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German Pages 459 [464] Year 2014
Daniela Saxer Die Schärfung des Quellenblicks
Ordnungssysteme Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit Herausgegeben von Jörg Baberowski, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael
Band 37
Daniela Saxer
Die Schärfung des Quellenblicks Forschungspraktiken in der Geschichtswissenschaft 1840–1914
Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Wintersemester 2004/2005 auf Antrag von Prof. Dr. Jakob Tanner und Prof. Dr. Lutz Raphael als Dissertation angenommen. Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress.
© 2014 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH Rosenheimer Straße 143, 81671 München, Deutschland www.degruyter.com Ein Unternehmen von De Gruyter Gedruckt in Deutschland Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN 978-3-486-70485-3 E-ISBN 978-3-486-85378-0
Inhaltsverzeichnis Danksagung
9
Einleitung
11
1. Geschichte treiben: Agenturen, Kulturen, Akteure
43
1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7
Geschichtsforschung in Österreich . . . . . . . . . . . . . Geschichtsforschung in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . Geschichte im Wandel des Hochschulunterrichts . . . . . . Disziplinäre Differenzierungsmuster . . . . . . . . . . . . Professionalisierungsverläufe . . . . . . . . . . . . . . . . Die Verortung der Hilfswissenschaften in frühneuzeitlichen Wissensfeldern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hilfswissenschaftliche Rekonfigurationen im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Von den Historien zum Speicher: Die universitäre Vermittlung 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7
Die frontale Vermittlung des Quellenblicks . . . . . . . . . Dialogische Vermittlungsformen . . . . . . . . . . . . . . Ordnungen historischen Wissens . . . . . . . . . . . . . . Kritische Übungen in historiographischer Tradition . . . . Transparente Speicher: Quellenkonzepte in der Erweiterung Die „Symptome“ der Kulturgeschichte: Grenzziehungsargumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die historische Methode als „Selbstzweck“ der Wirtschaftsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Aneignungen: Die Persona des Geschichtsforschers 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5
Techniken der Selbsterziehung . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungssozialisation: Arbeitserfahrungen in Netzwerken Reputationsgewinnung und Materialzugang . . . . . . . . Selbstermächtigung auf Forschungsreisen . . . . . . . . . . Meisterung der Quellen, Hingabe an die Quellen . . . . . .
4. Forschungsökonomien: Die Rolle von Verwandtschaft und Geschlecht 4.1
Symbolische Genealogien der Geschichtswissenschaft . . .
45 57 68 74 80 88 91 95 97 102 109 113 119 127 132 139 141 146 155 160 163 173 176
6
Inhaltsverzeichnis
4.2
Verwandtschaftliche Ressourcen für Laufbahnen . . . . . .
181
4.3
Vererbte Arbeitsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . .
196
4.4
Männer der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
200
4.5
Liebesdienste für die Forschung . . . . . . . . . . . . . . .
206
5. Materialberge: Die Sammlungspraktiken eines Urkundenregisters 5.1 5.2
221
Die Politik der nationalen Urkunde: Geschichte ohne Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
225
Konfliktpotentiale öffentlicher Rechenschaftspflicht . . . .
233
5.3
Phasen, Kanäle, Orte und Anschlüsse . . . . . . . . . . . .
240
5.4
Die Handlungsgemeinschaft des Urkundenregisters . . . .
247
5.5
Mobilisierungsverfahren zwischen res gestae, Regest und Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
252
Standardisierungsprobleme vom Register zum Original und zurück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
259
Eine regulative Figur: Die Registrierung des Wesentlichen .
264
5.6 5.7
6. Quellen im Bild: Fotografien für ein repräsentatives Tafelwerk
271
6.1
Didaktische Nützlichkeit und politische Repräsentation . .
274
6.2
Imperiale Geschichtspolitik in Lombardo-Venetien . . . .
279
6.3
Zentralstaatliche Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . .
285
6.4
Die Mobilisierung von Projektalliierten . . . . . . . . . . .
288
6.5
Faksimile und Augenschein . . . . . . . . . . . . . . . . .
298
6.6
Konfliktpotentiale fotografischer Autopsiesimulation . . .
302
6.7
Entkontextualisierung und Objektivierung durch die Linse
310
7. Textualisierte Originale: Editorische Objektkonstituierung
323
7.1
Herrscherurkunden: Im „Herzen“ der deutschen Geschichte 328
7.2
Ein Institut übernimmt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
333
7.3
Edierte Reichsgeschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . .
338
7.4
Die „Instituts-Genossenschaft“ . . . . . . . . . . . . . . .
351
7.5
Apparatekombination, Autopsiekoordination . . . . . . . .
355
7.6
Serialisierung und textualisierte Autopsie . . . . . . . . . .
361
7.7
„Revisilust“: Problematisierungs- und Schließungsprozesse
370
7.8
Mikrologie und Transparenz der Quelle . . . . . . . . . . .
376
Inhaltsverzeichnis
Schluss
385
Mobilisieren und schließen: Forschungsprozeduren . . . . . . . Umstrittene Deutungshoheiten: Bemächtigungsstrategien . . . . Zwischen Autopsie und Apparat: Standardisierungsprozesse . . Entliterarisierung und Transparentwerdung: Objektivitätseffekte des Quellenblicks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Disziplinäre Subjektivierungen: Die geschichtswissenschaftliche Persona . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . .
387 390 393
.
396
.
401
Bibliographie Abkürzungsverzeichnis . Untersuchungsmaterial . Ungedruckt . . . . . Gedruckt . . . . . . Darstellungen . . . . . . Personenregister
7
405 . . . . .
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405 405 405 407 416 457
Danksagung Dieses Buch entstand an mehreren Orten und in verschiedenen intellektuellen Zusammenhängen. Umso mehr stehe ich in der Schuld zahlreicher Menschen und Institutionen. Die Durchführung des Forschungsprojekts wäre ohne die finanzielle Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds, des Forschungskredits der Universität Zürich und des vom Land NordrheinWestfalen geförderten Graduiertenkollegs „Genese, Strukturen und Folgen von Wissenschaft und Technik“ der Universität Bielefeld nicht möglich gewesen. Der Schweizerische Nationalfonds unterstützte die Drucklegung. Jakob Tanner hat das Dissertationsprojekt begleitet und mit einem scharfen Blick für historische Fernwirkungen bereichert. Lutz Raphael hat meine Arbeit vielfältig gefördert. Am Graduiertenkolleg des Instituts für Wissenschafts- und Technikforschung der Universität Bielefeld fand ich einen anregenden interdisziplinären Denkraum. Ich danke Peter Weingart und Joachim Radkau für die tatkräftige Unterstützung sowie Andrea Westermann, Gerlind Rüve, Andreas Pettenkofer, Nils Taubert und Sybilla Nikolow für den Austausch von Texten und Argumenten. Das History Department der University of California, Los Angeles, stellte mir während meines Aufenthalts in Los Angeles einen Arbeitsplatz zur Verfügung und ließ mich von seinen ungemein vielseitigen Diskussionszusammenhängen lernen. Peter Reill überließ mir großzügig sein Büro in Bunche Hall und versorgte mich mit äußerst wertvoller Sachkenntnis. Ich nahm an den regelmäßigen Arbeitstreffen chez Sabean teil, die die Lektüre von Kapiteln mit südkalifornischen Tischrunden verbanden. Mein Dank für wertvolle Rückmeldungen geht an Ben Marschke, Britta McEwen, Claudia Verhoeven, David Sabean, Jenna Gibbs, Kelly Maynard und Tami Sarfati. An der Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Zürich fand ich nicht nur einen Arbeitsplatz, sondern auch Kollegen und Freunde, die meine intellektuellen Leidenschaften teilen; danke, Barbara Grimpe, Gisela Hürlimann, Marietta Meier, Markus Bürgi, Monika Dommann, Patrick Kammerer und Roman Rossfeld. Der verstorbene Roger Sablonier führte mich in die Erforschung vergangener Schriftlichkeiten ein. Während meiner Recherchen in Wien haben mir Albert Müller, Helmut Reimitz und Mario Wimmer mit Hinweisen und Material sehr geholfen. Außerdem haben Jim Robbins, Sabine Lippuner und Elisabeth Joris Kapitel der Arbeit kenntnisreich und aufmerksam kommentiert. Marietta Meier hat die Weiterentwicklung der Dissertation zum Buch scharfsinnig begleitet und äußerst wertvolle Rückmeldungen gegeben. Ihr und Sabine Lippuner gilt im Übrigen mein ganz besonderer Dank für ihre umsichtige und unerschrockene Unterstützung. In allen Archiven und Bibliotheken haben mich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit praktischen Hinweisen zuvorkommend unterstützt. Ein beson-
10
Danksagung
derer Dank geht an den freundlichen Paul Herold, der mir das Archiv des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung zugänglich gemacht hat. Ich danke auch Cordula Hubert vom Oldenbourg Verlag und Susan Wille, die mich in der letzten Produktionsphase unterstützt haben. Simon Teuscher hat diese Arbeit in all ihren Stadien furchtlos miterlebt, mit klugen Lektürefeedbacks bereichert und mit seinem Humor dafür gesorgt, dass auch die abgründigen Aspekte der geschichtswissenschaftlichen Praxis immer wieder ihre skurrilen Seiten offenbarten. Auch Marianne Saxer-Simon und Oskar Saxer haben ihre Gelassenheit bewahrt – das Buch ist dem Andenken meiner verstorbenen Mutter gewidmet. Bastian und Arthur bin ich für die sportliche Nachsicht mit einer Mutter dankbar, die ihre Nase gern in alte Schunken steckt. Sollte mir einmal ein wirklich guter Historikerwitz zu Ohren kommen, wären sie die Ersten, denen ich ihn weitererzählen würde.
Einleitung Als die Allgemeine Geschichtforschende Gesellschaft der Schweiz 1891 ihre Jahrestagung in Zürich abhielt, konnten die Teilnehmer ein patriotisches Souvenir nachhause nehmen: Die Zürcher Antiquarische Gesellschaft schenkte den Mitgliedern der nationalen Vereinigung ein Faksimile eines kürzlich wieder gefundenen Bündnisbriefs des Kantons Zürich mit den vier Waldstätten aus dem 14. Jahrhundert. Im Deutungsrahmen der schweizerischen Nationalgeschichte stand die bedeutende Urkunde aus dem Jahr 1351 für die Integration des Kantons Zürich in die schweizerische Eidgenossenschaft. Der großformatige Lichtdruck wurde gefaltet in einem zeichnerisch ausgeschmückten Umschlag gereicht. Hier ging die Fotografie einer historischen Quelle mit ihrer künstlerischen Umsetzung einen neuen Bildverbund ein: Die ornamental gerahmte Vignette auf dem Couvert stellt eine weibliche Personifikation der Stadt Zürich dar, die ein großes, an seinen Siegeln auf den ersten Blick als Urkunde erkennbares Schriftstück lesend vor sich ausstreckt. Auf verspielte Weise verdoppelte und veredelte die Illustration die eigentliche Gabe. Die Mitglieder der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft nahmen ein Abbild einer kostbaren historischen Quelle nachhause, das zugleich als Originalersatz mit fotografisch verbürgtem Authentizitätsanspruch wie als Devotionalie der Geschichtsverehrung zum Einsatz kommen konnte. Das Geschenk der Zürcher Gastgeber verdeutlicht, dass historische Quellen um 1900 als Untersuchungsobjekte der Geschichtswissenschaft wie auch im imaginaire der Geschichtskultur1 eine zentrale Position einnahmen. Die Beschäftigung mit den Quellen der Vergangenheit bildete nicht nur gleichsam das Herzstück geschichtswissenschaftlichen Arbeitens, sondern trug auch wesentlich zur Ausstrahlung der Geschichte in der Gesellschaft bei. Im sozialen Einsatz der Urkundenreproduktion als Gastgeschenk kamen mehrere Dimensionen der historischen Quelle zum Tragen, die im Zentrum dieser Studie stehen. Das Geschenk wirkte allein schon durch seine edle Darreichungsform, die Echtheit und historische Bedeutung signalisierte. So konnte das Faksimile als Gegenstand der Geschichtskultur auch über den Kreis derjenigen hinaus seine Wirkung entfalten, die die Urkunde tatsächlich entziffern konnten. Gleichzeitig erschloss sich aber die geschichtswissenschaftliche Bedeutung der dargebotenen mittelalterlichen Urkunde nur denen, die sich ihr mit geschultem Blick näherten. Die Erforschung historischer Quellen im 19. Jahrhundert war von der Institutionalisierung historischer Forschung, der Spezialisierung quellenfokussierten Forschungswissens und einer Verdichtung der Vorgehensweisen und Situationen der Forschungssozialisation begleitet, die ein immer kleinteiligeres Spezialwissen 1
S. Kap. 1, Einleitung.
12
Einleitung
Abbildung 1: Das ewige Bündniss zwischen Zürich und den vier Waldstätten vom 1. Mai 1351. Zur Erinnerung an das 50-Jährige Jubiläum der geschichtsforschenden Gesellschaft der Schweiz in Zürich am 14. und 15. September 1891 [Hrsg. Antiquarische Gesellschaft des Kantons Zürich], Zürich 1891, Privatbesitz. Foto: Katrin Leuenberger.
Einleitung
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über Quellen und die disziplinär geprägte Figur des Geschichtsforschers hervorbrachten. Auch innerhalb der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft, die noch um 1900 nicht ausschließlich ein Berufsverband war, sondern auch als „Geschichtsfreunde“ arbeitende bildungsbürgerliche Mitglieder versammelte, waren seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in den Leitungspositionen sukzessive nurmehr professionelle, an Universitäten wirkende Historiker zu finden. Weiter macht die geschichtskulturelle Einbettung des Quellengeschenks deutlich, dass im sozialen Gebrauch der Quellen – ob an den Anlässen der bürgerlichen Geschichtskultur oder in wissenschaftlichen Produktions- und Verwendungskontexten – jeweils konkrete Bedeutungsdimensionen aktualisiert wurden. Im Zürcher Fall wurde die Urkunde unter anderem symbolisch eingesetzt, um das Zusammenwirken der regional verankerten lokalen Historiker im nationalen Dachverband im Zeichen der Nationalgeschichte zu verdeutlichen – ein Zusammenwirken, das in der Vergangenheit oft keineswegs konfliktfrei verlaufen war und vielleicht gerade deshalb bestärkt werden musste. Schließlich wird auch sichtbar, dass historische Quellen nicht nur als kostbare Originale in Archiven und Handschriftenabteilungen von Bibliotheken, sondern viel häufiger in materiell unterschiedlichen Bearbeitungs- und Darreichungsformen zum Einsatz kamen, die von der Handpause über die Edition bis zum fotografischen Faksimile reichen. Alle diese medialen Formen wie auch die sie hervorbringenden Techniken zeichnen sich durch spezifische materielle, ästhetische und epistemische Effekte aus, die die geschichtswissenschaftliche Praxis prägten. Im Fall des Zürcher Gastgeschenks betonte die gewählte fotografische Technik die naturgetreue Wiedergabe ohne den Eingriff der menschlichen Hand, während die ornamentale Ausschmückung der Gabe eine dekorative Note als Konsumgut bürgerlicher Bildungskultur verlieh.
Fragestellung und Untersuchungsgegenstand „Die Schärfung des Quellenblicks“ untersucht die Entwicklung und Ausbreitung des Quellenblicks im 19. Jahrhundert: die Ausrichtung auf die historische Quelle als zentrales epistemisches Ding2 der Geschichtsforschung im deutschsprachigen Wissenschaftssystem. Sie leistet auf diese Weise einen Beitrag zur Erforschung der Wissenschaftskultur der akademischen Geschichtsforschung im Zeitraum von 1840 bis 1914. Ausgehend von zwei institutionellen Zentren der Geschichtswissenschaft in Österreich und der Schweiz analysiert die Studie den Umgang der historischen Disziplin mit ihren Untersuchungsgrundlagen in konkreten wissenschaftlichen Handlungs- und Vermittlungszusammenhängen. Dabei konzentriert sie sich auf die sozialen, 2
S. weiter unten im Abschnitt „Untersuchungszugang“.
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Einleitung
materiellen und epistemischen Praktiken historischer Forschung, die im Hochschulunterricht verankert, in der Forschungssozialisation weitergegeben und angeeignet und in historischen Forschungsprojekten entwickelt und angewendet wurden. Das Buch fragt zunächst nach der Ausbreitung und dem Wandel quellenfokussierter historischer Konzepte und Forschungspraktiken, indem es die quellenbezogenen Lernformen, Inhalte und Vermittlungsweisen des universitären Hochschulunterrichts der Geschichte untersucht und die Festigung des disziplinären Arbeitsinstrumentariums verfolgt. Weiter rekonstruiert es die Aneignung von sozialen, konzeptuellen und arbeitspraktischen Kompetenzen der Quellenforschung. Die Techniken der Selbstführung, die Sozialisationsprozeduren in Forschungsnetzwerken sowie die Bemächtigung der Quellen durch junge Forscher geben Aufschluss darüber, wie spezifische Arbeitseinstellungen eingeübt und Verständnisse des geschichtswissenschaftlichen Arbeitssubjekts angeeignet wurden. Dabei werden nicht nur die deklarierten Foren der wissenschaftlichen Sozialisation berücksichtigt. Untersucht wird auch, wie die Arbeitspraxis der – im 19. Jahrhundert ausschließlich männlichen – professionellen akademischen Geschichtsforscher von verwandtschaftlich gebundenem Kapital und geschlechtsspezifischen Arbeitsarrangements zehrte. Schließlich fragt die Studie anhand einer Reihe von Forschungsprojekten nach den gesellschaftlichen Mobilisierungsprozessen, Repräsentationspolitiken und Praktiken der historischen Forschung. Die untersuchten Arbeitspraktiken beruhten auf unterschiedlichen Techniken der Quellensammlung und -bearbeitung. Mit der Untersuchung der Sammlung, Registrierung, Visualisierung, Regestierung und Edition von Quellen sollen Objektverständnisse, Arbeitsstandards und epistemische wie soziale Effekte historischer Forschung rekonstruiert werden. Die Untersuchung geht von der Annahme aus, dass neben den hauptsächlichen Endprodukten historischer Arbeit, den historiographischen Texten, auch die sozialen, materiellen und epistemischen Praktiken der Geschichtswissenschaft untersucht werden müssen, um zu erschließen, welche Wissenschaftskonzepte und Arbeitsverständnisse die Disziplin prägten. In dieser Perspektive erscheint die Forschungspraxis als zentraler Faktor in der Entwicklung einer der Disziplin eigenen Behauptung von Wissenschaftlichkeit. Darüber hinaus erlaubt diese praxishistorische Perspektive auch eine neue Wendung der Frage, wie die soziale Wirkungsmacht der Geschichte als einer bildungsbürgerlichen Leitdisziplin und Legitimationsinstanz des Nationalstaats im 19. Jahrhundert zustande kam. Denn es ist zu vermuten, dass gerade die Verankerung der historiographischen Narrative in einer quellenbasierten Faktenproduktion wesentlich zur Geltung und Reichweite der geschichtswissenschaftlichen Deutungen beitrug. Mit Quellen umgehen zu wissen, bildet die alltägliche Grundlage der wissenschaftlichen Arbeit von Historikern und Historikerinnen; die Vermittlung quellenbezogenen Wissens gehört nach wie vor zum Kernbereich geschichtswissenschaftlicher Sozialisation. Der kritische Umgang mit Quellen, der
Einleitung
15
seit der Frühneuzeit zum zentralen und universalen Forschungszugang von Historikern wurde, sowie die Nähe zu den Quellenspeichern der Archive tragen auch heute noch wesentlich zum Selbstverständnis der Disziplin bei. Die Untersuchung der Verfestigung von quellenzentrierten Forschungsausrichtungen im 19. Jahrhundert erlaubt deshalb auch Rückschlüsse auf die Funktionsweise eines grundlegenden Modus geschichtswissenschaftlichen Wissens, der den meisten Historikern und Historikerinnen – jenseits der beträchtlichen methodischen und theoretischen Divergenzen, die die disziplinäre Landschaft der Geschichte zerklüften – auch heute „unvergleichlich real“3 erscheint und die Grenzen des geschichtswissenschaftlich Sagbaren bestimmt. Dabei sind die gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Gebrauchsweisen historischen Materials wie auch die Konzeptionen der historischen Quelle voraussetzungsreich und bedürfen selbst einer Historisierung, die zu einer Geschichte der Produktion von Objektivität4 in der Geschichtswissenschaft beitragen kann. Dies lässt sich bereits anhand des Quellenbegriffs selbst aufzeigen, dessen Geschichte bis heute erst bruchstückhaft untersucht ist.5 Der deutsche Begriff der „historischen Quelle“ schließt an das lateinische „fons“ für „Quelle“ oder „Ursprung“ an, das seit langem in der Kirchen-, -Rechts- und Reichsgeschichte geläufig war. Dort bezog er sich vor allem auf die Schriften des klassischen Altertums und war mit Ursprünglichkeit und Wissenserkenntnis konnotiert.6 Der deutsche Begriff der Quellen im Sinn der Quellen der Geschichte tauchte erstmals um die Mitte des 18. Jahrhunderts auf – in einer Zeit, in der sich ein zunehmend von theologischen Letztbezügen abgegrenztes und vermehrt methodisch geregeltes Interesse an geschichtlichen Gegenständen herausbildete7 . In seiner Schrift „Allgemeine Geschichtswissenschaft worinnen der Grund einer neuen Einsicht in alle Arten der Gelahrtheit geleget wird“ übernahm Johann Martin Chladenius 1752 den lateinischen Begriff und wei3
4 5
6 7
„Disciplines provide dreams and models both of reality and learning. They give images of coherent discourse. They create modes of knowledge that seem, to the participants, uniquely real.“ Andrew Abbott: Chaos of Disciplines, Chicago 2001, S. 130. Vgl. Lorraine Daston/Peter Galison: Objektivität, Frankfurt a. M. 2007. Johannes Süßmann: Quellen zitieren. Zur Epistemik und Ethik geschichtswissenschaftlicher Textproduktion. In: Joachim Jacob/Mathias Mayer (Hrsg.), Im Namen des anderen. Die Ethik des Zitierens, München 2010, S. 125–139; Michael Zimmermann: Quelle als Metapher. Überlegungen zur Historisierung einer historiographischen Selbstverständlichkeit, in: HA 5/1997, S. 268–288; Ludolf Kuchenbuch: Sind mediävistische Quellen mittelalterliche Texte? Zur Verzeitlichung fachlicher Selbstverständlichkeiten, in: HansWerner Goetz (Hrsg.): Die Aktualität des Mittelalters, Bochum 2000, S. 317–354; Anselm Haverkamp/Barbara Vinken: Quelle, in: Anne Kwaschik/Mario Wimmer (Hrsg.): Von der Arbeit des Historikers. Ein Wörterbuch zu Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft, Bielefeld 2010, S. 161–163. Zimmermann: Quelle als Metapher, S. 270f. Peter Hanns Reill: Die Geschichtswissenschaft in der Mitte des 18. Jahrhunderts, in: Rudolf Vierhaus (Hrsg.): Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung, Göttingen 1985, S. 168.
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Einleitung
tete diesen Gebrauch aus, indem er ihn nicht nur für autoritatives juristisches, theologisches und historiographisches Schriftgut, sondern auch für „Schriften gantz und gar historischen Inhalts“8 verwendete – er erwähnte unter anderem Briefe, öffentliche Schriften und Akten. Der Begriff der „Quellen der Geschichte“ machte in verschiedenen Ausprägungen langsam Karriere und wurde zunehmend zu einem Unterscheidungsmerkmal wissenschaftlich betriebener Geschichte, die sich gegenüber dem historischen Schulwissen darauf berufen konnte, „aus den Quellen zu schöpfen“.9 Als „originale[r] Werkstoff einer neuen akademischen Berufsgruppe“10 etablierten sich Quellen seit dem 18. Jahrhundert. Neben dem Quellenbegriff standen weiterhin viele Alternativbegriffe in veränderlichen Abgrenzungen zur Verfügung, die oft auch beliebig austauschbar blieben; zu nennen sind hier beispielsweise „Monument“, „Alterthum“, „Document“, „Litteratur“, „Stoff “ und „Denkmal“. Diese unterschiedlichen Benennungen für historisches Material sind allerdings bislang weder im synchronen Gebrauchszusammenhang noch diachron in ihren Wechselbeziehungen untersucht worden. Fest steht lediglich, dass „Quelle“ zunehmend für einen größeren Gegenstandsbereich gebräuchlich wurde und auch in Lehrbücher Eingang fand. Prägend war hier vor allem Ernst Bernheims „Lehrbuch der Historischen Methode“, das ab 1889 in mehreren Auflagen erschien und außerordentlich breit rezipiert wurde. Bernheim war es, der durch eine Modifikation von Johann Gustav Droysens triadischer Klassifikation von „Quelle“, „Denkmal“ und „Überrest“ die schließlich am weitesten reichende Prägung des Quellenbegriffs als Oberbegriff für die nicht intentional erhaltenen „Überreste“ und die willentlich überlieferten „Traditionen“ etablierte.11 Die erst allmähliche Erweiterung und Verfestigung eines umfassenden Quellenbegriffs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verweist darauf, dass im Untersuchungszeitraum ein beträchtlicher Wandel in der begrifflichen Orientierung des Faches stattfand, der den Blick auf die Quelle offenbar zunehmend systematisierte. Obwohl das Begriffsfeld der „Quelle“ nicht ausschließlich historiographisch besetzt ist, sondern in verschiedenen Disziplinen, die hermeneutisch verfahren, verwendet wird12 , etablierte sich demnach allmählich eine spe8 9 10 11
12
Johann Martin Chladenius: Allgemeine Geschichtswissenschaft, worinnen der Grund zu einer neuen Einsicht in alle Arten der Gelahrtheit geleget wird, Leipzig 1752, S. 355f. Zimmermann: Quelle als Metapher, S. 273f. Kuchenbuch: Sind mediävistische Quellen mittelalterliche Texte?, S. 328. Vgl. Johann Gustav Droysen: Grundriss der Historik, Leipzig 1868, § 21, S. 14; Ernst Bernheim: Lehrbuch der Historischen Methode und der Geschichtsphilosophie. 5. u. 6., neu bearb. u. verm. Aufl., Leipzig 1906, S. 252–259. Eine ausführliche Formulierung der Droysenschen Quellentypologie findet sich publiziert erst posthum: Johann Gustav Droysen: Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, Hrsg. Rudolf Hübner, München/Wien 1937, S. 37–84. Vgl. zu Philologie und Literaturwissenschaft Winfried Woesler: Der Autor und seine Quellen aus der Sicht des neugermanistischen Editors, in: Anton Schwob/Erwin Streitfeld unter der Mitarb. v. Karin Kranich-Hofbauer (Hrsg.): Quelle – Text – Edition, Tübingen
Einleitung
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zifisch geschichtswissenschaftliche Bedeutungsvariante, auf die sich die Verfahren der historischen Quellenkritik beziehen. Quellen in diesem geschichtswissenschaftlichen Sinn, so lautet die geläufige Definition spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, sind alles Schriftgut und alle Gegenstände, aus denen Kenntnis der Vergangenheit gewonnen werden kann.13 Der Quellenbegriff war in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft so erfolgreich, dass er erst seit den 1960er Jahren wieder mit anderen Begriffen konkurrierte14 . Der Blick auf die wissenschaftlichen und metaphorischen Verwendungsweisen des Begriffs sowie dessen semantischen Implikationen erschließt die epistemische Kultur der Geschichtsforschung von ihren zentralen Begriffsfiguren und Sprachbildern her und erlaubt Aufschlüsse über die untergründige Konsistenz geschichtswissenschaftlicher Orientierung15 . Hans Blumenberg wies bereits 1971 darauf hin, dass die Bezeichnung „Quelle“ eine der wissenschaftlich verwendeten Metaphern sei, die kaum als solche wahrgenommen würden und für die Fachwissenschaften eine „Art lebensweltlicher Selbstverständlichkeit“16 bildeten. In Bezug auf die historische Quelle heiße dies, gleichsam einen Blick auf das Unbewusste der Geschichtswissenschaft zu werfen.17 Ähnlich verwiesen Radkau und Radkau 1973 in einer psychoanalytisch argumentierenden Studie auf die Prägungsmacht des Quellenbegriffs.18 Obwohl der Begriff der Quelle im Lauf des 19. Jahrhunderts zu einem zentralen „terminus technicus“ gegenüber anderen geschichtswissenschaftlichen Materialbezeichnungen wurde, blieben, wie Michael Zimmermann aufzeigte, die metaphorischen Bedeutungsgehalte des Begriffs lebendig, die in verschiedensten Facetten an die Reinheit und Klarheit des Wassers anschließen, organizistisch auf den Ursprung von Leben verweisen und Unmittelbarkeit, Ursprünglichkeit und Lauterkeit implizieren.19 Diese Konnotationen trugen
13
14 15 16 17
18 19
1997, S. 3–19; zum Recht Peter Liver: Der Begriff der Rechtsquelle. Rechtsquellenprobleme im Schweizerischen Recht, in: Festgabe der rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bern für den schweizerischen Juristenverein, Bern 1955, S. 1–55. Dies die abgewandelte Form der Formulierung im weitverbreiteten Standardwerk von Ashaver von Brandt: Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die historischen Hilfswissenschaften, 15. Aufl., Stuttgart/Berlin/Köln 1998, S. 48. Brandt übernimmt eine auf „Tatsachen“ erweiterte Fassung dieser Definition von P. Kirn. Vgl. zu alternativen Objektkonstituierungen in der Geschichtswissenschaft Jakob Tanner: Historische Anthropologie zur Einführung, Hamburg 2004, S. 82–96. Hans Blumenberg: Beobachtungen an Metaphern, in: Archiv für Begriffsgeschichte 15/1971, S. 161–214, hier S. 190–195. Blumenberg: Beobachtungen an Metaphern, S. 191. „Wir haben es hier mit einer geschichtsphilosophischen Imagination zu tun, in der vorweggenommen wird, wie Ereignisse (im weitesten Sinne) miteinander in Zusammenhang stehen können.“ Blumenberg: Beobachtungen an Metaphern, S. 192. Joachim Radkau/Orlinde Radkau: Praxis der Geschichtswissenschaft: Die Desorientiertheit des historischen Interesses, Düsseldorf 1973, S. 73. Zimmermann: Quelle als Metapher, bes. S. 282; vgl. auch Kuchenbuch: Sind mediävistische Quellen mittelalterliche Texte?, S. 328.
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Einleitung
untergründig weiterhin zur Selbstbestimmung der Geschichte als einer Wissenschaft bei, die aus dem reinen Ursprung schöpft. Die Quelle gelte deshalb, so Ludolf Kuchenbuch, als „letzte, quasi ,naturale‘ Autorität im disziplinären Selbstverständnis“.20 Gegenüber dieser begriffshistorischen Herangehensweise entwickelt das Buch Zugänge, um den Wandel des Quellenverständnisses in der Forschungspraxis zu untersuchen. Es geht hierzu von der Arbeit von Historikern aus, die an der Universität Wien und am der Universität angeschlossenen Institut für österreichische Geschichtsforschung beziehungsweise an der Universität Zürich und der mit ihr anfänglich eng verbundenen Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich lehrten. Die Universitätslehrer waren durch ihre Position, die Lehre und Forschung verband, für die Weitergabe historischen Forschungswissens und damit für die Reproduktion der disziplinären Wissenschaftskultur von besonderer Bedeutung. Besonders gut analysieren lassen sich die komplexen Handlungszusammenhänge, in die historische Forschung eingebettet war, anhand der großangelegten Quellenforschungsprojekte, an denen sie sich beteiligten. Die Hochschulhistoriker stellen allerdings bei weitem nicht die einzigen Akteure dar, die ins Blickfeld dieser Studie geraten. Die Forschungsarbeit von Hochschulhistorikern war nämlich in Netzwerken heterogener Akteure und Akteurinnen verankert, die über unterschiedliche Quellenkonzepte, Arbeitsverständnisse und institutionelle Loyalitäten verfügten. Die Praxis historischer Forschung erscheint in dieser interaktionalen Perspektive nicht als linear gerichteter Vorgang wissenschaftlichen Erkenntniszuwachses, sondern als situationsgebundener Prozess sozialer wie konzeptueller Verhandlungen und Übersetzungen, in dem zwischen den unterschiedlichen Vorverständnissen, Zielen und Praktiken der Akteure vermittelt werden musste. Zürich und Wien stellten zwei im jeweiligen nationalen Rahmen zentrale Standorte geschichtswissenschaftlicher Forschung dar. Die Universität Wien war im 19. Jahrhundert die unbestritten führende Universität Österreichs, gehörte bereits damals zu den größten Universitäten im deutschen Sprachraum und war das Flaggschiff der zentralstaatlichen Bildungs- und Forschungspolitik des Habsburgerreichs. Geschichtswissenschaftliche Institutionen und Forschungsprojekte, die von überregionaler Bedeutung waren, konzentrierten sich deshalb in Wien. Zürich verfügte weder über den großstädtischen Charakter Wiens im Fin de siècle noch über eine vergleichbare Dichte geschichtswissenschaftlicher Institutionen. Die Hauptstadt des Kantons Zürich entwickelte sich im Untersuchungszeitraum jedoch in der föderalistisch organisierten Schweiz, die ohnedies nur wenige zentralstaatliche Institutionen aufbaute, zum größten Standort geschichtswissenschaftlicher Forschung und Lehre. So war seit 1855 neben der kantonal geführten Universität, die seit 20
Kuchenbuch: Sind mediävistische Quellen mittelalterliche Texte? S. 328.
