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German Pages [253] Year 2021
BIOPHILOSOPHIE Gernot G. Falkner Renate A. Falkner
Die Selbstgestaltung der Lebewesen in Erfahrungsakten Eine prozessbiologisch-ökologische Theorie der Organismen
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495824191
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Gernot G. Falkner / Renate A. Falkner
Die Selbstgestaltung der Lebewesen in Erfahrungsakten
VERLAG KARL ALBER
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https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
BIOPHILOSOPHIE Herausgegeben von Gernot G. Falkner, Reto Luzius Fetz und Spyridon A. Koutroufinis Band 2
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Gernot G. Falkner / Renate A. Falkner
Die Selbstgestaltung der Lebewesen in Erfahrungsakten Eine prozessbiologisch-ökologische Theorie der Organismen
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Gernot G. Falkner / Renate A. Falkner The self-construction of living beings in acts of experience A process biological-ecological theory of organisms With the experience of environmental changes living beings reproduce their outer appearance in a constant flux of structural alterations. This process is guided by the creativity of the species-specific memory and of the individual memory of an organism. The former contains experiences, gained during antecedent self-constructions of a species. The latter refers to experiences, gained during individual developments of an organism. The interdependence of these two forms of memory allows comprehending the evolution of species, the human history and the emergence of self-consciousness as a single process. Thereby findings of prominent biologists about different manifestations of organismic remembrances are reinterpreted using ideas of G. W. F. Hegel, Alfred N. Whitehead, John Dewey, Ernst Cassirer, Henri Bergson and Reto Luzius Fetz.
The Authors: Prof. Dr. Gernot G. Falkner, born 1941, has worked since 1973 in the Institutes of Molecular Biology and Limnology of the Austrian Academy of Sciences on the physiological adaptation of microorganisms to environmental changes. In 1996 he was awarded a Prix Montyon by the French Academy of Sciences. Dr. Renate A. Falkner worked at the University of Würzburg after studying biology and chemistry. Since 1980, together with Gernot G. Falkner, she has been investigating the physiological adaptation of microorganisms to environmental changes.
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Gernot G. Falkner / Renate A. Falkner Die Selbstgestaltung der Lebewesen in Erfahrungsakten Eine prozessbiologisch-ökologische Theorie der Organismen Lebewesen reproduzieren ihre Gestalt bei jeder Erfahrung einer Änderung ihrer Umwelt in einem konstanten Fluss struktureller Veränderungen. Dieser Prozess wird von der Kreativität eines Artgedächtnisses und der eines individuellen Gedächtnisses der Lebewesen geleitet. Ersteres enthält die Erfahrungen bei vorangegangenen artspezifischen Selbstgestaltungen, das zweite betrifft Erfahrungen bei individuellen Entwicklungen eines Organismus. Mit der Interdependenz dieser beiden Gedächtnisformen lassen sich die Evolution der Arten, die menschliche Geschichte und die Entstehung des Bewusstseins als ein einziger Prozess begreifen. Dabei können Befunde bedeutender Biologen über verschiedene Manifestationen organismischer Erinnerungen mit Ideen von G. W. F. Hegel, Alfred N. Whitehead, John Dewey, Ernst Cassirer, Henri Bergson und Reto Luzius Fetz neu interpretiert werden.
Der Autor: Prof. Dr. Gernot G. Falkner, geb. 1941, arbeitete seit 1973 in den Instituten für Molekularbiologie und Limnologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften über die physiologische Anpassung von Mikroorganismen an Milieuänderungen. 1996 wurde er von der Französischen Akademie der Wissenschaften mit einem Prix Montyon ausgezeichnet. Dr. Renate A. Falkner arbeitete nach dem Studium der Biologie und Chemie an der Universität Würzburg. Seit 1980 untersuchte sie gemeinsam mit Gernot G. Falkner die physiologische Anpassung von Mikroorganismen an Umweltänderungen.
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49108-9 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82419-1
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Inhalt
Vorwort
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1.
Die irreversible Natur biologischer Prozesse . . . . . . .
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2.
Die Probleme bei einer Objektivierung organismischer Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Schwächen der molekularbiologischen Erklärungen organismischer Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Folgen einer Vernachlässigung des Lebendigen in der Molekularbiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Fehlen der teleologischen Natur biologischer Prozesse in einer physikalistischen Biologie . . . . . . . . . . . . Die Unangemessenheit des AnthropomorphismusVorwurfs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Probleme bei der Erstellung einer molekularen Theorie der Formbildung . . . . . . . . . . . . . . . . Die positivistische Erklärung der Funktion biologischer Strukturen auf der Grundlage einer physikalistischen Biologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Einführung
2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5. 2.6.
Die Selbstkonstitution von Mikroorganismen: Das Zellgedächtnis und seine energetische Grundlage . . 3.1. Experimentelle Untersuchung von Selbstkonstitutionsvorgängen bei einer mikrobiellen Population . . . . . . 3.2. Die Funktion energiekonvertierender Subsysteme des Phosphataufnahmesystems bei der Informationsverarbeitung über Änderungen der Phosphatzufuhr . . .
48 48 49 52 55 56
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3.
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Inhalt
3.3. Das Zusammenwirken einer Gesellschaft von energiekonvertierenden Subsystemen . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1. Die Rolle metabolischer Kreisprozesse im organismischen Energiefluss . . . . . . . . . . .
4.
4.1. 4.2.
4.3. 4.4. 4.5. 4.6.
4.7.
Prozessphilosophische Interpretationen der ontologischen Differenz zwischen adaptiven Operationsmodi und adaptierten Zuständen des Stoffwechsels . . . . . . Die Analogien zwischen ›adaptiven Ereignissen‹ und Whiteheads ›aktualen Entitäten‹ . . . . . . . . . . . . . Die Beziehung zwischen physiologischer Anpassung und Erfahrung bei John Dewey . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1. Die Integration der Ideen von Whitehead und Dewey zur Konzeption eines Spannungsfeldes als identitätsstiftendes Element in organismischen Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Philosophie lebendiger Formen von Ernst Cassirer . . Der Stoffwechsel als Grundlage der organismischen Freiheit bei Hans Jonas . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ereignisnatur des Gedächtnisses bei Henri Bergson . Die Theorie der Wirkwesen von Reto Luzius Fetz . . . . 4.6.1. Die Entwicklung der Organismen als eine von SinnNotwendigkeiten geleitete Abfolge idealer Formen von Funktionsharmonien . . . . . . . . . . . . . Die Rolle der Spannungsfelder bei der Embryonalentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die Einheit von Erfahrung und Selbstkonstitution der Lebewesen als Ausdruck ihrer Kreativität . . . . . . . . 5.1. Der Zusammenhang zwischen Kreativität und Stress bei der Umgestaltung der Umgebung von Lebewesen zu ihrer Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2. Die zeitliche und räumliche Dimension adaptiver Ereignisse in der kreativen Selbstkonstitution von Lebewesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3. Adaptive Ereignisse als Einheiten der biologischen Zeit .
86 90
93 95 97
101 108 110 115 120
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5.
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127
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Inhalt
5.4. Die Raumerfahrung von Organismen . . . . . . . . . . 5.4.1. Die Selbstkonstitution von Mikroorganismen eines produktiven Sees bei der Erfahrung eines gemeinsamen Lebensraums . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2. Die Selbstkonstitution von vielzelligen Organismen in der Erfahrung eines gemeinsamen Lebensraums mit anderen Organismen . . . . . . . . . . . . . 5.4.2.1. Die Selbstkonstitution von Pflanzen bei der Erfahrung ihres Lebensraums . . . . . . . . . . 5.4.2.2. Die Selbstkonstitution von Tieren bei der Erfahrung ihres Lebensraums . . . . . . . . . . 5.5. Die Entfaltung des interorganismischen Kommunikationsgeschehen in der Evolution der Arten . . . . . . . .
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6. Die Evolution der Organismen als geschichtlicher Prozess 157 6.1. Die phylogenetische Entwicklung von Organismen als geschichtliche Abfolge von Selbstgestaltungsakten . . . . 157 6.2. Die Entstehung des Selbstbewusstseins . . . . . . . . . 162 7. Die darwinistischen Erklärungen der Evolution der Arten . 7.1. Der Neo-Darwinismus und die genzentrierte Biologie . . 7.2. Die Schwierigkeiten bei einer Erklärung biologischer Prozesse mit genetischen Programmen . . . . . . . . . 7.3. Die Problematik des Artbegriffs bei einer mechanistischen Erklärung der Evolution der Arten . . . . . . . . . . . . 7.4. Versuch einer prozessbiologischen Artdefinition . . . . .
171 173 183 188 190
8.
Die Entstehung der ersten Lebewesen in einem abiotischen Milieu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 8.1. Prozessbiologische Spekulationen über die präbiotische Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 8.2. Die Voraussetzungen für eine kontinuierliche Existenz der ersten Lebewesen unter ständig wechselnden Umweltbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
9.
Die Evolution der Bakterien, höheren Pflanzen und Tiere in einer co-kreativen Höherentwicklung . . . . . . . . . 205 9.1. Die Entwicklungsgeschichte der Bakterien . . . . . . . . 205
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Inhalt
9.2. Die Entstehung eukaryontischer Zellen aus symbiotischen Assoziationen von Bakterien . . . . . . . 9.3. Die pflanzlichen Wuchsformen als Ergebnis einer Beziehung zwischen Bakterien, Pflanzen und Tieren . . . 9.4. Die Höherentwicklung der Tiergestalten . . . . . . . . . 9.4.1. Die Schalen der Mollusken . . . . . . . . . . . . 9.4.2. Die Koordination der Sinneswahrnehmung im Gehirn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.5. Die Bedeutung der Mustererkennung im Kommunikationsgeschehen zwischen Tieren . . . . . . 9.5.1. Die Beziehung zwischen visueller Mustererfahrung und der Gestaltung der optisch wahrnehmbaren Erscheinungsform bei höheren Tieren . . . . . . . 9.5.1.1. Die strukturelle Basis einer Biokommunikation von Lebewesen . . . . . . . . . . . . . . . . .
208 211 215 217 219 219
222 226
10. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 Anhang 1: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Der Citratzyklus: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Anhang 2: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Die mikrobielle Energieverwertung in einem produktiven See: 235 Literaturverzeichnis: Sachregister
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
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Vorwort
Hirnforscher wie Wolf Singer behaupten, dass Menschen keinen freien Willen haben 1. Sie begründen dies damit, dass jeder Entscheidungsprozess physikalisch-chemischen Abläufen im Gehirn gehorcht. Eine derartige Meinung steht in Einklang mit der derzeitigen Physiologie, die sich weitgehend am mechanistischen Denkschema der klassischen Physik orientiert. Demnach nehmen, wie weiter unten noch genauer ausgeführt, lebende Systeme Zustände ein, deren Veränderung man vorhersagen kann, wenn man die Kräfte kennt, die auf diese Zustände einwirken. Das mechanistische Denkschema hat weitreichende Auswirkungen auf ein umfassendes Verständnis des Lebendigen und daher auch des Menschen. Sie betreffen nicht nur die Meinung, dass menschliche Gehirnvorgänge wie ein ›selbstlernendes‹ Computerprogramm mit artifizieller Intelligenz funktionieren; daher sollte auch ein Roboter, der von einem Computer mit einem derartigen Programm gesteuert wird, kreative Fähigkeiten wie ein Mensch besitzen. Das mechanistische Denkschema ist auch in der gegenwärtigen Biologie für die weit verbreitete Vorstellung verantwortlich, dass ›Gene‹ das Verhalten aller Lebewesen einschließlich des Menschen bestimmen, sodass erworbene Eigenschaften, wenn überhaupt, nur auf Grund von epigenetischen Modifikationen eines omnipotenten Genoms vererbt werden können. Diese Meinung wird mit den verschiedenen Spielarten neodarwinistischer Erklärungen der Evolution der Arten begründet. Demnach ist die Höherentwicklung der Lebewesen aus einfacheren Vorläufern zu komplexeren Organismen durch Mutationen von Genen und einer nachfolgenden ›natürlichen Selektion‹ vor sich gegangen, bei der die an die jeweiligen Umweltbedingungen besser angepassten Individuen überlebt haben. Diese Ansicht vertrat er in einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der am 8. Januar 2004 unter dem Titel: »Keiner kann anders als er ist« erschien.
1
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Vorwort
In dem hier präsentierten Buch werden die Defizite derartiger mechanistischer Erklärungen des Phänomens des Lebendigen beschrieben, und es wird gezeigt, wie diese Defizite durch eine alternative Sichtweise auf biologische Prozesse behoben werden können. Als Mitautor dieses Buches sei es mir gestattet, im Vorwort einen biographischen Rückblick auf meine Suche nach einer derartigen alternativen Sichtweise einzubringen. Der Anlass für diese Suche war eine Biochemievorlesung im sechsten Semester meines Chemie- und Physikstudiums. In dieser Vorlesung versuchte man ebenfalls, alle organismischen Prozesse durch physikalisch-chemische Reaktionsabläufe zu erklären. Dabei wurde keine strikte Abgrenzung biochemischer Abläufe von den physiologischen Voraussetzungen für die Empfindungen und Intentionen der Lebewesen vorgenommen. Da in den Gesetzen der Chemie die an mir selbst erfahrenen Phänomene wie Intentionen und Gefühle nicht vorkommen, fragte ich mich, welcher Aspekt der Physiologie hier wohl übersehen wird. Ich nahm mir vor, mich in meiner zukünftigen wissenschaftlichen Arbeit mit dieser Frage zu beschäftigen. Einen entscheidenden Anteil an ihrer Beantwortung hatte meine Frau, Dr. Renate Falkner, die als Biologin in unserer gemeinsamen Arbeitsgruppe in den vergangenen 40 Jahren die Defizite der mechanistischen Physiologie aufdeckte. Sie offenbarten sich bei Untersuchungen der physiologischen Anpassung von Bakterien an Änderungen ihrer Energieversorgung. Es zeigte sich, dass dieser Prozess ein kreativer Selbstgestaltungsakt ist. Er dient dem Ziel, neue Strukturelemente zu erzeugen, mit deren Hilfe die Organismen bei Änderungen ihrer Umgebung eine Umwelt schaffen, die ihrer Selbsterhaltung dient. Der ziel- und zweckgerichtete Aspekt dieses Vorgangs entzieht sich einer mechanistischen Erklärung, die nur auf reversible, umkehrbare Abläufe angewendet werden kann. Darauf aufbauend haben meine Frau und ich die energetischen Grundlagen der physiologischen Anpassung mit Hilfe der irreversiblen Thermodynamik studiert. Wir fanden, dass dieser Prozess ausgelöst wird, wenn eine Milieuänderung die Funktionsharmonie eines Fließgleichgewichts des Stoffwechsels beeinträchtigt. Im Fließgleichgewicht wird die jeweils vorhandene Energie mit optimaler Effizienz verwertet, und die im Stoffwechsel erzeugten Strukturelemente der Zelle gewährleisten die Aufrechterhaltung der Erscheinungsform des Organismus. Eine Störung des Fließgleichgewichts verursacht daher eine Deformation der Erscheinungsform. Bei Bakterien konnten wir beobachten, dass diese Organismen bei einer Änderung ihrer Um12 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Vorwort
welt, von der das Fließgleichgewicht betroffen ist, innerhalb weniger Minuten beginnen, ein neues Fließgleichgewicht anzustreben. Davon sind die energieverwertenden Subsysteme des Stoffwechsels betroffen, die den Energiefluss durch ein lebendes System katalysieren. Sie werden in einem komplexen Umbauprozess von neuem so aufeinander und auf die vom Umbau beeinflussten Milieubedingungen eingestellt, dass der Organismus wieder mit einem neuen Fließgleichgewicht zu seiner vorigen Erscheinungsform zurückfindet. Beim Studium dieses physiologischen Anpassungsprozesses in einem Experiment zeigte sich, dass sich die Bakterien auch an die Versuchsbedingen anpassen. Dabei entwickelten diese Organismen ständig neue Eigenschaften, die von ihrer Wachstumsvorgeschichte abhingen. Will man nun auch die Wachstumsvorgeschichte in die Untersuchung einbeziehen, um dadurch ein allgemein gültiges Modell des Anpassungsprozesses zu gewinnen, dann wird man mit einem fundamentalen Problem konfrontiert: Man beobachtet, dass die Wirkung des vorherigen Wachstums auf die Anpassung von ihrem noch weiter zurückliegenden Wachstum bestimmt wird, und so fort. Man kommt dann in einen unendlichen Regress, der sich bis zum Beginn der Evolution fortsetzt. Ein Modell der physiologischen Anpassung müsste daher die ganze phylogenetische Entwicklungsgeschichte des betreffenden Organismus beinhalten. Dies verhindert eine Beschreibung dieses Vorgangs mit physikalisch-chemischen Modellen, in denen ein geschichtlicher Aspekt der untersuchten Objekte keinen Platz hat. Die physiologische Anpassung als Prozess wird daher in der gegenwärtigen Physiologie nicht behandelt. Für uns war dieser Befund deshalb interessant, weil wir dadurch eine Möglichkeit sahen, den geistigen Aspekt des Lebendigen im Stoffwechsel aufzufinden. Wir verdanken diese Möglichkeit John Dewey, der in seinem Buch »Erfahrung und Natur« die psychophysische Grundlage für die Empfindungen der Lebewesen von den energetischen Eigenschaften des Stoffwechsels herzuleiten versuchte. Ausgangspunkt seiner Überlegungen war die Tatsache, dass ein Fließgleichgewicht im Stoffwechsel auf energetischen Funktionsharmonien beruht. Er postulierte nun, dass ein Organismus Abweichungen von diesen Funktionsharmonien, hervorgerufen durch eine Umweltänderung, als eine energetische Spannung empfindet. Dies verursacht im Organismus ein ›Bedürfnis‹ nach Aufhebung der Spannung. Zu diesem Zweck wirkt er in einem komplexen Erfahrungsund Anpassungsprozess so auf seine Umgebung ein, dass sich wieder 13 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Vorwort
ein neues Fließgleichgewicht in einer neuen Umwelt einstellt. Das Erreichen dieses Zustands empfindet der Organismus dann als ›Befriedigung‹. Diese Idee geht somit von einer Analogie zwischen physiologischer Anpassung und der Erfahrung eines Lebewesens aus. Die Analogie besteht darin, dass jede neue Erfahrung von vorangegangenen Erfahrungen und jede neue Anpassung von vorherigen Anpassungen abhängen. Eine derartige Verknüpfung von Anpassungsvorgängen haben wir als die physiologische Basis eines vererbbaren Zellgedächtnisses interpretiert, das die Weitergabe und Aufrechterhaltung von organismusspezifischen Funktionsharmonien gewährleistet. Für eine Interpretation der psychophysischen Dimension von Anpassungsprozessen benötigten wir eine solide biophilosophische Basis, die eine Einheit zwischen den Erfahrungen und den körperlichen Selbstgestaltungen eines kreativen Subjekts herstellt. Bei der Suche nach einer derartigen Basis entdeckten wir die ›organismische Philosophie‹ von Alfred North Whitehead. Für Whitehead besteht die Wirklichkeit aus einer geschichtlichen Abfolge von organismischen Prozesseinheiten, die er ›actual entities‹ nannte und mit denen er die cartesianische Trennung zwischen Geist und Körper zu überwinden trachtete. Das für eine Interpretation organismischer Selbstgestaltungs- und Erfahrungsakte benötigte Verständnis der Eigenschaften von ›actual entities‹ verdankten wir zunächst einem Buch des Philosophen Reto Luzius Fetz. Es trägt den Titel »Whitehead: Prozessdenken und Substanzmetaphysik« und ist nach meinem Dafürhalten die beste deutschsprachige Einführung in Whiteheads Hauptwerk »Process and Reality«. Eine Einführung in dieses Buch durch die Sekundärliteratur ist empfehlenswert, weil Whitehead eine Sprache verwendet, die einem unvorbereiteten Leser erhebliche Verständnisprobleme bereitet. Whiteheads Philosophie erlaubte uns, organismische Selbstgestaltungsakte bei Erfahrungen von Umweltänderungen als eine logische Abfolge von physiologischen Prozesseinheiten zu interpretieren, die aus zwei Phasen bestehen. In einer Anfangsphase interpretiert der Organismus eine Änderung seiner Umwelt in Hinblick auf die Schaffung eines neuen und für die Zukunft potentiell sinnvollen körperlichen Bestandteils. In der Endphase ist dieser Prozess abgeschlossen und der neue Bestandteil entfaltet seine Wirkung im Stoffwechsel. Diese Wirkung löst weitere Prozesseinheiten aus, bei denen die neu entstandenen Bestandteile immer auf die Funktion der jeweils vorher erzeugten Bestandteile zum Zweck der Aufrecht14 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Vorwort
erhaltung oder potentiell sinnvollen Veränderung der Erscheinungsform abgestimmt werden. Die Interpretation physiologischer Vorgänge mit der ›organismischen Philosophie‹ Whiteheads zeigte jedoch, dass sein Kategorienschema für die Erklärung eines die gesamte Lebensgeschichte umgreifenden Gedächtnisses nur begrenzt anwendbar ist. Wir fragten uns, ob dies durch gewisse Probleme der Philosophie Whiteheads verursacht wurde, auf die Reto Luzius Fetz schon in seinem Buch »Whitehead: Prozessdenken und Substanzmetaphysik« hingewiesen hatte. Inzwischen hatten wir Reto Luzius Fetz persönlich kennengelernt und mit ihm unsere Schwierigkeiten mit Whiteheads Werk diskutiert. Wir nahmen uns vor, gemeinsam das Kategorienschema in Whiteheads Werk »Process and Reality« so zu erweitern, dass die philosophischen und biologischen Probleme ausgeräumt werden. Bei dieser Aufgabe nahm Fetz die philosophischen Probleme und wir die biologischen Probleme in Angriff. Dabei entwickelte Fetz die metaphysische Basis für eine organismische Wirklichkeitslehre, während wir uns mit einem prozessbiologischen Entwurf einer Theorie der Organismen beschäftigten. In der von uns präsentierten Theorie der Organismen spielt das Gedächtnis der Lebewesen sowohl bei individuellen Entwicklungsprozessen als auch in der Evolution der Arten eine entscheidende Rolle. Ein tieferes Verständnis dieser Rolle verdanken wir, einer Anregung von Reto Luzius Fetz folgend, der Deutung des Gedächtnisses durch den Philosophen Ernst Cassirer. Für Cassirer ist das Gedächtnis kein bloßer Speicher von Informationen, sondern leitet auf der Grundlage vorheriger Erfahrungen nachfolgende Selbstgestaltungen der Lebewesen. Das Gedächtnis wird dadurch zu einem entscheidenden Moment der organismischen Kreativität. In ähnlicher Weise ist auch für Henri Bergson die Wiederkehr und Neugestaltung der Strukturen von Lebewesen die Manifestation eines organismischen Gedächtnisses, in dem das ›Gewesene‹ dann in Erinnerungen präsent ist, wenn es in einem gegenwärtigen Erleben vergegenwärtigt wird. Auf Bergson hat uns der Biophilosoph Spyridon Koutroufinis aufmerksam gemacht, mit dem wir seit vielen Jahren in engem Gedankenaustausch stehen. Seine Beiträge für unsere Theorie der Organismen werden mit den entsprechenden Hinweisen in diesem Buch berücksichtigt. Eine derartige Verbindung zwischen Kreativität und Gedächtnis erforderte eine Unterscheidung zwischen einem »Artgedächtnis« und 15 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Vorwort
einem »individuellen Gedächtnis« der Lebewesen. Das Artgedächtnis, das bei einzelligen Lebewesen als Zellgedächtnis auftritt, bezieht sich auf die Vererbung gleichförmiger Manifestationen im Verhalten und der äußeren Erscheinung der Organismen. Es ermöglicht bei höheren Organismen artspezifische Kommunikationsformen und liefert beim Menschen die Voraussetzungen für das Entstehen der Sprache. Das individuelle Gedächtnis stammt von Erfahrungen in der Lebensgeschichte der Individuen. Es ist verantwortlich für die vom Artverhalten abweichenden Eigengestaltungen der Organismen, die zu Variationen der Erscheinungsform und der Kommunikation innerhalb einer Art führen. Eine Berücksichtigung des Artgedächtnisses war für uns deshalb wichtig, weil wir damit die Vererbung von artspezifischen Eigenschaften erklären können. Dadurch sind wir nicht mehr auf die Erklärung der genzentrierten Biologie angewiesen, die inzwischen aus innerbiologischen Gründen unglaubwürdig geworden sind. Darauf wird im vorliegenden Text ausführlich eingegangen. Die Existenz eines Artgedächtnisses wurde im 19. und 20. Jahrhundert von mehreren prominenten Biologen vorgeschlagen, unter anderem von Ernst Haeckel und Ewald Hering. Zwischen den beiden unterschiedlichen Gedächtnisformen existiert eine komplexe Beziehung, die auf die Verwirklichung von individuellen und artspezifischen Funktionsharmonien des Fließgleichgewichts im Stoffwechsel ausgerichtet ist. Abweichungen von einem Fließgleichgewicht empfindet ein Organismus gemäß Dewey als distinkte energetische Spannungen, die ihm anzeigen, wie weit er sich von den individuellen und artspezifischen Funktionsharmonien entfernt hat. Die beiden Gedächtnisformen konkretisieren sich als Abfolge von Anpassungs- und Erfahrungsprozessen, mit denen diese Funktionsharmonien bei einer Störung immer wieder von neuem hergestellt werden. Dies geschieht unter dem Einfluss der energetischen Spannungen, die indirekt Informationen über harmonische Zustände eines artspezifischen Fließgleichgewichts und dessen individuelle Ausprägungen beinhalten. Eine öko-physiologische Behandlung der individuellen und artspezifischen Gedächtnisformen erforderte, für die dazugehörigen individuellen und artspezifischen Spannungen den Begriff eines ›Feldes‹ einzuführen und im Begriff von »Spannungsfeldern« operationalisierbar zu machen. Dies ermöglichte weiterführende Verallgemeinerungen auf der Grundlage von Funktionsharmonien, die die gesamte Biozönose betreffen. Wenn eine Artengesellschaft ebenfalls nach einer Funktionsharmonie 16 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Vorwort
strebt, dann kann man den Abweichungen von harmonischen Zuständen auch hier eine biozönotische energetische Spannung zuordnen. In diesem Fall sind die Spannungsfelder der Organismen und der Artengesellschaften einerseits miteinander verbunden, andererseits voneinander abgegrenzt. Die Konzeption dieser intra- und interorganismischen Spannungsfelder verdanken wir dem Prozessphilosophen Tobias Müller, dessen Buch: »Gott Welt Kreativität« die Idee eines die individuellen Erfahrungsakte umfassenden ›Feldes‹ von Joseph Bracken enthält. Im vorliegenden Text wird diese Idee ausführlich beschrieben und in einer Verallgemeinerung für eine Theorie der Organismen mit Motiven von Henri Bergson kombiniert. Von Tobias Müller haben wir in vielen Diskussionen auch zahlreiche Anregungen für unsere prozessbiologischen Ideen erhalten. Ausgehend von diesen Ideen konnten wir den Unterschied in den Raum- und Zeiterfahrungen bei der Selbstgestaltung von Bakterien, höheren Pflanzen und Tieren herausarbeiten. Dies führte zu dem Postulat der evolutionären Erkenntnistheorie, dass die bei Kant a priori gegebenen reinen Formen der Anschauung von Raum und Zeit aus den Raumund Zeiterfahrungen der Lebewesen in der phylogenetischen Entwicklung hervorgegangen sind. Mit der von uns vorgenommenen Verankerung der Kreativität im Erinnerungsvermögen der Lebewesen und deren Streben nach einem Fließgleichgewicht unterscheiden wir uns von Hans Jonas, dessen Ansichten in diesem Text ausführlich dargestellt werden. Für Jonas manifestiert sich die Kreativität im Stoffwechsel. Im Gegensatz dazu ist bei uns der Stoffwechsel nur eine Voraussetzung für Kreativität. Sie entfaltet sich in einem geschichtlichen Prozess, der die Evolution der Arten, die menschliche Geschichte und die Entstehung des Bewusstseins umgreift. Diese Auffassung ließ sich mit Hegels Philosophie der Geschichte begründen, für den die Weltgeschichte der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit ist. In einer prozessbiologischen Interpretation von Hegels Geschichtsphilosophie nimmt die Freiheit der Organismen in der Evolution der Arten mit einer Zunahme der Differenzierung der organismischen Struktur zu. In diesem Prozess befreit sich das individuelle Gedächtnis mehr und mehr von den Bestimmungen durch die Funktionsharmonien des Artgedächtnisses. Dies führt dazu, dass sich beim Menschen kreative Intentionen des individuellen Gedächtnisses nicht mehr mit den Intentionen des Artgedächtnisses vereinbaren lassen. Beim Menschen richten sich die Intentionen des individuellen Gedächtnisses auf eine Verwirk17 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Vorwort
lichung von neuen Funktionsharmonien in der Erscheinungsform und im sprachlichen Ausdruck. Im Gegensatz dazu streben die Intentionen des Artgedächtnisses nach Aufrechterhaltung tradierter Funktionsharmonien. Der dadurch auftretende Konflikt und dessen Aufhebung ist die Voraussetzung für die Entstehung des Selbstbewusstseins. Dieser Prozess, der in Hegels »Phänomenologie des Geistes« beschrieben wird, ist in der hier präsentierten prozessbiologischen Sichtweise noch nicht abgeschlossen. Dabei ist die Aufhebung eines »Herr-Knecht Verhältnisses« zwischen dem Artgedächtnis als »Herrn« und dem individuellen Gedächtnis als »Knecht« in eine Aufhebung von Herr-Knecht Verhältnissen zwischen Menschen untereinander eingebettet. Dieser Prozess ist allerdings erst abgeschlossen, wenn sich die Menschen nicht mehr zu Herren über andere Lebewesen machen. Das wahre Selbstbewusstsein erreicht der Mensch daher erst in einem selbstbeherrschten und selbstbestimmten Verhältnis zu anderen Lebewesen, bei dem der Mensch deren Lebensraum nicht mehr vernichtet. Neben den oben angeführten Philosophen haben wir die Ideen prominenter Biologen des 19. und 20. Jahrhunderts übernommen. Ernst Haeckel und Ewald Hering haben wir oben erwähnt. Auf die fundamentale Bedeutung des Fließgleichgewichts hat schon Ludwig von Bertalanffy hingewiesen. Die kreative Umgestaltung der Umgebung zu einer artspezifischen Umwelt findet man schon bei Jakob von Uexküll in seiner Unterscheidung zwischen der »Wirkwelt« und der »Merkwelt« eines Lebewesens. Wichtige Inspirationen für die hier entwickelte Theorie der Organismen erhielten wir auch von Adolf Portmann. Seiner Erklärung der Evolution der Tiergestalten ist ein ganzes Kapitel gewidmet. Die Ideen dieser Biologen und der oben angeführten Denker wurde zu einer kohärenten Theorie der Organismen zusammengeführt, die sich auf unsere empirischen Untersuchungen über die physiologische Anpassung stützt. Die theoretische Grundlage dieser Untersuchungen war die irreversible Thermodynamik. Die Anregung für eine Verwendung dieser Disziplin erhielten wir vom französischen Biophysiker Michel Thellier, mit dem wir über viele Jahre in engem Kontakt standen. Mit Hilfe der irreversiblen Thermodynamik untersuchten wir, ob es sich bei der physiologischen Anpassung um die Selbstorganisation eines dissipativen Systems handelt, wie sie von Ilya Prigogine beschrieben wurde. Die experimentelle Arbeit meiner Frau war ein Schrittmacher für Diplomarbeiten und Dissertationen einer ganzen Reihe von Studen18 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Vorwort
ten, deren Ergebnisse in die Entwicklung unserer Theorie der Organismen inkorporiert wurden. Erwähnen möchte ich hier die Beiträge von Franz Horner, Peter Strasser, Dietmar Graffius, Ferdinand Wagner, Adel A. Fathi und die Masterarbeit von Martina Hasenleitner, die ich gemeinsam mit Kristjan Plaetzer betreut habe. Darüber hinaus verdanken wir dem Grundwasserökologen Dan Danielopol, der über die Evolution der Muschelkrebse gearbeitet hat, wertvolle Anregungen bei der Entwicklung der hier präsentierten Ideen. Die hier vorgestellte prozessbiologische Theorie der Organismen benötigt für eine Begründung die interdisziplinäre Integration der Fachgebiete Pflanzenphysiologie, mikrobielle Ökologie, Evolutionstheorie, Taxonomie, Verhaltensforschung, irreversible Thermodynamik, Geschichtsphilosophie und Philosophie der Biologie. Ich bin mir darüber im Klaren, dass der große Umfang der Fachgebiete gewisse Verständnisschwierigkeiten beim Lesen dieses Buchs verursachen könnte. Ich bitte aber die geneigten Leser, sich nicht entmutigen zu lassen. Um ein Verständnis dieses schwierigen Themas zu erleichtern, habe ich in der nachstehenden Einführung kurz die Inhalte der einzelnen Kapitel beschrieben. Dies mag einen ersten Zugang zu Kapiteln mit Fachgebieten ermöglichen, die den Lesern vertraut sind, und könnte in einem zweiten Schritt dazu stimulieren, sich mit einer Begründung der Theorie durch weniger vertraute Fachgebiete auseinanderzusetzen. Zwar werden in allen Kapiteln dieselben Schlussfolgerungen für eine einheitliche Theorie der Organismen gezogen; sie benötigen jedoch die unterschiedlichen Begründungen durch die diversen Fachgebiete. Dadurch wird auch die Fragmentierung der Wissenschaften beim Verständnis des Lebendigen aufgehoben. Hilfreich für eine verständliche Darstellung dieser Thematik waren Diskussionen mit den Teilnehmern einer Lehrveranstaltung über »Philosophie der Organismen«, die ich im Wintersemester 2016/2017 an der Hochschule für Philosophie in München abhalten durfte. Ob und in welchem Ausmaß dies gelungen ist, mag jeder Leser selbst entscheiden. Last, but not least möchten wir betonen, dass wir mit dem hier präsentierten Text nicht beanspruchen, eine endgültige Wahrheit über das Wesen des Lebendigen gefunden zu haben. Es ist dies ein erster Entwurf, der zu einer weiteren Zusammenarbeit mit Vertretern von verschiedenen Disziplinen aus den Natur- und Geisteswissenschaften einlädt. Besonders wichtig erscheint in diesem Kontext eine Verbindung zwischen Philosophie und Biologie, da nahezu alle 19 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Vorwort
Teilbereiche der Biologie zu Fragen führen, für deren Beantwortung die Philosophie benötigt wird. Darauf hat schon Kristian Köchy in seinem Buch »Biophilosophie zur Einführung« hingewiesen 2. Allerdings erfordert dies eine Abstimmung der Biologie auf eine Neuorientierung der Philosophie. Solange dies nicht gelungen ist, bleiben bei einer Integration der Philosophie in die Biologie Inkohärenzen bestehen. Dies gilt auch für gewisse Inkohärenzen zwischen unserer Theorie der Organismen und der Wirklichkeitslehre von Reto Luzius Fetz, deren Bewältigung ebenfalls eine weitere Zusammenarbeit und eine Diskussion mit Vertretern anderer Fachgebiete erfordert. Salzburg, März 2019
2
Gernot G. Falkner
Köchy 2008, 41.
20 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Einführung
Der vorliegende Text besteht aus 9 Kapiteln, von denen die meisten noch einige Unterkapitel enthalten. Im ersten Kapitel werden die Probleme beschrieben, die bei mechanistischen Erklärungen von irreversiblen Entwicklungen der Lebewesen auftreten. Dies gilt für das Wachstum von Zellen, die Entstehung adulter Organismen aus einer befruchteten Eizelle und ihr nachfolgendes Altern, aber auch für die Evolution der Arten, bei der komplexere Lebewesen aus einfacheren Vorgängern hervorgehen. Diese Vorgänge beruhen auf der Kreativität der Lebewesen, die auf das Erreichen eines bestimmten Ziels ausgerichtet ist. Dies äußert sich im Entwurf einer neuen organismischen Struktur für eine Zukunft, in der die Lebewesen mit dieser Struktur ihre Umgebung so zu ihrer Umwelt umgestaltet haben, dass diese wieder ihrer Natur entspricht. Eine experimentell durchgeführte Abtrennung eines Lebewesens von seiner Umgebung berücksichtigt nicht diesen organismischen Selbstbezug bei kreativen Gestaltungen seiner eigenen Struktur und seiner Umwelt. Eine Vernachlässigung dieses selbstreferentiellen Zyklus in der kreativen Selbst- und Umweltgestaltung der Lebewesen liefert im Wesentlichen das Bild eines nicht-lebenden Dings. Die verschiedenen Unterkapitel des zweiten Kapitels behandeln die Probleme, die bei einer Objektivierung organismischer Prozesse auftreten. Im Unterkapitel 2.1. wird beschrieben, warum das Forschungsprogramm der Molekularbiologie den Begriff ›Leben‹ aus der Biologie eliminiert hat. Dieses Forschungsprogramm führte zum Postulat, dass der Verlauf biologischer Entwicklungen durch ein omnipotentes Genom gesteuert wird, dessen Wirkung durch »epigenetische« Faktoren nur mehr modifiziert, aber nicht verändert werden kann. Bei dieser Reduktion biologischer Prozesse auf molekularbiologische Abläufe brauchte man nicht mehr zu berücksichtigen, was Organismen als kreative Wesen von leblosen Dingen unterscheidet. Dies betrifft in erster Linie den kontinuierlich ablaufenden Umbau der 21 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Einführung
Konstituenten von Lebewesen bei Erfahrungen von Änderungen ihrer Umwelt. Die Molekularbiologie berücksichtigt nicht, dass in diesem Prozess stets eine in energetischer Hinsicht harmonisch geordnete Ganzheit angestrebt wird. Im Unterkapitel 2.2. wird ausgeführt, dass bei kreativen Selbstgestaltungen die organismischen Subsysteme zueinander und zu einem organismischen Ganzen in einer ›inneren Beziehung‹ stehen. Dabei wird die Entwicklung einer organismischen Struktur neben äußeren Einflüssen auch durch innere Kräfte bestimmt. Sie sind dafür verantwortlich, dass ein Organismus bei seinen Veränderungen nach stationären Zuständen strebt, aus denen eine bestimmte Formeinheit hervorgeht und bei denen die vorhandene Energie mit optimaler Effizienz verwertet wird. Ein Verständnis der teleologischen Natur dieses ziel- und zweckgerichteten Strebens von Lebewesen erfordert einen organismischen Prozessbegriff, der eine Beziehung zwischen Erfahrung und Selbstgestaltung zum Inhalt hat 1. Damit ist das Leitmotiv dieses Buches vorgegeben. Unterkapitel 2.3. erläutert die historischen Gründe für die Dominanz des mechanistischen Denkschemas in der Biologie. Sie gehen auf die cartesianische Trennung der Wirklichkeit in zwei Substanzen zurück. Demnach besteht die Wirklichkeit aus einer ›denkenden‹ Substanz, die von logischen Gesetzmäßigkeiten bestimmt wird, und einer ›ausgedehnten‹ Substanz, deren dinghaftes Verhalten den Gesetzen der Physik gehorcht. Niedere Lebewesen werden der ›ausgedehnten‹ Substanz zugerechnet und besitzen daher weder organismische Intentionen noch zweckmäßiges Verhalten. Jedem Versuch, auch einfachen Lebewesen Intentionen und Empfindungen zuzuschreiben, wird mit dem Vorwurf des ›Anthropomorphismus‹ begegnet. Unterkapitel 2.4. beschäftigt sich mit der Haltlosigkeit dieses Vorwurfs. Hier wird übersehen, dass eine Unterscheidung zwischen einem lebendigen Tier und einem leblosen Ding von einem Menschen nur deshalb vorgenommen werden kann, weil er sich selbst als Lebewesen erfährt und in anderen Lebewesen Eigenschaften erkennt, die Dinge nicht haben. Der Vorwurf trifft auch deshalb nicht zu, weil wir bei einer Analyse der Beziehung zwischen Lebewesen und ihrer Umgebung von einem Erfahrungsbegriff ausgehen, der nicht auf menschliches Bewusstsein beschränkt ist. Er ist jedoch so konzipiert 1
Falkner und Falkner 2010, 335.
22 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Einführung
worden, dass die kognitiven Leistungen höherer Organismen aus einer Weiterentwicklung der Erfahrungsfähigkeit einfacherer Organismen ableitbar sind. Unterkapitel 2.5. behandelt die Probleme, die beim Versuch der Erstellung einer molekularen Theorie der Bildung einer bestimmten organismischen Gestalt (Morphogenese) auftreten. Wir zeigen, wie die Morphogenese durch Zweckursachen geleitet wird. Da in diesem Fall ein noch nicht existierender Endzustand die Ursache für die hervorzubringende Form ist, kommt hier die Ursache nach der Wirkung. Dies widerspricht mechanistischen Erklärungen, bei denen die Ursache immer vor der Wirkung kommt. Auch in der Molekularbiologie ist die Ursache biologischer Veränderungen die Genexpression, die vor ihrer Wirkung auf den Stoffwechsel stattfinden muss. Neben anderen Gründen für die Unmöglichkeit der Erstellung eines molekularen Modells der Formbildung, die ebenfalls in Unterkapitel 2.5. angeführt werden, gibt es noch einen wichtigen Grund, der in der genzentrierten Biologie meist übersehen wird. Er betrifft das Postulat einer Beziehung zwischen dem ›Genotyp‹ und dem ›Phänotyp‹. Bei dieser Beziehung werden häufig in einer unpräzisen Wortwahl Unterschiede im Phänotyp einer Art mit dem Phänotyp einer Art gleichgesetzt. Die Erscheinungsform eines Lebewesens repräsentiert einen stationären Zustand, der von einem anderen Lebewesen in je spezifischer Weise wahrgenommen wird. Ein molekulares Modell der Bildung einer bestimmten Erscheinungsform muss daher mit der sinnlichen Wahrnehmung dieser Form durch andere Organismen aufgeladen werden. Menschen können zum Beispiel die elektromagnetischen Felder der Blüten von Blumen nicht sehen, Hummeln sind jedoch dazu in der Lage. D. h. man muss in das Modell schon vorher einfügen, was aus ihm hervorgehen soll. Unterkapitel 2.6. kritisiert die positivistischen Erklärungen der Funktion biologischer Strukturen auf der Grundlage einer physikalistischen Biologie. Diese Erklärungen gipfeln im Postulat des ›nichtreduktiven Physikalismus‹, für den alle biologischen Phänomene »auf dem Physikalischen supervenieren«. Möglicherweise wird hier die ›wirkliche Welt‹ mit der ›physikalischen Welt‹ gleichgesetzt und übersehen, dass letztere ein Umweltkonstrukt der Physiker ist. Das dritte Kapitel behandelt die energetische Grundlage für die Selbstkonstitution der Organismen in Erinnerungsakten 2. Unterkapi2
Im Text haben die Begriffe Selbstgestaltung und Selbstkonstitution die gleiche Be-
23 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Einführung
tel 3.1. beschreibt die Ergebnisse experimenteller Untersuchungen, mit denen das Zellgedächtnis einfacher Mikroorganismen erforscht wurde. Die physiologische Anpassung von Cyanobakterien (Blaualgen) an Änderungen der externen Phosphatkonzentration dient als Musterprozess. Die Untersuchungen simulieren die natürlichen Wachstumsbedingungen dieser Organismen in einem nährstoffarmen Gewässer. Die Phosphataufnahme kommt zum Erliegen, wenn die externe Konzentration dieses Nährstoffes auf einen Schwellenwert abgesunken ist, bei dem die Energie für die Nährstoffinkorporation nicht mehr ausreicht. Das Zellgedächtnis offenbart sich, wenn dieser Nährstoff nicht kontinuierlich zugeführt wird, sondern von den Zellen in einer Abfolge von gelegentlichen Erhöhungen der externen Konzentration verwertet wird. In diesem Fall sinkt die Phosphatkonzentration mehr oder weniger rasch auf Grund der Aufnahmeaktivität der gesamten Population wieder auf den Schwellenwert ab. Das aufgenommene Phosphat wird zunächst in Form von Polyphosphatkörnchen gespeichert, die den Phosphatbedarf der wachsenden Bakterien decken. Wenn bei einer Abfolge kurzzeitiger Erhöhungen der externen Phosphatkonzentration sich die einzelnen Zellen an die Änderungen der externen Konzentration anpassen können, kommt es zu einer Verknüpfung von adaptiven Ereignissen. Jedes dieser adaptiven Ereignisse vollzieht sich in einem Prozess, der aus zwei Phasen besteht, von denen die energiekonvertierenden Subsysteme betroffen sind, die den Fluss von externem Phosphat in die Polyphosphatkörnchen katalysieren. In einer Anfangsphase werden diese energiekonvertierenden Subsysteme in einem ›adaptiven Operationsmodus‹ an die Änderung der externen Phosphatkonzentration angepasst. Der Verlauf dieses Modus hängt vom Ergebnis der vorherigen Anpassungen ab und lässt sich daher nicht mit zeitinvarianten Gesetzmäßigkeiten der Physik und Chemie beschreiben. In der Endphase haben die energiekonvertierenden Subsysteme des Aufnahmesystems einen ›adaptierten Zustand‹ ausgebildet, dessen Eigenschaften den Verlauf des nächsten adaptiven Ereignisses bestimmt. Im Gegensatz zu adaptiven Operationsmodi operiert das Aufnahmesystem in adaptierten Zuständen nach biophysikalischen und biochedeutung; der Ausdruck ›Selbstkonstitution‹ wird verwendet, wenn das Zusammenspiel der Konstituenten bei der Hervorbringung einer bestimmten körperlichen Gestalt im Vordergrund steht. Der Ausdruck ›Selbstgestaltung‹ bezieht sich auf die Bildung einer körperlichen Gestalt als individuelle organismische Einheit.
24 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Einführung
mischen Gesetzmäßigkeiten. In diesem Wechselspiel zwischen den adaptiven Operationsmodi und den daraus resultierenden, distinkten adaptierten Zuständen manifestiert sich die Existenz eines Zellgedächtnisses. Es äußert sich im vorliegenden Fall darin, dass nachfolgende Anpassungen vom Muster der Phosphatfluktuationen bestimmt werden, an die sich die Zellen vorher angepasst haben. Dies ist auch dann der Fall, wenn bei verschiedenen Mustern der Phosphatfluktuationen die gleiche Menge an Phosphat inkorporiert worden ist. Bei der Interpretation der Muster verarbeiten die Cyanobakterien Informationen über vorherige Änderungen der Phosphatzufuhr mit dem Ziel, bei nachfolgenden Anpassungen die Aufnahme dieses Nährstoffes in einer potentiell sinnvollen Weise zu gestalten. Bei experimentellen Untersuchungen der Eigenschaften dieses Zellgedächtnisses muss die Versuchsanordnung so gestalten werden, dass bei einer Abfolge von Phosphatzugaben tatsächlich Anpassungsprozesse stattfinden. Verringert sich nämlich die externe Konzentration bei den diskontinuierlichen Phosphatzugaben zu rasch, dann bleibt eine Anpassung an die Änderung der externen Konzentration aus und es treten keine Gedächtnisphänomene auf. Nimmt hingegen die externe Konzentration zu langsam ab, dann erfahren die Zellen keinen zeitlichen Verlauf der externen Konzentrationsänderung, die eine Abfolge von adaptiven Ereignissen auslöst. Die Menge der untersuchten Zellen muss daher im Reaktionsgefäß so auf die eingesetzte externe Phosphatkonzentration eingestellt werden, dass die gleichen Anpassungsprozesse wie unter natürlichen Bedingungen auftreten. Daher werden bei der Untersuchung des adaptiven Verhaltens die Durchführenden des Experiments Teil des untersuchten Systems und des organismischen Responses auf die jeweils vorgegebenen Versuchsbedingungen, sodass das Ergebnis der Untersuchung von deren Durchführung abhängt. Dies verhindert die Gewinnung ›objektiver‹ Erkenntnisse über das Verhaltens dieses Systems in Abwesenheit eines experimentellen Beobachtungsvorgangs. In dieser Hinsicht gibt es eine Analogie zwischen adaptiven Ereignissen und Quantenphänomenen. In Unterkapitel 3.2. werden die biochemischen und biophysikalischen Eigenschaften der beiden energiekonvertierenden Subsysteme beschrieben, die die Inkorporation von externem Phosphat in einen internen Phosphatspeicher katalysieren. Für diesen Vorgang wird unter naturnahen Bedingungen eine Energiequelle benötigt. Mit dem gespeicherten Phosphat können die Algen auch dann wach25 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Einführung
sen, wenn die Phosphatzufuhr über längere Perioden ausbleibt. Die gespeicherten Polyphosphatkörnchen dürfen jedoch bei einer diskontinuierlichen Phosphatzufuhr nicht zu groß werden, weil sonst Strukturen im Zellinneren zerstört werden. Die Menge an Polyphosphatkörnchen darf aber auch nicht zu klein bleiben, weil dann ein kontinuierliches Wachstum nicht gewährleistet ist. Die Polyphosphatkörnchen sind osmotisch inaktiv, daher kann die Zelle die jeweils vorhandene Größe der Körnchen nicht feststellen. Die Zelle muss sich daher an das Muster der vorherigen Phosphatinkorporationen erinnern, um zu ›wissen‹, wie viel Phosphat sie gespeichert hat. Dieses Erinnerungsvermögen wurde mit Hilfe der irreversiblen Thermodynamik analysiert. Mit dieser Disziplin kann die Abhängigkeit der Phosphataufnahme von der Triebkraft für diesen Prozess untersucht werden, indem man die Aufnahmeflüsse bei verschiedenen externen Konzentrationen in Beziehung zum Logarithmus dieser Konzentrationen setzt. Hier offenbart sich in den adaptiven Operationsmodi eine nicht-lineare Abhängigkeit der Aufnahmeflüsse vom Logarithmus der externen Konzentrationen. Im Gegensatz dazu besteht in adaptierten Zuständen zwischen den Aufnahmeflüssen und dem Logarithmus der externen Konzentrationen eine lineare Beziehung. Sie erstreckt sich vom Schwellenwert zu den Phosphatkonzentrationen, an die sich die Zellen während der adaptiven Operationsmodi angepasst hatten. Diese Beziehung hat die gleiche mathematische Form wie das Weber-Fechner’sche Gesetz der Sinnesphysiologie, wenn man die externe Phosphatkonzentration als Reizgröße und den Schwellenwert als Reizschwelle interpretiert. Der Phosphatfluss entspricht dann der Empfindung für die externen Konzentrationen, an die sich die Zellen angepasst haben und bei denen die Aufnahme mit optimaler Effizienz vor sich geht. Dieser Befund widerspricht dem Verhalten dissipativer Systeme, mit denen Ilya Prigogine die physikalische Selbstorganisation beschrieben hat. Die Selbstorganisation dissipativer Systeme tritt nur in großer Entfernung vom Gleichgewicht auf, wenn eine nicht-lineare Beziehung zwischen Flüssen und Triebkräften aufrechterhalten bleibt. Dieser Unterschied wird in Unterkapitel 3.2. auf der Grundlage der Beziehung zwischen Erfahrung und Selbstkonstitution eingehend diskutiert. Unterkapitel 3.3. beschreibt das adaptive Zusammenwirken aller intrazellulären energiekonvertierenden Subsysteme, die durch die diversen Stoffwechselflüsse miteinander verknüpft sind. Die Veränderung eines Subsystems löst einen Umbau aller anderen Subsysteme 26 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Einführung
aus. Wird die Funktion eines Subsystems von einer Milieuänderung tangiert, dann baut der Organismus dieses System entweder um oder ersetzt es durch ein neues. Der Umbau wird so gestaltet, dass das betreffende Subsystem unter den neuen Umweltbedingungen die vorhandene Energie wieder mit optimaler Effizienz verwertet. Nun sind aber die anderen Subsysteme, die im Stoffwechsel mit dem veränderten Subsystem in Verbindung stehen, an die Funktionsweise des neuen Subsystems nicht mehr angepasst und müssen ebenfalls verändert werden. Diese Neustrukturierung pflanzt sich wellenartig durch den gesamten Organismus fort, bis größere zelluläre Einheiten entstehen, mit denen die vorhandene Energie mit optimaler Effizienz ausgenützt wird. Gleichzeitig wirkt der Organismus mit den in diesem Prozess neu gebildeten Konstituenten so auf seine Umgebung ein, dass daraus eine Umwelt resultiert, die eine Funktionsharmonie aller energiekonvertierenden Subsysteme gewährleistet. In der Erfahrung der Umwelt, die der Organismus selbst gestaltet, erfährt er sich selbst. Unterkapitel 3.3.1. behandelt die Rolle von Kreisprozessen im Stoffwechsel. Viele energiekonvertierende Subsysteme einer Zelle sind in einer zyklischen Anordnung miteinander verbunden, die in sich geschlossen, aber mit anderen Stoffwechselvorgängen verknüpft ist. Diese Anordnung dient dem Ziel, in hierarchischer Weise größere Einheiten zu bilden, die ebenfalls wieder mit optimaler Effizienz operieren. Von dieser Anordnung ist der gesamte Organismus betroffen, dessen Stoffwechsel auch in sich geschlossen, aber nach außen hin offen ist. Dies ermöglicht Organismen die Erfahrung von Änderungen ihrer Umwelt Das vierte Kapitel bereitet eine biophilosophische Erklärung der Evolution der Arten und des Bewusstseins vor. Zunächst werden die wesentlichen Ergebnisse der im dritten Kapitel dargestellten Experimente und ihre energetische Basis zusammengefasst. Das Zellgedächtnis, das bei physiologischen Anpassungsvorgängen Informationen über Milieuänderungen verarbeitet, wird einem organismischen Subjekt zugeordnet. Dies erfordert eine metaphysische Begründung, bei der wir uns in Kap. 4 auf Ideen von Alfred North Whitehead, John Dewey, Ernst Cassirer und bestimmten Aussagen der von Reto Luzius Fetz entwickelten »Theorie der Wirkwesen« 3 beziehen. Berücksichtigt werden auch die Philosophie von Henri 3
Siehe Band I dieser Schriftenreihe, Fetz 2019.
27 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Einführung
Bergson und die Ideen von Hans Jonas, der im Stoffwechsel die organismische Freiheit verortet. Unterkapitel 4.1. behandelt die Analogien zwischen ›adaptiven Ereignissen‹ und Whiteheads ›aktualen Entitäten‹. In Whiteheads ›organismischer Philosophie‹ ist die Wirklichkeit aus mikrokosmischen ›Akten des Werdens‹ zusammengesetzt, die er ›aktuale Entitäten‹ (›actual entities‹) nannte und mit denen er die cartesianische Trennung zwischen Geist und Körper zu überwinden trachtete. Die ›aktualen Entitäten‹ interpretieren nach Whitehead in ›wirklichen Ereignissen der Erfahrung‹ die diversen Tatsachen der wirklichen Welt und integrieren sie in einer individuellen Leistung als Facetten für ihre eigene Selbstkonstitution. Das Ergebnis dieser Selbstkonstitution wird dann zu einer neuen Tatsache der wirklichen Welt, die nachfolgenden ›aktualen Entitäten‹ zur Verfügung steht. Makroskopische Körper repräsentieren Gesellschaften von Gesellschaften dieser ›aktualen Entitäten‹, die sich in hierarchischer Weise zu größeren Einheiten zusammengeschlossen haben. In der Konzeption der adaptiven Ereignisse haben wir die physisch-geistige Bipolarität von Whiteheads ›aktualen Entitäten‹ adoptiert. Allerdings war es nötig, diese Adoption mit einer Modifikation zu versehen. Bei Whitehead gehen die Erfahrungen eines Lebewesens in einem »bottom-up Prozess« aus einer Gesellschaft von adaptiven Ereignissen hervor. Im Gegensatz dazu wirken in der hier präsentierten Theorie die Organismen in einem »top-down-Prozess« auf die adaptiven Ereignisse. D. h. der Organismus gestaltet in einer Erinnerung an die Erfahrungen seiner vorherigen Lebensgeschichte die beiden Phasen adaptiver Ereignisse. Die Ergebnisse dieses Prozesses werden dann zu einem Inhalt der lebensgeschichtlichen Erinnerung, bei der die vorherigen Erfahrungsinhalte bei jeder neuen Erfahrung vom Organismus neu gewichtet werden. Für ein derartiges Verständnis eines die ganze Lebensgeschichte umgreifenden Gedächtnisses eines Lebewesens reicht die Philosophie von Alfred North Whitehead nicht aus, worauf schon Hans Jonas in seinem Buch Das Prinzip Leben hingewiesen hat 4. Wir haben daher das Kategorienschema Whiteheads mit den Ideen der anderen oben erwähnten Philosophen ergänzt. Unterkapitel 4.2. behandelt die physiologische Grundlage der Beziehung zwischen physiologischer Anpassung und Erfahrung in 4
Jonas 1997, 178.
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Einführung
der Sichtweise von John Dewey. Dewey versuchte, die psychophysische Grundlage für die Empfindungen der Lebewesen in zwei distinkten Stoffwechselmanifestationen zu finden. In der einen befindet sich der Stoffwechsel in einem Fließgleichgewicht, in dem die Strukturelemente erzeugt werden, auf deren Zusammenwirken eine bestimmte Gestalt des Organismus beruht. In der anderen kommt es auf Grund von Umwelteinflüssen zu Abweichungen von einem Fließgleichgewicht. Dadurch befindet »sich der Körper in einem unbehaglichen und unstabilen Gleichgewicht« 5, was der Organismus als Spannungszustand in der Verteilung der vorhandenen Energie erfährt. Kleinere Abweichungen vom formerhaltenden Fließgleichgewicht korrigiert der Organismus mit den vorhandenen biochemischen Regulationsmechanismen. Lassen sich auf diese Weise Störungen eines vorhandenen Fließgleichgewichts nicht beheben, dann empfindet der Organismus die dadurch verursachten Deformationen seiner Gestalt als Spannung. Dies veranlasst ihn zu einer Neubildung von Strukturelementen, mit deren Hilfe er die Umgebung so umgestalten kann, dass die Rückwirkung auf den Organismus wieder ein neues Fließgleichgewicht ermöglicht. Die von Dewey postulierte Spannung ist die physiologische Basis eines Zellgedächtnisses, das bei einzelligen Lebewesen die Weitergabe und Aufrechterhaltung von organismusspezifischen Funktionsharmonien gewährleistet. Da diese energetische Spannung bei Abweichung von Funktionsharmonien auftritt, wird sie indirekt zu einem Träger von Information über harmonische Zustände. Ein Gedächtnis repräsentiert die Spannung, weil sie im Stoffwechsel ständig präsent bleibt, und zwar aus folgendem Grund: Die Wiederherstellung ein und derselben Funktionsharmonie gelingt nämlich nie vollständig, weil Neuanpassungen von energieverwertenden Subsystemen auch die externen Bedingungen verändern, die diesen Prozess ausgelöst haben. Auf diese Weise werden mit dieser Spannung Abweichungen von organismusspezifischen Funktionsharmonien bei der Vermehrung der Zellen vererbt, sodass das Zellgedächtnis bei einzelligen Lebewesen als »Artgedächtnis« fungiert. In Unterkapitel 4.2.1. werden die Ideen von Ernst Haeckel und Ewald Hering über das ›Zellgedächtnis‹ und das ›Artgedächtnis‹ vorgestellt und mit Ideen von Alfred North Whitehead und John Dewey Dewey 1995/2007, 244. Dewey spricht von einer »tensional distribution of energies«, Dewey 1958, 253.
5
29 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Einführung
kombiniert. Wenn Organismen in die Funktionsharmonie einer Organismengesellschaft eingebunden sind, dann verursachen auch hier Abweichungen von dieser Funktionsharmonie biozönotische Spannungen, von denen die Selbstkonstitutionsakte der einzelnen Individuen ebenfalls beeinflusst werden. Für eine öko-physiologische Behandlung der gegenseitigen Beeinflussung der biozönotischen und organismischen Spannungen wurde der Begriff eines ›Spannungsfeldes‹ eingeführt. Bei der Konzeption für diese intra- und interorganismischen Spannungsfelder wird die Idee von ›Feldern‹ von Joseph Bracken übernommen. Diese Idee wird im Buch: »Gott Welt Kreativität« des Prozessphilosophen Tobias Müller beschrieben. Ein Feld entsteht im Beziehungsgeflecht der ›aktualen Entitäten‹ einer bestimmten Ebene der gesellschaftlichen Hierarchie und wirkt dann auf die Entstehung nachfolgender ›aktualer Entitäten‹ dieser Ebene. In einer Übertragung auf die Ökophysiologie gibt es individual-organismische, artspezifische und biozönotische Spannungsfelder, die in adaptiven Ereignissen auf den verschiedenen Ebenen einer Biozönose einerseits miteinander verbunden, andererseits voneinander abgegrenzt sind. Über die betreffenden Spannungsfelder sind das individuelle Gedächtnis und das Artgedächtnis in die Funktionsharmonien einer Biozönose eingebettet. Bei der Entwicklung mehrzelliger Lebewesen enthält das Artgedächtnis die Information über das Zusammenwirken der verschiedenen Formen des Zellgedächtnisses einer bestimmten Art, wobei sich distinkte Zelltypen ausbilden. Mit zunehmender Differenzierung der Zellen entsteht neben dem »Artgedächtnis« auch ein »individuelles Gedächtnis«, das Erfahrungen der unterschiedlichen Zelltypen in der Lebensgeschichte der Individuen enthält. Der Unterschied zwischen beiden Gedächtnisformen besteht darin, dass sich das Artgedächtnis auf die Vererbung gleichförmiger Manifestationen im Verhalten und der äußeren Erscheinung der Organismen bezieht. Das individuelle Gedächtnis ist verantwortlich für die vom Artverhalten abweichenden Eigengestaltungen der Organismen, die zu Variationen der Erscheinungsform und der Kommunikation innerhalb einer Art führen und die ebenfalls vererbt werden können. Abweichungen von individuellen und artspezifischen Funktionsharmonien erzeugen individuelle und artspezifische Spannungen, die sich gegenseitig beeinflussen. Bei einer Vererbung der individuellen Funktionsharmonien können diese in die artspezifischen Funktionsharmonien integriert werden und führen zu einer Höherentwicklung 30 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Einführung
der betreffenden Organismen, bei der neue Arten entstehen und die Artengemeinschaft verändert wird. In diesem Fall enthält das Artgedächtnis auch kollektive Lebenserfahrungen einer Artengemeinschaft, die über Kommunikationsakte von Generation zu Generation vererbt werden. Das Artgedächtnis liefert beim Menschen die physiologischen Grundlagen für das Entstehen der verschiedenen menschlichen Sprachen, die sich das individuelle Gedächtnis aneignet. In dieser Sichtweise gewinnt das Phänomen des Gedächtnisses einen wesentlich umfassenderen Sinn, der alle kreativen Selbstgestaltungen der Lebewesen auf der Ebene der Individuen, der Arten und der Artengesellschaften zum Inhalt hat. Unterkapitel 4.3. beschreibt die Philosophie lebendiger Formen von Ernst Cassirer. Auch bei Cassirer ist das Gedächtnis mehr als eine bloße Reproduktion vorheriger Erfahrungen. Es ist ein wesentliches Moment der Selbstgestaltung eines Organismus in neuen Erfahrungsakten. In dieser Form der Erinnerung an Vergangenes gewinnt der Organismus bei der Bildung seiner Strukturen ein Bild von sich selbst. Diese Idee findet man auch bei Robert Rosen 6 und Anthony Trewavas 7. In der Individualentwicklung und in der Evolution der Arten differenziert sich dieses Bild immer mehr. Dadurch wird das Gedächtnis zur Grundlage der geschichtlichen Dimension dieser biologischen Prozesse. Der Wille zur Selbstgestaltung äußert sich bei Cassirer im Übergang einer ›forma formans‹ zu einer ›forma formata‹. Dieser Übergang wurde in der hier präsentierten Theorie der Organismen als die organismische Transformation von adaptiven Operationsmodi zu adaptierten Zuständen interpretiert. Mit der von uns vorgenommenen Verankerung der Kreativität im Erinnerungsvermögen der Lebewesen und deren Streben nach einem Fließgleichgewicht unterscheiden wir uns von Hans Jonas, dessen Ansichten in Unterkapitel 4.4. ausführlich dargestellt werden. Für Jonas manifestiert sich die Kreativität im Stoffwechselgeschehen, in dem er die Grundlage für die Entstehung von Empfindungen zu finden versucht. Der Stoffwechsel ist auch für Jonas der fundamentale Unterschied zwischen Dingen und Lebewesen. Die Freiheit in kreativen Selbstgestaltungen besteht für ihn aber nicht in distinkten Verwirklichungsmöglichkeiten organismischer Strukturen, sondern
6 7
Rosen 1985, 195. Trewavas 2005, 413–419.
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Einführung
in der Freiheit von einer dinghaften Determination der Erscheinungsform durch ortsfeste Komponenten. Im Gegensatz dazu ist in der hier präsentierten Theorie der Organismen der Stoffwechsel nur eine Voraussetzung für Kreativität. Sie entfaltet sich in einer geschichtlichen Entwicklung, in der die Evolution der Arten und die menschliche Geschichte als ein einheitlicher Prozess aufgefasst werden können. Unterkapitel 4.5. erläutert die Ereignisnatur des Gedächtnisses bei Henri Bergson. In diesem Unterkapitel wird die Idee einer Interdependenz von Funktionsharmonien auf den verschiedenen Ebenen einer Organismengesellschaft mit Motiven der Philosophie von Henri Bergson verglichen. Die Philosophie von Bergson steht in Einklang mit Verallgemeinerungen, die von theoretischen Überlegungen auf der Grundlage der in Unterkapitel 3.1. gezeigten experimentellen Befunde ausgehen. Auch bei Bergson ist das ›Gewesene‹ nur dann in Erinnerungen präsent, wenn es in einem gegenwärtigen Erleben vergegenwärtigt wird. Dadurch wird die Erinnerung zu einer unteilbaren Einheit, die er ›durée‹ nennt. Sie entspricht im zellphysiologischen Bereich einem adaptiven Ereignis und setzt sich fort über die Erfahrungsgeschichte der Organismen und der Selbstorganisation auf der Ebene der Biozönose bis in die kosmische Entwicklung. Diese prozessbiologische Interpretation der Ideen Bergsons wird in Unterkapitel 4.5. ausführlich begründet. Unterkapitel 4.6. behandelt die Theorie der Wirkwesen von Reto Luzius Fetz. Grundlage dieser Theorie ist die Einsicht, dass man die Entstehung und Entwicklung der Lebewesen nicht verstehen kann, wenn die Letztelemente der Wirklichkeit tote Dinge sind. Ein Verständnis des Werdens und Wirkens von Organismen setzt voraus, dass die Wirklichkeit nicht aus Dingen, sondern aus Wesen mit organismischen Eigenschaften besteht, aus deren Wirken die Wirklichkeit hervorgeht. Fetz nennt diese Wesen »Wirkwesen«, bei deren Selbstkonstitution in Erfahrungsakten »ideale Formen« verwirklicht werden 8. Davon ausgehend entwirft Fetz eine Kosmologie, in der die Kosmologie von Whiteheads Prozessphilosophie weiterentwickelt wird. Auch bei Fetz werden makrokosmische Körper nicht als Gesellschaften von Gesellschaften von mikrokosmischen ›aktualen Entitäten‹ aufgefasst, sondern sind das Ergebnis organismischer Aktivitäten. In der hier vorgestellten Theorie der Organismen wurde diese Idee über-
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Siehe Band I der vorliegenden Schriftenreihe, Fetz 2019.
32 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Einführung
nommen. Einige Punkte der Theorie der Wirkwesen enthalten zwar noch gewisse Inkohärenzen mit der Theorie der Organismen dieses Buches. Sie ließen sich jedoch im Rahmen von zukünftigen Beiträgen von Prozessphilosophen und Vertretern der theoretischen Physik in der vorliegenden Schriftenreihe über »Biophilosophie« beheben. Im Unterkapitel 4.6.1. wird versucht, die in der Theorie der Wirkwesen beschrieben »idealen Formen« als ideale Formen von organismischen Funktionsharmonien zu interpretieren. In dieser Interpretation wird die Entwicklung von Zellen, Organismen, Arten und Biozönosen mit einer von Sinn-Notwendigkeiten geleiteten Abfolge idealer Formen von Funktionsharmonien erklärt. Die Sinn-Notwendigkeiten sind dafür verantwortlich, dass die Funktionsharmonien auf diesen verschiedenen Ebenen organismischer Manifestationen untereinander in einer logischen Beziehung stehen, die die Individualentwicklung und die Evolution der Arten leitet. Dieser Prozess wird durch die von den jeweiligen Funktionsharmonien bewirkte Dynamik der Spannungsfelder vermittelt. Unterkapitel 4.7. erläutert am Beispiel der Embryogenese die Sinn-Notwendigkeiten, die die logische Entfaltung vererbbarer zellulärer Funktionsharmonien bei der Entwicklung eines vielzelligen Organismus aus einer einzelligen Zygote bestimmen. Bei diesem Prozess wird die Genese eines adulten Organismus nicht auf der Basis von ›Entwicklungsprogrammen‹, sondern mit der Beziehung zwischen Erfahrung und Selbstkonstitution in den verschiedenen Etappen der organismischen Entwicklung unter Einbeziehung der logischen Entfaltung von Funktionsharmonien erklärt. Kapitel 5 beinhaltet eine Analyse der Kreativität der Lebewesen bei der Umgestaltung ihrer Umgebung zu ihrer Umwelt. Unterkapitel 5.1. bezieht sich auf den Zusammenhang zwischen Kreativität und Stress. Schöpferische Aktivitäten dienen der Vermeidung von anhaltendem Stress und den damit verbundenen pathologischen Erscheinungsformen. Bei einer Umgestaltung der Umgebung zur Umwelt erzeugt der Organismus Strukturen, mit denen er sich einem Fließgleichgewicht annähern kann. Da sich das Fließgleichgewicht in die Umgebung des Organismus erstreckt, ist eine klare Abgrenzung zwischen den Strukturen seiner Umwelt und den Strukturen des Organismus nur auf der Basis willkürlicher Abstraktionen möglich. Die organismische Natur wird als Korrelat zum Technisch-Praktischen aufgefasst, bei dem ein Produzent und sein Produkt in einer interdependenten Weise in einem Schöpfungsakt verwoben und in ein und 33 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Einführung
demselben Organismus vereint sind 9. Die Produkte des Produzenten sind seine Strukturen, mit denen er sich von seiner Umgebung abgrenzt und diese dabei verändert. Dies verschafft einem Organismus einen bestimmten körperlichen Ausdruck, mit dem er Druck auf andere Lebewesen auszuüben vermag. Welcher Teil dieses Ausdrucks von anderen Organismen als Erscheinungsform erfahren wird, hängt von deren Wahrnehmungsvermögen ab. Unterkapitel 5.2. behandelt die zeitliche und räumliche Funktion adaptiver Ereignisse in der kreativen Gestaltung des körperlichen Ausdrucks von Lebewesen. Dieser Prozess wird von den Erfahrungen der »Eigenzeit« und des »Eigenraums« geleitet. In Unterkapitel 5.3. wird ausgeführt, wie die Eigenzeit darüber bestimmt, welche Änderungen externer Einflüsse als Muster in einheitlichen Erfahrungs- und Konstitutionsakten integriert werden. Unterkapitel 5.4. behandelt die Raumerfahrung von Mikroorganismen, höheren Pflanzen und Tieren. Unterkapitel 5.4.1. analysiert die Raumerfahrung von Mikroorganismen eines nährstoffreichen Gewässers. Sie beruht auf der gegenseitigen Anpassung der Mikroorganismen aneinander und an die Gegebenheiten ihres Biotops. Unterkapitel 5.4.2. beschreibt die Selbstkonstitution von vielzelligen Organismen in der Erfahrung eines gemeinsamen Lebensraums mit anderen Organismen. Hier gibt es Unterschiede zwischen Organismen mit Raumerfahrung in Wachstumsprozessen und Organismen, die zu Raumerfahrungen durch Ortsveränderungen befähigt sind. Sie betreffen die Interaktionsmöglichkeiten mit anderen Organismen in der von ihnen erlebten Umgebung. Unterkapitel 5.4.2.1. ist mit der Selbstkonstitution von Pflanzen bei der Erfahrung ihres Lebensraums befasst. Sie zeigt sich u. a. in der ›Intelligenz‹ der Pflanzen im adaptiven Verhalten von Blättern bei Änderungen der Lichtintensität und bei den Wurzeln, die das Dunkel des Bodens suchen und sich dort in Richtung höherer Nährstoffgehalte ausbreiten. Unterkapitel 5.4.2.2. beschreibt die Selbstkonstitution von Tieren bei der Erfahrung ihres Lebensraums. Die Unterschiede in den Raumerfahrungen sessiler Tiere (Steinkorallen, Schwämme, Moostiere, etc.) und derjenigen von Tieren, die zu Ortsveränderungen befähigt sind, manifestieren sich in unterschiedlichen Selbstkonstitutionsvorgängen. Letztere entwickeln Organe, in denen die motorischen und sensorischen
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Mutschler 2002, 116.
