies bei Sartre unhinterfragt vorausgesetzt sei, nach dem Modell des platonischen Demiurgen, d. h. eines göttlichen Handwerkers, vorgestellt werden. Schöpfung im christlichen Sinn meint nach Wucherer-Huldenfeld vielmehr »Sein lassen« bzw. »ins Dasein rufen« und – in Bezug auf den Menschen – »zur Freiheit freigeben«. Ich möchte an dieser Stelle Sartres These, dass menschliche Freiheit im Sinne radikaler Selbstkreation die Absage an einen christlichen Schöpfergott voraussetzt, durch eine geistesgeschichtliche Reflexion relativieren. Denn die historischen Wurzeln von Sartres Freiheitsverständnis reichen über den Deutschen Idealismus hinaus bis in die Anthropologie der Renaissance zurück, in der sich eine spektakuläre Erweiterung der christlichen Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen vollzieht. Als imago Dei hat der Mensch, wie Denker der Renaissance von Petrarca bis Pico della Mirandola in unterschiedlichen Akzentuierungen entfalten, nicht nur an der göttlichen Vernunft, sondern auch an der göttlichen Schöpferkraft (vis creativa) teil.29 Während sich bei Nikolaus von 27 Vgl. dazu Pieper : Kreatürlichkeit und menschliche Natur, 183: »Vielmehr sehe ich sehr wohl, daß der Begriff ›menschliche‹ Natur, der ja noch niemals endgültig hat definiert werden können, neu durchdacht werden muß. Aber ich bin auch davon überzeugt, daß dem Menschen sowohl Denaturierung wie Enthumanisierung droht, sobald die ›menschliche Natur‹ nicht mehr als etwas Erschaffenes verstanden wird, als etwas, das entworfen und ins Dasein gebracht ist von einem dem Menschen absolut überlegenen schöpferischen Geist.« Mehr noch, Pieper sieht in Sartres Denken einen »unfreiwilligen ›Gottesbeweis‹«, insofern in Das Sein und das Nichts, aber auch im Roman Der Ekel, anschaulich vorgeführt werde, dass ohne Gott die Wirklichkeit und die menschliche Existenz absurd sind. Vgl. dazu ebd., 183 f. 28 Vgl. dazu Wucherer-Huldenfeld: Phänomenologische Ontologie. Wucherer-Huldenfelds Abwehr eines Handwerkergottes ist vor allem von Heideggers Kritik an der technoiden Struktur der platonischen Ideenlehre inspiriert. 29 Vgl. dazu Bouwsma: The Renaissance Discovery of Human Creativity, 25 f.: »The possibility of human creativity was one of the more originals contributions of the Renaissance to western culture … The distinction of the Renaissance lay in the application of these verses [Gen 1,26 f.] to human creativity ; the recognition of the radical creativity of god thus pointed to the almost equally radical creativity of his human creatures.«

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Kues die schöpferische Macht des Menschen primär im Entwerfen von Begriffsund Sprachwelten, bei Manetti in kulturellen und technischen Leistungen manifestiert, bezieht Pico della Mirandola die vis creativa in radikaler Weise auf die menschliche Natur. Zwar ist die griechische Vorstellung einer festen menschlichen Natur bereits von den Kirchenvätern problematisiert worden,30 doch Pico della Mirandola beschreibt in der berühmten Oratio de hominis dignitate (1486 / 87) die schöpferische Beziehung des Menschen zu seiner Natur mit einer rhetorischen Gewalt, die auf Sartre vorauszuweisen scheint. So heißt es am Beginn der Oratio in der berühmten Rede des Schöpfers an den Menschen: »Die fest umrissene Natur der übrigen Geschöpfe entfaltet sich nur innerhalb der von mir vorgeschriebenen Gesetze. Du wirst von allen Einschränkungen frei nach deinem eigenen freien Willen, dem ich dich überlassen habe, dir selbst deine Natur bestimmen.«31 Dies bedeutet: Im Gegensatz zu Sartre, für den die menschliche Freiheit im Sinne der Selbstkreation erst nach dem Tod Gottes möglich ist, sieht Pico in der Fähigkeit des Menschen, sich selbst seine Natur zu geben, gerade den Ausdruck seiner Gottebenbildlichkeit. Trotz aller motivgeschichtlichen Parallelen32 besteht zwischen Pico und Sartre gleichwohl eine tiefe Kluft. Denn der Mensch ist zwar nach Pico Gestalter seiner Natur ; doch welche Natur sich der Mensch geben soll, ist für Pico durch den neuplatonischen Stufenkosmos von vornherein festgelegt. Das Ziel des Menschen ist bei Pico die Erhebung zu einer engelhaften Natur, d. h. einer von leiblichen Irritationen möglichst freien Vernünftigkeit, und schließlich die gnadenhafte Vereinigung mit Gott. Im neuzeitlichen Denken sind jedoch universalteleologische Ordnungsstrukturen aus unterschiedlichen Gründen fraglich geworden. Ohne Halt in einer normativ gehaltvollen Seinshierarchie geraten die traditionellen Konzepte eines guten Lebens, seien sie antiker oder christlicher Provenienz, in den Sog einer kritischen Prüfung, wie bereits am Ende des 30 Vgl. dazu Kobusch: Entdeckung der Person. 31 Pico della Mirandola: Oratio de hominis dignitate, 9. Zu einer systematischen und geistesgeschichtlichen Deutung von Picos Freiheitsverständnis vgl. Schelkshorn: Entgrenzungen, 163 – 205. 32 Die Parallelen zwischen Sartre und Pico sind auf einer verbalen Ebene tatsächlich frappierend. Vgl. etwa Sartre: Zum Existentialismus, 94: »Viele glauben, erst komme das Wesen und dann die Existenz: daß zum Beispiel die Erbsen entsprechend der Idee von Erbsen wüchsen und rund würden und daß Gurken deshalb Gurken seien, weil sie am Wesen der Gurke teilhaben. Diese Idee entspringt dem religiösen Denken: Wer ein Haus bauen will, muß ja tatsächlich genau wissen, welchen Gegenstand er schaffen will: das Wesen geht hier also der Existenz voraus; und für alle, die glauben, daß Gott die Menschen schuf, muß er es entsprechend der Idee getan haben, die er von ihnen hatte. Aber selbst jene, die nicht glauben, haben diese traditionelle Auffassung behalten […] und das ganze 18. Jahrhundert hat gedacht, daß es ein allen Menschen gemeinsames Wesen gäbe, das man Menschennatur nennt. Der Existentialismus dagegen hält daran fest, daß beim Menschen – und nur beim Menschen – die Existenz dem Wesen vorausgeht.«

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16. Jahrhunderts Montaigne in den Essais eindrücklich vorführt. Die selbstschöpferische Freiheit des Menschen vollzieht sich daher in suchenden und zugleich experimentierenden Entwürfen dessen, was Menschsein bedeuten könnte. Als Zwischenergebnis kann somit festgehalten werden: Aus geistesgeschichtlicher Perspektive ist die Idee eines schöpferischen Selbstverhältnisses nicht aus einer atheistischen Bewegung, sondern im Kontext des christlichen Neuplatonismus in der Philosophie der Renaissance hervorgegangen. Da sich der Existenzialismus primär gegen die Vorstellung eines Handwerkergottes richtet, setzt die »Moral der Befreiung«, wie Sartre selbst mehrmals betont, nicht notwendigerweise einen Atheismus voraus. »Der Existentialismus ist nicht so sehr ein Atheismus in dem Sinn, daß er sich in dem Beweis erschöpfte, Gott existiere nicht. Er erklärt vielmehr : selbst wenn Gott existierte, würde das nichts ändern«33, da der Mensch der Verantwortung, sich selbst im Lichte einer religiösen Erfahrung zu deuten, nicht entrinnen kann. Ob die experimentelle Suche nach dem, was Menschsein bedeutet, in eine atheistische oder religiöse Existenz mündet, diese Frage kann nach Sartre nicht bloß mit theoretischen Argumenten, sondern letztlich nur durch den Einsatz eines ganzen Lebens »entschieden« werden. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß heute ein einziger Gläubiger durch die Argumente des heiligen Bonaventura oder des heiligen Anselm zum Christentum geführt worden wäre; aber ich denke ebenso wenig, daß ein einziger Ungläubiger durch die entgegengesetzten Argumente vom Glauben abgebracht worden wäre. Das Gottesproblem ist ein Menschenproblem, das die Beziehungen der Menschen untereinander betrifft, es ist ein totales Problem, dem jeder durch sein ganzes Leben eine Lösung gibt, und die Lösung, die er ihm gibt, spiegelt die Haltung, die man den anderen Menschen und sich selbst gegenüber gewählt hat.«34

Aus diesem Grund scheint mir auch Sartres späte Hinwendung zu jüdischen Quellen35 keine Absage an seinen Atheismus zu sein, da der Atheismus auch zuvor keine notwendige Bedingung seiner Philosophie der Freiheit war.

33 Sartre: Der Existentialismus ist ein Humanismus, 142. Vgl. dazu auch Sartre: Zum Existentialismus, 94: Der Existentialismus ist »nichts außer eine bestimmte Betrachtungsweise der menschlichen Fragen, die es ablehnt, dem Menschen eine für immer festgelegte Natur zuzuschreiben. Früher, bei Kierkegaard, ging er mit dem religiösen Glauben einher. Heute ist der französische Existentialismus eher von einem erklärten Atheismus begleitet, aber das ist absolut nicht notwendig [!].« 34 Sartre: Lebendiger Gide, 120 f. 35 Vgl. dazu Sartre: Brüderlichkeit und Gewalt, 60 – 72.

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Befreiung aus endlicher Unendlichkeit – das neue Absolute

Während Sartre in Das Sein und das Nichts im Hinblick auf das Selbstverhältnis durch die Begriffe der Selbstwahl und der Verantwortung eine positive Perspektive zumindest vorsichtig andeutet,36 scheint in der Frage nach einem gelingenden Verhältnis zum Anderen im frühen Hauptwerk kein adäquater Lösungsansatz in Sicht zu sein.37 In den Analysen über die konkreten Beziehungen zum Anderen beschreibt Sartre ausschließlich das Scheitern von Versuchen, die ursprüngliche »Ent-fremdung«, in der wir uns durch das Bezogensein auf Andere je schon vorfinden, zu überwinden. So, wie die erotische Verführung, die den Anderen dazu zu bewegen sucht, seine Freiheit aus Freiheit aufzugeben, einem widersprüchlichen Ideal nachläuft, so scheitert nach Sartre auch der Hass in dem Versuch, den irritierenden Blick des Anderen ein für alle Mal auszulöschen. Denn der Hass kann »nicht machen, daß der andere nicht gewesen ist«.38 Mehr noch: Die Vernichtung des Anderen durch den Hass verewigt die Entfremdung durch den anderen, weil ich die Erfahrung des Angeblicktwordenseins nicht mehr rückgängig machen kann; »der vernichtete andere hat den Schlüssel dieser Entfremdung mit ins Grab genommen. Was ich für den andern war, ist durch den Tod des andern erstarrt, und ich werde es unabänderlich in der Vergangenheit sein.«39 Da Sartre über keine positive Deutung intersubjektiver Beziehungen verfügt, reiht sich selbst die Kant’sche Ethik in das ewige Scheitern in der Beziehung zum Anderen ein. »Selbst wenn ich nach den Vorschriften der Kantischen Moral die Freiheit des Andern zum unbedingten Zweck nähme, würde diese Freiheit allein dadurch transzendierteTranszendenz, daß ich sie zu meinem Ziel mache; und andererseits kann ich zu ihren Gunsten nur handeln, indem ich den Objekt-andern als Instrument zur Realisierung der Freiheit benutze.«40

Sartre war das Problem, dass in Das Sein und das Nichts keine positive Intersubjektivitätstheorie entwickelt worden ist, vollkommen bewusst. Bereits in den nur wenige Jahre später entstandenen Cahiers pour une morale lotet er unter36 Vgl. dazu SN, 950 – 956. 37 Allerdings bleibt in SN, wie Sartre selbst konzediert, auch das Selbstverhältnis aporetisch, da sowohl in den Analysen zur Unaufrichtigkeit als auch zur Aufrichtigkeit noch keine Gestalt der Authentizität sichtbar wird. Vgl. dazu SN, 159, Anm.: »Wenn es gleichgültig ist, ob man aufrichtig oder unaufrichtig ist, weil die Unaufrichtigkeit wiedererfaßt und sogar zum Ursprung des Entwurfs zurückgleitet, so soll das nicht heißen, daß man der Unaufrichtigkeit nicht radikal entgehen könnte. Aber das setzt eine Übernahme des verdorbenen Seins durch sich selbst voraus, die wir Authentizität nennen werden und deren Beschreibung nicht hierher gehört.« 38 SN, 718. 39 SN, 719. 40 SN, 713.

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schiedliche Möglichkeiten aus, wie die Logik gegenseitiger Objektivierung überwunden werden kann. Voraussetzung für eine nicht-konfliktive Beziehung zum unfassbaren Anderen ist die »Konversion«, die Loslösung der Begierde nach Gott, d. h. der Begierde, An-und-Für-sich zu sein.41 Auf dieser Grundlage entwickelt Sartre unter dem Stichwort des »Appells« erste Skizzen zu einer positiven Deutung der Beziehung zum Anderen. Im Unterschied zur »Forderung« (exigence), in der noch der Wille zur Bemächtigung der Freiheit des Anderen wirksam ist, geht es nach Sartre im »Appell« darum, den Anderen in seiner Freiheit, genauer : in der Verwirklichung seiner Zwecke, zu fördern.42 Auf diese Weise wähle ich, wie Sartre in ausdrücklicher Abgrenzung zur Analyse in Das Sein und das Nichts betont, »eine Position, in der ich die Freiheit des anderen anerkenne, ohne dass sie mich durchdringt wie ein Blick«.43 Die Beziehung, die sich im Appell ereignet, ist nach Sartre »keineswegs Entfremdung«, denn »er erkennt mich an als denjenigen, der den Zweck, den er will, aus freien Stücken will, ihn jedoch für ihn will«.44 Mehr noch: Insofern ich meinen Zweck der Freiheit des Anderen im Vertrauen übergebe, liegt in jedem Appell »eine Gabe«, die zugleich eine »Bitte« ist, denn sie »bittet ihrerseits verstanden zu werden«.45 In diesem Sinn ist nach Sartre der Appell »Hingabe im ursprünglichen Sinn des Wortes«.46 Eine zweite positive Perspektive entwickelt Sartre im Rahmen seines Konzepts einer literature engage¦, das in seinem ursprünglichen Sinn keineswegs darauf abzielt, Literatur in den Dienst der Agitation oder Propaganda bestimmter politischer Bewegungen zu stellen. Sartres Begriff des »Engagements« setzt weitaus tiefer an. Engagement ist eine Dimension des Sprechens, insofern Sprechen bzw. Schreiben ein Enthüllen der Dinge für andere ist. Im Enthüllen 41 Vgl. dazu EM, 184 f.; 822 ff. 42 Vgl. dazu EM, 490: »Die einzige authentische Form des Wollens besteht hier darin, zu wollen, dass der Zweck durch den andren verwirklicht wird. Und wollen heißt hier, sich in der Operation zu engagieren. Jedoch nicht, um sie selbst durchzuführen, sondern um die Situation derart zu modifizieren, dass der andere handeln kann.« 43 EM, 490. Vgl. dazu auch EM, 491: »Statt mich seiner Freiheit entgegenzustellen und sie durch den Blick zu transzendieren, sehe ich sie durch mich hindurch zu ihrem Zweck fliehen. Andererseits werde ich jedoch nicht durch sie transzendiert, da ich seinen Zweck frei übernehme, ihn beauftrage, mich zu seinen Zielen weiterzuführen, die meine sind, insofern sie durch seine Freiheit verwirklicht werden …« 44 EM, 492. 45 EM, 494. 46 Ebd. Im Appell liegt, wie Sartre resümiert, eine »doppelte Struktur«: »durch die erste verstärke und erhelle ich die reine Setzung meines Zwecks, indem ich ihn für den anderen konstituiere; durch die zweite stelle ich mir das sekundäre Ziel des Verstehens des anderen und setze als Zweck die Erhellung meines Zwecks und bitte, dass der andere meinen Appell als Appell verstehe, das heißt versteht, dass es mein Zweck ist, ihm meinen Zweck frei zu übergeben.« (EM, 494 f.)

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werden die Dinge einerseits verändert, in ein neues Licht gestellt, andererseits appelliere ich nach Sartre in der Enthüllung an die Freiheit des anderen, Stellung zu nehmen. Dies setzt wiederum voraus, dass die Enthüllung kein beliebiges Spiel der Worte ist, sondern unter einem Wahrheitsanspruch und einem moralischen Anspruch steht. In Sartres Worten: Wir müssen als Schriftsteller stets versuchen, »in unseren Büchern recht zu haben«.47 Bereits in den Cahiers pour une morale deutet Sartre das »Werk«, in dem man sich selbst entwerfend dem Anderen eine Welt enthülle, als »Gabe«. »Man erschafft sich selbst, indem man sich dem anderen gibt. Daher ist jede Schöpfung notwendigerweise eine Passion«48, genauer : Die Schöpfung ist »die absolute Großzügigkeit als Passion im eigentlichen Sinn … Es gibt keinen anderen Seinsgrund als Geben. Und nicht nur das Werk ist Gabe. Der Charakter ist Gabe; das ICH ist die vereinende Rubrik unserer Großzügigkeit. Selbst der Egoismus ist eine verirrte Gabe.«49 Da ich mich im welterschließenden Sprechen an alle Menschen wende und dabei »erfahre, daß meine Freiheit unlöslich an die aller anderen Menschen gebunden ist, kann man von mir«, wie Sartre in der Bestimmung einer literature engage¦ weiter ausführt, »nicht verlangen, daß ich sie dazu verwende, die Unterdrückung einiger von ihnen zu billigen«.50 Der Begriff des Engagements lässt sich daher in seiner grundlegenden Bedeutung nicht auf die Literatur einschränken. Engagement ist vielmehr ein Grundzug des Sprechens, das stets ein Handeln ist; »obwohl Literatur und Moral zwei ganz verschiedene Dinge sind, erkennen wir im Kern des ästhetischen Imperativs den moralischen Imperativ«.51 Mit der sprachphilosophischen Fundierung des Begriffs des Engagements kommt Sartre – worauf ich hier nur verweisen kann – dem Habermas’schen »Paradigma der Verständigung« äußerst nahe. In sachlicher Konvergenz zur Diskursethik weist Sartre den moralischen Imperativ von den Geltungsansprüchen menschlichen Sprechens her auf. Zugleich bewahrt er jedoch nach der vorsichtigen Loslösung von einer konfliktiven Intersubjektivitätstheorie ein gewisses Misstrauen gegenüber einem abstrakten ethischen Universalismus. Insbesondere die Idee eines »Reichs der Zwecke«, die in der Diskursethik als »ideale Kommunikationsgemeinschaft aller vernünftigen Wesen« (Apel) refor-

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Sartre: Was ist Literatur, 35. EM, 232. EM, 233 [Herv. i. T.]. Sartre: Was ist Literatur, 53. Ebd., 52. Vgl. dazu EM, 233: »Jede Schöpfung ist, um abzuschließen, eine Gabe und kann nicht existieren, ohne zu geben. ›Zu sehen geben‹: sehr wahr. Ich gebe diese Welt zu sehen, ich lasse sie existieren, damit sie gesehen wird, und in dieser Handlung verliere ich mich wie eine Passion.«

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muliert wird, führt nach Sartre einen Infinitismus in die Ethik ein, der moralisches Handeln als solches zu gefährden droht. Der Infinitismus ist nach Sartre eine Folge des Todes Gottes. Das Ewige fällt in die Zeit und kehrt als zeitliche Endlosigkeit wieder, die nach Sartre zur Quelle neuer Entfremdung wird. Insbesondere in der geschichtsphilosophischen Idee eines unendlichen Fortschritts wird der Mensch zu einem unwesentlichen Moment einer Bewegung, die sich ins Endlose verliert.52 Die entfremdende Dimension des Infinitismus bricht allerdings auch innerhalb einer sprachphilosophisch fundierten Ethik auf, insofern die Idee eines »Reichs der Zwecke« den Handelnden in einen radikal entgrenzten Kommunikationshorizont versetzt. Da sich der Wahrheitsanspruch an alle vernünftigen Wesen richtet, einschließlich der vergangenen und zukünftigen Generationen und bei Kant selbst an nichtmenschliche Vernunftwesen, droht der / die Einzelne die Bodenhaftung mit der zeitlich und örtlich bestimmten Handlungssituation zu verlieren. An dieser Stelle weist Sartre mit dem Beispiel eines jungen Mannes, der vor der Entscheidung steht, sich entweder einer Widerstandsgruppe anzuschließen oder sich um seine Mutter zu sorgen, die Grenzen eines formalen ethischen Universalismus auf.53 Keine Moral, weder das christliche Liebesgebot noch Kants kategorischer Imperativ, kann nach Sartre solche Entscheidungssituationen eindeutig klären. Da »zu abstrakte Prinzipien unfähig sind, ein Handeln zu bestimmen«, sind wir nach Sartre gezwungen, in der jeweiligen Situation schöpferisch zu handeln.54 Dies hat Sartre den Vorwurf des Dezisionismus bzw. der Situationsethik eingebracht – ein Vorwurf, mit dem sich die Diskursethik bereits in ihrer Genese wohl allzu voreilig von Sartre abgegrenzt hat.55 Denn Sartre weist die Kant’sche Prinzipienethik keineswegs per se zurück,56 sondern stellt sich dem Problem der Vermittlung des idealen Horizonts des Reichs der Zwecke mit konkreten Handlungssituationen, ein Problem, das von der Diskursethik bis heute hartnäckig verdrängt oder zumindest vernachlässigt wird. In diesem Sinn und in 52 Vgl. dazu EM, 156 f.: »Der große geschichtliche Wandel: der Tod Gottes, Ersatz des EWIGEN durch das zeitlich Endlose. Zur Zeit Gottes war der Mensch unwesentlich im Verhältnis zum zeitlos EWIGEN. Heute ist Gott in die Zeit gefallen. Die Zeit, entdeckt als endlose Reihe und gesehen in ihrer Totalisation, die alle Momente der Zeit enthält, entspricht der EWIGKEIT. Die modernen Geschichtsmythen neigen dazu, den Menschen im Verhältnis zur totalen Dauer als unwesentlich erscheinen zu lassen.« 53 Vgl. dazu Sartre: Der Existentialismus ist ein Humanismus, 125 f. 54 Ebd., 139. 55 Apel: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, 363 ff., wo Apel die Diskursethik vom Szientismus und von einem dezisionistischen Existenzialismus abgrenzt. 56 Vgl. dazu Sartre: Der Existentialismus ist ein Humanismus, 139: »obwohl der Inhalt der Moral also veränderlich ist, ist eine gewisse Form dieser Moral allgemein. Kant erklärt, die Freiheit will sich selbst und die Freiheit der anderen. Einverstanden [!], aber er meint, Formales und Allgemeines sind ausreichend, eine Moral zu konstituieren.«

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sachlicher Nähe zu Sartre hat Albrecht Wellmer an der Apel’schen Diskursethik moniert, dass die »letzte Meinung einer idealen Kommunikationsgemeinschaft« das Handeln unter ein »Maß« stellt, das »jenseits des menschlichen Erkenntnisund Beurteilungsvermögens« liegt und dem folglich »niemand seine Urteile und Gründe anmessen kann«.57 Dies bedeutet: Eine Moral der Befreiung muss sich nach Sartre nicht nur von der Begierde, Gott zu sein, lösen, sondern auch von dem Ewigen, das als Infinitismus in die Zeit gefallen ist. In positiver Hinsicht erfordert eine Moral der Befreiung eine neue Philosophie der Endlichkeit, in der die Erfahrung mit den Dingen hic et nunc gegenüber den Relativierungen eines endlosen Zeithorizonts als ein Absolutes verteidigt wird. Wie immer zukünftige Generationen über uns urteilen werden, so wird dies nach Sartre nichts daran ändern, »daß wir jenes Bild, jenen Kampf und jene Frau leidenschaftlich geliebt haben, und daß diese Liebe von Tag zu Tag gelebt wurde; gelebt, gewollt, unternommen; und daß wir ganz und gar in ihr engagiert sind. […] – Man kann uns töten, man kann uns bis an unser Lebensende den Wein vorenthalten: aber kein Gott und kein Mensch kann uns jenes letzte Zergehen des Bordeaux auf unserer Zunge nehmen. Kein Relativismus.«58

Diese beiden Aspekte einer Philosophie der Endlichkeit fasst Sartre unter dem Begriff der »Epoche« zusammen. Epoche meint daher bei Sartre nicht eine Maßeinheit für die Unterteilung der endlosen Geschichtszeit, sondern die in der Zerbrechlichkeit intersubjektiver Erfahrungen aufscheinende Unbedingtheit; »dieses ganze dissonante und harmonische Leben trägt dazu bei, ein neues Absolutes zu bilden, das ich die Epoche nennen würde. Die Epoche ist die Intersubjektivität, das lebendige Absolute, die dialektische Kehrseite der Geschichte.«59

II.

Befreiung und Gewalt – Sartres Kritik am Kolonialismus

Als eine weitere Etappe in Sartres Suche nach einer »Moral der Befreiung« können seine Texte zu einer Kritik am Kolonialismus in den 1950er und 1960er Jahren angesehen werden. Unter dem Eindruck der Dekolonisierungskriege in Afrika und Südostasien entwickelt Sartre einen betont politischen Begriff von Befreiung, in dem nun in schockierender Weise die Gewalt ins Zentrum des Interesses rückt. Die frühen Themen der Befreiung von der Begierde, Gott zu sein, und der Loslösung von einem säkularen Infinitismus werden in dieser Zeit durch die Idee einer gewaltsamen Befreiung von entmenschlichender Gewalt 57 Wellmer: Der Streit um die Wahrheit, 168. 58 Sartre: Für seine Epoche schreiben, 186. 59 Ebd., 187 [Herv. i. T.].

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verdrängt. Der Kolonialismus ist, wie Sartre in dem berühmten Vorwort zu Frantz Fanons Die Verdammten dieser Erde ausführt, nicht bloß ein weiteres Herrschafts- oder Ausbeutungssystem in der Geschichte der Menschheit. Denn die koloniale Gewalt zielt nicht bloß auf Repression, sondern letztlich auf die vollständige Zerstörung sämtlicher Quellen der Selbstachtung ab. »An nichts wird gespart, um ihre Traditionen zu vernichten, um ihre Sprache durch unsere zu ersetzen, um ihre Kultur zu zerstören, ohne ihnen die unsere zu geben.«60 Das Kolonialsystem beruhe auf dem »Prinzip, daß der Kolonisierte kein Mensch ist«.61 Das System des Kolonialismus drücke letztlich den Menschen auf den Status eines Tieres herab. »Und ich behaupte nicht, daß es unmöglich sei, einen Menschen in ein Tier zu verwandeln: ich sage nur, daß man es nicht erreicht, ohne ihn ganz erheblich zu schwächen. Schläge genügen niemals, man muß ihn im Zustand der Unterernährung halten.«62 Da eine schlechte Ernährung die Produktivität der Kolonisierten verringert, haben nach Sartre die Kolonialherren die Abrichtung auf halbem Wege abgebrochen mit dem »Ergebnis: weder Mensch noch Tier, sondern ein Eingeborener. Geschlagen, unterernährt, krank, verängstigt, aber nur bis zu einem gewissen Grad, hat er, ob gelb, schwarz oder weiß, immer die gleichen Wesenszüge: er ist faul, hinterhältig und stiehlt, lebt von nichts und kennt nur die Gewalt.«63

In diesem Kontext nimmt Sartre eine äußerst bedenkliche Affirmation von Gewalt vor : Gewalt ist nicht mehr ultima ratio des Widerstandes der Kolonisierten, auch nicht bloß ein wilder Instinkt oder Ausdruck eines Ressentiments; die Gewalt der Kolonisierten wird von Sartre vielmehr als notwendiges Mittel für die Wiedererlangung der Humanität überhöht. »Ein Sohn der Gewalt, schöpft er aus ihr in jedem Augenblick seine Menschlichkeit: wir waren Menschen auf seine Kosten, jetzt macht er sich auf unsere Kosten zum Menschen. Zu einem neuen Menschen – von besserer Qualität.«64 Die enge Verbindung zwischen Befreiung, authentischer Intersubjektivität und Gewalt, die sich in der Theorie der »Gruppe« in der Kritik der dialektischen Vernunft fortsetzt, wird von Sartre erst in den späten Interviews mit Benny L¦vy, in denen in Anknüpfung an den jüdischen Messianismus die Vision einer gewaltlosen Begegnung zwischen Freiheiten angedeutet wird, in Frage gestellt.65 60 61 62 63 64

Sartre: Vorwort, 147. Ebd., 149. Ebd. Ebd., 148. Ebd., 154. Gewalt ist nach Sartre »nichts weiter als der sich neu schaffende Mensch […] Und der Kolonisierte heilt sich von der kolonialen Neurose, indem er den Kolonialherrn mit Waffengewalt davonjagt […] Wenn seine Wut ausbricht, findet er seine verlorene Transparenz wieder, erkennt er sich in genau dem Maße, wie er sich schafft.« (Ebd., 152) 65 Vgl. dazu Sartre: Brüderlichkeit und Gewalt, 50 ff., wo sich Sartre ausdrücklich von der

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Dennoch lohnt es sich, bei der schockierenden Idee einer Menschwerdung im Medium der Gewalt kurz zu verweilen. Denn Sartres Rechtfertigung des gewaltsamen Dekolonisierungskampfes markiert eine späte Etappe in einem jahrhundertelangen Diskurs über Kolonialismus und Barbarei innerhalb der europäischen Philosophie, dessen Wurzeln bis in die Debatte zwischen Gin¦s de Sepffllveda und Bartholom¦ de Las Casas zurückreichen. Während Las Casas die Strategie einer gewaltsamen Missionierung der amerindischen Völker strikt ablehnte, verteidigte Sepffllveda die Konquista Amerikas und die spanische Kolonialherrschaft. Obwohl Sepffllveda den Begriff der »natürlichen Sklaverei« in die Debatte einführt, wird den Völkern Amerikas nicht, wie bis heute immer wieder kolportiert wird, der Status des Menschseins gänzlich abgesprochen.66 Denn Sepffllveda, der wie Las Casas auf dem Boden des ethischen Universalismus der stoisch-christlichen Tradition steht, deutet den aristotelischen Begriff des »natürlichen Sklaven« im Licht der dynamischen Anthropologie der Renaissance radikal um. Auf diese Weise überträgt Sepffllveda Picos These von der Selbstverwandlung des Menschen in unterschiedliche Naturen auf Kollektive. Dies bedeutet: Wie bei Pico der / die Einzelne die Macht hat, sich zu einer engelhaften Natur zu erheben oder durch bloßen Sinnesgenuss auf ein tierisches Leben zu depotenzieren, so können nach Sepffllveda ganze Völker durch barbarische Sitten auf ein tierisches Niveau hin degenerieren. Während sich bei Pico Einzelne durch ihre schöpferische Freiheit selbst auf das Niveau des Menschlichen und des Engelhaften zu erheben vermögen, können nach Sepffllveda Völker, die auf eine tierische Lebensform abgesunken sind, nur mehr von außen, d. h. mit Gewalt, aus ihrer Barbarei befreit und auf das Niveau der Menschlichkeit zurückgeführt werden. Sepffllvedas Rechtfertigung des spanischen Kolonialreiches zielt daher nicht auf die Vernichtung, sondern auf eine gewaltsame Zivilisierung, genauer : eine Humanisierung, der amerindischen Völker. Vor diesem Hintergrund kann nun Sartres Rechtfertigung der Dekolonisierung der Völker Afrikas und Südostasiens als eine Umkehrung von Sepffllvedas Idee gewaltsamer Zivilisierung bestimmt werden. Die Humanität der Barbaren ist nach Sartre nicht das Resultat der zivilisatorischen Gewalt der Kolonialherren, sondern der gewaltsamen Befreiung der Kolonisierten selbst. Sartres Suche nach einer »Moral der Befreiung« war eine bedeutsame Inspirationsquelle für die lateinamerikanische Philosophie der Befreiung, deren Anfänge in den frühen 1970er Jahren liegen. In diesem Kontext ist insbesondere früher vertretenen Ansicht eines internen Zusammenhangs zwischen Gruppe, Brüderlichkeit und Gewalt distanziert. 66 Zu Sepffllvedas Rechtfertigung der Konquista Amerikas vgl. Schelkshorn: Entgrenzungen, 302 – 345.

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in Enrique Dussels »Ethik der Befreiung« der Sartre’sche Motivkomplex zwischen schöpferischer Freiheit, Intersubjektivität und Befreiung nochmals in einer überraschenden Weise transformiert worden.67 Da die bloße Negation, konkret die gewaltsame Beseitigung des Kolonialherrn, bloß zur Umkehrung der Herrschaftsverhältnisse führt, muss nach Dussel eine authentische Befreiung mit einem Bewusstwerdungsprozess der Opfer einsetzen, in dem sie sich ihrer menschlichen Würde, aber auch ihrer Geschichte und kulturellen Wurzeln vergewissern. Das schöpferische Moment des Befreiungsprozesses liegt daher nicht in der gewaltsamen Selbstkonstitution der Kolonisierten (Sartre), auch nicht in der zivilisierenden Gewalt der Kolonialherren (Sepffllveda), sondern im unterbrechenden Blick der Opfer, der die ideologischen Schleier, die sich über Herrschaftssituationen legen, zerreißen lässt. Da in Herrschaftsverhältnissen nicht nur die Unterdrückten, sondern auch die Herrscher sich selbst ent-fremdet sind, zielt der Befreiungsprozess, indem er auf eine symmetrische Beziehung hinarbeitet, nicht bloß auf die Wiederherstellung der Humanität der Opfer, sondern auch der Herrschenden. Auf diese Weise haben Sartres vorsichtige Suchbewegungen nach einer Moral der Befreiung in der lateinamerikanischen Philosophie der Gegenwart eine überraschende Fortsetzung gefunden.

Quellen Sartre, Jean-Paul: Was ist Literatur?, in: Schriften zur Literatur, Bd. 3, Hamburg (Reinbek) 61981. Ders.: Anarchie und Moral. Interview mit J.-P. Sartre, in: Fornet-Betancourt, Raffll: Philosophie der Befreiung. Die phänomenologische Ontologie bei Jean-Paul Sartre, Frankfurt / M. (Materialis) 1983, 365 – 370. Ders.: Tagebücher. Les carnets de la drúle de guerre. November 1939 – März 1940, in: Gesammelte Werke. Autobiographische Schriften, Bd. 5, Reinbek (Rowohlt) 1984. Ders.: Für seine Epoche schreiben, in: Gesammelte Werke. Schriften zur Literatur, Bd. 1: Der Mensch und die Dinge, Reinbek (Rowohlt) 1986, 185 – 191. Ders.: Lebendiger Gide, in: Schriften zur Literatur, Bd. 4: Schwarze und weiße Literatur. Aufsätze zur Literatur 1946 – 1960, Reinbek (Rowohlt) 1986, 118 – 121. Ders.: Ein Film, in: Gesammelte Werke. Autobiographische Schriften, Bd. 2, Reinbek (Rowohlt) 1988. Ders.: Vorwort zu: »Die Verdammten dieser Erde« von Frantz Fanon, in: Ders: Wir sind alle Mörder. Der Kolonialismus ist ein System. Artikel, Reden, Interviews 1947 – 1967, Reinbek (Rowohlt) 1988, 141 – 159. Ders.: Brüderlichkeit und Gewalt. Ein Gespräch mit Benny L¦vy, Berlin (Wagenbach) 1993. Ders.: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, in: Ge67 Vgl. dazu Schelkshorn: Ethik der Befreiung.

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Hans Schelkshorn

sammelte Werke. Philosophische Schriften, Bd. 1, Reinbek (Rowohlt) 1994 (Kürzel: SN). Ders.: Der Existentialismus ist ein Humanismus, in: Gesammelte Werke. Philosophische Schriften, Bd. 4, Reinbek (Rowohlt) 1994, 117 – 155. Ders.: Die Transzendenz des Ego, in: Gesammelte Werke. Philosophische Schriften, Bd. 1, Reinbek (Rowohlt) 1994. Ders.: Zum Existentialismus. Eine Klarstellung (1944), in: Gesammelte Werke. Philosophische Schriften, Bd. 3, Reinbek (Rowohlt) 1994, 92 – 98. Ders.: Entwürfe für eine Moralphilosophie, Reinbek (Rowohlt) 2005 (Kürzel: EM).

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Eine Moral der Befreiung? Skizzen zu einem Projekt Jean-Paul Sartres

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Ingeborg Gabriel

Wozu taugt die Tugend? Überlegungen zur Aktualität der Tugendethik

I.

Zur Fragestellung

»So klagt denn nicht: […] für Tugend hat’s / in großen Staaten nicht viel Platz« reimte der niederländische Sozialtheoretiker und Ökonom Bernard Mandeville (1670 – 1733) – respektive sein deutscher Übersetzer – in seinem Lehrgedicht Die Bienenfabel1. Er formulierte damit ebenso präzise wie provokativ den Grundsatz der neuzeitlichen Sozialphilosophie. Diese geht zwar nicht immer so weit wie Mandeville, für den das Laster – nämlich des Eigennutzes – und nicht die Tugend der Gerechtigkeit die moderne Wirtschaft und Gesellschaft voranbringt. Die Sentenz drückt prägnant den in der frühen Neuzeit einsetzenden Paradigmenwechsel von einer auf die Person zentrierten zu einer Ethik der Strukturen aus. Mandeville bestimmt die Ethik als philosophische Disziplin bis heute und ist vor allem in Europa tief ins populäre Bewusstsein eingedrungen. So beginnt das wohl einflussreichste Buch der Sozialethik des 20. Jahrhunderts, die Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls, mit dem programmatischen Satz: »Die Gerechtigkeit ist die erste Tugend sozialer Institutionen, sowie die Wahrheit bei Gedankensystemen«.2 Rawls verwendet hier Tugend (virtue) als Zentralbegriff seiner Strukturenethik. Im zweiten Teil des Buches wird dann die Individualethik systematisch nachgetragen. Dies zeigt die etwas anders gelagerte Argumentationsweise in der angelsächsischen Ethik. Hier findet zudem seit Beginn der 1980er Jahre eine Renaissance der Tugendethik statt, während diese in der kontinentaleuropäischen Ethik weiterhin eher ein Schattendasein fristet.3 Für diese in der Geschichte einmalige Verlegung der Ethik vom Individuum in die sozialen Strukturen gibt es verschiedene geistesgeschichtliche Gründe. Zu nennen ist vor allem der Siegeszug der Naturwissenschaften als methodische 1 Mandeville: Bienenfabel, 92. 2 Rawls: Gerechtigkeit, 19. 3 Bücher zum Thema finden sich eher im essayistischen oder Selbsthilfebereich. Ausnahmen bilden Krämer : Ethik, Höffe: Lebenskunst sowie, wenn auch in anderer Weise, frühere phänomenologische Studien zu einzelnen Tugenden, etwa Guardini: Tugenden.

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Entdeckung naturaler Gesetzmäßigkeiten, der zu einer korrespondierenden Betonung des Gesetzes auch in den Geisteswissenschaften führte.4 Der Mensch kann demnach die Gesetzmäßigkeiten der sozialen Welt erkennen und sie auf der Basis dieser Erkenntnis selbst entwerfen und schaffen. Diese vernünftige Konstruktion des Sozialen soll ein reibungsloses Funktionieren der Gesellschaft mit ihren Institutionen nach Art einer gut entworfenen Maschine ermöglichen. Wie sehr diese Suche nach einem impersonal order das Denken der Neuzeit bestimmt hat, hat zuletzt Charles Taylor in seiner umfassenden Studie A Secular Age gezeigt.5 Dem störungsfreien Ablauf gesellschaftlicher Prozesse aber steht die menschliche Natur mit ihrer Freiheit und daher auch Unberechenbarkeit im Wege. Die mangelnde Verlässlichkeit des Menschen und seine grundsätzliche Fehlbarkeit müssen daher ¢ soweit irgend möglich ¢ durch eine verlässlich funktionierende Ordnung kompensiert werden. So formuliert Kant paradigmatisch und wohl auch provokativ in seiner Schrift Zum ewigen Frieden, dass auch ein Volk von Teufeln einen guten Staat schaffen könne, wenn es nur Verstand habe.6 Das durch vernünftiges Eigeninteresse gesteuerte social engineering wird so zum Idealbild der in ihrem Denken von den Gesetzmäßigkeiten in Naturwissenschaft und Technik dominierten Epoche der Neuzeit. Der christliche Querdenker und Gesellschaftskritiker Ivan Illich hat in dieser Abkehr vom Personalen den eigentlichen Sündenfall der Neuzeit gesehen.7 Dies ist wohl etwas überzogen. Doch hat in der Tat eine fundamentale Verschiebung stattgefunden, die nun, da sie längst ins allgemeine Bewusstsein durchgesickert ist, am »Ende der Neuzeit« zunehmend ihre problematischen Seiten offenbart. Der vorliegende Artikel geht von zwei Thesen aus: Das gute Zusammenleben in einer menschlichen Gesellschaft fordert ein Gleichgewicht zwischen der durch Gesetze (sowie durch am Eigeninteresse orientierte checks and balances) bestimmten unpersönlichen Ordnung und der persönlich praktizierten und eingeübten Moral ihrer Mitglieder. Letzteres verlangt Orientierungen im individualethischen Bereich, die über eine Normenethik hinausgehen, da das Ethos sowie das moralische Handeln Einzelner Sockel und Fundament der ethischen und rechtlichen Normen darstellen. Die Tugendethik als Ethik der Person stellt demnach die Basis für die individuelle wie politische Strukturen- und Normethik dar, ohne die sie ihr Fundament verliert. Dies soll anhand der europäischen Geistesgeschichte in systematischer Absicht dargestellt werden. Die zweite These setzt bei der Frage nach der Universalität von Tugenden 4 5 6 7

Vgl. dazu die hervorragende geistesgeschichtliche Studie von Oakley : Natural law. Vgl. Taylor : Secular Age, v. a. das Kapitel »The Impersonal Order«, 270 – 298. Vgl. Kant: Frieden, 224. Vgl. Illich: Zukunft.

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sowie ihrer inneren Verbundenheit an. Ich gehe dabei davon aus, dass die Tugendethik der Dynamik der personalen Entwicklung entspricht und zum Freiheitsethos der Moderne nicht in Widerspruch tritt. Abschließend soll ihre Aktualität in einer Situation aufgezeigt werden, in der es vor allem auch um eine Vermittlung der Strukturenethik der westlichen Moderne mit traditionellen religiösen Ethiken geht, die grundsätzlich tugendethisch ansetzen. Angesichts der Breite des Themas – dies sei gleich vorweg angemerkt – bleibt allerdings beides notwendigerweise kursorisch.8

II.

Ethik des Guten versus Ethik des Gerechten?

1.

Die Person im Zentrum der Ethik

Bis zum Beginn der Neuzeit ist die Ethik (auch jene, die in den Religionen inkorporiert ist) grundsätzlich personale Ethik und in diesem weiten Sinn Tugendethik. Dies gilt für den europäischen ebenso wie für den außereuropäischen Kontext. Die biblische Ethik sowie die klassische Philosophie gehen von einer Priorität des moralischen Handelns einzelner Personen aus, wobei das Beachten von Gesetzen einen wesentlichen Teil des tugendhaften Handelns darstellt und die Normethik so gleichsam in die Tugendethik eingebettet ist. Die Art der Lebensführung ist Grund und Ausdruck des guten Lebens einer Person, sowohl hinsichtlich ihres sozialen Zusammenlebens mit anderen als auch ihrer Gemeinschaft mit Gott. Was macht jemanden zu einem guten Menschen? Wie muss er oder sie handeln, um dieses Ziel zu erreichen? Verbunden mit jener nach dem geglückten Leben als Ganzem, sind dies die zentralen Fragen der philosophischen und später auch der theologischen Ethik. Die Frage nach dem guten Leben ist dabei nicht nur eine private, sondern zugleich eine soziale Angelegenheit ersten Ranges.

8 Wie die bisherigen Ausführungen zeigen, behalte ich den Begriff »Tugend« bei, da m. E. ein besseres Wort nicht zur Verfügung steht: So ist »Haltung« nicht frei von irreführenden Assoziationen (z. B. »Haltung annehmen«) und zudem nicht moralisch gehaltvoll. Gleiches gilt für »Einstellung« und »Charaktereigenschaft«. Tugend als aret¦, als bestes Sein-Können einer Person und ihre Entfaltung als das Ziel menschlichen Lebens, bleibt daher als Wort unersetzbar.

178 2.

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Standesethos als Grundlage der Ethik

In archaischen Gesellschaften mit ihren weitgehend narrativ vermittelten, meist religiös fundierten Standesethiken gilt jenes Handeln als gut, das dem jeweiligen sozialen Status entspricht. Der König hat königlich zu handeln, d. h. er hat gerecht zu sein, großzügig und ein guter Heerführer. Ein guter Krieger kämpft gut und ist seinem Heerführer gegenüber loyal. Eine gute Hausfrau besorgt ihr Hauswesen entsprechend und Ähnliches mehr.9 Die erwarteten Tugenden entsprechen so der sozialen Rolle, deren bestmögliche Erfüllung Identität, soziale Anerkennung und damit auch Selbstachtung verbürgt. Wer durch eigene Schuld oder durch ein Verhängnis daran scheitert, wird sozial geächtet und ausgeschlossen. Er verliert seine Ehre. Auch die Erziehung ist folglich statusspezifisch, und der eigene Lebensentwurf orientiert sich notwendig am zugewiesenen Stand. Die gegebene Freiheit liegt in der Qualität der Rollenerfüllung, die damit in hohem Maße normative Züge trägt. Es ist ähnlich wie bei Ikonen: Das Bild ist ikonografisch festgelegt. Bestimmend ist die Qualität der Ausführung und der Durchdringung des Gegenstands. Ein derartiges Standesethos findet sich freilich keineswegs nur in archaischen Gesellschaften. Es bildet vielmehr die Grundlage jedes Ethos. Auch in modernen Gesellschaften speist sich die moralische Praxis über weite Strecken aus einem Berufs- und Standesethos. Soziale Identität und Anerkennung werden aufgrund der guten Erfüllung beruflicher oder häuslicher Pflichten gewährt. Die Alltagsrede von einem guten Studenten, einem guten Professor, einem guten Arzt oder Ingenieur, aber auch einer guten Mutter und einem guten Vater bezeichnet nicht nur soziologisch ein Rollenbild, sondern hat zugleich stark normative Implikationen. Um sie zu erfüllen, braucht es kontinuierliche Übung und ein Handeln, dessen Konturen klar definiert sind. Ein guter Arzt wird man durch habituelle Berufsausübung und Einübung entsprechender Fähigkeiten. Meistens orientiert sich zudem jener, der ein guter Arzt oder Professor werden will, an gegenwärtigen oder vergangenen Vorbildern, d. h. an Personen, die eben diese Qualität haben. Diese berufs- respektive standesspezifische Ethik, die alle Merkmale einer Tugendethik trägt (außer jenem der Allgemeinheit), findet in den philosophischen Ethikentwürfen freilich kaum Beachtung, was wohl mit der Ablehnung des gruppenspezifischen Ethos in der sokratischen Ethik zu tun hat.10

9 Die Standesethik findet sich auch in biblischen Texten, vgl. Spr 31,10 – 31 (das Lob der tüchtigen Frau) sowie die Tugendkataloge im Neuen Testament, z. B. Gal 5,19 – 23 oder Kol 3,5 – 14. 10 Siehe die bekannte Stelle in Platon: Menon, 70a-73b.

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3.

179

Die klassische Ethik als Urbild der Tugendethik

Die platonische Ethik richtet sich sowohl gegen das traditionelle Ethos als auch gegen den letztlich gesellschaftszerstörenden ethischen Relativismus der Sophistik sowie gegen einen dem heutigen nicht unähnlichen Naturalismus.11 Ihre Frage nach einer dem Menschen als Menschen unabhängig vom sozialen Status eigenen aret¦ stellt eine soziale, aber auch geistige Revolution dar. Wie sich in der Kunst das Individuum in jener Zeit aus der Gebundenheit im Relief löst, so tritt in der Philosophie der Einzelne als Denkender und Handelnder frei und ungeschützt in den Raum. Welche Eigenschaften muss ein Mensch haben, um mehr Mensch zu werden und so sein Ziel und Glück zu erreichen? Welcher Bezug besteht zwischen diesem telos des Lebensschicksals und jenem der politischen Gemeinschaft? Dies sind von hier an die unhintergehbaren Grundfragen der anthropologischen Reflexion und Ethik, die das europäische Denken bis heute bestimmen. Hier zeigt sich auch bereits eine spezifische Verschränkung von Individual- und Sozialethik, wobei jedoch in der klassischen Ethik Erstere als Tugend- und Freundschaftsethik das Fundament und auch das Ziel der politischen Ethik bildet. Diese Priorität der Selbst- und Seelsorge, deren Grundlage die moralische Selbstreflexivität darstellt, ist Ausdruck eines neuen Selbst- und Weltverständnisses, eines Strebens nach Erleuchtung durch Erkenntnis, wie es das Höhlengleichnis Platons unübertroffen beschreibt.12 Grundtugenden sind die Besonnenheit, die zwischen der dianoetischen Tugend der Einsicht und jener des Maßes angesiedelt ist, und die soziale Tugend der Gerechtigkeit. Diese beiden Tugenden werden bei Aristoteles bekanntlich in einem Tugendkanon mit universalem Anspruch weiter entfaltet, der von den beobachtbaren psychischen und sozialen Wirklichkeiten und dem Ethos mit seiner moralischen Begrifflichkeit ausgeht. Zugleich bleibt diese Tugendethik jedoch rückbezogen auf den Einzelnen und den partikularen Kontext, da ihre Konkretisierung und die Entfaltung des Menschen als zúon politikon sich notwendig in einer bestimmten polis vollziehen. Durch die Praxis der Tugenden formt sich so der freie Bürger (und nur er) zum handelnden Subjekt, indem er dem ungeformten Material seiner biologischen Natur durch wiederholte Freiheitsentscheidungen die von ihm gewünschte Charakterprägung gibt. Diese Selbstformung der Person bedarf 11 Vgl. dazu etwa Kallikles in Platon: Gorgias, 482 e-483 e. 12 Die Selbstsorge als Ziel der Ethik ist vor allem sokratisch-platonisch. So heißt es in Platon: Apologie, 36c1: »Bester Mann, als ein Athener aus der größten und für Weisheit und Macht berühmtesten Stadt, schämst du dich nicht, für Geld zwar zu sorgen, wie du dessen aufs meiste erlangest, und für Ruhm und Ehre, für Einsicht aber und Wahrheit und für deine Seele, dass sie sich aufs beste befinde, aber sorgst du nicht, und hieran willst du nicht denken.«

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der Orientierungen, die die aristotelische Ethik als Grundform der Tugendethik, die ihrerseits auf der Metaphysik und Anthropologie basiert, umrisshaft bietet.13 Dem entsprechend kann der Mensch nur glücken (nach der Formulierung von Wilhelm Korff14) und den Sinn seines Lebens verwirklichen, wenn er gut handelt und dadurch gut wird. Einsicht und Handeln, dianoetische und charakterliche Tugenden, sind aufeinander verwiesen. Gutes Handeln setzt rechte Erkenntnis der Wirklichkeit im Allgemeinen sowie der speziellen Situation voraus.15 Es soll den Einzelnen in die Lage versetzen, seine Ziele so zu erreichen, dass er sich auf das spezifisch menschliche telos zu bewegt: die Freundschaft mit sich selbst und den anderen, die wesentlicher Grund des Glücks ebenso wie Grundlage der polis ist. Diese Einsicht, dass die eudaimonia die Folge der Praxis der Tugend und nicht äußerer Güter darstellt, bedeutet – darauf ist vor aller Problematisierung hinzuweisen ¢ eine radikale Abkehr vom Üblichen, indem sie alle anderen landläufig angestrebten Güter vom Ziel zum Mittel macht. Das radikal Neue, an das eine christliche Ethik später anknüpfen kann, ist, dass nun die Selbstverwirklichung des Menschen als Mensch zum obersten Ziel wird. Die praktische Philosophie wird so zur Methode, um die Freiheit im Handeln und die Befriedigung zu gewinnen, die aus der personalen Integrität stammt. Diese besteht allerdings nicht in einer Absenz von Tun, sondern in der Aktivität gemäß der Tugend. Ihr Ziel ist bei Aristoteles die politische Partizipation als oberste praktische Tätigkeit des (männlichen) Vollbürgers. Dies ändert sich in der Stoa, wo die Übereinstimmung mit dem kosmischen Gesetz, durch die der Mensch das Göttliche in sich verwirklicht, zum telos wird.16

4.

Modelle christlicher Tugendethik und ihre Ablöse durch die neuzeitliche Sozialethik

Die Übernahme der stoischen Ethik in die frühchristliche Theologie und Frömmigkeitspraxis prägte das Christentum schon in den biblischen Anfängen. Sie ist bis heute wohl stärker präsent als die um vieles mehr auf das aktive menschliche Handeln ausgerichtete verchristlichte aristotelische Tugendethik 13 Vgl. Höffe: Aristoteles, 191 – 193. 14 Vgl. Korff: Mensch. 15 Der Kluge ist jener, der »über das für ihn Gute und Nützliche gut zu beratschlagen weiß, nicht mit Blick auf einen Teilbereich, wie auf die Mittel für die Gesundheit oder die Körperkraft, sondern mit Blick auf die Mittel für das gute Leben insgesamt«, Aristoteles: Nikomachische Ethik V, 1128b 6. 16 Ich habe anderenorts zwischen einer A-Linie (nach Aristoteles) und einer S-Linie (nach der Stoa) im Naturrechtsdenken unterschieden. Ähnliches ließe sich auch für die Tugendethik aufweisen, vgl. Gabriel: Paradigmenwechsel, 150, und Forschner : Stoische Ethik.

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des Thomas von Aquin. Diese relativiert zwar die Welt eschatologisch, erkennt sie jedoch zugleich in ihrem Eigenwert an. Dies zeigt die doppelte Struktur des Glücks als unvollkommenes und vollkommenes bei Thomas.17 Das Weltliche wird durch das Geistige vervollkommnet, aber nicht degradiert. Die Welt ist gute Schöpfung, in der sich keimhaft bereits die zukünftige Vollendung zeigt, an der der Mensch vor allem durch die Praxis der Tugenden partizipiert. Von den drei Phasen des Weges des Menschen »von Gott durch die Welt zu Gott« ist die Praxis der zweiten, der recreatio18, zugeordnet, die sich im Zusammenwirken von Gnade und Tun ereignet und sich eschatologisch in der gloria des Himmels vollenden soll. Diese enge Verbindung von göttlichem und menschlichem Wirken zeigt sich im Stellenwert der theologischen Tugenden, die den Kardinaltugenden ihre Ausrichtung geben. Der bei weitem überwiegende Teil der thomasischen Ethik ist Tugendethik.19 Erst die Neoscholastik legt das Schwergewicht auf den Naturrechtstraktat. Dieser Fokus auf die normative Prinzipienethik zeigt, dass auch die theologische Ethik der Neuzeit sich dem Zeitgeist entsprechend mehr oder minder ausschließlich am Gesetz orientierte. Dies brachte jedoch auch hier eine Reduktion und Verarmung der moralischen Perspektive mit sich, die bei Thomas so reichhaltig entfaltet wird. Welchen Verlust an Differenziertheit und moralischer Begrifflichkeit dies bedeutet, sei an zwei Beispielen gezeigt. In seiner quaestio über die Leidenschaften stellt Thomas die Frage, ob es gut ist aus Leidenschaft zu handeln. Die Antwort ist, dass es wohl gut sei, mit Leidenschaft, aber nicht aus Leidenschaft zu handeln, weil dies der Vernunftgeleitetheit widerspreche.20 Das zweite Beispiel: Der Begriff der Ohrenbläserei (lat. susurratio) ist aus der Alltagssprache wie aus der Ethik praktisch verschwunden. Erklärt man jedoch, dass es sich hier darum handelt, jemandem über seinen Freund Schlechtes zu sagen, dann ist klar, dass dies schwerer wiegt als eine normale Verleumdung. Dies zeigt, dass Unterscheidungen im Begrifflichen auch Auswirkungen auf die Praxis haben und dass, wo Begriffe fehlen, die Sache selbst verloren geht. Die Entdifferenzierung setzt bereits im Nominalismus mit seinem Primat des Willens vor der Vernunft und einer übertriebenen Fokussierung der Ethik auf die (Gottes-)Liebe ein, die zur Verunsicherung des Handelns beitragen und längerfristig einer überzogenen Betonung der Gnade und der Abwertung des eigenständigen menschlichen Handelns Vorschub leisten, wie dies die Tendenz im Protestantismus sowie katholischerseits im Jansenismus ist. Zugleich wird ab dem 16. Jahrhundert, zuerst bei Hobbes, die Sozialethik prioritär. Die Frage nach der (ge)rechten Gestaltung der politischen 17 Vgl. STh I-II, q1-q6; vgl. weiters Pesch: Beatitudo, 450. 18 Vgl. STh II-II, q58. 19 Von der gesamten Ethik der Summa theologica umfasst der Naturrechtstraktat ganze achtzehn quaestiones nämlich STh I-II, q82-q100. 20 Vgl. Thomas von Aquin: STh I-II, q24 a3.

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Institutionen erhält nun den Vorrang vor der Frage nach dem guten Tun und Sein des Einzelnen; die Strukturenethik wird zum Paradigma für die Ethik überhaupt. Bei Kant, dem großen Antipoden der aristotelischen Ethik, findet sich zwar noch einmal beides, Moralität und Legalität, allerdings scharf getrennt. Zudem werden Gesetz und Norm nun auch zum Grund der Individualethik: Gut ist, was für alle Gesetz sein kann.21

5.

Tugend unter Generalverdacht: das 19. / 20. Jahrhundert

Sozialphilosophie und Psychoanalyse des 19. / 20. Jahrhunderts versetzten dem klassischen Tugenddenken dann gleichsam den Todesstoß: Marx, Nietzsche und Freud als die »Meister des Verdachts«, wie Paul Ricoeur22 treffend formulierte, lehnen es ab. Wenn die Moral die Moral der Herrschenden und Gerechtigkeit das Resultat gesellschaftlicher Prozesse ist, dann wird Güte per definitionem überflüssig, ja degradierend – so kurz für Marx. Für Nietzsche, den großen Kritiker aller europäischen Ethiktraditionen, ist Tugend der Inbegriff des Repressiven, Heuchlerischen und Dummen: »Jede Tugend neigt zur Dummheit, jede Dummheit zur Tugend.«23 Sie baut nicht auf, sondern zerstört und deformiert vielmehr. Freud sieht dies ähnlich, wenn auch aus einer humanistischen Grundintention.24 Dass eine derartige Entfremdung durch Tugendstreben durchaus möglich ist, zeigt in erschütternder Weise der autobiografische Roman Anton Reiser von Karl Philipp Moritz, einem Zeitgenossen Goethes.25 Die Sehnsucht, gut und anerkannt zu sein, endet für den begabten, aber armen Helden des Romans letztlich in der Selbstzerstörung.26 Die Abwertung des Tugendbegriffs in der Moderne sollte daher, durchaus auch kritisch, auf ihre reale Grundlage überprüft werden. Im zeitgenössischen öffentlichen Diskurs ist Tugend gänzlich negativ konnotiert. So ist die Rede von »Tugendterror« im Sinne staatlicher Repression und mangelnder Achtung vor der Privatsphäre, z. B. durch saudi-arabische oder iranische »Tugendwächter«. Diese Einengung, vor allem auf die sexuelle Dimension, hat übrigens bereits Max Scheler in seinem Aufsatz Rehabilitierung der 21 Zwar trägt der zweite Teil der Metaphysik der Sitten die Überschrift »Tugendlehre«, doch das Tugendkonzept hat sich fundamental gewandelt. Zu Recht stellt Kersting fest: »Der moralische Rationalismus ist der Tod der Tugend«. Kersting: Konjunkturen, 58. 22 Ricoeur : Interpr¦tation, 40. 23 Nietzsche: Werke, II, 691. 24 Vgl. Freud: Unbehagen. 25 Vgl. Moritz: Reiser. 26 Es wäre durchaus lohnend, der Frage nachzugehen, unter welchen Umständen das Streben nach Tugend destruktiv werden kann, auch um möglichen Pathologien in der Frömmigkeitspraxis, die diese oft als Ganze diskreditieren, auf die Spur zu kommen.

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Tugend beklagt, in dem er feststellt, dass der Begriff der Tugend zur »alten, keifenden, zahnlosen Jungfrau« verkommen sei.27 Dazu kommt die unterschwellig nachwirkende historische Hypothek des Missbrauchs von ethischen Begriffen im Allgemeinen und der Tugend im Speziellen durch den Nationalsozialismus. Schon die Bellizisten vor dem Ersten Weltkrieg hatten Tugend auf »soldatische Tugenden« beschränkt. Dies entsprach auch der nationalsozialistischen Ideologie, die überdies mit fast unaussprechbarem Zynismus die Pflicht zur Tugend als Instrument der Repression einsetzte. Über dem Wirtschaftstrakt des KZ Dachau werden Tugenden in großen Lettern als »Weg zur Freiheit« gepriesen.28 Die Schwierigkeiten, die daher gerade im deutschen Sprachraum einer Rehabilitierung der Tugend entgegenstehen, sind beachtlich. Begriffe sind nicht unbegrenzt missbrauchbar – wenn auch zugleich gilt und gelten muss: abusus non tollit usum.

III.

Ist eine Wiederbelebung der Tugend als ethische Kategorie möglich?

1.

Vor dem Gesetz

In Kafkas kurzer Erzählung Vor dem Gesetz verbringt ein Mann vom Land sein ganzes Leben vor der Tür des Gesetzes, zu dem der Türhüter ihm den Zutritt verwehrt. Am Ende seines Lebens wagt er, eine letzte Frage zu stellen: »Alle streben doch nach dem Gesetz«, sagt der Mann, »wieso kommt es, daß in den vielen Jahren niemand außer mir Einlaß verlangt hat?« Der Türhüter, der weiß, daß sein Leben zu Ende geht, antwortet ihm brüllend: »Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.«29 Die Erzählung bringt die Kritik am Gesetz seit Paulus unter den Bedingungen der Moderne in ihrer ganzen Paradoxie auf den Punkt. Der einzelne Mensch steht der Allmacht des von vielen Türhütern bewachten Gesetzes hilflos gegenüber. Es schüchtert ihn ein und hält ihn vom Handeln ab, statt ihn dazu zu befähigen und zu ermutigen. Das Ende lässt ahnen, dass der Mann den Sinn seines Lebens verfehlt hat. Die nur für ihn bestimmte Tür wird geschlossen. Hätte er sich nicht gegen das Gesetz zur Wehr setzen müssen, um seinen per27 Scheler : Rehabilitierung, 18. 28 »Es gibt einen Weg zur Freiheit. Seine Meilensteine heißen: Gehorsam, Fleiß, Ehrlichkeit, Ordnung, Sauberkeit, Nüchternheit, Wahrhaftigkeit, Opfersinn und Liebe zum Vaterland.« Vgl. Fellsches: Lebenkönnen, 101 f. 29 Kafka: Das Urteil und andere Erzählungen, 82.

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sönlichen Weg zu finden, den Eingang »für ihn«? Doch die unpersönlichen Mächte des Gesetzes, der Ideologie und der Bürokratie zermalmen den Menschen, der sich gegen sie nicht zu wappnen weiß.30 Kafka hat damit eine eindrückliche Kritik an der Übermacht der unpersönlichen, undurchsichtigen und unmenschlichen Strukturen formuliert, die das 20. Jahrhundert in so schrecklicher Weise bestimmen sollten. Doch welchen Schluss hat die Ethik daraus zu ziehen? Soll und muss sie die Strukturenethik der Moderne und mit ihr diese selbst grundsätzlich ablehnen? Die gegenwärtige Renaissance der Tugendethik, vor allem im angelsächsischen Sprachraum, weist teilweise in die Richtung einer grundsätzlich anti-modernen Kritik.31 Eine derartige postmoderne Rehabilitation der Tugendethik, die diese an die Stelle der Normethik setzt, schüttet jedoch das Kind mit dem Bade aus. Es bedarf vielmehr der Reflexion darüber, wie sich Tugend- und Normethik zueinander verhalten. Der britische Schriftsteller C. S. Lewis hat dafür einmal den treffenden Vergleich mit einer Flotte gezogen: Die Individualethik habe es mit der Kondition der einzelnen Schiffe, die Sozialethik jedoch mit der Flottenformation zu tun. Eine gute Flotte aber gibt es nicht ohne gute Schiffe.32 Eine analoge Aussage, die die Frage auf die liberal-demokratische Staatsordnung zuspitzt, macht das sogenannte Böckenförde-Paradoxon: Liberale politische Ordnungen setzen für ihr Funktionieren private Moral voraus, können diese aber nicht selbst hervorbringen.33 Eine Normethik, wie immer man diese konzipiert, ist daher für den öffentlichen Raum unabdingbar. Zugleich stellt sich die Frage, ob sie als eigentliches Fundament des Ethos ausreicht. Die jüdische Ethik nennt Gesetze treffend »Zäune« und Thomas von Aquin spricht von ihnen als »Maßstäben«, durch die Gott unterweist.34 Sie legen demnach Grenzen fest, geben jedoch keine Orientierung für das gute Leben von Personen und deren Lebensentfaltung innerhalb dieses Rahmens und werden zudem der Dynamik zwischenmenschlicher Beziehungen nicht gerecht. Doch angesichts der philosophischen, psychologischen und politischen Attacken gegen den Tugendbegriff sowie eines grundsätzlich normativen zeitgenössischen Verständnisses von Ethik erscheint eine Wiederbelebung der Tugend trotz guter Gründe schwierig. Man ist sogar geneigt, die pessimistische Einschätzung der moralischen Situation der Zeit am Anfang von MacIntyres

30 Max Weber hat in dieser Spannung zwischen dem entmachteten Individuum und der technokratischen Bürokratie die bedrohlichste Eigenschaft der Moderne festgemacht, vgl. Weber: Wirtschaft, 160 – 166. 31 So vor allem in MacIntyre: Verlust. 32 Vgl. Lewis: Christianity, 59. 33 Vgl. Böckenförde: Staat, 60. 34 Vgl. STh. I-II, q90 a1.

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Klassiker Der Verlust der Tugend zu teilen.35 Dabei erscheint allerdings die begriffliche Verarmung des moralischen Diskurses, die mit der Dominanz der Normethik zu tun hat,36 und nicht der Verlust an praktizierter Moral, also der oft beschworene Werteverfall, als das eigentlich Beunruhigende an der gegenwärtigen Situation. Denn wo die Begriffe fehlen, verflüchtigt sich die entsprechende Praxis. Die moralische Gestaltung und die ethische Durchdringung ganzer humaner Erfahrungsbereiche gehen dann im individuellen wie auch im gesellschaftlichen Bewusstsein verloren. Die Wiederentdeckung der personalen Dimension der Ethik, also der Tugend als ethischer Kategorie, wirft jedoch eine Reihe von Fragen auf, die teils für eine Tugendethik spezifisch sind, teils aber für jede universale Ethik gelten. Vor allem die Frage nach der Universalität zeigt sich hier in zugespitzter Form. Eng damit verbunden ist die Frage, ob es einen Kanon von Tugenden geben kann oder ob diese weitgehend beliebige individuelle Präferenzen, Ausdruck persönlicher Lebenskunst sind, und zuletzt die Frage, wie sie sich zu den Normen verhalten.

2.

Sind Tugenden universal?

Selbst dort, wo die Bedeutung einer Tugendethik heute anerkannt wird, werden Tugenden vielfach als kulturell relativ und inhaltlich weitgehend beliebig verstanden.37 Doch sind sie das wirklich? Tugenden sind ebenso wie Normen, Werte und Vorbilder Verwirklichungsformen eines Ethos. Der Begriff bezeichnet bekanntlich den Weidegrund, Wohnort und folglich die Gewohnheit als das, »was menschliches Zusammenleben ermöglicht, was den Zustand des Geordneten, Geregelten, Vertrauten, Gewohnten, Haltgebenden hat […], was in einer gege35 Er schreibt dort: »Stellen wir uns vor, die Naturwissenschaften würden das Opfer der Auswirkungen einer Katastrophe. Die Öffentlichkeit lastet den Wissenschaftlern mehrere verheerende Umweltpannen an. Es kommt verbreitet zu Unruhen, Labors werden niedergebrannt, Physiker gelyncht, Bücher und Geräte vernichtet. Nach einer gewissen Zeit versucht eine neue Generation aus den Trümmern, die dieser ›Wissenschaftssturm‹ hinterlassen hat, die ehemaligen Erkenntnisse der Naturwissenschaften zu rekonstruieren. Doch viele der Ansichten, die dem Gebrauch dieser Begriffe zugrunde lagen, wären verloren gegangen und ließen sich auch nicht mehr ganz wiederherstellen.« MacIntyre: Verlust, 13. 36 Der lange Schatten Kants und des Utilitarismus zeigt sich auch in neueren angelsächsischen Publikationen zur Tugendethik, so bei O’Neill: Tugend, Ramsay : Beyond Virtue und Slote: Morals, die die Tugend vor allem als Erfahrung sehen und das Gefühlsmoment sowie ihre motivierende Funktion für die Normenerfüllung hervorheben. Hursthouse: Virtue Ethics und Foot: Natural Goodness vertreten einen evolutionären Ansatz, der eine gemeinsame Motivationsstruktur von Menschen und »anderen« (d. h. nicht-menschlichen) Tieren aufzeigen soll; vgl. auch den bibliografischen Überblick von Copp, Sobel: Morality. 37 MacIntyre: Verlust vertritt dezisionistisch eine aristotelische Position.

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benen menschlichen Gruppe als gültig angesehen wird«.38 Für den Einzelnen bestimmt die Zugehörigkeit zum Ethos seine moralische Weltsicht und Identität vor aller ethischen Reflexion. Sie vermittelt Sicherheit im Umgang mit sich selbst und den anderen und begründet überhaupt erst das Bewusstsein, »eine für ihre Taten verantwortliche Person«39 zu sein. Zugleich stellt jedes Ethos eine spezifische kulturelle Verwirklichungsform der universalen conditio humana dar und zeigt die Angewiesenheit des Menschen auf eine humane Gestaltung seiner Lebensbereiche. In ihrem Entwurf einer nicht-relativistischen Tugendethik setzt die amerikanische Altphilologin und Aristotelikerin Martha Nussbaum bei eben dieser Tatsache an. Gegen einen in den Humanwissenschaften und vor allem der Ethnologie vorherrschenden Kulturrelativismus entfaltet sie eine universale Anthropologie und Ethik.40 Ihre Grundfrage ist: Gibt es menschliche Verhaltensweisen, die in allen Kulturen und zu allen Zeiten als unverzichtbare Grundlage eines guten Lebens angesehen werden? Wäre dies nicht der Fall, dann ließe sich jede Form von Unrecht, von Diskriminierung, von religiöser Intoleranz etc. rechtfertigen. Eine derartige relativistische Position ist jedoch nicht durchzuhalten, da jeder Mensch ab einer bestimmten Grenze Einspruch gegen kulturelle Praktiken, die er als inhuman ansieht (z. B. Menschenopfer), erhebt. Doch wie lassen sich Maßstäbe für die Unterscheidung von Gutem, Lebensförderndem, und Schlechtem, Lebenszerstörendem, finden? Nussbaum setzt empirisch bei kulturübergreifenden, allgemein menschlichen Erfahrungsbereichen an. So ist die Furcht vor Verletzungen, insbesondere vor dem Tod, universal. Es gibt daher in jeder Kultur bestimmte Vorstellungen davon, wie mit dieser anthropologischen Tatsache umzugehen ist, also von Tapferkeit. Gleiches lässt sich für andere Bereiche aufweisen: Körperliche Begierden und die damit verbundenen Freuden sind ebenso allgemein menschlich wie die Frage nach dem rechten Maß des Genusses; angesichts immer und überall knapper werdender materieller Ressourcen ist eine gerechte Verteilung erforderlich und so stellt sich die Frage nach Gerechtigkeit. Dem Umgang mit dem eigenen Besitz entsprechen die Tugenden der Freigebigkeit und der Gastfreundschaft. Wahrhaftigkeit und Liebenswürdigkeit werden überall geschätzt, wohingegen Lüge, Grobheit und Streitsucht abgelehnt werden. Gleicherweise universal ist die erwartete Einstellung zu Freude und Leid anderer: Mitgefühl und Sympathie gelten im Gegensatz zu Neid und Schadenfreude als gut und Ähnliches mehr. Diese Aufzählung ist nicht taxativ (es fehlt zum Beispiel der Erfahrungsbereich des Heiligen), sondern exemplarisch. Auch bestehen in einzelnen Kulturen Unsicher38 Kluxen: Ethik, 22. 39 Ricoeur : Selbst, 185. 40 Vgl. Nussbaum: Tugenden, 227 – 264.

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heiten in der Benennung und damit auch in der Konzeption der den Erfahrungsbereichen zuzuordnenden Tugenden.41 Ethische Begriffe sind zudem niemals eindeutig, sondern lassen Raum für Interpretationen, und jede Kultur kennt Werte und Tugenden, die ihr besonders wichtig sind. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Tugenden relativ sind, vielmehr ermöglichen und verlangen die Unterschiede im Verständnis ebenso wie die Unklarheit in ihrer Benennung interkulturelle Dialoge, gerade auch im globalen Kontext.42 Diese sollen nicht nur eine bessere ethische Durchdringung der universalen Erfahrungen ermöglichen, sondern auch Erkenntnisfortschritte im Ethischen bringen. So werden früher akzeptierte Verhaltensweisen, wie Duell und Blutrache oder die Folter als Mittel zur Geständniserpressung, aufgrund neuer moralischer Einsichten als nicht mehr angemessen erkannt und in der Folge sozial abgelehnt.43

3.

Tugendethik als Ethik der Person

Ein ähnlicher anthropologischer Ansatz, jedoch nun auf die Person bezogen, findet seinen Ausdruck im Konzept der inclinationes naturales des Thomas von Aquin, die dem Menschen als ihm eigene Strebungen zur Gestaltung aufgegeben sind.44 Hierin zeigt sich die zutiefst personale Ausrichtung der thomasischen Ethik.45 Durch die Tugend gestaltet der Einzelne die einzelnen Lebensbereiche durch kontinuierliche Praxis und gibt ihnen personale Form. Tugend kann damit bestimmt werden als das, was »den, der sie besitzt, in seinem Sein und Handeln gut macht«.46 Vorausgesetzt wird, dass sie durch Übung frei erworben und nicht andiszipliniert ist. Ihr liegt zudem die Vorstellung von einer graduellen menschlichen Entwicklung hin auf ein personales Ziel zugrunde. Dieser personale – im Gegensatz zum kulturellen – Ansatz hat mit einer anderen Sicht des menschlichen Lebens zu tun. Die zentrale Frage ist nun: Was ist gut für den Menschen, damit er sein letztes Ziel und damit Glück erreicht und so seine Existenz als Ganze gelingt? Nun kennt Thomas neben der beatitudo perfecta die beatitudo imperfecta, also in sich legitime innerweltliche Glücks- und Zielvorstellungen, wie sie sich auch in unserer Zeit finden. So verlangt die Realisierung 41 Dies ist bereits bei Aristoteles der Fall. 42 Vgl. Nussbaum / Sen: Quality. 43 Vgl. Aristoteles: Politik, 1269 a39 ff.: »Überhaupt trachtet alle Welt nicht nach dem Hergebrachten, sondern nach dem Guten.« 44 Es handelt sich um »natürliche Hinneigungen […], die die Vernunft von Natur aus als gut ergreift«, STh I-II, q94 a2. 45 Darauf weist Rhonheimer: Moral, 11 – 35, hin und betont, dass die Tugendethik eben nicht von einem Prinzip, sondern von der Person ausgeht und daher auch mit modernen Ethiken schwer vermittelbar ist. 46 STh II-II, q123 a1.

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des gegenwärtig vorherrschenden Weltziels eines allgemeinen und gerecht verteilten Wohlstands Tugenden wie Effizienz, Klugheit und (Verteilungs-)Gerechtigkeit. Die (nie vollkommene) Erreichung dieses Zustandes ist jedoch der beatitudo imperfecta zuzuordnen. Das Gute im Sein und Tun des Menschen, das durch die Tugend gefördert werden soll, hat jedoch als Ziel die beatitudo perfecta bei Gott. Wo dieses letzte (christliche) Ziel der persönlichen Vollendung aus dem Blick gerät (auch weil es offenkundig der Theologie und nicht der Philosophie zuzuordnen ist), stellt sich die Frage nach konsensuellen innerweltlichen, sozialen und individuellen Zielen und den ihnen zugeordneten Tugenden. Dabei besteht, wenn die soziale Ausrichtung der Tugend verloren geht und diese selbstreferentiell wird, die Gefahr ihrer Deformation: Es ist gut, ein guter Mensch zu sein, ist eine tautologische Aussage.47 Aufgrund der für die Neuzeit typischen Trennung von Spiritualität, Ethik und Anthropologie ist jedoch auch der christlichen Ethik das letzte Ziel und damit die personale Ausrichtung gleichsam abhanden gekommen. Denn diese besteht in der christlichen (wie in der jüdischen) Ethik vor allem auch in ihrer Rückbindung an einen personalen Gott, ohne den sie nicht nur ihr Ziel, sondern auch ihre inhaltliche Bestimmung verliert.48 Der Mensch ist in seinen anthropologischen Grundzügen als Ebenbild Gottes bestimmt. Er »ist insofern in höchster Weise nach dem Bilde Gottes geformt, als die vernünftige Natur Gott in höchster Weise nachahmen kann«.49 Die imitatio Dei ist so die praktische Vollzugsweise der Gottesebenbildlichkeit, deren Realisierung das oberste Ziel der Ethik bildet. Die Tugenden dienen diesem Ziel. Sie sind jedoch aufgrund dieser Vorgabe letztlich auf ein »Vorbild« hin geordnet,50 das in verschiedenen Formen ¢ als imitatio Christi oder der Heiligen – in die Spiritualität ausgewandert ist.

47 Dies scheint mir ein wesentliches Problem moderner Tugendethiken zu sein, die das »Worumwillen« nicht bestimmen können und daher häufig auf die Erfüllung der Norm als Endzweck rekurrieren. 48 Vgl. STh I-II, Prolog. 49 STh I, q93 a4. 50 Dass die Praxis der Tugenden sich an einem Vorbild, hier des guten Bürgers, orientiert, findet sich bekanntlich bereits bei Aristoteles. Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik, II, 1106a 15 – 23. Diese Orientierung am Vorbild ist wohl im Gefolge des Aufklärungsideals des aude sapere aus der Ethik verschwunden. Darauf verweist auch Hadot: Philosophie, 165: »Die Philosophie stellt eine Methode des geistigen Fortschritts dar, welche radikale Umkehr, völlige Änderung der Lebensweise verlangte. Lebensform war die Philosophie also sowohl was ihre Mittel, d. h. ihre Übungen und Anstrengungen, die Weisheit zu erlangen, betrifft, als auch in ihrem Ziel, der Weisheit selbst.« Dies sei in Vergessenheit geraten, »weil das mystische und persönlichkeitsformende Potential in die Theologie und die mönchische Lebensform übernommen wurde, während die Philosophie zur Dienerin der Theologie degradierte und damit rationalistisch wurde«. (Ebd., 45)

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4.

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Connexio virtutum oder: Wider die Beliebigkeit in der Tugendethik

Das klassische Schema der Kardinaltugenden und der theologischen Tugenden, wie es sich bei Thomas findet, ist nicht nur aus Gründen der Pädagogik – wiewohl auch diese eine Rolle spielt – wichtig. Der Aufweis einer systematischen inneren Verbundenheit der Tugenden und damit auch ihrer Praxis ist vielmehr für ihre ethische Reflexion unverzichtbar. Eine Schwäche zeitgenössischer Tugendtraktate besteht gerade darin, dass sie, je nach persönlicher Vorliebe des Autors, ausgewählte Tugenden unverbunden nebeneinanderstellen, was den Eindruck der Beliebigkeit erweckt und die Tugendethik, trotz aller gewonnenen phänomenologischen Einsichten, in den Bereich der Erbauungsliteratur verweist.51 Deshalb bedarf es der Klärung der inneren Struktur des Tugendtraktats und der Hierarchie der Tugenden. Die Gerechtigkeit als soziale Tugend par excellence bleibt so in Theorie und Praxis auf die Kardinaltugenden der Tapferkeit und des Maßes verwiesen, wobei die Klugheit als »Informantin« aller Tugenden fungiert, ohne die sie gar nicht tugendhaft sein können. Praktisch gesprochen: Wer andere Menschen und Verhältnisse nicht realistisch einzuschätzen vermag, wird in Verhandlungen um berechtigte Anliegen für Benachteiligte kaum Chancen haben. Wer bei leichten Drohungen einknickt, wird sich im Ernstfall einem Unrecht nicht widersetzen können. Das Beispiel zeigt im Übrigen den existenziellen Ernst der Tugendethik gerade auch angesichts der historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts. Wenn jemand aus verständlicher Angst oder aufgrund materieller Interessen bereit war, bei Gestapo, KGB oder Securitate Spitzeldienste zu leisten, muss er für den Rest seines Lebens den Makel der Schuld tragen. Es verwundert, dass derartige existenzielle Fragen in der zeitgenössischen Ethik kaum berührt werden.52 Die systematische Behandlung der wechselseitigen Verwiesenheit der Tugenden aufeinander ist zudem unverzichtbar, um Missverständnisse auszuräumen, die zur Diskreditierung der Tugendethik beitragen. Wenn die Überordnung der Gerechtigkeit, respektive der Primär- über die Sekundärtugenden wie Ordnung, Pünktlichkeit und Sparsamkeit etc., nicht gesehen wird, dann führt dies notwendig zu falschen Schlüssen und Dilemmata.53 Auch wenn eine Zuordnung einzelner Untertu51 Dies gilt für qualitativ so unterschiedliche Entwürfe wie jene von Hildebrand: Umgestaltung, Guardini: Tugenden, Betz: Tugenden, Drewermann: Moral. Entsprechend wird die Tugendethik vielfach auch als »Ethik der Lebenskunst« bezeichnet, so Höffe: Lebenskunst, der auch selbst einen Tugendkanon entwirft, und Fellmann: Philosophie. Der Begriff scheint nicht glücklich, weil er den Anstrich des Beliebigen vertieft und Assoziationen mit dem »Lebenskünstler« weckt. 52 Eine Ausnahme bietet Arendt, vgl. Arendt: Das Böse. 53 So erheben Klaus Rippe und Peter Schaber den Einwand gegen Tugendethik, dass jemand auch mutig handeln kann, um eine Diktatur zu verteidigen. Vgl. Rippe / Schaber (Hg.):

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genden nicht immer eindeutig ist – hier zeigt sich der pädagogische Charakter des Schemas –, ist die Architektur des Ganzen für die Tugendethik wesentlich. Dies schließt nicht aus, dass einzelnen Tugenden, wie etwa der Toleranz in multikulturellen Gesellschaften, besonderes Gewicht zukommen kann. Für eine christliche Ethik ist darüber hinaus die Verbindung von Kardinaltugenden und den theologischen Tugenden – Glaube, Hoffnung und Liebe – zentral.54 Diese übersteigen alle Erfahrungsbereiche und strukturieren sie zugleich neu. So ist die Liebe als forma virtutum der Grund und das Ziel aller anderen Tugenden. Zugleich bleibt sie jedoch auf diese verwiesen. Ohne diesen Rückhalt droht die Liebe inhaltsleer zu werden und wird im Ernstfall der Praxis, z. B. angesichts der Herausforderung der Feindesliebe, nur schwer gelingen. Wer dem Feind gegenüber nicht gerecht ist, wird ihn nicht lieben, und wer seinen Freunden gegenüber nicht wohlwollend ist, wird dies wohl kaum gegenüber seinen Feinden sein. Eine ausschließliche Betonung der Liebe kann in der Praxis zu allen Arten von Fehlformen führen, aber auch zu Resignation und Heuchelei, die sich aus der Überforderung durch ein unklares Ziel ergeben.

5.

Sind wir in der Wahl der Tugenden frei?

Eine weitere Frage bleibt zu stellen, da sie ins Zentrum der zeitgenössischen Schwierigkeiten mit der Tugendethik trifft: Inwieweit widersprechen vorgegebene Tugenden der Freiheit selbstverantworteter Lebensgestaltung? Wenn – im Anschluss an Paul Ricoeur – die moralische Identität für den Einzelnen (wie für die Kultur) zentral ist, verlangt diese nicht eine persönliche Wahl der Tugenden als Verwirklichungsformen der Freiheit?55 Gibt es hier nur Affirmation oder geht es auch um Kreativität in der Ausgestaltung des Tugendkanons? Können, ja müssen die Ziele des eigenen Handelns, die ihm durch die Zeit hindurch Kontinuität verleihen, nicht auch selbst bestimmt werden, um ihnen in Freiheit gerecht zu werden? Eine erste Antwort findet sich in den individuell wie kulturell vorgegebenen Erfahrungsbereichen, die in ihrer Gesamtheit zum menschlichen Leben gehören, auch wenn verschiedene Tugenden zu unterschiedlichen Zeiten gefordert sein mögen. Zwar stellt mich meine spezifische Lebensform, z. B. als Verkäuferin, selten vor die Herausforderung, tapfer handeln zu müssen. Doch kann jederzeit eine private oder politische Situation eintreten, wo eben dies von mir Tugendethik, 14. Dem ist tatsächlich so. Doch es handelt sich hier eben um keine Tugend, da dies offenkundig der Gerechtigkeit widerspricht. 54 Dies kann hier nicht näher behandelt werden, vgl. die nach wie vor beste Darstellung in Schockenhoff: Bonum hominis, 353 – 572. 55 Vgl. dazu etwa Ricoeur : Selbst, 112 f., oder auch Ricoeur : Fehlbarkeit, hier v. a. 70 – 109.

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gefordert wird und es daher einer grundsätzlichen Einstellung dazu wie günstigenfalls auch der Geübtheit bedarf. Ähnliches gilt für die anderen Tugenden. Es gibt sehr unterschiedliche Arten der Tapferkeit und der Gerechtigkeit in frei gewählten Lebensformen. Ich kann Armen helfen, mich für Menschenrechte einsetzen, dies hier oder in Afrika tun und vieles mehr. Die Freiheit wird durch diese Tugenden als Orientierungen für das gute Handeln und Sein nicht eingeschränkt, sondern geformt. Das gute geglückte Leben als das Worumwillen der Praxis soll durch sie gefördert werden.56 Tugenden sind daher kein »verdienstliches Mehr« gegenüber der Normerfüllung57, sondern bilden ihre Grundlage.

6.

Tugend und Norm: abschließende Bemerkungen

Das höchst komplexe Verhältnis von Tugend und Norm zu behandeln, übersteigt das Ziel dieses Beitrags bei weitem. Es sollte jedoch klar geworden sein, dass eine auf Normen beschränkte Ethik reduziert und letztlich unbefriedigend ist. Der Preis für das clare et distincte in der Ethik, soweit dieses überhaupt möglich ist, ist demnach hoch. Um das Gute in bestimmten Situationen zu verwirklichen, braucht es nicht nur die Fähigkeit, Normen zu befolgen, sondern eine grundsätzliche Vorstellung davon, was es heißt, anderen und sich selbst gerecht zu werden. Die Beantwortung der Frage »Was ist Gerechtigkeit?« hat demnach normative, aber auch tugendethische Aspekte. Normativ ist die Einhaltung von Norm x, z. B. in öffentlichen Gebäuden nicht zu rauchen. Dies kann gesetzlich vorgeschrieben oder nur moralisch geboten sein. Doch darüber hinaus muss der Einzelne auch dann, wenn keine Verbote oder Gebote bestehen, erkennen, was er tun soll, um gut zu handeln. So wichtig dafür der Situationsbezug ist, so sehr bedarf es jedoch der moralischen Orientierungspunkte sowie der bewussten Einübung – gerade auch in einer sich rasch wandelnden sozialen Umwelt. Mit der Einhaltung von Normen, ja sogar mit der Selbstgesetzgebung, ist die zentrale Frage noch nicht beantwortet: Wie werde ich dem anderen gerecht? Menschliche Beziehungen, ob Freundschaften oder Arbeitsbeziehungen, brauchen für ein gedeihliches Miteinander jene moralischen Kompetenzen, die durch die Tugenden entwickelt werden und die einen gerechten Ausgleich zwischen den eigenen Interessen und denen anderer ermöglichen. Dieser Ausgleich wird umso eher gelingen, je besser die Gerechtigkeit eingeübt ist, d. h. intellektuell reflektiert und über längere Zeit praktiziert wurde. 56 Auf das komplexe Verhältnis von Glück und Tugend kann ich hier nicht eingehen, vgl. Höffe: Lebenskunst, der darauf verweist, dass bereits bei Aristoteles beide »meistens«, aber eben nicht immer, zusammenhängen. 57 So ebd., 27.

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IV.