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den 1870er Jahren ein starkes Wachstum erfuhr, die einzige zentralstaatliche Hochschule, das Eidgenössische Polytechnikum – die spätere Eidgenössische Technische Hochschule –, in Zürich angesiedelt. Die an der Universität Zürich und am Polytechnikum lehrenden Historiker waren überdurchschnittlich stark in internationale Forschungszusammenhänge einbezogen und dominierten die Allgemeine Geschichtforschende Gesellschaft der Schweiz, die nationale historische Gesellschaft, im Untersuchungszeitraum in Leitungsfunktionen. Der untersuchte Zeitraum markiert eine zentrale Ausbauphase historischer Forschung, die mit der Etablierung der Geschichte als eigenständiger Disziplin an den Universitäten in Zürich und Wien sowie mit der Gründung gewichtiger Forschungsorganisationen einherging, die sich der Erschließung historischer Quellen widmeten.21 Damit nahmen die Schweiz und Österreich an einer gesamteuropäischen Entwicklung teil. Bereits seit dem frühen 19. Jahrhundert wurden in Europa in weit größerem Ausmaß als früher Organisationen gegründet, die sich der Forschungsvermittlung wie auch der Ortung, Sammlung und Edition historischer Quellen verschrieben. Solche Quellenforschungsprojekte waren zwar keineswegs neu; seit dem 17. Jahrhundert hatten sich vor allem kirchliche Institutionen bereits in großem Umfang systematischen Quellensammlungen gewidmet. Im Untersuchungszeitraum führten das Wachstum der akademischen Institutionen und die Verfestigung der historischen Disziplin, der nach dem Ende des Ancien Régime veränderte Status der Archive und die verbesserten Verkehrsinfrastrukturen sowie die staatliche Steuerung der Geschichtsforschung zu einem Boom groß angelegter Editionsvorhaben und neuer Forschungsspezialisierungen. Dieser Ausbau stand meistens im Zeichen nationalgeschichtlicher Orientierungen und konnte auf die finanzielle Unterstützung sich nationalisierender Öffentlichkeiten wie auch auf das große Ansehen der Geschichte als Instanz nationalstaatlicher Legitimation zählen.22 Zu dieser Ausrichtung trugen viele staatliche Institutionen, aber auch Vereine, Gesellschaften und 21
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Zu nennen sind hier die Gründung der Universität Zürich 1833, die Umgründung der Wiener Universität 1848/49, die Gründung der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz im Jahr 1841, die Gründung der Historischen Kommission der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1847, die Gründung des Instituts für österreichische Geschichtsforschung im Jahr 1854 und die Einrichtung des Historischen Seminars an der Universität Zürich im Jahr 1872 sowie die gleichzeitige Abkoppelung des Historischen Seminars in Wien aus dem dort im Jahr 1850 gegründeten philologischhistorischen Seminar. Daniela Saxer: Monumental Undertakings. Source Publications for the Nation, in: Ilaria Porciani/Jo Tollebeek (Hrsg.): Setting the Standards. Institutions, Networks and Communities of National Historiography, London 2010, S. 47–69. Zu geistlichen Editionsunternehmen: Ludwig Hammermayer: Die Forschungszentren der deutschen Benediktiner und ihre Vorhaben, in: Karl Hammer/Jürgen Voss (Hrsg.): Historische Forschung im 18. Jahrhundert. Organisation – Zielsetzung – Ergebnisse, Bonn 1976, S. 122– 191; Pierre Gasnault: Les travaux d’érudition des Mauristes au XVIIIe siècle, in ebd.,
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Landes- sowie Nationalmuseen bei, die von Eliten getragen und häufig sogar „von oben“, auf monarchischen Anstoß hin, gegründet wurden.23 Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts trat außerdem eine verstärkte Internationalisierung des Wettbewerbs unter europäischen Institutionen ein, der die Forschungstätigkeit weiter ankurbelte.24 Die massenhaft gegründeten Editions-, Regesten- und anderen Forschungsunternehmen hatten in diesem Zeitraum einen ungeheuren Ausstoß, der nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr erreicht wurde, weil viele der Unternehmen in der Zwischenkriegszeit in finanzielle Nöte gerieten.25 Trotzdem werden viele von ihnen bis heute weitergeführt. Dies ist nicht nur einem partiellen Wandel der Forschungsstandards geschuldet, der Reeditionen notwendig machte, sondern hat auch mit den gewaltigen Dimensionen des im 19. Jahrhundert ins Auge gefassten Dokumentationsanspruches26 zu tun. Jenseits wissenschaftlicher Themenkonjunkturen bilden viele dieser editorischen Reihen bis heute ein Feld geschichtswissenschaftlicher Kontinuität, das die Disziplin gleichsam untergründig prägt. Die Forschungspraxis professioneller Historiker war, wie die Untersuchung deutlich machen wird, zutiefst in politische und gesellschaftliche Entwicklungen und Diskurse eingelassen, die eng mit der Herausbildung nationaler Geschichtskulturen27 zusammenhingen. In dieser Hinsicht unterscheiden
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S. 102–121; David Knowles: Great Historical Enterprises. Problems in Monastic History, London 1963. Vgl. z. B. Agostino Bistarelli (Hrsg.); La storia della storia patria. Società, deputazioni e istituti storici nazionali nella costruzione dell’Italia, Rom 2012; Odile Parsis-Barubé: La province antiquaire. L’invention de l’histoire locale en France (1800–1870), Paris 2011; Marlies Raffler: Museum – Spiegel der Nation? Zugänge zur historischen Museologie am Beispiel der Genese von Landes- und Nationalmuseen in der Habsburgermonarchie, Wien/Köln/Weimar 2007; Gabriele B. Clemens: Sanctus Amor Patriae. Eine vergleichende Studie zu deutschen und italienischen Geschichtsvereinen im 19. Jahrhundert, Tübingen 2004; Georg Kunz: Verortete Geschichte. Regionales Geschichtsbewusstsein in den deutschen Historischen Vereinen des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000. So wurde 1881 das Österreichische Historische Institut und 1888 das Deutsche Historische Institut in Rom gegründet. Vgl. Karl Rudolf : Geschichte des Österreichischen Historischen Instituts in Rom von 1881 bis 1938, in: Römische Historische Mitteilungen 23/1981, S. 1–137. Für die Monumenta Germaniae Historica vgl. Horst Fuhrmann: „Sind eben alles Menschen gewesen“. Gelehrtenleben im 19. und 20. Jahrhundert, dargestellt am Beispiel der Monumenta Germaniae Historica und ihrer Mitarbeiter, München 1996, S 58, 72. Fuhrmann: „Sind eben alles Menschen gewesen“, S. 13f., 33. Robert J. W. Evans/Guy P. Marchal (Hrsg.): The Uses of the Middle Ages in Modern European States. History, Nationhood and the Search for Origins, Basingstoke 2011; Monika Baár: Historians and Nationalism. East-Central Europe in the Nineteenth Century, Oxford 2010; Stefan Berger/Chris Lorenz (Hrsg.): Nationalizing the Past. Historians as Nation Builders in Modern Europe, Basingstoke 2010; Hans Peter Hye/Brigitte Mazohl-Wallnig/Jan P. Niederkorn (Hrsg.): Nationalgeschichte als Artefakt. Zum Paradigma „Nationalstaat“ in den Historiographien Deutschlands, Italiens und Österreichs, Wien 2009; Bistarelli (Hrsg.), La storia della storia patria; Valentin Groebner: Das Mittelalter
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sich die beiden Untersuchungskontexte einerseits stark, verkörperten doch die Schweiz und Österreich, die sich heute in ihrer Kleinstaatlichkeit und dem Rekurs auf die außenpolitische Neutralität ähnlich sind, im 19. Jahrhundert enorme nachbarschaftliche Gegensätze im europäischen Staatensystem.28 Andererseits waren sowohl Österreich als auch die Schweiz mehrsprachig und konnten sich im Prozess der Herausbildung nationaler Leit- und Geschichtsbilder gerade nicht auf Vorstellungen einer einheitlichen Kultur- oder Volksnation zu stützen. Studien zu Nationskonzepten und zu Nationalisierungsvorgängen in den beiden Ländern zeigen auf, dass die politische und kulturelle Selbstverständigung dieser Staaten im Zeitalter der europäischen Nationalstaatsbildung von verschiedenen Versuchen geprägt war, gesamtstaatlich integrative Geschichten zu finden, die dieser offenkundigen Heterogenität Rechnung trugen. Dies führte in der Schweiz gegen Ende des 19. Jahrhunderts zur Etablierung eines offizialisierten Geschichtsbildes, das sich gerade nicht gleichmäßig auf alle Kantone stützte, sondern sich auf die Kerngebiete der Alten Eidgenossenschaft konzentrierte und eine demokratische Staatstradition ins Mittelalter zurückprojizierte. In Österreich
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hört nicht auf: Über historisches Erzählen. München 2008; Billie Melman: The culture of history. English Uses of the Past 1800–1953, Oxford 2006; Clemens: Sanctus Amor Patriae; Hedda Gramley: Propheten des deutschen Nationalismus. Theologen, Historiker und Nationalökonomen (1848–1880), Frankfurt a. M. 2001; Susan A. Crane: Collecting and Historical Consciousness in Early Nineteenth-Century Germany, Ithaca, N.Y. 2000; Rüdiger vom Bruch: Historiker und Nationalökonomen im Wilhelminischen Deutschland, in: Klaus Schwabe (Hrsg.): Deutsche Hochschullehrer als Elite 1815–1945, Boppard a. Rhein 1983, S. 105–150; ders.: Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung. Gelehrtenpolitik im Wilhelminischen Deutschland (1890–1914), Husum 1980. Zu Österreich und der Schweiz s. Kap. 1. Während die kleine Schweiz nach dem Wiener Kongress ihre Außengrenzen nicht mehr veränderte, erfuhr die Großmacht Österreich während dem Untersuchungszeitraum mehrfach Gebietsveränderungen. Die moderne Schweiz ging 1848 aus einer erfolgreichen bürgerlichen Revolution hervor, baute die demokratischen Rechte erfolgreich aus und wurde zeitweise als Hort revolutionärer Strömungen wahrgenommen. Dagegen restituierte sich im Nachmärz in Österreich vorübergehend ein neoabsolutistisches Regierungssystem; die Parlamentarisierung der Monarchie verlief im Untersuchungszeitraum nur partiell und blieb äußerst störungsanfällig. Im Gegensatz zur gemischtkonfessionellen, föderalen Schweiz war Österreich zentralistischer organisiert, mehrheitlich katholisch, verfügte über eine umfangreiche Staatsverwaltung, ein staatstragendes Beamtentum und über einen zwar weithin seiner materiellen Privilegien beraubten, doch soziopolitisch noch immer wichtigen Adel. Helmut Rumpler: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie 1804–1914, Wien 1997, S. 261–573; Ernst Bruckmüller: Sozialgeschichte Österreichs, 2. Aufl., München 2000, S. 266–271; Roland Ruffieux: Die Schweiz des Freisinns (1848–1914), in: Beatrix Mesmer (Red.): Geschichte der Schweiz und der Schweizer, Basel 1986, S. 639–730; Hans von Greyerz: Der schweizerische Bundesstaat seit 1848, in: Hanno Helbling et al. (Hrsg.): Handbuch der Schweizer Geschichte, Bd. 2, Zürich 1977, S. 1019–1267. Vgl. auch Peter Stadler: Das schweizerische Geschichtsbild und Österreich, in: Schweizer Monatshefte 65/1985, S. 839–854.
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stellte vor allem die Weiterentwicklung der österreichischen Reichsgeschichte einen Versuch dar, nach dem Verlust großdeutscher Perspektiven im Jahr 1866 ein integratives Gesamtstaatsnarrativ zu finden. Dieser Versuch wurde aber durch die zunehmende Bedeutung der sprachnationalen, partikularen historiographischen Diskurse unterlaufen, die sich parallel zu den politischen Spannungen zwischen den österreichischen Ländern und Sprachregionen weiterentwickelten.29 Die untersuchten geschichtswissenschaftlichen Praktiken entfalteten sich also im Kontext mehrsprachiger, kulturell heterogener Staaten, unterschiedlicher regionaler Verwurzelungen, konfessioneller Ausrichtungen und politischer Zugehörigkeiten. Ihre Akteure nahmen aber gleichzeitig an einer transnationalen deutschsprachigen Geschichtswissenschaft und einer verbindenden bürgerlichen und akademischen Kultur teil. Die Gegenüberstellung der beiden Kontexte soll es ermöglichen, das Zusammenspiel von lokalen institutionellen Arrangements, nationalen Rahmungen und internationalen Bezügen in der Praxis von Historikern deutlicher herauszustellen, als dies für eine einzelne Fallstudie möglich wäre. Damit ist bereits angesprochen, worauf der Vergleich in dieser Untersuchungsanordnung abzielt: Bezweckt wird nicht ein systematischer internationaler Vergleich der unterschiedlichen institutionellen Settings und der damit verbundenen Praktiken, der die ganze Untersuchung gleichmäßig strukturieren würde. Die Gegenüberstellung unterschiedlicher Kontexte wirkt vielmehr als heuristischer Anstoß, und die vergleichende Anordnung wird für verschiedene Teilfragestellungen jeweils unterschiedlich stark beansprucht. Nach dem einführenden, systematisierenden Vergleich der Entwicklung institutioneller Rahmenbedingungen und Vermittlungsweisen von Forschung in den ersten beiden Kapiteln nimmt das Buch – von den Ergebnissen dieses Vergleichs ausgehend – für die weiteren Kapitel Tiefenbohrungen vor, die sich mehr ergänzen als gegenüberstehen. Damit werden für die unterschiedlichen Teilfragen der Studie jeweils unterschiedliche Analyseebenen angesteuert.30 Für die Auswahl der untersuchten Fallbeispiele und Forschungsprojekte wurden unterschiedliche materielle und epistemische Dimensionen historischer Praxis berücksichtigt, die für den Untersuchungszeitraum zentral waren. Zudem sollten die ausgewählten Forschungsprojekte 29 30
Vgl. Kap. 1. So schlägt Stake vor, dass man bei der Auswahl von Fällen weniger der Frage nach Repräsentativität als der Frage folgen soll, wie viel vom einzelnen Fall gelernt werden kann. Vgl. Robert E. Stake: Case Studies, in: Norman K. Denzin/Yvonna S. Lincoln (Hrsg.): Handbook of Qualitative Research, Third Ed., Thousand Oaks 2005, S. 443–466: S. 451. Die Fallstudien zu den Forschungspraktiken (Kapitel 5–7) ermöglichen eine Untersuchung entlang zentraler Fragen der Forschungsentwicklung. Ebenso wurden für die Analyse der Sozialisation von Quellenforschern im Anschluss an die Auswertung der prosopographischen Daten verschiedene Vertiefungen gewählt, die mit biographischen Fallstudien operieren.
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eine möglichst dichte Analyse der Forschungsinteraktionen erlauben, insgesamt die ganze Zeitspanne des Untersuchungszeitraums abdecken und verschiedene geschichtswissenschaftliche Praxisbereiche aufzeigen.31
Forschungsdiskussion Die Entwicklung der historischen Forschung im langen 19. Jahrhundert wurde bisher vor allem in institutionen- und disziplingeschichtlichen Studien sowie in der Historiographie-, in geringerem Maß auch in der Wissenschaftsgeschichte thematisiert.32 In den letzten Jahren befassen sich auch medien- und kulturwissenschaftliche Ansätze mit Medien und Figurationen historischer Forschung. In institutionen- und disziplingeschichtlicher Perspektive erscheint das 19. Jahrhundert als Zeitalter der institutionellen und disziplinären Autonomisierung der europäischen Geschichtswissenschaft, die mit einer Aufwertung der Forschung einherging. Dafür lassen sich verschiedene Gründe und Multiplikatoren ausmachen: An den Universitäten wurde Geschichte als eigenständige Disziplin verankert und neue Vermittlungsformen von Forschungswissen wie das Historische Seminar entwickelt. Gleichzeitig professionalisierten sich die Laufbahnen der Hochschullehrer. Die Erfolge der Geschichte als nationalistischer Legitimationswissenschaft gingen einher mit der Gründung historischer Kommissionen und einer überwältigenden Konjunktur des historischen Vereinswesens. Der Markt für historische Literatur expandierte: Es wurden zahlreiche neue historische Zeitschriften und Schriftenreihen für die Publikation von Dissertationen gegründet, auch populäre Genres der Vermittlung von Geschichte florierten. Gleichzeitig wurden historische Quellen zugänglicher, weil der Archivzugang allmählich einfacher wurde und zentrale Quellenbestände durch Forschungsorganisationen erforscht und ediert wurden.33 31
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Mit den Praktiken des Materialsammelns, der Registrierung, der Regestierung, Edition und Visualisierung kommen Verfahren in den Blick, die für alle Hochschulhistoriker im Zeitraum von Bedeutung waren. Für die biographischen Beispiele wurden zum Kernbereich der Disziplin zählende Hochschulhistoriker gewählt, deren Wirkung in ihren jeweiligen Kontexten dank ihrer institutionellen Verankerung, Wirksamkeit und langjährigen Arbeit von großer Bedeutung waren. Vgl. zum Stand der Geschichte der Geschichtswissenschaft die Überlegungen bei Jan Eckel/ Thomas Etzemüller: Vom Schreiben der Geschichte der Geschichtswissenschaft. Einleitende Bemerkungen, in: dies. (Hrsg.): Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, Göttingen 2007, S. 7–26. Allg. im internationalen Vergleich Stefan Berger: Geschichtswissenschaft und ihre Organisationsgeschichte, in: GWU 64/2013, S. 133–138; Porciani/Tollebeek (Hrsg.): Setting the Standards; Gabriele Lingelbach: The Institutionalization and Professionalization of History in Europe and the United States, in: Daniel Woolf (Hrsg.), The Oxford His-
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Die Historiographiegeschichte erschloss die Geschichte historischen Forschens bisher vor allem als Verwissenschaftlichungsprozess, der sich, so die tory of Historical Writing 4. 1800–1945, Oxford 2011, S. 78–96; Ilaria Porciani/Lutz Raphael (Hrsg.): Atlas of European Historiography. The Making of a Profession, 1800– 2005, Basingstoke 2010; Rolf Torstendahl: Historical professionalism. A changing product of communities within the discipline, in: Storia della Storiografia 56/2009, S. 3– 26; Lutz Raphael: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, München 2003, S. 2543, 66–69; Matthias Middell/Gabriele Lingelbach/Frank Hadler: Institutionalisierung historischer Forschung und Lehre. Einführende Bemerkungen und Fragen, in: dies. (Hrsg.): Historische Institute im internationalen Vergleich, Leipzig 2001, S. 9–38; Rolf Torstendahl/Irmline VeitBrause (Hrsg.): History-Making. The Intellectual and Social Formation of a Discipline, Stockholm 1996; Lutz Raphael: Organisational Frameworks of University Life and their Impact on Historiographical Practice, in: ebd. S. 151–167; ders.: Die Erben von Bloch und Febvre, Stuttgart 1994, S. 17–22; Rüdiger vom Bruch: Historiographiegeschichte als Sozialgeschichte. Geschichtswissenschaft als Gesellschaftswissenschaft, in: Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin (Hrsg.), Geschichtsdiskurs, Band 1: Grundlagen und Methoden der Historiographiegeschichte, Frankfurt a. M. 1993, S. 257–270. – Deutschland, Frankreich, USA: Friedrich Jaeger/Jörn Rüsen: Geschichte des Historismus. Eine Einführung, München 1992, S. 67–72; Sebastian Manhart: In den Feldern des Wissens. Studiengang, Fach und disziplinäre Semantik in den Geschichts- und Staatswissenschaften (1780–1860), Würzburg 2011; Wolfgang Weber: Priester der Klio. historisch-sozialwissenschaftliche Studien zur Herkunft und Karriere deutscher Historiker und zur Geschichte der Geschichtswissenschaft 1800–1970, Frankfurt a. M./Bern 1984; Josef Engel: Die deutschen Universitäten und die Geschichtswissenschaft, in: HZ 189/1959, S. 223–378; Gabriele Lingelbach: Klio macht Karriere. Die Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft in Frankreich und den USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2002; Parsis-Barubé: La province antiquaire. – Professionalisierung: Gérard Noiriel: Naissance du métier d’historien, in: Genèses 1/1990, S. 58–85; Horst-Walter Blanke: Historiker als Beruf. Die Herausbildung des Karrieremusters ’Geschichtswissenschaftler’ an den deutschen Universitäten von der Aufklärung bis zum klassischen Historismus, in: Karl-Ernst Jeismann (Hrsg.), Bildung, Staat, Gesellschaft im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1989, S. 343–360; Weber: Priester der Klio. – Vereine und Verbände: Gabriele Lingelbach: Funktion und Entwicklung von Historikerverbänden im internationalen Vergleich, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 64/2013, S. 139–152; Parsis-Barubé: La province antiquaire; Gangolf Hübinger/Barbara Picht/Ewa Dabrowska: Cultures historiques et politique scientifique. Les congrès internationaux des historiens avant la Première guerre mondiale, in: Revue Germanique Internationale 12, S. 175–191; Sebastian Brändli: Helvetischer Föderalismus, vaterländische Wissenschaft. Die historischen Kantonsvereine im 19. Jh., in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 60/2010, S. 302–31; Raffler: Museum – Spiegel der Nation?; Clemens: Sanctus Amor Patriae; Kunz: Verortete Geschichte.– Institute: Matthias Middell/Gabriele Lingelbach/ Frank Hadler (Hrsg.): Historische Institute im internationalen Vergleich, Leipzig 2001. – Zeitschriften: Thomas Küster (Hrsg.): Medien des begrenzten Raumes. Landes- und regionalgeschichtliche Zeitschriften im 19. und 20. Jahrhundert, Paderborn 2013; Olaf Blaschke: Der Beitrag der historischen Zeitschriften zur Wissenskommunikation im 19. und 20. Jh, in: ebd., S. 43–54; Matthias Middell: Vom allgemeinhistorischen Journal zur spezialisierten Liste im H-Net. Gedanken zur Geschichte der Zeitschriften als Elementen der Institutionalisierung moderner Geschichtswissenschaft, in: ders. (Hrsg.): Historische Zeitschriften im internationalen Vergleich, Leipzig 1999, S. 7–32. – Historische Seminare: s. Kap. 2.2.
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gängige Interpretation, seit dem 18. Jahrhundert über eine Methodisierung der Forschung vollzog. Die Standpunkte gehen vor allem in der ideengeschichtlichen Einschätzung dieser Entwicklung auseinander: Zur Debatte stehen die übergeordneten Erkenntnisbezüge, die Darstellungspotentiale und die Ausprägung erkenntnistheoretischer Reflexion in der Historiographie der Spätaufklärung beziehungsweise in der späteren historistischen Geschichtsschreibung.34 Weitgehend unbestritten hingegen scheint, dass sich diejenigen Verfahrensschritte der historischen Forschung, die im allgemeinen als Heuristik und Kritik der Quellen bezeichnet werden, im späten 18. Jahrhundert bereits zum Teil herausgebildet hatten und dass die Forschung an Quellen mit der fortschreitenden Institutionalisierung von Geschichte als Diszi-
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Rüsen und Jäger sehen hinsichtlich der übergeordneten Erkenntnisbezüge einen grundsätzlichen Wandel zwischen Aufklärung und Historismus am Werk. Erst seit dem frühen 19. Jahrhundert habe sich die Forschung fachwissenschaftlich zu einem Begriff der historischen Methode als „Regelsystem der Forschung“ (Jaeger/Rüsen: Geschichte des Historismus, S. 48f.) verdichtet, das nun überdies die interpretierende Integration der quellenkritisch erfassten Tatsachen zu historischen Zusammenhängen umfasst habe. Ebd., S. 19, 49, 59–61; Jörn Rüsen: Rekonstruktion der Vergangenheit. Grundzüge einer Historik 2, Die Prinzipien der historischen Forschung Göttingen 1986, S. 11, 20f., 88– 92; vgl. auch Horst Walter Blanke/Dirk Fleischer (Hrsg.): Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie, Bd. 1, Stuttgart–Bad Cannstatt 1990; Horst-Walter Blanke: The Rise of Historical Criticism and the Process of Professionalization in Historical Studies in Europe. The Case of Germany, in: Helwig Schmidt-Glintzer/Achim Mittag/Jörn Rüsen (Hrsg.): Historical truth, historical criticism, and ideology. Chinese Historiography and Historical Culture in a New Comparative Perspective, Leiden 2005, S. 289–335. Dagegen Peter Hanns Reill: Aufklärung und Historismus. Bruch oder Kontinuität?, in: Otto Gerhard Oexle/Jörn Rüsen (Hrsg.): Historismus in den Kulturwissenschaften. Geschichtskonzepte, historische Einschätzungen, Grundlagenprobleme, Köln 1996, S. 45–68, hier S. 46f.; ders.: Die Geschichtswissenschaft um die Mitte des 18. Jahrhunderts; ders.: The German Enlightenment and the Rise of Historicism, Berkeley 1975; Georg G. Iggers: Historismus im Meinungsstreit, in: Oexle/ Rüsen (Hrsg.), Historismus in den Kulturwissenschaften., S. 45–68, bes. S. 21 u. 26f. Aus anderer Perspektive auch Ulrich Muhlack: Von der philologischen zur historischen Methode, in: Christian Meier (Hrsg.): Historische Methode, München 1988, S. 154–180. Zur Periodisierungsdiskussion vgl. auch Stefan Jordan: Geschichtstheorie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Schwellenzeit zwischen Pragmatismus und Klassischem Historismus, Frankfurt a. M. 1999, insbes. S. 12. – Vgl. die problemorientierten Überblicksbeiträge von Irmeline Veit-Brause: Eine Disziplin rekonstruiert ihre Geschichte. Geschichte der Geschichtswissenschaft in den 90er Jahren (II), in: Neue politische Literatur 46/2001, S. 67–78; dies.: Eine Disziplin rekonstruiert ihre Geschichte. Geschichte der Geschichtswissenschaft in den 90er Jahren (I), in: Neue politische Literatur 43/1998, S. 36–66; dies.: Historicism revisited, in: Storia della Storiographia 29/1996, S. 99–125; dies.: Paradigms, Schools, Traditions. Conceptualizing Shifts and Changes in the History of Historiography, in: Storia della storiografia 17/1990, S. 50– 65.
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plin im frühen 19. Jahrhundert zum „universalen Handlungsprinzip des Historikers“35 wurde.36 Offen bleibt, wie weit die methodologiehistorisch idealtypisch beschriebenen Forschungsmodelle zeitgenössisch implementiert wurden. Unter anderem bleibt unklar, wie einheitlich und systematisch geschichtswissenschaftliche Anweisungen angewendet wurden und wie eng sich die angenommene Koppelung zwischen spezifischen Geschichtskonzeptionen – in Rüsens einflussreichem Modell „leitenden Hinsichten“ – und den konkreten Vorgehensweisen, etwa dem Umgang mit Quellen, tatsächlich gestaltete.37 Auch der Forschungsalltag wird in der Historiographiegeschichte, die nach wie vor stark vom Prinzip historiographischer Autorschaft geprägt ist, wenig thematisiert. Mit den seit Hayden Whites einflussreichen Arbeiten anhaltenden Debatten zur Narrativität der Geschichtswissenschaft38 hat sich überdies die Tendenz, Geschichte mit Texten gleichzusetzen, fortgeschrieben, während die materiellen, epistemischen und sozialen Praktiken der Forschung39 oft im Hintergrund blieben. Arbeiten zur Entwicklung der Geschichtswissenschaft in der Schweiz und in Österreich fügen sich in diese disziplin- und institutionenhistorischen Befunde ein. Auch in der Schweiz konnte sich die Geschichtswissenschaft als Disziplin mit den Reformen der Hochschulbildung im 19. Jahrhundert autonom stellen.40 Weil Untersuchungen zur Forschungspraxis in der Sat35
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Hardtwig, Wolfgang: Die Verwissenschaftlichung der neueren Geschichtsschreibung, in: Hans-Jürgen Goertz (Hrsg.): Geschichte. Ein Grundkurs, Reinbek 1998, S. 245–260: S. 254. Damit sind Deutungen des 19. Jh.s revidiert, die von einem weitgehenden Bruch gegenüber der Frühneuzeit ausgegangen waren. Vgl. z. B. Franz Xaver Wegele: Geschichte der deutschen Historiographie seit dem Auftreten des Humanismus, München/Leipzig 1885, S. 987–989. Jäger und Rüsen stützen sich in ihrem Paradigmenmodell der historischen Sinnbildung wesentlich auf Wilhelm von Humboldt und den zeitgenössisch nur verkürzt rezipierten Johann Gustav Droysen. Die ausführlichen Fassungen methodologischen Schriften Droysens, in denen etwa auch die Droysensche Quellentypologie ausführlich dargestellt ist, erschienen allerdings erst in den 1930er Jahren. Droysen: Historik, S. 37–84. Vgl. die Kurzform in Droysen: Grundriss der Historik, § 21, S. 14. Vgl. zur Kritik z. B. Raphael: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme, S. 14–16; Reill: Aufklärung und Historismus, S. 48–50; Iggers: Historismus im Meinungsstreit, S. 23. Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a. M. 1991; ders.: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart 1986. Zur Forschungsdiskussion vgl. Jan Eckel: Narratologie. Der Sinn der Erzählung. Die narratologische Diskussion in der Geschichtswissenschaft und das Beispiel der Weimargeschichtsschreibung, in: ders./ Etzemüller (Hrsg.): Neue Zugänge, S. 201–229, bes. S. 201–215. Eine bahnbrechende Ausnahme: Bonnie G. Smith: The Gender of History. Men, Women and Historical Practice, Cambridge, MA/London 1998. Ernst Tremp/François Walter: „Geschichte“, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Vers. vom 28.3.2012, URL: URL: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D8271.php.; Peter Stadler: Geschichtswissenschaftliche Organisationsformen in der Schweiz. 1815–1848,
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telzeit fehlen, wird oft davon ausgegangen, dass sich die quellenkritische Forschung in den 1830er Jahren relativ abrupt durchsetzte; eine Ausrichtung, die im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts zumindest in der deutschsprachigen Schweiz durch die Orientierung am deutschen Historismus besiegelt worden sei.41 Dabei wird wenig berücksichtigt, dass Historiker in der Frühneuzeit in vielfältige, transnationale intellektuelle und institutionelle Bezüge eingebunden waren, deren Forschungsdimension weiter erforscht werden müsste.42 Etwas stärker herausgearbeitet wurde der Forschungsaspekt von Geschichtswissenschaft für Österreich. Geistliche Zentren und Hofinstitute erscheinen hier als die zentralen Institutionen der frühneuzeitlichen Ge-
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in: SZG 41/1991, S. 181–186; ders.: L’historiographie suisse vers 1900, in: Storia della storiographia 8/1985, S. 116–122; Edgar K. Fueter: Geschichte der gesamtschweizerischen historischen Organisation. Ein wissenschaftsgeschichtlicher Überblick, in: HZ 189/1959, S. 449–505; Léon Kern: L’érudition historique en Suisse, in: SZG 1/1951, S. 1–17; Richard Feller: 100 Jahre Schweizerischer Geschichtsforschung. Vortrag gehalten anlässlich der Jahrhundertfeier der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz, Bern 1941; Antoine Guilland/Ernst Gagliardi: Suisse, in: Histoire et historiens depuis cinquante ans. Méthodes, organisations et résultats du travail historique de 1876 à 1926, Paris 1927, S. 396–412; Gerold Meyer von Knonau: Geschichtswissenschaft, in: Paul Seippel (Hrsg.): Die Schweiz im 19. Jahrhundert Bern/Lausanne 1900, S. 271–295. – Frühneuzeit: Clorinda Donato: La géographie républicaine. Republic and Representation in Vincenz Bernhard von Tscharner’s Dictionnaire géographique, historique et politique de la Suisse 1775, in: Michael Böhler/Etienne Hofmann/Peter H. Reill et al. (Hrsg.) Republikanische Tugend. Ausbildung eines Schweizer Nationalbewusstseins und Erziehung eines neuen Bürgers, Contribution à une nouvelle approche des Lumières helvétiques, Genève 2000, S. 301–335; Peter Stadler: Die historische Forschung in der Schweiz im 18. Jahrhundert, in: Karl Hammer/Jürgen Voss (Hrsg.): Historische Forschung im 18. Jahrhundert. Organisation – Zielsetzung – Ergebnisse, Bonn 1976, S. 296–313; Richard Feller/Edgar Bonjour: Geschichtsschreibung der Schweiz vom Spätmittelalter zur Neuzeit, 2. Durchges. u. erw. Aufl., Basel 1979; Ulrich Im Hof /François de Capitani: Die Helvetische Gesellschaft. Spätaufklärung und Vorrevolution in der Schweiz, Frauenfeld/Stuttgart 1983, S. 29–31; René Salathé: Die Anfänge der historischen Fachzeitschrift in der deutschen Schweiz (1694–1813), Basel 1959. Vgl. Feller/Bonjour: Geschichtsschreibung der Schweiz, S. 575–577, 599, 675–680, 730. Diese Einschätzungen wurden in späteren Arbeiten zur Nationsgeschichtsschreibung weitgehend übernommen. Vgl. z. B. Oliver Zimmer: A Contested Nation. History, Memory and Nationalism in Switzerland, 1761–1891, Cambridge 2003,, S. 209–226; Sascha Buchbinder: Der Wille zur Geschichte. Schweizer Nationalgeschichte um 1900 – die Werke von Wilhelm Oechsli, Johannes Dierauer und Karl Dändliker, Zürich 2001,, S. 92f. Den Beginn der „kritischen Forschung“ markierte für die ältere Darstellung von Feller/ Bonjour der Urkundenforscher Joseph Eutych Kopp (1793–1866), der als durch seine Kritik am chronikalisch überlieferten Tell-Mythos in den 1830er Jahren europäische Berühmtheit erlangte. Vgl. Alois Lütolf : Joseph Eutych Kopp als Professor, Dichter, Staatsmann und Historiker, Luzern 1868, S. 312–318. Stadler: L’historiographie suisse vers 1900, S. 117. Feller/Bonjour: Geschichtsschreibung der Schweiz, S. 730. Wie Johannes von Müller studierten viele der deutschsprachigen Schweizer Historiker der Frühneuzeit und der Sattelzeit in deutschen Ländern und in Frankreich. Vgl. dazu die Ausbildungsdaten zu den Historikern bei Feller/Bonjour.
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schichtsforschung und Historiographie.43 Die Verwissenschaftlichung der Historiographie im 19. Jahrhundert wurde mit den Reformen der tertiären Bildung in Verbindung gebracht, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts erklärtermaßen eine Annäherung des österreichischen Bildungswesens an deutsche Vorbilder herbeiführen sollten. Die Forschung, die noch im Spätabsolutismus durch Zensur und mangelnde akademische Mobilität national isoliert gewesen war, habe sich nun am historistischen „Paradigma“44 orientiert.45 Im Zug dieser Adaption kam es, so die Einschätzung, zu einer besonders „positivistischen“ Spielart des Historismus, die sich durch einen hohen Grad an Spezialisierung im hilfswissenschaftlichen und quellenkundlichen Bereich auszeichnete.46 Je nach Perspektive wurde diese Entwicklung als Reaktion auf das Fehlen eines überzeugenden nationalstaatlichen Narrativs47 oder als Impuls, Fakten zu sichern, interpretiert, der auf die Entwicklung eines „ethnisch-kulturell bedingten Perspektivismus“48 im von Partikularismen bedrängten Vielvölkerstaat antwortete. Für die Schweiz wie für Österreich muss man allerdings stärker betonen, wie stark diese fachlichen Entwicklungen international verankert waren.49 In beiden Ländern entwickelten sich die akademischen Qualifikationsbedingungen und universitären Curricula ähnlich wie in Deutschland. Deutschsprachige Historiker rezipierten unabhängig von ihrem Standort über Fachperiodika und bildungsbürgerliche Blätter die jeweils neuesten Entwicklungen in den Regionen und einzelnen Ländern.50 Diese Integration in eine übergreifende 43
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Alphons Lhotsky: Österreichische Historiographie. München 1962, S. 114–138; Anna Coreth: Österreichische Geschichtsschreibung in der Barockzeit 1620 –1740, Wien 1950, S. 91–121, bes. 97f. Insbes. zur diplomatischen Forschung bis 1854 vgl. Peter G. Tropper: Urkundenlehre in Österreich. Vom frühen 18. Jahrhundert bis zur Errichtung der „Schule für Österreichische Geschichtsforschung“ 1854, Graz 1994. Günter Fellner: Ludo Moritz Hartmann und die österreichische Geschichtswissenschaft. Grundzüge eines paradigmatischen Konflikts, Wien 1985, S. 67–71. Walter Höflechner: Forschungsorganisation und Methoden der Geschichtswissenschaft, in: Karl Acham (Hrsg.): Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften. Bd. 4, Geschichte und fremde Kulturen, Wien 2002, S. 217–238: 219–221; Lhotsky: Österreichische Historiographie, S. 157–173, bes. 162. Zu Ausbau und Diversifikation der österreichischen Geschichtswissenschaft vom späten 19. Jh. bis in die 1930er Jahre s. Pavel Kolář: Geschichtswissenschaft in Zentraleuropa. Die Universitäten Prag, Wien und Berlin um 1900, Bd. 2, Leipzig 2008, S. 267–383. Karl Acham: Einleitung, in: ders. (Hrsg.): Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften. Bd. 4, S. 15–64: S. 35; ders.:Vorbemerkung, ebd., S. 67–80: 69f.; Fellner: Ludo Moritz Hartmann, S. 87; Lhotsky: Österreichische Historiographie, bes. S. 175 u. 193. Lhotsky: Österreichische Historiographie, S. 198–200. Acham: Einleitung, S. 35. Zu den strukturellen Ähnlichkeiten an den geschichtswissenschaftlichen Standorten Berlin, Wien und Prag seit 1890 vgl. Kolář: Geschichtswissenschaft in Zentraleuropa. Es fehlten dagegen systematisch vergleichende Arbeiten zur internationalen Integration der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft insgesamt, deshalb müssen einige Indizien genügen. Besonders die nach Ländern geordneten Literaturberichte der „Historischen Zeitschrift“
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deutschsprachige Geschichtswissenschaft erfolgte allerdings in der deutschsprachigen Schweiz und in Österreich in unterschiedlicher Art und Weise.51 In der jüngeren Wissenschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit wird die Entwicklung des in die modernen Geschichtswissenschaften mündenden Methodenverständnisses in den Kontext eines breiteren Wissensgefüges gerückt und auf epistemische Verfahren hin befragt. In Beiträgen zu so unterschiedlichen Wissenszusammenhängen wie der Naturgeschichte, der Medizin, der Theologie oder der „historia litteraria“ wurde die frühneuzeitliche „historia“ als besonderer empirischer Wissenszugang seit dem 16. Jahrhundert untersucht, der sich nicht nur auf menschliches Handeln, sondern auch auf die natürliche Welt richtete und eine deskriptive, auf der Sinneswahrnehmung beruhende und detailorientierte Erkenntnisgewinnung
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trugen ab 1859 dazu bei. Vgl. Theodor Schieder: Die deutsche Geschichtswissenschaft im Spiegel der Historischen Zeitschrift, in: HZ 189/1959, S. 1–104: 6–8. In den deutschen Ländern gegründete Forschungsorganisationen definierten ihr Untersuchungsgebiet überstaatlich und bezogen österreichische und schweizerische Historiker ein und definierten ihr Untersuchungsgebiet überstaatlich. Zu den 1819 gegründeten Monumenta Germaniae Historica vgl. Kap. 7. In der Historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hatten österreichische und schweizerische Historiker ständigen Einsitz. Im Untersuchungszeitraum vertraten die Zürcher Historiker Georg von Wyss und Gerold Meyer von Knonau die Schweiz. Zu den österreichischen Mitgliedern s. Lhotsky: Österreichische Historiographie, S. 163. Auch an Editionen wie den Jahrbüchern des Deutschen Reichs arbeiteten im Untersuchungszeitraum der Österreicher Karl Uhlirz und Gerold Meyer von Knonau mit. Die schweizerischen Eliten der Frühneuzeit waren international mobiler und besser integriert als die österreichischen Eliten, was sich im 19. Jahrhundert in einer höheren studentischen Auslandsmobilität fortsetzte. Katholiken studierten überdies im Ausland, weil es bis zur Gründung der Universität Freiburg i. Ue. (1889) in der Schweiz keine katholischen Universitäten gab. Für einen partiellen Einblick in die Frequenzen schweizerischer Geschichtsstudenten in Innsbruck für die Zeit ab 1860 vgl. Oberkofler/ Goller (Hrsg.): Alfons Huber, Briefe, S. 531–563. Vgl. Helmut Engelbrecht: Geschichte des österreichischen Bildungswesens, Bd. 4, Wien 1986, S. 243. Dagegen war es österreichischen Studenten vor 1848 verboten gewesen, an ausländischen Universitäten zu studieren, und auch nach 1848 war nur wenig studentische Auslandsmobilität zu verzeichnen. Ebd., Bd. 3, S. 284. Auch die Hochschulen in der Schweiz waren im Untersuchungszeitraum internationaler. Öfter als in Österreich wurden die Geschichtslehrstühle in der deutschsprachigen Schweiz von deutschen Professoren besetzt. Weber: Priester der Klio, S. 65f., ebd., Fn. 10, 388. Vgl. Franz Horvath: Hochschulkarrieren im Wandel. Reproduktion, Professionalisierung und Internationalisierung des Schweizer Hochschulpersonals, in: Ulrich Pfister/Brigitte Studer/Jakob Tanner (Hrsg.): Arbeit im Wandel. Organisation und Herrschaft vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Zürich 1996, S. 145– 170. Trotzdem standen deutschsprachige österreichische Historiker in einem organisatorisch, historiographisch, politisch und kulturell bestimmten Nahverhältnis zu ihren deutschen Kollegen, das ihre schweizerischen Kollegen nicht teilten. Die österreichischen Historiker schlossen sich dem Verband deutscher Historiker an und gründeten im 19. Jahrhundert keine eigene nationale Vereinigung. Vgl. Fellner: Geschichtsschreibung und nationale Identität, S. 150f. Dagegen organisierten sich schweizerische Historiker dezidiert national.