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Einführung
Funktionen aufeinander abgestimmt werden. Die Höherentwicklung der Tiere geht mit der Differenzierung eines Nervensystems einher. Dabei werden die Sinneswahrnehmungen immer enger an eine hochentwickelte Motorik gekoppelt. Dies ermöglicht eine immer komplexer werdende Erfahrung der dreidimensionalen Eigenschaften der Umgebung, die vom Organismus in ein kohärentes Bild seiner Lebenswelt integriert werden. Ausgehend von dieser Idee konnten wir den Unterschied in den Raum- und Zeiterfahrungen bei der Selbstgestaltung von Bakterien, höheren Pflanzen und Tieren herausarbeiten. Dies führte zu dem Postulat der evolutionären Erkenntnistheorie, dass die bei Kant a priori gegebenen reinen Formen der Anschauung von Raum und Zeit a posteriori aus den Raum- und Zeiterfahrungen der Lebewesen in der phylogenetischen Entwicklung entstanden sind. Unterkapitel 5.5. beschreibt die Evolution gemeinsamer Weltbezüge von kommunizierenden Organismen, die in diesem Prozess wechselseitig neue Ausdrucksformen entwickeln. Es wird geschildert, wie aus einer Gesellschaft unterschiedlicher Gruppen von Lebewesen, die ihre Aktivitäten in kohärenter Weise aufeinander und auf die gemeinsame Umgebung einstellen, Arten mit gemeinsam angestrebten Funktionsharmonien entstehen. Die Ausdrucksformen fungieren als ›Erkennungszeichen‹ (Symbole), mit deren Hilfe Organismen auf der Grundlage ihres Artgedächtnisses einander wiedererkennen und sich dabei in ihrer Umgebung zurechtfinden. Das sechste Kapitel beinhaltet die Evolution der Organismen als geschichtlichen Prozess. In Unterkapitel 6.1. wird versucht, die Evolution der Arten und die menschliche Geschichte als einen zusammenhängenden Vorgang aufzufassen. Zu diesem Zweck wird Hegels Philosophie der Geschichte, in der die Weltgeschichte der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit ist, in biophilosophischer Hinsicht interpretiert. Demnach nimmt die Freiheit der Organismen in der Evolution zu, wenn Organismen in Selbstkonstitutionsakten auf Grund ihres individuellen Gedächtnisses ihre Lebenswelt unabhängig von den gleichförmigen Interpretationen der Lebenswelt des Artgedächtnisses gestalten. Dies führt zu einer Differenzierung der organismischen Struktur. Dabei befreit sich das individuelle Gedächtnis mehr und mehr von den Bestimmungen durch die Funktionsharmonien des Artgedächtnisses. Unterkapitel 6.2. behandelt den Übergang der Evolution der Arten in die menschliche Geschichte. Hier lassen sich die kreativen In35 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Einführung
tentionen des individuellen Gedächtnisses immer weniger mit den Intentionen des Artgedächtnisses vereinbaren, das gleichförmige Erscheinungsformen und invariante kollektive Kommunikationsabläufe zwischen den Angehörigen einer Art vererbt. Beim Menschen richten sich die Intentionen des individuellen Gedächtnisses auf eine Verwirklichung von neuen Funktionsharmonien in der Erscheinungsform und im sprachlichen Ausdruck. Im Gegensatz dazu streben die Intentionen des Artgedächtnisses nach Aufrechterhaltung tradierter Funktionsharmonien. Der dadurch auftretende Konflikt und dessen Aufhebung ist die Voraussetzung für die Entstehung des Selbstbewusstseins. Dieser Prozess, der in Hegels »Phänomenologie des Geistes« beschrieben wird, ist in der hier präsentierten prozessbiologischen Sichtweise noch nicht abgeschlossen. Die Aufhebung des Herr-Knecht Verhältnisses zwischen dem Artgedächtnis als »Herrn« und dem individuellen Gedächtnis als »Knecht« ist nämlich in eine Aufhebung des Herr-Knecht Verhältnisses zwischen Menschen untereinander und zwischen Mensch und anderen Lebewesen eingebettet. Das wahre Selbstbewusstsein erreicht der Mensch daher erst in einem selbstbeherrschten Verhältnis zu anderen Lebewesen, bei dem er deren Lebensraum nicht mehr vernichtet. Als Kontrast zu der oben beschriebenen biophilosophischen Erklärung der Evolution der Arten werden im siebenten Kapitel die darwinistischen Erklärungen der Evolution der Arten vorgestellt. Sie liefern ein ›objektives‹ Bild der Evolution, bei denen der Mensch von einer überzeitlichen Plattform aus rückwärtsgewandt auf die Evolution blickt. Darwin hatte postuliert, dass die Evolution auf den drei Prinzipien »Variation«, »Vererbung« und »natürliche Selektion« beruht. Darwins Hypothese setzte sich deshalb durch, weil sie eine mechanistische Interpretation der Evolution ermöglicht. Demnach fungiert die ›natürliche Selektion‹ als eine äußere Kraft, die auf die Variationen der Erscheinungsformen einer Art einwirkt und die Vermehrung derjenigen Variation begünstigt, die die meisten Nachkommen hat. Unterkapitel 7.1. beschreibt den Neo-Darwinismus und die davon abgeleitete genzentrierte Biologie. Der Neo-Darwinismus erklärt die Evolution damit, dass Gene die Erscheinungsform eines Lebewesens bestimmen und die Nachkommen die Gene ihrer Vorfahren erben. Die Variationen innerhalb einer Art werden durch Mutationen der Gene erklärt. Innerhalb einer Art nimmt die Häufigkeit der Gene von besser angepassten Individuen deshalb zu, weil sie sich gegen36 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Einführung
über den Genen von schlechter angepassten Individuen in einer Population durchsetzen. Auf diese Weise erklärt der Neo-Darwinismus die Rolle des Artgedächtnisses mit einer Vererbung von Genen einer Art und die des individuellen Gedächtnisses mit Variationen der Gene dieser Art. Aus einer Kombination der Thesen Darwins mit einigen Ergebnissen der Molekularbiologie, der Mendel’schen Genetik und der Populationsgenetik ging im 20. Jahrhundert die ›Moderne Synthese‹ hervor, die allerdings in einer ›Extended Synthesis‹ ständig erweitert werden musste. Ebenfalls beschrieben wird in Kap. 7.1., wie die genzentrierte Biologie aus den neo-darwinistischen Postulaten entstanden ist. Sie beruht auf der Chromosomentheorie der Vererbung, die auf der Beobachtung basiert, dass die Chromosomen in der Vererbung weitergegeben werden und die Anzahl der Chromosomen innerhalb einer Art konstant bleibt. Die Molekularbiologie erklärt die Vererbung durch eine Weitergabe von Nukleotidsequenzen der Desoxyribonukleinsäure (DNS) in den Chromosomen, nachdem sich vor der Zellteilung der DNS-Strang verdoppelt hat und auf die Tochterzellen aufgeteilt worden ist. Die DNS enthält in dieser Sichtweise die Baupläne für die gesamte zukünftige Entwicklung eines Lebewesens. Sie ist der Träger eines genetischen oder Entwicklungsprogramms, das vom Organismus realisiert wird. Unterkapitel 7.2. enthält eine Kritik der Hypothese, dass eine lineare Anordnung von Nukleotiden in der DNS die Information über die dreidimensionale Erscheinungsform eines Lebewesens zur Verfügung stellen kann. Bei einer Erklärung biologischer Entwicklungen mit dem technischen Informationsbegriff wird übersehen, dass molekularbiologische Abläufe unter Beteiligung der DNS nur funktionieren, wenn schon vorher ein Organismus die Rahmenbedingungen für diese Abläufe schafft. Bei eukaryontischen Zellen kann die DNS schon allein deshalb keine Informationen über biologische Prozesse enthalten, weil von diesen Zellen ein und dieselbe Nukleotidsequenz für die Synthese völlig verschiedener Eiweißkörper verwendet werden kann. D. h. der Organismus interpretiert eine bestimmte Nukleotidsequenz für seine jeweiligen Zwecke und ist daher selbst der Träger von Informationen über seine potentiell sinnvolle Weiterentwicklung. Eine derartige Interpretation ist in der Konzeption ›genetischer Programme‹ nicht vorgesehen. Unterkapitel 7.3. gibt einen Einblick in die Problematik des Artbegriffs bei einer mechanistischen Erklärung der Evolution der Arten. 37 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Einführung
Hier muss von einem Systematiker entschieden werden, welche Variationen in der Erscheinungsform zu einer bestimmten Art gehören und welche einer anderen Art zugeordnet werden müssen. Da diese Entscheidung subjektiv ist, kann die Frage nach dem ontologischen Status einer Art nicht entschieden werden. Schwierigkeiten gibt es vor allem bei der überwiegenden Anzahl der Lebewesen, die sich nicht sexuell fortpflanzen. Hier hat man versucht, den Artbegriff nicht nur auf Individuen anzuwenden, die zu einer bestimmten Zeit (synchron) existieren, sondern auf alle Lebewesen auszudehnen, die zu verschiedenen Zeiten (diachron, z. B. durch Zellteilung) auseinander hervorgegangen sind. Bei einer diachronen Einteilung hat man das Problem, dass man keine Kriterien für den Anfangs- und Endpunkt der Zuordnung zu einer bestimmten Art angeben kann. Hervorgerufen wird dieses Problem durch die Tatsache, dass Organismen Prozesse sind, bei denen organismische Kommunikationsakte unablässig in einer diachronen Genese synchrone Strukturen hervorbringen. Unterkapitel 7.4. präsentiert den Versuch einer prozessbiologischen Artdefinition, bei der zu einer Art diejenigen Organismen gehören, die das gleiche Artgedächtnis haben. Eine Art ist durch ein sich selbst reproduzierendes Interaktionsmuster zwischen Organismus und Umwelt charakterisiert, bei dem die Organismen in Erinnerungsakten eine bestimmte Erscheinungsform aufrechterhalten. Das Interaktionsmuster kann in einer Kommunikation mit den betreffenden Organismen erschlossen werden. Zu diesem Zweck ist es nötig, dass ein Biologe Teil der Lebenswelt eines Organismus wird und dann untersucht, welchen Sinn die vom Organismus vorgenommene strukturelle Modifikation hat, die aus der Veränderung seiner Lebenswelt resultiert. Das achte Kapitel behandelt die Entstehung der ersten Lebewesen in einem abiotischen Milieu. Über diesen Prozess gibt es keine plausiblen Hypothesen. Die Physik kann beschreiben, wie der Energiefluss durch ein System zyklische Anordnungen in den materiellen Umsetzungen hervorbringt. Aber die Physik kann nicht erklären, wie aus derartigen Zyklen eine organismische Einheit hervorgeht, die danach strebt, sich mit einer bestimmten Form von ihrer ungeordneten Umgebung abzugrenzen. Außerdem gibt es das Problem, dass man Hypothesen über die Entstehung der ersten Lebewesen nicht experimentell überprüfen kann, indem man ein Lebewesen in einem Laboratorium künstlich herstellt. Dies wurde schon in Unterkapitel 2.6. 38 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Einführung
ausgeführt. Ein System, das sich selbst erzeugt hat, kann nicht von jemand anderem produziert werden. Die Entstehung der ersten Lebewesen könnte mit der Hypothese erklärt werden, dass die Entwicklung des Kosmos auf Selbstkonstitutionsakten beruht, die Analogien zu organismischen Selbstkonstitutionsakten aufweisen. Bei der Entstehung der ersten Lebewesen auf der Erde käme es dann zu einer Wiederholung der kosmischen Selbstkonstitutionsakte. Diese Spekulation wird im nachfolgenden Unterkapitel 8.1. detaillierter ausgeführt. Im Unterkapitel 8.1. wird zunächst diskutiert, ob sich in Quantenphänomenen quasi-organismische Prozesseinheiten finden lassen, aus denen in einem ›bottom-up Prozess‹ Lebewesen hervorgehen. Dies würde voraussetzen, dass die Manifestationen eines Quantenphänomens als Welle oder Teilchen von den Ergebnissen anderer Quantenphänomene abhängen, die sich in der unmittelbaren Vergangenheit ereignet haben. Der daraus resultierende Zustand eines Elementarteilchens würde dann selbst wieder den Verlauf nachfolgender Quantenphänomene bestimmen. Dadurch käme eine innere Beziehung zwischen Quantenphänomenen zustande, die auch der Natur von Organismen entspricht. Außerdem müssten bei den Manifestationen der Quantenphänomene räumliche Strukturen angestrebt werden, die idealen geometrischen Formen der chemischen Bestandteile der Lebewesen entsprechen. Diese Voraussetzungen sind in der heutigen Quantenmechanik nicht vorgesehen. Eine Lösung der oben beschriebenen Probleme könnte darin bestehen, dass auch bei kosmischen Energieflüssen das Werden von Strukturen von Spannungsfeldern geleitet wird, die auf das Entstehen innerweltlicher Harmonien abzielen. Bei einer Diskussion über mögliche Wesensähnlichkeiten zwischen Entwicklungen im Universum und der Evolution der Organismen wird auf die Ideen Platons über den Kosmos zurückgegriffen. Sie wären dann ernst zu nehmen, wenn das Universum nicht einem einzigen Organismus entspräche. Es müsste von Anfang an aus einer Vielzahl von organismischen Prozesseinheiten bestanden haben, die die Randbedingungen für die Aufrechterhaltung einer bestimmten kosmischen Ordnung nach physikalischen Gesetzen vorgegeben haben. Unter diesen Randbedingungen würden die in ihnen existierenden Spannungsfelder ein Streben nach idealen Formen von Funktionsharmonien leiten. Auf dieser Basis ließe sich die kosmische Entwicklung als eine Abfolge von kreativen Konstitutionsakten interpretieren, bei denen wie bei Lebewesen 39 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Einführung
eine maximal mögliche Differenzierung der Spannungsfelder angelegt ist. Die Differenzierung ist bei einem Planeten, der von Lebewesen bevölkert wird, größer als bei einem abiotischen Planeten. Wenn auf einem Planeten in einer größeren Differenzierung der Spannungsfelder die Möglichkeit besteht, durch gegenseitige Anpassungen von abiotischen Energieumsetzungen Lebewesen hervorzubringen, wird diese Möglichkeit ergriffen, und es kommt zum Entstehen der ersten Zellen. Unterkapitel 8.2. thematisiert die Voraussetzungen für eine kontinuierliche Existenz der ersten Lebewesen unter ständig wechselnden Umweltbedingungen. Zunächst wird geschildert, wie viele Prozesse gleichzeitig geschehen mussten, damit es überhaupt zur Entstehung der ersten Zellen kommen konnte. Nun lassen sich gleichzeitig stattfindende, auf ein Endziel gerichtete Prozesse, nämlich die Entstehung der ersten Lebewesen, nicht mechanistisch beschreiben, weil auch hier ein zukünftiger Zustand die Ursache für die Ausrichtung vorheriger Prozesse ist. Außerdem war die erste Zelle nur dann lebensfähig, wenn sie von Anfang an die Fähigkeit hatte, auf einen für sie unvorteilhaften negativen Einfluss mit der Erzeugung einer völlig neuen Struktur zu reagieren. Diese Fähigkeit kann heute noch in ihren physiologischen Anpassungsprozessen, die sich ebenfalls einer mechanistischen Beschreibung entziehen, studiert werden. Wird sie da nicht verstanden, dann lässt sich auch die Entstehung der ersten Lebewesen nicht erklären. Das neunte Kapitel behandelt die Evolution der Bakterien, höheren Pflanzen und Tiere in einer prozessbiologisch-ökologischen Sichtweise, bei der die Beziehung zwischen dem Artgedächtnis und dem individuellen Gedächtnis berücksichtigt wurde. Das Unterkapitel 9.1. schildert die Entwicklungsgeschichte der Bakterien vor dem Entstehen der ersten eukaryontischen Zellen. Es wird beschrieben, wie die symbiotischen Assoziationen verschiedener Arten von Bakterien die terrestrischen Voraussetzungen für das Auftreten höherer Lebensformen schufen. In dieser Periode der Evolution war das individuelle Gedächtnis untrennbar mit dem Artgedächtnis verbunden, und das Artgedächtnis der einzelnen bakteriellen Organismen manifestierte sich in einem gemeinsamen Verhalten der interagierenden Populationen. Unterkapitel 9.2. ist der Entstehung eukaryontischer Zellen aus einem Interaktionsgefüge von Bakterien gewidmet. Eingeleitet wurde dieser Prozess durch die Bildung räumlich eng miteinander verbun40 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Einführung
dener, extrazellulärer, symbiotischer Assoziationen von Bakterien mit unterschiedlichen Milieuerfahrungen und Stoffwechselfunktionen. Durch den Austausch von Zwischenprodukten des Stoffwechsels kam es zu strukturellen Kopplungen zwischen den möglichen Fließgleichgewichten in einem Streben nach gemeinsamen Funktionsharmonien. Dabei passte sich jeder Organismus in seinen Umwelterfahrungen an die Operationen seiner Partner an, die selbst andere Umwelten erfahren hatten. Ein Beispiel ist die symbiotische Assoziation eines beweglichen heterotrophen Bakteriums mit einem autotrophen Bakterium. Ein freilebendes heterotrophes Bakterium ernährt sich von energiereichen organischen Verbindungen im externen Milieu, ein freilebendes autotrophes Bakterium erzeugt die von ihm benötigen energiereichen Verbindungen in der Photosynthese. In einer symbiotischen Assoziation transportiert das heterotrophe Bakterium das autotrophe Bakterium zum Licht, wo dieses die Energie für die Synthese organischer Substanzen vorfindet. Indem das autotrophe Bakterium einen Teil der von ihm synthetisierten organischen Verbindungen dem heterotrophen Bakterium zur Verfügung stellt, ernährt es dieses und zeigt ihm an, in welche Richtung es schwimmen soll. Dadurch ist das heterotrophe Bakterium nicht mehr auf externe organische Verbindungen angewiesen. Aus engen extrazellulären symbiotischen Beziehungsgefügen resultierten intrazelluläre Assoziationen, nachdem kleinere Bakterien in das Zellinnere größerer Bakterien gewandert waren. Dadurch bildeten sich Konsortien, bei denen die vorhandene Energie noch besser ausgenützt werden konnte als in einer extrazellulären Symbiose. Auch der Austausch von Stoffwechselprodukten innerhalb eines intrazellulären Konsortiums konnte besser erfolgen als in einer extrazellulären Symbiose. In der gegenseitigen Anpassung der symbiotischen Partner wurde die Entstehung der eukaryontischen Zellen tierischer und pflanzlicher Organismen antizipiert. Bei diesem Prozess verschmolzen die Artgedächtnisse der ehemaligen symbiotischen Partner zu einem einzigen Artgedächtnis. Damit war der Weg frei für die Evolution vielzelliger eukaryontischer Organismen, bei denen eine zunehmende Differenzierung der Zellen die Erfahrung unterschiedlicher externer Faktoren ermöglichte. Dies erweiterte das Aktionsspektrum der Organismen in einer Vielzahl neuer Interaktions- und Kommunikationsformen. Das in Unterkapitel 9.3. beschriebene komplexe Beziehungsgefüge zwischen Bakterien, Pflanzen und Tieren ist ein wichtiger Fak41 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Einführung
tor für die Selbstkonstitution von Pflanzen bei der Erfahrung ihres Lebensraums. Daraus ergibt sich eine Vielzahl von Formveränderungen, die im Unterkapitel 9.3. detailliert erläutert werden. Die Anpassungs- und Erfahrungsprozesse der verschiedenen Teilorgane von Pflanzen werden nicht von einem einzigen individuellen Gedächtnis geleitet, sondern die räumlich getrennten Energieflüsse in den Wurzeln, den Blättern usw. fungieren als Träger mehrerer individueller Gedächtnisse, die die Selbstkonstitutionsakte der einzelnen Zellen in den verschiedenen Teilorganen leiten. Dadurch entstehen große Unterschiede in der äußeren Erscheinungsform einer Art. Das Artgedächtnis besitzt die Fähigkeit, die distinkten Anpassungen von jedem der individuellen Gedächtnisformen zur Aufrechterhaltung einer Formeinheit zu integrieren. In jeder der Formen des individuellen Gedächtnisses und des Artgedächtnisses ist die übergeordnete Funktionsharmonie der Biozönose präsent, aber in je eigener Perspektive. Unterkapitel 9.4. referiert die Sichtweise Adolf Portmanns über die Höherentwicklung der Tiergestalten, weil diese Sichtweise ein vertieftes Verständnis der von uns präsentierten Theorie der Organismen eröffnet. Portmann beschreibt, dass die Majorität der Tiere in der äußeren Erscheinungsform zweiseitig symmetrisch ist. Bei niederen und transparenten Organismen sind auch die inneren Organe symmetrisch angeordnet. Hier reflektiert die Harmonie der äußeren Erscheinungsform auch die Funktionsharmonie der inneren Organe. Bei höheren Lebewesen ist eine durchgängige Symmetrie in der Erscheinung bei einer durchsichtigen körperlichen Struktur nicht mehr aufrecht zu erhalten, weil bei diesen Organismen eine asymmetrische Anordnung der inneren Organe nötig ist. Eine symmetrische Erscheinungsform kann wiedergewonnen werden, wenn die asymmetrisch angeordneten inneren Organe von einer symmetrischen Hülle aus undurchsichtigem Gewebe umgeben werden. Da diese Hülle in einer artspezifischen Weise einen äußeren Eindruck der Innerlichkeit repräsentiert, wird sie auch im Verlauf einer evolutionären Höherentwicklung in dem Maße verändert, in dem die Empfindungsfähigkeit der Organismen zunimmt. Unterkapitel 9.4.1 beschreibt die Schalenbildung bei Mollusken als anschauliches Beispiel dafür, wie sich die Zunahme der Innerlichkeit in der äußeren Erscheinung widerspiegelt. Hier findet Portmann die Grundregeln der Gestaltung der körperlichen Struktur der Tiere. Ein Vergleich der verschiedenen Mollusken zeigt, wie die Strukturie42 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Einführung
rung der Sinnesorgane und des Nervensystems im Verlauf der evolutionären Differenzierung auf die Schalentypen abgestimmt wurden. Bei einfachen Tiertypen sind die Schalen außen am Körper der Organismen angeordnet und nehmen an der Erfahrung von Umweltänderungen nicht teil. Bei höheren Tiertypen wandern die Schalen ins Innere und übernehmen schließlich die Rolle eines inneren Skeletts, eines »Rückgrats«, das Ortsveränderungen ermöglicht. Hier entstehen nun ganz neue, bilaterale Symmetrien, die bei einer körperlichen Bewegung eine immer größer werdende Rolle spielen. Darauf aufbauend wird in Unterkapitel 9.4.2. die Koordination der Sinneswahrnehmung im Gehirn erklärt. Bei nieder entwickelten Tiertypen sind die Nerven dezentralisiert im Organismus angeordnet. Im Verlauf der Höherentwicklung der Tiergestalt werden die Ganglien in der Kopfregion zentriert und ihre Funktion wird mit der Aktivität der Sinnesorgane koordiniert. Auf diese Weise wächst das Ausmaß der Hirnbildung mit einer Zunahme der Fähigkeit, äußere Einflüsse durch Sinnesorgane zu erleben und darauf kreativ mit Hilfe ihrer körperlichen Struktur zu reagieren. Mit einer Erweiterung der Erlebnisfähigkeit hebt sich der Kopf immer stärker vom restlichen Leib ab. Dadurch kann der Kopf unabhängig von der Bewegung des Körpers bewegt werden und die Fähigkeiten der Organismen nehmen zu, Einflüsse ihrer Umgebung in einem immer größer werdenden Ausmaß zu erfahren und darauf durch aktive Bewegungen zu reagieren. Von diesem Prozess ist die Evolution der Mustererkennung im Kommunikationsgeschehen von Tieren betroffen. Unterkapitel 9.5. beschreibt, wie in der Evolution der Biokommunikation die Komplexität der für andere Organismen erfahrbaren Muster der körperlichen Ausdrucksformen zunahm. Gleichzeitig wurden die auf die Wahrnehmung und Interpretation dieser Muster abgestimmten körperlichen Strukturen vielfältiger. Die einfachsten Muster entstanden bei der diskontinuierlichen Abgabe chemischer Verbindungen. Komplexere Muster konnten durch Variationen von mechanischen Reizen im körperlichen Kontakt, durch akustische und visuelle Signale erzeugt werden. Ihre Interpretation veränderte den körperlichen Ausdruck der Lebewesen in vielfältiger Weise und beeinflusste dadurch andere Organismen. Eine Kommunikation kam zustande, wenn die Erregungsmuster von einem Organismus in ein Bewegungsmuster umgewandelt wurden. Bei der Höherentwicklung des Kommunikationsgeschehens wurden die vom individuellen Ge-
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Einführung
dächtnis wiedererkannten Muster Teil der Funktionsharmonien des Artgedächtnisses. Unterkapitel 9.5.1. gibt Beispiele für die Beziehung zwischen visueller Mustererfahrung und der Gestaltung der optisch wahrnehmbaren Erscheinungsform bei höheren Tieren. Dabei wird gemäß Portmann ein erkennbares Muster, das einen bestimmten äußeren Eindruck hervorruft, zu einem »visuellen Organ zum Anschauen«, das als Sendeeinrichtung fungiert und in einer Gesellschaft von Organismen an geeignete visuelle Empfänger gerichtet ist. Dabei werden die verschiedenen Muster von Warn- Schreck- und Tarnfarben vorgestellt. Warn- Schreckfarben heben sich als »semantische« Gestaltung von der Umgebung ab, während die Muster der Tarnfarben »kryptisch« sein müssen. Unterkapitel 9.5.1.1. referiert viele von Portmann beschriebene Beispiele für die strukturelle Basis einer Biokommunikation von Lebewesen. Sie tragen wesentlich zum Verständnis der hier präsentierten Theorie der Organismen bei. Mit diesen Beispielen wird eine prozessbiologisch-ökologische Sichtweise durch Portmanns Analyse der Mustererfahrung und der Gestaltung der optisch wahrnehmbaren Erscheinungsform von Lebewesen untermauert. Das zehnte Kapitel ist ein Resümee der in den vorigen Kapiteln erläuterten Ideen. Es wird daran erinnert, dass die Begriffe ›Struktur‹ und ›Ausdruck‹ zwei Seiten der Selbst-Konstitution von Organismen sind, die in einem Kommunikationsgeschehen einem ständigen Wandel unterliegen. In diesem Prozess fungieren die von Organismen erfahrenen Erscheinungsformen der anderen Organismen als ›Erkennungszeichen‹ (Symbole), mit deren Hilfe Organismen einander wiedererkennen und sich dabei in ihrer Umgebung zurechtfinden. Eine Verfeinerung des Systems der Erkennungszeichen geht mit einer Höherentwicklung der Lebewesen einher. Jedes der Zeichen entspricht dem Wort einer Sprache, deren Differenzierung zu Differenzierungen von körperlichen Ausdrucksformen führt. In dem Maße, in dem die Erkennungszeichen vielfältiger und als (Kon-)Text in einen allgemeinen Zusammenhang gestellt werden, gewinnt der Organismus ein Mehr an Freiheit bei der Orientierung in der betreffenden Biozönose. Das Resümee schließt mit einem Zitat von Adolf Portmann, mit dem das Anliegen dieses Buches in wenigen Sätzen noch einmal vermittelt wird.
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1. Die irreversible Natur biologischer Prozesse
Die zweck- und zielgerichtete Ausrichtung physiologischer Prozesse auf eine organismische Ganzheit wird in der gegenwärtigen Biologie nicht ausreichend behandelt. Dies betrifft alle irreversiblen Vorgänge, sei es das Wachstum einer Zelle, sei es die Entwicklung adulter Organismen aus einer befruchteten Eizelle und ihr Altern oder sei es die Evolution komplexerer Lebewesen aus einfacheren Vorgängern. Schwierigkeiten verursacht besonders der Umstand, dass es für diese Phänomene keine mechanistische Erklärung gibt 1. Worauf beruhen diese Erklärungen? Bei mechanistischen Erklärungen geht man davon aus, dass organismische Strukturen aus Materiekonfigurationen bestehen, die zu einem gegebenen Zeitpunkt lokalisierbare Zustände einnehmen. Kennt man die Kräfte, die auf diese Zustände einwirken, dann lassen sich ihre Veränderungen vorhersehen. Diese Interpretation dynamischer Phänomene, die vom Analyse- und Erkenntnisverhalten der klassischen Physiker inspiriert ist, beinhaltet eine wichtige Einschränkung: Sie trifft nur auf reversible Vorgänge zu, bei denen ein bestimmter Zustand durch äußere Kräfte so verändert wird, dass sich der ursprüngliche Zustand durch entgegengesetzt wirkende Kräfte wieder einstellt. Für die irreversible Natur biologischer Prozesse gibt es daher keine mechanistische Erklärung. Da in einem mechanistischen Szenario unter gleichen äußeren Bedingungen immer die gleichen Abläufe auftreten, müssen sie reproduzierbar sein. Das Ideal der Reproduzierbarkeit als notwendiges Kriterium strenger Wissenschaftlichkeit in der Physik und Chemie konfrontiert einen Experimentator in der Biologie jedoch mit zwei fundamentalen Schwierigkeiten: Zum einen wird bei einer Suche nach reproduzierbaren Beobachtungen außer Acht gelassen, dass die Individualgeschichte eines Lebewesens mit irreversiblen Veränderungen von Stoffwechselprozessen einhergeht. Aus diesem Grund lässt sich die1
Vgl.: Falkner und Falkner 2010, 331.
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Die irreversible Natur biologischer Prozesse
ser Vorgang nicht auf gleichbleibende Abfolgen von Materiekonfigurationen reduzieren. Zum anderen ist die Wirkung äußerer Kräfte auf ein bestimmtes System nicht reproduzierbar, wenn dieses System in einem Response auf die experimentelle Untersuchung oder in einer Serie von identischen Experimenten neue Eigenschaften entwickelt. In diesen Fällen entziehen sich die physiologischen Prozesse einer objektiven Beschreibung 2, in der die organismische Fähigkeit, selbst als agierendes Subjekt seine Umwelt zu gestalten, nicht vorkommt. Eine experimentell durchgeführte Abtrennung eines Lebewesens von seiner Umgebung, die diesen organismischen Selbstbezug nicht berücksichtigt, ergibt dann ein Bild, das den Eigenschaften eines nichtlebenden Dings entspricht. Es gibt noch einen zweiten Grund, warum eine umfassende Theorie der Organismen vom Selbstbezug eines Lebewesens bei einer Gestaltung seiner Umgebung auszugehen hat. Eine Theorie der Organismen ist nur dann für alle Lebewesen gültig, wenn sie auch den Menschen einschließt. Da aber auch der Entwurf dieser Schrift eine menschliche Aktivität ist, muss eine derartige Theorie der Organismen auch auf ihre Produktion zutreffen. Dies ist der Fall, wenn eine Theorie der Organismen jede kreative Tätigkeit zum Inhalt hat. Selbstbezüglichkeit darf allerdings aus den oben angegebenen Gründen nicht nur auf die Kreativität des Menschen beschränkt sein, wo sie in der am weitest entwickelten Form bei bewussten Aktivitäten auftritt. Eine Theorie der Organismen steht vor der Aufgabe, ein selbstbezügliches Moment auch bei den unbewussten Gestaltungen niederer Organismen zu berücksichtigen und in Beziehung zu ihrer Kreativität zu setzen. Selbstbezüglichkeit in der hier verwendeten Form impliziert, dass ein Lebewesen nicht völlig von äußeren Einflüssen determiniert ist, sondern auch die Fähigkeit besitzt, selbst äußere Einflüsse für seine Zwecke umzugestalten. Dadurch werden Kreativität und Freiheit zu wichtigen Wesensbestimmungen der Organismen, die es erlauben, biologische Entwicklungen als geschichtliche Prozesse zu verstehen. Dabei geht eine Höherentwicklung der Lebewesen mit einer Zunahme ihrer Freiheit einher, sich selbst bei einer Gestaltung ihrer Eine ›objektive‹ Beschreibung biologischer Prozesse bezeichnet eine gegenstandsorientierte Aussage über organismische Abläufe, die in einem Abstraktionsvorgang unter Ausschaltung der ›subjektiven‹ Eigenschaften des Beobachters zustande gekommen ist.
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Die irreversible Natur biologischer Prozesse
Umwelt mit darauf abgestimmten Strukturen so zu erfahren, dass es dabei zu einer Vertiefung des Erlebens der eigenen Empfindungen kommt 3. In diesem geschichtlichen Prozess ist das ›Werden und Wirken‹ der Lebewesen in ein dialektisches Verhältnis von Gleichbleibendem und Veränderlichem eingebettet. Da von diesem Prozess auch die gemeinsame Umwelt betroffen ist, wird die geschichtliche Dimension der Evolution der Organismen zu einem ökologischen Phänomen. Damit sind die Themen einer organismischen Prozessbiologie vorgezeichnet. Sie beinhaltet den irreversiblen Aspekt der Beziehung zwischen der Erfahrung und der Selbst- und Umweltgestaltung von Lebewesen in einem geschichtlichen Prozess, der auf der organismischen Kreativität beruht. Dieser Prozess führt in einer Vertiefung von Empfindungsfähigkeit zu einer Weiterentwicklung von Organismengesellschaften, in die die Evolution der Arten eingebettet ist. Selbstbezüglichkeit ist auch ein wesentliches Element der Evolutionstheorie. Die Tatsache, dass diese Theorie selbst ein Ergebnis der Evolution von Organismen ist, die sich der Weise ihres Werdens bewusst geworden sind, findet dadurch auch in dieser Theorie ihre Berücksichtigung.
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Vgl.: Falkner and Falkner 2018.
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2. Die Probleme bei einer Objektivierung organismischer Prozesse
2.1. Die Schwächen der molekularbiologischen Erklärungen organismischer Prozesse Die dominante Ausrichtung der biologischen Wissenschaften auf eine molekularbiologische Methodik hat dazu geführt, dass der Begriff des ›Lebens‹ im 20. Jahrhundert aus der Biologie eliminiert wurde. Der Molekularbiologe François Jacob hat diese Tatsache im Jahre 1970 folgendermaßen beschrieben: »Heutzutage untersucht man in den Laboratorien nicht mehr das Leben, man versucht nicht mehr seine Konturen zu erkennen … Die Biologie von heute interessiert sich für die Algorithmen der lebenden Welt« 1. 24 Jahre später präzisierte Henry Atlan diese Behauptung: »Das Forschungsziel der Biologie ist physikalisch-chemisch. Von dem Moment an, in dem man Biochemie und Biophysik betreibt und die physikalisch-chemischen Mechanismen als die Eigenschaften von Lebewesen begreift, verschwindet das Leben. Heute darf kein Molekularbiologe bei seiner Arbeit das Wort »Leben« in den Mund nehmen. Das erklärt sich aus der Geschichte: Er beschäftigt sich mit Chemie, wie sie in der Natur existiert, in gewissen physikalisch-chemischen Systemen mit gewissen Eigenschaften, Pflanzen oder Tiere genannt, das ist alles! Die Biochemie ist die Chemie der funktionellen Moleküle (Lipide, Proteine), die ihrer Interaktionen untereinander und mit Ionen, Salzen etc., und das Studium der Art und Weise, in der dieses Ensemble zu biologischen Funktionen beiträgt« 2 (Übersetzung R. A. F.). Bei einer Reduktion biologischer Prozesse auf physikalisch-chemische Abläufe wurde daher von allem abstrahiert, was Organismen als kreative Wesen von leblosen Dingen unterscheidet, wie Erfahrungen, Intentionen und Entscheidungsfindungen bei der Hervorbrin1 2
Jacob 1970, 321. Atlan 1994, 43, 44.
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Die Folgen einer Vernachlässigung des Lebendigen in der Molekularbiologie
gung einer in energetischer Hinsicht harmonisch geordneten Ganzheit. Dadurch geriet der Organismus als individuelles und energetisch sinnvoll agierendes Subjekt, das selbst seine Umwelt zu einem Objekt für eine kreative Umgestaltung macht, aus dem Blick. Stattdessen postulierte man – im Einklang mit dem mechanistischen Denkschema – dass der Verlauf biologischer Entwicklungen durch ein omnipotentes Genom gesteuert wird, dessen Wirkung durch »epigenetische« Faktoren nur mehr unwesentlich verändert wird. Eine Objektivierung von Lebewesen verursacht jedoch beim Verständnis vieler physiologischer Phänomene große Schwierigkeiten, auf die in den folgenden Kapiteln eingegangen wird. Davon ist besonders die Erklärung der Genese organismischer Erscheinungsformen betroffen, bei der im Verlauf der Interaktion eines Lebewesens mit seiner Umgebung sinnvoll angeordnete Strukturen entstehen. Schwierigkeiten verursacht die Objektivierung von Lebewesen auch bei einer Erklärung der Evolution der Arten auf der Basis der ›Synthetischen Theorie‹ (mit und ohne Erweiterung) und bei der Definition des Artbegriffs. Diese Problematik wird im Kapitel 7 behandelt.
2.2. Die Folgen einer Vernachlässigung des Lebendigen in der Molekularbiologie Der Versuch, biologische Entwicklungen auf Abläufe zu reduzieren, bei denen molekulare Strukturen durch äußere Einwirkungen verändert werden, hatte im 20. Jahrhundert weitreichende Folgen für das Verständnis des Lebendigen. Dies führte nämlich dazu, dass in der Physiologie hauptsächlich biochemische Reaktionen studiert und mit mechanistischen Modellen interpretiert wurden, obwohl inzwischen die begrenzte Gültigkeit der klassischen Physik erkannt worden war. Bei diesem Analyseverhalten ist jedoch nicht vorgesehen, dass die Entwicklung von organismischen Strukturen außer durch äußere Einflüsse auch durch innere Kräfte gestaltet wird, die für eine operative Präsenz des organismischen Ganzen in den Teilen und der Teile im Ganzen 3 verantwortlich sind. Diese inneren Kräfte leiten nicht nur die Individualentwicklung der Organismen, sondern auch die Höherentwicklung der Lebewesen in der Evolution der Arten.
3
Dewey 1925/2007, 247.
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Die Probleme bei einer Objektivierung organismischer Prozesse
Die Wirkung innerer Kräfte lässt sich aus dem Streben eines organismischen Systems nach stationären Zuständen erschließen, die einem bestimmten Formganzen entsprechen und in denen die jeweils vorhandene Energie optimal verwertet wird. In diesen Zuständen steht das organismische System in einem Fließgleichgewicht 4 mit den Energiequellen seiner Umgebung, zu denen bei diskontinuierlicher Nahrungs- und Energiezufuhr auch körperliche Speicher gehören. Bei jeder Änderung der Energiezufuhr, bei der das Fließgleichgewicht gestört wird, strebt der Organismus danach, die Energie- und Substratflüsse in den Zellen so zu verändern, dass eine optimale Energieversorgung zur Aufrechterhaltung einer bestimmten Erscheinungsform gewährleistet ist. Um dies zu erreichen, wirkt der Organismus auch auf die Energiequellen der Umgebung ein. In diesem kreativen Umbau eines organismischen Systems besteht daher zwischen physiologischen Teilprozessen eine innere Beziehung, deren Auswirkung sich auch auf die Umgebung des Lebewesens erstreckt. Die Natur dieser inneren Beziehung kann mit biochemischen und biophysikalischen Methoden, die sich auf eine Behandlung von Teilprozessen beschränkt, aus zwei Gründen nicht erkannt werden: zum einen, weil man mit diesen Methoden versuchen muss, die gegenseitige Beeinflussung von zwei Teilprozessen unter Bedingungen zu untersuchen, unter denen alle anderen Teilprozesse der Zelle konstant gehalten werden (ceteris paribus-Regel). Das ist aber experimentell nicht durchführbar, weil die meisten Stoffwechselprozesse in einer Zelle in metabolischen Kreisprozessen (siehe Unterkapitel 3.4.) untereinander verknüpft sind und sich gegenseitig so beeinflussen, dass man Ursachen von Wirkungen nicht unterscheiden kann. Zum anderen, weil bei dieser Untersuchungsstrategie die Organismen aus dem Kontext ihrer Gesamtwirklichkeit, zu der die Gestaltung der Umwelt gehört, herausgerissen werden. Der gerichtete Verlauf eines mit Milieuänderungen akkordierten Umbaus der eigenen Struktur, bei dem die Energie- und Substratflüsse ständig so aufeinander abgestimmt werden, dass eine energetisch optimale Funktion gewährleistet ist, ist daher kein Thema für eine physikalistische Biologie. Die dadurch verursachten Probleme bei einer Erklärung biologischer Prozesse lassen sich auch nicht von einem »nichtreduktionistischen« Supervenienzphysikalismus lösen, der davon ausgeht, dass ein Organismus nichts anderes ist als ein Ensemble von Materie4
Bertalanffy 1953.
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Die Folgen einer Vernachlässigung des Lebendigen in der Molekularbiologie
teilchen (für eine Kritik dieser metaphysischen Position, siehe Unterkapitel 2.6.). Ein Verständnis der teleologischen Natur biologischer Strukturveränderungen erfordert einen Prozessbegriff, der die Beziehung zwischen Erfahrung und Selbstgestaltung zum Inhalt hat. Unter Selbstgestaltung verstehen wir den oben erwähnten Prozess, bei dem ein Lebewesen nach einer Struktur strebt, mit der es seine Umgebung in eine Umwelt transformieren kann, in der es in energetischer Hinsicht optimal operiert. Bei dieser Gestaltung seiner Umwelt erfährt der Organismus sich selbst. Dieser Prozess wird von einer ›Erinnerung‹ an vorherige Umwelterfahrungen geleitet und ist in einer Eigenstrukturierung auf eine Zukunft ausgerichtet, in der er unter den neu geschaffenen Bedingungen seine Form verwirklichen kann. Die physiologische Natur dieser ›Erinnerung‹ wird im dritten Kapitel erklärt. Die Erinnerung leitet die endursächliche Abstimmung von Teilprozessen der Zellen auf ein vom Organismus intendiertes Ziel. Dies erlaubt, den subjektiven Aspekt der organismischen Erfahrung bei der Hervorbringung einer neuen, individuellen Gestalt zu behandeln. Die objektivierbaren Manifestationen von Lebewesen beinhalten transiente Strukturelemente, die im Stoffwechsel entstanden sind und die in einem Gefüge von Elementarprozessen so angeordnet werden, dass daraus die betreffende Gestalt hervorgeht. Eine physiologische Charakterisierung dieser Elementarprozesse wird in den Unterkapiteln 3.2. und 3.3. gegeben. Die Strukturelemente erlauben es dem Organismus, die jeweils vorhandenen Milieubedingungen in potentiell sinnvoller Weise zu gestalten. Wird dieses organismische Streben nach einem Beziehungsganzen zwischen einem Organismus und seiner Umwelt gestört, dann entsteht aus seiner Umwelt eine ihm fremde Umgebung, in der er sich mit Hilfe einer Erinnerung an frühere Umwelten nicht mehr orientieren kann. In diesem Fall erzeugt der Organismus neue Strukturelemente, mit denen er seine Umgebung wieder so beeinflussen kann, dass daraus eine neue Umwelt hervorgeht, in der er sich behaupten kann. Die Struktur eines Lebewesens unterliegt daher einem ständigen Wandel, bei dem die Form des Organismus immerzu erneuert wird. Der endursächliche Aspekt dieser biologischen Selbstorganisation äußert sich bei Einzellern und niederen Pflanzen darin, dass von Milieuänderungen alle Elementarprozesse der zellulären Struktur betroffen sind. Bei höheren Tieren findet eine physiologische Reaktion auf Milieuänderungen zunächst in Zellen des Nervensystems statt, die von 51 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Probleme bei einer Objektivierung organismischer Prozesse
der betreffenden Milieuänderung affiziert werden. Der dadurch bewirkte Umbau des Nervensystems beeinflusst aber in der Folge auch die anderen Zellen. Die erkenntnistheoretischen Implikationen der Ablehnung teleologischer Erklärungen durch die physikalistische Biologie und die daraus resultierenden Defizite rechtfertigen den Entwurf einer organismischen Prozessbiologie, der den zielgerichteten Aspekt der Anpassung an Milieuänderungen bei einer Erfahrung von Umweltänderungen berücksichtigt.
2.3. Das Fehlen der teleologischen Natur biologischer Prozesse in einer physikalistischen Biologie Die Existenz von zweckursächlich bestimmten Vorgängen wird im Rahmen einer mechanististischen Biologie gewöhnlich ignoriert, weil bei diesen Vorgängen ein noch nicht existierender Endzustand einen regulierenden Einfluss auf vorherige Prozesse ausübt. Dies widerspricht den wirkursächlichen Erklärungen der Physik und Chemie, bei denen die Ursache immer der Wirkung vorangeht. Diese Einschränkung verhindert das Verständnis dafür, wie eine Erfahrung von Milieuänderungen durch die Intentionen von Lebewesen geleitet wird und wie daraus zweckdienliche Verhaltensweisen resultieren. Davon sind besonders niedere Organismen betroffen, denen jede Erfahrungsfähigkeit abgesprochen wird. Ganz besonders wird von physikalistischen Biologen zurückgewiesen, dass auch bei diesen Lebewesen ein zweckmäßiges Verhalten durch Intentionen verursacht sein könnte, von denen auch die funktionale Beziehung der organismischen Teile einer lebendigen Ganzheit betroffen ist. Das wird damit begründet, dass Zwecksetzung bei intentionalen Handlungen an die sprachliche Kompetenz eines bewussten Lebewesens gebunden ist. Da niedere Organismen kein Bewusstsein haben, kann bei ihnen eine zweckmäßige Anordnung organismischer Strukturen nur ohne Zwecktätigkeit zustande gekommen sein. Die »innere Zweckmäßigkeit«, die Kant einem organisierten Naturwesen zuordnet, 5 muss daher aus der mechanistischen Wirkung einer ›natürlichen Selektion‹ in der Evolution der Arten resultieren (siehe Kapitel 7). Diese einseitige Meinung wird derzeit noch immer von vielen »Philosophen der Biologie« geteilt. So fragt z. B. Toepfer in einem Aufsatz über »Teleo5
Kant 1963, § 63–66.
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Das Fehlen der teleologischen Natur biologischer Prozesse
logie«, ob Teleologie in der Biologie nicht ein »gefährliches Erbe« einer aristotelischen Naturauffassung sei 6. Unter Vernachlässigung des organismischen Strebens nach effizienter Energieverwertung plädiert er dann dafür, dieses Erbe nicht anzutreten. In einer Fehlinterpretation des Kant’schen Mechanismusbegriffs lässt sich für Toepfer daher die Teleologie nur »als eine Methode denken, als eine Denkform, die einen Gegenstand gibt, der dann mittels kausaler Erklärungen erklärt werden kann« 7. Kant verwendet aber – wie Leibniz – ein metaphysisches Modell der Kraft, das sich nicht mechanistisch am Impuls aufeinander einwirkender Körper orientiert. Organismen repräsentieren für Kant nicht-räumliche Kraftmittelpunkte, die er als »physische Monaden« bezeichnet. Monaden sind durch ein »Kraftfeld« charakterisiert, das von einem organismischen Mittelpunkt ausgeht und eine »Sphäre der Aktivität« verbreitet, in der andere (organismische) Körper angezogen werden. Diese Anziehungskraft besitzt als »durchdringende Kraft« die Fähigkeit, andere Körper in das eigene Streben zu integrieren. In diesem zweck- und zielgerichteten Prozess entsteht eine innere Beziehung zwischen den integrierten Körpern. Damit wird das mechanistische Modell äußerer Berührung und Fremdheit überwunden (siehe Unterkapitel 2.2.). Die durchdringende Kraft macht das zunächst Fremde zum Eigentum des eigenen Körpers, von dessen Mittelpunkt sie wirkt. Mit diesem »Mechanismus« erklärt Kant die Bildung neuer Gestalten und das Vergehen der alten in Entwicklungsprozessen, bei denen sich aus dem Mittelpunkt der Kraftfelder, die selbst nicht räumlich sind, die räumliche Mannigfaltigkeit der körperlichen Erscheinungen entfaltet. Die Monade umgrenzt den Raum ihrer Anwesenheit nicht durch die Vielfalt ausgedehnter Teile, sondern als Umkreis einer Aktivität. Dabei werden äußere Körper entweder durch die durchdringende Kraft angezogen oder auf Grund ihrer Undurchdringlichkeit abgestoßen, was dem (organismischen) Körper eine gestaltende Grenze der Ausdehnung verleiht 8. Bei einer Beschränkung der Zwecktätigkeit auf bewusstes Handeln ist ein niederer Organismus nicht etwas fundamental Anderes als ein nicht-lebendes Ding, das keine Intentionen hat. Die metaphysische Begründung dieser ›Denkform‹ geht, wie schon oben erwähnt, 6 7 8
Krohs und Toepfer 2005. Ebd. 46. Kaulbach 1969, 57 ff.
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Die Probleme bei einer Objektivierung organismischer Prozesse
auf Descartes’ Methode der Erkenntnis der Wirklichkeit zurück. Ausgangspunkt der cartesianischen Erkenntnismethode ist seine Unterscheidung zwischen dem nicht-ausgedehnten und immateriellen Denken (res cogitans) und materiellen ›ausgedehnten Körpern‹ (res extensa): dabei wird das Denken nur von Denkgesetzen bestimmt, während die ausgedehnten Körper mechanischen Gesetzen gehorchen. Descartes war nun der Meinung, dass das Denken nur dem Menschen zukomme. Im Gegensatz dazu sind alle anderen Lebewesen nur ausgedehnte Körper, die sich mit den Methoden der Physik und Geometrie charakterisieren lassen. Diese Zuordnung ist letzten Endes für eine Verdinglichung niederer Lebewesen verantwortlich. Gemäß Descartes sind Empfindungen diejenigen Bewusstseinsinhalte, mit denen der Mensch Kenntnisse über seine Außenwelt gewinnt. Da niedere Lebewesen kein Bewusstsein haben, wird daraus geschlossen, dass sie auch keine Empfindungen haben, von denen die Bildung ihrer Strukturelemente betroffen ist. Aus diesem Grund sind die meisten Biologen der Meinung, dass die ›innere Zweckmäßigkeit‹ der Struktur niederer Organismen nur durch äußere Kräfte verursacht sein kann, wobei meist auf die natürliche Selektion rekurriert wird. Diese Ansicht darf mit Whitehead als ›Fallacy of simple location‹ 9 bezeichnet werden. Whitehead kritisiert die Schlussfolgerung dieses Trugschlusses: »Nature is a dull affair, soundless, scentless, colourless; merely the hurrying of material, endless, meaninglessly« 10. Wie bei diesem Begriff der Natur nur bei bewussten Lebewesen das Fühlen in Form von Riechen, Sehen, Hören und Schmecken aus biochemischen und biophysikalischen Vorgängen entsteht, bleibt rätselhaft. Es lässt sich auch nicht auf die Komplexität eines neuronalen Systems zurückführen, wenn man nicht erklären kann, wie aus einer Vielzahl verknüpfter Neuronen, bei denen mehr oder weniger die gleichen biochemischen Reaktionen stattfinden wie bei niederen Organismen, Empfindungen entstehen. Die Einschränkung der ›intentionalen Handlungsteleologie‹ auf Lebewesen mit einer Fähigkeit zu sprachlicher Begriffsbildung führt daher zu dem cartesianischen Postulat, dass zwischen neuronalen Prozessen höherer Organismen und physiologischen Prozessen niederer Lebewesen ein fundamentaler Unterschied bestehen muss. Damit wird die Möglichkeit ausgeschlossen, dass sich intentionales Verhalten bei höheren Lebewesen aus 9 10
Whitehead 1926, 64. Whitehead 1926, 69.
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Die Unangemessenheit des Anthropomorphismus-Vorwurfs
einem Streben nach zweckursächlich bestimmten Ausrichtungen von Strukturelementen bei niederen Organismen entwickelt haben könnte. Außerdem wird die Evolution der Arten von der menschlichen Geschichte abgetrennt, was eine physiologische Erklärung der kognitiven Leistungen höherer Organismen erschwert. Dies hat aber physikalistische Biologen bisher noch nicht abgehalten, prozessbiologische Überlegungen über mögliche Empfindungen bei niederen Organismen mit dem Vorwurf einer anthropomorphen Sichtweise abzulehnen.
2.4. Die Unangemessenheit des AnthropomorphismusVorwurfs Interpretiert man den adaptiven Response niederer Organismen auf Umweltänderungen, bei dem ihre Struktur umgebaut wird, als einen von Intentionen geleiteten Vorgang, dann wird dies von mechanistischen Biologen als eine anthropomorphe Deutung abgelehnt. Dabei wird freilich übersehen, dass jede Aussage über Organismen auf einer anthropomorphen Außenprojektion beruht. Schließlich kann jeder Mensch eine Unterscheidung zwischen einem lebendigen Tier und einem leblosen Ding nur deshalb vornehmen, weil er sich selbst als Lebewesen erfährt und anderen Lebewesen Eigenschaften zuschreibt, die Dinge nicht haben. Davon ausgehend stellt er dann intuitiv bei anderen Lebewesen eine nähere oder weitere Verwandtschaft mit sich selbst fest. Leben kann nur von Lebendigem wahrgenommen werden, sagte Robert Spaemann 11. Der Vorwurf des Anthropomorphismus ist daher inkonsequent; außerdem impliziert er, dass nur Menschen die Fähigkeit haben, aus einer Beziehung zu ihrer Umgebung eine von ihnen erfahrene Umwelt herzustellen 12. Für diese ideologische Position gibt es jedoch keine rationale Begründung. Darüber hinaus trifft der Vorwurf des Anthropomorphismus auch dann nicht zu, wenn man sich nicht auf spezifisch menschliche Vorstellungen über eine für den Menschen relevante Lebenswelt beschränkt, sondern vom Spaemann 1996, 193. Auch eine Spinne wirkt auf ihre Umgebung so ein, dass dabei in ihrer Umwelt ein Netz entsteht, mit dem sie die Erfahrung der erbeuteten Nahrung macht. Der Muschelkrebs Cytherissa lacustris gräbt Höhlen in das Sediment eines Sees, in die der benötigte Sauerstoff leichter diffundieren kann als in der amorphen Umgebung (Danielopol 1990).
11 12
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Die Probleme bei einer Objektivierung organismischer Prozesse
kleinsten gemeinsamen Nenner der Umwelterfahrungen aller Lebewesen ausgeht. Dieser kleinste Nenner besteht darin, dass alle Organismen externen Einflüssen ausgesetzt sind, wobei die Erfahrung dieser Einflüsse mit einem adaptiven Response auf diese Einflüsse einhergeht. Dabei werden nicht nur die organismischen Strukturen umgebaut, sondern auch die Umgebung verändert, von der diese Einflüsse herrühren. Für diese Interpretation wird allerdings ein verallgemeinerter Erfahrungsbegriff benötigt, von dem alles entfernt wird, was menschliches Bewusstsein voraussetzt; er muss jedoch so konzipiert werden, dass die kognitiven Leistungen höherer Organismen aus einer Weiterentwicklung der Erfahrungsfähigkeit einfacherer Organismen ableitbar sind. Auf diese Weise gibt man den externen Einflüssen auf Organismen mehr als eine physikalische Interpretation, die übrigens auch aus der Lebenswelt der Menschen entnommen wird, wie Aloys Wenzl festgestellt hat: »Trägheit, Impuls, Kraft, Arbeit, Energie, Wirkung sind lauter Begriffe, die, wenn sie ernst genommen werden, aus unserem Erleben geschöpft sind«. Daraus folgt, »dass wir im eigenen Erleben einen Sonderfall von Kraftwirkung gegeben haben, von dem aus wir durch Analogieschluss die Wirklichkeit zu verstehen trachten dürfen« 13. Eine mechanistische Interpretation der Interaktion niederer Lebewesen mit ihrer Umgebung ist daher ebenfalls eine anthropomorphe, allerdings eine, die tieferes Verständnis für das Wesen des Lebendigen vermissen lässt.
2.5. Die Probleme bei der Erstellung einer molekularen Theorie der Formbildung Wir haben in Unterkapitel 2.2. ausgeführt, dass die Fortdauer einer bestimmten Erscheinungsform die Anordnung der Strukturelemente überdauert, die diese Form hervorbringen. Wird eine derartige Anordnung bei einer Änderung der Umgebung gestört, dann wird sie durch eine neue ersetzt, die wieder eine sinnvolle Erscheinungsform hervorbringt. Dadurch kommt es zu einer unaufhörlichen Abfolge von Bildungen makromolekularer Strukturen, mit denen sich der Organismus einen bestimmten Ausdruck verleiht, der sich in der Vergangenheit in der Interaktion mit anderen Organismen bewährt hat. Ein physiologisches Modell des Auf- und Abbaus von Struktur13
zitiert nach: Mutschler 2002, 188.
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Die Probleme bei der Erstellung einer molekularen Theorie der Formbildung
elementen, das dem unaufhörlichen Werden der Erscheinungsformen gerecht wird, sollte daher das Zusammenspiel einer Vielheit von einander abhängiger Teilprozesse bei der Hervorbringung einer organismischen Formeinheit abbilden. Bei diesem Vorgang ist im Werden jedes einzelnen Strukturelements die Information über die gesamte Formeinheit in je unterschiedlich perspektivischer Weise präsent. Dies führt bei einer Modellbildung der Formbildung zu der widersprüchlichen Aufgabe, in den Eigenschaften einzelner Teilprozesse das Zusammenwirken aller anderen Teilprozesse bei der Genese eines organismischen Ganzen und die Wirkung des Ganzen auf diesen Prozess modellieren zu müssen. Diesen Widerspruch hat schon Hegel in seiner Dialektik des Lebendigen beschrieben: »Wer aber verlangt, dass nichts existiere, was in sich einen Widerspruch als Identität Entgegengesetzter trägt, der fordert zugleich, dass nichts Lebendiges existiere. Denn die Kraft des Lebens und noch mehr die Macht des Geistes besteht eben darin, den Widerspruch in sich zu setzen, zu ertragen und zu überwinden. Dieses Setzen und Auflösen des Widerspruchs von ideeller Einheit und realem Auseinander der Glieder macht den steten Prozess des Lebens aus, und das Leben ist nur als Prozess« 14 (kursive Hervorhebung: G. G. F.). Im Gegensatz dazu können molekulare Modelle der Morphogenese nur Aussagen über die räumliche Veränderung molekularer Komponenten machen, da sie auf den formalisierten Relationen der physikalischen Chemie beruhen. Dabei orientiert man sich an Ideen über die Veränderung der Struktur nicht-lebender Dinge. Dies ist auch bedingt durch die Tatsache, dass die Molekularbiologie nicht imstande war, eine Theorie des Lebendigen zu entwickeln. Die Veränderung der Form von Organismen kann aber deshalb nicht mit den Veränderungen von Materiekonfigurationen erklärt werden, weil die molekularen Strukturen eines Lebewesens in einem Prozess der Gestalterzeugung, Gestalterhaltung und Gestaltwandlung selbst unablässig auf- und wieder abgebaut werden. Die dabei auftretenden molekularen Abläufe zum Zweck der Gestaltung einer bestimmten Erscheinungsform lassen sich nicht objektivieren, weil die Bezugssysteme für eine Objektivierung ebenfalls im Fluss sind und der Umbau der Strukturen von experimentellen Untersuchungen beeinflusst wird (siehe Unterkapitel 3.1.).
14
Hegel 1970b, 162.
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Die Probleme bei einer Objektivierung organismischer Prozesse
Für eine prozessbiologische Physiologie stellt sich die Aufgabe, ein ›ideelles Regulativ‹ zu finden, das als geistige Dimension des Lebendigen die Entstehung jedes einzelnen Konstituenten einer bestimmten Erscheinungsform leitet. Ein derartiges ›ideelles Regulativ‹ wird von traditionellen Modellen der Formbildung auf molekularer Basis nicht berücksichtigt, weil man sich am molekularen Aufbau von nicht-lebenden Dingen orientiert, deren Beständigkeit durch die ortsfeste Anordnung ihrer Komponenten verursacht wird. Sie verändern sich daher nicht durch innere Kräfte, sondern nur, wenn die Aggregation ihrer Komponenten durch einen äußeren Einfluss oder durch einen entropiegetriebenen Zerfall modifiziert wird. Organismen hingegen gewinnen ihre Stabilität dadurch, dass sie bei Milieuänderungen, die sich negativ auf ihre Formeinheit auswirken, selbst danach trachten, sowohl ihre Strukturelemente als auch ihre Umgebung so zu modifizieren, dass diese Einheit wieder hergestellt wird. Zu diesem Zweck werden neue stationäre Zustände angestrebt, in denen der Gehalt der niedermolekularen Zwischenprodukte des Stoffwechsels und die daraus erzeugten hochmolekularen und ortsfesten Strukturelemente einer bestimmten Erscheinungsform entsprechen. In diesem Prozess gewinnt ein Organismus seine Freiheit, eine bestimmte Erscheinungsform in einem Zusammenspiel von verschiedenen Strukturelementen in distinkter Weise zu verwirklichen. Die Idee, dass alle Teile und Organe in einer Wechselbeziehung zueinander stehen, hat schon Georges Cuvier in seinem berühmten Korrelationsgesetz ausgedrückt. Er sah Organismen als integrierte Einheiten, in denen die Gestalt und Funktion jedes Teils des Körpers aufeinander abgestimmt sind. Wenn ein Tier ein Organ auf eine ganz bestimmte Weise ausgebildet hat, dann kann man nach dem Korrelationsgesetz auch auf die Ausbildung seiner anderen Organe schließen. 15 Das oben erwähne ›ideelle Regulativ‹ als notwendige Voraussetzung für Formbildung lässt sich besonders gut beim Wachstum eines einzelligen Organismus veranschaulichen, wobei häufig eine bestimmte Erscheinungsform, sei es die einer Kugel, eines Stäbchens oder einer Spindel etc. aufrechterhalten wird. In diesem Fall geht die Zunahme des Zellvolumens mit einem ständig stattfindenden Umbau aller molekularen Strukturen einher, wobei alle biochemischen Teilprozesse permanent von neuem auf die Vergrößerung der betreffen15
Wendt 1953, 156.
58 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Probleme bei der Erstellung einer molekularen Theorie der Formbildung
den Form hin abgestimmt werden. Davon sind nicht nur die Ausdehnung der Zellwand (bei Bakterien und Pflanzen) und der Zellmembran, sondern auch makromolekulare Strukturen im Zellinneren betroffen. Gleichzeitig wird unablässig die strukturelle Grundlage der vorher entstandenen Erscheinungsform des Organismus abgebaut. Ein derartiger Vorgang ist ein Beispiel für ein durch Zweckursachen geleitetes Geschehen, bei dem ein noch nicht existierender Endzustand (i. e. die vergrößerte Zelle) eine regulierende Funktion ausübt. Auch hier sorgt die innere Beziehung zwischen Teilprozessen als ›ideelles Regulativ‹ dafür, dass die angestrebte Form in jeder Wachstumsphase tatsächlich erreicht wird, wobei die Information über die Struktur der kleineren Zelle auf die Gestaltung der größeren übertragen wird. Nun beruhen, wie oben ausgeführt, physikalisch-chemische Modelle auf einem Substanzbegriff, der nur äußere Beziehungen zwischen organismischen Komponenten zulässt. Daher ist dieser zielgerichtete Vorgang nicht auf molekularer Basis erklärbar. Wenn es aber nicht einmal möglich ist, eine molekulare Theorie der Aufrechterhaltung einer artspezifischen Erscheinungsform zu erstellen, dann lässt sich auch nicht die Höherentwicklung der Formen in der Evolution der Arten mit molekularen Modellen erklären. Daher greifen alle molekularen Erklärungen einer Evolution der Formenvielfalt von Lebewesen – wie sie auch vom Neo-Darwinismus angestrebt wurden – zu kurz. Aus diesen Gründen waren die bisher gelieferten molekularen Erklärungen der Formbildung unbefriedigend. Sie beruhen im Wesentlichen auf dem Postulat, dass die Morphogenese durch stoffliche Konzentrationsgradienten, verursacht durch ein morphogenes Feld, gesteuert wird. Nun resultieren nach dieser Hypothese die morphogenen Felder aus Zellkonstituenten, die als morphogene Faktoren wirken und deren Lokalisierung selbst wieder von den Feldern gesteuert wird. Daher gehen diese Erklärungen über eine zirkuläre Beschreibung der an der Morphogenese potentiell beteiligten Abläufe nicht hinaus. Außerdem bleibt unklar, was diese Felder verursacht und wie sie auf biochemische Abläufe einwirken können. Darüber hinaus lassen sich die damit beabsichtigten Erklärungen nicht experimentell überprüfen, weil der Einfluss der einzelnen Faktoren auf die Formbildung nicht isoliert mit einer Versuchsanordnung studiert werden kann, bei der die übrigen Faktoren konstant gehalten werden. Auch eine Übereinstimmung der mit Differentialgleichungen simulierten Musterbildung durch morphogene Substanzen, Polarisierun59 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Probleme bei einer Objektivierung organismischer Prozesse
gen etc. mit den von den Biologen beobachteten Mustern kann nicht als Beweis für diese Hypothese angesehen werden, da die Musterbildung mit unterschiedlichsten Modellen simuliert werden kann. Außerdem darf nicht übersehen werden, dass diese Modelle Randbedingungen voraussetzen, deren Erzeugung durch Organismen von den Modellen nicht abgebildet wird. Das größte Problem für ein molekulares Modell der Morphogenese besteht darin, dass die formalisierten physikalisch-chemischen Relationen nicht angeben können, wie die von einem stationären Zustand des Stoffwechsels hervorgebrachte Erscheinungsform von anderen Organismen in je spezifischer Weise erfahren wird. Könnten Menschen die elektromagnetischen Felder der Pflanzen wahrnehmen, dann hätten diese Organismen für die Menschen ein ganz anderes Aussehen. Bei der Konstruktion eines molekularen Modells der Formbildung ist man daher gezwungen, von einer vom Beobachter vorgenommenen Unterscheidung zwischen der Erscheinungsform des Organismus und seiner davon unterschiedenen Umgebung auszugehen. Dadurch wird ein molekulares Modell der Formbildung mit der sinnlichen Wahrnehmung dieser Form durch andere Organismen aufgeladen und schon in die Voraussetzungen für das Modell implantiert, was das Modell eigentlich erst ergeben sollte. Dieses Problem wird natürlich dadurch verursacht, dass die Gesetzmäßigkeiten der physikalischen Chemie es nicht erlauben, die molekularen Komponenten eines Organismus und die seiner Umgebung in zwei Gruppen zu unterteilen, von denen die eine Gruppe zum Organismus und die andere zu dessen Umgebung gehört. Dies würde nämlich erfordern, dass chemische Verbindungen in einem Lebewesen von einer anderen Natur sind als die Verbindungen außerhalb der Lebewesen. Aus diesem Grund führt ein rein molekularer Ansatz auch zu Schwierigkeiten beim Studium der Interaktion von Organismen mit ihrer Umgebung. Wenn es aber nicht gelingt, Organismen auf molekularer Basis von ihrer Umgebung abzugrenzen, kann man auch nicht erklären, wie sich eine Gruppe von Molekülen als Organismus von einer anderen als dessen Umwelt so unterscheidet, dass daraus eine artspezifische Erscheinungsform resultiert.
60 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die positivistische Erklärung der Funktion biologischer Strukturen
2.6. Die positivistische Erklärung der Funktion biologischer Strukturen auf der Grundlage einer physikalistischen Biologie Die hier präsentierte Analyse organismischer Prozesse unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von den funktionalen Erklärungen verschiedener positivistischer Denkrichtungen. Der Positivismus orientiert sich an empirisch gegebenen Fakten, bei denen Abstraktionen der Physik mit der wirklichen Welt gleichgesetzt werden. In einer Anwendung auf die Biologie wird zunächst die organismische Einheit in einzelne Funktionsträger (z. B. Körpergröße, Farbe etc.) zerlegt, von denen man annimmt, dass sie als ›Merkmale‹ des betreffenden Lebewesens in einem bestimmten Kontext eine oder mehrere Rollen spielen. Davon ausgehend wird der Beitrag eines Funktionsträgers entweder bei der Aufrechterhaltung eines lebenden Systems (in der dispositionalen Deutung) oder bei der Entstehung dieses Systems (in der ätiologischen Deutung) untersucht. Die dispositionale Deutung, die sich auf eine mechanistische Erklärung beschränkt, geht auf Ernest Nagel zurück, die ätiologische Deutung stammt von Carl Gustav Hempel 16. Die letztere ist aber nur scheinbar teleologisch, weil sie bei einer kausalen Erklärung der Entstehung eines Merkmals auf die natürliche Selektion in der Evolution der Arten zurückgreift 17. Eine Ergänzung dieser Ansätze berücksichtigt noch eine mechanistische Rückwirkung eines Funktionsträgers auf die Erhaltung eines lebenden Systems, wobei der Mechanismus der Rückwirkung von der natürlichen Auslese herrühren soll. Diese Vorstellung wurde von Peter McLaughlin kritisiert. Dabei bezog er sich auf die Idee der Selbstreproduktion, behandelte aber nur die Entwicklung von Locke bis Kant und ignorierte damit die wichtigen Beiträge zu diesem fundamentalen Phänomen des Lebendigen im 20. Jahrhundert. Dies erklärt seine Behauptung: »There is no reason in principle why we should not be able to manufacture self-reproducing systems« 18. Allerdings ist schwer zu verstehen, wie ein System, das sich selbst kreativ hervorgebracht hat, von jemand anderem produziert worden
Eine umfassende Information über funktionale Erklärungen dieser beiden Deutungen findet sich mit den entsprechenden Literaturangaben bei Peter McLaughlin: What Functions Explain. Functional Explanations of Selfreproducing Systems. 2001. 17 McLaughlin 2001, 80. 18 McLaughlin 2001, 185. 16
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Die Probleme bei einer Objektivierung organismischer Prozesse
sein soll. Entweder hat es sich selbst erzeugt, dann ist es nicht von jemand anderem erzeugt worden, oder es ist erzeugt worden, dann hat es sich nicht selbst erzeugt. Einmal abgesehen davon, dass die Selbsterzeugung auf kreativen Empfindungen beruht und man nicht sagen kann, mit welchen Eigenschaften man ein ›handgemachtes‹ Gerät ausstatten muss, damit es Empfindungen hervorbringen kann, scheint McLaughlin zu vergessen, dass für die Produktion eines sich selbst reproduzierenden Systems zunächst ein Modell der kreativen Selbsterzeugung erstellt werden muss. Der Versuch einer Formalisierung von Kreativität führt jedoch zu einer »Selbstgödelisierung« 19. Eine Objektivierung der Kreativität kann nämlich nur ein kreativer Organismus vornehmen, dessen Tätigkeit aber im Erstentwurf seiner Objektivierung nicht enthalten ist. Wenn nun dieser Organismus seine Modellierung dahingehend erweitert, dass er die Objektivierung seiner neuerlichen Objektivierung von Kreativität mit einbezieht, dann hat der objektivierende Organismus, der die Objektivierung einer Objektivierung modelliert, sich wieder nicht berücksichtigt, usw. Das objektivierende Subjekt kann von einer Objektivierung nie eingeholt werden und ein Modell der kreativen Selbsterzeugung ist daher entweder niemals vollständig oder enthält immer einen Widerspruch. Möglicherweise ist McLaughlin hier ein Opfer der englischen Sprache, die keinen Unterschied zwischen dem ›physischen‹ und dem ›physikalischen‹ macht. Dies dürfte zur Ansicht verleiten, dass jede körperliche Funktion und daher auch die Tätigkeit eines kreativen organismischen Körpers physikalisch erklärbar sein muss. Die prozessbiologischen und physikalistischen Erklärungen der Funktion organismischer Strukturen unterscheiden sich in den Ideen über die Letztelemente organismischer Systeme. In der Prozessbiologie sind diese Elemente Prozesseinheiten, bei denen eine subjektive in eine objektivierbare Manifestation übergeht, im Physikalismus sind es materielle Teilchen, deren Eigenschaften von den Gesetzen der Physik bestimmt werden. Dies offenbart sich besonders im Postulat des ›nichtreduktiven Physikalismus‹, für den alle biologischen Phänomene »auf dem Physikalischen supervenieren« 20. Zwar wird auch hier akzeptiert, dass sich ›supervenierende‹ Eigenschaften des Lebendigen nicht auf die ihnen zugrundeliegenden subvenienten physikalischen Abläufe zurückführen lassen. Trotzdem wird an der 19 20
Koutroufinis 1996, 126. Norwig 2016, 156.
62 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die positivistische Erklärung der Funktion biologischer Strukturen
These festgehalten, dass alles physikalisch sei: »Die umstrittene monistische Redeweise, dass biologische Merkmale in Wirklichkeit physikalische sind (im Sinne von Identität), wird so zu der These revidiert, dass physikalische Merkmale für biologische Eigenschaften konstitutiv sind« 21. Diese Annahme ist für den ›common sense‹ ebenso plausibel wie die Behauptung, dass beispielsweise die von einem Nicht-Farbenblinden wahrgenommene Harmonie der Farben der Bilder von Raffael auf schwarzen Flecken ›superveniert‹, weil alle scheinbar farbigen Gemälde dieses Malers in Wirklichkeit aus schwarzer Tusche auf weißem Untergrund bestehen. Ganz offensichtlich wird in der Auffassung von Supervenienzphysikalisten nicht berücksichtigt, dass Empfindungen, zweckmäßiges Verhalten oder Geschichtlichkeit die intentionalen Absichten eines kreativen Subjekts voraussetzen und daher nicht auf physikalischen Abläufen beruhen können, in denen Subjekte nicht enthalten sind. Wenn physikalische Abläufe einen Artikel über physikalische Abläufe produzieren könnten, an dessen Ende der Satz steht: »Aristoteles könnte – zumindest nach heutigem Verständnis – ein früher nichtreduktionistischer Supervenienzphysikalist gewesen sein« 22, dann ermöglichte dies Forschungsvorhaben von noch nie dagewesener Brisanz. Auf diese Möglichkeit hat schon Whitehead hingewiesen, als er schrieb: »Ich finde, Wissenschaftler, deren Lebenszweck in dem Nachweis besteht, dass sie zwecklose Wesen sind, sind ein hochinteressanter Untersuchungsgegenstand« 23. Allerdings ist der Supervenienzphysikalismus insofern in sich kohärent, als eine bloße Abfolge von physikalischen Abläufen nicht darüber entscheiden kann, ob das Ergebnis dieser Abläufe sinnvoll oder unsinnig ist.
21 22 23
Norwig 2016, 157. Norwig 2016, 177. Whitehead 1929/1974, 16.
63 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
3. Die Selbstkonstitution von Mikroorganismen: Das Zellgedächtnis und seine energetische Grundlage
Das nachstehende Unterkapitel 3.1. enthält eine experimentelle Begründung für die These, dass die Neubildung von Strukturelementen und deren Anordnung im Verlauf der Entwicklung von Zellen von einer Erinnerung an vorherige Anordnungen ihrer Strukturelemente geleitet wird. Die Erinnerung ist aber mehr als eine bloße Übermittlung von Daten über frühere molekulare Konfigurationen. Sie nimmt bei einer Änderung der Umwelt des Organismus eine Interpretation dieser Konfigurationen vor, die es ihm ermöglicht, neue Strukturelemente aufzubauen, die für seine weitere Entwicklung potentiell sinnvoll sind. Dadurch wird das Zellgedächtnis zu einem entscheidenden Faktor in der Selbstgestaltung eines Lebewesens. Der experimentelle Beweis für diese These wird mit einfachen Bakterienzellen geliefert, bei denen wir zeigen, dass die Anordnung ihrer Konstituenten auf einer ›antizipatorischen Erinnerung‹ an tradierte Verhaltensweisen beruht und daher nicht von Mechanismen determiniert wird. Dabei ordnen diese Organismen bei negativen Einflüssen ihres Milieus vorhandene oder neu erzeugte Strukturelemente so an, dass sie mit deren Hilfe ihre Umgebung zu einer für sie sinnvollen Umwelt umgestalten können 1.
3.1. Experimentelle Untersuchung von Selbstkonstitutionsvorgängen bei einer mikrobiellen Population Für ein besseres Verständnis der hier vorgestellten Experimente über Gedächtnisphänomene bei Zellen wird zunächst die traditionelle VorEine detaillierte Begründung der im Kapitel 3 dargestellten Experimente und Schlussfolgerungen durch Kategorien der organismischen Philosophie von Alfred North Whitehead enthalten: Falkner und Falkner 2011a, 167–189, und Falkner and Falkner 2014, 75–89.
1
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Experimentelle Untersuchung von Selbstkonstitutionsvorgängen
gangsweise beschrieben, bei der die ›reproduzierbaren‹ Eigenschaften von Zellen unter ›kontrollierten Bedingungen‹ studiert werden. Um dies zu erreichen, muss der Experimentator dafür sorgen, dass sich die Zellen unter den gewählten Versuchsbedingungen immer in gleicher Weise verhalten. Der dabei beobachtete Ablauf kann dann für ein molekulares Modell auf der Basis von zeitinvarianten Parametern verwendet werden. Mit anderen Worten, das experimentelle Protokoll wird so gewählt, dass keine kreative Veränderung der Zellen während der Untersuchung stattfinden kann. Nicht reproduzierbare Ergebnisse, die bei Arbeiten mit lebenden Systemen häufig auftreten, werden verworfen. Dadurch wird naturgemäß der geschichtliche Aspekt von biologischen Prozessen ausgeschaltet und das Zellgedächtnis kann seine Wirkung nicht entfalten. Derartige experimentelle Bedingungen kann ein kreatives Lebewesen nur als ausweglose Gegebenheit erfahren. In dieser Situation ist das Lebewesen nämlich nicht in der Lage, neue, zelluläre Strukturen aufzubauen, die eine potentiell sinnvolle Veränderung der experimentellen Bedingungen für seine Weiterentwicklung erlauben. Dies ist jedoch die Voraussetzung dafür, dass die Kreativität des Organismus aus einem Zusammenspiel von zwei unterschiedlichen Wirklichkeitsstufen erschlossen werden kann, die seiner Innen- und Außenseite entsprechen. Da aber die gegenwärtige objektorientierte Physiologie sich mit Verdinglichungen von Lebewesen begnügt, bleibt ihr eine ontologische Differenz zwischen diesen beiden Wirklichkeitsstufen verborgen. Ganz anders ist die Situation, wenn Versuchsbedingungen gewählt werden, bei denen die experimentelle Untersuchung zu kreativen Umgestaltungen einer Zelle führt. In diesem Fall kommt es zu antizipatorischen Entscheidungsfindungen in Hinblick auf eine potentiell sinnvolle Neugestaltung von Strukturelementen, bei der sich die Zellen an vorher erfahrene Änderungen ihrer Umgebung erinnern. Im adaptiven Response auf jeden neuen äußeren Einfluss entstehen im Verlauf der Untersuchung ständig neue Eigenschaften, sodass dieser Vorgang nicht mit zeitinvarianten Parametern eines molekularen Ablaufs charakterisiert werden kann. Dies spiegelt die geschichtliche Dimension kreativer Phänomene wider. Beim Studium von kreativen Umgestaltungen kann daher ein Organismus nicht in einer Außenbetrachtung mit physiologischen Experimenten verdinglicht werden, sondern er wird zum Partner einer Kommunikation zwischen dem Biologen und dem von ihm studierten Lebewesen. Dies
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Die Selbstkonstitution von Mikroorganismen
lässt sich besonders gut bei der Anpassung von Mikroorganismen an Änderungen der Nährstoffzufuhr veranschaulichen. Bei Mikroorganismen setzt eine Änderung der wachstumsbestimmenden Konzentration von nur einem essentiellen Nährstoff im externen Medium eine ganze Kaskade von Anpassungsprozessen in Gang: In einem ersten Schritt wird das Aufnahmesystem für diesen Nährstoff so verändert, dass es unter den neuen Bedingungen wirksam operiert. In einem zweiten Schritt akkordiert die Zelle ihre Energiekonversion mit den veränderten Eigenschaften des Aufnahmesystems, was ihr eine neue Struktur und meist auch neue Wachstumseigenschaften verleiht, von denen wieder das externe Milieu betroffen ist. Bei diesem Vorgang werden in einer Abfolge von Anpassungen an Änderungen der Versuchsbedingungen bei jeder nachfolgenden Anpassung die Ergebnisse der vorherigen Anpassungen übernommen. Ein für Untersuchungen dieser Erinnerungsphänomene geeignetes System wurde in der aquatischen Ökologie gefunden. Dabei handelt es sich um die Anpassung des Phosphataufnahmesystems von Cyanobakterien (Blaualgen) an Änderungen der Zufuhr des Nährstoffs Phosphat, der für das Wachstum von Bakterien essentiell ist. In sauberen, nährstoffarmen Seen sinkt die im Wasser vorhandene Phosphatkonzentration meist auf so geringe Werte, dass eine Aufnahme dieses Nährstoffs aus energetischen Gründen zum Erliegen kommt. Unter diesen Bedingungen überleben die Mikroorganismen nur deshalb, weil die Phosphatkonzentration im Wasser (nach Exkretion von Faeces durch Zooplankton, Fische, etc.) gelegentlich über einen Schwellenwert 2 ansteigt, über dem eine Inkorporation möglich ist. Das Phosphat wird dann rasch von den Zellen mit Hilfe eines aktivierten Aufnahmesystems inkorporiert und in Form von Polyphosphatgranula gespeichert, die bei Bedarf das für das Wachstum benötigte Phosphat liefern. Auf Grund der Aufnahmeaktivität der gesamten Population sinkt die externe Phosphatkonzentration nach einer kurzzeitigen Phosphatzufuhr mehr oder weniger rasch wieder auf den Schwellenwert ab, sodass gelegentliche Erhöhungen der externen Phosphatkonzentration von längeren Perioden ohne Phosphatzufuhr unterbrochen werden. In diesem Szenario werden daher Unter dem Schwellenwert reicht die Energie, die dem Phosphataufnahmesystem zur Verfügung steht, nicht mehr für eine Aufnahme gegen den vorhandenen Konzentrationsgradienten an der Zellmembran aus.