Ingeborg Gabriel

Zur Aktualität der Tugendethik

Die Klage über den Verlust der Tugend ist vielleicht so alt wie die Menschheit. Soll man daher auf sie verzichten und sie durch eine möglichst perfekte Ordnung zu ersetzen suchen? Die Antwort auf diese Grundfrage der Ethik muss heute nicht nur aus philosophischen, sondern auch aus soziologischen Gründen negativ ausfallen. Gerade in einer Zeit der Globalisierung, in der verschiedene Ethosformen weltweit miteinander in intensiven Kontakt und auch in Konflikt geraten, stößt eine reine Normethik an ihre Grenzen. Als kulturspezifischer Denkmodus der Neuzeit ist sie in andere Kulturen hinein argumentativ schwerer vermittelbar als die Tugendethik. Diese muss freilich dialogisch offen sein, um als Medium für eine Verständigung über Ziele des guten gemeinsamen Lebens zu taugen. Eine Ethik, die das Streben nach dem Guten, nach der personalen Verwirklichung des Menschen und letztlich nach dem Glück ins Zentrum stellt, ist gerade auch gegenüber religiösen Ethiken sprachfähig58 – ohne dass die Normethik deshalb abgelehnt werden muss. Weiters suchen Menschen in einer Zeit der Individualisierung und Auflösung von (auch christlich-ethischen) Traditionen nach einem persönlich befriedigenden und authentischen Lebensstil.59 Wenn man jedoch überlegt, wie diese gute Lebensordnung zu finden sein soll, wird man kaum nach einem Ethikbuch greifen. Ja eine derartige Vorstellung scheint beinahe absurd. Die Ursache dafür liegt auch bei der Ethik selbst. Die vorherrschende Normethik ist zur Klärung von Lebensfragen denkbar ungeeignet. Normen befolgt man oder auch nicht, als Grundlage für ein gutes Leben taugen sie wenig. Auch wenn dies zu Kants Zeit anders gewesen sein mag, kaum jemand gerät heute ins Schwärmen über Gesetze. Die lebensweltliche Absenz der Ethik ist insofern bedauerlich und sollte die Ethiker bedrücken, weil damit Wesentliches ungesagt bleibt. Das gute Leben hat es eben auch mit Moral zu tun und diese braucht Begriffe. Denn das, wofür es keine Worte gibt, existiert bestenfalls schemenhaft und kann nicht reflektiert werden. Ethische Leerstellen liefern so den Menschen der Konvention des Man aus. Es gäbe also gute Gründe, darüber nachzudenken, wie die moralische Sprache wieder verstärkt in den Diskurs eingebracht werden könnte, auch deshalb, weil das Fehlen moralischer Selbstreflexivität – wie Hannah Arendt bemerkt hat – für die großen totalitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts mitverantwortlich 58 Vgl. Gabriel: Weltethos. 59 Taylor : Quellen des Selbst, Teil 1 und 2, weist diese Suche als wesentlichen Teil der Neuzeit auf.

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war60 und auch in Zukunft Widerstandsfähigkeit gegen Unrecht gefordert ist. Diese hat jedoch mit der Entwicklung des Menschen als Menschen und seiner Mitmenschlichkeit zu tun. Letztere sind gerade in Zeiten globaler Unübersichtlichkeit und zunehmender pluraler Komplexität sowie eines gigantischen Traditionsbruchs auf anthropologische Orientierungen wie Tugenden angewiesen. Eine christliche Ethik, die anderorts weitgehend vergessene Einsichten auch der Tugendethik aufbewahrt, sollte daher wie der gute Hausherr des Evangeliums aus ihrem Vorrat Altes und Neues hervorholen.61

Literatur Arendt, Hannah: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, München (Piper) 2006 (aus dem Nachlass zuerst veröffentlicht 2003). Aristoteles: Politik, 4. Aufl., Hamburg (Meiner) 1990. Ders.: Nikomachische Ethik, hg. von Ursula Wolf, Reinbek (Rowohlt) 2006. Betz, Otto: Tugenden für heute. Zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit, München (Pfeiffer) 1973. Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt / M. (Suhrkamp) 1976. Copp, David, Sobel, David: Morality and Virtue: An Assessment of Some Recent Work in Virtue Ethics, in: Ethics 114 (April 2004), 514 – 554. Drewermann, Eugen: Ein Mensch braucht mehr als nur Moral. Über Tugenden und Laster, Düsseldorf u. a. (Patmos) 2001. Fellmann, Ferdinand: Philosophie der Lebenskunst zur Einführung, Hamburg (Junius) 2009. Fellsches, Josef: Lebenkönnen. Von Tugendtheorie zur Lebenskunst, Essen (Blaue Eule) 1996. Foot, Philippa: Natural Goodness, Oxford (Clarendon Press) 2001. Forschner, Maximilian: Die stoische Ethik. Über den Zusammenhang von Natur-, Sprach- und Moralphilosophie im altstoischen System, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1995. Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur. Und andere kulturtheoretische Schriften, Frankfurt / M. (Fischer) 1994. Gabriel, Ingeborg: Paradigmenwechsel in der Sozialethik, in: Reikerstorfer, Johann, Jäggle, Martin (Hg.): Vorwärtserinnerungen. 625 Jahre Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Wien, Göttingen (Vandenhoeck und Ruprecht) 2009, 145 – 171. Dies.: Weltethos in Bewegung: zwischen säkularer und religiöser Moral, in: Bader, Erwin (Hg.): Weltethos und Globalisierung, Münster (LIT) 149 – 162. Guardini, Romano: Tugenden. Meditationen über Gestaltungen sittlichen Lebens, Würzburg (Werkbund) 1963. 60 Arendt: Das Böse. 61 Vgl. Mt 13,52.

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Hadot, Pierre: Philosophie als Lebensform. Antike und moderne Exerzitien der Weisheit, Frankfurt / M. (Fischer) 2002. Hildebrand, Dietrich von: Die Umgestaltung in Christus, Regensburg (Habbel) 1972. Höffe, Otfried: Aristoteles, München (Beck) 1996. Ders.: Lebenskunst und Moral oder macht Tugend glücklich?, München (Beck) 2009. Hursthouse, Rosalind: On Virtue Ethics, New York (Oxford University Press) 1999. Illich, Ivan: In den Flüssen nördlich der Zukunft. Letzte Gespräche über Religion und Gesellschaft mit David Cayley, München (Beck) 2006. Kafka, Franz: Das Urteil und andere Erzählungen, Frankfurt / M. (Fischer) 1952. Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden [1795], in: Werkausgabe in 12 Bänden, Bd. 11: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Teil 1, Frankfurt / M. (Suhrkamp) 1996. Kersting, Wolfgang: Konjunkturen der Tugend. Von Platon und Aristoteles bis zur Postmoderne, in: Prisching, Manfred (Hg.): Postmoderne Tugenden? Ihre Verortung im kulturellen Leben der Gegenwart, Wien (Passagen) 2001, 39 – 74. Kluxen, Wolfgang: Ethik des Ethos, Freiburg (Alber) 1974. Korff, Wilhelm: Wie kann der Mensch glücken? Perspektiven der Ethik, München (Piper) 1985. Krämer, Hans: Integrative Ethik, Frankfurt / M. (Suhrkamp) 1995. Lewis, Clive Staples: Mere Christianity, rev. version, New York (Harper) 2001. MacIntyre, Alasdair : Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt / M. (Suhrkamp) 1995. Mandeville, Bernard: Die Bienenfabel oder Private Laster, öffentliche Vorteile, 2. Aufl., München (Suhrkamp) 1998. Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman, München (Beck) 21997. Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden, München u. a. (Hanser) 1954. Nussbaum, Martha: Nicht-relative Tugenden. Ein aristotelischer Ansatz, in: dies.: Gerechtigkeit oder das gute Leben. Gender Studies, Frankfurt / M. (Suhrkamp) 1999, 227 – 264. Nussbaum, Martha, Sen, Amartya (Hg.): The Quality of Life, Oxford (Clarendon Press) 1995. Oakley, Francis: Natural law, law of nature, natural rights. Continuity and discontinuity in the history of ideas, New York (Continuum) 2005. O’Neill, Onora: Tugend und Gerechtigkeit. Eine konstruktive Darstellung des praktischen Denkens, Berlin (Akademie) 1996. Pesch, Otto Hermann: Das Streben nach beatitudo bei Thomas von Aquin im Kontext seiner Theologie. Historische und systematische Fragen, in: Zeitschrift für Philosophie und Theologie 52 (2005), 427 – 453. Platon: Apologie, 2. Aufl., Wien (Hölder-Pichler-Tempsky) 1958. Ders.: Menon, hg. von Reinhold Merkelbach, Bodenheim (Athenäum) 1988. Ders.: Gorgias, Göttingen (Vandenhoeck und Ruprecht) 2003. Ramsay, Hayden: Beyond Virtue. Integrity and Morality, New York (St. Martin’s Press) 1997. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt / M. (Suhrkamp) 2001. Rhonheimer, Martin: Die Perspektive der Moral. Philosophische Grundlagen der Tugendethik, Berlin (Akademie) 2001.

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Ricoeur, Paul: De l’interpr¦tation. Essai sur Freud, Paris (du Seuil) 1965. Ders.: Die Fehlbarkeit des Menschen. Phänomenologie der Schuld I, München (Karl Alber) 1971. Ders.: Das Selbst als ein Anderer, München (Wilhelm Fink) 1996. Rippe, Klaus Peter, Schaber, Peter (Hg.): Tugendethik, Stuttgart (Reclam) 1998. Scheler, Max: Zur Rehabilitierung der Tugend (1915), in: Ders. (Hg.): Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze, Gesammelte Werke, Bd. 3, Bern (Francke) 1955, 17 – 26. Schockenhoff, Eberhard: Bonum hominis, Freiburg (Matthias Grünewald) 1987. Slote, Michael: Morals from Motives, Oxford u. a. (Oxford University Press) 2001. Taylor, Charles: Quellen des Selbst. Die Entstehung neuzeitlicher Identität, Frankfurt / M. (Suhrkamp) 1996. Ders.: A Secular Age, Cambridge, Mass. u. a. (Belknapp Press) 2007. Thomas von Aquin: Summa theologica, vollst. dt.-lat. Ausgabe, 36 Bände, Regensburg u. a. (Pustet) 1933 – 1961. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Bd. 1, Tübingen (Kiepenheuer und Witsch) 1956.

Günter Virt

Menschenwürde schon vor der Geburt?

Die »Spannweite des Daseins« ist ein überaus treffender Titel für eine Festgabe zu Ehren von Augustinus Wucherer-Huldenfeld, zutreffend für das Werk und die Person gleichermaßen. In seinem Denken schürft er in den Gründen des Seins mit einer Gründlichkeit, die alle anderen Fragehorizonte aufbricht. Dass der Mensch in seiner Seinsoffenheit dem Sein und nicht nur dem Seienden nachdenken kann, dass er gleichsam selbstverständlich mit dem Wörtchen »ist« seine Beziehungen und alles, was er erkennt, in den Horizont des Seins stellt, ist wohl etwas Besonderes: eine in ihrer Bedeutung meist zu wenig bedachte »Kleinigkeit« an unserem Menschsein. Hat dies vielleicht etwas damit zu tun, dass wir jeden Menschen schon aufgrund seines Menschseins spezifisch würdigen oder zumindest spüren, wir sollten ihn anerkennen und respektieren und das heißt ja würdigen? Jemanden würdigen kann bedeuten, ihn wegen seiner Stellung in einer Gruppe oder Gesellschaft zu honorieren. Aber ist das alles? Worin gründet dieses Honorieren, wenn es nicht bloß das Errichten von leeren Fassaden bedeutet, die in ihrer Hohlheit bald abbröckeln? Wir ahnen, dass der andere Mensch sich selbst achtet, wie auch wir uns selbst achten und geachtet werden wollen. Ist also die Selbstachtung der gesuchte Grund für das Würdigen, für das wir meist das abstrakte Substantiv Würde zur Hand haben? Selbstachtung wurde im philosophischen Disput zur Begründung und Reichweite der Menschenwürde genannt. Doch ist das wirklich der tiefste Grund? Warum achte ich mich eigentlich selbst und warum will ich geachtet werden, müssen wir weiterfragen. Setzt nicht selbst jemand, der »Menschenwürde« als Hauptwort leugnet, im Vollzug des Leugnens voraus, dass er mit dieser seiner Aussage gewürdigt werden will, sonst könnte man seine Aussage ja gar nicht ernst nehmen? Bevor wir diesen einleitenden Fragen nachgehen, sei der gegenwärtige Diskurshorizont ausgeleuchtet.

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I.

Günter Virt

Menschenwürde als Prinzip für den gegenwärtigen bioethischen Diskurs

Zunächst gilt es, die beiden im Vortragstitel angegebenen Brennpunkte Menschenwürde und Leben vor der Geburt im aktuellen bioethischen Diskurs zu situieren. Beide Begriffe werden im gesellschaftlichen Dialog ebenso heftig wie kontrovers diskutiert. Verschiedene Ethikschulen, Denkformen und sogar charakteristische Positionen verschiedener Konfessionen geraten auf diesem Feld aneinander. Zudem wird zumindest einschlussweise das Problem, wie empirische und normative Prämissen im Gemenge der Argumentationen und Professionen miteinander vermittelt werden können, damit angesprochen. Ethik ist ein Krisenphänomen. Als die erste Demokratie der Welt durch populistische Demagogen, Korruption und allgemeinen Sittenverfall in die Krise geraten war, begründete Aristoteles am Vorabend des Untergangs dieses seines Gemeinwesens, der Polis Athen, Ethik als eigenständige philosophische Disziplin. Ethik als Theorie der Moral (wie immer man sie im Detail genau definiert) erhielt im Laufe der Geschichte in und nach Krisenzeiten immer weitere Schübe, z. B. nach den Religionskriegen in der Aufklärung und nach den beiden Weltkriegen. Derzeit hat Ethik im Bereich der empirischen biologischen Wissenschaften als Bioethik Hochkonjunktur und wird nun nicht mehr nur an den Universitäten, sondern in verschiedenen Formen von Ethikkommissionen institutionalisiert. Das alte Ensemble unserer Moralregeln reicht für neuartige Entscheidungsfragen, die sich vor einigen Jahren noch kaum jemand gestellt hat, nicht mehr aus. Hinzu kommt die unübersehbare Vielfalt von Moralvorstellungen; diese prallen nicht nur zwischen den Kulturen, sondern auch innerhalb einer offenen Gesellschaft aufeinander. Sie dringen verunsichernd auch in die Identität der Menschen ein und werfen für manche die Frage auf: Wie viel Pluralismus halten Menschen aus, ohne für Fundamentalismen und totalitäre Ansichten anfällig zu werden? Ethik als Theorie der in die Krise geratenen Moralen (bewusst im Plural) hat also Hochkonjunktur. Doch wer ist ein Ethiker? Wie viele Ethiker gibt es denn überhaupt in den diversen Ethikkommissionen, die für die medizinische Forschung am Menschen, für schwierige Entscheidungsfragen in Spitälern und vor allem für die Politikberatung eingerichtet wurden und werden? Wer ernennt nach welchen Gesichtspunkten die Mitglieder einer Ethikkommission? Wie kommt man in einer pluralistisch zusammengesetzten Ethikkommission zu einem gemeinsamen Dokument? Gibt es überhaupt einen ethischen Kompromiss im strengen Sinn des Wortes? Ist ein ethisches Minimum durch den Zwang

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zum überlappenden Konsens nicht bereits durch die Zusammensetzung einer Kommission vorprogrammiert, sodass die jeweils liberalste Regelung als Lösung herauskommen muss? Spiegeln Ethikkommissionen nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse wider, in denen der Verbund von Wirtschaft, Wissenschaft und Technik die Definitionsmacht über das Leben übernimmt und nach eigenen Interessen bestimmt, wann das Menschenleben beginnt? Wie gehen Politiker mit den Beratungsergebnissen um? Gibt die Politik die heißen Kartoffeln in die Hand von Experten? Oder dienen diese Experten und ihr Votum vielleicht nur als Alibi? Die Szene steckt voller Probleme. Die einschlägige Literatur zu den vielschichtigen und vielfältigen Problemen von der Fortpflanzungsmedizin, der verbrauchenden Embryonenforschung, der Embryonenselektion bis hin zu Handlungsentscheidungen am Lebensende (»end of life decisions«), zeigt einen weit verbreiteten Argumentationstrend: Meist wird gleich mit dem Abwägen von Vor- und Nachteilen einer Handlungsoption begonnen. Eine solche Vorgangsweise des bloßen Aufzählens und Abwägens ist jedoch methodisch ungenügend. Jede Waage muss zuerst geeicht werden und braucht einen verlässlichen Maßstab – auch die ethische Güterabwägung. Wir kommen freilich in der angewandten Ethik um solche Abwägungsvorgänge nicht herum, wenn wir auf diffizile Fragen differenzierte Antworten geben sollen. Seit 2001 habe ich Erfahrung als Mitglied der »European Group on Ethics in Science and New Technologies« (EGE), die den Präsidenten der europäischen Kommission in den ethischen Fragen, die sich aus der rasanten Entwicklung der neuen Technologien ergeben, berät. Die Mitglieder werden vom Präsidenten berufen, er stellt die Aufgaben und erwartet ein Konsensdokument. Das bedeutet, die Mitglieder sollen untereinander und mit Experten so lange diskutieren, bis alle wichtigen Gesichtspunkte integriert sind, aber doch klare Empfehlungen für die Politik der europäischen Kommission herauskommen. Ein kleiner Auszug aus den Themen der Dokumente, die von der Gruppe seit ihrer Einsetzung 1993 publiziert wurden,1 möge eine Ahnung von der Spannweite der ethischen Themen geben, bei denen vermutlich weit in die Zukunft hinein Weichen gestellt werden: Sie reichen von Biopatenten über die Forschung mit menschlichen Embryonen, Doping, Patentierbarkeit von menschlichen Stammzellen, Gentests am Arbeitsplatz, Implantation von Informationschips in den menschlichen Körper, über ethische Probleme der Nanomedizin, Klonen von Tieren für Nahrungsmittel, über die ethische Bewertung neuer Technologien in der Landwirtschaft bis hin zur synthetischen Biologie, die sich bereits angeschickt hat, das Genom

1 Im Internet unter http://ec.europa.eu/european_group_ethics/index_en.htm (1. 6. 2010).

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von einfachen Lebewesen synthetisch herzustellen – auch die synthetische Herstellung von menschlichen Chromosomen wird bereits ernsthaft diskutiert. Immer wieder gilt es, sich in der Gruppe der ethischen Prinzipien zu vergewissern, um mitten im Dschungel von unterschiedlichen Informationen, Einschätzungen und Meinungen auch der Fachexperten ein ethisch begründetes Urteil zu finden. Güterabwägungen müssen wir nicht nur im Berufsleben in sehr unterschiedlichen Bereichen, sondern auch im Alltagsleben ständig vornehmen. Doch was unterscheidet eine ökonomische, technische oder nach anderen Aspekten der Nützlichkeit vorgenommene Abwägung von einer spezifisch ethischen Güterabwägung? In der Ethik ist viel von Prinzipien die Rede. An der Georgetown University in Washington wurde der sogenannte »Principalism« entwickelt2 – gerade auch im Hinblick auf pluralistisch zusammengesetzte Ethikkommissionen. In diesem Modell, das in den USA und weltweit große Verbreitung gefunden hat, werden vier Prinzipien zusammengestellt: – Autonomie (aus der Tradition der Aufklärung) – Nicht-Schaden (aus der Hippokratischen Tradition) – Wohltun (beneficence aus der christlichen u. a. Traditionen) – Gerechtigkeit (vor allem aus der amerikanischen Liberalismustradition) Die Hoffnung ist, mit diesen Prinzipien eine breite Konsensbasis zu schaffen. Allerdings haben sich Begriffe wie Autonomie geändert: Verstand Immanuel Kant darunter noch die sittliche Selbstverpflichtung unter einem (wenn auch formalen) Gesetz des Kategorischen Imperativs, so wurde daraus im Lauf der Zeit die Idee, seine Wünsche ungehindert verfolgen zu können, mit einem Trend zu einer »wunscherfüllenden Medizin«. Wenn es zu einem Konflikt zwischen diesen vier Prinzipien kommt, dann werden die Kontexte und die (in diesem Sinn metaphysischen) Hintergrundannahmen wieder virulent, während man sie doch gerade auszuschließen suchte, um ethische Aussagen metaphysikfrei zu begründen. Eine Vierfalt oder auch andere Vielfalt von ethischen Prinzipien stellt uns unausweichlich vor die Frage, was denn nun der wirkliche oder letzte Grundsatz sei, auf dem diese Prinzipien gründen. Die europäische Ethiktradition und alle Menschenrechtsdokumente bauen auf dem Grundsatz der Menschenwürde auf. Die Menschenwürde ist gleichsam das fixe Maß der Waage, mit der ethische Güterabwägungen vorzunehmen sind. Menschenwürde selbst kann daher nicht Gegenstand einer Güterabwägung sein, sondern ist immer deren Voraussetzung, unter der die Waage zu eichen ist. Das Prinzip Menschenwürde ist nach manchen Disputen in der EGE das Prinzip, auf 2 Beauchamp / Childress: Principles of Biomedical Ethics.

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dem ihre Argumentation aufbaut, zugleich der Grund für die Menschenrechte in ihrer Differenzierung.

II.

Menschenwürde und ihre Bestreitung

In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO von 1948 und ähnlich in allen Menschenrechtsdokumenten heißt es in der Präambel, dass die »Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet«. In der Europäischen Charta der Menschenrechte, die Bestandteil des Lissabonvertrages der EU ist, heißt es gleich zu Beginn in Art. II 61: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.« Diese und andere ähnliche Formulierungen enthalten dreierlei: 1. Die Würde ist damit gegeben, dass der Mensch Mitglied der Menschheit ist. Mehr wird nicht verlangt. 2. Die Anerkennung der Würde ist die Basis aller Rechte. 3. Die Würde ist nicht nur zu achten, sondern auch zu schützen, d. h., es ist ihrer Verletzung zuvorzukommen; das aber bedeutet: Je schwächer und kleiner ein Mensch ist, umso mehr ist er zu schützen. Aus der Würde erwachsen Rechte wie das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, auf Gewissens- und Religionsfreiheit, auf Versammlungs- und Informationsfreiheit usw. Über diese Freiheits- und Abwehrrechte hinaus gehen die Sozialrechte. Freiheits- und Sozialrechte hängen insofern untrennbar zusammen, als man keine Freiheitsrechte wahrnehmen kann, wenn man keine Sozialrechte hat. Dennoch ist der Weg zu den Sozialrechten primär ein Weg über die Freiheitsrechte, damit es zu keinem reinen Planungs- und Versorgungsstaat kommt, welcher der Erfahrung nach seine Bürger und Bürgerinnen unterdrückt. Die Charta der Grundrechte der EU im Lissabonvertrag enthält im Detail 21 Sozialrechte. Doch damit sind wir im bioethischen Dialog keineswegs über den Berg angesichts der Frage, wie es mit der Menschenwürde und dem Würdeschutz vor der Geburt steht, denn Begründung und Reichweite der Menschenwürde sind neuerdings wieder umstritten. Provokante Buchtitel und Inhalte zeugen davon.3 Viele heute geäußerte Einwände sind keineswegs neu; sie stehen in der Tradition Arthur Schopenhauers, der bereits den Verdacht äußerte, die Rede von der Menschenwürde sei »das Schiboleth aller rat- und gedankenlosen Moralisten, 3 Z.B. Wetz: Illusion der Menschenwürde.

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die ihren Mangel einer wirklichen oder doch wenigstens irgendetwas sagenden Grundlage der Moral hinter jenem imponierenden Ausdruck Würde des Menschen verstecken.«4 In Deutschland gibt es derzeit eine heftige Diskussion vor allem in neueren Kommentarwerken zum deutschen Grundgesetz Art. 1 Abs. 1: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Es gibt laute Stimmen, die diesen Artikel restriktiv auslegen und auf einen engen Kern des personalen Achtungsanspruchs beschränken möchten. Hier wird nicht mehr vom Menschen, sondern von Personen gesprochen, und nur von solchen, die sich selbst achten und Achtung erwarten können.5 In Österreich haben wir solche Probleme erst gar nicht, weil in unserer rechtspositivistischen Verfassung die Würde überhaupt nicht vorkommt. Daraus wird selbst in Ethikkommissionen bisweilen der Schluss gezogen, einen menschenrechtlich validen Lebensschutz gebe es erst nach der Geburt – das als ethisch gemeinte Aussage. Man könnte das einen rechtspositivistischen Fehlschluss nennen: Aus der Straffreiheit der Abtreibung in den ersten drei Monaten und bei entsprechenden Indikationen (z. B. Gefahr einer ernsthaften Schädigung des Kindes gemäß österr. StGB § 97) bis zur Geburt wird das ethische Urteil abgeleitet und schnurstracks auf die Embryonenforschung übertragen. Vorgeburtliches Menschsein fällt dann nach rechtspositivistischer Logik aus der Würde einfach heraus. Ähnliches gilt für empiristische Fehlschlüsse, die aus dem Nicht-Vorhandensein von Hirnstrukturen als Voraussetzung für personale Vollzüge folgern, dass in dieser Phase der Entwicklung Menschsein noch nicht zu würdigen sei. Es gibt noch eine Reihe anderer solcher Fehlschlüsse. Restriktive Ausleger des Deutschen Grundgesetzes interpretieren auch die Würde in der Verfassung von positivierten Rechtssetzungen her, die vielfach schon einen politischen (keinen ethischen) Kompromiss darstellen. Eigentlich soll es aber umgekehrt sein: Die Rechtssetzung und die Rechtsfolgen müssen vom Verständnis der Würde her kontrolliert werden. Wie konnte es so weit kommen? Wenn wir im alltäglichen Sprachgebrauch von Würde sprechen, dann haben wir bestimmte Bilder eines ansehnlichen Menschenlebens vor Augen, das eine bestimmte Qualität aufweist (am besten jung, gut aussehend, sportlich, wohlhabend usw.). Das steigert sich dann noch bei den Würdenträgern der Medien wie Showmaster, Popstars usw. Nach dieser Logik heißt es dann: je mehr Ansehen, desto mehr Würde. Würde in diesem Verständnis ist also steigerungsfähig und kann auch abnehmen, wenn man alt und unansehnlich wird. Wenn dann in diesem Sinn kein menschenwürdiges 4 Schopenhauer : Die beiden Grundprobleme der Ethik, 160. 5 Vgl. dazu ebenso grundsätzlich wie übersichtlich Isensee: Der grundrechtliche Konnex, 116 f.

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Leben mehr möglich ist, fordert man ein »Recht auf menschenwürdiges Sterben« in Form eines »sozial verträglichen Frühablebens«, um den Begriff Euthanasie zu vermeiden. Eine zweite Vorstellung von Würde, die in der Gesellschaft weit verbreitet ist, bindet Würde an Autonomie. Nur wer möglichst autonom (was immer das heißt) entscheiden und handeln kann, ist zu würdigen. Auch hier werden Begründungsverhältnisse umgekehrt: Autonome Selbstbestimmung wird als Grund für die Würde angenommen, statt umgekehrt eine selbstbestimmte Entscheidung zu respektieren als Konsequenz aus der Würde des Menschen. Selbstverständlich ist unser Verständnis von Menschsein an Bewusstsein, Freiheit und Handlungsfähigkeit gebunden. Nun sind wir aber nicht immer bewusst und herrlich frei und völlig unabhängig. Also muss man in dieses Würdeverständnis auch Zustände einschließen, die dazwischen und davor und auch danach liegen. Hinter Sigmund Freuds »Entdeckung des Unbewussten« sollte man nicht zurückfallen. Der auf bewusste Wahrnehmung und Freiheit reduzierte Mensch ist der Mensch, der gleichsam von der Spitze des Eisbergs her verstanden wird. Alles, was mit dieser Spitze im Menschen in unlösbarem Kontakt ist, erbt dann gleichsam von dieser Spitze her auch die Würde. Diese Spitzenmöglichkeit färbt in dieser Vorstellung bestenfalls auf die eingeschränkte Realität des Menschen ab, sodass auch Menschen mit Behinderung (wenn sie denn das Glück hatten, zur Geburt zugelassen zu werden) als Menschen zu würdigen sind. Freilich machen manche Ethiker wie z. B. Peter Singer das Kriterium von Bewusstsein und Freiheit so stark, dass es ausschließliches Kriterium für Würde wird. Koma und Demenzzustände schließen dann von der Würde aus. Dietmar Mieth nennt dies die Bewusstseinsfalle: Gilt in der erstgenannten empirischen Falle nur die Würde, die wir sehen (für ansehnliche Menschen), so gilt in der Bewusstseinsfalle Menschenwürde nur für die Menschen, die sich bewusst selbst vertreten und ihre Interessen äußern können. Will man die Bewusstseinsfalle und die empirische Falle vermeiden, dann bleibt nichts anderes übrig, als die Würde mit dem Dasein des Menschen zu verbinden – ohne Bewertung, wie weit er entwickelt ist, wie funktionstüchtig er ist usw. – und die Menschenrechtsdokumente so zu verstehen. Das aber bedeutet, dass jeder Mensch, der da ist, als Mensch zu würdigen ist. Alles andere mündet in eine willkürliche Zuschreibung von außen durch jene, die dazu gerade die Macht haben. Aber wann und wie tritt der Mensch ins Dasein? Und wer tritt da ins Dasein?

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III.

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Die Eigenart des pränatalen Daseins des Menschen

An diesem Punkt unserer Überlegungen wird das Problem der Vermittlung zwischen normativen und empirischen Erkenntnissen virulent. Genau dies ist aber die Aufgabe der angewandten Ethik. Die Definitionsmacht darüber, wann und wie der Mensch ins Dasein tritt, hat in unserer Gesellschaft, in ihren Medien und ihren Ethikkommissionen der Verbund von Wirtschaft, Wissenschaft und Technik übernommen: Wer schreibt nach welchen Interessen Menschsein zu bzw. noch nicht zu? Diese Problematik zeigt sich bereits in der Semantik: Die einen sprechen vom Embryo und fügen das Adjektiv »menschlich« nachträglich hinzu, die anderen vom »embryonalen Menschen«. Beide Redeweisen enthalten bereits die Position dessen, der diesen Ausdruck wählt. Wer vom menschlichen Embryo spricht, wählt den Oberbegriff Embryo zum Subjekt bzw. besser zum Objekt; die Konsequenzen wirken bis in das Patentwesen hinein, wenn z. B. beim sog. Edinbourgh-Patent unter dem Oberbegriff nicht nur tierliche, sondern auch menschliche Embryonen mitpatentiert wurden. Zudem wird mit dem weit verbreiteten Begriff »Präembryo« suggeriert, es handle sich ja nicht einmal um einen richtigen Embryo. Wer hingegen den Ausdruck »embryonaler Mensch« wählt, spricht den Menschen als Subjekt an und fügt im Adjektiv den Zustand seines frühen Entwicklungsstadiums an. Bei beiden, also nicht nur bei der letzteren Redeweise, fließt der Standpunkt bereits in die Beschreibung ein. Die Redeweise des römisch-katholischen Lehramtes weist ihrerseits andere Probleme auf: Im Dokument der Glaubenskongregation Donum Vitae vom 22. 2. 1987 heißt es, dass das Leben eines jeglichen menschlichen Geschöpfes vom »Augenblick der Empfängnis an« zu schützen sei. Die moderne Wissenschaft zeigt uns aber heute mit empirischer Evidenz, dass der Beginn des Menschenlebens nicht ein chronometrischer Augenblick ist, sondern ein Prozess. Zudem legt zumindest die deutsche Übersetzung mit dem Wort Empfängnis (conceptus) nahe, an die Nidation zu denken.6 Welche Bedeutung hat überhaupt der moderne empirische Befund für die normative Ethik? Die Ethik und alle Geisteswissenschaften müssen zunächst den empirischen Befund auch mit seiner Vorläufigkeit genau studieren, um zu wissen, worüber sie reden. Aber oft enthält der empirische Befund nicht nur eine eingeengte Fragestellung, sondern selbst bereits eine verdeckte Wertung. Jede empirische Forschung wird ja aus menschlichen Interessen von Menschen für Menschen 6 Im letzten Dokument Dignitas Personae vom Dezember 2008 stehen immerhin der Ausdruck »Moment« und der Ausdruck »Prozess« nebeneinander.

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betrieben. Jeder empirische Befund ist aufgrund eines notwendigen methodischen Reduktionismus entstanden, der so lange unproblematisch ist, als man sich dessen bewusst ist und in seiner Aussage keine Grenzüberschreitung vornimmt. Die Bedeutung eines auf einer präzisen Versuchsanordnung beruhenden Ergebnisses für unser Selbstverständnis als Menschen insgesamt ergibt sich nicht aus den empirischen Wissenschaften allein. Was es heißt, Mensch zu sein, ist nicht nur eine empirische Frage, sondern eine geisteswissenschaftliche, eine philosophische und eine theologische. Wenn aus der immer genaueren Kenntnis des Prozesses des Beginns des Menschenlebens eine Gradualität der Menschenwürde gefolgert wird, dann ergibt sich das keineswegs aus den empirischen Daten. Die Vorstellung, mit der Menschenwürde verhalte es sich wie mit einem Sparschwein, in dem man im Laufe der Zeit immer mehr Würde ansammeln kann, ist ein ebenso lächerlicher wie absurder Gedanke. Wenn die Menschenwürde mit dem Menschsein gegeben ist, erstreckt sie sich auf den gesamten Lebenszyklus. Sie ist daher nicht teilbar nach dem Prinzip: »ganz zu Beginn vielleicht 1 %, dann 10 %, zwischendurch 50 % und bei der Geburt (für Peter Singer erst im ersten Lebensjahr) 100 %.« Nicht der Embryo ist zu einem geborenen und dann erwachsenen Menschen geworden, sondern ein Mensch selbst ist es, der im Durchgang durch diese Entwicklungsschritte immer schon Mensch war. Nicht die Lebensphase ist das Subjekt des Werdens, sondern der Mensch wird im Laufe seines Lebenszyklus zwar in vielerlei Hinsicht anders, aber nicht ein anderer. Gerade wenn es um Beginn und Anfang unseres persönlichen Menschseins geht, das es zu würdigen gilt, ist die Unterscheidung und Bezogenheit von Beginn und Anfang, wie sie Augustinus Wucherer-Huldenfeld vorgenommen hat, besonders hilfreich. Er lenkt unsere Aufmerksamkeit darauf, dass im Streit um die chronometrische Bestimmung des Zeitpunktes, ab dem die ersten Anzeichen in der organismischen Entwicklung festzustellen sind, welche die künftige spezifisch menschliche rationale Geistigkeit ihrer Anlage nach bedingen, meist zu wenig bedacht wird, nach wessen Anfang da eigentlich gesucht und gefragt wird. Welches ist der angemessene Horizont zum Verständnis des Menschen in seinem Werden?7 Vieles wird in der empirischen Forschung im tierlichen Vergleich erforscht (etwa in der Stammzellenforschung). In dieser Fragestellung wird der Mensch als Sonderfall eines Säugetieres in den Blick genommen. Methodischer Reduktionismus ist nur so lange legitim, als er nicht die umfassendere und ursprüngliche Fragestellung verstellt, wie der Mensch von sich selbst her erscheint und sich versteht. Zum Menschsein gehört zweifellos die spezifische Weise des Selbstseins, des 7 Vgl. Wucherer-Huldenfeld: Beginn und Anfang.

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dialogischen Miteinanderseins und des offenen In-der-Welt-Seins. Die Frage nach dem Anfang bezieht sich darauf, wer da anfängt ins Dasein zu treten, wessen Daseinsganzes sich hier eröffnet, und das ist das eines ganz persönlichen Menschseins. Die Frage nach dem Beginn hingegen, also aus der Perspektive von chronometrisch bestimmbaren Entwicklungsphasen, ist immer eingebettet in den größeren Horizont der Frage nach dem Anfang dessen, dessen Daseinsganzes sich im zeitlichen Prozess sukzessive eröffnet. In der gegenwärtigen Situation, in der der Verbund von Wirtschaft, Wissenschaft und Technik die Definitionsmacht über Beginn und Anfang des Menschenlebens besitzt, spielt sich eine mehrfache Verengung des Horizonts ab: Um den ganzen Bereich tiefenpsychologischer Forschung über das vorgeburtliche Leben ist es in letzter Zeit merkwürdig still geworden. Augustinus Wucherer-Huldenfeld hat sehr früh darauf aufmerksam gemacht, dass die Ausarbeitung einer philosophischen Anthropologie der Pränatalzeit an der Zeit sei. Er hat aber auch innerhalb des Ansatzes einer pränatalen Tiefenpsychologie auf Verengungen hingewiesen. In seinem Beitrag »Der personale Aspekt im Individuationsprozess« zeigt er auf, dass das pränatale Dasein keineswegs nur als Anfang eines noch isolierten Selbst zu sehen ist, sondern dass es sich bereits in persönlicher präverbaler Kommunikation zu entfalten beginnt.8 Er weist außerdem darauf hin, dass es fraglich ist, ob das, was der Mensch ist, nämlich Weltoffenständigkeit für Begegnendes in der Spannweite der ihm gewährten Lebenszeit, aus einer einzigen Lebensphase, wie wichtig diese auch sein mag, verstanden werden kann. »Ist uns das Ganze des Daseins in der vorgegebenen Möglichkeit, alle Lebensphasen zu durchleben, eröffnet, dann ist das angemessene Verhältnis der Phasen zum Ganzen, untereinander sowie des Ganzen zu den einzelnen Phasen von großem Gewicht für unser Leben. Jedes Lebensalter, jede Lebensphase hat ihren eigenen Sinn, sie kommt jeweils nur einmal und unumkehrbar vor ; keine Phase, auch nicht die pränatale, ist bloß als Vorbereitung auf die kommende hin zu verstehen; jede Phase soll auch die vorhergehende aufnehmen und ihren Sinn in neuer, eigener Gestalt fortsetzen. Sie bringt dem Gewesenen Zukunft. Jede Phase ist um des Ganzen willen da.«9

Wir verstehen unser Dasein aber nicht nur am Beginn, sondern ein Leben lang nur recht, wenn wir es als ein Dasein im andern, durch den anderen und mit anderen und, je älter wir werden, für andere verstehen. Wir verdanken anderen die Möglichkeit, selbst wiederum andere ins Dasein freigeben zu können. Warum?, fragt Augustinus Wucherer-Huldenfeld: »Weil es einfach gut ist, dass

8 Vgl. Wucherer-Huldenfeld: Der personale Aspekt. 9 Wucherer-Huldenfeld: Beginn und Anfang, 100.

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jeweils Du Du selber bist und sein kannst und nicht – nur für mich –, sondern erstlich für Dich selber.«10 Dasein im Anderen wird von Beginn an als ein dialogisches und damit ein persönliches erfahren. Dieses dialogische Verhältnis zeigt sich bereits zu Beginn auch empirisch, da bereits der ganz frühe Embryo schon vor der Nidation Signale aussendet und empfängt. Ansätze einer pränatalen Tiefenpsychologie und Anthropologie zeigen, dass Eindrücke in der pränatalen Phase sich auf verschiedene Weise im postnatalen Leben klinisch manifestieren können. Dabei reichen die biochemisch nachweisbaren Austauschprozesse zwischen Mutter und Kind allein nicht aus, um die emotionalen Qualitäten dieser Beziehung zu erfassen. Die Psychotherapeutin Renate Hochauf u. a. sprechen in diesem Kontext von einem Zellgedächtnis.11 Wie dem auch im Detail sei, wir dürfen gespannt sein auf weitere interdisziplinäre Studien zur pränatalen Anthropologie, die unseren Horizont über die derzeit dominierende biochemische Forschung hinaus ausweiten. Greifen wir nun den Gedankenfaden der Einleitung an dieser Stelle auf. Warum achte ich mich selbst und will geachtet werden? Die ursprüngliche Erfahrung personalen Seins ist, wie Augustinus Wucherer-Huldenfeld immer wieder betont, die des Daseins durch andere, die mich gewürdigt haben, da zu sein, mein Dasein zugelassen haben und die mir die Möglichkeit gegeben haben, auch dem Dasein anderer in vielfältiger Weise Raum zu geben und sie zu würdigen nicht nur als meinesgleichen, sondern um ihrer selbst willen. Darin liegt meines Erachtens der starke Grund dafür, das Dasein eines jeden Menschen bereits vor der Geburt und von Beginn an zu würdigen. Wie aber kann ich würdigen, was ich nicht sehe, wenn kein Antlitz unbedingt und unausweichlich mir gegenübertritt und mich in die Pflicht nimmt? Dieser Anfang ursprünglicher Erfahrung von Menschsein verbirgt sich in der Unscheinbarkeit seines Beginns so sehr, dass dieser nicht nur für uns faktisch unbestimmt ist, sondern auch bei fortschreitender empirischer Forschung unbestimmbar bleibt. Der Anfang des Menschseins verbirgt sich in seinem Beginn, könnten wir in paradoxer Weise formulieren. Der Beginn liegt im Laufe des Lebens immer weiter zurück; der Anfang kommt immer deutlicher zum Vorschein. Dies geschieht nie vollständig, denn jeder stirbt in einer bestimmten Weise unvollendet. Bei allen Debatten um Zwillingsbildung, Mosaikbildung und die Bedeutung (nicht Zäsur) der Nidation usw. konnte mir noch niemand beweisen, dass dieser kleinste und unscheinbare und so riskierte und gefährdete Beginn unseres Menschseins nicht zum Menschenleben gehört und dass sich der Würdeschutz 10 Ebd., 102. 11 In: Reiter: Vorgeburtliche Wurzeln der Individuation, 98.

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nicht auch auf den Beginn erstrecken sollte. Da es sich beim Menschenleben um das grundlegende Gut handelt, ist es auch in der Verborgenheit und Riskiertheit des unscheinbaren Beginns zu schützen und zu würdigen. Aus der Verborgenheit, ja mehr noch aus dem Nichtwissen folgt kein Argument für die Nichtexistenz eines Menschenlebens. Philosophische Überlegungen führen Augustinus Wucherer-Huldenfeld und jeden, der sich von seinen Gedanken mitnehmen lässt, an die Grenze religionsphilosophischer und theologischer Dimensionen, wenn wir bedenken, dass wir unser Dasein zwar zur Gänze unseren Eltern verdanken, aber mehr sind als das Produkt oder die Reproduktion ihrer Daseinsentfaltung, weil mit jedem von uns etwas absolut Neues, noch nie Dagewesenes, unwiederholbar Einmaliges in die Welt getreten ist.

IV.

Zum Verhältnis philosophischer und theologischer Anthropologie und Ethik im Hinblick auf Menschenwürde und Menschenrechte

Theologische Argumentation ist nicht nötig, um Menschenwürde zu begründen. Gott ist kein Lückenbüßer für fehlende philosophische Argumentation. Aber keine noch so rationale Argumentation spielt sich im luftleeren Raum ab. Theologische Kontexte können besonders starke Motive beitragen, Menschen zu würdigen, wenn es schwierig wird – besonders schwierig an Orten, wo viele, die theoretisch der Menschenwürde zustimmen, praktisch wegschauen. Theologische Motive bewegen uns, vor allem die Schwachen und Kleinen zu würdigen mit allen Konsequenzen, wenn diese der Definitionsmacht und physischen Macht der Stärkeren ausgeliefert sind. Argumentation und Zeugnis zusammen sind nicht zu überbieten, wie die Geschichte zeigt. Menschenwürde und Menschenrechte haben viele Wurzeln, ganz sicher auch in der jüdisch-christlichen Tradition und ihren Quellen und Modellen, obwohl das Lehramt der römischen Kirche sich schwer getan hat mit der konkreten Ausformulierung von Menschenrechten, als etwa im 19. Jahrhundert die Angst vor Relativismus und emanzipatorischen Tendenzen dominant und hinderlich war. Seit Johannes XXIII. mit seiner Enzyklika »Pacem in Terris« (1963) ist es wohl unwiderruflich klar, dass sich die Kirche voll für die Menschenrechte einsetzt. Die biblischen Quellen sprechen nicht nur vom König als Statue Gottes im Tempel – wie in Ägypten –, sondern davon, dass jeder Mensch Statue Gottes in

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der Welt ist.12 Unterschiedliche Auslegungen dieses biblischen Motivs zu behandeln, überstiege den Rahmen dieses Beitrags. Es sei nur angemerkt, dass im bioethischen Dialog zwischen den christlichen Konfessionen in letzter Zeit tiefgreifende Unterschiede aufgebrochen sind im Hinblick darauf, ob die Menschenwürde sich auch auf die frühen Phasen der Entwicklung des Menschenlebens erstreckt. Reformierte Theologen meinen, bei der Gottebenbildlichkeit handle es sich nicht um eine ontologische Aussage, sondern um eine »reine Zuschreibung« von außen wie bei der theologisch so interpretierten Rechtfertigung. Das diesem Motiv entsprechende philosophische Modell ist das des Nominalismus. Katholische Theologie hingegen sucht einen ontologischen Zugang in der Tradition der analogia entis und ihrer Denker. Jede Theologie sucht sich die Philosophie, mit der sie meint, ihr Anliegen am besten durchbuchstabieren zu können. Freilich können die Rechte, die sich aus der Würde ableiten, im Konfliktfall gegeneinander abgewogen werden. Es kann Auseinandersetzungen darüber geben, ob alle Rechte in jeder Situation durchgesetzt werden können, so z. B. in Bezug auf das Leben von embryonalen Menschen, wenn von elterlicher Seite kein Fortpflanzungswunsch mehr besteht. Was soll in dieser tragischen Situation geschehen, da sie nun einmal kryokonserviert da sind? Ich denke, es macht noch einmal einen fundamentalen Unterschied, ob ich sie in dieser tragischen Situation sterben lasse oder als Rohstoff für Konzerne und Forscher verwende. Sterben lassen mag gegen das Lebensrecht sein, das auch sonst in tragischen Situationen nicht immer geschützt werden kann – etwa im Fall der Notwehr. Menschenleben zum Rohstoff zu machen, ist hingegen ein fundamentaler Verstoß gegen die Würde des Menschen. Dass Gott dem Menschen, den er in seiner Weltoffenheit und Freiheit freigegeben hat, näher ist als dieser sich selbst, dies zeigt sich unüberbietbar in der Bereitschaft Jesu Christi, alles Böse und Leid dieser Welt auf sich aufprallen zu lassen und von der Wurzel her in seiner Person in Liebe zu verwandeln. Gott ist vom Menschenschicksal in einer Weise berührt, die durch rein philosophische Argumentation nicht eruierbar ist. Gott scheint, wenn wir auf das Leid in der Welt blicken und alle Verletzungen der Menschenwürde bedenken, auch uns diese Transformation zuzumuten, alles Leid in Liebe zu verwandeln. Die Sorge um die Respektierung und den Schutz der Würde der Schwachen ist ein zentraler Topos jeglicher christlicher Soziallehre und sollte sich auch auf die schwachen, riskanten und so kleinen Phasen am Beginn des Menschenlebens beziehen. Die besondere Zuwendung zu den Armen und Kleinen – und dazu möchte ich aus den eben entwickelten Gründen auch die Menschen vor der Geburt zählen – 12 Die Übersetzung von Gen. 1 mit »Bild Gottes« ist uns geläufiger.

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ist eine wesentlich christliche Option. Wir kennen die vorrangige Option der lateinamerikanischen Kirche für die Armen, von Befreiungstheologen formuliert und von den Generalversammlungen des lateinamerikanischen Episkopats ständig erneuert. Ich möchte mit einem Wort der II. Generalversammlung der lateinamerikanischen Bischofskonferenzen in Puebla schließen, »daß jede Verletzung der Würde des Menschen eine Verletzung Gottes selbst ist, dessen Ebenbild er ist«.13 Und in Nr. 318 werden in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Menschen vor der Geburt genannt: »Wir verurteilen jede […] Verletzung des Menschen und seiner unveräußerlichen Rechte, jede Art von Angriff auf das menschliche Leben, auf das, welches verborgen im Mutterschoß schlummert, auf das, was für nutzlos erachtet wird und auf das, das im Alter zu Ende geht […].«14

Literatur Beauchamp Tom, Childress, James: Principles of Biomedical Ethics, New York, Oxford (Oxford University Press) 62009. Isensee, Josef: Der grundrechtliche Konnex von Menschenleben und Menschenwürde, in: Zeitschrift für Lebensrecht 18 (2009), 114 – 124. Reiter, Alfons (Hg.): Vorgeburtliche Wurzeln der Individuation. Im Gedenken an Leben und Werk von Gustav H. Graber, Heidelberg (Mattes) 2005. Schopenhauer, Arthur : Die beiden Grundprobleme der Ethik, Leipzig 1860. Wetz, Franz Josef: Illusion der Menschenwürde. Aufstieg und Fall eines Grundwertes, Stuttgart 2005. Sekretariat der deutschen Bischofskonferenz (Hg.): Die Evangelisierung Lateinamerikas in Gegenwart und Zukunft. Schlussdokument der III. Vollversammlung des lateinamerikanischen Episkopats in Puebla, Bonn 1979. Wucherer-Huldenfeld, Augustinus Karl: Beginn und Anfang menschlichen Daseins, in: ders.: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein. Ausgewählte philosophische Studien I: Anthropologie, Freud, Religionskritik, Wien u. a. (Böhlau) 1994, 95 – 106. Ders.: Der personale Aspekt im Individuationsprozess: Versuch einer Würdigung des Anliegens von Gustav Hans Graber, in: Reiter, Alfons (Hg.): Vorgeburtliche Wurzeln der Individuation, a. a. O., 53 – 65.

13 Vgl. Sekretariat der deutschen Bischofskonferenz: Die Evangelisierung, 67 (Nr. 306). 14 Ebd., 70.

III. Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie

Markus Riedenauer

Dazwischensein: Kritik der Neugier und Rehabilitation des Interesses

Sokrates wurde u. a. eines exzessiven Forscherdrangs in Bezug auf die Dinge unter der Erde und am Himmel angeklagt.1 Er bezeichnete diesen Vorwurf nach der platonischen Apologie als »das bekannte Zeug, das gegen alle Philosophierenden zur Hand ist«.2 Nach Ciceros berühmtem Satz, dass Sokrates als Erster die Philosophie vom Himmel herabgeholt und gezwungen habe, sich dem menschlichen Leben und moralischen Fragen zu widmen,3 wie auch nach Platons Zeugnis, Sokrates sei es immer darum gegangen, zur »Sorge um die Seele«4 anzuleiten, war jener Vorwurf maß- und zielloser Neugierde eine konstruierte Anklage,5 doch in jedem Fall wirft die Frage, egal wie sie historisch zu beantworten ist, bereits das systematische Thema der Legitimität der Neugier auf. Heute erscheint der mit dem Tod bestrafte Vorwurf als nachgerade absurd, da unsere technische Zivilisation auf »exzessiver«, systematisierter Forschung beruht, die auf ihrer verfassungsmäßig garantierten Freiheit insistiert und deren moralische Schranken umstrittener denn je sind. Auch unsere Wirtschaft basiert zu erheblichen Teilen auf der Neugier vieler Einzelner – eine Veranschaulichung dafür bietet die Tatsache, dass die Warnung mittelalterlicher Moralisten wie z. B. des Honorius Augustodunensis, man solle nicht aus übermäßiger Neugierde reisen, sondern wenn, dann nur aus spiritueller Motivation pilgern,6 in ähnlicher Weise absurd wie die Anklage des Sokrates erscheinen wird. Solche phainomena beantworten freilich nicht die Frage nach den diversen Formen menschlichen 1 Platon: Apol. 19b, vgl. 18b 7 f.: Sokrates adikei kai periergazetai zeton ta te hypo ges kai urania; periergazomai heißt etwas Überflüssiges tun, sich in Fremdes einmischen, freveln. 2 Ebd., Apol. 23d. 3 Cicero: Tusc. disp. V,10: Socrates autem primus philosophiam devocavit e caelo et in urbibus conlocavit et in domus etiam introduxit et coÚgit de vita et moribus rebusque bonis et malis quaerere. 4 Platon: Apol. 29e-30b. 5 Nach Xenophons Prozessbericht trennte Sokrates klar menschlich-ethische Erkenntnis und kosmologisch-theologisches Wissen; siehe dazu Blumenberg: Legitimität 281 f. 6 Elucidarium II, 23: PL 172, 1152. Zur Vorgeschichte der Neugier als Reisemotiv in der frühen Neuzeit und zum Zusammenhang von Neugier und Mobilität siehe Stagl: Curiosity.

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Markus Riedenauer

Wissensstrebens und ihrer jeweiligen Legitimität, sondern werfen sie erst richtig auf. Der gesellschaftliche Kontext ist indessen nicht irrelevant, ebensowenig der philosophische Diskussionskontext, welchen zu überblicken bereits eine eigene Aufgabe darstellen würde, da in ihm zuerst einmal verschiedene Bereiche und verschiedene Ebenen unterschieden werden müssen. Der Untertitel meines Beitrags ist gegenläufig zu Hans Blumenbergs viel diskutierter »Rehabilitation der Neugierde«, die er mit einem stark kritischen Impetus gegen frühere Kritik an derselben vorbrachte. Tatsächlich angebracht scheint eine dritte Kritik dieser kritischen Rehabilitierung im Rückbezug auf die erste Kritik – aber damit nicht ein Kritizismus hoch drei der Weisheit letzter Schluss sei, verbinde ich die Thematik mit der Zielrichtung einer durch die Kritiken hindurchgegangenen Rehabilitation des Interesses.

I.

Das Neue an der neuzeitlichen Neugier

Das Thema der theoretischen Neugierde wurde von Blumenberg aus der Perspektive aufgearbeitet, dass die systematische und grenzenlose Wissensakkumulierung ein konstitutives Merkmal der Moderne sei, verschieden von antiker und mittelalterlicher Wissenschaft und der normativen Eingebundenheit der sie treibenden Neugierde in die Lehren vom individuell glückenden Leben. Blumenbergs Thesen zum Prozess der theoretischen Neugierde zielen auf die systemische Dimension und dienen näherhin einer Rechtfertigung der neuzeitlichen Wissenschaft, deren Entstehen er als einen Emanzipationsprozess von theologisch begründeten Einschränkungen der Neugierde deutet. Die christlich motivierte, von Augustinus (wenngleich nicht als Erstem) wirkmächtig formulierte Kritik der curiositas im Mittelalter habe zusammen mit dem spätmittelalterlichen theologischen Absolutismus in dialektischer Weise7 die Gegenreaktion provoziert, die sich über naive Selbstbehauptung hinaus als schließlich reflektierte und systematisierte Wissbegier in methodischer Forschung institutionalisierte. »Durch Diskriminierung wird das Natürlich-Selbstverständliche ausdrücklich ›ergriffen‹ und akzentuiert. Aus dem Spiel der Weltunmittelbarkeit wird der Ernst der methodischen Formation, aus der Notwendigkeit der Selbsterhaltung die Wendigkeit der Selbstbehauptung, aus dem bloßen Umtrieb das erwirkbare Vorrecht.«8 Die Kritik an Blumenbergs Rekonstruktion der Geschichte der Neugier bezieht sich vor allem auf die dualistische epochendifferenzierende Grundkon7 Vgl. Blumenberg: Legitimität, 271, zu seiner dialektischen geschichtsphilosophischen Grundthese. Wichtigste Quelle bei Augustinus: Bekenntnisse V cap. 3,4 und X cap. 35,55. 8 Blumenberg: Legitimität, 268.

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zeption, welche nötige Differenzierungen verschleift.9 Erstens wurden starke Momente vorchristlicher Skepsis gegenüber der menschlichen Neugier besonders im stoischen und epikureischen Denken nachgewiesen10 ; zweitens wurde gezeigt, dass Wissbegier in Patristik und Hochmittelalter auch als positiv gewertet und integriert wurde11. Drittens habe Blumenberg die ambivalenten Bewertungen auch ab dem Ende des 17. Jahrhunderts in einseitiger Weise minimiert.12 Kurz, das revolutionär Neuartige an der neuzeitlichen Neugier wurde relativiert. Trotz detaillierter Kritik an seiner Argumentation und ihrer Modifikation durch weiterführende Hypothesen (mit einer Betonung des Beginns der Rehabilitation bereits im 14. Jahrhundert)13 wird seiner Grundthese eine gewisse Plausibilität zugestanden: Entwicklungen des Begriffs und der Bewertung von curiositas waren die Voraussetzung für die Ausdifferenzierung der Wissenschaften und deren Fortschritte, was dann ein Merkmal der Moderne wurde. Die Frage nach der Legitimität der Neugierde beinhaltet jedoch nicht nur eine 9 Vinken stellt fest: »Die Geschichte der Neugier ist zwiespältiger, als es diese einsinnige teleologische Emanzipationssaga will.« (Curiositas, 796) Sie spricht eher von Umbesetzungen und Verschiebungen. 10 Labhardt: Curiositas, 206 – 216, und Joly : Curiositas; zum römischen Stoizismus siehe Bös: Curiositas, Kap. 2. Vgl. aber Blumenberg selbst (Legitimität, 296 – 308). Besonders zur Ambivalenz bzw. dem Bemühen um Balance bei Cicero und Seneca vgl. differenziert und quellennah Schelkshorn: Entgrenzungen, 127 – 135. 11 Oberman: Contra vanam curiositatem belegt, dass Kritiker wie Tertullian oder Sextus Pythagoraeas die kritisierte Art von Neugier klar eingrenzten; Augustin erkannte die Wirklichkeitsnähe und Zuverlässigkeit der Profanwissenschaften an, wandte sich aber gegen eine Überschätzung ihrer Relevanz und eine neugierige Verzettelung in der Vielfalt des nicht heilbringenden Wissens. Erst die benediktinische Tradition verschärfte den Gegensatz zwischen heilsamer Glaubenseinsicht und neugierigem Herumblicken – was Thomas von Aquin insofern rückgängig machte, als er Hochmut und Neugier entkoppelte und die legitime studiositas in den Vordergrund stellte (siehe unten Anm. 33). Vgl. Labhardt: Curiositas, 216 – 224, und ausführlich zu christlichen Rezeptionen und Transformationen antiker Neugiertheorien Bös: Curiositas. Die wichtige Rolle, welche Nikolaus von Kues als ein Initiator der Neuzeit spielt, kann hier nicht dargelegt werden, siehe Schelkshorn: Entgrenzungen, 141 – 162. 12 Joly : Curiositas beschreibt eine Wellenbewegung zwischen Wertschätzung und Abwertung theoretischer Neugier von den Vorsokratikern bis ins 19. Jahrhundert. Zu ergänzen ist die kritische Position Heideggers, welche Blumenberg weitgehend ignoriert (mit der Ausnahme nur zweier Erwähnungen en passant in: Legitimität, 267 und 270). Daston (Die Lust, 169 – 175) zeigt einen Wandel ab dem Ende des 17. Jahrhunderts, als die frühneuzeitliche Verbindung von Staunen und rastloser Neugier als Forschermotivation wieder gelöst wurde und eine ruhigere, fleißige Neugier an ihre Stelle trat. 13 Oberman wirft Blumenberg vor allem ein Verkennen der nominalistischen Theologie vor, die bereits gegen eine ihre Grenzen missachtende metaphysische Neugier die Erforschung der Welt freisetzte. »Die Basis für die modernen Naturwissenschaften entstand also durch die Koalition von experientia und potentia ordinata, die das stolze Ergebnis der Befreiung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit war, die durch eine von der Metaphysik aufgeladene curiositas bewirkt worden war.« (Oberman: Contra vanam curiositatem, 38)

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wissenschaftsgeschichtliche und gesellschaftliche, sondern auch eine existenziale und individuelle, damit also sowohl eine sozialethische als auch eine tugendethische Dimension. Zwischen den beiden ist eine klarere Unterscheidung nötig. Wie Richard Newhauser feststellt, ist der zweite Pol neben der theoretischen, spekulativen oder wissenschaftlichen Neugierde, nämlich die persönliche, im negativen Modus sich auf fremde Angelegenheiten oder modische Raffinessen beziehende Neugierde, in der nach-mittelalterlichen philosophischen Reflexion vernachlässigt worden.14 Allerdings ist in diese Rekonstruktion das Nachdenken Kierkegaards und Heideggers15, die sich durchaus der Problematik der klassischen, individuellen Neugier widmen, noch einzutragen, aber noch wichtiger auch die mögliche positive Bedeutung persönlichen Interesses – zunächst für die Wissenschaft selbst. Seit dem Erscheinen der »Legitimität der Neuzeit« 1966 und der Neuauflage des hier wichtigen Teiles »Der Prozeß der theoretischen Neugierde« von 1973 hat sich die wissenschaftsgeschichtliche und wissenschaftsethische Motivlage erheblich verändert: Nach 1968 wurden die gesellschaftlichen Folgen des auf systematischer Erweiterung der wissenschaftlich-technischen Zivilisation beruhenden Wiederaufbaus zunehmend kritisch gesehen, seit 197216 auch die ökologischen Folgen. Ein wesentlicher Ansatzpunkt ist der methodisch-systemische Charakter der entsprechenden Wissenskultur, der bedingt, dass die einzelnen hoch spezialisierten Forscher im Grunde austauschbar sind wie Rädchen in einem enormen Getriebe. Dadurch wird ihre individuelle Endlichkeit, aber auch Verantwortlichkeit im ganzen wissenschaftlich-technischen Prozess aufgehoben. Forschungsziele und -themen werden im Bereich verwertbarer Wissenschaften immer häufiger durch die Finanzierung gesteuert, Methoden werden kanonisch und so auch gegen Kritik immunisiert, Teams konkurrieren unter reflexionsfeindlichem Zeitdruck miteinander im globalen Wettbewerb, Ethik ist in Kommissionen ausgelagert – im Endeffekt fühlt sich der einzelne Wissenschaftler nur im (Zu-)Fall eines hohen Forschungsethos persönlich verantwortlich, während die subjektive Steuerung des Forschungsprozesses einen immer kleineren Spielraum hat. Persönliches Interesse und entsprechende Reflexion wird so obsolet. »Die allgemeine Szientifizierung, der als Wissenschaft organisierte, als Forschung institutionalisierte Wissensdrang haben eine kuriose Folge gehabt: sie haben den Wissensdurst des einzelnen abgetötet.«17 So dürfte sich verschärft haben, was schon Blumenberg konstatierte, nämlich »das Abreißen der Verbindung zwischen einer lebensweltlichen 14 15 16 17

Newhauser : Towards a History, 563 und 565. Hierzu ausführlich Schmidinger : Problem. In diesem Jahr Veröffentlichung des Club of Rome: Die Grenzen des Wachstums. Chargaff: Wissensdurst, 12.

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Motivation der theoretischen Einstellung einerseits und ihrer Realisierung unter den Effektivitätsbedingungen moderner Wissenschaft andererseits«.18 Die gegenwärtige »Wissensproduktion« ähnelt in einer Hinsicht stoischem Denken mit seiner Forderung, das Wissenswerte auf das Nützliche im Bereich des Handelns zu beschränken, was sich auf Francis Bacons Trennung des von der Antike bis zu seiner Zeit angenommenen Zusammenhangs von Theorie und Glück, von Erkenntnis und erfülltem Leben, zurückführen lässt.19 Seither steht die – zur Naturbeherrschung – notwendige Erkenntnis und deren Gewinnung im Kollektiv, welches die kurze Lebensspanne des einzelnen Forscherlebens überdauert, im Vordergrund. Diese Objektivierung im methodischen, darum dann arbeitsteiligen Forschen ist begründet bei Francis Bacon und Descartes. »Durch die das Subjekt und seine Lebenszeit überspannende Methode verliert das Erkenntnisstreben jeden teleologischen Bezug auf das Individuum.«20 Dominanter Zweck ist die Ausweitung der Manipulationsmöglichkeiten. Allerdings ist eine signifikante Modifizierung des Utilitätskriteriums gegenüber dem antiken Bezugsrahmen für die Beurteilung des Nützlichen unübersehbar : Es geht um das dem allgemeinen technisch-wissenschaftlichen Fortschritt Förderliche und nicht um das das individuelle sittliche Handeln Orientierende. Von daher ist zu verstehen, dass die Geisteswissenschaften und zumal die Philosophie zunehmend unter gesellschaftlichen Rechtfertigungsdruck geraten – und dass, demgegenüber, die Verteidigungen zweckfreien Wissens und Wissenwollens an Aktualität gewinnen.

II.

Neues Interesse am individuellen Interesse

Hermann Lübbe will in der von Blumenberg entwickelten Linie die Bedeutung der Neugierde für die aufgeklärte Wissenschaft rehabilitieren, nachdem er die aufgeklärte Harmonie der beiden Rechtfertigungen der Wissenschaft, der theoretischen Neugierde und der praktischen Verwertung des Wissens, gestört sieht durch den »Anstieg des Relevanzkontrolldrucks«, der die Legitimationskraft der Wissbegier zurückdränge.21 Das emanzipatorische Potential der Neugierde wird hier im Sinne einer Dialektik der Aufklärung mit der von dieser selbst geprägten Wissenschaftskultur konfrontiert. Denn zusätzlich zur Verwertungssucht erleide das Prinzip theoretischer Neugier nach erfolgter Aufklärung einen »Pathos-Entzug«. Das gibt einen wertvollen, wenngleich unge18 19 20 21

Blumenberg: Legitimität, 266. Zum Novum organum (1620) vgl. ebd., 447 – 451. Müller : Neugierde, 734. Lübbe: Philosophie, 52. Er stellt fest, dass »das Zutrauen schwindet, dass wissenschaftspraktisch frei sich betätigende theoretische Neugierde eo ipso Relevanz garantiere«. (50)

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wollten Hinweis auf den defizienten Charakter der hier gemeinten Neugier im wörtlichen Sinne: Wenn und insoweit sie nur in aufklärerischer Gegenstellung oder als Tabubrecherin öffentliche Aufmerksamkeit und Verteidigung finden kann, scheint sie mit der Gier nach Neuem zusammenzuhängen. Dazu passt das dafür von Lübbe bemühte Bild: »Im Kontext emanzipierter Wissenschaften treten Wahrheiten generell als nackte Wahrheiten auf; aber der Reiz ihres Anblicks wird geringer.«22 Echtes Interesse braucht demgegenüber keine Gegenkraft und keinen Reibebaum. Auch die im Folgenden von Lübbe angeführten institutionellen und politischgesellschaftlichen Argumente für die künftige Unverzichtbarkeit von curiositas kommen im Prinzip über die Nützlichkeit des Wissenwollens nicht hinaus. Einzig sein letztes Argument, dass »theoretische Neugier ein Medium der Sicherung humaner Würde«23 sei, berührt die grundlegende Ebene, allerdings wird es nicht mehr begründet oder ausgeführt. Richtig ist wohl: Im spätmodernen »Wissenschaftsbetrieb« ist Neugier offenbar viel weniger die treibende Kraft als einfachere Formen der Gier, des Geldund Geltungstriebes.24 Nun scheint es schwierig zu sein, kritische Reflexion des institutionalisierten Wissenserwerbs als Teil des Betriebs zu leisten – sie hat wohl ihre Wurzel im Interesse des einzelnen Menschen, letztlich in seiner Suche nach Wahrheit, nach dem Rechten und Guten. (Damit ist nicht gesagt, dass diese geisteswissenschaftliche Reflexion nicht ihren Freiraum und ihre Förderung auch innerhalb der akademischen Institutionen benötigen und verdienen würde.) So würde sich schon aus dem verbreiteten Unbehagen an der Wissenskultur und ihren vielfachen selbstkritischen Beschreibungen und Analysen ein Motiv ergeben, das Wissenwollen des Einzelnen zu rehabilitieren – auf tieferer Ebene. Heute ist also die theoretische Neugier methodisch systematisiert und im arbeitsteiligen, hoch spezialisierten »Wissenschaftsbetrieb« weitgehend aus dem Kompetenzbereich des Einzelnen ausgewandert, insofern dieser über Rolle und Grenzen seiner Neugierde nur noch bei der Berufswahl25 entscheidet und bestenfalls bei großen ethischen Problemen (Atomkraft, Entschlüsselung des Genoms, Stammzellenforschung u. Ä. – erklärtermaßen alles Forschungsbereiche, die wegen eines erhofften Nutzens und nicht wegen des reinen Erkennt-

22 Ebd., 54. 23 Ebd., 57. 24 Vgl. Chargaff: Wissensdurst, 2, zum Maskerade-Charakter des faustischen Wissensdrangs beim heutigen Naturforscher : »Während er schon längst ein die Natur bürokratisierender Wissensbeamter geworden ist, trägt er vor dem Volk noch immer den Nimbus erhabener Selbstaufopferung. Meistens glaubt er auch daran …« 25 Vgl. Blumenberg: Legitimität, 273.

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nisgewinns gestartet wurden). In dieser Situation tritt die existenzielle und individualethische Dimension der Wissbegier vielleicht wieder freier hervor. Sie ist freilich mit der Forschungs- und Wissenschaftspraxis in den darin arbeitenden Personen verbunden, welche sich die Frage stellen können, ob die systematische, methodische und transindividuelle Organisation des Wissenwollens und Wissenserwerbs schon die Erfüllung des individuellen Interesses bedeute. Kann man sich mit dieser Organisationsform zufriedengeben oder bleibt ein Defizit? Oder ist diese Frage eine »akademische« im pejorativen Sinn, nachdem wir doch in der sogenannten Wissensgesellschaft leben? Mir scheint, bereits deren Informationsflut (nach dem Motto »overnewsed but underinformed«) zwingt dazu, sich die Frage nach der Rolle des Interesses für die Selbstverwirklichung des Einzelnen neu zu stellen. Auch die in den letzten beiden Jahrzehnten ungeheuer erweiterten Möglichkeiten, sich exzessiv der curiositas für fremde Angelegenheiten, Modetrends, Nachrichten, Meinungen usw. hinzugeben, erzwingen geradezu, neben den rekonstruktiven und normativen Fragen in Bezug auf theoretische Neugierde sich wieder dem Thema der curiositas in daseinsmäßiger und individualethischer Hinsicht zuzuwenden. Lübbe argumentiert in der Richtung, welche ich vorschlage, verbleibt allerdings auf der Ebene der Wissenschaft als Teilsystem der Gesellschaft und als Praxis. Wenngleich es zweifellos ein berechtigtes Anliegen ist, gegen die wachsende Poiesis-Charakteristik von Wissenschaft ihre Grundlage in humaner Praxis zu verteidigen, fehlt hier dennoch die tiefere existenziale Ebene, auf der nach dem Wert der Theorie im klassischen Verständnis und der Rolle der Wissbegier darin zu fragen ist. Dafür ist deren Kritik neu zu evaluieren. Wenn heute bezeichnenderweise oft von »Wissensproduktion« die Rede ist, wird deutlich, dass das, was im Anfang der europäischen Wissenskultur theoria war, nunmehr als poiesis erscheint. In einem ersten Anlauf ist von daher mit Blumenberg, aber ohne seine einseitige ideengeschichtliche Rekonstruktion und über ihn hinaus eine Rehabilitierung der Neugier in der Wissenschaft als Praxis zu befürworten. Damit werden wir schon von der Ebene der Wissenschaft als System auf die fundierende anthropologische Ebene zurückgeführt. Die Blumenberg’sche Engführung auf die wissenschaftliche Dimension muss aufgebrochen werden, um überhaupt die mögliche Bedeutung traditioneller Neugierkritik für das Leben des Menschen als Menschen in den Blick zu bekommen. Blumenberg, der sich zu sehr auf Augustinus beschränkt, wie auch Lübbe entgeht der Sinn der traditionellen Lasterlehre, der gemäß die acedia ein Grundlaster ist, und zwar existenzielle Trägheit oder auch Interesselosigkeit, ein »Mangel an liebendem Sorgetragen«, was aber mit emsiger Geschäftigkeit ein-

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hergehen kann, die dazu dient, sich selbst zu entfliehen. Die in der Patristik kritisierte curiositas ist eben eine Form davon.26 In der Tradition wurden drei Gefahren gesehen, die ich kurz zusammenstelle: 1. Neugier im landläufigen Sinn ist zunächst und zumeist auf die falschen Objekte gerichtet, was auch einen unfreien Zustand der Gier mitbedingt. Diese Neu-Gier führt zum Selbstverlust oder dient geradezu einer Flucht vor der Aufgabe der Selbstannahme und -entwicklung unter der Bedingung der anzuerkennenden Endlichkeit. In der christlich-spirituellen Tradition erklärte die benediktinische Radikalisierung, dass alles nicht auf das Heil gerichtete Wissen irrelevant sei. Auch bei Dante, Petrarca und Kierkegaard steht die Skepsis gegenüber der Neugier im Rahmen der augustinischen Alternative von Heilswissen, dem die ganze Sorge gelten soll, und dem in dieser Hinsicht nutzlosen oder vom Eigentlichen ablenkenden Weltwissen (nihil prodest, mortuas curas27). Daran anschließend interpretiert Heidegger28 Neugier als eine Weise des Verfallenseins, eines Außer-sich-Seins, das der Zerstreuung dient mit der eigentümlichen Sprunghaftigkeit, mit welcher die Sucht nach immer Neuem den Mangel an Selbstsein und Sorge um die ureigensten Möglichkeiten kompensiert, in die Breite schweifend, statt sich auf die Tiefe der Existenz einzulassen. Die Neugier »sucht das Neue nur, um von ihm erneut zu Neuem abzuspringen. Nicht um zu erfassen und um wissend in der Wahrheit zu sein, geht es der Sorge dieses Sehens, sondern um Möglichkeiten des Sichüberlassens an die Welt.«29 Als Kennzeichen dieser Form oder Fehlform wurde schon früher ihr vagabundierender Charakter gesehen: curiositas vana, weil vagans, sich herumtreibend im Tratsch, im Privatleben von Prominenten oder Nachbarn, neugierig auf den Verkehrsunfall auf der Gegenfahrbahn, die im weltweiten Netz eingefangenen »Kuriositäten« usw. In dieser Dimension differenzierten auch die Enzyklopädisten eine lobens- von einer tadelnswerten Neugier, die definiert wurde als »d¦sir empress¦ d’apprendre, de s’instruire, de savoir de choses nouvelles. Ce d¦sir peut Þtre loüable ou bl–mable, utile ou nuisible, sage ou fou, suivant les objets auxquels il se porte.«30 Hinter der Kritik an unpassenden Objekten des Wissenwollens steht letztlich die motivkritische Erkenntnis, dass dieses existenzial falsch ansetzt und nicht 26 Vgl. Wucherer-Huldenfeld: Maskierte Depression, 87 (352); zur Neugier siehe bes. 83 f. (349) und 99 (362). 27 Augustinus: Bekenntnisse X cap. 35,55 und V cap. 3,4; vgl. X cap. 8,15 (et relinquunt se ipsos) sowie De vera rel. cap. 29 n. 52. Vinken: Curiositas, 799, paraphrasiert die augustinische Warnung: »Die Neugierde ist Versuch und Versuchung, in der Welt anderes als Gott zu lesen.« 28 Heidegger : Sein und Zeit, § 36. 29 Ebd., 172. 30 Louis de Jaucourt in Diderots Encyclop¦die (1754) IV, 577 – zit. nach Vinken: Curiositas, 795.

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integriert ist in einen vernünftigen und umfassenden Zweck wie der ethischen oder religiösen Selbstvervollkommnung.31 2. Auf der Grundlage fehlgeleiteter Wissbegier ergibt sich die Gefahr eines Zuviels, eines Mangels an Begrenzung der Interessen (im Plural). Demgegenüber wird (wie schon bei Seneca) an die Endlichkeit des Einzelnen erinnert (in Bezug auf Zeit, Aufmerksamkeit, geistige Kraft usw.) und an die Aufgabe, jene zu einem stimmigen Ganzen zu integrieren in freier, verantworteter Lebensführung und Selbstgestaltung. Die Basis dafür bildet die notwendige Selbstannahme mitsamt der eigenen Endlichkeit, worauf Kierkegaard den Akzent legte: Der Mensch findet sich selbst ihm zufolge als »Inter-esse« oder Zwischen-Sein vor, ist sich selbst einerseits vorgegeben zwischen Realität und Idealität, zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, zwischen Vergangenheit und Zukunft, während er andererseits von »Interessiertheit« charakterisiert ist, d. h. einem Streben zur Selbstkonstitution aus Freiheit.32 Die Wahl seiner selbst im Hinblick auf die Verwirklichung von Möglichkeiten, also im Hinblick auf Zukunft, geschieht nun nicht im Abstrakten, sondern bedingt den »Übergang« vom Subjekt zu Objekten. Für uns endlich Seiende folgt daraus die Notwendigkeit, spezifische Interessen auszubilden. Interesse hat der Mensch auf der Ebene der Praxis immer für jemanden oder an etwas, der, die oder das ihm etwas bedeutet. Das je und je Interessierende kann nun nicht alles und wohl auch nicht sehr vieles sein, jedenfalls nicht vieles ohne im ureigenen Selbst- und Zwischen-Sein gegründeten Zusammenhang. 3. In der Tradition weniger betont wurde die gegenläufige Gefahr :33 Ein Zuwenig an Interesse verstärkt das Befangensein in Vorurteilen, die Verdeckung von weiteren, vielleicht gar besseren Deutungs- und Lebensmöglichkeiten. Es 31 Thomas von Aquin rechtfertigt sogar ein gutes Interesse auf der Ebene der sensitiva cognitio in Bezug auf das, was andere tun, insoweit dies einer Verbesserung eigenen oder fremden Handelns dient, und schränkt die Fälle, wo es lasterhaft wird, stark ein; siehe STh IIII, q167 a2 ad3. 32 Diese Selbstkonstitution ist allerdings nicht mit einer Selbsterschaffung zu verwechseln, sondern ist eine den Menschen eigentlich überfordernde Wahl im Blick auf das Unendliche, wodurch die Interessiertheit zu »unendlichem Interesse« transformiert wird; siehe Schmidinger : Problem, v. a. 263 – 282. 33 Thomas hebt die Rolle der virtuosa studiositas als Gegenbegriff zur curiositas hervor (STh II-II q160 a2 resp. und q166). Wie Blumenberg: Legitimität, 385, feststellt, erscheint hier »die Gotteserkenntnis als Erfüllung, nicht als Bedingung der Legitimität der theoretischen Neugierde« und deren Hauptfehler »gerade in der Flüchtigkeit und vorzeitig genügsamen Inkonsequenz des Erkenntnisverlangens, in einem Mangel an jener »Gründlichkeit«, die den Tiefgang der Gegenstände in ihrer Verweisung auf ihre Herkunft und ihren letzten Ursprung auszuschöpfen hat.« (387) In ihrer Differenziertheit gibt die quaestio de curiositate des Thomas immer noch gute Unterscheidungskriterien; siehe STh II-II, q167 und Schelkshorn: Entgrenzungen, 139 – 141.

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dient der Stabilisierung eines Status quo (eben auch in einer institutionalisierten und entsubjektivierten Wissenschaftspraxis) und damit tendenziell den gesellschaftlich herrschenden Interpretationen und Kräften. Unter der Annahme, dass es zur Lebensaufgabe jedes Menschen gehört, sich selbst einschließlich seiner Möglichkeiten anzunehmen, ethisch gut zu wirken und gut zu werden, worin der legitime philosophische Kern der viel genannten Selbstverwirklichung liegt, ist nach der Rolle des Interesses dafür und nach seiner anthropologischen Grundlage zu fragen. Dabei erweist sich die traditionelle Neugierkritik als einseitig, auch wenn ihre Warnungen, richtig verstanden, berechtigt sind. Aufgrund der neu zu verstehenden differenzierten Bewertung der curiositas von der Antike bis ins 20. Jahrhundert sollte wieder nach der Rolle der Wissbegier für das Dasein des einzelnen Menschen gefragt werden. In diesem Zusammenhang spreche ich vermehrt von »Interesse« statt von »Neugier« und versuche damit, in eine beiden Worten anhaftende axiologische Ambivalenz eine klarere Unterscheidung von positiven und negativen Wertungen einzubringen. Es ist zuzugeben, dass auch »Interesse« (und seine Äquivalente vor allem in den romanischen Sprachen) keine durchgängige, klare Bedeutung trägt34 und dass besonders im Spanischen des 16. sowie in romanischen Sprachen seit Ende des 17. Jahrhunderts »Interesse« oft als Eigennutz verstanden wird. Demgegenüber führte vor allem Kant mit dem »Interesse der Vernunft« eine sehr grundlegende und positive Bedeutung ein und – auch auf prinzipieller Ebene, aber konträr akzentuiert – Kierkegaard seinen fundamentalontologischen Begriff vom Sein des Menschen als Zwischensein, Inter-esse.35

III.

Existenziales Staunen und Kultivierung des Interesses

Auf die Wurzel des Wissensstrebens im Sein des Menschen zurückzugehen und dafür das Wort Interesse zu verwenden, lässt sich aus verschiedenen Stationen seiner Geschichte legitimieren, angefangen mit seiner ursprünglich verbalen Bedeutung: Erst im Mittellateinischen wurde das Verb substantiviert und im 15. Jahrhundert ins Deutsche entlehnt, wo es anfangs ein anderes Bedeutungsspektrum besaß, das sich um Regelung und Begründung von Rechtsbeziehungen sowie Fragen moralischer Motivation drehte (entgangener Nutzen, durch Versäumnis erwachsener Schaden; daher dann Zinsen, Vorteil und Gewinn; private 34 Siehe Esser: Interesse, Fuchs / Gerhardt: Interesse und zur Sprachgeschichte Kenny : Curiosity. 35 Siehe Schmidingers ausführliche Analyse des Interesses als »Zentralbegriff der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie, da mit ihm eine Grundstruktur der menschlichen Selbstkonstitution überhaupt beschrieben wurde«. (Problem, 435)

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versus öffentliche Interessen). Im 18. Jahrhundert übernahm es die wichtige Bedeutung von Aufmerksamkeit und Anteilnahme aus dem französischen int¦rÞt, was wiederum von der lateinischen Form interest (»es ist von Wichtigkeit«) stammt. Solches Interesse wurde manchmal geradezu als Gegensatz zur Neugierde gesehen, ab dem 17. Jahrhundert als ihr Komplement. Dafür griff man auch auf den klassischen philosophischen Begriff Staunen zurück36, den bereits Aristoteles an dieser systematischen Stelle verwendet hatte.37 Es erscheint unvermeidlich, hier auf den zu Recht berühmten, aber selten hinreichend durchdachten Eröffnungssatz der Metaphysik des Aristoteles »Alle Menschen streben von Natur nach Wissen« einzugehen: Pantes anthropoi tou eidenai oregontai physei.38 Die grammatische Form eidenai kann so verstanden werden, dass ein typisches Merkmal der kritisierten Neugier erfüllt wird: Ursprünglich heißt es nämlich Gesehen-Haben und kann zu einer Art von Wissen führen, von dem man wieder zu neuer Wissbegier und zu Neuigkeiten abspringt (wie oben beschrieben) oder zu einem Verfügungswissen aufgrund pragmatischer Erkenntnisinteressen (wie von Hobbes empfohlen und von Habermas analysiert), mit dem als Besitz man etwas anfangen kann, ein nützliches Wissen, bis hin zu Know-how. Es ist in einem bestimmten Bereich und für einen bestimmten Zweck abgeschlossen – die heute herrschende Wissensform, die dann auch – wie alles – dem Management unterworfen wird. Auch diese Neugier hat, wie Heidegger kritisiert, mit dem »bewundernden Betrachten des Seienden« nichts zu tun, »sie besorgt ein Wissen, aber lediglich um gewußt zu haben«.39 Hingegen kann das eidenai auch anders verstanden und gelebt werden: in bleibender Offenheit, mit offenem Staunen, dem die Fragwürdigkeit auch des Verstandenen neu aufgeht. Der Anfang der Metaphysik ist im Zusammenhang mit deren zweitem Kapitel zu lesen, wo das Staunen als Anfang des Philoso36 Vgl. Daston: Die Lust, v. a. 169 – 175. 37 Aristoteles: Rhet. I,11 1371a 31 f.: Staunen ist lustvoll, weil es zum Lernen führt, was den Menschen wiederum in einen naturgemäßen Zustand versetzt. Von daher muss die Gefahr der Selbstentfremdung als viel geringer eingeschätzt werden. 38 Aristoteles: Met. I,1 980a 21; von Heidegger am Beginn des Kapitels über die Neugier wiedergegeben mit »Im Sein des Menschen liegt wesenhaft die Sorge des Sehens« (Sein und Zeit, § 36; 171). Vgl. Aristoteles: Rhet. I,1 1355a 15; III,10 1410b 10; Poet. 4 1448b 13. Thomas Hobbes betont das spezifisch Menschliche des Wissensstrebens: »Desire to know why, and how, Curiosity ; such as is in no living creature but man; so that man is distinguished, not only by his reason, but also by this singular passion from other animals.« (Leviathan VI 35, 31) Diese Neugier wird allerdings charakteristischerweise beschrieben mit »we imagine what we can do with it, when we have it« (ebd., III 5, 13). 39 Heidegger : Sein und Zeit, 172.

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phierens festgehalten wird.40 Vom Objektbereich her ist, wie die Argumentationslinie gegen die schon früher geltend gemachte Neugierkritik zeigt, jenes universal erstrebte Wissen insofern ein philosophisches, als es ein theoretisches ist. Das erste Kapitel der Metaphysik beweist gegen die sokratisch-praktische Beschränkung des Wissenstriebes durch den Vergleich mit der Sinneswahrnehmung, dass alle Menschen Erkenntnis lieben »ohne Nutzen«41 – ausdrücklich auch, wenn sie nicht handeln wollen. »Wenn sie daher philosophierten, um der Unwissenheit zu entgehen, so suchten sie das Erkennen offenbar des Wissens wegen, nicht um irgendeines Nutzens willen.«42 Die Selbstzwecklichkeit begründet die Freiheit der theoretischen Wissenschaft.43 Der Vorwurf, dies sei Hybris, ist nach Aristoteles eine Lüge der Dichter, die vom Neid der Götter erzählen. Vielmehr werde der Mensch durch theoretisches Wissen und Weisheit vergöttlicht. Zum rechten Verständnis des ersten Satzes der Metaphysik bei Aristoteles ist die Nikomachische Ethik X, 6 – 8, hinzuzunehmen: Das hier mit einem gewissen (und umstrittenen) Vorrang versehene Leben der theoria meint nicht das Leben eines enzyklopädisch Gebildeten, der aufgrund eines hervorragenden Wissensmanagements über enormes Wissen verfügt und über alles gescheit dozieren kann, sondern eines Menschen, der sich schauend und vernehmend eingefügt weiß in ein zugleich intelligibles und erstaunliches, wunderbares Ganzes. (Man könnte von einer offenen Eksistenz im mysterion sprechen, was nichts Verstecktes bedeutet, sondern so Großes, dass man es nicht gleichsam von außen durchschauen kann, in dem man aber verstehend leben kann.) Das Leben des so verstandenen aristotelischen Theoretikers ist übrigens zugleich achtsam und respektvoll, dankbar – ja glücklich, eudaimon. Das Bemühen um ein richtiges Verständnis des fundamentalen Wissensstrebens hängt zusammen mit der Frage nach dem Prozesscharakter des initiativen Staunens oder Interesses: Eine Interpretation sieht es nur als eine Übergangsphase, als Beginn eines Prozesses, der dann im Wissen aufgehoben wird. Wir können von funktionaler und transeunter Neugier sprechen. In diesem Sinn forderte Hegel, dass die Philosophie ihren Namen, Liebe zum Wissen, ablege und wirkliches Wissen werde.44 Sofern das doch noch nicht erreicht 40 41 42 43

Met. I,2 982b 11 ff. gar choris tes chreias agapontai (ebd., 980a 22 f.). Ebd., 982b 19 – 21. Ebd., 25 f. Genau hier schlägt Francis Bacon mit seiner Finalisierung der Erkenntnis auf Naturbeherrschung einen anderen Weg ein. 44 Hegel: Phänomenologie des Geistes (Vorrede, 11). »In den stillen Räumen des zu sich selbst gekommenen und nur in sich seienden Denkens schweigen die Interessen« (Wissenschaft der Logik, Vorrede, 23). Gadamer hält (mit Cusanus) gegen Hegel fest: »Vollendete Erfahrung ist nicht Vollendung des Wissens, sondern vollendete Offenheit für neue Erfahrung. Das ist die Wahrheit, welche die hermeneutische Reflexion gegen den Begriff des absoluten

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wurde, wird der Prozess des Übergangs vom Wissenwollen zum Erkannthaben endlos wiederholt, der Fort-Schritt perpetuiert. Das Interesse wird so ständig vernichtet und neu geboren – was positiv zu deuten vielleicht ein Merkmal des typisch neuzeitlichen wissenschaftlichen Selbstverständnisses ist. Lessing schrieb über den Menschen, »nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz.«45 Für das systematisch richtige Verständnis von Interesse ist es wichtig, dass es nicht mit den transitorischen Phänomenen identifiziert wird, die aristotelisch zur kinesis gehören, sondern als energeia verstanden wird, als sich ereignende Offenheit, nous, die zum Wesen des Daseins gehört.46 Das am Anfang der aristotelischen Metaphysik beschriebene Staunen kann auch als Existenzial verstanden werden, das zur theoria als Vollendung des Einzelnen (nicht des Wissenssystems) hinführt. Tatsächlich ist es die aristotelische Methode, bei den phainomena zu beginnen, was auch die bewährten Meinungen der Leute einschließt, hier eben den weithin akzeptierten topos vom Wissenwollen und Staunen als Anfang des Lernens und Verstehens. Aristoteles’ Ziel ist aber die kritische Rehabilitierung des vom allgemeinen Menschenverstand zu Recht Gemeinten – könnte man sagen, er führe vom Staunen in der ersten Bedeutung, das auch den Charakter der Neugier hat, zum Staunen im Sinn genuinen Interesses? Für meine positive Deutung schlage ich vor, Interesse zu verstehen als ein Hinausragen je meiner selbst in einen Zwischenraum47, in dem sich Begegnung ereignen kann, als Anfang einer Kommunikation und Kommunion, einer Übereinkunft mit der Wirklichkeit, als Eröffnung einer Verbindung zwischen mir und – erstaunlicherweise – mir aus der Welt Begegnendem. Interesse nehmen zu können, mich interessieren zu lassen, eröffnet mir die Welt. Das beinhaltet wohl ein Mich-Verlassen, aber nicht als Entfliehen, sondern als Michansprechen-Lassen, in Bereitschaft, dem mich Ansprechenden und Interessie-

Wissens geltend macht.« (Gadamer: Ges. Werke II, 271; vgl. II, 325 zur notwendigen praktischen Ausbalancierung der alles beherrschenden »Leidenschaft des Wissenwollens, die in der Urtatsache der Neugier ihre anthropologische Basis hat.«) 45 Lessing: Eine Duplik; in: Ges. Werke VIII, 27; zit. nach Müller : Neugierde, 735, der ebd. zusammenfasst: »Die Erforschung der Wahrheit als Vorgang wird zu einem Mittel der Selbstverwirklichung des Menschen und bestimmt seinen Wert. Dabei wird der Prozeß der Erkenntnis im Gegensatz zu Descartes als unvollendbar gedacht.« 46 Siehe EN X,6 1176b 1 f. und X,8 1178b 21 – 24. Vgl. Riedenauer : Orexis und Eupraxia, bes. 285 – 289; 297 – 304. 47 »Zwischenraum« ist nicht als begrenzt und definiert zu verstehen, sondern als prinzipiell weltweit offen, der unbegrenzten Spannweite der Seele, die »in gewisser Weise alles« ist, entsprechend.