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meinte.52 Zudem nahm man im Vergleich zur Historiographiegeschichte größere epistemische Kontinuitäten im forschenden Umgang mit Geschichte an – sowohl diachron seit dem 16. Jahrhundert als auch synchron zwischen den Wissensfeldern.53 Diese Arbeiten bieten indirekte Anschlussmöglichkeiten, um eine Praxisgeschichte der Geschichtswissenschaft breiter in wissenschaftshistorischen Entwicklungen zu verorten. So wurden bisher einzelne Erkenntnisinstrumente frühneuzeitlicher Historiker und Naturhistoriker untersucht – etwa Tabellen, Taxonomien, Exzerpte, Fußnoten, Zettelkästen oder Kompilationen –, die auch für die spätere geschichtswissenschaftliche Praxis von Bedeutung sind.54 Neuerdings setzen sich auch kultur- und medienhistorische Studien aus verschiedenen Perspektiven mit den zentralen Forschungsgrundlagen der Geschichtswissenschaft auseinander.55 Sie rücken insbesondere das Archiv 52
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Frank Grunert/Friedrich Vollhardt (Hrsg.): Historia Literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin 2007; Gianna Pomata/Nancy G. Siraisi (Hrsg.): Introduction, in: dies. (Hrsg.): Historia. Empiricism and Erudition in Early Modern Europa, Cambridge, MA 2005, S. 1–38; Donald Kelley, Donald R.: Between History and System, in: ebd., S. 211–237; Anthony Grafton: The Identities of History in Early Modern Europe, in: ebd., S. 41–74; ders.: What was History? The Art of History in Early Modern Europe, Cambridge/New York 2007; ders.: Polyhistor into Philolog. Notes on the Transformation of German Classical Scholarship, 1780–1850, History of Universities 3/1983, S. 159–192; Arno Seifert: Cognitio Historica. Die Geschichte als Namengeberin der frühneuzeitlichen Empirie, Berlin 1976. Pomata/Siriasi: Introduction, 3f. Vgl. Benjamin Steiner: Tatsachen der Geschichte. Kritik, Archäologie und Genealogie frühneuzeitlicher Tabellenwerke als Reservoire und Ordnungssysteme historisch-empirischen Wissens, in: Frank Bezner und Kirsten Mahlke (Hrsg.): Zwischen Wissen und Politik. Archäologie und Genealogie frühneuzeitlicher Vergangenheitskonstruktionen, Heidelberg 2011, S. 255–280; Benjamin Steiner: Die Ordnung der Geschichte. Historische Tabellenwerke in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar 2009; Arndt Brendecke: Tabellen in der Praxis der frühneuzeitlichen Wissensvermittlung, in: Theo Stammen/ Wolfgang Weber (Hrsg.), Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung: Das europäische Modell der Enzyklopädien. Berlin 2004, S. 157–185; Markus Krajewski: Zettelwirtschaft. Die Geburt der Kartei aus dem Geiste der Bibliothek, Berlin 2002; Anthony Grafton: The Footnote. A Curious History, London; Martin Gierl: Kompilation und die Produktion von Wissen im 18. Jahrhundert, in: Helmut Zedelmaier/Martin Mulsow (Hrsg.): Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2001, S. 63–94. Gabriele Lingelbach: Ein Motor der Geschichtswissenschaft? Zusammenhänge zwischen technologischer Entwicklung, Veränderungen des Arbeitsalltags von Historikern und fachlichem Wandel, Vers. vom 09.08.2011, in: Zeitenblicke 10(1)/2011. URL: http://www.zeitenblicke.de/2011/1/Lingelbach/index_html (11.6.2013); Armin Heinen: Mediaspektion der Historiographie. Zur Geschichte der Geschichtswissenschaft aus medien- und technikgeschichtlicher Perspektive, Vers. vom 09.08.2011, in: ebd., URL: http://www.zeitenblicke.de/2011/1/Heinen/index_html (10.8.2013); Fabio Crivellari/Kay Kirchmann/Marcus Sandl et al. (Hrsg.): Die Medien der Geschichte. Historizität und Medialität in interdisziplinärer Perspektive, Konstanz; dies.: Einleitung. Die Medialität der Geschichte und die Historizität der Medien, in: ebd., S. 9–45. Zu einzelnen Medien: Kathrin Maurer: Visualizing the Past. The Power of the Image in German Histo-
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in den Mittelpunkt.56 Die Bedeutung des Archivbegriffs für diese Perspektiven schreibt sich zum einen von der poststrukturalistischen Theorie her, wo er – sowohl bei Michel Foucault als auch bei Jacques Derrida – für die Ermöglichungsbedingungen von Wissen überhaupt steht, für die autoritativen Instanzen des Sagbaren und Tradierbaren.57 Die Thematisierung des Archivs als kultureller Instanz trifft zum anderen auf Selbstbefragungen von Historikern der Gegenwart, welche die stauberfüllte Welt des Archivs als Hervorbringungsort einer spezifisch geschichtswissenschaftlichen Subjektivität diskutieren.58 Gleichzeitig wird inzwischen der Geschichte von Archivierungsvorgängen und -konzepten sowie ihrer politischen und epistemischen Wirkung vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt.59 Aus medienhistorischer
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ricism, Berlin 2013; Ulfert Tschirner: Museum, Photographie und Reproduktion. Mediale Konstellationen im Untergrund des Germanischen Nationalmuseums. Bielefeld 2011; Maurice Samuels: The Spectacular Past. Popular History and the Novel in NineteenthCentury France, New York 2004; Cornelia Vismann: Akten. Medientechnik und Recht. Frankfurt a. M. 2000. Wolfgang Ernst: Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung, Berlin 2002; Carolyn Steedman: Dust. The Archive and Cultural History. New Brunswick, NJ 2002; Aleida Assmann: Speichern oder Erinnern? Das kulturelle Gedächtnis zwischen Archiv und Kanon, in: Moritz Csáky/Peter Stachel (Hrsg.) Speicher des Gedächtnisses. Bibliotheken, Museen, Archive, Teil 2: Die Erfindung des Ursprungs. die Systematisierung der Zeit, Wien 2001, S. 15–30. Vgl. dazu ausführlich Steedman: Dust. Das Archiv als Erkenntnisort und Reich der historischen Sinne reflektierte besonders eindrücklich Arlette Farge: Le goût de l’archive, Paris 1989. S. auch Steedman: Dust. Philipp Müller: Archives and History. Towards a History of ,the Use of State Archives’ in the 19th Century, in: History of the Human Sciences 26/2013, S. 27–49; ders.: Doing Historical Research in the Early Nineteenth Century. Leopold Ranke, the Archive Policy, and the Relazioni of Venetian Republic, in: Storia della Storiografia 56/2009, S. 80–102; Mario Wimmer: Archivkörper. Eine Geschichte historischer Einbildungskraft, Konstanz 2012; Sebastian Jobs/Alf Lüdtke (Hrsg.): Unsettling history. Archiving and narrating in historiography, Frankfurt a. M. 2010; Jakob Tanner: „The medium is the message“: Die Virtualisierung und Kommerzialisierung des Archivs aus historischer Sicht, in: Info 7(2)/2004, S. 73–77; Randolph Head: Knowing Like a State. The Transformation of Political Knowledge in Swiss Archives 1450–1770, in: Journal of Modern History 75/2003, S. 745–782; Reto Weiss: „Die Registratur der Archive“. Die Entwicklung des Zürcher Archivwesens im 18. Jahrhundert, Zürich 2002; Hedwig Pompe/ Leander Scholz (Hrsg.): Archivprozesse. Die Kommunikation der Aufbewahrung, Köln 2002; Hansjörg Siegenthaler: Die Rolle der Archive im gesellschaftlichen Lernprozess, in: Studien und Quellen 27/2001, S. 35–48; Bertrand Muller: Des archives en mutation et du vertige de l’historien. Remarques historiographiques, in: ebd., S. 59–64; Krzysztof Pomian: Du monopole de l’écrit au répertoire illimité de sources. Un siècle de mutations de l’histoire, in: ebd., S. 15–34; Christoph Graf : „Arsenal der Staatsgewalt“ oder „Laboratorium der Geschichte“? Das schweizerische Bundesarchiv und die Geschichtsschreibung, in: ebd., S. 65–82; Patrick Joyce: The Politics of the Liberal Archive, in: History of the Human Sciences 12/1999, S. 35–49; Richard Harvey Brown/Beth Davis-Brown: The Making of Memory. The Politics of Archives, Libraries and Museums in the Construction of National Consciousness, in: History of the Human Sciences 11/1998, S. 17–32; Gérald Arlettaz: Aux origines des archives nationales, in: Studien und Quellen 24/1998, S. 15–34.
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Perspektive hat Wolfgang Ernst in einer Studie zu den „Speichern des deutschen Gedächtnisses“ – Archiven und Bibliotheken – Aspekte der medialen Formierung der historischen Überlieferung in Deutschland seit dem frühen 19. Jahrhundert untersucht. Ernst geht es um die Eigenlogik materialer Grundlagen, die, so eine Hauptthese der Studie, den sinnstiftenden Erzählungen der Geschichte eine störrische Faktizität entgegenhalten, die nicht diskursiv eingeholt werden kann.60
Untersuchungszugang „Die Schärfung des Quellenblicks“ kann an solche institutionen-, historiographie-, wissenschafts- und mediengeschichtlichen Befunde anschließen, entwirft aber eine dezidiert praxishistorische Sicht61 auf die Geschichte der historischen Forschung. Die Studie verbindet mit der – institutionenhistorisch begründeten – Abgrenzung des Untersuchungszeitraums keine apriorische Periodisierung der untersuchten wissenschaftlichen Verfahren, erscheint es doch heuristisch fruchtbarer, zunächst von potentiellen Ungleichzeitigkeiten und Mehrsinnigkeiten von Entwicklungen in der historischen Forschung auszugehen. Die Bezüge auf die Forschungen der Frühneuzeit und der Sattelzeit können dabei als inhärente Bestandteile der zeitgenössischen geschichtswissenschaftlichen Praxis diskutiert werden, die ältere Forschungsinfrastrukturen verwertete und transformierte. Die Studie entwickelt unterschiedliche Blickwinkel auf einen heterogenen Reigen von Akteuren, die zum Alltag der Geschichtswissenschaft beitrugen. Ins Blickfeld kommen so auch regionale Entwicklungspfade, quer zu nationalen Räumen stehende internationale Dynamiken sowie die lokale Verortung geschichtswissenschaftlichen Handelns. Anstatt von einem paradigmatisch prägenden historistischen Denkgebäude geht das Buch demnach von der situativen Verortung, materiellen Verankerung und sozialen Umstrittenheit der geschichtswissenschaftlichen Praxis aus. Aushandlungsprozesse wissenschaftlichen Wissens und Praktiken der Wissensproduktion kamen seit der Zwischenkriegszeit ins Blickfeld von Vor60 61
Wolfgang Ernst: Im Namen von Geschichte. Sammeln – Speichern – Er/Zählen, infrastrukturelle Konfigurationen des deutschen Gedächtnisses, München 2003. Vgl. die Forderungen nach einer Geschichte geschichtswissenschaftlicher Praktiken: Philipp Müller: Geschichte machen. Überlegungen zu lokal-spezifischen Praktiken in der Geschichtswissenschaft und ihrer epistemischen Bedeutung im 19. Jahrhundert. Ein Literaturbericht, in: HA 12/2004, S. 415–433; Irmline Veit-Brause: The Disciplining of History. Perspectives on a Configurational Analysis of Its Disciplinary History, in: Torstendahl/dies. (Hrsg.), History-Making, S. 7–29: 8f. Zu praxishistorischen Zugängen allg. s. den Überblick bei Sven Reichardt: Praxeologische Geschichtswissenschaft. Eine Diskussionsanregung, in: Sozial.Geschichte 22/2007, S. 43–65.
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läufern der heutigen Wissenschaftsforschung. Einen im deutschsprachigen Raum wenig rezipierten Beitrag lieferte der amerikanische pragmatistische Philosoph John Dewey 1929 mit seinem Werk „The quest for certainty“.62 Wissen ist in Deweys Augen immer in Praktiken und deren Situationen, den “natürlichen und sozialen Schauplatz“63 der Welt, eingelassen, Erkennen also ein handelndes Teilnehmen an der Welt. Diese Aufwertung der Erkenntnis- und der Wissenschaftspraxis findet sich in den späteren wissenschaftssoziologischen Arbeiten wieder, die in der Tradition des symbolischen Interaktionismus64 stehen. Lange Zeit kaum beachtet blieben die Beiträge des Mediziners und Bakteriologen Ludwik Fleck, der 1935 soziologische Überlegungen zur Stabilisierung von wissenschaftlichem Wissen vorlegte.65 Fleck postulierte, dass für die Formulierung wissenschaftlicher Erkenntnisse die alltägliche wissenschaftliche Praxis im sozialen Kollektiv von Forschern ausschlaggebend ist: Der „Denkstil“ als Ensemble von Beurteilungsmaßstäben, selektiven Aufmerksamkeiten und Techniken bestimmt demnach, was Wissenschaftler zu bestimmten Zeiten wahrnehmen und bearbeiten können. Er muss immer im Handlungskontext der „Denkkollektive“ gesehen werden, denen jene zugehören.66 Die Produktion anerkannt wissenschaftlichen Wissens beschrieb Fleck als Lernprozess in der sozialen Praxis, in der Techniken, Vorstellungen, praktische Rezepte und Dinge „von Hand zu Hand, von Kopf zu Kopf “67 gehen.68 Ähnlich entwickelte der Chemiker und Wissenschaftsphilosoph Michael Polanyi das Konzept des „impliziten Wissens“, gemäß dem „wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen“.69 Diesen nichtformalisierbaren Überschuss der Wissenserzeugung setzt Polanyi mit unter der Schwelle bewusster Aufmerksamkeit ablaufenden Wahrnehmungsprozessen in Verbindung, die sich durch eine produktive, systematische 62
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John Dewey: Die Suche nach Gewissheit. Eine Untersuchung des Verhältnisses von Erkenntnis und Handeln, Frankfurt a. M. 1998 (Amerikan. Erstausg. 1929), bes. S. 26; 197– 211. Dewey: Die Suche nach Gewissheit, S. 197. Einen Forschungsüberblick bietet Jörg Strübing: Symbolischer Interaktionismus revisited. Konzepte für die Wissenschafts- und Technikforschung, in: Zeitschrift für Soziologie 26/1997, S. 368–386. Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre von Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt a. M. 1980 (Erstausg. 1935). Fleck: Entstehung und Entwicklung, bes. S. 15, 33f., 53–70. Fleck führte dies anhand der Geschichte der Wassermannreaktion aus: „Fertigkeiten, Erfahrungstatsachen, Ideen – ,falsche‘ und ,richtige‘ – gingen von Hand zu Hand, von Kopf zu Kopf, und änderten sicherlich ihren Inhalt, sowohl während des Aufenthaltes in jedem Individuum, als auch während des Weges von Person zu Person, da vollkommenes Verstehen des tradierten Wissens so schwer ist. Schließlich entstand ein Wissensgebäude, das eigentlich von niemandem geahnt und beabsichtigt wurde, ja eigentlich gegen das Ahnen und die Absicht der Einzelnen.“ Fleck: Entstehung und Entwicklung, S. 91. Fleck: Entstehung und Entwicklung, S. 118. Michael Polanyi: Implizites Wissen, Frankfurt a. M. 1985 (Erstausg. 1966), S. 14. Hervorhebung im Original.
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Trübheit70 auszeichnen. Wissen erscheint in diesem Zusammenhang nicht mehr nur als Gegenstandswissen, sondern auch als Wissen-wie, als (körperliche) Einverleibung, die auch die Nachahmung von Vorbildern im sozialen Zusammenhang der Wissenschaft umfasst.71 Wissenschaftliche Praktiken – vorzugsweise der Naturwissenschaften72 – sind inzwischen zu einem wichtigen Untersuchungsfeld der neueren Wissenschaftsforschung geworden. Ihre Erforschung wurde auf unterschiedliche empirische Felder angewandt73 , so dass zwischenzeitlich sogar von einem „practice turn“74 die Rede war. Gegenüber dem in der Wissenschaftsphilosophie lange Zeit vorherrschenden Primat der Theorie heben diese Zugänge den Handlungsaspekt und die soziale Bedingtheit von Wissenschaft hervor. Die Studie interessiert sich für die Durchführungsweisen historischer Forschung, die Handlungsorientierungen und sozialen Auseinandersetzungen der beteiligten Akteure sowie deren materielle und epistemische Praktiken. Hier sollen vier Untersuchungsperspektiven hervorgehoben werden, die für die Studie zentral sind. Erstens richtet „Die Schärfung des Quellenblicks“ sein Augenmerk auf die Wege der historischen Forschung. Im Zentrum stehen deshalb nicht die Endprodukte der Forschung, sondern die Arbeitsprozesse, die zu ihnen geführt haben, die Sozialisationsbedingungen und Selbstverständigungen von Forschern, die Vermittlung von Forschungswissen, die Konstituierung
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„Wir sehen nun ein, wieso ungetrübte Klarheit unser Verstehen komplexer Sachverhalte zunichte machen kann“, Polanyi: Implizites Wissen, S. 25. Polanyi: Implizites Wissen, S. 23f., 26–30, 33, 60–62. Dies lässt sich bereits an der Bedeutung ablesen, die dem Labor als Produktionsort von Wissen und dem Experiment als Verfahren der Erkenntnisgewinnung für die Argumente der Wissenschaftsforschung zukommt. Gerade diese Distanz macht aber diesen Zugang für die Untersuchung geisteswissenschaftlicher Arbeitsweisen interessant, die bisher oft auf die Produktion von Texten reduziert wurden. Karin Knorr Cetina: Objectural Practice, in: Theodore R. Schatzki/Karin Knorr Cetina/ Eike von Savigny (Hrsg.): The Practice Turn in Contemporary Theory, London/New York 2001, S. 175–188; dies.: Epistemic Cultures. How The Sciences Make Knowledge, Cambridge MA/London 1999; dies.: The Couch, the Cathedral, and the Laboratory. On the Relationship between Experiment and Laboratory in Science, in: Andrew Pickering (Hrsg.), Science as Practice and Culture, Chicago 1992, S. 113–138; dies.: Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1991; Andrew Pickering: The Mangle of Practice. Time, Agency, and Science, Chicago 1995; Joan H. Fujimura: Crafting Science. Standardized Packages, Boundary Objects, and „Translation“, in: Pickering (Hrsg.): Science as Culture and Practice, S. 168–211; Bruno Latour: Science in Action. How to Follow Scientists and Engineers Through Society, Cambridge, MA 1987. – Zur Anwendung der Wissenschaftssoziologie auf die Geschichtswissenschaft s.Thomas Etzemüller: Wissenschaftssoziologie. „Ich sehe etwas, was du nicht siehst“, in: Jan Eckel/ders. (Hrsg.): Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, Göttingen 2007, S. 27–68. Vgl. Schatzki/Knorr Cetina/Savigny (Hrsg.): The Practice Turn in Contemporary Theory.
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von Objektverständnissen und die Handlungsbedingungen und Durchführungsweisen von Forschungsarbeiten. Die Studie nimmt damit die Beobachtung auf, dass sich die Geschichtswissenschaft an der Schwelle zur Moderne unter anderem durch die Aufwertung von Forschung verselbständigt.75 Als die Geschichte sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunehmend als Resultat forscherischer Anstrengungen statt als pädagogische Präsentation von Geschehenem darstellt, wird der Forschungsaspekt zu einem Wissensbereich, der nicht in der Historiographie aufgeht. Darin unterscheidet sich die Geschichtswissenschaft nicht von andern Bereichen moderner Wissenschaft, für die Forschung ein zentraler Vorgang ist, der an der „Grenze zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten“76 angesiedelt ist. Zum anderen schließt dieser Zugang an Untersuchungsperspektiven der Wissenschaftsforschung an. Bruno Latour hat ihn programmatisch als Untersuchung von „science in the making“ bezeichnet, die den Wissenschaftlern nicht nur als Autoren von Texten, sondern als Akteuren auf ihrem Weg durch die Gesellschaft folgt. Ansetzen kann eine solche Untersuchung bei den Aushandlungsprozessen der Forschung, während derer wissenschaftliche Selbstverständlichkeiten, Routinen und Fakten geschaffen werden – etwa bei Kontroversen oder Übersetzungen wissenschaftlicher Ergebnisse von einem Kontext in den andern. Latour beschreibt die wissenschaftliche Praxis als strategisches Handeln von wissenschaftlichen Akteuren, die durch die Mobilisierung möglichst zahlreicher Ressourcen etwa in Form von sozialen Netzwerken, materiellen Gütern und öffentlichen Meinungen ihren wissenschaftlichen Erzeugnissen zu Nachhaltigkeit – in der Latourschen Terminologie „Resistenz“ – zu verhelfen versuchen. Nachhaltigkeit meint in diesem Zusammenhang, dass wissenschaftliche Ergebnisse zu unhinterfragten Tatsachen aufsteigen, indem sie wissenschaftlichen Kontroversen dauerhaft entzogen, in „black boxes“ verwandelt und für weitere Forschungen und gesellschaftliche Verwendungszusammenhänge unentbehrlich werden. Latour analysiert eine Vielzahl solcher Faktifizierungen, als deren Hauptinstrumente er die Schaffung von Evidenz durch Inskriptionen – materielle Spuren wissenschaftlicher Vorgänge wie Statistiken, Diagramme, Abbildungen – sieht.77 Diese Überlegungen aufnehmend untersucht die Studie die Art und Weise, in der geschichtswissenschaftliche Praktiken historisches Wissen zu stabilisieren und glaubhaft zu machen versuchen. Zweitens muss der Handlungszusammenhang geschichtswissenschaftlicher Forschung als vielfältig objektvermittelt verstanden werden. Historiker gingen in ihrem Alltag mit historischem Material um, das sie in verschiedensten Formen sammelten, bearbeiteten, edierten, reproduzierten und in ihre 75 76 77
Hardtwig, Die Verwissenschaftlichung der neueren Geschichtsschreibung, S. 254. Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen 2001 (Erstausg. 1997), S. 19. Latour: Science in Action.
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historiographische Texte einflochten. Sie benutzten mitunter auch vielfältige technische Hilfsmittel, um dieses Material zu erschließen, und sie verwandelten ihre historischen Arbeitsgrundlagen in der Praxis des Beschreibens, Ab- und Umschreibens in neue Objekte. In dieser Hinsicht mit anderen Disziplinen zu vergleichen, wird in der historische Forschung bei näherem Hinsehen dauernd mit Dingen hantiert, um Neues hervorzubringen78 . Das zentrale Objekt geschichtswissenschaftlicher Forschungsarbeit stellt dabei die historische Quelle dar. Zum einen weist das historische Objekt der Quelle immer eine materielle Dimension sowie eine räumlich-zeitliche Situiertheit auf. Quellen sind oft, etwa als Archivalie, für den materiellen Zugriff nur sehr begrenzt mobilisierbar oder werden in Reproduktionen verfügbar, denen wiederum eigene Möglichkeiten und Grenzen der Handhabung eigen sind. Zum anderen hat die Quelle eine Erkenntnisdimension, sie kann mit einem Begriff Hans-Jörg Rheinbergers als ein zentrales „epistemisches Ding“79 der Geschichtswissenschaft betrachtet werden. Rheinberger versteht epistemische Dinge als „Dinge, denen die Anstrengung des Wissens“80 gilt. Als solche eignet ihnen eine charakteristische Vagheit: Im Prozess der Forschung bilden sie den „Gegenstand forschender Manipulation“81 , womit sie an der Grenze des bereits Gewussten angesiedelt sind. Wie die fragilen epistemischen Objekte der Molekularbiologie, die Rheinberger untersucht, sind auch die epistemischen Objekte der Geschichtswissenschaft auf „stabile Umgebungen“82 angewiesen, damit mit ihnen gearbeitet werden kann – auf disziplinär verfestigte Deutungstraditionen sowie auf Infrastrukturen. Rheinbergers Konzept weist den Vorteil auf, dass es die Zeitlichkeit von Forschungsprozessen berücksichtigt. Epistemische Dinge haben immer einen historischen Index. Ähnlich wie bei Latour können sie, einmal erforscht, zu transparenten, fest umrissenen Wissenseinheiten erstarren, die fraglos werden und ihrerseits den stabilisierenden Rahmen, „technische Dinge“ für andere Manipulationen bilden.83 Die epistemische Dimension der – bis heute bevorzugt schriftlichen – Quellen wird oft vor allem als textuelle Dimension wahrgenommen: Schriftquellen können tatsächlich als „Texte“, als sprachliche Bedeutungsgeflechte, wahrgenommen und verarbeitet werden. Die epistemische Dimension von Quellen erschöpft sich aber für Historiker gerade wegen der Materialität und der gesellschaftlichen Kontexte der historischen Produktion von Quellen nicht in der Textualität des Schriftguts. Wie deutlich werden wird, brachte die 78 79 80 81
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Knorr Cetina: Objectural Practice, S. 175. Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S. 24. Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme, Epistemische Dinge, Experimentalkulturen. Zu einer Epistemologie des Experiments, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 1994, S. 405–417: 408. Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S. 25. Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S. 25–27, 76–87.
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Koppelung spezifischer sozialer Gebrauchszusammenhänge, Konflikte und Deutungshorizonte, in denen Quellen standen, mit deren materieller und medialer Form jeweils spezifische epistemische Effekte hervor. Historiker und Historikerinnen werden einwenden, dass ihnen Quellen nicht als primäre Zielpunkte der Erkenntnis, sondern vielmehr als Mittel dienen, um ihre eigentlichen, inhaltlich definierten Erkenntnisgegenstände zu erforschen (je nach Perspektive etwa der historische Wandel sozialer Strukturen, Entstehungs- und Wirkungszusammenhänge von politischen Ereignissen oder die Entwicklung wissenschaftlicher Konzepte...). Allerdings impliziert jeder Umgang mit historischem Material, dass dieses in gewissen Phasen des Forschungsprozesses zum „epistemischen Ding“ wird, sei es im Rahmen einer nur rudimentären Quellenkritik oder im Lauf von Arbeitsphasen, in denen Forscher und Forscherinnen ihre Quellen drehen und wenden, sie reproduzieren, paraphrasieren, im Kontext weiterer Quellen gruppieren, verschieben oder verwerfen. Überdies spezialisierten sich gerade die in diesem Buch untersuchten Historiker in vielen Fällen darauf, Quellen sogar dauerhaft zu eigentlichen Untersuchungsgegenständen werden zu lassen, indem sie Verfahren der Hilfswissenschaften wie die Edition auf sie anwendeten. Und schließlich ist die Trennung zwischen Erkenntnis„mittel“ und „eigentlichem“ Erkenntnisziel keine substantielle, sondern immer Ergebnis situativer Politiken, wie sich an geschichtswissenschaftlichen Kontroversen aufzeigen ließe. Die historische Quelle als epistemisches Ding kann also als Ergebnis von Arbeitstechniken, geteilten Ordnungsverfahren und Redeweisen verstanden werden, die dazu beitragen, aus überliefertem Schriftgut und weiteren Objekten der Vergangenheit Gegenstände geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis zu formen. Die Studie geht davon aus, dass diese Erkenntnisverfahren, die ich zusammenfassend als Verfahren des „Quellenblicks“84 bezeichne, historischem Wandel unterworfen waren und in wechselnden Handlungsgemeinschaften eingeübt und vermittelt wurden – dass es sich also um „Quellenblicke“ im Plural handelte. Drittens: Interessiert man sich für die Prozeduren des „Quellenblicks“, verlagert sich die Aufmerksamkeit von den theoretischen Konzepten der Forschung zu praktischen Arbeitsstandards. Dies verlangt nach einer fallorientierten, mikroanalytischen Untersuchung von Forschungsprojekten, die es erlaubt, Aufschlüsse über Herstellungsweisen geschichtswissenschaftlichen Wissens zu gewinnen. Eine praxeologische Perspektive kann auf diese Weise die Absichtserklärungen und Theoretisierungen von Forschung, die in der Historiographiegeschichte untersucht wurden, ergänzen. Darüber hinaus werden die Arbeitsstandards historischer Forschungen sichtbar, die 84
Die Prägung erfolgt in loser Anlehnung an Wolfgang Bonss, der in seiner Studie zur Geschichte der Statistik als Verfahren der Erkenntnisgewinnung vom „Tatsachenblick“ sprach. Wolfgang Bonss: Die Einübung des Tatsachenblicks. Zur Struktur und Veränderung empirischer Sozialforschung, Frankfurt a. M. 1982.
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nicht unbedingt als explizites Forschungswissen weitergegeben wurden oder sich in Handbuchwissen verfestigten. Arbeitsstandards können in diesem Zusammenhang als Regeln der Produktion verstanden werden, die eine Zusammenarbeit von Akteuren und ein „Zusammenpassen“ von Objekten ermöglichen.85 Sie sind sowohl materiell (indem sie sich beispielsweise in Technologien und räumlichen Arrangements vergegenständlichen) als auch symbolisch (indem sie Klassifikationen in die Tat umsetzen) wirksam.86 Der Fokus auf einzelne Projekte ermöglicht es außerdem, die zeitliche Dimension der Forschung näher zu betrachten. Auf diese Weise werden die Pfadabhängigkeiten einzelner Forschungsresultate sichtbar. Darüber hinaus enthüllt der Blick auf die Zusammenhänge der Produktion die Heterogenität der Arbeitsverständnisse, über die verschiedene Akteure zu einem bestimmten Zeitpunkt verfügten. Viertens erweitert eine auf Arbeits- und Lernprozesse fokussierte Perspektive schließlich die Konzeption geschichtswissenschaftlicher Akteure. Die untersuchten Akteure werden weniger als Historiographen denn als Arbeitssubjekte fassbar, deren Arbeitshaltungen und Selbstverständnisse erschlossen werden müssen. Hinter den herausragenden Vertretern der Geschichtswissenschaft, die im Zentrum der Ideengeschichte stehen, werden zudem heterogene Akteure und Akteurinnen sichtbar, die auf verschiedenste Weise an der Produktion geschichtswissenschaftlichen Wissens beteiligt waren. Die Vielfalt der Akteure und Akteurinnen verweist auf die soziale Dynamik der akademischen Geschichtswissenschaft, die in der zunehmend verberuflichten, männlich markierten Sphäre der Wissenschaft aus heterogenen Arbeitszusammenhängen exklusive, wissenschaftliche Projekte formte. Dabei mussten die unterschiedlichen Arbeitsverständnisse und wissenschaftlichen Standpunkte dieser Akteure aufeinander abgestimmt87 , aus divergierenden Verständnissen und Erfahrungen funktionierende Arbeiten gewonnen werden – eine Spannung, die das gesamte geschichtswissenschaftliche Arbeiten durchzog.
Untersuchungsmaterial und Aufbau Das Buch untersucht die Entwicklung und Ausbreitung des Quellenblicks im 19. Jahrhundert auf verschiedenen Ebenen. Für die Analyse der disziplinären Verfestigung und des universitären Ausbaus der Forschungsvermittlung 85 86 87
Vgl. die Definition von Geoffrey C. Bowker/Susan Leigh Star: Sorting Things Out. Classification and Its Consequences, Cambridge, MA/London 1999, S. 13f. Bowker/Leigh Star: Sorting Things Out, S. 39. Vgl. Susan Leigh Star/James R. Griesemer: Institutional Ecology, ,Translations’ and Boundary Objects. Amateurs and Professionals in Berkeley’s Museum of Vertebrate Zoology, 1907–39, in: Social Studies of Science 19/1989, S. 387–420: 389.
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wurden zwei institutionelle Kontexte ausgewählt: die Geschichtswissenschaft an der Universität Wien sowie am Institut für österreichische Geschichtsforschung einerseits und die Geschichtswissenschaft an der Universität Zürich sowie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich andererseits. Ihre Verwaltungsschriftlichkeit und weitere Materialien erlauben es, Institutionalisierungsverläufe zu verfolgen, Aushandlungsprozesse zu rekonstruieren und Aufschluss über die Unterrichtspraktiken und Forschungsverständnisse involvierter Akteure zu erhalten. Die Wiener Institutionen sind umfangreich dokumentiert in den Verwaltungs- und Personalakten des Ministeriums für Cultus und Unterricht im Allgemeinen Verwaltungsarchiv des Österreichischen Staatsarchivs sowie in den Universitätsakten im Archiv der Universität Wien. Im Archiv des Instituts für österreichische Geschichtsforschung finden sich neben Unterlagen zur Institutsführung und zu Forschungsprojekten auch Prüfungsakten, die Aufschluss über die Forschungsvermittlung geben. Im Staatsarchiv des Kantons Zürich, dem im Verlauf der Untersuchung auch die meisten der im Universitätsarchiv liegende Akten einverleibt wurden, liegen ebenfalls Verwaltungs-, Personal- und Seminarakten sowie Jahresberichte und weitere Dokumente der akademischen Selbstverwaltung. Im Universitätsarchiv Zürich wurden Dozentendossiers eingesehen. Die Akten im Schulratsarchiv der ETH Zürich erlauben es, die Fach- und Personalpolitik der ETH im Bereich der Geschichtswissenschaft zu rekonstruieren. Weil das Verwaltungsschriftgut stark in politische Dynamiken eingebunden ist, kommen in all diesen Beständen heterogene politische Interessen, bildungspolitische Kalküle und finanzielle Restriktionen zur Sprache, die für die Forschung von großer Bedeutung waren, in den akademischen Selbstdarstellungen aber oft nicht in dieser Deutlichkeit artikuliert werden. Erhaltene Mitgliederlisten und Rechenschaftsberichte geben zudem über die soziale Struktur der Institutionen Auskunft. Für die Fallstudien zu einzelnen Quellenforschungsprojekten wurden Projekte ausgewählt, die von Geschichtsprofessoren der ausgewählten Hochschulinstitutionen betrieben oder begleitet wurden. Bei den am Institut für Österreichische Geschichtsforschung angesiedelten Monumenta graphica, der Diplomata-Abteilung der Monumenta Germaniae Historica und der Regesta Imperii konnte auf die Akten, Briefwechsel und Teile der wissenschaftlichen Apparate im Archiv des Instituts sowie auf Akten im Allgemeinen Verwaltungsarchiv des Österreichischen Staatsarchivs zurückgegriffen werden. Materialien zum Schweizerischen Urkundenregister finden sich im Archivbestand der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz und in den Akten des subventionierenden Eidgenössischen Departements des Innern – beide im Schweizerischen Bundesarchiv –, im Nachlass des Projektkoordinators Basilius Hidber in der Burgerbibliothek Bern sowie in weiteren verstreute Korrespondenzen. Um die Forschungspraktiken und -verständnisse zu rekonstruieren,
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wurden außerdem unpublizierte und publizierte Wissenserzeugnisse der Akteure untersucht, darunter auch verstreute Vorarbeiten und Notizen, Projektentwürfe, Tafelwerke, Pausen oder Vorlesungsmanuskripte. Äußerst aufschlussreich sind in dieser Hinsicht auch die Paratexte der Editionen und Regestenwerke, in denen sich die Editoren zu ihren Vorgehensweisen äußern, sowie Rezensionen und offizielle Gutachten, die wichtige Medien der Forschungskommunikation darstellen. Für die Untersuchung der Forschungsprozesse sowie der Forschungssozialisation erwies sich eine weitere Gruppe von Materialien als besonders ergiebig: die Egodokumente der untersuchten Historiker. Forscherkorrespondenzen und private Briefwechsel, Tagebücher und Itinerare müssen als eigentliche Medien der Forschung verstanden werden. Selbstzeugnisse, zu denen auch die Gelegenheitsliteratur und die Selbstdarstellungen von Historikern gehören, eröffnen außerdem einen reichhaltigen Zugang zu den Sozialisationsbedingungen, Alltagsarrangements und Selbstdeutungen der untersuchten Akteure. Die Auswahl der näher untersuchten Historiker hing von den ausgewählten Fallbeispielen geschichtswissenschaftlicher Praktiken und der Reichhaltigkeit der zugänglichen Selbstzeugnisse ab. Die Überzahl der Mittelalterhistoriker, die sich so ergab, lässt sich darauf zurückführen, dass im Untersuchungszeitraum die mediävistischen Geschichte und Quellenforschungsprojekte zum Mittelalter gegenüber solchen zur Neuzeit dominierten. „Die Schärfung des Quellenblicks“ besteht aus drei Teilen, die sich der Entstehung und Verbreitung des Quellenblicks aus unterschiedlichen Perspektiven annähern: Der erste Teil beschäftigt sich mit der Institutionalisierung der Quellenforschung, der Forschungsagenturen und Ausbildungsinstitutionen und untersucht, wie der Blick auf die Quelle an den Hochschulen vermittelt wurde. Kapitel 1 bietet eine Übersicht über zentrale institutionelle Entwicklungen der Geschichtsforschung in Österreich und der Schweiz von 1840 bis 1914. Es zeigt, wie sich die Geschichte an den Universitäten disziplinär verfestigte und welche Rolle nationale Ausbildungsorganisationen sowie nationale und regionale Forschungsagenturen dabei spielten. Neben den Entwicklungen auf nationalstaatlicher Ebene kommen die Akteure der Hochschulinstitutionen und ihre Handlungsspielräume zur Sprache. Kapitel 2 zeigt, wie im geschichtswissenschaftlichen Hochschulunterricht Forschungswissen weitergegeben wurde und wie sich die vermittelten Quellenkonzepte veränderten. Dabei wird auch deutlich, wie im Prozess disziplinärer Grenzziehungen Spielarten des geschichtswissenschaftlichen Forschungsimperativs zum Einsatz kamen. Der zweite Teil der Studie geht der Frage nach, wie junge Männer zu Quellenforschern sozialisiert wurden. Die spezifischen Umgangsformen, Arbeitsarrangements und Objektverständnisse, die die Sozialisationsverläufe in Forschungsorganisationen prägten, kommen in Kapitel 3 zur Sprache. Dabei werden nicht nur forscherische Selbstbilder und Interaktionen, son-
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dern auch Formen des Aufbaus wissenschaftlicher Reputation analysiert, die durch die Arbeit an Quellen strukturiert waren. Die Aneignung historischer Quellen wird hier als zentraler Bestandteil der geschichtswissenschaftlichen Praxis sichtbar. Diese Forschungssozialisation kontrastiert Kapitel 4 mit weniger offensichtlichen Aspekten der Sozialisation: Es geht der Frage nach, auf welche Weise verwandtschaftliche Beziehungen und geschlechtsspezifische Ressourcen zur Praxis von Hochschulhistorikern beitrugen. Neben verwandtschaftlichen Erwartungshaltungen und geschlechtsspezifisch zugeteilten Zeit- und Arbeitsressourcen kommen auch konkrete ökonomische Transferleistungen zur Sprache. Die Praktiken des Sammelns und Registrierens, der Visualisierung, der Edition und Regestierung von historischen Quellen werden im dritten Teil des Buches in Fallstudien untersucht. Die ausgewählten Projekte konzentrieren sich auf je unterschiedliche epistemische Dimensionen der historischen Quelle. Ihre Untersuchung erlaubt es, Forschungsverläufe, Objektverständnisse und Akteurskonzepte der historischen Forschung herauszuarbeiten und deren gesellschaftliche Reichweite in konkreten politischen und sozialen Konfliktlagen zu analysieren. Kapitel 5 behandelt die für die den Untersuchungszeitraum kennzeichnende Sammlungs- und Aufnahmetätigkeit. Am Beispiel des Schweizerischen Urkundenregisters, einem von der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz organisierten Unternehmen, das 1863–1877 veröffentlicht wurde, lässt sich zeigen, wie Quellen in einem noch vorwiegend nichtverfachlichten Umfeld erfasst und in neue Ordnungen gebracht wurden. Kapitel 6 untersucht anhand der Monumenta graphica, welche Rolle die Reproduktion und Visualisierung von Quellen für das geschichtswissenschaftliche Forschungsverständnis spielten. Die turbulente Geschichte dieses Tafelwerks, des ersten umfangreichen Quellenfotografieprojekts, das von 1858 bis 1882 in Wien erschien, zeigt, welche Effekte das fotografische Verfahren im Rahmen eines gesamtstaatlich orientierten Erfassungsanspruchs zeitigte. Die zentralen Praktiken der Regestierung und der Edition werden in Kapitel 7 untersucht. Die Regesta imperii und die Diplomata-Edition der Monumenta Germaniae Historica, die ab 1875 am Institut für österreichische Geschichtsforschung durchgeführt wurden, waren für die weitere Entwicklung der Diplomatik und der Mittelaltergeschichte von großer Bedeutung, wurden hier doch zentrale Konzepte des Urkundenverständnisses und der Quellenerfassung erprobt und standardisiert sowie nationalpolitische Ausrichtungen von Geschichte implementiert. Darüber hinaus kam es zu forschungspraktischen und konzeptuellen Innovationen, die weit über hilfswissenschaftliche Fragen hinaus von Bedeutung waren und die historische Forschungspraktiken wie auch die Entwicklung des Quellenverständnisses beeinflussten.