2
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Experimentelle Untersuchung von Selbstkonstitutionsvorgängen
Fluktuationen der externen Phosphatkonzentration von den Zellen als Pulse erfahren 3. Die während einer kurzzeitigen Konzentrationserhöhung inkorporierte Phosphatmenge muss gut reguliert werden: Werden die Polyphosphatgranula zu groß, dann kann dies zelluläre Strukturen zerstören; wenn sie zu klein bleiben, wird der kontinuierliche Wachstumsprozess unterbrochen. Da die Mikroorganismen so viel Phosphat speichern müssen, wie sie für eine bestimmte Wachstumsrate benötigen, die ihrerseits von der Menge an gespeichertem Phosphat abhängt, ist die Beziehung zwischen der Wachstumsgeschwindigkeit und der Phosphataufnahme komplex. Eine direkte Wirkung der Polyphosphatgranula auf das Phosphattransportsystem in der Zellmembran ist nicht möglich, weil diese im Inneren der Zelle lokalisiert und osmotisch inaktiv sind. Um daher die Wachstumsrate und die Phosphataufnahme während der Pulse auf eine sinnvolle Größe der Polyphosphatgranula abzustimmen, müssen sich die Bakterien daran ›erinnern‹ können, wie oft sie in der vorangegangenen Wachstumsperiode einer erhöhten Phosphatkonzentration ausgesetzt waren. Dies ermöglicht den Zellen, Muster in den Fluktuationen der externen Phosphatkonzentration zu erkennen. Nach dem oben Ausgeführten besteht eine ›Erinnerung‹ an vergangene Pulsmuster darin, dass in einer Abfolge von Pulsen die nachfolgenden Anpassungen in distinkter Weise von den vorangegangenen Anpassungen beeinflusst werden. Dies geschieht dann so, dass die bei jedem Puls gebildete Polyphosphatmenge nicht zu groß wird, aber ausreichend groß für ein kontinuierliches Wachstum der Zellen bleibt. Mit dieser Strategie wird eine Konkurrenz um den vorhandenen Nährstoff innerhalb einer Art und zwischen den Arten vermieden 4, 5. Das Aufnahmeverhalten lässt sich analysieren, indem man nach Zugabe des Phosphates zur untersuchten Population zu verschiedenen Zeiten aus dem Versuchsmedium Proben entnimmt, um die Verringerung der externen Phosphatkonzentration verfolgen zu können. Dann wird in einer graphischen Darstellung die externe Konzentration gegen die Zeit aufgetragen. Je rascher die externe Konzentration nach Zugabe wieder auf den Schwellenwert absinkt, desto steiler ist Falkner et al., 1995. Aubriot et al., 2011. 5 Eine Zusammenfassung des komplexen Phosphataufnahmeverhaltens findet man in: Falkner 2011. 3 4
67 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Selbstkonstitution von Mikroorganismen
der Kurvenverlauf und umso effizienter operiert das Aufnahmesystem. Kommt es in einer Abfolge von Phosphatzugaben zu adaptiven Veränderungen des Aufnahmesystems, dann ändert sich die Geschwindigkeit, mit der das externe Phosphat von der Population bei den einzelnen Pulsen aus dem Versuchsmedium entfernt wird. Auf diese Weise offenbart eine Abfolge von Pulsen, ob die Anpassung an nachfolgende Phosphatzugaben von der vorherigen Phosphatzugabe beeinflusst wird und ob die Zellen sich bei nachfolgenden Anpassungen an vorherige Anpassungen ›erinnern‹ 6. Im Folgenden zeigen wir zwei Experimente mit der Blaualge Anabaena variabilis. Im ersten wurde die Versuchsanordnung so gewählt, dass in einer Abfolge von Pulsen keine Erinnerungsphänomene zu beobachten sind (Abb. 1). Im zweiten Experiment kann man erkennen, auf welche Weise sich Bakterien in nachfolgenden Pulsen an die Anpassung in vorherigen Pulsen erinnern (Abb. 2).
Abb. 1: Zeitlicher Verlauf der Abnahme der externen Phosphatkonzentration [Pe] im Versuchsmedium unter Bedingungen, unter denen praktisch keine Anpassung im Cyanobakterium Anabaena variabilis auftritt (für eine Beschreibung der experimentellen Details der Abb. 1, 2, 3 und 5 siehe Falkner et al., 2006).
In dem in Abb. 1 dargestellten experimentellen Ergebnis trat deshalb keine Anpassung an Änderungen der externen Konzentration auf, 6
Falkner 2006.
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Experimentelle Untersuchung von Selbstkonstitutionsvorgängen
weil die zugesetzten Konzentrationen zu gering waren. Hier zeigten die Bakterien ein reproduzierbares Aufnahmeverhalten, bei dem keine Erinnerung an erfahrene Phosphatpulse zu beobachten war. In diesem Fall sank die externe Konzentration zumindest nach den ersten beiden Phosphatzugaben (einer Menge von 0.25 µMol Phosphat 7 pro Liter) praktisch mit gleicher Geschwindigkeit auf den Schwellenwert ab. Auch im dritten Puls nahm die Population diese Phosphatmenge mit gleicher Rate auf, allerdings kam es dabei zu einer geringfügigen Erhöhung des Schwellenwerts, was auf eine energetische Kontrolle dieses Vorgangs hinweist. In einer objektorientierten Physiologie würde man dies so interpretieren, dass der Schwellenwert statistischen Schwankungen unterliegt, die innerhalb eines reproduzierbaren Verhaltens auftreten. Dann würde man aus den mehr oder weniger identischen Kurven mit statistischen Methoden reproduzierbare Parameter ermitteln, die den objektiv gegebenen Eigenschaften des Aufnahmesystems zugeordnet würden. Damit ließe sich schließlich ein mechanistisches Modell des Aufnahmeverhaltens konstruieren.
Abb. 2: Zeitlicher Verlauf der Abnahme der externen Phosphatkonzentration [Pe] im Versuchsmedium unter Bedingungen, unter denen Anpassungen im Cyanobakterium Anabaena variabilis auftreten.
7
Ein µMol Phosphat enthält 31 µGramm Phosphor.
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Die Selbstkonstitution von Mikroorganismen
Ein völlig anderes Ergebnis wird jedoch erhalten, wenn sich die Zellen im Verlauf der Untersuchung an die experimentellen Bedingungen anpassen. Dies ereignete sich schon, wenn in einer ähnlichen Versuchsanordnung wie oben die zwanzigfache Phosphatmenge (5 µMol Phosphat pro Liter) einer zwanzigfachen Algenmenge im Inkubationsgefäß zugesetzt wurde. Obwohl die Zellen unter diesen Bedingungen bei den einzelnen Pulsen in ihrer Gesamtheit die gleiche Phosphatmenge inkorporiert hatten wie im vorigen Versuch, war das Aufnahmeverhalten völlig verschieden (Abb. 2). Man sieht, dass das Aufnahmesystem in jedem dieser drei Pulse – in einem Response auf die Inkorporation der gleichen Phosphatmenge – völlig neue Eigenschaften entwickelte, die dazu führten, dass die externe Konzentration im nachfolgenden Puls mit einer geringeren Geschwindigkeit auf den Schwellenwert absank als im vorangegangenen Puls. Ganz offensichtlich entstand im Verlauf jedes Pulses in einem adaptiven Operationsmodus ein neuer adaptierter Zustand, dessen Eigenschaft im nachfolgenden Puls zunächst eine veränderte Aufnahmegeschwindigkeit des Phosphats zur Folge hatte. Die adaptiven Operationsmodi und die daraus resultierenden adaptierten Zustände repräsentieren somit adaptive Ereignisse, deren Abfolge die Gedächtnisleistung der Zellen widerspiegelt 8. In einem energetischen Ereigniszusammenhang übernimmt jedes nachfolgende adaptive Ereignis die Ergebnisse seiner Vorläufer und vererbt diese an nachfolgende adaptive Ereignisse. Zwischen den adaptiven Operationsmodi und den adaptierten Zuständen besteht eine ontologische Differenz, die das Verhältnis des Organismus als kreativen Produzenten zu seinen Produkten widerspiegelt. Auf den hier beschriebenen distinkten Verknüpfungen adaptiver Ereignisse, die wegen der oben angeführten Gründe von einer objektorientierten Physiologie nicht untersucht wurden, basiert die Fähigkeit einer Population, Muster in den Fluktuationen eines für sie relevanten Einflusses in einem einheitlichen Erfahrungsakt zu integrieren, der sich in distinkter Weise auf nachfolgende Anpassungsakte auswirkt. Diese Fähigkeit zeigt sich, wenn man aus ein und derselben Algenpopulation entnommene Vergleichsproben zunächst unterschiedlichen Mustern von Phosphatpulsen aussetzt, bei denen die Algen der beiden Vergleichsproben die gleiche Phosphatmenge inkorporieren. Vergleicht man nach dieser Vorbehandlung das Auf8
Falkner et al., 2006.
70 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Experimentelle Untersuchung von Selbstkonstitutionsvorgängen
nahmeverhalten der beiden Algenproben bei einem nachfolgenden, identischen Phosphatpuls, dann wird der distinkte Einfluss unterschiedlicher früherer Expositionen auf die Anpassung bei diesem nachfolgenden Puls sichtbar. Das folgende Beispiel zeigt eine experimentelle Untersuchung einer derartigen Mustererkennung. Hier wurde die Phosphataufnahme in zwei identischen Populationen verfolgt, die die gleiche Phosphatmenge erhielten, allerdings verteilt auf mehrere unterschiedlich dimensionierte Pulse. Die eine Population wurde zuerst nacheinander fünf kleinen Pulsen von je einem µMol Phosphat pro Liter ausgesetzt und dann noch einmal einem einzigen großen Puls von fünf µMol pro Liter. Bei der anderen war die Reihenfolge umgekehrt: hier folgte im vorgegebenen Pulsmuster dem Einzelpuls von fünf µMol pro Liter die Serie fünf kleiner Pulse von je einem µMol Phosphat pro Liter. Nachdem die externe Konzentration in beiden Versuchsmedien nach diesen Vorexpositionen auf den Schwellenwert abgesunken war, wurde untersucht, wie sich die beiden unterschiedlichen Pulsmuster auf das nachfolgende Aufnahmeverhalten der beiden Populationen auswirkten. Zu diesem Zweck wurde beiden Proben 150 Minuten nach Beginn des Experiments gleichzeitig ein Testpuls von 4,5 µMol Phosphat pro Liter verabreicht. Die Ergebnisse dieses Versuchs werden in der oberen und unteren Grafik in Abb. 3 dargestellt. Bei dem geschilderten Experiment zeigte sich nun in der Reaktion auf diesen identischen Testpuls, dass in ein und derselben Originalpopulation von Cyanobakterien durch die Vorexposition an zwei verschiedene Phosphatpulsmuster tatsächlich zwei Phosphataufnahmesysteme mit völlig verschiedenen Eigenschaften entstanden waren. Die Population, die zuerst eine Serie kleiner Pulse und dann den großen Puls erfahren hatte, desaktivierte ihr Aufnahmesystem weit weniger als die Vergleichspopulation, die erst einem großen Puls und dann den kleinen ausgesetzt worden war. Bei der Population, die erst die kleinen Pulse erfahren hatte, sank die externe Phosphatkonzentration innerhalb von 100 Minuten nach Zusatz des Testpulses wieder auf den Schwellenwert ab. Im Gegensatz dazu war zu diesem Zeitpunkt in der Suspension, die zuerst dem hohen Puls exponiert worden war, im Medium noch mehr als ein Mol Phosphat pro Liter nachweisbar. Das Experiment zeigt, dass die ›Erinnerung‹ an die Erfahrung eines hohen Phosphatpulses in der Vergangenheit zur Erwartung einer Zufuhr weiterer Phosphatmengen in erhöhter Dosis in der unmittelbaren Zukunft führte. Diese Erwartung steigerte die Sensibili71 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Selbstkonstitution von Mikroorganismen
Abb. 3: Zeitlicher Verlauf der Abnahme der externen Phosphatkonzentration [Pe] im Versuchsmedium auf Grund der Aufnahmeaktivität von zwei identischen Zellsuspensionen des Cyanobakteriums Anabaena variabilis, denen die gleiche Phosphatmenge, aber in unterschiedlichen Pulsmustern verabreicht wurde.
tät für neuerliche Expositionen und verursachte eine stärkere Desaktivierung des Aufnahmesystems, auch wenn dabei nur eine Abfolge geringer Konzentrationserhöhungen erfahren wurde. Bei einer vorherigen Erfahrung kleinerer Phosphatpulse reagierte das Aufnahmesystem jedoch nicht so sensibel auf einen erhöhten Phosphatpuls, 72 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Experimentelle Untersuchung von Selbstkonstitutionsvorgängen
da dieser in der Erinnerung an die vielen kleinen Pulse als ein einmaliges Ereignis interpretiert wurde. Das hier beschriebene »vorausschauende, antizipierende« Aufnahmeverhalten dürfte auch bei der Speicherung anderer für den Stoffwechsel benötigter Komponenten auftreten (Kohlehydrate und Fette), die in komplexer Weise auf die unregelmäßig erfolgende Zufuhr unter den jeweiligen ökologischen Gegebenheiten eingestellt werden. Wenn die zwei verschiedenen Pulsmuster, denen die beiden Proben derselben Population ausgesetzt werden, große Unterschiede aufweisen, kann man ein distinktes adaptives Verhalten sogar nach mehreren Zellteilungen nachweisen. Hier wird offensichtlich die Information über frühere Nährstofffluktuationen an Tochtergenerationen vererbt. Dies ließ sich beispielsweise mit zwei identischen Suspensionen von Anabaena v. demonstrieren, die in ungleichen Zugabemodi das 10-fache ihres ursprünglichen Phosphorgehalts (1 µMol/L) erhielten 9. Wurde in diesem Experiment die Menge von 10 µMol/L der einen Bakteriensuspension in einem einzigen Puls, der anderen Suspension in 10 kleinen Pulsen von je 1 µMol/L gegeben, dann inkorporierten die Bakterien in beiden Suspensionen die offerierte Phosphatmenge in der gleichen Zeit. Nach dieser Behandlung ließen sich die Bakterien auf Kosten der gespeicherten Phosphatmenge mehrere Tage weiter kultivieren, wobei sich nach 24 Stunden die Zellzahl etwa verdreifacht hatte. Nach dieser Zeit konnte untersucht werden, ob die beiden ungleichen Pulsmuster, denen die ›Mutterzellen‹ ausgesetzt worden waren, bei den ›Tochterzellen‹ zu Unterschieden im Anpassungsverhalten geführt haben. Zu diesem Zweck wurden die beiden Populationen – analog zu dem in Abbildung 2 dargestellten Experiment – einer Abfolge von drei identischen Phosphatpulsen ausgesetzt und bei diesen drei Pulsen die Sequenz der adaptiven Ereignisse studiert. Dabei zeigte sich folgendes: Bei der Bakterienpopulation, der am Vortag das 10fache ihres ursprünglichen Phosphorgehalts in einer einzigen Portion verabreicht worden war (sie soll als ›Hochpulskultur‹ bezeichnet werden), kam die Phosphataufnahme im dritten Puls praktisch zum Erliegen. Im Gegensatz dazu hörte die Phosphataufnahme bei der Vergleichspopulation (der ›Niederpulskultur‹), die am Vortag die gleiche Menge, aber in 10 kleinen Portionen inkorporiert hatte, auch im dritten Puls nicht auf. Auch hier dürfen die Unterschiede in der Anpassung als antizipierende Vor9
Falkner et al. 2006.
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Die Selbstkonstitution von Mikroorganismen
wegnahmen zukünftiger Ereignisse interpretiert werden. Ganz offensichtlich hatte die Population auf Grund der mütterlichen Erfahrung des hohen Pulses gelernt, dass sie sich in einer Umwelt befindet, in der gelegentlich eine Zufuhr hoher Phosphatmengen auftritt. Es ist für sie daher sinnvoll, bei einer neuerlichen Erhöhung der Phosphatkonzentration weniger Phosphat aufzunehmen. Diese erworbene Eigenschaft wird dann als Erwartung hoher Pulse der nachfolgenden Generation vererbt. Dies führt dazu, dass die Zellen der Folgegeneration bei einem neuerlichen Auftreten hoher Pulse ihr Aufnahmeverhalten rascher drosseln als die der Vergleichskultur, die im Verlauf des vorangegangenen Wachstums die gleiche Phosphatmenge, aber in niederen Pulsen erhalten hatte. In diesem antizipierenden Verhalten offenbart sich schon bei einem einfachen Organismus eine fundamentale Eigenschaft von Lebewesen, wie sie von Thomas Fuchs beschrieben wurde: »Die Inkorporation von Erfahrungen ermöglicht die Anpassung des Lebewesens bzw. des Menschen an die erfahrene Umwelt. Unser ganzer Organismus kann in gewissem Sinne als eine Art impliziter Vorannahme über die Welt angesehen werden« 10. Die Eigenschaften der Subsysteme des Aufnahmesystems (siehe weiter unten) spiegeln daher eine Erwartung an die Umwelt wider, in der sich der Organismus potentiell erhält. Die Anhebung des Schwellenwertes wird von den Zellen der Hochpulskultur synchron vorgenommen. Dieses antizipierende Verhalten, bei dem sich jede einzelne Zelle an Änderungen der externen Phosphatkonzentration anpasst, die aus der Aufnahmeaktivität aller Zellen resultiert, spiegelt die innere Beziehung zwischen den einzelnen Zellen einer Bakterienpopulation wider. Die Organismen einer Bakterienpopulation entscheiden bei ständig wechselnden externen Bedingungen in kohärenter Weise, welche Milieuänderung von ihnen als Störung erfahren wird und bei welchem neuen Einfluss der Umgebung sie Optimierungsprozesse in Gang setzen. Bei dieser Entscheidung findet eine ›subjektive Interpretation‹ der jeweiligen Milieuänderung durch die Organismen in Hinblick auf eine sinnvolle neue Struktur statt; wir nennen sie ›subjektiv‹, weil sie von einer ›Erinnerung‹ an vorangegangene stationäre Zustände bestimmt wird. Der Ausdruck ›Interpretation‹ ist aus folgendem Grund gerechtfertigt: Die Organismen antizipieren beim Beginn einer Umweltänderung eine potentiell sinnvolle Gesamtstruk10
Fuchs 2013, 130.
74 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Experimentelle Untersuchung von Selbstkonstitutionsvorgängen
tur, die es ihnen erlaubt, auf ihre Umgebung einzuwirken. Die Antizipation entscheidet daher, was aus den Organismen in ihrer weiteren Entwicklung in einem adaptiven Operationsmodus wird. In diesem Modus offenbart sich daher die hermeneutische Aktivität der Organismen, bei der eine Bewertung innerer und äußerer Zustände zum Zweck einer Neukonstituierung der Struktur vorgenommen wird. Die Antizipation zukünftiger Ereignisse ist jedoch mit Risiko verbunden, da die Möglichkeit besteht, dass bei einer Fehlbewertung der zukünftigen Milieubedingungen die erzeugte Struktur nicht sinnvoll ist. Trotzdem muss eine derartige Bewertung bei der Verwertung und Gestaltung der äußeren Einflüsse unablässig stattfinden, da nur so aus der Umgebung des Organismus die von ihm gestaltete Umwelt hervorgeht. Die Ausbildung einer einheitlichen organismischen Gesamtstruktur ist daher nur unter ökologischen Bedingungen, d. h. in einer Beziehung zwischen Organismen und ihrer je spezifischen Umwelt möglich. Bei den oben dargestellten Experimenten tritt eine Erkennung von Mustern in den Abfolgen von Phosphatpulsen nur dann auf, wenn die Zellen nicht völlig frei von Polyphosphaten sind. Wenn nämlich die Population ihr Wachstum eingestellt hat, weil der Polyphosphatspeicher leer ist, sinkt die externe Konzentration nach einer plötzlichen Phosphatzufuhr auf Grund der hoch aktiven Aufnahmesysteme rascher auf den Schwellenwert ab, als die einzelnen Zellen mit einer Anpassung reagieren können. Dies ist auch der Fall, wenn im Medium sehr viele am Aufnahmeprozess beteiligte Zellen vorhanden sind. Die Zellen dürfen aber auch nicht zu viele Polyphosphate enthalten. Dann ist nämlich das Aufnahmesystem desaktiviert und nach einer Phosphatzufuhr bleibt die externe Konzentration lange Zeit erhöht, sodass die Zellen die Fähigkeit verlieren, auf gelegentliche Erhöhungen der externen Konzentration mit einem adaptiven Response zu reagieren. Der gleiche Effekt wird durch zu wenige Zellen mit einem aktivierten Aufnahmesystem hervorgerufen. In diesem Fall sinkt die externe Konzentration nicht mehr auf einen niedrigen Schwellenwert ab, was ebenfalls eine rasche Desaktivierung des Aufnahmesystems zur Folge hat und dazu führt, dass eine Anpassung ausbleibt. Die Menge der Zellen muss daher im Versuchsmedium in geeigneter Weise dimensioniert werden, damit die oben beschriebenen Gedächtnisphänomene auftreten 11. Da das Ergebnis 11
Falkner et al., 2006.
75 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Selbstkonstitution von Mikroorganismen
des Experiments von dessen Durchführung abhängt, bestimmt der Experimentator, in welchem Ausmaß sich jede Zelle an Änderungen der externen Konzentration anpasst, die aus dem Aufnahmeverhalten der eingesetzten Organismenpopulation resultiert. Dies ergibt sich auch aus der Logik der Informationsverarbeitung, nach der die Versuchsbedingungen für die Zellen ebenfalls einen Informationsinhalt darstellen, der von den Zellen verarbeitet wird und zu einer darauf abgestimmten Antwort führt. Da dieser Vorgang nicht unabhängig von einem Beobachter abläuft, kann er auch nicht »objektiv« beschrieben werden. Die positivistischen Erklärungen von Strukturveränderungen gelten daher nicht für physiologische Prozesse, bei denen ein Organismus in einer Erfahrung seines jeweiligen Milieus eine zweckmäßige Struktur erzeugt. Ein Verständnis dieses gerichteten Prozesses erfordert stattdessen ein physiologisches Konzept, bei dem ein von Empfindungen geleitetes Streben der Organismen nach Funktionsharmonien berücksichtigt wird. Die Untersuchung des Zellgedächtnisses beruht somit auf einer Vorgangsweise, bei der ein Stoffwechselprozess nicht in einer ›Außenbetrachtung‹ objektiviert wurde. Stattdessen tritt der Experimentator mit den untersuchten Zellen in eine Kommunikation ein, die aus einer Abfolge von Stimulus-Response Beziehungen besteht. Sinn dieser Kommunikation ist es, die Zellen mehrmals hintereinander bestimmten äußeren Einflüssen auszusetzen, um die adaptive Antwort auf jeden dieser Einflüsse zu studieren. In der Verknüpfung der dabei auftretenden adaptiven Ereignisse manifestiert sich das Zellgedächtnis. Gleichzeitig beeinflusst der Experimentator mit der von ihm gewählten Abfolge der äußeren Einflüsse auf die untersuchte Population deren adaptiven Response. Dadurch wird der Experimentator zu einem Teil des untersuchten Systems und der organismischen Antwort auf die Untersuchung; eine strikte Trennung des Beobachters vom beobachteten Phänomen ist bei diesen Untersuchungen nicht mehr möglich. Eine Simulation von Anpassungsprozessen mit einem Rechenprogramm stellt den Modellierer vor die Aufgabe, die Interpretationen des modellierten Systems zu berücksichtigen. Werden aber Anpassungen von Interpretationen geleitet, die vom Ergebnis vorheriger Anpassungen abhängen, dann repräsentieren die vorherigen Anpassungen ebenfalls Interpretationen, die aus einer noch weiter zurückliegenden Vergangenheit stammen, usw. Der Modellierer steht daher vor der Aufgabe, ›Geschichtlichkeit‹ in einem Computerprogramm 76 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Experimentelle Untersuchung von Selbstkonstitutionsvorgängen
abzubilden. Da eine geschichtliche Abfolge von Interpretationen nicht objektiviert werden kann, benötigt der Modellierer zwei interdependente Ebenen für ein Modell adaptiver Prozesse 12, 13: Eine Ebene bezieht sich auf die »objektivierbaren« biochemischen Reaktionen, die in einem gegebenen adaptierten Zustand ablaufen. Die andere Ebene enthält die Interpretation dieser Reaktionen, die während eines adaptiven Operationsmodus unter dem Einfluss der neuen, externen Bedingungen vom Organismus vorgenommen wird und die zu einem neuen, angepassten Zustand führt. Auf dieser Ebene muss ein Modellierer die Rolle des interpretierenden organismischen Subjekts übernehmen, was ihn zu einem Teil des simulierten Systems macht. Diese Aufgabe kann ein Modellierer so erfüllen, dass er bestimmte, energetische Annahmen über die Auswirkung vorheriger Erfahrungen auf nachfolgende Anpassungen in den Ablauf der Simulation einfügt. Dann muss er dem Rechenprogramm Anweisungen geben, zu welchem Zeitpunkt der Simulation die Parameter des Modells in einem Response auf seine eigene Simulation verändert werden. Auf diese Weise implantiert der Modellierer mit der von ihm vorgegebenen Reaktionszeit die Sensitivität des modellierten Systems in das Rechenprogramm. Die beiden unterschiedlichen Simulationsvorgänge, bei denen einmal konstante Parameter vorgegeben und das andere Mal deren adaptive Modifikationen modelliert werden, entsprechen den beiden Wirklichkeitsstufen einer Außen- und Innenseite des Organismus. Diese Prozedur der Modellierung muss der Modellierer solange wiederholen, bis das Ergebnis der Simulation mit experimentell ermittelten Daten übereinstimmt. Daraus darf er dann folgern, dass die über die Verknüpfung adaptiver Ereignisse gemachten Annahmen gerechtfertigt waren. Dies ist aber nie endgültig der Fall, weil der Organismus bei der nächsten Anpassung wieder neue Eigenschaften entwickelt. In den nachfolgenden Unterkapiteln 3.2. und 3.3. werden die energetischen Grundlagen des Zellgedächtnisses analysiert. Damit soll die Frage beantwortet werden, wie eine Neubildung von Strukturelementen von inneren Faktoren abhängt oder durch äußere Einflüsse ausgelöst wird, die von der Zelle erfahren werden. Innere Faktoren spielen beispielsweise im Zellwachstum eine Rolle, äußere Einflüsse betreffen erfahrbare Veränderungen der Umgebung der Zelle. 12 13
Plaetzer et al., 2005. Hasenleitner 2015.
77 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Selbstkonstitution von Mikroorganismen
3.2. Die Funktion energiekonvertierender Subsysteme des Phosphataufnahmesystems bei der Informationsverarbeitung über Änderungen der Phosphatzufuhr Die Inkorporation von externem Phosphat in den internen Polyphosphatspeicher geht in drei Schritten vor sich, bei denen zwei energiekonvertierende Subsysteme beteiligt sind (Abb. 4). Das eine Subsystem befindet sich in der Zellmembran und katalysiert den Transport von externem Phosphat in die Zelle (Reaktion 1 in Abb. 4; Pe und Pi stehen für das externe und interne Phosphat). Das andere ist eine ATP-Synthase, die an der Thylakoidmembran das aufgenommene Phosphat an ein ADP-Molekül anhängt und so in ATP (den universellen Energieträger der Zellen) umwandelt (Reaktion 3). Bei niedrigen externen Konzentrationen benötigt die Aufnahme von externem Phosphat Energie. Die Energie für den Transport von externem Phosphat in das Zellinnere stammt von einem Export von Protonen in den Raum außerhalb der Zellmembran (Reaktion 2 in Abb. 4; H+C und H+e bezeichnen die Protonen im Zellinneren (Cytoplasma) und im periplasmatischen Raum außerhalb der Zellmembran). Der Export von Protonen wird durch ein Enzym katalysiert, das die Energie für diesen Prozess aus einer Umwandlung von ATP in ADP und Phosphat bezieht. Dadurch kommt es im äußeren Raum zu einer Anreicherung von Protonen, die beim Transport von Phosphat durch die Zellmembran wieder in die Zelle zurückfließen (Reaktion 1). Die für die Umwandlung des aufgenommenen Phosphats mit ADP in ATP (in Reaktion 3) benötigte Energie wird durch einen Fluss von Protonen (symbolisiert durch H+T) in den Thylakoiden in das Zytoplasma bereitgestellt. Die Thylakoide sind ein vom Zytoplasma abgetrennter Raum, in den bei der photosynthetischen Energieverwertung die Protonen gepumpt werden, die bei der ATP-Bildung wieder in das Zytoplasma zurückfließen. Im dritten Schritt in der Abfolge von Reaktionen, bei denen externes Phosphat im internen Polyphosphatpool gespeichert wird, gibt dann das ATP-Molekül ein Phosphatmolekül ohne Energiezufuhr an die Polyphosphatkette ab (Reaktion 4 in Abb. 4, bei der Pn einer Polyphosphatkette mit n Phosphatgliedern entspricht. Diese Kette wird durch eine Reaktion mit ATP um ein Phosphatglied zu Pn+1 erweitert). Bei einer Anpassung an Änderungen der externen Konzentration wird zum einen der Kopplungsgrad zwischen dem Phosphattransport in das Zellinnere (Reaktion 1) und dem Protonenfluss in 78 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Energiekonvertierende Subsysteme des Phosphataufnahmesystems
Pn+1 + ADP 4 Pn + ATP H+C Pe
1
e
3
Pi + ADP
ATP
H+
Thyl.
2
H+T
H+C
Ps ETS
H+C Pi + ADP
Abb. 4: Schematische Darstellung der Verwertung von externem Phosphat durch Cyanobakterien. Erläuterungen enthält der Text.
den Raum außerhalb der Zellmembran (Reaktion 2) graduell verändert. Dies beeinflusst den Schwellenwert. Zum anderen wird auch die Anzahl der Protonen modifiziert, die für die ATP-Bildung an der Thylakoidmembran benötigt werden (Reaktion 3). Als Ergebnis dieser Veränderungen entwickelt das gesamte Aufnahmesystem distinkte Eigenschaften, die zu einem späteren Zeitpunkt eine potentiell sinnvolle Wirkung ausüben und daher eine gewisse Stabilität aufweisen sollten. 14 Auf welche Weise wird Information über Änderungen der externen Phosphatkonzentration durch die beiden oben beschriebenen energiekonvertierenden Subsysteme verarbeitet? Dies lässt sich beantworten, wenn die Dynamik adaptiver Prozesse mit der irreversiblen Thermodynamik analysiert wird, die makroskopische Zustandsgrößen wie Stoffwechselflüsse und Triebkräfte zueinander in Beziehung setzt. Eine Interpretation mit Hilfe dieser Disziplin ist
14
Wagner and Falkner, 1992.
79 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Selbstkonstitution von Mikroorganismen
Phosphatinflux
µ mol Phosphat / mg Chl.
30
25
20
15
10
5
0 0
10
20
30
40
50
60
Zeit (min)
Abb. 5: Zeitabhängigkeit der Phosphataufnahme, ausgedrückt in Mikromol Phosphat/mg Chlorophyll, bei verschiedenen externen Phosphatkonzentrationen (A: 20 nM; B: 50 nM; C: 200 nM; D: 500 nM).
auch deshalb sinnvoll, weil sie Verallgemeinerungen ermöglicht, mit denen man erklären kann, unter welchen Bedingungen die Kreativität der Lebewesen im Energiefluss neue adaptierte Zustände hervorbringt. Darauf aufbauend kann die zeitliche und räumliche Dimension der Strukturbildung durch adaptive Ereignisse bei verschiedenen Lebewesen behandelt werden. Dies soll im Kapitel 5 geschehen. Der Übergang eines adaptiven Operationsmodus in einen adaptierten Zustand bei einer bestimmten externen Konzentration lässt sich verfolgen, wenn diese über einen längeren Zeitraum konstant gehalten wird. Der zeitliche Verlauf der Phosphatakkumulation kann bei der betreffenden externen Konzentration mit Proben studiert werden, die nacheinander aus dem Versuchsgefäß entnommen werden und in denen die Zunahme des Phosphatgehalts in den Zellen gemessen wird. Diese Versuchsanordnung unterscheidet sich von den in Abb. 1 bis 3 dargestellten Experimenten darin, dass die verwendete Bakteriensuspension so stark verdünnt wurde, dass die externe Phosphatkonzentration durch die Aufnahme praktisch gleich 80 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Energiekonvertierende Subsysteme des Phosphataufnahmesystems
Abb. 6: Auftragung der aus Abbildung 5 errechneten Influxraten gegen den Logarithmus der entsprechenden Konzentrationen (Thellier-Plot).
bleibt. Das Ergebnis einer derartigen Untersuchung mit dem einzelligen Cyanobakterium Anacystis nidulans zeigt Abbildung 5. Man sieht, dass der Nährstoff zunächst mit einer höheren Rate in die Zellen einströmt. Nach einer bestimmten Zeit verringert sich diese Rate und bleibt dann für eine längere Zeit konstant. Während der ersten Rate baut sich das Aufnahmesystem in einem adaptiven Operationsmodus um, die zweite Rate entspricht dem dabei erreichten adaptierten Zustand. Der Unterschied zwischen den adaptiven Operationsmodi und den adaptierten Zuständen zeigt sich in einem Thellier-Plot 15. Hier wird der Fluss JP von externem Phosphat in den internen Polyphosphatpool bei verschiedenen, konstant gehaltenen, externen Konzentrationen [Pe] gegen den Logarithmus dieser Konzentrationen aufgetragen. Bei den in Abb. 5 dargestellten Konzentrationen liefert eine derartige Auftragung der Anfangsgeschwindigkeit der Phosphatinkorporation beim Einsetzen des adaptiven Operationsmodus eine nach oben gekrümmte Kurve (Abb. 6, Kurve A). Im Gegensatz dazu ergibt die Auftragung der zweiten Raten, bei denen das Aufnahmesystem in adaptierten Zuständen vorliegt, eine Gerade (Abb. 6, 15
Thellier 1970.
81 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Selbstkonstitution von Mikroorganismen
Linie B). Die Kurve A und die Linie B schneiden die log[Pe]-Achse beim logarithmischen Schwellenwert log[Pe]A, bei dem die Aufnahme in den beiden Manifestationen des Aufnahmesystems aus energetischen Gründen zum Erliegen kommt. Die Gerade B erstreckt sich über einen logarithmischen Konzentrationsbereich, an den sich das Aufnahmesystem während des Experiments angepasst hatte. 16 Für die Phosphataufnahme gilt in diesem Fall eine lineare Fluss-Kraft Beziehung, die sich von der irreversiblen Thermodynamik herleiten lässt. JP = LP (log [Pe] – log[Pe]A) = LP log ([Pe]/ [Pe]A). Hier ist LP ein Proportionalitätsfaktor, der proportional der Maximalgeschwindigkeit der Phosphataufnahme bei sehr hohen Konzentrationen ist 17. Der nicht-lineare Kurvenverlauf in Abb. 6 kann mit einer Gleichung beschrieben werden, in der die lineare Fluss-Kraft Beziehung mit zusätzlichen logarithmischen Termen ergänzt wird (n > 1) 18, 19. Li log ([Pe]/[Pe]A)n Die so erhaltene Gleichung entspricht einer nicht-linearen FlussKraft Beziehung. Li ist ein Parameter, der sich mit einer Kurvenanpassung durch das Mathematikprogramm MLAB ermitteln lässt. Der Übergang vom nicht-linearen in den linearen Kurvenverlauf lässt sich folgendermaßen erklären: Zu Beginn der Messung befindet sich das Phosphataufnahmesystem in der Membran in einem hoch aktivierten Zustand. Dies erlaubt der Zelle, Fluktuationen dieses Nährstoffes in unmittelbarer Nähe des Schwellenwertes effizient zu verwerten. Bei einer plötzlichen Konzentrationserhöhung in Bereiche über den Schwellenwert strömt das Phosphat mit großer Geschwindigkeit in die Zelle ein und stört das intrazelluläre Fließgleichgewicht. Die Zelle passt sich dann an die Erhöhung der externen Phosphatkonzentration an, indem sie dem Phosphattransportsystem in der Membran neue Eigenschaften verleiht, mit denen die Aufnahme dieses Nährstoffs wieder in geordnete Bahnen gelenkt wird. Dies führt zu einem neuen, stabilen Zustand, in dem das Aufnahmeverhalten vom 16 17 18 19
Falkner et al., 1993. Falkner et al. 1995. Falkner et al. 2006. Hasenleitner 2015.
82 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Energiekonvertierende Subsysteme des Phosphataufnahmesystems
Schwellenwert bis in den erfahrenen Konzentrationsbereich – und darüber hinaus – einer linearen Beziehung zwischen der Aufnahmerate und dem Logarithmus der externen Phosphatkonzentration gehorcht. Der erweiterte lineare Bereich kann mit einem Zusammenspiel hoch- und niederaffiner Phosphattransportsysteme in der Membran erklärt werden 20. Worin besteht der biologische Sinn dieser Linearisierung? Die lineare Fluss-Kraft Beziehung entspricht dem Weber-Fechner’schen Gesetz der Sinnesphysiologie. Dieses Gesetz hat die Form: E = c log(R/Ro). E bezeichnet die Empfindungsstärke, R die Reizgröße und Ro die absolute Reizschwelle. Der Faktor c ist eine Konstante. Vergleicht man die Fluss-Kraft Beziehung JP = LP log ([Pe]/[Pe]A) mit dem Weber-Fechner’schen Gesetz, dann entspricht die externe Phosphatkonzentration [Pe] einer Reizgröße und der Schwellenwert [Pe]A der Reizschwelle. Der Phosphatfluss wird somit zu einem Maß für die Empfindung der externen Konzentration, an die sich die Zellen angepasst haben. Die analoge Struktur der beiden Gleichungen berechtigt zu der Hypothese, dass die Erfahrung der externen Phosphatkonzentration nach der gleichen Gesetzmäßigkeit vor sich geht wie die Sinneserfahrung höherer Organismen. Wird eine Abfolge von Phosphatpulsen von einem Umbau des Aufnahmesystems begleitet (wie dies in den Abbildungen 2 und 3 dargestellt wurde), dann passen die Zellen in den adaptiven Operationsmodi ihr Aufnahmesystem schrittweise an die Änderungen der externen Phosphatkonzentration an, die sie selbst bewirkten. Dieser Prozess findet in jedem Puls am Schwellenwert seinen Abschluss. Bei diesem Wert ist ein neuer adaptierter Zustand erzeugt worden, in dem der Gültigkeitsbereich der linearen Fluss-Kraft Beziehung dem Konzentrationsbereich entspricht, dem die Zellen im Verlauf ihrer Anpassung ausgesetzt waren. In dieser Hinsicht offenbart sich in der semilogarithmischen Beziehung das Gedächtnis der Zellen 21. Außerdem beeinflusst die Erinnerung an vorherige Anpassungsakte den Zeitpunkt, in dem ein adaptiver Respons auf eine Änderung der ex20 21
Falkner et al. 1995. Falkner et al. 2008.
83 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Selbstkonstitution von Mikroorganismen
ternen Konzentration im nachfolgenden Puls einsetzt. Daher spiegelt die Reaktionszeit die Sensitivität der Zellen für eine Änderung der externen Konzentrationen wider. Auf diese Weise bestimmt die Erinnerung an vorherige Pulse, welche externe Konzentration die Zellen während eines Pulses erfahren und auf welche Konzentrationen sich im nachfolgenden adaptierten Zustand wieder der Gültigkeitsbereich der linearen Fluss-Kraft Beziehung erstreckt 22. In diesem Bereich erfolgt dann die Phosphataufnahme nahe an stationären Zuständen, in denen die vorhandene Energie mit optimaler Effizienz verwertet wird. Für die Analyse dieses Anpassungsprozesses wird daher ein Zusammenspiel von Wirkursachen und Endursachen benötigt. Im adaptiven Operationsmodus zeigt sich der endursächliche Aspekt des organismischen Strebens nach dem stationären Zustand eines Fließgleichgewichts. Dieses Streben führt dann zu einem neuen, adaptierten Zustand, in dem die beteiligten Konstituenten wirkursächlich operieren. Als realteleologische Konstrukte reflektieren sie in der semilogarithmischen Beziehung jedoch auch den endursächlich Aspekt ihres Werdegangs. Der Übergang von einem adaptiven Operationsmodus in einen adaptierten Zustand ist ein biologischer Selbstorganisationsprozess, der einen wesentlichen Unterschied zu physikalisch-chemischen ›Selbstorganisationsvorgängen‹ aufweist, die von Prigogine beschrieben wurden. Derartige ›Selbstorganisationen‹ beruhen auf zusammengesetzten, chemischen Reaktionen, bei denen die Zwischenprodukte in frühere Schritte des Reaktionsablaufs eintreten. Hier äußert sich die Selbstorganisation in Oszillationen der Konzentrationen der beteiligten Reaktionspartner, die zu kohärenten Strukturbildungen im umgebenden Milieu führen können. Diese Strukturen bilden sich jedoch nur, wenn diese Reaktionen in großer Entfernung vom thermodynamischen Gleichgewicht ablaufen. Die Oszillationen bleiben nur solange aufrecht, wie die Reaktionsgeschwindigkeiten von den Triebkräften der betreffenden chemischen Reaktionen in einer nichtlinearen Weise abhängen. In der Nähe des Gleichgewichts, bei der eine lineare Abhängigkeit der Reaktionsgeschwindigkeiten von den Triebkräften existiert, gibt es keine Selbstorganisation. Für diese Entdeckung wurde Prigogine 1977 der Nobelpreis verliehen. Allerdings hat Prigogine derartige Oszillationen auch als Voraussetzung für bio-
22
Aubriot et al. 2011.
84 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Energiekonvertierende Subsysteme des Phosphataufnahmesystems
logische Selbstorganisation angesehen 23. Dies haben wir bei der Selbstorganisation des Phosphataufnahmesystems jedoch nie beobachtet. Die biologische Selbstorganisation des Phosphataufnahmesystems hat daher völlig andere Eigenschaften als die von Prigogine beschriebene physikalisch-chemische ›Selbstorganisation‹, bei der Selbstkonstitutions- und Erfahrungsakte naturgemäß nicht erfasst werden. Außerdem spielen bei einer physikalisch-chemischen Selbstorganisation die experimentellen Randbedingungen eine entscheidende Rolle. Von ihnen hängt es ab, ob ein bestimmtes System sich organisiert oder chaotisch entartet. Die Randbedingungen müssen ein Operieren des Systems in großer Entfernung vom thermodynamischen Gleichgewicht gewährleisten. Dabei organisiert sich das System so, dass die durch die Randbedingungen vorgegebenen Konzentrations- und Energiegradienten, die die Stoff- und Energieflüsse durch das System aufrecht erhalten, effizienter als im chaotischen Zustand ›dissipiert‹ werden 24. Prigogine spricht daher von einer Selbstorganisation dissipativer Systeme. Im Gegensatz dazu organisieren sich lebende Systeme so, dass als Ergebnis der Selbstorganisation ein effizientes Operieren mit linearen Fluss-Kraft-Beziehungen stattfindet und dadurch die vorhandenen Gradienten länger erhalten bleiben. Zusammenfassend darf man auf der Grundlage der oben gegebenen Interpretationen postulieren, dass in der Umbauphase die Zellen versuchen, durch eine Veränderung ihrer molekularen Struktur und ihrer Umgebung wieder einen stationären Zustand herzustellen, der einer bestimmten Erscheinungsform entspricht. Dabei zeigen die Parameter der zwischen zwei stationären Zuständen kurzzeitig beobachtbaren nicht-linearen Fluss-Kraft Beziehung, wie sich eine Umweltänderung auf den Organismus auswirkt 25. Die kausale Wirksamkeit einer Umweltänderung auf den Organismus besteht daher in der Störung eines stationären adaptierten Zustandes. Die damit verbundene Vergeudung der vorhandenen Energie löst einen adaptiven Umbau von energiekonvertierenden Subsystemen aus, dessen Ergebnis für das Weiterleben des Organismus potentiell sinnvoll ist. Die oben beschriebenen Beobachtungen können daher dahingehend verallgemeinert werden, dass sich die bioenergetische Koordination eines 23 24 25
Prigogine 1979, 110 ff. Koutroufinis and Wessel 2011, 37. Falkner et al. 2006.
85 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Selbstkonstitution von Mikroorganismen
komplexen biologischen Systems in Anpassungen an Änderungen der Umweltbedingungen offenbart 26. Die oben beschriebene Entwicklung zu einem linearen Operationsmodus ist kein Sonderfall. Ein ähnliches Verhalten wie in den adaptierten Zuständen des Phosphataufnahmesystems wurde auch bei anderen biologischen Systemen beobachtet, bei denen die Energie nur dann optimal verwertet wird, wenn die Stoffflüsse auch in großer Entfernung vom thermodynamischen Gleichgewicht in einer linearen Beziehung zu den involvierten Triebkräften stehen 27. Auf der Basis von Modellkalkulationen, nach denen die Energie viel effizienter im linearen als im nicht-linearen Operationsmodus verwertet wird 28, hat Jörg Stucki vorgeschlagen, dass Evolution zu Linearität ein neues bioenergetisches Optimierungsprinzip reflektieren könnte 29. Die energetischen Zwänge, die ein Streben der Zellen nach stationären Zuständen in einem ›linearen Operationsmodus‹ bestimmen, in dem die Anordnung der energiekonvertierenden Subsysteme der räumlichen Form des Organismus entspricht, werden im nächsten Kapitel genauer beschrieben.
3.3. Das Zusammenwirken einer Gesellschaft von energiekonvertierenden Subsystemen Der Energiefluss durch Organismen ermöglicht den Aufbau körpereigener Substanzen. Bei Tieren erfolgt dies so, dass die Energiedifferenz zwischen aufgenommenen, energiereichen, organischen Verbindungen (Kohlehydrate, Fette, Proteine) und den ausgeschiedenen, energieärmeren Komponenten für eine Vielzahl von Biosyntheseprozessen verwertet wird. Bei Pflanzen werden die für diesen Zweck benötigten, energiereichen, organischen Verbindungen mit Hilfe des absorbierten Lichts aus anorganischen Substanzen hergestellt. Bei allen Lebewesen wird der Energiefluss im Stoffwechsel durch ein Netzwerk aufeinander abgestimmter, energiekonvertierender Subsysteme katalysiert, bei denen eine energie-verbrauchende Reaktion mit einer energie-liefernden Reaktion gekoppelt ist (zwei dieser Subsysteme 26 27 28 29
Falkner et al. 1996. Westerhoff and van Dam, 1987. Stucki et al., 1983. Stucki et al., 1983a.
86 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Zusammenwirken einer Gesellschaft von energiekonvertierenden Subsystemen
sind im obigen Beispiel des Phosphataufnahmeprozesses beschrieben worden). Komplexere Energiekonverter sind die Signalübertragungssysteme, die die Proteinbiosynthese steuern. Auch an der Biosynthese des Zytoskeletts sind energiekonvertierende Subsysteme beteiligt, deren Regulation unter anderem die Zellbewegung beeinflusst. Schließlich kann die gesamte Zelle als ein einziges energiekonvertierendes System betrachtet werden, das sich dann in einem stationären Fließgleichgewicht befindet, wenn alle Subsysteme auf diesen Zustand hin koordiniert worden sind. Bei dieser Koordination werden die energiekonvertierenden Subsysteme in Hinblick auf eine effiziente Energieumsetzung so aufeinander abgestimmt, dass die Zwischenprodukte der von ihnen katalysierten Stoffwechselprozesse eine bestimmte Erscheinungsform aufrechterhalten 30. An Hand eines einfachen Beispiels soll nun veranschaulicht werden, unter welchen Bedingungen derartige Subsysteme mit optimaler Effizienz operieren. Zu diesem Zweck betrachten wir zwei miteinander verknüpfte biochemische Reaktionen, bei denen die eine die Energie liefert, die die zweite verwertet (Abb. 7).
˜X
X
A
B
Abb. 7: Einfaches Modell eines energiekonvertierenden Subsystems.
Bei diesen beiden Reaktionen wird die Umwandlung eines energiereicheren, zellulären Bestandteils oder Zustands ~X in einen energieärmeren Bestandteil oder Zustand X mit einer energieverbrauchenden, zellulären Veränderung von A nach B gekoppelt. ~X kann beispielsweise der universelle Energieträger des Stoffwechsels Adenosintriphosphat (ATP) 31 sein, X steht dann für die entsprechenden Abbauprodukte, die entstehen, wenn ATP die energieverbrauchende Vgl.: Falkner und Falkner 2010, 335–340. Bei der Abspaltung des endständigen Phosphatmoleküls der Triphosphatkette von Adnosintriphosphat wird eine bestimmte Menge an Energie freigesetzt, die von der Zelle für die Biosynthese zahlreicher energie- verbrauchender Reaktionen verwendet werden kann. Das dabei entstehende Adenosindiphosphat kann energetisch wieder ›aufgeladen‹ werden, indem es von einem anderen energiekonvertierenden Sub-
30 31
87 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Selbstkonstitution von Mikroorganismen
Produktion von B aus A katalysiert (Adenosindiphosphat und Phosphat). Die Umwandlung von ~X in X kann auch, wie in Abb. 4 gezeigt, den Protonenfluss an der Thylakoidmembran repräsentieren, der die Energie für die ATP-Bildung bereitstellt. Der Reaktionsschritt von A zu B symbolisiert die zahlreichen biochemischen Reaktionen, bei denen ein energiereicherer Konstituent aus einem energieärmeren Vorläufer entsteht oder bei denen Energie verbraucht wird. Dazu gehören auch Bewegungsvorgänge wie die Muskelkontraktion. Die Umwandlung von A in B kann mit der energieliefernden Reaktion in unterschiedlichem Ausmaß gekoppelt werden. Für jedes vom Organismus angestrebte Fließgleichgewicht gibt es nur einen Kopplungsgrad, bei dem die in ~X bereitgestellte Energie mit optimaler Effizienz verwertet wird 32. Ändern sich die Eigenschaften von A auf Grund einer Änderung ihrer zellulären Umgebung, dann operiert das Subsystem nicht mehr mit optimaler Effizienz. Ein neuer, energetisch günstiger, adaptierter Zustand kann zunächst nur erreicht werden, wenn die Zelle nach einer von ihrer Sensitivität bestimmten Reaktionszeit das Subsystem so umbaut, dass der Kopplungsgrad auf ein neues Fließgleichgewicht eingestellt wird. In einem zweiten Schritt werden die Eigenschaften des neu gebildeten Subsystems mit der gesamten Energiekonversion koordiniert, was dazu führt, dass wieder eine lineare Beziehung zwischen Stoffflüssen und den sie treibenden Kräften existiert 33. Dabei entsteht ein völlig neuer Zelltyp, und zwar aus folgendem Grund: Alle Stoffwechselwege einer Zelle sind in den vielfältigen Verästelungen des Energieflusses miteinander verbunden, sodass jede Veränderung eines energiekonvertierenden Subsystems die Energieumsetzung aller anderen beeinflusst. Abb. 8 zeigt mehrere miteinander verbundene Energiekonverter. Hier beeinflusst eine adaptive Rekonstruktion des ersten energiekonvertierenden Subsystems (EC1), hervorgerufen durch die Änderung der stationären Substratkonzentration A, auch die stationäre Konzentration des Produkts B. Dies führt konsequenterweise zu einem Umbau der nachfolgenden Subsysteme EC2 und EC3. Wenn dieser zelluläre Umbau die Funktion des vorher angepassten Energiekonverters EC1 beeinflusst, dann system mit einem Phosphatmolekül verknüpft und neuerlich zu ATP umgewandelt wird. 32 Kedem und Caplan, 1965. 33 Falkner et al., 1994.
88 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Zusammenwirken einer Gesellschaft von energiekonvertierenden Subsystemen
muss sich dieser von neuem anpassen, was wiederum strukturelle Veränderungen in den Energiekonvertern EC2 und EC3 (und anderen mit ihnen im Stoffwechsel verknüpften energiekonvertierenden Subsystemen) nach sich zieht. Dies setzt sich solange fort, bis es zu einer Konkreszenz 34 von energiekonvertierenden Subsystemen zu größeren Einheiten kommt, die als real-teleologische Konstrukte in einer Funktionsharmonie einen wirksamen Einfluss des Organismus auf seine Umgebung ermöglichen.
˜X
X
˜Y
A
B
C
Y
D
˜Z
E
EC2
EC1
Z
F EC3
Abb. 8: Interaktionen zwischen drei energiekonvertierenden Subsystemen.
Ein Teil der energiekonvertierenden Subsysteme einer Zelle ist auch mit ihrer Umgebung verbunden (dies trifft für Signalübertragungswege oder energieabhängige Substrataufnahmesysteme zu. Ein Beispiel ist das Phosphattransportsystem, siehe Abb. 4). In diesem Fall würde in der oben beschrieben Anordnung EC1 für ein Subsystem stehen, mit dem die Zelle Änderungen ihrer Umgebung erfährt. Die oben beschriebene Verkettung energiekonvertierender Subsysteme sorgt dann dafür, dass sich ein adaptiver Respons von EC1 auf eine neue Änderung der Umgebung in einer Sequenz von adaptiven Ereignissen bei anderen Subsystemen wellenartig in alle möglichen Richtungen durch den Organismus fortpflanzt. Bei diesem (für einen externen Beobachter) scheinbar chaotischen Vorgang erzeugt der Organismus wieder eine einheitliche Struktur, mit der er auf seine Umgebung einwirken kann. Für diesen Zweck muss diese Struktur eine gewisse Stabilität aufweisen, die auf einem kohärenten Zusammenwirken ihrer Subsysteme beruht. Der Aufbau dieser Struktur kann dann alle Arten von Modifikationen in der Proteinbiosynthese (transkriptionaler, translationaler und posttranslationaler Natur) er34
Vgl. Whitehead 1929/1958, 26.
89 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Selbstkonstitution von Mikroorganismen
forderlich machen. Der Prozess kommt zu Ende, wenn die Stoffwechselflüsse wieder in die Nähe eines energetisch günstigen und formerhaltenden Fließgleichgewichts kommen. Gleichzeitig werden die Konstituenten abgebaut, die unter den neuen Milieubedingungen nicht mehr zweckmäßig funktioniert haben. Der Umbau vollzieht sich daher im Kontext von adaptiven Ereignissen, die alle energiekonvertierenden Subsysteme umfassen und deren adaptive Operationsmodi neue adaptierte Zustände hervorbringen. In diesem Prozess werden die organismusspezifischen Interpretationen der Umweltänderungen von einem adaptiven Ereignis auf das nächste übertragen. Dadurch ergibt sich ein wesenhaftes ›Ineinander‹ 35 adaptiver Ereignisse, das aus einem zeitlichen und räumlichen Nexus 36 von Anpassungsakten besteht. Auf diese Weise bestimmt die Information über die Erscheinungsform das Ineinander adaptiver Ereignisse und erzeugt eine organismische Struktur, in der Elemente der vorherigen Erscheinungsform an nachfolgende adaptive Ereignisse weitergegeben werden. Gleichzeitig verändert der Organismus mit den in diesem Prozess neu gebildeten Konstituenten seine Umgebung, bis ein neues Fließgleichgewicht zumindest in einem Teilbereich möglich ist. Dies geht mit individuellen Erfahrungsakten der so gebildeten Umwelt einher (siehe Unterkapitel 4.2.2).
3.3.1. Die Rolle metabolischer Kreisprozesse im organismischen Energiefluss Viele energiekonvertierende Subsysteme einer Zelle operieren als Teile eines metabolischen Kreisprozesses, bei denen die Umsetzung von Stoffwechselprodukten in einer zyklischen Anordnung vor sich geht. Über Zwischenprodukte dieser Kreisprozesse sind andere Stoffwechselvorgänge untereinander verknüpft. Da in einem Kreisprozess jeder Teilprozess von allen anderen bewirkt wird und sie gleichzeitig verursacht, kann man den Stoffwechsel von außen nur begrenzt manipulieren. Als typisches Beispiel für einen Kreisprozess stellen wir im Anhang den Citratzyklus vor, der bei eukaryontischen Zellen im Inneren von Mitochondrien operiert. Er spielt eine wichtige Rolle bei Diese Bezeichnung für das Beziehungsgefüge metabolischer Teilprozesse stammt von Spyridon Koutroufinis, pers. Mitt. 36 Vgl. Whitehead 1929/1958, 20. 35
90 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Zusammenwirken einer Gesellschaft von energiekonvertierenden Subsystemen
der Endoxidation von Abbauprodukten der Kohlehydrate zu CO2 und Wasser. Der Citratzyklus ist einerseits vom Zytoplasma isoliert, steht aber andererseits über die Interaktion einiger seiner Zwischenprodukte mit Stoffwechselprozessen im Zytoplasma in Verbindung. Er wird daher von Vorgängen im Zytoplasma beeinflusst. Ganz allgemein enthalten Kreisprozesse alle im Stoffwechsel produzierten Verbindungen, die ihre eigene Erzeugung in einer auf die Funktion des ganzen Organismus abgestimmten Weise bewirken. Untergeordnete Kreisprozesse werden in hierarchischer Weise in größeren Einheiten integriert, mit dem Ziel, die organismische Gesamtstruktur zu einem einzigen energiekonvertierenden System umzugestalten, das die vorhandene Energie optimal verwertet. Whitehead hat dies in seiner Kategorie des Elementaren berücksichtigt: »the many become one, and are increased by one« 37. Die organismische Gesamtstruktur weist somit in energetischer Hinsicht Analogien zu den energiekonvertierenden Subsystemen auf. Sie ist daher ebenfalls ein Kreisprozess, der zu seiner Umgebung offen, aber in sich geschlossen ist. Die strukturelle Anordnung der verschiedenen Kreisprozesse erfordert einen komplexen Selbstorganisationsprozess. In einem Kreisprozess muss die Abfolge der Enzymreaktionen, bei denen die Produkte der vorherigen Enzymreaktionen die Substrate für die nachfolgende Enzymreaktion sind, einerseits zyklisch geschlossen sein, andererseits mit anderen Kreisprozessen in Verbindung stehen. Eine übergeordnete Funktionsharmonie in der Koordination der diversen Kreisprozesse entsteht dann, wenn in dieser Anordnung die Enzymreaktionen mit einer für die gesamte Zelle geeigneten Geschwindigkeit zusammenwirken. In diesem Fall wird auch die vorhandene Energie mit optimaler Effizienz verwertet (siehe Unterkapitel 3.3.). Die Realisierung einer derartigen ›funktionsabhängigen Struktur‹ 38 hat Thomas Fuchs mit dem Wirken einer ›integralen Kausalität‹ erklärt 39. Allerdings gibt Fuchs nicht an, wo ein zureichender physiologischer Grund für die Existenz einer ›integralen Kausalität‹ zu finden ist. Diese Form der Kausalität lässt sich auch nicht mit der Konzeption eines ›autopoietischen Systems‹ im Sinne von Maturana
37 38 39
Whitehead 1929/1978, 21. Thellier et al. 2004. Fuchs 2013, 126.
91 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Selbstkonstitution von Mikroorganismen
und Varela 40 erklären. Die Entstehung von aufeinander abgestimmten Kreisprozessen kann jedoch aus einer organismischen Prozessbiologie erschlossen werden. Nach den Postulaten der Prozessbiologie stellt der Organismus in seiner kreativen Aktivität die zellulären Anfangs- und Randbedingungen her, unter denen das strukturbildende Potential des Energieflusses die verschiedenen metabolischen Kreisprozesse hervorbringt.
40
Maturana and Varela 1980.
92 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
4. Prozessphilosophische Interpretationen der ontologischen Differenz zwischen adaptiven Operationsmodi und adaptierten Zuständen des Stoffwechsels
Im vorigen Kapitel haben wir demonstriert, dass die Selbstgestaltung von Organismen von Änderungen ihrer Umwelt ausgelöst wird. Die Selbstgestaltung geht dann mit der gegenseitigen Neuanpassung energiekonvertierender Subsysteme einher, bei der die Organismen auch eine neue Umwelt erzeugen, in der der Stoffwechsel potentiell in einer Funktionsharmonie operieren kann. Energiekonvertierende Subsysteme katalysieren den Energiefluss durch eine Zelle, bei dem energiereiche Substanzen abgebaut und Zwischenprodukte des Stoffwechsels aufgebaut werden. Wir zeigten, dass diese Ab- und Aufbauprozesse einer komplexen Regulation unterliegen. Dabei wird die Aktivität jedes energiekonvertierenden Subsystems so auf den gesamten Stoffwechsel eingestellt, dass die unter den gegebenen Umweltbedingungen zur Verfügung stehende Energie mit optimaler Effizienz verwertet wird. Wenn das der Fall ist, ist der intrazelluläre Gehalt an Zwischenprodukten des Stoffwechsels mit einer bestimmten organismischen Erscheinungsform akkordiert. Eine Änderung der Umgebung des Organismus, von der die Energiezufuhr betroffen ist, bewirkt daher eine Deformation der organismischen Erscheinung. Dies hat zur Folge, dass die Eigenschaften der energiekonvertierenden Subsysteme in einer Verknüpfung von adaptiven Ereignissen in Hinblick auf Formerhaltung und optimale Energieverwertung auf neue Umweltbedingungen abgestimmt werden, die aus diesem Prozess hervorgehen. Bei dieser Verknüpfung werden spätere Anpassungen an eine Milieuänderung von der Abfolge vorheriger Anpassungen antizipatorisch beeinflusst. In einer Übernahme der Idee von John Dewey, dass die physiologische Anpassung mit organismischen Erfahrungen von Milieuänderungen korreliert (siehe Unterkapitel 4.2), haben wir postuliert, dass die Verknüpfung adaptiver Ereignisse auf der zellulären Ebene das ›Zellgedächtnis‹ eines organismischen Systems widerspiegelt. In diesem Gedächtnis beinhaltet die Erinnerung an vergangene Umwelterfahrungen eine Erwartung zukünftiger Mi93 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Prozessphilosophische Interpretationen der ontologischen Differenz
lieuänderungen. Damit konnte die energetische Basis eines Zellgedächtnisses in Beziehung zur Formerhaltung gesetzt werden. Bei jedem dieser adaptiven Ereignisse ließen sich zwei distinkte Phasen unterscheiden. In einer Anfangsphase, die wir als adaptiven Operationsmodus bezeichnet haben, wird ein energiekonvertierendes Subsystem einer Zelle, das nach einer Milieuänderung nicht mehr mit optimaler Effizienz operiert, durch ein neues ersetzt. In dieser Phase werden Informationen über die Änderung der Umgebung des betreffenden Subsystems in einem Selbstgestaltungs- und Erfahrungsakt vom Organismus verarbeitet. Ein adaptiver Operationsmodus entzieht sich einer objektiven Beschreibung, die unabhängig von einer experimentellen Beobachtung ist. Es stellen nämlich experimentelle Bedingungen ebenfalls eine Umweltänderung dar, deren Informationsgehalt im untersuchten adaptiven Operationsmodus erfahren wird. Aus diesem Grund hängt das Ergebnis einer Untersuchung dieses Modus von der Versuchsführung ab. Ein adaptiver Operationsmodus findet seinen Abschluss in der zweiten Manifestation eines adaptiven Ereignisses, in dem das betreffende Subsystem an die neuen Milieubedingungen angepasst ist, die ebenfalls in diesem Prozess entstanden sind. In einem derartigen adaptierten Zustand lässt sich die Funktion eines energiekonvertierenden Subsystems mit den Parametern einer semilogarithmischen Fluss-Kraft Beziehung objektiv beschreiben, die die gleiche mathematische Form wie das Weber-Fechner’sche Gesetz der Sinnesphysiologie hat. Inspiriert von Analogien zwischen der biphasischen Natur adaptiver Ereignisse und der bipolaren Natur der organismischen Prozesseinheiten von Alfred North Whitehead (siehe Unterkapitel 4.1.) haben wir vorgeschlagen, dass ein organismisches System im adaptiven Operationsmodus subjektive Eigenschaften aufweist 1. Zwischen den beiden Manifestationen adaptiver Ereignisse existiert daher eine ontologische ›Subjekt-Objekt Differenz‹ 2. Eine Interpretation der experimentell beobachteten Eigenschaften adaptiver Ereignisse erlaubt Verallgemeinerungen von ungeheurem Ausmaß, die Kreativität der Lebewesen betreffend. Bei ihrer Erklärung gehen wir davon aus, dass ein Organismus in einem Selbstgestaltungs- und Erfahrungsprozess ein Bild von sich in einer darauf abgestimmten Umwelt in einem »adaptive representational 1 2
Falkner et al. 1996. Vgl.: Falkner und Falkner 2011a, 172–174.
94 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Analogien zwischen ›adaptiven Ereignissen‹ und Whiteheads ›aktualen Entitäten‹
network« 3 von einem adaptiven Ereignis zum nächsten weitergibt. Darin offenbart sich die gestaltende Kraft des Gedächtnisses eines Lebewesens, dessen Kreativität sich in den nicht-objektivierbaren Manifestationen adaptiver Operationsmodi entfaltet. Das Gedächtnis ist kein bloßer Speicher, sondern es ist ein Herbeirufen vergangener Erfahrungen in Hinblick auf zukünftige Selbst- und Umweltgestaltungen. In diesem Prozess erzeugt ein Organismus bei einer Veränderung seiner Umwelt durch einen ungünstigen äußeren Einfluss neue Strukturelemente, die dem Ziel dienen, eine für ihn potentiell sinnvolle Umwelt zu gestalten. Sinnvoll ist für ein organismisches Subjekt die Umwelt dann, wenn sie ihm erlaubt, sich anderen Organismen gegenüber in energetisch effizienter Weise zu behaupten. Diese teleologische Erklärung der physiologischen Anpassung von Lebewesen erfordert eine Begründung, die das organismische Subjekt und die von ihm gestaltete Umwelt umgreift. Eine derartige Begründung kann nicht nur in philosophischen Ideen von Alfred North Whitehead und John Dewey gefunden werden. Weiterführende Verallgemeinerungen erlauben auch Ideen von Ernst Cassirer, Henry Bergson, Hans Jonas und Reto Luzius Fetz. Sie werden in den folgenden Kapiteln kurz erläutert. Diese Denker versuchten, die cartesianische Trennung zwischen Körper und Geist zu überwinden. Allerdings erfordert eine Anwendung ihrer Ideen in der Biologie gewisse Erweiterungen, die es erlauben, die von uns im dritten Kapitel beschriebene Logik des Stoffwechsels zu erklären. Diese Erweiterungen berücksichtigen, wie die Abfolge von Erfahrungen und Selbstgestaltungen nicht nur die gesamte Individualgeschichte eines Lebewesens umfasst, sondern auch in der Evolution der Arten und beim Menschen in seiner Geschichte verankert ist.
4.1. Die Analogien zwischen ›adaptiven Ereignissen‹ und Whiteheads ›aktualen Entitäten‹ Whitehead bezeichnet in seinem Hauptwerk Process and Reality die letzten realen Dinge, aus denen die Welt zusammengesetzt ist, als ›actual entities‹ oder ›actual occasions‹. Sie repräsentieren Erfahrungsakte, die nicht unabhängig voneinander existieren, sondern in einem erfahrungsgeschichtlichen Zusammenhang stehen: »The final 3
Trewavas 2005.
95 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Prozessphilosophische Interpretationen der ontologischen Differenz
facts are, all alike, actual entities; and these actual entities are drops of experience, complex and interdependent« 4. Alle erfahrenen Daten stammen somit ebenfalls von ›actual entities‹, bei denen allerdings die Erfahrungsakte zu einem Abschluss gekommen sind und deren Ergebnis die ›actual world‹ 5 für neue ›aktuelle Gelegenheiten des Erfahrens‹ darstellt. Dadurch kommt eine gerichtete Beziehung zwischen Erfahrungsakten zustande. Die Daten der erfahrenen Entitäten stehen zunächst getrennt zur Verfügung, werden aber im Verlauf eines neuen Erfahrungsaktes verändert und in einer ›Konkreszenz‹ (siehe Unterkapitel 3.3) so aufeinander abgestimmt, dass eine kohärente Welterfahrung entsteht. Auf diese Weise sind Erfahrungsakte Akte des Werdens (›acts of becoming‹) 6, denen Whitehead einen zeitlich-vektoriellen Übergang von einem realen Außereinander von Komponenten in eine ideelle Einheit verleiht: »›becoming‹ is the transformation of incoherence to coherence, and in each particular instance ceases with this attainment« 7. Diese Akte des Werdens führen in einem Prozess des ›Empfindens‹ der vielen Daten zur Emergenz eines empfindenden Subjekts, das mit einer kreativen Interpretation seiner ›actual world‹ sich selbst konstituiert und dadurch eine äußere Form gibt: »Each actual entity is conceived as an act of experience arising out of data. It is a process of ›feeling‹ the many data, so as to absorb them into the unity of one individual satisfaction« 8. In diesem Prozess integriert der Organismus das in seiner Umgebung Gegebene in ein von ihm empfundenes objektives Datum, was nicht nur seine Struktur, sondern auch den von ihm erfahrenen Horizont seiner Umgebung verändert 9, 10. In unserer Konzeption enthalten ›adaptive Ereignisse‹ wie Whiteheads ›aktuale Entitäten‹ als ›Akte des Werdens‹ ebenfalls eine physisch-geistige Bipolarität. Allerdings sind in dieser Schrift nicht mikrokosmische Entitäten die Letztelemente von organismischen Werdensakten, sondern es wird das Lebewesen in seiner einheitlichen Selbstgestaltung zu einem nicht hintergehbaren Letztelement. In einer Anfangsphase empfindet ein Lebewesen die Daten der vorWhitehead 1929/1978, 18. Whitehead 1929/1978, 28, 65. 6 Whitehead 1929/1978, 69. 7 Whitehead 1929/1978, 25. 8 Whitehead 1929/1978, 40. 9 Whitehead 1929/1987, 94. 10 Vgl.: Falkner und Falkner 2011a, 168–170, 172–174. 4 5
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Die Beziehung zwischen physiologischer Anpassung und Erfahrung bei J. Dewey
gegebenen ›wirklichen‹ Welt, die zunächst getrennt zur Verfügung stehen. Das Lebewesen akkordiert dann seine eigenen Veränderungen mit einer Umgestaltung der wirklichen Welt mit dem Ziel, zu einer kohärenten Welterfahrung zu kommen. Erst im Streben nach einer Einheit zwischen sich und seiner Umwelt wird die daraus resultierende Konstitution zu einem neuen Faktor der wirklichen Welt, der zu den Erfahrungen der nachfolgenden Selbstkonstitutionsakte bei anderen Organismen beitragen kann. Auf diese Weise gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen der Natur von ›actual entities‹ und der Struktur ›adaptiver Ereignisse‹ : In Whiteheads organismischer Philosophie konstituieren Gesellschaften von Gesellschaften von ›actual entities‹ in einem ›bottom-up‹ Prozess die Erfahrung der Lebewesen. Bei unserem Modell werden adaptive Ereignisse jedoch so konzipiert, dass ein Organismus die gegenseitige Anpassung der Subsysteme in einem ›top-down‹ Prozess immer wieder von neuem erzeugt. Wir gehen somit von einem Modell aus, bei dem ein Organismus als Produzent seiner Strukturen zwar kontinuierlich existiert, aber sich als Folge der Einwirkung auf die einzelnen adaptiven Ereignisse ständig verändert. In diesem Fall beruht die Kontinuität des Organismus bei seinen Neukonstitutionen auf einer ›Erinnerung‹ an vorige Erfahrungen. Damit wird das Gedächtnis der Lebewesen – in Übereinstimmung mit empirischen Beobachtungen – zu einem die gesamte Lebensgeschichte umfassenden und gestaltenden Faktor der organismischen Erfahrung (siehe Unterkapitel 4.2.1.).
4.2. Die Beziehung zwischen physiologischer Anpassung und Erfahrung bei John Dewey Der amerikanische Philosoph John Dewey hat den Versuch unternommen, aus den energetischen Eigenschaften eines Fließgleichgewichts die psychophysische Dimension der Lebewesen herzuleiten 11. Dabei hat Dewey ebenfalls die Tatsache berücksichtigt, dass die Erfahrung von Umweltänderungen von physiologischen Anpassungsprozessen begleitet wird. Die von uns übernommene Idee, dass die physiologische Anpassung die substanzielle Basis der organismischen Erfahrung darstellt, beruht auf der Analogie zwischen physiologischer Anpassung und Erfahrung: Sowohl physiologische An11
Dewey 1925/2007, Kapitel 7.