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renden zu entsprechen, also dem, was mich in mein Dazwischensein jeweils neu einweist und ruft. Das fundamentale Interesse bewirkt, dass mir etwas aufgehen kann, in meine Offenheit und Anteilnahme hinein, dass mir etwas auffallen und – in Bezug auf Mögliches, aber noch nicht Wirkliches – etwas einfallen kann. Bezüglich der oben problematisierten Wissenschaft als Praxis ist zu bemerken, dass bereits Herder das Dazwischen- oder Eintreten der jeweiligen Sache in das, was ich das existenziale Dazwischensein nenne, forderte, als er die Abstraktion der Forschung von der Lebenspraxis mitsamt den Empfindungen des Einzelnen kritisierte: Der Gegenstand müsse »würklich interessieren d.i. zwischen treten, mit geheimen Banden an mir hangen«.48 Das geht schon in die Richtung der Rede von »Interessen« im Plural, besonderer Interessen, die ein Mensch entwickelt hat und nunmehr hat. Diese weisen wohl ein Gefälle zur Gefahr des neugierigen Sich-Verzettelns auf, sie konkurrenzieren ja einander, sind aber andererseits aufgrund der menschlichen Begrenztheit notwendige Konkretionen des dahinter wirkenden offenstehenden und eröffnenden Interesses im Singular. Dieses ist die Bedingung der Möglichkeit von jenen. Wenngleich so offenstehen zu können ein Geschenk ist, kann es doch entweder nicht angenommen und verschleudert werden oder aber kultiviert und geübt. Dies geschieht anhand von konkreten, »kategorialen« Interessen – sofern diese nicht zur Neugier verkommen, zu einem VerfügenWollen, Gesehen- oder Gehört-Haben, Dabei-gewesen-Sein. Die echten Interessen sind fundiert von der Offenheit des Interesses, das ich Da-zwischen-Sein nenne. Das Wort allein ist ebenfalls zweideutig. Es könnte auch so verstanden werden, als meinte es, weder ganz hier zu sein noch ganz (hingegeben) dort, bei dem, was sich zeigt und mich anspricht, sondern unentschlossen irgendwo dazwischen – im Nirgendwo – zu vagabundieren. Oder man missversteht Dazwischensein als vornehmeren Ausdruck für »Er ist außer sich« oder »Sie ist ganz daneben«. Ich dagegen verstehe das Zwischen als Betonung der Eröffnung eines Begegnungsraumes49, nicht als Weder-noch, vielmehr als Sowohl-als-auch (aber nicht additiv, sondern in der Einheit eines Ganzen). Von daher wird auch verständlich, dass interesse im Lateinischen neben der Grundbedeutung »dazwischen sein« auch die konträren Nebenbe48 Herder : Vom Erkennen und Empfinden den zwo Hauptkräften der Menschlichen Seele; in: S. Werke VIII, 264. 49 Ansätze hierfür entwickelte Martin Buber. Auf bereichernde Überlegungen japanischer Philosophie kann hier nur hingewiesen werden, z. B. Tetsuro: Ethik, 109: »Menschen sind nämlich wir selbst in einem bestimmten Zwischensein. Wenn es so ist, muss auch das Fragen wiederum als Art und Weise dieser Existenz von »Mensch« in einem Zwischensein gefasst werden.« Vgl. auch ebd., 116 – 118 und Bin: Zwischen Mensch und Mensch; Yamaguchi: Ki, bes. 58 – 63.

Dazwischensein: Kritik der Neugier und Rehabilitation des Interesses

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deutungen »entfernt sein« und »gegenwärtig sein« aufweist.50 Heidegger sagt, »unter und zwischen den Sachen sein, mitten in einer Sache stehen und bei ihr bleiben«.51 So gedeutet, gibt es kein Dasein ohne Dazwischensein, was wiederum nichts anderes ist als eine Bezeichnung für die erstaunliche Spannweite des Daseins. Die Ambivalenz des von mir vorgeschlagenen Wortes entspricht einer doppelten Entgegensetzung des Phänomens (wie sie alle aristotelischen Tugenden aufweisen): Interesse selbst hat ein Zwischensein, zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig – was dialektisch ineinander umschlagen kann. Nach Maßgabe des Dazwischenseins, das wir (mit Kierkegaard) selbst sind, ergibt sich daraus die Aufgabe, das Interesse zu kultivieren. Daraus folgt in grundlegender individualethischer Perspektive die Forderung nach aktiver Offenheit für Neues, nach einer Sorge um das existenziale Staunen als fundamentaler intellektueller Tugend und nach Kultivierung entsprechender Interessen – was dann aber auch die nötige Auswahl von Möglichkeiten einschließt (analog der Wahl eines bios als entschlossener Lebensform und entschiedenem Lebensziel). Anders als vagabundierende Neugier ist diese Sorge charakterisiert durch Unterscheidungskraft für das Wichtige und sittlichen Ernst. In Bezug auf Mitmenschen und deren Geschicke (klassische Neugier-Objekte) heißt das etwa, so weit als möglich existenziell nachzuvollziehen, wie Menschen ihr Leben deuten und gestalten, das Interesse dafür einerseits zu pflegen, sich andererseits der Überidentifikationen wie auch (letztlich die geteilte conditio humana distanzierender) vorschneller Urteile zu enthalten. Neugierde im Sinne der ersten kritisierten Form (als falsch gerichtete) erscheint so als eine derivierte Form jenes nach Aristoteles zum Menschen als Menschen gehörenden Wissensstrebens, als Ausdruck einer Orientierungssuche, die schließlich einen infantilen Charakter annehmen kann im Versuch, sich am Mitmachen von neuesten Moden und Nachahmen kultureller Leitfiguren zu orientieren, statt sich selbst zu übernehmen und zu verwirklichen. Zweckfreies Wissenwollen, in ver-antwortetem persönlichem Interesse gegründet, hat am Ende doch einen Nutzen und ist nötig zur kritischen Reflexion der Zwecke, möglicher Grenzen, der Strukturen und Systemrationalität (oder auch Irrationalität) der gegenwärtigen Wissenschaft oder, wie Blumenberg sagt, »Epistemokratie«. So verstanden, ist Wissbegier – mit Lübbe52 – ein Garant der Freiheit. Dies muss auch institutionalisiert sein und kann nicht allein der Initiative einzelner sokratischer Figuren auf dem Marktplatz überlassen sein, um einer 50 Esser : Interesse, 738, mit einer unbefriedigenden Erläuterung dieses Befundes. 51 Heidegger : Was heißt Denken? (GA 8), 6. 52 Siehe oben, zusammengefasst bei Müller : Neugierde, 736 f.

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Dialektik der Aufklärung entgegenzuwirken. Noch gibt es diesen Raum für die Kultivierung des Interesses an der Universität, und die Philosophie spielt darin eine zentrale Rolle.

Literatur Augustinus: Bekenntnisse, Frankfurt (Insel) 1987. Bin, Kimura: Zwischen Mensch und Mensch. Strukturen japanischer Subjektivität, Darmstadt (WBG) 1995. Blumenberg, Hans: Die Legitimität der Neuzeit (Dritter Teil: Der Prozeß der theoretischen Neugierde), Frankfurt / M. (Suhrkamp) 1999. Bös, Gunther : Curiositas. Die Rezeption eines antiken Begriffes durch christliche Autoren bis Thomas von Aquin, Paderborn (Schöningh) 1995. Chargaff, Erwin: Über den Wissensdurst, in: Scheidewege 17 (1987 / 88), 1 – 15. Daston, Lorraine: Die Lust an der Neugier in der frühneuzeitlichen Wissenschaft, in: Krüger, Klaus (Hg.): Curiositas, a. a. O., 147 – 175. Esser, Albert: Interesse, in: Krings, Hermann, Baumgartner, Hans G., Wild, Christoph (Hg.): Handbuch philosophischer Grundbegriffe III, München 1973, 738 – 747. Fuchs, Hans-Jürgen, Gerhardt, Volker : Art. Interesse, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie IV, München 1976, 479 – 494. Gadamer, Hans Georg: Gesammelte Werke (10 Bände), Tübingen (Mohr-Siebeck) 1960 – 1990. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik (Werke V), Frankfurt / M. (Suhrkamp) 1969. Ders.: Phänomenologie des Geistes (Gesammelte Werke IX), Hamburg (Meiner) 1980. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen (Niemeyer) 161986. . Herder, Johann Gottfried: Sämtliche Werke, Hildesheim (Olms) 1994. Hobbes, Thomas: Leviathan, Indianapolis / Cambridge 1994. Jacques-Chaquin, Nicole, Houdard, Sophie (Hg.): Curiosit¦ et Libido sciendi de la Renaissance aux LumiÀres, Fontenay-aux Roses Cedex 1998 (2 Bde.). Joly, Robert: Curiositas, in: L’Antiquit¦ Classique 30 (1961), 3 – 44. Kenny, Neil: Curiosity in Early Modern Europe Word Histories, Wolfenbüttel 1998. Krüger, Klaus (Hg.): Curiositas: Welterfahrung und ästhetische Neugierde in Mittelalter und früher Neuzeit, Göttingen (Wallstein) 2002. Labhardt, Andr¦: Curiositas. Notes sur l’histoire d’un mot et d’une notion, in: Museum Helveticum 17 (1960), 206 – 224. Largier, Nikolaus: Rhetorik der Erfahrung. Kynische Kritik und theoretische Neugierde in der Frühen Neuzeit, in: Krüger, Klaus (Hg.): Curiositas, a. a. O., 111 – 145. le Goff, Jacques: Le merveilleux scientifique au Moyen Age, in: Bergier, Jean-FranÅois (Hg.): Zwischen Wahn, Glaube und Wissenschaft: Magie, Astrologie, Alchemie und Wissenschaftsgeschichte, Zürich (Verlag der Fachvereine) 1988, 87 – 113. Lessing, Gotthold Ephraim: Ges. Werke VIII, Berlin 21968. Lübbe, Hermann: Philosophie nach der Aufklärung: von der Notwendigkeit pragmatischer Vernunft, Düsseldorf u. a. (Econ) 1980.

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Naturgeschichten. Bemerkungen zu Wilhelm Schapps phänomenologischer Fundierung der Naturwissenschaften

In der gegenwärtigen Auseinandersetzung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, insbesondere zwischen Neurowissenschaften und Philosophie, schlagen viele, die an einem Waffenstillstand zwischen den Disziplinen interessiert sind, vor, in solchen Zusammenhängen die Erste-Person-Perspektive von der Dritte-Person-Perspektive zu unterscheiden. Während Vertreterinnen und Vertreter einer naturalistischen Position meinen, dass die Wirklichkeit, wie sie »eigentlich« ist, nur in der Dritte-Person-Perspektive zum Vorschein komme und dass die Erste-Person-Perspektive nur partielle Gültigkeit im Sinn von kulturell bedingter Gewohnheit beanspruchen dürfe, hört man auch moderatere, meist philosophische Stimmen, die von der Gleichberechtigung beider Perspektiven ausgehen. Demnach gibt es zwei unterschiedliche Zugänge etwa zum Begriff der Freiheit oder zu dem des Geistes, die gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Angesichts von Forderungen, den einen Zugang auf den anderen zu reduzieren, steht man vor der Frage, ob es nicht eine dritte Perspektive geben könnte, die die beiden anderen sinnvoll integriert und so eine allgemeingültige Dimension der Wirklichkeitserfassung aufschließt. Meiner Auffassung nach ist eine dritte Perspektive, die die beiden Seiten integrieren könnte, nicht in Sicht. Mir scheint es vernünftig, von der Unvereinbarkeit der beiden Sichtweisen auszugehen, weil sich anderenfalls versteckt Reduktionismen einstellen, die methodisch nicht haltbar sind. Dennoch ist die Frage berechtigt, ob zwischen den beiden Perspektiven ein Fundierungsverhältnis auszumachen ist, und zwar in der Form, dass die Dritte-Person-Perspektive die Erste-Person-Perspektive logisch voraussetzt. Eine solche Fundierungsrelation möchte ich im Folgenden rekonstruieren, und zwar im Rückgriff auf einen Philosophen, der sich lange vor den gegenwärtigen Debatten über die Gehirnforschung bemüht hat, das Verhältnis zwischen Naturwissenschaften und Philosophie aufzuklären. Ich meine Wilhelm Schapp (1884 – 1965), der als Jurist und Philosoph arbeitete und 1909 von Husserl in Göttingen mit der Arbeit

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Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung promoviert worden war.1 Bekannt geworden ist Schapp im Bereich der Philosophie mit seiner Philosophie der Geschichten, die er in den Bänden In Geschichten verstrickt, Philosophie der Geschichten und Metaphysik der Naturwissenschaften ausgearbeitet hat.2 Darin findet man immer wieder Passagen, in denen Schapp auf das Verhältnis von naturwissenschaftlich gefassten Dingen und den von ihm so genannten »Wozudingen« zu sprechen kommt, die für ihn nur über Geschichten zugänglich sind. Seiner These nach bildet der ich-bezogene und auf Geschichten beruhende Wirklichkeitszugang das Fundament des naturwissenschaftlichen. Ich werde zunächst Schapps Ansatz analysieren und im Anschluss fragen, inwieweit seine Thesen für die heutige Debatte über das Verhältnis von Erste-Person- und Dritte-Person-Perspektive Bedeutung haben.

I.

Naturwissenschaftlich gefasste Dinge und »Wozudinge«

Um der Differenz zwischen seinem phänomenologischen und einem naturwissenschaftlichen Wirklichkeitszugang Kontur zu verleihen, fragt Schapp, ob es Sinn mache zu überlegen, ob ein Atom eine Farbe hat.3 Während man handgreifliche Dinge, die den Sinnen mehr oder weniger direkt zugänglich sind, nie farblos zu Gesicht bekommt, gelangt ein Atom nicht bloß nie in sinnliche Unmittelbarkeit zum Ich, sondern weist auch keine Farbigkeit auf. Wenigstens erscheint es sinnlos, darüber zu diskutieren, ob ein Wasserstoffatom blau oder rot ist oder ob das eine Sauerstoffatom gelb und das andere grün sein kann. Demgegenüber konstatiert Schapp für die alltägliche Erfahrung, dass Farbe nicht als eine bestimmte Eigenschaft eines Dinges festgemacht werden könne. Vielmehr sei festzuhalten, dass es in der Wahrnehmung – vor der Zuschreibung von Eigenschaften – keine Trennung zwischen Farbe und Ding gebe. »Welt und Farbigkeit sind so voneinander durchtränkt, daß wir sie nicht trennen können und daß wir jedenfalls nicht sagen können, in welcher Beziehung sie zueinander stehen […].«4 Alles, was wahrgenommen wird, erscheint farbig, und man kommt nicht auf die Idee, ein farbloses Ding wahrnehmen zu wollen, weil von vornherein klar ist, dass es ein solches nicht gibt. 1 Zur Biografie Schapps siehe: Schapp: Erinnerungen an Husserl; Haas: Kein Selbst, 17 – 23; Schapp: Erinnerungen an Wilhelm Schapp, 13 – 24; Lübbe: Lebensweltgeschichten. 2 Folgende Bücher Schapps werden mit Kürzeln zitiert: Schapp: Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung (Kürzel: PW); ders.: In Geschichten verstrickt (Kürzel: GV); ders.: Philosophie der Geschichten (Kürzel: PG); ders.: Metaphysik der Naturwissenschaft (Kürzel: MN). 3 Vgl. zum Folgenden: PG 122 f. 4 PG 119.

Wilhelm Schapps phänomenologische Fundierung der Naturwissenschaften

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Eine Differenz zwischen Atom und Wozuding lässt sich phänomenologisch analog zur Farbigkeit von Dingen auch in Bezug auf die Zeit aufweisen. Atome denkt man gewöhnlich ohne Alter. Man kann zwar mit der 14C-Methode das Alter von kohlenstoffhaltigen organischen Materialien bestimmen, aber das Alter eines Isotops selbst spielt dabei keine Rolle, sondern nur das Zahlenverhältnis von 14C- und 12C-Isotopen. Das bedeutet, dass die Welt der Atome normalerweise ohne Alter und zeitlos gedacht wird. Man kann zwar einem Atom ein Alter zusprechen, dann bekommt es jedoch plötzlich einen Horizont mit Vergangenheit sowie Zukunft übergestülpt und ist keine Augenblickserscheinung mehr, sondern begegnet als ein Ding, dem man gegenübertritt wie einem kleinen Kieselstein.5 Ein solcher hat freilich ein Alter, denn er ist abgeschliffen, hat eine bestimmte Farbe, ist von diesem oder jenem Fluss transportiert worden und stammt aus einer bestimmten geologischen Schicht. Die Welt der Atome hingegen ist zeitlos, außer das vorstellende Ich bringt sich selbst ins Spiel, wie Schapp sagt: »Diese gedachte oder vorgestellte Atomwelt mögen wir einrichten mit all unseren Vorstellungen und Erkenntnissen von der Atomwelt, wir kommen nicht zu einem Jetzt und nicht zu einer Vergangenheit und Zukunft, wenn wir nicht uns selbst über den Zeitpunkt unseres ›Denkens‹ hineinschmuggeln.«6 Ein weiteres Phänomen der Differenz zwischen der Atomwelt und der Dingwelt im alltäglichen Umgang mit Wirklichkeit liegt nach Schapp im Phänomen des Eigentums.7 Zunächst ist einsichtig, dass durch die Herstellung von Dingen Eigentum elementar begründet wird. Das hergestellte Ding gehört der Person, die es gemacht hat.8 Aber auch zu vorgefundenen Dingen gehört es dazu, irgendjemandes Eigentum zu sein. Einem Ding fehlt etwas, wenn sein Eigentümer bzw. seine Eigentümerin nicht feststeht. »Das einzelne Wozuding führt diese Aura Eigentum mit sich vom Einbaum bis zum Ozeandampfer, von der Holzbank bis zum Sofa, vom Büffelwagen bis zum Straßenkreuzer.«9 Im Unterschied zu solchen Dingen, bei denen das Eigentum mehr oder weniger eindringlich auftaucht, ist die Welt der Atome ein eigentumsfreier Bereich.10 Es macht wenig Sinn zu fragen, wem dieses oder jenes Atom gehört. Eine solche Frage passt in den Bereich der alltäglichen Dinge, nicht aber in den

5 Vgl. PG 98. 6 PG 34, vgl. 229. 7 Jan Schapp, der Sohn Wilhelm Schapps, hat in seiner Dissertation »Sein und Ort der Rechtsgebilde. Eine Untersuchung über Eigentum und Vertrag« die Philosophie seines Vaters in Zusammenhang mit den juridischen Begriffen von Eigentum und Vertrag gebracht. Zum Eigentum siehe besonders a. a. O., 55 – 113. 8 Vgl. GV 111. 9 PG 44. 10 Vgl. MN 120.

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Bereich von Atomen oder Gestirnen. So ist es ähnlich sinnlos, zu bestimmen zu versuchen, wem der Sirius gehört. Dinge des alltäglichen Umgangs nennt Schapp »Wozudinge«. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie weder natürlich noch Menschen sind, sondern dass man ihre praktischen Kontexte kennt.11 Sie sind keine bloßen »Gegenstände« – ein Ausdruck, mit dem Schapp auf die stoffliche Seite eines Dings abhebt –, sondern stehen in einem »Sinnzusammenhang«12, weil sie zu Menschen in Bezug stehen, die ihnen einen Zweck gegeben haben13. Naturwissenschaftliche Dinge wie Atome hingegen sind aus Handlungszusammenhängen wie »Sägen, Bohren, Hämmern«14 herausgelöst. Darin sieht Schapp den Grund, warum sie weder Farbe noch Alter haben und auch niemandes Eigentum sind. In der Ausarbeitung der Theorie der Wozudinge, die an Heideggers Zeuganalyse in § 15 von Sein und Zeit erinnert,15 deutet sich bereits an, dass das naturwissenschaftlich gedachte Ding als eines verstanden wird, dem bestimmte Dimensionen des Wozudings fehlen, damit es das sein kann, was es ist. Erst das Herauslösen eines solchen Dings aus Zusammenhängen des alltäglichen Umgangs ermöglicht es einem, zum naturwissenschaftlichen Begriff des Atoms zu gelangen. Da das volle Phänomen aber das Wozuding und nicht das Atom ist und dieses erst durch die Abblendung von Dimensionen als Atom benennbar ist, kann man ein Fundierungsverhältnis konstatieren, das die Auffassung von etwas als Wozuding zur Basis für die Rede von Atomen macht. Schapp drückt diese Relation so aus: »Nur soviel wird man sagen können, daß der Weg zum Atom über das Wozuding, und damit über das Sägen, Bohren, Hämmern und über Starrheit, Festigkeit führt […].«16 Nicht die Wirklichkeit als Ansammlung von Atomen, sondern als Sinnzusammenhang von Wozudingen ist der Ausgangspunkt der Welterschließung. 11 12 13 14 15

Vgl. GV 11 und 15. GV 69 f. Vgl. GV 3 f. PG 82 und 83. Heidegger : Sein und Zeit, 90 – 97. Zum Verhältnis von Heidegger und Schapp siehe: Welter : Lebenswelt, 141 – 146. Schapp dürfte Heideggers Denken gekannt haben, jedenfalls lassen sich deutliche Parallelen zwischen den beiden aufweisen. (Vgl. Welter: Lebenswelt, 141, Anm. 35) Ob Heidegger Schapps Geschichten-Philosophie zur Kenntnis nahm, ist nicht bekannt. Wohl aber besaß Heidegger Schapps Dissertation über die Wahrnehmung, dieses Exemplar weist deutliche Lesespuren auf. (Vgl. Haas: Kein Selbst, 21, Anm. 12, mit Bezug auf eine Mitteilung von Friedrich-Wilhelm von Herrmann.) Hermann Lübbe wiederum kommt in seiner Einleitung zu »In Geschichten verstrickt« zum Schluss, dass »Wilhelm Schapps Geschichten-Philosophie […] mit Martin Heideggers Daseinsanalytik strukturell verwandt [sei], ohne von ihr beeinflußt zu sein.« (Lübbe: Vorwort, VI) Dies erscheint angesichts der von Welter aufgewiesenen Parallelen und der Stelle PG 190, wo Schapp Heidegger in die Reihe der großen Philosophen einreiht, allerdings als unwahrscheinlich. 16 PG 82.

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Die Welt der Naturwissenschaften ist demgegenüber eine abstrakte Welt, die nicht nur von Geschichten freigemacht worden ist, sondern auch einen eingeschränkten Materie-Begriff voraussetzt. Es sind nicht nur die Gottheiten und die Geschichten nicht mehr im Blick, sondern es sind auch Personalität oder Leiblichkeit verloren gegangen. Die vorherrschende Sicht auf die Wirklichkeit besteht darin, dass man diese als Stoff bestimmt. »Die Physiker«, so Schapp, »bekommen […] erst freies Gelände mit dem Augenblick, in dem alles Stoff wird.«17

II.

Wahrnehmung

Sieht man näher hin, ist der Ausdruck »Welterschließung« für den ursprünglichen Bezug zwischen Ich und Ding nicht adäquat. Man wird der Wozudinge nicht durch aktiven Ausgriff auf Wirklichkeit inne, sondern durch ihr »Auftauchen«, durch ein »Begegnen mit« oder durch ein »Gegenständlichwerden von«. Diese Art, eine Relation zu den Dingen zu erhalten, nennt Schapp »Wahrnehmung«.18 Sie ist weder Empfindung oder kognitiver Akt19, noch ist Wahrnehmung als das Registrieren von Sinnesqualitäten zu verstehen20. Vielmehr ist sie ein Vorgang, bei dem etwas von sich selbst her deutlich wird. Diesen Wahrnehmungsbegriff möchte Schapp von Begriffen traditioneller Erkenntnistheorie abgrenzen, um damit einen neuen Ansatz zu gewinnen. Er behauptet, »nach alter Sprechweise keinen einzigen ›Begriff‹ einer solchen Erkenntnistheorie, insbesondere nicht Gegenstand, Wahrnehmen, Erkennen, Sachverhalt, Satz«21, übernehmen zu wollen. Vor allem geht es ihm darum, zu Husserl die nötige Distanz aufzubauen, dem er vorwirft, das Phänomen Wahrnehmung noch nicht hinreichend erfasst zu haben.22 Husserl setze Wahrnehmung als den bevorzugten Ort der Selbstgegebenheit an und habe übersehen, dass dies eine Konstruktion sei. Schapp möchte die Wahrnehmung nicht nur vom aktiven Wirklichkeitszugriff des Subjekts befreien, sondern auch der Selbstgegebenheit ihren genuinen Ort zuweisen. Die »letzte Selbstgegebenheit« liegt für ihn nicht in der Wahrnehmung vor, sondern im »Verstricktsein-inaktuelle-Geschichten«.23 Das bedeutet, dass er Selbstgegebenheit von Wahrnehmung, die als Vorgang verstanden wird, den das Subjekt steuert, ablöst und 17 18 19 20 21 22 23

PG 251. PG 100. Vgl. MN 54. Vgl. GV 75. PG 217. Vgl. PG 298. PG 298.

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meint, dass sie erst in seinem Konzept der Geschichtenphilosophie adäquat zu bestimmen sei. Mit dieser Kritik an Husserl und seinem Versuch, Selbstgegebenheit ursprünglicher zu fassen, erhält Schapp zwei unterschiedliche Wahrnehmungsbegriffe, die er nicht immer klar voneinander trennt. Zum einen meint »Wahrnehmung« das abzulehnende Konzept des bloß vermeintlich primären Weltbezugs im Konstatieren. Zum anderen kann »Wahrnehmung« aber auch als positiv konnotierter Begriff in Schapps eigener Philosophie fungieren, wo er das Gegenständlich-Werden eines Wozudings bezeichnet, das nur über Geschichten zugänglich ist. Schon in seiner von Husserl betreuten Dissertation, also in seinen Beiträgen zur Phänomenologie der Wahrnehmung, führt Schapp eine Differenzierung des Wahrnehmungsbegriffs ein, in dieser Phase seines Denkens freilich noch nicht in Absetzung von Husserl und ohne den Hintergrund seiner späteren Philosophie der Geschichten.24 In dieser frühen Phase geht es ihm darum, Wahrnehmung zu analysieren, die »ihrer eigensten Natur nach immer auf Dinge abzielt«.25 Diese Form der Wahrnehmung unterscheidet er von anderen, vageren Formen, die weder nach Dingen noch nach Deutlichkeit streben, sondern sich »in der Undeutlichkeit« – wie er sagt – »wohlfühlen«.26 Schapp geht es in dieser Untersuchung noch vornehmlich um die »beobachtende Wahrnehmung«27, die er den empirischen Wissenschaften zurechnet. Er stellt allerdings klar, dass es Phänomene gibt, die sich einer solchen beobachtenden Wahrnehmung entziehen: »Während wir nun Dinge ohne Zweifel beobachtend wahrnehmen können, ist es sehr die Frage, ob wir die Dunkelheit, die Dämmerung, die Phänomene der Entferntheit ebenso zum Gegenstande der beobachtenden Wahrnehmung machen können. Mir scheint, es geht nicht.«28 Solche »Beleuchtungseffekte« sind für Schapp notwendig, damit Dinge gegenständlich werden können. Sie werden zwar nicht (beobachtend) wahrgenommen, aber dennoch »empfunden«.29 Schapp meint in der Regel beobachtende Wahrnehmung, wenn er in seiner Dissertation von Wahrnehmung spricht; alternative Wahrnehmungsformen firmieren hingegen als »Empfindung« oder als »Anschauung«. Was die beobachtende Wahrnehmung betrifft, so ist Schapp in seiner Doktorarbeit darum 24 Allerdings findet sich in der Dissertation schon die folgende Stelle, auf die Schapp: Erinnerungen an Wilhelm Schapp, 17, hinweist: »Es ist, als ob jedes Ding seine Geschichte habe und als ob diese Geschichte Spuren in ihm hinterlasse.« (PW 117) 25 PW 74 f. 26 PW 76. 27 Ebd. 28 PW 71. 29 PW 115.

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bemüht, die Subjektzentriertheit des Wahrnehmungsbegriffes aufzulösen und auch dem Wahrgenommenen entsprechend Geltung zu verleihen. Wie Thomas Rolf herausgearbeitet hat, bekommt man bei der Lektüre den Eindruck, »daß die Wahrnehmung, obwohl ein Beobachter sie leiblich vollzieht, zugleich etwas mit dem Subjekt der Beobachtung macht«.30 Subjektivität tritt »gleichsam hinter die natürliche Ordnung der Dinge«31 zurück. In der späteren Philosophie Schapps ist die erste Bestimmung des Subjekts dessen Verstrickt-Sein in Geschichten, aus denen es sich nicht befreien kann, es sei denn durch Bildung einer Sonderwelt. Damit einher geht Schapps Neufassung des Dingbegriffs. Dinge sind nicht mehr einfach Gegenstände, die man konstatieren kann, sondern Wozudinge, die es nur in Handlungszusammenhängen und in narrativen Kontexten zu entdecken gibt. Dort findet man Dinge vor, ohne sie beobachtend aufzustöbern. Ein Wozuding kann sich nur dann mit Deutlichkeit in der Wahrnehmung, wie Schapp sie verstanden wissen will, einstellen, wenn sich ein Gegenstand in alltäglichem Kontext zeigt und damit dem Ich nahesteht. Schapp spricht in diesem Zusammenhang von »irdischen Arten des Gegenständlichwerdens«32, die dadurch gekennzeichnet sind, dass etwas hier und jetzt geschieht, also für das Ich zeitlich und räumlich greifbar. Nach Schapp ist für eine »genaue« oder »deutliche« Wahrnehmung die »Nähe« des wahrzunehmenden Dings Voraussetzung.33 Zusammengefasst lautet seine These: »Die Rede von Wahrnehmung hat ihren Ursprung in dem Gegenständlichwerden von Gebilden in der Nähe und auf Erden.«34 Wenn die Sterne Sirius oder Arkturus Lichtjahre entfernt sind und deshalb keine Gleichzeitigkeit mit ihnen bestehen kann, oder wenn Atome in die Ferne des Mikroskopischen wegrücken, gelingt Wahrnehmung nicht, weil die zeitliche und die räumliche Einheit mit dem wahrnehmenden Ich auseinanderbricht. Erst eine einheitliche Welt ermöglicht die Frage, »welcher Zusammenhang zwischen einem Jetzt auf dem Arkturus und einem Jetzt auf der Erde bestehen könnte«.35 Es bedarf für einen solchen Fall der »Umwandlung« des Himmels, der über Lichtjahresangaben vermittelt ist, in »eine Welt nach Art der Erde«, wobei allerdings unklar bleibt, wie eine solche Umwandlung zu bewerkstelligen ist und welche Bedeutung beispielsweise der Ausdruck »Lichtgeschwindigkeit« dann noch haben kann.36 Der Arkturus ist 38 Lichtjahre von der Erde entfernt, er kann 30 31 32 33 34 35 36

Rolf: Gegenstand, 104. Ebd., 107. PG 102 f. Vgl. MN 37 und 74. PG 106. MN 55. Vgl. MN 54 f.

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also so, wie er jetzt ist, niemandem aktuell in dessen Welt begegnen. Das bedeutet, dass weder ein Atom noch ein Stern, insofern sie naturwissenschaftliche Dinge sind, durch Selbstdarstellung in der Wahrnehmung auftauchen kann. Selbstdarstellung von Dingen setzt Nähe voraus. Wenn sich etwas zeigt und auffällig wird, hebt es sich im Wahrnehmungshorizont von etwas ab, das im Aktionsradius einer Person seine Grenze findet. Es ist kein Übertragungsmedium notwendig, damit dieses Ding zum Ich kommt. »Wenn man von Selbstdarstellung spricht, braucht man in keiner Weise Strahlen oder irgendeine Verbindung zwischen dem Gegenstand und dem Leib oder dem Leib und dem Geist.«37 Das Ding hebt sich von seiner Umgebung ab und gerät unmittelbar in einen Sinnzusammenhang, dessen Mitte das wahrnehmende Ich ist. In den Naturwissenschaften hingegen wird sehr oft etwas errechnet, das nicht in einem solchen Zusammenhang auftaucht. Doch es ist nicht ausgeschlossen, dass das Errechnete einmal sichtbar gemacht wird. Schapp weist darauf hin, dass das dann Auftretende nicht identisch ist mit dem Errechneten.38 Wenn es gelingt, Errechnetes zum Vorschein zu bringen, ist das sichtbar Gewordene nicht identisch mit jenem, weil es selbst aufgetaucht ist. Selbst Auftauchendes ist nicht auf die gleiche Weise verständlich wie Errechnetes, insofern diesem der alltägliche Sinnzusammenhang fehlt. Der mathematische Kontext ist nämlich nicht der Wahrnehmungszusammenhang. Nur in diesem kann sich ein Ding von sich her von anderem abheben, in jenem bleibt es immer eine bloß vermittelte Größe. Das bedeutet, dass naturwissenschaftlich erforschte Dinge nur dann wirklich verstanden werden, wenn sie so transformiert werden, dass sie nach Art der Wozudinge wahrgenommen werden. Ist dies nicht der Fall, sodass sie dem praktischen Lebensvollzug fernbleiben, sind sie einem nicht vertraut und bleiben einem daher fremd. Aus diesem Grund trachtet man danach, sie auf irgendeine Weise wahrnehmbar zu machen und in einen bekannten Zusammenhang zu integrieren. Daher gilt: »D[ie] deutliche Wahrnehmung oder die Gegenstände der deutlichen Wahrnehmung sind […] auch Ausgangspunkt für die Erfassung der Himmelskörper und für die Erfassung der ultramikroskopischen Körper.«39 Anders gesagt: Zum Arkturus hat man nur Zugang »über das Sägen, Bohren, Hämmern«.40 Denn es gibt keinen anderen Wirklichkeitszugang als den des alltäglichen Lebensvollzugs. Soll etwas, das sich darin nicht vorfindet, dennoch verstanden werden, muss es vor diesem Horizont verstanden werden, eine andere Möglichkeit, es zu verstehen, gibt es nicht. Fundament aller Wirklichkeitsrelation ist demnach der praktische Lebens37 38 39 40

PG 123. Vgl. MN 121. MN 44. MN 45.

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zusammenhang. So ergibt sich schließlich eine Klimax der Fundierungsverhältnisse vom unmittelbaren Sinn in der Besorgung des Alltags bis zum naturwissenschaftlichen Ausgriff auf Wirklichkeit: »D[as] Feld der Wahrnehmung in der Nähe erweitert sich […] irgendwie zur Erde und vielleicht von der Erde auf eigenartige Weise zu Himmel und Erde oder zur Welt, schließlich auch zur Welt im naturwissenschaftlichem [sic] Sinne.«41

III.

Geschichten

Fragt man weiter nach dem Sinnzusammenhang, der in der Wahrnehmung sichtbar geworden ist, gelangt man mit Wilhelm Schapp zum Begriff der Geschichten. Den letzten Kontext, in den Sinnzusammenhänge eingebettet sind, bilden für ihn narrative Zusammenhänge. Was aber ist charakteristisch für eine Geschichte? Von der traditionellen Philosophie möchte sich Schapp dadurch abgrenzen, dass er Geschichten an die Stelle von »kognitiver Akt«, »Anschauung«, »Denken«, »Erinnerung« und »Gedächtnis« setzt.42 Während er diese Begriffe ablehnt, führt er zur Beschreibung von Geschichten den Weltbegriff ein und versucht, über »Welt« eine Brücke zum Begriff der Geschichten zu schlagen. Wie bei Heidegger ist Welt der letzte Horizont allen Verstehens, doch ist sie bei Schapp immer eine je anders aufgefasste, also plurale Welt.43 Damit meint er, dass Welt nie eine neutrale, sondern immer eine vom Ich bestimmte ist. Je nach Weltauffassung ergibt sich eine besondere Perspektive, die den Sinnzusammenhang prägt, der einem in der Wahrnehmung aufgeht. Welt ist demnach eine Einheit als »das Ganze, was uns umgibt, in dem wir uns befinden, was von jeher war und immer sein wird«44, umfasst also den Zeithorizont, in den die Dinge mit ihrem Alter eingeordnet sind. Welt taucht mit den Wozudingen, die sich in der Wahrnehmung von anderem abheben, mit auf, ohne selbst explizit zu werden. Freilich kann sie in einem zweiten Schritt deutlich gemacht werden, aber nur als »Meinungsgegenstand«.45 Dann wird Welt selbst ein bestimmter Gegenstand, auf den man sich bezieht, und gelangt in ein Sinngefüge, das ihr äußerlich ist. Dann aber hört Welt auf, Welt zu sein, weil sie nicht mehr diejenige Einheit ist, die den Fokus für die fundamentalen Sinnrelationen der Dinge bildet. Welt geht für Schapp immer in einer Geschichte auf. Genauso wenig wie Welt ist eine Geschichte ursprünglich ein Gegenstand, sondern ein »Gebilde«46, aus 41 42 43 44 45 46

MN 74. Vgl. GV 143. Vgl. zum Weltbegriff Schapps Vetter : Welt der Geschichten. MN 127. MN 128. GV 85.

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dem Gegenstände, genauer : Wozudinge, heraustreten. Hinter Geschichten kann man nicht mehr zurückgehen, vielmehr sind sie »Urphänomene«47, die die Grundlage allen Verstehens bilden. Eine Welt kann man zum Meinungsgegenstand machen, indem man ihre Auffassung verdinglicht. Ein solches Vorgehen setzt aber wieder einen Sinnhorizont voraus, vor dem der Meinungsgegenstand erst verstanden werden kann. Der jeweils letzte Horizont ist nicht mehr denkbar als ein Gegenüber. Vielmehr ist die Geschichte der letzte Horizont, in dem das Ich selbst »verstrickt« ist, wie Schapp sagt. Eine Geschichte bleibt nur so lange eine Geschichte, als das Ich in sie verwoben ist, hat also ihren Ort vor dem Versuch distanzierender Objektivierung. Es ist unmöglich, eine Geschichte zu kennen, ohne in sie verwoben zu sein. »Man ist in die Geschichte soweit verstrickt, wie man sie kennt, und man kennt sie soweit, als man darin verstrickt ist.«48 Sind Geschichten jene Gebilde, die nicht zuerst Gegenstand des Erkennens, sondern vor jeder Subjekt-Objekt-Spaltung angesiedelt sind, hat es auch keinen Sinn, nach dem Wahrheitswert solcher Verstrickung in Geschichten zu fragen.49 Man findet sich immer schon in ihnen vor und hat nur so überhaupt die Möglichkeit, die Welt als Sinneinheit zu Gesicht zu bekommen. Als jemand, der in Geschichten lebt, ist man selbst deren Teil. Vor diesem Hintergrund kann Schapp sagen: »Die Geschichte steht für den Mann. Wir meinen damit, daß wir den letztmöglichen Zugang zu dem Menschen über Geschichten von ihm haben.«50 Nicht Daten und Fakten erschließen einen Menschen, sondern seine Geschichten, in die man selbst mitverstrickt ist. Ohne das Mitverstricktsein in dessen Geschichten hätte man wieder nur ein Objekt zu seinem Gegenüber und würde den Menschen als ihn selbst verlieren. Wie stehen nun naturwissenschaftliche Zusammenhänge zu Geschichten in Bezug? Wie ist deren Stellung gegenüber Geschichten zu bestimmen? Zunächst scheint es so, dass das Bestreben, zu objektivieren und die subjektive Komponente aus der Erkenntnis zu verbannen, eine Rückbindung an Geschichten unmöglich mache. Daraus folgt die gängige Meinung, dass man in den Naturwissenschaften in einer »Welt [stehe], die sich anscheinend von Geschichten freigemacht hat«.51 Doch hat es nach Schapp nur den Anschein, als sei dies geschehen. Er geht nämlich davon aus, dass Geschichten selbst naturwissenschaftliche Welterschließung bleibend fundieren und dass jeder vollkommene Ausstieg aus Geschichten dem Menschen im Grunde genommen unmöglich ist. Wenn man am äußersten Rand der Wozudingwelt etwas wie »Atom, Ion, 47 48 49 50 51

PG XVI. GV 86. Vgl. GV 148. GV 103. MN 6.

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Elektron und Sternenwelt«52 ansiedeln möchte, das die Beziehung zu den Geschichten verliert, so gelingt dies nach Schapp nur scheinbar. Denn auch diese Begriffe sind nur zu verstehen, wenn sie sich aus Geschichten erschließen. Schapp ist der Ansicht, »daß es sich hierbei nur um eine Erweiterung der irdischen Wozudingwelt hand[le], wobei die irdische Wozudingwelt aber zuvor aus der Geschichten-Wirklichkeit herausgenommen ist und in eine andere Wirklichkeit überführt ist, die aber ihren Sinn weiter von der Geschichtenwirklichkeit entlehnt«53. Damit man mit den Ausdrücken »Elektron«, »Sirius« oder »Atom« etwas anfangen kann, müssen diese also Teile einer Geschichte sein, die ihnen Sinn verleihen kann, sonst bleiben sie unverständlich. Schapp gibt die Vorstellung auf, dass »die Naturwissenschaft uns feststehende Sachverhalte liefert«, und geht davon aus, dass »diese Sachverhalte sich in Geschichten auflösen bis zu den letzten Theorien von heute und morgen«.54 Es kann also höchstens eine Transformation geschehen, die nicht aus Geschichten heraus in eine geschichtenfreie Zone, sondern von der einen »Geschichten-Wirklichkeit« in eine andere hinüberführt. Nach Schapp kann man die Sache drehen und wenden, wie man will, man kommt zu dem provokanten und fast paradox erscheinenden Ergebnis, dass die Naturwissenschaften nicht aus der Geschichten-Wirklichkeit herausführen können, sondern dass Geschichten ihr bleibendes Fundament darstellen.

IV.

Problemfelder

Die bisherigen Analysen der Texte Schapps haben zu dem Ergebnis geführt, dass dieser die Relation zwischen Philosophie und Naturwissenschaften als Fundierungsverhältnis auffasst, wobei er die Welt der Naturwissenschaften als Eigenwelt von der Wozudingwelt abgrenzt. Zugleich aber behauptet er, dass diese Eigenwelt nur im Rückbezug auf die Wozudingwelt einen Sinn haben kann. Schapp spricht in diesem Zusammenhang auch von »Sonderwelt«, die er als »die physikalische Welt, die Welt der Atome« bestimmt und der er eine »Unabhängigkeit von Religion und vom Menschen« attestiert, was sie in »Gegensatz zu den positiven Welten von Homer bis Dante« treten lässt.55 Sonderwelten – wie beispielsweise jene der Biologie – sind charakterisiert durch »Abblendungen«56 und 52 53 54 55 56

MN 112. Ebd. PG 209. PG 29. »Der sogenannte Gegenstand der Biologie, Leib und Leben im Sinne der Biologie, ist eine Abblendung.« (GV 194)

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bilden jeweils andere Wirklichkeiten als die »Geschichten-Wirklichkeit«57. Wie sichtbar geworden ist, braucht es für ein Verständnis der Sonderwelt deren »Umwandlung« in die handgreifliche Welt bzw. die »Übersetzung« jener Welt in diese.58 Plausibel an Wilhelm Schapps Thesen erscheint mir die Fundierungsthese, insofern Verständnishorizonte nicht einfach etabliert werden können, ohne dass man bei bekannten Sinnhorizonten anknüpft. Zwar können Binnenbereiche in sich stimmig sein, doch erst der Rückgang auf die Wirklichkeit der Wahrnehmung kann verhindern, dass Sonderwelten zu reinen Fantasiegebilden werden. Solches gehört zum naturwissenschaftlichen Anspruch. Dass Schapp als Letztinstanz die Verstrickung in Geschichten einführt, hat den Vorteil, dass er einen Denkweg jenseits der Subjekt-Objekt-Spaltung erschließt und die Verstehenden mitreflektiert. Geschichten sind immer je meine Geschichten, weil ich in sie verstrickt bin. Das unterscheidet Geschichten im Sinn von Schapp von Erzählungen, wenn sie als literatur- oder sprachwissenschaftlich erforschbare Texte behandelt werden. Allerdings bleibt offen, ob sich der Bezug zwischen Geschichten und Sonderwelten im Fundieren erschöpft. Aus meiner Sicht stellen sich an dieser Stelle zwei Fragen. Zum einen ist zu überlegen, ob die notwendigerweise asymmetrisch zu denkende Fundierungsrelation nicht auch kritisches Potential in sich enthält. Und zum anderen ist zu fragen, ob die Bedingungen der Asymmetrie nicht komplexer ausfallen, als Wilhelm Schapp das insinuiert hat. Was die kritische Kraft anbelangt, so habe ich bei Schapp nur die Aussage gefunden, dass seine Untersuchung die strengen Wissenschaften wie Mathematik oder Naturwissenschaften nicht »unterbaue«, sondern »unterminiere«.59 Er billigt also nicht zuerst den Geschichten selbst Sprengkraft zu, sondern allein seinem Versuch, die Geschichten als Fundament der Naturwissenschaften auszuweisen. Was fehlt – obwohl es naheläge –, ist das je neu wirksame Unterminieren der naturwissenschaftlichen Begriffe vonseiten des Fundaments, also der Versuch, Begriffsdynamik als Sinndynamik zu begreifen und sie mit der Offenheit von Geschichten zu begründen. Die Wozudingwelt Schapps ist ähnlich wie Heideggers Bewandtnis-Zusammenhang von der Sphäre des Handwerks bestimmt. So ist auch zu fragen, ob das »Sägen, Bohren, Hämmern« heute noch den Grund für das Verstehen von naturwissenschaftlich geprägten Begriffen abgeben kann. Schapp selbst bringt ja mit der Aufzählung von Wozudingen, in der auch das Auto und der Ozean57 MN 112. 58 Vgl. MN 54 und 53. Vgl. Schapp: Positive Welten, 142: »Was diese Sonderwelt des Abendlandes mit ihren Sachverhalten auch immer bedeuten mag, es läßt sich klären nur über die positive Welt der Geschichten.« 59 GV 87.

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dampfer vorkommen, Dinge ins Spiel, die komplexere Tätigkeiten in den Alltag gebracht haben und die heute mehr oder weniger zur Alltagspraxis gehören. Tätigkeiten, die als Verstehensfundament für naturwissenschaftliche Dinge ebenso in Frage kommen, sind das Aufnehmen einer DVD, das Bedienen eines Handys oder das Versenden einer E-Mail. Mit einem Wort: Das Fundament der Geschichten verändert sich nicht nur, weil Geschichten im Fluss sind, sondern auch, weil die dazugehörigen Wozudinge andere Sinnzusammenhänge möglich und nötig machen. Deshalb ist das Fundament »Geschichten« nicht ausgehöhlt, aber es ist aus meiner Sicht sein Wandel zu behaupten. Weil das Hereinbrechen technischer Zusammenhänge in Geschichten diese prägt, wird auch das Fundament für naturwissenschaftliches Wirklichkeitsverstehen immer technischer, insofern Apparate die Alltagspraxis immer mehr bestimmen.60 Es scheint so, als ginge die Entwicklung eher in die Richtung einer technischen großen Erzählung als in die Richtung religiöser oder mythischer Allgeschichten, deren postmoderne Pluralisierung Schapp noch nicht im Blick haben konnte. Denkbar wäre auch ein Zerfallen der Fundamente in viele kleine und einzelne Bereiche mit ihren jeweils bestimmenden Geschichten. Auf den ersten Blick scheinen die Geschichten, also das Fundament für naturwissenschaftliche Sinnzusammenhänge, ich-lastig zu sein. Denn die individuellen Geschichten, in die man verstrickt ist, sind spezifisch für die jeweilige Person. Jede und jeder hat ihre oder seine Geschichten, in die er oder sie verstrickt ist, und andere, in die man mitverstrickt ist. Schapp lässt diese Geschichten aber ihrerseits wieder miteinander verknüpft sein und bindet sie schlussendlich an Allgeschichten wie die Homers oder des Christentums oder der Bhagavadgita zurück.61 Eines aber erscheint ihm unmöglich, nämlich der Versuch, dass sich das Ich selbst transzendiert und so einen Standpunkt jenseits der Geschichten erlangt. Damit bleiben Sonderwelten Sonderwelten und können keine positiven Welten werden, das heißt, die Dritte-Person-Perspektive bleibt immer auf die Erste-Person-Perspektive angewiesen. Auch eine transzendentalphilosophische Position wird obsolet. Zum Ansatz seines Lehrers Husserl sagt Schapp dem entsprechend: »Wenn wir von Geschichten und der Geschichte ausgehen, so ist unser Ausgangspunkt dem von Husserl diametral entgegengesetzt. Der Unterschied ist vergleichbar mit dem Unterschied zwischen dem pythagoräischen Lehrsatz und dem Märchen von Rotkäppchen.«62 Insofern die Erste-Person-Perspektive nicht transzendental misszuverstehen ist und insofern das Ich zuerst das in Geschichten verstrickte Ich ist, gilt nach 60 Vgl. Bernhard Waldenfels’ Konzept der »Phänomenotechnik« in: Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung, bes. Kap. VIII. 61 Vgl. PG 179: »Wir werden auch nicht die klitzekleinste […] Geschichte irgendwo antreffen, in deren Adern nicht das Blut einer oder der Allgeschichte flösse.« 62 GV 172. Zum Bild vom Rotkäppchen vgl. Pohlmeyer : Geschichten-Hermeneutik, 66 f.

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Schapp für die Naturwissenschaften immer noch: Von Rotkäppchen kommt keine Physikerin und kein Biologe los, wenn er oder sie die Begriffe der eigenen Wissenschaft irgendwie verstehen will.

Literatur Werke von Wilhelm Schapp Erinnerungen an Husserl, in: Edmund Husserl (1859 – 1959). Recueil comm¦moratif publi¦ — l’occasion de centenaire de la naissance du philosophe, La Haye (Martinus Nijhoff) 1959, 12 – 25. Metaphysik der Naturwissenschaft, Den Haag (Martinus Nijhoff) 1965 (Kürzel: MN). MN wurde in 2. Auflage unter dem Titel »Wissen in Geschichten. Zur Metaphysik der Naturwissenschaften« publiziert (Wiesbaden [B. Heymann] 1976), dann übernommen in: Frankfurt / M. (Klostermann) 1981. Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung. Mit einem Vorwort zur Neuauflage von Carl Friedrich Graumann, Wiesbaden (B. Heymann) 21976 [11910] (Kürzel: PW). Philosophie der Geschichten, Frankfurt / M. (Vittorio Klostermann) 21981 [11959] (Kürzel: PG). In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt / M. (Vittorio Klostermann) 42004 [11953] (Kürzel: GV).

Sekundärliteratur Haas, Stefanie: Kein Selbst ohne Geschichten. Wilhelm Schapps Geschichtenphilosophie und Paul Ricœurs Überlegungen zur narrativen Identität. Mit einem Nachwort von Jean Greisch, Zürich (Olms) 2002 (= SMGP 61). Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Frankfurt / M. (Klostermann) 1977 (= GA 2). Lübbe, Hermann: Lebensweltgeschichten. Philosophische Erinnerungen an Wilhelm Schapp, in: Lembeck, Karl-Heinz (Hg.): Geschichte und Geschichten. Studien zur Geschichtenphänomenologie Wilhelm Schapps, Würzburg (Königshausen & Neumann) 2004, 25 – 43. Lübbe, Hermann: Vorwort, in: Schapp, Wilhelm: In Geschichten verstrickt, a. a. O., V – VII. Pohlmeyer, Markus: Geschichten-Hermeneutik. Philosophische, literarische und theologische Provokationen im Denken von Wilhelm Schapp, Münster (Lit) 2004. Rolf, Thomas: Der dichtende Gegenstand. Wilhelm Schapps Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung, in: Lembeck, Karl-Heinz (Hg.): Geschichte und Geschichten, a. a. O., 87 – 113. Schapp, Jan: Erinnerungen an Wilhelm Schapp, in: Lembeck, Karl-Heinz (Hg.): Geschichte und Geschichten, a. a. O., 13 – 24.

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Ders.: Sein und Ort der Rechtsgebilde. Eine Untersuchung über Eigentum und Vertrag, Den Haag (Martinus Nijhoff) 1968. Ders.: Positive Welten und Sonderwelt des Abendlandes in der Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps, in: Phänomenologische Forschungen (2004), 133 – 149. Vetter, Helmuth: Welt der Geschichten – Wilhelm Schapp, in: Pöltner, Günther, Wiesbauer, Martin (Hg.): »Welten« – Zur Welt als Phänomen, Frankfurt / M. (Peter Lang) 2008, 97 – 111. Waldenfels, Bernhard: Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie – Psychoanalyse – Phänomenotechnik, Frankfurt / M. (Suhrkamp) 2002. Welter, Rüdiger : Der Begriff der Lebenswelt. Theorien vortheoretischer Erfahrungswelt, München (Fink) 1986.

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Ausloten. Mit Johannes Duns Scotus bis an die Grenzen des Denkens und dann …1

I.

Ein erster Blick: Spurensuche

Die großen Denker des Mittelalters sind allesamt als originell zu bezeichnen, obwohl sie das nicht beabsichtigten. Ihr Anspruch war nicht Originalität, sondern eher das, was in der Spiritualitätsgeschichte mit Imitation gemeint ist. Aus diesem Grund haben wir von Scholastikern wenige originale Handschriften, aber eine große Anzahl von Mitschriften ihrer Schüler. Die Meister des 13. Jahrhunderts haben gemeinhin keine persönlichen Biografien, sondern ihre Spuren hauptsächlich in ihren Werken hinterlassen.2 Dies gilt auch für Johannes Duns Scotus. In seinem Werk finden sich keine Notizen einer persönlichen Lebensgeschichte. Er war kein Mann der Macht, er hat auch keine politische Wirksamkeit entfaltet, sondern wirkte innerhalb des Franziskanerordens im Verborgenen.3 Die einzige Spur, die er hinterlassen hat, ist sein sehr umfangreiches Schrifttum, welches einen schwierigen Geist zu Tage treten lässt, der es denen, die in sein Denkgebäude eindringen möchten, nicht leicht macht. Das Fehlen von biografischen Daten nährt die Legendenbildung und erschwert das Verständnis, da wir heute dazu neigen, Gedanken von der Biografie her zu verstehen. So wird erzählt, dass zwei Minderbrüder nach Duns kamen, um Feldfrüchte zu erbetteln. Einer der Brüder sagte dem jungen Johannes das Vaterunser in Latein auf. Dieser konnte es, ohne Kenntnis der Sprache, nach einmaligem Hören fehlerfrei rezitieren. Daraufhin wurde er in die Lateinschule in das wenige Kilometer östlich von Edinburgh liegende Haddington mitgenommen. Dort ist

1 An dieser Stelle sei eine persönliche Anmerkung erlaubt: Nach meiner Umkehr zum Glauben wurde die Philosophie zur Entdeckung meines Lebens. Wesentlich dazu beigetragen hat die Fügung, dass die Tür zur Weisheit von einem Lehrer – Augustinus Wucherer-Huldenfeld – aufgetan wurde, den es auch mit diesen Gedanken zu ehren gilt. 2 Vgl. Longpré: Duns Scot, 137. 3 Vgl. Esser: Scotus, 2 – 40.

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er dann auch bei den Franziskanern eingetreten. Sein Onkel Elias Duns war schon bei den Minderbrüdern. Aufschlussreich sind Bei- und Nachname Duns Scotus. Der Nachname Scotus weist zweifelsfrei nach Schottland, obwohl der große Ordenschronist und erste Herausgeber seines Werkes Lukas Wadding ihn von Scotia minor, d.i. Irland, herkommen lässt. Interessant ist, was im Oxford English Dictionary über die etymologische Bedeutung von »Duns« berichtet wird. Duns steht in Beziehung mit dem fast gleich klingenden, aber orthografisch anders geschriebenen Wort »Dunce«, das Bücherwurm mit negativer Konnotation im Sinne von begriffsstutzig bedeutet. Ein »dunce« mag sich zwar mit vielen Büchern umgeben, aber ihm fehlt das Fassungsvermögen, diese auch zu verstehen. Kaum zu glauben, aber es soll bis zum heutigen Tag in schottischen Schulen den Brauch der »dunce’s cap« geben. Das ist eine kegelförmige Papierkappe, die schlechten Schülern als äußeres Zeichen ihrer Begriffsstutzigkeit zur öffentlichen Brandmarkung aufgesetzt wird. Aus »dunces« sei in Folge Duns geworden, namentlich der Geburtsort von Scotus. Daraus wird man schließen müssen, dass Scotus als erster Träger der »dunce’s cap« die lange Tradition dieser Bloßstellung begründet hat. Anstatt sich mit seinem Gedankengut abzumühen, wurde ihm und seinem Werk die kegelförmige Papierkappe »aufgesetzt«. Es möge dem einen oder anderen nachfolgenden »dunce’s cap«-Träger zum Trost gereichen, gleichsam als Schimmer einer Hoffnung auf eventuell spätere Rehabilitierung durch die Nachwelt. Nicht nur die Zeitgenossen hatten den dunce nicht als doctor subtilis zu verstehen vermocht. Scotus blieb auch eine länger anhaltende Wirkungsgeschichte versagt. Dazu hat nicht nur der Schwierigkeitsgrad seiner Schriften beigetragen, sondern auch die nach der Scholastik sich etablierenden Schulbildungen. Thomistisches und scotistisches Denken waren lange Zeit so etwas wie sich gänzlich widersprechende Positionen, obwohl von großen Kennern des Mittelalters behauptet wird, dass Thomas von Aquin und Duns Scotus sich verstanden hätten. Schulbildungen mit den streng zementierten »-ismen« (wie Voluntarismus, Essenzialismus u. a. m.) haben dem eigentlichen Anliegen letztlich immer geschadet.4 Beim Konzil von Trient wurde eine entscheidende Weichenstellung vorgenommen, die nicht zum Vorteil der scotischen Denktradition war. Man orientierte sich in Sprache und Begrifflichkeit der Konzilsdokumente ausschließlich an Thomas von Aquin, was schlussendlich in der Neuscholastik zur Auffassung führte, allein in Thomas und in der ihm folgenden Schule den Höhepunkt der mittelalterlichen Scholastik sehen zu müssen. Damit war sowohl die Verzerrung

4 Vgl. Kluxen: Originalität, 303 ff.

Mit Johannes Duns Scotus bis an die Grenzen des Denkens

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des scotischen Gedankenguts als auch die Bedeutung des historischen Gesamtbildes überhaupt für lange Zeit zementiert.5 Macht man sich jedoch die Mühe, bei Duns Scotus »einzukehren« und dort auch länger zu verweilen, so wird man nicht ohne erheblichen Gewinn an Einsichten von dannen gehen. Sein philosophisch-theologisches Ringen und Suchen kreist um die – wie er es nennt – allzu große Gemeinsamkeit und Einfachheit (nimia communitas) von etwas, das nur mehr – wie es Martin Heidegger in seiner Scotusinterpretation formuliert6 – Letztheitscharakter besitzt. Letztgültiges deutlich werden zu lassen, geht für Scotus nur über sehr verschlungene und komplizierte Wege. So wird man auch Henri Veldhuis recht geben müssen, wenn er schreibt: »Dennoch bekommt die Theologie des Scotus zugleich eine große Einfachheit und Deutlichkeit, wenn sie konsequent von zwei zentralen Blickpunkten aus betrachtet wird. Der eine Blickpunkt betrifft die Logik, sofern sie das Instrument der theologischen Reflexion ist. Der andere Blickpunkt befindet sich auf der Ebene der Erfahrung; gemeint ist die Grunderfahrung der göttlichen Liebe.«7 Scotus verstand sich vornehmlich als Theologe, aber er lässt keine Gelegenheit aus, innerhalb des theologischen Kontextes zu philosophieren. Das wird so penibel betrieben, dass man am Ende vor lauter Unterscheidungen das Einfache und Deutliche nicht mehr zu sehen vermag. Walter Hoeres möchte Scotus vom häufig gemachten Vorwurf unfruchtbarer Begriffsspalterei in Schutz nehmen, wenn er bemerkt, dass das argumentierende Denken für ihn bloß Hilfsmittel sei, um zu den »Sachen selbst« zu kommen. So kann man immer wieder feststellen, wie Scotus schwierigste und scheinbar rein abstrakte metaphysische Fragen mit dem schlichten Hinweis »sicut patet intuenti« (so, wie es dem Schauenden offensteht) einfach abschließt. Die Sache leuchtet dem wirklich Vernehmenden eben so und nicht anders ein.8 Den ersten Hinblick abschließend soll noch auf die Renaissance des scotischen Gedankengutes hingewiesen werden. Im letzten Jahrhundert wurde Scotus gleichsam wiederentdeckt, bedingt durch das Unternehmen, seine Schriften kritisch zu edieren. Das Interesse entzündete sich sofort an seinen philosophischen Werken. Dabei zeichnete sich immer deutlicher ab, dass Scotus neben Thomas von Aquin als der bedeutendste Theologe und Philosoph des lateinischen Mittelalters angesehen werden kann.9

5 6 7 8

Vgl. Honnefelder : Metaphysik und Ethik, 3 ff. Vgl. Heidegger: Bedeutungslehre, 157. Veldhuis: Bedeutung, 81 f. Vgl. Hoeres: Wille, 17; das Scotus-Zitat stammt aus: Scotus: QQMetaph. IX q. 1 – 2 n. 48 (OPh IV, 527). 9 Vgl. Honnefelder : Metaphysik und Ethik, 6.

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II.

Franz Lackner OFM

Der kritische Blick: Unterscheidungen

Scotus gehörte zur zweiten Generation der Aristotelesrezeption im lateinischen Westen. Das intellektuelle Klima am Ausgang des 13. Jahrhunderts war innerlich erschüttert, als Bischof Tempier aus Paris im Jahre 1277 insgesamt 219 unterschiedliche Thesen verurteilte. Obwohl diese Thesen nicht homogen waren, kannte die Anklage doch einen Grundtenor, der folgendermaßen lautete: »Sie reden, als ob es zwei gegensätzliche Wahrheiten gäbe.«10 Mit dem Auftauchen der aristotelischen Wissenschaftskonzeption im lateinischen Westen schlitterte die abendländische Geisteswelt in eine Krise. Aus dem Wissen-Wollen-um-desGlaubens-willen wird durch Aristoteles ein Wissen-Wollen-um-des-Wissenswillen. Wissen muss sich fortan in der Gestalt von Wissenschaft ausweisen.11 Das musste zur Konfrontation zwischen zwei Extrempositionen führen. Auf der einen Seite stand die Artistenfakultät, die im Gefolge eines radikalen Aristotelismus mehrere, nicht mehr weiter auf Theologie oder auf Metaphysik rückführbare, autonome wissenschaftliche Ansätze entwickelte. Auf der anderen Seite wurde der Philosophie ein der Theologie untergeordneter Platz zugewiesen.12 Scotus kommt das große Verdienst zu, als Erster diese Problematik in ihrer ganzen Tragweite überhaupt erfasst zu haben. Dabei entdeckte er in der Ausweglosigkeit der verfahrenen Situation die Chance, ein neues Kapitel der spannungsreichen gemeinsamen Geschichte von Philosophie und Theologie aufzuschlagen. Diese neue Ära beginnt wie einst in der griechischen Antike mit Kritik. Scotus hat somit in der Geschichte der Philosophie als jener zu gelten, der als Erster die Notwendigkeit einer Erkenntniskritik erkannte, indem er das Vermögen der Vernunft der Kritik unterzog, um dessen Besonderheit und Reichweite auszuloten. Der scotischen Kritik des Vernunftvermögens – so Ludger Honnefelder – geht in der Geschichte der Metaphysik nichts Vergleichbares voran, und ihre Differenziertheit steht jener der kantischen Erörterung kaum nach.13 Das Resultat dieser kritischen Untersuchung sind höchst bemerkenswerte Einsichten. Scotus unterscheidet grundsätzlich zwei Wege, auf denen Erkenntnis gewonnen werden kann: das intuitive als das aufnehmend erfassende Erkennen, davon unterschieden das abstrakte als das bestimmende Begreifen von etwas. Erkennen ist ein Zusammenspiel von – wie Scotus es im Prolog seines Hauptwerkes Ordinatio14 darlegt – zwei Fähigkeiten, und zwar des posse recipere mit 10 11 12 13 14

Vgl. Hödl: Wirklichkeit, 225 – 243. Vgl. Honnefelder: Rationalität, 298 ff. Vgl. ebd., 299. Vgl. Honnefelder: Vernunft und Metaphysik, 321 ff. Vgl. Scotus: Ord. I prol. pars 1 q. 1 nn. 91 – 93 (Vat. I, 56 f.).

Mit Johannes Duns Scotus bis an die Grenzen des Denkens

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dem posse attingere. Einfache Sinngehalte, um die es geht, können nicht mehr analytisch erfasst werden, sondern werden als irreduzibel durch einen schlichten Blick vernommen (posse recipere). Der Weg dorthin führt über die Analyse. Das ist der Bereich des »posse attingere«. Dabei werden die Dinge so lange analysiert, bis die schon genannten schlechthin einfachen Gehalte zurückbleiben, die durch einen reinen Akt des Vernehmens erfasst werden können. Hierher gehört nach Scotus die Unterscheidung von »natürlich« und »übernatürlich«. Diese Differenzierung nimmt nicht nur Maß an den Objekten der Erkenntnis, sondern hat ihr Fundament im erkennenden Subjekt. Übernatürlichkeit heißt in diesem Kontext, dass sich Erkenntnis nicht nach Maßgabe der die Sinne natürlich bewegenden Ursachen ereignet. Die Übernatürlichkeit gehört insofern mit zu den natürlichen Anlagen des Menschen. So wird von Scotus die Fähigkeit, einem übernatürlich wirkenden Agens zuzustimmen, als eine dem Menschen angemessene und damit natürliche Eigenschaft bezeichnet.15 Die höchste Weise menschlichen Erkennens liegt nun für Scotus gerade dort, wo der Intellekt seine ihm eigene Besonderheit, nämlich Dinge zu begreifen, aufgibt und sich für das Offenbare und dem in sich Einsichtigen öffnet. Beide Weisen der Erkenntnis bedingen einander als teilursächlich wirkende Vermögen des einen Intellekts. Sie verhalten sich zueinander wie »passiv« zu »aktiv«. Der Intellekt ist Bestimmbarkeit. Er lässt sich prägen und hat auch eine prägende Bestimmung. Nur in dieser zusammenwirkenden Ursächlichkeit vermag der eine Intellekt das Erkannte in relativer Abgeschlossenheit zu repräsentieren. So weit der Blick auf das erkennende Subjekt. Mit Blickrichtung auf das, was es zu erkennen gibt, unterscheidet Scotus eine dreifache Ordnung. Er unterscheidet weiters drei »erste Objekte«. Was mit Objekt gemeint ist, definiert der scharfsinnige Denker im schon zitierten Kommentar zur aristotelischen Metaphysik. »Jenes ist erstes Objekt des Erkenntnisvermögens, aufgrund dessen alles andere von ihm erkannt werden kann, so wie es offenbar ist beim Objekt des Sehens.«16 Als erstes Objekt unseres Erkenntnisvermögens wird nach Scotus dasjenige bezeichnet, das unsere Erkenntnis ermöglicht und bedingt, wie das Beispiel der Lichtmetapher zeigt. Wie durch das Licht jene Bedingung gegeben ist, dass Dinge überhaupt erst gesehen 15 Vgl. Scotus: Ord. I prol. pars 1 q. 1 n. 94 (Vat. I, 58): Similiter, ex se est capax illius assensus causati a tali agente, etiam naturaliter capax. 16 Scotus: QQMetaph. lib. IV q. 1 n. 35 (OPh III, 302 f.): Illud est primum obiectum potentiae cognitivae sub cuius ratione cognoscuntur omnia alia ab illa, sicut patet de obiecto visus. Die Editoren der kritischen Ausgabe haben einen offensichtlichen Fehler, auf den schon Bettoni vor langem aufmerksam gemacht hat, nicht berichtigt. Richtigerweise muss es heißen »omnia alia ab illo«. »Illo« kann sich nur auf »obiecto« beziehen. Vgl. Bettoni: Duns Scoto, 45, Anm. 1.

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werden können, garantiert in gleicher Weise das erste Objekt die Erkennbarkeit der zu erkennenden Dinge. Die drei Ordnungen mit den dazugehörenden Objekten sind:17 a) Erstes Objekt in der Ordnung des Ursprungs und Werdens (ordo originis sive secundum generationem) b) Erstes Objekt in der Ordnung der Angemessenheit (ordo adaequationis) c) Erstes Objekt in der Ordnung der Vollkommenheit (ordo perfectionis) Der »ordo«-Gedanke ist für die Scholastik wesentlich. Scotus gründet den Beweis Gottes auf das Prinzip: Omne ens est ordinatum18, d. h. alles Seiende ist geordnet: Jedwedes Seiende hat einen ursprünglichen Ort. »Ordo« wird demnach als Äquivalent dessen verstanden, was der griechische Begriff Kosmos zum Ausdruck bringt. Ad a) Die Ordnung des Entstehens bezeichnet den Menschen in seiner konkreten raum-zeitlichen Verfasstheit (pro statu isto). In diesem Zustand ist die sogenannte »Washeit des sinnlich Seienden« (quiditas rei sensibilis) erstes Objekt unseres Erkenntnisvermögens. Die wesentlich gewordene Sinneserkenntnis wird der Grund, durch den alles andere erkannt wird.19 Erkennen profiliert sich somit an vorgängiger Erkenntnis. Ohne diese Vorgabe kommt niemand aus. Der je Einzelne findet sich immer schon in einer bereits objektiv-allgemein gewordenen und verstandenen Raum-Zeit-Geschichte vor. Auch für Scotus bildet diese allgemein gültige Vorgabe den Hintergrund, vor dem der Einzelne überhaupt verstehen und begreifen lernt. Es ist das den konkreten Erkenntnisvollzug stets begleitende und bedingende Objektvermögen. Damit wird das in der Scholastik allgemein anerkannte Prinzip, wonach all unsere Erkenntnis mit den Sinnen beginnt, dahingehend verstanden, dass jegliche Erkenntnis sinnlich bedingt ist. Was die Gotteserkenntnis betrifft, liegen nun die Probleme klar auf der Hand. Gott gehört nicht zu den unsere Sinne natürlich bewegenden Gegenständen. Gottes übergroße Fülle, seine Einzigkeit, die absolute Transzendenz lassen seine Erkenntnis unmöglich erscheinen, weil Erkennen seitens des Menschen wesentlich durch die Washeit der sinnlich erfahrbaren Dinge bedingt und damit auch begrenzt ist. Erkenntnisse, die über den Weg der Washeit sinnlich erworbener Dinge gewonnen werden, stellen immer Kompromisse dar. Sie sind ein Mittelding zwischen der je besonderen Erscheinung und dem Umstand, dass die Besonderheiten in allgemeine Schemata wie Gattung und Art zusammengefasst werden. So entsteht aus einer singulären Wahrnehmung die objektiv gültige und allgemeine Erkenntnis (sentimus singulare, intelligimus universale). Proble17 Vgl. Scotus: Ord. I d. 3 p. 1 q. 1 – 2 n. 69 (Vat. III, 48). 18 Scotus: De primo principio, III, 19 n. 48 (Kluxen, 58). 19 Vgl. Scotus: Ord. ebd. n. 187 (Vat. III, 114).

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matisch wird diese Vorgehensweise erst dann, wenn wir uns einzigartigen Erfahrungen oder »Dingen« gegenübersehen, die sich jeglicher Verallgemeinerung widersetzen. Wie soll Gott durch einen Intellekt, dessen Hauptgeschäft die Analyse mit erst darauf folgender Synthese ist (mit den Worten von Scotus: intellectus dividens et componens), angemessen in den Blick genommen werden? Dennoch hält Scotus an der Maxime fest: Die menschliche Vernunft in ihrem gegenwärtigen Zustand (in statu isto), d. h. ausgehend von Sinneserfahrung über den Weg des abstrahierenden und universalisierenden Intellekts, ist dennoch fähig, Gott auf natürliche Weise zu erkennen. Das ergibt sich aus der notwendigen Annahme, dass göttliche Offenbarung, will sie verstanden werden, auf Worte zurückgreifen muss, die auf natürlichem Wege erworben wurden.20 Daraus kann nun gefolgert werden, dass es zwischen der Übernatürlichkeit Gottes und der Natürlichkeit des Menschen eine Schnittmenge geben muss, weil sonst Gottes offenbarendes Wirken notgedrungen unverstanden bleiben müsste. Diese Gemeinsamkeit in der Übereinkunft muss sich auch begrifflich fassen lassen. Der auf dem Wege natürlicher Erkenntnis gewonnene angemessene Gottesbegriff lautet nach Scotus ens infinitum. Er erscheint dem Gelehrten am besten geeignet, da der Begriffsinhalt so wenig sagt, d. h. vieles offenlässt. Vor allem täuscht er nicht vor, Gott unter dessen eigener Wesenheit (sub ratione deitatis) zu begreifen. Scotus nennt ihn deswegen einen »verminderten Begriff« (conceptus deminutus Dei), der die Sache, nämlich Gott, nur sehr unvollkommen (res imperfecta) zu repräsentieren vermag.21 Eine nähere Begriffserklärung gibt Aufschluss über die Bestimmung »unendlich«. In der Verbindung mit der Bestimmtheit »seiend« sagt »unendlich« nicht mehr aus, als dass Gott ein »nicht endlich Seiendes« ist. In diesem Fall hat das Sprichwort »Weniger ist mehr« volle Berechtigung. Denn dieses eher dürftige Ergebnis erweist sich mit Blick auf andere Wissensbereiche als Vorteil. Es ist so etwas wie ein Minimalkonsens. Auf diese Weise wird der im Bereich der natürlichen Vernunft nicht ausweisbaren Annahme, in Gott eine alles andere erklärende erste Ursache setzen zu dürfen, ein Riegel vorgeschoben. Es wird aber andererseits die Möglichkeit einer Erklärung durch Gott auch nicht vorweg ausgeschaltet. Soll eine ganzheitstheoretische Synthese gelingen, so wird man die Realität Gottes und sein Tun ad extra nicht auf der Ebene der Wirklichkeit, sondern auf jener der Möglichkeit ansiedeln dürfen. Ursache und Wirkung bleiben ontologisch auf der gleichen Ebene der Sachhaltigkeit. Die Relation zwischen Schöpfer und Geschöpf kann aber nicht auf der ontologisch gleichen Ebene abgehandelt werden. Dazwischen gibt es einen Transzendenzsprung. Darum weicht Scotus auf die Ebene der Ordnung aus. Hier kann unter Wahrung der Unterschiede sehr wohl gesagt werden, dass 20 Vgl. Scotus: Ord. I prol. p. 3 q. 1 – 3 n. 203 f. (Vat. I, 136 f.). 21 Vgl. Scotus: Lect. I d. 8 p. 1 q. 3 n. 129 (Vat. XVII, 49 f.).

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der Schöpfer der Welt zugeordnet ist wie auch umgekehrt. Die seinsgemäße »Unbestimmtheit« im scotischen Gottesbegriff öffnet den größtmöglichen Raum für Gott. Gott wird nicht durch gattungsgemäßes oder kategoriales Denken vorweg schon eingeschränkt. Gottes freies Sprechen ad extra wird auf diese Weise weitestmöglich ernst genommen. Das dürftige Resultat hat auch für den Menschen eine große Auswirkung. Der Intellekt kommt, wenn er die Denkinhalte von »seiend« und »unendlich« zusammen denkt – so Scotus –, im höchsten Sinn zur Ruhe.22 Ad b) Damit sind wir schon tief in den Bereich der zweiten Ordnung eingedrungen. Es ist dies die Ordnung der Angemessenheit. Was in der ersten Ordnung in Bezug auf die Gotteserkenntnis aufgezeigt wurde, dass nämlich Gott kein unsere Sinne natürlich bewegender Gegenstand ist, gilt abgewandelt auch für die Metaphysik. Diese hat ebenso das Problem, sich nicht auf eine entsprechende Ersterkenntnis beziehen zu können, die eine größere Reichweite aufzuweisen hätte als diejenige, welche durch die Washeit der sinnlich seienden Dinge erreicht werden kann. Bleibt sie allerdings auf die Washeit der erfahrbaren Dinge beschränkt, so greift Metaphysik zu kurz und büßt den Status einer Universalwissenschaft ein. Bezieht sie sich auf eine andere Wissenschaft – im ausgehenden 13. Jahrhundert hat sich die Physik angeboten –, so verliert sie den Status einer ersten Wissenschaft. Die Erstheit im Anspruch verlangt das Prinzip der Irreduzibilität. Der Status der Wissenschaft fordert ursprünglich Einsicht in das erste Subjekt-Objekt, d. h. in den Gegenstandsbereich der genannten Wissenschaft. Die Begegnung von Offenbarungstheologie und aristotelischem Wissenschaftsverständnis lässt die ungelösten Fragen, die sich hier erheben, überhaupt erst entdecken.23 Zwei Extrempositionen waren denkbar : die Metaphysik der Theologie unterzuordnen oder Metaphysik im Sinne eines radikalen Aristotelismus zu verstehen, der zu einer unaufhebbaren Pluralität wissenschaftlicher Ansätze führen musste.24 Scotus wählt einen dritten Weg. Metaphysik nimmt ihren Ausgang nicht beim ersten ausgezeichneten Seienden, sei dieses Gott oder eine erste Substanz, sondern hat als erstes Objekt die gemeinsame Bestimmtheit »seiend«. »Seiend« wird als angemessenes Objekt der Metaphysik insofern verstanden, als es sich in völliger Indifferenz gegenüber allen seienden Dingen, in denen es enthalten ist, verhält.25 Scotus definiert die Bestimmtheit »seiend« als illud cui non repugnat

22 Scotus: Ord. I d. 2 p. 1 q. 1 – 2 n. 138 (Vat. II, 209 f.): quia in tali cogitabili summe quiescit intellectus. 23 Vgl. Honnefelder: Methode, 78 f. 24 Vgl. Honnefelder: Rationalität, 299. 25 Scotus: Ord. I d. 3 p. 1 q. 1 – 2 n. 124 (Vat. III, 77): secundum totam indifferentiam ad omnia in quibus salvatur.

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esse (Seiendes, dem es nicht widerspricht zu sein).26 Von »seiend« wird an dieser Stelle nicht mehr gesagt, als dass es nicht nichts ist. Es ist dies ein minimaler transzendentaler Sinn, der sich positiv so ausdrückt, dass »etwas« außerhalb des Verstandes sein kann, weil seine Gehalte einander und der Existenz nicht widersprechen.27 Dieses Seinsverständnis auf Gott angewendet ergibt Folgendes: Wenn wir sagen, dass Gott »ist«, dann haben wir von »Gott« nicht mehr gesagt, als dass es dem Terminus »Gott« nicht in sich widerspricht, wirklich zu sein. Für den Metaphysiker bedeutet dies: Er darf die Möglichkeit Gottes und die Möglichkeit seines Wirkens ad extra nicht schon a priori ausschließen. Mit dem »Seienden« ist kein konkret »Bestimmtes« gegeben, sondern ein Gegenstandsgebiet. Martin Heidegger fasst diesen Sachverhalt mit wenigen Worten klar zusammen: »Indem wir ein Gegenständliches im geistigen Blick haben, kann Zweifel bestehen, in welcher Kategorie es steht, ob es für sich existiert oder in einem anderen; sein Wirklichkeitscharakter ist noch gar nicht determiniert, und trotzdem ist Etwas gegeben. Aliquid indifferens concipimus.«28 Um dieses letzte aliquid indifferens begrifflich zu fassen, braucht es eine – wie Scotus sagt – resolutio, d. h. eine Auflösung oder Analyse aller Begriffe und zwar so weit, bis wir bei einem Gehalt anlangen, der als schlechthin einfach (simpliciter simplex) zu betrachten ist. Der Begriff »seiend« ist so ein schlechthin einfacher Begriff, der mit nichts anderem mehr erklärt werden kann. Zwei innere Strukturmerkmale zeichnen diesen schlechthin einfachen Begriff aus, sie qualifizieren ihn als ein letztes »rein bestimmbares« (determinabile tantum) »Was« (quid) und als ein letztes »rein bestimmendes« (determinans tantum) »Wie« (quale).29 In der dem inneren Modus nach so strukturierten Gegenständlichkeit »Seiend« liegt die Bedingung der Möglichkeit, die Dinge grundsätzlich in zwei Richtungen in den Blick zu nehmen: sie wesentlich und allgemeingültig zu bestimmen und sie im Unterschied dazu für ein aktuelles Bestimmen durch direkte Berührung offenzulassen. Die Dinge können begrifflich gleichsam ein für allemal fixiert werden, jedoch mit dem Ergebnis, dass dadurch nur das »Was« der Sache erreicht wird. Das »Wie«, und dafür steht das Einmalige, bei Personen das »Wer«, kann durch diese Wesensbetrachtung nicht eingeholt werden. Die Sache kann vertreten werden, nicht aber jener Unterschied, der die Dinge zu dem je Besonderen macht. Dies ist vergleichbar mit einem Bild: Eine Fotografie kann das Original der Mona Lisa nicht vertreten. Es bedarf des direkten Schauens und des Berührtseins. Auf dem Strukturelement »Was« entfaltet sich das wesentliche Begriffsgebäude, und im »Wie« liegen alle 26 27 28 29

Vgl. Scotus: Ord. I d. 4 p. 3 q. 1 n. 6 (Vat. VI, 354). Vgl. Honnefelder: Methode, 88. Heidegger : Bedeutungslehre, 156 [Herv. i. T.]. Vgl. Honnefelder: Methode, 83.

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Unterschiede. Im Begriff »seiend« ist das »Was« vom »Wie« ursprünglich verschieden (primo diversae). Auf diese Weise hat Scotus ein Begriffsgebäude geschaffen, welches zum einen eine verallgemeinernde Rede ermöglicht, ohne dabei die Unterschiede, das in seiner Art Einzige, wie z. B. das Individuum oder die Person, zu nivellieren. Was die Gottesrede betrifft, hat Scotus damit auch ein neues Zeitalter eingeläutet. Die ursprüngliche Unterschiedenheit zwischen Gott und Geschöpf liegt nicht darin, dass die Seinsweise Gottes gänzlich verschieden wäre, sondern findet sich im Seinsmodus. Gottes Sein ist unendlich, ewig und vollkommen. Die Seinsweise des Geschöpfes ist endlich, zeitlich und kontingent. Auch hier gilt, dass der Gottesbegriff die Begegnung mit Gott nicht ersetzen kann. Ad c) Was in der ersten und zweiten Ordnung ans Licht gekommen ist, gilt es nun in der dritten Ordnung anzuwenden. Das Objekt des Erkennens in der Ordnung der Vollkommenheit ist Gott, wie man bei Aristoteles lesen kann.30 Der Mensch hat eine natürliche Sehnsucht (desiderium naturale), die ihn über sich selbst hinaus Ausschau nach Gott halten lässt. Wir wissen aber, dass der Mensch in statu isto nur eine sehr unvollkommene Erkenntnis erlangen kann. Freilich gehören das Wesentliche und das Eigentliche untrennbar zusammen. Streng genommen gibt es das Eine nicht ohne das Andere. Von Gott zu reden bedarf stets neu der Erinnerung, dass die persönliche Berührung mit Gott Zielpunkt jeglicher Gottesbemühung sein muss. Gott wird in den letzten Unterscheidungen gefunden und nicht zuerst in den einsichtigen Gemeinsamkeiten. Darum scheut sich Scotus nicht, im Traktat über den Gottesbeweis, der den synthetischen Teil seiner Metaphysik darstellt, die Abhandlungen immer wieder durch Gebet zu unterbrechen.31 Wenn Gott in der Ordnung der Vollkommenheit das Objekt unseres Erkenntnisvermögens ist, dann heißt das, dass Gott selbst das Licht ist, durch das er erkannt wird. Im Prolog zur Ordinatio in der ersten Quaestio entfaltet Scotus den Begriff der potentia oboedientialis.32 Gemeint ist damit das Vermögen, Gott hörend zu vernehmen. Selbst die Zustimmung zu Gottes Offenbarung in uns muss noch einmal von Gott selbst gewirkt werden.33 Ist nun durch diese Absolutsetzung der Transzendenz Gott nicht in eine unerreichbare Ferne gerückt? Dieser Vorwurf wurde Scotus immer wieder gemacht und ist nicht so ohne weiteres von der Hand zu weisen. Dennoch spricht vieles – wie ich meine – für die Ernstnahme der absoluten Transzendenz und Freiheit Gottes. Denn die 30 Scotus: Ord. I d. 3 p. 1 q. 1 – 2 n. 97 (Vat. III, 62): Dico quod perfectissimum cognoscibile a nobis etiam naturaliter est Deus (unde in hoc ponit Philosophus felicitatem, X Ethicorum). 31 Vgl. Kluxen: Frömmigkeit. 32 Vgl. Lackner: Potentia, 127 ff. 33 Scotus: Ord. prol. p. 1 q. 1 n. 94 (Vat. I 57): quia per movens supernaturalem revelans assentit illi veritati.

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ganze Radikalität der Menschwerdung Christi wird erst von diesem Gedanken her ansichtig. Gott und sein Wirken erscheinen von daher in einem neuen Licht. Für den absolut transzendenten und freien Gott heißt Menschwerdung »Kenosis«.34 Das Gott-Denken des Scotus prägt sich konsequent in eine Christologie hinein aus.

III.

Ausblick

In der Scholastik wurde im Rahmen der Christologie sehr intensiv die Frage diskutiert, ob Gott Mensch geworden wäre, hätte Adam nicht gesündigt. Duns Scotus vertritt diesbezüglich eine eindeutige Position und antwortet mit einem klaren »Ja!«.35 Menschwerdung ist ein bonum in se. So wird Gott angemessen gedacht. Wenn ich das Gute wirklich gut denken möchte, so kann es nicht sein, dass die Ursünde gleichsam Ursache der Menschwerdung ist und etwas so Positives auszulösen vermag. Für Scotus steht die absolute Prädestination Christi im Kontext der Schöpfungslehre. Daraus ergibt sich für ihn folgendes Schema: An erster Stelle steht Gott. Gott liebt sich selbst. Diese Selbstliebe ist eine aus dem unendlich Guten resultierende Forderung. Gott ist das höchste Gut. Auf ihn ist alles angelegt. Ein weiterführender Gedanke bei Scotus lautet, dass die Liebe Mitliebende, d. h. andere Liebende als Gott selbst, will. Darin liegt der Grund der Schöpfung. Christus ist somit als Mensch der Erste und Andere, der Gott auf höchstmögliche Weise lieben wird. In der Menschwerdung Christi ist Schöpfung paradigmatisch gelungen. Dass es dennoch anders gekommen ist, war nach Scotus nicht im Plan Gottes. Durch den Sündenfall wurde das ursprüngliche Anliegen Gottes nicht ausgelöscht, sondern hat eine dramatische Wende erfahren. Das Faktische widerstreitet dem Ursprünglichen: Ursprünglich wurde Gott Mensch, um ein Gott mit den Menschen zu sein; faktisch ist Gott Mensch geworden, um uns zu erlösen. Christologie und Soteriologie widersprechen sich bei Scotus aber nicht, sondern ergänzen einander in dieser doppelten Ordnung. Christus ist als der »neue Adam« bleibend Orientierung für gelungenes Menschsein in Liebe vor Gott. Der absolut transzendente Gott entschließt sich in vollkommener Freiheit, in Christus Mensch zu werden und zu sein. Gott wird in der »Kenosis« Christi Mensch »bis zum Tod am Kreuz« (Phil 2,8) als erlösender Diener der Liebe für 34 Christian Lagger hat in seiner Dissertation über Erich Przywara dessen Nähe zum Denken des Duns Scotus aufgezeigt. Dort heißt es, dass die Kirche der vorzügliche Raum von Gottesbegegnung ist und die Kirche aufgrund der »Kenosis Gottes« in Christus eine »weggestellte-gesendete« Dienstmagd zu sein hat. Vgl. Lagger : Dienst. 35 Scotus: Ord. III d. 7 q. 3 (Vat. IX, 284 – 291).

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Franz Lackner OFM

die Menschen. Darin erweist sich Duns Scotus als wahrer Jünger des heiligen Franziskus.36

Quellen Scotus: Opera omnia, studio et cura Commissionis Scotisticae ad fidem codicum edita, Rom 1950 ff. (bisher erschienen: Bde. I-XII; Bde. XVI-XIX). Ders.: Opera philosophica, hg. von G. J. Etzkorn u. a., St. Bonaventure / N.Y. 1997 ff. (bisher erschienen: Bde. I – IV).

Sonstige Literatur Bettoni, Efrem: Duns Scoto filosofo, Milano (Vita e Pensiero) 1966. Dettloff, Werner : Die Geistigkeit des hl. Franziskus in der Christologie des Johannes Duns Scotus, in: Wissenschaft und Weisheit, Bd. 22, Düsseldorf (Patmos-Verlag) 1959, 17 – 28. Esser, Dietrich: Johannes Duns Scotus. Leben, Gestalt und Verehrung, Mönchengladbach (Provinzialat der Franziskaner) 2000. Heidegger, Martin: Die Kategorien und Bedeutungslehre des Duns Scotus, in: Heidegger, Martin: Frühe Schriften, Frankfurt / M. (Klostermann) 1972, 133 – 353. Hödl, Ludwig: »… sie reden, als ob es zwei gegensätzliche Wahrheiten gäbe.« Legende und Wirklichkeit der mittelalterlichen Theorie von der doppelten Wahrheit, in: Beckmann, Jan P., Honnefelder, Ludger u. a. (Hg.): Philosophie im Mittelalter. Entwicklungslinien und Paradigmen, Hamburg (Meiner) 1987, 225 – 243. Hoeres, Walter : Der Wille als reine Vollkommenheit nach Duns Scotus, München (Pustet) 1962. Honnefelder, Ludger : Wissenschaftliche Rationalität und Theologie, in: Scheffczyk, Leo (Hg.): Rationalität. Ihre Entwicklung und ihre Grenzen, Freiburg / München (Alber) 1989, 289 – 314. Ders.: Vernunft und Metaphysik. Die dreistufige Konstitution ihres Gegenstandes bei Duns Scotus und Kant, in: Kolmer, Petra, Korten, Harald (Hg.): Grenzbestimmungen der Vernunft, Freiburg / München (Alber) 1994, 319 – 350. Ders.: Wie ist Metaphysik möglich? Ansatz und Methode der Metaphysik bei Johannes Duns Scotus, in: via scoti. Methodologica ad mentem Joannis Duns Scoti, Roma (Antonianum) 1995, 77 – 93. Ders.: Metaphysik und Ethik bei Johannes Duns Scotus. Forschungsergebnisse und Perspektiven. Eine Einführung, in: Honnefelder, Ludger u. a. (Hg.): John Duns Scotus. Metaphysics and Ethics, Leiden u. a. (Brill) 1996, 1 – 33. Kluxen, Wolfgang: Die Originalität der skotischen Metaphysik. Eine typologische Be-

36 Vgl. Dettloff: Christologie.

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trachtung, in: Bérubé, Camille (Hg.): Regnum Hominis et Regnum Dei, Rom (Societas Internationalis Scotistica) 1978, 303 – 313. Ders.: Frömmigkeit des Denkens – Johannes Duns Scotus, in: Wissenschaft und Weisheit (1992), 23 – 29. Lackner, Franz: »Potentia oboedientialis«. Aufmerksames Hören an der Grenze des Wissens, in: Schneider, Herbert u. a. (Hg.): Einzigkeit und Liebe nach Johannes Duns Scotus. Beiträge auf der Tagung der Johannes-Duns-Skotus-Akademie von 5. – 8. November 2008 in Köln zum 700. Todestag von Johannes Duns Scotus, Mönchengladbach (Kühlen) 2009, 117 – 131. Lagger, Christian: Dienst. Kenosis in Schöpfung und Kreuz bei Erich Przywara SJ, Innsbruck (Tyrolia) 2007. Longpré, Ephrem: La philosophie du B. Duns Scot, Paris (Soci¦t¦ et Librairie SaintFranÅois d’Assise) 1924. Veldhuis, Henri: Zur hermeneutischen Bedeutung der supralapsarischen Christologie des Johannes Duns Scotus, in: Schneider, Herbert (Hg.): Menschwerdung Gottes – Hoffnung des Menschen, Kevelaer (Butzon & Bercker) 2000, 81 – 110.