1. Geschichte treiben: Agenturen, Kulturen, Akteure Österreichische und schweizerische Historiker hoben in Rückblicken auf die Vorgeschichte ihres Faches im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wiederholt hervor, dass eine „kritische“ Geschichtswissenschaft in ihren Ländern erst mit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts eingesetzt habe.1 Mit dieser Periodisierung verband sich eine tendenziell negative Beurteilung der historischen Arbeiten der Frühneuzeit, deren Vorgehensweisen der Geschichtswissenschaft des Fin de siècle manchmal dilettantisch und deren Erkenntnisziele ihr oft unzugänglich schienen. Diese Absetzung von einer früheren Wissensproduktion muss zunächst als szientistische Selbstbeschreibung einer sich professionalisierenden Geschichtswissenschaft gesehen werden, die vor allem die Diskontinuitäten gegenüber dem 18. Jahrhundert betonte. Dennoch zeigt sie einen umfassenden Institutionalisierungsschub der Geschichtswissenschaft im Untersuchungszeitraum an, der historische Arbeiten, die vor diesem Zeitraum entstanden, als andersartig und grundsätzlich nicht gleichwertig erscheinen ließ. Die untersuchte wissenschaftliche Praxis von Hochschulhistorikern steht im Kontext solcher sich wandelnder disziplinärer Rahmungen und konzeptueller wie auch praktischer Möglichkeitsbedingungen von Forschung. In beiden Ländern kam es seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts zu einem massiven Ausbau von Organisationen der Quellenforschung (Kapitel 1.1 und 1.2), zur Autonomisierung der historischen Disziplin im Fächergefüge der aufgewerteten philosophischen Fakultäten und zur Professionalisierung geschichtswissenschaftlicher Arbeit (Kapitel 1.3 bis 1.5) und zur Rekonfiguration des Wissensfeldes der forschungszentrierten, sogenannten „historischen Hilfswissenschaften“ (Kapitel 1.6 und 1.7). Dieser Ausbau entwickelte eine institutionelle Eigendynamik, die Liebhabern der Geschichte wie auch akademisch ausgebildeten Historikern neue Handlungsspielräume zuwies und die Ressourcenallokation und Wissensakkumulation im Feld des Geschichtetreibens in sich verfestigende Bahnen lenkte. Gleichzeitig muss die Konjunktur historischen Arbeitens im Untersuchungszeitraum auch als Effekt gesellschaftlicher Prozesse, als Aufwertung des gesellschaftlichen Stellenwerts historischer Forschung verstanden werden. Die Geschichtswissenschaft profitierte nicht nur davon, dass im 19. Jahrhundert erweiterte Bildungsvorgaben implementiert wurden und wissenschaftliche Handlungsbereiche massiv aufgewertet sowie unter einen 1
Vgl. Guilland: Les études historiques en Suisse, S. 293f.; Ottenthal: Das k. k. Institut für österreichische Geschichtsforschung, S. 4f.; Meyer von Knonau: Geschichtswissenschaft, S. 286f.
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1. Geschichte treiben: Agenturen, Kulturen, Akteure
verallgemeinerten Forschungsimperativ gestellt wurden: Gesellschaftlichen Aktualisierungen von Geschichtsbildern kam in der bürgerlichen Kultur des 19. Jahrhunderts ein hoher Stellenwert zu. Solche Geschichtskulturen2 orientierten sich an unterschiedlichen, teilweise miteinander konkurrierenden historischen Größen. Am Nationalstaat orientierte Spielarten von Geschichte erlangten dabei gegenüber regionalen und konfessionellen, kantonalen, landesgeschichtlichen oder dynastischen historischen Bezugsfeldern eine besondere Reichweite. Sie wurden nun zunehmend zu einem Liebhaberobjekt staatstragender Eliten, die nicht nur der identitätsstiftenden Popularisierung nationalstaatlicher Geschichtsbilder, sondern auch der wissenschaftlichen Forschung einen hohen Stellenwert beimaßen.3 Historische Forschung wur2
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Wolfgang Hasberg: Erinnerungskultur – Geschichtskultur, Kulturelles Gedächtnis – Geschichtsbewusstsein. 10 Aphorismen zu begrifflichen Problemfeldern, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 3/2004, S. 198–207; Bernd Mütter/Bernd Schönemann/Uwe Uffelmann (Hrsg.): Geschichtskultur. Theorie – Empirie – Pragmatik, Weinheim 2000; Jörn Rüsen: Geschichtskultur als Forschungsproblem, in: Klaus Fröhlich/Heinrich Theodor Grütter/Jörn Rüsen (Hrsg.): Geschichtskultur (Jahrbuch für Geschichtsdidaktik Band 3), Pfaffenweiler 1992, S. 39–50; Wolfgang Hardtwig: Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990, bes. 8f. Zur Schweiz vgl. die Beiträge im Schwerpunktheft der Schweizerischen Zeitschrift für Geschichte, Problem Schweizergeschichte? Y a-t-il un problème avec l’histoire suisse? Schwerpunktheft, SZG 59/2010; Franziska Metzger: Religion, Geschichte, Nation. Katholische Geschichtsschreibung in der Schweiz im 19. und 20. Jh. – kommunikationstheoretische Perspektiven, Stuttgart 2010; Oliver Zimmer: A Contested Nation. History, Memory and Nationalism in Switzerland, 1761–1891, Cambridge 2003; Sascha Buchbinder: Der Wille zur Geschichte. Schweizer Nationalgeschichte um 1900 – die Werke von Wilhelm Oechsli, Johannes Dierauer und Karl Dändliker, Zürich 2001; Christine Matter: Beobachtete Identität. Die schweizerische Nation als intellektuelles Konstrukt, in: Andreas Ernst/Erich Wigger (Hrsg.), Die neue Schweiz? Eine Gesellschaft zwischen Integration und Polarisierung (1910–1930), Zürich 1996, S. 79–106; Andreas Ernst: Ethnos – Demos. Krise. Deutsche und Schweizer Nationalgeschichte am Ende des Ersten Weltkrieges, in: ders./ Thomas Gerlach/Patrick Halbeisen et al. (Hrsg.): Kontinuität und Krise. Sozialer Wandel als Lernprozess, Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Schweiz, Festschr. für Hansjörg Siegenthaler, Zürich 1994, S. 301–318; Guy P. Marchal: Schweizer Gebrauchsgeschichte. Geschichtsbilder, Mythenbildung und nationale Identität, Basel 2006; ders.: Staat und Nation in der schweizerischen Geschichtskultur, in: Krzysztof Baczkowski/ Christian Simon (Hrsg.): Historiographie in Polen und in der Schweiz, Krakow 1994, S. 111– 123; ders.: Das „Schweizeralpenland“. eine imagologische Bastelei, in: ders./Aram Mattioli (Hrsg.), Erfundene Schweiz. Konstruktionen nationaler Identität – La Suisse imaginée. Bricolages d’une identité nationale, Zürich 1992, S. 37–50; ders.: Die „alten Eidgenossen“ im Wandel der Zeiten. Das Bild der frühen Eidgenossen im Traditionsbewusstsein und in der Identitätsvorstellung der Schweizer vom 15. ins 20. Jahrhundert, in: Historischer Verein der fünf Orte (Hrsg.): Innerschweiz und frühe Eidgenossenschaft, Bd. 2, Olten 1990, S. 307–403; ders.: Das Mittelalter und die nationale Geschichtsschreibung der Schweiz, in: Susanna Burghartz et al. (Hrsg.): Spannungen und Widersprüche: Gedenkschrift für Frantisek Graus, Sigmaringen 1992, S. 91–108; Aram Mattioli: Gonzague de Reynold – Vordenker, Propagandist und gescheiterter Chef der „nationalen Revolution“, in: ders. (Hrsg.): Intellektuelle von rechts. Ideologie und Politik in der Schweiz, 1918–1939, Zürich 1995, S. 135–156; Ulrich Im Hof : Mythos Schweiz. Identität – Nation – Geschichte,
1.1 Geschichtsforschung in Österreich
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de also erstmals in einem disziplinären Rahmen institutionalisiert, als die nationalpolitische Beanspruchung von Geschichte als Legitimationsinstanz und kultureller Kitt Hochkonjunktur hatte. Welche Effekte dieses Zusammentreffen auf die Ausgestaltung historischer Forschungsinstitutionen und wissensbestände hatte, soll hier dargestellt werden.
1.1 Geschichtsforschung in Österreich Als sich die Protagonisten einer staatlichen Geschichtspolitik im österreichischen Vormärz für eine Stärkung der Geschichtswissenschaft einsetzten, blickten sie auf eine vielfältige Landschaft von Agenturen zurück, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit Geschichte beschäftigten und Forschungs-, Sammlungs- und Darstellungsaktivitäten entfalteten.4 Wichtigs-
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1291–1991, Zürich 1991. Zu Österreich: Hye/Mazohl-Wallnig/Niederkorn (Hrsg.): Nationalgeschichte als Artefakt; Brigitte Mazohl-Wallnig/Thomas Wallnig: (Kaiser)haus – Staat – Vaterland? Zur „österreichischen“ Historiographie vor der „Nationalgeschichte“, in: ebd., S. 43–72; Baár: Historians and Nationalism; Peter Haslinger: „Nationalgeschichte“ als Betrachtungsparadigma und als Darstellungsproblem für die Geschichte der Nachfolgestaaten der Donaumonarchie, in: MIÖG 115/2007, S. 157–159; Arpad von Klimo: Nation, Konfession, Geschichte. Zur nationalen Geschichtskultur Ungarns im europäischen Kontext (1860–1948), München 2003; Moritz Csáky: Ethnisch-kulturelle Heterogenität und Moderne. Wien und Zentraleuropa um 1900, in: Kakanien Revisited Januar/2002, S. 1–11; Fritz Fellner: Geschichtsschreibung und nationale Identität. Probleme und Leistungen der österreichischen Geschichtswissenschaft, Wien/Köln/Weimar 2002; Ernst Bruckmüller: Nation Österreich. Kulturelles Bewußtsein und gesellschaftlich-politische Prozesse, Wien/ Köln/Graz 1996; Gernot Heiss: Im „Reich der Unbegreiflichkeiten“: Historiker als Konstrukteure Österreichs, in: ÖZG 7/1996, S. 455–478; Michael Gehler/Rainer E. Schmidt/ Harm-Hinrich Brandt et al. (Hrsg.). Ungleiche Partner? Österreich und Deutschland in ihrer gegenseitigen Wahrnehmung, Stuttgart 1996; Richard G. Plaschka/ Gerald Stourzh/ Jan P. Niederkorn (Hrsg.): Was heißt Österreich? Inhalt und Umfang des Österreichbegriffs vom 10. Jahrhundert bis heute, Wien 1995; Ernst Bruckmüller: Deutsches und österreichisches Bewusstsein im Österreich des 20. Jahrhunderts, in: Gerhard Botz/Gerald Sprengnagel (Hrsg.): Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte. Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität, Waldheim und die Historiker, Frankfurt a. M. / New York 1994, S. 325–337; Erich Zöllner (Hrsg.): Volk, Land und Staat. Landesbewusstsein, Staatsidee und nationale Fragen in der Geschichte Österreichs, Wien 1984. Übersichtsbeiträge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft in Österreich: Karel Hruza (Hrsg.): Österreichische Historiker 1900–1945. Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftsgeschichtlichen Porträts, Wien 2008; Christine Ottner: Zwischen Wiener Localanstalt und Centralpunkt der Monarchie. Einzugsbereich und erste Geschichtsforschungsunternehmen der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, in: Anzeiger der phil.-hist. Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 143 (2008), S. 171–196; Acham: Einleitung; Fritz Fellner: Geschichte als Wissenschaft. Der Beitrag Österreichs zu Theorie, Methodik und Themen der Geschichte der Neuzeit, in: Acham (Hrsg.): Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften, Bd. 4, S. 161–213; Reinhard Härtel: Geschichte des Mittelalters und
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1. Geschichte treiben: Agenturen, Kulturen, Akteure
te Träger der Geschichtsforschung waren in der Frühen Neuzeit die geistlichen Institutionen gewesen, die über eine lange Tradition des gelehrten Umgangs mit überlieferten Texten verfügten und hilfswissenschaftliche Innovationen der Materialerschließung entwickelten. Unter dem Einfluss der maurinischen Geschichtsforschung in Frankreich konzipierten Angehörige von Ordensgemeinschaften seit dem frühen 18. Jahrhundert Quellensammlungen, die sich längst nicht nur auf die Geschichte der eigenen Kongregationen beschränkten. Insbesondere die niederösterreichischen Benediktinerklöster Göttweig und Melk entwickelten sich zu Zentren für spezialisierte diplomatische Forschungen. Im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert erreichten die Arbeiten des Augustiner-Chorherrenstifts in St. Florian eine besondere Ausstrahlung. In der historiographischen und forschenden Tradition der gelehrten Ordensgeistlichkeit verbanden sich kirchengeschichtliche Arbeiten mit einer umfangreichen reichsgeschichtlichen, am Haus Habsburg ausgerichteten Tätigkeit. Allerdings wurden viele Quellenerschließungsprojekte aus praktischen Gründen nie fertiggestellt oder gedruckt.5 Daneben etablierten sich seit dem 18. Jahrhundert Gesellschaften, Vereine und Museen mit historischen Schwerpunkten. Im 18. Jahrhundert entstan-
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Historische Hilfswissenschaften, in: ebd., S. 127–159; Höflechner: Forschungsorganisation und Methoden der Geschichtswissenschaft; Gudrun Pischinger: Geschichtsministerium oder Verlagsanstalt? Eine Funktionsanalyse der Historischen Kommission der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien 1847–1877, Diss. Universität Graz 2001; Moritz Csáky und Peter Stachel (Hrsg.): Speicher des Gedächtnisses. Bibliotheken, Museen, Archive, 2 Bde., Wien 2000–2001; Josef Ehmer/Albert Müller: Sozialgeschichte in Österreich. Traditionen, Entwicklungsstränge und Innovationspotential, in: Jürgen Kocka (Hrsg.): Sozialgeschichte im internationalen Überblick, Darmstadt 1989, S. 109– 140; Fellner: Ludo Moritz Hartmann und die österreichische Geschichtswissenschaft, bes. S. 80–99; Herbert Hassinger: Die Wirtschaftsgeschichte an Österreichs Hochschulen bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, in: Wilhelm Abel et al. (Hrsg.): Wirtschaft, Geschichte und Wirtschaftsgeschichte. Festschr. Friedrich Lütge, Stuttgart 1966, S. 407–429; Lhotsky: Österreichische Historiographie; ders.: Geschichtsschreibung und Geschichtsforschung in Österreich; Alphons Lhotsky: Geschichte des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 1854–1954, Wien 1954. Thomas Wallnig: Gasthaus und Gelehrsamkeit. Studien zu Herkunft und Bildungsweg von Bernard Pez OSB vor 1709, Wien/München 2007; Pischinger: Geschichtsministerium oder Verlagsanstalt, S. 15f.; Peter G. Tropper: Von der Urkunde zur Chronik. Zur Arbeitstechnik historischer Forschung im frühen 18. Jahrhundert anhand des Chronicon Gotwicence, in: Ulfried Burz/Michael Derndarsky/Werner Drobesch (Hrsg.): Brennpunkt Mitteleuropa. Festschrift für Helmut Rumpler zum 65. Geburtstag, Klagenfurt 2000, S. 63– 83; ders.: Urkundenlehre in Österreich, S. 21–59; Hammermayer: Die Forschungszentren der deutschen Benediktiner; S. 127–142; Karl Rehberger: Ein Beitrag zur Vorgeschichte der „Historikerschule“ des Stiftes St. Florian im 19. Jahrhundert, in: Oberösterreichisches Landesarchiv (Hrsg.): Sankt Florian. Erbe und Vermächtnis, Festschr. zur 900Jahr-Feier, Wien 1971, S. 210–250 Lhotsky: Österreichische Historiographie, S. 114–123; Coreth: Österreichische Geschichtsschreibung der Barockzeit, S. 91–121, bes. 97f.; Engelbert Mühlbacher: Die literarischen Leistungen des Stiftes St. Florian bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Innsbruck 1905.
1.1 Geschichtsforschung in Österreich
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den in einzelnen Kronländern auf staatliche Initiative hin Gesellschaften, die eine umfangreiche Tätigkeit in agronomischen, naturwissenschaftlichen, landeskundlich-statistischen und historischen Wissensfeldern aufbauten. Sie wurden im frühen 19. Jahrhundert durch die Landesmuseen in den einzelnen Kronländern ergänzt, die kultur- und kunstgeschichtliche Sammlungsaktivitäten entfalteten. Wie beim 1803 gegründeten Ungarischen Nationalmuseum und seinen Pendants in Böhmen und Mähren handelte es sich bei den meisten Landesmuseen und -vereinen um staatlich sanktionierte Gründungen lokaler Adliger, die im Lauf der Zeit häufig zu Foren partikularistischer Nationalidentitäten wurden. So etablierte sich das Ossolineum in Lemberg, eine Gründung eines hohen adligen Staatsbeamten, mit der Zeit als eigentliches polnisches Nationalmuseum. Andere derartige Einrichtungen blieben dagegen entschieden dem Kaiserhaus verpflichtet: Das 1811 gegründete steiermärkische Landesmuseum Joanneum und das 1823 gegründete tirolische Ferdinandeum standen unter der Patronage von Angehörigen des Herrscherhauses.6 Wichtige Agenturen historischen Forschens stellten daneben auch die in der Frühneuzeit aufgebauten Sammlungen dar. Adelsfamilien, Stifte und Klöster verfügten über reichhaltige Kabinette, die zahlreiche historische Bestände von Schriftgütern und Sachobjekten bargen. Vor allem die kaiserlichen Sammlungen entwickelten sich zu bedeutsamen Standorten der Forschung. Sie waren aus den fürstlichen Kunst- und Wunderkammern der Frühneuzeit 6
Vgl.: Pischinger: Geschichtsministerium oder Verlagsanstalt?, S. 16–18 (mit weiterer Literatur); Ellen Hastaba: „Unser Museum ist die Vereinigungsstätte für alle Schätze der Wissenschaft, Natur und Kunst im Tirol“, in: Csáky/Stachel (Hrsg.): Speicher des Gedächtnisses: Bibliotheken, Museen, Archive, Teil 1, S. 149–198; Rauchensteiner: Nation ohne Museum, ebd., Bd. 1, S. 67–88; Monika Sommer: Das steiermärkische Landesmuseum Joanneum als Speicher des kulturellen Gedächtnisses, ebd., Bd. 1, S. 129–148; Peter Csendes: Vom Speicher des Gedächtnisses zum Gedächtnisort – Historische Vereine, in: ebd., Bd. 2, S. 103–116; Lucjan Puchalski: Vom Parnassus zur Nationalschatzkammer. Die Ossolinskische Bibliothek und ihr Gedächtniserbe, in: ebd., Bd. 2, S. 57–80; Friedrich Gottas: Universitäten, wissenschaftliche Gesellschaften und Akademien im Mitteleuropa des 19. Jahrhunderts, in: Richard G. Plaschka/Horst Haselsteiner/Anna M. Drabek (Hrsg.): Mitteleuropa – Idee, Wissenschaft und Kultur im 19. und 20. Jahrhundert, Wien 1997, S. 43–61: 47–56; Gottfried Fliedl: Das Joanneum – „kein normales Museum“, in: Gottfried Fliedl/Roswitha Muttenthaler/Herbert Posch (Hrsg.): Museumsraum, Museumszeit. Studien zur Geschichte des österreichischen Museums- und Ausstellungswesens, Wien 1992, S. 11–30; Bettina Schlorhaufer: Museumsraum Provinz: Die Gründung des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum und sein gesellschaftspolitisches Umfeld, ebd., S. 31–48; Werner Matt: Los von Tirol? Die Gründung des Vorarlberger Museumsvereins im politischen Spannungsfeld, ebd., S. 71–82; Steininger: Geschichte und Entwicklung niederösterreichischer Sammlungen und Museen, ebd., S. 115–138; Nikolaus Grass: Benediktinische Geschichtsforschung und die Anfänge des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, in: MIÖG 68/1960, S. 470–484; Adolf Mais: Historische und kulturhistorische Sammlungen in Österreich, Wien 1953; Ignaz Zibermayr: Die Gründung des Oberösterreichischen Musealvereines im Bilde der Geschichte des landeskundlichen Sammelwesens, in: Jahrbuch des Oberösterreichischen Musealvereines 85/1933, S. 89– 180, bes. S. 96–117.
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1. Geschichte treiben: Agenturen, Kulturen, Akteure
entstanden und verfügten über Beamte, die sich hilfswissenschaftlich auf bestimmte Quellensorten spezialisierten und editorisch tätig waren. Zu erwähnen sind hier die Hofbibliothek, das Münz- und Antikenkabinett sowie das 1749 gegründete Haus-, Hof- und Staatsarchiv, das aus einer Sammlung entstanden war.7 Die antiquarischen und historiographischen Agenturen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts waren für die weitere Entwicklung in mehrfacher Hinsicht infrastrukturell grundlegend: So lieferte die gelehrte Tradition der österreichischen Klöster wichtige Beiträge zur Geschichtskultur des 19. Jahrhunderts. Die Klöster betrieben ihre Tradition nicht nur lokal – oft in kritischer Distanz zur akademischen Forschung8 – weiter, sie brachten in der Gründungszeit der nationalen Organisationen auch Akteure einer national orientierten Quellenforschung hervor. Diese Geistlichen brachten den Traditionshintergrund und die Zugänge zu den Überlieferungsbeständen ihrer Kongregationen mit, wenn sie als zentrale Figuren der neuen Forschungsbestrebungen nach Wien kamen.9 Im Anschluss an die älteren Sozietäten wurden im 19. Jahrhundert zudem erste ausschließlich historisch ausgerichtete Vereine oder historische Sektionen von Landesvereinen gegründet, die – wie etwa der 1833 gegründete Oberösterreichische Musealverein – für die weitere Entwicklung der Forschung in den einzelnen Kronländern bedeutsam wurden.10 Die regionalen landeskundlichen und landesgeschichtlichen Gesellschaften, Museen und Vereine etablierten sich mit Publikationen und Vorträgen als wichtige Agenturen der Quellenforschung und der Geschichtskultur. Diese Gesellschaften, Landesmuseen und -vereine zeichneten sich im Vormärz durch eine große gesellschaftliche Exklusivität aus und sprachen vor allem Adlige, hochrangige 7
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Leopold Kammerhofer: Die Gründung des Haus-, Hof- und Staatsarchivs 1749, in: Csáky/Stachel (Hrsg.): Speicher des Gedächtnisses, Bd. 2, S. 81–90; Steiniger: Geschichte und Entwicklung niederösterreichischer Museen und Sammlungen, S. 115–118; Lhotsky: Österreichische Historiographie, S. 139–156; Lhotsky: Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung, S. 386–388; Hermann Ubell: Die Gründung des oberösterreichischen Musealvereines im Bilde der Geschichte des landeskundlichen Sammelwesens, in: Jahrbuch des Oberösterreichischen Musealvereines 85/1933, S. 181–344. Vgl. Kap. 6 und 7. Neben dem Augustiner-Chorherrn und Geschichtsorganisator Josef Chmel sind insbesondere zu nennen der Benediktiner Albert Jäger, ein Gründungsmitglied der Akademie der Wissenschaften, der später zum ersten Direktor des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung ernannt wurde, und der Benediktiner und Privatdozent Beda Dudík, der in den 1850er Jahren Auftragsarbeiten für die Historische Kommission ausführte und verschiedene Reorganisationsarbeiten im Archivbereich durchführte, bevor er mährischer Landeshistoriograph wurde. Der zeitweilige Direktor des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Engelbert Mühlbacher war Augustiner-Chorherr. Vgl. Grass: Benediktinische Geschichtsforschung. Zu Jäger, Dudík und Mühlbacher vgl. Kap. 2, 3, 6, 7. Zur Entstehungsgeschichte vgl. Zibermayr: Die Gründung des oberösterreichischen Musealvereins, S. 143–156.
1.1 Geschichtsforschung in Österreich
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Staatsbeamte und die hohe Geistlichkeit an. Auch im späteren 19. Jahrhundert zählten sie vor allem Geistliche, höhere Beamte und Angehörige freier Berufe zu ihren Mitgliedern.11 Viele von ihnen bauten Sammlungen historischer Schriftquellen wie auch von Sachobjekten auf und begannen seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts, landesgeschichtlich orientierte Editionen zu planen und herauszugeben. So konzentrierte sich die älteste gelehrte Gesellschaft, die in den 1770er Jahren gegründete Königlich-Böhmische Gesellschaft der Wissenschaften, nach 1840 zunehmend auf historische Studien. Geschichtsinteressierte Amateure sowie Geschichtsprofessoren beriefen sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nun immer stärker auf partikularistische sprachnationale Identitäten, was – etwa 1862 mit der Gründung des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen und der analogen Gründung des Historický spolek v Praze von 1866 – zu einander konkurrierenden Neugründungen von Geschichtsagenturen und zu sprachnational orientierten historischen Quelleneditionen führte. Auch die südosteuropäischen Matice, wissenschaftlich-kulturelle Vereinigungen, die sich vor allem der Sprachpflege und kulturhistorischen Studien widmeten, trugen mit ihren historischen Arbeiten zu sprachnationalen Identitätsbildungsprozessen bei.12 Des Weiteren verweisen die reichhaltige Ausstattung der kaiserlichen Sammlungen und Archive und die starke obrigkeitliche Förderung geschichtskultureller Aktivitäten seit dem 18. Jahrhundert auf die langfristige große Bedeutung eines staatlichen historischen Engagements in Österreich. Das Erforschen und Sammeln von historischen Objekten und Wissensbeständen ging bereits in der Frühen Neuzeit Hand in Hand mit der Entwicklung von Techniken der Schriftgutverwaltung, die dem administrativen Gedächtnis dienten. Ähnlich wie die klösterliche benötigte auch die staatliche Herrschaft ein umfangreiches Geschichtswissen, um Rechtstitel zu bewahren und die Kontinuität staatlicher Herrschaftsansprüche zu sichern. Dieses Interesse an der staatlichen Verwaltung von Geschichte erhielt 11
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Vgl. Schlorhaufer: Museumsraum Provinz, S. 38; Eduard Straßmayr: Die wissenschaftlichen Leistungen des oberösterreichischen Musealvereines, in: Jahrbuch des Oberösterreichischen Musealvereines 93/1948, S. 207–232: 210. Neben den genannten Gesellschaften entstanden unter anderem die 1825 gegründete Ungarische gelehrte Gesellschaft, die nach dem Vorbild der Monumenta Germaniae Historica ab 1848 ein nationales Editionsprojekt betrieb, die 1826 in Pest gegründete serbische gelehrte Gesellschaft Matica Srbska und eine Reihe weiterer Matice, das 1793 gegründete Istituto Lombardo und das 1838 gegründete Istituto Veneto in Lombardo-Venetien. Pischinger: Geschichtsministerium oder Verlagsanstalt?, S. 20–24; Gottas: Universitäten, wissenschaftliche Gesellschaften und Akademien; Lhotsky: Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung, S. 419. Zu den Sammlungen der Vereine und Gesellschaften vgl. Wilhelm Wadl: Wissenschaftliche Forschung im Archiv des Geschichtsvereins für Kärnten vor 100 Jahren, in: Carinthia I: Zeitschrift für geschichtliche Landeskunde von Kärnten 174/1984, S. 479–490: 479; Straßmayr: Die wissenschaftlichen Leistungen, S. 221; Zibermayr: Die Gründung des oberösterreichischen Musealvereines.
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1. Geschichte treiben: Agenturen, Kulturen, Akteure
nach den Napoleonischen Kriegen, die umfangreiche Verschiebungen von Schriftgutbeständen mit sich gebracht hatten, eine europaweit erhöhte Aktualität. Es führte beispielsweise in Frankreich 1821 zur Gründung der École des chartes, die den staatlichen Bedarf nach qualifizierten Fachleuten für die Schriftgutverwaltung abdecken sollte. Aus der staatlichen Verwaltung heraus entstanden in manchen europäischen Ländern auch bereits Akteneditionen, mit denen Staaten herrschaftliche Kontinuitätslinien und staatslegitimatorische Geschichtsinterpretationen materiell belegen wollten.13 Auch in Österreich erlebte der staatliche Bedarf nach Geschichtsverwaltung nun einen wesentlichen Schub. Beamte des Bildungsministeriums und andere Angehörige der staatsnahen Eliten begannen, in offiziellen Geschichtsbildern, insbesondere in der Geschichte des Hauses Habsburg, zunehmend ein wichtiges Instrument staatlicher Legitimation zu sehen. Im Kontext europäischer Nationalstaatsbildungen und der anhaltenden Krise der österreichischen Gesamtstaatskonzeption schien die Rechtfertigung des vielsprachigen und plurikulturellen österreichischen Staates, der gemäß der in Österreich vorherrschenden Sprachregelung keine Nation bildete, sondern sich aus zahlreichen „Nationen“ zusammensetzte14 , eine neue Dringlichkeit zu erhalten. In diesem Zusammenhang bekamen auch die Archive eine neue Bedeutung. So forderte der Direktor des Geheimen Hauptarchivs 1842 in einer Denkschrift, dass eine Archivschule nach dem Vorbild der Pariser École des chartes geschaffen werde, die ans Archiv angegliedert sei und gleichzeitig über einen Lehrstuhl für Diplomatik mit der Universität verbunden würde.15 Parallel zu der umfassenden Universitätsreform, die die frühneuzeitlichen Universitätsstrukturen ablöste und die Geschichtswissenschaft disziplinär aufwertete, wurden in Österreich von 1847 an in diesem gesamtstaatlich ausgerichteten geschichtspolitischen Zusammenhang neue organisatorische Einheiten historischer Forschung geschaffen. Sie bildeten die Grundlage der großen zentralstaatlich organisierten und finanzierten Quellenerfassungsunternehmen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchgeführt wurden, und stellten neben den historischen Zeitschriften und den Archiven16 zentrale Agenturen des Ausbaus, der Standardisierung und schließlich 13
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Saxer: Monumental Undertakings; Lingelbach: Klio macht Karriere, S. 48–52, 181–191; Sacha Zala: Geschichte unter der Schere politischer Zensur. Amtliche Aktensammlungen im internationalen Vergleich, München 2001. Fellner: Geschichtsschreibung und nationale Identität; Heiss: Im „Reich der Unbegreiflichkeiten“; Bruckmüller: Nation Österreich; ders.: Österreichbegriff und Österreichbewusstsein; Zöllner (Hrsg.), Volk, Land, Staat. Zu den involvierten Wiener Beamtenkreisen vgl. Tropper: Urkundenlehre in Österreich, S. 71f.; Franz Pisecky: Joseph Alexander Freiherr von Helfert als Politiker und Historiker, Diss. 16987, Universität Wien 1949, S. 16f. Vgl. Pischinger, Geschichtsministerium oder Verlagsanstalt?, S. 86–90; Fellner: Geschichte als Wissenschaft, S. 169f.; Lhotsky: Geschichte des Instituts, S. 1–5. Kammerhofer: Die Gründung des Haus- Hof- und Staatsarchivs; Othmar Hageneder: Die Archivarsausbildung am Institut für österreichische Geschichtsforschung, in: Wilhelm
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auch der Professionalisierung der geschichtswissenschaftlichen Praxis dar. Als „Anfang der modernen systematischen, konzeptgeleiteten und quellenorientierten Forschungsarbeit“17 gelten insbesondere die organisatorischen Bemühungen der Historischen Kommission der österreichischen Akademie der Wissenschaften, die als erste Kommission der Akademie bereits im Gründungsjahr 1847 ihre Arbeit aufnahm, die an bestehende Pläne der Quellenedition anknüpften. Ihr erster Vorsitzender, der Geistliche und Archivar Joseph Chmel, baute rasch ein Netzwerk aus Mitarbeitern auf, das es der Kommission ermöglichte, nach kurzer Zeit eigene Editionsreihen, allen voran die Fontes rerum Austriacarum, aufzubauen und eine eigene Zeitschrift zu veröffentlichen. Unter der Leitung Chmels, der in engem Kontakt zu dem Frankfurter Urkundenforscher und Protagonist der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde Johann Friedrich Böhmer stand, entwickelte sich die Historische Kommission zu einer Forschungsorganisation.18 Auch nach der Gründung der Historischen Kommission blieb die staatliche Förderung gesamtstaatszentrierter Geschichtsbilder auf der Agenda hoher Beamter. Bekanntester Exponent dieser Bemühungen war neben dem Geschichtsorganisator Joseph Chmel der Bildungsbeamte Josef Alexander von Helfert, der in einer programmatischen Schrift 1853 das Fehlen einer forschungsbasierten, modernen Gesamtstaatsgeschichte kritisierte. Die ihm vorschwebende neue „Nationalgeschichte“ Österreichs sollte sowohl ästhetisch erhebend als auch pädagogisch-politisch bildend sein, die Kenntnisse der Geschichte des Gesamtstaates in der Gesellschaft verankern und „gesinnungstüchtige Staatsbürger“ gegen „politische Utopien“19 immunisieren. Helferts Ausführungen bildeten den Versuch, herkömmliche, an der Reichsgeschichte orientierte österreichische Geschichtsbilder im Zuge der europäischen Nationalstaatsbildungen zu modernisieren und das Konzept
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A. Eckhardt (Hrsg.): Wissenschaftliche Archivarsausbildung in Europa. Marburger Vorträge, Marburg 1989, S. 14–28; Erika Weinzierl-Fischer: Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv und die Geschichtswissenschaft 1848–1867, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 16/1963, S. 250–280; Walter Goldinger: Die österreichischen Archive und die Geschichtswissenschaft, in: Festgabe zur Hundertjahrfeier des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, Wien 1954, S. 165–189; Berthold Bretholz: Zur Reorganisation des österreichischen Archivwesens. Aus Theodor von Sickels Nachlass, MIÖG Ergbd. 11/1929, S. 795–799; Ludwig Bittner: Ein vormärzlicher Plan zur Errichtung einer Archivschule, in: MIÖG 41/1926, S. 273–278. Höflechner: Forschungsorganisation und Methoden, S. 219. Christine Ottner: Joseph Chmel und Johann Friedrich Böhmer. Die Anfänge der Regesta Imperii im Spannungsfeld von Freundschaft und Wissenschaft, in: Karel Hruza/Paul Herold (Hrsg.): Wege zur Urkunde – Wege der Urkunde – Wege der Forschung. Beiträge zur europäischen Diplomatik des Mittelalters, Wien/Köln/Weimar 2005, S. 257– 292:, S. 275f.; Höflechner: Forschungsorganisation und Methoden, S. 220f.; Pischinger: Geschichtsministerium oder Verlagsanstalt?, S. 74f., 86–90, 107–109; Richard Meister: Geschichte der Akademie der Wissenschaften in Wien 1847–1947, Wien 1947, S. 67–70. Joseph Alexander von Helfert: Über Nationalgeschichte und den gegenwärtigen Stand ihrer Pflege, Prag 1853, S. 30, 61.