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Prozessphilosophische Interpretationen der ontologischen Differenz
passung als auch Erfahrung haben einen zeitlichen Vektorcharakter, der vorangegangene adaptive Ereignisse mit zukünftigen verknüpft. Einerseits wird jede Neu-Anpassung von der Art der vorherigen Anpassung beeinflusst, was den entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang physiologischer Anpassungen begründet. Andererseits ist jede physiologische Neu-Anpassung an Änderungen der Umgebung auf eine unter den neuen Bedingungen optimale Funktion ausgerichtet. In analoger Weise hat auch jede Erfahrung einen geschichtlichen Aspekt, da eine neue Erfahrung vom Ergebnis voriger Erfahrungen geleitet wird und darauf ausgerichtet ist, in der Vergangenheit gemachte negative Erfahrungen zu vermeiden. Eine Sequenz von adaptiven Ereignissen, bei denen vergangene Erfahrungen mit zukünftigen antizipatorisch verknüpft werden, folgt daher einer organismusspezifischen Sinn-Notwendigkeit. Diese Sinn-Notwendigkeit offenbart sich in Experimenten mit Cyanobakterien, wenn man in einer Abfolge von physiologischen Anpassungen an Änderungen der Versuchsbedingungen die Auswirkung einer vorherigen Anpassung auf die nachfolgende Anpassung studiert (für ein Beispiel dieser Untersuchungsstrategie: siehe Unterkapitel 3.1.). Eine Analyse dieses Vorgangs zeigt, wie ein einfaches Lebewesen die ständig wechselnden Einflüsse seiner Umgebung als Subjekt interpretiert und mit Hilfe einer ›Erinnerung‹ an vorherige Erfahrungen mit dem Aufbau neuer und potentiell sinnvoller Strukturen beantwortet. Dewey findet im zielgerichteten physiologischen Anpassungsverhalten von Organismen auch den Unterschied zwischen Lebewesen und nicht-lebendigen Dingen. Ausgelöst wird eine physiologische Anpassung, wenn ein energetisch günstiges Fließgleichgewicht, in dem die Energie- und Substanzflüsse eine bestimmte Struktur eines Lebewesens aufrechterhalten, gestört wird (die Störung kann durch einen externen Einfluss, aber auch durch innere Faktoren hervorgerufen worden sein). In einem derartigen Fall sind nach Dewey »die Energien so ungleichmäßig verteilt, dass sich der Körper in einem unbehaglichen und unstabilen Gleichgewicht befindet« 12. Dadurch kommt es zu der oben erwähnten innerorganismischen Spannung 13, die vom Organismus als das Bedürfnis empfunden wird, wieder zu einem spannungsfreien Fließgleichgewicht zurückzukehren. Dewey 1925/2007, 244. Dewey spricht in »Experience and Nature« 1958, 253, von »tensional distribution of energies such that the body is in a condition of uneasy or unstable equilibrium«.
12 13
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Die Beziehung zwischen physiologischer Anpassung und Erfahrung bei J. Dewey
Es äußert sich in dem selbst-referentiellen Verlangen, die Umgebung des Organismus so zu ändern, dass die Rückwirkung der veränderten Umgebung auf den Körper ihn wieder in ein neues Fließgleichgewicht bringt. Das Erreichen dieses Ziels führt im Organismus zu einer Befriedigung. Sie tritt auf, wenn sich der Organismus mit der veränderten Umgebung so akkordiert hat, dass die für ihn »charakteristische Struktur seines aktiven Gleichgewichts« 14 in einer völlig neuen Anordnung wieder hergestellt wird. Dieser Vorgang führt zu einer abgestimmten Ausrichtung von gleichzeitig stattfindenden Stoffwechselprozessen auf einen im gegebenen Milieu potentiell sinnvollen gesamt-organismischen Endzustand. In dieser Sichtweise wird allerdings nur unzureichend berücksichtigt, dass nach dem Abschluss dieses Vorgangs die externen Bedingungen, die den Anpassungsprozess ausgelöst haben, durch ihn ebenfalls verändert wurden. Demnach kann ein spannungsfreier Zustand nur angenähert, aber nie wirklich erreicht werden. Das Streben nach einer Funktionsharmonie, die nie vollständig verwirklicht werden kann, wird dadurch zur Basis einer organismischen Selbst-Erfahrung und ist der Grund für die ständig stattfindende Weiterentwicklung der organismischen Selbstgestaltung 15. Die Einbettung von Bedürfnis-Verlangen-Befriedigung in einen Selbstkonstitutionsakt, den Dewey »psycho-physisch« nennt 16, erfordert somit eine Art von Endursache, die nach Dewey die Empfindungsfähigkeit der Organismen begründet. Dewey folgert: »Wann immer die Tätigkeit der Bestandteile einer organisierten Tätigkeitsstruktur derart ist, dass sie zur Erhaltung der strukturierten Tätigkeit beiträgt, dann ist die Basis für Empfindungsfähigkeit gegeben. Jeder ›Teil‹ eines Organismus ist selbst organisiert, und dasselbe gilt für die ›Teile‹ des Teils. Deshalb besteht eine selektive Tendenz in Interaktionen mit umgebenden Dingen, sich selbst und gleichzeitig das Ganze zu erhalten, von dem der Teil ein Teil ist. Die Wurzelspitzen einer Pflanze interagieren so mit den chemischen Eigenschaften des Bodens, dass sie der organisierten Lebensaktivität dienen; und so, dass sie vom Rest des Organismus ihren eigenen Anteil an der erforderlichen Nahrung verlangen. Diese durchgängige operative Präsenz des Ganzen in seinen Teilen und des Teils im Ganzen konstituiert Emp14 15 16
Dewey 1925/2007, 244. Falkner and Falkner 2013a, 96–100. Dewey 1925/2007, 246.
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Prozessphilosophische Interpretationen der ontologischen Differenz
findungsfähigkeit – die Fähigkeit zu fühlen –, ob diese Möglichkeit im Pflanzen-Leben nun verwirklicht wird oder nicht … Die Fähigkeit der Empfindung wird dann als Gefühl verwirklicht« 17. Mit dieser Vorstellung der Beziehung von Teilen zum Ganzen eines Lebwesens hat John Dewey Ideen aus dem Korrelationsgesetz von George Cuvier weiterentwickelt. Auf der selektiven Tendenz in Interaktionen mit umgebenden Dingen, sich selbst und gleichzeitig das Ganze zu erhalten, beruht der Selbstbezug der Organismen. Je mehr externe Faktoren in einer derartigen Beziehung auf sich selbst integriert werden, umso intensiver wird nach Whitehead die dabei vom Organismus gemachte Erfahrung. Dies wird in der Achten Kategorie der Subjektiven Intensität ausgedrückt. Sie sagt aus, dass »the subjective aim, whereby there is origination of conceptual feeling, is at intensity of feeling (α) in the immediate subject, and (β) in the relevant future.« 18 Eine Erhöhung der Intensität der Erfahrung ergibt sich dann aus einer besonderen organismischen Ordnung derart, »that the multiplicity of components in the nexus can enter explicit feeling as contrasts, and are not dismissed into negative prehensions as incompatibilities« 19. Dewey ist damit ein Vertreter einer Denktradition, die von Whitehead fortgeführt und mit der Theorie der Wirkwesen von Fetz weiter entwickelt wird. Allerdings gehen wir bei unserer Behandlung der Physiologie der Erfahrung davon aus, dass eine Befriedigung über einen gelungenen Respons auf eine Milieuänderung schon erfahren wird, wenn sich ein Organismus in adaptiven Operationsmodi einer potentiell sinnvollen Struktur annähert. Befriedigung beruht demnach auf der adaptiven Ausrichtung eines Selbstkonstitutionsakts auf einen antizipierten Idealzustand und tritt nicht erst auf, wenn der Organismus in seiner gesamten Formeinheit einen neuen stationären Zustand erreicht hat, da dieser nur kurzzeitig bei Subsystemen, nicht aber im ganzen Organismus vollständig zu verwirklichen ist. Eine Funktionsharmonie wird nur unvollständig verwirklicht, weil sich ein Fließgleichgewicht über die gesamte Organismengesellschaft erstreckt, deren Dynamik das Fließgleichgewicht immerzu verändert. Daher wird das ästhetische Ideal der Verwirklichung einer körperlichen Harmonie nie wirklich erreicht, sondern muss ständig von 17 18 19
Ebd., 247. Whitehead 1929/1978, 27. Ebd., S. 83.
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neuem angestrebt werden. Auf der Basis der von Dewey postulierten organismischen Spannung, die eine Veränderung von Strukturen zum Zweck einer sinnvollen Formgestaltung leitet, wird im nächsten Abschnitt die Funktion eines »Artgedächtnisses« erläutert, das bei einzelligen Lebewesen als Zellgedächtnis auftritt.
4.2.1. Die Integration der Ideen von Whitehead und Dewey zur Konzeption eines Spannungsfeldes als identitätsstiftendes Element in organismischen Entwicklungen Für eine physiologische Behandlung der Wirkung der organismischen Spannung gehen wir von der Idee eines Spannungsfeldes aus. Bei dessen Definition beziehen wir uns im Wesentlichen auf eine von Tobias Müller präsentierte Interpretation der Bracken’schen Supervenienztheorie 20. Im zitierten Text treffen die Eigenschaften der aktualen Entitäten Whiteheads auch auf die von uns beschriebenen ›adaptiven Ereignisse‹ im organismischen Energiefluss zu, da diese in Analogie zu diesen Entitäten konzipiert worden sind: »Die Bracken’sche Supervenienztheorie behauptet also, dass durch die Abfolge von aktualen Entitäten, die in einer gewissen Verbindung zueinander stehen, ein objektiver Kontext entsteht, der gewissermaßen als reale Bedingung für die Entstehung der aktualen Entitäten vorliegt und den Bracken als Feld bezeichnet. Dieser objektive Kontext emergiert zwar durch die Abfolge der aktualen Entitäten, ist aber ontologisch noch einmal von ihnen unterschieden. Wirken verschiedene Felder zusammen, so kann es sein, dass das neu entstehende Feld einen Kontext darstellt, der neue und höhere Eigenschaften hat, als die einzelnen Felder hatten. In einem solchen Feld emergiert dann ein neuer Strang von aktualen Entitäten, die der Struktur des Feldes gemäß neue Eigenschaften haben. Der große Vorteil dieser Theorie der Supervenienz ist nach Bracken nicht nur, dass sie erklärt, wie höhere Entitäten mit Eigenschaften auftreten können, die ihre einzelnen Teile nicht hatten. Ein Vorteil ist vielmehr auch darin zu sehen, dass durch die Wechselwirkung der Felder erklärt werden kann, wie das neu entstehende Feld auch eine kausale Wirkung auf untergeordnete Felder haben kann.« 21 20 21
Bracken 2001, 148. Müller 2009, 291.
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In einer Anwendung dieser Theorie auf die Physiologie postulieren wir, dass eine mangelnde Übereinstimmung zwischen dem tatsächlichen physiologischen Zustand und möglichen Funktionsharmonien vom organismischen Subjekt als objektiver Kontext in der Existenz von Spannungsfeldern erfahren wird. Die Spannungsfelder begleiten die gesamte Entwicklung der Organismen, weil sich Funktionsharmonien nie vollständig verwirklichen lassen (siehe voriges Kapitel). Die Spannungsfelder repräsentieren daher indirekt die idealen Formen von Funktionsharmonien, die von Organismen in unterschiedlicher Weise in ihren Erfahrungs- und Selbstkonstitutionsakten angestrebt werden können. In diesem Prozess stehen die Spannungsfelder zu den adaptiven Ereignissen im Energiefluss einer Zelle in einem dialektischen Verhältnis. Einerseits beruhen die Felder auf diesen Ereignissen und werden von Veränderungen der einzelnen energiekonvertierenden Subsysteme modifiziert. Andererseits beeinflussen sie die Entstehungsbedingungen und den Verlauf nachfolgender adaptiver Ereignisse in einer Zelle. In einem vielzelligen Organismus hat jede Zelle ein eigenes Spannungsfeld, das zum gesamtorganismischen Spannungsfeld ebenfalls in einem dialektischen Verhältnis steht. Auch hier sind die Spannungsfelder der einzelnen Zellen bei ihrer Entstehung dem gesamtorganismischen Spannungsfeld untergeordnet. Diese untergeordneten Felder wirken auf das übergeordnete gesamtorganismische Spannungsfeld zurück, das seinerseits im Organismus die Entstehungsbedingungen neuer Spannungsfelder für neue Zellen beeinflusst. Auf diese Weise differenziert sich das gesamtorganismische Spannungsfeld in der Entwicklung eines Lebewesens immer mehr in untergeordnete Felder, wobei dieser Vorgang von einer logischen Interdependenz der beteiligten idealen Formen von Funktionsharmonien bestimmt wird. Da die Spannungsfelder die gesamte Existenz eines Lebewesens begleiten, werden sie – gemeinsam mit den Funktionsharmonien, die die Individualentwicklung leiten – in der Generationsfolge an die Nachkommen vererbt. Bei Individuen mit gleicher Erscheinungsform bleiben die gleichen Funktionsharmonien mit gleichen artspezifischen Spannungsfeldern in den Generationsfolgen erhalten. Dadurch kommt es zur Vererbung der artspezifischen Anordnung von potentiell sinnvollen Strukturen, wobei Abweichungen von optimal aufeinander abgestimmten Zuständen der Subsysteme vom Organismus in nachfolgenden Erfahrungs- und Selbstgestaltungsakten korrigiert werden. In diesem Prozess wird mit den Spannungsfeldern die Information 102 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
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über die Erscheinungsform der Organismen einer Art von einer Generation zur nächsten weitergegeben. Dazu gehört auch die Logik der Kommunikation mit anderen Organismen, die zur Aufrechterhaltung der gemeinsamen Erscheinungsform einer Art führt. Daher verändert sich eine Art nicht, solange ihr artspezifisches Spannungsfeld erhalten bleibt. Es ist die physiologische Basis für ein »Artgedächtnis«, das gleichbleibenden Manifestationen der Erscheinungsform einer Art zugrunde liegt. Die Idee eines Artgedächtnisses, das sich in der Wiederkehr der Erscheinungsformen und des gemeinsamen Verhaltens von Individuen einer Art äußert, hat eine lange Tradition. Schon Ewald Hering hat die Vererbung von organismischen Strukturen mit der Existenz eines derartigen ›Artgedächtnisses‹ erklärt. Dabei überträgt er die Vermutung, dass Hirnstrukturen eine Erinnerung an oft geübte Verrichtungen bewahren und reproduzieren, auf die Bildung organismischer Strukturen in der Evolution. Er schreibt: »Die ganze individuelle Entwicklungsgeschichte eines höher organisierten Tieres bildet aus diesem Gesichtspunkte eine fortlaufende Kette von Erinnerungen an die Entwicklungsgeschichte jener großen Wesenreihe, deren Endglied dieses Tier bildet« 22. Von einer ähnlichen Idee dürfte auch Ernst Haeckel bei seiner biogenetischen Grundregel inspiriert worden sein. Die Idee eines Gedächtnisses wurde von Ernst Haeckel auch für eine Erklärung der Schönheit bestimmter einzelliger Lebewesen herangezogen. Sie ist für ihn ein Ergebnis eines kreativen Prozesses, der auf ›Formgefühl‹ beruht. So schreibt Haeckel über die Schönheit der Radiolarien: »Die Art und Weise dieser Fabrikation, die bestimmte Gesetzmäßigkeit in der Struktur und das sonstige Verhalten überzeugen uns leicht, dass dieses lebendige Plasma nicht nur Bewegung, sondern auch Empfindung besitzt, namentlich ein »plastisches Distanzgefühl.« Davon ausgehend folgert Haeckel: »Von besonderer Wichtigkeit ist dabei das unbewusste Zellengedächtnis, die »Mneme«, wie Richard Semon es genannt hat. Dieses Z e l l e n g e d ä c h t n i s erklärt uns auch die erbliche Kunstform der Radiolarien, die Tatsache, dass die Kunsttriebe dieser einzelnen Lebewesen – ebenso wie andere »Instinkte« – mechanisch und monistisch zu beurteilen sind« 23. Der hier verwendete Ausdruck »mechanisch« dürfte wohl von Kants Ideen über die teleo22 23
Hering 1912, 17. Haeckel 1913, 11.
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Prozessphilosophische Interpretationen der ontologischen Differenz
logische Natur von Mechanismen und nicht von den Prinzipien der klassischen Physik inspiriert worden sein, in der mechanische Abläufe nicht von Gefühlen bestimmt werden. Dieses Zitat zeigt, dass die Aussagen früherer Forscher nicht immer auf der Grundlage von Auffassungen interpretiert werden dürfen, die auf dem wissenschaftlich-technischen Weltbezug der heutigen Forscher beruhen. Das Artgedächtnis ermöglicht demnach, eine artspezifische Erscheinungsform aufrecht zu erhalten und ein potentiell sinnhaftes Verhalten der Individuen einer Art in identischer Weise zu leiten. Es beherrscht daher über längere Zeit in einem bestimmten Lebensraum die Ausdrucksformen der Individuen einer ganzen Population. Dies betrifft nicht nur den körperlichen Ausdruck, sondern auch die Ausdrucksformen im kommunikativen Verhalten. Dazu zählen einfache Signalübermittlungen bei Mikroorganismen, gemeinsame ›Sprachen‹ durch Bewegungsformen bis hin zu akustischen Verständigungen. Sie dienen dem Austausch von Informationen, von denen jeder Angehörige der betreffenden Art profitiert. Das Artgedächtnis bestimmt die artspezifischen Raum- und Zeiterfahrungen 24, die auf idealen Formen von arteigenen Funktionsharmonien beruhen. Dadurch fungiert das Artgedächtnis als ideelles Regulativ, das sich bei der Bildung des gemeinsamen artspezifischen Formganzen bei den Selbstkonstitutionen der Organismen in ihrer jeweiligen Wirkungssphäre konkretisiert. Ohne die ordnende Funktion einer Synthese zwischen der Erinnerung an vorherige Selbstkonstitutionen in ihrem Lebensraum und einer Vergegenwärtigung der idealen Form ihrer Funktionsharmonie stünden die Lebewesen einer Art in einem stochastischen Chaos. Sie hätten keinen gemeinsamen strukturellen Aufbau, mit dem sie aus einer chaotischen Umgebung eine geeignete Umwelt hervorbringen könnten und wären den Einflüssen ihrer Umgebung hilflos ausgeliefert. Konsequent zu Ende gedacht kann die Idee eines organismischen Spannungsfeldes, das auf dem Beziehungsgefüge adaptiver Ereignisse beruht und die davon abgeleitete Idee eines artspezifischen Spannungsfeldes auch für ein Verständnis der Interaktionen von Lebewesen einer Organismengesellschaft verwendet werden. Wenn in einer Biozönose die einzelnen Arten ihre Funktionsweise aufeinander einstellen, dann wird das Fließgleichgewicht der ganzen Community Die Zeit- und Raumerfahrungen bei Selbstgestaltungsakten der Organismen werden im Kapitel 5 beschrieben.
24
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Die Beziehung zwischen physiologischer Anpassung und Erfahrung bei J. Dewey
zur Plattform für eine übergeordnete Funktionsharmonie 25. Dadurch entsteht auch hier ein übergeordnetes Spannungsfeld, das die gesamte Gesellschaft der Arten umfasst. Es wird sowohl von den untergeordneten Spannungsfeldern von vorhandenen Arten bestimmt, hat aber auch eine Wirkung auf die Entstehungsbedingungen nachfolgender Arten. Auf diese Weise kommt es zu einer funktionellen Integration von Spannungsfeldern der Organismen, der Arten und dem darüber liegenden Spannungsfeld der Artengemeinschaft. Die Evolution der Arten beruht auf einer Weiterentwicklung dieses interdependenten Zusammenhangs von idealen Formen von Funktionsharmonien, die auf den Ebenen der Organismen, der Arten und der Artengesellschaften angestrebt werden. Dabei werden die Beziehungsgefüge zwischen den Konstituenten der verschiedenen Ebenen immer vielfältiger und die Spannungen nehmen zu. Diese Hypothese ermöglicht eine Diskussion der Ideen Bergsons für ein Verständnis der Evolution der Organismen (siehe Unterkapitel 4.5.). Wodurch unterscheidet sich das individuelle Gedächtnis vom Artgedächtnis? Das individuelle Gedächtnis entsteht, wenn die Bildung von körperlichen Konstituenten und Sinnesorganen einem Lebewesen erlauben, in individueller Weise seine Umgebung zu einer angemessenen Umwelt umzugestalten. Das individuelle Gedächtnis enthält nur die Lebenserfahrungen einzelner Lebewesen und erneuert sich mit jeder neuen Erfahrung. Die Organismen streben auch mit den Erfahrungs- und Selbstkonstitutionsakten, auf denen ihr individuelles Gedächtnis beruht, nach idealen Formen von Funktionsharmonien, deren Spannungsfelder sich ebenfalls in die Umwelt des Organismus erstrecken. Ihre Modulationen bei Milieuänderungen sind in das Spannungsfeld des Artgedächtnisses eingebettet und können bei Selbstkonstitutionsakten als individuelle Raum- und Zeiterfahrungen an nachfolgende Generationen vererbt werden. Bei einer Weiterentwicklung der Arten werden die von den Organismen individuell erfahrenen neuen Formen idealer Funktionsharmonien in das Artgedächtnis integriert, wodurch dieses erweitert wird. Solange das Artgedächtnis die von Intentionen geleiteten Bewertungen von Milieuänderungen durch die Individuen einer Art in ähnlicher Weise leitet, findet daher keine Höherentwicklung statt. Erst wenn individuelle Intentionen neue Selbstkonstitutionsakte hervorbringen, deren ideale Formen von Funktionsharmonien zu einem ko25
Ein Beispiel ist die Bakteriengesellschaft in einem See, siehe Kapitel 5.4.
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Prozessphilosophische Interpretationen der ontologischen Differenz
härenten Bestandteil der Funktionsharmonien des Artgedächtnisses werden, wird eine neue Stufe in der evolutionären Entwicklung erklommen. In einer Neuinterpretation der Prinzipien Darwins (siehe Kapitel 7) wäre die gleichbleibende Erscheinungsform einer Art die Manifestation des Artgedächtnisses, die Variationen innerhalb einer Art würden den Selbstgestaltungen des individuellen Gedächtnisses entsprechen. Die Koordination der Funktionsharmonien von organismischen Subsystemen in Hinblick auf eine gesamtorganismische Funktionsharmonie ist die Voraussetzung für die Selbsterfahrung eines Lebewesens als organismische Einheit. Nach Whitehead erfährt sich der Organismus umso intensiver, je mehr Teilprozesse in diesem Prozess integriert werden 26. Demnach wird die Intensivierung des Subjektbezugs mit zunehmender Differenzierung eines vielzelligen Organismus in der Individualentwicklung und in der Evolution der Arten immer größer. In diesem Fall liefern die unterschiedlichen Manifestationen von Subsystemen für das gesamtorganismische Spannungsfeld die Kontraste für eine einheitliche Empfindung des Organismus. Die subjektiv vom Organismus empfundene Intensität der Erfahrung beruht somit auf dem Unterschied der Kontraste, die von einem Organismus integriert werden. Das Streben nach Integration wird gemäß Dewey von der Suche nach einer Satisfaktion über eine gelungene Integrationsleistung geleitet, wobei eine mögliche Satisfaktion auch mit der Zahl der aufeinander abgestimmten Kontraste zunimmt. Bei einem einzelligen Organismus sind kontrastierende Erfahrungen durch die Signalübertragungswege und Aufnahmeprozesse einer einzigen Zelle vermittelt, die bei der Selbstkonstitution dieser Zelle koordiniert werden. Ein prokaryontischer Einzeller integriert auf Grund seiner einfacheren Struktur weniger kontrastierende Erfahrungen in einem einheitlichen Empfinden als eine eukaryontische Zelle. Bei einem vielzelligen Organismus erlauben unterschiedliche Zelltypen die Erfahrung eines breiteren Spektrums von Milieuänderungen, als dies bei einem Einzeller der Fall ist. Hier liefern dann die Erfahrungen einzelner Zellen vielfältigere Kontraste, deren Integration in eine einheitliche gesamt-organismische Funktionsharmonie zu einer weiteren Intensivierung der Erfahrung führt. Bei vielzelligen Prokaryonten bildet der Gesamtorganismus, wenn überhaupt, nur zwei verschiedene Zelltypen aus. Dies ist z. B. bei der fädigen Blaualge 26
Whitehead 1929/1978, 167.
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Anabaena der Fall, wo neben den vegetativen Zellen auch noch stickstoff-fixierende Heterocysten gebildet werden können. Eine weitere Differenzierung in mehrere verschiedene Zelltypen – und damit eine weitere Intensivierung der Erfahrung – ermöglicht das Entstehen der eukaryontischen Zellen. Mit diesem Streben nach Intensivierung der Erfahrung erklärt Whitehead die Evolution von einfacheren zu komplexeren Organismen. Allerdings ist es schwierig, mit Whiteheads Modell der Intensivierung der Erfahrung die Evolution der Arten und die menschliche Geschichte als einen einzigen Prozess zu verstehen. Eine Alternative zu Whiteheads Erklärung der Evolution auf der Grundlage der Philosophie von G. W. F. Hegel wird im Unterkapitel 6.1. präsentiert. Nach dieser alternativen Konzeption löst sich bei einer Höherentwicklung von Organismen das individuelle Gedächtnis in zunehmenden Maß aus den Verstrickungen mit dem Artgedächtnis. Bei der Genese des Selbstbewusstseins kommt es zu einem Konflikt zwischen beiden Gedächtnisformen (siehe Unterkapitel 6.2.). Die traditionelle Biophysik würde das Spannungsfeld, das die gerichtete Dynamik von Selbst-Konstitutionsakten begleitet, als einen ›Phasenraum‹ mit ›Attraktorbahnen‹ interpretieren, die eine Koordination gleichzeitig ablaufender Prozesse auf einen für den Organismus potentiell sinnvollen Endzustand leiten. Auf dieser energetischen Fundierung würde die traditionelle Biophysik versuchen, die Beziehung zwischen Erfahrung und Selbst-Gestaltung mit Modellen der Selbst-Organisation dissipativer Strukturen zu beschreiben. Allerdings ist in diesen Modellen nicht vorgesehen, dass eine vom Organismus vorgenommene Interpretation der Spannungsfelder die adaptive Änderung der Parameter steuert, die den Verlauf der ›Attraktorbahnen‹ bestimmen. Auch die Tatsache, dass in diesem Prozess die Umgebung des Organismus so umgestaltet wird, dass sich ein neues Fließgleichgewicht einstellen kann, wird in diesen Modellen nicht erfasst. Sie müssen daher so erweitert werden, dass der selbst-referentielle und intentionale Aspekt der Interaktion von Organismen mit ihrer Umgebung berücksichtigt wird 27. Durch die Einbeziehung organismischer Intentionen verlieren diese Modelle ihre rein physikalische Natur 28. Dies rechtfertigt die Übernahme der Koutroufinis 1996. Von den Gesetzmäßigkeiten der klassischen Physik und der Quantenmechanik lassen sich Intentionen nicht herleiten.
27 28
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Supervenienztheorie von Bracken. Das Spannungsfeld erlaubt eine Berücksichtigung des Prozesscharakters der Veränderung von Teilen und dem Ganzen eines Systems, in dem der Auf- und Abbau von Konstituenten unaufhörlich vor sich geht. Dabei wird die Bildung neuer Konstituenten durch Modifikationen des Spannungsfeldes beeinflusst, die durch die Bildung vorangegangener Konstituenten verursacht worden sind. Das Spannungsfeld vermittelt so die Weiterentwicklung einer sich selbst bewegenden Bewegung.
4.3. Die Philosophie lebendiger Formen von Ernst Cassirer Nach dem oben Ausgeführten dient die Logik des Stoffwechsels dem Zweck, stationäre Zustände hervorzubringen, die einem geordneten Formganzen entsprechen. Demnach ist ein Organismus ein dynamisches πάντα ῥεῖ, in dem es Kräfte geben muss, die eine mehr oder weniger gleichbleibende artspezifische Erscheinungsform aufrecht erhalten oder sinnvoll verändern. Diese Kräfte können in einem System, in dem alles im Fluss ist, naturgemäß nicht von einer invarianten und vererbbaren Materiekonfiguration als Träger eines wie immer gearteten ›Programms‹ stammen. Die inneren Kräfte eines Systems, das auf den Aufbau sinnhafter Strukturen im jeweiligen ökologischen Kontext ausgerichtet ist, repräsentieren in der hier vorgestellten Theorie der Organismen die geistige Dimension des Lebendigen: Sie manifestiert sich in Erinnerungen der Organismen an vorheriges Streben nach strukturellen Funktionsharmonien und nicht notwendigerweise in irgendeiner Form von ›Bewusstsein‹. Die Erinnerung kann allerdings nur dann zu einem geschichtlichen Faktor in der kreativen Selbsterhaltung werden, wenn sie über eine bloße Reproduktion vorheriger Erfahrungen hinausgeht und stattdessen zu einer kreativen Leistung eines Lebewesens wird. Auf diese Weise lässt sich mit Ernst Cassirer dem Phänomen ›Erinnerung‹ eine prozessorientierte Deutung geben: »Damit gewinnt der Begriff der »Erinnerung« einen reicheren und tieferen Sinn. Hier genügt nicht die bloße Wiederholung des Gegebenen zu einem anderen Zeitpunkt, sondern in ihr muss sich zugleich eine neue Art der Auffassung und Formung geltend machen. Denn jede »Reproduktion« des Inhalts schließt eine neue Stufe der »Reflexion« in sich« 29. In der Reflexion 29
Cassirer 1977, 1. Teil, 23.
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des Vergangenen, dem unter den sich ständig verändernden Milieubedingungen eine jeweils darauf abgestimmte Bedeutung gegeben wird, gewinnt der Organismus bei der Bildung seiner eigenen Strukturen ein Bild von sich selbst, das auf ein potentiell sinnvolles Verhalten ausgerichtet ist. Aus diesem Grund postuliert Robert Rosen, dass ›antizipatorische Systeme‹ die Fähigkeit besitzen, ein Modell ihrer selbst und/oder ihrer Umwelt herzustellen 30. Anthony Trewavas schlug vor, dass ein derartiges Modellieren in einem ›adaptive representational network‹ vor sich gehen könnte 31. Die damit verbundene Selbsterfahrung tritt in der von Cassirer vorgestellten Historisierung des Begriffs »Gedächtnis« immer bestimmter und reicher hervor, je mehr die eigene Bildwelt (des organismischen Subjekts) sich differenziert. Indem die ›Erinnerung‹ der Lebewesen die gesamte Entwicklung der Organismen umfasst, wird das Gedächtnis zur Grundlage für die geschichtliche Natur biologischer Prozesse in der Evolution der Arten und der Individualentwicklung einzelner Organismen. Damit erhält die biogenetische Grundregel von Ernst Haeckel, nach der die Ontogenese eine Rekapitulation der Phylogenese ist, eine geschichtsphilosophische Deutung, die den Kontroversen trotzt, die sie ausgelöst hat. Demnach leitet in jedem Entwicklungsprozess die Erinnerung an vorherige erfolgreiche Ausdrucksformen den Gestaltungswillen eines Lebewesens bei der Ausbildung seiner Erscheinungsform. Mit dem Willen zur Formgestaltung hat sich die Biophilosophie des 20. Jahrhunderts eingehend beschäftigt. Für Georg Simmel zeigt sich in der Formgestaltung »die Transzendenz des Lebens«: »Dass das Leben absatzloses Fließen ist und zugleich ein in seinen Trägern und Inhalten Geschlossenes, um Mittelpunkte Geformtes, Individualisiertes, und deshalb, in der anderen Richtung gesehen, eine immer begrenzte Gestaltung, die ihre Begrenztheit dauernd überschreitet, das ist seine wesenbildende Konstitution … Mit dieser Bewegung in der Transzendenz seiner selbst erst zeigt sich der Geist als das schlechthin Lebendige« 32. In dieser Transzendenz offenbart sich auch für Cassirer die Selbstgestaltung der Lebewesen: »In der geprägten Form hat und begreift [das Leben] sich selbst als unendliche Formungsmöglichkeit,
30 31 32
Rosen 1985, 195. Trewavas 2005, 413–419. Simmel 1918, 1.
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Prozessphilosophische Interpretationen der ontologischen Differenz
als Wille zur Form und als Kraft zur Form« 33. Die Kraft zur Form manifestiert sich bei Cassirer im Übergang einer ›forma formans‹ zu einer ›forma formata‹ : »Das Wechselspiel zwischen beiden macht erst den Pendelschlag des geistigen Lebens selbst aus. Die ›forma formans‹, die zur ›forma formata‹ wird, die um ihrer eigenen Selbstbehauptung zu ihr werden muss, die aber nichtsdestoweniger in ihr niemals gänzlich aufgeht, sondern die Kraft behält, sich aus ihr zurückzugewinnen, sich zur ›forma formans‹ wiederzugebären – dies ist es, was das Werden des Geistes und das Werden der Kultur bezeichnet« 34. Die prozessbiologische Physiologie behandelt dieses Problem in operationeller Hinsicht, indem sie das Wechselspiel von ›forma formans‹ und ›forma formata‹ als Übergang von adaptiven Operationsmodi in adaptierte Zustände interpretiert. In diesem Prozess offenbart sich der Organismus sowohl als produzierendes Subjekt als auch als produzierte Struktur. Dabei wird die transiente Bildung von Strukturelementen ständig von neuem auf eine einheitsbildende Gesamtstruktur ausgerichtet, die von einem Beobachter als etwas ›Geformtes‹ erfahren wird. Der Beobachter kann auch der Organismus selbst sein, in dem das Wechselspiel stattfindet; er erfährt dann, wie oben dargestellt, sich selbst in einer Differenz zwischen dem von ihm Geformten und Deformationen seiner einheitlichen Struktur. Auf dem Streben nach einem Aufheben dieser Differenz beruht die Kreativität der Lebewesen.
4.4. Der Stoffwechsel als Grundlage der organismischen Freiheit bei Hans Jonas Wie oben ausgeführt, versucht Dewey zu erklären, warum ein Organismus danach strebt, ein Fließgleichgewicht nach dessen Störung wiederherzustellen. Er begründet es damit, dass in einem Fließgleichgewicht die Intermediate des Stoffwechsels einer bestimmten organismischen Erscheinungsform entsprechen. Eine Störung des Fließgleichgewichts empfindet ein Organismus als eine Deformation, die er mit der Wiederherstellung eines neuen Fließgleichgewichts zu korrigieren versucht. Auf diese Weise kann ein Organismus eine bestimmte Erscheinungsform aufrechterhalten oder in potentiell sinn33 34
Cassirer 1995, 18. Ebd., 18.
110 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Der Stoffwechsel als Grundlage der organismischen Freiheit bei Hans Jonas
voller Weise verändern. In ähnlicher Weise, nur wesentlich ausgeführter, versucht Hans Jonas, im Stoffwechsel die Entstehung von Empfindungen zu finden. Auch er geht davon aus, dass Organismen nicht nur Ausdehnung, sondern auch Empfindungen und Intentionen haben und fordert daher eine Überwindung der Cartesianischen Trennung mit einem »integralen Monismus auf höherer Stufe« 35. Dieser Monismus manifestiert sich für ihn in der Selbsterzeugung der Lebewesen. Er schreibt, »dass Organismen Dinge sind, deren Sein ihr eigenes Werk ist … dass dieses Tun ihres Tuns ihr Sein selbst ist« 36. »Aufhören des Tuns bedeutet auch ein Aufhören des Seins« 37. Das Tun besteht im »Austausch von Stoff mit der Umwelt« 38, also zum Beispiel mit Sauerstoff. Von der Aufrechterhaltung eines Zustands kommt er zum Metabolismus, bei dem die Stoffe mit einer Umwelt, von der der Organismus abgegrenzt wird, ausgetauscht werden. Das Tun erkennt er im Stoffwechsel, der für Hans Jonas »selber die erste Form der Freiheit ist« 39. Anders als bei nicht-lebenden Dingen, die ihre Form einer ortsfesten Anordnung ihrer Komponenten verdanken, sind Lebewesen durch ihren Stoffwechsel charakterisiert. Freiheit besteht für Hans Jonas aber nicht in einer Auswahl von Verwirklichungsmöglichkeiten, sondern in der Freiheit von einer dinghaften Festlegung der Erscheinungsform durch ortsfeste Komponenten. Im Stoffwechsel tritt ein Organismus so in Beziehung zu seiner Umgebung, dass er mit sich selbst identisch bleibt. »Es ist niemals stofflich dasselbe, und doch beharrt es als dieses identische Selbst gerade dadurch, dass es nicht derselbe Stoff bleibt« 40. Das identische Selbst manifestiert sich in seiner Form. An dieser Stelle macht Hans Jonas einen entscheidenden Schritt, in dem sich der Unterschied zu der von uns vertretenen Theorie der Organismen zeigt: »Zu den grundlegenden Eigenschaften, welche die Existenz eines solchen Dings, wie es der Organismus ist (sic!), gehört die Innen-Außen-Beziehung, die gewöhnlich durch das Begriffspaar ›Organismus-Umwelt‹ ausgedrückt wird. Von dieser Ausgangstatsache, dass nämlich Leben als solches Umgang mit einer Umwelt hat, muss alle vorzeitige Einlegung der Dualität von Subjekt und Objekt 35 36 37 38 39 40
Jonas 1997, 33. Jonas 1992, 82. Jonas 1992, 83. Jonas 1992, 83. Jonas 1997, 17. Jonas 1992, 18.
111 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Prozessphilosophische Interpretationen der ontologischen Differenz
ferngehalten werden. Die Ausgangsbedingung ist eine Umwelt, die an den Organismus angrenzt (sic!); auf dieser Stufe ist Umwelt nichts weiter als das unmittelbar Umgebende, mit dem die chemischen Austauschvorgänge des Stoffwechsels stattfinden« 41. Wie kommt nun Hans Jonas zur ›Subjektivität‹ der Lebewesen? Er findet sie im Unterschied zwischen Pflanze und Tier. Er schreibt über die Pflanze: »Durch den kontinuierlichen Kontakt mit der Versorgungsquelle funktioniert die Organismus-Umwelt-Beziehung automatisch und kein zusätzlicher Apparat für die Anpassung an kurzfristige Veränderungen ist erforderlich« 42. Jedoch »für das Tier befinden sich die relevanten Objekte seiner Umwelt immer in einem Abstand« 43. Darin liegt für Jonas die Wurzel von Motilität, Wahrnehmung und Gefühl. Abständig stellt sich das vereinzelte Individuum der Welt entgegen. »Die Welt ist zugleich einladend und bedrohend. Sie enthält die Dinge, deren das einsame Tier bedarf, und dieses muss sich aufmachen und danach suchen. Sie enthält ebenso die Gegenstände der Furcht, und da das Tier fliehen kann, muss es davor fliehen 44. »Diese prekäre und ausgesetzte Art zu sein verpflichtet zu Wachheit und Bemühung, während pflanzliches Leben schlummern kann … Die Fähigkeit, auf Nahrungssuche auszugehen, entspricht der Notwendigkeit, welche seine Art des Metabolismus dem Tier auferlegt und von der die Pflanze frei ist. Bewegliches Tier ist voll Unruhe und Angst: nichts davon hat das Pflanzenleben« 45. Wie in diesem Schlummern auch Pflanzen, angefangen von einzelligen Algen, ihre Form aufrechterhalten, wird jedoch nicht ausreichend beantwortet. Außerdem müssen auch Pflanzen ihren Metabolismus auf diskontinuierliche Nährstoffzufuhr einstellen. Die zentrale Frage der Organismus-Umweltbeziehung, wie ein Organismus sich selbst in einem Prozess erfährt, in dem die Erzeugung seiner Umwelt aus seiner Umgebung mit einer Eigenstrukturierung einhergeht, behandelt Jonas nicht. Das Sein der Lebewesen besteht für Hans Jonas nicht in einem kreativen Werden, in dem ein Organismus sich unablässig als erfahrendes und empfindendes Subjekt neu konstituiert und dabei neue Eigenschaften gewinnt. Ihr Sein
41 42 43 44 45
Jonas 1997, 188. Jonas 1997, 189. Jonas 1997, 190. Jonas 1977, 191. Jonas 1977, 192.
112 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Der Stoffwechsel als Grundlage der organismischen Freiheit bei Hans Jonas
beruht auf der Aufrechterhaltung eines Status quo, in dem Lebewesen existieren, weil sie Stoffe mit der Umgebung austauschen und Stoffe mit der Umgebung austauschen, weil sie existieren wollen. In seiner Sichtweise ist nicht das Streben nach einem Fließgleichgewicht nach dessen Perturbation durch eine Umweltänderung ein Auslöser für die Selbstgestaltung bei Mikroorganismen, Pflanzen und Tieren. Es gibt auch keinen wesentlichen Unterschied zwischen Umgebung und Umwelt der Lebewesen und auch keine kreative Tätigkeit im Versuch einer Aufhebung dieses Unterschiedes. Bei Jonas wird erst der Organismus verdinglicht und wo das Ding aufhört, beginnt die Umwelt, die dadurch ebenfalls in einer Außenbetrachtung objektiviert wird, anstatt die Objektivierung dem kreativen Organismus zum Zweck einer Weiterentwicklung zu überlassen. Zwischen dem Organismus und seiner Umwelt liegt die Grenze, über die die Stoffe ausgetauscht werden, um sich selbst zu erhalten: »Die Herausforderung der Selbstheit qualifiziert alles jenseits der Grenzen als fremd und irgendwie gegensätzlich, als ›Welt‹, in welcher, durch welche und gegen welche es sich erhalten muss.« 46. Wie aber kommt eine Abfolge chemischer Reaktionen bei Tieren zu einem Selbst, zu Form, Intentionalität, Gefühl und Gedächtnis? Hier implantiert Jonas allerdings in den Stoffwechsel etwas, was sich durch die Biochemie nicht begründen lässt. »Der Stoffwechsel also, die auszeichnende Möglichkeit des Organismus …, ist zugleich seine zwingende Auferlegung … Eine Freiheit des Tuns, aber nicht des Unterlassens … Seine Freiheit ist seine eigentümliche Notwendigkeit« 47. Dem schließt Jonas eine zweite Beobachtung an. »Um Stoff wechseln zu können, muss die lebende Form Stoff zur Verfügung haben, und diesen findet sie außer sich, in der fremden ›Welt‹ … Sein Bedürfnis geht auswärts dorthin, wo die Mittel zu seiner Befriedigung liegen … So ist ›Welt‹ da vom ersten Beginn: ein Horizont aufgetan durch die bloße Transzendenz des Mangels, welche die Vereinzelung innerer Identität in einen Umkreis vitaler Beziehungen ausweitet« 48. Damit »schließt diese Transzendenz Innerlichkeit oder Subjektivität ein, die alle in ihrem Horizont vorkommenden Begegnungen mit der Qualität gefühlter Selbstheit durchtränkt, wie leise ihre Stimme auch sei. Sie muss da sein, damit Befriedigung oder Vereitelung einen Unterschied macht. 46 47 48
Jonas 1992, 24. Jonas 1992, 25. Jonas 1992, 25.
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Prozessphilosophische Interpretationen der ontologischen Differenz
Ob wir diese Innerlichkeit Fühlen, Reizempfindlichkeit und -erwiderung, Streben oder wie immer nennen – in irgendeinem Grad von ›Gewahrsein‹ beherbergt sie das absolute Interesse des Organismus am eigenen Dasein und dessen Fortgang – d. h. sie ist ›egozentrisch‹ –, und gleichzeitig überbrückt sie die qualitative Kluft zum Rest der Dinge durch Modi wechselnder Beziehung, die mit ihrer Besonderheit und Dringlichkeit für den Organismus an die Stelle der allgemeinen Integration materieller Dinge in ihre physische Umgebung treten … In der Affektion durch ein Fremdes fühlt das Affizierte sich selbst« 49. Das so begründete ›Bedürfnis‹ hat für Jonas eine wichtige Implikation: »Mit dem Begriff ›Bedürfnis‹ sind wir auf eine Eigenschaft des Organischen gestoßen, die einzig dem Leben zukommt und die der ganzen übrigen Wirklichkeit unbekannt ist … Seine Macht, die Welt zu benutzen, dieses einzige Vorrecht des Lebens, hat ihre genaue Kehrseite in dem Zwang, sie benutzen zu müssen, bei Strafe des Seinsverlustes« 50. »So geht Bedürfnis von Anbeginn damit einher und kennzeichnet die auf solche Weise gewonnene Existenz als ein Schweben zwischen Sein und Nichtsein. Das ›nicht‹ liegt stets auf der Lauer und muss immer von neuem abgewehrt werden. Mit anderen Worten: Leben trägt den Tod, seine Negation, in sich selbst« 51. Damit macht Hans Jonas den Tod und die Gefährdung der eigenen Existenz zu einem zentralen Begriff, von dem die Fortdauer der tierischen Existenz abhängt. In dieser Hinsicht unterscheidet sich seine Theorie des Organismus von den von uns entwickelten Ideen über das Lebendige, nach der ein Lebewesen seine kontinuierliche Existenz einer unablässig stattfindenden ›autopoietischen Auferstehung‹ verdankt. Damit ließe sich ein neues Wirklichkeitsverständnis gewinnen, auf das die Aussage von Hans Jonas: »Unser Denken heute steht unter der Dominanz des Todes« 52 hoffentlich nicht mehr zutrifft. In der hier präsentierten Organismustheorie wurden jedoch bestimmte Motive der tierischen Selbsterfahrung von Hans Jonas für alle Lebewesen übernommen. Allerdings verwirklicht sich Freiheit in unserer Organismustheorie nicht im Stoffwechsel allein, sondern in den verschiedenen Möglichkeiten einer Umweltgestaltung mit 49 50 51 52
Jonas 1992, 26. Jonas 1992, 85. Jonas 1992, 86. Jonas 1997, 31.
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Die Ereignisnatur des Gedächtnisses bei Henri Bergson
Hilfe des Stoffwechsels. Eine »Dominanz des Todes« spielt deshalb keine Rolle, weil die überwiegende Menge der Lebewesen, unter anderem die Mikroorganismen, potentiell unsterblich ist. Für Jonas spielen die Mikroorganismen, wie übrigens für die meisten Philosophen der Biologie, überhaupt keine Rolle.
4.5. Die Ereignisnatur des Gedächtnisses bei Henri Bergson Bergson ist für die hier vorgestellte Theorie der Organismen deshalb besonders wichtig, weil er das Gedächtnis nicht mit neuronalen Verschaltungsmustern und deren »Aktionspotentialen« erklärt, sondern weil er wie Cassirer die Erinnerung zu einem Akt der kreativen Selbsterhaltung macht. Wir haben in den Experimenten in Kapitel 3 das Zellgedächtnis in adaptiven Ereignissen bei der Gestaltung energiekonvertierender Subsysteme festgemacht und gezeigt, wie bei einer Verknüpfung dieser Ereignisse vergangene Erfahrungen mit zukünftigen Selbstgestaltungen der Zelle verbunden werden. Die auf den experimentellen Befunden aufbauenden theoretischen Überlegungen können mit der Prozessphilosophie von Henri Bergson verallgemeinert werden. Da seine Philosophie wichtige Anregungen für ein Verständnis des Problemkreises Gedächtnis, kreative Selbstgestaltung in Erfahrungsakten, Geschichtlichkeit der Individualentwicklung und der Evolution der Arten liefert, soll sie kurz erläutert werden. Wir beziehen uns dabei im Wesentlichen auf die Interpretation Bergsons im Buch »Organismus als Prozess. Begründung einer neuen Biophilosophie« von Spyridon Koutroufinis 53. In der hier vorliegenden Darstellung von Bergson nehmen wir eine prozessbiologische Deutung der Interpretation von Spyridon Koutroufinis vor. Auch für Bergson beruht die Wiederkehr und Neugestaltung der Strukturen von Organismen auf ihrem Gedächtnis, bei dem das ›Gewesene‹ nur dann in Erinnerungen präsent ist, wenn es in einem gegenwärtigen Erleben vergegenwärtigt wird. Jede Erinnerung des ›Gewesenen‹ umfasst die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einer organismischen Entität, die sich dabei selbst neu bestimmt und erlebt. Dies macht für Bergson die Erinnerung zu einer unteilbaren Einheit, einer ›durée‹ 54, die im zellphysiologischen Bereich mit einem ›adap53 54
Koutroufinis 2019. Bergson 1994, 77–80.
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Prozessphilosophische Interpretationen der ontologischen Differenz
tiven Ereignis‹ vergleichbar ist. Eine durée ist ein kreativer Prozess, der in seiner eigenen Hervorbringung sein Ziel erst festlegt. Sie ist daher nicht wirk- und endursächlich vorherbestimmt und ihr Verlauf aus diesem Grund unvorhersehbar. In einer durée existiert das Formende und das Geformte (als die forma formata und als die forma formans von Cassirer, siehe Unterkapitel 4.3.) in einem ›wesenhaften Ineinander‹. Dies widerspricht naturgemäß jedem neurophysiologischen Determinismus. Bergson bleibt in konsequenter Durchführung seiner Ideen nicht beim individuellen Gedächtnis eines einzigen Individuums stehen, sondern erweitert es – in einer organismischen Interpretation des Universums, wie sie auch in dieser Schrift vorgenommen wird – auf alle Arten von Selbstverwirklichungsakten, aus denen Konstituenten der Wirklichkeit hervorgehen. Für Bergson ist das Universum eine »ununterbrochene Schöpfung von unvorhersehbarem Neuen« 55. Er ähnelt darin Nietzsche, der »die Welt als ein sich selbst gebärendes Kunstwerk« 56 begreift. Das Universum ist ein Kunstwerk, das in den eigenen Verwirklichungen erst seine Möglichkeiten schafft. Dabei gibt es eine Wesensverwandtschaft zwischen allen kosmischen Erinnerungsakten, deren Unterschiede sich vom Werden der anorganischen Welt über die Evolution der Lebewesen bis zum Bewusstsein erstrecken. Diese Wesensverwandtschaft macht eine Interaktion des Bewusstseins mit neuronalen Prozessen überhaupt erst möglich. Auf der untersten Ebene der Wirklichkeit entsteht in den einfachsten durées die nicht-lebende Materie. Diese einfachsten durées kann man Quantenphänomenen zuordnen, die sich mit Wellenfunktionen von Protonen, Neutronen, Elektronen und Atomen beschreiben lassen. Bei der Hervorbringung eines makroskopischen und nicht-lebenden Dings der Welt (z. B. einem Stein) wirken die durées der Quantenphänomene in dem betreffenden Ding in distinkter Weise zusammen. Diese Idee hat Whitehead für eine Erklärung der Genese materieller Körper aus Gesellschaften von ›actual entities‹ übernommen 57. Unter dem Einfluss der makroskopischen Umgebung kommt es zu ganz bestimmten Überlagerungen der Materiewellen jedes dieser Quantenphänomene. Sie führen dazu, dass aus den Materiewellen transient existierende korpuskulare Teilchen des makro55 56 57
Bergson 1993, 110. Nietzsche 1959, IV. Der Wille zur Macht als Kunst, § 796. Whitehead 1929/1978, 101.
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Die Ereignisnatur des Gedächtnisses bei Henri Bergson
skopischen Dings hervorgehen, die als Bestandteile des Dings nachfolgende Quantenphänomene in ähnlicher Weise beeinflussen. M. a. W., in jeder durée entsteht aus einer Materiewelle ein korpuskularer Konstituent der wirklichen Welt. Die Existenz der korpuskularen Manifestation ist deshalb transient, weil die durées eines Quantenphänomens gequantelt existieren. Auf diese Weise ererbt jedes Quantenphänomen die Ergebnisse vorangegangener Quantenphänomene, was zur Aufrechterhaltung der Eigenschaften des nicht-lebenden Dings führt, dessen Teil sie sind. In diesem Fall sind die kürzeren durées der Quantenphänomene in eine längere durée des makroskopischen Dings eingebettet und werden einerseits von ihm bestimmt, bestimmen aber andererseits auch dieses. Man kann auf Grund dieser Beziehung zwischen der Selbstgestaltung einer durée und der von ihr erfassten Umgebung den durées eine ›protomentale‹ Aktivität zusprechen. Sie ist darauf ausgerichtet, in einer Wiederholung vorangegangener Überlagerungen von Wellenfunktionen die Elementarteilchen unablässig von neuem wieder zu erzeugen. Die Kreativität dieser mikrokosmischen durées vollzieht sich nacheinander in sich selbst wiederholenden, quantenphysikalischen Schwingungen, deren materielle Eigenschaften erst nach der Vollendung ihres Werdens von außen erfasst werden können. Die transiente Wiederholung der Eigenschaften mikrophysikalischer Prozesse vollzieht sich in der durée eines makroskopischen Dings, dessen Existenz die niedrigsten durées seiner Elementarteilchen überdauert. In ähnlicher Weise ist auch die durée des Dings einer noch länger existierenden durée untergeordnet, die die Interaktion von Lebewesen mit Dingen beinhaltet. In einer Verallgemeinerung lässt sich auf diese Weise eine Hierarchie der Ebenen konstruieren, bei der viele durées niederer Ebenen über durées höchster Geistigkeit bis hin zu einer durée des Universums, die Bergson als ›élan vital‹ 58 bezeichnet, fortlaufend ineinanderfließen. Der élan vital wirkt auf alle niederen Ebenen ein und wird von ihnen beeinflusst. »So wie das winzigste Staubkorn mit unserem gesamten Sonnensystem zusammenhängt und mit diesem in jener ungeteilten Abwärtsbewegung, die die Materie selbst ist, mitgerissen wird, so lassen auch alle organisch-strukturierten Wesen, vom geringsten bis zum höchsten, von den ersten Ursprüngen des Lebens an bis zu unseren heutigen Zeiten, und wie zu allen Zeiten so auch an allen Orten, lediglich 58
Bergson 2013, 124.
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Prozessphilosophische Interpretationen der ontologischen Differenz
einen einzigen, umgekehrt zur Bewegung der Materie verlaufenden und in sich selbst unteilbaren Impuls sichtbar werden. Alle Lebenden halten sich aneinander, und alle geben demselben ungeheuren Drang nach« 59. Die verschiedenen durées unterscheiden sich in der Intensität einer ›inneren Spannung‹ oder ›tension‹ einer Dauer, die ihre Entwicklung bestimmt. In der durée eines Quantenphänomens äußert sich die Spannung in »Schwingungen von organischen Deformationen« 60 bei einer Hervorbringung sinnvoller Konstituenten einer größeren Ganzheit. In den nicht-lebenden Bestandteilen der Welt resultiert eine Spannung aus der energetischen Unbestimmtheit der als Elementarteilchen an den verschiedenen Orten lokalisierten Wellenfunktionen. Bei Lebewesen existiert ebenfalls eine innere Spannung. Wir haben sie mit Abweichungen der organismischen Struktur von angemessenen Funktionsharmonien begründet. Im Beziehungsgefüge einer Gesellschaft von Organismen entsteht in ähnlicher Weise eine Spannung. Sie wird durch Abweichungen von einem harmonischen Miteinander der verschiedenen Lebewesen auf Grund ihrer diversen Aktivitäten verursacht. Je höher die Spannung einer durée, umso länger ist ihre Dauer. Die durée des Universums hat die höchste Spannung. Sie enthält die gesamte Evolution des Universums in einer einzigen, vergegenwärtigten Dauer. Unsere Theorie der organismischen Kreativität ist von Ideen Bergsons über die Wechselbeziehung der durées der verschiedenen Ebenen inspiriert. Bei Lebewesen stehen die durées der einzelnen Erinnerungsakte in Beziehung zu einem individuellen Gedächtnis, das die gesamte Lebensgeschichte in einer kreativen Selbstgestaltung umfasst. Auch ein einzelner Organismus enthält verschiedene Ebenen, wobei bei einer Erfahrung von Umweltänderungen die adaptiven Ereignisse auf der Ebene von energiekonvertierenden Subsystemen mit darüber liegenden Ebenen interagieren. In diesem Prozess wachsen die Subsysteme bei Erinnerungs- und Erfahrungsakten zu größeren Einheiten zusammen. Auf jeder Ebene aktualisiert sich in distinkter Weise das spannungsgeleitete Streben nach einer Funktionsharmonie zwischen Organismus und seiner Umwelt, deren logische Struktur aber nicht schon vor der Verwirklichung als Möglichkeit in einem unabhängig existierenden Zustandsraum vorgegeben war, sondern erst im Entstehungsprozess erzeugt wird. Mit anderen Worten, das Werden von 59 60
Bergson 2013, 306. Whitehead 1988, 159.
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Die Ereignisnatur des Gedächtnisses bei Henri Bergson
Funktionsharmonien folgt einer virtuellen Logik, die sich in ihren Entstehungsprozessen aktualisiert. In diesem Prozess wirken durées mit niedrigerer und höherer Spannungen in einer Hierarchie von interdependenten Wechselwirkungen aufeinander ein, wobei das virtuell Vorhandene einer gesamtorganismischen durée in den unterschiedlichen Erscheinungsformen der gesamten Lebensdauer aktualisiert wird. In der Individualentwicklung höherer Lebewesen aktualisiert sich die Virtualität der Zygote in durées verschiedener Ebenen, die nach der Embryogenese in der weiteren Entwicklung potentiell die höchsten geistigen Ebenen erreichen kann, wobei beim Menschen die höchste Ebene nur von wenigen Individuen bei der Gestaltung ihrer Lebenswelt mit großen Anstrengungen erlangt wird. Auch Bergson postuliert für den ähnlichen Verlauf der Entwicklung von Organismen einer Art ein überindividuelles Artgedächtnis 61, das in bestimmten Fällen Organisationen wie Insektenstaaten gleichsam zu einem einzigen Organismus werden lässt. Dieses überindividuelle Artgedächtnis ist für artspezifisches Verhalten verantwortlich. Die weitere Differenzierung der Lebewesen in unterschiedliche Arten wird von einer durée begleitet, die eine Gesellschaft von Arten repräsentiert. Ihre Spannung ergibt sich aus einem virtuell existierenden Beziehungsgefüge der beteiligten Arten und dessen Aktualisierung im Streben nach einer Funktionsharmonie der jeweiligen Biozönose. Treten mehrere Artengesellschaften in Beziehung zueinander, dann bildet sich eine durée mit noch größerer Spannung aus, die das Beziehungsgefüge der verschiedenen Artengesellschaften umgreift, wobei das Verhältnis von Virtuellem und dessen Aktualisierung weitere Differenzierungen erfährt. Schließlich umfasst die durée aller vorhandenen Organismengesellschaften die ganze Erde. Die terrestrische durée steht dann in Wechselwirkung mit der durée des Sonnensystems, aus dem sie im Sinne der Gaia-Hypothese hervorgegangen ist. In der phylogenetischen Entwicklung der Arten, die diese Differenzierung der Ebenen begleitet, aktualisiert sich die Virtualität des élan vital. Diese prozessphilosophische Sichtweise macht die Evolution der Arten zu einem Vorgang, an dem alle Organismen in Selbstkonstitutionsakten gleichzeitig beteiligt sind, was für Ökologen wesentlich interessanter ist als die ›Synthetische Theorie‹ der Evolution (mit und ohne Erweiterungen), bei der das Gedächtnis für vergangene Ereignisse keine Rolle spielt und auch nicht erklärt wird. 61
Bergson 2013, 193.
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Prozessphilosophische Interpretationen der ontologischen Differenz
4.6. Die Theorie der Wirkwesen von Reto Luzius Fetz Die Theorie der Wirkwesen von Reto Luzius Fetz geht von der Grundthese aus, dass die Letztelemente der Wirklichkeit Entitäten sind, denen innerlich ein Wirken zukommt, aus dem sie selbst hervorgehen 62. »›Wirklichsein‹ heißt, sich selbst verwirklichen; ›sich selbst verwirklichen‹ heißt wirklich sein« 63. Dieser Prozess erfolgt in einer Beziehung auf andere Wirkwesen. Damit weisen Wirkwesen die gleichen Eigenschaften wie Lebewesen auf, bei denen ein konstitutives Bezogensein auf Manifestationen anderer Organismen mit der Erfahrung ihrer je eigenen Umwelt einhergeht 64. In einer konstitutiven Beziehung zwischen Organismen kommt es zu realen Verwirklichungen von idealen Formen, die den Erscheinungen organismischer Strukturen zugrunde liegen und die in der Interaktion von Organismen in je spezifischer Weise erfahren werden. Mit ›real‹ ist gemeint, dass die Verwirklichungen idealer Formen in Raum und Zeit existieren und einem Entstehen und Vergehen unterworfen sind. Im Gegensatz dazu wird mit dem Ausdruck ›ideal‹ in der Theorie der Wirkwesen etwas bezeichnet, das »über Raum und Zeit steht, kein Entstehen und Vergehen kennt, … sich nicht verändert, allgemein (universell) und notwendig ist. »Ideale Formen« sind Strukturgebilde, die diese Eigenschaften aufweisen. Paradigmatisches Beispiel hierfür sind die geometrischen Formen. Diese idealen Formen bilden ein »Reich«, weil sie hierarchisch untereinander geordnet sind« 65. Bei einer Höherentwicklung der Wirkwesen, die von ihnen selbst vorangetrieben wird 66, differenzieren sich die idealen Formen, wobei früher aufgetretene ideale Formen als Substrukturen in höheren Formen integriert werden. Gleichzeitig nimmt die Subjektivität der Wirkwesen mit einer zunehmenden Intensität des Existierens, Lebens und Erlebens bis zum vollen Selbstbesitz im Menschen graduell zu 67. Die Theorie der Wirkwesen eröffnet die Möglichkeit, eine umfassende organismische Wirklichkeitslehre auszuarbeiten. Dieses Siehe Fetz, Band I der vorliegenden Schriftenreihe über Biophilosophie, Fetz 2019. Fetz 1981, 127. 64 Diese Formulierung berücksichtigt die Organismus-Definition von Fetz 1981, 79: »Ein Organismus ist eine individuelle Einheit, die konstitutiv auf andere solche Einheiten bezogen ist.« 65 Siehe Fetz, Band I der vorliegenden Schriftenreihe über Biophilosophie, 3.7.5. 66 Ebenda, 3.4.6. 67 Ebenda, 3.2.6. 62 63
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Die Theorie der Wirkwesen von Reto Luzius Fetz
Vorhaben ist naturgemäß noch in einem statu nascendi und bedarf der Kooperation mit verschiedensten wissenschaftlichen Richtungen. Davon ist dann auch eine Rückwirkung auf die Theorie der Wirkwesen zu erwarten, bei der das Moment der Freiheit und der Geschichtlichkeit in der kreativen Selbstverwirklichung stärker als in der gegenwärtigen Ausarbeitung berücksichtigt werden könnte. In diesem Zusammenhang verdient auch die Rolle des Gedächtnisses bei der Umwelterfahrung der Wirkwesen eine Vertiefung. Bei der Unterscheidung zwischen Dingen und Lebewesen kommt den in der Theorie der Wirkwesen beschriebenen »Transformationssystemen« eine besondere Bedeutung zu. Die Strukturen der Wirkwesen sind Transformationssysteme, »die einen nach außen offenen, in sich jedoch geschlossenen Kreis bilden« 68. Ihre physiologische Basis bedarf noch einer ergänzenden Erklärung, die auch auf Elementarteilchen, die Fetz zu den einfachsten Wirkwesen zählt, anwendbar ist. Die Funktion von metabolischen Kreisprozessen kann daher nur in begrenztem Maß für eine Charakterisierung von Transformationssystemen herangezogen werden. Ergänzende Erklärungen erfordert auch die »Filiation von Strukturen«. »Damit ist ausgesprochen, dass die Strukturen von den niedrigsten bis zu den höchsten in einem durchgehenden Entwicklungszusammenhang stehen. Den Anfang bilden die physikalischen Strukturen, darauf folgen die biologischen und schließlich die kognitiven Strukturen« 69. Wenn die Letztelemente der Wirklichkeit organismische Prozesseinheiten sind, dann können Lebewesen nicht aus physikalischen Strukturen hervorgegangen sein, es sei denn, man billigt diesen Strukturen ebenfalls organismische Eigenschaften zu. Dies wird zwar konsequenterweise von Fetz gemacht, indem er jeder Struktur eine ontologische Differenz zwischen einer strukturierten und einer strukturierenden Manifestation zuordnet. Aber als Physiologe hat man hier die Schwierigkeit, diese Differenz beispielsweise in einem Lignin- oder Glykogenmolekül aufzufinden. Das Invariante in jeder Weiterentwicklung der Theorie der Wirkwesen bleibt die These, dass die Letztelemente der Wirklichkeit organismische Prozesseinheiten sind, die sich fundamental von dinghaften Entitäten unterscheiden. Auch die Teilhabe von idealen Formen an realen Verwirklichungsmöglichkeiten der Selbstkonstitution 68 69
Ebenda, 3.4.2. Ebenda, 3.4.8.
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Prozessphilosophische Interpretationen der ontologischen Differenz
in Erfahrungsakten gehört zu den bleibenden Kernelementen dieser Theorie. Für eine Übernahme der Idee der »idealen Formen« in die Biologie muss jedoch zwischen den idealen Formen, die der Selbstkonstitution eines Lebewesens zugrunde liegen und den idealen Formen, mit denen dieses Lebewesen von anderen Organismen erfahren wird, unterschieden werden. Dies führt zu der Frage, welche Wirkung die idealen Formen bei der Selbstgestaltung einer Gruppe von Lebewesen auf die idealen Formen bei Selbstgestaltungen von anderen Gruppen von Organismen ausüben. Bei diesem Prozess spielt die Dynamik der idealen Formen von Funktionsharmonien eine entscheidende Rolle.
4.6.1. Die Entwicklung der Organismen als eine von SinnNotwendigkeiten geleitete Abfolge idealer Formen von Funktionsharmonien Durch unterschiedliche Einwirkungen auf seine Umgebung kann ein Organismus distinkte Funktionsharmonien in den darauf abgestimmten Fließgleichgewichten anstreben. Dabei entstehen neue Spannungsfelder, die in Beziehung zu unterschiedlichen idealen Formen von Funktionsharmonien stehen. Die Entwicklung von Organismen beruht auf einer Abfolge idealer Formen von Funktionsharmonien, die in einem logischen Sinn-Zusammenhang stehen. Jede dieser Funktionsharmonien repräsentiert dann aber nur eine transiente ideale Verwirklichung stationärer Zustände, die im Verlauf der Entwicklung entstehen und wieder vergehen. Dieser Prozess löst ein Streben nach einer organismischen Gliederung aus, in der das Zusammenspiel seiner Teilprozesse harmonisch funktioniert. Bei dieser Gliederung kommt es in späteren Stadien zu einer funktionellen Integration der in früheren Stadien angestrebten Funktionsharmonien, die in den zugehörigen Spannungsfeldern weiterhin präsent sind. In der Beziehung zwischen der logischen Entwicklungsmöglichkeit von Funktionsharmonien und den dadurch geleiteten Veränderungen der jeweiligen Struktur äußert sich das ›Werden zur Form‹. Auch bei der Höherentwicklung von Lebewesen sind adaptive Ereignisse die Letztelemente biologischer Selbstkonstitutions- und Erfahrungsakte, hinter die man nicht mehr zurückgehen kann, um etwas Elementareres zu finden, von dem sich dieser Prozess ableiten ließe. Nur ist es bei einer Höherentwicklung nicht so, dass in einem 122 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Rolle der Spannungsfelder bei der Embryonalentwicklung
adaptiven Response auf Änderungen der Umgebung ausschließlich die Ergebnisse der unmittelbar vorangegangenen adaptiven Ereignisse übernommen werden. In diesem Fall würden bei der gegenseitigen Neuanpassung von Subsystemen immer wieder die gleichen Funktionsharmonien angesteuert werden, sodass eine bestimmte Erscheinungsform erhalten bliebe. Dies würde komplexere Entwicklungen verhindern, wie das Hervorgehen eines adulten Organismus aus einer befruchteten Eizelle oder die Evolution der Arten. Aus diesem Grund steht die Veränderung adaptiver Ereignisse bei biologischen Entwicklungen in einem auseinander hervorgehenden Sinn-Zusammenhang. Er umfasst den gesamten Prozess der Entwicklung eines Lebewesens unter den jeweils vorherrschenden Milieubedingungen. Auf dieser Basis werden vorherige Sinn-Notwendigkeiten in nachfolgenden Entwicklungen in Form eines Gedächtnisses so konkretisiert, dass dabei größere organismische Einheiten mit einer Zunahme von Selbstverwirklichungen entstehen können. Dabei wird der logische Sinnzusammenhang einer Abfolge der angestrebten idealen Formen von Funktionsharmonien bei vorherigen Selbstkonstitutionen in späteren adaptiven Ereignissen wiederholt und erweitert. Als Beispiel dient eine Abfolge von Sinn-Notwendigkeiten in den Funktionsharmonien im Verlauf einer Embryonalentwicklung. Dies wird im nächsten Unterkapitel 4.7. beschrieben.
4.7. Die Rolle der Spannungsfelder bei der Embryonalentwicklung Die Differenzierung eines sich sexuell fortpflanzenden tierischen Lebewesens während der Entwicklung einer befruchteten Eizelle zu einem adulten Organismus erlaubt nicht nur Einblicke in die Funktion von Spannungsfeldern. Sie erleichtert auch im Sinne von Haeckels biogenetischer Grundregel ein Verständnis der Höherentwicklung der Lebewesen in der Evolution der Arten. In Anwendung des Spannungsfeldmodells darf man postulieren, dass zunächst aus dem Feld der polaren Zygote bei nachfolgenden Zellteilungen untergeordnete Felder entstehen. Sie leiten dann in distinkter Weise die weitere Zelldifferenzierung. Im Zusammenwirken der untergeordneten Felder wird dabei wiederum ein neues Feld mit höheren Eigenschaften gebildet, das mit einer Intensivierung des Subjektbezugs einhergeht. In diesem Prozess entsteht bei der Entwicklung eines tierischen 123 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Prozessphilosophische Interpretationen der ontologischen Differenz
Organismus aus den ersten Zellteilungen eine kugelförmige Ansammlung wenig differenzierter Zellen, die Morula, deren Form durch die Interaktion der Zellen untereinander und mit dem externen Milieu bedingt ist. Da die Adhäsion der Zellen untereinander größer ist als deren Bindung an die Wassermoleküle des umgebenden Milieus, wird das Verhältnis der Oberfläche zum Volumen minimiert, wie dies bei einer Kugel der Fall ist. Dadurch ist die Form der Morula durch physikalische Wechselwirkungen der Zellen untereinander und mit dem externen Milieu bestimmt. Schon in der Morula unterscheidet sich die Beziehung der einzelnen Zellen zu ihrer Umgebung: Die Zellen an der Oberfläche interagieren mit dem externen Milieu, während die Zellen im Inneren des Zellhaufens untereinander in Wechselwirkung stehen. Dieser Unterschied führt dazu, dass die Zellen an der Oberfläche in einer anderen Weise mit Nährstoffen versorgt werden als die Zellen im Inneren der Kugel, was eine Ausbildung unterschiedlicher stationärer Zustände zur Folge hat, deren Integration in einem wachsenden Zellhaufen immer schwieriger werden und die gesamt-organismische Spannung erhöhen würde. Dem entgeht die Morula dadurch, dass die Zellen im Inneren der Kugel eine Flüssigkeit abscheiden, von der sie sich wieder abgrenzen. Dadurch bildet sich eine Hohlkugel mit Epithelwänden. In dieser Hohlkugel können die Zellen ähnliche stationäre Zustände ausbilden, weil der Abstand der im Inneren der Hohlkugel liegenden Zellen zum externen Milieu verringert wird (ein zu großer Unterschied in den stationären Zuständen der einzelnen Zellen würde zusätzliche Spannungen im Energiefluss verursachen, siehe Unterkapitel 4.2.). Diese Hohlkugel wird als Blastula bezeichnet. Die Form der Hohlkugel ist weniger stabil als die der Morula. Dies eröffnet die Möglichkeit einer antizipatorischen Formveränderung, die so verwirklicht wird, dass sich ein Teil der Hohlkugel nach innen stülpt und an die Zellen der Außenseite anlagert. Auf diese Weise entsteht die charakteristische Form der Gastrula, in der die gegenseitige Erfahrung der untereinander in Kontakt stehenden Zellen eine weitere Differenzierung von Erfahrungen im Sinne einer Aufgabenteilung für den entstehenden Gesamtorganismus ermöglicht. Von dieser Differenzierung ist nicht nur die an der Oberfläche liegende Zellschicht betroffen, sondern auch die nach der Einstülpung ganz innen liegende Zellschicht und die zwischen diesen beiden Schichten verbleibende Mittelschicht von Zellen. Dabei übernimmt die an der Oberfläche liegende Zellschicht (das Ektoderm) die Interpretation von Änderun124 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Rolle der Spannungsfelder bei der Embryonalentwicklung
gen der Umgebung in Hinblick auf die Versorgung mit lebensnotwendigen Nährstoffen. Zu diesem Zweck entwickelt sich das Ektoderm zur Haut und zum Nervengewebe. Aus den in die Innenseite der Hohlkugel eingestülpten Zellen (dem Endoderm) entwickelt sich in der weiteren Folge der Verdauungstrakt. Aus der zwischen dem Ektoderm und dem Endoderm liegenden Mittelschicht, die als Mesoderm bezeichnet wird, entstehen die Teile, die es dem adulten Organismus erlauben, Ortsveränderungen vorzunehmen (Skelette, Muskeln, Blut). Die Differenzierung des Ektoderms, Mesoderms und Endoderms wird exakt aufeinander abgestimmt: Zu diesem Zweck werden die Haut- und Nervenzellen, die sich aus dem Ektoderm entwickeln, so auf Erfahrungen von Milieuänderungen ausgerichtet, dass der Organismus Ortsveränderungen in einer für ihn sinnvollen Weise (z. B. Nahrungsaufnahme) vornehmen kann. Dazu muss jedoch die zukünftige Beweglichkeit des Organismus mit Hilfe des Skeletts, der Muskeln und ihrer Blutversorgung, die aus dem Mesoderm entstehen, mit der Erfahrungsfähigkeit der aus dem Ektoderm hervorgehenden Haut- und Nervenzellen akkordiert werden. Gleichzeitig wird der aus den Zellen des Endoderms entstehende Verdauungstrakt an die Aktivität der Zellen angepasst, die aus dem Ektoderm und Mesoderm gebildet werden. Die Entwicklung des Organismus steht daher in einem Sinnzusammenhang, der ein die gesamte Entwicklung umgreifendes koordinierendes Prinzip erfordert. Es lässt sich nach dem oben Ausgeführten damit erklären, dass die auf unterschiedlichen Erfahrungen beruhenden Spannungsfelder der einzelnen Zellen in einem übergeordneten Spannungsfeld koordiniert werden, das die einheitlichen Erfahrungen des gesamten Organismus vorwegnimmt. Dies wird dadurch ermöglicht, dass das übergeordnete Spannungsfeld von einer Abfolge stationärer Zustände bestimmt wird, die mit einer Intensivierung des Subjektbezugs einhergehen. Dieser Prozess wird durch Signalübertragungswege und andere energiekonvertierende Subsysteme vermittelt. Nach dieser Konzeption ist ein Zusammenwirken von Feldern einzelner Zellen in übergeordneten Feldern für die Konkreszenz mehrerer aufeinander abgestimmter Zellen zu größeren innerorganismischen Einheiten wie Organen oder diversen Gewebearten verantwortlich. Das Zusammenwirken dieser Einheiten wird demnach von einem gesamt-organismischen Feld bestimmt, das seinerseits aus den in früheren Entwicklungsstadien produzierten Feldern her125 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Prozessphilosophische Interpretationen der ontologischen Differenz
vorgeht und in diesem Prozess auch auf diese einwirkt. Mit dieser Dialektik kann eine innere Beziehung zwischen den Zellen und Organen eines Organismus begründet werden. In der Individualentwicklung eines Organismus wird diese Beziehung von einer intentionalen und organismusspezifischen Dynamik bestimmt, die zu realteleologischen Konstrukten mit Strukturen führt, mit denen die Organismen wirksam ihre Umgebung beeinflussen können. Je mehr externe Faktoren in einem Erfahrungsakt integriert werden, umso stärker differenziert sich das gesamtorganismische Spannungsfeld in die untergeordneten Spannungsfelder von verschiedenen Zelltypen, die auf die Erfahrung diverser externer Faktoren spezialisiert sind. Umso größer werden die daraus hervorgehenden Möglichkeiten, die individuelle Freiheit in subjektiven Selbstgestaltungen zu verwirklichen.
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5. Die Einheit von Erfahrung und Selbstkonstitution der Lebewesen als Ausdruck ihrer Kreativität
Zentrale Aussagen der im vorigen Kapitel vorgestellten Denker erlauben nicht nur weitergehende Interpretationen der im dritten Kapitel präsentierten experimentellen Befunde. Sie ermöglichen auch den Zugang zu einem prozessbiologischen Verständnis des Werdens und Wirkens der Erscheinungsformen des Lebendigen. Mit Ideen von Alfred North Whitehead kann die Dynamik organismischer Erscheinungsformen mit einer Wesensähnlichkeit zwischen adaptiven Ereignissen und der bipolaren Natur von ›actual entities‹ erklärt werden. Auch die Begründung eines organismischen Spannungsfeldes lässt sich von der Interdependenz von ›actual entities‹ herleiten. Von John Dewey kann die Bedeutung des Fließgleichgewichts für die Identität von Erfahrung und physiologischer Anpassung und die Empfindung eines Spannungsfeldes übernommen werden. Die Philosophie von Ernst Cassirer ermöglicht ein Verständnis der formbildenden Kraft eines organismischen Gedächtnisses. Hans Jonas eröffnet den Blick auf den Stoffwechsel als Basis der organismischen Freiheit. Von Bergson stammt die Vorstellung einer Hierarchie von interdependenten Spannungsfeldern. Aus der ›Theorie der Wirkwesen‹ von Reto Luzius Fetz lässt sich mit geeigneten Interpretationen eine Theorie der Organismen destillieren. Dies wird in den folgenden Kapiteln genauer ausgeführt.