Silvano Zucal

Zwei Denker des Wortes: Max Picard und Ferdinand Ebner

Ziel dieses Beitrags ist es, zu Ehren von Augustinus Wucherer-Huldenfeld, dem die Interpretation und Weiterentwicklung der Dialogphilosophie ein großes Anliegen war und ist, die tiefe Verwandtschaft des Denkens zweier dialogischer Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts darzustellen, die eher selten miteinander verglichen werden.1 Zwischen Max Picard (1888 – 1965) und Ferdinand Ebner (1882 – 1932) gibt es, wie wir sehen werden, große inhaltliche Konvergenzen. Sie unterscheiden sich jedoch in Stil und Methode.2 Beide waren autodidaktische Denker : Picard war ein Arzt (er übte seinen Beruf in den Universitätskliniken von Heidelberg, Frankfurt und Berlin aus), der aber die Medizin verließ, weil sie für ihn zu sehr von den Paradigmen des Mechanismus, Positivismus und Darwinismus beherrscht war, während Ebner als Grundschullehrer arbeitete. Beide waren gläubige Denker und von außerordentlicher spiritueller Sensibilität. Picard wurzelt im Judentum, geht zum Katholizismus über, um schließlich wieder zum jüdischen Glauben zurückzukehren. Ebner kommt vom Katholizismus, wird Atheist und findet wieder zum Christentum zurück, mit einem bis an sein Ende leidvollen Verhältnis zur katholischen Kirche. Beide Philosophen stellen das Wort in die Mitte ihres Denkens. Bei Picard ist die Zentralität des Wortes aus dem lebendigen Phänomen des Schweigens geschöpft, bei Ebner steht sie im Zeichen einer radikalen Christologie. Sowohl Picard als auch Ebner sind außerdem scharfsinnige Diagnostiker des Verfalls des Wortes in der zeitgenössischen Gesellschaft. In ihren Werken findet sich stets ein prophetischer, manchmal sogar apokalyptischer Ton. 1 Zu erwähnen sind hier neben vielen anderen Arbeiten v. a. die Ebner-Monografie WuchererHuldenfeld: Personales Sein und Wort sowie die im ersten Teil von Wucherer-Huldenfeld: Ursprüngliche Erfahrung enthaltenen Aufsätze zur philosophischen Anthropologie. 2 Picard schreibt Emmanuel L¦vinas zufolge in einem poetischen Stil, der, methodologisch gesehen, eine »poetische Vernunft« widerspiegelt (vgl. Lévinas: Noms Propres). Ebner pflegt hingegen, auch dank seiner Ablehnung des Poetischen als »Traum des Geistes«, einen trockenen Stil, dem auf dem Gebiet der Methode eine gewisse phänomenologische Strenge entspricht.

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I.

Silvano Zucal

Der Mensch als Lebewesen des Wortes

Picard und Ebner sind sich mit Humboldt darin einig, dass das Wort eine grundlegende Gabe des Menschen ist. Von Anbeginn an, noch bevor er lernt, die Wörter einer spezifischen Sprache auszusprechen, ist der Mensch ein worthabendes (nicht bloß vokalisierendes) Lebewesen. Die Muttersprache kann man erlernen, nicht aber die ursprüngliche Sprache, die jedem Menschen a priori gegeben ist und die zu seiner ursprünglichen Identität gehört. Picard schreibt: »Alles, was zur Grundstruktur des Menschen gehört, ist ihm vorgegeben, es ist von allem Anfang an bereit für ihn, bevor er es zu sich nimmt und anwendet. Die Sprache z. B. gehört zu dem ihm Vorgegebenen.›Die Sprache muss‹, sagt Wilhelm von Humboldt, ›meiner vollsten Überzeugung nach, als unmittelbar in den Menschen gelegt, angesehen werden … Es hilft nicht, zu ihrer Erfindung Jahrtausende und abermals Jahrtausende einzuräumen. Damit der Mensch nur ein einziges Wort wahrhaft, nicht als bloßen sinnlichen Anstoß, sondern als artikulierten, einen Begriff bezeichnenden Laut verstehe, muß schon die Sprache ganz und im Zusammenhange in ihm liegen.‹ So also ist die Sprache vorgegeben.«3

An anderer Stelle meint Picard sogar : »Die Sprache gehört zum menschlichen Sein selber, sie ist ein Teil von ihm, mit ihm verschmolzen.«4 Ebner übernimmt ebenfalls und sogar mit Bezug auf dieselbe Stelle5 die Ansicht Humboldts bezüglich der ursprünglichen Sprachbegabtheit des Menschen, wonach der Mensch inmitten der stummen Natur das einzige Wesen ist, das spricht und sprechen kann, weil er das Geschenk des Wortes als ursprüngliche und grundlegende Gegebenheit hat. Dies ist der wahre Sprung vom Tier zum Menschen. Das Tier mag auch mit phonetischen Zeichen kommunizieren, mag kreischen, heulen, brüllen … dennoch bleibt es in seinem stummen Sein eingeschlossen, in jener »ungeheuerlichen«, unüberwindlichen »Stummheit«, von der Wilhelm von Humboldt sprach.6 Einen Gedanken Gotthilf Heinrich von Schuberts aufnehmend, charakterisiert Picard diesen Sprung vom Tier zum Menschen als ein Absterben der tierischen Lautwelt, aus dem die Sprache als neue Schöpfung hervorgeht.7 Gerade der Tod des tierischen Lautes im Menschen ermöglicht das Sicherheben des eigentlichen Wortereignisses als eine ausschließlich und wirklich den Menschen charakterisierende Tatsache. 3 Picard: Das Vorgegebene in der Dichtung, 100. Das Humboldt-Zitat stammt aus dessen Rede über das vergleichende Sprachstudium. Vgl. Humboldt: Über das vergleichende Sprachstudium, 252. 4 Picard: Die Welt des Schweigens, 52. 5 Vgl. Ebner : Das Wort und die geistigen Realitäten, 19. Zur Philosophie des Wortes bei Ebner vgl. Zucal: Ferdinand Ebner e la «nostalgia« della Parola. 6 Vgl. ebd., 53 und 88. 7 Vgl. Picard: Die Welt des Schweigens, 51 f.

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Ebner unterstreicht, dass das Diktum Humboldts, nach dem die Sprache unmittelbar in den Menschen gelegt sei, nicht bedeuten kann, die Sprache und der Drang zu ihr seien dem Menschen angeboren. Alles Vererbte gehört dem »natürlichen Leben« an, die Begabung mit dem Wort aber kann für Ebner nur geistig verstanden werden. Die Sprache ist dem Menschen nicht einfach angeboren, darum muss sie ja jeder erst lernen. Das Hineingelegtsein des Wortes in den Menschen, ohne das niemand das Sprechen lernen könnte, meint eben keine einfache Naturanlage, sondern die Angelegtheit des Ichs auf das Verhältnis zum Du, auf das Angesprochenwerden durch das Geistige außerhalb seiner. Es ist also nicht die Existenz des Menschen die Voraussetzung der Sprache, ihrer Erschaffung durch den Menschen selber (etwa in einem langsam verlaufenden Entwicklungsprozess), sondern im Gegenteil muss man sagen, dass die »ganze Menschlichkeit [des Menschen] in die Tatsache des Wortes so tief hineingewurzelt ist, daß man mit eben so vielem Rechte behaupten kann und es muß, er wurde durch das Wort, die Sprache, das, was er ist, ein Mensch«.8 Das ist für Ebner auch der eigentliche Sinn von Humboldts Sprachdenken. Er sei nämlich, unterstreicht der österreichische Philosoph, dem Wesen der Sprache nähergestanden »als unsre modernen auf die Evolutionstheorie eingeschworenen Sprachpsychologen, die es nicht verstehen wollen, daß das Geistige nicht i n der Natur und a u s ihr sich ›entwickelt‹, sondern im Menschen – und deswegen eben, weil es in ihn hineingelegt ist – zum ›Durchbruch‹ kommt«.9 Der Unterschied zwischen der Stummheit des Tieres und der menschlichen Rede lasse sich deshalb nicht physisch erklären.

II.

Wort und Vernunft

Worin besteht die Beziehung zwischen Wort und Vernunft? Nach Ebner ist die Vernunft im Unterschied zum Verstand vom Vernehmen her zu verstehen, dem Vermögen des Aufnehmens und Annehmens des Wortes. Sie ist damit konstitutiv mit dem Wort verbunden, auf es hin orientiert und so der wahre Diener des Wortes. In diesem Sinne ist sie das Spezifikum des Menschen, an dem das Tier keinen Anteil hat. Der Verstand hingegen, der in begrenzter Weise auch dem Tier zukommt, ist das Vermögen der Herrschaft über die Welt. Er ist das Vermögen, das unaufhörlich versucht, sich die Welt (und in der Welt auch das Du) durch die dem Ich und seinen Interessen entsprechenden Schemata anzueignen. Erfahrungsschemata, Einordnungen und Wieder-Einordnungen der Welt, jedoch bar jeder Beziehung, wie der andere dialogische Denker gesagt hätte, der Ebner 8 Ebd., 23. 9 Ebd., 88.

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gelesen hatte, bevor er selbst sein berühmtes dialogphilosophisches Werk Ich und Du verfasste, nämlich Martin Buber. Ebner schreibt: »Was ist die ›Vernunft‹? Man nehme doch einmal das Wort beim Wort. Denn man fährt nie übel, wenn man, nach dem Beispiel so manchen Denkers, in seinem Denken den Tiefsinn des Sprachgebrauchs, der Etymologie eines Wortes zu Hilfe ruft. Vernunft kommt von vernehmen, das ist hören und in sich aufnehmen. Vernunft ist ursprünglich und wesentlich der durch das Wort in der Göttlichkeit seiner Herkunft in den Menschen gelegte ›Sinn‹ für das Wort; die Möglichkeit, vom Wort und vom Sinn des Wortes angesprochen zu werden […]. Bewußtsein, Verstand sogar hat ja auch das Tier : aber keine Vernunft. Sie ist die in der Personalität des geistigen Lebens wurzelnde, durch das ›Wort‹ in ihr ›objektiv‹ gewordene Möglichkeit im Menschen – die ›subjektive‹ ist gewissermaßen das Ich selbst – ›angesprochene‹ Person zu sein, wodurch er aber zugleich auch zur ›sprechenden‹ wurde: ›Ohne Wort keine Vernunft‹ und ›Vernunft ist Sprache, lûgos‹.«10

Dank der so verstandenen Vernunft hat der Mensch mit dem lebendigen und dialogischen Wort zu tun, während der Verstand nur tote, konventionelle und funktionell markierende Wörter gebraucht, Wort-Wendungen, die zwar außerordentliche Konstellationen von Begriffen bilden, aber weder Beziehungen noch Begegnungen schaffen.11 Die Definition des Menschen als animal rationale, vernünftiges Lebewesen, entspricht also dann der Wahrheit, wenn man unter Vernunft eben das Vermögen versteht, sich dem Wort im Vollsinn bereitwillig und empfangend zu öffnen. Eine solche enge Beziehung zwischen der menschlichen Vernunft und dem Wort steckt auch in dem griechischen Ausdruck lûgos, das in der griechischen Urversion dieser Definition verwendet wird. Ganz auf der Linie von Ebners Vernunftbegriff verweist Picard diesbezüglich auf Heidegger, der den phänomenalen Boden der griechischen Wesensbestimmung des Menschen als zoon lûgon echon im Wortbezug des Menschen sah.12

10 Ebd., 78. 11 Vgl. ebd., 82. Ebner spielt mit dem doppelten Plural, das in der deutschen Sprache das »Wort« hat: Worte und Wörter. Wort-Worte sind die erleuchtenden, epiphanischen, brückenbildenden Worte, in denen die authentische Sprache lebt, die die Beziehung zwischen dem Ich und dem Du herstellt, dialogische Worte also, die lebendig sind, weil sie im Wort des Lebens, im göttlichen Wort, verwurzelt sind. Wort-Wörter sind dagegen tote Zeichen, die unfähig sind, einen authentischen Dialog zu nähren. 12 Vgl. Picard: Die Welt des Schweigens, 23.

Zwei Denker des Wortes: Max Picard und Ferdinand Ebner

III.

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Dialogisches Wort

Durch Picard und Ebner findet eine Umkehrung des egologischen Sprachdenkens statt. Der egologische Ansatz erreicht seine paradigmatische Formulierung im philosophischen Solipsismus des Descartes, der von Picard auf folgende Weise umgewendet wird: »Cogito, ergo sum, sagte Descartes, – ich denke, also bin ich. Aber Franz von Baader antwortete: Cogitor, ergo sum, ich werde gedacht, darum bin ich. Der Mensch wurde gedacht, vor-gedacht, daher denkt er, daher ist er«13 und daher, kann man diesen Gedanken fortführen, spricht er und ist fähig zu sprechen. Gedacht / vorgedacht und geliebt vom göttlichen Du und dann, auf dieser Spur, auch vom menschlichen Du. In einer Relecture der Genesis sagt Picard: »Im Anfang der Schöpfung wird uns erzählt, redete Gott selbst mit dem Menschen. […] Undurchdringbar bleibt der Ursprung der Sprache, wie jedes Geschöpfes, weil der Ursprung aus der vollkommenen Liebe des Schöpfers kam. Nur wenn der Mensch andauernd in der vollständigen Liebe lebte, könnte er den Ursprung der Sprache und des Geschöpflichen erfahren«.14

Auf außerordentliche Weise beschreibt Picard hier den Ursprung des menschlichen Wortes im Dialog mit Gott, einem Gott, der nicht nur das Wort schenkt, sondern den Menschen auch den Gebrauch des authentischen, dialogischen Wortes lehrt. Für Ebner verhält es sich mit diesem Dialog am Ursprung der Sprache umgekehrt als normalerweise, wo Gott das Du für den Menschen darstellt. In der ersten und grundlegenden worthaften Begegnung aber fungiert der Mensch als das Du Gottes, der ihn verbal aufruft: »Gott schuf den Menschen heißt nichts anderes als: er sprach zu ihm. Er sprach ihn schaffend zu ihm: Ich bin und durch mich bist Du. […] In der Geistigkeit seines Ursprungs in Gott war der Mensch nicht ›erste‹, sondern ›zweite Person‹ – die erste war und ist Gott. […] Er war die von Gott ›angesprochene Person‹, das Du des ihn schaffenden göttlichen Wortes. Weil es aber Gott selbst war, der sprach, so ist das Du nicht, was es in seinem letzten Grunde sonst immer ist, Gott, sondern eben der Mensch.«15

Was im ursprünglichen Dialog geschieht, wiederholt sich in der zwischenmenschlichen Ich-Du-Beziehung. Für Picard schwingt in ihr, sofern sie authentisch ist, immer ein Echo jener ersten Beziehung mit, ein Echo, das der Beredsamkeit des Schweigens anvertraut ist: »Erst wenn ein Mensch zu einem anderen redet, erfährt dieser, daß das Wort nicht mehr dem Schweigen, sondern dem Menschen gehört; durch das Du des anderen Menschen 13 Picard: Das Vorgegebene in der Dichtung, 101 [Herv. i. T.]. 14 Picard: Die Welt des Schweigens, 19 f. 15 Ebner : Das Wort und die geistigen Realitäten, 26 f.

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erfährt er es, durch das Du erst gehört das Wort ganz dem Menschen und nicht mehr dem Schweigen. Wenn aber zwei Menschen miteinander reden, so ist immer ein Dritter dabei: Das Schweigen, es hört zu. Das macht ein Gespräch weit, daß die Worte sich nicht im engen Raum der Redenden bewegen, sondern daß sie von weither kommen, dorther, wo das Schweigen zuhört, – dadurch werden sie voller. Aber nicht nur das: die Worte sind wie vom Schweigen her geredet, von jenem Dritten her, es wird dem Zuhörenden mehr gegeben, als vom Redenden selber kommen kann. Der dritte Redende in einem solchen Gespräch also ist das Schweigen«.16

Nur in diesem wahrhaft beziehungsvollen Kreislauf, der in der ursprünglichen Beziehung zu Gott gründet und in der zwischenmenschlichen Beziehung bewahrheitet wird, kann also ein dialogisches Wort hervorquellen, das nicht die bloße Projektion oder Ausdehnung des Ichs ist. Demgegenüber ist für Ebner das Du-lose Wort des Ichs, das Wort des in seiner Einsamkeit todkranken menschlichen Geistes, »das Geistige im Menschen, das insgeheim selber seine Krankheit und seinen Tod will«.17 Picard hat wohl dasselbe Phänomen im Blick, wenn er von dem Wort spricht, das es nicht mehr schafft, sich zu regenerieren, und seine Substanz verliert. Ein existentieller Verfall, der immer droht, aber heutzutage auch epochal bedingt ist: »Wie von selber redend ist die Sprache heute, und, sich ausstreuend und sich entleerend […]. Etwas Hartes, Hartnäckiges ist in der Sprache von heute, als ob sie sich anstrenge, daß sie trotz ihrer Leere doch bleibe, und etwas Verzweifeltes, als ob sie erwarte, daß die Leere doch zum Ende führe, und dieser Wechsel von Hartnäckigkeit und Verzweiflung macht sie unruhig. […] Manchmal ist es wirklich, als schämte sich der Mensch der Sprache, die er von ihrer Herkunft getrennt hat: der Mensch getraut sich nicht mehr recht, das Wort zu einem anderen hinzubewegen, er redet mehr zu sich selbst, in sich hinein, als wolle er die Wörter zerdrücken, vernichten, wegräumen, und die Worte, die nur noch Ruinen sind, hinabwerfen in die Leere des eigenen Innern«.18

IV.

Wort und geistige Dimension

Welches ist das Verhältnis zwischen dem »Geist« und dem Wort? In welchem Sinne kreuzen sich Wort und pneuma? Das ist ein heikler Punkt, bei dem sich sowohl Picard als auch Ebner aufhalten, weil durch ihn erst die wahrhaften Konturen des Wortes hervortreten. Für den Schweizer Philosophen gibt es keine geistige Welt, die größer ist als die Welt des Wortes.19 Man kann die Welt des Wortes nicht von der Gebärde herleiten, die nur eine Überträgerin des Wortes 16 17 18 19

Picard: Die Welt des Schweigens, 19. Ebner : Das Wort und die geistigen Realitäten, 124. Picard: Die Welt des Schweigens, 37 f. Vgl. ebd., 21.

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ist. Das Wort, so unterstreicht Picard, »drückt ein Sein aus, ein Ganzes«20, nicht eine unfreie Mechanik wie bei der instinktiven Gebärde oder bei den Ausrufen, Überbleibseln der tierischen Dimension im Menschen. Während das Wort frei ist und sich über sich selbst erhebt, ist alles dies noch »mit der Materie vermischt«, mit der es sich auszudrücken sucht, mit der es innig verbunden ist, »nicht in Freiheit auf die Materie zugehend wie der Geist im Wort«.21 Das authentische Wort markiert in der Tat eine radikale Diskontinuität gegenüber dem, was einfach eine physiologische oder gar psychische Auswirkung ist, indem es im Unermesslichen des Geistes wurzelt, geborgen im Schutz des ebenso unermesslichen wie geistigen Schoßes des Schweigens. Picard schreibt: »Wohl vermag der Geist selbst, von sich aus, unermeßlich zu sein. Aber das Schweigen unter ihm hilft ihm, sich in der eigenen Unermeßlichkeit zu bewegen. […] Das Schweigen ist überhaupt die naturhafte Basis für den Geist: das Unsagbare, das im Worte des Geistes ist, verbindet den Geist mit dem Schweigen«.22

Im Wort, das als Geist lebt, ist Sanftmut, Freundlichkeit, dialogisches Streben. Es besteht vor allem in der Offenheit für den anderen, für das göttliche und menschliche Du. Doch in jedem Augenblick, mahnt Picard, läuft das Wort auch Gefahr, von etwas Unterirdischem, Drohendem, ja Verderblichem und Dämonischem angegriffen zu werden. »Aber dieses Drohende, Dämonische vermag nur dann ins Wort einzudringen, es hat nur dann Raum im Wort, wenn das Wort nicht mit dem Geiste gefüllt ist. […] Das Schreckliche wird gebannt durch das Wort, in welchem der Geist, das heißt die Wahrheit und die Ordnung, ist. […] Im Geist, der im Worte ist, hält sich eine Spur des göttlichen Logos auf, – dadurch bekommt das Wort die Macht, sich das Dämonische zu unterwerfen. […] Aus dem Urwald des Schweigens entstand durch den Geist, der im Worte ist, der freundliche Boden des Schweigens, der das Wort trägt und nährt«.23

Picards Meinung nach beruht der heutige Verfall des Wortes gerade auf der Trennung vom Geist. Wir werden an ununterbrochene verbale Sequenzen gewöhnt, die uns eher zur Logik der Gestikulation, der Interjektionen und des Austausches von Lauten tierischer Art hinführen als zum Genuss des Wortes als geistiger Handlung: »Das Wort heute entsteht nicht mehr aus dem Schweigen, durch einen Akt des Geistes, der dem Wort und zugleich dem Schweigen Sinn gibt, sondern aus einem anderen Wort, aus dem Geräusch des anderen Wortes, es geht auch nicht mehr ins Schweigen wieder zurück, […] sondern in ein anderes Wortgeräusch und geht in seinem Lärm 20 21 22 23

Ebd., 50 [Herv. i. T.]. Ebd., 50 f. Ebd., 33. Ebd., 46 ff. [Herv. i. T.].

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unter. […] Das Wort ist nicht mehr als Geist da, sondern nur noch als Geräusch, akustisch.«24

Auch für Ebner ist das Wort geistiger Natur, wobei v. a. Geist im Sinn des neutestamentlichen pneuma gemeint ist. Nicht zufällig betitelt er sein grundlegendes Werk über das Wort Pneumatologische Fragmente und behauptet wiederholt: »Das Problem der Sprache ist kein philosophisches, kein psychologisches und auch nicht anders wissenschaftliches, sondern ein pneumatologisches und solange man es nicht in diesem Sinne auffaßt, wird man das Wesen des Wortes nie ergründen«.25 Auf der anderen Seite können nach Ebner die Fragen des geistigen Lebens nur dann einen besonderen Aufschluss erhalten, wenn ein tieferes Verstehen des Problems der Sprache erfolgt. »Weil im Geheimnis des ›Wortes‹ das des geistigen Lebens sich birgt und offenbart, darum ist die Pneumatologie, soweit sie überhaupt möglich ist, Worterkenntnis, Wissen vom Wort und um das Wort und eine, freilich nicht metaphysisch mit dem lûgos spekulierende Interpretation des Introitus zum Johannesevangelium. «26

Ein Wissen über die Sprache, das nichts vom Ursprung des Wortes im Geist wissen möchte, würde nach Ebner ignorieren, wie viel wirklich Befreiendes und, mehr noch, welche Möglichkeit der Erlösung des Menschen im Wort liegt. Denn nur das Wort »vermittelt geistig zwischen Mensch und Mensch – im letzten Grunde jedoch zwischen ihm und Gott, zwischen ihm und dem geistigen Grund seiner Existenz«.27 Allein das Wort ist der »Mittler«: zwischen Ich und Du, zwischen Gott und Mensch sowie zwischen Mensch und Mensch. Es und nur es ist die Brücke, die den Abgrund und die Pathologie der Icheinsamkeit überwindet.

V.

Wort und Liebe

Für Picard ist die Liebe dem Menschen a priori gegeben und geht allem eigenen Lieben-Können vorher. »Der Mensch liebt mit der Liebe, die ihm vorgegeben ist. Er wurde geliebt, bevor er selber liebte. Der Mensch ist nicht imstande, die Liebe als etwas Allgemeines zu erzeugen, als etwas, das erst von ihm geschaffen werden muß, damit er lieben kann, und 24 Ebd., 178. 25 Ebner : Das Wort und die geistigen Realitäten, 52. 26 Ebd., 52 f. Hamann ergriff, in seinem Nachdenken über die Offenbarung und die Realität als göttliche, an den Menschen gewandte Sprache, »die Bedeutung der Sprache in der Geistigkeit ihres Ursprungs« (ebd., 16). Mit Recht, betont Ebner, behauptete Hamann: »Das unsichtbare Wesen unserer Seele offenbart sich durch Worte.« (Ebd., 19) 27 Ebd., 54.

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dann noch einen Menschen konkret zu lieben. […] Darum ist ihm das, was zu seiner Grundstruktur gehört, als ein Allgemeines vorgegeben«.28

Ebenso wenig wie er der Erfinder der Liebe ist, ist er auch der Erfinder des wahrhaft liebenden Wortes. Es war in der Tat die göttliche Liebe, die das erste Wort sprach, an den Menschen gerichtet, gesetzt als sein Du. Das menschliche Wort als ein Medium der Gegenliebe entzündet sich daran. »Das Wort des Menschen ist nicht nur durch die Wahrheit bestimmt, sondern auch durch die Güte: in Güte wendet sich das Wort wieder zum Ursprung zurück«.29 Und um auch in den zwischenmenschlichen Dialogen seinem Ursprung getreues Wort zu sein, wird sich das Wort nie von der Liebe trennen können, ohne sich selbst preiszugeben. Dadurch ist jedem Wort »von vorneherein die Güte eingewirkt, das Wort hat dadurch in sich schon, in seiner Struktur, eine Neigung zur Güte. In dem Wort, das mit dem größten Schweigen verbunden war, ist die größte Güte«.30 In diesem Zusammenhang kann der Mensch auch das liebende Wort aussprechen, das unter allen das mächtigste ist: das Wort der Vergebung, das für Picard die Frucht eines stillschweigenden Vergessens ist. »Die Nähe des Schweigens bedeutet auch die Nähe der Verzeihung und der Liebe, denn die naturhafte Basis für die Verzeihung und die Liebe ist das Schweigen. […] Das Wort versinkt wieder im Schweigen, es kann vergessen werden. Das Vergessen ist – so scheint es – auch darum beim Worte, damit das Wort nicht allzu heftig da sei; die Suprematie, die das Wort über das Schweigen hat, wird dadurch gemildert. […] Das ist ein Zeichen, daß die Liebe in die Struktur der Sprache eingewoben ist: das Wort versinkt im Vergessen des Menschen, damit er im Vergessen auch vergebe«.31

Für Ebner sind ebenfalls das Wort und die Liebe gemeinsam (und nur gemeinsam) die »Vehikel« der Bewegung des Ichs zum Du hin: Das Wort ist das »objektive Vehikel«, in dem Sinn, dass es die effektiven und grundlegenden Verhältnisse in der Ich-Du-Beziehung schafft, die Liebe hingegen ist das »subjektive Vehikel«, weil sie die Beziehung bewahrheitet und beglaubigt. Eine nicht ausgesprochene Liebe ist keine voll verwirklichte Liebe. Ein Wort ohne Liebe ist nur Geschwätz, das Abstand schafft und die echte Öffnung zum Du hin verhindert. Infolgedessen sind das Fehlen des Wortes und das Fehlen der Liebe die Anzeigen für eine geistige Pathologie oder für eine Abwendung vom Du, das den geistigen Verlust des Ichs beinhaltet. Der authentische Gehalt des geistigen Lebens des Menschen ist also diese sehr enge Verbindung zwischen Wort und Liebe, in der das ganze Geheimnis dessen liegt, was der österreichische Philosoph das rechte Verhältnis oder die rechte 28 29 30 31

Picard: Das Vorgegebene in der Dichtung, 100 [Herv. i. T.]. Picard: Die Welt des Schweigens, 32. Ebd. Ebd., 28 und 38 [Herv. i. T.].

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Beziehung nennt, geboren von einem »rechten Wort«, das in Liebe verbindet und durch Liebe verwirklicht wird. An einer sehr schönen und auch berühmten Stelle aus seinen Fragmenten (einer Art Hymne auf das »rechte Wort«) schreibt er : »So gehören das Wort und die Liebe zusammen. […] Das rechte Wort ist immer eines, das die Liebe spricht, und es wohnt ihm die Kraft inne, chinesische Mauern zu durchbrechen. Alles menschliche Unglück in der Welt rührt daher, daß die Menschen so selten das rechte Wort zu sprechen wissen. Wüßten sie es, sie ersparten sich das Elend und den Jammer der Kriege. Es gibt kein menschliches Leid, das nicht durch das rechte Wort gebannt werden könnte, und es gibt in allem Unglück dieses Lebens keinen anderen wirklichen Trost, als der vom rechten Wort kommt. Das lieblose Wort aber ist bereits menschlicher Mißbrauch mit der göttlichen Gabe des Wortes. In ihm streitet das Wort wider seinen eigenen Sinn und hebt geistig sich selbst auf. Es geht in der Zeitlichkeit verloren. Das Wort jedoch, das die Liebe spricht, ist ewig.«32

Es ist also die Liebe im Menschen, die das »rechte Wort« ausspricht, und umgekehrt ist es »das rechte Wort«, das die Liebe im Menschen entfacht und ihm damit den Weg zum Dialog und zur Begegnung mit dem Du eröffnet: »Aus der Liebe soll das Wort im Menschen geboren werden, die Liebe soll das Wort tragen auf seinem Wege vom Ich zum Du, nur in der Liebe, in der das Ich aus seiner inneren Verschlossenheit heraustritt und dem Du sich auftut, kann das Wort fruchtbar sein und geistiges Leben zeugen im Menschen, zu dem es gesprochen ist.«33

Von der zerstörerischen »Icheinsamkeit« wird der Mensch durch Wort und Liebe befreit. Es handelt sich um eine Erlösung, die in der Nachfolge besteht, in der dem unverfügbaren liebenden Wort gegenüber gehorsamen Praxis.

VI.

Schweigen und Wort

Worin besteht die Beziehung zwischen Schweigen und Wort? Das Verhältnis ist das eines Paares von entgegengesetzten Polen, die, während sie sich abstoßen, sich doch gleichzeitig auch immer wieder rufen.34 Sicherlich, während man schweigt, kann man nicht sprechen, und während man spricht, nicht gleichzeitig schweigen, aber das authentische Wort ruft auf jeden Fall das Schweigen auf, und das wahre Schweigen sucht immer und überall den Exodus zum Wort hin. Wenn die Polarität von Schweigen und Wort abgespannt wird, degeneriert das 32 Ebner : Das Wort und die geistigen Realitäten, 116. 33 Ebner : Das Wort ist der Weg, 117 f. 34 Es war Romano Guardini, der die Philosophie des polaren Gegensatzes mit der Dialektik des ebenso polaren Gegensatzes von Schweigen und Wort auf paradigmatische Weise verbunden hat. Dazu Zucal: Romano Guardini und Wucherer-Huldenfeld: Die Gegensatzphilosophie Romano Guardinis.

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Schweigen zu verhärtender und verschließender Stummheit, während das Wort zum Geschwätz abfällt oder – wie Picard gerne sagt – zum bloßen »verbalen Summen«35 wird. Das Wort ist also polar mit dem Schweigen verbunden, nur gemeinsam bilden sie einen lebendigen Raum, der nun weder Wort noch Schweigen allein ist. Für einen solchen umfassenden Zusammenhang gibt es mit Recht keinen angemessenen Begriff, da jeder Versuch, ihn zu ergreifen, die lebendige polare Spannung zwischen den beiden Phänomenen auf einseitige Weise unterdrücken würde. Das Schweigen als positives und prägendes Phänomen findet nur zu sich selbst, indem es im Wort Knospen treibt und sich bewahrheitet, indem es die Abdrift in die Stummheit vermeidet, so wie das Wort seinen Ruin durch das Geschwätz vermeidet, indem es, aus dem Schweigen geboren, ständig zu ihm zurückkehrt, um sich in ihm zu erneuern. Sprechen bedeutet immer, sich selbst im Wort zu offenbaren, es ist die Seele, die sich darstellt, es ist der Geist, der hindurchscheint, es ist unsere Innerlichkeit, die endlich ans Licht kommt. Damit all das nicht in Zerstreuung und Vergeudung endet, ist es nötig, dass diese Bewegung zum Licht hin durch eine Bewegung in entgegengesetzter Richtung ergänzt wird: durch eine Einkehr der Seele in sich, ein Sich-Entziehen des Geistes aus der öffentlichen Welt, ein Vibrieren der Innerlichkeit in sich selbst.36 Das genau ist es, was geschieht, wenn wir schweigen. Wie Picard schreibt, ist die Dialektik zwischen Wort und Schweigen eine grundlegende existentielle Dialektik: »Das Wort, das aus dem Schweigen entsteht, ist wie durch einen Auftrag da, es ist durch das Schweigen, das ihm voranging, legitimiert. Wohl ist es der Geist, der dem Wort die Legitimation gibt, aber das Schweigen, das dem Wort vorangeht, ist das Zeichen, daß der Geist hier schöpferisch wirkt: er holt aus dem trächtigen Schweigen das Wort. […] Wenn ein Mensch anfängt zu sprechen, entsteht das Wort wieder aus dem Schweigen. […] In jedem Wort ist etwas Schweigendes, als ein Zeichen davon, woher das Wort kam, – in jedem Schweigen ist auch etwas Redendes, als ein Zeichen davon, daß aus dem Schweigen die Rede entsteht. Das Wort hängt also wesentlich mit dem Schweigen zusammen«.37

35 Vgl. Picard: Wort und Wortgeräusch. 36 Das Paradox des Wortes ist, dass es seine Kraft dem Unsagbaren verdankt. Für diese Entstehung des Wortes aus der Dunkelheit des Unsagbaren verbleibt das Schweigen der Mittelpunkt der Sprache und das Wort verdankt sogar seine Klarheit, seine Frische wie auch seine Polysemie dem Anteil an Schweigen, der in jede der Lautbildungen verwoben bleibt, dem feinen, aber dichten Gewebe aus schweigenden Fäden, aus denen es gewoben ist, um die berühmte Metapher von Merleau-Ponty zu zitieren. Das Wort ist ein Schimmer, geöffnet auf das Unsagbare hin, und auf dem Unsagbaren zeichnet es sich ab. 37 Picard: Die Welt des Schweigens, 18.

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Nur das Schweigen, behauptet Picard des Weiteren, kann dem Wort Reinheit, Durchsichtigkeit und Leichtigkeit schenken. Es läutert und erneuert, indem es das Wort zum Ursprünglichen zurückführt: »Das Zusammensein mit dem Schweigen ist also notwendig für das Wort. Die durchsichtige, schwebende Art des Schweigens macht das Wort selbst durchsichtig und schwebend, wie eine helle Wolke ist es über dem Schweigen, eine helle Wolke über dem See des Schweigens. […] Im Schweigen hält die Sprache den Atem an und füllt sich wieder mit Ursprünglichkeit auf. Selbst wenn das Wort immer das gleiche ist, vermag es immer wieder als neu zu erscheinen, sobald es aus dem Schweigen hervorkommt, – die Wahrheit, die immer mit dem gleichen Wort gesagt wird, erstarrt dadurch nicht«.38

Wort und Schweigen sind also zwei gleich ursprüngliche Phänomene: Das Wort ist nicht etwas, das aus der bedrückenden Dunkelheit des Schweigens endlich ans Licht kommt, sondern es ist vielmehr ein Aufleuchten des Schweigens, das seinerseits dem Wort Licht schenkt.39 In einer solchen wechselseitigen Einbeziehung des Schweigens und des Wortes ist das Wort mit einem Auftrag vonseiten des Schweigens betraut, es spricht und kann nur das Schweigen aussprechen, da das Schweigen aus dem absoluten Wort schöpft, das nicht mehr allein menschliches Wort ist: »Wir haben gesagt, daß das Wort aus dem Schweigen komme und wieder zu ihm zurückkehre. Es ist, als befände sich hinter dem Schweigen das absolute Wort, zu dem hin, durch das Schweigen hindurch, das Wort des Menschen sich bewegt. Es ist, als würde das menschliche Wort vom absoluten Wort gehalten. […] Das Schweigen ist wie ein Besinnen auf jenes Wort«.40

Ohne eine solche Verwurzelung im absoluten Wort bliebe das menschliche Wort in einem oberflächlichen Selbstbezug, »bereit wie ein Werkzeug, schon wie vorgesprochen, von sich selber vorgesprochen, ehe es gesprochen wird«.41 Auch Ebner setzt dem geistigen Verfall des Wortes das Schweigen als Heilmittel entgegen. Nur es kann das »überflüssige Reden« besiegen, das von den Umständen, vom Spiel und von der verbalen Künstlichkeit diktiert wird, die einer Zeit wie der unseren zu eigen sind. Nur das Schweigen wird von Neuem zum »Heiligtum« des Wortes in seiner pneumatischen Macht und Wahrheit zurückführen können. So schreibt Ebner : »Groß, fast könnte es einem scheinen unendlich groß ist der Mißbrauch, den der Mensch mit dem Worte treibt. Vermag er seine Schuld dieses Mißbrauchs anders abzutragen, als im Schweigen? Auch von jedem unnützen Worte, das er geredet hat, 38 39 40 41

Ebd., 33 f. Vgl. Picard: Der Mensch und das Wort, 51 und 159. Picard: Die Welt des Schweigens, 39 f. Picard: Der Mensch und das Wort, 97 f.

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muß er einmal Rechenschaft ablegen. […] Und durch das Schweigen muß er hindurch, um das rechte Wort zu finden.«42

Picard und Ebner sehen also eine ursprüngliche Zusammengehörigkeit von Wort und Schweigen. Das Schweigen ist ihnen ein Weg zum göttlichen Wort und wird als Therapeutikum gegen den Sprachverfall der Gegenwart empfohlen.

VII.

Die christologische Dimension des Wortes

Für unsere beiden Denker wäre, wie wir gesehen haben, der Mensch sicher nicht in der Lage gewesen, von sich aus das Wort zu bilden und es dem Schweigen zu entziehen, nie hätte er alleine den Sprung vom Schweigen zum Wort geschafft. Nur durch jenen ursprünglichen göttlichen Zuruf wurde dies möglich, der zugleich eine erste Einweihung in das Wort ist, in das erwidernde Wort, mit dem die menschliche Sprache anfängt.43 Das Christusereignis bildet, so Picard, die Bestätigung jenes ursprünglichen Wort-Ereignisses: »Denn, indem das göttliche Wort selbst, indem Christus aus Gott, dem ›verschwebenden Schweigen‹44, zu den Menschen herab kam, war über alle Zeiten hinweg die Verwandlung des Schweigens ins Wort vorgezeichnet. Das Wort, das vor zweitausend Jahren erschien, war schon seit dem Anfang der Zeiten unterwegs zu den Menschen und machte darum von allem Anfang an einen Riß vom Schweigen ins Wort.«45

Dank ihrem außermenschlichen Ursprung beinhaltet für Picard die Sprache die Wahrheit und bringt sie dem Menschen. Gerade durch die Sprache »drängt die Wahrheit zum Menschen hin, durch die Struktur der Sprache ist dem Menschen die Wahrheit vorgegeben. Auch dies ist ein Zeichen dafür, daß der Mensch die Sprache nicht durch sich selbst gewann, sondern daß sie ihm gegeben wurde durch ein Wesen, das die Wahrheit selbst ist«.46 42 Ebner : Das Wort ist der Weg, 80; vgl. 92 f., 111. 43 Picard sieht im Schweigen eine Spur jener ursprünglichen göttlichen Handlung und ihrer stammelnden menschlichen Erwiderung: »Schweigt der Mensch, so befindet er sich, zwar nicht subjektiv, aber phänomenologisch in jenem Zustand, in dem der Schöpfungsakt der Sprache bevorstand, das heißt, wenn ein Mensch schweigt, so steht er vor einem als das Bild des Menschen, der die Sprache erst erwartet. […] der Mensch ist im Schweigen wie bereit, das Wort dem zurückzugeben, von dem er es bekommen hat, dem Schöpfer. […] im Schweigen ist es, als sei der Mensch bereit, das Wort zurückzugeben, durch das der Mensch ward, und demjenigen es zurückzugeben, von dem er es bekam, von Gott, glaubend, daß das Wort ihm neu gegeben werde.« (Die Welt des Schweigens, 3 f.) 44 Der Ausdruck »verschwebendes Schweigen«, der ein Schweigen meint, das sanft erlischt oder vergeht, indem es Wort wird, ist Martin Buber entnommen. 45 Ebd., 25 f. 46 Ebd., 28 f. [Herv. i. T.].

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Das Problem für den Menschen ist nun, der Tragweite dieser geschenkten Wahrheit standzuhalten und damit den tiefen Sinn der Sprache nicht zu vergeuden. Jenseits der Untreue zur Sprache, die der Mensch selber beschließt, lebt er schon immer mit der Unmöglichkeit, die Wahrheit vollkommen auszudrücken, was für Picard die menschliche Melancholie ausmacht. Eine Melancholie, die hingegen in Jesus Christus als fleischgewordenem Wort weder existiert noch existieren kann, da es in ihm nie eine Kluft zwischen Wort und Wahrheit gibt: »Es gehört zum Wesen des Menschen, daß er nicht imstande ist, die Wahrheit ganz und gar in das Wort hineinzugeben. Er füllt den Raum des Wortes, der nicht ganz mit der Wahrheit angefüllt ist, mit der Traurigkeit aus. […] Nur Christus vermochte das Wort ganz und gar mit der Wahrheit anzufüllen, daher sind seine Worte unmelancholisch, der Raum des Wortes ist mit nichts anderem als mit der Wahrheit ausgefüllt, es hat keine Melancholie mehr in ihm Platz«.47

In diesem Sinne ist Christus der große Meister des Wortes, mehr noch: der Versöhnung zwischen Wort und Wahrheit. Dieser Auffassung ist auch Ebner : »Doch ist auch das Wort in der Göttlichkeit seines Ursprungs ›historisch‹ geworden – im Leben und Worte Jesu. […] in dem die Realität des Geistes und das Wort absolut eins waren«.48 Jesus ist als fleischgewordenes Wort der Meister des rechten Verhältnisses zum Wort. Nicht ohne Grund hat er, wie Ebner unterstreicht, überhaupt nichts geschrieben, nicht einmal eine Zeile, um sie seinen Jüngern als Vermächtnis zu hinterlassen. Er schenkte hingegen mit seiner göttlichen Kraft den Stummen eine neue Sprache und öffnete den Tauben das Ohr zum Wort, paradigmatische Zeichenhandlungen, die, jenseits des Wunders, auf die außerordentliche verbale Lehrkraft Christi hinweisen und auf die Wiederherstellung des Verhältnisses zum wahren Wort. In diesem Sinne nimmt Ebner sowohl Matthäus 4,4 als auch Johannes 6,50 auf: »Nicht vom Brot allein lebt der Mensch, sondern von jedem Wort, das aus dem Munde Gottes kommt, sagt Jesus zum Versucher in der Wüste. Wir leben geistig vom Wort Gottes, das uns schuf, vom Leben Jesu, der das Wort und das Brot des Lebens war, das vom Himmel herabstieg, daß, wenn jemand davon ißt, er nicht sterbe […].«49

Der österreichische Philosoph unterstreicht, dass das Wort Gottes einfach und unmissverständlich ist, wenn man es nicht mit dem Leichtsinn des Theoretisierens, sondern mit dem Ernst des geistigen Lebens aufnimmt. In diesem Sinn versteht er die Seligpreisung der »Armen im Geiste« (Mt 5,3), die nie das Verhältnis zum Wort mit theoretischer Spekulation verwechseln. Jesus erscheint – wo er aufgenommen wird – als der große Erwecker auf dem Weg zum eigentli47 Ebd., 30 f. 48 Ebner : Das Wort und die geistigen Realitäten, 23 und 36. 49 Ebd., 35 f.

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chen geistigen Leben, das endlich im »rechten Wort« wohnt.50 Das Wort Christi, absolut verbindlich, ist in der Tat Quelle des geistigen Lebens in seiner wahren Wirklichkeit und nicht mehr in seiner Traumflucht.51 Das Erwachen zu diesem Leben erfolgt und kann nur erfolgen in einem innigen Gegenüber der Tatsache des Lebens und des Wortes Jesu, in dem endlich und wahrlich Leben und Wort absolut übereinstimmten und die Fülle der Wahrheit waren.52 Die Frage, die man sich stellen kann und die sich der Ebner in der Tat stellt, ist die, welches Verhältnis in Jesu zwischen dem göttlichen Wort und dem menschlichen Wort besteht. Das von Jesus gesprochene Wort war ein menschliches, in einer bestimmten Sprache geäußertes Wort, dem jedoch das göttliche Wort einwohnte.53 Dieses göttliche »Wohnen« in einer menschlichen Sprache ist zugleich ein Ereignis der Liebe und ein Wortereignis, bestrebt, den Menschen von der Pathologie der Icheinsamkeit zu erlösen: »Die Liebe Gottes, die den Menschen durch das Wort, in dem das Leben war, schuf, wurde, um ihn zu erlösen, im ›Wort‹ objektiv, d. h. hier sinnfällig, historische Tatsache – in der Menschwerdung Gottes und im Wort des Evangeliums. […] Er [Jesus], der der Weg, die Wahrheit und das Leben ist, hat durch das Wort das Ich zum Du hingeführt, er hat uns vom geistigen Tod zum Leben auferweckt«.54

Er erweckt zu jenem Leben, das von einem Wort ernährt wird, das nie enttäuscht und das uns von der chinesischen Mauer befreit, die wir mit unseren nichtssagenden Worten errichteten, einer Mauer, die den Weg zum gelingenden Verhältnis versperrt, sowohl zum göttlichen als auch zum menschlichen Du. Jesus, Herr des Wortes, hat nie mit »glänzenden« oder genialen Worten gesprochen55, sondern hat vielmehr den letzten Sinn des Wortes offenbart, nach dem an ihn zu glauben und an das Wort zu glauben schließlich dasselbe sind. »Der Glaube des Menschen an sie [an die Menschwerdung Gottes] ist im letzten Grunde und wahrsten Sinne Glaube an das Wort – an den Logos, der den Glauben an seine Göttlichkeit fordert«.56 Man darf dies jedoch nicht missverstehen. Das Wort Jesu war weder die Verkündigung einer Idee noch der Ausdruck einer ästhetischen Genialität: Anders als beim Philosophen und beim Dichter war es »Offenbarung des geistigen Lebens in seiner Realität«57, die dem bloßen Traum vom Geist ein Ende bereitet. Es gibt für Ebner keine tragischere Weise, die Worte Christi misszu50 51 52 53 54 55 56 57

Vgl. ebd., 85. Vgl. ebd., 204. Vgl. ebd., 94 und 100. Vgl. ebd., 53. Die Stelle weist auf Joh 1,14. Ebd., 117 und 179. Vgl. ebd., 205. Ebd., 206 [Herv. i. T.]. Ebd., 241.

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verstehen, als die, sie dem Poetischen oder Philosophischen gleichzustellen, sind sie doch »das persönlichste Wort, das jemals in der Welt gesprochen wurde […], das Wort in seiner Persönlichkeit schlechthin. Sie wenden sich unmittelbar an die konkrete Persönlichkeit im Menschen und von ihnen sich angesprochen wissen heißt buchstäblich, hierin zur ›Konkretion‹ seiner Persönlichkeit kommen«.58

Die Schuld des abendländischen Menschen liegt für Ebner ganz in diesem Verlust des Glaubens an das Wort. Er hat vergessen, dass wir von der Gnade des Wortes leben, aber der Atheismus des Wortes (der der wahre und einzige Atheismus ist) führt nicht nur zur Gottlosigkeit, sondern auch zur Unmenschlichkeit und zur geistigen Zerrüttung. Der abendländische Mensch benehme sich wie ein Sterbender, der an seinen Tod nicht glaubt und meint, er habe ja noch Zeit, meint Ebner mit prophetischer Emphase.59 Aber der Verlust des Wortes, das die Lehre Christi schenkt, sei der Tod des Selbst, das Versäumen der möglichen Begegnung des Ichs mit dem Du und damit das Ende einer Gesellschaft, die von authentischen Beziehungen durchwoben ist. Es droht der pathetische Triumph der künstlichen und gleichschaltenden Sprachen, in denen man sich noch vortäuschen wird können, dem Anderen, dem Du, zu begegnen und mit ihm zu sprechen, in Wirklichkeit jedoch in sich selber verfangen und eingeschlossen bleibt.

Quellen Ebner, Ferdinand: Das Wort und die geistigen Realitäten. Pneumatologische Fragmente, Innsbruck (Brenner) 1921. Ders.: Das Wort ist der Weg. Aus den Tagebüchern, hg. von Hildegard Jone, Wien (Herder) 1949. Picard, Max: Die Welt des Schweigens, Erlenbach / Zürich u. a. (Eugen Rentsch) 1948. Ders.: Das Vorgegebene in der Dichtung, in: Eckart 21 (Dez.-Jan. 1951 – 1952) Witten u. a. (Eckart), 100 – 106. Ders.: Wort und Wortgeräusch, Hamburg (Furche) 1953. Ders.: Der Mensch und das Wort, Erlenbach / Zürich u. a. (Eugen Rentsch) 1955.

58 Ebd., 242. 59 Vgl. ebd.

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Sonstige Literatur Humboldt, Wilhelm von: Über das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung, in: Wilhelm von Humboldts Gesammelte Werke, Bd. 3, Berlin (Reimer) 1843, 241 – 268. Lévinas, Emmanuel: Noms Propres, Montpellier (Fata Morgana) 1976. Wucherer-Huldenfeld, Augustinus Karl: Die Gegensatzphilosophie Romano Guardinis in ihren Grundlagen und Folgerungen, Wien (Notring) 1968. Ders.: Personales Sein und Wort. Einführung in den Grundgedanken Ferdinand Ebners, Wien u. a. (Böhlau) 1985. Ders.: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein. Ausgewählte philosophische Studien I: Anthropologie, Freud, Religionskritik, Wien u. a. (Böhlau) 1994. Zucal, Silvano: Romano Guardini, filosofo del silenzio, Roma (Borla) 1992. Ders.: Ferdinand Ebner e la »nostalgia« della Parola, Brescia (Morcelliana) 2000.

Gerd Haeffner SJ

»Wort Gottes«

»Wort Gottes« – welch gewaltiger Ausdruck! Welche Kraft muss er ursprünglich entfaltet haben, als er noch im Ernst ausgesprochen und im Ernst vernommen wurde! Wo er hingegen heute noch laut wird, ist er allzu oft zu einem formelhaften, gedankenlos hingesagten Ausdruck verkommen. Man denke nur an manche schablonenhafte Verwendung in der Theologie oder selbst in der Liturgie, die ärgerlich, ja anstößig ist. Da wird ein Stück aus alten jüdischen Kriegserzählungen oder aus einer längst obsoleten vorderorientalischen Rechtssammlung oder aus dem rührenden Tobit-Roman oder selbst aus den spekulativen Bemühungen des Apostels Paulus vorgelesen, und dann heißt es kommentierend bzw. akklamierend ohne weiteres »Wort Gottes!« oder gar, einem eventuell gegenteiligen Eindruck zuvorkommend, »Wort des lebendigen Gottes!«. Für wen? Für uns heute? Und was für ein Wort? Sollte es wirklich nicht nur die bedenkenswerte Äußerung eines gläubigen Verfassers, sondern im Ernst Wort Gottes sein? Man wird solche Fragen abwehren und darauf verweisen, dass es sich nun einmal eingebürgert habe, die Schriften des Alten und des Neuen Bundes ohne Umschweife so zu bezeichnen, im Ganzen und dann auch stückweise, aufgeteilt auf beliebige Abschnitte oder gar einzelne Sätze. Aber ist das ein guter Brauch? Das kann mit Gründen bezweifelt werden. Denn die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, dass damit Anordnungen und Deutungen sakralisiert werden, die nur Ausdruck früherer Denkweisen oder gar (allzu) menschlicher Interessen waren, deren Fremdheit – da sie ja angeblich Gottes Wort sind – auch auf die Vorstellung von Gott abfärbt. Es scheint also, dass eine Destruktion dieses Sprachgebrauchs, in dem Sinne, den Heidegger mit diesem Terminus verbindet, notwendig ist. »Destruktion« heißt dort ja nicht – oder nicht in erster Linie – so viel wie Zerstörung, wie es z. B. die englische und französische Lesart dieses Wortes nahelegt, sondern so viel wie »Abbau« im geologischen Sinn, also schichtweise Abhebung von Schichten des Sprachge-

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Gerd Haeffner SJ

brauchs, die sich überlagert und die kräftig konturierte, ursprüngliche Bedeutung überdeckt haben.1 Fragen wir also zuerst, was in der Bibel selbst vom »Wort« oder vom »Sprechen« Gottes gesagt wird, und dann, wie dieser erhabene Ausdruck in unserer modernen Kultur in einem ernsthaften Sinn bewahrt werden kann!

I.

»Wort Gottes« in der Bibel2

1.

Ursprünge

Es scheint, als habe der Ausdruck »Wort Gottes« seinen ursprünglichen Sitz im Leben im Orakelwesen und im frühen Prophetentum Israels, dem ähnliche Tatsachen auch in anderen alten Religionen des Mittelmeerraums entsprachen.3 Das, was man »Wort Gottes« nannte, war jedenfalls im Endergebnis der Rezeption durch den Offenbarungsempfänger4 ein Ereignis in menschlicher Sprache, oder es war zumindest ein Ereignis, z. B. ein natürliches oder geschichtliches Ereignis, das in menschlicher Sprache als Tat Gottes gedeutet und so zum Wort wurde. Von den gewöhnlichen sprachlichen Tatsachen, die schlechthin Menschenworte waren, unterschied es sich durch die Umstände, wie etwa das Sprechen in Trance, durch die performative Form sowohl der Weisung (d. h. des Gebots oder Verbots bezüglich bestimmter Handlungen und innerer Einstellungen) wie der Verheißung (der Bundestreue Gottes, des Landes, der Freiheit) und vor allem durch den beanspruchten Ursprung bzw. die Selbsteinschätzung des Prophetenworts als eines Botenworts im Auftrag des Gottes der Väter, der das Volk Israel entstehen ließ5 und es führt und der kein anderer als der Schöpfer des Himmels und der Erde ist. In diesen Zusammenhang schreibt sich die Gestalt des Mose ein, dessen Werk das Schicksal des Prophetismus tiefgreifend prägte und überhöhte. Einerseits ist 1 Heidegger: Sein und Zeit, § 6. 2 Die Ausführungen des folgenden ersten Teils mögen daran kranken, dass sie die Lesefrüchte eines Laien sind, der zwar Theologie studiert hat, aber kein Exeget vom Fach ist. Der Verf. hofft, dass sie dennoch eine Grundlage zu Korrekturen und Ergänzungen durch Fachleute bieten können. Einige sind schon eingegangen. Für sie danke ich meinem Freund Prof. Dr. Helmut Engel (Rom). 3 Beispiele aus dem griechischen Kulturkreis wären etwa die Orakel über der Erdspalte von Delphi und aus dem Rauschen der Eiche von Dodona und andererseits die Propheten, die die Opferung der Iphigenie oder der als Geiseln festgehaltenen Söhne des Perserkönigs vor der Schlacht bei Salamis forderten. 4 »Kamen Worte von dir, so verschlang ich sie. Dein Wort war mir Glück und Herzensfreude«, bekennt Jeremia (15,16). Wir wissen nicht, ob die ursprüngliche Weise, in der dieses »Wort« erging, schon menschensprachlich artikuliert war. 5 Dtn 32,1 – 12.

»Wort Gottes«

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das »Wort Gottes«, das Mose übermittelt, nicht nur eine einzelne, kontextgebundene Weisung, sondern eine ganze Rechtsordnung, die um die »Zehn Worte« herum aufgebaut wird. Insbesondere diese gelten im hervorgehobenen Sinn als Worte Gottes. Andererseits wird die Art und Weise des Prophetentums des Mose in einer außergewöhnlichen Intimität zu Gott begründet gesehen. Er wird nicht Objekt von Visionen oder ähnlichen Widerfahrnissen, die über ihn kommen und seine menschliche Subjektivität zum Werkzeug für eine höhere Macht machen und dadurch auch bedrohen. Er wird vielmehr eines gesprächsweisen, ja argumentierenden Umgangs mit Gott gewürdigt wie sonst niemand.6 Durch beide Elemente erhält das Prophetentum des Mose einen einzigartigen Rang. Wenn spätere Propheten mit dem Anspruch auftreten, ein Wort Gottes zu übermitteln, dann können diese Worte als neue, situationsgebundene Botschaften erklingen, sozusagen als Einzelweisungen innerhalb der Allgemeinheit der Rechtsordnung Israels. Entsprechend bedürfen sie nicht mehr – oder nur am Rande – einer ekstatischen Erkenntnisweise, sondern entspringen einer eher rationalen Überlegung und dem Zorn des Propheten, der die realen gesellschaftlichen und religiösen Zustände seines Volkes mit dem Bild vergleicht, das in der Thora vorgezeichnet ist. Gewiss behalten auch Visionen ihre Rolle, sei es für das Berufungserlebnis des Propheten oder sei es für tröstende oder drohende Zukunftsweissagungen. Aber das alte, irgendwie schamanenähnliche Prophetenwesen scheint langsam ausgestorben zu sein oder sich in die Untiefen des Volksglaubens bzw. Volksaberglaubens zurückgezogen zu haben.

2.

Gottes Weisung als Ursache des Naturgeschehens

Irgendwann begann man auf dieser Basis damit, Gottes Wort in den Vorgängen der Natur wirkend zu erblicken. Auf der Grundlage des Glaubens an die Allwirksamkeit Gottes boten sich dafür zwei empirische Ansätze an. Der eine, noch vordergründige, lag in der Ähnlichkeit des Wortes, als eines Atemausstoßes, mit den Stößen des Windes. Als Beispiel dafür diene Psalm 147,17 – 18: »Eis wirft er herab in Brocken, / vor seiner Kälte erstarren die Wasser. / Er sendet sein Wort aus und sie schmelzen, / er lässt den Wind wehen, dann rieseln die Wasser.«

Wichtiger waren Beobachtungen, die sich auf die Ordnung der Natur bezogen. Da war etwa die beruhigte Feststellung der Solidität des Erdfundaments, ungeachtet gelegentlicher Beben, und der Respektierung der Küstengrenze durch das Meer, ungeachtet seines gelegentlichen Anstürmens gegen diese, die auf Gottes 6 Dtn 34,10.

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Setzung zurückgeführt wurden.7 Da war dann auch das Staunen über die immer gleichen, zuverlässigen Bewegungen der Gestirne, die einem »Gesetz«, einer dauerhaft gültigen und immer wieder erneuerten Anordnung des Schöpfers zu gehorchen scheinen, wie es der gerade zitierte Psalm 147 ausdrückt: »Er bestimmt die Zahl der Sterne / und ruft sie alle mit Namen. Groß ist unser Herr und gewaltig an Kraft / unermesslich ist seine Weisheit.«8

Die nach beiden Seiten lesbare Analogie zwischen der Weisung Gottes an die Schöpfungskräfte und an sein Volk ist entscheidend für den Begriff, den sich Israel von Gott und seinem Wort machte. Dieser Glaube ging nun im Nachdenken noch einen wesentlichen Schritt weiter, indem er nämlich nicht nur die großen Bewegungen, sondern sogar das grundlegende Sein des Schöpfungsbaus auf ein »Wort« Gottes zurückführte: »Gott sprach: Es werde Licht! Und es wurde Licht.« und so für alles Weitere.9

3.

Die Wege des Gotteswortes in der Geschichte

Als durch seinen Befehl Himmel und Erde geschaffen waren, hatte Gott, so empfand es Israel offenbar, einen weiteren Wunsch, nämlich dass sein Wort gehorsame und möglichst verständnisvolle Adressaten nicht nur im bzw. am Himmel, sondern auch auf der Erde fände. Als solche Adressaten waren von vornherein nicht nur Individuen, sondern ein ganzes Volk anvisiert. Im Rückblick sieht das Volk, das sich als diesen Adressaten wusste, das Wort bzw. die Weisheit Gottes auf der Wanderung, auf der Suche nach einem »Ort«, wo es seine Heimstatt finden könne.10 Später wird dieses Bild erweitert: »Viele Male und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch die Propheten. In dieser Endzeit aber hat er zu uns gesprochen durch den Sohn, den er zum Erben des Alls eingesetzt und durch den er auch die Welt erschaffen hat; er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Abbild seines Wesens; er trägt das All durch sein 7 Vgl. Spr 8,29: »… als er dem Meer seine Satzung gab / und die Wasser nicht seinen Befehl übertreten durften.« 8 Ps 147, 4 – 5. Vgl. Jes 40,26 – 27: »Hebt eure Augen in die Höhe, und seht: Wer hat die Sterne dort oben erschaffen? / Er ist es, der ihr Heer täglich zählt und heraufführt, der sie alle beim Namen ruft. / Vor dem Allgewaltigen und Mächtigen wagt keiner zu fehlen.« In dieser Vollzähligkeit konnte und kann noch die Quelle einer tiefen Beruhigung liegen; vgl. Hans Carossa in seinem Gedicht »Der alte Brunnen«: Wenn »du erwachst, – dann mußt du nicht erschrecken! / Die Sterne stehn vollzählig überm Land!« (in seinem Gedicht »Der alte Brunnen«). 9 Gen 1,3. Vgl. Ps 33,9: »Denn der Herr sprach, und sogleich geschah es; / er gebot, und alles war da«. 10 Sir 24.

»Wort Gottes«

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machtvolles Wort, hat die Reinigung von den Sünden bewirkt und sich dann zur Rechten der Majestät in der Höhe gesetzt.«11

Durch die Vorordnung des »Wortes« vor die Schöpfung und zugleich durch die Darstellung seiner Suche nach einer Verortung auf der Erde bekam das Wort Gottes eine wichtige Vermittlungsfunktion. Folglich dachte man nicht nur über seine Verwirklichung im Naturgeschehen und im (ausnahmsweise) gehorsamen menschlichen Handeln nach, sondern auch über das Verhältnis, in dem es zu Gott selbst stehe. Dabei dachten ihm die einen den Status eines ersten Geschöpfs zu, das vor aller materiellen Schöpfung und in nächster Nähe zu Gott selbst zu denken sei. Andere aber bedachten, dass sich in Gottes Wort Gott selbst ausspricht, sodass es wohl nicht wie ein Produkt von ihm abgesetzt werden kann. Dieses Schwanken fand gewissermaßen ein Ende im Kontext des Nachdenkens über das Ereignis, das den Namen »Jesus Christus« trägt: »Im Anfang war das Wort, / und das Wort war bei Gott, /und das Wort war Gott. […] Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.«12

Im Gefolge dieser Sätze des Evangelisten Johannes wurde in der theologischen Überlegung der ersten christlichen Jahrhunderte ein der Gottheit selbst immanentes »Wort« (Logos) angenommen, und gleichzeitig entfaltete sich, auch den Hl. Geist berücksichtigend, die Lehre von der Dreifaltigkeit der Namen in der einen Gottheit. Es bedurfte dafür – über alle bloße Spekulation hinaus – der Anerkenntnis des in Jesus fleischgewordenen Wortes, so wie umgekehrt dessen theologische Dignität durch die trinitätstheologische Verankerung ausgedrückt und gesichert wurde.

4.

Die vielen Gottesworte und das eine Wort Gottes

Gesehen im Rückblick von der Höhe des einen Wortes, das letztlich Selbstaussage Gottes ist und sich in unüberbietbarer Fülle in Jesus konzentriert hat, stellen sich zwei Fragen: Wie nehmen sich da die vielen und verschiedenen »Worte Gottes« in der Vergangenheit aus, die aufgeschrieben und überliefert worden sind? Und welche gegenwärtige Wirklichkeit hatte das überlieferte Wort Gottes aus dem alten Bund in der christlichen Ära? Die eng zeitgebundenen prophetischen Weisungen, die z. B. Israels Außenpolitik13 oder das Schicksal einzelner Personen14 betrafen, haben aus ihrer Natur heraus keine direkte Bedeutung für spätere Zeiten. 11 Hebr 1,1 – 3. 12 Joh 1,1 und 14. 13 Jes 7,1 – 9,6; Jer 38,14 – 28.

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Anders steht es mit den Weisungen Gottes, die in den »Zehn Worten« enthalten sind und die von offener Allgemeinheit und unbedingter Verpflichtung sind. Auf sie beruft sich Jesus selbst mehrfach, wenn er etwa den Schriftgelehrten seiner Zeit vorwirft: Ihr gebt Gottes Gebot preis für bloß menschliche Überlieferungen.15 Auch in der christlichen Verkündigung bis heute ist die Berufung auf die zehn Gebote als Wort Gottes in Kraft geblieben. Bemerkenswert ist, dass Jesus gelegentlich hinter die eingebürgerten Auslegungen des mosaischen Gesetzes zurückgreift bis auf die Lebensordnungen, die Gott schon »im Anfang« seiner Schöpfung eingestiftet hat.16 Darin bringt er, über die durch Propheten und Gesetzeslehrer vermittelte Autorität hinaus, eine Nähe zu Gott selbst zum Ausdruck. Dasselbe findet statt in der Art und Weise seines eigenen Lehrens, das er, anders als die an den Buchstaben gebundenen Schriftgelehrten, mit »Vollmacht«17 ausübte, d. h. mit einem hohen Anspruch, der auf keine Legitimation durch Überlieferung oder Offenbarungserlebnisse angewiesen war. So war es nur konsequent, dass die Zeitgenossen, die ihm ihren Glauben schenkten, in seiner Lehre und schließlich in seiner Person eine, ja die gegenwärtige Form des Wortes Gottes selbst sahen. Einen ähnlichen Anspruch erhoben in seiner Nachfolge auch die Apostel für ihre Verkündigung. So schreibt etwa Paulus an die von ihm gegründete Christengemeinde in Thessalonich: »Darum danken wir Gott unablässig dafür, daß ihr das Wort Gottes, das ihr durch unsere Verkündigung empfangen habt, nicht als Menschenwort, sondern – was es in Wahrheit ist – als Gottes Wort angenommen habt […].«18 Die Begründung für dieses Selbstverständnis ist ausgedrückt in den Worten Jesu selbst »Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.«19

14 Beispiele sind z. B. die Verwerfung des Königs Saul (1 Sam 15) oder das Urteil über den Ehebrecher David (2 Sam 12,7 – 12). 15 Vgl. Mt 15,3. 16 »Am Anfang« war es nicht so, dass die Möglichkeit der Scheidung zur Ordnung der Ehe gehörte: »Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und sich an seine Frau binden, und die zwei werden ein Fleisch sein. […] Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen.« (Mt 19,4 – 6) 17 Mk 1,22. 18 1 Thess 2,13; vgl. Hebr 13,7: »Denkt an eure Vorsteher, die euch das Wort Gottes verkündet haben!« 19 Joh 20,21; vgl. Joh 17,14 und 18.

»Wort Gottes«

5.

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Die Sammlung der heiligen Schriften und ihre Bezeichnung als »Wort Gottes«

Sowohl die auf Mose zurückgeführte Thora Israels wie auch die Boten-Sprüche der Propheten wurden irgendwann sukzessive aufgeschrieben.20 Die Sammlungen dieser teils situationsgebundenen, teils mehr oder minder zeitübergreifend gültigen Weisungen und Verheißungen konnten als »Worte Gottes« oder, kumulativ verstanden, als »Wort Gottes« bezeichnet werden. Zusammen mit den sie umgebenden Geschichten, Weisheitssprüchen und Liedern wurden sie als »die heiligen Schriften« oder auch nur »die Schrift« des jüdischen Volkes und dann auch der christlichen Glaubensgemeinschaft bezeichnet. Als »heilig« galten diese Schriften vor allem deshalb, weil sie in ihrem Zentrum »Worte Gottes« enthielten. Der Weg zu dem Brauch, diese Schriften im Ganzen und gar in jedem ihrer Bestandstücke schlechthin »Wort Gottes« zu nennen, war zwar noch weit, wurde aber im Lauf der Zeit dennoch gegangen. »Die Dignität des Wortes Gottes wird schließlich der ganzen Sammlung heiliger Schriften zugeschrieben.«21 Heute ist es so weit gekommen, dass die Bibel, d. h. das Dokument der Gründungsphase der Glaubensgeschichte, in der kirchlichen Sprache ohne Umschweife und ohne Differenzierung22 oft einfach »Wort Gottes« genannt wird. Es ist schon angedeutet worden, dass man in der übereilten Verwendung dieses Ausdrucks eher einen Verlust als einen Gewinn sehen sollte.

II.

»Wort Gottes« heute23

Wenn heute einer auf einem volkreichen Platz oder gar im Parlament sich Gehör verschaffte und laut riefe: »Hört her, ich hab euch ein Wort Gottes zu verkündigen«, wie würde man reagieren? Man würde diesen Menschen nicht ernst nehmen, sondern vermuten, es handle sich um einen Verrückten, und so würden 20 »Mose schrieb alle Worte des Herrn auf« (Ex 24,4). Nach Jer 36,1 – 2 verlangt Gott von Jeremia: »Schreib alle Worte, die ich zu dir gesagt habe, in eine Buchrolle auf!« Später ist die Rede von einem »Buch des Gesetzes«, möglicherweise dem Buch Deuteronomium, aus dem Esra dem Volk am Laubhüttenfest vorliest (Neh 8,18; vgl. 9,3 und 10,30; vgl. auch 2 Chr 34,8 – 28). 21 Stipp: Wort Gottes, 1297. Leider wird dort nichts über die Schritte gesagt, die dazu führten. 22 Unterscheidung der Bedeutung der verschiedenen Gattungen, vor allem aber Unterscheidung und Bezug des AT auf das NT. Durch die kaum zu umgehende Arbeitsteilung von Altund Neutestamentlern wird dem letztgenannten Problemkreis viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Eine Ausnahme war z. B. Paul Beauchamp; vgl. sein großes Werk L’Un et l’Autre Testament. 23 Die folgenden Ausführungen schreibe ich in »Furcht und Zittern« nieder, angesichts der Erhabenheit und der Schwierigkeit des Gegenstands und zugleich angesichts der Gefahr, das religiöse Empfinden mancher Mitmenschen zu verletzen.

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Ungläubige und Gläubige gleichermaßen reagieren. Trotz der zeitlos formulierten anthropologischen Überzeugung, dass der Mensch »nicht vom Brot allein lebt, sondern von jedem Wort, das aus dem Mund Gottes hervorgeht«24, kommt so etwas wie ein für die Öffentlichkeit bestimmtes Wort Gottes nach unserer Überzeugung offenbar nicht mehr im Präsens vor, sondern nur in der Vergangenheitsform, als Zitat. Seine unmittelbaren Adressaten lebten früher. Da traten Propheten auf und sprachen Drohungen, Verheißungen und Weisungen aus, gegenüber der führenden Klasse ihres Volkes, im Namen von dessen Gott. Das Gesetz (die Thora), das Land, das Volk waren der Rahmen. Erneute Offenbarungen Gottes geschahen in Trance oder im Traum, durch Orakel25 oder durch das Loswerfen26, wenngleich auch menschliches Nachdenken dabei eine Rolle spielte, etwa in der Konfrontation des Gesetzes mit der jeweils gegenwärtigen Gesetzlosigkeit, wie z. B. bei Amos oder Micha. Aber all das ist vorbei.

1.

Autonomie des moralischen Diskurses

Denn nicht nur für Menschen, die nicht an Gott glauben, sondern auch für Glaubende, zu deren Selbstverständnis es gehört, »modern« und »aufgeklärt« zu sein, gibt es keinen ernsthaften Grund, heute Sätze aufzustellen (also nicht nur zu zitieren), in denen Gott unmittelbar als redendes Subjekt auftritt. Findet man, aus älteren Zeiten überliefert, dennoch solche Sätze vor, so sind sie als dichterische Bildungen aufzufassen. So »spricht« Gott mit dem Urmenschen Adam, den er bei seinem Spaziergang durch den Paradiesesgarten antrifft. Der Dichter hat die Freiheit, solche Dinge zu gestalten; in ähnlicher Weise sprechen im Märchen ja sogar Tiere und Brote.27 Dass in den Erzählungen der ersten drei Kapitel der »Genesis« eine tiefe Weisheit zum Ausdruck kommt, wird man anerkennen, ohne sie dadurch zu banalisieren, dass man sie als historischen Bericht o. Ä. verkennt. Zu dieser Art von Erzählungen wird man auch die rechnen, in der Gott dem Mose das Gesetz zum Aufschreiben vorspricht28 oder gar selbst 24 Vgl. Dtn 8,3; Mt 4,4. 25 Die in der heutigen Liturgie verwendete französische Übersetzung formuliert öfter, wo im Hebräischen ne’um JHWH steht, »oracle de YHVH«, während in der deutschen Einheitsübersetzung durchgehend »Spruch des Herrn«, in anderen Übersetzungen aber manchmal »Raunung des Herrn«, zu lesen ist. In der schriftgelehrten Fortsetzung einiger Prophetenbücher (bes. Jer und Ez) scheinen die Botenformel (»so spricht der Herr«) und die Gottesspruchformel (ne’um JHWH) auch zur Unterstreichung der Bedeutung eines Textes oder Wortes verwendet zu sein. 26 Mithilfe der Lossteine Urim und Tummim: Ex 28,30; Num 27,21; Esr 2,63. 27 Tiere wie der Wolf in »Rotkäppchen« oder wie die sieben Geißlein in Grimms Märchen oder wie das Waldvögelein in der Siegfriedsage. 28 Ex 24,4.

»Wort Gottes«

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auf Tafeln schreibt29. Denn zweifellos waren es Mose selbst und seine Nachfolger, die, wie auch immer inspiriert, durch Nachdenken und Abwägen das Gesetzeswerk Israels schufen. Die Berufung auf JHWH als Gesetzgeber sollte diesem Corpus wohl eine letzte Dignität und Unantastbarkeit verleihen und denen, die es durchsetzen wollten, Legitimität verschaffen – allerdings nicht um dadurch einen bloßen Machtanspruch lügnerisch zu vergolden, sondern weil der Bezug auf Gott als die letzte Quelle der moralischen Ordnung durchaus sachgemäß ist. Denn im Unterschied zu den Codices des positiven Rechts eines Volkes scheint es zu den moralischen Gesetzen zu gehören, dass ihre Geltung nicht von Beschlussverfahren oder anderen freien Festsetzungen abhängt, sondern diesen vorausliegt. Sie ist in einem transzendenten Bereich, also irgendwie in Gott, verwurzelt.30 Aber wie? Die theologische Reflexion der Hochscholastik hat deutlich gemacht, dass die moralischen Gesetze nicht primär im freien, geschweige denn willkürlichen Wollen, sondern im Wesen Gottes verankert sind. Damit ist gegeben, dass sie prinzipiell durch das Licht der menschlichen Vernunft erkennbar sind, deren Anwendung freilich durch eine Glaubenstradition, günstig oder ungünstig, gewaltig beeinflusst werden kann. Das aber heißt: Als Argument wird heute die Überzeugung, Gott habe am Sinai oder am See Gennesaret etwas Bestimmtes geboten oder verboten, in einem ethischen Diskurs nicht auftreten können. Darin unterscheidet sich unsere »moderne« Geistkultur von der, in der die Bibel, insbesondere die Thora entstand.

2.

Autarkie der Hoffnung?

Die Bibel kennt als »Worte Gottes« freilich nicht nur moralische und rechtliche Weisungen, sondern auch Verheißungen verschiedener Art: Verheißung des Landes für das Volk Israel; Verheißung des Wohlergehens für die, die sich an die Gebote halten; Verheißung eines neuen Herzens31 und eines neuen Bundes32 ; Verheißung der Teilnahme am endgültigen »Reich Gottes« für die Menschen, die sich ihm öffnen. Diese Verheißungen führen die Linie weiter, die mit den schon empfangenen Gaben Gottes erlebbar begonnen ist: mit den Neugeborenen, den

29 Ex 24,12. 30 Vgl. Kerber : Das Absolute. – Klassisch Immanuel Kant: KpV A 233: »Das moralische Gesetz« führt »durch den Begriff des höchsten Guts, als das Objekt und den Endzweck der reinen praktischen Vernunft, zur Religion, d.i. zur Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote […] als wesentlicher Gesetze eines jeden freien Willens für sich selbst, die aber dennoch als Gebote des höchsten Wesens angesehen werden müssen.« 31 Ez 36,25 – 27. 32 Jer 31,31 – 34.

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Früchten der Erde und der menschlichen Arbeit, mit den Gaben der Erkenntnis und des Friedens usw. Wie immer es um den ursprünglichen Ursprung und Sinn der Verheißung des Landes, etwa in der Umgrenzung »vom Grenzbach Ägyptens bis zum großen Strom, dem Eufrat«33, bestellt gewesen sein mag, darf man sie heute in der politischen Auseinandersetzung um die Gebietsansprüche von Palästinensern und Israelis mit gutem Gewissen als Argument gegen die Rechtsauffassung des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag ins Feld führen? Ich glaube nicht. Hingegen bleibt die Verheißung des Wohlergehens,34 zumindest des inneren Friedens, an die Gemeinschaften, deren Mitglieder sich an die Zehn Gebote halten, sicher bestehen. Denn dafür spricht auch die Erfahrung. Bleibend gültig sind desgleichen die Verheißung des neuen Herzens und die Verheißung der Teilnahme an der Seligkeit des Reiches Gottes, welche freilich auf Erden nur anfänglich erlebbar ist und im Wesentlichen Gegenstand der glaubenden Hoffnung ist; diese Verheißungen erstrecken sich, dem Neuen Testament zufolge und abweichend von der Erstformulierung, nicht nur auf das jüdische Volk, sondern auf alle Menschen. Die Frage ist freilich, ob die Hoffnung, die in der Bibel als Antwort auf eine göttliche Verheißung dargestellt wird, auch ohne diese Basis aufkommen und sich halten kann. Denn dieses Hoffen ist mehr als das spontane Wünschen. Was die Hoffnung betrifft, die der moralisch bemühte Mensch haben darf, so tritt in der modernen (kantischen) Reflexion die göttliche Zusage in der wirkungsgeschichtlich neutralisierten Form des »Postulats« der ursprünglichen Einheit von Sitten- und Naturordnung auf. Was die Hoffnung auf ein reines Herz und auf das Reich angeht, in dem »Gott alles in allem sein«35 wird, so geht sie nach wie vor weit über das hinaus, was dem Menschen von sich aus vernünftigerweise zu erwarten erlaubt ist. Sie bleibt auf die göttliche Verheißung und auf deren Annahme im Glauben angewiesen.

3.

Gottes »Schweigen«

Die philosophische Auffassung der Gottheit, auf die hin wir mit den äußersten Erkenntnisorganen unserer Seele uns gerade noch ausstrecken können, borgt deren Begriff zwar aus einer lebendigen Religion, ist sonst aber dem eigenen Nachdenken auf der doppelten Basis eigenen Empfindens und apriorischer 33 Gen 15,18; vgl. auch die genauere Umgrenzung in Num 34,1 – 12. 34 Dtn 5,16, vgl. 6,2. 35 1 Kor 15,28. (Die Einheitsübersetzung setzt diese Aussage herab zu: »damit Gott herrscht über alles und in allem«.)

»Wort Gottes«

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Argumente entsprungen. Sie sieht von der einzigartigen Tradition ab, die sich von der Glaubensgeschichte Israels her in das Christentum bis heute erstreckt.36 Durch diese Geschichte hat der Ausdruck »Gott«37 die Konturen bekommen, die wir heute wie selbstverständlich mit ihm verbinden. Von ihr her gesehen ist ein »Gott«, dem nicht eine »Sprache« und ein »Wirken« eignen, der also höchstens Objekt des Suchens und Sehnens, nicht aber Subjekt ist, nur ein »toter« Gott.38 Gott, der Ewige, kann auch nicht nur in der Vergangenheit lebendig gewesen sein und gesprochen haben; er muss sich vielmehr zu allen Zeiten bezeugen.39 Heute freilich ist die Erfahrung weit verbreitet, dass Gott nicht rede. Im Extrem verfestigt sich der Eindruck zur Vermutung, »Gott« sei sowohl stumm wie auch taub. Altes Kirchengewölbe Als sie begriffen, dass Gott ein Gehörloser ist, bauten sie ihm Gewölbe, sangen Inbrunstgesänge, flüsterten Reue und Schuld in das steinerne Ohr. Nie wurden der Taubheit so viele Ohren gebaut, keines erzwang sein Gehör. Aber es tönt noch vom Widerhall ihrer Gebete.40

Andere sprechen vom »Schweigen« Gottes, das unsere Epoche kennzeichne. Diese Redeweise klingt nicht nur weniger extrem. Sie ist ganz anders gelagert als die vom »taubstummen« oder »toten« Gott. Denn schweigen kann nur, wer auch sprechen kann. Tiere und Pflanzen können nicht schweigen. Wer schweigt, hat vielleicht etwas zu sagen. Mehr noch: Wer schweigt, will damit möglicherweise etwas sagen. So kann das Schweigen Gottes, wenn man dieses Wort ernst nimmt und auf die Waage des Nachdenkens legt, nicht nur auf ein Ausbleiben, sondern auf eine mögliche Weise der Mitteilung hindeuten. Dies einmal probeweise angenommen, ist die Frage, wie Gott-suchende Menschen auf dieses Schweigen reagieren können. Es gibt wohl drei Wege, das zu tun. 36 Und auch in das rabbinische Judentum und den Islam hinein, freilich in anderer Weise, vgl. Brague: Du Dieu. 37 Der eine Gott, ho theûs. 38 Vgl. im Kontrast dazu die schöne Skizze von W. Löser: Gottes Wort. – Übrigens: Wenn Gott, wie auch Philosophen erfasst haben, als höchstes Sein reine en¦rgeia (Aristoteles) und als höchstes Gut nach dem plotinisch-scholastischen Axiom ein diffusivum sui sein muss, dann darf seine »Äußerung« in »Wort« und »Pneuma« mit ihm selbst als der Urlebendigkeit zusammengedacht werden. 39 Vgl. Jes 40,27 – 31 und Apg 17,27 – 28. 40 Neumann: Heckenspringer, 24; vgl. auch 25 – 27.

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Der erste Weg besteht vielleicht darin, die Stille als Schwester des göttlichen Schweigens zu entdecken. Auf die Stille kann man hören. Mehr : Man kann lauschen auf das, was in ihr vielleicht zu vernehmen ist. Gestaltet sich dieses Lauschen zur immer wieder erneuten Übung der Meditation, kann daraus ein Weg mit religiöser Bedeutung werden und so etwas Ähnliches wie ein persönliches Wort Gottes »ohne Worte«41 sich ereignen. Vor dem Anfang eines zweiten Wegs steht die Frage: Können wir hören, wie uns Gott anspricht, wenn wir kein Ohr mehr für die wortlose Sprache der Wirklichkeit haben? »Sprache der Wirklichkeit« kann zweierlei bedeuten: die Lesbarkeit des Kosmos für die Wissenschaft und das Angesprochenwerden durch die Dinge. Zum einen: Dass die Natur eine rationale Struktur hat, sodass sie Gegenstand von Wissenschaft werden kann, ist keine Banalität, sondern ein sehr erstaunliches Faktum. Wird diese Rationalität nicht sofort und ausschließlich auf uns zurückgebogen durch eine subjektivistisch-pragmatistische Deutung, sondern der Natur selbst überlassen, kann sich das Staunen vertiefen bis zur Ehrfurcht vor dem geistigen Grund der Natur. – Zum andern: Die Dinge42, denen wir begegnen, sind keine sinn-neutralen Bestände. Sie »sprechen« uns vielmehr an, in vielfältiger Weise. Oft und vielleicht meistens lassen wir sie uns darauf ansprechen, was wir mit ihnen machen, d. h. wie wir sie für unsere Zwecke verwerten können. Manchmal aber spricht uns ihre Schönheit an, die uns höher hinaufreißt als nur zum »ästhetischen« Genießen. Und manchmal spricht uns ihre Bedürftigkeit an, die an unseren helfenden und pflegenden Einsatz »appelliert«.43 »Spricht« darin nicht auch Gott? Der dritte Weg ist der klassische: die immer wieder erneute Vertiefung in das definitive und unausschöpfbare »Wort« Gottes – in die Denk- und Handlungsweise Jesu Christi, in seinen Umgang mit der »Schrift« und in die Bedeutsamkeit seines Daseins, seines Todes und seiner Verherrlichung, so wie es die Evangelien sehen lassen und die anderen neutestamentlichen Zeugnisse tiefer zu erfassen erlauben.

41 Vgl. Ps 19,4. 42 Das Wort ist hier weit zu nehmen, sodass es z. B. auch Menschen und Tiere, Landschaften und Ökosysteme mit einschließt. 43 Sehr schön ist dieser Appell im Grimm’schen Märchen von »Goldmarie und Pechmarie« und im L¦vinas’schen Gedanken vom »Antlitz« des Armen ausgeführt, das ohne Worte »sagt«: »Tu mir nichts an; tu mir Gutes!«

»Wort Gottes«

4.

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Das Wort Gottes und die Epochen des Gottesverhältnisses

Jedenfalls, wenn Gott nicht nur gesprochen hat, sondern auch heute spricht, dann scheint er ganz anders zu »sprechen« (und zu »handeln«) als in den biblischen Zeiten bzw. anders als so, wie man es damals dargestellt hat. Mochten die alten Israeliten noch glauben, dass Gott den Wind wehen lässt und dass sie wegen seiner Tat durchs Rote Meer fliehen konnten, während die Ägypter alle tot am Strand lagen, – mochten die Engländer zur Zeit Elisabeths I. noch glauben, dass »Gott blies«44 und die Armada dem Untergang weihte, so denkt der heutige Christ eben auch an das Schicksal der ägyptischen und der spanischen Soldaten, die ihre Pflicht taten. Gewiss wird auch er spontan Gott danken, wenn er »noch einmal davongekommen« ist. Und im Hinblick auf die unblutige Befreiung mehrerer Völker Europas vom Joch der kommunistisch-russischen Herrschaft um 1989 stellt sich selbst heute noch leicht der Vergleich mit einem Wunder ein. Doch spätestens seit dem Ersten Weltkrieg ist man mehr als vorsichtig geworden, politisch-militärische Siege je »unserer Seite« als wunderbare »Taten Gottes« zu interpretieren. Ist dies ein Verlust? Nüchtern betrachtet wohl eher das Gegenteil. Es haben sich nicht nur die Denkweisen, sondern überhaupt die Zeiten im Gottesverhältnis geändert, und dies möglicherweise nicht nur von den Menschen, sondern auch von Gott her. Schon der hl. Augustinus hat einen ähnlichen Eindruck gehabt, und er zog daraus die Konsequenz, dass Gott seine Wunder tagtäglich im Entstehen und Wachsen der Lebewesen tue. Weil diese Wunder aber von den Menschen nicht hinreichend beachtet werden, deswegen musste seines Erachtens Christus ungewöhnliche Taten (wie die Brotvermehrung oder die Verwandlung von Wasser in Wein) vollbringen, damit die Menschen gläubig würden. Aber nicht diese ungewöhnlichen Taten und Offenbarungsworte seien das Wichtige, sondern das, worauf sie hinweisen: auf das tägliche Wunder der Schöpfung und das erhoffte Wunder der Erleuchtung und der Erlösung der Seele.45 In der Tat ist es ja zu erwarten, dass die Weisen, wie Gott »spricht«, sich wesentlich wandeln, wenn das Wort Gottes endgültig und unüberbietbar ergangen ist. In ihm ist das Offenbarungswesen des Alten Bundes mitsamt seinem eigenen »Stil« erfüllt und zugleich zu seinem Ende gekommen.46 Denn »in Jesus 44 »God blew, and they were scattered« lautete die Inschrift der Medaille, die die Engländer nach ihrem Sieg über die Spanier (1588) prägen ließen, bei dem für sie günstige Winde eine entscheidende Rolle spielten. 45 Z.B. De Civitate Dei XXII, 8; Sermo 126,4; Sermo 247,2; In Jo Ev. tract, VIII, 1. 46 Wird dieses Alte aber in der Liturgie vergegenwärtigt und den Hörern als gegenwärtiges »Wort Gottes« dargeboten, muss man sich nicht wundern, wenn öfter eine Verwirrung entsteht, die nur durch eine Erläuterung vermieden werden könnte, für die wiederum meist keine Zeit zur Verfügung steht.