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1. Geschichte treiben: Agenturen, Kulturen, Akteure
einer Vielvölkerstaatsnation zu implementieren, das sich gegen die sprachnationalistischen Bewegungen in den einzelnen Kronländern Österreichs richtete. Helfert, der sich sowohl in Frankreich als auch in England und Russland eingehend über die dortigen Quellenforschungsunternehmen informiert hatte, sah in der institutionellen Rückständigkeit des österreichischen Bildungswesens und dem geringen Zugänglichkeits- und Erschließungsgrad der Quellen den Hauptgrund für den Mangel an solchen Nationalgeschichten. Er forderte deshalb eine weitere Modernisierung der entstehenden Forschungsunternehmungen und die verbesserte Ausbildung von Historikern.20 Mit der Gründung des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, das der Erforschung und Darstellung der vaterländischen Geschichte gewidmet war, etablierte sich im Jahr 1854 eine zentrale Agentur geschichtswissenschaftlicher Ausbildung und staatlicher Geschichtspolitik, die solchen Forderungen nachkam. Während die Initianten im Bildungsministerium zunächst den Bedarf nach einer nationalgeschichtlichen Synthese in den Vordergrund stellten und die patriotische Bildungsfunktion des Instituts betonten, trat in der Praxis die historiographische Dimension der Geschichtswissenschaft bald in den Hintergrund.21 Ähnlich wie bei der École des chartes in Paris, auf die sich die maßgeblichen Promotoren des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung beriefen22 , verselbständigte sich hier die Forschungsdimension der Geschichtswissenschaft. Das Institut für Österreichische Geschichtsforschung wurde unter der von 1873 bis 1891 dauernden Leitung Theodor Sickels endgültig zu einer Lehr- und Forschungsinstitution, die geschichtswissenschaftliches Forschungswissen im Bereich der Hilfswissenschaften vermittelte, Archivare ausbildete und großangelegte Forschungsprojekte durchführte. In der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft wurde es für seine stark diplomatisch ausgerichtete Mittelaltergeschichte bekannt. Die Vertreter des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung betrieben gegenüber den deutschen Zentren der Geschichtsforschung München und Berlin seit den 1870er Jahren eine erfolgreiche Standortpolitik und begriffen ihre Forschungsarbeit als herausragenden Ausweis Österreichs im geschichtswissenschaftlichen Wettbewerb, dem sie mit einer eigenen Zeitschrift 1880 ein publizistisches Gesicht gaben.23 Das 1858 begonnene Unternehmen der Monumenta graphica, ein 20 21
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Helfert: Über Nationalgeschichte, S. 1–4, 29–31, 50–52, 60–65. Höflechner: Forschungsorganisation und Methoden, S. 222f.; Lhotsky: Geschichte des Instituts; Oswald Redlich: Das Österreichische Institut für Geschichtsforschung, in: Ludolph Brauer/Albrecht Mendelssohn-Bartholdy/Adolf Meyer (Hrsg.): Forschungsinstitute, ihre Geschichte, Organisation und Ziele, Hamburg 1930, S. 452–454; zu den Gründungsumständen vgl. Lhotsky: Geschichte des Instituts, S. 11–36. Zur jüngeren Geschichte s. Manfred Stoy: Das Österreichische Institut für Geschichtsforschung (1929– 1945), Wien/München 2007. Lhotsky: Geschichte des Instituts, S. 34f. Vgl. Kap. 3 u. 7. S. auch Christine Ottner: Zwischen Referat und Recension. Strukturelle,
1.1 Geschichtsforschung in Österreich
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paläographisches Tafelwerk, bildete den Auftakt zu einer umfangreichen Quellenerfassungstätigkeit, die um 1875 mit der Ansiedlung zweier großer reichsgeschichtlicher Erschließungsunternehmen am Institut einen entscheidenden Ausbauschub erfuhr. Im Vergleich zur École des chartes, die in Frankreich Teil einer funktional weiter ausdifferenzierten geschichtswissenschaftlichen Institutionenlandschaft wurde und keine Editionen vorlegte24 , vereinigte das Wiener Institut vielfältige Ausbildungs- und Forschungsfunktionen in sich. Es gelang ihm im Verlauf des Untersuchungszeitraums, die akademische Geschichtswissenschaft in Österreich zu dominieren, indem es eng mit dem Ministerium für Cultus und Unterricht zusammenarbeitete, eine selbstbewusste professionelle Standespolitik betrieb und sich einen internationalen Ruf im Bereich der Hilfswissenschaften erwarb. Der Abschluss am Institut, der in letzten Studienjahren oder zusätzlich zum Lehramtsdiplom oder zum Doktorat im Nachdiplomstudium erworben wurde, entwickelte sich spätestens gegen Ende des 19. Jahrhunderts zum Nadelöhr akademischer Reproduktion. Spätestens seit den 1880er Jahren rekrutierten sich nahezu alle deutschsprachigen Hochschulprofessoren Österreichs aus diesem institutionellen Zusammenhang. Auch für angehende Archivare wurde der Institutsabschluss zu einem wichtigen Fachausweis. Obwohl seitens der Institutsverantwortlichen von Beginn an angestrebt wurde, diese Ausbildung zum obligatorischen Zertifikat für Archivare werden zu lassen, wurde dieses Ziel formal erst 1927 erreicht.25 Das Institut trug damit entscheidend zur Homogenisierung und Zentralisierung der geschichtswissenschaftlich vermittelten Wissensbestände, Forschungshaltungen und Arbeitsroutinen bei und wurde überdies im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu einem bedeutenden Zentrum der durch Forschungsteams geleisteten, professionellen Quellenerschließung. Mit der Gründung des Österreichischen Historischen Instituts in Rom26 im Jahr 1881, das in seinen Anfängen von Theodor Sickel geleitet wurde, erhielt diese öster-
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fachliche und politische Aspekte in den Literaturberichten der MIÖG (1880–1900), in: MIÖG 121/2013, S. 54–76; Gerhard Oberkofler: Über den Einfluss der österreichischen Schule der historischen Hilfswissenschaften in Berlin. Die Berufung von Michael Tangl (1861–1921) nach Berlin (1897) und seine Wahl zum ordentlichen Mitglied der Preussischen Akademie der Wissenschaften (1918), in: Tiroler Heimat 51–52/1987–88, S. 233– 241. Lingelbach: Klio macht Karriere, S. 640. Die Bestrebungen für eine Vereinheitlichung und Professionalisierung der Archivausbildung stießen lange Zeit auf gegenläufige Interessen in den unterschiedlichen Ministerien und Länderverwaltungen. Vgl. Lhotsky: Geschichte des Instituts, S. 304f. u. 307. Der Institutsabschluss hingegen blieb bis in die 1980er Jahre hinein (mit Ausnahmen in der Geschichte des Altertums und der späteren Neuzeit) eine informelle Voraussetzung von Professorenlaufbahnen im Fach Geschichte in Österreich. Höflechner: Forschungsorganisation und Methoden, S. 224. Karl Rudolf : Geschichte des Österreichischen Historischen Instituts in Rom von 1881 bis 1938, in: Römische Historische Mitteilungen 23/1981, S. 1–137; Theodor Sickel: Römi-
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1. Geschichte treiben: Agenturen, Kulturen, Akteure
reichische Forschungstradition eine Außenstation am Forschungsstandort Vatikan, wo nationale Forschungsteams in der – nationalgeschichtlich motivierten – Erschließung der Bestände der Vatikanischen Archive miteinander konkurrierten. Eine solche durch intensive Forschungszusammenarbeit geprägte Ausrichtung historischer Forschung war auch das ursprüngliche Ziel des Hauptinitiators der Historischen Kommission der Akademie, Joseph Chmel, gewesen. Dass die österreichische Trägerschaft der Monumenta Germaniae Historica zwar bei der österreichischen Akademie der Wissenschaften lag, die ab 1875 in Wien angesiedelte Herrscherurkundenedition der Monumenta aber nicht dort durchgeführt wurde, verweist darauf, dass die Historische Kommission der Akademie mit dieser Entwicklung arbeitsteiliger Forschung nur teilweise Schritt halten konnte. Die Forschungsorganisation der Historischen Kommission der Akademie bewegte sich nach der Gründungsphase tatsächlich vom Ideal groß angelegter editorischer Teamarbeit weg, da die Zusammenarbeit der Akademiemitglieder nicht verdichtet werden konnte. Überdies hinkte die Kommission in Bezug auf die Verfachlichung weit hinter dem Institut für Österreichische Geschichtsforschung her; ihre Mitglieder repräsentierten erst ab den 1880er Jahren die akademische historische Forschung. Die Editionen der Kommission wurden deshalb, wenn sie nicht ausgelagert wurden, in erster Linie durch Einzelne an die Hand genommen, und die Akademie stellte vor allem die Publikationsressourcen zur Verfügung.27 1897 und 1902 kamen mit der „Kommission für neuere Geschichte Österreichs“ und der Weistümer- und Urbarkommission weitere historische Akademiekommissionen hinzu, die sich auf die Editionstätigkeit in speziellen Bereichen der Forschung spezialisierten.28 Die Akademie zählte in ihrer Editionstätigkeit nun immer stärker auf das Institut für Österreichische Geschichtsforschung. Hochschullehrer aus dem Institutsumfeld nahmen ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in die Akademiekommissionen Einsitz, und Absolventen des Institutslehrgangs bearbeiteten die von der Akademie finanzierten Editionen.29 Die Akademiezeitschriften bildeten außerdem ein
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sche Erinnerungen. Nebst ergänzenden Briefen und Aktenstücken, Hrsg. Leo Santifaller, Wien, 1947. Christine Ottner: Zwischen Wiener Localanstalt und Centralpunkt der Monarchie; Pischinger: Geschichtsministerium oder Verlagsanstalt, S. 107–118; 162–165. Fritz Fellner: „Ein wahrhaft patriotisches Werk“. Die Kommission für neuere Geschichte Österreichs 1897–2000, Wien 2000, bes. S. 72–78. Fast gleichzeitig wurde 1902 mit der „Weistümer- und Urbarkommission“ eine weitere historisch ausgerichtete, editorisch tätige Kommission gegründet. Vgl. Christine Ottner: Zur Praxis der Geschichtsforschung im 19. Jahrhundert. Am Beispiel der Sammlung und Herausgabe der österreichischen Weistümer, in: Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte 28/2011, S. 127–142; Lhotsky: Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung, S. 420. So erhielten die am Institut von Oswald Redlich initiierten Regesta Habsburgica Unterstützung durch die Akademie, und die Arbeiten der Kommission für neuere Geschichte
1.1 Geschichtsforschung in Österreich
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wichtiges Publikationsforum für die Forschungsarbeiten von am Institut ausgebildeten Historikern. Sowohl die Historische Kommission der Akademie der Wissenschaften als auch das Institut für Österreichische Geschichtsforschung stellten zentralstaatliche Gründungen von oben dar, die nicht auf einem zivilgesellschaftlichen Engagement bürgerlicher Vereine, sondern auf der Geschichtspolitik hoher Beamtenkreise beruhten.30 Beide Forschungsorganisationen können deshalb als Agenturen einer zentralstaatlichen Geschichtspolitik verstanden werden. Daneben verfügte Österreich weiterhin über ein differenziertes Gefüge aus Agenturen, die unter anderem auch historische Quellen erfassten und erforschten, aber in den meisten Fällen nicht gesamtstaatlich orientiert waren, sondern eine landesgeschichtliche, lokale, dynastische oder kirchengeschichtliche Ausrichtung hatten. Diese heterogenen Organisationen und Netzwerke der historischen Forschung sowie die Archive in den einzelnen Gebieten bildeten die Infrastrukturen, auf die die neueren zentralstaatlichen Institutionen zurückgreifen mussten, wenn sie zu österreichischen Themen arbeiteten. Dass diese Zusammenarbeit von vielfältigen, konfliktträchtigen Aushandlungsprozessen begleitet war, wird die vorliegende Arbeit an einigen Beispielen aufzeigen. Das Reibungspotential unterschiedlicher geschichtskultureller Ausrichtungen wird auch dadurch belegt, dass die Bemühungen der Historischen Kommission, sich als Zentrale der Landesvereine zu etablieren, nach der Gründungsphase ins Leere liefen.31 Das neue Nebeneinander dezentraler Organisationen historischer Forschung und der zentralstaatlichen Aktivitäten charakterisiert die österreichische Geschichtsforschung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in mehrfacher Hinsicht. Erstens verstärkte sich der Gegensatz zwischen professioneller, von den Zentren ausgehender Forschung und den vielfältigen historischen Aktivitäten vor Ort, die nur teilweise von akademisch gebildeten Historikern betrieben wurden. Im Laufe der Zeit wurden zwar viele Absolventen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung in Geschichtsagenturen ihrer Heimatregionen tätig oder arbeiteten in regionalen Editionsprojekten mit. Damit verloren diese älteren Agenturen historischer Forschung aber nicht ihren Charakter als Orte einer nicht ausschließlich akademischen, geschichtskulturellen Geselligkeit. Darauf verweist die Ge-
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Österreichs wurde beinahe ausschließlich von Absolventen des Instituts ausgearbeitet und bis 1937 von dort aus geleitet. Lhotsky: Geschichte des Instituts, S. 242–245. Zu den Ernennungsprozeduren in der Akademie s. Pischinger: Geschichtsministerium oder Verlagsanstalt?, S. 41–51. Pischinger: Geschichtsministerium oder Verlagsanstalt?, S. 130–137, 152. Zur Bedeutung regionaler Archive vgl. auch Wadl: Wissenschaftliche Forschung.
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1. Geschichte treiben: Agenturen, Kulturen, Akteure
gengründung spezifisch akademischer, deutschnationaler Historikervereine32 gegen 1900. Zweitens erhoben die zentralstaatlichen Organisationen zwar einen gesamtstaatlichen Anspruch, dieser wurde aber nicht eingelöst. Die Historische Kommission vereinigte vor allem Mitglieder aus dem Raum Wien, konzentrierte sich auf Arbeiten zu deutschsprachigen Gebieten und erhielt ab den 1860er Jahren auch einen deutschnationalen Akzent, als Beiträge tschechischnational ausgerichteter Historiker marginalisiert wurden. Ebenso orientierte sich das Institut für Österreichische Geschichtsforschung nicht nur kulturell und sprachlich vollständig am deutschen Sprachraum, sondern forschte selten zu nichtdeutschsprachigen Gebieten der Monarchie.33 Auf der andern Seite entwickelten die landesgeschichtlichen Organisationen in den nicht deutschsprachigen Kronländern besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielfältige historische Aktivitäten im Zeichen sprachlich-kulturell definierter Nationalidentitäten. Editionen wie die bereits im 18. Jahrhundert begonnenen, aber im 19. Jahrhundert weitergeführten Scriptores rerum Bohemicarum oder die Monumenta Poloniae Historica bildeten die Quellenbasis für die sich nationalisierenden Geschichtsforschungen in den einzelnen Ländern der Monarchie. Nach 1867 fiel zudem der transleithanische Teil Österreichs auch formal aus dem Blickfeld der Wiener Geschichtsverwalter. In den vorwiegend nichtdeutschsprachigen Kronländern entstanden weitgehende Parallelstrukturen der Forschung34 , die nur teilweise mit den in Wien stattfindenden Entwicklungen verbunden waren. Drittens erhält die in der historischen Literatur geteilte Einschätzung, die beiden Forschungsorganisationen hätten die historische Forschung erstmals „systematisch und konzeptgeleitet“35 betrieben, eine konkretere Bedeutung: Die historische Forschung ging nun erstmals in größerem Umfang von 32
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Gertraud Wilfling: Der akademische Historikerklub an der Universität Innsbruck. Das zweite Jahrzehnt 1882–1892, Edition der Klubchronik, Dipl.arb. Univ. Innsbruck 2011; Herbert Irsara: Studentisch-wissenschaftliches Leben an der Universität Innsbruck. Das erste Dezennium des akademischen Historikerklubs in Innsbruck (1872–1882), Edition der Klubchronik mit Einleitung, Dipl.arb. Univ. Innsbruck 2003; Walter Boguth: Die Gründung des akademischen Vereins deutscher Historiker in Wien vor 25 Jahren, in: Festschrift des akademischen Vereines deutscher Historiker in Wien, Wien 1914, S. 3–6. Boguth: Die Gründung des akademischen Vereins; Hans Pirchegger: [Selbstdarstellung], in: Grass: Österreichische Historiker, S 77–88: 79. Pischinger: Geschichtsministerium oder Verlagsanstalt?, S. 167–172, 174–176; Walter Leitsch: Wien und die Ausbildung von Historikern osteuropäischer Länder, in: MIÖG 94/1986, S. 143–158: 156. Vgl. die Hinweise bei Jiří Kořalka: František Palacký (1798–1876). Der Historiker der Tschechen im österreichischen Vielvölkerstaat, Wien 2007, bes. S. 150, 385–390; von Klimó: Nation, Konfession, Geschichte; Pischinger: Geschichtsministerium oder Verlagsanstalt?, S. 20–24; Gottas: Universitäten, wissenschaftliche Gesellschaften und Akademien, S. 50–53. Höflechner: Forschungsorganisation und Methoden, S. 219.
1.2 Geschichtsforschung in der Schweiz
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zentralstaatlichen Institutionen aus und stand im Dienst einer Geschichtspolitik, die in der Weiterentwicklung von Nationalgeschichte eine wichtige Legitimationsinstanz des österreichischen Staates sah und an der nationalen Steuerung der Geschichtswissenschaft interessiert war. In ihrer Ausrichtung auf den Gesamtstaat waren diese großangelegten Organisationen tatsächlich von neuartiger Reichweite. Sie verdeutlichen, dass die signifikante Expansion der Forschung an historischen Quellen im 19. Jahrhundert maßgeblich von den vorherrschenden nationalhistorischen Orientierungen geprägt war. Hinter dieser spezifischen Ausprägung „systematischer“ historischer Forschung gerieten die historischen Arbeiten der Frühneuzeit36 in Vergessenheit, deren Wissensbezüge und ganz eigenen Arbeitskonzepte, epistemischen Ordnungen und Praktiken noch eingehender untersucht werden müssten.
1.2 Geschichtsforschung in der Schweiz Auch in der Schweiz konnte sich die geschichtskulturelle Betriebsamkeit der bildungsbürgerlichen Eliten im Zeitraum der Bundesstaatsgründung auf eine Vielfalt von historischen Infrastrukturen und Vorarbeiten stützen, die in der Frühen Neuzeit entwickelt worden waren. In den katholischen Gebieten stellten die Klöster mit ihren teilweise bedeutenden Bibliotheken lokale Zentren historischer Gelehrsamkeit dar.37 Ihre geschichtskulturellen Tätigkeiten sind für das 17. und 18. Jahrhundert nur wenig erforscht. Bekannt sind vor allem die antiquarischen Sammlungstätigkeiten und die diplomatischen Ordnungsbemühungen, die mit den gedruckten Urkundensammlungen einhergingen, die die Klöster seit dem 17. Jahrhundert in großem Umfang zur Traditionssicherung ihrer Institutionen herstellten.38 36 37
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Vgl. zur historischen Gelehrsamkeit im 18. Jahrhundert Wallnig: Gasthaus und Gelehrsamkeit, S. 149–173; Tropper: Urkundenlehre in Österreich. Übersichtsbeiträge: Tremp/Walter: „Geschichte“, Stadler: Geschichtswissenschaftliche Organisationsformen; ders.: L’historiographie suisse vers 1900; ders.: Die historische Forschung in der Schweiz im 18. Jahrhundert; Fueter: Geschichte der gesamtschweizerischen historischen Organisation; Kern: L’érudition historique; Feller: 100 Jahre Schweizerischer Geschichtsforschung; Feller/Bonjour: Geschichtsschreibung der Schweiz; Salathé: Die Anfänge der historischen Fachzeitschrift; Jost Brunner: Die historischen Hilfswissenschaften der Heraldik, Sphragistik, Genealogie und Numismatik an den schweizerischen Universitäten, in: Archives héraldiques suisses 1919, S. 138–140; Guilland/Gagliardi: Suisse; Meyer von Knonau: Geschichtswissenschaft. Christoph Eggenberger: Die Benediktiner der Abtei Rheinau als Sammler. Pater Moritz Hohenbaum van der Meer und die Handschriftenkataloge von Pater Basilius Germann, in: Benno Schubiger/Dorothea Schwinn Schürmann/Cecilia Hurley (Hrsg.): Sammeln und Sammlungen im 18. Jahrhundert in der Schweiz, Genève 2007, S. 173–187; Hanspeter Marti: Protestantische und aufklärerische Literatur in Deutschschweizer Klosterbibliotheken. Ein Forschungsprojekt zur Interkonfessionalität im 18. Jahrhundert, ebd., S. 189–
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1. Geschichte treiben: Agenturen, Kulturen, Akteure
Auch die städtischen Oberschichten hatten in der frühen Neuzeit zahlreiche historische Aktivitäten entwickelt. Die Beschäftigung mit Geschichte wurde zu einem wichtigen Bestandteil der Selbstvergewisserung der vorwiegend patrizischen Eliten, aus denen sich die gelehrten Gesellschaften des 18. Jahrhunderts rekrutierten. Das historische Wissen, das hier generiert wurde, stand mit seiner staatsmännischen Aktualisierung in enger Verbindung. Viele dieser Gesellschaften wie etwa die 1762 gegründete Gesellschaft auf der Gerwi in Zürich, die 1818 von der Vaterländisch-historischen Gesellschaft abgelöst wurde, verbanden breite kameralistisch-statistische Interessen mit einer historischen Ausrichtung. Gleichzeitig entstanden Sammlungsvorhaben, Editionsprojekte und groß angelegte enzyklopädische Arbeiten, in die ebenfalls vielfältige historische Forschungsresultate eingingen. In der Spätaufklärung und im frühen 19. Jahrhundert wurden zudem zahlreiche kurzlebige historische Zeitschriftenprojekte lanciert. Auch auf gesamteidgenössischer Ebene wurden geschichtskulturelle Aktivitäten verfolgt: Die wohl wichtigste Sozietät in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die von den kantonalen politischen Eliten frequentierte Helvetische Gesellschaft, maß der Geschichte große Bedeutung für die Bildung eines gesamteidgenössischen, republikanischen Bewusstseins zu. Ihre Initiativen blieben allerdings programmatisch, denn sie führte keine Forschungsprojekte durch.39
39
216; Feller/Bonjour: Geschichtsschreibung der Schweiz, Bd. 2, S. 426–428; Stadler: Die historische Forschung in der Schweiz, S. 302f.; Hammermayer: Die Forschungszentren der deutschen Benediktiner, S. 171f.; Kern: L’érudition historique, S. 10, Fn. 27; P. Gall Heer: Johannes Mabillon und die schweizerischen Benediktiner. Ein Beitrag zur Geschichte der historischen Quellenforschung im 17. und 18. Jahrhundert, St. Gallen 1938. Kurt Büchi: Historisch-politische Gesellschaften in Zürich 1730–1830, Zürich 1963, S. 31; Nachweise zu den einzelnen Gesellschaften s. Emil Erne: Die schweizerischen Sozietäten. Lexikalische Darstellung der Reformgesellschaften des 18. Jahrhunderts in der Schweiz, Zürich 1988; Ulrich Im Hof /François de Capitani: Die Helvetische Gesellschaft. Spätaufklärung und Vorrevolution in der Schweiz, Bd. 1, Frauenfeld/Stuttgart 1983, S. 29–31; Stadler: Die historische Forschung in der Schweiz, S. 304. Zu von Tscharners Dictionnaire géographique, historique et politique de la Suisse von 1775 vgl. Donato: La géographie républicaine, bes. S. 303f. – Zeitschriften: Salathé: Die Anfänge der historischen Fachzeitschrift. – Sammlungen: Rolf Graber: Gefährliche Sammelleidenschaft. Zum Vorwurf der Entwendung von Büchern, Archivalien und Instrumenten im Zürcher Malefizprozess gegen Johann Heinrich Waser, in: Schubiger/Schwinn Schürmann/ Hurley (Hrsg.): Sammeln und Sammlungen im 18. Jahrhundert in der Schweiz, S. 357– 369; Claudia Hermann: Die „antiquarischen Seltenheiten“ im Luzerner Zeughaus – eine museale Präsentation des 18. Jahrhunderts, ebd., S. 67–90; Krzysztof Pomian: Sammlungen – eine historische Typologie, ebd., S. 107–126: 118; Christine Barraud Wiener/ Peter Jezler: Die Kunstkammer der Bürgerbibliothek in der Wasserkirche in Zürich. Eine Fallstudie zur gelehrten Gesellschaft als Sammlerin, ebd., S. 763–798; Claudia Rütsche: Die Kunstkammer in der Zürcher Wasserkirche. Öffentliche Sammeltätigkeit einer gelehrten Bürgerschaft aus museumsgeschichtlicher Sicht, Bern 1997; Mathias Senn: Die Sammel- und Vermittlungstätigkeit des Schweizerischen Landesmuseums im Kontext zeitbedingter Geschichtsauffassungen, in: Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich 69/2002, S. 131–143; Büchi: Historisch-politische Gesellschaften, S. 31.
1.2 Geschichtsforschung in der Schweiz
59
Im Vergleich zu Österreich entwickelte der neu gegründete schweizerische Bundesstaat im 19. Jahrhundert weniger mächtige und ressourcenreiche Agenturen und Instrumente einer staatlichen Geschichtspolitik. Zwar hatte auch in der Schweiz die staatliche Verwaltung von Geschichte eine wichtige Dimension historischer Interessen in der Frühneuzeit gebildet.40 An diese Tradition schloss die Archivpolitik des Bundes wie auch das Projekt der amtlichen Aktenedition der sogenannten „Eidgenössischen Abschiede“ an, die politikhistorisch wichtige Quellenbestände zugänglich machten. Der Staat engagierte sich auch in der Förderung von Vereinen und errichtete 1891 das Schweizerische Landesmuseum in Zürich als Repräsentationsort staatlicher Geschichtsbilder.41 Allerdings gründeten die Bundesbehörden keine nationalen Forschungsorganisationen. Die Schweiz verfügte im 19. Jahrhundert über keine zentrale Akademie, die geschichtswissenschaftliche Tätigkeiten finanziert und koordiniert hätte. Dies lässt sich mit fehlenden fürstlichrepräsentativen Vorläufern in der Frühneuzeit, der föderalen Struktur des schweizerischen Bildungswesens, der Ausrichtung der jeweiligen Sprachgruppen an den Wissenschaftsorganisationen der Nachbarländer und dem insgesamt niedrigen Stellenwert der Bundesförderung in den Bereichen Bildung und Kultur in Verbindung bringen. Darüber hinaus verzögerten jahrzehntelange wissenschaftspolitische Auseinandersetzungen um die Einrichtung einer Eidgenössischen Universität und äquivalenter Spezialschulen42 langfristig die Errichtung nationaler Organisationsformen von Wissenschaft. In Hochschullehrerkreisen wurden im 19. Jahrhundert Pläne einer schweizerischen Akademie der Wissenschaften verfolgt. An der Wende zum 20. Jahrhundert standen diese Ideen im Zeichen einer Autonomisierung der schweizerischen Wissenschaft, die angesichts europäischer Spannungen staatspolitisch als notwendig erachtet wurde. Bildungspolitiker aus verschiedenen Kantonen kritisierten, dass schweizerische Wissenschaftler eine „wissenschaftliche Provinz Frankreichs oder Deutschlands“ seien und wie Söldner „an fremden Tischen“ äßen, ohne Gegenrecht üben zu können.43 Verwirklicht wurden die schweizerischen Akademien mit Ausnahme einer nationalen naturwissenschaftlichen Vorläuferorganisation indessen erst im 40 41
42 43
Graber: Gefährliche Sammelleidenschaft; Head: Knowing Like a State. Zimmer: A Contested Nation, S. 172–177; Senn: Die Sammel- und Vermittlungstätigkeit des Schweizerischen Landesmuseums; Alfred Messerli: Das Schweizerische Landesmuseum als visuelle Enzyklopädie der vaterländischen Geschichte, in: Ingrid Tomkowiak (Hrsg.): Populäre Enzyklopädien. Von der Auswahl, Ordnung und Vermittlung des Wissens, Zürich 2002, S. 239–252. Zur Vereinsförderung und zum Projekt der Eidgenössischen Abschiede vgl. Kap. 5.1. David Gugerli/Patrick Kupper/Daniel Speich: Die Zukunftsmaschine. Konjunkturen der ETH Zürich 1855–2005, Zürich 2005, S. 47–50, 56–62. Eine Eidgenössische Akademie der Wissenschaften: Eine Denkschrift zu Handen des Herrn Departementschefs des Innern, Herrn Bundesrat Ruchet, Bern. o. D. [1902], StAZH 94.2:2.