5.1. Der Zusammenhang zwischen Kreativität und Stress bei der Umgestaltung der Umgebung von Lebewesen zu ihrer Umwelt Für ein Verständnis des Auftretens von Stress ist es sinnvoll, sich noch einmal die physiologische Basis der organismischen Kreativität zu vergegenwärtigen. Nach der hier vorgestellten Theorie der Organismen streben Lebewesen mit ihrem Stoffwechsel nach einer Ver127 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Einheit von Erfahrung und Selbstkonstitution der Lebewesen
wirklichung idealer Formen von Funktionsharmonien, in denen der Stoffwechsel in einem Fließgleichgewicht mit der Umwelt eine bestimmte Erscheinungsform aufrechterhält. Bei einer Änderung ihrer Umwelt wird das Fließgleichgewicht gestört und der Stoffwechsel entfernt sich von der betreffenden Funktionsharmonie. Dadurch wird aus der Umwelt des Lebewesens eine ihm fremde Umgebung, in der es sich in seinem Selbstempfinden nicht mehr wiederfindet. Dieser Zustand wird von einem Organismus als Spannung empfunden, die umso größer ist, je weiter sich der Stoffwechsel von einer Funktionsharmonie entfernt hat, die der jeweiligen Erscheinungsform entspricht. Die erhöhte Spannung löst dann einen kreativen Selbsterneuerungsprozess aus, mit dem Ziel, mit neu gebildeten Strukturelementen wieder eine Umwelt zu erzeugen, in der ein Fließgleichgewicht entsteht, das seinem Formempfinden entspricht. Wenn ihm das nicht gelingt, dann führt der dauerhaft erhöhte Spannungszustand zu Stress und den damit verbundenen pathologischen Erscheinungsformen. Da aber eine völlige Aufhebung einer erhöhten Spannung in einer Interaktion mit anderen Organismen nie vollständig gelingt, oszilliert die Spannung unablässig um den intendierten Idealzustand der Verwirklichung einer Funktionsharmonie. Wir haben oben erwähnt, dass in diesem Prozess inhärente Differenzierungen des Spannungsfeldes auf Grund distinkter Verwirklichungsmöglichkeiten von Funktionsharmonien einem Lebewesen erlauben, auf unterschiedliche Weise in Erfahrungsakten auf Änderungen seiner Umwelt zu reagieren. Kreativ ist demnach ein Lebewesen, wenn es sich selbst in einem Prozess weiterentwickelt, in dem es aus seiner Umgebung seine eigene Umwelt und damit sich selbst hervorbringt. Daher ist es für ein Verständnis der Kreativität nicht zielführend, in einer Außenbetrachtung sowohl den Organismus als auch seine Umgebung zum Zwecke einer Abgrenzung zu objektivieren, wie dies bei Hans Jonas der Fall ist. In einem kreativen Akt inkorporiert ein Organismus die von ihm geschaffene Umwelt in seine eigenen Strukturen. »Ein Amputierter vermag durch allmähliche Gewöhnung seine Prothese zu »inkorporieren«, so dass sie für ihn buchstäblich zu einem neuen Leibglied wird«, schreibt Thomas Fuchs und zitiert Merleau-Ponty: »Der Stock des Blinden ist für ihn kein Gegenstand mehr, er ist für sich selbst nicht mehr wahrgenommen, sein Ende ist zu einer Sinneszone ge-
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Der Zusammenhang zwischen Kreativität und Stress
worden« 1. Das trifft natürlich auf alle Objekte der Umgebung zu, die vom Lebewesen wahrgenommen werden und zu seiner Selbstverwirklichung dienen. Ab wann gehört beispielsweise der Faden eines Spinnennetzes bei dessen Produktion schon zur Umwelt der Spinne und nicht mehr zu ihr selbst? Noch schwieriger ist eine Abgrenzung eines Mikroorganismus von seiner Umgebung auf molekularer Ebene 2. In all diesen Fällen wird die Abgrenzung von der Umgebung vom Organismus in einem Prozess der Selbst- und Fremderfahrung durchgeführt. Dabei ist die Umgebung für den Organismus zunächst etwas Fremdes. Das Fremde wird dann aber vom Organismus in einem Interaktionsgeschehen kontextabhängig von den Gegebenheiten gestaltet und dadurch wieder zu einem Teil seiner Umwelt. Daher kann für alle Organismen verallgemeinert werden, was Whitehead nur Tieren zugeschrieben hat: »Im Prinzip ist der tierische Körper nur der höher organisierte und unmittelbare Teil der allgemeinen Umgebung seines vorherrschenden wirklichen Ereignisses, nämlich des elementaren Wahrnehmungssubjekts« 3. In dieser Hinsicht offenbart sich die organismische Natur als Korrelat zum Technisch-Praktischen 4, bei dem ein Produzent und sein Produkt in einer interdependenten Weise in einem Schöpfungsakt verwoben und in ein und demselben Organismus vereint sind. Das Produkt des Schöpfungsakts sind die aus einer Selbsterzeugung hervorgehenden körperlichen Strukturelemente. Dazu gehört auf zellulärer Ebene alles, was sich in einer Außenbetrachtung der Organismen objektivieren lässt, also die stationären Zustände der Zellmembran, des Zytoskeletts, der Organellen, der Zellwand bei Pflanzen, der DNS 5 usw. Auf der organismischen Ebene gehören dazu die Strukturelemente, die der Organismus zum Zwecke der Umgestaltung seiner Umgebung zu seiner Umwelt produziert. Da die Produkte der organismischen Selbstkonstitution so beschaffen sein müssen, Fuchs 2013, 37. Schon bei einer einfachen Alge, die in einem Gewässer mit ihrer Umgebung in Wechselwirkung steht, lässt sich nicht angeben, welche Moleküle zum Organismus und welche zur Umgebung gehören. Ab wann ist ein Nährstoffmolekül, das einem Konzentrationsgradienten folgend in die wachsende Zelle fließt, schon ein Teil der Zelle und nicht mehr ein Teil der Umgebung? 3 Whitehead 1987, 230. 4 Mutschler 2002, 116. 5 In dieser Sichtweise verliert die DNS die privilegierte Stellung, die sie in der genzentrierten Biologie hat. 1 2
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Die Einheit von Erfahrung und Selbstkonstitution der Lebewesen
dass sie einen physikalisch-chemisch wirksamen Einfluss auf die Umgebung ermöglichen 6, lassen sie sich auch mit den Methoden der Physik und Chemie charakterisieren. Im Gegensatz dazu ist der Produzent derjenige Teil der organismischen Dynamik, der unablässig Strukturen hervorbringt, mit denen er sich von seiner Umgebung abgrenzt und diese dabei verändert. Im Stoffwechsel manifestiert sich das Verhältnis des Produzenten zu seinen Produkten in den zwei distinkten und ineinander übergehenden Wirklichkeitsstufen eines adaptiven Ereignisses. Auf diese Weise kann die Kreativität der Lebewesen berücksichtigt und das Verhältnis der Physik zur Biologie im Spannungsfeld zwischen Natur- und Geisteswissenschaften bestimmt werden. Der adaptive Operationsmodus, in dem der Organismus in einem hermeneutischen Akt einen für ihn unvorteilhaften Milieueinfluss mit einer Umgestaltung seiner Strukturen beantwortet, fällt in den Bereich der Geisteswissenschaften. Der nachfolgende adaptierte Zustand, der seine Wirksamkeit nach den Gesetzmäßigkeiten der Physik und Chemie entfaltet, kann mit naturwissenschaftlichen Methoden analysiert werden. Aus dieser Sichtweise lässt sich folgende Schlussfolgerung ziehen: Es gibt keine ontologische Differenz zwischen Organismus und Umwelt in dem Sinne, dass die wirkliche Welt in zwei unabhängig voneinander existierende Teile zerlegt werden kann, von denen einer permanent dem Organismus und der andere der Umwelt angehört. Unterscheiden lässt sich eine organismische Form von ihrer Umwelt nur in Außenbeobachtungen, bei denen diese beiden Entitäten in subjektiven Abstraktionen festgehalten werden. Was dabei ein Beobachter unterscheidet, hängt davon ab, welcher Teil der Struktur des beobachteten Organismus potentiell einen Einfluss auf ihn auszuüben vermag. Allerdings sind die Erscheinungsformen, mit denen ein Organismus sich selbst einen Ausdruck verleiht, nicht nur für andere Organismen ein Teil von deren Umgebung, die von ihnen für ihre eigene Selbstkonstitution interpretiert wird. Die Erscheinungsform eines Organismus ist auch für ihn selbst in einer Selbstbeobachtung ein Teil seiner eigenen Umwelt. Mit anderen Worten, die Umwelt eines Organismus sind die von ihm selbst geschaffenen KonstituenVögel verwenden ihre körperliche Ausstattung für den Bau ihrer Nester und Spinnen für den Bau ihres Netzes. Pflanzen scheiden bei Eisenmangel organische Verbindungen ab (Siderophore), die im externen Milieu geringste Mengen an Eisenionen zu komplexieren und aufzunehmen erlauben.
6
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Der Zusammenhang zwischen Kreativität und Stress
ten, mit denen er sich einen Ausdruck gibt und versucht, Druck auf andere Organismen auszuüben. Wird diese Umwelt durch die Aktivität anderer Organismen verändert, dann mutiert sie zu einer ihm fremden Umgebung. Indem er nun danach trachtet, aus dieser Umgebung eine neue Umwelt zu schaffen, erfährt er diese Umwelt als seine eigene Struktur und damit sich selbst 7. Darin besteht das Wesen der Umwelterfahrung, mit der ein Lebewesen – in unterschiedlichem Maß – Binnendeterminiertheit und Autonomie erlangt 8, und nicht in einer objektiverbaren Abgrenzung eines Lebewesens von seiner Umwelt. Eine Spinne erlangt nicht dadurch Autonomie, dass sie sich von ihrem Netz als ihrer Umwelt unterscheidet, sondern indem sie ein Netz in ihre Umgebung webt und diese zu ihrer Umwelt und zu einem Teil ihrer körperlichen Strukturen macht. Bei einer bloßen Außenbetrachtung von körperlichen Manifestationen sind die Intentionen des bewertenden Subjekts, das diese Strukturen erzeugt hat, nicht erkennbar. Gemäß dem von einer mechanistischen Biologie von Hume übernommenen »Affektionsmodell«, in dem ein organismisches Subjekt nicht vorkommt, affizieren äußere Eindrücke Perzeptionsvorgänge. Das Modell liefert aber keinen Begriff einer organismischen Einheit, die die Affektionen koordiniert. Das Verhältnis von ›Außen‹ und ›Innen‹ wird von Hume schon vor der Erstellung des Modells vorausgesetzt und lässt sich daher nicht mit ihm begründen. Eine sich selbst erfahrende Identität, die die einzelnen Erfahrungen übergreift und ohne die es keine Erinnerung an vorherige Erfahrungen gibt, ist aus dem assoziativen Ablauf von Perzeptionen nicht zu gewinnen. In dieser Idee kommt auch die Koordination durch ein kreatives Subjekt nicht vor, das die molekularen Abläufe in den Zellen so aufeinander einstellt, dass daraus eine bestimmte Erscheinungsform resultiert. Daher kann auch die Genese der Erscheinungsform eines Lebewesens nicht mit der Summe aller molekularen Abläufe eines Lebewesens gleichgesetzt werden. Die prozessbiologische Unterscheidung zwischen dem Produzenten als einem kreativen Subjekt und den von ihm erzeugten Strukturen stellt eine Alternative zur System/Umwelt-Theorie von Niklas Luhmann dar. Bei Luhmann werden Differenzierungsvorgänge durch die Differenz zwischen System und Umwelt ausgelöst. 7 8
Vgl.: Falkner and Falkner 2018. Fuchs 2013, 111.
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Die Einheit von Erfahrung und Selbstkonstitution der Lebewesen
Demnach kommt die Ausdifferenzierung lebender Systeme durch Selbstreferenz zustande, »das heißt dadurch, dass diese Systeme in der Konstitution ihrer Elemente und ihrer elementaren Operationen auf sich selbst […] Bezug nehmen. Systeme müssen, um dies zu ermöglichen, eine Beschreibung ihres Selbst erzeugen und benutzen; sie müssen mindestens die Differenz von System und Umwelt systemintern als Orientierung und als Prinzip der Erzeugung von Informationen verwenden können« 9. In diesem Prozess erzeugen komplexe Systeme in einer Selbstbeschreibung ein Bild von sich selbst. Die Selbstbezüglichkeit lebender Systeme wird in der System/UmweltTheorie mit der Dialektik zwischen der organismischen Einheit und der Vielheit von Teilprozessen begründet. Dabei spiegelt jeder dieser Teilprozesse in perspektivischer Weise die Differenz zwischen System und Umwelt wider. Im Gegensatz dazu wird in der Prozessbiologie die Differenz zwischen System und Umwelt durch die Differenz zwischen einem kreativen Subjekt und dem System der von ihm produzierten Strukturelemente ersetzt. Luhmanns sperriger Begriff »Beschreibung ihres Selbst« wird in der hier präsentierten Konzeption durch die Vorstellung eines Bildes ersetzt, das ein Organismus von sich und seiner Umwelt hat und das in seinem Spannungsfeld enthalten ist. Dieses Bild ist als »ideelles Regulativ« für das Bilden der Form eines Lebewesens verantwortlich, indem es einem Organismus erlaubt, seine Energie- und Substanzflüsse in entsprechender Weise zu koordinieren. Auf diese Weise bestimmt (in Einklang mit Robert Rosen und Anthony Trewavas, siehe Unterkapitel 4.3) die Information des Bildes die »werdende Form«, die unablässig entsteht und wieder vergeht. Jede Neugestaltung einer Form erfordert die Bildung neuer Strukturen, die in einer Abfolge von ›Werdensakten‹ die Strukturen der vergangenen Form ersetzen. Dabei erzeugt der Organismus in jedem einzelnen Werdensakt, der in selbstbezüglicher Weise von der Information des Bildes geleitet wird, ein Element seiner Gesamtstruktur. Dadurch wird die Gestalt des Organismus das Ergebnis einer Selbstgestaltung, bei der ein Lebewesen sich selbst in einem gerichteten Werden zur Form verwirklicht. Selbstverwirklichung ist daher eine auf Milieuänderungen abgestimmte Formverwirklichung.
9
Luhmann 1984, 25.
132 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die zeitliche und räumliche Dimension adaptiver Ereignisse
5.2. Die zeitliche und räumliche Dimension adaptiver Ereignisse in der kreativen Selbstkonstitution von Lebewesen Bei einer Selbsterzeugung in Erfahrungsakten kommt es meist zu Interaktionen mit anderen Organismen, die dabei entweder vernichtet werden (z. B. in Fressbeziehungen) oder in ein Kommunikationsgeschehen eintreten, in dem jeder Organismus seine Kommunikationspartner in einem gemeinsamen Lebensraum erfährt. Die Art dieser kommunikativen Raumerfahrung hängt von der Dauer der adaptiven Ereignisse ab, die als eine organismische ›Eigenzeit‹ für die gegenseitigen Erfahrungen verantwortlich sind und die von vorangegangenen Erfahrungen bestimmt werden. Das Zusammenspiel von ›Eigenraum‹ und ›Eigenzeit‹ führt in der Selbstgestaltung von Lebewesen zu diversen Raumerfahrungen und ihrer zeitlichen Veränderung.
5.3. Adaptive Ereignisse als Einheiten der biologischen Zeit 10 Die in Kapitel 4 dargestellten naturphilosophischen Ideen erlauben weitergehende Verallgemeinerungen der theoretischen Erklärungen der Experimente von Kapitel 3, wobei von der bipolaren Natur adaptiver Ereignisse ausgegangen wird. Der Übergang von einem adaptierten Zustand in den nächsten benötigt eine bestimmte Zeit. Ein nachfolgendes, energiekonvertierendes, adaptives Ereignis kann sich nur auf das vorherige einstellen, wenn dieses seinen Umbau abgeschlossen hat. Darauf beruht die gegenseitige Abhängigkeit der adaptiven Ereignisse, die Whitehead analysiert hat. »Interdependence results from a historic succession of actual entities that represent creative ›acts of becoming‹ of something with temporal extension; but that the act itself is not extensive, in the sense that it is divisible into earlier and later acts of becoming which correspond to the extensive divisibility of what has become« 11. Ein adaptives Ereignis hat daher eine definierte zeitliche Ausdehnung, kann aber nicht in unabhängig existierende Untereinheiten geteilt werden. »If you abolish any part, then that whole is abolished« 12. Auch dies verhindert eine 10 11 12
Falkner and Falkner 2013. Whitehead 1929/1978, 69. Whitehead 1929/1978, 288.
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Die Einheit von Erfahrung und Selbstkonstitution der Lebewesen
ausschließlich wirkursächliche Erklärung dieses Prozesses auf der Basis von beteiligten Komponenten, zwischen denen nur äußere Beziehungen existieren. Je mehr energiekonvertierende Subsysteme bei der Bildung einheitlicher Strukturen beteiligt sind, mit denen die Organismen ihre Umwelt in die Umgebung ausdehnen, umso größer wird ihre Freiheit bei der Gestaltung ihrer Umwelt. Dabei werden die Funktionsharmonien von aufeinander abgestimmten Strukturelementen immer komplexer und es vergrößert sich der zeitliche Abstand zwischen der Perzeption von Einwirkungen der Umgebung und der Reaktion des Organismus mit koordinierten Strukturveränderungen, mit denen der Organismus auf externe Einflüsse reagiert. Dies erklärt, warum bei höher entwickelten Organismen die zeitliche Differenz zwischen der Erregung von Rezeptoren und der Reaktion der Effektoren zunimmt (in der ›Merkwelt‹ und ›Wirkwelt‹ nach Jakob von Uexküll) 13. Diese gehemmte Übertragung eröffnet für Helmuth Plessner und auch Thomas Fuchs »den Raum und die Zeitspanne für Bewusstsein« 14. Die Zunahme der zeitlichen Differenz zwischen der Erregung von Rezeptoren und der Reaktion der Effektoren lässt sich prozessbiologisch mit der Zunahme der Komplexität von Strukturharmonien erklären: Für einen Regenwurm sind die möglichen Strukturharmonien weniger komplex als bei einem Primaten. Eine von Intentionen geleitete Korrektur der Abweichungen von diesen Harmonien ist daher bei höheren Organismen zeitaufwendiger als bei niederen. Dies erklärt aber nicht, wie diese zeitliche Differenz Bewusstsein hervorbringt, weil in dieser Differenz nicht ein möglicher Konflikt zwischen dem Artgedächtnis und dem individuellen Gedächtnis berücksichtigt wird. Eine prozessbiologische Erklärung des Hervorgehens des Bewusstseins aus einem Herr-Knecht Verhältnis der beiden Gedächtnisformen wird im Unterkapitel 6.2. gegeben. Die »Eigenzeit« adaptiver Ereignisse hat eine wichtige Implikation, was die Erfahrung von Fluktuationsmustern bei Umweltänderungen betrifft. Bei einer Neu-Konstituierung der Zelle kommt es nur dann zu einer Abfolge von adaptiven Ereignissen, wenn die vorher angepassten Zustände von Subsystemen so lange existieren, bis die nachfolgenden Anpassungen sich darauf eingestellt haben. Daher dürfen die mit dem externen Milieu in Kontakt stehenden Subsyste13 14
von Uexküll 1973, 158. Fuchs 2013, 118.
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Adaptive Ereignisse als Einheiten der biologischen Zeit
me nicht zu rasch auf jede Milieuänderung mit einem Umbau reagieren. Für diesen Fall haben Zellen die Fähigkeit entwickelt, distinkte Muster in Änderungen externer Einflüsse zu erkennen und in einheitlichen Erfahrungs- und Konstitutionsakten zu integrieren. In einem Streben nach Funktionsharmonien werden die bei rasch wechselnden externen Einflüssen erfahrenen Muster in distinkten Erfahrungs- und Konstitutionsakten so integriert, dass sie nachfolgende Anpassungsakte in potentiell sinnvoller Weise beeinflussen 15. Die Zellen sind dadurch in der Lage, ein bestimmtes ›Wissen‹ über die Muster der vorherigen Expositionen im darauffolgenden adaptiven Verhalten anzuwenden. Als ›Wissen‹ bezeichnen wir ganz allgemein die Erinnerung an vorherige Erfahrungen. In diesem Prozess erfährt ein Organismus mit Hilfe seiner perzipierenden Subsysteme nur solche Muster in den Milieuänderungen, bei denen die daraus resultierenden adaptierten Zustände zur Ausbildung einer potentiell sinnvollen Struktur beitragen. Die Erfahrung von Mustern in den Milieuänderungen wird vom gesamtorganismischen Spannungsfeld beeinflusst, auf dessen Grundlage ein Organismus darüber entscheidet, welche Änderungen der Muster erfahren und welche ignoriert werden: Wird ein mit der Umgebung in Kontakt stehendes energiekonvertierendes Subsystem einer transienten Veränderung unterworfen, deren Dauer für einen Umbau der anderen energieliefernden Subsysteme nicht ausreicht, dann ändert sich das Spannungsfeld nicht. Die Zelle strebt dann wieder die gleiche Funktionsharmonie an. In diesem Fall findet keine Neukonstitution in einem Erfahrungsakt statt und der Umwelteinfluss wird ›vergessen‹. Sind jedoch von einer Perturbation des stationären Zustandes eines mit der Umgebung in Kontakt stehenden energiekonvertierenden Subsystems auch andere Subsysteme betroffen, dann wird eine neue Funktionsharmonie angestrebt. Dies führt zu einer Veränderung des Spannungsfeldes und zu einer neuen Anordnung energiekonvertierender Subsysteme, auf denen die Erscheinungsform des Organismus beruht. In welchem Ausmaß dann die gesamte Energieverwertung mit Hilfe der in der Vergangenheit aufgebauten molekularen Konstituenten der neuen Situation angepasst wird, hängt von der Reaktionszeit ab, in der ein adaptiver Respons auf eine Milieuänderung eintritt. Die von einem Organismus vorgenomEin Beispiel wurde im Unterkapitel 3.1. bei der Erkennung von Mustern der Fluktuationen der Phosphatkonzentration durch Cyanobakterien gegeben.
15
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Die Einheit von Erfahrung und Selbstkonstitution der Lebewesen
mene Bewertung einer Perturbation des stationären Zustandes bei einer Änderung des Musters von Umweltfluktuationen wird somit von der Reaktionszeit bestimmt, die ihrerseits vom Spannungsfeld abhängt 16. Auf diese Weise leitet das Spannungsfeld, das die Abweichung von der idealen Form einer Funktionsharmonie der betreffenden organismischen Struktur widerspiegelt, eine Neukonstitution der Struktur bei einer Modifikation des Musters von Umweltfluktuationen. Da die Eigenzeiten adaptiver Ereignisse des individuellen Gedächtnisses kürzer sind als die Eigenzeiten adaptiver Ereignisse des Artgedächtnisses, können die Spannungsfelder der beiden Gedächtnisformen nebeneinander in ein und demselben Organismus bestehen. Erst wenn die Eigenzeiten der beiden Gedächtnisformen von ähnlicher Dauer sind, geraten ihre Spannungsfelder in einen Konflikt, der vom Organismus als Kontrast erfahren wird (siehe Unterkapitel 6.2).
5.4. Die Raumerfahrung von Organismen Die einfachste Form der Raumerfahrung haben wachsende einzellige Organismen bei der Zunahme ihres Volumens. Das Wachstum von Zellen erfordert die Inkorporation von Nährstoffen. Dies führt zu einer Vergrößerung der Zellen und erhöht die Menge der Teilprozesse, die in einer durchgehenden operativen Präsenz der Teile im Ganzen der Zelle aufeinander abgestimmt werden müssen. Ab einer bestimmten Größe der Zellen wird es jedoch immer schwieriger, die Teilprozesse in eine einheitliche Struktur zu integrieren. In diesem Zustand bilden sich Teilstrukturen aus, in denen die Entfernung des zellulären Geschehens von stationären Zuständen potentiell geringer ist als in der gesamten Zelle. Die Abgrenzung dieser Teilstrukturen voneinander verwirklicht sich dann in einer Aufteilung des zellulären Geschehens, in dem die dabei entstandenen kleineren Einheiten einem neuen stationären Zustand wieder näher kommen. Dies führt zu Zellteilungen, die daher als Versuch interpretiert werden können, eine Abweichung der Stoffwechselflüsse von abgestimmten Zuständen einer Funktionsharmonie zu verringern. Damit ist die ursprüngliche Situation, die zum Zellwachstum führte, wieder hergestellt und der oben beschriebene Vorgang beginnt von neuem. 16
Aubriot et al. 2011.
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Die Raumerfahrung von Organismen
Abweichungen von der Kugelform bei Bakterien und Algen können als erster Versuch gedeutet werden, die Raumerfahrung mit Konturen zu bereichern, weil in diesem Fall unterschiedliche Interaktionen mit dem externen Milieu auftreten. Ganz allgemein beruht die Form eines Mikroorganismus auf Eigenstrukturierungen, von denen auch die Anordnung der Rezeptoren und Transportsysteme in der Zellmembran betroffen ist. Bei nicht-kugelförmigen Organismen entstehen außerhalb der Zellmembran räumlich begrenzt Unterschiede in den für die Biosynthese der Zellwand erforderlichen Bedingungen, was die von der Zellwand bestimmte Form der Zelle beeinflusst (dies kann zum Beispiel bei der Grünalge Scenedesmus zu einer spindelförmigen oder kugelförmigen Ausprägung führen). Lokale Unterschiede im Zusammenspiel von Rezeptoren und Transportsystemen in der Zellmembran ermöglichen es schon niederen Organismen, in den Änderungen der Konzentrationen von Nährstoffen und Signalen im externen Milieu komplexere Muster zu erkennen. Bei mehrzelligen Lebewesen wird diese Fähigkeit noch weiterentwickelt, was zu einer Erweiterung der Raum- und Zeiterfahrungen von Organismen führt, wobei diese Ausweitung durch eine Erinnerung an die zeitliche Abfolge von Mustern bei Milieuänderungen bestimmt wird. Beispielsweise sind Zugvögel in der Lage, die Muster klimatischer Veränderungen zu interpretieren und ihr Migrationsverhalten darauf auszurichten, was zu einer Erweiterung ihrer Raumerfahrung führt. Bei der Raumerfahrung der verschiedenen Lebewesen gibt es große Unterschiede zwischen Bakterien, ein- und mehrzelligen Pflanzen und Tieren in Hinblick auf die Umgestaltung der Umgebung zu einer für alle Organismen gemeinsamen Umwelt. Bei Mikroorganismen bleibt die Integration von Raumerfahrungen auf die Selbstkonstitutionsakte der einzelnen Zellen in Beziehung zu anderen Organismen beschränkt. Hier entsteht ein gemeinsamer Lebensraum der Mikroorganismen aus der Sinnhaftigkeit ihrer Interaktionen. Bei mehrzelligen Pflanzen erfolgt die Raumerfahrung in einer Gesellschaft von Zellen, die sich relativ unabhängig voneinander auf Änderungen ihrer Umgebung einstellen. Bei Tieren geht bei der Erfahrung von Änderungen ihres Lebensraums die Koordination einzelner Zellen auf eine gesamtorganismische Funktionsharmonie viel rascher vor sich als bei Pflanzen. Dadurch kommt es im ganzen Körper bei einer Vielzahl von Körperzellen zu gemeinsamen und aufeinander abgestimmten Selbstkonstitutionsakten. Dies ermöglicht eine Raumerfahrung durch mehr oder weniger rasche Ortsveränderung des 137 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Einheit von Erfahrung und Selbstkonstitution der Lebewesen
ganzen Organismus. Eine vom organismischen Ganzen unabhängige Einstellung von Zellen auf ihre Umgebung tritt bei Tieren nur bei pathologischen Erscheinungsformen wie dem Krebs auf, wo sie zum Tod des Lebewesens führen können.
5.4.1. Die Selbstkonstitution von Mikroorganismen eines produktiven Sees bei der Erfahrung eines gemeinsamen Lebensraums Mikroorganismen mit unterschiedlichen metabolischen Eigenschaften stellen in einem Biotop ihre Substrat- und Energieverwertungsstrategien so aufeinander ein, dass dabei multizelluläre ›Hyperorganismen‹ entstehen, die arbeitsteilig die vorhandene Energie optimal ausnützen. In diesem Prozess kann es im Lebensraum eines nährstoffreichen Sees zu einer charakteristischen Anordnung der darin enthaltenen Arten von Mikroorganismen kommen. Durch ihr Beziehungsgefüge entsteht ein räumlicher Gradient des pH-Werts und des Redoxpotentials der anorganischen Verbindungen im Wasser, der sich von den obersten bis zu den untersten Schichten erstreckt. Auf diese Weise erfährt ein Mikroorganismus seine Position in dem betreffenden Lebensraum aus der Anordnung der verwertbaren Substanzen, aus der die Gradienten des pH-Werts und des Redoxpotentials resultieren. Dies zeigt auf anschauliche Weise die Ausbildung einer bakteriellen Biozönose in einem eutrophen See (Abb. 9), in dem es durch eine vermehrte Phosphatzufuhr in der von der Sonne beleuchteten oberen Schicht des Sees zu verstärktem Algenwachstum durch Photosynthese kommt (Reaktion 1 in der Abbildung). In dieser sauerstoffhaltigen Region können chemolithotrophe Bakterien durch Oxidation reduzierter anorganischer Verbindungen mit Sauerstoff ebenfalls Biomasse bilden (Reaktion 3). Die in diesen beiden Prozessen gebildete Biomasse wird durch aerobe Atmung der dort lebenden Organismen wieder abgebaut (Reaktion 4). Die Biomasse der Algen und Bakterien (dargestellt in der Abbildung mit Summenformel ) wird dabei zu Kohlendioxid (CO2) und Wasser oxidiert. Sedimentieren dann die Algen in den unteren Bereich, in den das Sonnenlicht nicht mehr vordringt, sterben sie ab und werden wie in Reaktion 4 von Bakterien zersetzt. Bei diesem Prozess wird zunächst der vorhandene Sauerstoff durch die bakterielle Atmung verbraucht. 138 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Raumerfahrung von Organismen
In der darunterliegenden Regionen steht daher kein gelöster Sauerstoff für einen Abbau des sedimentierenden Algenmaterials zur Verfügung. Mit dem Verschwinden des Sauerstoffs werden diese Regionen für Fische und das meiste Zooplankton unbewohnbar. Die bakterielle Zersetzung der sedimentierenden Algenbiomasse kommt jedoch nicht zum Erliegen. In dieser Situation gewinnen bestimmte Bakterien den für ihre Atmung benötigten Sauerstoff zunächst von Nitrat (NO3-), dann von Nitrit (NO2-) und reduzieren diese Verbindungen zu Ammoniumionen (NH4+) und Stickstoff (Reaktion 5 und 6 in Abb. 9). Wenn die Stickstoffoxide verbraucht sind, entziehen andere Bakterienarten Eisen- und Manganoxiden den Sauerstoff (Reaktion 7). Sind diese Oxide nicht mehr verfügbar, dann übernehmen wieder andere Bakterien den weiteren Abbau des abgestorbenen Algenmaterials durch Reduktion von Sulfat (SO4-) und Schwefel (S) zu Schwefelwasserstoff (H2S) (Reaktionen 8 und 9 in Abb. 9). Am Ende dieses Prozesses wird Biomasse in einem »Interspezies-Wasserstofftransfer« mit Acetatbildung vergoren (Reaktion 10). Weiters wird aus Kohlendioxyd (CO2) und Wasserstoff (H2) einerseits Acetat (Reaktion 11) und andererseits Methan (CH4) gebildet (Reaktion 12). Aus Acetat entstehen schließlich die gasförmigen Abbauprodukte Methan (CH4) und CO2, so dass die feste Biomasse vollständig in lösliche Gase übergeführt wird. Gleichzeitig sinkt der pH-Wert von etwa 9.0 in den oberen Seeschichten, wo das Redoxpotential ca. 810 mV beträgt, auf einen Wert von etwa 6.0 im untersten Bereich ab, in dem ein Redoxpotential von minus 240 mV gemessen werden kann. Eine Diffusion von H2S in beleuchtete Regionen ermöglicht Biomassebildung durch anaerobe Photosynthese (Reaktion 2). Die Abfolge der einzelnen bakteriellen Verwertungen der Algenbiomasse wird von der dabei gewonnenen Energie bestimmt: die meiste Energie liefert die Sauerstoffatmung, etwas weniger die Oxidation durch Nitrat, noch weniger durch Nitrit und am wenigsten durch Sulfat und Kohlendioxid (siehe Anhang 2). Wenn die reduzierten Verbindungen in die oberen und aeroben Schichten des Sees diffundieren, dann können bestimmte Bakterien diese Verbindungen mit Sauerstoff oxidieren und die dabei gewonnene Energie für eine autotrophe Vermehrung unter CO2-Verbrauch verwenden. Abb. 9 präsentiert eine vereinfachte Darstellung der komplexen Interaktionen der dabei beteiligten Mikroorganismen. Anhang 2 enthält eine Tabelle mit den Gleichgewichtskonstanten der hier beschriebenen Oxidationsprozesse. Daraus ist zu entnehmen, dass der Fluss der 139 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Einheit von Erfahrung und Selbstkonstitution der Lebewesen
Elektronen von der sedimentierenden Biomasse zu CO2, Methan und Wasser bei der Abfolge der Abbauprozesse perfekt auf optimale Energieverwertung ausgerichtet ist. H2O
4 CO2
O2
H2O
1
‹CH2O›
CO2
Sedimentation
O2
3
H2O NO3‹CH2O›
NO2-,N2
5
Sedimentation
CO2
NH4+
NO2-
N2
6 CO2
‹CH2O›
Fe3+
Sedimentation
CO2
Sedimentation
2
8
8 SO42-
CO2 H2S
S
Sedimentation CO2
H2S
H2S
SO42‹CH2O›
hν
S, SO42-
NO3-
7 ‹CH2O›
‹CH2O›
5
Fe2+
‹CH2O›
9
Sedimentation
H2S
CO2
11 H2
‹CH2O›
10
12
CH4+ H2O CH3COOH CO2
CH3COOH
CO2 CH4
Abb. 9: Das sinnvolle Zusammenwirken von Mikroorganismen in einem produktiven See. Erläuterungen enthält der Text.
Die vertikale Anordnung der bakteriellen Organismengemeinschaften in einem eutrophen See zeigt, dass die gegenseitige Anpassung von unterschiedlichen Bakterienzelltypen darauf ausgerichtet ist, die jeweils vorhandene Energie möglichst optimal zu verwerten. Die im dritten Kapitel beschriebene Anordnung der energiekonvertierenden Subsysteme in einer einzigen Zelle wiederholt sich in der Energieumsetzung einer Organismengemeinschaft und macht diese zu einer Einheit. Sie entsteht dadurch, dass die gegenseitige Anpassung der verschiedenen Zelltypen in einem Kommunikationsgeschehen vor sich geht, das auf die Erstellung eines die Biozönose umfassenden Sinnzusammenhangs ausgerichtet ist. Ein derartiges Streben nach einem Sinnzusammenhang wird uns weiter unten bei den Zellen 140 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Raumerfahrung von Organismen
einer einzigen Pflanze begegnen. Allerdings gibt es dort in einem einzigen Organismus eine Differenzierung aller Zellen zum Zweck einer Verwertung unterschiedlich aufeinander abgestimmter Substrat- und Energieflüsse, wie dies bei der multizellulären Lebensgemeinschaft eines Sees erfolgt. Das Beispiel eines nährstoffreichen Sees ist deshalb interessant, weil der verstärkte anthropogene Phosphateintrag in Gewässer ein rezentes Phänomen des 20. Jahrhunderts ist, das in der bisherigen Erdgeschichte in dieser Form nicht aufgetreten ist. In früheren Perioden war die Biomasseproduktion in Seen durch die Zufuhr geringer Phosphatmengen limitiert 17. Das Entstehen der multizellulären Gemeinschaft eines nährstoffreichen Gewässers wurde durch den Einfluss des Menschen verursacht und er ist Teil dieses Ökosystems. Sie ist daher nicht das Ergebnis einer sich über Milliarden Jahre erstreckenden Evolution, bei der sich als Ergebnis der natürlichen Selektion energetisch sinnvolle Funktionsharmonien ausgebildet haben. Bei den oben beschriebenen Oxidationsprozessen wird praktisch die gesamte Algenbiomasse wieder abgebaut. Wäre dies nicht der Fall, dann würde ein See sehr rasch mit abgestorbener Algenbiomasse aufgefüllt (dem sogenannten »Altern des Gewässers«) und dadurch verlanden. Die kreative Selbstkonstitution der einzelnen bakteriellen Manifestationen, die in Kooperation mit anderen Bakterien erfolgt, ist daher auf eine Erhaltung des eigenen Lebensraumes ausgerichtet. Die in Abb. 9 dargestellte vertikale Anordnung der Zyklen von Substrat- und Energieumsetzungen bildet sich natürlich nur deshalb aus, weil die Wachstumsraten der verschiedenen Spezies in geeigneter Weise aufeinander eingestellt sind. Würden zum Beispiel die Methan bildendenden Bakterien viel rascher wachsen als die Sulfat reduzierenden Bakterien, dann würde sich in den anaeroben Schichten kein Schwefelwasserstoff bilden, der dann das Substrat für die schwefeloxidierenden Bakterien liefert. Die gegenseitige Anpassung von mikrobiellen Aktivitäten ist so ausgeprägt, dass man die dabei entstehenden Organisationsformen als multizellulären Organismus auffassen kann 18, der sich, konsequent zu Ende gedacht, über die ganze Erde erstreckt. Die diversen Stoffwechselprozesse dieses Hyperorganismus (Fixierung von atmosphärischem Stickstoff, verschiedene Mineralisierungsvorgänge) sind 17 18
Schindler 1977. Shapiro 1998.
141 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Einheit von Erfahrung und Selbstkonstitution der Lebewesen
Voraussetzung für alle höheren Lebensformen. Wenn man davon ausgeht, dass ein Organismus nur in der Veränderung seiner Umgebung zu einer ihm vertrauten Umwelt zu einer Raumerfahrung kommt, dann ist die multizelluläre Bakterienpopulation das einzige organismische System, das die vielfältigen Gegebenheiten der Erde in ihrer Gesamtheit erfährt. Die Raumerfahrung einer multizellulären Population von Mikroorganismen setzt sich aus den individuellen Raumerfahrungen der einzelnen Zellen zusammen. Ein Bakterium erlangt in einem wässrigen Milieu die einfachste Form einer Raumerfahrung durch eine Begrenzung seines Wachstums durch Nährstoffe, die es mit den anderen Organismen einer Population teilt. Die Beweglichkeit von Bakterien, die sich direkt (mit Flagellen), aber auch indirekt (mit Hilfe anderer Organismen oder anorganischer Träger) fortbewegen können, ist nahezu unbeschränkt, wenn ihr Nährstoffbedarf in anderen Biotopen gedeckt wird. Der Aufbau von Biomasse aus CO2 (in der Primärproduktion) beinhaltet komplexe bakterielle und pflanzliche Interaktionen mit anorganischen Verbindungen des terrestrischen Milieus. Dabei werden die Nährstoffe für das Wachstum von Pflanzen (Nitrat und Sulfat) über Nährstoffkreisläufe von Bakterien geliefert. Die für die photosynthetische CO2-Fixierung erforderliche Energie wird durch Sonnenlicht bereitgestellt, kann aber auch von der Oxidation reduzierter Verbindungen vulkanischen Ursprungs in sauerstoffhaltigem Milieu stammen. Das in der Photosynthese gebildete organische Material wird von den Sekundärproduzenten verwertet. Dies führt zu einer Regeneration von CO2, an der neben Pflanzen (beim respiratorischen Abbau von Kohlehydraten) hauptsächlich Bakterien und in quantitativ geringerem Ausmaß auch Tiere beteiligt sind. Ein auf das jeweilige terrestrische Milieu abgestimmtes komplexes Kommunikationsgefüge zwischen Primär- und Sekundärproduzenten sorgt dafür, dass der CO2-Gehalt in der Atmosphäre einigermaßen konstant bleibt, was für ein ausgeglichenes Klima erforderlich ist. Der Umsatz von CO2 wird mit der bakteriellen Fixierung und Regeneration von atmosphärischem Stickstoff koordiniert, was die Existenz höherer Organismen ermöglicht, die auf die Verwertung von Stickstoffverbindungen angewiesen sind. Die Evolution der Arten schreitet in diesem immer komplexer werdenden Interaktionsprozess voran, an dem einzellige Bakterien und vielzellige Organismen beteiligt sind.
142 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Raumerfahrung von Organismen
5.4.2. Die Selbstkonstitution von vielzelligen Organismen in der Erfahrung eines gemeinsamen Lebensraums mit anderen Organismen Bei mehrzelligen Organismen existiert für jede Zelle eine eigene Funktionsharmonie, da sich die stationären Zustände der verschiedenen Zellen unabhängig voneinander ausbilden können. Wäre dies nicht der Fall, dann könnten sich bei höheren Tieren nicht einzelne Zellen zu Krebszellen entwickeln, die ein Eigenleben führen. Eine mögliche Differenzierung der Zellen geht mit einer Differenzierung der gesamtorganismischen Funktionsharmonie in untergeordnete Funktionsharmonien einher, die als Organe oder Gewebe die unterschiedlichen Anpassungen der einzelnen Zellen an eine Änderung der Umgebung leiten. Dies führt zu der Frage, ob pflanzliche und tierische Lebewesen unterschiedliche Strategien entwickelt haben, eine gesamtorganismische Funktionsharmonie für den Aufbau von differenzierten Zellen zu nutzen. Bei Tieren findet zu diesem Zweck ein im Unterkapitel 9.3. genauer beschriebenes Zusammenspiel von sensorischen und motorischen Zellen mit Nervenzellen statt. Bei Pflanzen stellt sich die Frage, ob hier eine andere Organisationsform wirksam ist. Bei der Raumerfahrung vielzelliger Organismen erscheint es sinnvoll, Organismen mit konkreter Raumerfahrung durch Erweiterung ihrer Gestalt in Wachstumsprozessen von Organismen zu unterscheiden, die zu erweiterten Raumerfahrungen durch Ortsveränderungen befähigt sind. Mit dieser etwas umständlichen Formulierung vermeiden wir die Bezeichnung ›bewegliche und unbewegliche‹ Organismen, die deshalb unrichtig ist, weil es keine unbeweglichen Organismen gibt. Organisationen des Lebendigen unterscheiden sich nur in der Art ihrer Bewegungen, mit denen sie sich in der Erfahrung ihres Lebensraums konstituieren. Dabei wird ganz allgemein bei allen Lebewesen ihre Bewegung auf die (kommunikativen) Interaktionsmöglichkeiten mit anderen Organismen in der von ihnen erlebten Umgebung abgestimmt. Auch bei höheren Lebewesen ist eine Kommunikation erfolgreich, wenn sie in gemeinsamen und aufeinander abgestimmten Lebenswelten erweiterte Raumerfahrungen der dabei beteiligten Organismen ermöglicht. Vielzellige Lebewesen sind jedoch zu vielfältigeren Interaktions- und Kommunikationsformen mit anderen Lebewesen befähigt als einzellige Bakterien. Pflanzen operieren wie Zellkolonien, die sich durch Wachstum gleichzeitig in 143 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Einheit von Erfahrung und Selbstkonstitution der Lebewesen
drei Dimensionen bewegen können, was einem Tier verwehrt ist. Die Wurzeln wachsen im Boden sowohl in Richtung Erdmittelpunkt als auch in die Breite, simultan dazu breitet sich der Spross mit Blättern in einer Bewegung nach oben zur Sonne und in alle möglichen Richtungen aus. Bei Tieren erweitert sich die Raumerfahrung in dem Maß, in dem es zu Differenzierungen der interorganismischen Kommunikation kommt. Hier grenzen sich die Lebewesen voneinander durch verschiedene Faktoren ab, die zu haptischen, akustischen, olfaktorischen, aber auch visuellen Raumerfahrungen führen, mit denen Tiere die Anwesenheit anderer Lebewesen in ihrem Lebensraum erfahren. Die Mobilität der Tiere weist vielfältige Facetten auf, die sich nicht auf einen einheitlichen Begriff bringen lässt. Das Spektrum reicht von ortsfesten Arten bis hin zu Lebewesen mit ausgeprägtem Migrationsverhalten. Manche Tierarten benutzen zur Eroberung neuer Räume eine andere Tierart als Transportmittel. Sie heften sich vorübergehend an diese an und lassen sich tragen, ohne den Transport-Wirt zu schädigen (Phoresie). Die Unterschiede in den Raumerfahrungen der Pflanzen und Tiere werden in den beiden nächsten Unterkapiteln behandelt. 5.4.2.1. Die Selbstkonstitution von Pflanzen bei der Erfahrung ihres Lebensraums Viele pflanzliche Organismen haben für ihre Raumerfahrung mindestens ebenso komplexe Strategien wie Tiere entwickelt. Ortsveränderungen sind ihnen genauso wie mobilen Tieren möglich. Bestimmte Blaualgen können mit Hilfe von Gasvakuolen in vertikaler Richtung in einem See aufwärts und abwärts schwimmen. Pennate Kieselalgen gleiten auf einem festen Untergrund mit Hilfe einer schleimigen Substanz und feinen Borsten, die längs der Raphe angeordnet sind. Die anatomische Gestaltung der Samen höherer Pflanzen ermöglicht ihnen, auch in ihre fernere Umgebung vorzudringen. Hier haben Pflanzen alle möglichen sinnreichen Einrichtungen erfunden, um ihren Samen in der Umgebung zu verbreiten. Dies geschieht z. B. durch »Fallschirmchen« beim Löwenzahn. Eine Verbreitung ist auch möglich mit Hilfe von Tieren, die den Samen fressen und anderswo wieder ausscheiden oder ihn an ihr Fell angeheftet transportieren.
144 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Raumerfahrung von Organismen
Außerdem können Pflanzen ihre nähere Umgebung durch Wachstumsbewegungen erobern. Für die Wachstumsbewegung von Pflanzen ist die Koordination einer Vielfalt externer Einflüsse in Hinblick auf ein sinnvolles Zusammenwirken von Strukturelementen erforderlich. Dazu zählen unter anderem die Wahrnehmung der Lichtintensität, des Spektrums des erfahrenen Lichts, der ›Düfte‹ von organischen Substanzen, die Menge an Nährstoffen und der Feuchtigkeit im Boden. Auch die Richtung zum Erdmittelpunkt (positiver und negativer Gravitropismus) und der Einfluss anderer Lebewesen werden von Pflanzen wahrgenommen. Zwar geht bei Pflanzen die Koordination einer sinnvollen Reaktion auf die diversen externen Einflüsse wesentlich langsamer vor sich als bei Tieren, die mit Hilfe eines Nervensystems Informationen über Milieueinflüsse sehr rasch über den ganzen Körper ausbreiten können. Trotzdem gelingt es der Pflanze, die photosynthetische Verwertung der Energie des Lichts in Blättern auf die Bewegungsvorgänge in den Wurzeln abzustimmen und die Erfahrung von Veränderungen im Boden durch die Wurzeln mit physiologischen Prozessen in den Blättern zu koordinieren. Dies wirkt sich auf das Wachstum der ganzen Pflanze aus. Von der Lichterfahrung der Blätter sind die Zusammensetzung der Pigmente und die Bewegung der Spaltöffnungen betroffen, durch die CO2 für die Photosynthese aufgenommen wird. Die Regulation der Bewegung der beiden Schließzellen der Spaltöffnung ist sehr komplex: Einerseits müssen die Spaltöffnungen möglichst lange für die Photosynthese offen bleiben, andererseits muss die Verdunstung von Wasser bei geöffneten Schließzellen möglichst gering gehalten werden. Wie bei der Polyphosphatbildung bei Algen, die weder zu viel noch zu wenig Phosphat für die antizipierte Wachstumsrate speichern dürfen, trifft auch die Pflanze einen Kompromiss bei der Dauer der Öffnung der Schließzellen. Er besteht darin, dass die Spaltöffnungen in den Mittagsstunden geschlossen werden, wobei die Dauer der Schließung von der Verfügbarkeit von Wasser für die Wurzeln im Boden abhängt. Die ›Intelligenz‹ der Pflanzen zeigt sich nicht nur im adaptiven Verhalten von Blättern, sondern auch bei den Wurzeln, die das Dunkel des Bodens suchen und sich dort in Richtung höherer Nährstoffgehalte ausbreiten. Die von der Wurzelhaube geschützte Wurzelspitze erkennt Hindernisse, die ihren Wachstumsweg verlegen, z. B. Steine, und ändert ihre Wachstumsrichtung so, dass sie das Hindernis umgeht, indem sie es regelrecht »umwächst«. Obwohl neben Wasser145 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Einheit von Erfahrung und Selbstkonstitution der Lebewesen
und Mineralsalzaufnahme sowie Synthese von sekundären Pflanzenstoffen und Hormonen die Verankerung der Pflanze im Boden eine Hauptaufgabe der Wurzeln ist, sorgen doch gerade sie durch ihr ständiges Wachstum dafür, dass ortsfesten Pflanzen eine Raumerfahrung möglich wird. Eine ausgewachsene Roggenpflanze z. B. erfasst mit ihren über 10 Milliarden Wurzelhaaren eine Gesamtfläche von 400 Quadratmetern. Würde man die Wurzeln aneinander reihen, ergäbe sich eine Gesamtlänge von 10 000 km 19. Die Ausbreitung der Wurzeln wird auf die Verfügbarkeit von Nährstoffen abgestimmt und die Aufnahme von Nährstoffen und dem lebenswichtigen Wasser mit den oberirdischen Aktivitäten der Pflanze akkordiert. So wird bei Bäumen die Ausbreitung des Wurzelsystems mit dem Kronensystem so in Einklang gebracht, dass im Allgemeinen die äußerste Zone des Wurzelsystems in horizontaler Ausdehnung etwas über die von der Krone überdachte Bodenfläche hinausreicht 20. 5.4.2.2. Die Selbstkonstitution von Tieren bei der Erfahrung ihres Lebensraums Die Lebensraumerfahrung von Tieren, die zu Ortsveränderungen befähigt sind, unterscheidet sich naturgemäß von der Lebensraumerfahrung sessiler Tiere (Steinkorallen, Schwämme, Moostiere etc.). Manche Arten sind im Prinzip zu einem Ortswechsel fähig, tun dies aber selten und nur unter ganz bestimmten Umständen. Man bezeichnet sie als hemisessil. Dazu gehören Muscheln, Seeigel und Seeanemonen. Die sessilen Tiere erzeugen in ihren Selbstkonstitutionsakten eine feste und relativ unbewegliche Anordnung von Strukturelementen, mit der sie einerseits sich von einer stabilen und gleichbleibenden Umgebung abgrenzen, andererseits mit ihr fest verbunden sind. Auf diese Weise bleiben sie vor negativen äußeren Einflüssen potentiell geschützt. Bei mobilen Tieren hängt die Raumerfahrung im Wasser, zu Land und in der Luft von der antizipatorischen Schaffung von Strukturelementen ab, die der jeweiligen Fortbewegungsmethode angemessen sind. Dieser Prozess wird bei der metabolischen Neukonstitutionen und der Fortpflanzung durch das Artgedächtnis geleitet, das für die Aufrechterhaltung einer bestimmten Formidentität verantwortlich ist. Die Motilität im Wasser wird 19 20
Strasburger 1991, 221. Strasburger 1991, 222.
146 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Raumerfahrung von Organismen
bei Flagellaten durch eine oder mehrere Geißeln, bei Ciliaten (wie den Pantoffeltierchen) durch Wimpern, bei Amöben durch Scheinfüßchen (Pseudopodien) und bei Fischen durch Flossen bewerkstelligt. Unter den Wirbeltieren haben sich aus den Flossen der Fische bei Vögeln die Flügel und bei Bewohnern terrestrischer Biotope die Beine entwickelt. Die dabei entstehenden Tiergestalten stehen in Hinblick auf Beweglichkeit und Ernährung in einem entwicklungsgeschichtlichen Sinnzusammenhang, der im Kapitel 9 detaillierter ausgeführt wird. Flagellaten stehen physiologisch zwischen den einfachsten Pflanzen (Algen) und den Tieren. Die Phytoflagellaten können ihren Stoffwechsel durch Photosynthese aufrechterhalten, die Zooflagellaten nehmen entweder feste Körper (u. a. Bakterien) oder gelöste organische Stoffe durch Endozytose auf. Es gibt sogar Arten, die von einer auf Verwertung organischer Stoffe (in einem sog. heterotrophen Stoffwechsel) auf die Verwertung anorganischer Verbindungen (in einem sog. autotrophen Stoffwechsel) umschalten können. Manche Flagellaten benützen die Geißeln nicht nur zur Fortbewegung, sondern strudeln damit auch Nahrungspartikel heran. Bei diesen Organismen übernehmen die Geißeln sowohl sensorische als auch motorische Funktionen. Sie enthalten Zytoskelettstrukturen (Mikrotubili), die mit einem Basalkörper im Zytoplasma verankert sind. Der Basalkörper übermittelt Informationen über mögliche Hindernisse an das Zytoplasma, was zur Folge hat, dass die Art der Geißelbewegung verändert wird. Die Geißeln sind von einer Membran umgeben, deren Proteine ebenfalls an Erfahrungen über Änderungen der Umgebung beteiligt sind. Einige Flagellaten können ihre Geißeln abwerfen und mit Protoplasmafortsätzen zusätzliche Raumerfahrungen machen. Sie sind dadurch ein Bindeglied zu den Rhizopoden, deren einfachste Vertreter die Amöben sind. Auch bei Amöben ist Ortsveränderung und Nahrungsaufnahme ein einziger Prozess. Dabei wird die Form der Zelle durch eine langsame und fließende Fortbewegung mit Pseudopodien verändert. Die Scheinfüßchen umfließen eine mögliche Beute, die dann in das Zytoplasma aufgenommen wird. Dort erfolgt die Verdauung mit Nahrungsvakuolen. Man darf vermuten, dass in Abwesenheit einer möglichen Beute die Amöbe versucht, sich die gesamte Erdoberfläche einzuverleiben, was ihr naturgemäß nicht gelingt. Wenn sie in diesem Fall die Pseudopodien nicht weiter ausstrecken kann, zieht sie den restlichen Körper nach, was eine Ortsveränderung zur Folge hat. 147 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Einheit von Erfahrung und Selbstkonstitution der Lebewesen
Die Pantoffeltierchen, die zu den Ciliaten gehören, bewegen sich mit Hilfe zahlreicher Wimpern auf der Körperoberfläche fort. Die Wimpern dienen nicht nur zur Ortsveränderung, sondern auch zur Nahrungsaufnahme, wobei meist Bakterien durch Wimperschläge zu einem ›Zellmund‹ gestrudelt und durch einen ›Zellschlund‹ mit einer Nahrungsvakuole aufgenommen werden. Unverdaute Substanzen in der Vakuole werden über einen ›Zellafter‹ durch Exozytose ausgeschieden. Die rasche Ortsveränderung durch Wimpernschlag ermöglicht komplexe Raumerfahrungen. Pantoffeltierchen nehmen Hindernisse durch Rezeptoren wahr und schwimmen um sie herum. Bei negativen Einflüssen führt eine Umkehrung der Schlagrichtung der Wimpern zu einer Umkehrung der Schwimmrichtung. Paramaecium bursaria, ein Vertreter der Pantoffeltierchen, inkorporiert kugelförmige, einzellige Grünalgen, sog. Zoochlorellen, verdaut sie aber nicht, sondern geht mit ihnen eine intrazelluläre Symbiose ein. Gelegentlich geschieht dies auch mit gewissen spindelförmigen Scenedesmusarten, die in der Symbiose ebenfalls kugelförmig werden. Dabei ernähren die unbeweglichen Algen mit ihren Photosyntheseprodukten (Zucker) ihre Wirtszelle und werden dafür von ihrem beweglichen Wirt zum Licht transportiert. So entsteht aus der symbiotischen Assoziation von Algen mit Paramaecien ein fakultativ multizelluläres Gebilde aus unterschiedlichen, sensorischen und motorischen Zellen mit erhöhter Sensibilität und neuer räumlicher Orientierungsfähigkeit. Die Raumerfahrung mehrzelliger Tiere erfordert – mit Ausnahme der primitiv gebauten Schwämme – die koordinierende Funktion eines Nervensystems. Die einfachsten Mehrzeller mit einem Nervensystem sind Hohltiere, in denen das Nervensystem netzförmig oder ringförmig angeordnet ist. Zu den Hohltieren gehören Polypen, Quallen und Korallen. Die Funktion dieses Nervensystems wird bei der Raumerfahrung von höheren Tieren auf eine Gliederung von Fortbewegungsorganen abgestimmt, was eine immer komplexer werdende Erfahrung der dreidimensionalen Eigenschaften der Umgebung ermöglicht. Stellvertretend für tierische Raumerfahrung mit Hilfe eines Nervensystems sollen hier nur die Süßwasserpolypen besprochen werden. Im Körperaufbau des Süßwasserpolypen Hydra werden auf multizellulärer Ebene gewisse Bewegungsformen der Amöbe wiederholt. Die Rolle der Pseudopodien wird von Tentakeln übernommen, und der Verdauungsvorgang, der bei der Amöbe im Zellinneren aus148 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Raumerfahrung von Organismen
geführt wird, findet bei der Hydra in einem Hohlraum des Körpers statt. Die Hülle dieses Hohlraums, die sich im oberen Teil zu Tentakeln verzweigt, besteht aus drei Schichten, einer Außenhaut, einer Innenhaut und einer dazwischen liegenden Stützschicht, in der sich Nervenzellen befinden. In der Außenhaut liegen sensorische Rezeptorzellen, mit denen die Hydra Wasserströmungen und die Anwesenheit von Protozoen erfahren kann. Diese Information wird an die Nervenzellen weitergeleitet. Außerdem enthält diese Schicht Epithelmuskelzellen. Sie sind an der Stützschicht befestigt und ermöglichen mit kontraktilen Fibrillen, die entlang des Körpers in Längsmuskelschichten angeordnet sind, die Bewegung der Hydra. In der Außenschicht sitzen Nesselzellen mit giftigen Lanzetten, die bei Berührung nach außen geschleudert werden. Man findet sie hauptsächlich in den Tentakeln, mit denen die Beute gefangen wird. Durch die Krümmung der Tentakel auf Grund der Bewegung der Epithelmuskelzellen wird die Beute zur Mundöffnung gebracht und von dort in einen Hohlraum, der die Innenschicht umschließt und in dem die Verdauung mit den Sekreten der Drüsenzellen stattfindet. In der Innenschicht befinden sich ebenfalls Epithelmuskelzellen, die hier ringförmig angeordnet sind. Ihre Bewegung wird mit der Bewegung der Epithelmuskelzellen in der Außenschicht so koordiniert, dass die Hydra vielfältige Ortsveränderungen durchführen kann. Außerdem werden die im Hohlraum vorverdauten Nährstoffe von den Nährmuskelzellen oder Fresszellen durch Phagozytose (ähnlich wie bei der Amöbe) aufgenommen. Diese Zellen besitzen zwei Geißeln, mit denen sie die Nahrung herbeistrudeln können. Auf diese Weise übernehmen die Epithelmuskelzellen die Bewegungsmuster von Flagellaten und Amöben. Neben den Nährmuskelzellen existieren Drüsenzellen, die Vakuolen mit Verdauungssäften enthalten, deren Inhalt in den Hohlraum abgesondert wird. Darüber hinaus enthält die Innen- und Außenschicht auch Ersatzzellen, die in andere Zellen umgewandelt werden können, u. a. sogar auch in Spermien und Eizellen. Die Koordination der Bewegung der Zellen erfolgt durch Nervenzellen, die sich über die Zwischenschicht erstrecken und die mit Hilfe von Rezeptoren und Effektoren die Funktion der sensorischen und motorischen Zellen aufeinander abstimmen. Das komplexe Verhalten der Süßwasserpolypen bei der Aufnahme von Nahrung, Bewegung und Fortpflanzung (Hydren können männlich, weiblich und auch Zwitter sein) wird durch das Netzwerk der Nervenzellen ver149 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Einheit von Erfahrung und Selbstkonstitution der Lebewesen
mittelt. Eine Ortsveränderung geht so vor sich, dass die Tentakel den Boden berühren, der Rumpf dann nachgezogen wird und sich wieder aufrichtet. Die Fortpflanzung kann ungeschlechtlich (durch Längsoder Querteilung) oder geschlechtlich erfolgen. Bei der geschlechtlichen Vermehrung werden in der Außenhaut des Tieres in Ausbuchtungen entweder Spermien oder eine Eizelle angeordnet. Hier wird die Eizelle auch befruchtet. Die befruchtete Eizelle wird dann ausgeschieden und heftet sich am Boden an. Verschiedene Bewegungseigenschaften der Protozoen bleiben bei der Hydra erhalten und werden in einer funktionellen Integration so aufeinander abgestimmt, dass daraus neue und komplexere Möglichkeiten von Erfahrungen des Lebensraums hervorgehen. Die Hydra kann ebenfalls endosymbiotisch lebende Zoochlorellen beherbergen. Auch in diesem Fall wird somit eine Eigenschaft von gewissen Protozoen übernommen. Das Erbgut der Hydra ist ähnlich komplex wie das der Wirbeltiere, es enthält mit etwa 20 000 Genen fast so viele wie das Genom des Menschen. Bei der Entwicklung höherer Organismen werden daher im Wesentlichen die molekularen Möglichkeiten der schon von der Hydra erzeugten Gene für eine weitere Differenzierung von Zellen nur mehr kreativ ausgeschöpft und verwirklicht. In diesem Prozess kommt es zu einer Höherentwicklung der Tiergestalten, die im neunten Kapitel ausführlich behandelt wird. Die Lebensraumerfahrung von Tieren wird von der Beziehung zu anderen Lebewesen bestimmt, die als Nahrung oder als Sexualpartner dienen oder als Fressfeinde gemieden werden müssen. Getrieben von Hunger, Partnersuche für sexuelle Vermehrung oder Bedrohung erfahren Tiere andere Lebewesen. Einzellige Protozoen erfahren ihren Lebensraum, indem sie innerhalb ihrer Umgebung zwischen organischer Nahrung und nicht-fressbaren Dingen unterscheiden. Bei diesen Organismen stehen die sensorischen Prozesse, mit denen Änderungen der Umgebung interpretiert werden, in Zusammenhang mit einer antizipatorischen Erzeugung von motorischen Strukturen, die eine Ortsveränderung ermöglichen. Bei der Raumerfahrung vielzelliger Tiere trennt sich in der evolutionären Höherentwicklung die Sinneswahrnehmung immer mehr von der Motorik. Dadurch kommt es zu einer zunehmenden Erweiterung im Spektrum von Umwelterfahrungen, die vom Organismus in ein kohärentes Bild seiner Lebenswelt integriert werden. Die Zeit- und Raumerfahrung der Lebewesen beruht auf einer Entwicklung, die den Menschen einschließt. Eine Sicht auf das Phä150 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Raumerfahrung von Organismen
nomen des Erkennens, das bei Kant erfahrungsunabhängige Formen der Anschauung (Raum und Zeit) a priori voraussetzt, wurde daher von Biologen kritisiert. So schreibt Haeckel in einer Vorwegnahme der evolutionären Erkenntnistheorie: »Der große Irrtum von KANT beruht hauptsächlich darauf, dass seiner kritischen Erkenntnistheorie die physiologischen Grundlagen fehlen, die erst 60 Jahre nach seinem Tod durch DARWINS Reform und Entwicklungslehre und durch die Entdeckungen der Gehirnphysiologie gewonnen wurden. Er (nämlich KANT) betrachtete die Seele mit ihren angeborenen Eigenschaften der Vernunft als ein fertig gegebenes Wesen. Er dachte nicht daran, dass diese Seele sich phylogenetisch aus der Seele der nächst verwandten Säugetiere entwickelt haben könnte. Die wunderbare Fähigkeit zur Erkenntnis a priori ist aber ursprünglich entstanden durch Vererbung von Gehirnstrukturen, die bei den Vertebraten-Ahnen des Menschen langsam und stufenweise durch Anpassung und synthetische Verknüpfung von Erfahrungen und Erkenntnissen a posteriori erworben wurden.« (Zitiert nach Rupert Riedl, Kulturgeschichte der Evolutionstheorie 21.) Was in diesem Prozess einer stufenweisen Anpassung a priori gegeben sein muss, sind die Verwirklichungsmöglichkeiten von idealen Formen von Funktionsharmonien in jeder Stufe. Unter Berücksichtigung dieser Voraussetzung ist die vorliegende Schrift ein Beitrag zur Diskussion über die evolutionäre Erkenntnistheorie. Auch für Konrad Lorenz werden die a priori gegebenen Anschauungs- und Verstandesformen bei Kant als Lern- und Erfahrungsprodukte a posteriori aus der phylogenetischen Entwicklung übernommen: »Unsere vor jeder individuellen Erfahrung festliegenden Anschauungsformen und Kategorien passen aus ganz denselben Gründen auf die Außenwelt, aus denen der Huf des Pferdes schon vor seiner Geburt auf den Steppenboden, die Flosse des Fisches, schon ehe er dem Ei entschlüpft, ins Wasser passt« 22.
21 22
Riedl 2003, 88. Lorenz 1941, 99.
151 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Einheit von Erfahrung und Selbstkonstitution der Lebewesen
5.5. Die Entfaltung des interorganismischen Kommunikationsgeschehen in der Evolution der Arten Wir haben oben ausgeführt, dass ein Organismus Strukturelemente produziert, mit denen er seine Umgebung kreativ so verändern kann, dass daraus für ihn eine Umwelt resultiert, auf die diese Strukturelemente in potentiell sinnvoller Weise abgestimmt sind. In den Eigenschaften der Strukturelemente, mit denen ein Organismus seine Umgebung zu seiner Umwelt umgestaltet hat, gewinnt er ein Wissen von sich selbst. In dieser Selbsterfahrung unterscheidet ein Organismus sich selbst von dem, was er nicht ist, indem er die Differenz zwischen seiner Umwelt und seiner Umgebung als Spannung erfährt. Da der Organismus die Strukturen seiner Selbstgestaltung auf die Gestaltung seiner Umwelt abstimmt, enthalten die Strukturen eine Information über seine Umwelt. In diesem Sinne spiegelt der körperliche Ausdruck das Innere eines Lebewesens wider, »insofern nämlich in ihm das Leben im wörtlichen Sinne informiert erscheint« 23. So gesehen darf der vom Inneren eines Lebewesens erzeugte körperliche Ausdruck als ›Umwelt‹ von seiner ›Umgebung‹ unterschieden werden. Für eine physiologische Erklärung der Aufrechterhaltung und Vererbung einer bestimmten Erscheinungsform eines Lebewesens wurde in Unterkapitel 4.2.1. die Funktion eines »Artgedächtnisses« postuliert, das seine Information von einem gesamtorganismischen Spannungsfeld bezieht. Es leitet im Stoffwechsel die Ausbildung von stationären Zuständen, die einer potentiell sinnvollen Erscheinungsform des Organismus entsprechen und in denen der Organismus die vorhandene Energie optimal verwertet. Die stationären Zustände repräsentieren metabolische Funktionsharmonien, die vom Organismus zum Zweck der Aufrechterhaltung seiner Formeinheit immer angestrebt werden. Die innere Beziehung zwischen Teilprozessen des Stoffwechsels wird durch ein »ideelles Regulativ« gewährleistet, das in einem bestimmten physiologischen Zustand ein Streben nach Funktionsharmonien der Strukturen leitet. Dieses ideelle Regulativ wird vom Organismus als »Spannung« erfahren. Sie ist umso größer, je stärker seine vorhandenen Strukturen von einer idealen Formverwirklichung unter den jeweiligen Milieubedingungen abweichen.
23
Ullrich 2008, 39.
152 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Entfaltung des interorganismischen Kommunikationsgeschehen in der Evolu-
Die Funktionsharmonien, auf denen eine bestimmte Erscheinungsform basiert, verleihen dem Organismus einen körperlichen Ausdruck, mit dem er in einer Selbstbehauptung Druck auf seine Umgebung ausüben kann. Die von Beobachtern wahrgenommene Erscheinungsform eines Lebewesens ist eine Interpretation dessen körperlichen Ausdrucks und der darin enthaltenen Information über dessen Verhältnis zu seiner Umwelt. Aus dieser Tatsache kann eine prozessbiologische Physiologie die Evolution gemeinsamer Weltbezüge miteinander kommunizierender Organismen herleiten, die wechselseitig ihre Ausdrucksformen interpretieren und sich auf ihre Interpretationen mit neuen Formen des Ausdrucks einstellen. Wenn unterschiedliche Gruppen von Lebewesen in kohärenter Weise distinkte Weltbezüge vornehmen, dann kann sich in einem interorganismischen Kommunikationsgeschehen eine Gesellschaft von Arten entwickeln. Dies geht so vor sich, dass in der Kommunikation zwischen den Lebewesen einer Biozönose der körperliche Ausdruck einer Organismengruppe (A) für die Strukturbildungen einer anderen Gruppe (B) von Organismen als deren Umgebung fungiert. Die Gruppe (B) erschafft sich dann aus diesen Manifestationen durch geeignete Selbstkonstitutionsprozesse ihre neue Umwelt. Dies verändert jedoch auch die Umwelt der zur Gruppe (A) gehörenden Organismen, die die Selbstkonstitutionsprozesse in der Gruppe (B) ausgelöst hat. Daher sind diese Organismen ebenfalls gezwungen, sich mit einem neuen körperlichen Ausdruck zu konstituieren. Auf diese Weise strebt jede Organismengruppe danach, einen Sinnzusammenhang zwischen der Erscheinungsform ihres Körpers und den von ihr erfahrbaren äußeren Einflüssen herzustellen, die aus den Erscheinungsformen anderer Organismengruppen resultieren. Nun hat eine Gruppe von Lebewesen ein gewisses Maß an Freiheit bei der Entscheidung, welche Erscheinungsformen der Organismen ihrer Umgebung sie bei ihren Selbstkonstitutionen in einer kohärenten Weise erfasst. Dies betrifft auch die Weitergabe der Ergebnisse dieser Selbstkonstitutionen an nachfolgende Erfahrungsakte. Bei der gegenseitigen Wahrnehmung von Lebewesen kann ein und dieselbe Erscheinungsform einer bestimmten Organismengruppe von anderen Organismengruppen unterschiedlich interpretiert und für ihre Selbstkonstitutionsakte verwendet werden. Dies führt in einer Gesellschaft von Organismen zu Konflikten und Kooperationen, von deren Dynamik die weitere Entwicklung aller beteiligten Organismengruppen betroffen ist. Dieser Prozess kommt zu einem vorläu153 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Einheit von Erfahrung und Selbstkonstitution der Lebewesen
figen Ende, wenn auf der Basis von Kooperationen Gruppen mit gemeinsamen Verständigungsformen und darauf abgestimmten Erscheinungsformen entstehen. Dadurch kommt es zur Bildung von Arten. Eine Artengemeinschaft entsteht demnach aus einer Gesellschaft unterschiedlicher Gruppen von Lebewesen, die ihre Aktivitäten in kohärenter Weise aufeinander und auf die gemeinsame Umgebung abstimmen 24. Dadurch können neue Beziehungsgeflechte mit den anderen Organismen der betreffenden Biozönose entstehen. So hat die Ausbildung vielzelliger Cyanobakterien aus einzelligen Vorläufern in einem kreativen Selbstkonstitutionsakt eine Differenzierung der Zellen in ein und demselben Zellfaden in zwei verschiedene Typen erlaubt. Der eine Zelltyp dient der photosynthetischen Energiegewinnung wie bei den einzelligen Vorläufern, der andere der Umwandlung von atmosphärischem Stickstoff in Stickstoffverbindungen, von denen auch anderen Bakterien profitieren. Beide Vorgänge lassen sich nicht gleichzeitig in einer einzigen Zelle realisieren, weil der photosynthetisch gebildete Sauerstoff das Enzym schädigt, mit dem Stickstoff fixiert wird. Mit der Möglichkeit der Fixierung von atmosphärischem Stickstoff hängen dann die betreffenden Cyanobakterien nicht mehr von gebundenem Stickstoff ab, was ihren Lebensraum und den von anderen Organismen erweitert, die von den Cyanobakterien mit Stickstoffverbindungen versorgt werden. Die Evolution der Arten vollzieht sich in einer Entwicklung derartiger biozönotischer Funktionsharmonien, die sich nicht in Verzweigungen eines Stammbaums mit Ästen von einzelnen Generationsfolgen zergliedern lassen. Abweichungen von diesen übergeordneten Funktionsharmonien werden von den einzelnen Individuen der Artengemeinschaft als ein gemeinsames Spannungsfeld erfahren, das wieder auf deren adaptive Ereignisse zurückwirkt. Als Ergebnis des oben beschriebenen Kommunikationsgeschehens bewahrt ein Organismus in seinem Artgedächtnis »für sich« auch die Manifestationen anderer Organismen, die ihm »an sich« gegeben waren. Im nachfolgenden Kapitel wird ausgeführt, wie dies bei höheren Lebewesen zu ihrer Selbsterfahrung führt. Die transzendentale Selbsterfahrung 25, die aus einer assoziativen Abfolge von Perzeptionen äußerer Eindrücke nicht zu gewinnen ist, basiert auf der Er24 25
Vgl.: Falkner and Falkner 2018. Mit »transzendental« meinen wir jenseits der Erfahrung einzelner Eindrücke.
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Die Entfaltung des interorganismischen Kommunikationsgeschehen in der Evolu-
innerung an die Abfolge angestrebter idealer Formen von Funktionsharmonien bei vergangenen adaptiven Ereignissen. Diese Erinnerung ist, wie in Unterkapitel 4.6.1. ausgeführt, in den Differenzierungen eines Spannungsfelds bei adaptiven Ereignissen präsent, die in einer Höherentwicklung der Organismen bei kreativen Neukonstitutionen funktionell mit anderen Ereignissen zu größeren Einheiten integriert werden. Nach dem oben Dargestellten werden in der Evolution der Arten die organismischen Ausdrucksformen der verschiedenen Lebewesen immer vielfältiger. Der Ausdruck eines Organismus wird von anderen Lebewesen als dessen Erscheinungsform erfahren, die den Wechsel der zugrunde liegenden Strukturen überdauert. In diesem Prozess fungieren die Ausdrucksformen als ›Erkennungszeichen‹ (Symbole), mit deren Hilfe Organismen einander wiedererkennen und sich dabei in ihrer Umgebung zurechtfinden. Dabei muss der Begriff des ›Ausdrucks‹ auf den einzelnen Stufen der Evolutionsgeschichte einen Bedeutungswandel durchlaufen, der die gesamte Entwicklung der geistigen Dimension des Lebendigen umgreift. Der Begriff bezieht sich bei niederen Organismen auf die körperliche Manifestation ihrer Umwelterfahrung. Bei höheren Organismen beschreibt dieser Begriff die immer differenzierter werdenden Ausdrucksmöglichkeiten mit Hilfe von zunehmend komplexer werdenden Erscheinungsformen. Schließlich bezeichnet der Begriff in der höchsten Stufe der Evolution die sprachlichen Ausdrucksformen im unmittelbar sinnlichen, im anschaulich darstellenden und im begrifflichen Ausdruck der Menschen, die sich gemäß Ernst Cassirer in den drei Weltauffassungen, der Ausdruckswelt, der Anschauungswelt und der Welt der wissenschaftlichen Erkenntnis konstituiert 26. Die strukturellen Voraussetzungen für die Kommunikationsformen zwischen Individuen einer Art werden vom Artgedächtnis bestimmt und prägen den artspezifischen Erfahrungshorizont dieser Individuen. In diesem Kommunikationsprozess erlebt jedes Lebewesen die körperlichen Ausdrucksformen aller anderen Organismen eines biozönotischen Beziehungsgeflechts als ›(Kon-)Text‹ von Erkennungszeichen, den es in einer potentiell sinnvollen Weise für seine Neukonstitution interpretiert. Wenn diese Interpretationen für einzelne Organismen unbefriedigend sind, streben sie in individuellen Selbstkonstitutionsakten nach neuen Funktionsharmonien, mit de26
Cassirer 1977, Bd. I, Kapitel II, III und IV; Bd. III, erster, zweiter und dritter Teil.