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Gerd Haeffner SJ

Christus hat Gott uns alles gesagt, und seitdem ist er gleichsam verstummt«.47 Mehr ist nicht zu erwarten. Was noch zu erhoffen bleibt, ist freilich, dass der Gehalt dieses Wortes je neu erkannt wird, sei es auf der Ebene der Kirche, sei es auf der Ebene der Einzelnen.48 Ein bewährtes Modell für diesen Vorgang auf der Ebene des Einzelnen sind die »Exerzitien« des hl. Ignatius von Loyola. Durch die betende Betrachtung Jesu in den Stationen seines Lebens, verbunden mit den Regeln zur Unterscheidung der »Geister«, d. h. praktisch der inneren Stimmungen von »Trost« und »Untrost«, darf sich der ernsthaft Übende eine innere Gewissheit für seine Berufung erwarten. Die Methode ist gleich weit entfernt von einem Offenbarungspositivismus wie von einem bloß menschlichen Rationalitätsglauben. Sie verbindet Gebet und Überlegung.49 Sie steht in der spirituellen Tradition der Kirche und ist doch offenbar ein Zeugnis des modernen Geistes. Wenn von einem aktuellen »Wort Gottes« die Rede sein kann, dann ungefähr in dieser Weise. Aber gibt es nicht, als Bezeugung des dauernden »Sprechens« Gottes, immer wieder Visionen von ausgewählten Personen, und dabei auch solche, in denen die (an Gottes Stelle) erscheinenden Heiligen, wie Jesus oder Maria, Botschaften formulieren? Einige solcher Visionen und Botschaften sind ja Gegenstand offiziöser Anerkennung und Empfehlung geworden, ganz abgesehen von ihrer breiten Rezeption in Teilen des christlichen Volkes.50 Das kann schon sein. Doch ist daran zu erinnern, dass kein Katholik an sie zu glauben verpflichtet ist, d. h. dass ihr Rang durch eine klare Trennlinie geschieden ist vom Rang des »Credo«. Dieses bleibt in jedem Fall die Hauptsache, die durch die jeweils neueren Offenbarungen (wenn es denn solche sind) nicht veraltet, sondern in ihrer bleibenden Kraft bestätigt wird. Im Übrigen ist zu sagen: Eine noch wichtigere und eindeutigere Manifestation des bleibenden Wirkens Gottes, als Visionen und »Erscheinungen« es sein können, ist das immer neue Aufblühen von Glauben, Hoffnung und Liebe in wirklichen Christen zu immer neuen Zeiten.

47 Johannes vom Kreuz: Karmelberg, 169. 48 »Der Geist der Wahrheit wird euch in die ganze Wahrheit führen. […] Er wird mich verherrlichen; denn er wird von dem, was mein ist, nehmen und es euch verkünden.« (Joh 16,13 – 14) 49 Haeffner : Überlegung. 50 Zu denken ist hier z. B. an die Erscheinungen von Paray-le-Monial, von Lourdes und Fatima oder auch an die neueren von Krakau, die sogar Eingang in den liturgischen Kalender gefunden haben. – Ganz auf der Seite zu lassen sind hier die dubiosen oder gar eindeutig ins Sektiererische zielenden visionären Erlebnisse.

»Wort Gottes«

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Literatur Beauchamp, Paul: L’Un et l’Autre Testament, 2 Bde., Paris (Cerf) 1977 u. 1990. Brague, R¦mi: Du Dieu des chr¦tiens et d’un ou deux autres, Paris (Flammarion) 2008. Die Bibel. Einheitsübersetzung, hg. im Auftrag der deutschen Bischöfe u. a., Stuttgart (Katholische Bibelanstalt u. a.) 1980. Haeffner, Gerd: Die Rolle der Überlegung in der existenziellen Entscheidung. Ein philosophischer Blick auf die Wahlregeln des hl. Ignatius von Loyola, in: Schröer, Christian, Bormann, Franz-Josef (Hg.): Abwägende Vernunft. Festschrift für Friedo Ricken zum 70. Geburtstag, Berlin (de Gruyter) 2004, 563 – 580. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Halle (Niemeyer) 1927. Johannes vom Kreuz: Empor den Karmelberg, Einsiedeln (Johannes) 1964. Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft, Riga (Hartknoch) 1788. Kerber, Walter (Hg.): Das Absolute in der Ethik, München (Kindt) 1991. Löser, Werner : »Gottes Wort ist unserem Fuß eine Leuchte« (Ps 119,105). Kurze Skizze einer Theologie des Wortes Gottes, in: Drewsen, Margarethe, Fischer, Mario (Hg): Die Gegenwärtigkeit des Gegenwärtigen. Festschrift für P. Gerd Haeffner SJ zum 65. Geburtstag, Freiburg / Br. (Alber) 2006, 522 – 535. Neumann, Peter Horst: Der Heckenspringer. Ausgewählte Gedichte, Aachen (Rimbaud) 2009. Stipp, Hermann Josef: Wort Gottes, I. Biblisch-theologisch, 1. Altes Testament, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Freiburg (Herder) 2006, Bd. 10, 1295 – 1297.

IV. Therapie, Ästhetik, Philosophie der Schönheit

Andrea Moldzio

Das Cogito als Krankheit

I.

Die Frage nach der Identität des Ich

Wie kommen wir eigentlich auf die Idee, dass heute der Geburtstag von Herrn Prof. Wucherer-Huldenfeld gefeiert wird? Und wieso sind wir darüber hinaus auch noch der festen Überzeugung, dass er 80 Jahre alt geworden ist? Es könnte doch genauso gut möglich sein, dass ich heute meinen Geburtstag feiere und die ganzen Anwesenden da sind, weil ich 80 geworden bin. Man könnte erwidern, dass der Jubilar es ganz genau weiß, dass er 80 geworden ist und nicht ich, weil er ja immerhin diese ganzen Jahre durchlebt habe. Vielleicht würde man dann auch zum Beweis schreiten und mir Bilder und Dokumente seines Lebens zeigen, mir Geschichten aus seinem Leben erzählen. Beispielsweise, dass er 1929 in der Steiermark geboren ist, im zarten Alter von 27 Jahren in den PrämonstratenserOrden des Stiftes Geras eingetreten ist, seitdem den Ordensnamen Augustinus trägt, dass er mit 32 Jahren die Priesterweihe empfangen hat und sich an alles noch ganz genau erinnern könne. Oder er selbst würde mir von seinem Studium der Philosophie, Psychologie, Ethnologie und später der Theologie erzählen, von seiner intensiven Beschäftigung mit dem Marxismus, von der Atheismusforschung und seinem Engagement in der Daseinsanalyse – um nur einige Beispiele zu nennen. Ich würde mich damit aber nicht so schnell geschlagen geben und ihn fragen, wie er denn so sicher sein könne, dass nicht ein anderer Karl studiert hat, nach Kriegsende ein anderer Karl Augustinus als einziger Mann im Haus eigenhändig einen Truthahn geschlachtet hat und wieder ein anderer zuvor im Widerstand mit dem Dirigenten Harnoncourt nächtens unterwegs gewesen war, um an größere Mengen Sprengstoff heranzukommen. Und war es nicht ein ganz anderer Karl, der mit Herrn Kaup durch das nächtliche Wien mit dem Motorrad brauste und dabei ganz leiblich erfuhr, was Sein zum Tode bedeuten kann? Das kann doch nicht jedes Mal er selbst – sozusagen höchstpersönlich – gewesen sein?

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Andrea Moldzio

Vielleicht ist ja seine Behauptung, dass er jedes Mal in all seinen Lebensabschnitten der Nämliche gewesen sei, nur eine besonders gut dokumentierte Wahnidee, die zufälligerweise mit einer Reihe von Anwesenden hier geteilt wird. In diesem Sinne könnte man dann von einer kollektiven Wahngewissheit sprechen, deren Urheber aber wiederum Karl Augustinus Wucherer-Huldenfeld wäre. Bleibt uns immer noch die Frage, was ihn eigentlich so sicher macht, dass die vergangenen acht Jahrzehnte mit seiner und nur seiner Person identisch sind. Im Gegensatz zu ihm hatte Descartes es sich leichter gemacht, indem er kurzerhand der ihn bedrängenden Frage, wie er denn sicher sein könne, dass er existiere und keiner Täuschung unterliege, mit der bekannten Formel »cogito ergo sum« ein schnelles Ende bereitete. Allein aus dem Denken heraus entsprang bei ihm die Gewissheit der eigenen Existenz, die ihm als sicheres Fundament für weitere philosophische Betrachtungen unabdinglich war. Schelmisch, wie Prof. Wucherer-Huldenfeld nun einmal ist, bezeichnet er diese cartesianische Egologie gerne als »transzendentale Autoerotik«. Aber genau diese apodiktische Selbstgewissheit wird in schizophrenen Entfremdungserlebnissen in Zweifel gezogen, womit wir jetzt bei unserem Thema wären: Die Fragen »Wer bin ich und wer ist der andere?«, »Wer oder was denkt in mir?«, »Bin ich überhaupt?« schwingen bei schizophrenen Entfremdungserlebnissen, Ich-Störungen (besonders bei Gedankenausbreitung oder -eingebung) und im nihilistischen Wahn oftmals mit. Im schizophrenen Entfremdungserleben tauchen diese und andere allgemeine Fragen unseres Menschseins, die in der philosophischen Anthropologie theoretisch konzeptionalisiert werden, wieder auf und werden auf die Spitze der Selbst- und Weltverunsicherung getrieben. Für den Philosophen scheint die Frage nach der Grenze zwischen eigenem und fremdem Ich eine theoretisch-abstrakte Herausforderung, für den schizophrenen Menschen hingegen eine praktisch-existenzielle Notwendigkeit. Die Irritation über die eigene Identität kann zu philosophischen Fragen überleiten oder zum Ausgangspunkt einer tiefen existenziellen Verunsicherung werden. Fichte fragte sich in seiner Wissenschaftslehre: »Ich schreibe, ich habe also eine Vorstellung von meinem Schreiben; es schreiben aber auch andere neben mir. Woher weiß ich nun, daß mein Schreiben nicht das Schreiben eines andern ist?«1 Eine ähnliche Identitätsproblematik beschäftigte einen Patienten von Kimura: »Wenn ich in einen Spiegel sehe, weiß ich nicht mehr, ob ich hier mich dort im Spiegel sehe oder ich dort im Spiegel mich hier sehe. Stehe ich zwischen zwei Spiegeln, dann entsteht eine unendliche Kette des Mich-selbst-sehens, was mich verwirrt. Sehe ich einen anderen im Spiegel, so vermag ich ihn nicht mehr von mir zu unterscheiden. In 1 Fichte: Wissenschaftslehre nova modo, 231.

Das Cogito als Krankheit

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einem schlechteren Befinden geht auch der Unterschied zwischen mir selbst und einem wirklichen anderen verloren. Im Fernsehen weiß ich nicht mehr, ob ich dort im Fernsehapparat spreche oder das Gesprochene hier höre. Ich weiß nicht, ob sich das Innere nach außen kehrt oder das Äußere nach innen. Mir kommt es vor, wie wenn der Boden meines Seins untergeht. Ob es nicht zwei Ichs gibt?«2

Hier wird deutlich, dass die Gewissheit über sich selbst bereits bei Fichte ihre scheinbare Selbstverständlichkeit verloren hat und dem schizophrenen Patienten im konkreten Erleiden vollends fragwürdig geworden ist.3

II.

Die Radikalisierung des Selbstzweifels in der Neuzeit

In der Philosophie ist die Problematik, »ich« zu sein, seit der Neuzeit ein großes Thema. Verfolgt man diesen Diskurs geschichtlich, so zeigt sich, dass es von Anfang an charakteristisch für die philosophische Ich-Vergewisserung ist, mit Entfremdungs-, Derealisations- und Depersonalisationserlebnissen einherzugehen, die denen von schizophrenen Menschen keineswegs unähnlich sind. Die »Kernfrage«, mit der Scharfetter sein Lehrbuch über Schizophrenie eröffnet, die Frage nämlich, »ob ich überhaupt bin«4, zieht sich wie ein roter Faden auch durch die Philosophie, aufgebracht insbesondere durch Ren¦ Descartes (1596 – 1650) und – in kritischer Auseinandersetzung mit Descartes – durch J. G. Fichte (1762 – 1814) und die deutschen Romantiker. »Was kann ich überhaupt wissen?«, fragte Descartes in seinen berühmten Meditationes und stellte fest, dass er selbst, sein »Ich denke«, entscheidend zum Gewussten hinzugehört. Spätestens seit Descartes ist die Philosophie primär selbstreflexiv ; wer philosophiert, fragt nicht mehr nur nach der Welt und den zu ihr gehörenden Menschen, sondern zugleich und vornehmlich nach sich selbst als dem jeweils Fragenden. Die Gewissheit, dass er selbst (als Fragender) existiert, gewann Descartes durch Anwendung einer Methode systematischer Distanznahme von allen bisher als wahr geltenden Meinungen. Dass es körperliche Gegenstände gibt, dass man selbst einen Körper hat, dass es andere bewusste Iche gibt, dass eins plus eins zwei ist – alles galt es zunächst in Zweifel zu ziehen, denn auf die Sinne, so Descartes, ist kein Verlass, sie können täuschen, und ein »böser Lügengeist« könnte für eine Verblendung der Vernunft gesorgt haben. Was also ist sicher? Zunächst wohl nur dieses: dass ich denke bzw. denkend an allem zweifle. Damit

2 Kimura: Psychopathologie, 194. 3 Vgl. dazu Moldzio: Ein phänomenologischer Blick. 4 Vgl. Scharfetter: Schizophrene Menschen.

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aber scheint doch zumindest eines zweifelsfrei erwiesen zu sein; ich, der ich denke bzw. zweifle: Cogito ergo sum.5 In der Romantik wurde Descartes’ zweifelnde Abstandnahme dann noch radikalisiert, d. h. zur »absoluten Abstraktion« (Fichte), zum absoluten Zweifel gesteigert. Auch vor dem denkenden und zweifelnden Ich machte der philosophische Zweifel nun nicht mehr Halt: »Woher weiß ich […], daß mein Schreiben nicht das Schreiben eines andern ist?«, so die oben bereits zitierte Frage Fichtes. »Woher weiß ich, dass mein Denken nicht das Denken eines andern ist?«, so könnte man seine Frage in Bezug auf Descartes’ erste philosophische Wahrheit cogito ergo sum noch präzisieren. Oder auf unseren heutigen Tag gemünzt: Woher weiß Herr Prof. Wucherer-Huldenfeld, dass er die ganzen 80 Jahre durchlebt hat und nicht ein anderer? Ähnliche Bedenken hegte Georg Christoph Lichtenberg (1742 – 1769) gegenüber dieser Wahrheit: »Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: Es blitzt. Zu sagen cogito, ist schon zu viel, sobald man es durch ›Ich denke‹ übersetzt.«6 Fichte wiederum verschärfte dies auf folgende Weise: »Ich kann sonach wohl sagen: es wird gedacht – doch: kaum kann ich auch dies sagen, – also vorsichtiger : es erscheint der Gedanke, daß ich empfinde, anschaue, denke; keineswegs aber : ich empfinde, schaue an, denke.«7 Die durch Fichte und Lichtenberg radikalisierte Zweifelsperspektive macht also deutlich: Zu bezweifeln, dass gerade er es ist, der zweifelnd denkt, und nicht ein beliebig anderer zweifelnder Denker oder gar »niemand«, daran hatte Descartes nicht gedacht. Alle denkenden Iche waren mit dem cartesischen Cogito gemeint. Bis hin zu Descartes war das Ich in der Philosophie ein allgemeines und anonymes Ich. Erst mit Fichte und den deutschen Romantikern geriet das konkrete, individuelle Ich in den Blick. Ludwig Tieck (1773 – 1853) legte dem Titelhelden seines philosophischen Briefromans William Lovell die Schilderung derartiger Ich-Entfremdung in den Mund: »Wer ist das Wesen, das aus mir heraus spricht? Wer das Unbegreifliche, das die Glieder meines Körpers regiert? Oft kommt mir mein Arm wie der eines Fremden entgegen; ich erschrak neulich so heftig, als ich über eine Sache denken wollte, und plötzlich meine kalte Hand an meiner heißen Stirn fühlte.«8

Bei Jean Paul (1763 – 1825) steigert sich das Körpergefühl des Romanhelden bis zur Depersonalisation in Form einer kompletten Abspaltung: 5 6 7 8

Vgl. Descartes: Meditationes, Meditation I und II; Schulte: Philosophie, 86. Lichtenberg: Vermischte Schriften, 412. Fichte: Bestimmung des Menschen, 83 [Herv. i. T.]. Tieck: William Lovell, 346.

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»Oft besah er abends vor dem Bettegehen seinen bebenden Körper so lange, daß er ihn von sich abtrennte und als eine fremde Gestalt so allein neben seinem Ich stehen und gestikulieren sah; dann legte er sich zitternd mit dieser fremden Gestalt in die Gruft des Schlafes hinein, und die verdunkelte Seele fühlte sich wie eine Hamadryade von der biegsamen Fleisch-Rinde überwachsen.«9

Womöglich um der scheinbar unlösbaren neuartigen Cogito-Problematik auszuweichen, verzichteten die Begründer des Empiriokritizismus Ernst Mach und Richard Avenarius am Ende des 19. Jahrhunderts dann gleich ganz aufs Ich: »Das Ich ist unrettbar«, verkündete Mach in seinem Werk »Analyse der Empfindung« (1886). Außer der ichlosen Objektivität soll nichts mehr gelten. Das, was »Ich« meint, schrumpft zusammen auf das gegenständlich Beschreibbare, d. h. auf ein bloßes Bündel von Elementen: »Die Empfindungselemente bilden das Ich. Ich empfinde Grün, will sagen, daß das Element Grün in einem gewissen Komplex von anderen Elementen (Empfindungen, Erinnerungen) vorkommt. Wenn ich aufhöre Grün zu empfinden, wenn ich sterbe, so kommen die Elemente nicht mehr in der gewohnten geläufigen Gesellschaft vor. Damit ist alles gesagt.«10

Noch radikaler als Mach betrieb Avenarius die Abschaffung des Ichs; auch begrifflich empfahl er, auf dieses zu verzichten: »Das Ich-Bezeichnete ist selbst nichts anderes als ein Vorgefundenes, wie etwa ein als Baum Bezeichnetes. Nicht also das Ich-Bezeichnete findet den Baum vor, sondern das Ich-Bezeichnete und der Baum sind ganz gleichmäßig Inhalt eines und desselben Vorgefundenen. So ist auch nicht der Baum mir gegeben; sondern, wenn von Gegebenem überhaupt gesprochen werden darf, so ist in der Gegenüberstellung Ich – Baum das Ich-Bezeichnete bereits im selben Sinn ein Gegebenes wie das als Baum Bezeichnete; und umgekehrt: Ich und die Umgebung – beide Elementenkomplexe, wenn sie gegeben sind, stehen hinsichtlich ihres Gegebenseins vollständig auf gleicher Linie.«11

Es soll nicht mehr davon die Rede sein, dass »jemand« denkt, fühlt, spricht, handelt, etwas vorfindet usw., sondern nur noch von Denkungen, Fühlungen, Sprechungen, Handlungen und Vorfindungen. – Philosophisch nahmen Ernst Mach und Richard Avenarius damit den »Tod des Subjekts« der Postmoderne vorweg. In erstaunlicher Deutlichkeit zeigt sich darüber hinaus eine Parallele zwischen ihrem sprachtheoretischen Konzept und den Erfahrungen von Schizophrenen.

9 Paul: Hundposttag, 711 ff. 10 Mach: Die Analyse der Empfindungen, 20 [Herv. i. T]. 11 Avenarius: Der menschliche Weltbegriff, 82 [Herv. i. T].

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III.

Andrea Moldzio

Ich-Entfremdung bei schizophrenen Menschen

Zahlreiche Phänomene, die bei Schizophrenie vorkommen können, lassen sich aus Störungen des Ichs12 ableiten – und zwar des ganz konkret empfundenen Ichs. Das bunte Erscheinungsbild der Schizophrenie wird meist darauf zurückgeführt, dass das Ich in unterschiedlicher Stärke und zu unterschiedlichen Zeiten von der Krankheit ergriffen wird und dann in Form zahlreicher Abwehrmechanismen oder Coping-Strategien darauf reagiert. Das »Ich« wird dabei in der psychiatrischen Nomenklatur weitgehend indifferent gefasst und meist synonym mit »Person« oder »Persönlichkeit«, »Selbst« verwendet.13 Gemeinsames Kennzeichen der verschiedenen Synonyme ist jedoch die einheitskonstituierende Gestalt, die das »Ich« von der Außenwelt mehr oder weniger scharf abgrenzt. Innerhalb dieser Einheit werden je nach Schule wiederum verschiedene Anteile wie beispielsweise Ich, Es, Über-Ich (Freud), Eltern-, Erwachsenen-, Kindheits-Ich (Berne) oder verschiedene basale Dimensionen des Ich-Bewusstseins wie Ich-Aktivität, Ich-Demarkation, Ich-Vitalität, Ich-Konsistenz, Ich-Identität (Scharfetter) unterschieden. Genau diese einheitsgewährende Konzeptionalisierung des Ichs und damit die Abgrenzung gegenüber der Außenwelt geht jedoch bei den Ich-Störungen verloren. Wenn die eigenen Gedanken durch Radio- oder Fernsehsender in die Welt hinaus übertragen werden (Gedankenausbreitung) oder die Gedanken nicht mehr aus einem selbst kommen, sondern irgendwie »gemacht« sind oder eingegeben werden (»gemachte Gedanken« bzw. Gedankeneingebung), verschiebt sich die Grenze zwischen Eigenem und Fremdem, Innen und Außen. Den Phänomenen des Gedankenentzugs und der Gedankeneingebung ist gemeinsam, dass das alle Vorgänge stets begleitende Gefühl der »Meinhaftigkeit«, d. h. dass ich es bin, der denkt, wahrnimmt, fühlt etc., verloren gegangen ist. Die eigenen Gedanken können nicht mehr als eigene erkannt und behalten werden. Das Ich wird durchlässig und dadurch zum Schauplatz fremder Gewalten. Das Cogito wird zur Krankheit! Hier nähert sich das Denken des Schizophrenen den bereits genannten AperÅus von Fichte und Lichtenberg bedrohlich an. Die von Descartes postulierte scheinbare Selbstverständlichkeit des Cogito geht dem schizophrenen Menschen verloren: Seine Gedanken entspringen eben nicht mehr einem »Ich denke«, sondern einem »Es denkt in mir« oder »Jemand 12 Unter den Begriff der Ich-Störung subsumierte Gruhle: Die Schizophrenie Symptome wie Gedankenbeeinflussung, -ausbreitung und -entzug. Schneider: Klinische Psychopathologie sah in ihnen den Ausdruck von Störungen der »Meinhaftigkeit«, die unverstehbar sind. Diese »Meinhaftigkeit« ist das psychiatrische Korrelat des Begriffs der »Subjektivität« in der Philosophie. 13 Vgl. Bleuler : Lehrbuch, 80 f.; Fuchs: Der Begriff der Person.

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anderes denkt in mir«. Fichtes Formulierung »Es wird gedacht« ist für den Schizophrenen die bittere Realität der Gedankeneingebung oder -ausbreitung. Der Philosoph kann sich (zumindest im Idealfall) selbst reflektierend in Frage stellen, indem er zu sich Stellung bezieht und sich streng befragt, ob tatsächlich er es ist, der da denkt und spricht. Gerade in dieser radikalen Form des Selbstverhältnisses in distanzierender Abstandnahme offenbart sich sein fester Boden der Subjektivität, auf dem solche Fragen erst möglich sind. Dieses Vermögen besitzt der schizophrene Mensch jedoch nicht mehr. Er ist der Unsicherheit seiner eigenen Existenz ausgeliefert und kann sich selbst nicht mehr voller Selbstgewissheit als Zentrum der eigenen Initiative begreifen. Die Selbstbezüglichkeit und Selbstverfügung personaler Akte ist dem Patienten verloren gegangen. Die Fähigkeit zur Selbstzuschreibung und die Subjektivierung von Sachverhalten, dass ich denke, schreibe, etwas sage oder dass mir etwas nahegeht, ist in dem Sinne gestört, wie Mach und Avenarius alle Tatsachen für objektiv halten und man ihrer Ansicht nach konsequenterweise nur von »Denkungen«, »Sprechungen« etc. sprechen sollte. Hier beschreiben Mach und Avenarius (unbeabsichtigt) die Situation des schizophrenen Menschen, der zwischen lauter objektiven Tatsachen verloren geht und nicht mehr sicher weiß, dass er es ist, der denkt, fühlt, handelt etc. Gedankenentzug und Gedankeneingebung symbolisieren die Ohnmacht der Person hinsichtlich ihrer ureigensten Zuständigkeiten. Vieles kann dem Menschen genommen werden, aber, so sagt man, »die Gedanken sind frei«. Plötzlich aber ist nicht mehr die Person selbst »Herr im Haus«, sondern fremde Mächte. Die Selbstgewissheit, dass etwas aus mir entspringt, worüber ich die Kontrolle habe, ist verloren gegangen. Die souveräne Gewissheit eigener Aktivität und Mächtigkeit besteht nicht mehr, da die Person nicht mehr der Akteur eigener Gedanken und Gefühle ist. Dadurch kann der eigene Standpunkt gegenüber der Welt nicht mehr gefunden und entsprechend vertreten werden. Die subjektive Tatsache, dass es sich um mich selbst handelt, der diese Gedanken hat, ist verloren gegangen. Der Verlust der Autonomie über dieses Ich macht den Patienten für jegliche Einflüsse sowohl seitens der Umwelt als auch seitens latenter innerer Zustände übermäßig empfänglich. Und genau dies ist auch der Nährboden, auf dem der Wahn entstehen kann.

IV.

Ich-Identität als Aufgabe

Es zeigt sich also, dass die Fragen von Philosophen und schizophrenen Menschen nach ihrem Ich in vielerlei Hinsicht deckungsgleich sind, weil sie einer gemeinsamen anthropologischen Quelle entspringen. Die scheinbare Evidenz

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Andrea Moldzio

des Selbst-Bewusstseins ist keine so einfach mitgegebene, sondern eine jedem aufgegebene. Trotz gleichen Ursprungs nimmt aber die Behandlung dieser beiden Fragen einen unterschiedlichen Verlauf. Zwar gehört es gewissermaßen zur wissenschaftlichen Aufgabe des Philosophen, sich selbst kritisch in Frage zu stellen und an dem Fundament seiner Subjektivität gehörig zu rütteln. Der Schizophrene allerdings ist in das Fundament seiner Subjektivität ganz und gar eingebrochen und findet weder Halt noch Stand. In Anlehnung an Benedetti, der gesunde Dichter und Schizophrene miteinander vergleicht, könnte man bildlich gesprochen sagen, dass der Philosoph auf einer Ich-Terrasse mit halbwegs sicherem Geländer steht, an dem er sich festhalten kann, während sein Blick in die Tiefe menschlicher Abgründe schweift. Der schizophrene Mensch hat diese Sicherheit des eigenen Standvermögens nicht, er ist in toto seiner eigenen Abgründigkeit ohne Geländer hilflos ausgeliefert.14 Zurückkommend auf unsere einleitende Frage: Ich habe Herrn Prof. Wucherer-Huldenfeld in den letzten Jahren als jemanden kennen und schätzen lernen dürfen, der nahezu unerschütterlich auf eben dieser Ich-Terrasse steht, die bei ihm mit einem stabilen Geländer befestigt ist, geschmiedet aus dem Glauben an Gott, der Liebe zur Philosophie und der Hoffnung auf Linderung von menschlichem Leid in Form der Daseinsanalyse. Sodass für mich kein Zweifel mehr besteht, dass nur er es sein kann, der erfüllte 80 Jahre wurde, und in diesem Sinne gratuliere ich ihm ganz herzlich zu seinem Geburtstag!!!

Literatur Avenarius, Richard: Der menschliche Weltbegriff, 2. Aufl., Leipzig (Reisland) 1905. Benedetti, Gaetano: Todeslandschaften der Seele, 4. Aufl., Göttingen (Vandenhoeck und Ruprecht) 1994. Bleuler, Eugen: Lehrbuch der Psychiatrie [1943], 15. Aufl., Heidelberg (Springer) 1983. Descartes, Ren¦: Meditationes de prima philosophia (lateinisch-deutsche Ausgabe), Hamburg (Meiner) 1995. Fichte, Johann Gottlieb: Wissenschaftslehre nova methodo, Vorlesung zwischen 1797 und 1799, in: ders.: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, IV. Abteilung, Bd. 2: Kollegnachschriften 1796 – 1804, hg. von Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky, Stuttgart / Bad Cannstatt (Frommann Holzboog) 1978. Ders.: Die Bestimmung des Menschen. Auf der Grundlage der Ausgabe von Fritz Medicus revidiert von Horst D. Brandt. Mit einer Einleitung von Hansjürgen Verweyen, Hamburg (Meiner) 2000. 14 Benedetti: Todeslandschaften, 168.

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Fuchs, Thomas: Der Begriff der Person in der Psychiatrie, in: Der Nervenarzt 73 (2002 / 3), 229 – 246. Gruhle, Hans Walter: Die Schizophrenie: Allgemeine Symptomatologie. Die Psychopathologie, in: Bumke, Oswald (Hg.): Handbuch der Geisteskrankheiten, Berlin (Springer) 1932, 135 – 210. Kimura, Bin: Psychopathologie der Zufälligkeit oder Verlust des Aufenthaltsortes beim Schizophrenen. In: Daseinsanalyse 11 (1994), 192 – 204. Lichtenberg, Georg: Vermischte Schriften, Bd. 2, Göttingen (Dieterich) 1853. Mach, Ernst: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, Jena (Fischer Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1922. Moldzio, Andrea: Ein phänomenologischer Blick auf schizophrene Psychosen, in: Ertl, Michael u. a. (Hg.): Ich bin tausend Ich. Probleme, Zugänge und Konzepte zur Therapie von Psychosen, Wien (Facultas) 2002. Paul, Jean: Hesperus, 16. Hundposttag, in: ders.: Werke, Bd. 1, München (Hanser) 1960. Scharfetter, Christian: Schizophrene Menschen. Diagnostik, Psychopathologie, Forschungsansätze, Weinheim (Beltz) 1995. Schneider, Kurt: Klinische Psychopathologie. Mit einem Kommentar von Gerd Huber und Gisela Gross, 14. unv. Aufl., Stuttgart (Thieme) 1992. Schulte, Günter : Philosophie, Köln (Dumont) 2001. Tieck, Ludwig: William Lovell. Erster Teil, in: ders.: Schriften, Bd. 6, Berlin (Reimer) 1828.

Gerlinde Angelika Schopf

Augustinus Wucherer-Huldenfelds Beiträge zur daseinsanalytischen Theorie der Lebensalter

I.

Einleitende Überlegungen

Das Werk von Augustinus Wucherer-Huldenfeld hat die Entstehung und Entwicklung der daseinsanalytischen Bewegung in Wien und Österreich nachhaltig geprägt. Die Daseinsanalyse, die bekanntlich von der Daseinsanalytik Martin Heideggers und der Weiterentwicklung der Psychoanalyse durch Ludwig Binswanger und Medard Boss herstammt, erhielt im Denken von Augustinus Wucherer-Huldenfeld eine nochmals erweiterte philosophische Dimension. Durch sein Wirken wurde die Philosophie als Grundlagenwissenschaft zu einem integrierten, nicht mehr wegzudenkenden Bestandteil der Österreichischen Daseinsanalytischen Schule. Er hat das Da-Sein des Menschen, sein heiles und leidendes Ek-sistieren und seine jeweiligen Heilungsmöglichkeiten grundlegend durchdacht. Einer dieser weit angelegten Denkhorizonte ist die Betrachtung der menschlichen Lebensalter aus der Perspektive daseinsanalytischen Zeitdenkens. Im Folgenden komme ich auf einige Aufsätze von Wucherer-Huldenfeld zu sprechen, die dazu herausfordern, ihnen Grundzüge einer daseinsanalytischen Theorie der Lebensalter zu entnehmen.1 Ich werde dabei einige Überlegungen aus psychotherapeutisch-daseinsanalytischer Sicht einfließen lassen, die aus den Ausführungen Wucherer-Huldenfelds hervorgehen oder in seine Denkrichtung weisen. Vorarbeit in die Richtung eines Denkens des Ausgespanntseins des menschlichen Lebens im ontologischen Horizont der Zeitlichkeit wurde bereits von der Zürcher Daseinsanalytischen Schule geleistet, etwa durch Gion Condraus umfassendes Werk Der Mensch und sein Tod2. Der dort im Anschluss an 1 Es handelt sich dabei um den Abschnitt »Versuche zu einer Philosophie der Prä- und Perinatalzeit«, den Aufsatz »Die Weite des menschlichen Daseins in ihrer Bedeutung für die Psychotherapie« sowie die Kapitel »Zur Zeitlichkeit des menschlichen Wesens« und »Die Ursprünglichkeit der Selbständigkeit« in Wucherer-Huldenfeld: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, 95 – 150, 327 – 339, 388 – 390, 453 – 459. 2 Condrau: Der Mensch und sein Tod.

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Gerlinde Angelika Schopf

Heidegger geführte Aufweis des menschlichen Da-Seins als Sein-zum-Tode in allen seinen Phasen enthält bereits einen impliziten Hinweis darauf, dass vom Anfang des menschlichen Lebens an und bis zu seinem Ende immer alle Lebensalter mitbedacht werden müssen. Ein solches Denken enthüllt die Untrennbarkeit der einzelnen Lebensabschnitte, die zuvor schon Romano Guardini sehr anschaulich in seiner Schrift Die Lebensalter aufwies.3 Der Versuch der Daseinsanalyse, das Dasein des Menschen auf diese Weise zu denken, kann als wesentliches Attribut und großer Vorzug dieser Therapierichtung gesehen werden.

Zum Begriff »Lebensalter« In unserer westlichen Kultur verstehen wir den Begriff »Lebensalter« für gewöhnlich im Horizont chronologischen Denkens, entsprechend der Tradition der modernen Naturwissenschaften, der Geschichtsschreibung und der Jurisprudenz. Angesichts der Unterschiedlichkeit der Individuen lässt sich freilich in Bezug auf die Datierung der Entwicklungsphasen in der Entwicklungspsychologie keine Exaktheit erreichen. Entwicklung wird hier im Allgemeinen in den Kategorien des Individuellen und Kollektiven gesehen: Das Sichentfalten des einzelnen Menschen von Geburt an über Kindheit, Jugend und Erwachsensein bis hin zum Tod wird an den Normen der Gesellschaft gemessen. Romano Guardinis Schrift zu den Lebensaltern aus der Mitte des 20. Jahrhunderts kann mit Recht als einer der bedeutendsten neuen Ansätze zu einer ausholenden Betrachtung der Lebensalter aus psychologischer, pädagogischer, philosophischer, ethischer und religiöser Sicht gesehen werden. Bei ihm werden die Lebensphasen nicht als bloßes chronologisches Nacheinander thematisiert, sondern in ihrer Einheit und Zugehörigkeit zur Ganzheit des Daseins. Guardini hebt hervor, dass »jede Phase um des Ganzen willen da ist, keine durch eine andere ersetzt werden kann, jede ihren eigenen Sinn hat, die Schädigung einer das Ganze schädigt und im alten Menschen das Erbe des gesamten Lebens in seine Gestalt hineingewandelt ist«.4 Die daseinsanalytische Literatur hat mit mehreren Beiträgen von Alice Holzhey, Hansjörg Reck, Detlev von Uslar, weiteren Daseinsanalytikerinnen und -analytikern und der Autorin selbst Grundlinien daseinsanalytischer Entwicklungstheorie ausgearbeitet. Insbesondere wird im Einklang mit Heideggers Denken auf ein epochales Denken abgestellt, wobei Epoche hier den Menschen unabhängig vom Lebensalter jeweils als umfassende Einheit meint, durch die 3 Guardini: Die Lebensalter. 4 Ebd., 51.

Wucherer-Huldenfelds Beiträge zur daseinsanalytischen Theorie der Lebensalter

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man als Kind und Jugendlicher ebenso wie als Erwachsener und alter Mensch jeweils ganz da ist, als ganzer Mensch stets im Bezug zur Welt steht. Besonderes Augenmerk verdienen dabei die Übergänge als kritische Momente in der Entwicklung und die Erregungs- und Beruhigungsphasen im Werden und Bleiben immer desselben Menschen in den verschiedenen Lebensaltern. Letzterer Gedanke kommt Guardinis Konzept nahe.

II.

Daseinsanalytischer Ansatz zur Betrachtung der Lebensalter

Dieses Denken des Werdens, Bleibens und Gewesenseins des Ganzen von allem Anfang an bringt uns den Ausführungen von Augustinus Wucherer-Huldenfeld näher. Bei ihm werden wir vergeblich nach Ansätzen zu einem Denken über Lebensalter oder Entwicklung im herkömmlichen Sinn suchen. Es geht ihm auch nicht um eine neue Theorie der Lebensalter in Konkurrenz zu bestehenden Konzepten, die innerhalb ihres spezialwissenschaftlichen Rahmens durchaus ihre Berechtigung haben. Ansätze zu einer Theorie der Lebensalter im Werk des Wiener Philosophen scheinen mir gerade in der Verpflichtung an die abendländische Philosophie und im Brückenschlag zur fernöstlichen Philosophie erkennbar.5 Mit Recht kann gesagt werden, dass sich eine Theorie der Lebensalter bei ihm an keiner Stelle so deutlich abzeichnet wie in den Arbeiten zur Prä- und Perinatalzeit. Diese Ausführungen laden dazu ein, die Lebensalter im Horizont von Anfang und Ende zu sehen und darüber nachzudenken, in welchen Grundstrukturen und Phänomenen sich das Leben des Menschen in diesem Sinne ausbreitet. Innerhalb eines solchen Horizonts könnte sich eine Annäherung von herkömmlich gedachten Lebensaltern und daseinsanalytisch gedachten Epochen und Phasen des Da-Seins abzeichnen, selbstverständlich immer unter dem Vorbehalt, dass von jeder Chronologie abzusehen und das Denken des Ganzen zu wahren ist. Interessanterweise scheint es dabei nicht möglich zu sein, eine Linearität des Zeitverlaufs beizubehalten. Es eröffnet sich eine am ehesten als zirkulär zu bezeichnende Dimension, die auf das Mysterium hindeutet und das Ganze des Lebens, alle Lebensalter, umschließt und trägt. Es geht WuchererHuldenfeld um die Grundlegung der Verweisungszusammenhänge zwischen den einzelnen Lebensaltern, die Verflechtung und wechselseitige Bedingtheit der einzelnen Spannen und Weiten des Daseins. Wir werden auch sehen, dass die 5 Ich denke dabei u. a. daran, dass der Anfang des menschlichen Lebens in der traditionellen Kultur Chinas und Japans und weiterer Länder Ostasiens in die vorgeburtliche Zeit verlegt wird, und zwar noch vor jeglichen datierbaren Zeitpunkt von biologisch menschlichem Leben. Traditionellen Zeremonien zufolge ist das Kind sogar heute noch bei der Geburt bereits ein Jahr alt.

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Lebensalter daseinsanalytisch nicht aus der Perspektive des Daseins eines Einzel-Individuums, sondern nur im Lichte eines gemeinsamen Daseins und innerhalb eines Generationendenkens verstanden werden können. Wenn auch die unten angeführte Konstruktion zur Idee einer direkten linearen Entsprechung verleiten könnte, gilt nochmals festzuhalten, dass es sich hier nur um ein Hilfskonstrukt handelt und dass die daseinsanalytischen Implikationen am ehesten im Sinne eines fortlaufenden konzentrischen Spiralmodells zu sehen sind, da sämtliche daseinsanalytische Verweisungszusammenhänge in jedem Lebensalter bedeutsam sind. Dies kommt in den Reflexionen über das Dasein als Verweis auf das abgründige Mysterium des Ursprungs am deutlichsten zum Ausdruck, worauf am Ende dieses Artikels nochmals Bezug genommen wird. »Dasein als Verweis auf das gemeinsame abgründige Mysterium des Ursprungs« bietet sich meiner Ansicht nach als umfassendste Überschrift für das Verständnis der Lebensalter innerhalb eines daseinsanalytischen Denkens an, da mit dem Begriff »Ursprung« das Bild der sich von Anfang bis Ende verströmenden Quelle vermittelt wird und im Begriff des Abgrundes das Nicht-Greifbare, Weite, Unauslotbare enthalten ist, dies in Anbetracht von Anfang und Ende wie auch des Zusammenlebens und Für-einander-Seins der Generationen in radikalen Du-Du-Beziehungen. Die Lebensalter über Generationen Pränatalzeit, Perinatalzeit, Geburt Kindheit, Jugend, junges Erwachsenenalter Erwachsenenalter, Alter Tod

Dasein als Verweis auf das gemeinsame abgründige Mysterium des Ursprungs Zum-Vorschein-Kommen des Daseinsganzen im Dialog Freigabe zu Selbstständigkeit, Lieb, Abhängigkeit Ursprungsein, Anwesen, offene Weite, Befreien Ende im Anfang – Anfang im Ende

Ich gehe im Folgenden die in der rechten Spalte angegebenen, spezifischen Lebensaltern zugeordneten Wesenszüge des Daseins, die zugleich für alle anderen Lebensalter relevant sind, der Reihe nach durch.

III.

Zum-Vorschein-Kommen des Daseinsganzen

Wucherer-Huldenfeld hat mit seinen Beiträgen »Versuche zu einer Philosophie der Prä- und Perinatalzeit« ein neues philosophisches Arbeitsfeld begründet, aus dem – parallel zu Heideggers und Condraus Verständnis des Daseins als Sein-zum-Tode – die Wesensart des Seins-zum-Werden in der Weise des Seinszum-Geborenwerden und des Seins-zur-Geburt abgeleitet werden kann. Dabei wird nicht nur das Sein-zum-Zur-Welt-Gebrachtwerden und unser Ans-Lichtder-Welt-Kommen beleuchtet, sondern das Sein-zum-Werden von allem Anfang

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an. Die drei Beiträge »Beginn und Anfang des menschlichen Daseins«6, »Dialog mit dem Kind: Ein phänomenologischer Beitrag zur Anthropologie des pränatalen Da-Seins«7 und »Zur Philosophie der menschlichen Geburt«8 sind als Trilogie zu lesen, die den Menschen im Lichte seines Anfangs und des Anfangs aller zeigt. Von diesem Anfang her ist der Mensch in seinem alle Lebensalter und Lebensgestalten umfassenden Daseinsentwurf und bereits als ungeborenes Menschenkind dazu bestimmt, Hörer des Wortes zu sein, der zur selbstständigen und freien Antwort ermächtigt wird. Damit wird nicht nur die notorische Vergessenheit der Geburt und des vorgeburtlichen Lebens in der männlich dominierten Wissenschaftswelt der abendländischen Philosophie überwunden. Wir verdanken Wucherer-Huldenfeld auch eine vertiefte, um den scharfen Blick des Philosophen erweiterte Lesart Sigmund Freuds sowie der prä- und perinatalen Psychologie. Gleichermaßen ist diese Trilogie als kritische Schrift gegenüber einem in Reduktionismus, Empirismus und Positivismus verhafteten spezialwissenschaftlichen Denken und einem der Strömung der Moderne anhaftenden Machbarkeits- und Freiheitsglauben zu lesen. Die Philosophie der Prä- und Perinatalzeit gibt damit indirekt Antworten auf aktuelle und brisante Fragen zu Themen aus der modernen Bioethik und Biotechnik, der philosophischen Gesellschafts-, Staats- und Kulturethik, aus der Sozialtechnologie und dem Bereich der Menschenrechte, darunter insbesondere auf ethische Fragen betreffend die Schwächsten der Gesellschaft. Vergegenwärtigen wir uns, dass erst in jüngster Zeit damit begonnen wurde, Ethikkonzepte für eine würdige Behandlung und Begleitung der Patienten und Klienten in medizinischen, sozialen und pädagogischen Institutionen, von Kindern bis zu alten Menschen, zu formulieren und diese im Klinik- und Praxisalltag respektive Schul-, Heim- und Arbeitsalltag auch umzusetzen, so merken wir, wie sehr wir erst am Anfang stehen. Wucherer-Huldenfeld betont, dass gerade im stillen, ungreifbaren, geheimnisvollen und eben undatierbaren Beginn und Anfang die Würde des Menschen zu erkennen ist. Sein Hinweis auf die Tatsache, dass wir uns in unserem Existieren schon immer anderen verdanken und andererseits dazu ermächtigt sind, andere in ihr Sein freizugeben und ihnen zum Freilegen, Wählen und Ergreifen ihrer je eigenen Möglichkeiten zu verhelfen, ist von ungeheurer Relevanz. Hier ist nicht die Frage, ob wir zu einer therapeutischen, pädagogischen oder pastoralen Aufgabe aufgerufen sind, sondern einzig, ob wir uns dieser Ermächtigung und Verantwortung immer bewusst sind und uneigennützig danach handeln. 6 Wucherer-Huldenfeld: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, 95 – 108. 7 Ebd., 109 – 129. 8 Ebd., 131 – 150.

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Der Aufbruch ins Daseinsganze geschieht Wucherer-Huldenfeld zufolge zunächst unscheinbar und lautlos, aber bereits von früh an auf dialogische Weise. Der Hinweis auf das werdende Menschenkind als einem vernehmend gestimmten und welt-offenen Wesen, das schon vor der Geburt in einem personaldialogischen Austausch steht, verweist auf die von Anfang an bestehende menschliche Ermächtigung zum Gespräch, aber auch auf dessen Notwendigkeit in diesem und allen folgenden Lebensaltern. Diese Art nonverbaler Kommunikation ist außergewöhnlich. Sie kann aber in späteren Lebensaltern wieder besondere Bedeutung gewinnen – man denke nur an pathologische Ausdrucksformen im Rahmen psychischer und somatischer Krankheiten, wie etwa bei schizophrenen oder affektiven Denkstörungen, bei Entwicklungsstörungen oder bei neurologischen Artikulationsstörungen. Sie schließt das Menschenwürdige niemals aus. Die Betonung der Würde des menschlichen Daseins von allem Anfang an und bis zum Lebensende führt uns zu ethisch-moralischen Überlegungen: Es ist jedem, allen voran dem unmündigen Menschenkind, aber ebenso dem Hilfsbedürftigen, dem Kranken und dem alten, gebrechlichen Menschen, in Situationen der Selbstbetroffenheit Gehör zu schenken. Für Kinder kann dies u. a. das Hinhören auf ihr Erleben einer Trennungs- oder Scheidungssituation der Eltern bedeuten, ein Horchen auf den verschwiegenen Grund ihrer Lernprobleme oder das achtsame Wahrnehmen der Schwierigkeiten mit unfreiwilligem Schulwechsel und der Integration in eine neue Klasse. Wenn wir selbst ehrlich an unsere eigene Kindheit und Vergangenheit zurückdenken, stellt sich die Wichtigkeit von Familie, Zuhause und Freundeskreis in der Erinnerung viel eindeutiger dar. Ein konstruktives, neutrales Hinhören gelingt manchmal besser durch Beiziehen einer Fachperson wie einer Psychotherapeutin oder eines Mediators. Für psychisch Kranke können in diesem Zusammenhang Behandlungsvereinbarungen mit Anhören und Akzeptieren von persönlichen Behandlungswünschen genannt werden, für Betagte können Behandlungsdirektiven und Patientenverfügungen dem Willen der Patienten Gehör verschaffen.

IV.

Freigabe zu Selbstständigkeit, Liebe, Abhängigkeit

Autonomie gilt heute als notwendiges Attribut des modernen Menschen. Der Ruf nach Selbstständigkeit, gepaart mit Selbstwertgefühl, beginnt bereits im frühen Kindesalter. Im Erwachsenenalter werden diese Persönlichkeitsfaktoren in der Regel vorausgesetzt, da ohne sie ein erfolgreiches Erwachsenen- und Berufsleben in Frage gestellt ist. Im Falle der Defizienz geht man davon aus, dass sie lernbar oder trainierbar sind. Entsprechende skill-trainings stehen im psychotherapeutischen Reper-

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toire zur Verfügung, erfreulicherweise durchaus erfolgreich. Auch diese Trainings, die in den letzten Jahren immer mehr Methoden der Meditationspraxis und der angewandten Lebensphilosophie miteinbeziehen, greifen nicht zuletzt auf das zurück, was uns Wucherer-Huldenfeld in seinen Ausführungen zur Selbstständigkeit lehrt: Sie kann nur aus der Haltung des Freigebens, des Raumgebens dem anderen gegenüber vermittelt werden, wobei der andere zur Mitte der eigenen Welt wird. In diesem neuen Daseins-Raum wird Selbstständigkeit geschenkt. Sie zeigt sich so als eine sich vermittelnde, verschenkende Daseinsform, die kein Privatbesitz ist, sondern die wir einander geben. Auf dieser Basis kann sich ein Losgelöstsein entwickeln, das freie Bindung ermöglicht, in welcher der andere nicht zum Opfer der Ausbeutung wird, nicht Mittel zum Zweck, nicht Erweiterung des Ego, sondern »Jemand«, er oder sie selbst und nicht irgendwer. Auf dieser Ebene zeigt sich freigebende Bindung vom Wesen her als wahre, personale Liebe. Freigabe zur Selbständigkeit verzichtet auf jedes Besitzergreifen und verpflichtet sich zum Beistehen in Treue und Ausdauer. Erst eine derartige Freigabe kann den Menschen werden lassen, was er im Grunde schon ist, und führt ihn zu eigenem Denken, zu unabhängigem Urteilen und initiativem Handeln. Freigebende Abhängigkeit führt zu reifender und reifer Entscheidungsfreiheit, sie differenziert. Nur die defiziente Form der Abhängigkeit mündet in vereinzelnden Individualismus und unterdrückenden Kollektivismus. Jedes in privativer Weise erfolgende Freigeben schafft gegenseitige repressive Abhängigkeiten. An dieser Stelle scheint es angebracht, die Grundpfeiler der daseinsanalytischen Kinder- und Jugendtherapie zu erwähnen, die auf einer unvoreingenommenen Beobachtung des Kindes oder Jugendlichen und einer unverstellten Betrachtung der sich zeigenden Phänomene im Gespräch, im Spiel oder in der Testsituation beruhen. Als wesentlichstes Therapeutikum dient hier das jeweils angemessene Maß von einspringender und freigebender Fürsorge. Der Anspruch an die Kunst des Therapeuten ist hier noch höher anzusetzen als in der Erwachsenentherapie, insofern das System »Kind-Eltern-Familie-Schule-Peergroup« mit all seinen nicht immer bekannten oder offensichtlichen Wirk- und Erschwernis-Faktoren nicht übersehen werden darf. Der Therapieansatz der »Dialogik« gehört ebenfalls hierher, da er meines Wissens der einzige Ansatz neben der Daseinsanalyse ist, der ein dem weltoffenen Menschen entsprechendes Konzept zu Gesprächsführung und therapeutischer Haltung vorlegt.9 Das dabei zugrunde gelegte Denken wurzelt in dem Postulat, den anderen, das Gegenüber, auch im Widerspruch miteinzubeziehen. Die Dialogik versinnbildlicht eine Art Antidogmatik, die schon vor jeder Psy9 Vgl. Herzka, Reukauf, Wintsch: Dialogik in Psychologie und Medizin.

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chotherapie festgefahrene Haltungen zu den geistigen Fragen der Zeit, zur Gesellschaftspolitik, zu den sozialen Systemen, Religionen und ethisch-moralischen Einstellungen hinterfragt. Auf die Bedeutung einer guten dialogischen Beziehung zwischen Eltern und Kind als Schutzfaktor wird hingewiesen, ebenso auf ein ausreichendes Respektieren, Ernstnehmen und auf Transparenz in der Familie als Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung des Kindes bis ins Erwachsenenleben. Wucherer-Huldenfelds Überlegungen zum Erfahren und Verstehen des Anderen in der Totalität seiner Person könnte einer derartigen dialogischen Therapie eine Fundierung bieten, indem aufgewiesen wird, warum der Mensch gerade in der Du-Du-Beziehung nicht näher und begreiflicher, sondern verwundbarer, befremdender und unbegreiflicher wird und warum das Lernen, mit den Augen des Anderen zu sehen, immer auch existenzielle Fürsorge bedeutet.

V.

Ursprungsein, Anwesen, offene Weite, Befreiung

Unter dem Titel »Gemeinschaftliche Vermittlung des Ursprungseins«10 konzipiert Wucherer-Huldenfeld eine Ursprünglichkeit, die sich im Kreislauf der Elternschaft über die Generationen hinweg als Ermächtigtsein zur Selbstüberschreitung zeigt. Wie bereits bei den Ausführungen zum Geborenwerden und zur Geburt angesprochen, geht es um das Sich-Verdanken den Eltern gegenüber als fundamentalem Faktor für ein gelingendes Eintreten ins Leben und in die Gemeinschaft wie auch als Bedingung für eine gute weitere Entwicklung. Im Erwachsenen-Dasein zeigt sich klar und unübersehbar die Bedeutung des Generationenzusammenhangs für die Lebensalter. So wird nochmals deutlich, dass die Lebensalter nicht von der Einzelperson her gedacht werden können. Dass wir heute nicht mehr von drei, sondern von vier bis fünf Generationen innerhalb einer Familie sprechen, deren In-Anspruchnahme mit früher nie dagewesenen Anforderungen sich insbesondere an der Generation der Lebensmitte abzeichnet, verdient es, am Rande erwähnt zu werden. Wie es zunächst die Eltern sind, die die Aufgabe haben, ihr Kind schrittweise zu seinem Wesen freizugeben, was nur im Prozess des Raumgebens und SichZurücknehmens geschehen kann, so sind es in späteren Lebensphasen Pädagogen und Therapeuten, an die ebenfalls der Anspruch gestellt wird, ihren Schutzbefohlenen und Patienten zur ur-eigensten Selbsterscheinung und Selbstenthüllung zu verhelfen und sie auf dem Weg zur persönlichen Erfahrung des eigenen Wesens zu begleiten. Gerade in der Diskussion um den Traum, der via regia zum Unbewussten, weist Wucherer-Huldenfeld im Hinblick auf das 10 Wucherer-Huldenfeld: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, 455 – 457.

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Durchschreiten der Lebensalter auf deren Entwicklungspotential hin. Die verschiedenen Lebensgestalten im Lebenslauf bringen schließlich schon immer eine dem jeweiligen Alter entsprechende Modifikation und Wandlung der Erinnerung mit sich. Doch erst die Geschichtlichkeit kann die Dimension des Gewesenen aufleuchten lassen als eine nie vergehende, doch durch den Prozess der Reifung durchaus Heilung ermöglichende Vergangenheit. Heilung ist aber nur durch Offensein und Teilhaben mit anderen in der Erfahrung von Welt möglich. Aus der Psychotherapie kennen wir die Problematik des Anwesens des Gewesenen von oft sehr lange zurückliegenden Traumata, und zwar in all ihrer Tragik, Vehemenz und Einschränkung der Entfaltung des eigenen Wesens. Durch den heute in den Neurowissenschaften allgemein anerkannten Plastizitätsansatz zum Verständnis der neurophysiologischen und biochemischen Funktionsweise des Gehirns haben vor allem die psychodynamischen Psychotherapien eine Revolution hinsichtlich ihres Ansatzes der biografischen Rekonstruktion erfahren. Wucherer-Huldenfeld hat auf philosophischer Ebene vorausgenommen, in welcher Weise sich zum einen die Erinnerung in ihrer Form als Verwandlung und Reifung des Gewesenen aus den je gegenwärtigen Weltbezügen modifiziert und wie zum anderen aus einem solchen prozessuralen Verlauf das aus der Vergangenheit Erhellte als Behaltenes zwar immer anwest, aber eine ganzheitliche und vielschichtige Heilung zulässt. Aus daseinsanalytischer und philosophischer Sicht ist eine Psychotherapie unabhängig vom Alter schon immer Gegenstand der befürwortenden, konstruktiven Diskussion gewesen. Wissen, Weisheit, Gelassenheit sind ja die hervorragenden Attribute des ehrwürdigen Alters und schließen so gesehen Therapiefähigkeit und Therapiebereitschaft von vornherein mit ein. Die Alterspsychotherapie hat aber erst auf der Grundlage der Neurowissenschaften ihre volle Akzeptanz erfahren.11 Wucherer-Huldenfelds Überlegungen zur offenen Weite unseres Da-Seins führen uns zu einem Verstehen des tragenden Grundes. Der Grund des Menschseins zeigt sich in gesammelter Offenheit, in der Sammlung auf das Sein, in der offenen Weite des Wesens der Wahrheit des Seins. Im Durchlaufen der Zeit-Räume der Lebensalter lotet der Mensch auf den Wegen der Selbsterfahrung seine Seele aus. Die dabei sich erschließende Weite des Daseins entspricht dem in Heraklits Fragment 45 über die Weite und Tiefe der psych¦ angesprochenen unergründlichen Lûgos der Seele.12 Auch Blaise Pascals viel zitiertes Memorial verweist darauf, dass sich die Seele nicht mit Worten oder dem Verstand, sondern eher in den Regungen des innersten Menschenwesens erfahren lässt. Selbsterfahrung gründet aus dieser Sicht in der Sammlung auf die abgründige 11 Maercker : Alterspsychotherapie und klinische Gerontopsychologie. 12 Vgl. Wucherer-Huldenfeld: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, 335.

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Wahrheit des Seins, in der das Wesen des Menschen ruht. Die offene Weite entbirgt sich somit als wesentliches Ziel einer Psychotherapie in allen Lebensaltern. In einer Kindertherapie müssen die Eltern und vor allem der Therapeut selbst Pate stehen für das noch lange nicht Verständliche in Hinsicht auf die noch verschlossenen, eingeschränkten Entwicklungsmöglichkeiten, die es freizulegen gilt. Wir dürfen nicht vergessen, dass schon das Kind Anspruch auf die Erörterung von spirituellen Fragen hat, sosehr dies heute auch beiseitegeschoben werden mag.13 Im Erwachsenenalter und im Alter kann den Patienten jedoch der Blick für die Beengungen in ihrem Dasein schrittweise geöffnet und erhellt und ein Verständnis und eine erste Ahnung in Bezug auf ihr Getragenwerden und ihre Möglichkeiten zur Weitung in Gang gebracht werden. Gerade in Psychotherapien von reifen und älteren Erwachsenen geht es fast immer um existenzielle, oft auch spirituelle Fragen, um das Ringen um Vergebung und Versöhnung und oft um eine sich entwickelnde Äquivalenzbeziehung zwischen dem Patienten und dem oft jüngeren oder gleichaltrigen Therapeuten.14 Diese Gedanken führen weiter zur psychotherapeutischen Bedeutung von Befreiung, die meines Erachtens auch für andere Formen der Begleitung wichtig ist. Wucherer-Huldenfeld betont ausdrücklich, Befreien sei nicht als Freimachen von Leiden zu verstehen, sondern als Ermöglichen des optimalen Sehen-, Hören-, Erkennen und Anerkennen-Könnens dessen, was sich uns aus dem Offenen unserer Welt zuspricht. In diesem Sinne ist auch das Begleiten und Annehmen des Schicksals ein Freiheitsgeschehen. In der ständigen Befreiung geschieht die Unverborgenheit, das Entbergen als Grundgeschehen der Ek-sistenz. Verhelfen wir jemandem zum Freisein, kann er / sie aus dieser Erfahrung heraus auch anderen wiederum zur Freiheit verhelfen. Eigentliche Befreiung ist Freiwerden für die Wahrheit der Unverborgenheit. Therapie ist dort, wo der Mensch im Sinne Wucherer-Huldenfelds als Wahrheitswesen und die Psychotherapie als Wahrheitsgeschehen gesehen wird, eine Begleitung vom Schein zum Sein. Mir scheint es wichtig, diesen Gedanken wiederum auf Pädagogik, Pflege und Pastoral zu erweitern, da auch hier derartige Wahrheitsprozesse geschehen, freilich mit anderen Zielsetzungen. Trotz aller Beschränkungen in der Berufspraxis, sei es als Therapeut, Lehrer, Erzieher, Seelsorger oder geistlicher Begleiter, können wir Menschen jedes Lebensalters in ihrem Schicksal begleiten und versuchen, es ihnen verständlicher, transparenter und erträglicher zu machen, und sie darin unterstützen, mit dem Schicksal umzugehen und es selbst zu 13 Vgl. Schweitzer : Das Recht des Kindes auf Religion. 14 Vgl. Rey, Hess: Die Reise ist noch nicht zu Ende. Siehe auch Bösch: Spirituelles Heilen und Schulmedizin.

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gestalten. Etwas selbst in die Hand zu nehmen, bedeutet immer auch ermächtigt sein, sich selbst und andere immer wieder neu freizugeben. So können sich ein vertiefendes Reifen und Genesung entwickeln. Nicht nur aus der Psychotherapie, sondern auch aus den bereits erwähnten Fachbereichen und nicht zuletzt aus der Literatur ist uns bekannt, welche beachtenswerten Entwicklungen hin zu einem Erahnen des Daseins als einem weiten, offenen und befreienden Sein oft junge Menschen in schwierigsten Lebenssituationen aufgrund gelungener Interventionen durch weise vorausschauende Erwachsene und Verantwortliche nehmen können. Nicht immer sind es die Worte in der Psychotherapie, die den Verstehenshorizont für das menschliche Dasein öffnen, oft kann es auch das geschriebene Wort in der Literatur sein, das Eintauchen in Kreativität innerhalb oder außerhalb einer Therapie, die Kunst oder eine religiöse und existenzielle Erfahrung.15 Wir sehen deutlich, dass sich die in der modellhaften Einteilung angeführten Strukturelemente zwischen Anfang und Ende, Entstehen, Geburt, Sterben und Tod, in den verschiedenen Lebensaltern nicht wirklich trennen lassen, da sie je immer weiter-, voraus- und auch zurückwirken und in einer ständigen wechselseitigen Bedingung stehen. Das Modell ist auch nur als eine mögliche sinnvolle Abfolge zu verstehen. Damit wird aber umso deutlicher, dass gerade dem Anfang und Ende außerordentliche Bedeutung zukommt.

VI.

Ende im Anfang, Anfang im Ende

Das Gewahrwerden der »Endlichkeit« wie des »Sterblichseins« begleitet den Menschen für gewöhnlich schon ab dem Kindesalter als erfahrbares Existenzial, wenngleich diese Erfahrung mit zunehmendem Alter eine je neue Färbung und Dimension erhält. Das menschliche Leben als »Sein zum Tode« mag im Dasein des jungen Menschen noch fern erscheinen, doch unabhängig vom Umgang mit diesem Strukturelement – ob in sich ängstigender, verdrängender oder ersehnender Weise – wird der Tod als zum Leben gehörig erfahren. »Sein zum Tode« ist ein Existenzial, eine ontologische Aussage, insofern der Tod wie das Leben in das Sein hineingenommen wird. Der Tod als nur existenzielle Interpretation ist dem Bereich des Ontischen zugehörig im Sinne eines Endes eines biologischen Körpers. Viel bedeutsamer als die Bestimmung des Todes als »Ende« des In-derWelt-Seins sind Heideggers Reflexionen über die »Freiheit« zum Tode, sein Appell, eigentlich zu leben, um wirklich wir selbst und wirklich frei werden zu können. In diese Richtung zielt auch die Erinnerung an das »Sich-verhaltenMüssen zum Tode«, das uns mit dem Bewusstsein um das eigene Sterblich-Sein 15 Siehe dazu auch den Beitrag von Hansjörg Reck im vorliegenden Band.

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immer wieder aus der Verlorenheit und Verfallenheit an die Alltäglichkeit ins offene Dasein zurückholen kann. Ganz wesentlich scheint mir auch Heideggers Aussage »Zur Geburt müssen wir notwendig in einen Rücklauf gehen, aber das ist nicht einfach die Inversion des Seins zum Tode«16. Condrau interpretiert diesen Satz dahingehend, dass das, was wir meinen, zuerst gewesen zu sein, in der Erkenntnis das Späteste sei. So, wie uns nach dieser Betrachtung der Anfang von Geburt an bis ans Ende begleitet, so begleitet uns auch der Tod durch das ganze Leben hindurch, sterben wir den Tod im Leben in dauerndem Lassen, Abschiednehmen und Durchbrechen von Nichtigkeiten und Einengungen.17 Bei Wucherer-Huldenfeld finden wir einige Aussagen zur Zeitlichkeit des menschlichen Lebens, aus welchen wir, ohne dass es dort explizit gesagt ist, auch Aussagen zum Tod ableiten können. Es geht dabei um den Gedanken der Gleichursprünglichkeit der Anwesenheit von Gewesenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem. Aus dieser Sicht ist Gewesenes nie ganz vorbei, nie bloße Vergangenheit, sondern etwas, das ständig verborgen anwesend ist und in diesem Sinn behalten wird.18 Auch wenn sich diese Ausführungen viel einfacher und eindeutiger auf Vorgänge des Gedächtnisses, der Erinnerung und insofern auch auf die menschliche Entwicklung und den Fortgang einer Körpertherapie oder Psychotherapie anwenden lassen, so sind wir nicht weniger bei den Fragen des Traums und des Todes herausgefordert, diese Gleichursprünglichkeit zu bedenken. Erlaubt uns das Durchlaufen der Lebensalter im Zusammenleben der Generationen eine Öffnung und Wandelbarkeit des Gewesenen, in deren Licht wir auch den Traum analysieren können? Könnte der Tod die letzte Antwort einer möglichen Offenheit und Wandlung in unser ontisches Dasein hinein und in das ontologische Dasein hinaus sein?19

VII.

Dasein als Verweis auf das gemeinsame abgründige Mysterium des Ursprungs

An dem auf das Mysterium des gemeinsamen abgründigen Ursprungs verweisende Dasein haben alle Lebensalter Anteil ohne jegliche chronologische Hierarchie. Dass sich mit zunehmendem Alter, Lebenserfahrung, geistiger wie schöpferischer Kraft und spiritueller Entwicklung eine immer wieder neue Annäherung und ein immer weiterer Horizont des Verstehens und ebenso des 16 17 18 19

Heidegger: Einleitung, 124 f. Vgl. dazu Condrau: Daseinsanalyse, 91 – 94. Wucherer-Huldenfeld: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, 388 – 390. An dieser Stelle ist eine Reflexion Wucherer-Huldenfelds über die Einheit unserer Lebensgeschichte mit seinem Hinweis auf Augustinus: Confessiones X, 17, bedeutsam. Vgl. ebd., 390.

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Nichtverstehens eröffnet, ist gut nachvollziehbar. Allerdings dürfen wir die tiefen Erfahrungen von auch schon sehr jungen Menschen, oft noch im Kindesoder Jugendalter und vielfach aus der Erfahrung des Leids geschöpft, nicht außer Acht lassen. Derartige eigene oder auch durch Andere vermittelte Erfahrungen sind für die meisten Menschen tief berührend. Sie machen oft sprachlos oder holen einen später immer wieder ein. Aus der Literatur kennen wir solche auf Transzendenz verweisende Erfahrungen, die ein »Mysterium« erahnen lassen, zumal im Rahmen ausgestandener schwerer Verlusterfahrungen durch Krankheit oder Tod, aber auch durch Gebet und Meditation. Diese allumfassende Sicht eines auf ein Gemeinsames Verweisenden, das als gemeinsamer Ursprungsbezug gesehen werden kann, gibt dem menschlichen Leben in seinem Dasein die Besonderheit von Freiheit und Unbegreifbarkeit, aber auch Angst und Leid. Mit Wucherer-Huldenfeld gesehen, offenbart Nähe und personale Verbundenheit die Menschen gerade in ihrer jeweiligen Verschiedenheit und Andersartigkeit, sodass ihr Dasein füreinander in differenzierender Vereinigung auf das abgründige Mysterium ihres gemeinsamen Ursprungs verweist. Meines Erachtens gilt es hier zu ergänzen, dass diese abgründige gegenseitige und gemeinsame Wesensenthüllung jeweils nur im Erahnen der eigenen Wesensfremdheit und Wesenseröffnung sich selbst gegenüber in Empfang genommen und im Vertrauen auf den gemeinsamen tragenden und Halt gebenden Grund an ein Du zurückgegeben werden kann. Dieser Prozess scheint im Horizont des Mitseins, Leiblichseins und Gestimmtseins durchaus von Freude, aber auch von Leid und tiefer Angst begleitet. Die Religionen und Philosophien lehren uns seit jeher, dass Menschwerdung ohne Leid nicht möglich ist. Leiden im Leben gehört wie die Freude am Leben bei gleichzeitigem Wissen um seine Vergänglichkeit zur conditio humana. Leiden gehört zum Dasein. Die Lebensalter mit dem notwendigen Durchschreiten von Zeit und Raum, mit dem Charakter des ständigen Werdens und AbschiedNehmens führen notwendig auch zur Frage nach dem Sinn des Daseins und Seins überhaupt. Augustinus Wucherer-Huldenfeld verweist diesbezüglich immer wieder auf 1 Kor 4,7b (»Und was hast du, das du nicht empfangen hättest?«). Der Sinn von Sein erschließt sich in jedem Lebensalter auf seine Weise und für alle Phasen des Lebens vom Gabecharakter des Seins her, vom Sichverdanken und vom Sein-Lassen, das Anderen und Anderem Zeit und Raum gibt, um zu sein.

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Hansjörg Reck

Schönheit und Kunst, Glaube und Gebet. Zur daseinsgemäßen Bedeutung von Kunst, Therapie und Religion

I.

Der Beitrag des Arztes

Kunst ist, recht besehen, undenkbar ohne Glauben und erfüllt gemeinsam mit ihm den Auftrag eines Geschicks. Gilt das auch für die ärztliche Kunst? Aus der Sicht des naturwissenschaftlich denkenden Arztes sind die in der Überschrift meines Beitrags genannten Themen für einen Heilungsvorgang obsolet. Was haben Kunst und Schönheit, Glaube und Gebet in einem Heilberuf zu suchen? Ebenso fragwürdig erscheint, ob umgekehrt der Arzt zu ihnen etwas beizutragen hat. Selbst darin tätig, will ich trotz derlei Zweifel einige Gedanken zu diesen Themen fassen. Denn erstens sind Kunst, Gemüt, Glaube und Gebet oft auch im ärztlichen Gespräch, vor allem in tiefer gehender Psychotherapie, von Bedeutung, denn Patienten kommen mit ihren Fragen, zunächst zur Kunst des Heilens, dann aber auch zur Religion, zur Möglichkeit der Erheiterung ihres Gemüts, zur Kunst, und erwarten darauf »Antworten« von ihrem Arzt. Zweitens sind die Gedanken des Arztes gerade aus seiner Distanz oft hilfreich, und drittens liegen die genannten Themen gar nicht so weit von der Heilkunst entfernt. Mit unserem daseinsanalytischen, d. h. phänomenologischen Zugang soll »das, was sich zeigt, so, wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen gelassen« werden.1 Trotz der Unterschiede zwischen ärztlichem, künstlerischem und seelsorgerischem Hören, Verstehen und Entsprechen, gibt es im Hinblick auf ein zeit- und daseinsgemäßes Verständnis des Menschen doch auch Gemeinsamkeiten.

1 Heidegger: Sein und Zeit, 34.

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II.

Hansjörg Reck

Die Kunst des Heilens und die Künste

Wenn Heiltätigkeit als Heilkunst, Genesung als Geschenk verstanden werden, wenn dabei das Eigenste, Einmalige zum Vorschein kommt, dann haben Kunst und Therapie durchaus Gemeinsames. Worin besteht die Kunst des Heilens? Darin, Gesundes zu fördern und Krankes zu eliminieren. Und womit können auch andere Künste heilsam sein? Die Dichtung durch das Wort, die darstellenden Künste durch Farbe, Form und Gestalt, die Musik durch den Klang – womit sie »Welten« eröffnen und so befreien. Kunst und Heilkunst gemeinsam ist ihr jeweiliger Bezug zur Natur: Ihre Offenheit für das, was jetzt anspricht und gehört sein will, ist die Voraussetzung für ein adäquates Handeln. Die Einheit von Natur und Mensch, dieser Ein-klang, ist in der Therapie wie in der Kunst das Entscheidende. Wir können diese Einheit wahrnehmen, wenn wir auf den Rhythmus der Natur achten und sie von sich her sprechen lassen. Wir können dann diesen uns bestimmenden Rhythmus in ihr und in der Sprache des Kunstwerks erfahren. Wenn wir in der Natur nicht nur einen »Bestand« sehen, dessen man sich fraglos bedienen kann, lohnt es, auf eine andere »Naturerfahrung«, z. B. die eines Dichters, zu hören. Heidegger weist in seiner Interpretation von Hölderlins Gedicht Wie wenn am Feiertage … darauf hin, dass Hölderlin die Natur die »mächtige«, »göttlichschöne« und »heilige« nennt, weil sie in ihrer Allgegenwart »die äußersten Gegensätze des höchsten Himmels und des tiefsten Abgrundes einander entgegen[hält]«.2 Der Geist der Natur waltet als die Auseinander-Setzung, indem sie »alles Anwesende in die wohlgeschiedenen Grenzen und Gefüge seiner Anwesung einsetzt«.3 Sie ist älter als die Zeiten und steht noch über den Göttern, denn sie gewährt die offene Weite, »darinnen die Unsterblichen und Sterblichen und jeglich Ding sich begegnen können«.4 Die Dichter können dieses heilige Walten nicht durch eigenes Sinnen erlangen oder gar in seinem Wesen ergründen. Indem sie der Natur entsprechen, sind sie »Ahnende« und berufen, ihr Lied zu singen.5 Der Ursprung eines Kunstwerks, eines Liedes, eines Menschenkindes liegt nicht im schaffenden oder empfangenden Menschen, sondern in ihnen selbst.6 Der Ursprung der Heilung ist die gesunde, alles ins Wohlgefüge einsetzende Natur, die auch im Kranken selbst waltet. Die Hoffnung und der Glaube, die eine Heilkunst begründen, setzen auf die immer noch offenen Möglichkeiten im Rahmen der Gesetze der Natur, die es auszuloten gilt. So, wie der Künstler seinem Ruf folgend das sich ihm Zusprechende im Kunstwerk anwesen und 2 3 4 5 6

Heidegger: Erläuterungen, 53. Siehe dazu auch Helting: Heideggers Auslegung. Heidegger: Erläuterungen, 60. Ebd., 61. Vgl. ebd., 55, 66. Vgl. Jähnig: »Der Ursprung des Kunstwerkes«, 228.

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anfangen lässt, so ereignet sich in einer Therapie unter Beachtung der Vorgeschichte, der vorliegenden Befunde und der not-wendigen Eingriffe Heilung. Freilich, Gesundheit wird auch anhand von Normen bestimmt, an die sich Arzt und Patient halten. Gleichzeitig sollte jedoch die Einmaligkeit jedes Menschen, die jedem Alter seine eigene Schönheit verleiht, wie die Einzigartigkeit eines Kunstwerks beachtet werden. Einer Therapie sollte folglich ein Naturverständnis nicht nur im Sinne einer Anpassung an Normen, sondern im Sinne des Hervortretens, des Aufgangs der je eigenen Natur zugrunde liegen. Die Kunst des Arztes beinhaltet vor allem ein Sich-Auskennen, um seinem Patienten helfen zu können, der trotz Gebrechlichkeiten immer noch als Kunstwerk der Natur zu sehen ist. Doch ist der Arzt überdies auch der »heiligen Natur« wie der Dichter ahnend verbunden, der er in ihrem Heilvorgang beisteht: natura sanat, medicus adjuvat. Ob es sich um das Heilen eines Organs oder einer »Welt« handelt, der Arzt steht zwischen der ihn wie seinen Patienten erschütternden Realität einer möglicherweise schweren Erkrankung und den erfahrungsgemäßen Möglichkeiten ihrer Bewältigung, die beide als Geschick zu sehen sind. Er steht im Anblick eines erkrankten Menschen zwischen persönlicher Betroffenheit und der kühlen Sachlichkeit, mit der er seinen therapeutischen Eingriff ausführt und sich bemüht, die gesunde Natur seines Patienten zu erkennen und hervorkommen zu lassen. Mit seinem Einsatz wachsen gegenseitiges Vertrauen, Attraktivität und Zuneigung. Doch wie die Kunst zum bloßen subjektiven Erlebnis, zur Geschmackssache bzw. zur Angelegenheit von Moden werden kann, so zeigen sich heute auch in den Heilungserwartungen große individuelle Ansprüche auf die Wiederherstellung normierter Gesundheit und Wellness-Konsum. Kunst geht aber über den bloß sensuellen Genuss hinaus. Und so, wie sich wahre Kunsterfahrung nicht in einem passiven Kunstgenuss erschöpft, sondern selbst aktiv werden lässt, so sollte auch die Kunst des Heilens nicht nur einer »gehobenen Illusion« gegen die vermeintliche Unerträglichkeit des Seins dienen,7 sondern das Sein in seinem ganzen Sinn wieder erfahrbar werden lassen. Vor allem in der Psychotherapie bedeutet das nicht nur eine Wiederherstellung des alten Zustandes oder eine Erfüllung wahnhafter Träume, sondern ein Wieder-Holen, d. h. AnwesenLassen des Gewesenen im Hinblick auf ein Neues. Zwar lässt sich nicht mit den Mitteln des Künstlers und des Therapeuten sagen, was das Wesen ihres Werkes ist. Darüber nachzudenken bleibt Sache des Philosophen. Doch könnten sie sich in »jenem Sehenlassen, das das Wesenhafte der Dinge in den Blick bringt«, treffen.8 7 Vgl. Wucherer-Huldenfeld: Ursprüngliche Erfahrung, 455. Mehr dazu am Ende des Aufsatzes. 8 Heidegger: Bemerkungen, 16.

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Sie könnten – jeder in seiner Weise –, von der Sache angesprochen, ihr helfen, zum Vorschein zu kommen: in einem ontischen wie in einem ontologischen Bezug. Jenseits einer bloßen Ästhetik geht es in allen Bereichen darum, das, was ist, auch das Schreckliche und Schmerzliche, sichtbar werden zu lassen, wobei »das Ereignishafte, daß das Werk als dieses Werk ist […], das Werk vor sich her wirft«, indem es selbst sein Ursprung ist.9 Weil Kunst sichtbar zu machen hat, was ist (Paul Klee) und darin not-wendig ist, kann das Gemüt des Künstlers allerdings gewaltigen Anforderungen ausgesetzt sein, denen es zu entsprechen gilt. Sie können ihn überbeanspruchen: nicht weil sein Gemüt zu schwächlich, nicht weil seine Kunst zerstörerisch wäre, sondern weil das Zusagende so gewaltig, so erschütternd, die zu leistende Arbeit fast erdrückend ist, und die Mittel dafür zu dürftig sind. Kunst bildet dabei die Natur, das Leben, nicht nur ab, sondern zeigt – besonders eindrucksvoll etwa bei Giacometti und Picasso –, wie es begegnet. Ein Porträt beispielsweise ist nicht nur objektives Dokument, sondern kreative Auseinandersetzung des Künstlers mit seinem Gegenüber, bringt damit »die Dinge […] – Kontroversen und Gegensätze provozierend – in Bewegung«.10 Es ist der Anblick eines Menschen, der den Künstler zum Entstehenlassen seines Porträts bestimmt. Und es ist dieser Anblick, der vom Betrachter wahrgenommen werden will. Heidegger bringt es auf den Punkt: »Wenn der Künstler einen Kopf modelliert, so scheint er nur die sichtbaren Oberflächen nachzubilden; in Wahrheit bildet er das eigentlich Unsichtbare, nämlich die Weise, wie dieser Kopf in die Welt blickt, wie er im Offenen des Raumes sich aufhält, darin von Menschen und Dingen angegangen wird. Der Künstler bringt das wesenhaft Unsichtbare ins Gebild und läßt, wenn er dem Wesen der Kunst entspricht, jeweils etwas erblicken, was bis dahin noch nie gesehen wurde.«11

Das gilt wohl nicht nur für Plastik- und Bild-, sondern auch für Sprach- und Musikwerke. Das gilt insbesondere für die Darstellung eines religiösen Themas im Kunstwerk, mit der »kein Bild von Gott gemacht« wird, sondern die diesen selbst anwesend sein lässt: »Das Bildwerk des Gottes […] ist kein Abbild, damit man an ihm leichter zur Kenntnis nehme, wie der Gott aussieht, aber es ist ein Werk, das den Gott selbst anwesen läßt und so der Gott selbst ist.«12 Kunst kann als Gestalten, Nennen, Erklingenlassen eine Antwort auf das Ansprechende sein, die dem Anwesend-sein-Gelassenen entspricht und so ein »Symbolisieren« im ursprünglichen Sinn des Wortes ist. Sie steht in einer innigen Beziehung zu dem, 9 Jähnig: »Der Ursprung des Kunstwerkes«, 245. 10 Picasso / Goeppert: Das Antlitz der Muse, 48. 11 Heidegger : Bemerkungen, 14. Siehe dazu auch Heidegger : Der Ursprung des Kunstwerks, 69. 12 Heidegger : Der Ursprung des Kunstwerks, 43 [Herv. i. T.].

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was sich zu erkennen gibt, aber noch unformuliert, ungesagt ist und nie gänzlich ausgesagt werden kann.13 Indem wir uns dergestalt für das Sein aller uns angehenden Dinge öffnen, kann auch göttliches Licht in die Welt kommen. Um solche Beziehungen aber handelt es sich häufig in der Psychotherapie. Soll diese eine Kunst sein, geht es auch hier nicht nur um eine oberflächliche Behandlung, sondern um das allmähliche Zum-Vorschein-kommen-Lassen eines Weltbezugs und um eine Befreiung zu der einmaligen Verantwortung des Patienten. In einer wo möglich »vorausspringenden Fürsorge«14 werden diesem nicht nur »Antworten« auf seine Fragen »geliefert«, sondern Ruhe und Gelassenheit gewährt, um zu eigenen Einblicken und eigenverantwortlichen Handlungen zu gelangen. Was hat nun aber Kunst heute noch mit Glauben zu tun? Eine Besinnung darauf wird im Folgenden versucht.

III.

Glaube und Gebet

1.

Besinnung

Gebet und Glaube, die Feier und das Fest sind religiöse Ereignisse, die aus dem Alltagstrott herausragen können. Sie sind auch aus ärztlicher Sicht von Interesse, weil sie zum Dasein des Menschen gehören und weil ihr Versäumnis, gar ihre Verhinderung zu Mangelerscheinungen in Geist und Gemüt führen. Feiern, Feste und Gebetszeiten bieten nicht nur Möglichkeit zur Entspannung und Erholung, sondern ebenso sehr zur Besinnung. Sie bringen nicht nur einen Abstand vom gewohnten Tun, sondern auch Anregung für neue Gedanken. Wenn wir uns in unserer Arbeit verlieren, gegen, statt mit der Natur schaffen, wenn die tages- und die jahreszeitlichen »Pausen« und Besinnungen, die gemeinsamen Mahlzeiten, die Sonn- und Feiertage als solche immer seltener werden und entfallen; wenn stattdessen alle Zeiten gleich viel gelten, eine Vermischung, damit Nivellierung hervorragender Werte, d. h. Entwertung von Feiertag und Alltag, Kirche und Staat, Religion und Therapie, stattfindet, droht uns kulturelle Verarmung. In ihrer Eigenständigkeit hingegen gewännen sie sowohl an Eigenem wie auch Gemeinsamem. Oft genug geraten wir in unserer alltäglichen Tätigkeit an Grenzen und spüren Zweifel statt des gewohnten Glaubens. Ein Innehalten und ein »Gebet« könnten befreien und helfen, auch über höhere Hürden zu gelangen. Wenn wir »Gebet« und »Glauben« in unserem Dasein in einem weiteren Sinne betrachten, umfasst das Beten a) Wünschen, 13 Vgl. Char: Einen Blitz bewohnen, 21. 14 Heidegger : Sein und Zeit, 122.

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Bitten, Handeln, b) Gedenken und Danken, c) Loben und Preisen; das Glauben schließt a) Vertrauen und b) Zuversicht ein. All das ist jeweils auch in einer weitsichtigen Therapie, besonders in einer analytischen Psychotherapie, von Bedeutung. Glaube und Gebet sind vielfältige Beziehungsweisen, die genügend bedacht und gepflegt sein wollen. Die uns herausfordernde Natur, »das Heilige«, ist auch bei ihnen das Verbindende, das, indem es zum Gebet ruft, einen Glauben bestimmt.

2.

Glaube

Dass im Gebet Beziehung wächst, setzt Glauben voraus und stärkt diesen zugleich. Auch in der Therapie wachsen Vertrauen und Zuversicht, d. h. Glaube, während einer guten, d. h. erfolgreichen, Behandlung und mit dem Glauben die anfänglich noch fragliche gegenseitige Akkreditierung. Die Pflege von Kunst, von Natur, Forschung und Politik kann Glauben erwecken. Umgekehrt bedarf es bereits des Glaubens an Werk und Wachstum, an Hilfe und Heilung, damit sie erfolgen. Ohne den Glauben an unsere und die Zukunft unserer Kinder wäre das Leben, wären gar Krisenzeiten schwer zu bewältigen. Der Glaube gehört zu unserer »Welt«. Wer an Gott glaubt, bejaht sein Schicksal, lässt sich »auf Gott hin«, ohne Bedingungen, los, was zwar »keineswegs Gleichgültigkeit gegenüber dem Unterschied von Gut und Böse« bedeutet, aber doch offen lässt, in jedem Menschen immer noch die »Möglichkeit des ursprünglich Guten« zu sehen.15 Gleichgültigkeit oder eine intellektualisierende Glaubensabweisung verschließen sich hingegen nicht nur neuen Einfällen, sondern göttlichem Zuspruch und führen schließlich zu einem verstockten Gemüt. Bach lässt uns im Eingangschor seiner Kantate »Herr, Deine Augen sehen nach dem Glauben«16 meisterhaft Gottes Kampf um sein Ebenbild, den Menschen, erfahren, während die Stimme in der folgenden Alt-Arie mit einem dissonanten »Weh« beginnend ihre Klage über die Verkennung der Seele und ihre zunehmende Trennung von Gottes Gnade hören lässt. Gerade weil Glaube Halt gebend ist, regt sich ein Bedürfnis nach dessen Durchsetzung, Institutionalisierung und Alleinrecht, notfalls mit Schwert und Zündstoff. Glaubenskriege terrorisieren immer wieder die Menschheit. Ganz ähnlich wie die Kunst kann aber lebendiger Glaube, wie er sich in der christlichen Kirche etwa in der Liturgie manifestiert, nicht erzwungen und von Behörden gemacht werden. Selbst der Papst kann nur, wie Ratzinger feststellt, demütiger Diener ihrer rechten Entwicklung sein. Die Liturgie »lebt nicht von 15 Welte: Religionsphilosophie, 162 – 168. 16 Bach: Herr, Deine Augen sehen nach dem Glauben, BWV 102.

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den Einfällen des einzelnen, oder irgendwelcher Planungsgruppen. Sie ist ganz umgekehrt der Einfall Gottes in unsere Welt […]. Er allein kann die Tür ins Freie öffnen.«17 Je mehr sich Priester und Gläubige diesem Ein-fall Gottes hingeben würden, desto neuer, persönlicher und wahrer werde die Liturgie. Es gibt eine Angewiesenheit von Mensch und Gott aufeinander.18 Weil man es aber »bei dem unsichtbaren, dem fernen und geheimnisvollen Gott« nicht aushält, entsteht das Bedürfnis, Götter auf die Erde zu holen, greifbar werden zu lassen, und dann wieder die Tendenz, sie zu vernichten, weil sie den starren menschlichen »Idealvorstellungen« doch nicht entsprechen. Eine solche eigenmächtige kultische Gottesverehrung kommt nach Ratzinger einem »Herunterziehen Gottes ins Eigene« und einer »leeren Spielerei« gleich, die nur noch Selbstbefriedigung ist. »Jene Erfahrung der Befreiung stellt sich nicht mehr ein, die überall da Ereignis wird, wo wahre Begegnung mit dem lebendigen Gott geschieht.«19 Die Offenheit für das Geheimnisvolle schwindet mit der Ausgrenzung alles Fremden von Mensch und Gott: Von Menschen ersonnene und fabrizierte Götter geben Anlass zu Glaubenskämpfen. Ein sich selbst schenkender Gott, für den es nur offen zu sein gilt, ist kein Grund für solchen Streit. Wenn oben vom »fernen und geheimnisvollen Gott« die Rede war, könnte der Eindruck entstehen, seine Unbegreiflichkeit stehe im Widerspruch zur Annahme einer personalen Gottesbeziehung. Dieser Eindruck hebt sich jedoch auf, wenn nicht versucht wird, den unbegreiflichen Gott zu ergründen, oder sich statt seiner Gottsurrogate zu schaffen, wenn es vielmehr ihm überlassen wird, aus seiner Unbekanntheit herauszutreten und sich selbst zu zeigen: in der Stille, in der Ausgesetztheit, in der Kunst. »Gott ist der ganz Andere, aber er ist doch mächtig genug, um sich zeigen zu können«20. Was aber, wenn er sich nicht zeigt, er trotz der Not, der Krankheit und der Kriege fern bleibt? Wenn auch die größten Opfer und inständigsten Gebete seine Hilfe nicht herbeiführen? Oder ist er als »fehlender« Gott gleichwohl anwesend und will so ausgehalten werden? Die christliche Kirche hat die heidnischen Opfergaben, die die Götter versöhnlich stimmen sollten, hinter sich gelassen. In ihrer Liturgie verbinden sich Hoffnung und Zuversicht, Gebet und christlicher Glaube. Letzterer bekennt sich zur Inkarnation Jesu Christi, seinem Opfertod, den Abstieg in das Schattenreich des Todes, zu seiner Auferstehung und einem ewigen Leben. Die Inkarnation, die ja die Empfindung menschlicher Sorge, Not und Verlassenheit einschließt, sowie die Eucharistie werden auch in der Kunst als »Geschenk« für den Menschen dargestellt. Das Glaubensbekenntnis aber kann statt nur als Vorschrift der 17 18 19 20

Ratzinger: Der Geist der Liturgie, 145. Ebd., 21, sowie Hölderlin: Sämtliche Werke, 317, 350. Ratzinger: Der Geist der Liturgie, 19. Ratzinger: Der Geist der Liturgie, 107; vgl. ders.: Einführung in das Christentum, 112, und Hölderlin: Sämtliche Werke, 357.

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Kirche auch als Gebet gesehen werden, in dem die Glaubenden Gott selbst anwesen lassen. So, wie erst die Bewegung im Bildwerk, in der Skulptur, im Gedicht und in der Musik das Leben, wie es uns begegnet, darstellt, so wird Religion auch erst durch eine vitale, personal-dialogisch sich ereignende Gottesbeziehung zur lebendigen Religion. Gott wird dann nicht als ein »höchstes Seiendes« vor- und sichergestellt, sondern in seinem Sein erfahrbar : »[…] indem sich ereignet, was ist, ist Er da, gegenwärtig, anwesend, in seinem alles tragenden Anwesen ist er keinem Ding und Menschenwesen fern. Wir vermögen seiner Gegenwart inne zu werden. Und es ist uns gegeben, uns dadurch in sie zurückzurufen, daß wir uns sammeln, d. h. aus der Zerstreuung in die Gegenwart zurückholen, aus der Zerrissenheit durch ein Vielerlei von Sorgen und Interessen zurücknehmen auf das einfache und weite ›Da‹ unseres Da-seins. Darin vermögen wir der Abgründigkeit des Seins Raum zu geben.«21

3.