60
1. Geschichte treiben: Agenturen, Kulturen, Akteure
Lauf des 20. Jahrhunderts. 1946 wurde die Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften wie die andern Akademien als Dachgesellschaft bestehender Fachorganisationen gegründet.44 Vielmehr brachte die Konjunktur historischer Vereine, die sich parallel zur diskursiven Präsenz der nationalhistorischen Narrative45 entfaltete, die einzige nationale geschichtswissenschaftliche Forschungsorganisation hervor. Bereits seit dem 18. und frühen 19. Jahrhundert entstand in der Schweiz eine sehr vielgestaltige und ressourcenreiche historische Vereinskultur. Während manche der gelehrten Gesellschaften bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts überlebten, kam es ab den 1820er Jahren zu einer Welle von Neugründungen von kantonalen historischen Vereinen, die sich entschieden von den elitären Soziabilitätsformen des Ancien Régime absetzten. Diese Neugründungen entwickelten sich zusammen mit den regionalen Vereinen zu den wichtigsten Foren geschichtskultureller Aktivitäten, die eine große Zahl von Amateurhistorikern mobilisierten und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine äußerst reiche Sammlungs- und Editionstätigkeit entfalteten.46 44
45
46
Die Akademie wurde 1946 als „Schweizerische Geisteswissenschaftliche Gesellschaft“ gegründet. Fueter: Geschichte der gesamtschweizerischen historischen Organisation, S. 489f. Zimmer: A Contested Nation, S. 163–236; Buchbinder: Der Wille zur Geschichte, bes. S. 65–74; Marchal: Staat und Nation; Marchal: Das Mittelalter und die nationale Geschichtsschreibung; Marchal/Mattioli (Hrsg.): Erfundene Schweiz. Sebastian Brändli: Helvetischer Föderalismus, vaterländische Wissenschaft. Die historischen Kantonsvereine im 19. Jh., in: SZG 60/2010, S. 302–331; Hundert Jahre Allgemeine Geschichtforschende Gesellschaft der Schweiz, 1841–1941 – Le premier siècle de la Société générale suisse d’histoire – Il primo secolo della Società generale svizzera di storia, Bern 1941; Anton Largiadèr: Festbericht über die Jahrhundertfeier der Allgemeinen geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz in Bern, Bern 1941; Guilland: Les études historiques, S. 86–92; Meyer von Knonau: Geschichtswissenschaft, S. 276–281; Karl Ritter: Johann Caspar Zellweger und die Gründung der Schweizerischen Geschichtforschenden Gesellschaft, in: Jahrbuch für Schweizerische Geschichte 16/1891, S. 1–177. Einzelne kantonale Vereine: Verena Rothenbühler/André Salathé (Hrsg.): Clio küsst den Thurgau. Der Historische Verein und die Geschichtsforschung im Thurgau 1859–2009, Frauenfeld 2009; Jürg E. Schneider: „Im Schosse der Antiquarischen Gesellschaft fing alles an.“, in: Antiquarische Gesellschaft in Zürich (Hrsg.): Geschichte schreiben in Zürich. Die Rolle der Antiquarischen Gesellschaft bei der Erforschung und Pflege der Vergangenheit, Zürich 2002, S. 9–40; Helmut Meyer: Die Antiquarische Gesellschaft und die zürcherische akademische Forschung 1833–1922, ebd., S 41–57;Gilbert Coutaz: La Société d’histoire de la Suisse romande, in: Annales valaisannes 1996, S. 25–39; Pierre Reichenbach: Le rôle des sociétés d’histoire et des Archives de l’Etat du Valais dans l’historiographie valaisanne, ebd., S. 9–24; Karl F. Wälchli: Geschichte in der Öffentlichkeit. Die Rolle des Historischen Vereins im Kanton Bern 1846–1996, Gedanken zum 150-Jahr-Jubiläum, in: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 58/1996, S. 301–314; Gregor Th. Brunner: Jubiläumsschrift 1991 zum 100jährigen Bestehen der schweizerischen Gesellschaft, in: Schweizerisches Archiv für Heraldik 105/1991, S. 346–377; Frédéric von Mülinen: Die erste Schweizerische geschichtsforschende Gesellschaft, 1811–1858, Bern 1961; P. Xaver Weber: Hundert Jahre Historischer Verein der V Orte 1843–1943, in: Der Geschichtsfreund 96/1943, S. 1–114; Anton Largiadèr: Hundert Jahre Antiquarische Gesellschaft in
1.2 Geschichtsforschung in der Schweiz
61
Die nationale historische Sozietät, die „Allgemeine geschichtforschende Gesellschaft der Schweiz“ wurde 1841 noch vor der Gründung des modernen Bundesstaates in Bern als unfreundliche Übernahme einer älteren Gesellschaft geschaffen. Initiant war der Appenzeller Kaufmann und Historiker Johann Caspar Zellweger, der zusammen mit Exponenten kantonaler und regionaler Gesellschaften wie Johann Jakob Hottinger und Georg von Wyss aus Zürich, Andreas Heusler aus Basel und Louis Vulliemin und Frédéric de Gingins aus der Waadt die Schweizerische Geschichtforschende Gesellschaft, die von Berner Patriziern betrieben wurde, umgründete. In ihren Zwecksetzungen wird sichtbar, dass die neue Gesellschaft Funktionen wahrnehmen wollte, die jener der Historischen Kommission einer Akademie des 19. Jahrhunderts ähnlich waren: Sie sollte das Interesse an der schweizerischen Geschichte durch den Forschungsaustausch in Versammlungen, Publikationen und gemeinsamen Arbeiten an Quellenpublikationen fördern. Die Allgemeine Geschichtforschende Gesellschaft der Schweiz entwickelte ihre Aktivitäten vor allem in einer Reihe von Gesellschaftszeitschriften und in selbst durchgeführten oder in Auftrag gegebenen Editionsprojekten. Wie bereits der Gesellschaftsname verdeutlicht, hoben die Gründer den Forschungsaspekt von Geschichte von Beginn an explizit hervor. Sie schrieben der Forschung gegenüber Darstellungsleistungen weniger Konfliktpotential in der heterogenen Geschichtslandschaft Schweiz zu. Die Gesellschaft veröffentlichte neben den Periodika, die viele kleinere „Materialiensammlungen“47 enthielten, über den ganzen Untersuchungszeitraum hinweg vor allem chronikalische Quellen zur Schweizergeschichte, die von Einzelpersonen ediert wurden. Darüber hinaus lancierte sie ein Urkundensammlungsprojekt, das als „Schweizerische Urkundenregister“ in den Jahren 1863–1877 herauskam. Hinzu kamen weitere Editionsprojekte, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zunehmend von Geschichtsprofessoren geleitet wurden.48
47
48
Zürich, 1832–1932, Zürich 1932. Von den älteren patrizischen Gesellschaften bestand die Bernische geschichtforschende Gesellschaft bis 1858, die Vaterländisch-historische Gesellschaft in Zürich bis 1884, letztere war aber seit den 1830er Jahren nicht mehr sehr aktiv. Vgl. Büchi: Historisch-politische Gesellschaften, S. 32f. Sitzung der provisorischen Vorsteherschaft, 25.05.1841, Protokoll des Gesellschaftsrats der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz 1841–1887, S. 7, BAR J II.127 -/1:1. Statuten der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz, § 1, 25.10.1841, in: Archiv für Schweizerische Geschichte 1/1843, S. XVIIf.: XVII. Zeitschriften der Gesellschaft im Untersuchungszeitraum: Archiv für Schweizerische Geschichte (1843–1875); Anzeiger für schweizerische Geschichte und Alterthumskunde (1855– 1868); Historische Zeitung (1853–1854); Anzeiger für schweizerische Geschichte (1870– 1920); Jahrbuch für Schweizerische Geschichte (1876–1920). Vgl. Allgemeine Geschichtforschende Gesellschaft der Schweiz (Hrsg.): Verzeichnisse von Abhandlungen und Dokumenten im Jahrbuch für schweiz.[erische] Geschichte, Anzeiger für schweizerische Geschichte und Altertumskunde, Anzeiger für schweizerische Geschichte, Bearb. Anton Largiadèr, Basel 1941. Zur Geschichts- und Editionspolitik der Allgemeinen Geschicht-
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1. Geschichte treiben: Agenturen, Kulturen, Akteure
Abgesehen von einer kleinen Bibliothek verfügte die Gesellschaft nicht über zentrale Räumlichkeiten. Sie trug vielmehr den heterogenen kulturellen und historischen Bezügen der Schweiz Rechnung, indem sie ihre Versammlungen in einem föderalistischen Turnus an den Standorten der verschiedenen kantonalen Gesellschaften abhielt.49 Die Geschichtforschende Gesellschaft definierte sich als Ort der belehrenden Geselligkeit von Geschichtsfreunden und Geschichtsforschern50 , sie sollte nicht nur die Fachhistoriker ansprechen, die sich nun an den Universitäten auszubilden begannen. Anfangs der 1870er Jahre setzte auf der Ebene der Gesellschaftsleitung zwar ein Professionalisierungsschub ein, in dessen Verlauf jüngere, in Deutschland ausgebildete Historiker wichtige Positionen einnahmen und das Präsidium dauerhaft von Geschichtsprofessoren besetzt wurde.51 Die Gesellschaft wurde zu einem wichtigen beruflichen Tätigkeits- und Ressourcenfeld insbesondere der Zürcher Hochschullehrer der Geschichte. Trotzdem bewahrte sie sich im Untersuchungszeitraum ihren nicht gänzlich verfachlichten Charakter. Ihre Basis setzte sich aus den staatsnahen, vorwiegend städtischen, teilweise patrizischen Eliten des schweizerischen Bildungsbürgertums zusammen; viele der Mitglieder waren Lehrer und Amtsinhaber, von denen ein Teil eine juristische Ausbildung genossen hatte. Auch Geistliche engagierten sich in großem Umfang in der Gesellschaft; als Forscher und lokale Quellenverwalter waren sie insbesondere zu Beginn von großer Bedeutung.52
49 50 51
52
forschenden Gesellschaft vgl. Kap. 5. Die ältere Schweizerische Geschichtforschende Gesellschaft in Bern war 1811 entstanden und wurde von Berner Patriziern dominiert. Diese gründeten 1842 die Bernische Geschichtsforschende Gesellschaft. Gottfried Boesch: Aus der Frühzeit der ersten Schweizerischen Geschichtsforschenden Gesellschaft 1811–1858. Die Mitgliederstruktur der älteren bernischen Gesellschaft, in: Nicola Bernard/Quirinus Reichen (Hrsg.): Gesellschaft und Gesellschaften. Festschrift zum 65. Geburtstag von Professor Dr. Ulrich Im Hof, Bern 1982, S. 369–408; von Mülinen: Die erste Schweizerische geschichtsforschende Gesellschaft. Guilland: Les études historiques en Suisse, S. 84. Statuten der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz, § 1, 25.10.1841, in: Archiv für Schweizerische Geschichte 1/1843, S. XVIIf.: XVII. Gerold Meyer von Knonau: Die Thätigkeit der Allgemeinen geschichtsforschenden Gesellschaft der Schweiz im ersten halben Jahrhundert ihres BestandeS. 1841–1891, in: Jahrbuch für schweizerische Geschichte 16/1891, S. IV-LIII: XXXIV; Personalverzeichnisse und Tabellen, in: Hundert Jahre Allgemeine Geschichtforschende Gesellschaft der Schweiz, Bern 1941, S. 90–95. Nur ausnahmsweise sind Gesellschaftsmitglieder zu verzeichnen, die, wie der Gründer Zellweger, dem Wirtschaftsbürgertum zuzurechnen waren. Für die Stichjahre 1845, 1876 und 1905 lassen sich drei relativ homogene große Berufsgruppen ausmachen: Erstens Magistraten und Angestellte der Staatsverwaltung, zweitens Lehrer auf Sekundar-, Mittelschul- und Seminarstufe, drittens Geistliche. Daneben bildeten die Hochschullehrer der Geschichte und die Archivare als verberuflichte Historiker einen deutlich kleineren Anteil. Kaufleute und Industrielle nahem sehr selten teil, ebenso Ärzte und Journalisten. Verzeichniss der Mitglieder [1845], in: Archiv für Schweizerische Geschichte 4/1846, S. XXVII–XXXVII; Verzeichniss der Mitglieder der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz am 31. Juli 1876, in: Jahrbuch für Schwei-
1.2 Geschichtsforschung in der Schweiz
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Die Allgemeine Geschichtforschende Gesellschaft entwickelte sich im 19. Jahrhundert zu einer wichtigen Agentur der historischen Forschung in der Schweiz, die vor allem nach einer Reform im Jahr 1872 zur Verwissenschaftlichung der Geschichtsforschung in der Schweiz beitrug. Überdies konnte sie sich als offizielle Anlaufstelle für ausländische historische Vereine, Gesellschaften und Kommissionen durchsetzen.53 Die Gesellschaft wurde allerdings erst in der Zwischenkriegszeit zu einer Fachorganisation akademischer Historiker. Damit hatte sie sich im Vergleich mit den Forschungsorganisationen im benachbarten Ausland eine eigentümliche Funktionsvielfalt bewahrt, gleichzeitig aber auch einen Grad an Fachlichkeit erreicht, die sie als legitime Ansprechpartnerin für akademische Organisationen im Ausland erscheinen ließ. Die Allgemeine Geschichtforschende Gesellschaft der Schweiz wollte im Gegensatz zu den kantonalen, regionalen und konfessionellen Partikulargeschichten explizit die Nationalgeschichte, die „allgemeine Geschichte
53
zerische Geschichte 1/1876, S. XIV–XXII; Verzeichniss der Mitglieder der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz am 1. März 1905, in: Jahrbuch für Schweizerische Geschichte 30/1905, S. XVII–XXIX. – Zur Trägerschaft der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft vergl. auch Kap. 5. Die Gesellschaft warb zu Beginn in sämtlichen Klöstern der Schweiz um Mitglieder. Sitzung der provisorischen Vorsteherschaft, 25.05.1841, Protokoll des Gesellschaftsrats der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz 1841–1887, S. 2, BAR J II.127 -/1:1. Akteure wie der Zisterzienser und Theologieprofessor Urban Winistörfer (1789–1859), der Solothurner Domherr und spätere Bischof von Basel Friedrich Xaver Odo Fiala (1817–1888) und der Einsiedler Benediktiner Gall Morell (1803–1872) waren nicht nur lokal äußerst vielseitig historisch engagiert, sondern gestalteten Forschung auf nationaler Ebene mit. Zu Gall Morel vgl. Anna von Liebenau: Ein edles Freundespaar. Pater Gall Morel, der Sänger v. Maria-Einsiedeln u. M. Paul v. Deschwanden, religiöser Historienmaler, Ein Freundschaftsbild aus dem 19. Jahrhundert, Dem 30. Todestage P. G. M’s gewidmet, Luzern 1902; Benno Kühne: P. Gall Morel, ein Mönchsleben aus dem 19. Jahrhundert. Festgabe zur Sekundizfeier Sr. Gnaden des hochwürdigsten Herrn Heinrich IV., Abtes des Benediktinerstiftes Einsiedeln, am 4. Oktober 1874, Einsiedeln 1874. Vgl. die Dominanz der Geistlichen im Historischen Verein des Kanton Thurgau: Rothenbühler: Geschichtsfreunde unter sich, S. 25. Vgl. auch Kap. 5. Vgl. Meyer von Knonau: Die Thätigkeit, S. XXXIV. 1883 stand die Geschichtforschende Gesellschaft mit 15 schweizerischen und 58 ausländischen Vereinigungen im Tauschverkehr; 1905 mit 26 schweizerischen und 97 ausländischen Vereinigungen. 19. Sitzung des Gesellschaftsrats, 9.04.1883, Protokoll des Gesellschaftsrats der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz 1841–1887, S. 193, BAR J II.127-/1:1. Verzeichniss der Vereine und Gesellschaften, in: Jahrbuch für Schweizerische Geschichte 30/1905, S. XXXI–XXXIV. Unter den Ehrenmitgliedern nahmen Vertreter der Monumenta Germaniae Historica immer eine bedeutende Rolle ein: Verzeichniss der Mitglieder [1845], in: Archiv für Schweizerische Geschichte 4/1846, S. XXVII–XXXVII: XXXVf.; Verzeichniss der Mitglieder der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz am 31. Juli 1876, in: Jahrbuch für Schweizerische Geschichte 1/1876, S. XIV–XXII: XXII; Verzeichniss der Mitglieder der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz am 1. März 1905, S. XVII–XXIX: XXIX.
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1. Geschichte treiben: Agenturen, Kulturen, Akteure
der Schweiz“54 , fördern. Dieser nationalgeschichtlichen Zielsetzung entsprach die organisatorische Vorgabe, Dachgesellschaft der bereits aktiven oder im Entstehen begriffenen historischen Vereine in den Kantonen zu werden. Als nichtstaatliche Organisation war es der neuen Gesellschaft allerdings nicht möglich, sich diese Position auch formal zu sichern; die Leitfunktion blieb eine Absichtserklärung. Diese prekäre Konstruktion war für die weitere Positionierung der Gesellschaft prägend, die – anders als die meisten zeitgenössischen Gründungen von Geschichtsvereinen in Deutschland und Österreich55 – als Organisation von unten nicht über staatliche Sanktions- und Kontrollmöglichkeiten verfügte. Die Gesellschaft setzte sich aus Vereinsmitgliedern zusammen, die sich in der Regel auch in lokalen, kantonalen und regionalen historischen Vereinen engagierten. An divergierenden Themenpräferenzen, Geschichtsinterpretationen und Forschungsprioritäten wurden in der selbsternannten Dachgesellschaft deshalb die auseinanderstrebenden Interessen der einzelnen Sprachregionen, der konfessionellen und politischen Blöcke sichtbar. Als besonders einschneidend erwiesen sich die politisch-konfessionellen Gegensätze sowie die Spannungen zwischen den Sprachregionen: Der politisch-konfessionelle Konflikt zwischen den katholischen Gegnern eines modernen Bundesstaats und der Mehrheit der protestantischen Kantone, der in den Sonderbundskrieg mündete, spiegelte sich in der Frühzeit in turbulenten internen Auseinandersetzungen. Im Umfeld des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 wiederum kamen zwischen den französischsprachigen Gesellschaftsmitgliedern und ihren Deutschweizer Kollegen Divergenzen in der kulturellen und politischen Orientierung an die Oberfläche.56 Die Gesellschaft war von Beginn an von Deutschweizern dominiert, auch wenn die Zweisprachigkeit als Verständigungsprinzip galt und die Gesellschaftspublikationen auf Deutsch und Französisch erschienen.57 Diesem Ungleichgewicht versuchte der Gesellschaftsrat 1895 mit einer Bestimmung entgegenzusteuern, die untersagte, dass sich bei der Präsidentschaft Mitglieder der gleichen Kantonalparteien folgten.58 Trotzdem verwirklichte sich die angestrebte ausgewogene schweizergeschichtliche Gesellschaft nur bedingt: Im Vergleich zu den kantonalen und regionalen Vereinen konnte die Geschichtforschende Gesellschaft im ganzen Untersuchungszeitraum nur sehr begrenzt personelle Ressourcen mobilisieren und verlor in gewissen Regionen, besonders in der Romandie, sogar 54 55 56 57 58
Statuten der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz, § 1, 25.10.1841, in: Archiv für Schweizerische Geschichte 1/1843, S. XVIIf.: XVII. Clemens: Sanctus Amor Patriae, S. 20. Sitzung der Vorsteherschaft, 05.11.1848, Protokoll des Gesellschaftsrats der AGGS 1841– 1887, S. 57f., BAR J II.127 -/1:1. Meyer von Knonau (1891): Die Thätigkeit, S. XXXIII. Die Beteiligung aus dem Tessin, das im Untersuchungszeitraum noch keinen historischen Verein hatte, beschränkte sich in dieser Zeit auf einzelne Personen. Sitzung des Gesellschaftsrats, 15.03.1895, Protokoll des Gesellschaftsrats der AGGS 1895–1923, S. 2, BAR J II.127 -/1:1.
1.2 Geschichtsforschung in der Schweiz
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Mitglieder.59 Vermutlich führten auch die angeführten gesellschaftsinternen Konflikte und Blockaden zu einem Desinteresse potentieller Mitglieder. Offensichtlich vermochte regionale und kantonale Geschichte und ihre Erforschung gerade bei den Laienhistorikern vor Ort weit größere Leidenschaft zu wecken als eine gesamtschweizerische Geschichte. Kantonale und regionale Vereine konkurrierten nicht nur bei der Mitgliedermobilisierung mit der allgemeinen Gesellschaft, sondern auch bei der Quellenedition. Besonders im Bereich der Urkundeneditionen hatte die Allgemeine Geschichtforschende Gesellschaft insgesamt das Nachsehen. Sie gab zwar erfolgreich chronikalische Quellen heraus, betrieb aber nach dem „Schweizerischen Urkundenregister“, das 1877 beendet wurde, die Edition von Urkunden nicht in großem Stil weiter. Stattdessen entstanden in großer Zahl kantonal ausgerichtete Urkundenbücher. Eine weitere Konkurrenz entstand der allgemeinen Gesellschaft im schweizerischen JuristenVerein, der ab 1895 mit der „Sammlung schweizerischer Rechtsquellen“ ein äußerst umfangreiches, noch heute verfolgtes Editionsprojekt initiierte. Die kantonalen Urkundenbücher bildeten zusammen mit den Rechtsquelleneditionen im Bereich der nichtnarrativen Quellen die wichtigste Grundlage der schweizergeschichtlichen mediävistischen Forschung im 20. Jahrhundert. Neben den kantonalen Vereinen bauten auch die regionalen Vereine – die Société d’histoire de la Suisse romande, der Historische Verein der V Orte und die Société jurassienne d’emulation – eine vielseitige Publikations- und Editionstätigkeit auf.60 Wie das Beispiel des Historischen Vereins der V Orte zeigt, der im 19. Jahrhundert die katholische Innerschweiz repräsentierte und sich in Opposition zum liberalen Bundesstaat positionierte61 , vertraten diese Vereine Geschichtsbilder, die nicht in der Gesamtstaatsgeschichte der Schweiz aufgingen. Im Gegensatz zu Österreich etablierte sich in der Schweiz keine zentralstaatliche Ausbildungsinstitution der Quellenforschung. Die Vision einer eidgenössischen Hochschule, die alle wissenschaftlichen Fachbereiche glei59
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61
So konnte die AGGS ihre Mitgliederzahlen von 1841 bis 1905 nur von 208 auf 241 Mitglieder steigern; was vor allem einer Zunahme der Mitgliedschaften in den protestantischen Universitätsstandorten Zürich, Basel und Bern zu verdanken war, während die Mitgliedschaften aus dem peripheren Graubünden und verschiedenen anderen Landkantonen und aus den wichtigen französischsprachigen Kantonen Waadt und Genf insgesamt abnahmen. Vergleichende Uebersicht der Gesammtzahl der Gesellschaftsmitglieder, Jahrbuch für Schweizerische Geschichte 30 (1905), S. XXX. Dagegen steigerte der erfolgreiche regionale Historische Verein der V Orte seinen Mitgliederbestand in der Zeit von 1844 bis 1904 von 73 auf 529 Mitglieder. Weber: Hundert Jahre Historischer Verein, S. 11. Vgl. Largiadèr: Die Sammlung schweizerischer Rechtsquellen; Hundert Jahre Allgemeine geschichtforschende Gesellschaft der Schweiz, S. 81–88; Guilland/Gagliardi: Suisse; Meyer von Knonau: Geschichtswissenschaft, S. 280f. Zimmer: A Contested Nation, S. 226–231. Vgl. zur katholischen Historiographie Metzger: Religion, Geschichte, Nation.
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1. Geschichte treiben: Agenturen, Kulturen, Akteure
chermaßen abgedeckt und damit auch der Geschichtswissenschaft zu einer zentralstaatlich gesteuerten Bühne verholfen hätte, konnte sich nach der Bundesstaatsgründung 1848 sowohl aus politischen als auch aus finanziellen Gründen nicht durchsetzen. Verwirklicht wurde hingegen 1855 das Eidgenössische Polytechnikum, die spätere Eidgenössische Technische Hochschule, in deren Curriculum die geisteswissenschaftlichen Fächer nur in propädeutischer Form angeboten wurden.62 In diesem Kontext fand auch die Geschichte mit zunächst einem Lehrstuhl für Schweizergeschichte ihren Platz. Die spätere Eidgenössische Technische Hochschule verfolgte im Bereich der Geschichte keine fachlichen Ausbildungsziele, die sie aufgrund des damals fehlenden Promotionsrechts auch gar nicht adäquat hätte bescheinigen können. Der Geschichtsunterricht trug vielmehr zu einer bildungsbürgerlichen Allgemeinbildung in staatskundlicher Hinsicht bei und konnte nebenbei auch von den Studenten der zunächst im gleichen Gebäude angesiedelten Universität besucht werden. Das Polytechnikum betrieb mit der Einrichtung einer zweiten, allgemeingeschichtlichen Professur für einen französischsprachigen Dozenten 1885 zwar einen Versuch, die verschiedenen Wissenschaftskulturen der deutschsprachigen und der französischsprachigen Landesgegenden wie auch ihre unterschiedlichen internationalen Ausrichtungen miteinander zu verklammern und damit einen bildungspolitischen Ausgleich zu schaffen.63 Insgesamt zeitigte die auf den Gesamtstaat ausgerichtete Bildungspolitik der Eidgenössischen Technischen Hochschule im Fach Geschichte auf nationaler Ebene für die Entwicklung der Geschichtswissenschaft in der Schweiz aber kaum Wirkung. Die Idee einer bundesstaatlich gesteuerten Ausbildung für Staatshistoriker wurde mit der Gründung des Eidgenössischen Polytechnikums noch nicht zu 62
63
Zur Geschichte der ETH vgl., Gugerli/Kupper/Speich: Die Zukunftsmaschine; Tobias Straumann: Die Gunst der Stunde. Die Gründung des Eidgenössischen Polytechnikums 1854, in: Andreas Ernst/Albert Tanner/Matthias Weishaupt (Hrsg.): Revolution und Innovation. Die konfliktreiche Entstehung des schweizerischen Bundesstaates von 1848, Zürich 1998, S. 147–157; Franz Horvath: Was haben die Hochschulen zur Verfassung der Schweiz beigetragen? Die Universität als Modernisierungsinstrument, in: Schweizerische Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 20/1998, S. 365–374; Daniel Winter: Die eidgenössische Hochschule als nationales Projekt. Der Universitätsartikel der Bundesverfassung und die Gründung der ETH, ebd., S. 375–389; Hans Grob/Jean-François Bergier/Hans Werner Tobler (Hrsg.): Eidgenössische Technische Hochschule Zürich 1955–1980. Festschrift zum 125jährigen Bestehen, Zürich 1980; Gottfried Guggenbühl: Geschichte der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, Zürich 1955; Karl Schmid: Die Ausbildungsziele der Eidgenössischen Technischen Hochschule. Ein Vorwort, in: Eidgenössische Technische Hochschule 1855–1955. Ecole Polytechnique Fédérale, Zürich 1955, S. 261–271: 268; Schmid: Die Ausbildungsziele der Eidgenössischen Technischen Hochschule, S. 268; Wilhelm Oechsli: Die Gründung des eidgenössischen Polytechnikums, mit einer Übersicht seiner Entwicklung 1855–1905, Frauenfeld, 1905, S. 122. Kommissionssitzung zur Behandlung der Frage betreffend bessere Berücksichtigung der französischen Sprache, 24.03.1885, Präsidialprotokolle 1885, § 71, WHS ETH, Schulratsarchiv.
1.2 Geschichtsforschung in der Schweiz
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den Akten gelegt. Die kantonale Universität Zürich war von den Liberalen 1833 in der Hoffnung gegründet worden, dass das interkantonal umstrittene liberale Projekt einer eidgenössischen Universität schließlich in Zürich verwirklicht würde. Obwohl dieses Ziel nach der Gründung des Polytechnikums nicht mehr konkret fassbar war, blieben in Zürich auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschiedene Projekte von ähnlicher Reichweite in Diskussion.64 Besonders die Demokratische Bewegung, die in Zürich seit den späten 1860er Jahren die politische Agenda bestimmte, maß der Geschichte als zentralem nationalem Bildungsinhalt eine besondere Bedeutung zu. Der einflussreiche demokratische Bildungspolitiker Johann Kaspar Sieber trug sich um 1870 mit dem Gedanken der Gründung eines eidgenössischen historischen Instituts und wurde dabei von lokalen Hochschulhistorikern beraten.65 Als in den 1880er Jahren Nationalökonomen anregten, eine eidgenössische Hochschule für Staatswissenschaften zu gründen, die an die Politischen Institute der Sattelzeit angeknüpft hätte, spielte der Geschichtsunterricht mit Blick auf die staatsbürgerliche Bildung ebenfalls eine gewisse Rolle.66 Allerdings gelang es keinem dieser Projekte, ins Zentrum bildungspolitischer Anliegen der Bundespolitik zu rücken. Zusammenfassend lassen sich für den schweizerischen Kontext zwei Charakteristika der Organisation historischer Forschung außerhalb der Hochschulen ausmachen. Erstens verfügte die Schweiz im 19. Jahrhundert über keine eine zentrale akademische Forschungsorganisation, die Quellenerfassungsunternehmungen hätte durchführen können. Stattdessen entwickelte sich die Allgemeine Geschichtforschende Gesellschaft der Schweiz als ursprünglich vor allem Amateure ansprechende Gesellschaft zu einer nationalen Forschungsagentur, die sich in der Leitung von Publikations- und Editionsunternehmen spätestens ab den 1870er Jahren zunehmend verfachlichte, von ihrer Mitgliederstruktur her aber für bildungsbürgerliche „Geschichtsfreunde“ noch offen blieb. Durch diese spezifische Organisationsform historischer Forschung wurde der Gegensatz zwischen professioneller Forschung und 64 65
66
Ernst Gagliardi: Die Universität Zürich 1833–1933, Zürich 1933, S. 200f., 473. Max Büdinger an Johann Kaspar Sieber, 09.10.1869, StAZH U 109g.1:3. Zur Bildungspolitik der Zürcher Demokraten vgl. Michael Köhler: Johann Caspar Sieber. Ein Leben für die Volksrechte (1821–1878), Zürich 2003; Thomas Koller: Volksbildung, Demokratie und soziale Frage. Die Zürcher Demokratische Bewegung und ihre Bildungspolitik in den Jahren 1862 bis 1872. Idee, Programm und Realisierungsversuch, Zürich 1988. Vgl. auch Kap. 2.1–2.3 und 2.6. Julius Wolf : Eine Eidgenössische Hochschule für Staatswissenschaft. Gutachten erstattet im Auftrag des Eidgenössischen Departements des Innern, o. O., 1889, , S. 39, 41, 48. Johann Jakob Bodmer (1698–1783), wichtiger Exponent der Zürcher Aufklärung, verfolgte bereits um die Mitte des 18. Jahrhunderts die Idee einer politischen Schule mit eidgenössischer Wirkung. Hans Nabholz: Zürichs Höhere Schulen von der Reformation bis zur Gründung der Universität 1525–1833, in: Erziehungsdirektion des Kantons Zürich (Hrsg.): Die Universität Zürich und ihre Vorläufer. Festschrift zur Jahrhundertfeier, Zürich 1938, S. 1–164: 79.
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1. Geschichte treiben: Agenturen, Kulturen, Akteure
den Bemühungen von Laien nicht so stark akzentuiert wie in andern nationalen Kontexten. Trotzdem verstanden ihre akademisch ausgebildeten Leiter die Gesellschaft als wichtige Instanz, um die Verwissenschaftlichung der Geschichtsforschung in der Schweiz voranzutreiben. Die Allgemeine Geschichtforschende Gesellschaft erfüllte diese Funktion durch die wissenschaftlichen Standards ihrer Periodika und Editionsprojekte und durch die institutionalisierten Kontakte mit ausländischen Forschungsinstitutionen. Die Entwicklung zur reinen Fachorganisation und zum Berufsverband hingegen erfolgte erst im 20. Jahrhundert. Zweitens brachten die historischen Vereine der einzelnen Kantone ein großes Potential an von Ressourcen und Mitgliedern mit, das sie zu äußerst wichtigen Akteuren der Quellenerfassung werden ließ. Die Vereine in den Kantonen stellten bürgerliche Gründungen dar, die von einer breiten geschichtskulturellen Basis profitieren konnten. Damit entstand eine geographisch stark differenzierte, kleinräumige Geschichtsforschung, die die partikularen Geschichtsbilder der Kantone und Regionen erfolgreich in Editionsprojekte umsetzte. Deshalb hatte die allgemeine Gesellschaft mit ihrem gesamtstaatlichen Ansatz einen schweren Stand gegenüber den Teilvereinen: Diese banden so viele Ressourcen, dass die gesamtstaatliche Gesellschaft nicht auf eine breite Basis zählen konnte, sondern immer mehr auf die Tätigkeit der professionellen Historiker in Leitungsfunktionen angewiesen war. Obwohl sich die Allgemeine Geschichtforschende Gesellschaft der Schweiz formal um einen permanenten Interessenausgleich bemühte, war ihre paritätisch-gesamtstaatliche Ausrichtung von Konflikten begleitet, die sich nicht nur aus den divergierenden Interessen der unterschiedlichen Akteure ergaben, sondern auch mit der Heterogenität der historischen Herrschaftsräume zusammenhingen, die hier unter dem einigenden Konzept einer „Nationalgeschichte“ erforscht werden sollten.
1.3 Geschichte im Wandel des Hochschulunterrichts Der Ausbau von historischen Forschungsinstitutionen verlief parallel zu einer Verfestigung der Geschichte als Wissenschaft an den Hochschulen. Der Wandel vom propädeutischen, staatsbürgerlich bildenden Fach in der Frühneuzeit zu einer klar konturierten Disziplin im geisteswissenschaftlichen Feld wirkte sich auf den Status historischen Arbeitens insgesamt aus. Durch die Etablierung eines disziplinären Kommunikationszusammenhangs unter Forschern, in dem eine disziplinspezifische Sicht auf die Welt entwickelt wurde, entstanden neue Standards von Wissenschaftlichkeit sowie spezifische Sozialisationsprozesse und Karrieren, die die historische Praxis auf eine
1.3 Geschichte im Wandel des Hochschulunterrichts
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neuartige Weise stabilisierten. Gleichzeitig wurde die Herausbildung disziplinärer Grenzen durch vielfältige Rekonfigurationen von Wissensfeldern begleitet. Dadurch veränderten sich auch die Handlungsfelder von Akteuren, die Geschichte trieben. Akademisch ausgebildete, zunehmend professionalisierte Historiker nahmen berufliche Einflussbereiche, Handlungs- und Deutungshoheiten im Feld der Geschichte für sich in Anspruch, die zu einer Neuverteilung von Macht und ökonomischen Ressourcen führten. Dieser Prozess erfuhr je nach konkretem sozialem und politischem Kontext unterschiedliche lokale Ausprägungen. Insbesondere professionelle Handlungsfelder von Historikern wurden national reguliert.67 Der Hochschulunterricht in Österreich war von der Frühen Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert hinein an feste Lehrprogramme gebunden. Geschichte wurde nach zuvor bewilligten Lehrbüchern im Rahmen der philosophischen Grundausbildung als propädeutisches Fach vorgetragen. Die Professoren sollten nicht forschungsorientiertes Wissen für Historiker, sondern enzyklopädische Kenntnisse für angehende Berufsleute, namentlich für Staatsbeamte, vermitteln.68 Dies gilt auch für die hier näher betrachtete Universität Wien, wo das Fach Geschichte im 16. und 17. Jahrhundert teilweise von den Professoren der Poesie und der Rhetorik gelesen wurde und erst 1728 dauerhaft einen eigenständigen Lehrstuhl bekam. Nach einer von den Jesuiten geleiteten Studienreform von 1753 wurde Geschichte zusätzlich zu einem speziell auf Juristen zielenden obligatorischen juristischen Vorbereitungsfach. Zu diesem Zeitpunkt wertete man auch den hilfswissenschaftlichen Lehrbereich vorübergehend durch einen eigenen Lehrstuhl für Diplomatik auf, der allerdings 1804 wieder aufgehoben wurde. Staatsbeamte beaufsichtigten die Dozenten und Lehrinhalte und stellten dadurch die Funktion des Geschichtsunterrichts als fachliche Vorbildung der späteren Beamten und Juristen sicher. Der Stellenwert des Faches als Obligatorium für angehende Beamte wurde über verschiedene geringfügige Reformen hinweg bis 1824 in etwa aufrechterhalten, als Geschichte im propädeutischen Studium zu einem für die meisten Studierenden nur noch empfohlenen Wahlfach heruntergestuft wurde.69 1848 gab es an der Universität Wien wie an den andern Universitäten 67
68 69
Zu Disziplinbildungsprozessen s. Timothy Lenoir: Instituting Science. The Cultural Production of Scientific Disciplines, Stanford 1997, S. 45–51; Rudolf Stichweh: Wissenschaft, Universität, Disziplinen. Soziologische Analysen, Frankfurt a. M. 1994, S. 17; Abbott: Chaos of Disciplines, S. 130f. Allg. zu lokalen Ausprägungen wissenschaftlicher Trends vgl. Klaus Amann: Wissensproduktion im sozialen Kontext, in: Wolfgang Bonss/Rainer Hohlfeld/ Regine Kollek (Hrsg.): Wissenschaft als Kontext – Kontexte der Wissenschaft, Hamburg 1992, S. 27–40: 32–34. Vgl. Härtel: Geschichte des Mittelalters und Historische Hilfswissenschaften, S. 127. Zum Professionalisierungsprozess vgl. 1.5. Tropper: Urkundenlehre, S. 62–72; Lhotsky: Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung in Österreich, S. 384, 400; Anna Matiasek: Die Entwicklung des Geschichtsunterrichtes an der Wiener Universität vom Zeitalter des Humanismus bis 1848, Diss. 12329, Univ. Wien 1934, bes. S. 5–7, 11, 15f., 32–34.
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1. Geschichte treiben: Agenturen, Kulturen, Akteure
der Monarchie einen einzigen Lehrstuhl für Geschichte, dessen Inhaber Universalgeschichte, österreichische Staatengeschichte und teilweise auch Diplomatik vortrug. Allerdings konstituierte dieser Lehrstuhl kaum eine disziplinäre Einheit, denn die Professoren lehrten dieses Fach oft nur vorübergehend, bevor sie auf andere, höher bewertete Fächer umsattelten. Fragestellungen und Forschungsprobleme waren aufgrund der vorgegebenen Lehrinhalte nur sehr begrenzt zu vermitteln. Als der Universität 1756 ihre Buchbestände weggenommen und diese in die Hofbibliothek integriert worden waren, waren der Universität wissenschaftliche Forschungsambitionen als Aufgabenbereich sogar explizit abgesprochen worden. Am ehesten thematisierten die Dozenten historische Forschungsaspekte wohl in den hilfswissenschaftlichen Vorlesungen, die allerdings in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht kontinuierlich angeboten wurden.70 Einen institutionellen Rahmen, der den Ausbau des Fachs zur wissenschaftlichen Disziplin ermöglichte, erhielt die Geschichte an der Universität Wien wie auch an den übrigen Universitäten Österreichs erst mit der Hochschulreform von 1849. Die Reformen der Tertiärbildung wurden von einer Reihe von Bildungspolitikern und Ministerialbeamten getragen. Sie waren bereits seit den 1830er Jahren diskutiert worden und wurden durch die revolutionären Vorgänge von 1848 beschleunigt. Diese zwangen die Behörden zu einer offensiven Bildungspolitik, die sich gegenüber dem deutschen Universitätsmodell öffnete. Mit der Reform, die den umfassenden Einfluss der Kirche auf die Tertiärbildung beendete, hielt neben der Verkündigung der Lehr- und Lernfreiheit nun die Einheit von Forschung und Lehre zumindest als Leitvorstellung an der Universität Einzug.71 Indem die vorbildenden Aufgaben des Faches an die Gymnasiallehrgänge 70
71
Wie viele seiner Vorgänger wechselte an der Universität Wien zum Beispiel Joseph Watteroth das Fach, indem er von einem Lehramt für Statistik an der theresianischen Ritterakademie 1787 auf den Lehrstuhl für Universalgeschichte der Universität Wien und von dort aus drei Jahre später auf einen Lehrstuhl für Statistik und politische Wissenschaften wechselte. Matiasek: Die Entwicklung des Geschichtsunterrichtes, S. 17. Noch Johann Nepomuk Kaiser (1792–1865), der den Lehrstuhl für Geschichte an der Universität Wien von 1842–1861 besetzte, hatte nach dem philosophisch-philologischen Grundstudium Rechtswissenschaften, nicht Geschichte studiert. ÖBL Bd. 3, III, „ Kaiser, Johann Nepomuk“, S. 182. Zur mangelnden Forschungsorientierung vgl. Lhotsky: Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung in Österreich, S. 390. Die Reformen von 1849 unter Unterrichtsminister Leopold Graf von Thun wurden maßgeblich von dem Philosophieprofessor und Bildungspolitiker Franz Exner und dem Arzt und Hochschulpolitiker Ernst Freiherr von Feuchtersleben konzeptualisiert. Engelbrecht: Geschichte des österreichischen Bildungswesens, Bd. 4, S. 222–225, 229; Alphons Lhotsky: Das Ende des Josephinismus. Epilegomena zu Hans Lentzes Werk über die Reformen des Ministers Grafen Thun, in: ders.: Aufsätze und Vorträge. Historiographie, Quellenkunde, Wissenschaftsgeschichte, München 1972, S. 258–290: 271; Hans Lentze: Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein, Wien 1964.Vgl. zu Bemühungen im Vormärz, neue Lehrkompendien zu schaffen: Lhotsky: Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung in Österreich, S. 384f.
1.3 Geschichte im Wandel des Hochschulunterrichts
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delegiert und die philosophische Fakultät zu einem vollwertigen Studienbereich aufgewertet wurde, erschöpfte sich die Ausrichtung der Geschichte nun erstmals nicht mehr nur in Vorbildungszwecken für die „höheren“ Fakultäten Theologie und Recht. Trotz der Einführung des Habilitationsverfahrens und der Autonomisierung der Universität, die neue wissenschaftliche Handlungsspielräume eröffnete, blieb auch in der philosophischen Fakultät die Berufsausbildung allerdings ein wesentlicher Aufgabenbereich. 1872 schlug sich die zunehmende Differenzierung der philosophisch-philologischen Fächer in der neuen Rigorosenordnung nieder, die für die philosophische Fakultät nun ein fachlich spezialisiertes Doktorat mit schriftlicher Arbeit vorsah.72 Die Hochschullehre im Fach Geschichte erfüllte zu diesem Zeitpunkt verschiedene Funktionen: Sie bildete die Grundlage der wissenschaftlichen Berufsausbildung der Gymnasiallehrer, sorgte für die wissenschaftliche Weiterentwicklung der Disziplin und die Ausbildung des akademischen Nachwuchses und nahm allgemeinbildende Aufgaben für Studierende anderer Fächer sowie für externe Hörer und Hörerinnen wahr. Das Ministerium für Cultus und Unterricht, dem die Universität unterstand, steuerte die geschichtswissenschaftliche Forschung und Lehre über die Personalpolitik, Ressourcenallokation und die Regulierung von Zulassungs- und Prüfungsbestimmungen. Dagegen blieben die Universitäten in der Schweiz dauerhaft unter kantonaler Hoheit und erhielten im 19. Jahrhundert kaum Bundesgelder. Eine kantonsübergreifende Bildungspolitik erfolgte nicht als Steuerung durch zentrale Behörden, sondern vornehmlich als interkantonale Koordination.73 Diese dezentrale Bildungslandschaft wirkte sich auch auf die Ausgestaltung des akademischen Faches Geschichte aus, für das keine zentralstaatlichen Regelungen geschaffen wurden. Aber auch für die Schweiz gilt, dass der akademische Geschichtsunterricht im Untersuchungszeitraum ausgebaut und an den – mit Ausnahme der Universität Basel erst im 19. Jahrhundert aus den theologischen Lehranstalten entstandenen – Universitäten in einer stärkeren Verbindung von Lehre und Forschung vermittelt wurde. 72
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Engelbrecht: Geschichte des österreichischen Bildungswesens, Bd. 4, S. 228; Richard Meister: Geschichte des Doktorates der Philosophie an der Universität Wien, Wien 1958, S. 49. Allgemein zur Autonomisierung der philosophischen Fakultät S. Engelbrecht: Geschichte des österreichischen Bildungswesens, Bd. 4, S. 222–224; Stichweh: Wissenschaft, Universität, Disziplinen, S. 282. Der Aufgabenbereich der Berufsbildung wurde in der späteren Historiographie wegen der wirkungsmächtigen späteren Konstruktion der „Humboldtschen Universität“ oft unterschätzt. Silvia Paletschek: Die Erfindung der Humboldtschen Universität. Die Konstruktion der deutschen Universitätsidee in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: HA 10/2002, S. 183–205:, S. 184. Zum bildungspolitischen Kontext S. Hans-Ulrich Grunder: Vom Wunsch nach Koordination zur Gründung der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) 1897, in: Hans Badertscher (Hrsg.): Die Schweizerische Konferenz der Kantonalen Erziehungsdirektoren 1897 bis 1997. Entstehung, Geschichte, Wirkung, Bern 1997, S. 13–29.