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Die Einheit von Erfahrung und Selbstkonstitution der Lebewesen
nen sie die Erscheinungsformen der anderen Organismen in einem neuen Kontext von Erkennungszeichen erfahren. Die hier beschriebenen Motive, das Wesen der Gestaltenerzeugung und Gestaltenwandlung betreffend, wurden von der Biologie des 20. Jahrhunderts ignoriert, vermutlich, weil man bisher nicht versucht hat, die Dimension des Geistigen in der Physiologie festzumachen. Die hier präsentierte Abhandlung stellt einen Versuch dar, dies nachzuholen. Bei diesem Versuch wird die Beziehung zwischen Erfahrung und Selbstkonstitution zur fundamentalen Basis der Bildung von Strukturen, deren Einheit für Beobachter in je spezifischer Weise zur gestalteten Erscheinungsform wird.
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6. Die Evolution der Organismen als geschichtlicher Prozess
6.1. Die phylogenetische Entwicklung von Organismen als geschichtliche Abfolge von Selbstgestaltungsakten Das gegenwärtige Kapitel beschäftigt sich mit der Frage, in welcher Weise die Evolution der Arten und die menschliche Geschichte als ein einheitlicher Prozess aufgefasst werden können. Diese Frage ist deshalb berechtigt, weil sich im Rahmen unserer Theorie der Organismen die Lebewesen nicht in zwei Gruppen einteilen lassen, von denen die eine der cartesianischen ›denkenden‹ Substanz, und die andere der ›ausgedehnten‹ Substanz angehört. Die denkende Substanz kommt den Menschen zu, während nicht-menschliche Lebewesen der ›ausgedehnten‹ Substanz, die den Gesetzmäßigkeiten der Physik gehorcht, zugerechnet werden. In dieser Sichtweise ist die menschliche Geschichte streng von der Evolution der Arten getrennt, die physikalisch erklärbar ist. Eine Überwindung dieser Trennung sollte erlauben, die kulturelle Entfaltung der Menschen aus der Höherentwicklung der Organismen abzuleiten und die Entstehung des menschlichen Bewusstseins als Ergebnis der phylogenetischen Entwicklung der Arten zu begreifen. Dieses anspruchsvolle Vorhaben kann auf der Grundlage einer Analyse von biophilosophischen Analogien zwischen der menschlichen Geschichte und der Evolution der Arten in Angriff genommen werden. Worin bestehen diese Analogien? Zunächst darf man davon ausgehen, dass bei einem Fortschritt in der menschlichen Geschichte Ereignisse der Vergangenheit neu bewertet werden und zwar so, dass diese Bewertungen den Verlauf zukünftiger Geschehnisse beeinflussen. In ähnlicher Weise beruht die Evolution der Arten auf dem Ersatz tradierter Bewertungen von Milieuänderungen durch neue Bewertungen, die von den Organismen bei einer Weiterentwicklung ihrer Selbstgestaltung in Erfahrungsakten vorgenommen werden. Dadurch entstehen bei diesen Organismen neue Strukturen, mit denen sie sich in ihrer Umgebung 157 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Evolution der Organismen als geschichtlicher Prozess
behaupten können. Bei dieser Analogie zwischen der menschlichen Geschichte und der Evolution der Arten kommt die zentrale Rolle von Bewertungen der Organismen in den Blick. Whitehead schreibt über die Evolution: »The organism is a unit of emergent value, a real fusion of the characters of eternal objects, emerging for its own sake.« 1 Geht man davon aus, dass in der hier präsentierten Theorie der Organismen die ›eternal objects‹ den idealen Formen von Funktionsharmonien entsprechen, dann beruht der Fortschritt in der Evolution auf der Erfindung neuer Funktionsharmonien, die neue Bewertungen von Milieuänderungen erlauben. Die Bewertung von Änderungen ihrer Umgebung durch Lebewesen setzt bei diesen eine bestimmte Zielsetzung voraus. Damit stellt sich die Frage, ob diese Zielsetzung sowohl der menschlichen Geschichte als auch der Evolution eine ineinander übergehende Richtung gibt. Sobald die Evolution von den Intentionen der Organismen beeinflusst wird, ist zwanghafte Bestimmung im Sinne von Naturgesetzlichkeit ausgeschaltet. In einem Wechselspiel von endursächlichen Entscheidungen und wirkursächlichen Prägungen wird das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit zu einem entscheidenden Faktor für die Richtung der evolutionären Entwicklung. Eine derartige Richtung lässt sich finden, wenn sich bei einer Höherentwicklung der Organismen ihre Selbstgestaltung von der Seite des zwanghaft Unfreiwilligen mehr und mehr zur reflektierten Seite des Freiwilligen neigt. Wir wollen nun versuchen, die Zunahme der Freiheit von Lebewesen bei einer »Evolution von komplexeren Organismen aus vorhergehenden Zuständen von weniger komplexen Organismen« 2 als einen Prozess zu interpretieren, der sich in der menschlichen Geschichte fortsetzt. Worin besteht nun die Zunahme der Freiheit der Organismen in der Evolution der Arten? Zur Beantwortung dieser Frage gehen wir von einer prozessbiologischen Interpretation der Philosophie der Geschichte von Georg W. F. Hegel aus, wobei wir das Zusammenspiel zwischen dem individuellem Gedächtnis und dem Artgedächtnis in der Evolution der Arten berücksichtigen. Für Hegel ist die Weltgeschichte »der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit – ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben«. Über »den Unterschied des Wissens von der Freiheit […] und zwar zunächst in der Form, dass die Orien1 2
Whitehead 1926, 135. Whitehead 1926, 135.
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Die phylogenetische Entwicklung von Organismen als geschichtliche Abfolge
talen nur gewusst haben, dass Einer frei, die griechische und römische Welt aber, dass einige frei sind, dass wir aber wissen, alle Menschen an sich, das heißt der Mensch als Mensch sei frei, ist zugleich die Einteilung der Weltgeschichte […] angegeben […]. Es ist also die Bestimmung der geistigen Welt und […] als der Endzweck der Welt das Bewusstsein des Geistes von der Freiheit und eben damit die Wirklichkeit der Freiheit überhaupt angegeben worden« 3. Man kann diese Idee auf die Evolution der Arten übertragen, indem man Hegels zentralen metaphysischer Begriff des ›Weltgeistes‹ neu interpretiert. Für Hegel verwirklicht sich der Weltgeist im Entstehen und Vergehen von Staaten und in den Personen, die diese Staaten repräsentieren (z. B. Napoleon zu Pferde). In der hier vorgenommenen Umdeutung dieser Idee wird aus dem Weltgeist die logische Weiterentwicklung idealer Formen von artspezifischen Funktionsharmonien. Dabei entstehen in Individuen neue Funktionsharmonien, mit denen sich diese von gleichförmigen Manifestationen ihrer Art unterscheiden. So vermehren sich die Variationen in den Selbstkonstitutionsakten der Organismen einer Art. Wir wollen nun Hegels Geschichtsphilosophie als Methode verwenden, die den Fortschritt in der Evolution der Arten in einer Zunahme von individuellen Gedächtnisformen sieht, die sich von den Bestimmungen des Artgedächtnisses befreien. Wie im Unterkapitel 4.2.1. ausgeführt, enthält das individuelle Gedächtnis die Erinnerung an Veränderungen der eigenen Strukturen, die die Erfahrung von Milieuänderungen im Verlauf einer Lebensgeschichte begleitet haben. Im Gegensatz dazu ist das Artgedächtnis auf eine Vererbung von Funktionsharmonien ausgerichtet, die Gemeinsamkeiten bei den Selbstkonstitutionen von Lebewesen einer Art aufrechterhalten. Das individuelle Gedächtnis übermittelt die Intentionen für Neugestaltungen, das Artgedächtnis die Intentionen für eine Wiederholung gleichbleibender Formen der Erscheinung und des kommunikativen Verhaltens der Art. In dem Maß, in dem sich das individuelle Gedächtnis vom Artgedächtnis ablöst, vergrößert sich die Freiheit der Organismen, ihre Lebenswelt unabhängig von den gleichförmigen Lebensweltinterpretationen des Artgedächtnisses zu gestalten. Im Ergreifen dieser Gestaltungsmöglichkeiten fächern sich die Erscheinungsformen der Organismen einer Art immer weiter auf und die individuellen Welterfahrungen differenzieren sich in zunehmendem Maße. In diesem Prozess erzeugen die 3
Hegel 1970a, 32.
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Die Evolution der Organismen als geschichtlicher Prozess
Organismen neue Funktionsharmonien, die an die Stelle der tradierten Formen von Funktionsharmonien des Artgedächtnisses treten. In der Weitergabe dieser neuen Funktionsharmonie an nachfolgende Generationen und deren Integration in das Artgedächtnis entstehen neue Arten, bei denen die Baupläne der Organismen eine weitere Zunahme der Möglichkeiten eröffnen, auf unterschiedliche Weise ihre Lebenswelten zu gestalten. So gesehen kann die »Kambrische Explosion« der Arten, i. e. eine explosionsartige Zunahme der Artenvielfalt vor 541 bis 485 Millionen Jahren, dadurch erklärt werden, dass in dieser Periode besonders günstige Bedingungen für ein Auseinanderklaffen von Art- und Individualgedächtnis existiert haben. Für ein Verständnis dieses Prozesses ist es sinnvoll, das Zusammenspiel der beiden Formen des Gedächtnisses in der phylogenetischen Entwicklung der Arten zu rekapitulieren. Bei Bakterien und einzelligen Lebewesen ist das individuelle Gedächtnis untrennbar mit dem Artgedächtnis verbunden. Bei diesen niederen Organismen manifestiert sich das individuelle Gedächtnis darin, dass es eine sinnvolle Verknüpfung von adaptiven Ereignissen mit dem Ziel erlaubt, die artspezifischen Eigenschaften aufrechtzuerhalten. Dabei passen sich einzelne Organismen an Umweltänderungen an, die von einer Population als Ganzes bewirkt werden. Im individuellen Gedächtnis der Bakterien sind daher nur die Ergebnisse vorheriger Anpassungen der gesamten Population enthalten. Ein Beispiel ist die im dritten Kapitel beschriebene Anpassung von Cyanobakterien an Änderungen der Phosphatzufuhr. Wir zeigten, dass hier die Erinnerung an das Muster der von der Population in der Vergangenheit gestalteten Änderungen der externen Phosphatkonzentration das adaptive Verhalten der einzelnen Zellen bestimmt. In diesem Entwicklungsstadium des Lebendigen verwirklicht sich die Freiheit der einzelnen Organismen in unterschiedlichen Interaktionen der Art mit der gesamten Organismengesellschaft, von der sie ein Teil sind. Eine Trennung der Intentionen des individuellen Gedächtnisses von den Intentionen des Artgedächtnisses zur Aufrechterhaltung einer bestimmten Erscheinungsform wird in der phylogenetischen Entwicklung erst nach dem Entstehen eukaryontischer Zellen erlangt. Aus diesen können vielzellige Organismen aufgebaut werden, deren Zellen in ihrer Individualentwicklung unterschiedliche Erfahrungen von Milieuänderungen machen können. In einer Erinnerung an diese unterschiedlichen Erfahrungen entstehen Unterschiede im individuellen Gedächtnis. In diesem Prozess differenziert sich das 160 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die phylogenetische Entwicklung von Organismen als geschichtliche Abfolge
individuelle Gedächtnis, das dafür verantwortlich ist, dass die einzelnen Lebewesen sich in zunehmenden Maß von der artspezifischen Selbstgestaltung unterscheiden. Differenzierungen der eukaryontischen Zellen innerhalb des Organismus und Zusammenschluss verschiedener Zelltypen zu Geweben mit distinkten Funktionen ermöglichen Unterschiede in den Interaktionen einzelner Organismen einer Art mit ihrer Umgebung. Pflanzen versorgen sich in ortsabhängiger Weise mit Nährstoffen durch ihre Wurzeln und mit Energie durch die Photosynthese in den Blättern, was zu individuellen Differenzierungen ihrer Erscheinungsform führt. Tiere gewinnen eine gewisse Flexibilität beim Nahrungserwerb durch Ortsveränderungen mit ihren Gliedmaßen. Gleichzeitig entwickeln sie in ihrer Evolution ein immer differenzierteres sensorisches System mit Nerven und dem Gehirn als Beziehungs- und Gedächtnisorgan für ihre Interaktionen mit der Umgebung 4. In der Erinnerung an vorherige Variationen des körperlichen Ausdrucks entsteht dabei ein Wissen über die Möglichkeiten, die Konstituenten des Körpers auf verschiedene Weise für die Gestaltung der Milieus einzusetzen. Dies eröffnet neue Interaktionsmöglichkeiten mit anderen Organismen der Biozönose, wobei sich der Erfahrungshorizont der Lebewesen erweitert. Indem sie erfahren, welche Wirkungen Unterschiede in ihren Ausdrucksformen verursachen können, vergrößern sie das Methodenrepertoire, mit dem sie sich in ihrer Umgebung durch entsprechende körperliche Ausdrucksformen behaupten können. Variationen in ihrem körperlichen Ausdruck erlauben bei höheren Tieren sogar eine variable Gestaltung ihrer Mimik. Dadurch löst sich bei Tieren die enge Abhängigkeit einer bestimmten Erscheinungsform von deren Intentionen und Empfindungen. Dies ist besonders dann von Nutzen, wenn es die Selbstverwirklichung anderer Organismen betrifft oder durch andere Organismen potentiell behindert wird. In einem Spiel mit Verstellung, Täuschungen und verschiedenen Formen listigen Verhaltens erfahren sich höhere Lebewesen in einem ersten Schritt bei der Entstehung von Selbstbewusstsein als gleichbleibender Produzent von Variationen ihres körperlichen Ausdrucks (Beispiele werden in Unterkapitel 9.4. gegeben). Im Streben nach einer Beherrschung ihrer Umgebung suchen auch höhere Organismen etwas Gleichbleibendes im Wechsel der Erfahrungsinhalte ihrer Lebenswelt, an das sie sich bei deren zukünfti4
Siehe Fuchs 2013.
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Die Evolution der Organismen als geschichtlicher Prozess
gen Gestaltungen erinnern können. Ein derartiges Gleichbleibendes, das die Variationen der Interaktion mit dem Milieu überdauert, finden sie zunächst in der Erinnerung an die unterschiedlichen Umformungen ihres Milieus zur Herstellung einer gewohnten Umwelt. Schließlich ist ihre Kreativität in einem vorbewussten Entwicklungsstadium nur auf die Wiederherstellung einer Funktionsharmonie nach deren Störung durch äußere Einflüsse ausgerichtet. Mit anderen Worten, der Organismus erfährt sich als Produzent seiner Lebenswelt im vorbewussten Stadium nur darin, wie er mit seiner Kreativität eine ihm feindliche Umgebung in eine ihm vertraute Umwelt transformieren kann. Er erfährt sich jedoch nicht als ein Wesen, das diesen Prozess bewirkt. Ein Wissen von sich selbst gewinnt der Organismus erst, wenn er sich eins weiß mit den diversen Veränderungen seiner Umgebung, die er selbst zu seiner Umwelt gestaltet. D. h., wenn er beginnt, den invarianten Grund für die von ihm verursachten Veränderungen der Umgebung in seinem eigenen Wirken zu finden.
6.2. Die Entstehung des Selbstbewusstseins Zwischen den Intentionen des auf Formerhaltung gerichteten Artgedächtnisses und des auf Veränderung dieser Form gerichteten individuellen Gedächtnisses besteht ein Widerspruch. Seine Aufhebung erfolgt in der menschlichen Geschichte, in der ein »Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit« zur Entstehung des Selbstbewusstseins führt. Der geschichtliche Prozess zum Selbstbewusstsein geht schrittweise vor sich und ist noch immer nicht zu Ende gekommen. Voraussetzung für die Aufhebung des Widerspruchs ist, dass ein Organismus ein Wissen von sich selbst als invariantem Schöpfer seiner Lebenswelt erlangt, wenn sich seine »Begierde« nach Herrschaft nicht nur nach außen, sondern auch nach innen, auf sich selbst richtet. In dieser Divergenz seiner Intentionen spaltet sich ein Organismus in zwei unterschiedliche Wissensformen von sich selbst auf. Die eine Form beinhaltet das Wissen, dass die Zugehörigkeit zu einer Art aufrechterhalten bleibt, wenn die idealen Formen der Funktionsharmonien seines Artgedächtnisses von Veränderungen der Umgebung nicht tangiert werden. Die andere Form seines Wissens von sich selbst enthält individuelle Erinnerungen an neue Verwirklichungen von Funktionsharmonien, die eine größere Freiheit bei der Gestaltung der Umwelt ermöglicht haben. Die Erinnerung an das Gleich162 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Entstehung des Selbstbewusstseins
bleibende führt zur Intention, vorhandene Funktionsharmonien zu erhalten, mit denen der Organismus die Erscheinungsformen der anderen Organismen in einem gewohnten Kontext von Erkennungszeichen (siehe Unterkapitel 5.5.) erfuhr. Die Erinnerung des Organismus an die Notwendigkeit, sich bei Interaktionen mit der Umgebung zu verändern, führt zur Intention, Funktionsharmonien bei erfahrenen Milieuänderungen umzugestalten und damit neue Bildwelten der Umgebung zu erzeugen. Die Intention des Artgedächtnisses, die artspezifischen Formen von Funktionsharmonien bei einer Veränderung der Umgebung zu erhalten, benötigt jedoch die Tätigkeit und das Wissen des individuellen Gedächtnisses. Der oben erwähnte Widerspruch entsteht daher, wenn die Intentionen des individuellen Gedächtnisses bei ihren Selbst- und Umweltgestaltungen nach Verwirklichungsmöglichkeiten von Funktionsharmonien streben, die von den artspezifischen Formen von Funktionsharmonien abweichen. In dieser Situation werden die artspezifischen Funktionsharmonien bei Milieuänderungen nur dann tradiert, wenn das Artgedächtnis über die Intentionen des individuellen Gedächtnisses, bei Änderungen der Umgebung neue Funktionsharmonien zu verwirklichen, eine Herrschaft ausübt. Diese Herrschaft ist darauf ausgerichtet, dass der Organismus bei Veränderungen durch die Tätigkeit des individuellen Gedächtnisses nicht die Erinnerung an seine artspezifische Formidentität verliert. Bei der Entstehung des Selbstbewusstseins kommen diese beiden sich widersprechenden Intentionen von ein und demselben Organismus in einen Konflikt, der ein inneres Ringen um eine einzige Intention in der Selbst- und Umweltgestaltung in Gang setzt. Die Auseinandersetzung zwischen den beiden Formen von organismischen Intentionen wird in Hegels Phänomenologie des Geistes als ein Konflikt zwischen »Herr« und »Knecht« geschildert 5. In dem hier beschriebenen Bei Hegel führt der Konflikt zu einem Kampf auf Leben und Tod, der durchgefochten werden muss, wenn es nicht zu pathologischen Erscheinungsformen kommen soll: »Das Verhältnis beider Selbstbewusstsein[e] ist also so bestimmt, dass sie sich selbst und einander durch den Kampf auf Leben und Tod bewähren. – Sie müssen in diesen Kampf gehen, denn sie müssen die Gewissheit ihrer selbst, für sich zu sein, zur Wahrheit an dem anderen und an sich selbst erheben« (Hegel 1970, 148/149). Dieser Widerspruch führt bei Hegel zum Wissen, dass der Herr vom Knecht abhängig ist, der für ihn arbeitet, und der Knecht vom Herrn, von dem er die Inhalte für seine Arbeit erhält. Dadurch erkennt der Herr sein Wirken im Knecht und der Knecht sein Wirken im Herrn, was die Auflösung des Gegensatzes zwischen Herr und Knecht einleitet. Dadurch kommt es zunächst zur Erfahrung einer inneren Zerrissenheit, die einer
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Die Evolution der Organismen als geschichtlicher Prozess
Konflikt übernimmt das Artgedächtnis die Rolle des Herrn, das individuelle Gedächtnis die Rolle des Knechts. Da sowohl die Manifestation als »Knecht« als auch die als »Herr« in ein und demselben Individuum existiert, erfährt der Organismus in diesem Konflikt gleichzeitig die ontologische Differenz zwischen der Umgebung, die der Organismus als »Knecht« bearbeiten muss, um sich zu behaupten, und der geschaffenen Umwelt, in der der Organismus als »Herr« sich als etwas Gleichbleibendes wiederfindet. In physiologischer Hinsicht bezieht der Organismus das Wissen von sich als von etwas Gleichbleibendem vom Spannungsfeld seines Artgedächtnisses, das Abweichungen organismischer Prozesse von den Funktionsharmonien der Art und seinen Ausdrucksformen vermittelt. Das individuelle Gedächtnis in seinem Streben, bei Milieuänderungen neue Formen von Funktionsharmonien und die dazugehörigen Ausdrucksformen zu verwirklichen, wird von einem darauf abgestimmten, individuellen Spannungsfeld vermittelt. Die beiden distinkten Spannungsfelder werden vom Organismus gleichzeitig als Kontrast erfahren, der ein Bedürfnis nach Aufhebung verursacht. Das Selbstbewusstsein entsteht in einem Prozess, in dem dieser Kontrast auf einer darüber liegenden Erfahrungsebene in einer einheitlichen selbstbezüglichen Erfahrung aufgehoben wird. Es besteht im Wissen um die wechselseitige Abhängigkeit zwischen seinem Artgedächtnis als Träger des organismisch Gleichbleibenden bei Umgestaltungen seiner Umgebung zu seiner Umwelt und seinem individuellen Gedächtnis als Aktivisten dieser Umgestaltungen 6. Besonders bedeutsam ist diese gegenseitige Abhängigkeit bei der Beziehung zwischen dem individuellen und dem artspezifischen, sprachlichen Ausdruck beim Menschen. Das Artgedächtnis liefert die strukturelle Basis für das Entstehen der verschiedenen menschlichen Sprachen, die sich das individuelle Gedächtnis in distinkter Weise aneignet. Das individuelle Gedächtnis erkennt mit seiner partikulären Ausdrucksform, dass es bei einer Kommunikation auf die strukturellen Voraussetzungen für das Repertoire der artspezifischen Ausdrucksformen angewiesen ist; gleichzeitig erkennt das artspezifische Gedächtnis seine Abhängigkeit von den individuellen Ausdrucksverkohärenten Welt- und Selbsterfahrung entgegensteht und die ein Streben nach Einheit auslöst. 6 Vgl. Hegel 1970, 144: »Das Selbstbewusstsein erreicht seine Befriedigung nur in einem anderen Selbstbewusstsein«.
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Die Entstehung des Selbstbewusstseins
mittlungen. Aus diesem Wissen entsteht eine einzige Intention. Sie ermöglicht eine Synthese zwischen der Erinnerung an gleichbleibende Ausdrucksformen als ›Erkennungszeichen‹ (Symbole) für andere Organismen und der Notwendigkeit ihrer Veränderung in einem einzigen kreativen Selbstkonstitutionsakt. Das Selbstbewusstsein entsteht somit in einem Prozess, in dem der Organismus sich selbst so verändert, dass er in einer biozönotischen Funktionsharmonie von anderen Organismen als Partner in einem Kommunikationsgeschehen erhalten bleibt. Dieser Prozess setzt bei Menschen ein, wenn sie den Willen haben, sich in einer Weise praktisch zu verhalten, in der sie die von ihnen produzierten Objekte nicht zur Beherrschung der anderen Lebewesen, sondern zur Selbstbeherrschung erzeugen. Dadurch werden beide Herrschaftsformen zu Momenten eines Selbstfindungsprozesses in ein und demselben Individuum. Dies eröffnet neue Formen von Verwirklichungsmöglichkeiten der Freiheit in einem selbstbeherrschten und vernünftigen Handeln, bei dem individuelle Entwicklungen zu einer Voraussetzung für Entwicklungen in der Menschheitsgeschichte werden können. Im Werden des Selbstbewusstseins verbindet sich die individuelle Befreiung von Bestimmungen des menschlichen Populationsallgemeinen mit der geschichtlichen Befreiung dieser Bestimmungen von unvernünftigen Herrschaftsformen zu einem einzigen Prozess. Der individuelle Werdegang bei der Entstehung des Selbstbewusstseins kann daher nicht willkürlich vom geschichtlichen Werdegang des Geistes abgetrennt werden. Die mit einer Aufrechterhaltung des Herr-Knecht Verhältnisses verbundenen Probleme, die Hegel in der Phänomenologie des Geistes beschrieben hat, betreffen bei der Entwicklung von Individuen diverse pathologische Erscheinungsformen, die auch geschichtswirksam sind. Besonders aktuell ist beispielsweise das »unglückliche Bewusstsein« als Ursache für eine Suche nach Selbstverwirklichung in hemmungslosen Konsumbegierden und der ›Wahnsinn des Eigendünkels‹ im Terrorismus. Gesellschaftlich relevant werden auch das unglückliche Bewusstsein bei Depressionen und der Verlust des individuellen Gedächtnisses bei Patienten mit Alzheimer-Krankheit als Folge einer Störung der Einheit zwischen organismisch Gleichbleibendem und besonderen kreativen Selbstverwirklichungen. Selbsterkenntnis durch Selbstbeherrschung ist die Voraussetzung für wahres Selbstbewusstsein, weil es dem Menschen ermöglicht, nicht nur bei der eigenen Selbstbehauptung in vernünftiger 165 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Evolution der Organismen als geschichtlicher Prozess
Weise die Selbstverwirklichung anderer Menschen zu berücksichtigen, sondern auch die von anderen nicht-menschlichen Lebewesen. Die Vernunft verleiht ihm dabei die Einsicht, dass er als Lebewesen in seiner Beziehung zu allen anderen Lebewesen ein Wissen von sich selbst verdoppelt und auch hier ein Herr-Knecht Verhältnis seine Selbstverwirklichung verhindert. Auf diese Weise erklärt die prozessbiologische Interpretation des Herr-Knecht Verhältnisses auch, wie Menschen zu einem ökologisch erweiterten Selbstbewusstsein kommen können. Dieses erweiterte Selbstbewusstsein führt zu einem vernünftigen Handeln, das den Willen zur Selbstbehauptung nicht nur auf sich selbst richtet, sondern dabei auch andere Lebewesen berücksichtigt. Das Wissen von sich selbst schließt nach dem oben ausgeführten daher auch eine Vermeidung des Herr-Knecht Verhältnisses zu anderen Lebewesen ein und begründet ein Wissen um ein vernünftiges Verhältnis der Menschen untereinander und zu der Natur insgesamt. Die Zunahme der Freiheit bei der individuellen Gestaltung von Lebensräumen im Verlauf der Evolution der Arten ist die Voraussetzung für die Fähigkeit der Menschen, ihre Freiheit in Hinblick auf vernünftiges und selbstbeherrschtes Verhalten gegenüber anderen Lebewesen zu reflektieren. Auf dieser wichtigen Voraussetzung beruht die Möglichkeit und Notwendigkeit für sittliches und unsittliches Verhalten. Dies soll im Folgenden kurz erläutert werden. Die Forderung nach einer vernünftigen Gestaltung der Natur und Verwertung ihrer Ressourcen wurde schon von Platon erhoben. Dabei beschrieb er einen früheren Zustand in Athen, der allerdings später zerstört wurde, nachdem ein sinnvolles Verhältnis zur Landschaft nicht mehr aufrechterhalten wurde. »[…] Dazu gesellte sich noch, wie zu erwarten, die sorgsame Pflege [der Natur] durch Landwirte, die diesem Namen wirklich Ehre machten und in dieser ihrer Arbeit ihre eigentliche Aufgabe sahen, dabei Sinn hatten für das Schöne und alles Höhere« 7. Diese Forderung verband er mit der Notwendigkeit, die Bevölkerungszahl zu regulieren, indem er den früheren Idealzustand beschreibt: »[…] vor allem eifrig darüber wachend, dass die Zahl ihrer kriegsfähigen Männer und Frauen, die schon damals etwa zwanzigtausend betrug, für alle Zeit dieselbe bliebe« 8.
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Platon Kritias, 111. Platon Kritias, 112.
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Die Entstehung des Selbstbewusstseins
Diese frühe philosophische Einsicht blieb in der weiteren historischen Entwicklung wirkungslos. Die Ausbeutung natürlicher Ressourcen durch die Römer, die u. a. zur Abholzung und Verkarstung der Küstenregionen im heutigen Kroatien führte, wird derzeit bei einer Vernichtung der Regenwälder wiederholt. Dies ist aber nur Teil einer neuzeitlichen Totalobjektivierung der Natur. Sie führte zur Einrichtung einer menschlichen Umwelt, die die Anfangs- und Randbedingungen für eine nahezu unbegrenzte Anwendung physikalischer Gesetze im Dienste praktisch-technischer Interessen enthält. Dabei werden mögliche Ressourcen der Erde immer schneller in Müllhalden verwandelt, die von den Menschen als Umweltverschmutzungen erfahren werden. Als Rechtfertigung dient die Notwendigkeit eines grenzenlosen Wirtschaftswachstums, das aber offenbar deshalb kaum von den gegenwärtigen Wirtschaftstheorien hinterfragt wird, weil diese Theorien selbst im Dienste des Wirtschaftswachstums stehen dürften. Die Folge dieser Herr-Knecht Beziehung zwischen Mensch und Natur führte auch zu neuen Formen der Ausbeutung von Menschen durch Menschen, bei denen ein Konflikt zwischen den Herren und den Knechten des unbegrenzten Wachstums der Wirtschaft entsteht. Dies äußert sich in der industrialisierten Welt in einer maßlosen Vermehrung des Reichtums einiger weniger auf Kosten vieler. In der Dritten Welt zeigt sich das Fehlen eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen den Eigeninteressen der dortigen Menschen und den Interessen der Natur in einer überdimensionalen Vermehrung der Bevölkerung, mit der organismische Defizite der dortigen staatlichen Strukturen kompensiert werden. Die Erde reagiert auf ihre Totalobjektivierung gleichsam wie ein einheitliches Subjekt, das mit Klimawandel und den damit verbundenen Unwetterphänomenen zurückschlägt. Dies verdeutlicht dem Menschen als vermeintlichem Herrn der Natur das Wissen um seine Abhängigkeit von der Natur, die mit dem Tod des Herrn endet. Die Auseinandersetzung zwischen der Menschheit als »Herr« und einer von ihr beherrschten Natur als »Knecht« kostet immer mehr Menschenleben als Opfer von unvorhersehbaren Naturereignissen. Sie hat aber auch einen Kampf auf Leben und Tod innerhalb der Menschheit zur Folge. Dieser Kampf findet derzeit nicht nur in der Dritten Welt statt. Er führt auch in der industrialisierten Welt zu einem Konflikt zwischen Menschen, die auf einer Fortführung der menschlichen Herrschaftsformen über die Natur bestehen, und Menschen, die ein ausgewogenes Verhältnis zur Natur anstreben. Ein auf Selbstbeherr167 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Evolution der Organismen als geschichtlicher Prozess
schung begründetes Selbstbewusstsein kann daher nur aus der Einsicht in ein maßvolles Verhältnis zu den anderen Lebewesen dieses Planeten hervorgehen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die in den nächsten Jahrzehnten auf die Menschheit hereinbrechenden Umweltkatastrophen eine Entwicklung zu diesem maßvollen Verhältnis katalysieren werden und zu einem auf Selbstbeherrschung beruhenden Selbstbewusstsein führen. Die oben vorgestellte Konzeption eines Selbstbewusstseins, dessen Entstehungsprozess noch nicht abgeschlossen ist, erweitert philosophische Ideen, die das Selbstbewusstsein im reflexiven Selbstbezug eines sich erkennenden Subjekts finden. Schwierigkeiten verursacht die Herleitung eines auf reflexivem Selbstbezug begründeten Selbstbewusstseins aus phylogenetischen Entwicklungen, bei denen die Höherentwicklung der Organismen zu einer Intensivierung des Selbstbezugs führt. Auch Whitehead hat versucht, dies mit seiner achten kategorialer Verbindlichkeit zu begründen: »The subjective aim, whereby there is origination of conceptual feeling, is at intensity of feeling (α) in the immediate subject, and (β) in the relevant future« 9. Allerdings setzt eine Intensivierung des Selbstbezugs in der phylogenetischen Entwicklung eine Stufenfolge bzw. Hierarchie der Lebewesen voraus, deren Intensivierung der Erfahrung in einem Selbstbezug von den Bakterien bis zum Menschen zunimmt. Eine Intensivierung der Erfahrung würde dann nach Whitehead zu einer Vertiefung der Empfindungsfähigkeit führen: »That the heightening of intensity arises from order such that the multiplicity of components in the nexus can enter explicit feeling as contrasts and are not dismissed into negative prehensions as incompatibilities« 10. Wir haben bei unserer Auffassung der Evolution der Arten und der menschlichen Geschichte als einen einheitlichen Prozess ein Problem mit der Idee, dass die Höherentwicklung der Lebewesen mit einer zunehmenden Selbstzentrierung einhergeht. In der von uns vertretenen Sichtweise wird der artspezifische Selbstbezug mit zunehmender Differenzierung der Organismen in der Evolution der Arten immer schwieriger. Es müssen nämlich in diesem Prozess immer mehr verschiedene Zelltypen mit unterschiedlichen Beziehungen zu ihrer Umgebung in einem einheitlichen Empfinden integriert werden. Die Selbstzentrierung nimmt daher im Verlauf einer 9 10
Whitehead 1929/1978, 27. Whitehead 1929/1978, 83.
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Die Entstehung des Selbstbewusstseins
Höherentwicklung von Organismen eher ab als zu. Daher müssen Organismen in differenzierteren Stadien in ihrer individuellen Entwicklung ständig danach streben, in ihrer Umwelt neue Funktionsharmonien zu finden. Dies gelingt aber nur in unterschiedlichem Ausmaß, was weitere Differenzierungen zu neuen Arten zur Folge hat, bei denen sich aber einheitliche Formen von Funktionsharmonien immer weniger verwirklichen lassen und daher die organismische Spannung größer wird. Was daher zunimmt, ist die Menge der distinkten, individuellen Selbstkonstitutionsentwürfe, mit denen sich die Organismen einer Art aus den Vorgaben des gleichförmigeren Selbstbezugs vorheriger Selbstkonstitutionen befreien. Wir sehen daher in der Zunahme der Freiheit zu individuellen Selbstgestaltungen den Fortschritt in der Höherentwicklung der Arten, die zum Entstehen einer reflektierten Freiheit führt. In welchem Ausmaß es dabei in einzelnen Fällen zu einer Intensivierung der Erfahrung in einer Vertiefung von Empfindung kommt, hängt von den jeweiligen kreativen Lebenswelt- und Selbstgestaltungen ab. Ein auf bloßem reflexiven Selbstbezug basierendes Selbstbewusstsein ist in der hier vorgestellten Theorie der Organismen weder kreativ, noch von der Erfahrung tiefer Empfindungen begleitet. Zusammenfassend darf daher festgehalten werden, dass sich in der Evolution der Arten die Beziehung zwischen dem Artgedächtnis und dem individuellen, lebensgeschichtlichen Gedächtnis der Organismen verändert. Bei niedrigen Organismen werden Änderungen der Umgebung von den Intentionen des individuellen Gedächtnisses so in eine geeignete Umwelt transformiert, dass die idealen Formen von Funktionsharmonien der Art erhalten bleiben. Bei höheren Organismen ermöglicht eine Differenzierung in Sinnesorgane und körperliche Konstituenten Interaktionen mit der Umgebung in einer vom Artverhalten unabhängigen Weise. Dies eröffnet für das individuelle Gedächtnis neue Verwirklichungsmöglichkeiten von Funktionsharmonien. Dadurch befreien sich die Intentionen des individuellen Gedächtnisses von den Intentionen des Artgedächtnisses, das jedoch immer noch auf die Tätigkeit des individuellen Gedächtnisses angewiesen ist. Die Intentionen des Artgedächtnisses sind daher zunächst danach ausgerichtet, die Intentionen des individuellen Gedächtnisses zu beherrschen, das seinerseits die Verwirklichung von neuen Funktionsharmonien anstrebt. Dies führt zu einem Konflikt zwischen beiden Intentionsformen in ein und demselben Organismus. Das Selbstbewusstsein entsteht, wenn der Konflikt zwischen 169 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Evolution der Organismen als geschichtlicher Prozess
beiden Wissensformen auf einer darüber liegenden Erfahrungsebene in einem einheitlichen Empfinden aufgehoben wird. Es beruht darauf, dass die Intentionen des Artgedächtnisses die Tatsache berücksichtigen, dass es auf die Intentionen des individuellen Gedächtnisses angewiesen ist und die Intentionen des individuellen Gedächtnisses erkannt haben, dass sie eine Orientierung durch die Arterfahrung benötigen. In dieser Aufhebung des Konflikts zwischen dem individuellen Gedächtnis und dem Artgedächtnis verschwindet die Herrschaft des Artgedächtnisses, und das Wissen des individuellen Gedächtnisses richtet sich nicht mehr ausschließlich auf die individuelle Gestaltung der Umwelt, sondern auch auf sich selbst. In der Selbstbeherrschung wird das Selbstbewusstsein zum Teil eines geschichtlichen Prozesses, in dem die einzelnen Selbstbefreiungsakte immer über sich selbst hinausweisen. Dabei wird die Aufhebung der Herrschaft des Artgedächtnisses über das individuelle Gedächtnis in ein und demselben Menschen zu einem Moment der Aufhebung der Herrschaft von Menschen über andere Menschen und schließlich der Aufhebung der Herrschaft des Menschen über die Natur. Dabei entstehen immer größere Gesellschaften von Organismen mit aufeinander abgestimmten Lebensformen, in denen alle beteiligten Organismen größere Freiheiten gewinnen, in der Sphäre der von ihnen erfahrenen und gestalteten Umwelt neue und aufeinander abgestimmte Funktionsharmonien zu entwickeln. So trug das Auftreten der Pest im Mittelalter maßgeblich zur Entwicklung der Naturwissenschaften und des damit verbundenen wissenschaftlich-technischen Weltbezugs – und seiner Medizin – bei 11. Die Entdeckung von Antibiotika im 20. Jahrhundert veränderte die Kommunikation von mikrobiellen Gesellschaften. In der Folge entwickelten die Bakterien Resistenzen gegen Antibiotika, worauf wiederum die menschliche Gesellschaft mit neuen Medikamenten reagierte. Auf diese Weise führt die Aufhebung von gegenseitigen Herrschaftsformen der Organismen zu Organismengemeinschaften, in denen das Beziehungsgefüge der Lebewesen potentiell zur Basis von immer komplexer werdenden Funktionsharmonien wird. Dies begründet die geschichtliche Natur der Evolution, an der alle Lebewesen gemeinsam beteiligt sind. In der gegenwärtigen Biologie wird versucht, diesen geschichtlichen Aspekt der Evolution durch eine mechanistische Erklärung zu ersetzen. Darauf wird im nächsten Kapitel eingegangen. 11
Gronemeyer 1996, 7–13.
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7. Die darwinistischen Erklärungen der Evolution der Arten
Die Evolution der Arten beruht auf dem Zusammenspiel einer objektivierbaren Außenseite und einer nicht-objektivierbaren Innenseite kreativer Lebewesen. Eine Analyse dieses Prozesses erfordert die Anwendung einer hermeneutischen Methodik. Was sich bei einer Außenbetrachtung als »Faktisches« feststellen lässt, sind die Milieuänderungen, denen die Organismen ausgesetzt sind. Wie externe Einflüsse von den einzelnen Organismen in Abhängigkeit vorheriger Erfahrungen potentiell bewertet wurden, lässt sich nicht objektivieren, sondern nur mit Hilfe von hermeneutischen Überlegungen rekonstruieren. Demnach gewinnt ein Biologe ein angemessenes Verständnis der Evolution von Organismen, wenn er deren Interpretationen von Milieuänderungen ebenfalls zu interpretieren versucht. So kann z. B. die Frage, wie in der mikrobiellen Evolution eine Gruppe von Bakterien auf die von einer anderen Gruppe verursachten geochemischen Veränderungen reagierte, mit einer Interpretation von mikroorganismischen Entscheidungsfindungen im Sinne von James Shapiro 1 beantwortet werden. Eine Interpretation der Entstehungsgeschichte der Arten, die ein gegenseitiges ›Verstehen‹ der Individuen der betreffenden Art voraussetzt, bringt jedoch immer nur ein vorläufiges Ergebnis, das ständig auf der Basis neuer Interpretationen weiterentwickelt und umgeschrieben werden muss. Dies ist nicht der Fall, wenn sich die Biologie darauf beschränkt, ein ›objektives‹ Bild der Evolution zu entwerfen, auf das der Mensch von einer überzeitlichen Plattform aus rückwärtsgewandt blickt. Ein solches Bild bieten dem Betrachter fossilisierte Lebensformen, die von der Paläontologie auf Grund ihrer Ähnlichkeit mit heute lebenden Organismen zu mehr oder weniger lückenlosen Ahnenreihen geordnet werden. Die Veränderungen in einer Ahnenreihe werden zu einem objektivierbaren Ablauf, wenn sie mit zufällig stattfindenden Modifikationen 1
Shapiro 2011, 143.
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Die darwinistischen Erklärungen der Evolution der Arten
von Gensequenzen erklärt werden, die ein »natürlicher Selektionsdruck« nicht eliminiert hat. Diese Sichtweise verhindert jedoch eine geschichtliche Rekonstruktion evolutionärer Prozesse. Geschichtlichkeit erfordert die Einbeziehung organismischer Subjekte, die in einer dialektischen Beziehung zu einem Populationsallgemeinen ihre Wirkungssphäre bei Objektivierung ihrer Umwelt vergrößern. Die gegenwärtigen Hypothesen über die ›Evolution der Arten‹ sind immer noch von den ursprünglichen Ideen Darwins geprägt. Darwin hatte bekanntlich postuliert, dass die Evolution der Arten auf der Wirkung von drei Prinzipien beruhe: Das eine Prinzip berücksichtigt die empirische Beobachtung, dass sich die morphologischen, physiologischen und verhaltensbezogenen Eigenschaften bei den einzelnen Individuen einer Art unterschiedlich ausprägen. Diese Tatsache wird als Variation bezeichnet. Allerdings hängt das Spektrum der verschiedenen Merkmale innerhalb einer Art davon ab, wie viele Merkmale einer bestimmten Art zugeordnet werden. Diese Zuordnung ist bei der Mehrzahl der Organismen, die sich nicht sexuell fortpflanzen, deshalb schwierig, weil in diesem Fall die Kriterien einer Art nicht klar vorgegeben sind. Sie lassen sich auch nicht mit einer molekularen Taxonomie angeben. Darwin selbst hat in seinem Buch »On the Origin of Species« keine Artdefinition gegeben, die auch auf sich nicht sexuell fortpflanzende Organismen zutrifft; dazu war die Biologie bis heute noch nicht in der Lage. Das zweite Prinzip betrifft die Weitergabe der phänotypischen Varianten an die Nachkommen, was dazu führt, dass die Nachkommen ihren Vorfahren mehr ähneln als nichtverwandten Individuen; dies wird als Vererbung definiert. Das dritte Prinzip ist die These, dass die Nachkommen derjenigen Varianten, die an die jeweiligen Milieubedingungen am besten angepasst sind, am besten überleben. Dies wird als natürliche Selektion bezeichnet. Über die verschiedenen Vererbungszusammenhänge der Generationsfolgen geht die Herkunft aller Arten auf eine Stammart zurück. Die drei Prinzipien sind nach Darwin dafür verantwortlich, dass sich die Eigenschaften der Individuen innerhalb einer Art graduell verändern. Im Kapitel 6 seines Buches »On the Origin of Species« schrieb Darwin: »If it could be demonstrated that any complex organ existed, which could not possibly have been formed by numerous, successive, slight modifications, my theory would absolutely break down. But I can find out no such case«.
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Der Neo-Darwinismus und die genzentrierte Biologie
7.1. Der Neo-Darwinismus und die genzentrierte Biologie Der Neo-Darwinismus erklärt die Prinzipien Darwins damit, dass Gene den Phänotyp eines Organismus bestimmen und die Nachkommen die Gene ihrer Vorfahren erben. Durch Mutationen kommt es zu Unterschieden in den Genen innerhalb einer Art, die zu Unterschieden in der Erscheinungsform führen. Die ›Frequenz‹ der Gene der besser angepassten Individuen in einer Population nimmt zu, weil sich diese in einer Population besser durchsetzen. Dieses Postulat war im Wesentlichen die Basis für die nachfolgende Weiterentwicklung der Evolutionstheorie zum modernen NeoDarwinismus des 20. Jahrhunderts, der aus einer Melange der Thesen Darwins mit einigen Ergebnissen der Molekularbiologie, der Mendel’schen Genetik und der Populationsgenetik hervorging. Das dabei entstandene Konglomerat wird von den Neo-Darwinisten als ›Moderne Synthese‹ bezeichnet. Der Ausdruck ›Moderne Synthese‹, geht auf Julian S. Huxley zurück (er wird im Titel seines im Jahr 1942 erschienen Buches »Evolution: The Modern Synthesis« angeführt). Die Langlebigkeit der darwinistischen Thesen lässt sich damit erklären, dass sie in Einklang mit dem mechanistischen Denkmuster gebracht werden können. Bei mechanischen Abläufen kann man die Veränderung von Zuständen eines Systems vorhersagen, wenn man die Kräfte kennt, die auf die Zustände einwirken. In einer analogen Weise interpretiert man die Variationen innerhalb einer Art als deren Zustand und den Selektionsdruck als eine äußere Kraft, die durch die Umwelt auf die jeweiligen Variationen innerhalb einer bestimmten Art ausgeübt wird. Viele Wissenschaftler im 19. und 20. Jahrhundert konnten sich dieser Analogie nicht entziehen. So ließ sich beispielsweise Ludwig Boltzmann, der den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik mit Hilfe einer statistischen Mechanistik herleitete, zu der bemerkenswerten Äußerung hinreißen: »Nach meiner Ansicht ist alles Heil für die Philosophie zu erwarten von der Lehre Darwins« 2. Allerdings ist eine mechanistische Interpretation der Thesen Darwins nur dann gerechtfertigt, wenn auch die Vererbung artspezifischer Eigenschaften, die sich in einem bestimmten Phänotyp einer Art äußern, mechanistisch erklärt werden können. Das ist bis heute nicht gelungen und stellt eine Achillesferse des Neo-Darwinismus dar, die
2
Boltzmann 1905, 396.
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Die darwinistischen Erklärungen der Evolution der Arten
zahlreiche Modifikationen der ursprünglichen Theorie zur Folge hatte. Die Antithese zur Evolutionstheorie war die »Theorie der Artenkonstanz«, nach der es eine Schöpfung (oder auch mehrere Schöpfungen) unveränderlicher Arten gab. »Species tot sunt diversae, quot diversas formas ab initio creavit infinitum ens« (Linné; es gibt soviele verschiedene Arten, als im Anfang verschiedene Formen von dem unendlichen Wesen erschaffen worden sind). Allerdings war der Hauptbeitrag Darwins nicht, eine Alternative zur »Theorie der Artenkonstanz« aufgestellt zu haben. Eine Evolutionstheorie ist schon vor Darwin vorgeschlagen worden, unter anderem von Étienne Geoffroy Saint-Hilaire und Jean-Baptiste Lamarck. Darwins Beitrag war es, die Möglichkeit für eine mechanistische Erklärung der Artentwicklung in der Evolution geliefert zu haben, und zwar auf der Basis der natürlichen Selektion. Im historischen Rückblick ist interessant, dass zu Darwins Zeiten die These der natürlichen Selektion durch einen Einwand des schottischen Ingenieurs Fleeming Jenkin unglaubwürdig war. Jenkins Kritik bezog sich auf die Weitergabe der Variationen von einer Generation auf die folgende, von der man zu dieser Zeit allgemein annahm, dass sie sich durch einfache Mischung der elterlichen Beiträge vollzieht. In diesem Fall wäre aber zu erwarten, dass die Eigenschaften der Nachkommen systematisch intermediär zwischen denen ihrer beiden Elternteile liegen. Dies würde die Variationen notwendigerweise in jeder Generation um die Hälfte vermindern, bevor die Selektion die Möglichkeit hätte, an ihnen anzugreifen. Veranlasst durch Jenkins Kritik glaubte daher auch Darwin, dass bestimmte Variationen in jeder Generation neu entstehen und so der Vermischung entgegenwirken, was aber auf eine Weitergabe von erworbenen Eigenschaften hinauslaufen würde. Dies schränkt natürlich die Rolle der natürlichen Selektion als Mechanismus der Evolution stark ein. Man kommt damit zu einer Lamarck’schen Theorie der Evolution, die mit dem mechanistischen Weltbild nicht mehr im Einklang steht. Die Lösung für dieses Problem lieferte die »Wiederentdeckung« der Mendel’schen Genetik durch de Vries, Correns und TschermakSeysenegg, die bei der Durchsicht der Literatur im Jahr 1900 die Arbeit von Mendel fanden. Mendel hatte nämlich gezeigt, dass die »Faktoren«, die für unterschiedliche Merkmale verantwortlich sind, diskrete Entitäten sind, die sich nicht mischen und durch Rekombination mütterlicher und väterlicher Allele vererbt werden. Allele sind unter174 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Der Neo-Darwinismus und die genzentrierte Biologie
schiedliche Ausprägungsformen von Genen am gleichen Locus des Chromosoms auf Grund geringfügiger Variationen der Nukleotidsequenz der DNS. Allerdings lieferte die Wiederentdeckung der Mendel’schen Genetik zunächst einen Einwand gegen den Darwinismus, weil Kreuzungsexperimente belegten, dass ein überwiegender Teil der phänotypischen Unterschiede nicht graduell weitergegeben wird. Die These, dass die Evolution in graduellen Veränderungen vor sich geht, deren Akkumulation über lange Perioden durch die natürliche Selektion reguliert wird, konnte jedoch später mit Hilfe der Populationsgenetik aufrechterhalten werden. Sie erklärt eine kontinuierliche Variation beim Auftreten bestimmter phänotypischer Unterschiede durch die Wirkung mehrerer Mendel’scher Faktoren bei unterschiedlichen Umwelteinflüssen. Die Populationsgenetik wurde daher neben Ergebnissen der Molekularbiologie, die Mutationen auf Veränderungen der Nukleotidsequenz der DNS zurückführt, ebenfalls von der sich aus dem Neo-Darwinismus weiterentwickelten ›Synthetischen Theorie‹ integriert. Für die ›Synthetische Theorie‹ enthält der ›Genpool‹ ein reiches Reservoir an kontinuierlichen Variationen, an denen die Selektion angreift. Ernst Mayr, ein Hauptvertreter der synthetischen Theorie hat dies folgendermaßen formuliert: »Evolution is not primarily a genetic event. Mutation merely supplies the gene pool with genetic variation; it is selection that induces evolutionary change« 3. Wie die Selektion bei einem vorhandenen Genpool eine Höherentwicklung der Organismen bewirkt, wird damit nicht beantwortet. Interessant ist in diesem Kontext, dass Ernst Mayr die Wirkung des ›koordinierenden Prinzips‹, dessen Existenz im Unterkapitel 3.3. für eine Erklärung der gegenseitigen Anpassung von energiekonvertierenden Subsystemen benötigt wurde, der Selektion überträgt. »(2) The phenotype is the product of the harmonious interaction of all genes […] Natural selection will tend to bring together those genes that constitute a balanced system. The process by which genes are accumulated in the gene pool that collaborate harmoniously is called »integration« or »coadaptation«. The result of this selection has been referred to as »internal balance«. Each gene will favour the selection of that genetic background on which it can make its maximum contribution to fitness. The fitness of a gene thus depends on and is controlled by the totality of its genetic background. (3) The result of co3
Mayr 1963, 613.
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Die darwinistischen Erklärungen der Evolution der Arten
adapting selection is a harmoniously integrated gene complex. The coaction of the genes may occur at many levels, that of the chromosome, nucleus, cell, tissue, organ, and whole organism. The nature of the functional mechanisms (sic!) of physiological interaction are only of minor interest to the evolutionist, whose main concern is the viability of the ultimate product, the phenotype« 4 (kursiv gesetzte Anmerkung durch die Autoren). Man kann dieses mangelnde Interesse als Physiologe aus zwei Gründen nur mit Bedauern zur Kenntnis nehmen. Zum einen kann eine »coaction of the genes … at many levels, that of the chromosome, nucleus, cell, tissue, organ, and whole organism« nur dann existieren, wenn die Nukleotidsequenzen im Kern eine mysteriöse Fernwirkung auf die verschiedenen organismischen Ebenen ausüben. Zum anderen geht die Schaffung einer »internal balance« auf diesen verschiedenen Ebenen unablässig von neuem in jedem Selbstgestaltungsakt so rasch vor sich, dass eine hypothetische Selektion gar nicht wirksam werden kann. Wir haben im Kapitel 3 gezeigt, dass für die ›internal balance‹ innere Kräfte verantwortlich sind, die aus der informationsverarbeitenden und selbstorganisierenden Kraft des Energieflusses resultieren. Diese inneren Kräfte machen eine Selektion als primäre Ursache der Evolution bedeutungslos und werden daher von der ›Synthetischen Theorie‹ geleugnet. Die physiologischen Tatsachen stehen daher im Widerspruch zu der Behauptung: »A sudden rise of the input of genes into a gene pool, let us say by hybridization, inevitably results in the disturbance of the internal balance and in the production of many genotypes of lowered viability. Disharmonious combinations will be eliminated by natural selection until a new balance has been reached« 5. Hier übersieht Ernst Mayr, dass das Genom aus einem Ensemble von Nukleotidsequenzen und Proteinen besteht, d. h. aus Materiekonfigurationen, zwischen denen nur äußere Beziehungen existieren (siehe Unterkapitel 2.5.). Eine »disharmonische Kombination« setzt jedoch eine innere Beziehung zwischen den Komponenten des Genoms voraus. Auf dieser inneren Beziehung beruht die geistige Dimension des Lebendigen. Darauf hat schon Whitehead in einer bemerkenswerten Widerlegung materialistischer Erklärungen der Evolution hingewiesen: »Evolution, on the materialistic theory, is reduced to the role of being another word for the description of changes of the external 4 5
Mayr 1963, 295. Mayr 1963, 296.
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Der Neo-Darwinismus und die genzentrierte Biologie
relations between portions of matter. There is nothing to evolve, because one set of external relations is as good as any other set of external relations. There can merely be change, purposeless and unprogressive. But the whole point of modern doctrine is the evolution of complex organisms from antecedent states of less complex organisms« 6. Bei Darwins Evolutionstheorie ist bemerkenswert, dass Darwin nicht erklären konnte, wie in der Evolution komplexere Organismen mit wenigen Nachkommen und höheren kognitiven Fähigkeiten aus einfacheren Vorläufern mit vielen Nachkommen und geringeren kognitiven Fähigkeiten entstehen. Er konnte auch nicht die Frage beantwortet, warum bei bestimmten Organismen die Erscheinungsform über viele Millionen Jahre unverändert bleibt und unter welchen Bedingungen eine Variation der ererbten Eigenschaften eine neue Art mit komplexeren Eigenschaften hervorbringt. Diese Frage wird bis heute auch nicht von der ›Synthetischen Theorie‹ beantwortet, die die Evolution der kognitiven Fähigkeiten organismischer Subjekte nicht erklären kann. Dies trifft auch auf eine Erklärung der Genese, der Weitergabe und Veränderungen der Erscheinungsformen der Organismen zu, wie im Unterkapitel 2.5. dargestellt. Darwin begnügte sich wie alle seine Epigonen damit, diese Fragen mit dem Wirken der natürlichen Selektion zu beantworten. Auch in der derzeitigen Mainstreambiologie wird die Bedeutung der natürlichen Selektion nicht in Frage gestellt. Die Selektion fungiert hier als ein universelles ›Lückenbüßerprinzip‹, mit dem unverstandene genetische und physiologische Entwicklungen in der Evolution erklärt werden. Sowohl bei Darwin als auch bei namhaften Vertretern nachfolgender Modifikationen des Darwinismus ist Selektion das kreative Element in der Evolution. Bei Darwin wird die Selektion mit einem Architekten verglichen, der die Variationen jeder Kreatur für die Evolution ausnützt. Theodosius Dobzhansky hat die Selektion mit einem Komponisten verglichen, Ernst Mayr mit einem Bildhauer, George Simpson mit einem Dichter und Julian Huxley sogar mit Shakespeare 7. Eine Begründung für das kreative Potential der Selektion haben die Neo-Darwinisten bis heute nicht gegeben. Vielleicht wurde aus diesem Grund die natürliche Selektion als Ursache für die Höherentwicklung der Arten schon von vielen Zeit6 7
Whitehead 1926, 135. Siehe Pigliucci and Müller 2010, 33.
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Die darwinistischen Erklärungen der Evolution der Arten
genossen Darwins abgelehnt, die alternative Erklärungen der Evolution diskutiert haben. Dazu gehören makroevolutionäre Veränderungen auf Grund von Kräften innerhalb des Organismus (»Orthogenese«) und die Möglichkeit einer sprunghaften Entstehung neuer Baupläne (Saltationismus) durch Mutationen. Auch die Lamarck’sche Vererbung erworbener Eigenschaften wurde diskutiert. Diese alternativen Mechanismen werden neben der ›Synthetischen Theorie‹, in der die natürliche Selektion die zentrale Rolle einnimmt, in modifizierter Form von einigen Biologen weiter vertreten. Die auf diese Weise angestrebte ›Extended Synthesis‹, wie sie von Massimo Pigliucci und Gerd Müller beschrieben wird, berücksichtigt jedoch nicht die geschichtliche Dimension in der Evolution der Lebewesen, für deren Verständnis eine prozessphilosophische Erklärung unerlässlich ist. Die Periode, in der die These der natürlichen Selektion noch nicht die heutige Anerkennung gefunden hatte, wurde von Huxley als ›Eklipse‹ des Darwinismus bezeichnet. Die Selektion kam zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Neo-Darwinismus wieder zu Ehren, nachdem August Weismann mit seiner ›Keimplasmatheorie‹ den Chromosomen eine zentrale Rolle bei der Vererbung zuschrieb. Die Chromosomen wurden im 19. Jahrhundert in jedem Zellkern mit Hilfe des Lichtmikroskops als Strukturen entdeckt, die sich anfärben ließen. Bei jeder Art bleibt die Anzahl dieser Kernkörperchen in charakteristischer Weise konstant und das Chromosomenmaterial wird von Generation zu Generation weitergegeben, wenn bei der Befruchtung Ei- und Samenzelle miteinander verschmelzen. Ausgehend von dieser Beobachtung entwickelte August Weismann seine ›Keimplasmatheorie‹. Nach dieser Theorie enthalten die Chromosomen ein sog. ›Keimplasma‹, das der Träger artspezifischer Eigenschaften ist und immer nur in direkter Kontinuität auf die Keimzellen der folgenden Generation übertragen wird. Dadurch unterschied Weismann die Keimzellen vom ›Soma‹, den übrigen Körperzellen. Demnach ist das Keimplasma dafür verantwortlich, dass Nachkommen und Eltern stets die gleiche artspezifische Form haben, also Hunde immer Welpen hervorbringen, die wieder zu adulten Hunden heranwachsen. Weismann postulierte nun, dass das Keimplasma von physiologischen Vorgängen des Somas nicht beeinflusst wird, was eine Vererbung erworbener Eigenschaften ausschließt 8. Daher sollte es zu 8
Weismann 1885, 10 und 59.
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Der Neo-Darwinismus und die genzentrierte Biologie
Veränderungen des Erbmaterials nur durch zufällige Ereignisse kommen, die unabhängig von den Stoffwechselvorgängen des restlichen Körpers, dem ›Soma‹, ablaufen. Weismann forderte dies, weil ein Einfluss physiologischer Prozesse auf das Erbmaterial die Bedeutung der Selektion als eigentliche Ursache der Evolution verringert hätte. Weismanns Unterscheidung zwischen einem Keimplasma als Träger der Erbinformation und dem restlichen Körper, dessen Funktionen das Keimplasma nicht beeinflussen können, geht auch auf Carl Wilhelm von Nägeli zurück, der ähnliche Ideen vertreten hat. Mit der Vorstellung, dass die Aufrechterhaltung identischer, organismischer Formen durch unverändert bleibende und vererbbare materielle Strukturen verursacht wird, versuchten August Weismann und Carl Wilhelm von Nägeli einen ›Mechanismus‹ der Vererbung zu finden (das Buch von Carl von Nägeli trägt daher auch den Titel: »Mechanistisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre«). Damit wurde eine entscheidende Weichenstellung vorgenommen, die die weitere Entwicklung der genzentrierten Biologie bestimmte. In der Folge wurden die Träger der Erbanlagen als ›Gene‹ bezeichnet 9. Die Überlegungen Weismanns wurden dann von den Neo-Darwinisten übernommen, weil er sein Keimplasma mit den Chromosomen in Zusammenhang brachte. Die Chromosomentheorie lieferte für die Vererbung der Mendel’schen Faktoren der formellen Genetik eine substanzielle Begründung. Aus einer Kombination der Mendel’schen Genetik mit der Theorie Darwins ist die Molekularbiologie hervorgegangen, die sich mit Natur und Funktion von Genen beschäftigt. Die Chromosomen enthalten Proteine und die DNS. Man wusste lange nicht, welches der beiden Makromoleküle als Träger der Erbinformation in Frage kommt. Die DNS ist eine kettenförmige Verknüpfung von vier organischen Basen. Bei den Basen handelt es sich um die Nukleotide Adenin, Thymin, Cytosin und Guanin. Die Frage nach dem Träger der Erbinformation wurde scheinbar beantwortet, als man entdeckte, dass zu Beginn einer Zellkernteilung der in den Chromosomen enthaltene DNS-Doppelstrang verdoppelt wird und die beiden Kopien auf zwei Tochterkerne aufgeteilt werden, sodass in jedem Kern eine vollständige Kopie der vorher in der Mutterzelle enthaltenen DNS vorhanden ist. Daher glaubten viele Biologen im 20. Jahrhunderts, dass die Information über die artspezifische Er9
Johannsen 1913, 143.
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Die darwinistischen Erklärungen der Evolution der Arten
scheinungsform in den Nukleotidsequenzen der DNS aufzufinden sein müsse und dass die Veränderung einer Art mit Mutationen in den Nukleotidsequenzen erklärt werden könne. Außerdem führte die Aufklärung der Rolle der DNS bei der Biosynthese der Proteine zum »Zentraldogma der Molekularbiologie«. Nach diesem Dogma wird die in der Nukleotidsequenz enthaltene Information nur von der DNS zur Messenger-RNS und dann zu den Proteinen weitergegeben, aber niemals umgekehrt 10. Damit konnte das Weismann’sche Verbot der Weitergabe erworbener Eigenschaften mit dem Zentraldogma der Molekularbiologie biochemisch begründet werden. Aus diesem Grund haben die Neo-Darwinisten das inzwischen überholte »Zentraldogma« der Molekularbiologie in ihre ›moderne Synthese‹ inkorporiert. Demnach haben physiologische Vorgänge keinen Einfluss auf Veränderungen der DNS und diese Veränderungen erfolgen nur durch zufällige Mutationen. Allerdings ging die genzentrierte Biologie mit der Annahme, dass die Information über die artspezifische Erscheinungsform in bestimmten Nukleotidsequenzen der DNS gespeichert sein müsse, über die Mendel’sche Genetik hinaus, die nur die Vererbung von Unterschieden im ›Phänotyp‹ einer Art mit der Funktion von ›Genen‹ erklärt. Die Mendel’sche Genetik kann beispielsweise die Verteilung der Augenfarbe bei den Nachkommen von Katzen und Menschen mit Hilfe von Allelen vorhersagen. Allele sind alternative Formen eines Gens auf einem bestimmten Genort im doppelten Chromosomensatz. Da die Mendel’sche Genetik aber nur Unterschiede im ›Phänotyp‹ in eine Beziehung zu Unterschieden in den Allelen eines ›Genotyps‹ setzt, kann sie keine Aussagen über die Vererbung von artspezifischen Merkmalen machen, die allen Vertretern einer Art gemeinsam zukommen. Die Mendel’sche Genetik kann daher nicht erklären, warum die Nachkommen von Katzen wieder wie ihre Vorfahren aussehen. Die Weitergabe einer artspezifischen Erscheinungsform bleibt für die Mendel’sche Genetik ein ungelöstes Rätsel. Die genzentrierte Biologie versuchte nun, inspiriert durch den Neo-Darwinismus, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dieses Rätsel zu lösen, indem sie mit den Methoden der Molekularbiologie an Informationen über Eigenschaften des Organismus heranzukommen versuchte, die in der DNS vermutet wurden. Dabei wurde ignoDie Boten-RNS besteht wie die DNS ebenfalls aus vier Basen, deren Abfolge als Abdruck der DNS die Sequenz der Aminosäuren in einem Protein festlegt.
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180 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Der Neo-Darwinismus und die genzentrierte Biologie
riert, dass die digitale Information eines eindimensionalen Makromoleküls nicht Analoginformationen über dreidimensionale Formveränderungen enthalten kann 11. Trotzdem übt die genzentrierte Biologie immer noch einen entscheidenden Einfluss auf die biologische Forschung aus, vermutlich weil die ebenfalls im vorigen Jahrhundert entstandene Computermetapher dem Informationsbegriff der Molekularbiologie so etwas wie eine wissenschaftliche Begründung lieferte. Dies führte dazu, dass seit den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts sowohl die Evolution der Arten als auch die Individualentwicklung der Organismen von der genzentrierten Biologie mit einem Ablauf von ›genetischen Programmen‹ und ›Entwicklungsprogrammen‹ erklärt wird. Diese Hypothese hat schon im Jahre 1970 François Jacob, einer der größten Theoretiker der Molekularbiologie auf der ersten Seite seines Buches: »La Logique du vivant, une histoire de l’hérédité« folgendermaßen formuliert: »Vererbung wird heute in Begriffen von Information, Botschaften, Code beschrieben. Die Reproduktion eines Organismus ist die der Moleküle geworden, die ihn bilden. Nicht, weil jede chemische Verbindung die Fähigkeit besitzt, Kopien ihrer selbst zu produzieren. Sondern weil die Struktur der Makromoleküle bis ins Detail durch die Sequenz von vier chemischen, im genetischen Erbgut enthaltenen Basen determiniert ist. Was von Generation zu Generation weitergegeben wird, sind die »Instruktionen«, die die molekularen Strukturen spezifizieren. Es sind die Pläne für den zukünftigen Organismus. Es sind auch die Mittel, diese Pläne auszuführen und die Aktivitäten des Systems zu koordinieren. Jedes Ei enthält also in den von seinen Eltern erhaltenen Chromosomen seine ganze eigene Zukunft, die Stufen seiner Entwicklung, die Form und die Eigenschaften des Wesens, das daraus zum Vorschein kommen wird. Der Organismus wird so die Realisierung eines Programms, das durch die Vererbung vorgeschrieben ist« (Übersetzung R. A. F.) 12. Mit dieser Idee versuchte man, den technischen Informationsbegriff auf den genetischen zu übertragen und so etwas wie einen einheitlichen genetischen Code bei allen Organismen auszumachen (die Begründung dieser Idee wird im nächsten Abschnitt erläutert). Nach dieser Vorstellung wären die Eigenschaften der Lebewesen das Ergebnis eines vorprogrammierten Ablaufs und auch der Mensch 11 12
Noble 2011, 1012. Jacob 1970.
181 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die darwinistischen Erklärungen der Evolution der Arten
müsste als Resultat eines Programms begriffen werden, das als eine Sequenz von diskreten Rechenschritten ausgeführt wird. Unklar bleibt dabei, in welchem Entwicklungsabschnitt des Menschen dieses Programm beendet ist. Ist dies bei der Geburt der Fall, bei Erreichen der Volljährigkeit oder beim Tod, dessen Zeitpunkt dann auch von Genen bestimmt wird? Oder geht das genetisch determinierte Programm ansatzlos in ein von neuronalen Netzwerken gesteuertes Programm 13 über, das im Gehirn des Individuums abläuft und in dem die Selbstverwirklichung des Menschen in Erfahrungen der von ihm gestalteten Umwelt naturgemäß nicht vorkommen kann? Freilich beruht die Hypothese, dass das Gehirn wie ein Computer operiert, auf der Annahme, dass die ›selbstlernenden‹ künstlichen neuronalen Netzwerke, die auf einem statistischen Algorithmus basieren, ein mathematisches Abbild unserer biologischen Hirnstrukturen sind. Wir haben jedoch im Kapitel 3 gezeigt, dass nicht einmal die Lern- und Gedächtnisphänomene bei Bakterien mit einem mathematischen Modell abgebildet werden können. Die Hypothese, dass unser Denken wie selbstlernende künstliche neuronale Netzwerke funktioniert, ist ebenso unzureichend wie die Hypothese der Wirksamkeit von ›genetischen Programmen‹ (siehe nächstes Unterkapitel). Auch hier kann niemand angeben, in welcher Form diese Programme in der DNS gespeichert sein sollen, in welcher Form sie konkret ablaufen und welchen biochemischen Reaktionen die einzelnen Programmelemente entsprechen. Diese Hypothese ist daher inzwischen unglaubwürdig geworden. Außerdem wurde erkannt, dass auch das Zytoplasma, das bei einer Zellteilung an die Nachkommen weitergegeben wird, Träger von Informationen sein kann. Aus diesem Grund versucht man nun, die Vererbung von Umwelteinflüssen mit Hilfe von ›epigenetischen‹ Modifikationen der die DNS enthaltenden Chromosomen durch das Zytoplasma zu erklären. Aber auch derartige epigenetische Erklärungen sind mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass es kein molekulares Modell der Morphogenese gibt, wie im Unterkapitel 2.5. ausgeführt Am 8. Oktober 2013 berichtete die österreichische Tageszeitung Der Standard, dass in einem »Human Brain Project« der EU mit einem Gesamtbudget in Höhe von mehr als einer Milliarde Euro innerhalb von zehn Jahren neue und bestehende Daten über die Funktion des Gehirns gesammelt und in einem Modell zusammengefasst werden sollen. Erklärtes Ziel ist die Simulation von Gehirnfunktionen mit Hochleistungsrechnern. Damit soll sich die Wissenschaft des 21. Jahrhunderts der vom Nobelpreisträger Erich Kandel formulierten zentralen Herausforderung stellen, die »Biologie des menschlichen Geistes« zu ergründen. 13
182 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Schwierigkeiten bei einer Erklärung biologischer Prozesse
wurde. Wie sich die von zytoplasmatischen Abläufen bewirkten epigenetischen DNS-Methylierungen oder Histon-Azetylierungen auf die Formbildung auswirken, bleibt daher ungeklärt. Außerdem lässt sich die Vererbung von artspezifischen Formen nicht auf eine technische Informationsübertragung reduzieren. Dies soll im Folgenden kurz erläutert werden.
7.2. Die Schwierigkeiten bei einer Erklärung biologischer Prozesse mit genetischen Programmen Gemäß der Theorie von Shannon und Weaver beruht die Informationsübertragung auf einem technischen Vorgang, bei dem zwischen einem ›Sender‹ und einem ›Empfänger‹ Signale ausgetauscht werden, wobei die zu übertragende Information vom Sender in einer Abfolge von Zeichen (wie zum Beispiel die Zeichen eines Morse-Alphabets) ›verschlüsselt‹ und vom Empfänger ›entschlüsselt‹ wird. Die Theorie von Shannon und Weaver quantifiziert die Effizienz der Nachrichtenübertragung, indem sie die Häufigkeit der einzelnen Zeichen in einer Zeichenkette einer statistischen Analyse unterzieht und die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einzelner Zeichen in Beziehung zur Wahrscheinlichkeit einer Nachricht setzt. Dies ermöglicht Fernmeldetechnikern, die Übertragung von Nachrichten zu optimieren. Der Empfänger kann jedoch die übertragene Information nur dekodieren, wenn er den ›Sinn‹ der Zeichenkette versteht. Aus diesem Grund müssen Sender und Empfänger erstens ihre (Um)Welt mit der gleichen kategorialen Begrifflichkeit interpretieren und zweitens die dabei interpretierten Sachverhalte auf gleiche Art und Weise in Zeichenketten ver- und entschlüsseln. Da die Informationsübertragung via Zeichenkette jedoch nur dann funktioniert, wenn die beiden Voraussetzungen schon erfüllt sind, kann die Verwirklichung der Voraussetzungen naturgemäß nicht durch diesen Informationsübertragungsmechanismus bewerkstelligt werden. Bei der Übertragung des technischen Informationsbegriffs auf den genetischen vergaß man diese beiden Voraussetzungen und versuchte lediglich, so etwas wie einen einheitlichen genetischen Code bei allen Organismen auszumachen. In der Anordnung der vier Basen, aus denen die DNS aufgebaut ist und auf die sich Jacob im obigen Zitat bezieht, glaubte man den Code gefunden zu haben. Bei den Basen handelt sich um die oben angeführten Nukleotide Adenin, 183 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die darwinistischen Erklärungen der Evolution der Arten
Thymin, Cytosin und Guanin, deren kettenförmige Verknüpfung die Sequenz der Aminosäuren in einem Eiweißkörper festlegt. Konkret besteht der Code darin, dass eine Kombination von jeweils drei dieser vier Nukleotide die Position und Art einer Aminosäure in einem Eiweißkörper bestimmt. Die vier Basen lassen sich in 43 = 64 möglichen Dreiergruppen, sog. Tripletts, anordnen, also wesentlich mehr, als für die 22 in Lebewesen vorkommenden Aminosäuren benötigt werden. Davon ausgehend argumentiert man, dass die Nukleotidsequenz der DNS die Funktion der Eiweißkörper determiniert und damit die Eigenschaften der Zelle, denn die so entstandenen Eiweißkörper würden dann auf Grund ihrer molekularen Eigenschaften quasi von selbst ein funktionierendes Zellganzes hervorbringen. Bei Bakterien, die einfacher gebaut sind als eukaryontische Zellen, kann die Abfolge der Aminosäuren in einem Protein aus der dafür verantwortlichen DNS-Sequenz unmittelbar ›abgelesen‹ werden. In diesem Fall darf die Anordnung dreier Basen tatsächlich als ›Code‹ für die 22 Aminosäuren betrachtet werden, die bei der Biosynthese der Eiweißkörper miteinander verknüpft werden. Fehler bei der Umsetzung eines bestimmten Basentripletts in eine Aminosäure werden als Fehler in der Signalübertragung gedeutet. Neben den Codes für die Abfolge der Aminosäuren in einem Eiweißkörper enthält die DNS noch ›Start- und Stopcodons‹, die die Information für den Beginn und das Ende der Aminosäurekette eines Eiweißmoleküls enthalten. Außerdem legen noch regulatorische Sequenzen den Zeitpunkt der Biosynthese eines Proteins in der Entwicklung einer Zelle fest. Die für die Synthese eines Proteins zuständige DNS-Sequenz wird zunächst in ein ›Botenmolekül‹ transkribiert (die sogenannte ›Boten-RNS‹), dessen Sequenz dann in der Proteinbiosynthese verwertet wird. Damit entspricht die Biosynthese eines Eiweißkörpers den technischen Erfordernissen einer Signalübertragung. Freilich trifft dieses einfache Bild einer Informationsübertragung von der DNS über die Boten-RNS zu Proteinen nicht mehr auf die Proteinbiosynthese eukaryontischer Zellen zu, aus denen die höheren Organismen aufgebaut sind. Bei diesen Zellen läuft die Proteinbiosynthese wesentlich komplexer ab als bei Bakterien. Hier kann auf Grund zusätzlicher regulatorischer Einflüsse der Stoffwechselaktivität eine bestimmte Nukleotidsequenz für völlig unterschiedliche Eiweißkörper kodieren, so dass man nicht mehr sagen kann, dass die DNS der alleinige Träger der Information für eine bestimmte Aminosäuresequenz ist. In diesem Fall ›interpretiert‹ die Zelle eine 184 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Schwierigkeiten bei einer Erklärung biologischer Prozesse
vorgegebene DNS-Struktur in unterschiedlicher Weise, was auf einen hermeneutischen Aspekt der Stoffwechsellogik verweist und eine von allen Genetikern akzeptierte Definition eines ›Gens‹ verhindert hat. »The concept of a gene has changed and is still changing, so what version do we use? […] We are dealing with a moving target«, schrieb Denis Noble in einem Übersichtsartikel über den Neo-Darwinismus und die Moderne Synthese 14. Für eine Einführung in die Problematik der abgelesenen Nukleotidsequenzen der DNS (Exons) und der nicht-abgelesenen Sequenzen (Introns) siehe Denis Noble 15. Aber auch bei den einfacher strukturierten Bakterien gibt es ein schwerwiegendes Erklärungsdefizit. Es betrifft das biologische Analogon zu den beiden oben erwähnten Voraussetzungen, die bei einer technischen Informationsübertragung erfüllt sein müssen und die bei der Übertragung des technischen Informationsbegriffs auf den genetischen übersehen wurden. Wir haben im 3. Kapitel ausgeführt, dass schon die einfachsten einzelligen Organismen ihre kontinuierliche Existenz der Fähigkeit verdanken, sich ständig von neuem in Selbstkonstitutionsakten eine an Umweltänderungen angepasste Struktur zu geben. Dies ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass in einer Zelle die Struktur der Chromosomen repliziert werden und die von der DNS gesteuerte Proteinbiosynthese überhaupt ablaufen kann. Bei keiner der derzeit von der Mehrzahl der Biologen akzeptierten Erklärungen des evolutionären Hervorgehens komplexerer Organismen aus einfacheren Organismen spielt die Selbstgestaltung in Erfahrungsakten als Elementareinheit biologischer Prozesse eine Rolle. Ein derartiges endursächliches ›Streben‹ nach koordinierten und auf die jeweilige Umwelt abgestimmten Strukturen kann nicht in einem wie immer gearteten ›gene pool‹ aufgefunden werden, wie dies von Ernst Mayr behauptet wird (siehe oben). Eine auf dem technischen Informationsbegriff beruhende Erklärung der Evolution steht daher im Widerspruch zu empirischen Befunden, für deren Erklärung es nötig ist, den vermeintlich kreativen Aspekt der Selektion durch die kreativen Antizipationen der Organismen zu ersetzen. Die Missachtung der fundamentalen Eigenschaft lebender Systeme, sich selbst in Erfahrungsakten neu zu gestalten, stellt gewissermaßen einen ›blinden Fleck‹ 16 der Molekularbiologie dar. Er wird da14 15 16
Noble 2011, 1009. Noble 2006, 8. Stewart 2001, 5.