Gebet

Ein »Gebet« im Sinne der Sammlung hin auf eine Bitte spielt auch beim Wunsch nach Gesundheit und also bei der Heilung eine Rolle. Es ist der Wunsch nach Leben, Entfaltung, Liebe, Frieden und Freiheit, deren Gefährdung sich in Verstimmungen wie Angst, Trauer, Schuld meldet. Ein betendes Wünschen, Hoffen, Wollen setzt aber ein gewisses »Schon-dort-Sein«, Hin-gabe, Gelassenheit und einen Glauben voraus, der wiederum im Sich-Sammeln und im Danken für die Gabe der Erfüllung vermehrt wird. Im religiösen Gebet ist der Gläubige auf Gott hin mit Bitten, Danken und Loben bezogen. Nach Welte, der ein Gebet des Schweigens, der Sprache und des Kults unterscheidet, ist der Betende »zuerst von Gott angerufen und betroffen, und dann sucht er seinerseits in seinem Gebet Gott zu berühren«.22 Das wesentliche Gebet erkennen wir nach Welte dann, »wenn wir sehen, dass es sowohl dem Geheimnis Gottes wie dem des Menschen […] angemessen ist«.23 Aber auch der Ungläubige, der Zweifler, der Agnostiker kann Stunden finden, in denen sein Fragen Gebetsform im weiten Sinne annimmt. Man kann beten, ohne einer bestimmten Glaubenslehre verpflichtet zu sein. Im Gebet sammeln wir unsere Bitten und unseren Dank nicht im Sinne eines materiellen Opfers, sondern im Sinne eines Andenkens, d. h. eines geistigen Verhältnisses mit Gott. Somit ist das Beten ein geistbeseeltes Sprechen, das »Gespräch« mit einem Gott, der zwar nicht nach Menschenart antwortet, aber wegweisende Winke geben kann. 21 Wucherer-Huldenfeld: Ursprüngliche Erfahrung, 155. 22 Welte: Religionsphilosophie, 196. 23 Ebd., 171.

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Solch ein Gebet ist zunächst eine ganz persönliche Sache des Menschen. In der Feier, zu deren Gelingen die Kunst beiträgt, wird das Beten jedoch ein gesellschaftliches Ereignis, das im Fest seinen Höhepunkt erreicht. Der Dialog zwischen Gott, Mensch und Natur bleibt aber auch in der liturgischen Gestalt zentral, die nicht in erster Linie einer versammelten Gruppe, sondern als »kosmische Liturgie«24 einer Verehrung des anwesenden Gottes mit dem ganzen Kosmos dient. Brot und Wein des Mahles verdanken wir den periodischen Gaben des Himmels und der Fruchtbarkeit der bestellten Erde, die in der Eucharistiefeier als solche vergegenwärtigt werden. Das Gebet kann ganz verschiedene künstlerische Formen finden. In den großen Teilen der christlichen Messe, Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus und Agnus Dei, werden Bitte, Dank und Verehrung des Herrn, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes in der Einheit ausgesprochen und in den Vertonungen von Meistern wie Bach, Bruckner, Haydn, Mozart, Schubert besonders innig gestaltet. So, wie die Psalmen, so, wie die »Bilder… zum Beten einladen, weil sie von innen her durchbetet sind«25, können diese Messen als Gebete der Komponisten verstanden werden und den teilnehmenden Zuhörer zum eigenen Gebet anregen. Ihre Musik bringt die Bitte um Erbarmen und die Verherrlichung Gottes zum Erklingen. In ihren stets verhaltenen, staunenden Darstellungen des »incarnatus est« lässt sie uns bei diesem Wunder im Credo – eingerahmt vom Glauben an den dreieinigen Gott, an die Auferstehung der Toten und an das Leben der zukünftigen Welt – nachdenklich werden. Es gibt aber wohl kein innigeres Gedenken der Beziehung zwischen Gott und Mensch als das Abendmahl, das die Kirche in der Eucharistiefeier wieder-holt und das auch in den verschiedenen Arten der Kunst Christus erneut anwesend sein lässt.

4.

Schönheit

Wenn wir mit Welte im Glauben »die Wurzel des religiösen Lebens«, im Gebet »die Blüte« sehen26, dann könnte uns auch Kunst als eine solche Blüte, als ein Gebet, erscheinen. Insbesondere die Kunstwerke im Kirchenraum, das Wort, die Musik, das Bild, die Plastik, die Architektur und der Schmuck sind schon in ihrer Entstehung nicht nur ein Werk des Menschen, sondern eine Begegnung, ein Gespräch mit dem ansprechenden Gott. Und diese Kunstwerke wollen nicht angebetet werden, sondern das Heilige anwesen lassen, dem die Verehrung gilt. Ein Kirchenraum soll das Wesenhafte des Heiligen bergen. Deshalb genügt zu 24 Vgl. Ratzinger: Das Fest des Glaubens, 67. 25 Ratzinger: Der Geist der Liturgie, 110. 26 Welte: Religionsphilosophie, 171.

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dessen Ausschmückung nicht irgendeine »Kunst«. Himmlisches und Irdisches sollen im sakralen Kunstwerk zusammenklingen. Als Kunstwerk füllt es nicht nur den Kirchenraum, sondern zeigt, wie die Sterblichen den weiten Raum zwischen Erde und Himmel wahrnehmen, enthüllen und erkennen können.27 Ratzinger sieht die großen Werke der Kirchenmusik als Geschenke, die nicht als »rationale Konstrukte«, sondern in einer »weiter gespannten Synthese von Geist, Intuition und sinnenhaftem Klang« entstanden, und deshalb kein Werk eines Augenblicks, sondern »Teilhabe an einer Geschichte« sind.28 Um dem Geist der liturgischen Handlung zu entsprechen, müsse Kirchenmusik demütig und ohne Effekthascherei in der Selbstdarbietung der Künstler sein, nicht den Beifall, sondern die Erbauung zum Ziel haben. Aber auch eine bloße »Gebrauchsmusik« verfehlt seiner Meinung nach den Auftrag von Kunst im kirchlichen Raum, wenn sie sich, statt den Schöpfer zu verherrlichen und die Stimme des Kosmos zu wecken und ihm seine Herrlichkeit zu entlocken, im gemeindlich Brauchbaren beruhigte. Weder ein solches schwächliches, noch ein vom puren Intellekt, von Rausch oder Virtuosentum geleitetes überschwängliches Lob erreiche »die Himmel«, die ihrerseits die Herrlichkeit Gottes rühmen. Entsprechendes gilt für die Skulpturen eines sakralen Raumes: Als Kunstwerke wollen sie nicht nur als bloße Darstellungen historischer Gestalten oder als Versinnbildlichungen irgendwelcher Eigenschaften verstanden werden. Indem sie nicht nur etwas abbilden, sondern es wieder-geben, lassen sie es für eine erneute Begegnung lebendig sein und der Künstler tritt dabei in den Hintergrund. Die betenden Hände Marias im Zentrum von Riemenschneiders Marienaltar in Creglingen29 vergegenwärtigen ihre große Andacht und bringen zugleich die Gläubigen zur Sammlung. Bei dem königlichen Reiter im Dom zu Bamberg ist nicht nur der Künstler unbekannt, sondern es bleibt trotz vielfältiger Deutungsversuche auch unklar, wen das Werk darstellt. Aber nach den exakten Beobachtungen und vorurteilsfreien Interpretationen von Möhring kann in dem Reiter, der mit seinem edlen Pferd in kraft- und würdevoller Haltung, doch unbewaffnet über Stein, Pflanze, Dämon schwebt, dessen breite Krone ihn weltliche Herrscher überragen lässt, der Blick und Wort zum Westchor und darüber hinaus in die Ferne einer Endzeit richtet, auch unter Hinweis auf Jes 11,4 und Joh 19,11 – 16 eine »Darstellung des Messias« gesehen und so vielleicht auch ein neuer Bezug zu ihm gefunden werden.30 Es ist dann nicht die »Vorstellung« eines Künstlers oder eines Interpreten, sondern die Wiedergabe einer geistigen Mitteilung, die hier zum Zwiegespräch im Gebet einlädt. 27 28 29 30

Vgl. Heidegger : Die Kunst und der Raum, 10; ders.: Bemerkungen, 10. Ratzinger: Liturgie und Kirchenmusik, 17 f.; vgl. ders.: Das Fest des Glaubens, 105 ff. Vgl. Bruhns, Schmidt-Glassner : Tillmann Riemenschneider. Vgl. Möhring: König der Könige.

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Wenn auf diese Weise die verschiedenen Künste den sakralen Bereich mit der Schönheit ihrer Gebilde nicht nur äußerlich schmücken, sondern einen wesentlichen Anteil am religiösen Leben haben, erhebt sich die Frage, was denn das Wesen des Schönen ausmacht, das es so nahe an Glaube und Gebet rückt. Unter dem Motto der viel zitierten Zeile »Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst« aus Eduard Mörikes Gedicht »Die Lampe« setzt sich WuchererHuldenfeld ausführlich mit dem ontologischen Verständnis von Schönheit und seiner Verdeckung durch das ästhetische Vorstellen auseinander.31 Er kritisiert, dass das Schöne im Horizont neuzeitlicher Ästhetik als bloßer Sinnesreiz missverstanden und dem Geistigen untergeordnet wurde. Die Künste hätten sich dieser Theorie entsprechend am Erleben des Schönen und an seinem Genuss zu orientieren. Die Produktion von Kunst habe den Bedürfnissen der Konsumenten zu dienen und werde am Effekt und an der Fähigkeit, »gehobene Illusionen« zu erzeugen, gemessen.32 Im Gegenzug fragt Wucherer-Huldenfeld nicht mehr nach dem Schönen als Erlebnis, sondern nach dem Sein des Schönen als Grundzug dessen, was ist. Er zitiert Platons Phaidon, »daß nichts anderes etwas schön macht als die Anwesenheit eines (an sich) Schönen, oder die Teilnahme (an ihm)«.33 Statt vom subjektiven Empfinden sei vom Ereignis des Schönen auszugehen, das in der Begegnung auf-geht und in ihr gewährt ist. Darin zeige sich das Schöne absichtslos als »das, was nicht (nur bezogen auf mich) mir, sondern als Erschautes in sich gefällt«, wenn es »um seiner Gestalt willen bewundert und geliebt« wird.34 Er schließt sich zwar insofern Heidegger an, als dieser Schönheit als eine Weise sieht, wie Wahrheit als Unverborgenheit west, weist jedoch darauf hin, dass Schönheit zwar mit dem Wahrheitsgeschehen zusammengeht, darin jedoch eine Eigentümlichkeit hat, die als solche benannt werden muss.35 Das Eigentliche der Schönheit erfasst Wucherer-Huldenfeld im Anschluss an Hans Urs von Balthasar als Hervortreten des geheimniserfüllten, grundlosen Grundes aus allem Begründeten. Darin ist Schönheit »die unmittelbare Offenbarung des nicht zu bewältigenden Überschusses an Offenbarung in allem Geoffenbarten, des ewigen Je-mehr, das im Wesen des Seienden selbst liegt«.36 Dieser Überschuss begründet die Bezogenheit wahrer Kunst auf ein Kommendes, ihre eschatologische Bestimmung, Vorscheinen einer letzten Schönheit zu sein, und die Eigentümlichkeit, »dass das Schöne (fern jeder Ästhetisierung) schmerzlich weit über unsere Empfindungskraft hinausgeht«.37 31 32 33 34 35 36 37

Siehe Wucherer-Huldenfeld: Ursprüngliche Erfahrung, 447 – 462. Vgl. ebd., 453 ff. Ebd., 457. Ebd., 459 [Herv. i. T.]. Vgl. ebd., 458 f. Ebd., 461. Ebd., 462.

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Am ursprünglichsten begegnen wir, so Wucherer, dem Schönen in Gestalt unseres Daseins in seiner offenen Weite, konkret »in den Menschen, die wir lieben und die (uns) lieben, ja in der Liebe selber«.38 Wo diese »offene Weite« aber nicht mehr oder noch nicht gegeben ist, wo sich ein Patient etwa aus Angst, nicht zu genügen, gar nichts mehr einzuräumen traut, laufend zurücksteckt, sich ausbeuten lässt, schließlich jedes Spielraumes entbehrt, verliert er außer dem Glauben an sich auch an natürlicher Schönheit. Nicht dass diese für immer verblichen und verschwunden sein müsste – als brachliegend versäumt er sie. Das Schöne, das, wie Mörike sagt, »selig in ihm selbst scheint«, will immer wieder erweckt und zugelassen sein. Ein Gebet, sofern es dem leidenden Menschen möglich ist, kann dabei helfen, wenn es über das bloße Jammern, die Artikulation der Verzweiflung oder den mechanischen Gebrauch hinausreicht. Auch die Heilkunst bemüht sich, Freiräume für ein solches »grundloses Überfließen« des Daseins zu eröffnen. In der Psychotherapie geht es um bessere Voraussetzungen, zu sich und zu anderen zu finden, um eine wahre, d. h. »ungeschminkte Schönheit«. Wir machen dabei die Erfahrung, dass Patienten in der Treue zu sich selber, im Lernen, mutig zu ihren Gedanken und Gefühlen zu stehen und sie auszusprechen, nicht nur mehr Freiheit, sondern auch Schönheit erlangen: in Begleitung ihres Therapeuten zu einem Kunstwerk ihres Gottes werden.

Literatur Bach, Johann Sebastian: Herr, Deine Augen sehen nach dem Glauben, BWV 102, BachEnsemble, H. Rilling, Holzgerlingen (Hänssler) 1999. Bruhns, Leo, Schmidt-Glassner, Helga: Tilmann Riemenschneider, Königstein i.T. (Langewiesche-Köster) 1984. Char, Ren¦: Einen Blitz bewohnen, Frankfurt / M. (Fischer) 1995. Heidegger, Martin: Der Ursprung des Kunstwerks, Stuttgart (Reclam) 1970. Ders.: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt / M. (Klostermann) 1971. Ders.: Sein und Zeit, Tübingen (Niemeyer) 1972. Ders.: Die Kunst und der Raum, St. Gallen (Erker) 1983. Ders.: Bemerkungen zu Kunst – Plastik – Raum, St. Gallen (Erker) 1995. Helting, Holger : Heideggers Auslegung von Hölderlins Dichtung des Heiligen, Berlin (Duncker u. Humblot) 1999. Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke, Berlin (Tempel) 1956. Jähnig, Dieter : »Der Ursprung des Kunstwerkes« und die moderne Kunst, in: Kunst und Technik, Gedächtnisschrift zum 100. Geburtstag von M. Heidegger, Frankfurt / M. (Klostermann) 1989. 38 Ebd., 248.

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Möhring, Hannes: König der Könige – Der Bamberger Reiter, Königstein i.T. (Langewiesche-Köster) 2004. Picasso, Pablo, Goeppert, Sebastian: Das Antlitz der Muse, Frankfurt / M. (Insel) 2001. Ratzinger, Josef: Liturgie und Kirchenmusik, Hamburg (Sikorski) 1987. Ders.: Das Fest des Glaubens, Einsiedeln (Johannes Verlag) 1993. Ders.: Der Geist der Liturgie, Freiburg / Br. (Herder) 2002. Ders.: Einführung in das Christentum, München (Kösel) 2005. Welte, Bernhard: Religionsphilosophie, Freiburg / Br. (Herder) 2008. Wucherer-Huldenfeld, Karl Augustinus: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein. Ausgewählte philosophische Studien II: Atheismusforschung, Ontologie, philosophische Theologie, Religionsphilosophie, Wien u. a. (Böhlau) 1997.

Hans Gerald Hödl

Die antiästhetische Pointe von Schopenhauers Ästhetik1

I.

Ästhetik als »diensthabende Fundamentalphilosophie«

Im Vorwort zur ersten Auflage seines Hauptwerkes macht Schopenhauer darauf aufmerksam, dass in dem umfangreichen Buch nur ein einziger Gedanke mitgeteilt werde, den er unter verschiedenen Hinsichten behandle. Eine davon sei »das, was man Aesthetik genannt hat«.2 Diese ist im dritten Buch zu finden, und zwar als eine Erörterung der Platonischen Ideen, die laut Schopenhauer den Gegenstand der Kunst bilden. Diese Auskunft hätte Platon wohl in einiges Erstaunen versetzt, hat dieser doch die Kunst für eine mimesis der Gegenstände, die selbst nur Abbilder der Ideen seien, gehalten.3 Das Verständnis der Stellung der Ideen in Schopenhauers Gesamtkonzeption ist aber essentiell für das Verständnis seiner Ästhetik, wie schon Georg Simmel bemerkt hat, der die Verdeutlichung dessen, was Schopenhauer mit den Ideen meint, »die zentrale Schwierigkeit« seiner ästhetischen Theorie genannt hat.4 Mir wird es im Folgenden vor allem um die Erläuterung dieses Grundgedankens und damit der Prinzipien von Schopenhauers Ästhetik gehen. Diese gehört eindeutig der Tradition der philosophischen Ästhetik an, die ab dem Erscheinen von Baumgartens Aesthetica auf dem Gebiet der Kunsttheorie die aristotelisch geprägte Regelpoetik abzulösen begann. Die leitende Frage verlegte sich von den Anweisungen, wie ein rechtes Kunstwerk in den einzelnen Künsten 1 Unwesentlich überarbeitete Fassung meines Habilitationsvortrages vor der Philosophischen Fakultät III der Humboldt-Universität zu Berlin vom 10. 11. 2003. 2 WWV 1, Vorrede zur ersten Auflage (1, 7). 3 Kann man der Bedeutung wegen, die Platon etwa im Symposion und im Phaidros der Idee des Schönen für den Weg des Erkennenden zuschreibt, nicht einfach von einer Gegnerschaft Platons der Ästhetik gegenüber sprechen, ist die Einschätzung der Kunst als Mimesis der Erscheinungen in Politeia X, 598a-d, doch als Beleg für die Abwertung der künstlerischen Tätigkeit gegenüber dem Erkennen durch Platon anzusehen. Darin hat Schopenhauer auch den Hauptunterschied seiner Ideenlehre von derjenigen Platons erkannt; vgl. WWV 1, § 41 (1, 271). 4 Simmel: Schopenhauer, 165.

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zu verfertigen sei, hin zur Bestimmung des Wesens der Kunst innerhalb einer erkenntnistheoretisch grundgelegten systematischen philosophischen Repräsentation des Ganzen.5 Schopenhauers eigene terminologische Schwankung reflektiert noch diesen Wandel. Entgegen der Auskunft im Vorwort zu Die Welt als Wille und Vorstellung sagt er zu Beginn seiner 1820 an der Berliner Universität gehaltenen Vorlesungen über die Metaphysik des Schönen, die im Wesentlichen den Inhalt des genannten dritten Buches seines Hauptwerkes in Vorlesungsform bringen: »Was ich hier vortragen werde, ist nicht Aesthetik; sondern Metaphysik des Schönen, daher bitte ich nicht etwa die Regeln der Technik der einzelnen Künste zu erwarten.«6 Auf das, was er hier als Metaphysik des Schönen, dort als »Aesthetik« vorträgt, trifft, mehr als dies bei Kants oder Hegels diesbezüglichen Bemühungen der Fall sein mag, der Ausspruch des jungen Odo Marquard zu, »daß die Ästhetik seit Ende des 18. Jahrhunderts […] zur diensthabenden Fundamentalphilosophie«7 geworden sei. Trotzdem werde ich zu dem Schluss gelangen, dass Schopenhauers Philosophie letztendlich als antiästhetisch anzusehen ist, was aber nicht etwa im Widerspruch zu seiner Ästhetik steht, sondern auf dieser relativ konsistent aufbaut. Um die Stellung der Ästhetik in seinem System bestimmen zu können, bedarf es allerdings der »Anstrengung des Begriffs«. Konkret bedeutet dies, einen gerafften Überblick zu verschaffen über Schopenhauers die kantische transzendentale Methode adaptierende Erkenntnistheorie und seine neue Interpretation dessen, was Kant das »Ding an sich« genannt hat: desjenigen, was innerhalb der Formen unserer Erkenntnis unerkennbar, den Erscheinungen, die uns innerhalb dieser Formen gegeben sind, zugrunde liegt. Vor diesem Hintergrund werde ich Schopenhauers Theorie des ästhetischen Erlebnisses darstellen und zeigen, dass in der Anlage dieser Theorie, trotz einer auf den ersten Blick zu entdeckenden metaphysischen Aufwertung der Anschauung, des ästhetischen Erlebnisses und der künstlerischen Tätigkeit, ein entschieden antiästhetischer Zug liegt.

5 Vgl. Iser : Interpretationsperspektiven, 33. 6 MphS, 37. 7 Marquard: Wende, 21 f.

Die antiästhetische Pointe von Schopenhauers Ästhetik

II.

Die systematische Grundlegung von Schopenhauers Ästhetik

1.

Der Transzendentalismus der Vorstellung

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Schopenhauer ist vertraut mit Reinholds Rückführung der kantischen Zweiheit von Anschauung und Begriff auf die Vorstellung als vor dieser Zweiheit liegender Form, etwas im Bewusstsein zu haben,8 sowie mit Fichtes Suspendierung des »Dings an sich« und seiner Interpretation des transzendentalen Ich als absolutem Ich. Dieses absolute Ich wird bei Fichte als Einheitspunkt von praktischer und theoretischer Vernunft gedacht, der, sich in einer »Thathandlung« als Ich setzend, sich das Nicht-Ich entgegensetzt.9 Schopenhauer versucht jedoch auf einem signifikant anderen Weg über Kant hinauszugehen als die Denker des »Deutschen Idealismus«. Er geht zunächst, durchaus in der Linie von Reinhold, von der durchgängigen Korrelation von Subjekt und Objekt aus: Alles, was erfahren und somit erkannt werden kann, ist stets in der Form der Vorstellung eines Vorstellenden gegeben, als Objekt für ein Subjekt. Entscheidend und signifikant für Schopenhauers Denken ist dabei die Idee der Korrelation, die besagt, dass dieses Verhältnis von Subjekt und Objekt nicht als Kausalverhältnis gedacht werden kann.10 In der Nachfolge Kants sucht er einen Weg zwischen der Scylla des metaphysischen Dogmatismus, der entweder als Idealismus das Objekt als Wirkung des Subjekts setzt oder als Realismus jenes als die Ursache von Letzterem, und der Charybdis des Skeptizismus, der ein Leichtes hat, die Unbeweisbarkeit beider Anschauungen nachzuweisen, und die Kausalität als aus Erfahrung abgeleitet betrachtet. Dazu betont Schopenhauer, dass die Kategorie der Kausalität, auf die er die kantische Kategorientafel reduziert, als eine der Formen aufzufassen ist, in denen der allem Gegebensein eines Objektes für ein Subjekt zugrunde liegende »Satz vom Grund« unsere Vorstellungen bestimmt. Den Satz vom zureichenden Grund, dass nichts ohne Grund geschehe, hatte er in seiner Dissertation von 1813 als das gemeinsame Prinzip aller Verstandes- und Vernunftoperationen dargestellt, in denen uns folgende vier unterschiedliche Klassen von Objekten gegeben sein können.11 Wo ein Subjekt die Relationen ihm äußerer Objekte, also solcher der empirischen Erfahrungswelt, wahrnimmt, finden wir Kausalität. Damit beschäftigen sich die empirischen Wissenschaften.12 Zweitens waltet 8 Vgl. Reinhold: Versuch und ders.: Fundament. 9 Vgl. Predel: Idealanschauung, 90 ff. 10 Vgl. WWV 1, § 5 (1, 41 ff.; 41: »[…] als solches setzt das Objekt überall das Subjekt voraus, als sein nothwendiges Korrelat […]«), § 2 (1, 32), § 7 (1, 60 ff.) u. ö. 11 Vgl. SvG. 12 Kausalität tritt auf als »Ursache-Wirkungs-Verhältnis« in den mechanischen, physikalischen

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zwischen Begriffen, also in logischen Operationen, das ebenfalls auf den Satz vom zureichenden Grund zurückgeführte Grund-Folge-Verhältnis. Die dritte Klasse von Objekten wird von den kantischen Formen der Anschauung, Raum und Zeit, gebildet. Bedeutend für den Ort der Ästhetik im Gesamtsystem ist nun der Umstand, dass Schopenhauer die Objekte, die Gegenstand der Ästhetik sind, keiner der bislang genannten Formen des Objektbezugs zuordnet. Grundlegend für seine Ausführungen über das Wesen des Schönen, der Kunst und des Genies sind seine Reflexionen im Zusammenhang mit der vierten Klasse von Objekten, nämlich solche der Selbstgegebenheit des Subjekts, sowie Überlegungen zum Verhältnis von Individualität und Allgemeinem. Individuation ist für Schopenhauer mit der als Verbindung der Anschauungsformen Raum und Zeit gedachten Materie notwendig verknüpft. In einer formalen Bestimmung von Räumlichkeit und Zeitlichkeit wird diese als reine Sukzession, jene als reines Nebeneinander bestimmt und als deren Verbindung die Materie als das ausgedehnte sich Verändernde.13 Dem transzendentalphilosophischen Ansatz folgend, meint Schopenhauer nicht, dass es eine absolute Zeit und einen absoluten Raum gäbe, die etwa zunächst unabhängig voneinander existierten und durch deren Zusammenführung Materie entstünde, sondern er analysiert die Bedingungen der Möglichkeit des Gegebenseins von Materialität. Wie der Begriff der Materie Ausdehnung und Sukzession voraussetzt, so besteht die Möglichkeit von Individualität, also Besonderung und Unterscheidung, nur unter der Bedingung, jeweils eine bestimmte Stelle im Raum-Zeit-Kontinuum im Unterschied zu allen anderen einnehmen zu können. Was nicht unter diesen Formen der Anschauung gegeben ist, kann deshalb auch nicht als ein Einzelnes, das sich von allen anderen unterscheidet, gedacht werden. Konsequent transzendentalphilosophisch argumentiert Schopenhauer zunächst auch hinsichtlich des Gegebenseins des Subjekts. Darunter versteht er eine besondere Klasse von Vorstellungen, die für jeden Vorstellenden genau ein Element enthält, nämlich ihn selbst. Es ist die einzige Vorstellung, die dem Vorstellenden unmittelbar gegeben ist, vermöge dessen, was Schopenhauer der Tradition gemäß den »inneren Sinn« nennt. Diese unmittelbare Gegebenheit ist aber nie in der Form des Objektseins zu haben, das Subjekt kann sich nie hinsichtlich seines Subjektseins Objekt werden, denn die durchgängige Korrelation von Subjekt und Objekt belässt jeweils einen Teil des Vorgestellten in der Vorstellung seiner selbst in der Position des Subjekts. Diese Position kann somit und chemischen Wissenschaften, als »Reiz-Reaktions-Schema« in der Physiologie und den weiteren Wissenschaften von den Lebewesen und als Abfolge von Motiv und Handlung in den Wissenschaften, die sich mit dem Handeln des Menschen beschäftigen; vgl. SvG, 62 f. 13 Vgl. WWV 1, § 4 (1, 35 – 41).

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nicht erfolgreich objektiviert werden, sie kann sich im Modus der Vorstellung nicht selbst anschauen respektive durchsichtig werden. Schopenhauer drückt diesen kardinalen Punkt seiner Philosophie folgendermaßen aus: »Denn das vorstellende Ich, das Subjekt des Erkennens, kann, da es, als notwendiges Korrelat aller Vorstellungen, Bedingung desselben ist, nie selbst Vorstellung oder Objekt werden.«14 Subjektivität kann sich also im Modus der Vorstellung nicht selbst durchsichtig werden,15 infolge dessen kann das abstrakte Ich-Bewusstsein nicht zur Grundlage der Beantwortung der metaphysischen Frage nach dem Grund des Seins gemacht werden. Anders ausgedrückt ist eine Analyse unseres Weltbezuges in der Form der Vorstellung, d. h. unseres Erkenntnisvermögens, nicht in der Lage, Auskünfte über das An-Sich der Welt, wie sie unabhängig von unserer Erfahrung derselben bestehen mag, zu geben. Diesen Umstand hat Rudolf Malter durch die griffige Formulierung »Transzendentalismus der Vorstellung«16 ausgedrückt. Für Schopenhauer folgt daraus aber auch, dass das erkennende Subjekt selbst den Formen der Vorstellung nicht unterworfen ist, sondern außerhalb derselben steht. Denn dasjenige, was allem Vorstellen zugrunde liegt, aber selbst nicht Vorstellung werden kann, liegt, so Schopenhauers Überlegung, außerhalb der Welt als Vorstellung. Aus der durchgängigen Korrelation von Subjekt und Objekt folgt aber ebenso, dass mit dem Auftreten eines einzigen erkennenden Subjektes die Welt als Vorstellung anhebt und mit dem Ende des letzten vorstellenden Subjektes die Welt als Vorstellung enden würde. Nun sind nicht alle Komponenten oder Elemente der Welt selbst Vorstellende; denn Vorstellung setzt Anschauung und Verstand voraus, deren Synthesis, mit Kant zu sprechen, erst Gegenstände in der Welt – die elementaren Bestandteile der Vorstellung – hervorbringt. Entsprechende Ausstattung bringen laut Schopenhauer erst die Tiere mit.17 Daraus ergibt sich in Schopenhauers Worten das Problem, dass das »Daseyn der Welt abhängig vom ersten erkennenden Wesen« ist, dieses aber »abhängig von einer langen ihm vorangegangenen Kette […] von Ursachen und Wirkungen, in die es selbst als kleines Glied eintritt«.18 Dieses Problem löst er mit Verweis auf den Transzendentalismus der Vorstellung: Kausalität, Zeit und Raum kommen der Welt als 14 SvG, 157 (§ 41). 15 Dies ist eine Einsicht, die Kant bereits gehabt hat, weshalb er die Einheit des Subjektes in der Form der ursprünglichen synthetischen Einheit der transzendentalen Apperzeption auch rein transzendentalphilosophisch einführt. 16 Malter: Schopenhauer, 77 u. ö. 17 WWV 1, §6 (1, 49 f.). Physiologisch verankert er die Fähigkeit, einen Weltbezug als Vorstellung zu haben, in der Ausbildung eines Zentralnervensystems, das in der Entwicklung des Gehirnes kulminiert. Das nicht-vorstellungsmäßige Empfangen von Data oder Reizen ist als eine dumpfe Empfindung, die nicht zur Helle der Objektivation gelangt, anzusehen; vgl. WWV 1, § 27 (1, 188 – 204), und WWV 2, Kap. 2 (3, 28 – 35). 18 WWV 1, § 7 (1, 61).

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Vorstellung zu; wie aber die Analyse des Vorstellens zeigt, liegt diesem etwas zugrunde, was nicht als Element innerhalb der Welt als Vorstellung vorkommt.19 Dieses Zugrundeliegende hat offensichtlich ontologischen Vorrang vor der als Vorstellung gegebenen Welt, die somit als dessen Erscheinung gedacht werden kann.

2.

Der Wille als das An-Sich der Welt

Die offensichtliche Schwierigkeit des Zuganges zu einer solchen außervorstellungsmäßigen Entität löst Schopenhauer mittels einer einfachen Überlegung, die auf die Art und Weise, wie sich ein Subjekt selbst gegeben ist, reflektiert. Wir sind uns selbst in unserer leibhaften Existenz nicht bloß mittelbar als Objekte unter anderen gegeben. Sondern wir erfahren uns mittels des inneren Sinnes unmittelbar als Subjekte der Vorstellung, und wir erfahren uns zugleich als Wollende, als Willenszentren. Die Identität des wollenden und des erkennenden Subjekts in einem Individuum nennt er den »Weltknoten«, der, da er nicht unter die Relationen der Objektwelt, die uns allein erklärlich sind, fällt, uns unerklärlich bleibt.20 Schopenhauer kann aber den Ort dieser Identität angeben, und das ist der Leib. Dieser erweist sich, in Schopenhauers Sprache, als Objektivation des Willens, stellt sich doch jeder Willensakt in der Objektwelt als eine Aktion des Leibes dar. Wir erkennen also aus den leibhaftigen Handlungen a posteriori den Willen, umgekehrt ist der Wille das a priori des Leibes. Mit diesem Ausgang vom Leib, der von der Triebhaftigkeit her verstanden wird, vollzieht Schopenhauer eine deutliche Abkehr von der idealistischen Tradition der Geistphilosophie, ohne zugleich deren metaphysischen Fragebestand aufzugeben. Diese Reduktion des Metaphysischen wird auf dem Weg von einer Schopenhauers Ästhetik adaptierenden Artistenmetaphysik hin zu einer Physiologie der Kunst Nietzsches ästhetisches Arbeitsprogramm prägen.21 Schopenhauer hingegen dient die Thematisierung des Leibes als Ausgangspunkt der Erschließung eines metaphysisch gedachten Willens. Dieser wird als allen Vorstellungen zugrunde liegender, nicht selbst vorstellbarer blinder Drang konzipiert, der letztendlich außerhalb von Zeit und Raum und Kausalität liegen muss und somit auch nicht individuell aufzufassen ist. Der Leib erscheint somit als der in die Welt als Vorstellung eingegangene, objektivierte und individualisierte Wille. Über einen Analogieschluss folgert Schopenhauer weiter, dass, analog zur Erscheinung des Subjekts als Objekt, allen Objekten in der Welt der 19 Vgl. ebd. 20 SvG, 160 (§ 42). 21 Vgl. dazu Gerhardt: Metaphysik.

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Vorstellung der nämliche Wille zugrunde liegt und somit alle Dinge, je nach der Komplexität ihrer Organisation, als Objektivationsstufen des Willens aufzufassen sind.

III.

Die Erkenntnis des Willens in der Ideenschau als die eigentlich ästhetische Tätigkeit

1.

Die Zerrissenheit des einen Willens in der Erscheinungswelt

Somit hat die Welt für Schopenhauer eine objektivierbare Außenseite als Vorstellung, der als Innenseite der Wille entspricht. Nun muss die durchgängige Intentionalität innerhalb der Erscheinungswelt, die Schopenhauer am Erkenntnisakt mittels der Korrelation von Subjekt und Objekt beschrieben hat, offensichtlich auch auf die einzelnen Willensakte zutreffen. Wille erscheint in der Welt nur dort, wo ein Wollender etwas will. Es kann also zwar der Wille auf dem Weg indirekter Erkenntnis per analogiam erschlossen werden,22 der Wille an sich kann aber innerhalb der Welt als Vorstellung nicht zum Objekt gemacht werden. Da der Wille als Drang, Streben und Begierde nach Steigerung interpretiert wird, gibt es für Schopenhauer auch keine endgültige Erfüllung von dessen Anstrengungen.23 Ist ein Ziel erreicht, erweist sich die dadurch gegebene Befriedigung bald als bloß vorübergehende Erfüllung, und neue Ziele werden angestrebt. Diese Eigentümlichkeit der Schopenhauer’schen Willenskonzeption hängt damit zusammen, dass er Wollen als Urphänomen, als die ontologisch erste, an sich grundlose Ebene ansieht: Die Intentionalität alles Wollens, die der Korrelativität von Subjekt und Objekt in der Erscheinungswelt analog ist, wird einseitig ab-, resp. angespannt auf das Wollen des Wollens selbst. Somit bringt der Wille auch die Gegenstände seines Strebens, seine Ziele, hervor, die aber nicht das eigentlich Gewollte sind, sondern nur Stufen, in denen der Wille sein Wollen objektiviert. Der eine Wille erscheint aber in der Welt der Individuation gerade aufgrund der darin auftretenden Individuen, die je sich selbst im Unterschied zu allen anderen wollen, als mit sich selbst im Kampfe liegend. Darin gründet der pessimistische Zug an Schopenhauers Denken. Dieser nimmt seinen Ausgang von 22 Schopenhauer ist so ehrlich zu betonen, dass er für diesen Schluss keinen strengen Beweis vorlegen kann, dies würde ja auch, da Beweisen immer auf dem Satz vom zureichenden Grund beruht, somit Beweise nur innerhalb der Welt als Vorstellung möglich sind, seinen eigenen Voraussetzungen widersprechen; vgl. WWV 1, § 18 (1, 145 f.). 23 Zur Problematik der phänomenal nicht abgesicherten Auslegung des Willens als (in der Selbsterfahrung unmittelbar gegebenem) »Drang« vgl. Wucherer-Huldenfeld: Eigenständigkeit, 263 ff.

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der Überlegung, dass einerseits der Wille ja, als außerhalb der Welt der Individuation liegend, einer sein muss, andererseits in der Welt der Individuation ein Kampf zwischen seinen verschiedenen Manifestationen, die sich gegenseitig die Existenz streitig machen, die jeweils auf Kosten der anderen ins Dasein drängen, zu beobachten ist. Das Streben des Einzelnen fügt also notwendig dem anderen Leid zu.24 Da aber das letztlich zugrunde liegende Subjekt des Weltgeschehens als der eine Wille gedacht wird, ist es der Wille selbst, der sich selbst Leid zufügt. Insofern erscheint Individuation als Übel. Das Ziel der Schopenhauer’schen Philosophie liegt in der Überwindung der Individuation, die unter den Voraussetzungen dieses Denkens, wie noch gezeigt werden wird, einer Aufhebung des Willens gleichkommt.

2.

Das Idealtypische als Gegenstand ästhetischer Kontemplation

Der antiindividualistische Charakter von Schopenhauers Denken zeigt sich auch daran, dass für ihn an den Erscheinungen in der Welt nicht das Einzelne von Bedeutung ist, nicht das Schicksal des jeweiligen Individuums, sondern das Allgemeine, das in ihm erscheint, denn er denkt die Vereinzelung des Willens in der Welt nicht als eine unmittelbare Zerstreuung des einen Willens, sondern als Entstehung individuierter Wiederholungen jeweiliger Ideen.25 Aus diesem offensichtlich platonischen Ansatz, der das Wesen der Erscheinungen in die Form verlegt, folgt auch eine Geringschätzung der Geschichte.26 Nicht an den konkreten Vorfällen ist Schopenhauer interessiert, sondern an dem in ihnen sich 24 Deutlich hat Rudolf Malter gezeigt, wie Schopenhauer über die Selbstgegebenheit des Willens im Subjekt einen neuen Typus metaphysischen Denkens anstrebt, in dem das »Wesen« nicht mehr als »Grund« gedacht wird (vgl. Malter: Wesen). Er zeigt auch, dass es Schopenhauer damit gelingt, die optimistische Antwort auf die Frage nach dem Übel, dass nämlich die Welt (insofern sie im Letzten gegründet ist) die beste aller möglichen Welten sei, abzuwehren und das Übel radikal ernst zu nehmen. Freilich entgehen ihm die Schwierigkeiten, in die der von Schopenhauer eingeschlagene Weg der Erlösung geraten könnte, nicht (vgl. ebd., 37 ff.). Schopenhauers Befund bloß als »Ausdruck persönlicher Bitterkeit und Zerworfenheit mit sich und der Welt« (Coreth: Philosophie, 124) zu lesen, liefert hingegen eher ein Argument gegen die Interpretation als gegen den Philosophen. 25 Vgl. WWV 1, § 36 (1, 239 f.). 26 Die menschliche Existenz vergleicht er u. a. mit einem Schauspieler, der eine Rolle spielt, wobei das Bedeutsame nicht nur nicht in der jeweiligen Ausformung der Rolle gesehen wird, sondern auch nicht in dem jeweiligen Stück. Wie in den Stücken von Gozzi, sagt er, treten immer die gleichen Charaktere auf, wenn die Handlung auch unterschiedlich ist; an einigen Stellen macht er deutlich, dass es keinen Unterschied mache, ob sich ein Handlungskomplex zwischen Bauern oder zwischen Königen, um »Nüsse oder um Kronen« begebe: Das allein Bedeutsame daran sei das Idealtypische; vgl. WWV 1, § 26 (1, 187 f.), § 35 (1, 237 f.), § 48 (1, 292 f.), § 51 (1, 311 f.), WWV 2, Kap. 37 (4, 515), MphS 60 ff., 160.

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aussprechenden Idealtypischen. Zu dessen Erfassung hält er etwa die Werke der Dichtkunst für geeigneter als die historischen Wissenschaften. Dies gründet in dem Vorrang, den er einer bestimmten Art der Anschauung, der ästhetischen Kontemplation, vor der begrifflichen Abstraktion einräumt. Dieser Vorrang erhebt innerhalb von Schopenhauers System die Ästhetik in den Rang der eingangs genannten »diensthabenden Fundamentalphilosophie«27. Offensichtlich ist es von Schopenhauers Voraussetzungen her zunächst problematisch, wie man zur Erkenntnis dieses idealtypischen Hintergrundes des Geschehens in der Welt gelangen kann, da der Intellekt ja als Teil der Welt der Vorstellung nicht mehr ist als ein Instrument, das sich der Wille geschaffen hat, um in dieser Welt Ziele zu erreichen.28 Die auf die Welt als Erscheinung eingeschränkte Erkenntnis ist, mit einem von Schopenhauer gebrauchten Bild, bloß ein Licht, das sich der Wille angezündet hat.29 Mittels dieses Lichtes qua Verstand haben alle Tiere die Fähigkeit, Objekte aufzufassen,30 den Menschen steht darüber hinaus Vernunft, als das Vermögen des Allgemeinen, zur Verfügung. Zunächst ist das die Fähigkeit zur Abstraktion, zur Bildung allgemeiner Begriffe, wie sie aus der Erfahrungswelt abstrahiert werden, der universalia post rem, mit einem von Schopenhauer der scholastischen Tradition entlehnten Begriff gesagt. Schopenhauer räumt aber die Möglichkeit ein, dass sich der Intellekt aus dem Dienst des Willens befreit. Ein Überschuss an Intellektualität kann dazu führen, dass sich die Erkenntnis von ihrer Wurzel, dem Willen, losreißt und zur Anschauung der Ideen, der universalia ante rem, gelangt. Unter diesen versteht Schopenhauer die Objektivationsstufen des Willens, die Weisen, in denen das blinde und grundlose Streben, das die Essenz der Welt bildet, sich selbst gegenständlich wird, unabhängig von der Welt der Individuation betrachtet. Den Objektivationsstufen entsprechen laut Schopenhauer die platonischen Ideen. Der Grundgedanke von Schopenhauers Ästhetik besteht darin, dass die ästhetische Kontemplation das Vermögen darstellt, durch die Einzelerscheinungen hindurch auf die sich in diesen Ideen rein, ohne Beimischung der empirischen Welt, ausdrückenden Objektivationsstufen des Willens zu blicken. In diesem Zustand wird die Korrelation von Subjekt und Objekt aufgehoben. Der Betrachtende »verliert« sich an den Gegenstand. Darin kann man zunächst eine Adaption der Bestimmung des ästhetischen Urteils bei Kant als dem Ausdruck eines interesselosen Wohlgefallens unter den Bedingungen von Schopenhauers Metaphysik sehen. In der ästhetischen Einstellung nimmt das Individuum die 27 28 29 30

Wenngleich diese erkenntnistheoretisch grundgelegt ist. Vgl. WWV 1, § 27 (1, 201 ff.). Vgl. WWV 1, § 27 (1, 202). Vgl. WWV 1, § 6.

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Erscheinung unabhängig von den Relationen der empirischen Welt, des Ensembles der Bestrebungen des individuierten Willens, wahr.

3.

Die Aufhebung der Individualität im ästhetischen Erleben

Der Einzelwille wird ja in der Regel von einem Motiv in Gang gesetzt, das ihm als Ziel Grund seines aktuellen Strebens wird. Ist nun ein Gegenstand in der Weise gegeben, dass er an sich selbst, ohne Bezug auf das Begehrungsvermögen, gefällt, wie es Kant als Charakteristikum der ästhetischen Einstellung hervorhebt, fällt er offensichtlich als Motiv aus. Das ist etwas anderes, als wenn er bloß gleichgültig wäre, denn dann käme er als Gegenstand, auf den ich mich beziehe, nicht in Frage. In einem Gegenstandsbezug, der die Beziehung auf den einzelnen Willen sistiert, wird der Wille jedoch in gewisser Weise ruhiggestellt. Für die völlige Sistierung des Willens hat Schopenhauer den Begriff »Quietiv« geprägt. Im dritten Buch von WWV 1, in dem er seine »Kunsttheorie« entwickelt, stellt er als die höchste Stufe der Kunst die religiöse Kunst dar, die als »Gipfel aller Kunst endigt mit der Darstellung der Selbstaufhebung« des Willens,31 des »Quietivs« des Willens. Er weist der Kunst in seinem System zwar einen gegenüber der Ethik, die zur Selbstaufhebung des Willens führt, untergeordneten Rang zu, denn der Künstler geht den Weg zur Resignation nicht weiter, sondern bleibt bei der »Erkenntniß des Wesens der Welt« stehen.32 Dennoch ist darin offensichtlich das gegeben, was wir heute nüchterner als eine Transzendierung der Alltagswelt bezeichnen würden. In Schopenhauers System bekommt dieses Ausruhen von der rastlosen Tätigkeit als Sklaven unseres Willens aber eine metaphysische Tiefendimension, die der ästhetischen Schau für kurze Zeit die Funktion des »Quietivs« verleiht. Man muss sich klarmachen, dass die in der ästhetischen Schau gegebenen Objektivationen jenseits der Welt der Erscheinung liegen, in der allein es Subjekt, Objekt und Individuation gibt. Somit hebt sich im ästhetischen Erleben folgerichtig die Individualität auf. Diese Aufhebung steht allerdings im Gegensatz zu Kants Ästhetik, die von einer Autonomie des ästhetischen Subjekts ausgeht, von der bei Schopenhauer insofern keine Rede sein kann, als er das Subjekt-Objekt-Verhältnis auf der Ebene der Erfahrungswelt im ästhetischen Erleben aufhebt. Ein Prozess, der diesem für das Erkennen in der Welt als Vorstellung grundlegenden Verhältnis entspricht, findet im ästhetischen Erleben nur noch auf der metaphysischen Ebene statt, was aber seiner Selbstaufhebung entspricht. Als Objekt fungiert dabei das, was Schopenhauer die Idee nennt, die reine Ob31 WWV 1, § 48 (1, 295). 32 WWV 1, § 52 (1, 335).

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jektivität des Willens auf der jeweils repräsentierten Stufe, das als Form gedachte Prinzip der Versinnlichung des Willens. Diesem entsprechend bleibt ein sozusagen ideales Subjekt bestehen. Etwas im Dunkeln bleibt in dieser Konzeption der ontologische Status der Ideen, die in Schopenhauers System anscheinend etwas Ähnliches wie Scharniere zwischen der Welt des Willens und der Welt der Erscheinung darstellen oder das Medium, durch das sich der eine Wille in die Vielheit vermittelt.33 Das zeigt sich an Folgendem: Der springende Punkt von Schopenhauers Konstruktion ist das Gleichgewicht zwischen Subjekt und Objekt in der ästhetischen Einstellung.34 Damit meint er, dass sowohl das Objekt vollkommen im Subjekt als auch das Subjekt vollkommen im Objekt ist. Diese Einheit beruht aber darauf, dass das Objekt und das Subjekt dieser Kontemplation außerhalb der Welt der Erscheinung dasselbe sind, nämlich der eine Wille. Der Aufhebung des Individuums als Subjekt und des sinnlichen Gegenstandes als Objekt auf der Ebene der Erfahrungswelt entspricht somit die Einsetzung des Willens als Weltgrund auf der metaphysischen Ebene als Einheit von Subjekt und Objekt. Es kann damit nur eine durch die menschliche Kontemplation vermittelte Selbsterkenntnis des Willens gemeint sein. Darin verschwindet aber gerade die Differenz zwischen Wille, Erscheinungswelt und Idee. Im Blick auf Hegel ist dabei zu beachten, dass von den Voraussetzungen von Schopenhauers Philosophie her diese Aufhebung gerade nicht eine dialektische Vermittlung des Besonderen im Allgemeinen einschließt.35 Vielmehr wird das Selbst sich im Allgemeinen los, indem es, ähnlich wie in Schopenhauers Ethik, wo das Mitleid diese Rolle übernimmt, die durch die Individuation hervorgebrachte Differenz zwischen sich und den Objekten der Erfahrungswelt auf die Einheit des sich in ihnen manifestierenden Willens hin überschreitet. Darin wird aber der Wille zuletzt verneint, weil die Besonderung des Aktes, etwas im Gegensatz zu allem anderen zu wollen, aufgehoben wird, womit auch kein Willensakt mehr gegeben ist, denn das Nichtwollen kann schlechthin nicht als Willensakt vorgestellt werden. Der Wille hebt sich somit selbst auf. Alle weiteren konkreten Ausführungen in Schopenhauers Ästhetik hängen von diesem hier vorgestellten Grundgedanken ab und entfalten ihn. Dazu gehören die Theorie der Genialität und die Einteilung und nähere Bestimmung der einzelnen Künste für sich und im Verhältnis zueinander.

33 Das hat vielleicht damit zu tun, dass Schopenhauer hier die Terminologie scholastischer Schöpfungstheologie »säkularisiert«. Den Ideen als den Urbildern der Schöpfung im göttlichen Verstand kommt ein klarer definierter ontologischer Status zu als den Objektivationen des Willens. 34 Vgl. etwa WWV 1, § 39 (1, 262 ff.) u. § 41 (1, 268). 35 Dies zeigt Predel: Idealanschauung, 118, 121 f. u. 131, deutlich auf.

348 4.

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Höchstwertung und Depotenzierung des Ästhetischen

Beides will ich hier, ausgehend von Schopenhauers Geniekonzeption, nur kurz streifen, um zu zeigen, wie sich Schopenhauers Ästhetik letztlich als antiästhetisch erweist. Die Fähigkeit zur ästhetischen Kontemplation geht, wie erwähnt, auf eine Hypertrophie des Intellekts zurück. Schopenhauer hält sie zwar für grundsätzlich allen Menschen gegeben, meint jedoch, dass sie den allermeisten Menschen nur in geringem Grade zukomme. Dadurch nimmt der Geniegedanke eine zentrale Rolle in seiner Ästhetik ein, da das Genie jene außergewöhnliche Begabung mitbringt, die Schopenhauer näherhin als die Fähigkeit zur »Objektivität« bestimmt. Darunter versteht er eben das Sich-LosreißenKönnen aus der Welt der Zwecke und Motive. Genie erklärt Schopenhauer zunächst und zuerst durch diese Fähigkeit, das Subjektive aus der Erfahrung auszuschließen, eine Eigenschaft, die er auch mit dem Jean Paul entlehnten Begriff der »Besonnenheit« umschreibt. »Genialität ist die Fähigkeit, sich rein anschauend zu verhalten.«36 Für Schopenhauer ist die Fantasie zwar wesentlich für die künstlerische Produktion, tritt aber gegenüber der sich enger an die Prinzipien seiner Philosophie anschließenden »Objektivität« zurück, als ein Hilfsmittel, über die gegebenen Gegenstände der Erfahrung hinaus einerseits zur Schau der Idee sich zu erheben, andererseits seinen Horizont zu erweitern. Die Fähigkeit, Phantasmen zu bilden, muss aber durch die eigentlich zentrale Begabung des Genies ihre Richtung auf die Ideenschau hin bekommen. Diese Betonung der ästhetischen Schau setzt nun den Künstler in eine qualitative Differenz zu denjenigen, die das Paradigma der Moderne in den rationalen Wissenschaften und technischen Weltbemächtigungen prägen, die Schopenhauer der Beschäftigung mit den Relationen der Vorstellungen zugeordnet hatte, die unter dem Satz vom Grund stehen. Im Gegensatz zu diesen blickt der Künstler auf das, was die Wissenschaften, in den Grenzen des Transzendentalismus der Vorstellung gefangen, nicht erreichen können: das Wesen der Welt. In Schopenhauers Philosophie, die auf die Befreiung vom Willen angelegt ist, findet sich ein stark soteriologischer Zug,37 der in der Ästhetik seinen Niederschlag insofern findet, als – im Gegensatz zur rationalen Weltbetrachtung – in der Betrachtung der Welt in ästhetischer Hinsicht ein Weg zur Aufhebung der Leiden verursachenden Individuation gezeigt wird. Damit eignet der künstlerischen Tätigkeit aus Schopenhauers Sicht auch eine religiöse Funktion, sodass Brigitte Scheer feststellen konnte, dass Schopenhauers Ästhetik den Weg zur 36 WWV 1, 240. 37 Zum soteriologischen Zug von Schopenhauers Denken insgesamt vgl. Sauter-Ackermann: Erlösung.

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Kunstreligion frei machte.38 Dies wird noch dadurch verstärkt, dass der Künstler durch seine Werke die Möglichkeit zu dieser Form der Transzendenz für die weniger Begabten eröffnet. Damit kommt der Gegenstand der ästhetischen Kontemplation, die objektive Seite in der Ausgangskonstellation des ästhetischen Erlebens, ins Spiel. Hier ist weniger Schopenhauers Systematik der Künste im Einzelnen von Belang, in deren Rahmen er, seinem Schema verhaftet, die einzelnen Bereiche der Kunst den jeweiligen Objektivationsstufen des Willens zuordnet.39 Eher geht es darum, was überhaupt Gegenstand der ästhetischen Betrachtung werden kann. Die Tradition unterscheidet in der Regel zwischen dem Naturschönen und dem Kunstschönen, und im Ganzen lässt sich sagen, dass einige Texte Schopenhauers dafür sprechen, dass er dem Kunstschönen einen Vorrang vor dem Naturschönen einräumt, was aus dem Charakter seiner als »Künstlerästhetik« zu bezeichnenden Ästhetik folgt, in der das Kunstwerk die Idee reiner wiedergibt, indem es die Dinge »aus dem Nebel objektiver und subjektiver Zufälligkeiten« herausnimmt, in die sie in der alltäglichen Einstellung des Einzelnen gehüllt sind. Mittels dieses Verfahrens erleichtert das Kunstwerk den Blick auf die Idee. Auf die Frage, welches der Dinge der alltäglichen Welt nun für die ästhetische Betrachtung in Betracht kommen kann, gibt Schopenhauer die Auskunft, dass jedes Ding schön sein kann, insofern es außerhalb aller Relation betrachtet werden kann. Da für Schopenhauer noch die Verbindung zwischen dem Attribut der »Schönheit« und der Eignung zum Gegenstand für die Kunst besteht, gilt, dass jedes Ding Gegenstand der Kunst sein kann, aber auch, worauf Ulrich Pothast hingewiesen hat, dass jedes Ding Kunstwerk sein kann, da, um Kunstwerk zu sein, nicht mehr gefordert ist, als dass das Objekt den Betrachter anregt, es außerhalb aller Relationen zu betrachten.40 Man kann also in Schopenhauers Ästhetik sowohl eine Aufwertung des ästhetischen Erlebens, der künstlerischen Tätigkeit und der Person des Künstlers wie auch eine Ausweitung des möglichen Bereiches künstlerischer Objekte feststellen. Um den Gesamteindruck einer Apotheose der Sinnlichkeit, die sich darin zu äußern scheint, zu verstärken, kann man noch darauf hinweisen, dass in dieser Konzeption, die eine anschauliche Ideenerkenntnis gegenüber der bloß abstrakten Begriffserkenntnis favorisiert, eine Aufwertung der sinnlichen Erkenntnis zu finden ist, die das Programm der Ästhetik seit Baumgarten be38 Vgl. Scheer : Einführung, 152. 39 Vgl. WWV 1, § 42 – 52 (1, 271 – 335), WWV 2, Kap. 34 – 39 (4, 479 – 538), und MphS, 123 – 228. Es geht auch nicht um die Sonderstellung der Musik, in der Schopenhauer einen direkten Ausdruck des Willens erblicken will, sodass sie in seiner Systematik nicht neben die anderen Künste als Ausdruck einer Objektivation des Willens, sondern als eine Objektivation des Willens selbst neben die Ideen gestellt wird. 40 Vgl. Pothast: Tätigkeit, 85.

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stimmt. Damit reiht sich Schopenhauer in die rationalitätskritische Tradition der Ästhetik, wie sie von Brigitte Scheer herausgestellt worden ist.41 Dies alles wird zunächst dadurch in Frage gestellt, dass Schopenhauer durch den systematischen Ort, den er der Ästhetik zuweist, letztlich den Eigenbereich der Kunst aufhebt. Sie wird zu einem Moment im System des Ganzen. Entscheidender ist allerdings, dass er im Gesamtduktus seiner Philosophie eine Verneinung des Willens zum Leben fordert, die gerade die Basis des ästhetischen Bereiches, nämlich die nur innerhalb der Welt als Vorstellung gegebene Anschauung, verneint. So erweist sich Schopenhauers Ästhetik dadurch als antiästhetisch im weitesten Sinn, dass sie der Abkehr vom Willen zum Leben dient. Sie unterstützt in bevorzugter Weise den Akt der Selbstaufhebung der aisthesis, der durch die Anschauung außerhalb der Relationen der Objektwelt zur Ideenerkenntnis führt.42 Dieser Vorgang lässt sich wie folgt zusammenfassen: Dasjenige, was in der Ideenschau letztendlich erfahren wird, ist die metaphysische Einheit dessen, was sich in der Welt der Individuation in die Vielheit aller möglichen Subjekte und aller möglichen Objekte ausdifferenziert. Diese metaphysische Einheit ist der Wille, der sich im Letzten selbst will, jedoch aus dieser abstrakten Bestimmtheit in die Konkretion der realen Welt nur über seine Objektivationen eingeht, die notwendigerweise in jedem Willensakt etwas im Unterschied zu allem anderen, und damit sich im Unterschied zu allem anderen, wollen. In der ästhetischen Kontemplation wird nun freilich jeweils nur für eine kurze Zeit die Einheit eines bestimmten Subjektes mit einem bestimmten Objekt erfahren. Schopenhauer führt in der »Metaphysik des Schönen« nun das Gedankenexperiment durch, dass jemand die ganze Reihe der Ideen in ästhetischer Kontemplation durchgehe.43 Dieser Mensch hätte dann letztendlich die Einheit des Willens in allen Erscheinungen erfahren. Diese Einheit ist die Einheit des sich in allen manifestierenden Willens, der ohne Manifestation nicht sein kann, weil, wie ich betone, ein nicht gerichteter Wille nicht denkbar ist. Ist nun die Individuation Ergebnis der Gerichtetheit des Willens und wird in der Erfahrung der Einheit des Willens in allen Erscheinungen das individuierte Wollen zurückgenommen, hebt der Wille sich selbst auf. Damit ist aber auch die Basis der ganzen Aufhebung, die auf den ersten Blick von Schopenhauer auf den metaphysischen Thron gehobene Sinnlichkeit, zunichtegemacht.

41 Vgl. Scheer: Rationalitätskritik. 42 Zu den vielen Spannungen in Schopenhauers ästhetischem Entwurf vgl. die ins Detail gehenden Lektüren von Neymeyer: Autonomie. Mit Bezug auf die Überbietung und letztliche Destruktion der Glücksverheißung ästhetischer Kontemplation durch die Radikallösung der Willensaufhebung in Schopenhauers Ethik vgl. bes. § 10, Ästhetische Ataraxie als Therapeutikum für den Willen? (ebd., 149 – 165). 43 Vgl. MphS, 56 ff.

Die antiästhetische Pointe von Schopenhauers Ästhetik

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Quellen Schopenhauer, Arthur : Die Welt als Wille und Vorstellung 1. Werke in zehn Bänden, Zürich (Diogenes) 1977, Bde. 1 und 2 (= WWV 1). Ders.: Die Welt als Wille und Vorstellung 2. Werke in zehn Bänden, Zürich (Diogenes) 1977, Bde. 3 und 4 (= WWV 2). Ders.: Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, in: ders.: Werke in zehn Bänden, Zürich (Diogenes) 1977, Bd. 5, 9 – 179. (= SvG). Ders.: Metaphysik des Schönen, hg. und eingel. von Volker Spierling, München (Piper) 1985 (= MphS).

Sonstige Literatur Coreth, Emmerich, Ehlen, Peter, Schmidt, Josef: Philosophie des 19. Jahrhunderts, Stuttgart u. a. (Kohlhammer) 1984. Gerhardt, Volker : Von der ästhetischen Metaphysik zur Physiologie der Kunst, in: Nietzsche-Studien 13 (1984), 374 – 393. Iser, Wolfgang: Interpretationsperspektiven moderner Kunsttheorie, in: Henrich, Dieter, ders. (Hg.): Theorien der Kunst, Frankfurt / M. (Suhrkamp) 1992, 33 – 58. Malter, Rudolf: Wesen und Grund. Schopenhauers Konzeption eines neuen Typus von Metaphysik, in: Schopenhauer-Jahrbuch 69 (1988), 29 – 40. Ders.: Arthur Schopenhauer. Transzendentalphilosophie und Metaphysik des Willens. Stuttgart / Bad Canstatt (Frommann-Holzboog) 1991. Marquard, Odo: Kant und die Wende zur Ästhetik, in: ders.: Aesthetica und Anaesthetica, Paderborn u. a. (Schöningh) 1989, 21 – 34. Neymeyer, Barbara: Ästhetische Autonomie als Abnormität. Kritische Analysen zu Schopenhauers Ästhetik im Horizont seiner Willensmetaphysik, Berlin / New York (De Gruyter) 1996. Pothast, Ulrich: Die eigentlich metaphysische Tätigkeit. Über Schopenhauers Ästhetik und ihre Anwendung durch Samuel Beckett, Frankfurt / M. (Suhrkamp) 1989. Predel, Karsten: Idealanschauung und Wesenserfahrung. Schopenhauers Metaphysik des Schönen, Aachen (Shaker) 1998. Reinhold, Carl Leonhard: Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens, Prag / Jena (Widtmann und Mauke) 1789. Ders.: Über das Fundament des philosophischen Wissens, Jena (Mauke) 1791. Sauter-Ackermann, Gisela: Erlösung durch Erkenntnis? Studien zu einem Grundproblem der Philosophie Schopenhauers, Cuxhaven (Junghans) 1994. Scheer, Brigitte: Ästhetik als Rationalitätskritik bei Schopenhauer, in: SchopenhauerJahrbuch 69 (1988), 213 – 227. Dies.: Einführung in die philosophische Ästhetik, Darmstadt (WBG) 1997. Simmel, Georg: Schopenhauer und Nietzsche. Tendenzen im deutschen Leben und Denken seit 1870, Hamburg (Junius) 1990. Wucherer-Huldenfeld, Augustinus Karl: Zur Eigenständigkeit des Grundgedankens Freuds in der Rezeption der Philosophie Schopenhauers, in: ders.: Ursprüngliche

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Hans Gerald Hödl

Erfahrung und personales Sein. Ausgewählte philosophische Studien I: Anthropologie, Freud, Religionskritik, Wien u. a. (Böhlau) 1994, 241 – 265.

V. Religionswissenschaft, Atheismus- und Spiritualitätsforschung

Johann Figl

Einheitsreligion oder Vielfalt der Religionen? Eine religionswissenschaftliche und -philosophische Analyse

I.

Thematik und Widmung

Eine zentrale Aufgabe der Religionsphilosophie ab der Aufklärung war es, das »Wesentliche«, das »Allgemeine« der Religionen zu erfassen. Dieses Anliegen ist auch noch bei neueren religionsphilosophischen Ansätzen leitend. So formulierte z. B. Bochenski das Postulat der Allgemeinheit dahingehend, »daß der Gegenstand einer Religionsphilosophie nicht eine bestimmte Religion, sondern das Allgemeinste in den Religionen sein sollte«, und zwar jenes Allgemeinste, »das allen großen Religionen gemeinsam ist«.1 Die von den konkreten Religionen abstrahierende Redeweise hat eine spezifisch neuzeitliche Geschichte. Im Kontext der Aufklärungsphilosophie wurde versucht, das den verschiedenen großen religiösen Traditionen (besonders dem Judentum, Christentum, Islam) Gemeinsame in einer »natürlichen Religion« zu finden. Angesichts der gravierenden Differenzen zwischen den Religionen, die sich gerade in deren elementaren Grundaussagen und -optionen zeigen, ist es allerdings eine Frage, ob es eine sachgerechte Erfassung des Wesens der Religionen gibt. Ist die Rede von »der Religion«, von einem allgemeinen Wesen derselben, nicht eine Abstraktion, wie manche Kritiker zu Recht meinen, welche zugleich behaupten, dass es nur konkrete Religionen (im Plural) gebe?2 Aus religionswissenschaftlicher Sicht wurde diese Frage mit allem Nachdruck gestellt, nicht selten verbunden mit der Kritik an solchen generalisierenden philosophischen Deutungen. Die Differenzen im methodologischen Zugang zur Deutung der Religionen in ihrer Pluralität haben m. E. nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass heute das Verhältnis zwischen Religionsphilosophie und Religionswissenschaft sehr distanziert ist. Viele Religionswissenschaftler betrachten die Religionsphilosophie nicht (mehr) als Teildisziplin der Religionswissenschaft, wie dies über lange Zeit der Fall war. Gerade dieses »Nicht-Ver1 Bochenski: Eröffnungsrede, 24. 2 Vgl. z. B. schon Andrae: Die letzten Dinge, 169: »Es gibt keine Religion, sondern Religionen.«

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hältnis« erfordert eine neue Reflexion auf den Bezug zwischen den beiden Disziplinen. Wie dieser neu gestaltet werden könnte, habe ich an anderer Stelle ausführlicher dargelegt.3 Im vorliegenden Beitrag möchte ich einer spezifischen Frage nachgehen, zu deren sachgemäßer Beantwortung sich sowohl ein religionsphilosophischer als auch ein religionswissenschaftlicher Zugang nahelegt, nämlich dem Verhältnis von Einheit und Vielheit der Religionen. Ich möchte dabei zuerst auf einige Ansätze der Aufklärungszeit, die spezifische Antworten auf die Einheits- bzw. Vielheitskonzeption von Religionen geben, eingehen und mich danach neureligiösen Ansätzen, die im 20. Jahrhundert entstanden sind, zuwenden, die ebenfalls aus religiösen Gründen eine Einheit der Religionen in und trotz ihrer Vielfalt annehmen (exemplarisch aufgezeigt an einer im Westen antreffbaren Form des Neosufismus). Diese Bewegungen und ihre Intentionen erfordern zugleich eine religionsgeschichtliche und religionswissenschaftliche Deutung. Die beiden genannten Konzepte – nämlich jenes der Aufklärungsphilosophie und das des Neosufismus – sind voneinander verschieden, jedoch in der Intention vergleichbar und z. T. sehr ähnlich – denn es geht in beiden um die allgemeine anthropologische Basis von Religionen. Wie schon erwähnt, war über lange Zeit, insbesondere während der Gründungszeit der religionswissenschaftlichen Institute, Religionsphilosophie ein konstitutiver Teilbereich des Fachgebietes der Religionswissenschaft. Dennoch wurde sie in den Instituten für Philosophie, einschließlich der Institute für Christliche Philosophie, stärker als in der Religionswissenschaft behandelt. Von den zahlreichen religionsphilosophischen Ansätzen, die in Österreich seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts anzutreffen waren und sind und die teils im Zusammenhang mit religionswissenschaftlichen Themen stehen4, sei im vorliegenden Kontext das religionsphilosophische Werk von Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld hervorgehoben, das wegweisend für die Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Einheit und Vielfalt der Religionen ist. Nach einer Dissertation über die Gegensatzphilosophie Romano Guardinis (1968) habilitierte Wucherer-Huldenfeld sich 1973 mit der philosophischen Habilitationsschrift Spinoza und Marx. Ein Beitrag zur philosophischen Motivation des Atheismus, nachdem er mehrere Jahre lang das von Kardinal König initiierte Institut für Atheismusforschung an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien geleitet hatte.5 Im Jahr 1974 wurde er zum Professor für Christliche Philosophie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien berufen. Die Begegnung mit Religionskritik und Atheismus ist 3 Vgl. Figl: Einleitung, 48 – 51: »Religionsphilosophie als Brückendisziplin«. 4 Vgl. z. B. die Bände der Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft für Religionsphilosophie, die z. T. einschlägige religionswissenschaftliche Themen behandeln, wie etwa Uhl / Boelderl: Rituale. 5 Vgl. Figl: Abteilung für Atheismusforschung.

Einheitsreligion oder Vielfalt der Religionen?

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eine wichtige Dimension seiner religionsphilosophischen Schriften. Die einschlägigen Studien hat er 1997 im zweiten Band des Werkes Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein veröffentlicht, der den Untertitel »Atheismusforschung, Ontologie und philosophische Theologie, Religionsphilosophie« trägt. Auch schon im ersten Band werden Themen der Religionskritik angesprochen. Terminologisch erfasst Wucherer-Huldenfeld seine religionsphilosophischen Beiträge unter dem Gesamttitel »philosophische Theologie«, wobei er betont, dass diese »nicht mit der ihr nahestehenden Theologie christlicher Offenbarung zu verwechseln ist!«.6 Bei der Darstellung des Phänomens und der Bedeutung des Atheismus zeigt sich, dass Wucherer-Huldenfeld die Herkunftsgeschichte des gegenwärtigen Atheismus aus einer religionsgeschichtlichen Perspektive behandelt. Er geht in diesem Zusammenhang auch auf süd- und ostasiatische Kulturen und Religionen ein. So setzt er sich kritisch mit Helmuth von Glasenapps Charakterisierung des Buddhismus als einer »atheistischen Religion« auseinander, die der Lebensverneinung und dem Nihilismus Schopenhauers verpflichtet gewesen sei, und stellt in Frage, ob z. B. das Sa¯mkhya, diese bedeutende hinduistische phi˙ losophische Schule, »als radikal atheistisch angesprochen zu werden verdient«.7 Das Movens solcher Kritik ist die Anfrage, ob aus europäischer Sicht »die so andersartig-fremd zur Sprache kommende ursprüngliche Erfahrung nicht durch Fehlübersetzungen, einseitige Quellenstudien und überhaupt vorgefasste europäische Rezeptionsmodelle« verfälscht würde.8 Der Gedanke der ursprünglichen Erfahrung wird letztlich als Basis der Gotteserfahrung verstanden.9 In kritischer Auseinandersetzung mit einem nihilistischen Atheismus wird das »Nichts« neu bedacht und schließlich »als das Ursprüngliche in der Erfahrung des Ganzen und Grundes unseres Daseins« interpretiert.10 Wesentliche Gesprächspartner in diesem Neubedenken religionsphilosophischer Grundlegung sind Martin Heidegger und Bernhard Welte; es wird aber auch Keiji Nishitani berücksichtigt.11 Ebenso bildet die Begegnung mit dem personalen Denken, insbesondere Ferdinand Ebners, eine grundlegende Basis der religionsphilosophischen Überlegungen Wucherer-Huldenfelds, auch wenn Ebner nicht eigentlich eine Religionsphilosophie angestrebt hat.12 Obwohl sein philosophisches Denken in der abendländischen Tradition zentral verwurzelt bleibt und der Bezug auf die christliche Theologie tragend ist, 6 7 8 9 10 11 12

Wucherer-Huldenfeld: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Vorwort, XI. Ebd., 14 f., mit Anm. 14. Ebd., 14. Vgl. ebd., 141 ff. Ebd., 330 ff. Vgl. ebd., 318 f. Vgl. Wucherer-Huldenfeld: Personales Sein und Wort, 270 ff.

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werden religionsgeschichtlich bedeutsame Fakten aus nichtchristlichen Religionen einbezogen. Hier liegt ein wegweisender Ansatz zur Deutung der Vielheit der Religionen vor, der von der Überzeugung getragen wird, dass Vielheit eine bereichernde Dimension des Lebens ist, die nicht auf eine undifferenzierte Form von Einheit reduziert werden soll, sondern als »Einheit in Mannigfaltigkeit« verstanden werden kann. Damit ist eine grundlegende Antwort auf die Frage nach der Vielheit der Religionen gegeben, die besonders heute aktuell ist, aber schon seit Beginn der Neuzeit, insbesondere seit der Zeit der Aufklärung, im Mittelpunkt philosophischen Interesses steht.

II.

»Natürliche Religion« – die gemeinsame Basis der Religionen (frühneuzeitliche Konzepte)

Die Frage des Verhältnisses von Religion (im Singular) und Religionen (im Plural) ist ein zentrales Thema neuzeitlicher Religionsphilosophie. In der europäischen Geistesgeschichte wurde sie durch die Idee eines religiösen Universalismus zu klären versucht, wie Wilhelm Dilthey in seinem Werk Weltanschauung und Analyse des Menschen seit der Renaissance und Reformation ausführt.13 Er versteht darunter »die Überzeugung, daß die Gottheit in den verschiedenen Religionen und Philosophien gleicherweise wirksam gewesen sei und noch heute wirke. In dem moralisch-religiösen Bewußtsein jedes edleren Menschen spreche sie sich aus. Ein Satz, der die Idee eines völlig universellen Wirkens der Gottheit durch die ganze Natur hindurch und in dem Bewußtsein aller Menschen zu seiner Voraussetzung hat.«14

Dieser religiös-universalistische Theismus war z. B. bei Giovanni Pico della Mirandola und Marsilio Ficino anzutreffen. Bei einigen der italienischen Humanisten ist es nach Dilthey sogar zur Begründung »eines religiös-universalistischen Theismus als einer neuen, vom Christentum unterschiedenen Religion« gekommen.15 Dilthey meint, dass dieser religiös-universale Theismus »am Beginn des 16. Jahrhunderts in ganz Europa siegreich hervordrang« und im 17. Jahrhundert weiter gewirkt habe.16 Ein bedeutender Vertreter dieser neuen Geistesrichtung ist der französische Humanist Jean Bodin, der in seinem Grundgedanken von Pico beeinflusst ist.

13 14 15 16

Dilthey : Weltanschauung und Analyse des Menschen, 45 ff. Ebd., 45. Ebd., 47. Ebd., 42.

Einheitsreligion oder Vielfalt der Religionen?

1.

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»Natürliche« Verwandtschaft aller Religionen (Jean Bodin)

Die Religionsphilosophie von Jean Bodin ist in dem Werk Colloquium heptaplomeres (Siebenteiliges Gespräch über die verborgenen Geheimnisse der erhabenen Dinge) enthalten.17 Darin wird von den Repräsentanten sieben verschiedener Konfessionen bzw. Religionen und religiöser Haltungen (von je einem Katholiken, Lutheraner, Calvinisten, Juden, Muslim, einem Repräsentanten des Indifferentismus und einem Vertreter der natürlichen Religion) über den Wert der Religionen diskutiert. Zwei Positionen sind von besonderem Interesse, nämlich jene des Repräsentanten, der eine ursprüngliche Religion verkündet, und jene des Repräsentanten der höchsten Stufe der »heidnischen« Entwicklung. Der Kerngedanke der ersteren Gestalt liegt in der Verkündigung einer ursprünglichen Religion, einer natürlichen Religion, die in den positiven Religionen enthalten ist; und diese Naturreligion sei zur Glückseligkeit ausreichend, während sie durch theologische Korruption verdorben worden sei.18 Sowohl Heidentum als auch Judentum weisen auf eine Urweisheit und Uroffenbarung zurück. Die ursprüngliche Religion wird also in einem gewissen Gegensatz zu den positiven Religionen verstanden und als deren kritischer Maßstab betrachtet. Den religionsrelativierenden Charakter bringt aber noch deutlicher der Repräsentant der »heidnischen« Entwicklung zum Ausdruck, der seinen religiösen Universalismus auf folgende Weise beschreibt: »Ich aber betrete die Tempel der Christen, der Ismaeliten und Juden, wo immer es angeht, und auch die der Lutheraner und Zwinglianer, um bei keinem als Atheist Anstoß zu erregen oder den Schein zu haben, als wollte ich die öffentliche Ruhe stören.«19 Selbst für den Atheisten – der hier toleriert wird – ist es das Ziel, die öffentliche Ruhe zu bewahren; dies zu erreichen, war eines der Hauptanliegen solcher synkretistischer Religionen-Philosophie. Friedenssehnsucht, die Überzeugung, dass die Eintracht aller Religionen zu fordern ist, war ein leitendes Motiv. Die Eintracht und Toleranz ist »tiefgegründet auf das Gefühl der Verwandtschaft aller Religionen. Sie sind allesamt Töchter derselben Mutter, der natürlichen Religion«.20 In den Auffassungen des Vertreters der »natürlichen Religion« kann man Bodins eigene Position erblicken21. Diese Überlegungen

17 Es wurde erst Mitte des 19. Jahrhunderts erstmals vollständig herausgegeben; vgl. dazu Vorländer: Philosophie der Renaissance, 104 f., der die Edition von Ludwig Noack: Colloquium heptaplomeres de abditis rerum sublimium arcanis, Schwerin 1857, als erste anführt. 18 Vgl. Dilthey : Weltanschauung und Analyse des Menschen, 149. 19 Heptaplomeres, hg. von G. E. Guhrauer, 40 f., zit. nach Dilthey, a. a. O., 148. 20 Dilthey, a. a. O., 150 [Herv. i. T.]. 21 Vgl. Vorländer: Philosophie der Renaissance, 104.

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weisen hin auf die Ansätze Edward Herbert von Cherburys und ferner auf die berühmte Ringparabel in Lessings Nathan der Weise.22

2.

Universale Religion der Vernunft angesichts des Kampfes der Konfessionen – Konzept einer eigenständigen Religionsphilosophie (Edward Herbert von Cherbury)

Aufklärung ist eine vor allem in England, Frankreich und Deutschland verbreitete gesamteuropäische geistige Strömung. In unserem Zusammenhang ist der englische Philosoph Edward Herbert von Cherbury (1583 – 1648) von besonderem Interesse.23 Seine an die Stoa angelehnte naturrechtliche Religionsphilosophie wurde »zur Grundsäule der aufklärerischen Religionsphilosophie«24. Er geht von der Überzeugung aus, dass die Vernunft auch das Vermögen der religiös-moralischen Wahrheiten in sich birgt; die Offenbarung tritt ihr gegenüber an die zweite Stelle.25 Von dieser erkenntnistheoretischen Position her gelangt er zum Entwurf »eines allgemeinen Religionsglaubens im Sinne der Stoa, unabhängig von jeder einzelnen positiven Religion«.26 Wir finden bei ihm eine Lehre von der universalen Vernunftreligion.27 Er konzipiert eine Religion, die unabhängig von geschichtlichen Religionen, auch vom Christentum, sein soll, die sich allein philosophisch von der Vernunft her versteht und die fünf bzw. vier (wenn man die 3. und 4. zusammenzieht) Grundwahrheiten beinhaltet.28 Diese Grundwahrheiten sind: 1. die Realität Gottes: Es existiert ein höchstes Wesen für alle Menschen und Völker ; 2. die Pflicht zur Gottesverehrung: Denn dieses höchste Wesen soll verehrt werden, und zwar 3. in einer ethischen Weise, durch Tugend und Frömmigkeit; 4. Reue und Wiedergutmachung: Der Mensch soll seine Sünden bereuen, da die göttliche Güte schon in diesem Leben bestraft und belohnt; 5. die göttliche Vergeltung im Jenseits als Lohn bzw. Strafe für das Verhalten im Diesseits. 22 Vgl. das Mischen von natürlichen und künstlichen Äpfeln bei Bodin mit Lessings Parabel des nicht unterscheidbaren echten Ringes von den unechten: ebd., 104 f. 23 Seine Hauptwerke sind: De Veritate, Paris 1624, Repro. 1966, De Religione Gentilium errorumque apud eos causis, 1663, engl. 1705, De Religione Laici (1645). Siehe Herbert von Cherbury. 24 Schmidt: Art. Herbert von Cherbury, 233 f. 25 Vgl. Dilthey : Weltanschauung und Analyse des Menschen, 248. 26 Ebd. 254. 27 Vgl. ebd., 256 f. 28 Vgl. ebd., 253.

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Herbert von Cherbury meinte, dass damit religiöse Wahrheiten grundgelegt sind, aufgrund derer es keine Auseinandersetzungen religiöser Art mehr geben kann. Er wendet sich gegen die konfessionellen Kämpfe der Reformationszeit und der nachreformatorischen Zeit – und dies ist eigentlich sein Grundanliegen: solche Kämpfe zwischen Christen, zwischen religiösen Gruppen generell überflüssig zu machen. Darum unternahm er den Versuch, eine Religion zu konzipieren, die auf einer allgemeinen Übereinstimmung der Völker, auf einem »consensus gentium«, also auf dem Konsens aller Völker, aller Nationen beruht. Ein solcher Konsens, der auf der Vernunft, auf den durch den »consensus universalis«29 ermittelten Einsichten, beruht, ist Grundlage für diese neue Konzeption religiöser Grundwahrheiten, die ein friedliches Zusammenleben ermöglichen sollte. Freilich ist mit diesem Ideal einer neuen philosophischen Religion und ihrer Utopie des Religionsfriedens die Kritik an der bestehenden, an der christlichen verbunden, obwohl von Cherbury meint, dass das Christentum noch am ehesten die genannten Wahrheiten verkörpere.30 Aber das Anliegen war letztlich ein politisch-gesellschaftliches: nämlich die religiösen Kämpfe zu beenden. Wie für Nicolaus Cusanus waren auch für ihn geschichtliche Erfahrungen mit den konkreten faktischen Religionen Anstoß zu einem pazifistischen religionsphilosophischen Entwurf: Weil sich gezeigt hatte, dass die Religionen nicht in der Lage waren, human miteinander umzugehen, erschien diese Perspektive als unausweichlich. Es ist wesentlich dieser historische Hintergrund, der bei den frühaufklärerischen Konzepten eines eigenständigen universalen Religionsbegriffs ausschlaggebend war ; es war hier nicht primär der Kampf zwischen verschiedenen Religionen (Islam – Christentum), sondern vielmehr die blutige Auseinandersetzung der verschiedenen christlichen Konfessionen miteinander. Mit seinem vereinheitlichenden Konzept war Herbert von Cherbury einer der ersten großen Aufklärungsphilosophen, die eine rationale (natürliche) Theologie und Religionsphilosophie konzipiert haben, um die Vielheit der Religionen (näherhin: der christlichen Konfessionen) auf eine (philosophisch gedachte) Einheit zurückzuführen.

29 Vgl. den entsprechenden Artikel zu De veritate von Seubold. 30 Vgl. Walters: Art. Herbert von Cherbury.

362 3.

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Zur gesellschaftlichen Intention dieser Einheitsauffassung von den Konfessionen bzw. Religionen

Diese neue Form der Religiosität kann unter dem Stichwort »Religion der Vernunft« erfasst werden bzw. als »naturgegebene« Religion. Die neue Gestalt einer allgemeinen, für den Menschen als solchen gegebenen Religion (unabhängig davon, welcher konkreten religiösen Tradition bzw. Konfession er angehört) hat sich nicht primär aus dem Interesse an philosophischer Spekulation entwickelt, sondern war grundlegend mit existenziellen politischen und gesellschaftlichen Intentionen verbunden. Den Autoren solcher Konzepte – Philosophen, Theologen, Juristen – ging es darum, der Vormachtstellung einer einzigen (der christlichen) Religion bzw. einer spezifischen Konfession (katholisch, reformatorisch, lutherisch), die zu gewalttätigen Auseinandersetzungen geführt hatte, ein Modell gegenüberzustellen, das ein friedliches Zusammenleben trotz unterschiedlicher Konfessions- bzw. Religionszugehörigkeit ermöglichte. Bei einigen bedeutenden Autoren (wie bei Cusanus und – schon im Hochmittelalter – bei Pierre Abaelard) ging es nicht bloß um die innerchristlichen Kontroversen, sondern ausdrücklich um ein friedvolles Zusammenleben der Religionen, vornehmlich der abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam, konkret um eine Überwindung der Diskriminierung (besonders der Angehörigen der jüdischen Religion durch Christen) und eine Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen christlichen und islamischen Herrschern und Völkern. Bei einigen Autoren der frühen Aufklärung (z. B. Jean Bodin, Pierre Bayle) geht es darüber hinaus um die Integration auch jener Menschen, die keiner dieser Religionen anhängen bzw. sich als Atheisten verstehen. Das Ziel war es also, eine philosophisch-theologische Basis zu finden, die das konfliktfreie Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religionen und weltanschaulicher Einstellungen ermöglicht. Als leitende Intention kann darum festgehalten werden, dass es um die Akzeptanz des Anderen als Anderen geht, ohne ihn zu benachteiligen oder gar zu verfolgen und ebenso wenig ihn bekehren zu wollen; es ist jene Haltung, die zunächst unter dem Begriff der (passiven) Toleranz zu einem Kennzeichen der neuzeitlichen, besonders durch die Aufklärung geprägten kulturgeschichtlichen Entwicklung geworden ist. Die Entwicklung seit der Aufklärungsphilosophie führt zu einer maßgebenden, bis heute verbreiteten Antwort auf die Vielheit der Religionen und ihrer Wahrheitsansprüche: In ihrem Grundanliegen seien sie letztlich alle gleich, weil im Kern mit der menschlichen Natur gegeben.

Einheitsreligion oder Vielfalt der Religionen?

III.

363

Die »Einheit und Vielheit der Religionen« in neureligiösen Bewegungen am Beispiel des »Sufi-Ordens im Westen«

Eine formal ähnliche Struktur wie das religionsphilosophische Konzept einer »natürlichen« Religion, eines gemeinsamen »Wesens« der Religionen, ist hinsichtlich der Intention in einer Reihe von neureligiösen Bewegungen des 20. Jahrhunderts anzutreffen, von denen eine exemplarisch kurz dargestellt werden soll, nämlich die universalreligiöse »Sufi-Bewegung« und der »Sufi-Orden im Westen«, die beide auf Hazrat Inayat Khan (1882 – 1927), einen aus Indien stammenden Sufi-Meister und Musiker, zurückgehen. In dieser universalreligiösen Bewegung, die an anderer Stelle ausführlich dargestellt ist,31 wird für die Einheit-in-Vielheit keine philosophische, sondern eine explizit religiöse Begründung gegeben. Auch bei ihr ist eine praxisbezogene Intention leitend, insofern es um eine Begegnung von Angehörigen verschiedener Religionen und somit um deren Versöhnung, letztlich »Einheit«, geht. Bei der Sufi-Bewegung ist es ein ausdrückliches Ziel, »den Osten und den Westen einander näher zu bringen, damit die Weltverbrüderung sich bilden möge und Mensch zu Mensch sich finde«.32 Hinsichtlich der Religionen sind die Beiträge Hazrat Inayat Khans im Band IX von The Sufi Message mit dem bezeichnenden Titel »The Unity of Religious Ideals« grundlegend. Der erste Satz des Vorwortes kann als Motto über Inayat Khans gesamten Darlegungen zur Religion stehen: »Alle Religionen sind wesenhaft eins [essentially one].«33 Die erste Abhandlung versucht eine Klärung des Begriffs der Einheit (unity), indem sein Unterschied zum Begriff der Einförmigkeit (uniformity) herausgestellt wird. Unity meine die innere Natur jeder Seele und das einzige Anliegen, das Ziel des Lebens. Uniformity diene dazu, dieses Ziel zu erreichen: Es sind die Mittel, um diesen Zweck zu erreichen, gemeint. Aber oft hätten die Mittel das Ziel verdunkelt; das habe religiöse Differenzen und endlose Kriege zur Folge gehabt.34 Den »Heiligen Krieg« lehnt Inayat Khan dementsprechend entschieden ab.35 Die Grundaussage, dass das Göttliche in allem und alles in Gott ist, ist die Grundlage für die Interpretation der Einheit der Religionen und ihrer Botschaft. Die »Botschaft der Einheit« sei auch die »zentrale Wahrheit« in den heiligen Schriften der Juden, Muslime, Parsen, Hindus und Buddhisten. Ebenso seien die Offenbarungen letztlich eine Einheit, auch die Gottesvorstellungen.36 Der Su31 Vgl. Figl: Die Mitte der Religionen, 89 – 140; im Folgenden beziehe ich mich z. T. auf Ausführungen in diesem Buch. 32 Zit. nach: ebd., 122. 33 Khan: The Sufi Message, Bd. IX, 7. 34 Vgl. ebd., 11 f. 35 Vgl. ebd., 21. 36 Dazu näher Figl: Die Mitte der Religionen, 115 ff.

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fismus verstehe diese der Vielfalt der Religionen zugrunde liegende Einheit. Wenn der Sufi eine »Religion« hat, dann »ist seine Religion Liebe«37, und so versucht er die Versöhnung der Religionen zu fördern. Kirche, Tempel oder Kaaba, Koran oder Bibel – dies alles kann der Sufi daher tolerieren, meint Inayat Khan.38 Bei dieser Auffassung handelt es sich nicht um eine philosophische Theorie, sondern um eine religiöse Sichtweise, die, von der islamischen Mystik geprägt, die Vielheit der Religionen vor dem Hintergrund einer vorausgesetzten Einheit interpretiert und auch praktiziert, wie der Kult dieser Gruppierung beeindruckend zum Ausdruck bringt, in dem Kerzen und deren Licht die Botschaften der verschiedenen Religionen symbolisieren und Texte aus den heiligen Schriften aller großen Weltreligionen gelesen werden. Solche Einheitsvorstellungen – oft aber auch nur die Sehnsüchte danach – sind in vielen neureligiösen Bewegungen anzutreffen.39 In ihnen kann ein Bedürfnis vieler religiös Suchenden der Gegenwart erkannt werden. Freilich bleibt offen, ob dabei wirklich eine Einheit in der Vielheit gefunden wird, also eine Versöhnung der unterschiedlichen Religionen, oder ob nicht vielmehr die Pluralität der traditionellen Religionen durch neue Möglichkeiten religiösen Selbstverständnisses vermehrt wird. Jedenfalls aber sind diese universalreligiösen Bewegungen ein Indiz für die weitergehende Religionsgeschichte und ihre Dynamik. Sie weisen zugleich auf das Anliegen der Aufklärung hin, eine naturgegebene Einheit der Religionen zu finden, um Konflikte und Intoleranz zwischen den Religionen zu überwinden. Während die Aufklärungsphilosophie zu einer abstrakten Konzeption der Religion und ihrer Inhalte gelangte, jedoch verbunden mit sehr konkreten politischen und gesellschaftlichen Postulaten, führen neureligiöse Ansätze zu einer Verlebendigung der Dynamik der religiösen (oft mystisch verstandenen) Einheitserfahrung, wobei nicht selten auf deren philosophische Durchdringung und Reflexion verzichtet wird. Zur Interpretation der aktuellen religiösen Situation sind jedoch philosophische Interpretationsansätze nötig, die offen sind für die Vielfalt der Religionen – nur unter Wahrung von deren Pluralität kann m. E. eine Antwort auf die Frage gegeben werden, wie deren Einheit gedacht werden kann. Wie einleitend erwähnt, sind philosophische Ansätze wie jener von Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld wegweisend, um diese heute besonders wichtigen Fragen des Zusammenlebens und gegenseitigen Verstehens von Angehörigen verschiedener Religionen in sachgemäßer Weise zu beantworten. 37 Khan: Perlen aus dem unsichtbaren Ozean, 23. 38 Vgl. Khan: The Sufi Message, Bd. V, 18. 39 Vgl. Figl: Die Mitte der Religionen, wo ich Ansätze, die von westlicher Esoterik, vom Neohinduismus, vom Buddhismus und vom Islam geprägt sind, genauer dargestellt habe.