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1. Geschichte treiben: Agenturen, Kulturen, Akteure
Im Ancien Régime wies die Schweiz mit Basel eine einzige Universität mit Promotionsrecht und Fakultäten auf. Die Städte auf dem Gebiet der heutigen Schweiz unterhielten mit Universitäten verwandte theologische Hohe Schulen und Akademien. Im Gegensatz zu Österreich schickten die städtischen Eliten ihre Söhne allerdings (wie auch später im 19. Jahrhundert noch) oft zum Studium ins Ausland.74 Geschichte wurde als Teil der propädeutischen Ausbildung an den seit dem 16. Jahrhundert entstandenen „SemiUniversitäten“75 , den reformierten Hohen Schulen und Akademien in den protestantischen Städten, zum einen als Kirchengeschichte, zum andern als allgemeine und vaterländische Geschichte unterrichtet. Zwar bauten manche dieser calvinistischen und zwinglianischen Hohen Schulen die philosophischen Fächer im Lauf der Frühneuzeit aus und richteten zusätzlich eine juristische Professur ein. Geschichte konnte sich als Lehrfach jedoch kaum verselbständigen und bekam nur im Ausnahmefall vorübergehend einen eigenen Lehrstuhl zugesprochen. Als ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts neue Spezialschulen für angehende Magistraten, Gewerbetreibende und Mediziner entstanden, wurden in den „Politischen Instituten“, die die staatsmännische Ausbildung der lokalen städtischen Eliten gewährleisten wollten, historische Fächer in staatsbürgerlicher Ausrichtung unterrichtet. An der Universität Basel wurde Geschichte vor allem als propädeutisches Fach im Rahmen der philosophischen Grundstudien gelehrt. Daneben institutionalisierte sie sich aber auch im Rahmen der juristischen Fakultät. In den katholischen Gebieten bildeten die Seminare und Kollegien für die Priesterausbildung die einzigen höheren Schulen; auch in ihnen hatte Geschichte einen sehr beschränkten Stellenwert.76 In der von Huldrych Zwingli gegründeten theologischen Lehranstalt in Zürich, der Vorläuferinstitution der Universität Zürich, erhielt die vaterländische 74 75 76
Stadler: Die historische Forschung in der Schweiz, S. 299. Walter Rüegg (Hrsg.): Geschichte der Universität in Europa. Band II, Von der Reformation zur Französischen Revolution (1500–1800), München 1996, S. 129. Ulrich Im Hof : Hohe Schule – Akademie – Universität: 1528 – 1805 – 1834 – 1984, in: ders./Marcel H. Bickel/Pio Caroni et al. (Hrsg.): Hochschulgeschichte Berns 1528–1984. Zur 150-Jahr-Feier der Universität Bern 1984, Red. Piero Scandola, Bern 1984, S. 23–127: 38. Neben den Politischen Instituten in Bern und Zürich wurden in der Aufklärung und während der Restauration auch Medizinschulen, sogenannte «Kunstschulen» (höhere Ausbildungsinstitutionen für Gewerbetreibende, Handwerker, Künstler und Kaufleute) und Technische Schulen gegründet. Ebd., S. 44. Nabholz: Zürichs Höhere Schulen, S. 88f. Das Politische Institut in Bern wurde 1787–1799 betrieben. 1806 wurde in Zürich das Medizinisch-chirurgische Institut, 1807 das Politische Institut, 1826 ein „Technisches Institut“ gegründet. Gagliardi: Die Universität Zürich 1833–1933, S. 177. Zu Basel vgl. Edgar Bonjour: Die Universität Basel von den Anfängen bis zur Gegenwart 1460– 1960, Basel 1971, S. 287–291, 356f. Am Jesuitenkollegium in Luzern beispielsweise wurde vornehmlich Kirchengeschichte unterrichtet. Markus Ries: Das Luzerner Jesuitenkollegium, in: Aram Mattioli/ders. (Hrsg.): „Eine höhere Bildung thut in unserem Vaterlande Noth“. Steinige Wege vom Jesuitenkollegium zur Hochschule Luzern, Zürich 2000, S. 9– 28, S. 22f. u. 26–28.
1.3 Geschichte im Wandel des Hochschulunterrichts
73
Geschichte als Unterrichtsfach 1715 dank dem Legat eines historisch interessierten Landvogts einen eigenen Lehrstuhl. Das Fach blieb allerdings von untergeordneter Bedeutung und zielte vor allem auf die so genannten „politici“, angehende Magistraten und Administratoren, ab, die die Hohen Schulen inzwischen vermehrt besuchten. Diese neben den angehenden Theologen kleine Zielgruppe wurde auch nach den Reformen der nun „Carolinum“ genannten Hohen Schule im Jahr 1775 ins Auge gefasst, als das Fach „Politik und vaterländische Geschichte“ nun als einziges Fach in deutscher Sprache unterrichtet wurde. Nach der Helvetik, die den Einfluss der Kirche auf die höhere Bildung einschränkte, ging der Geschichtsunterricht vom Carolinum vollständig an das Politische Institut über, wo allgemeine und schweizerische Geschichte gelehrt wurde.77 Im Rahmen des auf pragmatische Ziele ausgerichteten Wissenszusammenhangs der frühneuzeitlichen Hohen Schulen wurde die Verfassungsgeschichte der Schweiz vor anderen historischen Feldern bevorzugt. Das Fach konstituierte kaum eine disziplinäre Einheit, denn die Professoren kumulierten oft mehrere Fächer, die sie während ihrer Laufbahn mehrmals wechselten. Mit dem frühliberale Postulate einlösenden Politischen Institut wurde die Funktion der Geschichte für die staatsbürgerliche Ausbildung angehender Juristen und Verwaltungsangestellter weiter akzentuiert. Trotz programmatischer Forderungen der Reformer von 1775 nach einem das kritische Verständnis und die Forschung fördernden Geschichtsunterricht wurden in der Regel Ereignischronologien aus Lehrbüchern vorgetragen.78 Mit der Gründung der Universität Zürich im Jahr 1833 wurde die Dominanz des theologischen Unterrichts gebrochen. Mit der Einführung einer gleichberechtigten philosophischen Fakultät und der Verleihung des Promotions- und Habilitationsrechts wurden die Grundlagen für den allmählichen Aufbau eines disziplinären Gefüges nach explizit deutschem Vorbild geschaffen. Möglich wurde diese grundlegende Reform durch die liberale Revolution im Jahr 1830, die im Kanton Zürich die Radikalliberalen an die Macht brachte. Die Herrschaft der Liberalen ermöglichte den Umbau des kantonalen Unterrichtswesens, der die Eliten unter der Landbevölkerung in größerem Ausmaß als bisher an den Bildungsinstitutionen partizipieren ließ. Gegenüber den andern deutschsprachigen Hochschulen war die Zürcher Universität einer großen demokratischen Kontrolle unterworfen; ein Umstand, der die wissenschaftliche Praxis der untersuchten Dozenten mitprägen sollte. Diese demokratische Kontrolle wurde Ende der 1860er Jahre 77
78
Monika Landert-Scheuber: Das Politische Institut in Zürich 1807–1833. Eine Vorstufe der Rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich, Zürich 1992, S. 101–104; Nabholz: Zürichs Höhere Schulen, bes. S. 3–50, 71, 75–77, 92, 99f., 112–115, 135. Landert-Scheuber: Das Politische Institut, S. 153; Nabholz: Zürichs Höhere Schulen, bes. S. 93, 99, 120.
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1. Geschichte treiben: Agenturen, Kulturen, Akteure
nochmals ausgebaut, als die demokratische Bewegung an die Macht kam und die Volksrechte erweitert wurden. Zum einen vergrößerte sich nun das Mitspracherecht der aktiven Stimmbürger in Bildungsfragen. Zum andern trat die demokratische Bewegung mit weitreichenden bildungsreformerischen Anliegen an, die Anfang der 1870er Jahre auch im Fach Geschichte teilweise umgesetzt wurden.79
1.4 Disziplinäre Differenzierungsmuster Als wichtiges Fach in der Reihe derjenigen Disziplinen, die an den philosophischen Fakultäten gelehrt wurden, erreichte die Geschichte in beiden institutionellen Kontexten seit der Reform beziehungsweise Gründung der Universitäten schnell eine wahrnehmbare disziplinäre Identität.80 Ihre Position in der Ökologie der sich wandelnden Disziplinen81 , die sich gegenseitig ihre Autonomie streitig machten, wie auch ihre interne Differenzierung gibt Hinweise darauf, wie die Geschichtswissenschaft an den Hochschulen das Feld historischen Wissens durch die Etablierung von Subdisziplinen neu strukturierte und selektive fachliche Aufmerksamkeiten schuf. An der umgegründeten Universität Wien, der wichtigsten und größten Universität Österreichs, wurde der historische Fachbereich, der zu diesem Zeitpunkt einen einzigen Lehrstuhl für allgemeine Geschichte, österreichische Geschichte und historische Hilfswissenschaften aufwies82 , ab 1849 um ein Vielfaches erweitert. Dabei wurden allerdings nicht völlig neue Wege ein79
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Vgl. Niklaus Flüeler/Marianne Flüeler-Grauwiler (Hrsg.): Geschichte des Kantons Zürich. Band 3, 19. und 20. Jahrhundert, Zürich 1994, S. 128–137; 143–149; Gagliardi: Die Universität Zürich 1833–1933, S. 188; Arnold Lang: Über die Stellung und Aufgaben der Universität in unserm demokratischen Staate, Referat [1896], S. 4f. Zur demokratischen Fachpolitik vgl. Kap. 1.4,.2.1–2.3, 2.6. Dies gilt für den gesamten deutschsprachigen Raum: Auch in den deutschen Ländern gewann die Geschichte zusammen mit Philologie, Chemie und Physik als eines der ersten Fachgebiete der philosophischen Fakultäten feste Konturen, was bereits an der frühen Rubrizierung in den Vorlesungsverzeichnissen sichtbar ist. Christoph König/Eberhard Lämmert: Einleitung, in: dies. (Hrsg.): Konkurrenten in der Fakultät. Kultur, Wissen und Universität um 1900, Frankfurt a. M., 1999, S. 7–13; Stichweh: Wissenschaft, Universität, Professionen, S. 17f. In Anlehnung an Charles Rosenbergs Begriff der „Ökologie des Wissens“, der das Gefüge von Disziplinen und Professionen in ihrem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang bezeichnet. Charles Rosenberg: Toward an Ecology of Knowledge. On Discipline, Context and History, in: Alexandra Oleson/John Voss (Hrsg.): The Organization of Knowledge in Modern America. 1860–1920, Baltimore/London 1979, S. 440–455: 452; ähnlich Abbott: Chaos of Disciplines, S. 137. Diesen Lehrstuhl hatte vor 1849 Johann Nepomuk Kaiser inne, der bis 1861 im Amt blieb. ÖBL Bd. 3, „Kaiser, Johann Nepomuk“, S. 182; Lhotsky: Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung in Österreich, S. 400.
1.4 Disziplinäre Differenzierungsmuster
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geschlagen, sondern es wurde auf die Unterscheidung zwischen allgemeiner und österreichischer Geschichte als Prinzip der Differenzierung zurückgegriffen, das bereits in den frühneuzeitlichen Studienordnungen angelegt war und von staatlichen Bildungsfunktionären propagiert wurde. So wurde der Fachbereich durch die Einrichtung eines neuen Lehrstuhls für die Geschichte Österreichs erweitert. Damit entstand in der Lehre ein zweigeleisiger Spezialisierungspfad, der sich später auch im Seminarbetrieb widerspiegelte. Auf der Ebene der Ordinariate, die der akademischen Hierarchie entsprechend über die umfassendsten Lehrbefugnisse verfügten, wurde dieser Pfad durch die epochenspezifische Ausdifferenzierung der allgemeinen Geschichte weiterverfolgt. Aufgrund der außerordentlichen Wachstumsdynamik der Universität Wien spezialisierten sich die Lehrstuhlinhaber ab 1872 immer stärker auf einzelne Epochen. So verlegte sich der 1872 berufene Ordinarius für allgemeine Geschichte Max Büdinger vor allem auf alte Geschichte, der gleichzeitig berufene Heinrich von Zeissberg lehrte nur noch mittlere und neuere Geschichte83 , und auch der für das Gesamtgebiet der Geschichte und der historischen Hilfswissenschaften 1867 zum Ordinarius beförderte Theodor Sickel lehrte ausschließlich vergleichsweise enge Gebiete der Mittelaltergeschichte. Auf der Ebene der enger umschriebenen Lehrberechtigungen der Privatdozenten wurde das Grundmuster im Laufe der Untersuchungszeit in verschiedene Richtungen differenziert, wobei hier besonders die Geschichte der Neuzeit größere Aufmerksamkeit bekam. Als besonders erfolgreich erwiesen sich dabei die Bemühungen Hans Übersbergers, osteuropäische Geschichte institutionell zu verankern: Schon 1907 wurde dank der Finanzhilfe eines adligen Mäzens das Seminar für osteuropäische Geschichte gegründet. Auch verschiedene Spielarten der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte hielten nun Einzug.84 Nicht zuletzt dank der großen Reichweite des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, das zahlreiche hilfswissenschaftlich versierte Mittelalterhistoriker hervorbrachte, lässt sich für den Untersuchungszeitraum insgesamt ein großes Gewicht auf der Geschichte des Mittelalters – in vielen Fällen verbunden mit den historischen Hilfswissenschaften – feststellen. Das 83 84
Lhotsky: Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung in Österreich, S. 401f. Herbert Knittler: Die Wiener Wirtschaftsgeschichte – Eine Auseinandersetzung mit Alfons Dopsch und seinem Seminar, in: Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich NF 63–64/1998, S. 325–364; Walter Höflechner: Metamorphosen und Konsequenzen. Zur Auflösung der Allgemeinen Geschichte an den Universitäten Wien, Prag und Graz, in: Reinhard Härtel (Hrsg.): Geschichte und ihre Quellen, Graz 1987, S. 289–298: 290, bes. Fn 13; Fellner: Ludo Moritz Hartmann; Arnold Suppan (Hrsg.): Osteuropäische Geschichte in Wien. 100 Jahre Forschung und Lehre an der Universität, Innsbruck 2007; Walter Leitsch/Manfred Stoy: Das Seminar für osteuropäische Geschichte der Universität Wien 1907–1948, Wien/Köln/Graz 1983; Hassinger: Die Wirtschaftsgeschichte an Osterreichs Hochschulen; Lhotsky: Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung in Österreich, S. 401f.
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1. Geschichte treiben: Agenturen, Kulturen, Akteure
Institut für Österreichische Geschichtsforschung nahm eine Zwitterstellung zwischen außeruniversitärem Forschungsinstitut und akademischer Lehrinstitution ein, denn es gehörte nicht zur Körperschaft der Universität, sondern war direkt dem Ministerium für Cultus und Unterricht unterstellt. Trotzdem bildete es nicht nur räumlich, sondern auch organisatorisch einen Bestandteil des Universitätsbetriebes; viele seiner Veranstaltungen waren auch für Nichtmitglieder des Institutes geöffnet, und die Professoren, die am Institut für Österreichische Geschichtsforschung unterrichteten, gehörten gleichzeitig auch dem Lehrkörper der Universität an.85 Die Geschichte der Neuzeit dagegen war weniger umfassend vertreten. Obwohl nominell ebenfalls für Allgemeine Geschichte angestellt, unterrichtete August Fournier als erster ab 1903 ausschließlich Geschichte der Neuzeit. Eine formale Abtrennung der Geschichte der Neuzeit erfolgte allerdings erst 1913.86 Demgegenüber erhielt die Alte Geschichte in den 1870er Jahren im Rahmen des altertumswissenschaftlichen Fachkonzepts, das sich ausgehend von der Philologie auch auf die Geschichte und die Archäologie erstreckte, ein viel größeres, eigenständiges Gewicht. 1876 wurde zugleich mit dem Seminar für Epigraphik ein Ordinariat für alte Geschichte und Altertumskunde errichtet, das später noch weiter in Lehrstühle für griechische und römische Geschichte aufgeteilt wurde. Die in Wien in einmaliger Weise in einem Seminar und späteren Institut vereinten, äußerst renommierten Altertumswissenschaften standen damit in einer gewissen Konkurrenz zur Facheinheit der Geschichtswissenschaft. Zudem bekam auch das Studium des nichtklassischen Altertums mit der Gründung des Instituts für Orientalistik 1886 einen eigenen institutionellen Ort.87 Die Ausgestaltung von Lehrstühlen war das Resultat bildungs- und geschichtspolitischer Aushandlungsprozesse. Sie bot wiederholt Anlass für Richtungskämpfe innerhalb der akademischen Geschichtswissenschaft, aber auch für politische Auseinandersetzungen. Dies belegen die patriotischen Vorgaben staatlicher Bildungsbeamter und die Aktivitäten gesellschaftlicher Interessengruppen, die an der Universität einen in ihrem Sinn weltanschaulich sinnstiftenden Geschichtsunterricht vertreten sehen wollten. Mit der 85
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Das Institut war ab 1855 zunächst in einem mit der Universitätsbibliothek verbundenen Stöckelgebäude hinter dem damaligen Universitätsgebäude untergebracht; ab 1884 belegte es einen ganzen Flügel des neuen Universitätsgebäudes am Ring. Lhotsky: Geschichte des Instituts, S. 33f., 163f. Damals erhielt Alfred Francis Pribram ein Ordinariat und Viktor Bibl das Extraordinariat für Geschichte der Neuzeit. Lhotsky: Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung in Österreich, S. 401f. Vgl. Hermann Hunger: Orientalistik, in: Acham (Hrsg.): Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften, Bd. 4, S. 467–480; Ingomar Weiler: Alte Geschichte, klassische Archäologie und Altertumskunde, in: ebd., S. 83–126; bes. S. 89; Martina Pesditschek: Zur Geschichte des Instituts für Alte Geschichte, Altertumskunde und Epigraphik der Universität Wien, in: Die Sprache: Chronicalia Indoeuropaea 39/1997, S. 1–24.
1.4 Disziplinäre Differenzierungsmuster
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Einführung des Pflichtfachs „Österreichische Reichs- und Rechtsgeschichte“ für Juristen und Historiker wurde 1893 die alte Verbindung zur Rechtswissenschaft, die bereits für den frühneuzeitlichen Geschichtsunterricht an den Universitäten prägend gewesen war, aktualisiert. Das Fach Geschichte sollte einer „Verordnung von Staatsbewusstsein“88 dienen, deren Zielgruppe vor allem angehende Staatsbeamte waren. Klerikale Kreise betrieben seit Theodor Sickels Rücktritt 1891 überdies die Berufung eines katholisch-konservativen Wissenschaftlers und erreichten mit der Berufung von Josef Hirn zum Nachfolger Alfons Hubers 1899 schließlich ihr Ziel. Unter der Auflage, mehr staatskonformes Orientierungswissen als forschungsorientiertes Detailwissen anzubieten, wurde auch der Nationalliberale August Fournier 1903 zum Professor für Allgemeine Geschichte befördert. Beide Berufungen stehen für die über den ganzen Untersuchungszeitraum anhaltende starke Außensteuerung von Berufungsverfahren durch das Ministerium für Cultus und Unterricht, das der philosophischen Fakultät beide Stellenbesetzungen gegen ihren Willen aufnötigte.89 Inhaltlich war der Unterricht an der Universität über den ganzen Zeitraum hinweg von österreichischen und reichshistorischen Themen geprägt. Entgegen den Fachbezeichnungen wurden oft speziell österreichische Themen nicht nur von den Vertretern der österreichischen Geschichte, sondern auch von den allgemeinhistorischen Professuren der Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit gewählt.90 Neuere fachliche Ausrichtungen fanden seit den 1880er Jahren vor allem auf Privatdozenten- und Extraordinarienebene Eingang. Nicht nur die Geschichte der Neuzeit und die Geschichte Osteuropas wurden nun stärker berücksichtigt, auch wirtschafts- und sozialgeschichtliche Ansätze, die die Landesgeschichte erneuerten oder sich von den frühen Sozialwissenschaften beeinflussen ließen, konnten sich etablieren.91 Analog zur österreichischen Fächerordnung stellte an der Universität Zürich die bereits nach der Gründung festgelegte Unterteilung in schweizerische und allgemeine Geschichte während des ganzen Untersuchungszeitraums die wichtigste Binnengliederung des Faches dar. Als erster historischer Lehrstuhl wurde 1833 ein schweizergeschichtliches Extraordinariat geschaffen, das im darauffolgenden Jahr durch einen allgemeinhistorisches Ordinariat ergänzt wurde. Der hohe Stellenwert der Schweizer Geschichte knüpfte an die Bevorzugung der vaterländischen oder Schweizer Geschichte in den Hohen Schulen des 18. Jahrhunderts und an die staatsbürgerlich-politische Funktion der Geschichte in den Politischen Instituten an.92 Der Lehrstuhl für Schweizer Geschichte wurde ab 1887 durch ein schweizergeschichtliches 88 89 90 91 92
Härtel: Geschichte des Mittelalters, S. 143. Höflechner: Metamorphosen und Konsequenzen, S. 296f. Höflechner: Forschungsorganisation und Methoden, S. 223, 225. Vgl. im Überblick Fellner: Geschichte als Wissenschaft, S. 193f., 207–209. Gagliardi: Die Universität Zürich 1833–1933, S. 355f., 362.
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1. Geschichte treiben: Agenturen, Kulturen, Akteure
Extraordinariat ergänzt. Bis 1870 wurde der allgemeingeschichtliche Fachbereich durch eine einzige Professur vertreten. Dies änderte sich vorübergehend, als die demokratische Regierung in der bildungspolitischen Aufbruchstimmung der frühen 1870er Jahre 1872 zusätzlich einen Extraordinarius für Alte Geschichte berief und die Lehrbefugnis des Ordinariats für allgemeine Geschichte auf „mittlere und neuere Geschichte“ beschränkte. Mit dieser chronologischen Dreiteilung war das dominierende Spezialisierungsprinzip des Faches aufgenommen, das in diesem Zeitraum an deutschsprachigen Hochschulen üblich wurde und sich im 20. Jahrhundert weiter verfestigte. Als der inzwischen beförderte Inhaber des Lehrstuhls für alte Geschichte (Johann) Jakob Müller 1878 überraschend starb, wurden die altertumsgeschichtlichen Lehrverpflichtungen allerdings wieder dem Professor für allgemeine Geschichte, Gerold Meyer von Knonau, übertragen. Dessen Vorgänger Max Büdinger hatte bei seinem Weggang nach Wien 1872 für eine Ausdifferenzierung des allgemeingeschichtlichen Lehrstuhlbereichs plädiert, indem er sich auf die wachsende Spezialisierungsdynamik des Faches berief. Die Behörden hingegen argumentierten nun umgekehrt mit den allgemeinen Bildungsfunktionen und dem Bedürfnis nach Übersichtsvorlesungen, als sie die Spezialisierung wieder rückgängig machten.93 Hinter diesen situativen Abgrenzungen verbargen sich allerdings wohl finanzielle Erwägungen; die beschränkte finanzielle Basis der Universität ließ die kantonalen Bildungsbehörden zu kostensparenden Lösungen greifen. Erst ab 1920 sollte sich in Zürich eine konsequente Aufteilung nach Epochen einstellen. Im Gegensatz zu Wien verselbständigte sich die alte Geschichte überdies nicht in einem übergreifenden altertumswissenschaftlichen Fachbereich. Sie wurde vielmehr von den Professoren der allgemeinen Geschichte mitvertreten und seit den 1850er Jahren verstärkt auch von den Vertretern der Schweizergeschichte behandelt, als die Erforschung der Frühgeschichte des helvetischen Raums einen enormen Aufschwung erlebte.94 93
94
Max Büdinger an die philosophische Fakultät I. Sektion, 05.11.1872, StAZH U 109a.1; Die Erziehungsdirektion an den Regierungsrat des Kantons Zürich, 30.12.1878, StAZH U 109b.1b:27. Allgemein zur Spezialisierungsdynamik im deutschen Sprachraum: Weber: Sozialgeschichtliche Aspekte des historiographischen Wandels, S. 93; Lutz Raphael: Die „Neue Geschichte“ – Umbrüche und neue Wege in der Geschichtsschreibung in internationaler Perspekive (1880–1940), in: Küttler/Rüsen/Schulin (Hrsg.): Geschichtsdiskurs. Band 4: Krisenbewusstsein, Katastrophenerfahrungen und Innovationen 1880– 1945, S. 51–89: 56. Die Alte Geschichte blieb in Zürich im historischen Fachbereich, während sich weitere Teile der Altertumswissenschaft 1919 als „Archäologisches Seminar“ 1919 formierten. 1927 wurde mit Ernst Meyer der erste Professor für Alte Geschichte berufen. Gagliardi: Die Universität Zürich 1833–1933, S. 982f., 985. Vgl. Daniel Kauz: Zur Praxis antiquarisch-prähistorischer Forschung. Die Zirkulation von Artefakten, Wissen und Geld, in: Antiquarische Gesellschaft Zürich (Hrsg.): Pfahlbauerfieber. Von Antiquaren, Pfahlbaufischern, Altertümerhändlern und Pfahlbaumythen, Zürich 2004, S. 147–168; Martin Trachsel: „Ein neuer Kolumbus“. Ferdinand Kellers Entdeckung einer Welt jenseits der Geschichtsschreibung, ebd., S. 9–68; Marc-
1.4 Disziplinäre Differenzierungsmuster
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Daneben kam es ab den 1870er Jahren zu einer Ausweitung durch spezialisierte Fachzugänge. Die Berufung (Friedrich) Salomon Vögelins auf einen Lehrstuhl für „Culturgeschichte und insbesondere Kunstgeschichte“95 , die der demokratische Erziehungsdirektor Johann Kaspar Sieber unter Umgehung der Fakultät im Jahr 1870 erreichte, brachte einen zur dominanten Politikgeschichte alternativen Fachzugang ein. Vögelin war ein Quereinsteiger, der als Intellektueller der demokratischen Bewegung und als radikal historisch-kritischer Theologe bekannt geworden war. Sein Fachkonzept der Kulturgeschichte, das nicht nur in älteren kulturgeschichtlichen Traditionen, sondern auch in seinem sozial- und bildungspolitischen Engagement für die demokratische Bewegung verankert war, entfaltete eine lokale Ausstrahlung und konnte sich im Vorlesungsverzeichnis sogar eine Nennung als Fachbereich sichern, die bis 1918 beibehalten wurde. Diese Ausrichtung blieb über Vögelins Tod im Jahr 1888 hinaus auf der Ebene der Privatdozenten wirksam, die unter der Bezeichnung „Kulturgeschichte“ aber auf Dauer nicht Fuß fassen konnten.96 Der Privatdozent Georg Caro spezialisierte sich überdies auf Wirtschafts- und Sozialgeschichte, ohne damit allerdings das angestrebte Extraordinariat zu erhalten. Sowohl den Innovationen der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte wie auch der Spezialisierung „Kulturgeschichte“ gelang es nicht, sich nach dem Ersten Weltkrieg im geschichtswissenschaftlichen Fachbereich an der Universität Zürich zu behaupten. Dagegen wurde die Verselbständigung der Hilfswissenschaften in den 1890er Jahren auf Dauer gestellt, die – neben einem kurzen Gastspiel des Numismatikers Behrendt Pick – vom Extraordinarius Paul Schweizer unterrichtet wurden.97
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Antoine Kaeser: Helvètes ou Lacustres? La jeune Confédération suisse à la recherche des ancêtres opérationnels, in: Urs Altermatt/Catherine Bosshart-Pfluger/Albert Tanner (Hrsg.): Die Konstruktion einer Nation. Nation und Nationalisierung in der Schweiz, 18.–20. Jahrhundert. Zürich 1998, S. 75–86: S. 81–83. Die Erziehungsdirektion an den Regierungsrat des Kantons Zürich, 16.03.1870, StAZH U 94.1b:11. Zur Berufung Salomon Vögelins s. auch den förmlichen Protest der Fakultät: Sitzungsprotokoll der philosophischen Fakultät I. Sektion der Universität Zürich, 28.05.1870, S. 28. StAZH Z 70.2897; Walter Betulius: Friedrich Salomon Vögelin, 1837–1888. Sein Beitrag zum schweizerischen Geistesleben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Diss. Univ. Zürich 1956, S. 5f., 15–22. Zur Fachbezeichnung Kulturgeschichte: Der Begriff erschien ab Sommersemester 1880 erstmals in der Rubrik „Geschichte, Cultur- und Kunstgeschichte“. Ab Sommersemester 1918 verschwand die Bezeichnung. Die Rubrik fasste nun „Geschichte und ihre Hilfswissenschaften, Kunst- und Musikgeschichte“ zusammen. Verzeichniss der Vorlesungen an der Universität Zürich, Sommersemester 1880, Zürich 1880, S. 7; Ebd., Sommersemester 1918, S. 20. Vgl. Kap. 2.6. Hilfswissenschaften: Gagliardi: Die Universität Zürich 1833–1933, S. 865. Regierungsratsbeschluss vom 12.03.1892, StaZH U 109b.2:53. Schweizer erreichte in der Folge in zwei Schritten eine Ausweitung seiner Venia: 1896 die Erweiterung auf „mittlere und neuere Geschichte und historische Hilfswissenschaften“ und 1909 auf „Hilfswissenschaften der Geschichte, Geschichtsphilosophie, allgemeine Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit“. Die Erziehungsdirektion an den Regierungsrat des Kantons Zü-
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1. Geschichte treiben: Agenturen, Kulturen, Akteure
Der Geschichtsunterricht an den untersuchten Universitäten vermittelte durch die Entlastung von propädeutischen Aufgaben in den autonomisierten philosophischen Fakultäten zunehmend ein disziplinäres Wissen. Die neuen Fachzertifikate (die fachspezifischen Doktorate) und die erhöhten Qualifikationsvorgaben für die akademische Laufbahn bewirkten, dass Geschichte als forschungsgebundene Disziplin und Hochschullehrerkarrieren im Fach Geschichte als mögliche Berufslaufbahnen wahrgenommen wurden. Allerdings wurden im geschichtswissenschaftlichen Unterricht weiterhin in großer Zahl angehende Berufsleute, meistens Fachlehrer an höheren Schulen, ausgebildet. Darüber hinaus kamen die Geschichtsprofessoren bildungsbürgerlichen Bedürfnissen nach allgemeinbildenden historischen Kenntnissen nach, die viele Studierende anderer Fächer und Gasthörer in die historischen Vorlesungen brachten.98 Die Disziplinierung der Geschichte99 an den Universitäten führte zu zunehmend inhaltlich ausdifferenzierten Subdisziplinen sowie zu erweiterten beruflichen Handlungsspielräumen für akademische Historiker. Die disziplinäre Dynamik schuf zudem fachliche Selektionspfade, die über alle Besonderheiten hinweg in beiden nationalen Kontexten eine umfassende Bevorzugung politik- und verfassungsgeschichtlicher Zugänge, ein Schwergewicht auf der jeweiligen Nationalgeschichte und eine starke Akzentuierung der Mittelaltergeschichte mit sich brachten.100
1.5 Professionalisierungsverläufe Der Institutionalisierungsschub, den die Geschichte im Wandel des tertiären Bildungssystems erfuhr, lässt sich auch am Wandel der Hochschullehrerkarrieren ablesen. Dynamische Modelle von Professionalisierung verweisen auf die Relevanz professioneller Handlungsweisen für die Mobilisierung von Ressourcen und die Erlangung von Handlungsautonomie. Professionelles Handeln ist in dieser Perspektive immer wieder in Konflikte um Jurisdiktionen verwickelt, in denen der formale Abschluss von Berufszugängen sowie rich, 16.12.1896; Auszug aus dem Protokoll des Regierungsrates, 18.02.1909, StaZH U 109b.2:53. Zu Caro vgl. Kap. 2.7. 98 Vgl. Kap. 2.2. 99 Vgl. Veit-Brause: The Disciplining of History. 100 Aus wissenshistorischer Perspektive handelte es sich dabei nicht einen linearen Prozess fortschreitender Differenzierung, sondern vielmehr um eine Neuanordnung von Wissensfeldern, die ältere Wissenszusammenhänge unlesbar machte und zu vorwissenschaftlichem Protowissen schrumpfen ließ. Diese epistemische Umschichtung wird durch eine systemtheoretischen Perspektive verdunkelt, in deren Sicht sich die verschiedenen Wissensfelder der frühen Neuzeit im 19. Jahrhundert zu vergleichsweise autonomen, autopoietisch funktionierenden Teilsystemen formierten, die wiederum unterschiedliche Subdisziplinen, eine fortschreitende Differenzierung und Autonomisierung hervorbrachten (vgl. Stichweh: Wissenschaft, Universität, Disziplinen, S. 52–83).