185 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die darwinistischen Erklärungen der Evolution der Arten
durch verursacht, dass die Biologie es in der Vergangenheit verabsäumt hat, das koordinierende Prinzip der zellulären Selbstkonstitution aufzudecken, das die Umwelterfahrung des betreffenden Organismus leitet. Dieser Mangel wurde in der vorliegenden Schrift mit einer Theorie der Organismen behoben, die eine Fundierung der biologischen Selbstorganisation in einer Erfahrung von Umweltänderungen vornimmt. Die wissenschaftliche Berechtigung der hier präsentierten Neuinterpretation biologischer Prozesse kann mit dem ›blinden Fleck‹ der Molekularbiologie und den daraus resultierenden Unzulänglichkeiten für ein Verständnis lebender Systeme begründet werden. Letzten Endes beruhen diese Unzulänglichkeiten auf der Idee, dass die DNS als eine überzeitlich existierende Materiekonfiguration als Regulator für eine einheitliche biologische Entwicklung fungiert. Demnach müsste in einer derartigen Materiekonfiguration die gesamte Information über die vielfältigen, biologisch sinnvollen Strukturen eines gegebenen Organismus unter den unterschiedlichsten externen Bedingungen gespeichert sein. Dabei wird übersehen, dass auch in diesem Fall ein Organismus benötigt wird, der ein und dieselbe Materiekonfiguration im Laufe seiner Entwicklung für unterschiedliche Selbstkonstitutionsakte zu interpretieren vermag (wie das z. B. bei der Umwandlung einer Raupe in einen Schmetterling der Fall ist). In der genzentrierten Biologie kommt jedoch dieser hermeneutische Aspekt des Stoffwechsels, der die organismische Identität im ständig ablaufenden Fluss struktureller Veränderungen aufrechterhält, nicht vor. Auf ihm beruht der im Unterkapitel 4.2. genauer ausgeführte fundamentale Unterschied zwischen Lebewesen und nicht-lebenden Dingen. Die Entstehung neuer Formen in der Evolution wird von NeoDarwinisten auch deshalb mit der Veränderung proteinkodierender Sequenzen erklärt, weil gentechnisch durchgeführte Veränderungen bestimmter proteinkodierender Sequenzen Auswirkungen auf den Phänotyp haben. Da jedoch das Werden einer Funktionsharmonie nicht auf eine Veränderung von Materiekonfigurationen reduziert werden kann, führen experimentell produzierte Modifikationen des Genoms nur zu Deformationen eines vorgegebenen Phänotyps. Mit der Produktion transgener Organismen, bei denen Nukleotidsequenzen verändert worden sind, werden deshalb nur Individuen erzeugt, die unter natürlichen Bedingungen nicht lebensfähig sind. Außerdem besitzen Organismen die Fähigkeit, die transgene Veränderung in
186 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Schwierigkeiten bei einer Erklärung biologischer Prozesse
einem ›natural genetic engineering‹ 17 rückgängig zu machen. Die Annahme, dass Veränderungen von proteinkodierenden Sequenzen nicht nur verkrüppelte Kreaturen produzieren, sondern auch in gleicher Weise für das Gegenteil verantwortlich sind, nämlich die Hervorbringung eines gesunden und mit seiner Umwelt akkordierten Lebewesens, ist daher genauso wenig begründet wie die Existenz genetischer Programme. Die Auswirkung einer experimentell durchgeführten Manipulation proteinkodierender Sequenzen auf ein bestimmtes Merkmal des Phänotyps sagt nichts über die Funktion dieser Sequenzen aus, die sie vor der Manipulation in einem überlebensfähigen Organismus ausgeübt haben. Hier wird meist ein ganz anders strukturierter, transgener Organismus erzeugt, dessen gesamter Stoffwechsel völlig verschieden von dem des Wildtyps ist. Aus diesem Grund ist auch der Versuch, die Funktion eines ›Gens‹ dadurch herauszufinden, dass man Nukleotidsequenzen eliminiert, (d. h. eine ›Knock-out Mutante‹ erzeugt) höchst problematisch. Eine kausale Analyse ist durch einen derartigen Eingriff deshalb nicht möglich, weil man bei metabolischen Netzwerken Ursache und Wirkung nicht unterscheiden kann. Whitehead hätte dies vermutlich als ›fallacy of simple location‹ kritisiert 18. Darüber hinaus beruht die Verallgemeinerung der Korrelation zwischen dem Genotyp und dem Phänotyp auf einer fehlerhaften Gleichsetzung des Phänotyps mit Unterschieden im Phänotyp einer Art, hervorgerufen durch die Wirkung unterschiedlicher Allele auf den Stoffwechsel. Die Hoffnung, dass ›Genome Editing‹ durch die ›Gen-Schere‹ CRISPR/Cas9 die Pflanzenzucht revolutionieren könnte, dürfte ebenfalls verfrüht sein. Mit dieser Methode kann man gewünschte Veränderungen in DNS-Sequenzen vornehmen, was früher nur durch langwierige Züchtungsverfahren möglich war. Man glaubt, dass damit das gleiche Ergebnis erzielt werden kann wie durch eine natürlich zustande gekommene Mutation. Dies eröffnet vermeintlich die Möglichkeit, unerwünschte Eigenschaften von Pflanzen zu eliminieren und gewünschte Eigenschaften in die Pflanzen einzubringen. Hier wird übersehen, dass bei den traditionellen Züchtungsverfahren die veränderten DNS-Sequenzen vom Organismus selbst in einem Response auf die vom Züchter vorgegeben Bedingungen erzeugt werden. Dies gibt dem Organismus genügend Zeit, die Auswirkungen 17 18
Shapiro 2011. Whitehead 1929/1978, 137.
187 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die darwinistischen Erklärungen der Evolution der Arten
der veränderten DNS-Sequenzen auf die Erfahrungs- und Selbstkonstitutionsakte seiner energiekonvertierenden Subsysteme in sein Artgedächtnis zu integrieren. Die Auswirkung einer ad hoc vorgenommenen Manipulation des ›Genoms‹ kann daher nicht die gleiche sein wie die durch die traditionelle und zeitaufwändige Züchtung.
7.3. Die Problematik des Artbegriffs bei einer mechanistischen Erklärung der Evolution der Arten Die Taxonomie oder Systematik beschäftigt sich mit einer Zuordnung von Einzelindividuen mit gemeinsamen Merkmalen zu bestimmten Gruppen, die als ›Arten‹ bezeichnet werden. Ausgehend vom Grad der Gemeinsamkeit lassen sich verschiedene Arten zu Gattungen, verschiedene Gattungen zu Familien, Ordnungen usw. zusammenfassen und auf diese Weise verschiedene Ebenen von Verwandtschaftsverhältnissen konstruieren. Man kommt dadurch zu einer Hierarchie von Gruppen mit gemeinsamen Merkmalen, die als ›Taxa‹ bezeichnet werden. Welche Merkmale für eine Klassifizierung herangezogen werden sollen, ist jedoch unter Systematikern bis heute strittig, unter anderem aus folgendem Grund: Da nämlich das Prinzip dieser Einteilung auf einer Objektivierung der Eigenschaften von Lebewesen beruht, kann es auch auf nicht-lebende Dinge angewandt werden. Eine für Organismen sinnvolle Systematik versucht daher, zusätzliche Kriterien anzugeben, die eine Hierarchie von Taxa von einem Katalog nicht-lebender Dinge unterscheidet. Über diese Kriterien besteht kein Konsens und in der Geschichte der Biologie haben sie sich ständig verändert, auch weil die jeweiligen Vorstellungen über das Wesen der Organismen einem Wandel unterworfen waren. Im historischen Rückblick dürfte der erste Systematiker, der in der weiteren Entwicklung der Biologie eine bedeutende Rolle gespielt hat, Aristoteles gewesen sein. Er ordnete die Lebewesen in einer Stufenleiter nach ihrem Komplexitätsgrad an, bei dem ein zunehmender Selbstbezug sich im Menschen in Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung vollendet. In einem unterschiedlichen Ausmaß einer ›Selbstzentrierung‹ von Lebensfunktionen erstreckte sich für Aristoteles eine Stufenfolge von Pflanzen über Tiere zum Menschen, wobei natürlich die größte Zahl der Organismen (Bakterien und andere Mikroorganismen) nicht berücksichtigt wurden. Eine Evolution dieser Stufenfolge war nicht vorgesehen. Die unveränderliche Existenz die188 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Problematik des Artbegriffs bei einer mechanistischen Erklärung
ser Stufen bestimmte das Denken in der Biologie bis zur Zeit des bedeutenden Systematikers Carl von Linné, der die »Theorie der Artenkonstanz« vertrat, nach der es eine Schöpfung (oder auch mehrere Schöpfungen) unveränderlicher Arten gegeben hat (siehe Unterkapitel 7.1.). Er schuf außerdem das System der binären Nomenklatur, das jede Art bis heute eindeutig bezeichnet. Nachdem die Theorie der Artenkonstanz von der Evolutionstheorie abgelöst worden war, wurde die Einteilung der Lebewesen nach (vermuteten) Fortpflanzungsgemeinschaften vorgenommen. Zu einer Art gehören demnach Individuen, die sich miteinander fortpflanzen und deren Nachkommen sich ebenfalls untereinander fruchtbar paaren können. Dadurch wurde die Phylogenese zur Feststellung verwandtschaftlicher Beziehungen verwendet, in der sich die Arten aufgrund von Änderungen ihrer ›Genfrequenzen‹ weiterentwickeln. Breiten Raum nahm seitdem die Frage nach dem ontologischen Status der Arten ein. Die Einteilung, bei der Individuen auf der Basis der geschlechtlichen Fortpflanzung einer bestimmten Art zugeordnet werden, führte bei einigen Biologen zu der Ansicht, dass Arten nicht auf den Abstraktionen gemeinsamer Merkmale beruhen, sondern selbst konkrete organismische Entitäten seien, die sich untereinander in ihren ›Genen‹ unterscheiden (z. B., Ghiselin 19). Dies mündete zunächst in eine molekulare Taxonomie, die jedoch die Frage nach der realen Existenz der Arten nicht beantworten konnte, weil die Suche nach einer molekularen Basis für die gleichbleibenden Eigenschaften einer Art erfolglos blieb. Weder konnte der artspezifische Phänotyp in Beziehung zur DNS gesetzt werden, noch war die Annahme richtig, dass die DNS invariant vererbt wird, solange keine zufälligen Mutationen auftreten. Die reale Existenz der Arten ließ sich auf der Basis molekularer Verdinglichungen deshalb nicht begründen, da man inzwischen weiß, dass auch die DNS von den Organismen selbst ständig verändert wird, ohne dass davon der Phänotyp betroffen ist. Aber abgesehen von diesen Problemen führte der genetische Ansatz zu der Schwierigkeit, dass der überwiegende Teil der Lebewesen sich nicht sexuell fortpflanzt. In diesem Fall wurde versucht, den Artbegriff nicht nur auf Individuen anzuwenden, die zu einer bestimmten Zeit (synchron) existieren, sondern auf alle Lebewesen auszudehnen, die zu verschiedenen Zeiten (diachron, z. B. durch Zellteilung) auseinander hervorgegangen sind. Aber auch eine derartige Erweite19
Ghiselin 1974, 536–544.
189 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die darwinistischen Erklärungen der Evolution der Arten
rung des Artbegriffs führte zu einem Problem. Werden Arten nur als diachrone Entitäten betrachtet, die mit einem Anfang und einem Ende in der Zeit raumzeitlich lokalisiert sind, dann sollte es Kriterien dafür geben, was bei einer Art der sie zeitlich einschließende Anfangs- und Endpunkt ist. Diese Zeitpunkte wurden bisher nicht gefunden, vermutlich weil hier versucht wird, die Prozessnatur von Lebewesen mit zwei abstrakten Artbegriffen zu charakterisieren. Die Prozessnatur wird nach der hier vorgestellten Theorie der Organismen erfasst, wenn der struktural-synchronen Betrachtungsweise eine genetisch-diachrone beigefügt wird 20. Die innere Einheit dieser beiden Dimensionen eines Lebewesens zeigt sich in seiner »Zeitgestalt«, d. h. im Zeitquantum, das es für einen Selbstkonstitutionsakt benötigt. Ein Verständnis dieser Zeitgestalt lässt sich gewinnen, wenn eine Objektivierung der (synchronen) Struktur mit einer hermeneutischen Interpretation ihrer (diachronen) Genese verknüpft wird. Die Trennung der synchronen von der diachronen Betrachtungsweise führte schließlich zu zwei gegensätzlichen Zuordnungen der Lebewesen zu Artkonzepten, die als ›Endurantismus‹ und ›Perdurantismus‹ bezeichnet werden und die eine Diskussion über die ontologische Relevanz dieser Zuordnung zur Folge hatten. Diese Diskussion über den ontologischen Status der Art muss hier nicht weiter verfolgt werden, weil eine Klärung des Artbegriffs eine Theorie der Organismen erfordert, die auf fundamentalen Prinzipien der Existenz und der Erklärung von Lebewesen aufbaut.
7.4. Versuch einer prozessbiologischen Artdefinition Ein Organismus existiert in transienter Weise nur in dem Maß wirklich, in dem er sich selbst in einer Kommunikation mit anderen Organismen erzeugt hat. Dabei gibt ein Organismus sich selbst einen Ausdruck, mit dem er versucht, seine Umgebung in seine ureigene Lebenswelt umzugestalten. Demnach gehören diejenigen Organismen zu ein und derselben Art, die in einem kommunikativen Beziehungsgefüge ihren körperlichen Ausdruck wechselseitig so interpretieren, dass aus den dabei stattfindenden Selbstkonstitutionsakten eine ähnliche Erscheinungsform und eine gemeinsame Lebenswelt hervorgehen. Wenn die unterschiedlichen Lebenswelten von Arten 20
Vgl. Fetz, Band I der vorliegenden Schriftenreihe über Biophilosophie, Pkt. 3.5.2.
190 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Versuch einer prozessbiologischen Artdefinition
innerhalb einer Biozönose sich gegenseitig ergänzen, dann sind die Strukturen der Organismen dieser Biozönose ebenfalls sinnvoll aufeinander abgestimmt. In diesem Fall sind nicht nur die diversen Arten wirklich, sondern auch die organismischen Einheiten einer Biozönose. Hingegen konstituieren sich übergeordnete Gruppierungen wie Gattungen, Familien etc. nicht in der Schaffung einer gemeinsamen Lebenswelt und haben daher keine wirkliche Existenz. In Einklang mit der hier vorgestellten Prozessbiologie gehören zu einer Art diejenigen Organismen, die das gleiche Artgedächtnis besitzen. Ein Artgedächtnis konkretisiert sich als ein sich selbst reproduzierendes Interaktionsmuster zwischen Organismus und Umwelt, bei dem die Organismen einer Art in Erinnerungsakten eine bestimmte Erscheinungsform aufrechterhalten. Das Zustandekommen des Interaktionsmusters kann mit einer hermeneutischen Interpretation der Selbstkonstitutionsakte erschlossen werden, die dem Interaktionsmuster zugrunde liegen. In der traditionellen Taxonomie wird dieses Muster von einer bestimmten Gruppe von Organismen, die als Taxonomen bezeichnet werden, als eine immer wiederkehrende, gleiche organismische Erscheinungsform objektiviert. Wenn diese Objektivierung zu einer Artbestimmungsmethode führt, mit deren Hilfe gleichbleibende Qualitäten von Individuen abstrahiert und in Ordnungsrelationen verwandelt werden, dann kommt der Art keine tatsächliche Existenz im Sinne biologischer Ereignisse zu. Die bei diesen Ordnungsversuchen verwendeten Kriterien für die Zuordnung der Lebewesen haben sich daher in dem Maß geändert, in dem die Objektivierung verfeinert wurde. Sie ging aus von grob sinnlichen, äußeren Merkmalen wie Lebensweise oder Wuchsform und veränderte sich im Lauf der Zeit mit den zur Verfügung stehenden instrumentellen Untersuchungsmitteln (Lichtmikroskop, Elektronenmikroskop) und Methoden der Biochemie, sowie dem fortschreitenden Wissen über Konstituenten der Lebewesen (Proteine, DNS, etc.). Jede neue Untersuchungsmethode hatte zur Folge, dass Organismen ständig zwischen verschiedenen Arten hin und hergeschoben wurden. Eine darauf beruhende Artbestimmung entspricht der Auffassung von der instrumentellen Natur von Objekten der wissenschaftlichen Erkenntnis 21. In diesem Fall kann der Ausspruch Linnés abgewandelt werden: Tot sunt species quot creavit homo taxinomicus. In ähnlicher Weise beziehen sich 21
Dewey 1925, 149.
191 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die darwinistischen Erklärungen der Evolution der Arten
die ökologisch irrelevanten und positivistischen Artbegriffe einiger analytischer Philosophen der Biologie auf Konstruktionen, die mit den von den Organismen konstruierten Lebenswelten nichts zu tun haben. Betrachtet man den positivistischen Artbegriff als lediglich der menschlichen Erkenntnis dienendes Instrument, mit dem Ordnung in die ungeheuerliche Vielfalt lebender Organismen gebracht wird, erübrigt sich die Frage, wie Arten sich unter dem Einfluss der Selektion verändern, weil der Selektion damit ihr Substrat abhandengekommen ist. Natürlich wird niemand bestreiten, dass sich Organismen auseinander entwickelt haben und dass nähere oder weitere verwandtschaftliche Beziehungen unter ihnen bestehen. Aber welchen Erklärungswert hat die Selektion, die ja wohl die Art, auf die sie geheimnisvoll einwirken soll, nicht auf die gleiche Weise wie der Biologe konstruiert? Was ist die Selektion überhaupt? Ist sie ein Prinzip, eine Kraft, eine Tautologie, eine Metapher, eine statistische Größe, ein Mechanismus, ein natürlicher Mechanismus mit Erklärungswert, ein evolutionsgeschichtlicher Prozess der Anpassung, eine Spekulation, eine emergente Eigenschaft, eine Interaktion, oder besteht sie in äußeren Entwicklungszwängen? Vermutlich ist diese Aufzählung nicht taxativ. Einige der Erklärungen sind tautologisch, z. B. der Befund, dass derjenige der überlebt, selegiert wurde. Was den Mechanismus betrifft, so müsste ja eine lückenlose Kausalkette von Ursachen und Wirkungen anzugeben sein, die von einer amöboiden Zelle zum Elefanten führt. Aus den oben angeführten Gründen werden im vorliegenden Text gemeinsame phänotypische Manifestationen, die für einen Beobachter bei einer bestimmten Organismengruppe in der Beziehung zwischen Erfahrung und Selbstkonstitution auftreten, einer Art zugeordnet. Dies macht den Artbegriff nicht zu einer positivistischen, sondern zu einer historischen Konzeption, die von Taxonomen verwendet werden kann, um die geschichtliche Entwicklung der organismischen Strukturen in ihrer logischen Abfolge erklären zu können. Sie lässt sich vom Artgedächtnis der Organismen herleiten und erlaubt auch eine Neuinterpretation der präbiotischen Evolution im Rahmen einer organismischen Wirklichkeitstheorie.
192 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
8. Die Entstehung der ersten Lebewesen in einem abiotischen Milieu
Eine fundamentale Voraussetzung für die Entstehung der ersten Zellen war die Existenz von einem oder mehreren gerichteten Energieflüssen, die im abiotischen Milieu für zyklische Umsetzungen anorganischer und organischer Verbindungen verantwortlich waren. Morowitz hat diese Tatsache als Theorem formuliert: »In steady state systems, the flow of energy through the system from a source to a sink will lead to at least one cycle in the system« 1. Dies macht den Energiefluss zur Basis für die Entstehung der ersten Lebewesen. Als Beispiel gibt Morowitz die Bildung von Sauerstoff und Aldehyden aus CO2 und Wasser bei Bestrahlung durch UV-Licht an: CO2 + H2O
hv
Aldehyde + O2
Der Energiefluss durch das CO2-H2O System dürfte neben Aldehyden noch weitere organische Verbindungen hervorgebracht haben. Da dieser Vorgang nicht von der Art der umgesetzten Energie abhängt, hat auch die vor vier Milliarden Jahren reichlich vorhandene radioaktive Strahlung beim Entstehen komplexerer Moleküle eine große Rolle gespielt. Eine ausschließlich physikalische Beschreibung der Bildung von nebeneinander existierenden energiekonvertierenden Zyklen erklärt jedoch nicht das Werden der ersten Zellen. Die Physik kann nicht die Frage beantworten, wie im Energiefluss aus energiekonvertierenden Zyklen funktionelle Einheiten entstanden, die danach strebten, sich mit einer bestimmten Form von ihrer ungeordneten Umgebung abzugrenzen. Außerdem gibt es die Schwierigkeit, dass Hypothesen über diesen Vorgang nur begrenzten wissenschaftlichen Wert haben, weil sie nicht getestet werden können. Für einen derartigen Test sollte es möglich sein, lebende Zellen künstlich herzustellen. Dies widerspricht jedoch der Idee der Selbstkonsti1
Morowitz 1968, 33.
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Die Entstehung der ersten Lebewesen in einem abiotischen Milieu
tution: »Die Systeme in der Umwelt des Systems sind ihrerseits auf ihre Umwelten hin orientiert. Über fremde System/Umwelt-Beziehungen kann jedoch kein System ganz verfügen, es sei denn durch Destruktion« 2. Ein organismisches System, das sich selbst konstituiert, kann nicht von einem anderen organismischen System erzeugt werden. Diese Tatsache wurde bei allen bisherigen Versuchen ignoriert, die das Werden der ersten Zellen mit einem mechanistischen Modell zu erklären versuchten. Wenn aber nicht einmal die kontinuierlich stattfindende, autopoietische Selbsterzeugung heutiger Lebewesen in Erfahrungsakten mit Gesetzen der Physik und Chemie erklärt werden kann, dann gelingt dies auch nicht bei der Selbsterzeugung der ersten Lebewesen. Ein Beispiel dafür ist das Modell des russischen Wissenschaftlers Alexander Ivanovich Oparin, der in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts Hypothesen zur Entstehung des Lebens entwickelte. Die vorliegende Schrift beschäftigt sich daher nicht mit mechanistischen Modellen über die Entstehung der ersten Lebewesen. Stattdessen versuchen wir die Frage zu beantworten, welchen Eigenschaften die ersten Zellen eine dauerhafte Existenz unter ständig wechselnden Umweltbedingungen verdanken. Ohne diese Eigenschaften hätte die Evolution der Organismen nicht stattgefunden. Eine sinnvolle Spekulation über die Entstehung der ersten Lebewesen würde voraussetzen, dass auch die Entwicklung des Kosmos auf Selbstkonstitutionsakten beruht, die Analogien zu organismischen Selbstkonstitutionsakten aufweisen. Die Entstehung der ersten Lebewesen wäre dann nur eine Wiederholung dieser kosmischen Selbstkonstitutionsakte. Wenn es gelingt, organismische Manifestationen in der kosmischen Entwicklung zu finden, ist man nicht mehr darauf angewiesen, die Existenz von Kreativität, Freiheit und Intentionen der Organismen mit Formalismen erklären zu müssen, die in einer Abstraktion von Kreativität, Freiheit und Intentionen konzipiert werden. Derartige Formalismen führten zum Problem einer ›starken Emergenz‹, das nicht mehr wissenschaftlich befriedigend gelöst werden kann. Die Ergebnisse der Physik und Chemie sind bei der Suche nach organismischen Letztelementen in der präbiotischen Entwicklung deshalb nur von begrenztem Wert, weil physikalische Gesetze nur innerhalb bestimmter Anfangs- und Randbedingungen in
2
Luhmann 1984, 37.
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Prozessbiologische Spekulationen über die präbiotische Evolution
einem abgegrenzten Bereich gültig sind. Die Anwendung der Physik auf eine Erklärung der kosmischen Entwicklung setzt voraus, dass es eine kreative Kraft gibt, die diese Randbedingungen herstellt. Eine derartige Kraft kommt aber in der Physik selbst nicht vor. In ähnlicher Weise beruhen die Erklärungen der Chemie auf einem System von logisch interdependenten Symbolen, mit denen vorhergesagt werden kann, welche Auswirkung der Eingriffs eines Chemikers auf seine künstliche Umwelt hat, die aus isolierten chemischen Verbindungen besteht. Die von Chemikern konstruierte Lebenswelt des Chemielaboratoriums betrifft daher nicht die Welt, aus der sich in einer präbiotischen Evolution die ersten Lebewesen entwickelt haben. Ein weiteres Problem besteht darin, dass in dem von der Physik und Chemie beschriebenen Aufbau der Materie keine organismischen Intentionen vorkommen, mit denen sich der geschichtliche Charakter der kosmischen Evolution begründen ließe.
8.1. Prozessbiologische Spekulationen über die präbiotische Evolution Die Anwendung einer Theorie der Organismen auf die präbiotische Evolution steht vor der Aufgabe, auch das Entstehen und Vergehen von Strukturelementen der unbelebten Natur als einen geschichtlichen Prozess zu begreifen. Diese Aufgabe kann gelöst werden, wenn die präbiotische Evolution als eine Abfolge von Prozesseinheiten interpretiert wird, bei denen Strukturen, die in vorangegangenen Prozessen gebildet worden sind, in nachfolgenden Prozesseinheiten in Eigenstrukturierungen erfahren werden. Nach einer Theorie der Organismen müsste daher auch in der Entwicklung des Universums eine aufeinander bezogene konstitutive Beziehung von derartigen Prozesseinheiten die Entwicklung der nicht-lebenden Materie geleitet haben. Nun standen nach den gegenwärtigen Vorstellungen am Beginn einer kosmischen Evolution energetische Elementarereignisse, die sich als Quantenphänomene manifestieren. Sie betreffen die Wirkung von Photonen, Elektronen, Protonen und Neutronen, aber auch die von Atomen und komplexeren Molekülen. Für Reto Luzius Fetz haben schon diese Elementarteilchen gewisse organismische Eigenschaften, die sie von nicht-lebenden Dingen unterscheiden. Dadurch könnten Elementarteilchen zu Agenten eines geschichtlichen Prozesses werden. In Hinblick auf die hier präsentierte Theorie der Organis195 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Entstehung der ersten Lebewesen in einem abiotischen Milieu
men verursacht diese Idee einige Schwierigkeiten, die im Folgenden kurz diskutiert werden sollen. Zur Behandlung dieser Probleme ist es sinnvoll, die Eigenschaften von Quantenphänomenen darzustellen und dann zu überlegen, wie diese Phänomene als Manifestation von Organismen interpretiert werden können. Elementarteilchen erscheinen bekanntlich in der Beobachtung entweder als Teilchen oder als Wellen, wobei die betreffenden Eigenschaften von der Art der Beobachtung abhängen. Diesen ›Welle-Teilchen-Dualismus‹ hat Nils Bohr das »Prinzip der Komplementarität« genannt. Erwin Schrödinger hat sowohl für das Wellen- als auch für das Teilchenverhalten der Materiewellen eine mathematische Wellenfunktion aufgestellt. Max Born hat die Schrödinger-Gleichung in statistischer Hinsicht dahingehend gedeutet, dass das Quadrat der Wellenfunktion eines Elementarteilchens in irgendeinem Raumelement ein Maß für die Wahrscheinlichkeit ist, dieses Teilchen in dem Raumelement anzutreffen. Aus diesem Grund lässt sich der Ort, an dem ein Teilchen beobachtet werden kann, nicht exakt vorhersagen. D. h. vor einer Beobachtung kann die Aufenthaltswahrscheinlichkeit eines Elementarteilchens mit einer Wellenfunktion beschrieben werden, für die tatsächliche Lokalisierung als Teilchen ist eine bestimmte Versuchsanordnung nötig. Aber selbst hier bleibt eine gewisse Unbestimmtheit erhalten: Der Ort und die Geschwindigkeit eines Teilchens kann nicht gleichzeitig präzise gemessen werden, da diese Parameter durch die Messung beeinflusst werden, worauf schon Heisenberg hingewiesen hat. Die Teilchenwellen beschreiben ein statistisches Abbild der Wahrscheinlichkeitsverteilung des Auftretens eines Teilchens, aber nicht dessen Natur. Über dessen Natur kann nur gesagt werden, dass Elementarteilchen gequantelte Energiezustände repräsentieren, deren Übergang auf ein höheres oder niedrigeres Energieniveau ebenfalls gequantelte Energiemengen (z. B. die eines Photons) benötigt. Eine organismische Interpretation von Quantenphänomenen wäre möglich, wenn auch diese in einer inneren Beziehung zueinander stünden, mit der der gerichtete Ablauf der kosmischen Evolution erklärt werden kann. Für eine derartige Beziehung müsste die bipolare Natur jedes Quantenphänomens, bei der in einer Beobachtung aus einem unbestimmten Wellenzustand eine objektivierbare Manifestation eines Elementarteilchens hervorgeht, zur Basis einer Interdependenz von Quantenphänomenen werden. Das wäre der Fall, wenn die Manifestation eines Quantenphänomens von den Ergebnis196 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Prozessbiologische Spekulationen über die präbiotische Evolution
sen anderer Quantenphänomene abhinge, die sich in der unmittelbaren Vergangenheit ereignet haben. Der daraus resultierende Zustand eines Elementarteilchens würde dann selbst wieder den Verlauf nachfolgender Quantenphänomene bestimmen. In diesem Fall würde das Ergebnis vorheriger Quantenphänomene die Rolle eines Beobachters von nachfolgenden Quantenphänomenen übernehmen, sodass aus einer Abfolge von Beobachtungsvorgängen Entitäten hervorgingen, die für den molekularen Aufbau der Materie verantwortlich sind. Bei dieser Interpretation einer geschichtlichen Verknüpfung von Quantenphänomenen ist es allerdings nötig, dass diese die Tätigkeit von Beobachtern in einem Selbstbezug beinhalten. Nur wenn diese Voraussetzung erfüllt ist, kommt eine innere Beziehung zwischen Quantenphänomenen zustande, die auch der Natur von Organismen entspricht. Dies ist allerdings nach den Gesetzmäßigkeiten der Quantendynamik nicht vorgesehen. Mit der Schrödinger-Gleichung lässt sich die Form der Materiewelle in einem bestimmten mikrokosmischen Bereich als Überlagerung von Wellenfunktionen mit verschiedener Wellenlänge beschreiben, die sich am Ort ihrer Wirkung verstärken und an allen anderen durch Interferenz auslöschen. Beim Kollaps dieser Wellenfunktionen bei einer Messung wird eine dieser Überlagerungen verwirklicht, wobei die Art einer ›Beobachtung‹ durch die Messanordnung den Kollaps der Wellenfunktion determiniert. Aus diesem Grund ist die Beobachtung Teil des Quantenphänomens. Bei einer organismischen Interpretation von Quantenphänomenen müsste daher auch die Funktion eines Beobachters in der kosmischen Entwicklung geklärt werden, die für die Manifestation von Materiewellen verantwortlich ist. Es gibt noch ein weiteres Problem: Einem Quantensystem können nur dann organismische Eigenschaften zugeschrieben werden, wenn dieses System a priori bei seinem Kollaps eine räumliche Struktur anstrebt, die annähernd den idealen geometrischen Formen entspricht, auf denen die Visualisierung chemischer Verbindungen beruht. Durch welche Randbedingungen in einem derartigen Prozess die chemischen Verbindungen entstanden sind, die für die Entwicklung des Kosmos verantwortlich waren, kann mit der SchrödingerGleichung nicht beantwortet werden, da in dieser Gleichung eine Visualisierung von Quantenzuständen keine Rolle spielt. In der Quantenmechanik werden die Elektronen-Wellenfunktionen der Moleküle a posteriori durch eine Linearkombination der Elektronen-Wellenfunktionen der beteiligten Atome annähernd so konstruiert, dass sie 197 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Entstehung der ersten Lebewesen in einem abiotischen Milieu
den Modellen visualisierter Formen entsprechen; aus diesem Grund lässt sich auch die Chemie, in der Raum und Zeit eine andere Rolle als in der Physik spielen, nicht vollständig auf Physik reduzieren. Erst durch eine visualisierbare Verwirklichung mit Hilfe idealer Formen kann daher ein Quantensystem zu einem Partner in chemischen Reaktionsabläufen werden und auf diese Weise mit anderen chemischen Verbindungen interagieren. Daher sind die idealen geometrischen Formen der Atome und Moleküle ontologisch wirksam. Sie manifestieren sich in den sterischen Faktoren, die die Kinetik von chemischen Reaktionen bestimmen, wie dies beispielsweise bei der Bildung von Isomeren organischer Verbindungen besonders augenscheinlich wird 3. Für eine potentielle Weiterentwicklung des Zusammenspiels idealer Formen der Chemie zu organismischen Prozesseinheiten müsste die Chemie mit einem teleologischen Potential ausgestattet werden. Es dürfte allerdings nicht unbegründet im Sinne einer ›starken Emergenz‹ in dieser Disziplin auftauchen, sondern sollte schon in den Quantenphänomenen, wie oben beschrieben, verankert werden. Solange dies nicht gelungen ist, lässt sich mit der Quantenmechanik nicht eine gerichtete Entwicklung begründen, bei der Materiewellen durch Überlagerung mit anderen Materiewellen eine Abfolge von idealen geometrischen Formen verwirklichen, die in einem evolutionären Sinnzusammenhang stehen. Aber auch hier gilt, was oben über die geschichtliche Verknüpfung von Quantenphänomenen ausgeführt wurde. Demnach käme eine Höherentwicklung von idealen Formen von Funktionsharmonien zustande, wenn die Observablen der nicht-lebenden Materie so zu einem Bestandteil der Umgebung von Erfahrungs- und Selbstkonstitutionsakten bei anderen Materiewellen werden, dass diese zu neuen beobachtbaren Formkonfigurationen führen. Dadurch würde auch in der unbelebten Natur die Möglichkeit für Kreativität bestehen. Eine Entscheidung über die mögliche Existenz derartiger Prozesse im mikrokosmischen Bereich bleibt zukünftigen Interpretationen von Ergebnissen der Quantenmechanik vorbehalten. Dies trifft auch auf den makrokosmischen Bereich zu, für den eine Verallgemeinerung von Eigenschaften des Energie- und Substratflusses in Organismen auf kosmische Energieflüsse vorgenommen werden müsste.
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Goodwin 2003, 141–153.
198 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Prozessbiologische Spekulationen über die präbiotische Evolution
Existieren Analogien zwischen kosmischen Energieflüssen und denen der Lebewesen? Dies wäre der Fall, wenn auch bei kosmischen Energieflüssen das Werden von Strukturen von Spannungsfeldern geleitet würde, die auf das Entstehen innerweltlicher Harmonien abzielen (wir machen hier eine Anleihe bei Bergson, siehe Unterkapitel 4.5.). Daraus würden sich zwischen Entwicklungen im Universum und der Evolution der Organismen Wesensähnlichkeiten ergeben, die nicht nur im Sonnensystem, sondern auch im ganzen Kosmos aufzufinden sein sollten. Die Idee, dass sich der Kosmos als Lebewesen konstituiert, ist nicht neu. So sagt schon Platon im Timaios, 30: »Und so haben wir […] allen Grund zu behaupten, dies Weltall sei ein beseeltes und in Wahrheit vernünftiges Geschöpf […]. Wohl aber dürfen wir es [das Weltall] als demjenigen ähnlich setzen, von dem alle anderen Geschöpfe, im Einzelnen sowie nach Gattungen genommen, nur Teile sind […] und so bildete der Wille Gottes sie als ein einziges sichtbares lebendes Wesen, das alle ihm von Natur verwandten Geschöpfe in sich schließt«. Unter Seele versteht Platon ›die sich selbst bewegende Bewegung‹ 4. In einer Interpretation dieser Idee mit der hier dargestellten Theorie der Organismen kann jedoch nicht der gesamte Kosmos die organismischen Eigenschaften eines Lebewesens erhalten, da sich dann der Kosmos in Beziehung zu einem anderen Kosmos konstituieren müsste, dessen Manifestation seine Umwelt wäre. Aus diesem Grund müsste das Universum von Anfang an aus einer Vielzahl von organismischen Prozesseinheiten bestanden haben, die die Randbedingungen für die Aufrechterhaltung einer bestimmten kosmischen Ordnung nach physikalischen Gesetzen vorgegeben haben. Unter diesen Randbedingungen könnten die in ihnen stattfindenden Energieflüsse nach stationären Zuständen streben, die ideale Formen von Funktionsharmonien repräsentieren. Die Dynamik der kosmischen Entwicklung würde der organismischen Selbstorganisation entsprechen, wenn Abweichungen von den jeweils möglichen idealen Formen ebenfalls Spannungsfelder hervorbrächten. Unter dieser Voraussetzung sollten organismische Prozesseinheiten mit einem niederen Ordnungsgrad auch im Kosmos danach streben, in einem bestimmten Bereich in scheinbar chaotischen Geschehnisse mit hoher
Platon, Gesetze, 895; die Übersetzung stammt von Spyridon Koutroufinis, persönliche Mitteilung.
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199 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Entstehung der ersten Lebewesen in einem abiotischen Milieu
Entropieproduktion wieder ein Gebilde mit einem höheren Ordnungsgrad hervorzubringen. In diesem Prozess hätte jedes einzelne intermediär auftretende Spannungsfeld einen Bezug zu idealen strukturellen Manifestationen stationärer Zustände, mit denen sich zeitlose immaterielle Gestaltprinzipien verwirklichen. Auf diese Weise wäre die kosmische Entwicklung in einem Zusammenwirken von aufeinander abgestimmten Teilprozessen endursächlich auf gegliederte Ganzheiten ausgerichtet, in denen nur die Wechselwirkung der dabei entstandenen gegliederten Elemente wirkursächlich erklärbar ist, nicht aber ihr Werden. Die kosmische Struktur ähnelte damit einer Gesellschaft von Lebewesen, in der das Wechselspiel zwischen Wirkursachen und Endursachen bei Konstitutionsakten kommunikative Züge annimmt. Dies erfüllte die Voraussetzung für eine im Kosmos auftretende schöpferische Dynamik, die in allen Teilbereichen des Universums wirksam wird und aus der schließlich die Galaxien hervorgehen könnten. Mit der hier postulierten Analogie zur biologischen Selbstorganisation ließe sich somit auch die kosmische Entwicklung als eine Abfolge von kreativen Konstitutionsakten interpretieren. In diesem Prozess würden sich dann wie bei Lebewesen diejenigen Strukturen ausbilden, bei denen es unter den gegebenen Umständen zu einer maximal möglichen Differenzierung der Spannungsfelder kommen kann. In einem Sonnensystem ist der Differenzierungsgrad mit einem Planeten, der von Lebewesen bevölkert wird, naturgemäß größer als mit abiotischen Planeten. D. h., wenn die Möglichkeit besteht, durch gegenseitige Anpassungen von abiotischen Energieumsetzungen Lebewesen hervorzubringen, wird diese Möglichkeit ergriffen und es kommt zum Entstehen der ersten Zellen.
8.2. Die Voraussetzungen für eine kontinuierliche Existenz der ersten Lebewesen unter ständig wechselnden Umweltbedingungen Für eine kontinuierliche Existenz der ersten, vermutlich einzelligen Lebewesen mussten die gleichen Voraussetzungen erfüllt worden sein, die für die heutigen Einzeller gelten. Eine funktionelle Einheit der ersten Zellen war nur dann stabil, wenn diese sich an destruktive Milieuänderungen rasch mit einer neuen Organisation anpassen konnte, in der wieder die Teilprozesse in einer angestrebten Funk200 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Voraussetzungen für eine kontinuierliche Existenz der ersten Lebewesen
tionsharmonie potentiell sinnvoll aufeinander abgestimmt waren. Sinnvoll war die Abstimmung dann und nur dann, wenn aus diesem Prozess in Kooperation mit anderen Zellen eine Umwelt hervorging, in der die Teilprozesse der Zellen in unmittelbarer Nähe von angestrebten Funktionsharmonien operieren konnten 5. Wurde diese Umwelt durch neue äußere Einflüsse nachhaltig verändert, dann mussten schon die ersten Zellen in der Lage gewesen sein, eine neue Umwelt mit darauf abgestimmten Funktionsharmonien zu schaffen. In diesem Prozess grenzten sich die ersten Zellen von ihrer Umgebung ab, blieben aber mit ihr in Verbindung. Dies erlaubte, rechtzeitig auf Milieuänderungen reagieren zu können, von denen ihr Energiebedarf und die Aufnahme lebensnötiger Nährstoffe betroffen waren. Nur so konnten die Zellen ihre Teilprozesse in geordneter Weise immer wieder von neuem mit ihrer ungeordneten Umgebung akkordieren. Dazu bedurfte es einer formbildenden Trennschicht, die die Aufnahme und Abgabe von chemischen Substanzen in selektiver Weise steuerte und die Diffusion der Zwischenprodukte des Stoffwechsels in das externe Milieu verhinderte. Außerdem durfte diese Trennschicht eine potentiell sinnvolle und auf die Aktivität anderer Zellen abgestimmte Einwirkung auf Änderungen ihrer Umgebung nicht unterbinden. Die Trennschicht hatte daher die Aufgabe, mit Hilfe ihrer Subsysteme den gesamten Energie- und Substratfluss in die Zelle so zu katalysieren, dass dabei die Funktion anderer Zellen berücksichtigt wurde. Gleichzeitig mussten die Subsysteme der Trennschicht mit Hilfe von informationsverarbeitenden Anpassungsprozessen an der Selbstkonstitution der restlichen Zelle beteiligt sein. Dies erforderte die Existenz eines organismischen Subjekts, das die energiekonvertierenden Subsysteme der Trennschicht mit den Anpassungsprozessen im Zellinneren koordinierte. Von einer Abfolge zellulärer Anpassungsakte bei Milieuänderungen waren daher auch schon in den ersten Zellen zunächst die energiekonvertierenden Subsysteme der Trennschicht betroffen. Erfahrungen über Milieuänderungen wurden nur dann in Selbst-Konstitutionsakten verarbeitet, wenn die angepassten Zustände der Trennschicht so lange existierten, bis die nachfolgenden Anpassungsakte im Zellinneren in geeigneter Weise darauf reagieren konnten. Dies erforderte, dass die Subsysteme der Trennschicht nicht zu rasch Eine Kooperation mit anderen Zellen war deshalb nötig, weil eine einzelne Zelle nicht imstande ist, ihre Umgebung zu einer geeigneten Umwelt umzugestalten.
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201 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Entstehung der ersten Lebewesen in einem abiotischen Milieu
auf jede Milieuänderung reagieren durften, weil sie sonst nicht, wie im Unterkapitel 5.3. ausgeführt, die Fähigkeit besessen hätten, bestimmte Fluktuationsmuster in den externen Einflüssen zu erkennen und in einheitlichen Erfahrungsakten zu integrieren. In dieser Hinsicht hatte die Trennschicht eine eigenständige Funktion zu erfüllen, was voraussetzte, dass die abgegrenzte Struktur eine gewisse Stabilität aufwies. Für die Aufrechterhaltung einer metastabilen Abgrenzung des wässrigen Innenraums vom wässrigen externen Milieu dürfte schon die Trennschicht der ersten Zelle aus Molekülen aufgebaut gewesen sein, bei denen ein unpolarer, Wasser abstoßender Anteil mit einer polaren, hydrophilen Gruppe verknüpft war. Dieser spezielle Molekülaufbau, der in den heutigen Zellen durch Fettsäureketten gewährleistet ist, sorgte dafür, dass in einer Doppelschicht die unpolaren Gruppen im Inneren der Trennschicht – wie die Holzscheite auf einem Holzstoß – parallel aufeinander und die polaren Gruppen an den Außenseiten zu liegen kamen. Damit war die erste Zellmembran entstanden, die sich zu einem kugelförmigen Vesikel zusammenschloss. Auf diese Weise wurde ein wässriger Innenraum von einem wässrigen Außenraum so getrennt, dass polare Gruppen der Doppelschicht mit beiden wässrigen Phasen in Kontakt treten konnten. Aus dieser Anordnung entstanden die ersten Zellen, als der wässrige Innenraum die Enzyme für ein Stoffwechselgeschehen erhielt und in der Trennschicht zwischen den polaren Gruppen energiekonvertierende Subsysteme eingelagert wurden, deren Aktivität auf den Stoffwechsel abgestimmt war. Diese adaptiven Eigenschaften erlaubten den ersten Zellen, Änderungen des externen Milieus mit Hilfe von Anpassungsprozessen der Subsysteme in der Trennschicht zu erfahren und das Ergebnis der Anpassung in geeigneter Form auf andere adaptive Subsysteme im Zellinneren zu übertragen. Auf diese Weise war die Energieumsetzung in der Membran an den Transformationssystemen im Inneren der Zelle in einer durchgängigen operativen Präsenz des Ganzen in den Teilen beteiligt, was eine sinnvolle Interaktion mit ihrer Umgebung ermöglichte. Wir haben die notwendigen Voraussetzungen für die kontinuierliche Existenz der ersten Zellen so ausführlich beschrieben, um zu zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Vorgang auf einer Abfolge von ausschließlich wirkursächlich bestimmten Reaktionen beruht, gegen Null geht. Viel einfacher ist die Erklärung, dass für die kontinuierliche Existenz der ersten Zelle ein Spannungsfeld ver202 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Voraussetzungen für eine kontinuierliche Existenz der ersten Lebewesen
antwortlich war, das physiologischen Vorgängen eine teleologisch ausgerichtete Sinnnotwendigkeit verlieh. Dieses Spannungsfeld hat dann allerdings schon von Anfang an die Bildung der ersten Zellen begleitet. Es ist nämlich nach dem derzeitigen Kenntnisstand völlig unvorstellbar, wie ohne ein derartiges Spannungsfeld eine logische Abfolge von adaptiven Ereignissen entstanden sein soll, die die jeweilige organismische Formeinheit aufrechterhalten hat. Das Postulat eines die Bildung der ersten Zellen koordinierenden Spannungsfeldes ist daher nicht unbegründet. Auf der Basis des gegenwärtigen Kenntnisstandes kann zwar postuliert werden, dass die Asymmetrie der Trennschicht auf Grund der konkaven inneren und der konvexen äußeren Oberfläche zu einer gleichförmig orientierten Ausrichtung von Licht absorbierenden Molekülen mit asymmetrischer Ladungsverteilung geführt hat. Die Anordnung dieser Moleküle wäre mit einer Lipid-Doppelschicht stabilisiert worden und hätte an der Trennschicht eine elektrochemische Potentialdifferenz und einen gerichteten Transport von Protonen oder anderen Ionen über die Trennschicht verursachen können. Mit der asymmetrischen Verteilung dieser Ionen ließ sich dann der Aufbau eines Energiespeichers (vermutlich Polyphosphate) katalysieren, der mit hohem Energieübertragungspotential den Energiebedarf des Stoffwechsels gedeckt hätte. Dieses Modell erklärt jedoch nicht die gegenseitige Abstimmung der dabei beteiligten Teilprozesse als ein interdependentes Werden, das eine umfassende Teleologie erfordert. Gemäß der oben dargestellten Analyse verdanken die ersten Zellen ihre fortdauernde Existenz einem Zellgedächtnis für diejenigen biochemischen Prozesse, mit denen in der Vergangenheit bei Umweltänderungen sinnvolle Strukturen erzeugen wurden. Die Unzahl von anderen Reaktionen, die sich in ihrem Inneren ereigneten und die zur Begründung einer Konstitutionstradition nichts beitrugen, wurde dann vergessen. Dabei muss beachtet werden, dass schon die Zellen nur dann ausreichend stabil blieben, wenn sie danach strebten, negative Einflüsse durch das externe Milieu zu verringern, was die Fähigkeit zu einer gewissen Entscheidungsfindung für nachfolgende Selbstkonstitutionen in Erfahrungsakten voraussetzte. Für die weitere Evolution der Organismen war entscheidend, dass organismische Freiheit sich in dem Maß verwirklichte, in dem die sich entwickelnden Lebewesen bei der Gestaltung ihrer Umgebung differenziertere Strukturen ausbilden konnten. Auch hier war es nötig, dass die sich differenzierenden Spannungsfelder von einem 203 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Entstehung der ersten Lebewesen in einem abiotischen Milieu
übergeordneten Feld koordiniert wurden. Dies führte zu symbiotischen Assoziationen, die nur dann stabil waren, wenn sich jede einzelne Zelle an Milieuänderungen anpassen konnte, die von der Organismengesellschaft als ganzer hervorgerufen wurde. Bei diesem Vorgang fanden gleichzeitig die dafür nötigen terrestrischen Veränderungen statt, wobei im Zusammenwirken verschiedener Biozönosen mit terrestrischen Faktoren und dem Energiefluss von der Sonne die Grundlagen für höhere Lebensformen geschaffen wurden. Die Ausbildung stationärer terrestrischer Zustände mit maximaler Differenzierung hat Lovelock mit seiner »Gaia-Hypothese« beschrieben 6.
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Lovelock 1992.
204 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
9. Die Evolution der Bakterien, höheren Pflanzen und Tiere in einer cokreativen Höherentwicklung
9.1. Die Entwicklungsgeschichte der Bakterien Beim Entstehen der Erde, vermutlich durch einen Zusammenstoß von kleineren Planeten, verflüssigte die dabei freiwerdende Energie das größere planetarische Gebilde. Die schwereren Substanzen wie metallisches Eisen akkumulierten sich im Inneren des flüssigen Gemisches und die leichteren erzeugten an der Oberfläche nach der Abkühlung die Erdkruste. Durch Kondensation von Wasserdampf, der aus dem Erdinneren ausgaste, entstand das flüssige Wasser auf der Erdoberfläche und eine erste Atmosphäre, die hauptsächlich Kohlendioxyd, etwas Stickstoff, Wasserstoff und Schwefelwasserstoff, aber keinen Sauerstoff enthielt. Die Wärmeproduktion der Sonne dürfte damals um etwa 25 % geringer als heute gewesen sein; dies wirkte sich aber nicht auf die Temperatur der Atmosphäre aus, da das entsprechende Wärmedefizit durch den größeren Treibhauseffekt auf Grund des erhöhten Gehalts an atmosphärischem Kohlendioxyd kompensiert wurde, das die von der Erde reflektierte Infrarotstrahlung absorbierte. Dadurch blieb die Temperatur auf der Erde in einem Bereich, der die Entstehung der ersten Zelle ermöglichte, außerdem dürften nach dem Theorem von Morowitz im Wasser schon die dafür benötigten organischen Verbindungen vorhanden gewesen sein (siehe oben). Hätten die in dieser Periode auf der Erde herrschenden Bedingungen länger angedauert, dann wäre die Entstehung der Lebewesen nicht mehr möglich gewesen. Durch radioaktiven Zerfall war die Wärmeproduktion im Erdinneren etwa drei Mal so groß wie heute. Heftige vulkanische Tätigkeit führte zu chemischen Reaktionen des Meerwassers mit dem Vulkangestein, bei denen sich Wasserstoff bildete, der in der Atmosphäre aufstieg und in den Weltraum entwich. Dadurch wurde der Wassergehalt auf der Erde kontinuierlich verringert und die Erde wäre unbewohnbar geworden, wenn dieser Vorgang 205 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Evolution der Bakterien, höheren Pflanzen und Tiere
nicht durch das Auftreten der ersten Cyanobakterien verhindert worden wäre. Sie entwickelten aus dem Wasser ihres Lebensraumes durch die Photosynthese Sauerstoff, der mit dem vorhandenen Wasserstoff reagierte und diesen wieder in Wasser zurück verwandelte. Allerdings hätte die alleinige Tätigkeit der Cyanobakterien eine negative Auswirkung auf das Klima gehabt, da in der Photosynthese das atmosphärische Kohlendioxyd verbraucht worden wäre. Dies hätte die schützende Treibhausgasschicht verringert, eine Abkühlung der Erde verursacht und die wassererhaltende Aktivität der Cyanobakterien beendet. Eine derartige negative Entwicklung wurde jedoch durch das gleichzeitige Auftreten von methanogenen Bakterien verhindert, die aus dem in der Photosynthese gebildeten organischen Material Methan produzierten. Das dabei erzeugte Methan bildete in der oberen Atmosphäre eine schützende Gasschicht. Sie absorbierte die ultravioletten Strahlen der Sonne und bewirkte, dass Schwefelwasserstoff und Ammoniak nicht abgebaut wurden, sondern den Bakterien für ihre Vermehrung zur Verfügung standen. Auf diese Weise schufen die ersten Organismen die Voraussetzungen für die weitere Entwicklung anderer Lebewesen. Bei diesem Vorgang entwickelte sich die erste Lebensgemeinschaft in einer erdgeschichtlich relativ kurzen Zeit. Die Aktivitäten der beteiligten Organismen wurden dabei so aufeinander eingestellt, dass die Temperatur auf der Erde und die Zusammensetzung der atmosphärischen Gase in der gesamten Periode des Archaikums einigermaßen konstant blieben. Erst am Ende des Archaikums, das vor 3,7 Milliarden Jahren begann und vor 2,5 Milliarden Jahren endete, hörte dieser stationäre Zustand auf. Es kam zu einem Anstieg des Sauerstoffgehalts in der Atmosphäre, der Gehalt an Kohlendioxyd und Methan verringerte sich, was mit einem Absinken der Temperatur einherging und zu einer Eiszeit führte. In diesem Streben nach Erreichen und Aufrechterhalten stationärer Zustände verhielt sich die Erde von Anfang an wie ein einziger Organismus, der die verschiedenen Lebewesen und ihre Umwelten umfasste. Wir dürfen daher in einer Verallgemeinerung der hier präsentierten Theorie der Organismen postulieren, dass gleichzeitig mit dem Entstehen der ersten Lebensgemeinschaften auch der auf der Erde vorhandene Energiefluss nach dem Fließgleichgewicht einer terrestrischen Funktionsharmonie strebte. Abweichungen von dieser Funktionsharmonie erzeugten ein terrestrisches Spannungsfeld, das die gegenseitige Einstellung der Organismen so leitete, dass das Fließgleichgewicht wieder einen stationären Zustand einnahm. In dieser 206 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Entwicklungsgeschichte der Bakterien
Periode der Evolution manifestierte sich das Artgedächtnis der einzelnen bakteriellen Organismen in einem gemeinsamen Verhalten der interagierenden Populationen. In diesem Prozess war das individuelle Gedächtnis untrennbar mit dem Artgedächtnis verbunden. Da der terrestrische Energiefluss eine Vielzahl von organismischen Energieflüssen umfasste, die ihrerseits danach strebten, stationäre Zustände einzunehmen, entstand eine Hierarchie von Spannungsfeldern. Sie leitete die gegenseitige Anpassung der Organismen in einem Prozess, in dem sich übergeordnete und untergeordnete Felder gegenseitig beeinflussten, wobei jedes dieser Felder der Entfernung von einem Zustand innerweltlicher Harmonie entsprach. Bemerkenswert ist, dass nach dem Archaikum bis zur Gegenwart durch entsprechende biogeochemische Prozesse ein Klima mit moderaten Temperaturen aufrechterhalten wurde, obwohl seitdem die Wärmezufuhr durch die Sonne zunahm. Der Regelkreis aus biologischen Aktivitäten und den dadurch beeinflussten geochemischen Veränderungen hat immer die Milieubedingungen erzeugt, die der Evolution der Lebewesen dienten. Man ist daher zu dem Schluss berechtigt, dass die terrestrischen, maritimen und atmosphärischen Veränderungen und die darin eingebetteten biologischen Entwicklungen in einem Sinnzusammenhang standen, aus dem eine ständig ablaufenden Kommunikation zwischen den Organismen hervorging. Die Weiterentwicklung der Organismen kam über diese Kommunikationsakte zustande. Sie repräsentieren die Elementarereignisse der Evolution als geschichtlichen Prozess, der die Veränderung von Organismengemeinschaften und des terrestrische Milieus umfasste. Dabei entstanden in einem Sozialleben auf der Basis einer Höherentwicklung von organismischen Formen und Verhaltensweisen ständig neue Problemlösungsstrategien. Die Vernetzung innerhalb einer Organismengesellschaft nahm in dem Maße zu, in dem die wechselseitige Erfahrung in Kommunikationsakten immer größere Bereiche umfasste. Dies ging mit einer Differenzierung der organismischen Strukturen und der davon abhängigen Erfahrungen der Manifestationen anderer Organismen einher. Auf diese Weise begann der geschichtliche Prozess mit einer Gesellschaft einzelliger Organismen im Archaikum und führte im Proterozoikum zu komplexeren zellulären Strukturen in Gesellschaften eukaryontischer Zellen. Ein erhöhter Sauerstoffbedarf wurde durch eine Zunahme des Sauerstoffgehalts in der Luft befriedigt, wobei auch hier wieder die Aktivität der Konsumenten und Produzenten 207 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Evolution der Bakterien, höheren Pflanzen und Tiere
des Sauerstoffs aufeinander abgestimmt wurde. Dies ermöglichte weiter im Phanerozoikum die Entstehung von Pflanzen und Tieren in den darauf abgestimmten heutigen Landschaften.
9.2. Die Entstehung eukaryontischer Zellen aus symbiotischen Assoziationen von Bakterien Symbiotische Assoziationen von Bakterien operierten wie multizelluläre Organismen, deren Umwelterfahrung einen weiteren Bereich externer Faktoren umfasste als die Erfahrung einzelner Organismen 1. Ihre Existenz wurde in der frühen Evolution der Organismen durch den Umstand begünstigt, dass sie die vorhandenen Nährstoffe in kooperativer Weise ausnützen konnten, indem der Stoffwechsel von unterschiedlich spezialisierten Zellen, z. B. über einen InterspeziesWasserstofftransfer 2, miteinander verknüpft wurde. Ein anderes Beispiel ist die symbiotische Assoziation eines beweglichen heterotrophen Bakteriums mit einem unbeweglichen autotrophen Bakterium. Das heterotrophe Bakterium ist auf energiereiche, organische Verbindungen im externen Milieu angewiesen, das autotrophe Bakterium erzeugt die von ihm benötigten energiereichen Verbindungen in der Photosynthese. In einer symbiotischen Assoziation ist das heterotrophe Bakterium nicht mehr von externen, organischen Verbindungen abhängig, weil es das autotrophe Bakterium zum Licht transportiert, wo dieses die Energie für die Synthese organischer Substanzen vorfindet. Indem das autotrophe Bakterium einen Teil der von ihm synthetisierten organischen Verbindungen dem heterotrophen Bakterium zur Verfügung stellt, ernährt es dieses und zeigt ihm an, in welche Richtung es schwimmen soll. Auf diese Weise ermöglichen symbiotische Gemeinschaften ›strukturelle Kopplungen‹ und ›Interpenetrationen‹ 3. Dies führt zu ›Erfahrungen zweiter Ordnung‹, bei denen jeder Organismus in seinen Umwelterfahrungen sich an die Operationen seines Partners anpasst, der selbst andere Umwelten erfährt. In einem nächsten Schritt bei der Entstehung eukayontischer Zellen wanderten kleinere extrazellulär assoziierte Symbiose-Partner 1 2 3
Shapiro 1998. Zehnder, 1988. Luhmann 1984, 286 ff.
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Die Entstehung eukaryontischer Zellen aus symbiotischen Assoziationen
in das Zellinnere der größeren Partner. Dies betraf Bakterien, die freilebend ihren Energiebedarf ineffizient aus der Vergärung organischer Verbindungen deckten. Daneben existierten damals schon Bakterien, die freilebend mit Hilfe der Sauerstoffatmung viel effizienter Energie aus organischen Verbindungen gewinnen konnten. In einer extrazellulären Symbiose war der Energieaustausch zwischen beiden Partnern nicht optimal, weil umgesetzte Substrate in die wässrige Umgebung diffundierten und verloren gingen. Wenn die atmenden Bakterien von den Gärern in das Zellinnere aufgenommen wurden, konnte die vorhandene Energie besser aufgeteilt werden als in einer extrazellulären Symbiose. Von den so entstandenen intrazellulären Assoziationen der beiden ehemals extrazellulären Symbiose-Partner profitierten daher beide Zelltypen. Die atmenden Bakterien waren nicht mehr ungünstigen Milieueinflüssen ausgesetzt und den Gärern stand mehr Energie zur Verfügung als in der ursprünglichen Lebensform. Eine Symbiose dieser beiden Typen von Bakterien brachte die eukaryontischen Zellen der Tiere hervor, bei denen die ehedem intrazellulären atmenden Bakterien zu Mitochondrien wurden. Aus einer zusätzlichen Assoziation eines derartigen Konsortiums mit intrazellulären photosynthetischen Cyanobakterien erwuchsen die eukaryontischen Zellen der Pflanzen, deren Chloroplasten von den vormaligen Cyanobakterien stammen. In einer Situation, in der jede der beteiligten Zellen die Umwelt der anderen Zellen war, entstand damit eine für die neue organismische Ganzheit verbindliche Umwelt. Zu ihr gehörte auch eine gemeinsame DNS-Umwelt der vorher in der extrazellulären Symbiose lebenden Partner. Bei diesem Prozess verschmolzen die Artgedächtnisse aller beteiligten Partner des intrazellulär symbiotischen Konsortiums zu einem einzigen Artgedächtnis. Es verschwanden aber nicht die Strukturen der Individuen, die vormals eine eigenständige Existenz führten. Sie blieben als Organellen (Mitochondrien und Chloroplasten) weiter bestehen, weil sie auf diese Weise ihre frühere Fähigkeit der effizienten Energieverwertung in die neue organismische Ganzheit einbringen konnten. Dies wurde auch von der Theorie der Wirkwesen berücksichtigt: »Bei der Höherentwicklung werden die vorangehenden Strukturen als Substrukturen in die nachfolgenden Strukturen integriert« 4. Für diesen Prozess gilt nach der Theorie der Wirkwesen: »Die höheren Stufen sind nicht auf die niederen zurückführbar, sondern durch echte Neuschöpfun4
Band I der vorliegenden Schriftenreihe über Biophilosophie, Fetz 2019, 3.4.7.
209 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Evolution der Bakterien, höheren Pflanzen und Tiere
gen aus ihnen hervorgegangen« 5. Daraus konnte geschlossen werden: »Der Entwicklungsprozess sowohl der einzelnen Wirkwesen als auch der Wirkwesen insgesamt beruht auf einer Filiation von Strukturen« 6. Dieser Entwicklungsprozess veranschaulicht die kreative Rolle des Zellgedächtnisses bei der Schaffung neuer organismische Einheiten. Dabei werden in energetischer Hinsicht auf immer effizientere Weise die vorher erfahrenen Funktionsharmonien so aneinander angepasst, dass diese Einheiten zu größeren Freiheiten bei Gestaltungen ihrer Umwelt kommen. Der Ausgangspunkt für diese Dynamik war die Existenz von bakteriellen Artengemeinschaften, in denen sich die einzelnen Organismen in Hinblick auf eine optimale Verwertung der vorhandenen Energie in einer Funktionsharmonie aneinander angepasst haben (siehe Unterkapitel 5.4.1.). Hier erfuhr jede Zelle nicht nur Änderungen der eigenen Umwelt, sondern über den gemeinsamen Energiefluss durch die Biozönose indirekt auch Änderungen in der Umwelt anderer Organismen. Die Erinnerungen an die gegenseitige Erfahrung von aufeinander abgestimmten Organismen konkretisierten sich zunächst in der Bildung extrazellulärer, symbiotischer Assoziationen. Sie waren sinnvoll, weil die Partner durch eine gemeinsame Verwertung gespeicherter Ressourcen unabhängig von der lokalen Verfügbarkeit bestimmter Nährstoffe wurden und dadurch mehr Freiheit gewonnen hatten als in isolierter Lebensform. In einer weiteren Entwicklung des Zellgedächtnisses entstanden immer komplexere Lebensformen. Dabei konkretisierte sich die Erinnerung an extrazelluläre, symbiotische Assoziationen im Entstehen intrazellulärer, symbiotischer Assoziationen. Dies führte zur Existenz intrazellulärer Lebensgemeinschaften von größeren Bakterien mit kleineren endosymbiotischen Bakterien, die zu aerober Atmung und zu Photosynthese befähigt waren. Die Erinnerung an diese Lebensgemeinschaft konkretisierte sich in einem nächsten Schritt in der Evolution der eukaryontischen Zellen von Tieren und Pflanzen. Auf dieser Organisationsstufe bildeten sich bei der gegenseitigen Anpassung von eukaryontischen Einzellern, die die vorhandenen Ressourcen unterschiedlich verwerten, Gesellschaften von aufeinander abgestimmten, eukaryontischen Zelltypen. Die Erinnerungen an deren Funktionsharmonien konkretisierten sich in einem weiteren Schritt 5 6
Ebenda, 3.2.5. Ebenda, 3.4.8.
210 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die pflanzlichen Wuchsformen als Ergebnis einer Beziehung
in der Bildung verschiedener, vielzelliger Organismen, die nach neuen Funktionsharmonien eines höher entwickelten Artgedächtnisses strebten. Wenn einzelne Zellen von derartigen vielzelligen Organismen Umweltänderungen auf unterschiedliche Weise erfuhren und an nachfolgende Konstitutionsakte weitergaben, entstanden die individuellen Gedächtnisformen. Sie enthalten eine Erinnerung an externe Einflüsse, an die sich Organismen in ihrer individuellen Entwicklung angepasst haben (siehe Unterkapitel 4.2.1). Dies war die Grundlage für die Erfahrung eines größeren Spektrums von externen Einflüssen und führte zur Notwendigkeit, die erfahrenen Einflüsse in kohärenten Weltbezügen zu integrieren. Durch die gegenseitige Abstimmung der diversen vielzelligen Organismen kam es in einer Biozönose zu einer Zunahme der Möglichkeiten, organismische Freiheit in distinkten Selbstkonstitutionsakten zu verwirklichen. Die Pflanzen bildeten vielzellige Lebewesen aus, bei denen ein Teil der Zellen als Wurzeln aus dem Erdreich die lebensnotwendigen Nährstoffe absorbierte und ein anderer Teil über der Erde das Licht der Sonne als Energiequelle nutzen konnte. Die Tiere profitierten von dieser Fähigkeit, indem sie sich von den Pflanzen ernährten. Die damit verbundene Differenzierung innerhalb der Organismengemeinschaften in vielzellige Gebilde ging mit einer Differenzierung der dazugehörigen organismischen Spannungsfelder einher 7. Aus diesem Prozess resultierten schließlich bei Tieren durch ein Zusammenspiel von sensorischen und motorischen Zellen mit Nervenzellen höhere kognitive Leistungen in Erfahrungsakten, bei denen sich das individuelle Gedächtnis in zunehmenden Maß vom Artgedächtnis entfernte.
9.3. Die pflanzlichen Wuchsformen als Ergebnis einer Beziehung zwischen Bakterien, Pflanzen und Tieren In der Entstehungsgeschichte pflanzlicher Wuchsformen spielte die in Unterkapitel 5.4.2.1. beschriebene Selbstkonstitution von Pflanzen bei der Erfahrung ihres Lebensraums eine große Rolle. Die Lebensraumerfahrung der Pflanzen bestimmte auch deren Interaktion mit Bakterien, mit anderen Pflanzen und mit Tieren. Manche Pflanzen Vgl.: Anm. zu: The Systems-Theoretical Perspective of the Evolution of Species, Falkner and Falkner 2013a, 108–111.
7
211 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Evolution der Bakterien, höheren Pflanzen und Tiere
bilden zur Abwehr tierischer Fressfeinde gewisse oberirdische Organe (z. B. Blätter) zu Dornen um oder bewehren sich mit Stacheln. Blüten von Pflanzen, die von Insekten bestäubt werden, weisen in Anpassungen an deren körperliche Ausstattung spezielle morphologische Bildungen auf (z. B. Ophrys insectifera, deren Blüten wie Insekten aussehen). Bäume entwickelten die Fähigkeit, den Kontakt zu den Kronen anderer Bäume zu vermeiden. Die unterirdischen Wurzeln der Pflanzen gestalten ihr Wachstum so, dass sie zur Aufnahme anorganischer Nährstoffe wie Ammonium, Nitrat und Phosphat, aber auch von Wasser optimal geeignet sind. Zu diesem Zweck durchziehen sie riesige Bodenareale mit Wurzeln sehr unterschiedlicher Dimensionen, bis hin zu ganz feinen Haarwürzelchen. Die Verankerung der Pflanze im Boden erfolgt mit kräftigen Wurzelsträngen (z. B. Pfahlwurzel). Die Wurzeln verschiedener Pflanzen können sowohl in komplexer Weise miteinander interagieren, als auch sich durch ›Revierabgrenzungen‹ gegen die Wurzeln anderer Pflanzen abschotten. Interaktionen gibt es nicht nur zwischen Wurzeln untereinander, sondern auch mit anderen Organismen. So leben die Wurzeln vieler Bäume in Symbiose mit Hyphengeflechten von Bodenpilzen (Mykorrhiza), von denen sie Nährstoffe im Austausch gegen Photosyntheseprodukte erhalten. Neben dem Nährstoffaustausch werden die Wurzeln durch diese Symbiosen aber auch vor Infektionen durch das Eindringen unerwünschter Bakterien geschützt. Darüber hinaus entwickeln höhere Pflanzen Abwehrstrategien gegen parasitische Pilze, die in ihre Wurzeln eindringen und sie aussaugen. Fabaceen (wie Lupinen) bilden an ihren Wurzeln spezielle Organe aus Wucherungen des Wurzelrindengewebes in Form von Knöllchen aus, in denen sie symbiotische, stickstofffixierende Bakterien beherbergen. Diese Bakterien verwandeln atmosphärischen Stickstoff in Ammoniumionen (NH4+), die die Pflanzen für ihr Wachstum benötigen. Als Gegenleistung stellen die Pflanzen den Bakterien organische Verbindungen als Energiequelle für ihre Stoffwechselaktivitäten zur Verfügung. Pflanzen reagieren in potentiell sinnvoller Weise auf flüchtige organische Substanzen, die mit Rezeptoren in der Zelloberfläche von Wurzeln und Blättern aufgenommen werden. Darüber hinaus sind die ober- und unterirdischen Teile der Pflanze in der Lage, mit ihrer Umgebung und anderen Organismen mit Hilfe einer gewissen Form von ›Tastsinn‹ in Wechselwirkung zu treten. Der Kontakt zur Außenwelt über den Tastsinn wird durch ›mechanosensible Kanäle‹ vermit212 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die pflanzlichen Wuchsformen als Ergebnis einer Beziehung
telt, die besonders in der Epidermis lokalisiert sind. Diese Kanäle dürften auch bei der Wahrnehmung von Schwingungen im Boden eine Rolle spielen 8. Aber auch rasche Veränderungen der Erscheinungsform der Pflanzen werden vom Tastsinn gesteuert. So kann Mimosa pudica, die ihre Blätter bei Berührung schließt, zwischen verschiedenen Reizen unterscheiden. Die Blätter schließen sich nur bei bestimmten Berührungen, nicht aber bei Wind oder Nässe. Besonders ausgeprägt ist der Tastsinn für die Bewegung der Blätter von fleischfressenden Pflanzen. So werden Insekten von der Venusfliegenfalle (Dionaea muscipula) durch den Duft eines Sekrets angelockt. Im Inneren der Fangblätter befinden sich Fühlborsten, von denen mindestens zwei innerhalb von 30 Sekunden berührt werden müssen, bevor die Fangblätter zuklappen. Da die verdauten Insekten als Stickstoffquelle dienen, kann diese Pflanze auf stickstoffarmen Böden wachsen. Der Tastsinn bestimmter Blumen ist auch dafür verantwortlich, dass sich die Blüten weiter öffnen, wenn sie von Insekten besucht werden, die mit Pollen beladen sind. Die Bewegungen höherer Pflanzen, aber auch die in Unterkapitel 5.4.2.1. beschriebene ›Intelligenz‹ der Pflanzen bei der Beziehung zu ihrer Umgebung, beruhen auf einem sinnvollen Zusammenwirken einer Vielzahl von Zellen. Dieses Zusammenwirken ist allerdings nicht so gut koordiniert wie bei tierischen Zellen. Die Anpassungsvorgänge in den Blättern eines Baumes wirken sich erst viel später auf die Stoffwechselaktivität der Wurzeln aus, weil die Wurzeln von Änderungen des Energieflusses durch die Blätter zunächst nicht unmittelbar betroffen sind. Diese zeitlichen Verzögerungen sind dafür verantwortlich, dass Variationen in der Formgestalt innerhalb einer Art viel stärker sind als bei Tieren. Ganz offensichtlich werden die Anpassungs- und Erfahrungsprozesse der verschiedenen Teilorgane nicht von einem einzigen individuellen Gedächtnis geleitet. Die räumlich getrennten Energieflüsse fungieren als Träger mehrerer individueller Gedächtnisse, die die Selbstkonstitutionsakte der einzelnen Zellen in den verschiedenen Teilorganen leiten. Das Artgedächtnis besitzt die Fähigkeit, die unterschiedlichen Anpassungen von jedem der individuellen Gedächtnisformen zur Aufrechterhaltung einer Formeinheit zu integrieren. Dabei entstehen große Unterschiede in der äußeren Erscheinungsform einer Art. 8
Mancuso und Viola, 2015.