Einheitsreligion oder Vielfalt der Religionen?

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Karl Baier

Buddhistische Entsprechungen zum christlichen Auferstehungsglauben

I.

Die Frage nach dem buddhistischen Korrelat zum christlichen Auferstehungsglauben

Nach Karl Rahner ist Auferstehung christlich verstanden »nicht eine heilsneutrale Bleibendheit der menschlichen Existenz, sondern ihre Angenommenheit und ihr Gerettetsein durch Gott«.1 Auferstehen bedeutet kein bloßes Fortbestehen jenseits der Todesgrenze, sondern in die Herrlichkeit Gottes aufgenommen zu werden und nie wieder sterben zu müssen. Fragt man von diesem Vorverständnis ausgehend nach Parallelen im Buddhismus, dann fällt auf, dass die oft in der Literatur zu findende Gegenüberstellung von Auferstehung und Wiedergeburt an der Sache vorbeigeht. Darauf hat bereits Aloysius Pieris, der Pionier des buddhistisch-christlichen Dialogs in Sri Lanka, mit aller Deutlichkeit hingewiesen: »Offensichtlich gehören die ›Auferstehung von den Toten‹ und die Reinkarnation nicht derselben soteriologischen Ordnung an. Die Auferstehung meint die endgültige und vollkommene Erlösung, die ultimative Verwirklichung des Reiches Gottes; die Wiederwerdung dagegen verweist auf das tatsächliche Fehlen einer ›endgültigen Erlösung‹. Denn das Nirva¯na ist das Ende sowohl des Todes als auch der Wiedergeburt; es be˙ deutet Befreiung vom Wieder-Werden.«2

Im Kontext buddhistischer Soteriologie gibt die Lehre von Samsa¯ra, dem ˙ Kreislauf der Wiedergeburt, im Grunde keine Antwort auf die Frage, was jenseits des Todes liegt. Der Samsa¯ra ist nur die Verlängerung leidbehafteter Vergäng˙ lichkeit, nicht die Erlösung davon. Was im Christentum Auferstehung heißt, hat, wenn überhaupt, eine Parallele in der buddhistischen Rede vom endgültigen »Eingehen in das Nirva¯na«. Die ˙ Wiedergeburtslehre dagegen erfüllt im buddhistischen Kontext eine vergleich1 Rahner : Grundkurs, 262. 2 Pieris: Reinkarnation im Buddhismus, 389.

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bare Funktion wie im Christentum die Lehre vom Purgatorium, d. h. einer nachtodlichen Läuterungsmöglichkeit des Menschen. Sie steht darüber hinaus für die Möglichkeit der Prolongation des Leidens jenseits der Todesschwelle und einer weiteren Vertiefung der Verstricktheit menschlicher Existenz in die Übel und das Böse. Das bedeutet für uns, dass zuerst der Begriff des Nirva¯na untersucht werden ˙ muss. Gibt es Gründe dafür, anzunehmen, dass das buddhistische Verständnis von Nirva¯na eine Kenntnis jener Wirklichkeit bezeugt, die Christen Gott nen˙ nen? Und hat das Nirva¯na eine soteriologische Qualität, die man mit jenem ˙ endgültigen Gerettetsein durch Gott vergleichen kann, das nach Rahners Formel die christliche Auferstehung ausmacht? Da in der christlichen Auferstehungsthematik die Auferstehung Christi eine zentrale Rolle spielt, ist weiters nach der Bedeutung zu fragen, die Buddhas endgültiges Eingehen ins Nirva¯na nach sei˙ nem Tod im Buddhismus hat. Danach gehe ich auf die buddhistische Zurückhaltung mit Aussagen über das nachtodliche Sein ein und stelle zum Abschluss ¯ natta-Lehre an. Ich beÜberlegungen zum Zusammenhang von Nirva¯na und A ˙ schränke mich weitgehend auf die Behandlung dieser Themen im Palikanon und gehe auf spätere Entwicklungen nur in kurzen Ausblicken ein.

II.

Charakterisierung von Nirva¯na nach den frühbuddhistischen ˙ Quellen

Nirva¯na ist zunächst etwas, was nach buddhistischem Verständnis in diesem ˙ Leben angestrebt und auch erreicht werden kann. Aber wir werden sehen, dass das diesseitige Eingehen ins Nirva¯na als eine Vorwegnahme dessen gilt, was nach ˙ dem Tod mit denen geschieht, die es zu Lebzeiten erfuhren. Nirva¯na bedeutet wörtlich »Verlöschen, Verwehen«, was sich zunächst auf ˙ das Erlöschen des Feuers der Begierde, des Hasses und der Verblendung bezieht, die den Menschen in der mit Leid (dukkha) behafteten endlichen Welt fesseln. Dieses Erlöschen ist verbunden mit dem Aufhören der Identifikation mit den endlichen Faktoren menschlichen Lebens, die nun nicht mehr für das Selbst gehalten werden. Die Folge davon ist Befreiung vom Leiden und vom dauernden Wiedergeborenwerden in die vergängliche Existenz des Samsa¯ra. ˙ Nirva¯na meint aber nicht bloß einen luziden Gemütszustand, der von Gier, ˙ Hass und Verblendung befreit ist, sondern eine unbedingte Wirklichkeit. Es gilt als das Todlose (amata¯) bzw. die Sphäre des Todlosen (amata¯ dha¯tu), ein Bereich, der mit der Loslösung von Gier, Hass und Verblendung nicht identisch ist, sondern durch sie gefunden wird. Nachdem er die Erleuchtung erreicht hatte,

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verkündete der Buddha in der berühmten Predigt von Benares sein Erreichen des Nirva¯na mit den Worten: »Das Todlose ist gefunden (amatam adhigatam).«3 ˙ Nur insofern es eine unbedingte Wirklichkeit gibt, die der Vergänglichkeit entrückt ist, ist nach buddhistischer Lehre eine Befreiung von der bedingten Existenz im Samsa¯ra überhaupt möglich. Sie ist die metaphysische Bedingung ˙ der Möglichkeit der Erlösung. Dieser Gedanke liegt der folgenden berühmten Passage aus dem Uda¯na Sutta zugrunde: »Es gibt, ihr Mönche, ein nicht Geborenes [aja¯tam], nicht Gewordenes [abh˜tam], nicht Geschaffenes [akatam], nicht Gestaltetes [asankhatam]. Wenn es, ihr Mönche, dieses nicht Geborene, nicht Gewordene, nicht Geschaffene, nicht Gestaltete nicht gäbe, dann wäre hier ein Entrinnen aus dem Geborenen, Gewordenen, Geschaffenen, Gestalteten nicht zu erkennen. Weil es nun aber, ihr Mönche, ein nicht Geborenes, nicht Gewordenes, nicht Geschaffenes, nicht Gestaltetes gibt, darum läßt sich ein Entrinnen aus dem Geborenen, Gewordenen, Geschaffenen, Gestalteten erkennen.«4

Zwei frühbuddhistische Klassiker, das MilindapaÇha und Visuddhimagga, argumentieren vor diesem Hintergrund, dass das Nirva¯na nicht bloß der geistige ˙ Zustand einer erleuchteten Person sein kann. Denn als solcher wäre es eine Wirklichkeit, die erst unter bestimmten Bedingungen entsteht, und eben nicht das Unbedingte, Ungewordene. Die von den Wurzelübeln befreite, beruhigte Klarsicht des Geistes muss also zugleich als Offenheit für eine unabhängig vom menschlichen Geist existierende unbedingte Wirklichkeit gedacht werden. Das Nirva¯na selbst gilt als unbegreiflich und unbeschreibbar. Aber man findet ˙ in der Literatur eine Reihe von eindrücklichen Metaphern, die es etwa als »leidfreie, angenehm kühle Stätte« bezeichnen oder als Nahrung der Lebewesen wie in dieser schönen Stelle aus dem MilindapaÇha: »Gleichwie, o König, die Nahrung alle Lebewesen am Leben erhält, so ist das Nibba¯na, einmal verwirklicht, der Erhalter des Lebens, indem es Alter und Tod ein Ende setzt. Dies ist das erste Merkmal. Wie fernerhin die Nahrung allen Wesen Kraft verleiht, so bringt das Nibba¯na, einmal verwirklicht, in allen Menschen höhere Kräfte zur Entfaltung. Wie fernerhin die Nahrung allen Wesen Schönheit verleiht, so verleiht das Nibba¯na, einmal verwirklicht, allen Wesen Tugendschönheit. Dies ist das dritte Merkmal. Wie fernerhin die Nahrung aller Wesen Qual lindert, so stillt das Nibba¯na, einmal verwirklicht, in allen Wesen die Qual der Leidenschaften. Dies ist das vierte Merkmal. Wie fernerhin die Nahrung in allen Wesen den Hunger und Durst vertreibt, so vertreibt das Nibba¯na, einmal verwirklicht, in allen Wesen des ganzen Leidens Hunger und Schwäche. Dies ist das fünfte Merkmal.«5

3 Vinaya I, 9; vgl. Vetter : The Ideas and Meditative Practices of Early Buddhism, 8 f. 4 Uda¯na 8, 3; Itivuttaka 43, zit. nach der Übersetzung von Itivuttaka, 27. 5 MilindapaÇha 4, 8. Zit. nach Milindapanha, 289.

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Diese und andere Umschreibungen stützen sich auf die Erfahrung erleuchteter Mönche und Nonnen. Woher man denn wissen könne, dass Nirva¯na wirklich ˙ Seligkeit bedeute, fragt der griechische König Menandros, und der Mönch Nagasena antwortet ihm: Indem man auf die preisenden Worte derer höre, die es erfuhren.6 Das Nirva¯na ist also zu Lebzeiten erfahrbar und seine erlösende ˙ Qualität wird sprachlich primär im Lobpreis artikuliert. Die Predigt des Buddha legt Nachdruck darauf, dass das Eingehen ins Nirva¯na ˙ eine Befreiung (vimutti) des Menschen darstellt. »In der Enge hat freie Bahn gefunden, der hochweise, der Buddha!«7 Wovon und wozu befreit das Nirva¯na? ˙ Die Befreiung bezieht sich zuerst auf das begehrliche Anhaften an den Dingen und die daraus entstehenden Bindungen und Zwänge. Es ist als Innewerden des Todlosen zugleich eine Befreiung von Todesfurcht. Und das Nirva¯na zu Leb˙ zeiten ist schließlich auch Befreiung aus der Verblendung (avidya), worunter vor allem die Verdrängung der eigenen Vergänglichkeit und eine durch egozentrische Selbstbezogenheit (asmima¯na) verzerrte Sicht der Dinge zu verstehen ist. Die positive Seite der Freiheit, das, wozu man befreit wird, ist innerer Frieden. Die Erwachten »sind in das Todlose untergetaucht, haben es vollkommen erreicht, haben es umsonst genommen und genießen den höchsten Frieden«.8 Dieser Friede beruht darauf, dass die den Menschen umtreibende Sehnsucht nach der todlosen, unbedingten Wirklichkeit nun gestillt ist und man den endlichen Dingen gegenüber Gleichmut entwickeln kann. Das Nirva¯na ist nicht bloß jene die Welt übersteigende transzendente Wirk˙ lichkeit, auf die alles zustrebt9, sondern auch schon im frühen Buddhismus dem Samsa¯ra immanent. Es wird sichtbar gegenwärtig durch das von Mitgefühl ge˙ tragene, selbstlose Verhalten des Menschen. Im MilindapaÇha wird auf die Frage, wo sich das Nirva¯na befindet, zunächst ˙ eine abschlägige Antwort gegeben. Es gebe keinen Ort, wo es anzutreffen sei. Aber dann wird ausgeführt, dass es sich im Lebenswandel der vollkommen Erwachten ereignet. Der Ort des Nirva¯na ist der Mensch und seine Lebensfüh˙ rung, sein Ethos (sila): »Denn in der Sittlichkeit fest verharrend verwirklicht durch weises Erwägen der im Wandel Vollkommene das Nibba¯na, ganz gleich wo er sich befindet […].«10 Im höchsten Maße gilt das für Gautama Buddha, der deshalb in den ältesten buddhistischen Zeugnissen als einzigartige Person be6 Vgl. Schmidt-Leukel: Understanding Buddhism, 50, mit Bezugnahme auf MilindapaÇha 3, 4, 8. 7 Samyutta Nika¯ya II, 7, zit. nach Die Reden des Buddha. Samyutta Nika¯ya, 77. ˙ ˙ 8 Khuddaka Pa¯tha VI, 7, zit. nach Khuddaka-Pa¯tho, 16. ˙ 9 Nach An˙guttara-Nika¯ya 10, 58 strebt alles Innerweltliche auf das Nirva¯na zu. Das Erreichen ˙ des Todlosen wird an dieser Stelle als der »wahre Zweck aller Erscheinungen« bezeichnet. Vgl. dazu Schmidt-Leukel: Die Wahrheit des Buddhismus, 67. 10 MilindapaÇha 4, 8, zit. nach Milindapanha, 293.

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schrieben wird, die göttliche Züge trägt.11 Im Pa¯li-Kanon wird die Geschichte erzählt, dass der Brahmane Dona die Fußspuren Buddhas entdeckt, die den ˙ Abdruck eines tausendspeichigen Rades unter den Fußsohlen zeigen. Der Brahmane denkt, dies könne nicht die Spur eines menschlichen Wesens sein. Als er später dem Buddha selbst begegnet, fragt er ihn, was für eine Art von Wesen er sei, und erhält zur Antwort, dass sämtliche Kategorien samsa¯rischer Existenz auf ihn nicht zutreffen. Er ist weder ein normaler Mensch noch eine der vielen Gottheiten noch ein Bewohner der Geisterwelt. Schließlich heißt es: »Für einen Erwachten (buddha) halte mich, Brahmane.«12 Die Bezeichnung Buddha ist nach dieser Stelle ein Hoheitstitel, der besagt, dass der erwachte Gautama jemand ist, der über allen bekannten Lebensformen steht. Neben Buddha werden ihm noch andere in langen Listen zusammengestellte Hoheitstitel verliehen, wie etwa mahapurisa, höchste Person oder loka¯natha (Herr des Universums). Seine ganze Existenz ist leibhaftiger Dharma, so sehr ist er eins geworden mit der von ihm geschauten unbedingten Wahrheit: »Wer den Dharma sieht, sieht mich; wer mich sieht, sieht den Dharma.«13 Sein Verhalten ist getragen von vollendetem Mitgefühl mit den leidenden Wesen. Ein solches Leben ist das »sichtbare Nirva¯na«.14 ˙ Worin das »sichtbare Nirva¯na« besteht, führt der Pa¯li-Kanon anhand von ˙ Gautama Buddhas Taten eindrucksvoll vor Augen. Er kritisiert die Ungerechtigkeiten des Kastensystems und richtet sich mit seiner Predigt ohne Unterschied an Vertreter aller gesellschaftlichen Gruppierungen. Er verurteilt die blutigen Tieropfer der brahmanischen Religion. Er tröstet Trauernde, die Familienangehörige verloren haben. Er nimmt trotz Interventionen des örtlichen Adels eine Einladung zum Mahl mit der Hetäre Ambapalli an. Er sucht die Begegnung mit dem Massenmörder Angulima¯la und nimmt ihn nach dessen Bekehrung in den Orden auf. Er erkennt, wenn auch mit einigem Widerstreben, die grundsätzliche religiöse Gleichwertigkeit der Frauen an und gründet einen Nonnenorden. Er pflegt eigenhändig einen an einer tödlichen Durchfallerkrankung leidenden und von seinen Mitbrüdern vernachlässigten Mönch und mahnt die anderen Mönche: »Wer mich pflegen würde, der pflege die Kran-

11 Vgl. zum Folgenden Schmidt-Leukel: Buddha und Christus als Inkarnationen. 12 An˙guttara-Nika¯ya 4, 36, zit. nach Schmidt-Leukel: Buddha und Christus als Inkarnationen, 203. 13 Samyutta Nika¯ya 22, 87, Itivuttaka 92, zit. nach Schmidt-Leukel: Buddha und Christus als ˙ Inkarnationen, 205. 14 An˙guttara-Nika¯ya 3, 54 – 56, zit. nach Schmidt-Leukel: Buddha und Christus als Inkarnationen, 205.

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ken.«15 Er verhindert als Berater von Fürsten den Ausbruch von Kriegshandlungen etc. …16 Es dürfte sich erübrigen, die offensichtlichen Parallelen zum Christentum auszuführen. Die dargestellte Bedeutung des Nirva¯na als Heil gewährende un˙ bedingte Wirklichkeit und das Verhalten des »nirva¯nisierten«17 Menschen in der ˙ Welt sind meiner Meinung nach Grund genug, um davon auszugehen, dass mit »Nirva¯na« aus buddhistischer Sicht auf dieselbe Wirklichkeit verwiesen wird, ˙ die aus christlicher Sicht mit dem Namen »Gott« genannt wird.18

III.

Die Erzählungen von Buddhas Tod und Hinübergang ins endgültige Nirva¯na ˙

Von Buddhas Sterben und Tod sind mehrere komponierte Erzählungen überliefert. Die wichtigste ist das in Pa¯li verfasste Maha¯parinibba¯na Sutta und seine Sanskrit-Version, die in Zentralasien aufgefunden wurde. Letztere ist auch in mehreren chinesischen Übersetzungen (bis zurück ins 3. Jh. u. Z.) sowie im tibetischen Kanjur überliefert. »Parinibba¯na« wird im Pa¯li-Kanon teilweise als Synonym für Nibba¯na gebraucht, teilweise als Ausdruck für den Tod dessen, der schon zu Lebzeiten das Nibba¯na erlangte. In der späteren Tradition hat sich die letzte Bedeutung durchgesetzt. Der Text will zeigen, dass nach dem vorbildlichen Leben Buddhas jetzt auch sein Sterben fleischgewordene Lehre ist.19 Die Ereignisse dürften im Kern historisch sein. Der bereits altersschwache Gautama war nach 45-jähriger Lehrtätigkeit mit einer Gruppe von Mönchen auf Wanderschaft, vermutlich unterwegs in das Gebiet der Sa¯kyas, also in seine Heimat. Nach einem Mahl bei dem Schmied Cunda wird der 80-Jährige schwer krank. Er lässt sich von seinem ¯ nanda in einem Hain bei Kushinagara das Sterbelager beLieblingsschüler A reiten. ¯ nandas Frage, wie man mit seinem Leichnam verfahren solle, gibt er die Auf A Antwort: wie es mit dem Leichnam eines Weltenherrschers (cakravartin) üblich ist. Diese Stelle nimmt Bezug auf die Geburtslegende. Eine Prophezeiung anlässlich der Geburt Gautamas besagte, er werde entweder ein Weltenherrscher 15 Maha¯vagga VIII, 26, 1 – 4, zit. nach Schmidt-Leukel: Buddha und Christus als Inkarnationen, 208. 16 Vgl. dazu die Zusammenfassung des Bildes, das der Pa¯li-Kanon vom Verhalten des Buddha zeichnet, bei Schmidt-Leukel: Buddha und Christus als Inkarnationen, 208. 17 Es existiert die Verbalform »nibba¯(ya)ti«, die man mit »nirva¯nisiert« übersetzen kann. Vgl. ˙ Schlieter: Buddhismus, 75. 18 Vgl. dazu auch Schmidt-Leukel: Die Wahrheit des Buddhismus, 63. 19 Zur Auslegung des Maha¯parinibba¯na Sutta vgl. Klimkeit: Der Buddha, 130 – 160.

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oder ein Erwachter werden. Der diese Prophezeiung aussprechende Weise wusste aber nicht, dass der Buddha schon in einem früheren Äon Weltenherrscher gewesen war und die Herrschaft über die materielle Welt in dem Leben, das vor ihm liegt, keine Attraktivität mehr für ihn haben würde. Gautama hält mehrere Abschiedsreden, durch die er seiner Gemeinde Trost spendet, sie auf die Zeit nach seinem Tod vorbereitet und sie zur Fortsetzung der von ihm gelehrten, befreienden Praxis ermahnt. ¯ nanda, es könnte euch vielleicht der Gedanke kommen: ›Der Lehrer, (der uns) das »A Wort (verkündete) ist dahingegangen, wir (können uns nun auf) keinen Lehrer mehr ¯ nanda. Die Lehre und die Regel, (berufen).‹ Aber so dürft ihr die Sache nicht ansehen, A die ich euch gepredigt und vorgezeichnet habe, die sind euer Lehrer nach meinem Ende.«20

Er fragt sie schließlich, ob es noch irgendeinen Zweifel oder ein Bedenken in Bezug auf ihn, den von ihm gewiesenen Weg oder die Gemeinde gebe. Nachdem sie schweigen, äußert er die Heilszusage, er wisse, dass von den Versammelten keiner mehr zweifle. Alle hätten den Weg des Heils betreten und würden die befreiende Erkenntnis erlangen. Als letztes Wort des Buddha ist überliefert: »Wohlan, Bikkhu’s, (höret) jetzt, (was) ich euch (noch) zu sagen habe: Die Seinserscheinungen sind ihrem Wesen nach vergänglich. Rüstet euch aus mit Wachsamkeit!«21 Dann durchläuft er die verschiedenen Stufen der Meditation und geht schließlich im Tod unmittelbar ins Nirva¯na ein. Der enge Zusammenhang ˙ zwischen der Erleuchtungserfahrung bzw. der zu ihr führenden Meditation und dem Sterben bzw. dem Tod Buddhas wird nicht nur an dieser, sondern an mehreren Stellen des Maha¯parinibba¯na Sutta angesprochen. Etwa in 4, 37, wo ¯ nanda von einer Verklärung des Buddhas kurz vor seinem Tod die Rede ist. Als A ihm ein goldenes Gewand anlegt, wird dieses plötzlich durch ein vom Buddha ausgehendes Strahlen überglänzt. Dazu erklärt der Buddha: ¯ nanda, wird eines Thata¯gatas Hautfarbe überaus rein und »Bei zwei Gelegenheiten, A strahlend. Bei welchen zwei? In der Nacht, in der der Thata¯gata zur höchsten vollkommenen Erkenntnis durchdringt, und in der Nacht, in der er in’s Nibba¯na restloser Erlösung eingeht.«22

Diese und ähnliche Stellen zeigen, dass die Erfahrung des Nirva¯na zu Lebzeiten ˙ als Vorwegnahme des Eingehens ins Nirva¯na nach dem Tod verstanden wurde ˙ bzw. dass die Aussagen über das Schicksal des Vollendeten nach dem Tod Extrapolationen der Heilserfahrung zu Lebzeiten darstellen. Die buddhistischen 20 Maha¯parinibba¯na Sutta 6, 1, zit. nach Dighanika¯ya, 242. 21 Zit. nach Dighanika¯ya, 244. 22 Zit. nach Dighanika¯ya, 228.

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Texte folgen damit implizit einem Prinzip, das der eingangs schon zitierte Karl Rahner als Grundprinzip der Hermeneutik eschatologischer Aussagen herausgearbeitet hat.23 Eschatologie ist demnach keine »antizipierende Reportage später erfolgender Ereignisse«, sondern stellt die Artikulation eines Vorblicks auf die endgültige Vollendung aus der bereits in der Gegenwart zugänglichen Heilssituation dar. Im Moment von Buddhas Ableben bebt die Erde und Donner ertönt. Götter und Menschen brechen einerseits in Klage, andererseits in Lobeshymnen aus. Erst nach sieben Tagen wird sein Leichnam verbrannt, vermutlich weil der Hauptschüler Kassapa mit einer Gruppe von 500 Mönchen noch nicht eingetroffen war. Auch die Verbrennung des Leichnams wird in der Legende von Wundern begleitet. So etwa entzündet sich das Feuer von selbst. Nach dem Verbrennen der Leiche gab es Streit, weil die Delegationen der verschiedenen indischen Staaten, in denen Buddha gewirkt hatte, auf die Reliquien Anspruch erhoben. Schließlich einigte man sich – ausgerechnet durch die Vermittlung eines Brahmanen – auf eine friedliche Aufteilung. Das Sutta endet mit einem Hymnus auf die Buddha-Reliquien, die die Welt erglänzen lassen und mit Opfern verehrt werden. Damit wird auf die Verehrung des Buddha nach dessen Tod hingewiesen, die durch die Geschichte von der Reliquienverteilung in die Erzählung vom Tod des Buddha integriert wurde. Nach den Regeln für den Orden und die Lebensführung der Laienanhänger und nach der in den Su¯tren niedergelegten Lehre des Buddha wird der Stupa, also das Reliquien-Heiligtum, als weiterer Ort der gleichsam sakramentalen Gegenwart des ins Nirva¯na eingegangenen Buddha hervorgehoben. Der Hymnus schließt ˙ mit dem Vers: »Dem Buddha Könige von allen Dreien – Von Göttern, Na¯ga’s, Menschen – Ehre weihen. Die Hände faltend bringt ihm Ovationen! Ein Buddha kommt nicht wieder in Aeonen.«24

Im Buddhismus wird wie im Christentum angenommen, dass der Stifter nach seinem Tod das endgültige Heilsziel erreichte. Sein nun definitives Eingehen in das Nirva¯na wird als Bestätigung seines Lebens und Lehrens erfahren. Die ˙ Umstände des Todes Buddhas sind weit weniger dramatisch als das Sterben Jesu Christi. Sie geben keinen Anlass, am Buddha und seiner Botschaft zu zweifeln. Es ist in der buddhistischen Tradition weder von einer grundlegenden Krise der Anhängerschaft nach Buddhas Tod die Rede noch von Erscheinungen des Verstorbenen. Vor dem Hintergrund der Wiedergeburtslehre hätten solche Er23 Vgl. dazu Rahner : Theologische Prinzipien. 24 Zit. nach Dighanika¯ya, 255.

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scheinungen bzw. Berichte darüber auch eher den Effekt gehabt, das Eingegangensein des Buddha ins Nirva¯na in Frage zu stellen. ˙ Der diesbezügliche Verständnishorizont spiegelt sich noch in der Antwort ¯ nanda, einer von den Theravada-Mönchen, die Horst wider, die der Mönch A Georg Pöhlmann Ende des 20. Jahrhunderts über das Christentum interviewte, auf die Frage, wer Jesus aus buddhistischer Sicht sei, gibt: »Er ist ein göttliches Wesen und einer der Götter und Devas, die der Reinkarnation unterworfen sind. Das zeigt seine Auferstehung. Er erschien als Auferstandener nach seinem Tod, weil er in seinem nächsten Leben als Gott wiedergeboren wurde, während er in seinem vorigen Leben ein gewöhnlicher Mensch war. Da er euch Christen heute immer noch erscheint, ist er offenbar noch nicht befreit vom Schicksal der Wiedergeburt und noch nicht im Nirva¯na, dem Ort der Freiheit.«25 ˙

Für den frühen Buddhismus war gerade die Entzogenheit Buddhas, sein NichtErscheinen, ein Zeichen seines Lebens im Nirva¯na und damit ein Heilszeichen. ˙ Das spiegelt sich auch in der buddhistischen Kunst. Es dauerte lange, bis man die Person des Buddha darstellte. Zunächst wird immer nur seine Umgebung gezeigt, Menschen und himmlische Wesen, die ihm huldigen, aber der Platz Buddhas bleibt leer. Nur seine Fußabdrücke werden abgebildet, oder auch ein Stupa.26 Gegenwärtig bleibt der Buddha in der Gemeinde, die nach seinen Regeln lebt und ihn verehrt, in seiner Lehre, die von Generation zu Generation weitergegeben wird, und in den Stupas, durch deren Besuch man sich mit dem Buddha und seiner Wahrheit in Verehrung verbindet. In späteren Zeiten sind jedoch Geschichten vom leibhaftigen Erscheinen des verstorbenen Buddha entstanden. Eine chinesische Version des Maha¯ma¯ya¯ Su¯tra aus dem 5. Jh. u. Z. erzählt etwa, dass Ma¯ya¯, die bereits vor ihrem Sohn verstorbene Mutter Buddhas, nachdem sie von seinem Tod erfahren hat, vom Himmel herabsteigt. Sie trauert am Sarg des Verstorbenen und bringt ihm Verehrung dar. Daraufhin befiehlt der Buddha dem Sarg, sich zu öffnen, und erhebt sich in verherrlichter Gestalt aus ihm. Aus jeder Pore seines Körpers dringen tausend Lichtstrahlen, ein jeder angefüllt mit tausend Buddhas.27

25 Pöhlmann: Begegnung mit dem Buddhismus, 81. 26 Siehe dazu Zin: Der Wandel des Buddha-Bildes. 27 Vgl. dazu Klimkeit: Der Buddha, 153.

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IV.

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Zurückhaltung in Bezug auf Aussagen über das Leben im nachtodlichen Nirva¯na ˙

Das Eingehen ins Nirva¯na mit dem Tod ist nach buddhistischer Lehre nicht ˙ mehr und nicht weniger als die endgültige Besiegelung des schon vor dem Tod erfahrbaren Nirva¯na. Der Buddha betont die Unsagbarkeit und Geheimnishaf˙ tigkeit der nachtodlichen Existenz. Er hält Spekulationen über das Leben nach dem Tod in der Sphäre der Todlosigkeit und unbedingten Wirklichkeit für nicht heilsförderlich. Sein beharrliches Schweigen auf diesbezügliche Fragen erläutert er in dem berühmten Pfeilgleichnis in Majjhima Nika¯ya 63, das vor dem Hintergrund der heftigen Diskussionen zwischen damaligen indischen Philosophen-Schulen zu lesen ist, denen der Buddha kritisch gegenüberstand. Der Mönch Ma¯lunkyaputta ärgert sich in dieser Lehrrede darüber, dass der Buddha auf verschiedene Fragen keine Auskunft gibt, zu denen auch die Frage gehört, ob ein Vollendeter nach dem Tod lebt oder nicht lebt oder beides oder keines von beidem. Ma¯lunkyaputta droht damit, sein Asketenleben aufzugeben, wenn ihm der Buddha keine Auflösung dieser Probleme geben kann. Gautama antwortet mit folgendem Gleichnis: Wenn ein Mann, der von einem vergifteten Pfeil getroffen wurde, ihn erst dann entfernen lassen würde, wenn feststeht, wer auf ihn schoss, mit welchem Bogen geschossen wurde, welche Federn für die Pfeile verwendet wurden etc., würde er sterben, bevor der Pfeil entfernt werden könnte. Das Su¯tra deutet das Gleichnis auf zweifache Weise:28 1. Im Sinn eines Primats der Praxis: Es gilt jetzt mit der heilbringenden buddhistischen Lebensführung zu beginnen, anstatt zu warten, bis die vorgebrachten Fragen befriedigend beantwortet sind, denn sonst stirbt man am Ende vor dem Erlangen der Befreiung. 2. Die Beantwortung dieser Fragen ist für das Heilsstreben irrelevant. Der Buddha habe die Fragen nicht geklärt, weil sie den reinen Lebenswandel nicht begründen können und nicht zum Erwachen, zum Nirva¯na, führen. Man soll ˙ sich an das halten, was der Buddha erklärte, denn unabhängig davon, wie die Antwort auf die Fragen ausfalle, gebe es die verschiedenen Formen des Leidens, die Buddha beschrieb, die Gründe, aus denen es zum Leiden kommt, und den Weg der Überwindung des Leidens. Der Buddha lässt also die Frage nach der Verfassung des Vollendeten nach dem Tod offen. Man kann nur sagen, dass die psychophysischen Kennzeichen, die ihm während der irdischen Existenz zukamen, vernichtet werden. »Von der

28 Siehe dazu Schmidt-Leukel: Die Bedeutung des Todes, 32.

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Kennzeichnung durch die Körperlichkeit befreit ist ein Vollendeter, er ist tief, unermeßlich, nicht zu erfassen wie das große Meer.«29 Da der alte Leib zerstört ist und ein neuer nicht wieder ins Dasein tritt, weil das Verlangen nach neuem Leben in den vollkommen Erwachten nicht mehr am Werk ist, deshalb werden sie unwahrnehmbar, entziehen sich der Erscheinungswelt und können durch nichts mehr bezeichnet werden. So sieht es auch Sutta Nipa¯ta 1076: »Kein Maß gibt es für ihn, der hin zum Ende ging. Nicht gibt’s ein Wort, durch das man ihn erfaßt. Wenn alle Dinge völlig abgetan, sind abgetan auch aller Rede Pfade.«30 Die nachtodliche Existenz im Nirva¯na ist genauso unsagbar wie dieses selbst. ˙ Damit soll aber nicht gesagt werden, dass der Vollendete nach dem Tod völlig vernichtet wird. Man darf die negative Sprache des Buddhismus in dieser Hinsicht nicht dahingehend missverstehen, als würde sie das Nichtsein als Heilsziel propagieren. Das Streben nach dem Nichtsein wird genauso entschieden zurückgewiesen wie das Anhaften an der sich beständig wandelnden Welt. So z. B. in Itivuttaka 49: »Unter Göttern und Menschen, die von zwei irrigen Ansichten besessen sind, bleiben die einen unten hängen, die anderen laufen [am Ziel] vorbei […]. Und wie bleiben die einen unten hängen? Götter und Menschen haben Freude am Werden, sind des Werdens froh, sind durch das Werden ergötzt; wenn ihnen die Lehre zur Aufhebung des Werdens verkündet wird, so schnellt ihr Geist nicht empor, wird nicht ruhig, nicht fest, nicht geneigt […]. Und wie laufen die andern [am Ziel] vorbei? Einige nun, die im Gegenteil über eben das Werden niedergeschlagen sind, Unbehagen darüber empfinden, von Abneigung erfüllt sind, haben ihr Wohlgefallen an der Vernichtung. Da nun, wie sie sagen, dieses Ziel darin besteht, daß man bei der Auflösung des Körpers, jenseits des Todes ausgerottet, vernichtet wird, jenseits des Todes nicht mehr ist, so wähnen sie: ›Dies ist das Friedvolle, dies das Hocherhabene, dies das Gewisse.‹ So nun, ihr Jünger, laufen die anderen [am Ziel] vorbei.«31

Viele Lehrreden weisen die von den materialistischen Schulen zu Buddhas Zeit vertretene Auffassung vom Tod als endgültigem Ende des Menschen zurück. Die Su¯tras berichten von einem Ajita Kesakambali, der aus seiner materialistischen Lehre, die ein Leben nach dem Tod ablehnte, den Schluss zog, dass deshalb jede Moral und Sittlichkeit absurd und überflüssig sei. Diese Position wird in dem in den Su¯tras oft wiederholten Text vom zehnfachen unheilsamen Wandel als eine der abzulehnenden »falschen Auffassungen« zurückgewiesen. Die Existenz einer »anderen Welt außer dieser«, also die Existenz eines Jenseits, wird dagegen zusammen mit der Lehre von der Vergeltung der guten und bösen Werke bejaht

29 Majjhima Nika¯ya 72, zit. nach der Übersetzung von Kurt Schmidt in Buddhas Reden, 205. 30 In der Übersetzung von Nyanaponika. 31 Zit. nach Itivuttaka, 31.

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und gegen libertinistische Konsequenzen eines sie leugnenden materialistischen Denkens verteidigt. Wir können zusammenfassend festhalten, dass die frühbuddhistischen Aussagen über das nachtodliche Leben im Nirva¯na äußerst zurückhaltend sind. ˙ Die Vernichtung im Tod wird ausdrücklich abgelehnt und das nachtodliche Nirva¯na als Vollendung der erlösten Existenz gedacht, die schon vor dem Tod ˙ angebrochen ist. Als eine Überwindung des Todes in der und durch die Beziehung zur unbedingten Wirklichkeit ist das nachtodliche Eingehen ins Nirva¯na ˙ als Entsprechung zum christlichen Auferstehungsglauben zu betrachten. So etwas wie eine leibliche Auferweckung lässt sich jedoch im frühbuddhistischen Kontext nicht ausmachen. Außerdem werden im Buddhismus keine personalen Kategorien verwendet, die in christlichen Auferstehungsaussagen üblich sind (Eingehen zum Vater, Schau von »Angesicht zu Angesicht« etc.).

V.

Der Zusammenhang von Nirva¯na und Anatta¯-Lehre ˙

Die Unaussagbarkeit des nachtodlichen Seins des Erwachten hat eine genaue Entsprechung in einem zentralen buddhistischen Gedanken in Bezug auf das diesseitige Sein. Ich meine die Anatta¯-Lehre, die Lehre vom Nicht-Selbst. Uda¯na 8, 2 identifiziert die Verwirklichung des Nirva¯na geradezu mit der Verwirkli˙ chung dieser Lehre. Worum handelt es sich dabei? Nach frühbuddhistischer Auffassung bilden fünf sogenannte Khandhas (Gruppen, Zweige, Komplexe) die Konstituentien des Menschen: 1. r˜pa: körperliche Form, 2. vedana¯ : Empfindungen von Lust und Schmerz, Freude und Leid, 3. saÇjÇa¯ : das bewusste Erfassen von etwas als etwas und seine sprachliche Artikulation, 4. samska¯ra¯h: Willensakte, Absichten und 5. vijÇa¯na: Wahrnehmung, Sinnesempfindung und Wahrnehmung geistiger Objekte. Das sind die Momente, die der Mensch von sich selbst erkennen kann und mit denen er sich für gewöhnlich identifiziert. An sie hält man sich, man haftet an ihnen als an dem, was das eigene Ich ausmacht. Die sogenannte Nicht-Selbst-Lehre besagt in erster Linie, dass all diese Bestandteile der Person nicht das Selbst sind. Zugrunde liegt hierbei ein Selbstbegriff, wie er in der Zeit Buddhas im spätvedischen Schrifttum, namentlich in bestimmten Bra¯hmana-Texten und in den Upanisaden, vertreten wurde. Danach ˙ kann als a¯tman, »Selbst«, nur betrachtet werden, was unsterblich und selig ist.

Buddhistische Entsprechungen zum christlichen Auferstehungsglauben

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»Und dieser ›Selbst‹-Begriff der frühen Upanisaden oder ein diesem nahestehender Begriff ist deutlich jener Wertmaßstab, an dem die erkennbaren Konstituenten der Person gemessen werden. Das bedeutet, sie sind es nicht wert, daß man sich mit ihnen identifiziere, weil sie nicht das Selbst, der wahre a¯tman sind. Denn dieses Eigentliche, das Wesen der Person könne nur sein, was seiner Natur nach freudvoll, befriedigend ist. Diesen Begriff der spätvedischen Zeit, das Selbst, wie es die Upanisaden als absolut freudvoll annehmen, setzt der Buddha voraus, wenn er die faßbaren ›Zweige‹ der Person als ›nicht das Selbst seiend‹ bezeichnet.«32

Die Nicht-Selbst-Lehre hat ursprünglich nicht den Sinn einer Theorie von der Nicht-Existenz des Selbst, sondern ist auf einen praktischen Zweck ausgerichtet. Sie ist in einen meditativen Einübungsvorgang eingebettet. Es geht immer um die Auflösung der Identifikation mit den Konstituenten, die für das Selbst gehalten werden. Dies gilt als einer der besten Wege zum Erlangen des Nirva¯na. ˙ Die Kritik an der Identifizierung der Khandas mit dem Selbst ist eines, wie aber steht es mit der Existenz dieses Selbst? Hat der frühe Buddhismus sie ebenfalls abgelehnt? In Samyutta Nika¯ya IV schweigt der Buddha sowohl auf die ˙ Frage, ob es ein Selbst im beschriebenen Sinn gebe, als auch auf die Frage, ob es also kein Selbst gebe. Im Hintergrund steht die Frage nach der Vernichtung des Selbst im Tod bzw. seinem ewigen Bestand. Mit dem Schweigen zu beiden Fragen weist er nach einem damals in Disputationen üblichen Brauch die ganze Fragestellung als irreführend zurück. Dabei leiten ihn weniger theoretische Vorbehalte als vielmehr praktisch-soteriologische Erwägungen. Wer so fragt und denkt, kommt nicht zum Heil. Nach der Formulierung von Jens Schlieter : »Es geht nicht darum, darüber zu streiten, ob es einen Atman gibt, sondern darum, eine bestimmte […] Selbstsicht, die zur ›Selbstsucht‹ führt, abzubauen.«33 Der Buddha lehnt es ab, in metaphysischen Prinzipien oder bestimmten Daseinserscheinungen einen Garanten für die Erlösung zu sehen. »Dies wäre nach der Ansicht Buddhas nur trügerische Illusion und eine weitere Form des Anhaftens. Die Erlösung muß errungen werden, sie ist nicht metaphysisch vorgegeben.«34 In Samyutta Nika¯ya 22, 85 besucht der Mönch Sariputta einen anderen ˙ 32 Steinkellner : Zur Lehre vom Nicht-Selbst, 178. 33 Bikkhunı¯ Samyutta 10. Schlieter: Buddhismus, 42. Ähnlich vertrat schon Schmithausen ˙ Intention Buddhas sei es gewesen, die Wurzel der Leidenschaften, die dieser die Ansicht, die in der Vorstellung eines mit Körper, Gefühl etc. identifizierten Ichs sieht, zu bekämpfen, indem er darauf hinwies, dass diese Daseinsmöglichkeiten nicht das wahre Selbst sein könnten, das nach indischer Auffassung unvergänglich sei. »Ein Hinweis auf die Existenz eines unfaßbaren Atman jenseits der in der Erfahrung gegebenen Persönlichkeitskonstituentien ist aber, wenn es nur um die Ausrottung der Leidenschaften geht, überflüssig; ja er wäre sogar gefährlich, da er leicht mißverstanden werden und dann gerade zu einer Stärkung des Egoismus und der Leidenschaften führen könnte.« (Ich und Erlösung im Buddhismus, 161) 34 Schmidt-Leukel: Die Bedeutung des Todes, 103.

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Mönch, Yamaka, der die Ansicht vertritt, der Buddha werde nach dem Tod vernichtet. Sariputta legt ihm die Anatta¯-Lehre dar und fragt ihn anschließend, ob er glaube, der Vollendete sei mit den fünf Khandas identisch. Das verneint Yamaka. Als er weiter gefragt wird, ob Buddha in den Khandas enthalten sei, außerhalb ihrer existiere oder jemand sei, der die Khandas gar nicht besitze, muss er auf alle diese Fragen wiederum negative Antworten geben. Darauf fasst Sariputta zusammen, dass in dieser Erscheinungswelt der Tatha¯gata nicht ausfindig zu machen ist. Wenn dies aber wahr ist, dann könne man erst recht nichts über das Schicksal des Vollendeten nach dem Tod aussagen. Auch diesem Gespräch zufolge ist weder die Affirmation noch die Negation der Existenz eines ewigen Selbst zutreffend. Vielleicht kann man sagen, dass die im Nirva¯na erreichte Freiheit vom Anhaften an das Endliche und Offenheit für ˙ das Todlose das Zentrum der Identität des Vollendeten ausmacht und die Scheu, dies wiederum zu einem unsterblichen Etwas im Menschen zu verdinglichen, zu den referierten apophatischen Denkfiguren führte. Von den dargestellten frühbuddhistischen Ausführungen zur Anatta¯-Lehre ist die spätere Lehre von der Nicht-Existenz des Selbst, ana¯tmava¯da, zu unterscheiden. Sie tritt zuerst in Versen zu Tage, die der Nonne Vajira¯ zugeschrieben werden: »Dies ist nur ein Haufen von Gebilden, ein Wesen ist hier nicht zu finden. Denn wie beim Vorhandensein der Bestandteile der Name ›Wagen‹ besteht, so besteht, wenn die Gruppen vorhanden sind, der übliche Ausdruck ›Wesen‹.«35

Hier wird die Person als Ganzes erstmals mit einem Wagen verglichen, dem über die Einzelteile hinaus, aus denen er besteht, keinerlei eigene Wirklichkeit zukommen soll. Das Wagengleichnis wird später im MilindapaÇha im Rahmen einer ausgefeilteren Argumentation erneut herangezogen, wobei wiederum gezeigt werden soll, dass die Person aus Teilen zusammengesetzt ist, die allein wirklich sind. Als ganze existiert sie nach strengen Kriterien überhaupt nicht. Heute besteht weitgehend Übereinkunft darüber, dass diese Interpretation in den alten Schichten des Kanons nicht nachweisbar ist. Auch später ist sie nicht gänzlich vorherrschend geblieben. Na¯ga¯rjuna etwa nähert sich wieder der alten Auffassung von Anatta¯, und die Lehre vom Tatha¯gatagarbha, auf die ich gleich noch eingehen werde, ist ebenfalls kein ana¯tmavada nach Art des Wagengleichnisses.

35 Bikkhunı¯ Samyutta 10. Der Ausdruck »Wesen« (satta) meint im Kontext so viel wie »Lebe˙ wesen«, die einzelne Person eingeschlossen.

Buddhistische Entsprechungen zum christlichen Auferstehungsglauben

VI.

381

Spätere Entwicklungen

In den verschiedenen Erzählschichten des Parinibba¯na-Sutta werden bereits unterschiedliche buddhalogische Konzepte sichtbar, die später ausgearbeitet wurden.36 Das Spektrum reicht von einer Sichtweise, die die Menschlichkeit des Buddha betont, bis zu ersten Ansätzen einer »Erhöhungs-Buddhalogie«. Diese zeigt sich, wenn – anders als im Pa¯li-Text – in den Sanskritversionen nicht mehr der Mönch Kassapa vor der Verbrennung von Buddhas Leichnam dessen Füße enthüllt, sondern der gestorbene Buddha selbst seine Füße hervorstreckt. Schon bald kamen doketistische Interpretationen des Buddha auf, die sich aber auf die Dauer ebenso wenig durchsetzen konnten wie im Christentum. Im Lotos-Su¯tra wird die heilsgewährende Gegenwart des erhöhten Buddha hervorgehoben: »Aber in Wahrheit bin ich nicht erloschen und hinübergegangen, beständig bin ich hier und predige den dharma.«37 Dieses berühmte Su¯tra des Maha¯ya¯na, dessen Urform etwa 100 u. Z. entstanden sein dürfte, betont das göttliche Wesen Buddhas als unvergängliches, ewiges Leben, ein Leben, das aus unermesslicher Vergangenheit kommt, die Gegenwart erfüllt und in unermessliche Zukunft reicht. Gautama Buddha ist in diesem Sinn Buddha von Ewigkeit her, der, um die Menschen zu retten, auf Erden in Erscheinung tritt, geboren wird und stirbt. Daraus entsteht die Frage: Warum musste der Buddha ins Parinirva¯na eingehen und vor den Augen der Welt verlöschen? Warum ist er ˙ nicht bei den Menschen geblieben? Von sich aus hätte er ja nicht sterben müssen. »Das Leben, unermeßlich, unzählige Weltzeitalter : beständig bleibt es, nicht erlischt es. […] das Leben, seit ich ursprünglich den Bodhisattva-Weg ging und vollendete, ist heute noch nicht erschöpft. Obwohl jetzt also in Wahrheit das Erlöschen und Hinübergehen nicht stattfinden, verkündige ich und sage ich mit dem geschickten Mittel (upa¯ya), daß ich das Erlöschen und Hinübergehen ergreifen müsse.«38

Wenn der Erwachte den Menschen immer greifbar und sichtbar wäre, würden sie bequem und träge werden und sich nicht genug um ein tugendhaftes Leben bemühen. Aber, heißt es weiter, weil er in ein anderes Reich entschwunden ist, »hegen sie in ihrem Herzen Liebe und Verbundenheit und Sehnsucht für Buddha, sie pflanzen die guten Wurzeln der Tugenden (skt. pa¯ra¯mitas)«. Die Entzogenheit Buddhas im Jenseits des Parinirva¯na geschieht also um der Rettung ˙ der Menschen willen. Ein Ent-Zug, der anzieht und mitzieht, wenn man so will. 36 Ich verwende die Ausdrücke »buddhalogisch« und »Buddhalogie«, um damit buddhistische Theorien über den Buddha, die der Christologie im Rahmen christlicher Theologie vergleichbar sind, von Buddhologie im Sinn akademischer Buddhismuskunde zu unterscheiden. 37 Lotos-Su¯tra: XVI zit. nach von Brück: Buddhismus, 80. 38 Lotos-Su¯tra: XVI zit. nach von Borsig: Das Buddha-Bild im Lotos-Sutra, 89.

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Als Antwort auf die Frage, wie es überhaupt möglich ist, dass jemand, der seit anfangloser Zeit in Gier und Hass befangen ist, das andere Ufer des Erwachens zum Todlosen erreichen kann, wird im späteren Buddhismus die Lehre vom Tatha¯gatagarbha, der Buddha-Natur oder dem Buddha-Keim, entwickelt. Darunter ist eine in jedem Menschen angelegte Potenzialität zu verstehen, die in der vorgängigen Präsenz der unbedingten Wirklichkeit im Menschen gründet. Dieser Keim wird als beständig, unbewegt und glückselig beschrieben, also mit Attributen des brahmanischen a¯tman. Im maha¯ya¯nistischen Parinirva¯na Su¯tra ˙ heißt es: »Ich habe nicht gesagt, dass es in den Lebewesen kein Selbst gibt. Ich habe immer gesagt, daß die Buddhanatur in allen Lebewesen existiert. Ist diese Buddhanatur nicht das Selbst?«39 Aber auch in diesem Su¯tra wird nicht einfach die Unendlichkeit und Ewigkeit des Selbst gedacht, sondern die Buddha-Natur als Weg der Mitte zwischen den Extremen von Selbst und Nicht-Selbst vertreten, um ihrer unauslotbaren Wirklichkeit und Weite zu entsprechen.

Quellen Buddhas Reden. Majjhimanikaya. Die Sammlung der mittleren Texte des buddhistischen Pali-Kanons, in kritischer, kommentierter Neuübertragung von Kurt Schmidt, Heidelberg (Kristkeitz) 1989. Die Reden des Buddha. Samyutta Nika¯ya. Gruppierte Sammlung, übers. von Wilhelm ˙ Geiger, Nya¯naponika Maha¯thera, Hellmuth Hecker, Konstanz 2003, 77. Dighanika¯ya. Das Buch der langen Texte des buddhistischen Kanons, in Auswahl übers. von Otto Franke, Göttingen (Vandenhoeck und Ruprecht) 1913. Itivuttaka. Das Buch der Herrenworte. Eine kanonische Schrift des Pa¯li-Buddhismus, ins Dt. übers. aus dem Urtext von Karl Seidenstücker, Leipzig (Altmann) 1922. Khuddaka-Pa¯tho. Kurze Texte. Eine kanonische Schrift des Pa¯li-Kanons, aus dem Pa¯li ˙ übers. von Karl Seidenstücker, Breslau (Walter Markgraf) 1910. Milindapanha. Die Fragen des Königs Milinda, aus dem Pali übers. von Nyantiloka, hg. und teilw. neu übers. von Nyanaponika, Interlaken (Ansata) 1985.

Sonstige Literatur von Borsig, Margareta: Das Buddha-Bild im Lotos-Sutra, in: Schmidt-Leukel, Perry (Hg.): Wer ist Buddha? Eine Gestalt und ihre Bedeutung für die Menschheit, München (Diederichs) 1998, 75 – 92. von Brück, Michael: Buddhismus: Grundlagen – Geschichte – Praxis, Gütersloh (Gütersloher Verlagshaus) 1998. Klimkeit, Hans-Joachim: Der Buddha. Leben und Lehre, Stuttgart (Kohlhammer) 1990. 39 Zit. nach Tauscher : Die Buddha-Wirklichkeit, 113.

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Pieris, Aloysius: Reinkarnation im Buddhismus. Eine christliche Bewertung, in: Concilium 29 (1993), 389 – 393. Pöhlmann, Horst Georg: Begegnung mit dem Buddhismus. Dialoge, Erfahrungen und Grundsatzüberlegungen. Ein Beitrag zum interreligiösen Gespräch, Frankfurt / M. (Lembeck) 1998. Rahner, Karl: Theologische Prinzipien der Hermeneutik eschatologischer Aussagen, in: ders.: Schriften zur Theologie, Bd. 4, Einsiedeln u. a. (Benziger) 1960, 401 – 428. Ders.: Grundkurs des Glaubens. Eine Einführung in den Begriff des Christentums, Freiburg / Br. (Herder) 1976. Schlieter, Jens: Buddhismus zur Einführung, Hamburg (Junius) 1997. Schmidt-Leukel, Perry : Die Bedeutung des Todes für das menschliche Selbstverständnis im Pali-Buddhismus, St. Ottilien (EOS) 1984. Ders.: Die Wahrheit des Buddhismus aus christlicher Sicht – ein dialogisches Zwischenresümee, in: SaThZ 3 (1999), 52 – 69. Ders.: Buddha und Christus als Inkarnationen, in: Nitsche, Bernhard (Hg.): Gottesdenken in interreligiöser Perspektive. Raimon Panikkars Trinitätstheologie in der Diskussion, Paderborn (Lembeck / Bonifatius) 2005, 202 – 219. Ders.: Understanding Buddhism, Edinburgh (Dunedin Academic Press) 2006. Schmithausen, Lambert: Ich und Erlösung im Buddhismus, in: Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 53 (1969), 157 – 170. Steinkellner, Ernst: Zur Lehre vom Nicht-Selbst (ana¯tman) im frühen Buddhismus, in: Figl, Johann, Klein, Hans-Dieter : Der Begriff der Seele in der Religionswissenschaft, Würzburg (Königshausen und Neumann) 2002, 171 – 186. Tauscher, Helmut: Die Buddha-Wirklichkeit in den späteren Formen des maha¯yanistischen Buddhismus, in: Schmidt-Leukel, Perry (Hg.): Wer ist Buddha? Eine Gestalt und ihre Bedeutung für die Menschheit, München (Diederichs) 1998, 93 – 118. Vetter, Tilmann: The Ideas and Meditative Practices of Early Buddhism, Leiden u. a. (Brill) 1988. Zin, Monika: Der Wandel des Buddha-Bildes im Buddha-Bildnis. Zu den Anfängen der Buddha-Darstellung, in: Schmidt-Leukel, Perry (Hg.): Wer ist Buddha? Eine Gestalt und ihre Bedeutung für die Menschheit, München (Diederichs) 1998, 50 – 74.

Regina Polak

Atheismus und Spiritualität. Zwischentöne in der religiösen Landschaft

I.

Widmung und Dank

Anlässlich des 80. Geburtstages meines verehrten Lehrers Karl Augustinus Wucherer- Huldenfeld habe ich mich von seinen Forschungen zum Atheismus1 anregen lassen, die religionssoziologischen und praktisch-theologischen Forschungsergebnisse an unserem Institut2 einer Relektüre zu unterziehen.

1.

Philosophie und Theologie des Atheismus

Neu sind diese seine Analysen für mich nicht: Professor Wucherer-Huldenfeld ist einer meiner ersten, wenn nicht sogar einer meiner einflussreichsten Universitätslehrer. Als ich ihn 1985 das erste Mal hörte – es handelte sich um die Ontologievorlesung –, verstand ich so gut wie gar nicht, wovon hier die Rede war. Aber ich ahnte instinktiv : Hier geht es um Elementares. Das möchte und das muss ich verstehen lernen. So saß ich dann selbst mit Grippe in den Vorlesungen, oftmals ratlos und verwirrt. Ich habe mir die Vorlesungszyklen sogar mehrfach angehört, um zu begreifen, was mir hier eröffnet wurde. Erst beim dritten Zyklus war ich wirklich in der Lage, mitzuschreiben, ein Zeichen für beginnendes Verständnis. Wucherer-Huldenfelds philosophische und theologische Reflexionen zum Phänomen des Atheismus haben mich bereits damals so bewegt und auch erschüttert, dass ich alle Lehrveranstaltungsangebote besuchte, die von der »Abteilung für Atheismusforschung«3 am Institut für Christliche Philosophie 1 Wucherer-Huldenfeld: Atheismusforschung. 2 Institut für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, Fachbereich Pastoraltheologie und Kerygmatik, http://ktf.univie.ac.at/prt. 3 Eine solche gab es am Institut für Christliche Philosophie der Kath.-Theologischen Fakultät. Sie wurde 1978 eingerichtet, im Anschluss an das Zweite Vatikanische Konzil und den von diesem angestrebten Dialog mit den Nicht-Glaubenden. Papst Paul VI. hatte dazu ein eigenes Sekretariat eingerichtet, dessen Leitung über viele Jahre hinweg beim Erzbischof von Wien,

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angeboten wurden. Heute weiß ich, wie sehr mich diese Auseinandersetzung mit Wucherer-Huldenfelds Atheismus-Reflexionen geprägt hat. Mein Glaube, meine Theologie, mein Verständnis von Christ-Sein haben, durch große Krisen hindurch, an Tiefe und Substanz gewonnen.

2.

Phänomenologisches Wahrnehmen und Denken

Doch nicht nur das: Wucherer-Huldenfeld ist jener Professor, der mich das Wahrnehmen und Denken gelehrt hat. Genauer : das phänomenologische Wahrnehmen und Denken. Dies ist ein Denken, das bedenkt, was sich zeigt – und es so bedenkt, dass es sich von sich her, in seinem Wie, zeigen kann. Es ist erfahrungsgesättigtes Denken, zu dem wesentlich die Reflexion dessen gehört, was einem in der Wirklichkeit zu denken begegnet, zu denken aufgegeben ist, zu denken gibt. Denken steht hier im Dienste eines vertieften Verständnisses von Wirklichkeit in ihrer Wahrheit. Nur solches Denken eröffnet die Möglichkeit, dass sich die Phänomene – wenn überhaupt – dem und der Denkenden von selbst in ihrem Wesen erschließen und in ihrer Eigenart zu erkennen geben. Respekt vor dem »Eigen-Sinn« und der »Andersheit«, dem »Geheimnis« des zu verstehenden Phänomens, werden so zugleich möglich und mitgelernt. Es ist ein Denken, zu dem untrennbar das gründliche, leibhaftige Wahrnehmen gehört; ebenso das unermüdliche und gründliche Fragen nach dem Grund und dem Ganzen.

3.

Beziehung als Denk-Kategorie

Im Zentrum dieses Denkens steht bei Wucherer-Huldenfeld die Dimension der Beziehung: Das spezifisch personal-dialogische Gepräge seiner Phänomenologie ermöglicht eine Wahrnehmung der Wirklichkeit, in der man, in gewissem Sinne »mystisch«, wahrnehmen kann, dass und wie alles mit allem in Beziehung steht. Der relationale Charakter aller Wirklichkeit kann in dieser Denkweise erkannt werden. Insofern hatte Wucherer-Huldenfelds Denken eine maßgebliche Auswirkung auf mein theologisches Denken. Es eröffnet die spirituelle Dimension der Wirklichkeit – auch auf Gott hin, den Ermöglichungsgrund von »Sein-in-Beziehung«. So wird es möglich, die Wirklichkeit und die uns zu denken aufgegebenen Phänomene in ihrer Beziehung zu Gott wahrzunehmen und besser verstehen zu lernen. Indem er dies vermittelte, war WuchererKardinal DDr. Franz König, lag. Im Zuge der Universitätsreformen wurde sie in den 1990er Jahren aufgelöst. Vgl. Figl: Abteilung für Atheismusforschung.

Atheismus und Spiritualität. Zwischentöne in der religiösen Landschaft

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Huldenfeld auch eine Art geistlicher Lehrer für mich. Das war mir als Studentin noch nicht reflex bewusst, zeigt sich in seinen Wirkungen aber immer deutlicher. Sein unaufdringlicher, aber klar wahrnehmbarer Glaube hat mich gelehrt, dass Glaube und Weite des Denkens kein Gegensatz sind, geradezu im Gegenteil. Solcher Glaube weitet das Denken und trennt es nicht von der Spiritualität. Freilich gehören dazu auch die »atheistischen« Zweifelskrisen. Denken wird dabei selbst ein Vorgang spiritueller Übung. Dafür bin ich mehr als dankbar.

4.

Bedeutung für die Praktische Theologie und Pastoraltheologie

Was ich in dieser Zeit gelernt habe, hat sich bis heute bei meinem Arbeiten auf dem Feld von Praktischer Theologie und Pastoraltheologie als äußerst hilfreich erwiesen. In meinem Fach, das sich auch als theologische Hermeneutik gegenwärtiger gesellschaftlicher, religiöser und kirchlicher Praxis versteht, gilt es, Phänomene genau wahrzunehmen, theologisch zu bedenken und zu reflektieren. Wucherer-Huldenfelds personal-dialogische Phänomenologie ist für die pastoraltheologische Aufgabe, »Reformen« für Kirche und Gesellschaft anzudenken, eine unverzichtbare Kraft. Sie fördert Nachdenklichkeit und schützt vor aktivistischem Pragmatismus. Sie eröffnet die Wahrnehmung für zeitgenössische Phänomene in ihrem »Wie«-Sein und lässt diese von sich selbst her »sprechen«. So kann die Option der Praktischen Theologie angemessener realisiert werden, für die zeitgenössische Situation »Partei zu ergreifen« und aus deren Perspektive die Tradition zu befragen. Sie lässt dank dieser Offenheit auch dem Geist Gottes Raum. Immer wieder habe ich die Erfahrung gemacht, dass der phänomenologische Wahrnehmungs- und Deutungsprozess schon nahezu die »ganze Arbeit« ist auf dem Weg zur Handlungsperspektive. Diese kann sich nämlich so menschen-, situations- und gottadäquater von sich selbst her zeigen. Aus all den angesprochenen Gründen ist es mir eine große Ehre, für diese Festschrift einen Beitrag zu verfassen.

II.

Hinführung zum Thema

1.

Die Sammelbegriffe »Atheismus« und »Spiritualität« …

»Atheismus« und »Spiritualität«: Das sind zwei »Sammelbegriffe«4 zur Beschreibung heute höchst heterogener Welt-Phänomene, die längst nicht mehr nur regional oder im unmittelbaren Umfeld von (christlicher) Religion anzu4 So bezeichnet Wucherer-Huldenfeld das Phänomen »Atheismus«, um das Wort von einem

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treffen sind. »Atheismus« bezeichnet »Daseinsdeutungen, Verständnisweisen, Lebensweisen und Haltungen, deren Wurzeln, Bedingungen, Motive und Intentionen selber noch einmal außerordentlich verschieden sein können«.5 Zudem kann Atheismus sowohl eine Fremd- als auch eine Selbstbezeichnung sein. Diese Situation verlangt nach terminologischer Differenzierung. Es ist eines der zentralen Verdienste Wucherer-Huldenfelds, den weltweiten Atheismus – seine Entstehung, seine Geschichte und das Phänomen selbst – in seinen Forschungen philosophisch wie theologisch umfassend reflektiert und gewürdigt zu haben. Analog kann man auch das Phänomen »Spiritualität« betrachten, das sich von einem ursprünglich im christlichen Raum entstandenen Begriff zu einem »Weltwort«6 gewandelt hat. Wie der »Atheismus« kann auch der Bereich der Spiritualität als ein in sich höchst differentes Phänomen von »Daseinsdeutungen, Verständnisweisen, Lebensweisen und Haltungen, deren Wurzeln, Bedingungen, Motive und Intentionen selber noch einmal außerordentlich verschieden sein können«, betrachtet werden. So lässt sich mit Karl Baier prognostizieren, »dass sich […] derzeit so etwas wie ein globales Bewusstsein vieler miteinander mehr oder weniger vernetzter Spiritualitäten herausbildet«.7

2.

… aus praktisch-theologischer Perspektive

»Atheismus« und »Spiritualität« ähneln einander also insofern, als sie beide Möglichkeiten und Versuche sind, sich zum Sinn und Grund des Ganzen des Daseins zu verhalten – als Frage und / oder Antwort, als Lebensdeutung und Lebenspraxis. Als solche können sie einander diametral ausschließend gegenüberstehen, z. B. als christlicher Lebensentwurf, in dem jemand sein Leben in der Nachfolge Christi als des Sohnes Gottes leibhaftig zu realisieren versucht, oder als radikaler Lebensentwurf, der sich rein innerweltlich ohne Glauben an einen Gott vollzieht und diesen sogar bekämpft. Aber es sind nicht zuletzt die Studien von Wucherer-Huldenfeld, die es ermöglichen, wahrzunehmen und zu begreifen, wie und warum die beiden Lebensentwürfe im Leben einzelner Menschen einander überlappen können. Die »religiöse Musikalität« des Menschen – seine Möglichkeit, sich auf eine transzendente Wirklichkeit zu beziehen und dies auf vielfältige, schöpferische Weise auszudrücken – kennt viele Zwischentöne. So lassen empirische Studien »Spiritualitäten« erkennen, die den Lebenssinn ohne »Wesenbegriff« abzugrenzen: Wucherer-Huldenfeld: Ursprüngliche Erfahrung, 5. 5 Ebd. 6 Baier : Spiritualitätsforschung heute, 13. 7 Ebd.

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Bezugnahme auf eine transzendente Wirklichkeit oder einen transzendenten Gott konzipieren. Sie setzen primär auf die Entwicklung und Transformation des Selbst und verstehen »das Göttliche« bestenfalls als eine immanente Dimension »im Menschen«.8 So gesehen können sie als atheisierend bezeichnet werden. Ebenso schließen atheistische und spirituelle (insbes. fernöstliche) Elemente einer Weltdeutung empirisch einander nicht aus. Auch Christen beiderlei Geschlechts zeigen in ihren Weltdeutungen naturalistische, skeptische, selten zwar, aber auch atheistische Dimensionen.9 Die vorfindbare religiöse Situation der Menschen ist also komplexer als die theoretisch scharf getrennten Konzepte. Als Praktische Theologin und Pastoraltheologin frage ich nach den Bedingungen der Möglichkeit christlichen Glaubens und kirchlichen Lebens in der Gegenwart – mit einer Option für die (nicht nur religiösen) Sinn- und Lebensdeutungen heutiger Menschen. Dies geschieht systematisch durch sozialwissenschaftliche Erforschung der sozioreligiösen Situation. Von deren Ergebnissen her befrage ich die theologische und kirchliche Tradition. Nehme ich die sozioreligiösen Entwicklungen des vergangenen Jahrzehntes in Europa mit der Hermeneutik wahr, die mir Wucherer-Huldenfelds Atheismus-Studien zur Verfügung stellen, fällt mir zweierlei auf: a) Der »Sammelbegriff Spiritualität« findet in den Kultur- und Sozialwissenschaften ausgesprochen breites Interesse; die Forschungen dazu boomen in allen Fachrichtungen.10 Dies hängt damit zusammen, dass »Spiritualität« im vergangenen Jahrzehnt zu einer Art »Zeugenotion« der sozioreligiösen Situation mutiert ist. Darunter versteht man einen Begriff, der »plötzlich« sehr häufig verwendet wird, sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene. In ihm verdichten sich symbolhaft die aktuellen Herausforderungen und Nöte einer Gesellschaft ebenso, wie zugleich eine mögliche Lösung angedeutet wird. Das gehäufte Auftreten des Begriffes »Spiritualität« kann so davon zeugen, dass Menschen die gegenwärtige Situation fortschreitender Modernisierung als Sinn- und Geisteskrise erleben und auf der 8 Beschreibungen solcher zeitgenössischen Spiritualitäten finden sich z. B. in: Knoblauch: Vom New Age zur populären Spiritualität, ders.: Populäre Religion?, Lüddeckens / Walthert: Neue religiöse Bewegungen im Wandel. Der Begriff »atheistisch« wird hier nie als Deutungskategorie benützt. 9 Zulehner / Hager / Polak: Kehrt die Religion wieder?, 85: Die Gruppe der sogenannten »Atheisierenden« (13 % der befragten ÖsterreicherInnen), die sich 2000 via Clusteranalyse aus dem Sample herauskristallisierte, zeichnet sich dadurch aus, dass sich in ihrer Weltdeutung primär atheistische, naturalistische, humanistische und fernöstlich-religiöse Motive, ganz selten auch christliche Motive miteinander verbinden. 10 Am Institut für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien haben wir begonnen, eine interdisziplinäre Literaturdatenbank zu erstellen – mit dem Ergebnis, dass eine solche nicht einmal annähernd vollständig sein kann. Einen fundierten Überblick bietet Baier : Handbuch Spiritualität.

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Suche nach Unterstützung, nach Lösungsmöglichkeiten für ihre Lebensdeutungen und Sinnentwürfe sind. Für die empirische Forschung ist ein solches Phänomen natürlich attraktiv. b) Obwohl empirische Studien belegen, dass auch der Atheismus in den europäischen Gesellschaften durchaus verbreitet ist,11 fehlt eine auch nur annähernd vergleichbare systematische sozialwissenschaftliche und auch theologische Auseinandersetzung mit dem Phänomen. Ist der Atheismus keine »Zeugenotion«? Ist ein atheistischer Lebensentwurf nicht Folge und Ausdruck einer gesellschaftlich als krisenhaft erfahrenen Situation? Vielleicht hat die Vernachlässigung des Phänomens jene Ursachen, die auch WuchererHuldenfeld beschreibt:12 – Interesse, Forschung und Literatur zum Thema Atheismus, die das Ganze des Phänomens systematisch zu reflektieren versuchen, sind stark zurückgegangen und stehen dann auch bei religionssoziologischen und theologischen Interpretationen nicht zur Verfügung. – Als Atheismus kommt genau genommen nur ein Anti-Theismus in den Blick, während die vielfältigen Variationen dieses Phänomens – der skeptische, der agnostische, vor allem der indifferente Atheismus sowie das (unauffällige?) Fehlen eines Theismus – gar nicht wahrgenommen werden. Ich werde im Folgenden eine religionssoziologische Darstellung der zeitgenössischen sozioreligiösen Situation in Österreich geben. Dabei berichte ich vor allem über die jüngsten Ergebnisse der Europäischen Wertestudie, wie sie für Österreich vorliegen.13 Da Wucherer-Huldenfeld die Ergebnisse der Wertestudien 1990 und 2000 aus seiner Perspektive beleuchtet hat, weiß ich um das Interesse des Jubilars an diesen Daten. Danach möchte ich einen Impuls seiner Atheismusforschung zur Interpretation der empirischen Ergebnisse heranziehen. So manches der Ergebnisse erscheint dann in hellerem, manchmal auch irritierendem Licht und regt zu weiteren Forschungsfragen und praktischen Konsequenzen in Kirche, Pastoral, Schule und Religionsunterricht an.

11 Z.B. in der Europäischen Wertestudie 2000: Fragt man nach dem Selbstverständnis, geben z. B. in Österreich 1,8 % an, »überzeugte Atheisten« zu sein; in Deutschland sind es 13,2 %, in Tschechien 8,3 %. Aber was ist mit jenen Menschen, die sich zwar nicht als »überzeugte Atheisten« bezeichnen, aber als »nicht religiös«? In Österreich sind das 18,7 %, in Deutschland 41,1 %, in Tschechien 48,5 %. Als Atheisten kommen sie jedenfalls nicht in den Blick – und so wird dem Phänomen auch weiter keine große Aufmerksamkeit geschenkt. Vgl. http://www.europeanvaluesstudy.eu/ (6. 10. 2010). 12 Vgl. Wucherer-Huldenfeld: Ursprüngliche Erfahrung, 4. 13 Vgl. Friesl / Polak / Hamachers-Zuba: Die ÖsterreicherInnen.

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391

III.

Von der »Wiederkehr der Religion« zur »Transformation von Religion«: Der »vergessene« Atheismus

1.

Eine Erinnerung …

2001 veranstaltete das Wiener Institut für Pastoraltheologie14 ein internationales Symposium, um die religionssoziologischen Ergebnisse der beiden repräsentativen Langzeitstudien von 1999 – 2000 zu diskutieren, für die das Institut seit mehr als drei Jahrzehnten verantwortlich zeichnet: das Langzeitprojekt Paul M. Zulehners »Religion im Leben der ÖsterreicherInnen« (seit 1970) und die »Europäische Wertestudie« (seit 1990).15 Im Zentrum der Debatte stand der – auch für unser Forschungsteam – unerwartete Befund dessen, was wir damals »Wiederkehr der Religion« nannten.16 Europaweit und auch in Österreich hatten alle Parameter, die subjektive Religiosität messen, an Bedeutung gewonnen. Insbesondere in den europäischen Großstädten (mit Ausnahme von Paris) waren die Zustimmungsraten zu subjektiver religiöser Selbsteinschätzung, zum Glauben an Gott und zur Wichtigkeit Gottes für das Leben statistisch signifikant gestiegen.17 Der Anteil jener Befragten an der Gesamtstichprobe, die in kritischer Distanz zur Kirche an Gott glauben, war seit 1990 von 39 % auf 44 % gestiegen. Wir nannten sie damals die »Kulturreligiösen«, i. e. Personen, die an Gott im Sinne »irgendeines höheren Wesens« glauben und selten bis nie den Sonntagsgottesdienst besuchen.18 Ebenso wurde 1999 eine sozioreligiöse Gruppe deutlich erkennbar, die aus unterschiedlichsten religiösen (zumeist fernöstlichen), humanistischen, naturalistischen und auch ausgewählten christlichen Elementen eine individuelle Religiosität kombiniert, Gott aber nicht nach der Art der Christen versteht. Mit 30 % bildeten diese »Religionskomponistinnen und -komponisten« eine relevante Gruppe im religiösen Feld.19 Dieses Ergebnis widerlegte jene Variante der klassischen Säkularisierungsthese, der zufolge mit zunehmender Modernisierung Religion verschwinden würde. 14 Heute: Institut für Praktische Theologie (Fachbereich Pastoraltheologie und Kerygmatik & Fachbereich Religionspädagogik und Katechetik). 15 Die Publikationen zu den Erhebungen 1999 – 2000 sind publiziert in: Zulehner / Hager / Polak: Kehrt die Religion wieder?, Friesl / Denz / Polak / Zuba / Zulehner : Die Konfliktgesellschaft, Denz: Die europäische Seele. 16 Vgl. Polak: Religion kehrt wieder. 17 Nach Denz: Die europäische Seele, 38 – 40, verstanden sich z. B. in Brüssel 1999 59 % der Befragten als religiös (1990: 48 %), 78 % gaben an, an Gott zu glauben (1990: 61 %), für 48 % war Gott sehr wichtig im Leben (1990: 31 %) und selbst der sonntägliche Kirchgang hatte zugelegt (1999: 29 %, 1990: 17 %). Ähnliche Entwicklungen waren überall in Europas Großstädten zu beobachten, auch in Wien. 18 Vgl. Friesl / Zuba: Die ÖsterreicherInnen und die Religion, 122 f. 19 Vgl. Zulehner / Hager / Polak: Kehrt die Religion wieder?, 84.

392 2.

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… und wie man die These von der »Wiederkehr« heute reformulieren muss

a) im öffentlichen Raum Ein Jahrzehnt später fällt die Diagnose der sozioreligiösen Situation etwas komplexer aus. Die These von der »Wiederkehr der Religion« hat sich ausdifferenziert. Geforscht wurde und wird, auf welcher Ebene (individuell / gesellschaftlich / politisch) und inwiefern welche Form von »Religion« »wiederkehrt«, was daran tatsächlich neuartig ist und woran man das erkennen kann. So lässt sich heute wohl besser von einer konstant gestiegenen »Aufmerksamkeit«20 für Religion als gesellschaftlichem und politischem Phänomen im öffentlichen Raum sprechen. Diese Aufmerksamkeit wurde ausgelöst durch die Auseinandersetzung mit dem Islam in Europa und ist durch sie von bleibender Relevanz. Ohne die Frage nach dem Beitritt der Türkei in die Europäische Union und ohne den 11. September 2001 ist sie wohl nicht angemessen zu verstehen. Verschärft wird diese Aufmerksamkeit zudem durch eine »Religionisierung« sozialer Konflikte rund um muslimische MigrantInnen und MitbürgerInnen, die zum Inbegriff der »Fremden«, der »Ausländer« geworden sind. Der Diskurs um die »Anderen« – der eingewanderte Andere, der sozioökonomisch benachteiligte Andere, der national oder kulturell Andere –, all dies scheint zusammenzufallen unter dem Stichwort »Islam«. So wird der Islam zum paradigmatischen »Anderen« – sogar zum »Fremden« – gemacht: also zu dem, das nicht dazugehört. Xenophobie, Nativismus (i. e. die Überzeugung, nur wer hier geboren ist, gehört dazu), eine restaurativ-autoritäre Verteidigung christlicher Kultur (die plötzlich von Menschen wiederentdeckt wird, die keine kirchliche Bindung haben), säkularistische und antireligiöse Vorurteile, liberale und feministische Kritik an einem muslimischen Patriarchalismus und Fundamentalismus, die Furcht vor Terrornetzwerken – all dies wird zu einem antimuslimischen Diskurs verwoben, in Europa und auch in Österreich.21 Aber auch der Trend vieler Kirchen und Religionsgemeinschaften, sich im öffentlichen Raum selbstbewusster und deutlicher zu Wort zu melden als noch vor einem Jahrzehnt, wird nicht schwächer werden. Im religiös pluralen Feld ringen die einzelnen Kirchen und Religionsgemeinschaften um gesellschaftliche Neuverortung, um ein erneuertes Selbstverständnis im pluralen Kontext, aber auch um Macht, Einfluss und Ressourcen. Die Sorge um die jeweilige Identität 20 Vgl. Casanova: Europas Angst vor der Religion, 23 – 30: Casanova beschreibt und analysiert hier den Einstellungswandel in Europa und spricht von der »Wiederkehr der Religion in die europäische Öffentlichkeit« als Herausforderung für den europäischen Säkularismus und die säkularen Identitäten. 21 Vgl. Casanova: Die religiöse Lage in Europa, 349.

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von religiösen Personen, Gruppen und Institutionen reicht von reflektierenden Selbstvergewisserungsprozessen und identitätserneuernden bzw. -erweiternden Transformationsprozessen bis hin zu selbstbehauptender und -sichernder Identitätspolitik, die die Anderen zur Abgrenzung (miss)braucht und ausschließt. Nicht zu vergessen ist in diesem öffentlichen Raum, der Religion wieder entdeckt, schließlich die zwiespältige Rolle der Katholischen Kirche in Europa: Geschüttelt von Krisen und Skandalen, zugleich konfrontiert mit hohen Erwartungen an spirituelle, moralische und politische Autorität, genießt sie nach wie vor hohe gesellschaftliche Aufmerksamkeit. Das Thema »Religion« wird im öffentlichen Raum jedenfalls »zurückgekehrt« bleiben. Je massiver dabei eine selbstsichernde Identitätspolitik und damit verbunden religiös formatierte Konkurrenz und Konflikte werden, umso eher ist mit dem Wiedererstarken eines überzeugten und kämpferischen Atheismus zu rechnen. Erste Anzeichen dafür gibt es.22 Auch die Säkularisierungsthese, die Hintergrundfolie zur These von der »Wiederkehr der Religion« war, hat sich zwischenzeitlich, angeregt durch eine intensive Auseinandersetzung mit empirischer und historischer Religionsforschung, weiterentwickelt und Ausdifferenzierungen und Relativierungen erfahren.23 Als weitere wichtige Deutungen der Situation firmieren unterschiedlichste Pluralismus- sowie Transformationstheorien24, die das Phänomen religiöser Pluralität und den Wandel von Religion und Religiosität systematisch zu erfassen suchen. Auffallend in all diesen Diskursen ist jedoch das so gut wie gar nicht reflektierte Phänomen des Atheismus. b) auf individueller Ebene Auf der Ebene individueller Religiositäten ist die Lage widersprüchlicher. Die Erosion kirchlich-traditioneller Religiosität geht ungebrochen weiter. Die so22 Z.B. die atheistische Bus-Kampagne 2009: http://www.buskampagne.at/ (6. 10. 2010); vgl. auch http://www.ag-athe.at/ (6. 10. 2010). 23 So entkoppelt Hans Joas den zwingenden Zusammenhang zwischen Säkularisierung und Moderne und beschreibt Erstere als eine mögliche, historisch kontingente Entwicklung des Verhältnissses von Religion und Gesellschaft. Jos¦ Casanova unterscheidet verschiedene Ebenen der Säkularisierung und konstatiert ein Zugleich globaler Säkularisierungen, globaler Denominationalismen und globaler Sakralisierungen. Charles Taylor entfaltet die These, dass die Religion selbst das Säkulare hervorgebracht hat, und zeigt, wie der moderne Mensch heute zwischen Glaube und Unglaube gefangen ist. Vgl. Joas / Wiegandt: Säkularisierung und die Weltreligionen, Casanova: Public Religions in the Modern World, Casanova: Europas Angst vor der Religion, Taylor : Ein säkulares Zeitalter. 24 Dazu ist mit 1. April 2010 an der Universität Wien eine interdisziplinäre Forschungsplattform eingerichtet worden: »Religion and Transformation in European Society«: http:// www. religionandtransformation.at (6. 10. 2010).

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genannten »neuen Spiritualitäten« sind als Intensivpraxis ein Minderheitenphänomen. In ihrer die sozioreligiöse Situation verändernden Langzeitwirkung ist diese »fluide Religion«25 ob ihrer Diffusionswirkung hinein in Gesellschaft und Kultur noch nicht abschätzbar. Auch die Zahl jener Menschen, die ihre persönliche Religiosität tatsächlich als »Komposition«, als schöpferisch-gebildetes Kunstwerk, kreieren können, kann nicht genau abgeschätzt werden. Oftmals handelt es sich (inner- wie außerkirchlich) auch um »Dilettantismus«: viel Begeisterung für die Sache – wenig fundierte Bildung. Von einer »Wiederkehr« im Sinne einer gesellschaftlich weitreichend radikal erneuerten Religiosität unter dem Label »Spiritualität« wird man also (noch?) nicht sprechen können. Wie sich Quantität und vor allem Qualität von Religiosität und Spiritualität weiterentwickeln, liegt an jenen Weichen, die Kirchen und Religionsgemeinschaften, Bildungssysteme, Recht und Politik heute stellen. Werden die traditionellen Institutionen dazu beitragen, dass spirituell interessierte Menschen qualifizierte religiöse und spirituelle Denk- und Handlungs-, Wahrnehmungsund Ausdrucksweisen entwickeln und ausbilden können? Sind sie willens und in der Lage, als Institutionen umzulernen und die dafür nötigen Räume, Strukturen und Kommunikations- und Bildungsprozesse bereitzustellen? Jedenfalls ist »Atheismus« auch in diesem Bereich keine anzutreffende hermeneutische Kategorie.

3.

Der »vergessene« Atheismus …

Zurück zu dem unter Punkt 1 erwähnten Symposium: Das irritierende »Vergessen« – Ausblenden? Ignorieren? Nicht-wahrhaben-Wollen? Nicht-wahrnehmen-Können? – des Atheismus zeigte sich bereits damals. Heftig wurde über die zutreffende theologische Deutung der besagten »Wiederkehr der Religion« gestritten. Die Einschätzungen reichten von »Neopaganismus« und »Neugnosis« über »Religion ohne Gott« und »religionsfreundlichen Atheismus« (Johann B. Metz) bis hin zur theologischen Frage, ob es sich hier – in aller Ambivalenz der Phänomene – nicht auch um eine pneumatisch initiierte Transformation subjektiver Religiositäten handeln könne. Wo die einen den Ungeist gottferner 25 Damit werden nach Lüddeckens / Walthert: Fluide Religion, 9, jene Formen von Religion beschrieben, bei denen »dauerhafte und umfassende Zugehörigkeiten durch unverbindliche, zeitlich beschränkte und spezifischere Beteiligungsformen abgelöst werden, zentrale Vorgaben und Hierarchien an umfassender Bedeutung verlieren und die Religiosität der Individuen durch eine Vielzahl sozialer Beziehungen und eine diesbezügliche Dynamik geprägt wird.« Andere Begriffe für die Sozialformen solcher Religion sind »diffuse«, »alternative« oder »unsichtbare« Religion.

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Menschen wirken sahen, sahen andere, eher eine Minderheit, das Wirken des Heiligen Geistes.26 Jedenfalls erinnere ich mich, dass sich mitten in diesen heftigen Debatten Augustinus Wucherer-Huldenfeld zu Wort meldete und besorgt nachfragte, wie es denn bei all dieser Wiederkehr des Religiösen um den Atheismus stehe. Sei dieser nur mehr eine »quantit¦ n¦gligeable«, eine vernachlässigbare Größe, mit der die Religionen schon irgendwie fertig werden? Prognostisch fragte er auch an, ob man nicht gerade ob der Ursachen für dieses Revival und aufgrund des latent nihilistischen Charakters vieler dieser Religiositäten damit rechnen müsse, dass als Gegenbewegung zu solch bloß positivistisch behaupteter Religiosität der Atheismus wieder stärker werden könne. Die sehnsüchtig-angestrengte Suche nach Sinn in einer religiös pluralen und aus den Fugen zu geraten scheinenden Welt könne jedenfalls Menschen dazu veranlassen, in einer schwierigen Zeit, ausschließlich auf subjektive Erfahrung gestützt und selten argumentierend, schlichtweg nur Sinn zu behaupten: »Da muss doch ein Gott sein«, »Da muss es noch etwas Höheres geben«. Wie prophetisch diese Frage war und ist, zeigen die Entwicklungen im religiösen Feld seither sehr deutlich: Wo der Sinnkrise oder der religiösen Pluralität mit religiöser Identitätspolitik im Sinne der Selbstsicherung begegnet wird, steigt die Tendenz bloß behauptender, nicht argumentierender Religiosität.27

26 Auf die differenzierten Argumentationen für und gegen diese Positionen kann hier nicht eingegangen werden. Jedenfalls läuft die (theologische) Debatte nach wie vor entlang dieser Trennlinien. Für alle Deutungen gibt es mit Blick auf die empirische Datenlage gute (Gegen-) Gründe und (Ausschluss-)Kriterien – je nachdem, welcher Sektor innerhalb des religiösen Feldes mit welchem Konzept von »Religion«, »Spiritualität« und »Glaube« ausgeleuchtet wird. Dabei verlaufen die Trennlinien oft innerhalb ein und derselben Person. Die Deutung wird durch die jeweiligen theologischen und pastoralen Optionen sowie durch die persönlichen Erfahrungen der Interpretinnen und Interpreten bestimmt. 27 Solche Behauptungs-Religiosität kann sich auch in der Form sogenannter »Erfahrung« zeigen, auf die man sich beruft: Authentische Erfahrung einer Person gilt dann als hinreichender Grund für die Glaubwürdigkeit und Wahrheit eines Zeugnisses; weitere kritische Reflexionen oder Zweifel gelten als störend. Dieser Erfahrungsbegriff hat freilich mit jenem von Wucherer-Huldenfeld nichts zu tun. Während bei ihm reflektierendes, fragendes, kritisches Nachdenken untrennbar zur »ursprünglichen Erfahrung« gehört, d. h. ein Erlebnis durch es überhaupt erst zur Erfahrung werden kann, meint die »authentische Erfahrung« im Alltagssprachgebrauch zumeist ein emotionales Erlebnis, bei dem kritische Selbstreflexion, vernünftige Argumentation sowie die Auseinandersetzung mit Widersprüchen und Einwänden ausfällt und als »zersetzend« erlebt wird.

396 4.

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… und wenn er als Deutekategorie für die Religionsstudien herangezogen wird

Im Jahr 2000 war die Zahl der bekennenden, »überzeugten« Atheistinnen und Atheisten tatsächlich verschwindend gering. Europaweit stuften sich 3 % als überzeugte AtheistInnen ein, in Österreich negierten bloß 7 % Gottes Existenz und 2 % nannten sich atheistisch.28 Ich erinnere mich, dass ich bei meiner Suche nach vom Atheismus überzeugten Menschen für meine qualitativen Interviews auf viele Zweifler und Skeptiker stieß. Wucherer-Huldenfeld würde ihre Positionen als »aporetisch-enigmatischen«, »bekümmerten« oder »skeptischen« Atheismus bezeichnen. Aber sobald ich die Gretchenfrage stellte: »Würden Sie sich als Atheistin bezeichnen?«, erntete ich nahezu ausnahmslos erschreckte Reaktionen: »Also nein, irgendetwas Höheres wird’s schon geben.« Die Mehrheit der Menschen ließ sich die »Option Gott« offen. Abgesehen von diesem Zurückscheuen vor endgültiger Entscheidung in der Gottesfrage (im Bejahen wie im Verneinen) wird an dieser Reaktion auch deutlich, wie sehr das Wort »Atheismus« in Österreich nach wie vor den Beigeschmack eines Schimpfwortes hat. Liest man nun die empirischen Daten mit jenen Kategorien quer, die Wucherer-Huldenfeld in seiner Atheismusforschung entwickelt hat, ergibt sich schon für das Jahr 2000 ein komplexeres Bild. Neben der großen Gruppe jener Menschen, die Gott und Religion »wiederentdeckt« hatten (aus welch heterogenen Gründen und Erfahrungen auch immer), zeigten sich in allen Weltanschauungsgruppen »atheisierende« Personen. Der Atheismus zeigte sich vor allem in drei Gestalten: a) Da gibt es mehr oder weniger »bekümmerte Atheisten«, die angesichts der Gottesfrage ratlos sind und darin ein unlösbares Rätsel sehen (aporetischenigmatischer Atheismus): Das sind z. B. jene Personen, die angeben, an Gott zu glauben, aber zugleich auch den Aussagen zustimmen, dass man Gott im Alltag nicht erkennen kann und wenig Trost in Glaube und Gebet findet. b) Der »skeptische Agnostizismus« bezeichnet jene Personen, die sich nicht festlegen können und / oder wollen und sich die Frage nach Gott offenhalten. Sie sind in der Studie erkennbar an einem inkonsistenten Antwortverhalten, kombinieren religiöses Selbstverständnis einmal mit, einmal ohne Gottesglauben, haben widersprüchliche Gottesbilder oder antworten schlichtweg immer wieder mit »Weiß nicht«. Auch sie sind der Ansicht, dass man Gott nicht erkennen kann. c) Der atheistische Indifferentismus zeigt sich als existentielle Gleichgültigkeit gegenüber dem Glauben und dem Unglauben, weil man beides für verfehlte 28 Laut Europäischer Wertestudie http://www.europeanvaluesstudy.eu/ (6. 10. 2010).

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Lebensweisen hält und auch ohne Gott gut leben kann.29 Er zeigt sich dort aufdringlich, wo es für Werthaltungen in anderen Bereichen (Beziehung, Familie, Arbeit, Politik) keinerlei Bedeutung und Auswirkung hat, ob jemand angibt, an Gott zu glauben oder nicht (z. B. Fremdenfeindlichkeit bei Personen, die eine christliche Weltanschauung haben). Diese atheistischen Lebensentwürfe sind in Europa sehr unterschiedlich verbreitet. Die Religionsstudie 2001 stufte in Österreich ca. 13 % als sogenannte »Atheisierende« ein, europaweit waren es 30 %, also ein Drittel. Würde man die Daten mit Wucherer-Huldenfelds Kategorien deuten, wären die Zahlen erheblich höher. All die eben beschriebenen Phänomene verschärften sich bis zur Wertestudie 2008.

IV.

»Spiritualität« als neue Form von Religiosität?

1.

Qualitative Tiefenforschung lässt »Spiritualität« erkennen

Was kann eine quantitative Studie messen? Genaugenommen kann sie nur Aussagen darüber treffen, wie sich Personen zu vorgegebenen Begriffen und Formulierungen verhalten. Subjektive und kognitive Selbsteinschätzungen, Einstellungen zu Begrifflichkeiten und gewisse Formen von Praxis werden erkennbar. Offen bleibt aber in einer Gesellschaft religiöser Transformation, in der sich auch Begriffsverständnisse und -assoziationen verändern, was der jeweils Befragte mit der Zustimmung oder Ablehnung zum Ausdruck bringen möchte. Ebenso wenig lässt sich daher etwas über die existenziell-praktisch gelebte Religiosität bzw. über den existenziell-praktischen Atheismus befragter Personen aussagen. Feststellbar ist das, was Wucherer-Huldenfeld den »theoretischen Atheismus« nennt – also nur die »theoretische Religiosität«, die durch sprachliche Äußerungen greifbar ist. Die quantitativen Studien lassen mittels statistischer Verfahren auch interne Korrelationen erkennen und Typen bilden. Die beiden genannten Großstudien ermöglichen zudem, die Verschiebungen in der religiösen Landschaft wahrzunehmen, die großen Trends und Veränderungen. In einer Zeit des Bedeutungswandels und mit Blick auf die je historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Kontexte, in denen Begriffe wie »religiös« oder »atheistisch« ihren 29 Wucherer-Huldenfeld hat das in einer Vorlesung mit folgender Erzählung des deutschen Philosophen Eberhard Tiefensee verdeutlicht: »Als bei einer Aktion auf dem Leipziger Hauptbahnhof zufällig vorbeilaufende Jugendliche gefragt wurden, ob sie sich als christlich, religiös oder areligiös einordnen würden, war die Reaktion Schulterzucken, und eine häufige Antwort lautete: ›Ich bin normal.‹ «

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je spezifischen Sinn erhalten,30 wird eine ausschließlich quantitative Erforschung der sozioreligiösen Situation aber zunehmend randunschärfer sowie interpretationsbedürftiger. Die detaillierte Deutung der Daten bedarf der Erforschung mittels qualitativer Methoden der Sozialforschung, damit die Religiositäten der Menschen in ihrem »Eigen-Sinn« deutlicher wahrgenommen werden können. Zwischen 1990 und 2000 war die sozioreligiöse »Großwetterlage« deutlich in Bewegung geraten. So haben wir uns primär auf die Suche nach einem vertieften Verständnis der Sinndeutung jener Menschen gemacht, die in neuer Weise auf »Gott« und »Religion« aufmerksam geworden waren. Im Rahmen dieser Interviews ist immer wieder der Begriff »Spiritualität« aufgetaucht, mit dem dieses neue Selbstverständnis bezeichnet wurde. »Spiritualität« erwies sich dabei zum einen als diffuses Wort, zugleich aber auch als ein zentraler Schlüssel für jene Verschiebungen in der religiösen Landschaft, die wir inzwischen als Transformationsprozesse des Religiösen bezeichnen. Das »religiöse Feld« (Pierre Bourdieu) ist in einem umfassenden Umbruch: jener soziale Kommunikationsraum, in dem Personen und Institutionen darüber verhandeln, was denn »religiös«, »Religion« bedeuten; denn »Religion an sich« gibt es nicht. Es handelt sich um ein lebendiges Phänomen in vielfältigen Gestalten und Interpretationen. Die christlichen Kirchen haben jedenfalls in diesem Feld das Deutungsmonopol verloren. Menschen sind nicht mehr willens, sich vorfindbaren Religionsverständnissen unterzuordnen, und bringen sich mit ihren Erfahrungen, Fragen und Gedanken ein. Die großen religiösen Institutionen, die Kirchen in besonderer Weise, sind legitimationspflichtig geworden. Wie diese Transformationsprozesse zu bewerten sind, ist noch offen. Die klassischen religionsphilosophischen und theologischen Kategorien (Säkularität, Atheismus, Deismus, Pantheismus etc.) scheinen mir aber für eine angemessene Interpretation unzureichend zu sein. Hier ist interdisziplinärer Bedarf an Forschungen gegeben, die die empirischen Ergebnisse in ihrem Eigen-Sinn zunächst wesentlich ernster nehmen und dann kritisch interpretierend gegen den Strich bürsten.

30 So wird das Wort »religiös« z. B. in Österreich nach wie vor tendenziell mit »katholisch« identifiziert. Dies hängt mit der langen Deutungsmonopolstellung der Katholischen Kirche im religiösen Feld Österreichs zusammen. So lässt sich beispielsweise die zunehmende Diskrepanz bei der Entwicklung der Religiosität junger Menschen zwischen 14 und 24 Jahren besser verstehen, die sich 2006 nur mehr zu knapp einem Drittel als »religiös« bezeichneten, während der Glaube an Gott mit 69 % die höchste Zustimmungsrate seit 1990 erhält: vgl. Friesl / Kromer / Polak: Lieben Leisten Hoffen.

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2.

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»Spiritualität« – vorläufiger Befund

Was lässt sich vorläufig zum empirischen Befund rund um diese vorgefundenen »Spiritualitäten« sagen? Ohne hier auf die Diskussion der Vielfalt des Spiritualitätsbegriffes eingehen zu können,31 fasse ich die wichtigsten Ergebnisse unserer Forschung zusammen. a) Anthropologischer Spiritualitätsbegriff als Wahrnehmungs-»Brille« Für die empirische Erforschung von »Spiritualität« empfiehlt es sich, mit jenem Spiritualitäts-Begriff zu arbeiten, der sich in der angelsächsischen Spiritualitätsforschung etabliert hat. Danach ist Spiritualität nicht Folge, Form und Ausdruck von Religiosität (im Sinne »gelebter Religiosität«), sondern umgekehrt ist Spiritualität eine anthropologisch vorfindbare Grundfähigkeit des Menschen, der sich leibhaftig auf »Sinn« und »Geist« beziehen kann. So bezeichnet beispielsweise Sandra Schneiders Spiritualität als »the experience of conscious involvement in the project of life-integration through self-transcendence toward the ultimate value one perceives« (Erfahrung bewussten Involviertseins in das Projekt der Integration des eigenen Lebens durch SelbstTranszendenz auf den höchsten Wert hin, den man kennt).32 Solche Spiritualität kann dann auch religiös formatiert sein, wenn sich der Mensch dabei auf eine transzendente, göttliche Wirklichkeit oder auf eine Deutung im Sinne religiöser Traditionen bezieht. Sie muss es aber nicht. Spiritualität kann daher in diesem Sinn auch atheistisch konfiguriert sein – in all den Spielarten, die WuchererHuldenfeld beschreibt. Damit wird sichtbar, wie viele »Zwischentöne« es in der Landschaft menschlicher Sinnstiftung geben kann – und dass »Spiritualität« nicht nur dort zu finden ist, wo auch »Religion« anzutreffen ist. Spiritualität kann auf der Basis dieses Ansatzes zweierlei bezeichnen: – Die konkret gelebte Sinn-Erfahrung; also alle Formen menschlicher Selbstund Weltdeutung, in denen sich ein Mensch im Denken, Fühlen und Handeln existenziell auf das Ganze und den Grund seines Daseins bezieht. Der jeweilige Lebensweg wird dabei erfahrungsbezogen, d. h. auch bewusst und reflektiert, in einen größeren Deutungshorizont gestellt und integriert. Entscheidend dabei ist, dass diese Weltdeutung konkreten, lebensrelevanten Ausdruck sucht und findet, also leibhaftig wahrnehmbar ist – sei es in kontemplativer Praxis, rituell, kultisch, ethisch oder politisch. Solche Spiritualität – als »ganzheitliche« Lebensweise, als »gelebter Sinn-Bezug« – kann sich in ihrem theoretischen Selbstausdruck auch atheistisch konfigurieren. 31 Dazu Baier: Handbuch Spiritualität, Polak: Spiritualität. 32 Schneiders: The Study of Christian Spirituality, 39 f.

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– Dieser Sinn-Bezug kann sich auch religiöser Deutungen, Ausdrucksformen, Lebenspraxis bedienen. Dann meint Spiritualität die authentische, leibhaftige, gelebte Religiosität. Religiosität bezeichnet hier jeden Existenzvollzug, der sich auf einen transzendenten, nicht-weltimmanenten, ggf. göttlichen Horizont und auf eine explizit religiöse Deutungstradition bezieht. Entscheidend ist auch hier der ganzheitliche, leibhaftige Vollzug dieses Bezugs. Die religiöse Sinndeutung durchwirkt das Leben von Menschen in ihren Einstellungen und Haltungen, Entscheidungen und in ihrer Praxis. b) Beobachtungen Ein solch differenzierter anthropologischer Spiritualitätsbegriff lässt in Gesprächen mit jenen Menschen, die sich als »spirituell« bezeichnen, den EigenSinn schärfer wahrnehmen, den die Befragten diesem Selbstverständnis zuordnen. Dabei zeigt sich: – »Spiritualität« dient als Abgrenzungswort gegen die als dominant erfahrene (oder fantasierte) christlich-kirchliche (zumeist katholische) Religion. »Spirituell« zu sein bedeutet dann (in Österreich) jeweils »nicht katholisch sein«, »nicht in die Kirche gehen«, »nicht fremdbestimmt sein«, »nicht an Dogmen glauben«. Die Abgrenzung erfolgt gegen alles, was als religiöse Fremdbestimmung in Fragen der Weltanschauung, der Moral, des Sinnes erlebt wird; realiter bezieht sich dies primär auf Vorgaben durch die Katholische Kirche. Verbunden wird diese Abgrenzung mit dem Anspruch, den je persönlichen Sinn frei und autonom selbst zu wählen. – Wer sich als »spirituell« bezeichnet, erhebt den Anspruch, seine je individuelle (religiös oder nicht-religiös gedeutete) Lebenspraxis auf der Basis konkreter Erfahrung bewusst zu »konstruieren«. Mit »Erfahrung« werden dabei primär Emotionen (»das Göttliche spüren«) und Ereignisse (»Bekehrung«, »Alleinheitserfahrung«) bezeichnet. Sie bilden die zentralen Entscheidungskriterien für die »Echtheit« und »Wahrheit« dessen, was als »Sinn« geglaubt und gelebt wird. Die vernunftgeleitete, kritische Reflexion der Emotionen und Ereignisse gilt dem gegenüber als sekundär, ja sie wird sogar mitunter als potenziell zerstörerische Bedrohung erlebt. Wichtig ist, wie es sich anfühlt und wie es im Leben hilft; weniger wichtig ist, ob es vernünftig argumentierbar ist oder einem Wahrheitsanspruch genügt. Wahrheit gilt als »relativ« und nicht kognitiv erkennbar. Im Zentrum steht das authentisch gefühlte und ausgedrückte und konkret gelebte individuelle Sinnkonzept. Diesen Anspruch erheben Menschen innerhalb wie außerhalb der Kirchen. – »Spiritualität« steht als eine Art auratischer Platzhalter für eine vielfach namenlose Sehnsucht nach einem »anderen« Leben, abseits eines Alltags und einer Welt, die als banal und / oder bedrohlich erlebt werden. Dieses alter-

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native Leben kann oftmals konkret nicht näher beschrieben werden, hat aber zu tun mit Glück, Liebe, Gemeinschaft, Selbstentfaltung, Heilung, Innerlichkeit und Orientierung. Diese Sinndimensionen werden in einer Gesellschaft als fehlend erfahren, die als unter dem Primat ökonomischer und technischer Rationalität stehend erlebt wird. »Spiritualität« kommt als Alternative und / oder Lösung in den Blick.33 Die Bedeutungsdimensionen des Begriffes »Spiritualität« zeugen davon, dass Menschen die gegenwärtige Situation fortschreitender Modernisierung als krisenhaft erleben und auf der Suche nach Unterstützung, nach Lösungsmöglichkeiten sind. Menschen, die sich als »spirituell« bezeichnen, deuten die Sinnkrise als eine »geistige Krise« – und suchen nach »geistigen« Lösungen. Dabei kommen – auch – religiöse Fragen, Deutungen und Praktiken als Optionen in den Blick. Kirchlich-katholische Angebote werden dabei tendenziell als unzureichend erfahren. Trotz atheisierender Elemente in den Selbstbeschreibungen wird aber die Selbstbezeichnung »Atheistin / Atheist« nicht gewählt. Indem mit der Kategorie »Spiritualität« ein Begriff aus dem Bedeutungsfeld »Religion« gewählt wird, wird viererlei ausgedrückt: – Die Gesellschaftskrise wird als Sinnkrise rund um die »letzten, transzendenten Fragen« erlebt. Diese treten angesichts der katastrophischen Begleiterscheinungen der Modernisierung verstärkt ins Bewusstsein (Ökologiekrise, weltweite Armut, heute wird man die Finanz- und die Wirtschaftskrise ergänzen müssen). – Die Gesellschaftskrise ist zugleich eine Krise der traditionellen Religion, insbesondere der christlichen Kirchen, in Österreich der Katholischen Kirche. Diese werden als wenig hilfreich erfahren, die anstehenden gesellschaftlichen Probleme zu lösen. – Dies verweist auch darauf, dass die Krise der traditionellen Religion und besonders der (Katholischen) Kirche eine Krise sowohl der Erfahrungsrelevanz als auch der Praxis ist. Spirituelle Menschen fragen, wie und angesichts welchen »letzten Sinnhorizontes« man konkret gut und anders leben kann und soll. Kirchlich formatierte Religiosität wird dabei als erfahrungsarm und wenig lebenstauglich erlebt. – Überzeugter, radikaler Atheismus ist für diese Menschen keine DeutungsAlternative. Gleichwohl findet man viele Spuren von skeptischem Agnostizimus und aporetisch-enigmatischem Atheismus in diesen Spiritualitäten.

33 Die Ethnologin Ariane Martin hat in ihrer Studie eine detailreiche Phänomenologie zeitgenössischer Spiritualitäten vorgelegt: Martin: Sehnsucht – der Anfang von allem.

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V.

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Europäische Wertestudie 2008: Plural, bunt, fragil – Polarität oder Polarisierung im religiösen Feld?

Inzwischen liegen die Ergebnisse der Europäischen Wertestudie 2008 für Österreich vor.34 Sie zeigen umfassende Transformationsprozesse des Religiösen. Klare, scharfe Konturen und Gruppenbildungen lassen sich zunehmend schwieriger ausmachen. Einige wichtige Aspekte seien herausgestellt:

1.

Pluralisierung statt Wiederkehr der Religion

Der Trend zur gestiegenen Bedeutung von Religion auf individueller Ebene, der zwischen 1990 und 2000 wahrnehmbar wurde, ist gesamtösterreichisch nicht weitergegangen. Die zentralen Indikatoren, Wichtigkeit von Gottesglaube und Religion sowie religiöse Selbsteinschätzung, sind in ihren Zustimmungswerten signifikant zurückgegangen. 2008 bezeichnen sich in Österreich zwei Drittel (61 %) als religiöse Menschen, jeder Dritte (30 %) ist der Meinung, »kein religiöser Mensch« zu sein. 4 % halten sich für überzeugte Atheistinnen bzw. Atheisten. 5 % geben an, dies »nicht zu wissen«. Im Vergleich zu 1999 ergeben sich damit gravierende Veränderungen. Damals verstanden sich 75 % als »religiöse Menschen«, 18 % als »keine religiösen Menschen« und nur 2 % als »Atheisten«. Der Rückgang ist vor allem auf die Erosionsprozesse bei den jüngeren ÖsterreicherInnen zurückzuführen: – bis 30-Jährige: 43 % (2008) »Religiöse« gegenüber 66 % (1999) – bis 45-Jährige: 57 % (2008) »Religiöse« gegenüber 75 % (1999) Weiters erklärt er sich durch die Entwicklungen in mittleren Städten und Kleinstädten. Auch der Rückgang bei den Männern ist beachtlich: von 70 % (1999) auf 55 % (2008). Ein religiöses Selbstverständnis ist bei Frauen 2008 (67 %) deutlich öfter anzutreffen als bei Männern (55 %). Einzig in Wien bleibt Religion 2008 »zurückgekehrt«, hier sind die Zustimmungsraten so hoch wie 2000 und höher als 1990. Unsere Vermutung ist: Die qualitativen Veränderungsprozesse der Religiositäten finden (vorläufig) primär in der Großstadt statt. Die ÖsterreicherInnen in ihrer Gesamtheit ziehen sich aus den traditionellen sozioreligiösen, d. h. kirchlichen Lebensformen zurück, verstehen sich daher in geringerem Ausmaß als »religiös«. Der Glaube an Gott ist gesunken, er dient vor allem dem indivi-

34 Zulehner / Polak: Von der »Wiederkehr der Religion«.

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403

duellen Trost, der familialen Behausung und wird in der Natur erfahren. Seine politische, gesellschaftskritische und sozial gestaltende Relevanz ist marginal.

2.

Religiosität verändert sich nicht primär quantitativ, sondern vor allem qualitativ

Eine umfassende Pluralisierung – hinsichtlich der Gottesbilder, der Todesbilder, der Kirchenbezüge – wird 2008 noch deutlicher sichtbar als 1990 und 1999. Das religiöse Feld differenziert sich aus. Diese Pluralisierung ist schon seit 1990 wahrnehmbar. 2008 lassen sich aber innerhalb der religiösen Landschaft zwei Pole erkennen. Auf der einen Seite verdichtet sich das christliche Segment der Gesellschaft: Wer in Österreich Christin oder Christ ist, ist dies weniger aus kulturell-rituellen Gründen, sondern verfügt über religiöse Erfahrung (2008 erstmals abgefragt), betet und gehört einer religiösen Gemeinschaft an. Auf der anderen Seite weitet sich eine säkulare, stark naturalistisch orientierte Lebenskonzeption aus, mit und ohne Gottesglaube. Zwischen diesen beiden Polen gibt es einen schrumpfenden Anteil von mehr rituell beziehungsweise einen wachsenden Anteil von mehr kognitiv auf Gott ausgerichteten Personengruppen. Die Pluralität wird polar und fragil. Durch Clusteranalysen lassen sich verschiedene sozioreligiöse Typen erkennen. – Der Anteil der »Christinnen und Christen« (intensive subjektive Religiosität, häufiger Kirchgang, theistisches Gottesbild) ist kontinuierlich rückläufig. Waren 1990 24 % dieser Gruppe zuzurechnen, sind es 2008 21 %. – Die »Rituellen« (rituell geformtes Gottesbild, Interesse an Kirche über Rituale, gedämpfte Religiosität) wuchsen zwischen 1990 und 1999 von 25 % auf 27 %, 2008 sank ihr Anteil an der österreichischen Bevölkerung auf 24 %. – Der Anteil der »Gottesgläubigen« (gedämpfte Religiosität, Distanz zu kirchlicher Gemeinschaft, abstraktes, an Glaubensaussagen orientiertes Gottesbild) stieg im Untersuchungszeitraum leicht an, mittlerweile können 16 % der Bevölkerung hier zugerechnet werden. – Am stärksten ist die Gruppe der »Säkularen« gewachsen (geringe bis keine Religiosität, seltener bis kein Kirchgang und ein naturalistisches, kaum durch einen Gottesglauben geprägtes Weltbild). Sie waren in allen drei Untersuchungsjahren die stärkste Gruppe. 2008 betrug ihr Anteil an der Bevölkerung 39 %. Seit 1990 hat sich die sozioreligiöse Situation in Österreich also uneinheitlich entwickelt.

404 3.

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Erfahrungsmangel?

Die Wertestudie 2008 hat erstmals auch Erlebnis- und Erfahrungsqualitäten abgefragt. Der Befund wird dadurch noch widersprüchlicher und komplexer. Gefragt wurde nach Erfahrungen des Gefühls des Einsseins mit allem, der Verwobenheit mit dem Göttlichen und der persönlichen Beziehung zu Gott. All diese Erfahrungen sind ein marginales Phänomen bei den Befragten. Nur 2 % erleben Gefühle dieser Art »sehr oft«, ein Zehntel »oft«, ein Drittel (36 %) »gelegentlich«, ein weiteres Drittel (30 %) »selten« und 19 % »nie«. Frauen, Wohlhabende, Glückliche erleben solches öfter. Dieses Ergebnis passt auch zu der hohen Zustimmung von 53 %, die sagen, dass man von Gott wenig spürt. Wie unabhängig solche Erfahrungen vom religiösen Selbstverständnis sind, zeigen folgende Ergebnisse: Die Hälfte der überzeugten Atheistinnen und Atheisten kennt solche Erfahrungen, ebenso zwei Drittel der Nichtreligiösen. Erfahrungen, die man im weitesten Sinn als religiös deuten könnte, kommen also auch im atheistischen Umfeld vor. Das Gefühl des Einsseins mit allem wird nicht zwingend religiös gedeutet – bzw. lehnen manche Menschen eine klassisch religiöse Deutung aus biografischen, intellektuellen oder historischen Gründen ab. »Christinnen und Christen« beschreiben solche Erfahrungen signifikant öfter, aber auch in dieser Gruppe gibt es einen größeren Anteil Nicht-Erfahrener. Zusammenfassend lässt sich sagen: Erfahrungen mit einer »anderen Wirklichkeit« werden religiös und atheistisch gedeutet. Gottesglaube kann erfahrungsgestützt sein, ist es für eine große Mehrheit aber nicht. Atheisierende, religionskritische und religiöse Deutungen und Selbstkonzepte vermischen sich in allen Gruppen auf höchst individuelle Weise. Wucherer-Huldenfelds besorgte Frage nach dem Atheismus bekommt mit der Studie von 2008 neue Relevanz, denn die Daten zeigen in allen Gruppen – verschieden stark ausgeprägt – atheisierende Elemente und einen eklatanten Mangel an Erfahrung (hier im Sinne eines Erlebens von Gottes Gegenwart und der Lebensrelevanz solchen Erlebens).

4.

Die säkulare Rechte

Bedrohlich ist nicht zuletzt jenes Phänomen: Eine »säkulare Rechte« bildet sich heraus. 2008 lässt sich erstmals ein weltanschaulicher Typus erkennen, dessen Werthaltungen Anlass zur Sorge geben. Ausgeprägter Individualismus und Hedonismus paaren sich mit der Ablehnung des Gottesglaubens und zugleich steigenden Erwartungen an die Kirche(n) und deren politisches Engagement. Hier dürfen ideologische Interessen vermutet werden: Kirche und Christentum

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405

werden von dieser Gruppe offenbar als Instrumente nationaler und kultureller Identität verstanden, um »die Anderen« (= die Muslime) auszugrenzen.

5.

»Spiritualität« quer durch alle Bereiche

Wie steht es 2008 um das Phänomen »Spiritualität«? Die Wertestudie gibt dazu keine Auskunft, da mit diesem Begriff aus Vergleichsgründen nicht operiert wird. Für 2008 liegt aber eine weitere repräsentative Studie für Österreich vor, der Religionsmonitor35, der auch nach spirituellem Selbstverständnis fragt. Auch er zeigt die Pole ausbildende Pluralität des religiösen Feldes. In Österreich bezeichnen sich dem Religionsmonitor zufolge 15 % als zumindest »ziemlich spirituell«. Und diese »Spirituellen« finden sich unter jenen, die aus keiner Religionsgemeinschaft kommen (11 %); aber auch 16 % aus der katholischen und 14 % aus der protestantischen Kirche ordnen sich hier zu. Diese Gruppe findet sich also sowohl inner- wie außerhalb der Kirche. Das Bild ist komplex und verwirrend und verlangt nach gründlicher philosophischer und theologischer Reflexion, zu der nun alle Disziplinen aufgefordert sind. Einordnungen der vorfindbaren Phänomene in die traditionellen Kategorien der Religionsphilosophie bzw. -kritik (Pantheismus, Deismus, Materialismus) treffen Teilaspekte der Situation, scheinen mir angesichts des umfassenden Wandels aber ebenso einseitig und zu kurz gegriffen wie theologische Pauschalurteile im Sinne von »Religion ohne Gott«.

6.

Ein spannungsgeladenes Feld

Wir sind konfrontiert mit spannungsgeladenen Bewegungen im religiösen Feld. Die Pluralisierung von religiösen und nicht-religiösen Einstellungen ist zum einen ein Ausdruck wachsender Freiheit und schöpferischer Vielfalt. Zwischen allen sozioreligiösen »Feldern« (vgl. Clustertypologie) gibt es – im günstigen Fall – einen kreativen Austausch bis hin zur Osmose. Eine spannungsvolle Polarität kann entwicklungsförderlich wirken, wenn es die Bereitschaft und Fähigkeit gibt, aus Differenzen zu lernen. Im ungünstigen Fall wachsen sich die Felder zu Polen aus, die zu einer aggressiven religionskämpferischen Polarisierung führen können. Die Daten zeigen die Entwicklung einer potentiell produktiven Polarität. Mit einer kämpferischen Religionslosigkeit und einem Konflikt zwischen Religiösen und Säkularen ist vorläufig (noch?) nicht zu rechnen. Die Menschen sind Fragende, Skeptische, Suchende. Auch die Atheisierenden haben ihre Po35 Zulehner : Spirituelle Dynamik in säkularen Kulturen?, 152 – 157.

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sition nicht definitiv festgeschrieben. Die Kirchenmitglieder sind ebenfalls in Bewegung. So ist die sozioreligiöse Situation bunt, beweglich, aber auch instabil und konfliktiv. Im Kontext der politischen Entwicklungen kann aus dieser spannungsgeladenen Polarität freilich eine Polarisierung werden.

VI.

Der empirische Befund im Gespräch mit Wucherer-Huldenfelds Nihilismus-Diagnose

In einem letzten Schritt möchte ich die dargestellten empirischen Ergebnisse, besonders den Befund von 2008, ins Gespräch bringen mit einem philosophischen Impuls von Wucherer-Huldenfeld. Seine Diagnose der zeitgenössischen Situation als Nihilismus – er spricht von einer nihilistischen Grundsituation36 – kann zu einer vertieften Interpretation der Daten beitragen und vermag es, philosophische und theologische Forschungsfragen zu einem systematischen Verständnis der veränderten Situation zu generieren. Schließlich konfrontiert sie die Pastoraltheologie und die Religionspädagogik, insbesondere Kerygmatik und Katechetik, mit neuen, herausfordernden Fragen. Die »nihilistische Grundsituation« in ihrer Ambivalenz ist ein wichtiger hermeneutischer Schlüssel zu einem vertieften Verständnis sowohl der religiösen Transformationen als auch der atheisierenden Religiositäten und Spiritualitäten.

1.

Gottesvorstellungen ohne Gotteserfahrung: Ausdruck der nihilistischen Grundsituation

Die mit knapp zwei Dritteln der österreichischen Bevölkerung nach wie vor hohe Zustimmungsrate zum Glauben an einen Gott – wie auch immer dieser dann näherhin vorgestellt wird – steht in einem seltsamen Kontrast zu der ebenso hohen Zustimmungsrate zur Nicht-Erkennbarkeit Gottes im konkreten Alltag und zum Mangel an Erfahrung. Mehr als die Hälfte der Befragten kennt solche Gegenwartserfahrungen des Göttlichen gar nicht, bei den jungen ÖsterreicherInnen zwischen 14 und 24 Jahren sind es sogar zwei Drittel. Dieser Erfahrungsmangel betrifft – in geringerem Ausmaß – auch die Gruppe der Christen und Christinnen. Es ist also möglich, eine Gottesvorstellung zu haben ohne entsprechende religiöse oder gar Glaubenserfahrung. Die Diagnose Wucherer-Huldenfelds lässt dieses Phänomen besser verste36 Ich beziehe mich im Folgenden auf Wucherer-Huldenfeld: Zum Menschen heute von Gott sprechen.

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hen: »Nihilismus« ist für ihn die wichtigste Deutekategorie für unser Zeitalter. Er formuliert sie im Kontext seiner Beschreibung des indifferenten Atheisten37 – also jenes Zeitgenossen, der sich nicht als Atheist bezeichnet, weil er seiner Auffassung zufolge den Konflikt zwischen atheismusfeindlichen Monotheismen und anti-theistischen Atheismen hinter sich gelassen hat und hoch sensibilisiert ist gegenüber »Ideologischem« aller Art. Freilich bleibt ihm so die eigene Anfälligkeit, insbesondere für unsystematisch-zersplitterte Ideologien, verdeckt. Glaube gilt ihm als subjektive Setzung und bloße Annahme (ich glaube, dass); eine erfahrungsgegründete Bedeutsamkeit kann er in den Phrasen religiöser Sinndeutungen nicht erkennen. Die Menschenwelt wird als sinn- und gottlos erfahren, erscheint ohne Grund, ohne Warum. Solcher Nihilismus, der meist nicht deutlich artikuliert wird, sondern als eine Grundstimmung, dass es mit allem nichts auf sich haben könnte, anwesend ist – lässt sich freilich auf Dauer existenziell nicht durchhalten. Er führt zu »bleierner Hoffnungslosigkeit, unheimlicher Angst oder Langeweile«38 sowie niedergedrückter Verstimmung. Diese sind langfristig unerträglich. So werden verschiedenste Antworten und Auswege gesucht.

2.

Reaktionen auf den Nihilismus

Wucherer-Huldenfeld entwickelt eine Phänomenologie möglicher Antwortversuche auf die Nihilismuskrise. Es lässt sich durchaus vermuten, dass sich in den verschiedenen sozioreligiösen Typen im religiösen, im säkularen und im spirituellen Feld unserer Studien solche Antwortversuche finden lassen:39 a) Eine mögliche Reaktion auf die Nihilismus-Erfahrung ist die Hinnahme einer sinn- und grundlosen Situation, die zu einer eigentümlichen Immunisierung gegenüber Sinnfragen führt – zu einer »Frag- und Notlosigkeit« in Hinblick auf ein sinnerfülltes Dasein. Man nimmt nicht wahr, dass etwas fehlt. Manche der Säkularen, die es sich ohne Fragen nach dem Ganzen und dem Grund in ihrem diesseitigen Leben mehr oder weniger gut einrichten, könnten diesem Reaktionstypus zuzuordnen sein. b) Andere setzen auf die Bildung von »Ersatzgebilden«, die Trost und Halt bieten können und dabei einem modernen Lebensstil entgegenkommen. Wucherer-Huldenfeld nennt Demokratie, Autonomiestreben, Geschlechtergerechtigkeit. Ersatzgebilde sind sie insofern, als Teilwahrheiten zu universalen Antworten auf die Frage nach dem Sinn und Grund des Ganzen werden. 37 Vgl. ebd., 160 f. 38 Ebd., 161. 39 Zitate zu den folgenden Punkten ebd., 162.

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Ergänzen muss man diese Liste heute wohl auch um die religiösen Ersatzgebilde. Der spirituelle Markt, aber auch die Kirche, können ihre Erfahrungen und sogar ihre Traditionen als vergegenständlichte Teilwahrheiten anbieten und ohne Nachdenklichkeit und Fraglichkeit religiöse »Angebote« bereitstellen. Diese werden dann genützt, um der nihilistischen Grunderfahrung und ihrer Bodenlosigkeit auszuweichen. Hier finden sich die Verfechter eines radikalen Säkularismus ebenso wie die allzu überzeugten Religiösen und Spirituellen, denen die Fragwürdigkeit des Daseins abhandengekommen ist. Die Bodenlosigkeit des Nihilismus wird mit Ideologien, Behauptungen und absoluten Überzeugungen drapiert. c) Tarnen kann sich dieser Nihilismus auch mit einer Gottesvorstellung, die sich »das höchste Wesen ohne echte Grunderfahrung nur ausdenkt (Ontotheologie)« und die so »vorgestellte Allmacht als Ausweg aus aller Not, als Rückhalt gegenüber den Kräften des Bösen und des Todes sowie als Garanten der Gerechtigkeit und Menschenwürde reklamiert«. Solch ein gedachter Gott dient der subjektiven Bedürfnisbefriedigung (und das kann durchaus rechtgläubig aussehen). Gott selbst kann hier freilich nicht sein (anwesen). Die in der Studie messbare Differenz zwischen subjektivem Gottesbekenntnis und wenig verbreiteter Gotteserfahrung ließe sich so erklären. Diese Phänomene sind eine heftige Anfrage an die Gottesrede und vor allem Gottespraxis der Kirchen, deren Krise sich hier als Mangel an authentischer und reflektierter Glaubens- und Gotteserfahrung sowie an gelebter Glaubenspraxis erweist.

3.

Nihilismus als Chance

Die nihilistische Erfahrung des Daseinsgrundes eröffnet auch neue Möglichkeiten. Sie kann zu einer heilsamen Erschütterung führen. Die Skepsis gegenüber dem Ideologischen birgt ihre Chancen: Der Weg zu dem, was WuchererHuldenfeld »ursprüngliche Erfahrung«40 nennt, wird frei. Solche Erfahrung wird nicht mehr abgeschottet durch religiöse wie nicht-religiöse »Weltanschauungen«, Ideologien und Vorstellungen aller Art.41 Möglich werden nun jene Erfahrungen, die den Charakter überwältigender Widerfahrnis und Betroffenheit aufweisen und die ganze Person persönlich und unvertretbar treffen und erschüttern können. Solche Erfahrungen sind freilich riskant und bedrohen die 40 Wucherer-Huldenfeld: Rückgang zur ursprünglichen Erfahrung des Da-Seins Gottes, 142 – 159. 41 Vgl. Wucherer-Huldenfeld: Zum Menschen heute von Gott sprechen, 163.

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Existenz. Insofern sind sie durchzumachen und durchzuleiden. So können sie die Person aber auch verwandeln. Erkennen und Verstehen gehören dabei wesentlich zu ihnen. Zugleich teilt sich in solcher Erfahrung allen Gemeinsames mit: der Ursprung oder Grund der Erfahrung. Die ursprüngliche Erfahrung kann sich zugleich – in der Erfahrung des Nichts zur Erfahrung des Daseins Gottes wandeln. Wucherer-Huldenfeld hat in seinen philosophisch-theologischen Reflexionen durchbuchstabiert, wie ein solcher Erfahrungs-Weg als ein Rückgang zur Gotteserfahrung durch die Erfahrung des Nichts hindurch wahrzunehmen, zu denken und zu »gehen« ist.42 Die qualitativen Forschungsergebnisse im spirituellen Feld – inner- wie außerkirchlich – lassen vermuten, dass sich hier Menschen finden lassen, die im Prozess solcher Erfahrung stehen oder solche durchgemacht haben. Möglicherweise entsteht dabei eine qualitativ neuartige Form von Spiritualität, die gewissermaßen durch das Bad des Nihilismus gegangen ist. Vielleicht lassen sich hier Erfahrungen finden, die Menschen dazu befreit haben, mit dem Grund ihres Daseins in Verbindung zu treten. Insofern Menschen gegenwärtig an jene Grenzen des individuellen wie kollektiven Lebens geraten, an denen die Fragen nach Grund und Sinn des Daseins unausweichlich auftauchen und erschüttern können, ist dieser Hypothese jedenfalls bei zukünftiger Forschung verstärkt Aufmerksamkeit zu schenken. Die Theologie sollte diese Prozesse nicht übersehen und schon gar nicht geringschätzen. Dies gilt auch für die Pastoral, die von solchen spirituellen Erfahrungen lernen kann auf dem Wege christlicher und auch kirchlicher Erneuerung und Verwandlung.

4.

Herausforderungen für praktische Theologie und Pastoraltheologie

Jene Tiefendimensionen ursprünglicher bzw. nihilistischer Erfahrung lassen sich in quantitativen Studien natürlich weder messen noch beweisen. Wie sollte man auch jene Grunderfahrung, die einem Menschen widerfährt, der sich in einem spirituellen Verwandlungsprozess befindet, in Fragebatterien operationalisieren? Bei qualitativen Befragungen hingegen lassen sich durchaus Methoden und Settings entwickeln, die dem Erzählen solcher Erfahrungen Raum geben können. Daraus können paradigmatisch auch relevante Erkenntnisse für die Verwandlung christlicher Spiritualität gewonnen werden. Die praktischtheologischen Fächer können dadurch wichtige Anregungen in Bezug auf die Frage gewinnen, wie eine religiöse und spirituelle Weiter-»Entwicklung« von Kirche und Pastoral gefördert werden und wie man »Christ-Werden« lernen und einüben kann. Diese Erkenntnisse wiederum können sie zurückspielen in die 42 Vgl. Wucherer-Huldenfeld: Das Nichts als »Ort« der religiösen Erfahrung, 305 – 341.

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systematisch-theologischen Fächer, auf dass auch diese selbstkritisch dazulernen. Die Studienergebnisse verweisen auf einen eklatanten Mangel an »ursprünglicher Erfahrung« in allen sozioreligiösen Gruppen, insbesondere auch im Christentum. Christlicher Glaube ist nicht ausreichend erfahrungsgesättigt. Darauf wurde ja auch die längste Zeit wenig Wert gelegt – war es doch ausreichend, sich als Katholik / Protestant zu bekennen und die dafür vorgesehenen Ausdrucksformen zu praktizieren, um als »zugehörig« anerkannt zu sein. In einer Gesellschaft, in der Kirche nicht mehr die soziale Macht hat, Zugehörigkeiten zu definieren, wird dieser eklatante Mangel aufdringlich sichtbar. Für die Praktische Theologie, die Handlungsperspektiven für Kirche, Pastoral und Gesellschaft, Bildung und Schule eröffnen soll, ist das eine schwierige Herausforderung. Wie thematisiert man die nihilistische Grundsituation – wenn man vielleicht selbst davon betroffen ist und dies Angst macht? Kann man ursprüngliche Erfahrung »machen«? Wie kann denn das Nicht-Machbare – das Widerfahrnis – institutionell gefördert werden, ohne es zu manipulieren, zu instrumentalisieren oder zu entstellen? Wie lernt man, solche Erfahrung wahrzunehmen? Wie geht man mit ihr um – in Gemeinden, im Religionsunterricht, in der Schule? Wie sieht pastorales und religionspädagogisches Handeln aus, das solche Erfahrungen ermöglicht und einüben lässt – oder überhaupt erst einmal wahrnehmbar werden lässt? Wie lassen sich die vorfindbaren Erfahrungen der Menschen in ein kritisches Gespräch bringen mit christlicher Spiritualität? Welche theologische Dignität haben die Erfahrungen der Menschen für Pastoral, Kirche, Bildung, Schule? Hier stellen sich viele herausfordernde Fragen.

5.

Vorzeichen: Der »ursprünglichen Erfahrung« Raum und Zeit eröffnen

Wucherer-Huldenfeld gibt ein Vorzeichen mit, wie wir uns daran machen können, diesen schwierigen Fragen zu folgen – bei der Datenauswertung und für die Praxis. Wenn sich die Befragten als religiös oder nicht religiös, atheistisch oder gottesgläubig bezeichnen, wenn wir sie in unsern Studien als Gottesgläubige oder Atheisierende bezeichnen, wissen wir allein etwas über ihr theoretisches Bekenntnis oder unsere Zuordnung zu einem theoretischen Bekenntnis. Im Einzelfall lässt das aber keinen sicheren Schluss auf das zu, was jemand praktisch-existenziell vollzieht. Weil Sprechen, Denken, Tun einerseits und Sein andererseits in den seltensten Fällen eine harmonische Einheit bilden, sondern unausgeglichen und widerspruchsvoll sind, können wir mit theoretischer Gewissheit niemals beurteilen, ob das Dasein Gottes im Herzen des Menschen angenommen und bejaht wird oder ob es frei und unter Umständen schuldhaft

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abgelehnt wird. Das gilt für die eigene und noch mehr für die Beurteilung unserer Mitmenschen. Jemanden aufgrund irgendwelcher als atheistisch einzustufenden Äußerungen oder Verhaltensweisen als gottlosen oder praktischen Atheisten disqualifizieren zu wollen, ist sachlich unmöglich und daher vermessen. Alle diese Einschätzungen sind nicht mehr als grobe Orientierungslinien und die Eröffnung lernenden Dialoges. Worauf wir aber künftig in Forschung und Praxis mehr achten können, ist, die Dimension der ursprünglichen Erfahrung im Kontext einer nihilistischen Situation sensibler wahrzunehmen und ihr Raum sowie Zeit zu eröffnen, denn machbar ist sie nicht. Gott selbst kann sich in ihr kundtun. Damit wäre bei aller Notwendigkeit einer theologischen Datenreflexion die theologische Grenze der Bewertung sozioreligiöser Entwicklungen formuliert. Eine kritische Deutung der vorfindbaren Ergebnisse ist unerlässlich, um Gottes Geist ein Stück weit deutlicher erkennbar werden zu lassen und zu unterscheiden von allem, was ihm entgegensteht. Darin besteht die theologische Verantwortung. Aber die dabei gewonnenen Erkenntnisse – Kategorien, Theorien, Normen und Kriterien – sind in der Pastoral, im Religionsunterricht, bei Verkündigung und Katechese nicht mehr als Deutungshilfen und Orientierungspunkte. Der Einzelfall ist je einmalig. Und niemand außer Gott selbst kennt den »wahren« Glauben einer Person. Diese Grenze macht Christinnen und Christen, pastoral Verantwortliche, Theologinnen und Theologen, Religionslehrerinnen und -lehrer, die solche Studien für ihre Arbeit heranziehen, darauf aufmerksam, dass die Daten und besonders deren kritische Interpretation immer auch auf einen selbst zurückverweisen. Damit verbindet sich die Notwendigkeit, den je persönlichen Glauben auf seine immanenten spirituellen wie atheisierenden Dimensionen hin zu befragen. Es sind nicht nur die »Anderen« – die Gottesgläubigen, Säkularen, Rituellen –, die in ihren Religiositäten und Spiritualitäten widersprüchlich, ambivalent und atheisierend sind. Es sind auch die Gläubigen selbst. Beständige Erneuerung und Befragung des Glaubens bleibt Aufgabe aller ChristInnen und der ganzen Kirche, insbesondere in Zeiten der Transformation der religiösen Landschaft in einer nihilistischen Grundsituation.

412

Regina Polak

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Karl Obermayer

U JI*

Ich habe wieder ein Thema ausgesucht und eine Kalligraphie dazu aufgehängt.1 Sie besteht aus zwei Zeichen. Das obere Zeichen wird als U gelesen und bedeutet »es gibt«, »da sein«, »existieren«, »Sein«. Das Zeichen darunter wird als JI gelesen und bedeutet »Zeit« oder auch »Stunde«. Zusammen also U JI. Das ist ein Wort, das Meister Do¯gen geprägt hat. Do¯gen lebte im 13. Jahrhundert und gilt als Stifter der Soto-Richtung des Zen und überhaupt als ein wesentlicher Begründer des Zen in Japan. Die wichtigste seiner Schriften ist das Sho¯bo¯genzo¯, eine Sammlung von Reden und Aufsätzen. Den Titel Sho¯bo¯genzo¯ hat man übersetzt mit »Die Schatzkammer der Erkenntnis des wahren Dharma«. Ein Juwel aus dieser Schatzkammer ist das Kapitel über U JI – über »Sein-Zeit«. Ich war Anfang September eine Woche in einem Dorf auf dem Land. In dieser Woche haben drei Begräbnisse von betagten Menschen stattgefunden. Am Land ist das noch eine große Sache, da ist alles auf den Beinen, Prozession zum Ortsfriedhof mit Musik, Feuerwehr usw. – dann natürlich auch ins Wirtshaus. Die Beerdigungen sind das Tagesgespräch der Leute und man konnte immer wieder Sätze hören wie »Seine Zeit war eben um«, »Seine Zeit war vorüber« oder »Es war für ihn Zeit zu gehen«. Irgendwie kam mir dazu Do¯gens U JI in den Sinn, die Art, wie er Sein und Zeit in eine sehr enge Verbindung bringt. Hören wir ein paar Zeilen aus diesem Text: »›Sein-Zeit‹ bedeutet, daß Zeit Sein ist, d. h. ›Zeit ist Existenz, Existenz ist Zeit‹. Die Gestalt einer Buddhastatue ist Zeit. Zeit ist die leuchtende Natur eines jeden Augenblicks; es ist die jetzige tägliche Zeit in der Gegenwart. Auch wenn wir selbst nicht die Länge eines Tages berechnet haben, ist nicht daran zu zweifeln, daß ein Tag zwölf Stunden hat. [Dazu muss man wissen, dass der Tag damals in zwölf Doppelstunden * Kalligrafie »U JI« (links) von Karl Obermayer 1 Der Text geht auf ein Teisho Karl Obermayers zurück, das während des Sesshins in St. Georgen am Längsee vom 21. bis zum 26. 9. 2008 gehalten wurde. Der Charakter des mündlichen Vortrags sollte erhalten bleiben. »Teisho« heißt der Lehrvortrag eines Zenmeisters während eines Sesshins oder zu anderen Gelegenheiten. »Sesshin« ist der Name für eine mehrtägige intensive Übungsperiode.

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Karl Obermayer

eingeteilt wurde, K.O.] Der Wechsel der Zeit ist klar, es besteht kein Grund daran zu zweifeln; das bedeutet jedoch nicht, daß wir genau wissen, was Zeit ist.«2

Dann, etwas weiter unten, heißt es: »Die ganze Welt ist in uns enthalten. Das ist das Prinzip ›Wir, wir selbst sind Zeit‹. Untersuche das Prinzip, daß alles in der Welt Zeit ist. Jeder Augenblick enthält die ganze Welt. Wenn wir das verstehen, ist das der Beginn der Übung und Erleuchtung. Wenn wir dieses Verständnis erreichen, erkennen wir die Wichtigkeit von jeglichem Tun. Ein Grasblatt, jeder einfache Gegenstand, jedes lebende Ding ist untrennbar von der Zeit. Die Zeit enthält jedes Wesen und alle Welten.«3

Also für jetzt einmal bis hierher aus diesem Text, der nicht so einfach zu verstehen ist. Aber wir sehen doch zumindest ein, dass alles innerhalb der Zeit ist und alles, was existiert in dieser Welt, die wir erfahren, in der Zeit existiert. Eben in dieser jetzigen Zeit geschieht alles, was ist. Alles ist in ihr enthalten. Zugleich – und das ist natürlich immer wieder ein Thema der Mystik – berühren wir in der Zeit die Ewigkeit. Das ist in dem Sinn kein Gegensatz, sondern beides ist zugleich präsent. Auch dies ist ein Gedanke, der immer wieder aufgegriffen wurde. Bei Angelus Silesius heißt es etwa: »Zeit ist wie Ewigkeit und Ewigkeit wie Zeit. So du nur selber nicht machst einen Unterscheid«.4 Es geht um dieses Ineinander von Zeit und Ewigkeit, von dem der Wahlspruch Jakob Böhmes sagt, dass es den, der es erfährt, von allem Streit befreit. Ja, zunächst kann es sein, dass einem das vorkommt wie irgendwelche Spekulationen oder Gedankengänge, die vielleicht Do¯gen und anderen wichtig waren, die aber nicht sehr viel mit Meditationspraxis zu tun haben. Aber wir werden schon sehen, wenn wir uns für die Praxis Zeit nehmen, wie wir die Zeit füllen mit unserem Sein. Gerade auch für das Sesshin kann U JI, Sein-Zeit, ein Impuls sein, durch den wir hier aus unserer sonstigen Tätigkeit und Umgebung herauskommen und diese Tage eigentlich nichts Besonderes tun müssen: nur da sein, in der Präsenz sein. Das ist ja ein Kernthema unserer Übung. Nichts anderes als präsent zu sein, hier in diesem Augenblick. Augenblick für Augenblick. Wir lassen alles zurück, alles weg, was uns beengt, was uns behindert, was uns Sorgen macht: alle Dinge der Vergangenheit, die uns noch anhaften, und alle Dinge, die uns in der Zukunft schon irgendwo vorschweben. Wir versuchen, nur in der Gegenwart, im Hier und Jetzt zu sein, alles andere zu lassen. Dann ist die ganze Welt, die ganze Zeit auf neue Weise da. Möge diese Zeit, die uns hier gegeben ist, im wahrsten Sinn zu einer Zeit des Seins werden, in der wir sind und in unserer ganzen Seinswirklichkeit präsent werden. 2 Do¯gen: Sho¯bo¯genzo¯, 91. 3 Ebd., 91 f. 4 Silesius: Cherubinischer Wandersmann, 10.

U JI

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Ich möchte nochmals auf unser Thema U JI, Sein-Zeit, zurückkommen und einen weiteren Ausschnitt aus dem Text von Meister Do¯gen lesen. Beim gestrigen Mondo ist das Wesentliche davon schon angeklungen, ganz in Übereinstimmung mit Do¯gen.5 Man kann U JI nicht bloß in Richtung »Zeit des Seins« lesen, sondern auch als »Sein der Zeit«. Do¯gen kritisiert die landläufige Auffassung, dass Vergangenheit und Zukunft ohne Bezug zum gegenwärtigen Leben sind und im Grunde gar kein Sein haben, weil die Vergangenheit ja nicht mehr und die Zukunft noch nicht ist. Er gibt das Beispiel einer Wanderung, bei der man zuerst einen Fluss durchwatet, dann einen Berg erklettert und schließlich bei einem Palast ankommt. Es scheint, als wären das Waten durch den Fluss und das Klettern auf den Berg Dinge, die man bei der Wanderung eins nach dem anderen als vergangene Dinge hinter sich lässt. Man hat den Eindruck, die Zeit sei nichts als das sukzessive Vorbeigehen dieser Ereignisse, die aus dem Noch-nicht-Sein kommen und ins Nicht-mehr-Sein versinken. Das stimmt jedoch nicht, meint Do¯gen, denn »wenn du den Fluß durchquerst, oder den Berg erkletterst bist du (Zeit). Wir sind nie von der Zeit getrennt. Das bedeutet, daß wir in der ewigen Gegenwart der Zeit sind, da es wahrhaft kein zeitloses Kommen oder Gehen gibt, wenn wir den Fluß überqueren oder den Berg erklettern; diese Zeit enthält alle vergangene und gegenwärtige Zeit. Den Fluß überqueren, den Berg erklettern, im Palast leben existieren zusammen, in Wechselbeziehung zueinander, in Sein-Zeit. […] Die vergangene Zeit wird in unserer gegenwärtigen Zeit erfahren. Sie scheint vorüber zu gehen, aber die Vergangenheit ist immer fortwährend in der Gegenwart enthalten. Genauso ist die Kiefer Zeit, der Bambus ist ebenso Zeit. Sieh Zeit nicht nur als vorübergehend an; untersuche nicht nur den fließenden Aspekt der Zeit. Wenn die Zeit wirklich vorbeieilen würde, wäre das eine Trennung zwischen der Zeit und uns. Wenn du glaubst, daß die Zeit nur eine vorbeigehende Erscheinung ist, wirst du Sein-Zeit niemals verstehen. Die zentrale Bedeutung von Sein-Zeit ist: Alle Wesen der ganzen Welt sind miteinander verwandt und können nicht von der Zeit getrennt werden. Sein ist Zeit, und deshalb ist es meine eigene wahre Zeit. Es gibt jedoch eine Bewegung der Zeit in dem Gefühl des Bewegens von Heute zu Morgen von Heute zu Gestern und von Gestern zu Heute, von Heute zu Heute, von Morgen zu Morgen. Diese Bewegung ist das Charakteristische für die Zeit […].«6

Do¯gen unterstreicht hier etwas, worauf uns Augustinus gestern im Mondo schon sehr deutlich hingewiesen hat, dass eben in der Gegenwart die Vergangenheit anwesend ist und auch schon das Morgen, auch schon die Zukunft – und das lässt sich nicht voneinander trennen.7 Wenn man Zeit nur als etwas ansieht, das 5 Unter »Mondo« versteht man das Gespräch des Zenmeisters mit den Schülern. 6 Do¯gen: Sho¯bo¯genzo¯, 92. 7 Wie an vielen anderen Sesshins von Karl Obermayer nahm Augustinus Wucherer-Huldenfeld auch an der Meditationswoche teil, bei der das Teisho zu U JI gegeben wurde.

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Karl Obermayer

vorübergeht, dann, sagt er hier, bedeutet das eine Trennung zwischen der Zeit und unserem Sein und außerdem den Verlust des Einsseins mit allen Wesen. Alle Wesen in der Welt sind durch das Band der Zeit miteinander verwandt. Das ist natürlich ein Grundgedanke im buddhistischen Denken, dass alles miteinander verwoben ist. Alles ist miteinander verwandt in der einen Zeit und dabei ist jedes auch für sich einmalig, hat seine ganz eigene Zeit. Die Zeit selbst ist ein Gewebe aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die sich in jeder Phase des Geschehens vielfach miteinander verschränken. Es gibt da keine lineare, einlinige Bewegung. Später geht Do¯gen noch auf einen anderen Gedanken ein, der für die Praxis wichtig ist, weil er U JI auf das Problem der Verirrungen auf dem Weg bezieht. Alle zeitweiligen Fehltritte, meint er, werden von U JI umfasst. Man wurzelt in diesem ursprünglichen reinen zeitlichen Sein, ob man es weiß oder nicht. »Die meisten Menschen denken, daß die Zeit vergeht, und sie erkennen nicht, daß es einen Zustand gibt, der nicht vergeht. Dies erkennen heißt das Sein verstehen; dies nicht erkennen ist ebenfalls Sein.«8

Also ist es nicht tragisch, mal einen Fehltritt zu machen, wenn man irgendwo vom Weg abgleitet, bleibt man doch in U JI und behält die Möglichkeit, seiner wieder innezuwerden. »Wenn du jedoch das Sein nicht verstehst, bist du niemals wahrhaft losgelöst. Obgleich du genau zu wissen glaubst, wer du bist, ist es sehr schwierig, wahre Selbsterkenntnis zu haben. Deine Vorstellungen von dir selbst ändern sich fortwährend, sobald Du mehr und mehr über Dein wahres Wesen entdeckst. Wenn du die vollständige Selbsterkenntnis hast, werden sogar die Vorstellungen von der Weisheit der Erleuchtung oder vom Zustand der Loslösung als das, was sie eigentlich sind, gesehen – nicht-vollkommen und täuschend. Erinnere dich jedoch daran, daß Sein-Zeit sich nicht auf Vorstellungen stützt. Es ist das aktuelle Dasein.«9

Hier spricht Do¯gen von der Selbsterkenntnis, die von der Erkenntnis des Seins im Sinn von Sein-Zeit nicht zu trennen ist. Er sagt, dass sie ein fortschreitender Prozess ist, bei dem du fortwährend mehr und mehr von deinem wahren Selbst entdeckst, aber selbst wenn man auf diesem Weg eine genaue Vorstellung davon erreicht, was Erleuchtung und Loslösung bedeuten, befindet man sich immer noch in einem Zustand der Täuschung. Sein-Zeit stützt sich nämlich nicht auf Vorstellungen, sondern ist das aktuelle Dasein. Dieses Wort »Da-Sein« beinhaltet ja wirklich alles – in dieser konkreten Situation da sein. Egal, auf welchem spirituellen Weg, egal, auf welchem Punkt man gerade angelangt ist – und unsere Entwicklung ist ja keine lineare Bewegung, sondern es geht immer wieder 8 Do¯gen: Sho¯bo¯genzo¯, 93. 9 Ebd.

U JI

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rauf und runter –, immer sind wir in diesem Dasein. Es geht nicht um die Vorstellungen, die man davon hat, sondern um dieses »Sosein«, wie es eben jetzt gerade an der Zeit ist, und das Verwurzeltsein im Ewigen. Das ist immer mitanwesend; so, wie Vergangenheit und Zukunft mitanwesend sind, so ist auch die zeitlose Zeit, oder Ewigkeit, immer anwesend. Gerade in der Übung der Meditation haben wir eine Chance, diesen Punkt zu berühren. Meister Eckhart war übrigens ein Zeitgenosse von Do¯gen, und obwohl sie sich nicht gekannt haben können, beschäftigen sie sich in vieler Hinsicht mit ähnlichen Gedanken. In einer »Anweisung zum schauenden Leben«, von der nicht sicher ist, ob sie vom Meister selbst oder von einem seiner Schüler stammt, heißt es: »Zur Höhe Gottes muß man sich erheben! […] Dann wird aller Kreaturen Niedrigkeit und Kleinheit einbezogen in die Gotteshoheit. Weiter wird man erlangen: die Vollendung und Stetigkeit der Ewigkeit. Denn da ist nicht Zeit noch Raum, nicht vor noch nach, sondern alles gegenwärtig beschlossen in einem neuen grünenden Nun.«10 Ein wunderschöner Ausdruck: »in einem neuen grünenden Nun«. In der Ewigkeit ist alles gegenwärtig und wie neugeboren, in voller Lebenskraft. In der Meditation, in ganz unterschiedlichen Situationen, auch bei einer Wanderung, wenn man etwa auf einem Berggipfel steht, können wir plötzlich in der konkreten Zeit, in diesem Augenblick das grünende Nun der Ewigkeit erahnen.

Literatur Angelus Silesius: Cherubinischer Wandersmann. Sinnliche Beschreibung der vier letzten Dinge, Gesammelte Werke, Bd. 3, nach der 3. erw. Aufl. 1953, Wiesbaden (Fourier) 2002. Do¯gen Zenji: Sho¯bo¯genzo¯. Die Schatzkammer der Erkenntnis des wahren Dharma, aus dem Englischen übers. von Martin Eckstein, Bd. 1, Zürich (Theseus) 1977. Meister Eckeharts Schriften und Predigten. Aus dem Mittelhochdeutschen übers. und hg. von Herman Büttner, Leipzig (Diederichs) 1903.

10 Meister Eckeharts Schriften und Predigten, 30.

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Im Druck Philosophische Theologie im Umbruch, Bd. 1: Standortbestimmung – Philosophische Theologie inmitten von Theologie und Philosophie, Wien (Böhlau) 2011. Philosophische Theologie im Umbruch, Bd. 2: Im Kampf gegen den ungöttlichen Gott: InFrage-Stellungen philosophischer Theologie, Wien (Böhlau) 2012.

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Bibliografie Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld

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Kriterien und gesellschaftliche Relevanz theologischer Prozesse, hg. von der Kontaktstelle für Weltreligionen, Graz / Wien 1998, 31 – 40. Überarbeitet in: BG, 185 – 195. »Das Denken ist ein Sprechen und dieses ein Hören.« Ein nachgelassenes Wort von Kant, in: Rupitz, J., u. a. (Hg.): Achtung vor Anthropologie. Interdisziplinäre Studien zum philosophischen Empirismus und zur transzendentalen Anthropologie. Michael Benedikt zum 70. Geburtstag, Wien 1998, 347 – 355. »Herz-Jesu-Spiritualität« heute? Bleibendes in den Opfer- und Sühnegedanken eines Seligen, in: Diakonia. Internationale Zeitschrift für die Praxis der Kirche 29 (1998), 404 – 407. Gibt es einen Grundgedanken der Gottesbeweise bei Thomas von Aquin?, in: Rundbrief der Dominikanerprovinz des Hl. Albertus Magnus in Süddeutschland und Österreich Nr. 2 (1998), 35 – 40. Überarbeitet in: BG, 235 – 245. Zu Heideggers Verständnis des Seins bei Johannes Duns Scotus und im Skotismus sowie im Thomismus und bei Thomas von Aquin, in: Vetter, H. (Hg.): Heidegger und das Mittelalter. Wiener Tagungen zur Phänomenologie 1997, Reihe der Österreichischen Gesellschaft für Phänomenologie, Bd. 2, Frankfurt / M. 1999, 41 – 59. Zur Spiritualität des seligen Jakob Kern, in: Geraser Hefte 43 (1999), 11 – 15. Freiheit und Befreiung in der Daseinsanalyse, in: Daseinsanalyse. Phänomenologische Anthropologie und Psychotherapie, Sonderausgabe, Bd. 15 (1999), 211 – 223. Überarbeitet in: BG, 115 – 130. La pneumatologia della parola. La riscoperta autodidattica della comprensione storicosalvifica delle Trinit— da parte di Ferdinand Ebner, in: Zucal, S., Bertoldi, A. (Hg.): La filosofia della parola di Ferdinand Ebner, Brescia 1999, 27 – 40.

2000 – 2010 Was heißt Wirklichkeit? Ein ontologischer Beitrag zum Wirklichkeitsverständnis der Psychotherapie, in: Daseinsanalyse. Jahrbuch für phänomenologische Anthropologie und Psychotherapie 16 (2000), 51 – 62. Phänomen und Bedeutung des Atheismus an der Wende zum 21. Jahrhundert, in: Baier, K., Mühlberger, S., Schelkshorn, H., Wucherer, A. K. (Hg.): Atheismus heute? Ein Weltphänomen im Wandel. Mit einem Geleitwort von Kardinal Dr. Franz König, Leipzig 2001, 37 – 52. Il pensiero fondamentale di Ferdinand Ebner, in: Communio. Rivista Internazionale di Teologia e Cultura 175 – 176 (2001), 17 – 31. Philosophische Vorüberlegungen zum Symbolverständnis in der Psychotherapie, in: Daseinsanalyse. Jahrbuch für phänomenologische Anthropologie und Psychotherapie 22 (2001), 126 – 142. Klassische Anfangsgründe der Gotteserkenntnis und ursprüngliche Erfahrung, in: Uhl, F., Boelderl, A. R. (Hg.): Zwischen Verzückung und Verzweiflung. Dimensionen religiöser Erfahrung. Schriften der Österreichischen Gesellschaft für Religionsphilosophie, Bd. 2, Düsseldorf 2002, 13 – 26. Überarbeitet in: BG, 173 – 184. »Zweierlei Metaphysik«, in: Dethloff, Kl., u. a. (Hg.): Religion, Moderne, Postmoderne.

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Bibliografie Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld

Philosophisch-theologische Erkundungen. Schriften der Österreichischen Gesellschaft für Religionsphilosophie, Bd. 3, Berlin 2002, 263 – 279. Überarbeitet in: BG, 207 – 221. Wie sollen wir mit dem Übel umgehen? Skizze einer praktischen »Theodizee«, in: Religionen unterwegs. Zeitschrift der Kontaktstelle für Weltreligionen in Österreich 8 (2002), 8 – 15. Überarbeitet in: BG, 131 – 147. Das ursprünglich Ethische im Ansatz von Heideggers »Sein und Zeit«, in: Esterbauer, R. (Hg.): Orte des Schönen. Für Günther Pöltner zum 60. Geburtstag, Würzburg 2003, 217 – 237. Daseinsanalytisches Weltverständnis, in: Daseinsanalyse. Jahrbuch für phänomenologische Anthropologie und Psychotherapie 19 (2003), 20 – 27. Freuds Seinsverständnis aus daseinsanalytischer Sicht, in: Daseinsanalyse. Jahrbuch für phänomenologische Anthropologie und Psychotherapie 20 (2004), 342 – 352. Der personale Aspekt im Individuationsprozess: Versuch einer Würdigung des Anliegens von Gustav Hans Graber, in: Reiter, A. (Hg.): Vorgeburtliche Wurzeln der Individuation. Im Gedenken an Leben und Werk von Gustav H. Graber (1893 – 1982), Heidelberg 2005, 53 – 65. (zusammen mit Hans Dieter Foerster) Psychotherapeutische Diagnostik. Leitlinien für den neuen Standard, in: Bartuska, H., Buchsbaumer, M., Mehta, G., Pawlowsky, G., Wiesnagrotzki, S. (Hg.), Wien / New York 2005, 73 – 78. Engl. Ausgabe: Psychotherapeutic Diagnostics. Guidelines for the New Standard, l.c., 2007, 71 – 76. Zur Aktualität des integralen Denkens Leo Gabriels, in: Raynova, Y. B., Moser, S. (Hg.): Das integrale und das gebrochene Ganze. Zum 100. Geburtstag von Leo Gabriel, Frankfurt / M. 2005, 45 – 55. Über den Bezug der Emotionen zur Wahrheit, in: Daseinsanalyse. Jahrbuch für phänomenologische Anthropologie und Psychotherapie 22 (2006), 28 – 40. Empfangt, was ihr seid, und seid, was ihr empfangt! Zur Aktualität des Eucharistieverständnisses des hl. Augustinus, in: Communicantes. Schriftenreihe zur Spiritualität des Prämonstratenserordens 21 (2006), 6 – 19. Wieder abgedruckt in: Heiliger Dienst 61 (2007), 111 – 117. Karfreitagspredigt 2007, in: »Unser Stift-Geras-Fritzlar-Itinga«. Mitteilungsblatt der Prämonstratenserabtei Geras / NÖ, 2007, 41 – 45. Was besagt Privation? Zur Sprache der Abwesenheit, in: Daseinsanalyse. Jahrbuch für phänomenologische Anthropologie und Psychotherapie 23 (2007), 22 – 39. Fragen um den Beginn des Träumens, in: Daseinsanalyse. Jahrbuch für phänomenologische Anthropologie und Psychotherapie 24 (2008), 66 – 88. Vorwort, in: Toegel, J.: Über alle Grenzen. Als Einsiedler unter Tibetern, Graz 2010, 8 f.

Im Druck Pneumatologie des Wortes. Ferdinand Ebners autodidaktische Wiederentdeckung des heilsökonomischen Trinitätsverständnisses, in: Religionen unterwegs, 2011. Gedanken zur personalen Ontologie bei Ferdinand Ebner, in: Ferdinand Ebner. Denker des Logos und des Dia-Logos. Pneumatologie als Grammatik der Subjektivität (Tagungsband zum Internationalen Ebner-Symposium in Brixen / Südtirol 2009).

Bibliografie Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld

III.

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Mitherausgegebene und mitverfasste Werke

Caruso, I. A.: Bios Psyche Person: Eine Einführung in die allgemeine Tiefenpsychologie, in Zusammenarbeit mit Edmund Frühmann, Sepp Schindler, Adalbert Wegeler und Karl von Wucherer-Huldenfeld, Freiburg / Br. 1957. Wucherer, A. K., Figl, J., Mühlberger, S. (Hg.): Weltphänomen Atheismus, Wien / Freiburg / Basel 1979. Baier, K., Mühlberger, S., Schelkshorn, H., Wucherer, A. K. (Hg.): Atheismus heute? Ein Weltphänomen im Wandel. Mit einem Geleitwort von Kardinal Dr. Franz König, Leipzig 2001.

IV.

Festschriften

Ganzheitliches Denken. Festgabe für Augustinus K. Wucherer-Huldenfeld zum 60. Geburtstag, hg. von J. Figl und E. Waldschütz, Wien (Universitätsverlag) 1989. Daseinsanalyse. Phänomenologische Anthropologie und Psychotherapie 15 / 1 (1998) (Tagung des Instituts für Christliche Philosophie und der Österreichischen Gesellschaft für Daseinsanalyse anlässlich der Emeritierung von A. K. Wucherer am 3. / 4.10.1997).

V.

Medien

Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld im Gespräch (2007, 2 DVDs): http://tychen.at/filme.htm.

Autorinnen und Autoren

Notabene: Die jeweils angegebenen Publikationen stellen nur eine Auswahl dar. Karl Baier Dr. phil., Mag. theol.; ao. Professor für Religionswissenschaft an der KatholischTheologischen Fakultät der Univ. Wien. Studien der Philosophie, Ethnologie und Theologie in Wien; 1987 Promotion im Fach Philosophie an der Univ. Wien; 1987 – 1999 Assistent am Institut für Christliche Philosophie; 1999 – 2009 Assistenzprofessor ebd.; 2009 Habilitation im Fach Religionswissenschaft. Hauptarbeitsgebiete: Neue religiöse Bewegungen in der Moderne; Spiritualitätsforschung; Modern Yoga Studies; Buddhistisch-Christlicher Dialog; Religionsphilosophie. Publikationen: Yoga auf dem Weg nach Westen. Studien zur Rezeptionsgeschichte, Würzburg (Königshausen & Neumann) 1998; Handbuch Spiritualität. Zugänge, Traditionen, interreligiöse Prozesse, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 2006 (Hg.); Meditation und Moderne, 2 Bde., Würzburg (Königshausen & Neumann) 2009. Arno Böhler Dr. phil. habil.; Universitätsdozent am Institut für Philosophie der Univ. Wien. 2004 Habilitation am Institut für Philosophie in Wien; 2010 – 2013 Leiter des FWF-Forschungsprojekts »Korporale Performanz (Generating Bodies)«; Auslandsforschungsaufenthalte an den Universitäten Bangalore und Heidelberg, an der New York University und der Princeton University. Hauptarbeitsgebiete: Continental Philosophy ; Poststrukturalismus (Performanzforschung); Indische Philosophie. Publikationen: Singularitäten. Vom zu-reichenden Grund der Zeit. Vorspiel einer Philosophie der Freundschaft, Wien (Passagen Verlag) 2005; Ereignis Denken, Wien (Passagen Verlag) 2009 (hg. zus. mit Susanne Granzer); Philo-

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Autorinnen und Autoren

sophy On Stage, Doppel-DVD-Buch zum FWF-Forschungsprojekt Materialität und Zeitlichkeit performativer Sprechakte, Wien (Passagen Verlag) 2007 (hg. zus. mit Susanne Granzer). Reinhold Esterbauer Dr. phil. habil., Dr. theol.; Professor für Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Univ. Graz. 1988 Dr. phil. und 1990 Mag. theol. an der Univ. Wien; 1995 Dr. theol. an der Univ. Graz; 2001 Habilitation in Philosophie an der Univ. Wien. Hauptarbeitsgebiete: Religionsphilosophie; Naturphilosophie; Anthropologie. Publikationen: Anspruch und Entscheidung. Zu einer Phänomenologie der Erfahrung des Heiligen, Stuttgart (Kohlhammer) 2002; Religiöse Appelle und Parolen. Interdisziplinäre Analysen zu einer neuen Sprachform, Stuttgart (Kohlhammer) 2008 (hg. zus. mit Peter Ebenbauer und Christian Wessely); Emotionen im Spannungsfeld von Phänomenologie und Wissenschaften, Frankfurt / M. (Peter Lang) 2009 (hg. zus. mit Sonja Rinofner-Kreidl). Johann Figl Dr. theol., Dr. phil.; Professor und Vorstand des Instituts für Religionswissenschaft der Katholisch-Theologischen Fakultät der Univ. Wien. Studien in Innsbruck (Mag. theol.), Tübingen (Dr. theol.) und Wien (Dr. phil.); 1983 Habilitation mit der Arbeit »Hermeneutische Religionsphilosophie«; 1982 – 1984 Lektor für Philosophie und Religionswissenschaft an der Privatuniv. Linz; 1986 Berufung zum Professor für Religionswissenschaft an der Univ. Wien. Hauptarbeitsgebiete: Religionswissenschaft; Religionsphilosophie; Säkularisierung und Atheismus (besonders Nietzsche); Buddhismus im Westen; Neue Religionen. Publikationen: Die Mitte der Religionen. Idee und Praxis universalreligiöser Bewegungen, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1993; Handbuch Religionswissenschaft. Religionen und ihre zentralen Themen, Innsbruck / Göttingen (Tyrolia) 2003 (Hg.); Nietzsche und die Religionen. Transkulturelle Perspektiven seines Bildungs- und Denkweges, Berlin / New York (de Gruyter) 2007. Ingeborg Gabriel Dr. theol., Mag. rer. soc. oec.; Professorin und Vorstand des Instituts für Sozialethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Univ. Wien. 1974 Mag. der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften; 1976 Diplom in Internationalen Bezie-

Autorinnen und Autoren

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hungen der Diplomatischen Akademie Wien; 1986 Mag. der Theologie; 1989 Dr. der Theologie. Hauptarbeitsgebiete: Grundlagen der Ethik und Sozialethik; Menschenrechtsethik; Sozialethik im ökumenischen und interreligiösen Dialog. Publikationen: Kommunismus im Rückblick: die barbarische Rückseite des Spiegels der Moderne, in: Gabriel, I., Bystricky, C. (Hg.): Kommunismus im Rückblick, Ökumenische Perspektiven (1989 – 2009), Ostfildern (Grünewald) 2010, 10 – 22; Christianity in an Age of Uncertainty. A Catholic Perspective, in: Berger, P. L. (Hg.): Between Relativism and Fundamentalism. Religious Ressources for a Middle Position, Grand Rapids (Eerdmans) 2010, 124 – 151; Westlicher Lebensstil in der Krise, in: Renöckl, H., Baloban, S. (Hg.): Jetzt die Zukunft gestalten! Sozialethische Perspektiven, Wien u. a. (Echter) 2010, 197 – 226. Wilfried Grießer Dr. phil., Mag. rer. nat.; Privatgelehrter ; Erwachsenenbildung. 1996 Diplom in Mathematik; 2004 Promotion sub auspiciis praesidentis zum Doktor der Philosophie an der Univ. Wien. Hauptarbeitsgebiete: Deutscher Idealismus; Heidegger ; spekulative Logik; Naturphilosophie; Religionsphilosophie. Publikationen: Geist zu seiner Zeit. Mit Hegel die Zeit denken, Würzburg (Königshausen & Neumann) 2005; Die Erforschung der chemischen Sinne. Geruchs- und Geschmackstheorien von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt / M. (Peter Lang) 2006 (gemeinsam mit Sabine Krist); Zeit und Zeitlichkeit beim späten Paul Natorp und bei Heidegger, in: Philosophisches Jahrbuch, 2. Halbbd. (2008), 261 – 287. Gerd Haeffner SJ Dr. phil., Lic. theol.; Professor emeritus für Philosophische Anthropologie und Geschichte der Philosophie an der Hochschule für Philosophie München. 1966 Lizentiat in Philosophie, Hochschule für Philosophie Pullach; 1971 Dr. phil. an der Univ. München; 1974 Theologisches Lizentiat Facult¦ de FourviÀre Lyon / Paris. Hauptarbeitsgebiete: Philosophische Anthropologie mit Grenzfragen zur Metaphysik; Heidegger. Publikationen: Philosophische Anthropologie, 4. Aufl., Stuttgart (Kohlhammer) 2005; In der Gegenwart leben. Auf der Spur eines Urphänomens, Stuttgart (Kohlhammer) 1997; Wege in die Freiheit. Philosophische Meditationen über das Menschsein, Stuttgart (Kohlhammer) 2006.

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Autorinnen und Autoren

Friedrich-Wilhelm von Herrmann Dr. phil., Dr. habil.; Professor emeritus, Philosophisches Seminar der Univ. Freiburg. Hauptarbeitsgebiete: Metaphysik; Ontologie; Phänomenologie Husserls und Heideggers; Heidegger-Gesamtausgabe. Publikationen: Hermeneutische Phänomenologie des Daseins. Kommentar zu »Sein und Zeit«, Frankfurt / M. (Klostermann) (bisher drei von fünf Bänden erschienen: 1987, 2005, 2008); Augustinus und die phänomenologische Frage nach der Zeit, Frankfurt / M. (Klostermann) 1992. Engl. Übersetzung bei Edwin Mellen Press, USA, 2008; Wege ins Ereignis. Zu Heideggers »Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)«, Frankfurt / M. (Klostermann) 1994. Hans Gerald Hödl Dr. phil. habil., Mag. theol.; ao. Professor am Institut für Religionswissenschaft der Univ. Wien. 1987 Magisterium in katholischer Theologie (Univ. Wien); 1990 Doktorat in Philosophie (Univ. Wien); 2003 Habilitation für Kulturwissenschaft (Humboldt-Univ. Berlin); Mitherausgeber der historisch-kritischen Gesamtausgabe der Werke Friedrich W. Nietzsches. Hauptarbeitsgebiete: Westafrikanische und afroamerikanische Religionen; Ritualtheorie; Nietzscheforschung; Angewandte Religionswissenschaft. Publikationen: Der letzte Jünger des Philosophen Dionysos. Studien zur systematischen Bedeutung von Nietzsches Selbstthematisierungen im Kontext seiner Religionskritik (= MTNF 54), Berlin / New York (de Gruyter) 2009; Dancing on the corpses ashes. Zur Typologie von Ritualen in Zusammenhang mit dem Tod, in: Heller, B., Winter, F. (Hg.): Tod und Ritual. Interkulturelle Perspektiven zwischen Tradition und Moderne, Berlin (LIT) 2007, 27 – 57; Inkulturation. Ein Begriff im Spannungsfeld von Theologie-, Religions- und Kulturwissenschaft, in: Klieber, R., Stowasser, M. (Hg.): INKULTURATION. Historische Beispiele und theologische Reflexionen zur Flexibilität und Widerständigkeit des Christlichen, Münster / Hamburg / London (LIT) 2006, 15 – 38. Branko Klun Dr. phil. habil.; Professor für Philosophie an der Theologischen Fakultät der Univ. Ljubljana, Slowenien. 1990 Bacc. phil. an der Gregoriana in Rom; 1994 Mag. phil. und 1999 Dr. phil. an der Univ. Wien; 2001 Habilitation in Philosophie an der Univ. Ljubljana.

Autorinnen und Autoren

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Hauptarbeitsgebiete: Phänomenologie; Religionsphilosophie; Ethik. Publikationen: Das Gute vor dem Sein. Levinas versus Heidegger, Frankfurt / M. (Lang) 2000; Metaphysikkritik und biblisches Erbe, Wien u. a. (LIT) 2010. Franz Lackner OFM Dr. phil., Liz. phil., Mag. theol.; Weihbischof der Diözese Graz-Seckau seit 2002. 1991 Mag. der Theologie, Univ. Wien; 1997 Doktorat und Lizenziat, Päpstliche Hochschule Antonianum, Rom; 1997 – 1999 Professor für Metaphysik am Antonianum; Ernennung als Weihbischof (23. 10. 2002); Provinzial der Franziskanerprovinz von Wien; seit WS 2000 / 01 Professor für Philosophie an der Päpstlichen Philosophisch-Theologischen Hochschule Benedikt XVI. Heiligenkreuz. Hauptarbeitsgebiete: Christliche Philosophie; Duns Scotus. Publikationen: Einheit und Vielheit bei Johannes Duns Scotus (Dissertation), Rom 2003; Per la riscoperta della fede. Il contributo del pensiero di Giovanni Duns Scoto, in: Antonianum LXXXIV, October-December Fasc. 4 (2009), 751 – 762; Zwischen Weisheit und Wissenschaft. Johannes Duns Scotus im Gespräch (= Franziskanische Forschungen, Heft 45), Kevelaer 2003 (Hg.); darin auch Verfasser des Artikels: Theologie – Anfang und Vollendung der Metaphysik. Eine Verhältnisbestimmung, a. a. O., 130 – 145. Andrea Moldzio Dr. med., Dr. phil.; Leitende Oberärztin in der Asklepios-Klinik Ochsenzoll in Hamburg. Studien der Medizin, Philosophie, Psychologie und Pädagogik in Lübeck, Kiel und Wien. Hauptarbeitsgebiete: Philosophische und medizinische Anthropologie; Neue Phänomenologie; Psychotraumatologie sowie geschlechtsspezifische Psychiatrie. Publikationen: Das Menschenbild der systemischen Therapie, Heidelberg (Carl Auer) 2000 und 22004; Schizophrenie – eine philosophische Erkrankung?, Würzburg (Königshausen & Neumann) 2004. Karl Obermayer Konsistorialrat; Absolutorium der Theologischen Fakultät der Univ. Wien 1962; Pfarrer i.R., Zen-Lehrer seit 1973. Publikation: Zurück zur reinen Quelle – Zen-Einsichten und Kalligraphien, Bielefeld (Theseus) 2004.

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Autorinnen und Autoren

Günther Pöltner Dr. phil. habil., Mag. theol.; Professor für Philosophie am Institut für Philosophie der Univ. Wien. 1967 Promotion sub auspiciis zum Dr. phil.; 1981 Professor der Philosophie; 1994 Mag. theol. Hauptarbeitsgebiete: Metaphysik; Philosophische Anthropologie; Ästhetik; Medizinethik. Publikationen: Schönheit. Eine Untersuchung zum Ursprung des Denkens bei Thomas von Aquin, Wien (Herder) 1978; Evolutionäre Vernunft. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Evolutionären Erkenntnistheorie, Stuttgart (Kohlhammer) 1993; Grundkurs Medizinethik, Wien (Facultas) 22006; Philosophische Ästhetik, Stuttgart (Kohlhammer) 2008. Regina Polak Dr. theol., Mag. phil., MAS (Spirituelle Theologie im interreligiösen Prozess); Leiterin des Fachbereiches Pastoraltheologie und Kerygmatik am Institut für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. 1997 Mag. der Philosophie; 2005 Dr. in Theologie an der Univ. Wien und MAS an der Univ. Salzburg. Hauptarbeitsgebiete: Praktische Theologie der Spiritualität; Religionssoziologie; Religion im Kontext von Migration; Religiöse Tansformationsprozesse in Europa; Zukunft der Kirche; Jugend und Religion; Religion und Werte. Publikationen: Religion kehrt wieder. Handlungsoptionen in Kirche und Gesellschaft, Religion im Leben der Österreicher / innen, Bd. 2, Ostfildern (Schwabenverlag) 2006; Spiritualität – neuere Transformationen im »religiösen Feld«, in: Gräb, W., Charbonnier, L. (Hg.): Individualisierung – Spiritualität – Religion. Transformationsprozesse auf dem religiösen Feld in interdisziplinärer Perspektive, Münster (LIT) 2008, 89 – 109; Die Österreicher innen. Wertewandel 1990 – 2008, Wien (Czernin) 2009 (gemeinsam mit Christian Friesl und Ursula Hamachers-Zuba). Hansjörg Reck Dr. med. (1964); Arzt f. Kinderheilkunde (1972); Arzt f. Kinder- und Jugendpsychiatrie – Psychotherapie (1974 / 1975); Diplom in Daseinsanalyse (Zürich, 1983). Seit 1985 Lehranalytiker am Daseinsanalytischen Institut, Zürich, seit 1990 im Weiterbildungskreis f. Psychotherapie, Konstanz, seit 1995 im Daseinsanalytischen Institut, Wien. 1987 – 1990 Leitung des Funktionsbereichs »Psychotherapie« im PLK Reichenau / Konstanz; 1991 – 2003 Leitender Arzt im Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst Thurgau / Schweiz; seit 1990 ärztli-

Autorinnen und Autoren

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che Praxis für Psychotherapie und Psychoanalyse / Daseinsanalyse in Konstanz; seit 2004 Mitherausgeber des Jahrbuchs für phänomenologische Anthropologie und Psychotherapie DASEINSANALYSE. Publikationen: Zur Bedeutung des Zwiegesprächs und der Stille für die seelische Entwicklung des Menschen, in: Daseinsanalyse 23 (2007), 53 – 64; Traumwelt alter Menschen, in: Daseinsanalyse 24 (2008), 48 – 55; Voraussetzungen für eine interkulturelle Verständigung in der Psychotherapie, in: Daseinsanalyse 25 (2009), 7 – 17. Markus Riedenauer Dr. phil. habil., Dipl. Theol.; Professor für Philosophie am International Theological Institute, Trumau. 1992 Magister Artium in Philosophie und 1993 Diplom in katholischer Theologie an der Univ. München; 1997 Dr. phil. an der Univ. Wien; 2006 Habilitation in Philosophie an der Univ. Frankfurt. Hauptarbeitsgebiete: Praktische Philosophie; Metaphysik und Religionsphilosophie; philosophische Anthropologie und Psychologie. Publikationen: OREXIS & EUPRAXIA. Ethikbegründung im Streben bei Aristoteles, Würzburg (Königshausen & Neumann) 2000; Pluralität und Rationalität. Die Herausforderung der Vernunft durch religiöse und kulturelle Vielfalt nach Nikolaus Cusanus, Stuttgart (Kohlhammer) 2007; Affekte als mehrdimensionale Erschließung der Welt, in: Salzburger Jahrbuch für Philosophie LIII (2008), 101 – 118. Hans Schelkshorn Dr. phil. habil., Dr. theol.; ao. Professor am Institut für Christliche Philosophie der Katholisch-Theologischen Fakultät an der Univ. Wien. 1984 Mag. theol.; 1989 Dr. theol; 1994 Dr. phil.; 2007 Habilitation im Fach Philosophie. Hauptarbeitsgebiete: Praktische Philosophie; Theorien der Moderne; lateinamerikanische Philosophie; interkulturelle Philosophie und philosophischer Nord-Süd-Dialog. Publikationen: Ethik der Befreiung. Einführung in die Philosophie Enrique Dussels, Freiburg / Basel / Wien (Herder) 1992; Diskurs und Befreiung. Studien zur philosophischen Ethik von Karl-Otto Apel und Enrique Dussel, Amsterdam / Atlanta (Rodopi) 1997; Entgrenzungen. Ein europäischer Beitrag zum philosophischen Diskurs über die Moderne, Weilerswist (Velbrück Wissenschaft) 2009.

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Autorinnen und Autoren

Gerlinde Angelika Schopf Dr. med.; Leitende Ärztin, Stellvertreterin des Ärztlichen Direktors des Bereichs Alterspsychiatrie und -psychotherapie, Freiburger Netzwerk für psychische Gesundheit, Marsens, Fribourg / Schweiz. 1986 Promotion sub auspiciis praesidentis zur Doktorin der gesamten Heilkunde; 1990 Diplom-Ärztin für Allgemeinmedizin (ÖÄK); 1997 Diplom-Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie (ÖÄK); 2000 Diplom-Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie (FMH); 2006 Diplom-Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (FMH); 2008 Schwerpunkt Alterspsychiatrie und Alterspsychotherapie (FMH); mehrere Psychotherapie-Diplome, u. a. in Daseinsanalyse und Systemischer Therapie. Hauptarbeitsgebiete: Allgemeine Psychiatrie; Altersneuropsychiatrie; Psychotherapie; Angehörigenarbeit; Medizinische Ethik; Forensik. Publikationen: Gesundung und Entwicklung in der Daseinsanalyse versus Verhaltenstherapie, in: Daseinsanalyse 25 (2009), 150 – 172; Ethik in der Kinderund Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Ein anthropologisch-phänomenologischer Ansatz im Gegenüber zu Psychoanalyse und Systemtherapie, in: Daseinsanalyse 20 (2004), 37 – 54; Zur Wirkungsgeschichte Sigmund Freuds. Ludwig Binswanger und das Daseinsanalytische Institut in Wien, in: Amor, L.: Yearbook of Psychoanalysis, Tübingen (edition discord) 2002, 123 – 147. Rainer Thurnher Dr. phil. habil.; Professor am Institut für Philosophie der Univ. Innsbruck. 1973 Dr. phil. an der Univ. Innsbruck; 1980 Habilitation in Philosophie ebd. Hauptarbeitsgebiete: Geschichte der Philosophie (Antike, Leibniz, Existenzphilosophie, Husserl, Heidegger); Phänomenologie; Hermeneutik und Sprachphilosophie; Geschichtsphilosophie. Publikationen: Geschichte der Philosophie, hg. von Wolfgang Röd, Bd. XIII (gemeinsam mit Wolfgang Röd und Heinrich Schmidinger), München (Beck) 2002; Wandlungen der Seinsfrage. Zur Krisis im Denken Heideggers nach »Sein und Zeit«, Tübingen (Attempto) 1997; Allgemeiner und individueller Begriff, Freiburg / München (Alber) 1977. Günter Virt Dr. theol. habil.; Professor emeritus für Moraltheologie. 1965 Priesterweihe und 1970 Promotion zum Dr. theol. an der Univ. Wien; nach vielen Jahren in der Seelsorge 1981 Habilitation an der katholisch-theologischen Fakultät der Univ. Tübingen; 1981 – 1983 Prof. für Moraltheologie in Paderborn; 1983 – 1986 Prof.

Autorinnen und Autoren

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für Moraltheologie an der Univ. Salzburg; 1986 – 2006 Prof. für Moraltheologie an der Univ. Wien; 2001 – 2009 Mitglied der Ethikkommission im Bundeskanzleramt in Wien; seit 2001 Mitglied der European Group on Ethics in Sciences and Technologies, die den Präsidenten der Europäischen Kommission berät. Hauptarbeitsgebiete: Fundamentalmoral; Bioethik; Medienethik; Umweltethik. Publikationen: Epikie – verantwortlicher Umgang mit Normen, Mainz (Matthias Grünewald) 1983; Leben bis zum Ende. Zur Ethik des Sterbens und des Todes, Innsbruck / Wien (Tyrolia) 1998; Neues Lexikon der christlichen Moral (gem. mit H. Rotter), Innsbruck (Tyrolia) 1990. Umfassendes Publikationsverzeichnis in: Marschütz, G., Prüller-Jagenteufel, G. (Hg.): Damit Menschsein Zukunft hat. Theologische Ethik im Einsatz für eine humane Gesellschaft, Würzburg (Echter) 2007.

Hubert Philipp Weber Dr. theol., Lehrbeauftragter am Institut für Dogmatische Theologie, katholischtheologische Fakultät der Universität Wien und Theologischer Referent in der Erzdiözese Wien. Hauptarbeitsgebiete: das Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft; Theologie des Augustinus; Grundfragen theologischer Erkenntnislehre und mittelalterliche Theologie. Publikationen: Sünde und Gnade bei Alexander von Hales. Ein Beitrag zur Entwicklung der theologischen Anthropologie im Mittelalter, Innsbruck (Tyrolia) 2003; Mitarbeit an Christoph Schönborn: Gott sandte seinen Sohn. Christologie (= AMATECA 7) Paderborn (Bonifatius) 2002.

Silvano Zucal Dr. phil.; Professor für Theoretische Philosophie und Philosophie der Religion an der Univ. Trento. 1980 Promotion mit einer Dissertation über »La teologia della morte in Karl Rahner«; 1987 erster Rang beim öffentlichen Wettbewerb für eine Forschungsstelle an der Facolt— di Lettere e Filosofia an der Universit— di Trento (Theoretische Philosophie); 2001 Professor für Theoretische Philosophie und Philosophie der Religion, Univ. Trento. Hauptarbeitsgebiete: Philosophie des Schweigens; dialogisches Denken; philosophische Angelologie; Christologie. Publikationen: Ferdinand Ebner. La nostalgia della parola, Brescia (Morcelliana) 1999; Lineamenti di pensiero dialogico, Brescia (Morcelliana) 2004; Mar†a Zambrano. Il dono della parola, Milano (Mondadori Bruno) 2009.