213 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Evolution der Bakterien, höheren Pflanzen und Tiere
Das ›Wissen‹ des Artgedächtnisses der Pflanze über eine potentiell sinnvolle Veränderung der Formgestalt in ihrer jeweiligen Biozönose erstreckt sich auch auf die verschiedenen Interaktionsformen zwischen Pflanzen und Tieren. Dazu gehört die Verbreitung der Samen durch Vögel und andere Tiere, aber auch die Übertragung von Pollen (den männlichen Keimzellen) durch Insekten zum Fruchtknoten einer anderen Blüte, in der sich die weiblichen Keimzellen befinden. Bei diesem Vorgang, bei dem die Insekten vom zuckerhaltigen Nektar profitieren, werden häufig den ganzen Tag lang in einer ›Blütentreue‹ die gleichen Blüten besucht, was Kreuzbestäubung mit anderen Arten vermeidet. Bei der Übertragung von Pollen können auch andere Tiere beteiligt sein, wie Kolibris, Fledermäuse, Beuteltiere und sogar Primaten. Auch ein ›Wissen‹ über die Abwehr von Fressfeinden durch toxische und abschreckende sekundäre Pflanzenstoffe sowie durch die Produktion von Substanzen, die Fressfeinde der angreifenden Tiere anlocken, enthält jede der verschiedenen Formen des Artgedächtnisses von Pflanzen. Damit stellt sich die Frage, wie die verschiedenen Formen des Artgedächtnisses von Bakterien, Pflanzen und Tieren von der Beziehung zwischen diesen Organismen beeinflusst werden. Diese Frage kann im Sinne Bergsons damit beantwortet werden, dass in jeder der Formen des Artgedächtnisses die übergeordnete Funktionsharmonie der Biozönose präsent ist, aber in je eigener Perspektive. Auf diese Weise wird bei Pflanzen die Funktionsharmonie der Biozönose als allgemeines, ideelles Regulativ nicht nur in den besonderen Manifestationen des Artgedächtnisses, sondern auch bei den einzelnen Funktionen des individuellen Gedächtnisses wirksam. Mit anderen Worten, die Funktionsharmonie einer Bakteriengesellschaft wird bei der Pflanze in einem einzigen Organismus so wiederholt, dass das daraus resultierende Artgedächtnis mit seinen individuellen Gedächtnisformen die Biozönose perspektivisch widerspiegelt. Bei der Individualentwicklung einer Pflanze aus einer einzigen Zelle entfalten sich diese Perspektiven in einem logischen Zusammenhang von idealen Formen von Funktionsharmonien, die die Selbstgestaltung der jeweiligen Pflanze leiten. Aus diesem Grund kann sich eine ganze Pflanze aus einer einzigen Zelle entwickeln, wird dabei aber viel stärker von der Funktion des individuellen Gedächtnisses in der jeweiligen Biozönose bestimmt.
214 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Höherentwicklung der Tiergestalten
9.4. Die Höherentwicklung der Tiergestalten Auch bei Selbstkonstitutionsakten, die zu evolutionären Veränderung von Tiergestalten führen, werden sinnvolle Ergebnisse vorheriger Selbstkonstitutionen übernommen, wobei ›sinnvoll‹ den Rückgriff auf Bewährtes bezeichnet. Dabei kommt es in einer Erinnerung an vorher erzeugte Strukturelemente zu einer Weiterentwickelung dieser Elemente, wenn die Milieubedingungen neue Selbstverwirklichungsmöglichkeiten zulassen. In dieser Übernahme und Modifikation der Ergebnisse vorheriger Schöpfungen manifestiert sich die kreative Rolle des Gedächtnisses in Entwicklungsprozessen (siehe Unterkapitel 5.5.). Die geschichtliche Dimension des evolutionären Wandels der Tiergestalten wird sichtbar, wenn man die Gesamtheit aller tierischen Erscheinungsformen in einer Stufenfolge anordnet, die den Anstieg der Erlebensintensität bei Selbstverwirklichungsakten berücksichtigt. Diese Aufgabe wurde von Adolf Portmann geleistet. Die mechanistische Biologie ignoriert seine Ideen weitgehend, auch weil sie sich auf das Studium einiger weniger ›Modellorganismen‹ beschränkt. Dies führt zu einem eingeschränkten Blickwinkel, weil auch hier das Wahre nur im Ganzen zu finden ist. Die im sechsten Kapitel dargestellten Thesen stehen in Einklang mit den Ideen Portmanns und liefern eine zusätzliche Begründung für deren Fruchtbarkeit. Die Sichtweise Portmanns eröffnet die Möglichkeit für ein vertieftes Verständnis der von uns präsentierten Theorie der Organismen. Es erscheint daher sinnvoll, diese Sichtweise hier zu referieren und mit zusätzlichen Interpretationen zu versehen. Zu Beginn der Höherentwicklung von Tiergestalten entstanden größere organismische Strukturen, die aus gleichartigen Teilen zusammengesetzt waren. Dabei wurden diejenigen Konstruktionsprinzipien wieder verwendet, die sich beim Aufbau fadenförmiger, mehrzelliger Strukturen bewährt hatten. Dies führte zum Entstehen einer segmentartigen Gliederung der Tierkörper, die in unterschiedlicher Weise bis in die heutige Zeit bei einfachen Organismen beibehalten wurde (bei Regenwürmern, Raupen und niederen Wirbeltieren, wie z. B. dem Salamander). Bei höher entwickelten Tiertypen wurden Segmente nur in den frühen Stadien der Individualentwicklung gebildet, später wich die äußere Erscheinungsform von der embryonalen Struktur ab. Dabei wurden mehrere Segmente zu größeren Einheiten zusammengefasst, wenn sich dadurch Strukturen ergaben, die 215 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Evolution der Bakterien, höheren Pflanzen und Tiere
eine größere Beweglichkeit bei der Umgestaltung der Umgebung ermöglichten. Auf welche Weise dies in den Selbstkonstitutionsakten erfolgte, hing davon ab, wie die einzelnen Tiertypen mit den dabei entstandenen Strukturen ihre Lebenswelt erfahren konnten. Bei Seesternen erzeugte die Gruppierung gleichartiger Segmente um eine vertikale Achse eine strahlige Struktur, die eine gewisse Ausbreitung in die Umgebung ermöglichte. Bei Fischen blieb der segmentale Grundplan erhalten, weil dadurch das Schwimmverhalten nicht beeinträchtigt wird. Bei Vögeln und Säugern, die sich in der Luft und auf dem Land fortbewegen, musste der Grundplan gleichzeitig mit der Umbildung der Fischflossen zu Flügeln, Fingern und Zehen abgeändert werden. Dabei wurden bei Huftieren zunächst in der frühen evolutionären Phase mehrzehige Hufe (in Analogie zu anderen Säugern) gebildet. Daraus entstanden aber später die heutigen Hufe, bei denen nur mehr die dritte Zehe voll entwickelt ist, was mit einer größeren Bewegungsfreiheit einhergehen dürfte. Die Mehrheit der Tiere ist in der äußeren Erscheinungsform zweiseitig symmetrisch. Im frühen Embryonalstadium höherer Tiere trifft dies auch für die Anlagen der inneren Organe zu. »Nur bei einfachsten Formen zweitseitiger Tiere kann die strenge Symmetrie der Anlage auch im reifen Körper für alle Organe bestehen bleiben« 9. Dies kann damit erklärt werden, dass bei der Selbstkonstitution einfacher Tiergestalten das Streben nach Verwirklichung idealer Formen in kohärenter Weise alle Teile des sichtbaren Körpers umfasst. Die Harmonie der äußeren Erscheinungsform reflektiert hier die Funktionsharmonie der inneren Organe. Bei höheren Lebewesen ist das nicht möglich, denn hier würde eine symmetrische Anordnung aller inneren Strukturen die Positionierung unterschiedlich differenzierter Organe verhindern, die Aufgaben für den Körper als Ganzes übernehmen, wie dies bei der Leber der Fall ist. Dies betrifft auch die Differenzierung des Gehirns, das seinerseits wieder mit unterschiedlichen Regionen eine Intensivierung der Erfahrung von Milieuänderungen ermöglicht. Die Gewinnung größerer Oberflächen bei inneren Organen (wie dem Darm) erfordert eine Ausbreitung der zellulären Strukturen, wie sie auch bei Pflanzen vorkommt, wo ein Teil des Körpers in mehrere Richtungen des Raums durch Bildung gleichartiger Teile wächst. Eine durchgängige Symmetrie in der Erscheinung höherer Lebewesen ist daher bei einer transparenten kör9
Portmann 1965, 26.
216 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Höherentwicklung der Tiergestalten
perlichen Struktur nicht mehr aufrecht zu erhalten. Eine symmetrische Erscheinungsform kann jedoch wiedergewonnen werden, wenn die asymmetrisch angeordneten, inneren Organe von einer symmetrischen Hülle aus undurchsichtigem Gewebe umgeben werden. Da dieses Gewebe in einer artspezifischen Weise einen äußeren Eindruck der Innerlichkeit repräsentiert (siehe unten), wird es auch im Verlauf einer evolutionären Höherentwicklung in dem Maße verändert, in dem die Empfindungsfähigkeit der Organismen zunimmt. Als besonders anschauliches Beispiel für den geschichtlichen Aspekt dieses Prozesses darf die Schalenbildung bei Mollusken angeführt werden.
9.4.1. Die Schalen der Mollusken Die Molluskenschale wird von einer Hautfalte gebildet, mit der das Tier den Körper umhüllt oder teilweise verbirgt. An der Außenseite dieser Falte wird mit anorganischem und organischem Material die Schale aufgebaut. Im Wachstum des Weichtiers vergrößert sich die Schale durch Erweiterung der Randzone. Wenn das Schalenwachstum an allen Seiten gleichmäßig erfolgt, dann entsteht ein kegelförmiges Gehäuse. Wächst der eine Rand stärker, dann rollt sich das Gehäuse in einer Spirale über den Kopf ein und führt zur Bildung eines Schneckenhauses. Fossile Funde zeigen, dass diese Wachstumstypen, die eine asymmetrische Anordnung der inneren Organe (besonders des Eingeweidesacks) erfordern, schon bei frühesten Weichtieren verwirklicht wurden. Davon ausgehend fand Portmann folgende Grundregel der Gestaltung: »der größte Formenreichtum, die größte Verschiedenheit und das Maximum der Schalenbildung findet sich bei den Mollusken der rangniedrigeren Organisationsstufe«. Hier wurde offensichtlich vom Artgedächtnis in enger Verbindung mit dem individuellen Gedächtnis der größte Ausdruck innerer Funktionsharmonien in der gleichbleibenden Form einer äußeren Schale gefunden. Sie wurde dann vom Artgedächtnis bei adaptiven Selbstkonstitutions- und Erfahrungsprozessen vererbt. Dem entspricht Portmanns zweite Regel: »die Schalen sind gerade bei den höchstorganisierten Molluskengruppen am dürftigsten ausgebildet, wenn sie nicht gar fehlen« 10. Dies 10
Portmann 1965, 106.
217 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Evolution der Bakterien, höheren Pflanzen und Tiere
zeigt, dass eine gleichbleibende Erscheinungsform bei höheren Mollusken aufgegeben wird, weil sie verhindert, auf Änderungen der Umgebung mit unterschiedlichen Ausdrucksformen eines individuellen Gedächtnisses zu reagieren. Bei höher differenzierten Mollusken mit einer Zentrierung des Nervensystems wird die Schale von großen, seitlichen Hautfalten umwölbt und verschwindet bisweilen dahinter. Dadurch lassen sich nun ganz neue, bilaterale Symmetrien hervorbringen, die bei einer körperlichen Bewegung eine Rolle spielen. Ein Vergleich der verschiedenen Mollusken zeigt, wie die Strukturierung der Sinnesorgane und des Nervensystems im Verlauf der evolutionären Differenzierung auf die Schalentypen abgestimmt wurde. Bei einfachen Tiertypen sind die Schalen außen am Körper der Organismen angeordnet und nehmen an der Erfahrung von Umweltänderungen nicht teil. Bei höheren Tiertypen wandern die Schalen ins Innere und übernehmen schließlich die Rolle eines inneren Skeletts, eines »Rückgrats« 11. Gleichzeitig führt eine Koordination der Sinneswahrnehmung mit der Aktivität von Ganglien in einem Kopf zur Fähigkeit, ein größeres Spektrum von Umweltänderungen in einen einheitlichen Weltbezug zu integrieren und darauf mit Ortsveränderungen zu reagieren. Daher bezeichnet Portmann die Gestaltungsweise bei rangniederen Formen der Mollusken als »extensiv«, d. h. als auf eine definierte und invariante äußere Formgestaltung ausgerichtet. Bei höheren Typen ist sie »intensiv«, wobei die äußere Schlichtheit mit einer inneren Differenzierung und reicheren Möglichkeiten der Umweltbeziehungen einhergeht 12. Dies führt Portmann zur Einsicht: »die unbekannten Schaffenskräfte bei der Hervorbringung der Erscheinungsform sind bei rangniedrigen Typen einer Gruppe nicht geringer als bei den hoch differenzierten. Im Gegenteil – die Schalenbildung erscheint gerade bei den niederen Formen komplizierter als bei den hohen. Höhere Organisation innerhalb eines Typus bedeutet also nicht eine allseitige Steigerung in der Ausbildung sämtlicher Merkmale und aller Aktivitäten, sondern eine Steigerung einzelner Leistungen, eine Förderung in der Richtung, die der Preisgabe anderer Möglichkeiten entspricht« 13.
11 12 13
Portmann 1965, 113. Portmann 1965, 115. Portmann 1965, 115.
218 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Mustererkennung im Kommunikationsgeschehen zwischen Tieren
9.4.2. Die Koordination der Sinneswahrnehmung im Gehirn Wir haben oben ausgeführt, dass bei Tieren die gegenseitige Neuanpassung der Subsysteme bei einer Perturbation durch einen äußeren Milieueinfluss rascher vor sich geht als bei Pflanzen, wo die Informationen über Milieueinflüsse nicht durch nervöse Erregungsvorgänge übermittelt und in einem Hirn zentriert werden. Bei Tieren wird – wie schon oben bei Mollusken beschrieben – die Strukturierung des Nervensystems und der Sinnesorgane gleichzeitig auf die evolutionäre Differenzierung der körperlichen Struktur abgestimmt. Bei höher entwickelten Tiertypen sind die Nerven nicht mehr dezentralisiert im Organismus angeordnet. Die Ganglien werden in der Kopfregion zentriert und ihre Funktion wird auf die Aktivität der Sinnesorgane abgestimmt. Auf diese Weise wächst das Ausmaß der Hirnbildung mit einer Zunahme der Fähigkeit, äußere Einflüsse durch Sinnesorgane zu erleben und darauf kreativ mit Hilfe einer körperlichen Struktur zu reagieren. Dies erlaubt eine größer werdende Beweglichkeit und führt zu mannigfaltigeren Beziehungsformen zur Umgebung, was die Selbstverwirklichungs- und Erfahrungsmöglichkeiten bereichert. Mit einer Erweiterung der Erlebnisfähigkeit hebt sich der Kopf immer stärker vom restlichen Leib ab. Dadurch kann der Kopf unabhängig von der Bewegung des Körpers bewegt werden. Bei Säugern niederer Entwicklungsstufen ist die Sinneswahrnehmung stärker auf Geruchsempfindungen ausgerichtet. Hier ist eine flexible Kopfbewegung nicht nötig. Bei höher entwickelten Säugern werden darüber hinaus visuelle und akustische Reize mit einem beweglichen Kopf zu einem wesentlichen Faktor der Erfahrungsfähigkeit. Auf diese Weise offenbart sich die Höherentwicklung der Tiergestalt in der Evolution in einer Zunahme der Fähigkeiten der Organismen, negative Einflüsse ihrer Umgebung in immer größer werdendem Umfang zu erfahren und auch auf positive durch aktive Bewegungen zu reagieren.
9.5. Die Bedeutung der Mustererkennung im Kommunikationsgeschehen zwischen Tieren Die Individualentwicklung eines Organismus aus einer befruchteten Eizelle zur adulten Form wird von einer invarianten und logischen Abfolge der Funktionsharmonien des Artgedächtnisses bestimmt 219 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Evolution der Bakterien, höheren Pflanzen und Tiere
(siehe Unterkapitel 4.7.). Die Erfahrungen der Organismen im Verlauf ihrer weiteren Lebensgeschichte sind individuell verschieden. Sie tangieren daher meist nicht ihr Artgedächtnis und bleiben auf Grund der raschen Koordination von Sinneseindrücken durch ein Nervensystem der Inhalt eines einzigen individuellen Gedächtnisses. Dies war die Voraussetzung dafür, dass in der Evolution höherer Tiere das individuelle Gedächtnis in zunehmenden Maß in einen Gegensatz zu den Funktionsharmonien des Artgedächtnisses treten konnte. Dadurch gewann der Organismus eine größere Freiheit bei den Gestaltungen seiner individuellen Ausdrucksformen in der Kommunikation mit anderen Lebewesen. Wenn es einem Organismus gelang, mit seinem individuellen Gedächtnis neue Funktionsharmonien zu konkretisieren, die seine kommunikativen Möglichkeiten erweiterten, wurden diese vererbt und konnten zu einem Teil des Artgedächtnisses werden (siehe Kapitel 6). In der Evolution von Tiergesellschaften spielte die gegenseitige Erfahrung vieler Tiere, die in ein und derselben Umgebung leben, eine große Rolle. Jeder Organismus interpretierte die Äußerungen jedes anderen für ihn relevanten Lebewesens, und diese Interpretationen flossen in seine Neu-Konstitution und die seiner Umwelt ein. Dieses Interpretationsgeschehen schloss auch Räuber-Beute-Beziehungen ein. Es eröffnete Tieren die Möglichkeit, in unterschiedlicher Weise Änderungen ihrer Umgebung zu erfahren, für eigene Zwecke zu verwerten und in einem kohärenten Welt- und Selbstbezug zu integrieren. Dieser Prozess war von einer Interpretation von Mustern bestimmt, die vom individuellen Gedächtnis bei Milieuänderungen erkannt werden konnten und gegebenenfalls vom Artgedächtnis übernommen wurden. In der Evolution der Biokommunikation nahm die Komplexität der erfahrenen Muster gleichzeitig mit den darauf abgestimmten körperlichen Strukturen zu, mit denen der Organismus diese Muster interpretiert. Dadurch kam es zu einer zunehmenden Differenzierung der Ausdrucksformen der Tiergestalten in immer komplexer werdenden Gesellschaften (siehe auch Unterkapitel 5.5.). Die diskontinuierliche Abgabe chemischer Verbindungen bildete wohl das einfachste, der Kommunikation dienende Reizmuster. Mechanische Reize, ausgelöst durch Variationen im unmittelbaren körperlichen Kontakt, bestimmte Tonfolgen als akustische und schließlich die visuellen Reize eröffneten die Möglichkeit, bei gegenseitigen Konstitutions- und Interpretationsakten bestimmte Nachrichten zu 220 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Mustererkennung im Kommunikationsgeschehen zwischen Tieren
übermitteln. Dabei veränderte sich der körperliche Ausdruck eines Tieres in vielfältiger Weise und beeinflusste dadurch andere Organismen. Eine Kommunikation kam jedoch nur zustande, wenn die dabei übermittelten Botschaften von unwesentlichen Veränderungen der Umgebung unterschieden und auch nicht vom zufälligen Hintergrundrauschen des gemeinsamen Milieus beeinflusst wurden. Dies setzte die Fähigkeit zu einer intentionalen Bewertung äußerer Einflüsse voraus. Ein Kommunikationsgeschehen blieb solange aufrecht, wie die beteiligten Tiere wechselseitig ihren körperlichen Ausdruck in einer Weise interpretierten, die zur Fortdauer der Kommunikation beitrug. Es erforderte darüber hinaus, dass ein körperlicher Ausdruck für alle beteiligten Organismen eine bestimmte Bedeutung in einem Ereigniszusammenhang (z. B. fressbar oder gefährlicher Jäger) hatte. Damit ist gemeint, dass eine Abfolge von Ereignissen in einem Organismus von einem Erregungsmuster in ein Bewegungsmuster umgewandelt wurde, das die Selbstkonstitution entweder in positiver oder in negative Hinsicht beeinflusste. Bei einer positiven Auswirkung wurde das Muster als rhythmisch, bei einer negativen als unrhythmisch empfunden. Rhythmische Empfindungen trugen zu einer bestimmten Funktionsharmonie und körperlichen Ausdrucksform bei und beeinflussten so die Selbsterfahrung in dem entsprechenden Selbstkonstitutionsakt. Im individuellen Gedächtnis der Lebewesen einer Biozönose blieben diejenigen Muster erhalten, die zu gegenseitigen Harmonieerfahrungen führten und daher immer wieder bei Kommunikationsvorgängen aufgesucht wurden. Dies führte dazu, dass die dafür nötigen Umweltbedingungen in gemeinsamen Konstitutionsakten der beteiligten Organismen kontinuierlich erzeugt und als fester Bestandteil der Harmonieerfahrung vererbt wurden. In einer Integration dieser Harmonieerfahrung in die invarianten Funktionsharmonien des Artgedächtnisses konnte die betreffende Mustererkennung vom Artgedächtnis übernommen werden, was zu einer Höherentwicklung der betreffenden Organismen führte. Im Gegensatz dazu trugen unrhythmische Bewegungsabläufe nichts zur bleibenden Lebenswelterfahrung der Organismen bei und wurden vergessen.
221 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Evolution der Bakterien, höheren Pflanzen und Tiere
9.5.1. Die Beziehung zwischen visueller Mustererfahrung und der Gestaltung der optisch wahrnehmbaren Erscheinungsform bei höheren Tieren In der Evolution der Arten stehen Tiere, die mit visueller Wahrnehmung ausgestattet sind (die Mehrzahl der Krebse, Insekten und Wirbeltiere) auf einer höheren Entwicklungsstufe als Tiere, die diese Fähigkeit nicht besitzen (wie z. B. Quallen und Seesterne). Erstere können sich gegenseitig sehen und sich auch an Bilder ihrer Umwelt erinnern. Das kreative Moment eines Erinnerungsaktes bewirkt, dass die innere Funktionsharmonie wieder einen körperlichen Ausdruck hervorbringt, dessen Strukturelemente in einer bestimmten Erscheinungsästhetik (Symmetrie der Formen, Harmonie der Muster- und Farbbildung) aufeinander abgestimmt sind. Auf diese Weise wird die äußere Erscheinungsform zu einem visuellen »Organ zum Anschauen«, wie es von Portmann genannt wurde 14. Dieses visuelle Organ kann als Sendeeinrichtung betrachtet werden, die in einer Gesellschaft von Organismen auf geeignete visuelle Empfänger ausgerichtet ist. Dies bedingt, dass die strukturellen Voraussetzungen der Funktionen von Sender und Empfänger gleichzeitig entstanden sein müssen. Das »Organ zum Anschauen« darf daher als Element eines übergeordneten Kommunikationszusammenhangs betrachtet werden. In dieser Kommunikation spielt bei zahlreichen inter- und intraspezifischen Interaktionen eine Kombination von Warn- und Schreckfarben, aber auch von Tarnmustern eine bedeutende Rolle. Dies wirkt sich auch auf die Erhaltung von Artengemeinschaften und das Jagd- und Fressverhalten aus. Dabei wird eine bestimmte optische Gestaltung mit besonderen Verhaltensweisen kombiniert. Dies findet man jedoch nicht nur bei höher entwickelten Organismen, sondern auch bei den Interaktionen einfacher Tiertypen mit Pflanzen. So kann beispielsweise die Raupe eines Baumspanners bei Bedrohung die Form eines Zweiges annehmen. Auch die optische Gestaltung von Blüten ist ein solches Organ zum Anschauen für die bestäubenden Insekten. Bei diesen verschiedenen Interaktionsformen werden neue und komplexere Funktionsharmonien angestrebt, deren »ideelles Regulativ« (siehe Unterkapitel 2.5) sich gleichzeitig auf mehrere Organismen erstreckt.
14
Portmann 1965, 118.
222 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Mustererkennung im Kommunikationsgeschehen zwischen Tieren
Die Ausbildung von Mustern und Zeichnungen in der körperlichen Erscheinungsform spielen im kommunikativen Verhalten von Tieren mit visueller Sinneswahrnehmung eine große Rolle. Sie können als Warn- und Tarnfarben dienen, wobei erstere sich als »semantische« Gestaltung von der Umgebung abheben. Hingegen sind die Muster in Tarnfarben »kryptisch« 15, da deren Gestaltungsformen dem von potentiell feindlichen Organismen erfahrenen Hintergrund entsprechen. Bei Tagfaltern ist oft die ganze Oberseite semantisch, die Unterseite kryptisch. Die Bänderzeichnung in den Flügeln des Segelfalters zeigt sich bei natürlicher Haltung als eine Einheit, in der das Streifenmuster des Hinterflügels eine Fortsetzung des Musters des Vorderflügels ist. Bei einer anderen Flügelhaltung verschwindet diese Einheit. Dies zeigt, wie die Harmonie äußerlich wahrnehmbarer Muster perfekt auf das tierische Verhalten abgestimmt ist 16. Daneben gibt es natürlich auch scheinbar indifferente Muster, die außerhalb des Spektrums der Wellenlänge des sichtbaren Lichts liegen 17. In diesem Fall sind sie Ausdruck der Differenzierung eines körperlichen Ausdrucks, dessen Sinn noch nicht erkannt worden ist. In der äußeren Erscheinung können sich charakteristische Muster erst im Verlauf der Individualentwicklung ergeben, wie dies bei Schneckenschalen oder Vogelfedern der Fall ist. Häufig werden dabei die Körperform und das Verhalten sinnvoll darauf abgestimmt und prägen sich in Jugend- und Reifegestalt unterschiedlich aus. Oder sie können schon im Embryo in bestimmten körperlichen Strukturen vorgebildet sein (z. B. beim Zebra). Auch in diesem Fall entzieht sich die hoch koordinierte Bildung von Mustern, körperlicher Form und Verhalten einer mechanistischen Erklärung (siehe Unterkapitel 2.5.). Der Sinn dieses Koordinationsprozesses kann dann nur aus der Bedeutung der körperlichen Erscheinungsform für die Aufrechterhaltung einer bestimmten Organismengesellschaft erschlossen werden. Die körperlichen Erscheinungsformen und die damit einhergehenden Verhaltensweisen können bei juvenilen und adulten Tieren ein und derselben Art so drastisch verschieden sein, dass man sie auf den ersten Blick nicht als der gleichen Art zugehörig erkennt. Nur einige Beispiele: Die Jugendstadien von Seeigeln sind winzig klein und haben eine planktische Lebensweise, was ihnen die Möglichkeit 15 16 17
Portmann 1965, 124. Portmann 1965, 118. Portmann 1965, 122.
223 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Evolution der Bakterien, höheren Pflanzen und Tiere
der Ausbreitung und Besiedlung neuer Lebensräume verschafft. Gewaltig sind auch die Unterschiede von Schmetterlingsraupen und Schmetterlingen in der Erscheinungsform, die entweder der Tarnung dient oder sehr auffällig ist. Bei Vögeln zeigen sich ebenfalls deutliche Unterschiede in Erscheinungsform und Verhalten zwischen juvenilen und adulten Individuen. Die Jungen verlassen entweder als Nestflüchter das Nest sehr bald oder werden von ihren Eltern längere Zeit gefüttert. Prägende Merkmale der Erscheinungsform von Nesthockern wie der Schnabelwulst und die auffallende Rachenfarbe sind auf das Verhalten ebenso abgestimmt wie akustische Signale, die die Jungvögel von sich geben. Ihr Sinn kann nur in einer Aufforderung zur Fütterung durch ihre Altvögel gefunden werden. Bei Nestflüchtern gibt es Unterschiede im Juvenilkleid und dem der Altvögel, deren Sinn sich nur mit einem Studium der Artengemeinschaft erklären lässt, in der sie aufwachsen. Bei der Höherentwicklung der Lebewesen kommt es zu einem immer komplexer werdenden sozialen Verhalten. Dabei findet man vererbte Strukturen und Verhaltensweisen, die zu »Organen der Sozialbeziehung« 18 werden und die an einer Steigerung der Intensität gemeinsamen Erlebens mehrerer Lebewesen mitwirken. Wie das oben beschriebene visuelle »Organ zum Anschauen« sind auch diese Organe Konstituenten eines übergeordneten Kommunikationszusammenhangs. Die Bedeutung und die Zweckmäßigkeit dieser Organe erschließen sich, wenn man deren Entstehung als Prozess betrachtet, in dem das »für sich Sein« eines Lebewesens gleichzeitig auch ein »für andere Sein« ist. In der Entwicklung von Organen der Sozialbeziehung lässt sich eine Abfolge von Stufen ausmachen: Bei niederen tierischen Organismen werden schon vorhandene Strukturelemente, die basalen Lebensfunktionen dienen, zu einer Wirkung auf andere Organismen ›umfunktioniert‹. Hier können aus Veränderungen in der Bewegung einfache Ausdrucksformen im Paarungsund Liebesspiel entstehen. Bei höheren Typen werden zu diesem Zweck spezifische Nervenfunktionen mit Hormonwirkungen koordiniert, was zu einer Steigerung der Intensität des Erlebens führen dürfte. Dabei werden geeignete Umgestaltungen von Elementen der äußeren Erscheinungsform so auf die für das Balzverhalten verantwortlichen Nerven- und Hormonfunktionen abgestimmt, dass ein Artgenosse die ausgesandten Signale versteht. Zum Beispiel werden 18
Portmann 1965, 195.
224 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Mustererkennung im Kommunikationsgeschehen zwischen Tieren
die Deckfedern des Rückens eines Pfaus so umgestaltet, dass sie zu einem Rad aufgestellt werden können. Da der körperliche Ausdruck des Sendeapparats dem Empfangsapparat und vice versa entspricht, muss die gegenseitige Entsprechung gleichzeitig entstanden sein. Eine mechanistische Erklärung für die Evolution von Organen der Sozialbeziehung ist daher auch hier nicht möglich, weil die Ausrichtung gleichzeitig stattfindender Veränderungen auf einen bestimmten Endzweck eine teleologische Erklärung erfordert (siehe Unterkapitel 2.3.). Ein Organ der Sozialbeziehung ist die Frühjahrsfärbung der Molche, die Paarungsbereitschaft und den darauf abgestimmten inneren Zustand signalisiert. Sie zeigt sich in der Erscheinung farbiger Strukturen und wird nach der Paarungsbereitschaft noch länger beibehalten. Lang zur Schau gestellte Organe der Sozialbeziehung bei hoch entwickelten Säugern sind etwa die prächtigen Hirschgeweihe, die den Spießen kleinerer Hirscharten entsprechen und die als wirksame Waffen im Kampf zwischen Rivalen eine allgemeinere Funktion des Geschlechtslebens haben. Sie könnten auch als »überoptimale Auslöser« auf Weibchen für ein bestimmtes Sexualverhalten dienen. Besonders auffallend sind die Unterschiede zwischen niederen und höheren Säugetieren im Verhalten und der Erscheinungsform von männlichen und weiblichen Säugern, das auf die gegenseitige Erfahrung zum Zwecke der Fortpflanzung ausgerichtet ist. Bei niederen Säugetieren, bei denen die gegenseitige Wahrnehmung hauptsächlich durch den Geruchssinn vermittelt wird, sind die Unterschiede in der äußeren Erscheinungsform der beiden Geschlechter weniger ausgeprägt als bei höheren Säugetieren, bei denen sich ein Geschlechtsdimorphismus ausbildet. Er zeigt sich u. a. in Hörnern, einem Geweih oder der Verlagerung des Hodensacks nach außen, aber natürlich auch in einem voneinander abweichenden weiblichen und männlichen Verhalten und den dabei zugrundeliegenden Empfindungen. Biologen darf daher nicht die Frage verwehrt werden, ob bei der von Auswüchsen einer ›Genderideologie‹ angestrebte Verringerung des Geschlechtsdimorphismus beim menschlichen Verhalten nicht eine Rückentwicklung zu einer niederen, evolutionären Stufe angestrebt wird. Die äußere Erscheinung kann sich aber auch mit dem Wechsel des inneren Zustands sehr rasch verändern. Beim gewöhnlichen Tintenfisch verwandelt sich das monotone Muster des Ruhekleids bei Bedrohung sehr schnell in ein Schreckmuster, das wie ein Gesicht 225 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Evolution der Bakterien, höheren Pflanzen und Tiere
mit zwei großen dunklen Augen aussieht. Bei sexuellen Erregungen, die sich wellenartig durch den Körper fortpflanzen, wird das Ruhekleidmuster von charakteristischen Zebrastreifen abgelöst. Es ist schwer vorstellbar, dass diese distinkten Erregungsmuster nicht von unterschiedlichen Empfindungen begleitet werden. Bei der Evolution der Informationsübertragung durch Änderungen der äußeren Struktur werden die Muskelstrukturen niederer Säuger weiterentwickelt. Bei höheren Säugern entstehen daraus Lautbildungsorgane. Die erzeugten Laute können mit Veränderungen des mimischen Ausdrucks einhergehen. Beim Menschen treten spontane Äußerungen wie Schreie, Drohgebärden nur mehr bei ungebildeten Individuen auf und werden mit Hilfe sozialer Einflüsse durch kultiviertes Verhalten, differenzierte Ausdrucksfähigkeiten und Gesten ersetzt. Ein Sonderfall ist die Informationsübertragung durch bestimmte Bewegungsmuster bei Bienen. 9.5.1.1. Die strukturelle Basis einer Biokommunikation von Lebewesen In der Biokommunikation sind, wie in jeder anderen Kommunikation, zwei Grundzüge essentiell: Mindestens zwei Partner sind daran beteiligt. Einer sendet eine Botschaft aus, der andere empfängt sie, interpretiert sie und reagiert darauf, was wieder eine Rückwirkung auf den Sender hat. Um eine Botschaft zu senden, gibt es verschiedene Mittel. So können, wie oben beschrieben, Cyanobakterien über die von ihnen verursachten Phosphatfluktuationen im Milieu kommunizieren. Die Aufnahme eines Nährstoffes und die damit verbundene Konzentrationsänderung im Milieu ist die Botschaft, und alle anwesenden Organismen, für die die Phosphatkonzentration relevant ist, sind die Empfänger. In Seen sind das gemischte Algenpopulationen, d. h. die Botschaft wird nicht nur von Organismen derselben Art verstanden. Auf diese Weise wird Konkurrenz um einen Nährstoff vermieden und Artenvielfalt erhalten. Die Abgabe chemischer Verbindungen durch einen Senderorganismus ist eine einfache, aber auch unspezifische Methode, weil hier der Zufall bestimmt, wo die Moleküle durch Wasser oder Wind hingetragen werden und ob sich dort ein Empfänger findet. Auch diese Art der Kommunikation gibt es bei einzelligen Organismen. So geben beispielsweise die morphologisch nicht zu unterscheidenden, aber physiologisch in + und – Typen differenzierten Isogameten einzel226 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Mustererkennung im Kommunikationsgeschehen zwischen Tieren
liger Flagellaten chemische Verbindungen ab, die den jeweiligen Partner anlocken. Bei Chlamydomonas z. B. handelt es sich dabei um Glykoproteide 19. Kommunikation mit Hilfe von chemischen Verbindungen gibt es auch bei höheren Lebewesen. Dazu gehören artspezifische Duftstoffe als Sexuallockstoffe (z. B. Pheromone), aber auch Substanzen, mit denen Wanderwege (z. B. bei Ameisen) oder Reviergrenzen markiert werden. Bei Bienen haften sie als Stockdüfte an ihren Haaren. Duftstoffe können als Aggregatpheromone fungieren und eine Ansammlung bestimmter Organismen verursachen (z. B. bei Borkenkäfern). Als Sexualpheromone locken sie Geschlechtspartner an oder warnen als Alarmpheromone vor Fressfeinden. Sie können auch Differenzierungsvorgänge innerhalb einer Art auslösen, wie dies bei Bienen, Ameisen und Termiten der Fall ist. Häufig wird ein geeignetes »Signal-Rausch-Verhältnis« dadurch hergestellt, dass eine größere Anzahl von Rezeptoren in sensorischen Zellen gleichzeitig erregt werden muss, um die Information in abgestimmter Weise an motorische Zellen weiterzugeben. Nachrichtenübermittlung durch körperliche Berührung zweier Organismen löst eine Abfolge von Konstitutions- und Erfahrungsakten bei höheren Säugern aus, wodurch ein gemeinsamer Weltbezug entsteht. Dabei wird Körperkraulen, Anschmiegen, Belecken etc. in einer Abfolge von Ruhezuständen und Anspannungen der Muskeln mit einem Bewegungsablauf koordiniert. Auf diese Weise erfahren die Organismen auch die Position ihrer Körperglieder zueinander und damit sich selbst. Auch die Frequenz und Amplitude von rhythmischen Kontaktvibrationen in der unmittelbaren Umgebung oder in Grenzflächen zwischen Luft und Boden oder Luft und Wasser können zur Übermittlung von Nachrichten eingesetzt werden. Zu diesem Zweck dienen bei Insekten Subgenualorgane in den Beinen. Eine Erweiterung des Weltbezugs durch taktile Interaktion ist auch durch Strukturen möglich, die von Organismen erzeugt werden, wie dies beim Netz von Spinnen der Fall ist. Spinnen haben Spaltsinnesorgane in ihren Beinen, die als empfindliche Rezeptoren fungieren. Sie sind in der Lage, Vibrationen des Netzes, die durch zappelnde Beute ausgelöst werden, von solchen zu unterscheiden, die ein paarungswilliges Männchen erzeugt.
19
Strasburger, S. 439.
227 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Die Evolution der Bakterien, höheren Pflanzen und Tiere
Akustische Signale stellen eine weitere Möglichkeit der Nachrichtenübermittlung durch Vibrationen in der Luft dar. Dies setzt geeignete Strukturdifferenzierungen in Hinblick auf ein hochentwickeltes Nervensystem bei den beteiligten Organismen voraus. Durch Variation von Frequenz und Amplitude wird ein bestimmtes Muster harmonischer Rhythmen in den erzeugten Lauten übermittelt. Dadurch kann mit Artgenossen in spezifischer Form kommuniziert werden, wobei mit einer Zunahme der Arten in einem Biotop die Lautmuster differenzierter werden. Mit Lockgesang, Balz- und Kampflauten werden Intentionen ausgedrückt, die die Stellung in einer gemeinsamen Lebenswelt und in einer sich ausbildenden sozialen Ordnung betreffen. Bei Säugetieren äußern sich Kampflaute in tiefen Frequenzen und Zuneigung oder Unterwerfung in hohen Frequenzen, wobei diese Zuordnung auch in der menschlichen Sprache bei der Tonbildung der Worte wieder zu finden ist. Die akustische Nachrichtenübermittlung des Senders wird bei vielen Organismen durch eine visuelle Wahrnehmung des Empfängers ergänzt. Dadurch können Nachrichten über größere Entfernungen weitergegeben werden. Der Empfänger der Nachricht muss dann, z. B. bei einem Lockruf, in der Lage sein, größere Distanzen in der Fortbewegung zu überwinden, sei es durch Fliegen, Laufen oder Kriechen. Dies ermöglicht bei Landtieren eine zusätzliche Erweiterung des Weltbezugs. Optische Signale vermitteln die Kommunikation zwischen männlichen und weiblichen Leuchtkäfern, wobei die Signale vieler Individuen einer bestimmten Art mitunter synchronisiert werden können. In vielen Fällen steht die Erfahrung akustischer und optischer Eindrücke in einem Sinnzusammenhang, der durch eine darauf abgestimmte Struktur der körperlichen Wahrnehmungsorgane vermittelt wird. Auch hier kommt es zu einer Überlagerung der artspezifischen Bewegungsmuster (im Schreiten, Kriechen, Fliegen oder Atmen) durch situationsbezogene individuelle Ausdrucksformen (bei Drohgebärden, im Dominanz-, Unterwerfungs-, Balz- und Verteidigungsverhalten, aber auch bei der Brutpflege). Auch die Ausgestaltung der individuellen Umwelt (z. B. im Nestbau bei Vögeln, von Sandpyramiden zur Revierabgrenzung bei Reiterkrabben) kann die Wirkung eines optischen Signals ausüben. Bei Säugetieren sind optischen Ausdrucksformen meist solche aus dem akustischen und chemischen Bereich beigefügt. Auch hier fordert die multimodale Interaktion einen Sinnzusammenhang zwischen der Struktur der ent-
228 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Mustererkennung im Kommunikationsgeschehen zwischen Tieren
sprechenden Empfangsorgane Auge, Ohr und Nase und der körperlichen Ausdrucksform des Senders. Neben der visuellen und optischen Wahrnehmung sind manche Organismen auch in der Lage, elektrische Felder zu erkennen. Hummeln können die elektrischen Felder der Blüten von Blumen wahrnehmen und mit dem Nektargehalt in Beziehung setzen. Noch wenig erforscht ist die Koordination des Schwarmverhaltens bei Zugvögeln und Fischen, wobei auch Einflüsse durch das sie umgebende Medium wirksam sind. Bei einer Nachrichtenübermittlung durch verschiedene körperliche Ausdrucksformen spielt die Nachahmung dieser Formen durch die Empfänger der Nachrichten eine große Rolle. Nachahmung ist die Grundlage für das Erlernen von sinnvollen Verhaltensabläufen. Die Fähigkeit, individuelle Erfahrungen in Lernvorgängen an andere Individuen der gleichen Art weiterzugeben, kann zu einem Teil des Artgedächtnisses werden. Diese Fähigkeit nimmt dann mit der Höherentwicklung der Organismen zu und ist besonders ausgeprägt im Sozialverband der Wirbeltiere, bei denen die imitierten Verhaltensäußerungen zur Ausbildung sozialer Ordnungen beitragen. Bei Primaten gibt es erste Anzeichen für das Entstehen von Traditionen auf Grund erlernter Verhaltensabläufe. Nachahmung von Ausdrucksformen tritt aber nicht nur innerhalb einer Art auf, sondern kann auch Artgrenzen überschreiten. Vögel können den Gesang anderer Arten imitieren, und sogar bei niederen Organismen findet man zum Teil kuriose Nachahmungen. So haben die Weibchen einer bestimmten Gattung von Leuchtkäfern (Photuris) das Leuchtsignalmuster der Weibchen einer nahverwandten Gattung (Photinus) erlernt und locken damit die Männchen dieser Gattung an, um sie dann aufzufressen 20. Am höchsten entwickelt ist die Fähigkeit der Nachahmung akustischer Laute beim Menschen, wo sie zum Entstehen sprachlicher Verständigung führt.
20
Lindauer, 1990.
229 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
10. Resümee
Ein Organismus versucht auf seine Umgebung so einzuwirken, dass daraus eine Umwelt hervorgeht, die er als Teil seiner körperlichen Konstitution empfindet. Da es dabei zu einer Erweiterung der organismischen Struktur in die Umgebung kommt, wird in diesem Prozess meist ein Druck auf andere Lebewesen ausgeübt. Der Druck wird von diesen dann als körperlicher Ausdruck des auf sie einwirkenden Organismus erfahren und kann nun eine Gegenreaktion ihrerseits auslösen. Die Begriffe ›Eindruck‹ und ›Ausdruck‹ sind daher zwei Seiten der Selbst-Konstitution von Organismen, die in einem Kommunikationsgeschehen einem ständigen Wandel unterliegen. Dabei wird der gemeinsame Ausdruck einer Gruppe von Organismen von anderen Organismen als Erscheinungsform dieser Gruppe interpretiert. Die so erfahrenen Erscheinungsformen fungieren als ›Erkennungszeichen‹ (Symbole), mit deren Hilfe Organismen einander wiedererkennen und sich dabei in ihrer Umgebung zurechtfinden. Eine Höherentwicklung der Lebewesen geht daher mit einer Verfeinerung des Systems von Erkennungszeichen vor sich, wobei jedes Zeichen dem Wort einer ›Sprache‹ entspricht, deren Differenzierung mit Differenzierungen von körperlichen Ausdrucksformen einhergeht. Eine Wiedererkennung von Erkennungszeichen dieses Kommunikationsgeschehens wird durch eine geeignete Verknüpfung des individuellen Gedächtnisses und des Artgedächtnisses ermöglicht. Die oben angefügten Beispiele zeigen, dass die Evolution der Tiergestalten ein einheitlicher Prozess ist, bei dem das innere Erleben und Empfinden immer facettenreicher wird. Dabei kommt es zu einer Differenzierung der körperlichen Organe, mit denen der Organismus in seinem Verhalten in eine immer komplexer werdende kommunikative Beziehung zu seiner Umgebung treten kann. In dem Maße, in dem die miteinander verknüpften Erkennungszeichen vielfältiger und als (Kon-)Text in einen allgemeinen Zusammenhang gestellt
230 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Resümee
werden, gewinnt der Organismus ein Mehr an Freiheit bei der Orientierung in der betreffenden Biozönose. Darauf beruht die geistige Dimension der Interaktion von Organismen mit ihrer Umgebung: »Die Gestalt des Geistigen erschließt sich nur in seiner Äußerung; die ideelle Form wird erkannt nur an und in dem Inbegriff der sinnlichen Zeichen, deren sie sich zu ihrem Ausdruck bedient« 1. Die Ökologie darf daher diese geistige Dimension des organismischen Beziehungsgefüges nicht ignorieren, wenn sie die Natur der organismischen Kommunikation verstehen will. »Im Kreis des Sinnlichen selbst muss scharf zwischen dem, was bloße »Reaktion« und dem, was reine »Aktion« ist, zwischen dem, was der Sphäre des »Eindrucks« und dem was der Sphäre des »Ausdrucks« angehört, unterschieden werden«, wie Ernst Cassirer festgestellt hat 2. Dieser Unterschied existiert schon in physiologischen Manifestationen. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass über der Welt der Wahrnehmung eigene Bildwelten entstehen, mit denen Ordnung in das Chaos der unmittelbaren Eindrücke gebracht wird. Die Evolution der Arten reflektiert daher die Evolution von Bildwelten, bei der schließlich die Erkennungszeichen einen sprachlich-akustischen Ausdruck erhalten. Der Unterschied zwischen artspezifischen Ausdrucksformen und individuellen (sprachlichen) Ausdrucksformen leitet die Entstehung des Selbstbewusstseins ein. Es hat allerdings seine höchste Form erst erreicht, wenn Menschen als vernunftbegabte Wesen ein selbstbeherrschtes Verhältnis zueinander und zur Natur insgesamt gefunden haben. Der Weg bietet Menschen allerdings auch Möglichkeit zu Unvernunft, die sich derzeit darin zeigt, dass sie im Begriffe sind, ihre eigene Umwelt und die vieler anderer Organismen (mit Ausnahme der Bakterien) irreversibel zu zerstören (siehe Unterkapitel 6.2). Das wahre Selbstbewusstsein wird erst in einem neuen Verhältnis zur Natur gefunden werden, das nicht auf deren Ausbeutung beruht, sondern auf einem co-kreativen Miteinander mit anderen Lebewesen bei der Gestaltung eines gemeinsamen Lebensraums. Dies würde allerdings voraussetzen, dass der wissenschaftlich-technische Weltbezug des modernen Menschen durch eine Vertiefung der Empfindung für das Wirken anderer Lebewesen ergänzt wird. »Das künstlerische Schaffen, das heute wieder stärker auf das Weben dieser verborgenen Wirkweisen in uns selber hört und sich mehr als bisher von 1 2
Cassirer 1977, Bd. I, 18. Cassirer 1977, Bd. I, 19.
231 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Resümee
ihm bewegen lässt – diese künstlerische Arbeit hat nicht umsonst im Erstaunlichen der lebenden Gestalt immer schon etwas gefühlt, das zuweilen wie eine schwer fassbare Bruderschaft erlebt wird. In diesem Erleben ist die Gewissheit, dass in den Organismen uns ein Geheimnis begegnet, das dem unseres eigenen Erlebens verwandt ist, und dass in diesen Gestalten eine besondere Seinsweise sinnfällig vor uns ist, welche in verschiedenem Maße und verschiedener Art von ihrer Innerlichkeit kündet« 3.
3
Portmann 1965, 240.
232 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Anhang 1:
Der Citratzyklus: C3 (Pyruvat) CoASH CO2 C2-CoA (Acetyl CoA) (Oxalacetat) C4 NADH + H
CoASH
C6 (Citrat)
+
NAD+ (Malat) C4
C6 (Isocitrat) NAD+ CO2
(Fumarat) C4
NADH + H+ C5 (α-Ketoglutrat)
FADH2
CO2
FAD (Succinat) C4
NAD+ + CoASH NADH + H+
C4 (Succinyl-CoA)
ATP
ADP + Phosphat
Abb. 10: Der Citratzyklus.
Im Citratzyklus fließen die Endprodukte des Abbaus von Kohlehydraten, Fetten und Eiweißkörpern über die Zwischenprodukte des Stoffwechsels Pyruvat, Acetyl CoA, α-Ketoglutarat in den Cytratzyklus ein und werden zu Kohlendioxyd (CO2) oxidiert. CoASH stehen für Coenzym-A, NAD+ und NADH, FAD und FADH2 für oxidierte und reduzierte Coenzyme. Bei diesen Reaktionen übertragen die Endprodukte ihren Wasserstoff auf Koenzyme. Die Elek233 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Anhang 1
tronen fließen dann in einer Elektronentransportkette zum Sauerstoff, der zu Wasser reduziert wird. Dabei wird die Membran, in der sich die Elektronentransportkette befindet, energetisch aufgeladen und mit Hilfe der auf diese Weise gespeicherten Energie der universelle Energieträger ATP gebildet, der dann von der Zelle für zahlreiche Biosyntheseprozesse verwendet werden kann. Im stationären Zustand sind die Geschwindigkeiten der Bildung von ATP und dessen Verwertung durch energieabhängige Reaktionen exakt aufeinander eingestellt. Ändert sich durch eine Umweltänderung die Geschwindigkeit der ATP-Bildung, dann müssen beim Aufbau eines neuen stationären Zustandes die ATP verbrauchenden Reaktionen wieder auf die geänderte ATP-Zufuhr eingestellt werden. Da bei diesem Prozess die ursprünglich vorliegenden Konzentrationen der Zwischenprodukte des Stoffwechsels verändert werden, wird ein Zustand optimaler Energieverwertung in den meisten Fällen nur erreicht, wenn die molekularen Eigenschaften der energiekonvertierenden Subsysteme in adaptiven Operationsmodi umgebaut werden.
234 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Anhang 2:
Die mikrobielle Energieverwertung in einem produktiven See: Die Energie, die von den Bakterien beim Abbau der Algenbiomasse gewonnen werden kann, lässt sich aus den Werten für den Elektronendruck pe der in Tabelle 1 angegebenen Redoxprozesse ermitteln. Die Energie ist proportional der Differenz zwischen dem Elektronendruck der Algenbiomasse und dem Elektronendruck des beteiligten Redoxprozesses (Tab. 1). So ist unter experimentellen Standardbedingungen bei pH = 7 die Differenz zwischen dem Elektronendruck bei der Oxidation von Biomasse (Gl. 1) und dem Elektronendruck der Sauerstoffreduktion (Gl. 10) 21.95, für die Oxidation von Biomasse (Gl. 1) durch Sulfat (Gl. 5) 4.7. Die Differenz ist der dabei von den Bakterien gewonnenen Energie proportional 1. Man beachte, dass die Abfolge mikrobieller Umsetzungen in Tab. 1 genau die hierarchische Anordnung der Elektronendrucke der einzelnen Redoxprozesse in Tabellenwerken der Thermodynamik widerspiegelt; dies zeigt einmal mehr, wie perfekt Mikroorganismen den Energiefluss durch ein Ökosystem für ihr Interaktionsgeschehen ausnützen. Tabelle 1: Gleichgewichtskonstanten von mikrobiologisch relevanten Redoxprozessen (25o C) pεo (W, bei pH = 7)
Reaktion
1
(1)
1 4
CO2 (g) + H+ (W) + e = 14CH2O + 14H2O
– 8.20
(2)
H+ (W) + e = 12H2 (g)
– 7,00
(3)
1 8
(4)
1 2
(5)
1 8
CO2 (g) + H+(W) + e = 18CH4 (g) + 14H2O +
1 2
S (s) + H (W) + e = H2S (g) 2-
5 4
+
1 8
– 4.13 – 4,11
1 2
SO4 + H (W) + e = H2S (g) + H2O
– 3,50
Stumm and Morgan 1970, 318.
235 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
Anhang 2 pεo (W, bei pH = 7)
Reaktion (6)
1 6
SO42- + 43H+ (W) + e = 16S (s) + 23H2O
(7)
1 6
NO2-
(8)
1 2
NO3-
(9)
1 5
NO3- + 65H+ (W) + e = 101 N2 (g) + 35H2O
(10)
1 4
4 3
+
+ H (W) + e = +
+ H (W) + e = +
NH4+
1 6
NO2-
1 2
1 3
+ H2O 1 2
+ H2O
1 2
O2 (g) + H (W) + e = H2O
– 3,30 + 5,82 + 7,15 + 12,65 + 13,75
236 https://doi.org/10.5771/9783495824191 .
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Sachregister
abiotisches Milieu 38, 193–204 ›actual entity‹ / ›actual entities‹ 14, 28, 96, 116, 127 –, actual entities und actual occasions 95 –, bipolare Natur 28, 94, 96, 127, 133 –, historic succession of 133 –, Gesellschaft von 116 adaptive Ereignisse, bei denen adaptierte Zustände energiekonvertierender Subsysteme in adaptiven Operationsmodi gebildet werden 24 –, Definitionen 70, 93, 94 –, Analogie zwischen adaptiven Ereignissen und Whiteheads ›aktualen Entitäten‹ 95–97 –, Eigenzeit als Ergebnis 133–136 –, und Erfahrung 98 –, und Gedächtnis 26, 95 –, Gesellschaft von 86–90 –, als Letztelemente biologischer Selbstkonstitutions- und Erfahrungsakte 122 –, als Manifestation der organismischen Kreativität 122 –, ontologische Differenz zwischen adaptiven Operationsmodi und adaptierten Zuständen 70, 93, 94 –, physisch geistige Bipolarität 28, 94, 96, 127, 133 –, und Spannungsfelder 101, 104, 155 –, und Stoffwechsel 90 Affektionsmodelle 131 Allele 174, 180, 187 Amöben 147–149
Anabaena variabilis 68, 69, 72 Anthropomorph und Anthropomorphismus 22, 55, 56 Antizipation / antizipatorisch 75, 185 –, Anpassung 93 –, Entscheidungsfindung 65 –, Ereignisse 98 –, Erinnerung 64 –, Formveränderung 124 –, Schaffung von Strukturelementen 146, 150 –, Systeme 109 Archaikum 206, 207 Artbegriff 37, 38, 49, 108, 109, 190, 192 Artdefinition 172 –, prozessbiologische 38, 190 Artgedächtnis 15–18, 29–31, 35–38, 40–42, 44, 101, 103–107, 136, 146, 152, 154, 188, 191, 192, 209, 211, 221, 229 Artenkonstanz 174, 189 Artifizielle Intelligenz 11 Attraktorbahnen 107 Ausdruck 56, 74, 103, 120, 127, 130, 131, 155, 190, 217, 221–223, 225, 230, 231 –, körperlicher 34, 43, 44, 104, 152, 153, 161, 190, 230 –, mimischer 226 –, sprachlicher 18, 36, 164, 231 Ausdrucksformen 43, 44 104, 109, 153, 155, 161, 164, 165, 218, 220, 221, 224, 228, 229, 230, 231 –, als Erkennungszeichen (Symbole) 35, 155, 165
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Sachregister Ausdruckswelt 155 artspezifischer und individueller Ausdruck 160 autopoietisches System 91 autopoietische Selbsterzeugung 114, 194 Bewegungsmuster 43, 149, 221, 226, 228 Bewusstsein 17, 22, 27, 35, 52, 54, 56, 108, 116, 134, 157–159, 162, 165 Binnendeterminiertheit 132 Biokommunikation 43, 44, 220, 226 Blastula 124 Blaualgen 24, 66, 144; siehe auch: Cyanobakterien Boten RNS 180, 184 Cartesianische –, Substanzen 22, 54, 157 –, Trennung zwischen Geist und Körper 14, 28, 95 Chloroplasten 209 Chromosomen 37, 178, 179–182, 185 Chromosomentheorie der Vererbung 37 Ciliaten 147, 148 Citratzyklus 91, 233 Computermetapher 181 Cyanobakterien 24, 25, 66, 71, 79, 98, 135, 154, 160, 206, 209, 226 Darwinismus 175, 177, 178 Desoxyribonukleinsäure (DNS) 37 Differenz –, zwischen Organismus und Umwelt 130 –, zwischen Umwelt und Umgebung 152, 164 Dissipative Systeme 26, 85 ›durée‹ 32, 115–119 Eigenraum 34 –, und Eigenzeit in der Selbstgestaltung von Lebewesen 133 Eigenzeit 34 –, und Eigenraum 34, 133
–, adaptiver Ereignisse 134, 136 Embryogenese bzw. Embryonalentwicklung 33, 109, 123 Embryonalstadium 116 Energiefluss 13, 38, 39, 42, 124, 141, 193, 198, 199, 204, 207, 213, 236 –, und adaptive Ereignisse 101, 102 –, durch Organismen, Definition 86, 88 –, selbstorganisierende Kraft 176 –, strukturbildendes Potential 92 Energetische Spannung 13, 16, 17, 29 Entwicklungsprogramm 33, 37, 181 Epigenetische –, Faktoren 21, 49 –, Modifikationen des Genoms bzw. der Chromosomen 11, 182 Erregungsmuster 43, 226, 228 –, Umwandlung in Bewegungsmuster 43, 221 Energiekonvertierende Subsysteme 25–27, 78–91, 93, 94, 102, 115, 118, 125, 134, 135, 140, 175, 188, 202, 202, 234 –, und Energiefluss 86, 93 Erinnerung 32, 64, 66–69, 71, 73, 74, 83, 84, 103, 108–109, 115, 137, 159–163 –, an die Abfolge angestrebter idealer Formen von Funktionsharmonien 155 –, und Erfahrung 28, 31, 51, 93, 97, 98, 118, 131, 135 –, und Erscheinungsform 38, 191 –, und Evolution höherer Organismen aus Bakterien 210 –, des individuellen Gedächtnisses 118 –, und Kreativität 15, 17, 115, 222 –, prozessorientierte Deutung bei Cassirer 15, 31, 106 –, als Vergegenwärtigung in gegenwärtigem Erleben 15, 32, 115 –, als Vergegenwärtigung von idealen Formen von Funktionsharmonien 104
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Sachregister Erfahrung. Definition 15 –, von Raum und Zeit 17, 35, 104, 105, 137 –, und Selbstgestaltung 14, 15, 22, 51, 115 –, und Selbstkonstitution 26, 33, 102, 127–156, 188, 192, 198 –, und physiologische Anpassung 13, 14, 28, 97–107 –, von Umweltänderungen 43, 52, 97, 118, 186, 218 Erscheinungsformen 36, 44, 49, 57, 103 119, 127, 130, 153–156, 159, 163, 177, 215, 231 –, artspezifische 59, 60, 104, 108, 180 –, als Erkennungszeichen (Symbole) 44, 230 –, körperliche 223 –, pathologische 33, 128, 138, 163, 165 Eukaryontische Zellen 37, 40, 41, 90, 107, 161, 184, 209, 210 Evolution –, der Organismen als geschichtlicher Prozess 35, 157–170 –, der Arten 11, 15, 17, 21, 27, 31–33, 36, 37, 47, 49, 52, 59, 61, 106, 109, 115, 119, 123, 155, 166, 169, 181, 188, 222, 231 –, der Arten: darwinistische Erklärungen 171, 172 –, der Arten als Entwicklung biozönotischer Funktionsharmonien 105, 154 –, der Arten und menschliche Geschichte 35, 55, 95, 107, 157, 168 –, der Bakterien, höheren Pflanzen und Tiere in einer co-creativen Höherentwicklung 142 Extended Synthesis 17, 178 Exons 185 Fallacy of simple location 54, 187 Filiation von Strukturen 121, 210 Flagellaten 147, 149, 227 Fließgleichgewicht 12–14, 16–18, 29, 31, 33, 41, 50, 82, 84, 87, 88, 90, 97–
100, 104, 107, 110, 113, 122, 127, 128, 206, 137 –, und Energiefluss 206 Forma formata und forma formans 31, 110, 116 Formbildung 23, 56–60, 183 Formgestaltung 101, 109 –, extensive und intensive 218 Funktionsharmonie 13, 14, 16–18, 27, 29, 30, 32, 33, 35, 36, 39, 41, 42, 44, 76, 89, 91, 93, 99, 100, 102, 104– 106, 108, 118, 119, 122, 123, 128, 134–135, 141, 143, 152, 153–155, 158–160, 162–165, 169, 170, 186, 198, 199, 206, 210, 211, 214, 216, 217, 219–222 –, eines Fließgleichgewichts des Stoffwechsel 12, 16 –, individuelle und artspezifische 16, 30, 159, 163 –, organismusspezifische 14, 29 Gaia Hypothese 119, 204, 239 Gedächtnis 15, 28, 29, 31, 32, 95, 97, 109, 113, 120, 123 –, Artgedächtnis und individuelles 15, 16, 35–37, 40, 105, 106, 107, 115, 134, 136, 158–161, 162–165, 169, 170, 207, 211, 213, 214, 217, 218, 220, 230 –, als Ereignisnatur bei Bergson 115– 119 –, als individuelle und artspezifische Manifestationen 16, 104, 105, 108, 109, 164 –, Konflikt zwischen dem individuellen und dem Artgedächtnis 107, 134, 136, 163, 164, 169, 170 –, und die Kreativität von Organismen 15, 31, 103, 127, 146, 215, 222 –, Manifestation des Gedächtnisses in einer Abfolge adaptiver Ereignisse 70 Genese, diachrone und synchrone 38, 190 Genfrequenz 189
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Sachregister Gen-Schere CRISPR/Cas9 187 Genetische Programme 37, 181–183, 187 Genome Editing 186, 187 Gravitropismus 145 Herr-Knecht Verhältnis 18, 36, 134, 163–167 Heterocysten 107 Hydra 148–150 Ideale Formen 32, 120 –, von Funktionsharmonien 33, 105, 199 Ideelles Regulativ 58, 59, 104, 132, 152, 214, 222 Innere Kräfte 22, 49, 58, 176 Integraler Monismus 111 Intelligenz der Pflanzen 34, 145, 213, 240 Interaktionsmuster 38, 191 Intron 185 Interpenetration 208 Irreversible Thermodynamik 18, 19, 26, 79, 82 Kambrische Explosion 160 Keimplasmatheorie 178 Komplementarität 196 Konkreszenz 89, 96, 125 Korallen 34, 146, 148 Korrelat zum Technisch-Praktischen 33, 129 Kreativität 17, 21, 46, 47, 62, 65, 80, 94, 95, 110, 117, 118, 130, 162, 194, 198, 240 –, und Freiheit 31, 32 –, und Gedächtnis bzw. Erinnerung 15, 31, 95 –, und Stress 33, 127, 128 Krebszellen 143 Kreisprozesse 27, 50, 90–92 –, und Energiefluss 92 Korrelationsgesetz 58, 100 Lautmuster 228 Lebensraum 18, 34, 36, 42, 104, 133,
137, 138, 141, 143, 144, 146, 150, 154, 166, 206, 211, 224, 231 Lebensraumerfahrung 146, 150, 211 Mechanistisches Denkschema 11, 22, 49 Mendel'sche –, Genetik 37, 173, 174, 175, 179, 180 –, Faktoren 174, 175, 179 Mesoderm 175 Mimosa pudica 213 Mitochondrien 90, 209 Moderne Synthese 37, 173, 180, 185, 240 Mollusken 42, 219 –, und ihre Schalen 42, 43, 217, 218 Morphogenese 23, 57, 59, 60, 182 Morula 124 Muscheln 146 Muster(n) 43, 137, 135–137, 191, 220 –, Bildung von 59, 60 –, Erfahrung bzw. Erkennung von 43, 44, 71, 219–221, 222 –, von Erregungen und Bewegungen 43, 149, 221, 226, 228 –, indifferente, kryptische und semantische 44, 222, 223, 225 –, körperlicher Ausdrucksformen 43, 228, 229 –, von Phosphatfluktuationen-und inkorporationen 25, 26, 67, 70, 71, 72, 73, 75, 135, 160 Mutationen 78 –, von Genen bzw. deren Nukleotidsequenzen 11, 36, 173, 175, 178, 187, 189 Mykorrhiza 212 Natural genetic engineering 187 Neo-Darwinismus 36, 37, 59, 173, 175, 178, 180, 185 Nexus 90, 100, 168 Nicht-reduktiver Supervenienzphysikalismus 62, 63 Organe 34, 42, 43, 58, 126, 143, 212, 213, 216, 217, 225
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Sachregister –, zum Anschauen 44, 222, 224 –, der Fortbewegung 148 –, der Sozialbeziehung 224, 225 Organismus –, als individuelle Einheit, die konstitutiv auf andere solche Einheiten bezogen ist 120 –, als Produzent und Produkt 33, 70, 129, 130 Organismische Philosophie Whiteheads 14, 15, 28, 64, 97 Organismisches Subjekt 95, 131 Orthogenese 178 Pennate Kieselalgen 144 Phagozytose 149 Phanerozoikum 208 Phasenraum 107 Pheromone 227 Phoresie 144 Phosphataufnahmesystem 66, 71, 78–86 Phosphatpulse 69, 70–73, 75, 83 Phylogenetische Entwicklung 13, 17, 35, 119, 151, 157–162, 168 Physikalische Selbstorganisation 26, 85 Physikalistische Biologie 23, 50, 52, 55, 61–63 Physiologische Anpassung 13, 14, 24, 28, 93, 97–108, 127 –, und Selbstorganisation 18 Polypen 148, 149 Populationsgenetik 37, 173, 175 Präbiotische Evolution 192, 194, 195– 200 Primaten 134, 214, 229 Primärproduktion 142 Prokaryontische Zellen 106 Proterozoikum 207 Pseudopodien 147, 148 Psychophysisch 13, 14, 29, 97 Quallen 148, 222 Quantenmechanik 39, 107, 187, 198 Quantenphänomene 25, 39, 116–118, 195–198
Raumerfahrung 17, 34, 104, 105, 133, 136–151, 211 –, haptische, akustische, olfaktorische und visuelle 144 –, und Zeiterfahrung bei der Selbstgestaltung von Bakterien, höheren Pflanzen und Tieren 34, 104 Raphe 144 Redoxpotential und pH-Wert 138, 139 Rhizopoden 147 Saltationismus 178 Seeanemonen 146 Seeigel 146, 223 Sekundärproduzenten 142 Selbstbewusstsein 18, 36, 107, 161– 170, 231 Selbstgestaltung Definition 12, 22– 24 –, und Anpassung 12, 93, 99 –, und Erfahrung 14, 15, 17, 22, 31, 35, 51, 104, 115, 133, 185 –, und Evolution 152, 157–162 –, und Fließgleichgewicht bzw. stationäre Stoffwechselzustände 22, 113 –, und Freiheit 126, 169 –, und Gedächtnis 31, 64, 106, 118 –, als gerichtetes Werden zur Form 109, 132 –, als Streben nach idealen Formen von Funktionsharmonien 99, 102, 122, 214 –, und Umweltgestaltung 93–96, 113, 117, 118, 152 Selbstgödelisierung 62 Selbstkonstitution –, in Erinnerungsakten 23 –, als Synonym für Selbstgestaltung 23 Selbstorganisation –, als adaptives Ereignis 84, 85 –, biologische 51, 186, 199, 200 –, und Erfahrung 32; –, eines Kreisprozesses 91; –, und kosmische Entwicklung 32, 200
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Sachregister –, physikalische 26 –, und physiologische Anpassung 18 Selektion bzw. Auslese 175, 185, 176, 177, 179, 185, 192 –, natürliche 11, 36, 52, 54, 61, 141, 172–179 Selektionsdruck 173 Sessile Tiere 34, 146 Sinnesorgane 43, 105, 169, 218, 219 Spaltöffnung 145 Spannung 13, 16, 29, 98, 99, 101 –, und Stress 128 Spannungsfeld(er) 16, 17, 30, 101, 127, 211 –, der Artgemeinschaft 104, 105 –, artspezifische 16, 30, 102, 103, 102–104 –, und Embryonalentwicklung 123– 126 –, und Funktionsharmonien 33, 39, 102, 122, 128, 135, 136 –, des individuellen und des Artgedächtnisses 30, 103, 105, 152, 164 –, intra- und interorganismische 30, 102, 154, 155 –, und kontinuierliche Existenz der ersten Zellen bei der Entstehung von Lebewesen 200–204 –, und kosmische Energieflüsse 39, 40, 199, 200 –, terrestrisches 206, 207 –, zelluläre und übergeordnete gesamtorganismische 102 Stoffwechsel(s) –, und Artgedächtnis 29, 152 –, und Empfindung 99, 111 –, und energiekonvertierende Subsysteme 26, 27, 79, 86–90, 93 –, und Erscheinungsform 12, 13, 31, 32, 58, 60, 87 –, und Fließgleichgewicht 12–14, 16, 29, 41, 99, 110, 128, 17, 23, 26– 29, 31, 32, 41, 45, 50, 51, 58, 60, 73 –, und Freiheit 28, 111, 114, 127
–, und Gestaltbildung 51, 57, 59 –, und Kreativität 17, 31, 32 –, zyklische Anordnung des 90–92, 233, 234 Stress 33, 127, 128 Struktur(en) 21–23, 26, 31, 33–35, 38, 39, 42, 43, 45, 47, 49–52, 55–57, 59, 61, 62, 65–67, 74, 75, 76, 84, 85, 90, 91, 96–103, 106–110, 115, 118, 120–122, 126, 128, 130–132, 134– 136, 150, 152, 155–157, 159, 178, 179, 181, 185, 186, 190–192, 195, 197, 199, 200, 202, 203, 207, 209, 210, 215–217, 219, 220, 223–228, 230 –, als strukturierend und strukturiert 121 Strukturelemente –, und Erzeugung der Umwelt in einer bestimmten Umgebung 12, 51, 95, 128, 129, 134, 152 –, und Freiheit 134 –, einer Gestalt oder Erscheinungsform 29, 51, 56, 58, 110 –, und Selbsterfahrung 110, 152 –, und Zellgedächtnis 64, 77 Strukturelle Kopplung 208 Subjektivität 112, 113, 120 Subjekt-Objekt Differenz 94 Supervenienzphysikalismus 50, 63 Supervenienztheorie 101, 108 Symbiose 41, 148, 208, 209, 212 Symbiotische Assoziation 40, 41, 148, 204, 208–210 Symbole, siehe Erkennungszeichen Symmetrie 42, 216, 222 –, bilaterale 43, 218 System/Umwelt-Theorie 131, 132 Synchrone Struktur 38, 190 Synthetische Theorie 49, 119, 175– 178 Taxonomie 19, 172, 188, 189 Teleologie 53, 54, 203 Thermodynamik 173, 235; siehe auch irreversible Thermodynamik Thylakoide 78, 79, 88
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Sachregister Tiergestalten 18, 147, 220, 230, 240 –, Höherentwicklung der 42, 43, 150, 215, 216, 219 Transgene Organismen 186, 187 Transzendentale Selbsterfahrung 154 Transzendenz 109, 113, 240 Umwelterfahrung 41, 51, 56, 93, 121, 131, 150, 155, 186, 208 Umwelt und Umgebung, siehe Differenz zwischen Umwelt und Umgebung Variationen 16, 30, 36–38, 43, 159, 177, 213, 220, 228, 239 –, und Darwinismus 172–175, 177 –, und Gedächtnis bzw. Erinnerung 106, 162 –, im körperlichen Ausdruck 161 Vegetative Zellen 107 Venusfliegenfalle 213 Vererbung 16, 30, 151 –, Darwins Erklärung 172 –, von Funktionsharmonien 102, 152, 159
–, und Gedächtnis 103, 152 –, neo-Darwinistische 36, 37, 173, 178–183, 241 Wachstumsvorgeschichte 13 Weber-Fechner'sches Gesetz 26, 83, 94 Wellenfunktionen 116–118, 196, 197 Wirkwesen 27, 32, 33, 100, 120, 121, 127, 209, 210, 238 Zeiterfahrung 17, 35, 104, 105, 137 Zellgedächtnis 14, 16, 24, 25, 27, 29, 30, 101, 203, 210 –, und adaptive Ereignisse 93, 94, 115 –, Energetische Grundlagen des Zellgedächtnisses 64, 65, 77, 93 –, und Stoffwechsel 76 Zellwachstum 77, 136 Zellmembran 59, 66, 67, 78, 79, 129, 137, 202 Zygote 33, 119, 123 Zytoplasma 78, 91, 147, 182 Zytoskelett 87, 129, 147
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Personenregister
Aristoteles 63, 188, 240 Aubriot, Luis 53, 84, 136, 237 Bertalanffy, Ludwig von 18, 50, 237 Bergson, Henri 15, 17, 28, 32, 95, 105, 115–119, 127, 199, 214, 237 Bohr, Nils 196 Born, Max 196 Boltzmann, Ludwig 173, 237 Correns, Carl 174 Cassirer, Ernst 15, 27, 31, 95, 108– 110, 115, 116, 127, 155, 132, 237, 238, 241 Cuvier, Georges 58, 100 Danielopol, Dan 19, 55, 237 Darwin, Charles 36, 37, 106, 151, 172, 173, 174, 177–179 Descartes, René 54 Dewey, John 13, 16, 27, 29, 49, 93, 95, 97–101, 106, 110, 127, 191, 237 Dobzhansky, Theodosius 177 Fathi, Adel A. 19 Fetz, Reto Luzius 14, 15, 20, 27, 32, 95, 100, 121, 127, 190, 195, 209, 238, 241 Fuchs, Thomas 74, 91, 92, 128, 129, 131, 134, 161, 238 Ghiselin 189, 238 Goodwin 193, 239 Graffius, Dietmar 19
Hasenleitner, Martina 19, 77, 82, 239 Haeckel, Ernst 16, 18, 29, 103, 109, 123, 151, 239 Hegel, G. W. F. 17, 18, 35, 36, 57, 158, 159, 163–165, 239 Heisenberg, Werner 196 Hering, Ewald 16, 18, 29, 103, 239 Horner, Franz 19 Hempel, G. G. 61 Huxley, Julian 173, 177, 178 Jacob, François 48, 181, 183, 23 Johannsen 179, 239 Jonas, Hans 17, 28, 31, 95, 110–115, 127, 128, 239 Koutroufinis, Spyridon 15, 62, 85, 90, 107, 115, 199, 238, 239 Kant, Immanuel 17, 35, 52, 53, 61, 103, 151, 239 Lamarck, Jean-Baptist 174, 178 Lindauer, Martin 229, 239 Linné, Carl von 174, 189, 191 Lorenz, Konrad 151, 239 Lovelock, James 204, 239 Luhmann, Niklas 131, 132, 194, 208, 240 Maturana, Humberto 92, 240 Mayr, Ernst 175, 175–177, 185, 240 McLaughlin 61, 62, 240 Mendel, Gregor 37, 173–175, 179, 180 Morowitz 193, 205, 240 Müller Gerd 177, 178, 240
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Personenregister Müller, Tobias 17, 30, 101, 238, 240 Mutschler, Hans-Dieter 34, 56, 129, 240 Nagel, Ernest 61 Nietzsche, Friedrich 116, 240 Nägeli, Carl Wilhelm von 179 Noble, Denis 181, 185, 240 Norwig, Martin 62, 63, 240 Oparin, Alexander Ivanovich 194 Pigliucci, Massimo 177, 178, 240 Platon 39, 166, 199; Plaetzer, Kristjan 19, 77, 240 Plessner, Helmuth 134, 240 Portmann, Adolf 18, 42, 44, 215–218, 222–224, 232, 240 Prigogine, Ilia 18, 26, 84, 85, 240 Rosen, Robert 31, 109, 132, 240 Riedl, Rupert 151, 240 Saint-Hilaire, Étienne Geoffroy 174 Schindler, David W. 141, 240 Schrödinger, Erwin 196, 197 Semon, Richard 103 Shannon, Claude 183 Shapiro, James A. 141, 171, 187, 208, 240
Simmel, Georg 109, 240 Simpson, George 177 Spaemann, Robert 55, 240 Stewart, John 185, 241 Strasser, Peter 19 Stucki, Jörg 86, 241 Thellier, Michel 18, 81, 91, 241 Trewavas, Anthony 31, 95, 109, 133, 241 Tschermak-Seysenegg von 174 Uexküll, Jakob von 18, 134, 241 Ullrich, Sebastian 152, 138, 141 Varela, Francisco 92, 240 Vries, Hugo de 174 Wagner, Ferdinand 19, 79, 237, 238, 241 Weaver, Warren 183 Weismann, August 178–180, 241 Wendt 58, 241 Wenzl, Aloys 56 Whitehead, Alfred, North 14, 15, 27, 28, 29, 32, 54, 63, 64, 89–91, 94–97, 100, 101, 106, 107, 116, 118, 127, 129, 133, 158, 168, 176, 177, 187, 238, 240, 241
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