1.5 Professionalisierungsverläufe
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die Deutungs- und Handlungshoheiten über bestimmte Tätigkeitsbereiche in Auseinandersetzung mit benachbarten Berufsfeldern und mit formal unqualifizierten Akteuren ausgehandelt werden.101 Für die hier untersuchten Hochschulhistoriker stellen deshalb der Grad ihrer Verberuflichung (das heißt der beruflichen Abschließung durch die Formalisierung der Zulassungsvoraussetzungen, die Standardisierung der Laufbahnen sowie die zunehmende Hauptberuflichkeit der Ausübung) wie auch der Grad ihrer Verfachlichung (das heißt ihrer disziplinspezifischen Vorbildung) wichtige Indikatoren ihrer Professionalisierung dar. Die Verberuflichung und Verfachlichung der Laufbahnen wie auch die sich verändernden Rekrutierungsräume geben zusammen mit der sozialen Herkunft der Hochschullehrer Aufschluss über sich wandelnde Handlungsspielräume akademischer Historiker wie auch über professionelle Abschließungsprozesse, die für alle Akteure im Feld der Geschichtsforschung und der Geschichtskultur weitreichende Folgen in Bezug auf Ressourcenzugänge und Interpretationshoheiten hatten.102 101
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Hannes Siegrist: Professionalization as a Process. Patterns, Progression and Discontinuity, in: Michael Burrage/Rolf Torstendahl (Hrsg.): Professions in Theory and History. Rethinking the Study of the Professions, London/Newbury Park/New Delhi 1990, S. 177–202: S. 192f.; ders.: Bürgerliche Berufe. Die Professionen und das Bürgertum, in: ders. (Hrsg.): Bürgerliche Berufe. Zur Sozialgeschichte der freien und akademischen Berufe im internationalen Vergleich, Göttingen 1988, S. 11–48: 12; Abbott: The System of Professions, S. 2f.; Charles McClelland: Zur Professionalisierung der akademischen Berufe in Deutschland, in: Werner Conze and Jürgen Kocka (Hrsg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Band 1: Bildungssystem und Professionalisierung in internationalen Vergleichen, Stuttgart 1985, S. 233–247. Zum von Andrew Abbott aus dem Recht auf die Berufsfelder übertragenen Jurisdiktionsbegriff vgl. Thomas F. Gieryn: Boundaries of Science, in: Sheila Jasanoff et al. (Hrsg.): Handbook of Science and Technology Studies, Thousand Oaks/London/New Delhi 1995, S. 393–443: 409–411; Abbott: The system of professions, S. 59–85. Zum Berufsbild des Historikers vgl.: Torstendahl: Historical professionalism; Gudrun Pischinger: Vom „Dilettanten“ zum Fachwissenschaftler. Die historische Kommission der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1847 bis 1877 und die Professionalisierung der Geschichtswissenschaft, in: Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte 20/2001, S. 221–243; Hans-Jürgen Pandel: Wer ist ein Historiker? Forschung und Lehre als Bestimmungsfaktoren in der Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts. in: Küttler/Rüsen/Schulin (Hrsg.): Geschichtsdiskurs. Band 1, S. 346–354; Blanke: Historiker als Beruf; Lingelbach: Klio macht Karriere, S. 285–373. Die hier nur für die untersuchten Hochschullehrer vorgenommene Auswertung umfasste die Laufbahndaten, Fachbereiche und Herkunft der Universitätsprofessoren und Privatdozenten an beiden Standorten. Sie stützt sich auf die Analyse von biographischen Daten in den in der Bibliographie aufgeführten biobibliographischen Werken, Einzeldarstellungen in Nekrologen und Universitätsschriften und auf ergänzende Recherchen in den Personalakten der entsprechenden Institutionen im StAZH, ÖStA AVA und UA Wien, vgl. Materialverzeichnis. Als Hochschullehrer der Geschichte an den Universitäten werden hier die Professoren und Privatdozenten an der philosophischen Fakultät bezeichnet, deren Venien auf Geschichte und ihre Teilbereiche lauteten. Nicht berücksichtigt wurden hingegen der Rechtshistoriker an den juristischen Fakultäten und Vertreter anderer Disziplinen an den philosophischen Fakultäten, die ihr
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1. Geschichte treiben: Agenturen, Kulturen, Akteure
Für den Grad der Verberuflichung sind die Qualifikationsverläufe von Hochschullehrerkarrieren zentral. Deren Kernstück wurde die Privatdozentur, die nach der Reform der Universitäten zunehmend vorausgesetzt wurde. Mit der Habilitation war grundsätzlich ein Schritt hin zur Verberuflichung der Hochschullehre getan, der die disziplinäre Spezialisierung und die Orientierung an universalistischen Standards eines akademischen Marktes förderte. Allerdings wurden die Leistungen der Privatdozenten nur marginal honoriert; die Privatdozentur stellte zwar im Sinn einer inneren Sendung, nicht aber ökonomisch einen Beruf dar.103 Die Chancen von Privatdozenten, auf eine Professur zu gelangen, und deren außerakademische Erwerbstätigkeiten geben deshalb Auskunft über die Chancen auf Verberuflichung. Die Hochschullehrer der Geschichte an der Universität Wien waren über
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Gebiet unter anderem auch in historischer Hinsicht bearbeiteten. Erfasst wurden für die Universität Zürich im Zeitraum von 1833 bis 1914 insgesamt 14 Professoren und 25 Privatdozenten, für die Universität Wien im Zeitraum von 1849 bis 1914 insgesamt 25 Professoren und 35 Privatdozenten. Als nicht berücksichtigte Grenzfälle sind zu nennen für Zürich: Jakob Heierli (Privatdozent für Prähistorie an der I. Sektion der philosophischen Fakultät 1889–1911; wechselte 1912 an die naturwissenschaftliche II. Sektion der philosophischen Fakultät); Ernst Stückelberg (Privatdozent für Altertumskunde 1894–1902). Für Wien: die Orientalisten (Simon) Leo Reinisch (Professor für Ägyptische Altertumskunde); Joseph Karabacek (Professor für Geschichte des Orients und ihrer Hilfswissenschaften), Jakob Krall (Professor für Alte Geschichte des Orients und Ägyptologie). Zu den Professuren werden auch außerordentliche Professuren gezählt. Hingegen werden die Titularprofessoren wegen ihrer deutlich abgesetzten schwächeren Mitspracheposition zu den Privatdozenten gerechnet. Martin Schmeiser: Akademischer Hasard. Das Berufsschicksal des Professors und das Schicksal der deutschen Universität 1870–1920, Eine verstehend soziologische Untersuchung, Stuttgart 1994, S. 30–33, 36–41. In Zürich war die Habilitation formal minimal gehalten. Es hieß im Unterrichtsgesetz von 1859 lediglich, dass sich die Professoren durch einen „öffentlichen wissenschaftlichen Vortrag zu habilitiren“ hätten. In der Praxis wurden aber Forschungsarbeiten eingereicht und kommissionell begutachtet. Vgl. die Personalakten der Privatdozenten, StaZH U 109d.1. Gesetz über das gesamte Unterrichtswesen des Kantons Zürich, 23.12.1859, § 134, in: Sammlung der Gesetze und Verordnungen des Kantons Zürich (1896), S. 1040; Universitätsordnung vom 07.10.1864, § 5, in: Amtsblatt des Kantons Zürich 1864, S. 102; Universitäts-Ordnung vom 07.03.1885, § 5, in: Sammelwerk der zürcherischen Gesetzgebung, Verwaltungsband II (1913), S. 1152. In Wien hingegen wurde für die Erlangung der Privatdozentur explizit eine Abhandlung gefordert. Das Ministerium für Kultus und Unterricht ernannte aber auch Professoren, die entweder aus dem Lehrberuf an Höheren Schulen an die Universität wechselten oder sich außerhalb der Universität als Forscher etabliert hatten. Ministerial-Erlass, 19.12.1848, Z. 8175, in: Georg Thaa (Hrsg.): Sammlung der für die österreichischen Universitäten giltigen Gesetze und Verordnungen, Wien 1871,, S. 129–131; Verordnung des Ministers für Kultus und Unterricht, 11.02.1888, Z. 2390, RGBNr. 19, MVBNr. 6, in: Beck von Mannagetta, Leo Ritter/Carl von Kelle (Hrsg.): Die österreichischen Universitätsgesetze. Sammlung der für die österreichischen Universitäten gültigen Gesetze, Verordnungen, Erlässe, Studien- und Prüfungsordnungen usw. im Auftrage des k. k. Ministeriums für Kultus und Unterricht mit Benützung der amtlichen Akten [...]. Wien 1906 (1904), S. 169–172. Vgl. zur Vorgeschichte Lhotsky: Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung in Österreich, S. 400.
1.5 Professionalisierungsverläufe
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den ganzen Untersuchungszeitraum stärker verberuflicht als ihre Kollegen an der Universität Zürich. Zwar bildete die Habilitation spätestens nach dem Beginn der 1870er Jahre an beiden Universitäten eine beinahe unumgängliche Ausgangsbedingung für Karrieren.104 Aber in Wien waren die akademischen Beschäftigungschancen vielfältiger: Hier verfügten die Privatdozenten über beträchtlich höhere Aufstiegs- und Verbleibschancen, ihnen standen auch die anderen österreichischen Universitäten offen, und die Privatdozenten arbeiteten neben ihren Lehraufträgen auch in einem homogeneren Berufsfeld, in denen ihnen eigentliche Ämterkarrieren offenstanden. Privatdozenten, die mit wenigen Ausnahmen auf eine zusätzliche Erwerbstätigkeit angewiesen waren, arbeiteten ausnahmslos in den affinen Berufsfeldern Archiv, Museum und Bibliothek oder in der Lehre in Gymnasien und Akademien. In der Zeit nach 1872 wurden die außerakademischen Erwerbstätigkeiten der Habilitierten darüber hinaus zunehmend durch bezahlte historische Forschungsaufträge ergänzt.105 Die Dozenten des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung bildeten in mehrerer Hinsicht die Kerngruppe der Wiener Dozenten: Sie hatten alle nicht nur ein Geschichtsstudium, sondern auch den Institutslehrgang durchlaufen und überbrückten ihre Privatdozenturzeiten vor allem mit bezahlten Forschungsaufträgen; sie waren deshalb in hohem Maß verfachlicht und verberuflicht.106 Dagegen waren an der Universität Zürich die Aufstiegs- und Verbleibschancen von Privatdozenten geringer; die Privatdozenten arbeiteten in etwas heterogeneren Berufsfeldern 104
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An der Universität Wien verfügten zwischen 1849 und 1914 18 der 25 Professoren über eine Habilitation (72 %). Bei fünf der sieben Nichthabilitierten handelte es sich um Professoren, die vor 1830 geboren waren. Nach 1872 wurde die Anstellung von Nichthabilitierten zur Seltenheit; lediglich zwei Historiker ohne Habilitation wurden in dieser Zeit noch zu Professoren ernannt. In Zürich verfügten 1833–1914 zehn von 14 Professoren (71 %) über eine Habilitation. Auch in Zürich war die Berufung eines Nichthabilitierten nach 1872 eine absolute Ausnahme: Wilhelm Oechsli, der zu diesem Zeitpunkt schon viele Jahre als Professor an der ETH gewirkt hatte, erhielt 1893 den Lehrstuhl für Schweizergeschichte. 71 % der Privatdozenten erhielten innerhalb von zehn Jahren Professuren (elf davon in Wien, 14 an anderen österreichischen Universitäten), weitere 20 % der Dozenten blieben über die ganze Berufslaufbahn hinweg als Privatdozenten oder Titularprofessuren in Wien. Nur drei von insgesamt 35 Privatdozenten, weniger als neun Prozent, wechselten überhaupt nach einiger Zeit gänzlich in eine außeruniversitäre Beschäftigung. Betrachtet man den Zeitraum von 1873 an, verbessert sich die Verbleibsquote nochmals: Der Anteil der Aussteiger sinkt auf lediglich sieben Prozent. Vgl. zum Gesamttrend Weber: Priester der Klio, S. 120–126. Außeruniversitäre Erwerbstätigkeit: Nur für vier von 35 Privatdozenten konnte keine zusätzliche Erwerbstätigkeit ausgemacht werden. Für neun der 30 Privatdozenten nach 1872 konnten zusätzlich Auftragsverhältnisse in Forschungsprojekten festgestellt werden, die Quote liegt aber wohl höher. Von den Professoren hatten zwar 20 % zeitweilig eine außerakademische Erwerbstätigkeit vorzuweisen, allerdings meistens nur während eines Extraordinariats und immer in den angeführten geschichtsaffinen Tätigkeitsbereichen. Vgl. Kap. 3.2.
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1. Geschichte treiben: Agenturen, Kulturen, Akteure
und konnten auch nach 1872 nur selten auf Möglichkeiten verberuflichter Forschung zurückgreifen. Viele waren in fachfremden Gebieten – auffällig oft im Journalismus – tätig. Diese größere Heterogenität hatte mit dem Fehlen einer ausgebauten professionalisierten Staatsverwaltung und den entsprechenden Ämterkarrieren zu tun. Zusätzlich erteilte die Hälfte der Professoren in Zürich bis zum Ersten Weltkrieg noch Gymnasialunterricht in kleinen Teilpensen. Die geringere Verberuflichung in der Schweiz lässt sich unter anderem darauf zurückführen, dass die Dozenten kaum innerhalb der Schweizer Universitäten zirkulierten. Dies sorgte in Kombination mit der langjährigen personellen Kontinuität nach 1870 für eine weitgehende personelle Immobilität.107 Der Grad der Verfachlichung als Historiker erhöhte sich im Untersuchungszeitraum an beiden Standorten etwa in gleichem Ausmaß. An beiden Orten stellte nach den 1860er Jahren ein hauptfachliches Geschichtsstudium eine selbstverständliche Voraussetzung für Professorenkarrieren dar. Eine kurzzeitige Ausnahme bildete die dirigistische Stellenpolitik der Zürcher Demokraten bei ihrer Machtübernahme, die 1870 Friedrich Salomon Vögelin, der einen Abschluss in Theologie und einige Studien in Geschichte mitbrachte, beriefen und für kurze Zeit auch den fachlich randständigen Privatdozenten Johann Jakob Honegger zum Extraordinarius beförderten.108 107
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Insgesamt gelang es 44 % der Privatdozenten, auf Professuren zu gelangen (11 Professoren, davon zehn an der Universität Zürich, einer an der ETH Zürich), 24 % blieben mehr als zehn Jahre oder lebenslang auf ihren Privatdozenturen, und 32 % der Privatdozenten wechselten in einen außerakademischen Berufsbereich. Auch wenn man nur den Zeitraum 1873–1914 betrachtet, waren die Verbleibs- und Aufstiegsmöglichkeiten in Zürich deutlich niedriger: Für diesen Zeitraum reduziert sich der Anteil der Aussteiger auf 18 %, dafür erhöht sich die Zahl der Langzeitprivatdozenten auf 46 %. Außeruniversitäre Erwerbstätigkeit: Zu den zahlreich im Journalismus tätigen frühen Privatdozenten vgl. unten. Nach 1870 waren vor allem die Kulturhistoriker Otto Hartmann und Otto Henne-Am Rhyn als Journalisten der Demokratischen Bewegung bekannt. Der Liberale Eduard Fueter war anfangs des 20. Jahrhunderts als Journalist der Neuen Zürcher Zeitung tätig. Die Teilpensen an Gymnasien lassen sich mit der ungleich kleineren Ressourcenbasis der Bildungsinstitutionen in Zürich heraus erklären. Die Zürcher Universität zog zwar Studierende weit über den Kanton Zürich hinaus an und war ab den 1860er Jahren auch zunehmend für ausländische Studierende attraktiv, finanzierte sich aber rein kantonal. Vgl. zur geringeren Verberuflichung Weber: Priester der Klio, S. 125. Allg. zur Entwicklung der bürgerlichen Berufe in der Schweiz vgl. Siegrist: Bürgerliche Berufe, S. 28–31. Universität Wien: Dort lassen sich sechs von 25 Professoren ausmachen, die nicht in erster Linie Geschichte studiert hatten. Zwei Professoren brachten zu Beginn des erneuerten Studienbetriebs fachfremde Universitätsausweise in Theologie und Rechtswissenschaft mit. Johann Nepomuk Kaiser (1842–1862 Ordinarius) hatte die philosophischen Obligatstudien absolviert und Rechtswissenschaft studiert, Albert Jäger (1851–1872 Ordinarius), hatte Theologie studiert. Die späteren Ausnahmen im Bereich der klassischen Philologie sind nur beschränkt als fachfremd anzusehen, waren die betroffenen Professoren doch in den spezifisch historisch-philologischen Fachzusammenhang der Altertumswissenschaften eingebunden. Wilhelm Grauert (1849–1852
1.5 Professionalisierungsverläufe
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Die Einzugsgebiete der beiden Hochschulen für die Rekrutierung des akademischen Nachwuchses verengten sich im Lauf des Untersuchungszeitraums. In Wien wurden nach der Umgründung der Universität 1849 von den Bildungsbehörden bewusst deutsche Fachleute rekrutiert, um eine Geschichtswissenschaft deutscher Prägung aufzubauen. Nach diesen ersten Berufungen nationalisierte sich das Rekrutierungsfeld jedoch bald: Nach 1870 wurden mit Ausnahme der beiden Altertumshistoriker Otto Hirschfeld und Eugen Bormann nur noch österreichische Historiker zu Professoren ernannt. Österreichisch war schließlich auch die Nachwuchsbasis, denn unter den Privatdozenten befanden sich über den ganzen Untersuchungszeitraum hinweg ausschließlich österreichische Staatsbürger. In aller Regel studierte der geschichtswissenschaftliche Nachwuchs in Österreich, und es war selbst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts kaum üblich, nach Deutschland zu gehen.109 Für den allgemeinhistorischen Lehrstuhl an der Universität Zürich stellten die Zürcher Bildungsbehörden nacheinander mehrere Professoren aus Deutschland an, dem wichtigsten ausländischen Rekrutierungsfeld für Hochschullehrer. Als der von 1860 an lehrende Max Büdinger, der die Ausgestaltung des Fachs nachhaltig geprägt hatte, 1872 nach Wien weiterreiste, ging der allgemeinhistorische Lehrstuhl erstmals an einen Schweizer, Gerold Mayer von Knonau. Die schweizergeschichtlichen Lehrstühle hingegen waren von Beginn an von Zürchern besetzt worden. Mit Büdingers Weggang war die Hochschullehre im Fach Geschichte nun ausgesprochen national besetzt. Allerdings waren alle deutschschweizerischen Historiker, die nun auf Ordinariate kamen, zumindest teilweise in Deutschland ausgebildet worden. Auf der Ebene der Privatdozenturen war die Situation im Gegensatz zu Wien
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Ordinarius), Otto Hirschfeld (1875–1885 Ordinarius), Eugen Bormann (1885–1914 Ordinarius) und Emil Szanto (1893–1901 Extraordinarius, 1901–1904 Ordinarius) hatten verschiedene Kombinationen aus klassischer Philologie, Altertumswissenschaften und Rechtswissenschaft studiert. Auch für die Privatdozenten galt seit den 1870er Jahren diese Durchsetzung der Fachlichkeit. Universität Zürich: Von den insgesamt 14 Professoren lassen sich neben Vögelin für weitere vier Dozenten nichtfachliche Hintergründe ausmachen: Johann Jakob Hottinger (1833–1844 Extraordinarius, 1844–1860 Ordinarius) hatte Theologie, Johann Jakob Honegger (1836–1870 PD, 1870–74 Extraordinarius) Literatur, Georg von Wyss (1850–1858 PD, 1858–1870 Extraordinarius, 1870– 1893 Ordinarius) Philosophie, Rechtswissenschaft und Mathematik studiert. Dagegen ist der Numismatiker Behrendt Pick (1889–1891 PD, 1891–1893 Extraordinarius) kaum als fachfremd zu bezeichnen, er hatte im Hauptfach Altertumswissenschaften studiert. Auch bei den Privatdozenten stellte sich spätestens Anfang der 1870er Jahre eine fachliche Schließung ein. Auf den ersten Professor für Allgemeine Geschichte, den Westfalen Wihelm Grauert, folgte 1853 Joseph Aschbach aus Hessen, auf ihn 1873 Max Büdinger, ein Hesse, der vorher in Zürich gelehrt hatte. Der Direktor des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung und Universitätsprofessor Theodor Sickel stammte aus Preussen, war aber weniger gezielt als Vertreter der deutschen Geschichtswissenschaft angeworben worden. Vgl. allgemein zu Österreich Weber: Priester der Klio, S. 106f.
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1. Geschichte treiben: Agenturen, Kulturen, Akteure
während der ersten Jahrzehnte ausgesprochen international. Die Reihe der historischen Privatdozenturen in Zürich liest sich bis in die 1860er Jahre wie ein Stelldichein liberaler Intellektueller aus dem deutschsprachigen Ausland, die im Vor- und Nachmärz in die Schweiz geflüchtet waren und oft neben publizistischen Tätigkeiten als Privatdozenten auftraten. Ihre Wirksamkeit muss vor dem Hintergrund der kleinen Studentenzahlen und der kurzzeitigen Dozenturen allerdings als marginal bezeichnet werden. Diese Internationalität reduzierte sich auch auf der Ebene der Privatdozenten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts.110 Die in beiden Kontexten zunehmende Verberuflichung und Verfachlichung der Hochschullehrer brachte eine neue Gruppe führender akademischer Vertreter des Fachs hervor, die sich formal gegenüber Amateuren wie auch gegenüber fachfremden wissenschaftlichen Zugängen wirksam abgrenzte. Die Geschichtsprofessoren prägten in ihrer Lehre die Reproduktion des akademischen Nachwuchses, die geschichtswissenschaftliche Ausbildung von Gymnasiallehrern und die Geschichtskenntnisse der Studierenden aller Fächer, und sie prägten öffentliche Geschichtsbilder. In der Selbstverwaltung der Universität steuerten sie überdies die Fachpolitik im Bereich Geschichte, wodurch sie ausgewählte disziplinäre Zugänge verstetigten. Wie das Beispiel der Archivarsausbildung am Institut für Österreichische Geschichtsforschung zeigt, gestalteten die Geschichtsprofessoren mit ihrer Fachpolitik und ihren Expertisen auch die Ausgestaltung von Berufsfeldern für akademisch ausgebildete Historiker maßgeblich mit. Ihr beruflicher Status verhalf ihnen darüber hinaus zu Schlüsselpositionen in den außeruniversitären Forschungsorganisationen, welche im Lauf des 19. Jahrhunderts immer häufiger 110
Nach der Universitätsgründung wurde Theodor Mittler, der vorher Privatdozent in Heidelberg gewesen war, nach Zürich geholt. Auf seinen Tod folgte 1854 der Preusse Wilhelm Adolf Schmidt, der allerdings 1860 nach Jena berufen und von Max Büdinger abgelöst wurde. Als letzter Ausländer auf Professorenebene ergänzte der Numismatiker Behrendt Pick anfangs der 1890er Jahre als Extraordinarius vorübergehend das Kollegium. Diese Entwicklung entspricht dem von Wolfgang Weber errechneten Gesamttrend in der deutschsprachigen Schweiz. Weber berücksichtigt nur die Ordinarien. Weber: Priester der Klio, S. 106f. Privatdozenten: 1848 bis 1852 lehrte der entlaufene Priester und liberale österreichische Schriftsteller Franz (Ernst) Pipitz in Zürich, der später wieder nach Österreich zurückkehrte. Nur ein Jahr länger dauerte das Engagement des aus Hessen stammenden Alexander Flegler. Seine Karriere als Hochschullehrer begann auch der bekannte Kulturhistoriker und Vormärz-Liberale Johannes Scherr an der Universität Zürich, er wurde gefolgt vom Militärhistoriker und Kriegswissenschafter (Friedrich) Wilhelm Rüstow, der 1848 aus Preussen geflohen war, und von dem bekannten Rheinländer Liberalen Jakob Venedey, der am Hambacher Fest teilgenommen hatte. Unter den Schweizer Privatdozenten mit journalistisch-politischen Ambitionen befand sich der St. Galler Karl Morell, ein Schriftsteller und bekannter Radikaler, der am badischen Aufstand teilgenommen hatte und bis zu seinem Tod 1866 in Zürich lehrte, und der langjährig tätige frankophile Demokrat Johann Jakob Honegger, der sich in der Genossenschaftsbewegung engagierte. Nach 1870 lehrten mit Georg Caro und Behrendt Pick nur noch zwei deutsche Privatdozenten.
1.5 Professionalisierungsverläufe
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von Universitätsprofessoren dominiert wurden. Dort konnten diese ihren wissenschaftlichen und sozialen Status in die Waagschale werfen, wenn es darum ging, Ressourcen für die historische Forschung zu akquirieren und Zugang zu Quellenbeständen zu erhalten. Die Kapitel 5 bis 7 werden zeigen, dass sich die Universitätsprofessoren im Lauf dieses Professionalisierungsprozesses in berufs-, disziplin- und forschungspolitischer Hinsicht privilegierte und machtvolle Positionen gegenüber andern Akteuren der Geschichtskultur sichern konnten. Diese machtvolle Position wurde in mehrfacher Hinsicht durch eine hohe Affinität zum Staat gestützt. Bereits von ihrer sozialen Herkunft her zählten die Geschichtsprofessoren mehrheitlich zur staatsnahen bildungsbürgerlichen Elite, während Angehörige unterbürgerlicher Schichten kaum Zugang zu Professuren hatten.111 Als Geschichte in ihrer Funktion als Legitimationsgrundlage von Nationalstaatlichkeit für die Staaten zu einem 111
Sowohl in Wien als auch in Zürich ist für die väterlichen Berufe als Indikatoren sozialer Herkunft eine Dominanz im Bereich der höheren Staatsangestellten und der freien Berufe zu erkennen, gefolgt von Unternehmer- und Kaufleutekreisen und etwa gleichrangig von Gewerbe und Bauernschaft. Professoren Wien: Freie Berufe und höhere Angestellte (12), Kaufleute und Unternehmer (4), Gewerbe, Handwerk, Bauern (5), kleine Angestellte (1), unbestimmt (3). Professoren Zürich: Freie Berufe und höhere Angestellte (8), Kaufleute und Unternehmer (3), Gewerbe, Handwerk, Bauern (1), unbestimmt (2). Ähnlich ist auch die Verteilung im Fall der Privatdozenten. Privatdozenten Wien: Freie Berufe und höhere Angestellte (18), Kaufleute und Unternehmer (3), Gewerbe, Handwerk, Bauern (4), kleine Angestellte (1), unbestimmt (9), davon für 3 klein- oder unterbürgerliche Herkunft wahrscheinlich. Privatdozenten Zürich: Freie Berufe und höhere Angestellte (18), Kaufleute und Unternehmer (3), Gewerbe, Handwerk, Bauern (1), kleine Angestellte (1), unbestimmt (2). Für Wien lässt sich in der vorherrschenden Gruppe der freien Berufe und höheren Angestellten eine große Dominanz der Staatsangestellten – vor allem Verwaltungsbeamte und Lehrer an höheren Schulen – erkennen, während in Zürich Söhne von Pfarrern, den wichtigsten Trägern des dortigen Bildungsbürgertums, in praktisch gleichem Maß wie die Verwaltungsangestellten vertreten waren. Der Wiener Kontext zeigt eine generell etwas größere und im Untersuchungszeitraum leicht zunehmende Durchlässigkeit für Söhne aus kleinbürgerlichen Verhältnissen (Gewerbe, Bauern, kleine Angestellte). Es ist zu vermuten, dass für Wien diese Quote noch etwas höher ist als ausgewiesen, weil biographische Angaben in Nachrufen, Curricula und Lexika dazu tendieren, eine unterbürgerliche Herkunft zu verschweigen oder zu beschönigen. Der höhere Anteil an Söhnen aus dem Kleinbürgertum in Wien kann in Verbindung gebracht werden mit der Bildungspolitik der katholischen Kirche in ländlichen Gebieten Österreichs, wo begabte Söhne aus unterbürgerlichen Schichten durch Geistliche im Hinblick auf eine geistliche Laufbahn gezielt gefördert wurden. Der Privatdozent Beda Dudík, Sohn eines Lebzelters, war Benediktiner, der Professor Engelbert Mühlbacher, Sohn eines Schmieds, Augustiner-Chorherr. Auch der Professor Alfons Huber, Sohn eines Kleinbauern, war durch lokale Geistliche schulisch gefördert worden. Zu Huber vgl. Gunda Barth-Scalmani: Familiäre Selbstzeugnisse und bürgerliches Leben. Anmerkungen zur Biographie des Historikers Alfons Huber (1834–1898), in: Tiroler Heimat 64/2000, S. 40–59: S. 44. Vgl. auch Cary B. Cohen: Education and Middle-Class Society in Imperial Austria. 1848–1918, West Laffayette 1996, S. 201f. In beiden Kontexten fehlen Arbeitersöhne im Untersuchungszeitraum gänzlich.
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1. Geschichte treiben: Agenturen, Kulturen, Akteure
interessanten Manövrierfeld wurde, stellten sich die meisten Professoren als Forscher und Autoren von nationalhistorischer Historiographie, nationalhistorischer Quellenforschung und Geschichtsvermittlung zur Verfügung. Im Gegenzug konnten sie bei ihren Forschungsprojekten oft auf staatliche Unterstützung zählen. Die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eintretende langfristige Nationalisierung des Lehrkörpers akzentuierte zusätzlich die enge Anlehnung an staatliche Geschichtsinteressen.
1.6 Die Verortung der Hilfswissenschaften in frühneuzeitlichen Wissensfeldern Mit dem Ausbau der Geschichtswissenschaft an den Hochschulen veränderte sich auch der Status der historischen Forschung im Gefüge der Disziplinen. Diese Entwicklung lässt sich anhand der sich wandelnden Verortung der Wissensbestände für den Umgang mit historischem Material im Gefüge der Wissensfelder von der Frühneuzeit zum 19. Jahrhundert nachvollziehen. Im 16. und 17. Jahrhundert wurden solche Wissensbestände vorwiegend in juristischen und theologischen Zusammenhängen verwendet und weiterentwickelt. An deutschen Universitäten wurden sie an der juristischen Fakultät gelehrt: Chronologie, Geographie, Genealogie, Heraldik, Numismatik, Paläographie, Sphragistik und später auch Diplomatik dienten dort wie die behandelten historischen Stoffe selbst vor allem der Klärung und Interpretation geltenden Rechts. Die wichtigsten frühneuzeitlichen Beiträge zur Diplomatik wiederum wurden in den kirchengeschichtlichen Arbeiten der Mauriner und Bollandisten entwickelt. Im Lauf des 18. Jahrhunderts, als Geschichte als Unterrichtsfach an manchen Universitäten aufgewertet wurde, lassen sich Bemühungen zu erkennen, die Hilfswissenschaften mit dem alten rhetorischen Fach Geschichte zusammenzuführen und sie der Kompetenz der Historiker zu überantworten. Benjamin Hederichs einflussreiche „Anleitung zu den vornehmsten historischen Wissenschaften“ von 1711 trug durch ihre weite Verbreitung zu diesem disziplinären Integrationsprozess der Hilfswissenschaften bei. Der in Göttingen lehrende Aufklärungshistoriker Johann Christoph Gatterer (1727–1799) wertete durch die Einrichtung eines Historischen Instituts, an dem die Hilfswissenschaften eine wichtige Position innehatten, sowie durch den Aufbau einer diplomatischen Sammlung die quellenorientierte historische Forschung in der universitären Lehre bedeutend auf.112 Bei Gatterer, der selbst wichtige 112
Wolfgang Petke: Aus der Geschichte des Diplomatischen Apparats der Universität Göttingen (1808–2002), in: Göttinger Jahrbuch 50/2002, S. 123–148; Hans Götting: Geschichte des Diplomatischen Apparats der Universität Göttingen, in: Archivalische Zeitschrift 65/1969, S. 13–26.
1.6 Die Verortung der Hilfswissenschaften in frühneuzeitlichen Wissensfeldern
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hilfswissenschaftliche Forschungsbeiträge leistete, lässt sich in den 1760er Jahren auch erstmals die Begriffsprägung der «Historischen Hilfswissenschaften» nachweisen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts und zu Beginn des 19. Jahrhunderts erschienen nun vermehrt Handbücher, die die unter dem Begriff der „Hilfswissenschaften“ zusammengefassten Disziplinen als Bestandteil der Geschichtswissenschaft enzyklopädisch darstellten und damit die Wahrnehmung des behandelten Fächerkreises als eines einheitlichen wissenschaftlichen Feldes förderten. Die juristische Pertinenz dauerte aber häufig bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhundert an.113 In Österreich förderten im 17. und 18. Jahrhundert vor allem die geistlichen Institutionen hilfswissenschaftliche Forschungen. Angehörige der Ordensgeistlichkeit wurden im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts von den 113
Titelgebend erschienen die Historischen Hilfswissenschaften erstmals bei Johann Georg Feßmaier in seinem 1802 erschienenen wirkungsreichen „Grundriß der historischen Hilfswissenschaften“ (Landshut 1802). Vgl. Brandt: Werkzeug des Historikers, S. 9. Zur Geschichte der Historischen Hilfswissenschaften: Jean Leclant (Hrsg.): Dom Jean Mabillon, figure majeure de l’Europe des lettres. Actes des deux Colloques du Tricentenaire de la Mort de Dom Mabillon, Paris 2010; Theo Kölzer: Die Historischen Hilfswissenschaften – gestern und heute, in: Archiv für Diplomatik 54/2008, S. 205– 222; Anne-Marie Dubler: Art. Historische Hilfswissenschaften. Elektronische Version vom 18.12.2007, Historisches Lexikon der Schweiz, URL: http://www.hls-dhs-dss.ch/ textes/d/D8287.php. (Zugriff vom 11.05.2008); Johannes Burkart: Die Historischen Hilfswissenschaften in Marburg (17.–19. Jahrhundert) (elementa diplomatica 7), Marburg 1997; Frank Rexroth: Woher kommen die Historischen Hilfswissenschaften? Zwei Lesarten, in: Sabine Arend/Daniela Berger/Carola Brückner et al. (Hrsg.): Vielfalt und Aktualität des Mittelalters. Festschrift für Wolfgang Petke zum 65. Geburtstag, Bielefeld 2006, S. 541–557; Eckart Henning: Auxilia historica. Beiträge zu den Historischen Hilfswissenschaften und ihren Wechselbeziehungen, Köln 2000, bes. 12f.; Peter Rück: Erinnerung an Harry Bresslau (1848–1926) zum 150. Geburtstag, in: Erika Eisenlohr/ Peter Worm (Hrsg.): Fachgebiet Historische Hilfswissenschaften. Ausgewählte Aufsätze zum 65. Geburtstag von Peter Rück, Marburg an der Lahn 2000, S. 245–283; ders.: Historische Hilfswissenschaften nach 1945, in: ders. (Hrsg.): Mabillons Spur. Zweiundzwanzig Miszellen aus dem Fachgebiet für Historische Hilfswissenschaften der Philipps-Universität Marburg zum 80. Geburtstag von Walter Heinemeyer, Marburg an der Lahn 1992, S. 1–20; Rudolf Vierhaus: Die Universität Göttingen und die Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert, in: Hartmut Boockmann/ Hermann Wellenreuther (Hrsg.): Geschichtswissenschaft in Göttingen, Göttingen 1987, S. 9–29: 19f.; Gasnault: Les travaux d’érudition des Mauristes; Hammermayer: Die Forschungszentren der deutschen Benediktiner; Engel: Die deutschen Universitäten und die Geschichtswissenschaft, bes. S. 268–271; Karl Brandi: Zur Geschichte der historischen Hilfswissenschaften I: Die Ecole des Chartes zu Paris, in: Archiv für Urkundenforschung 17/1942, S. 319–328. Grundlegend nach wie vor: Harry Bresslau: Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien, Berlin/Leipzig 1889–1960, S. 11–45; Richard Rosenmund: Die Fortschritte der Diplomatik seit Mabillon vornehmlich in Deutschland-Österreich, München/Leipzig 1897, bes. 4–20; Wegele: Geschichte der Deutschen Historiographie, S. 756–772. In Bayern blieb die ältere pragmatische Form der Hilfswissenschaften bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts erhalten, in Preussen wurde sie bereits anfangs des Jahrhunderts aufgelöst. Engel: Die deutschen Universitäten und die Geschichtswissenschaft, S. 315, 321.
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1. Geschichte treiben: Agenturen, Kulturen, Akteure
monumentalen Quellenerschließungsarbeiten der französischen Maurinerkongregation angeregt. Besonders bedeutsam waren die Arbeiten von Bernhard und Hieronymus Pez in Melk und von Gottfried Bessel in Göttweig, deren Arbeiten im editorischen Feld sehr einflussreich waren. Gottfried Bessel schrieb 1732 mit dem „Chronicon Gotwicense“ zudem eine wichtige Abhandlung zur deutschen Herrscherdiplomatik und richtete als Abt in seinem Stift eine historische „Schule“ ein, in der hilfswissenschaftliche Studien betrieben wurden. Im 18. Jahrhundert fassten die historischen Hilfswissenschaften schließlich an den österreichischen Universitäten Fuß. Die Hilfswissenschaften waren dort im Vergleich zu den deutschen Ländern von Beginn an enger an die Geschichte als an die juristischen Fächer gebunden. Auf direkte Anregung Johann Christoph Gatterers, der vom Hofsekretär Johann Melchior von Birkenstock konsultiert worden war, wurde im Zug der zweiten theresianischen Studienreform in den Jahren 1773/74 die Errichtung von hilfswissenschaftlichen Lehrstühlen dekretiert. Dieser Studienplan wurde aber nur teilweise implementiert, denn einzig in Wien etablierte sich vorübergehend eine solche hilfswissenschaftliche Professur, die ab 1804 wieder vom allgemeingeschichtlichen Lehrstuhl mitbetreut wurde. Dies leuchtet ein, wenn man bedenkt, dass die österreichischen Universitäten bis 1848 kaum forschungsorientiert waren und es kein eigenständiges Geschichtsstudium gab. So fanden hilfswissenschaftliche Forschungen weiterhin vor allem in geistlichen Institutionen und an Einrichtungen des Hofes statt, so im Haus-, Hof- und Staatsarchiv und im kaiserlichen Münzkabinett.114 In der Schweiz wurden hilfswissenschaftliche Wissensbestände an den wenigen Hohen Schulen im 18. Jahrhundert nicht im Geschichtsunterricht, sondern vor allem – wenn auch nur in sehr beschränktem Umfang – im Rahmen des rechtswissenschaftlichen Lehrbereichs weitergegeben, sofern dieser vorhanden war. An der Universität Basel betätigten sich verschiedene Rechtsprofessoren des 17. und 18. Jahrhunderts als Antiquare, Numismatiker, Epigraphen und Editoren und lasen auch zu diesen Bereichen, während die Professoren auf dem 1659 errichteten Lehrstuhl für Geschichte hilfswissenschaftliche Themen nicht zu ihrem Aufgabenbereich zählten. Im frühen 19. Jahrhundert wurden am Politischen Institut in Zürich hilfswissenschaftliche Themen nur marginal im Rahmen des übergeordneten Bildungsziels unterrichtet, junge Männer der kantonalen Elite staatswissenschaftlich und juristisch zu bilden. Außerhalb der höheren Bildungsinstitutionen wurden
114
Härtel: Geschichte des Mittelalters und Historische Hilfswissenschaften, S. 129f.; Tropper: Urkundenlehre in Österreich, S. 26–35, 62–65; Herbert H. Egglmaier: Die Historischen Hilfswissenschaften – ihre lehramtliche Zielsetzung an den habsburgischen Universitäten bis um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: Reinhard Härtel (Hrsg.): Geschichte und ihre Quellen. Festschr. für Friedrich Hausmann zum 70. Geburtstag, Graz 1987, S. 275–288; Lhotsky: Geschichte des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, S. 14.
1.7 Hilfswissenschaftliche Rekonfigurationen im 19. Jahrhundert
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hilfswissenschaftliche Problemstellungen im 18. Jahrhundert vielfach im Rahmen einer antiquarischen Gelehrsamkeit bearbeitet, wie sie Mitglieder städtischer Eliten in Sozietäten betrieben. Diplomatische Interessen wurden dort häufig mit genealogischen und staatspolitischen Fragen und mit einer ausgedehnten Sammlungstätigkeit verbunden. In den Klöstern, die traditionell eine diplomatische Gelehrsamkeit entfalteten und Sammlungen und Editionen etablierten, wurde im Gegensatz zu Österreich allerdings kaum hilfswissenschaftliche Forschung betrieben, die von überlokaler Bedeutung gewesen wäre.115
1.7 Hilfswissenschaftliche Rekonfigurationen im 19. Jahrhundert Gleichzeitig mit der nur langsam und ungleichzeitig verlaufenden Inanspruchnahme von Diplomatik, Chronologie, Paläographie, Sphragistik, Numismatik, Heraldik und Genealogie als historische Fachbereiche im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert formierte sich die Geschichtswissenschaft auch als eigenständige Disziplin. Allerdings waren die historischen Hilfswissenschaften für die Verselbständigung der Disziplin an den deutschsprachigen Universitäten zunächst keineswegs formativ, was sich an der minimalen Bedeutung dieser Fachbereiche bei der Einrichtung von Lehrstühlen ablesen lässt. So stellte etwa Josef Engel für die deutschen Länder fest, dass die Lehrkanzeln mit Lehrbefugnissen im Bereich der Historischen Hilfswissenschaften bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts häufig abgeschafft und in allgemeinhistorische Lehrstühle umgewandelt wurden, was er als „notwendige[n] Akt der Selbstreinigung der Historie von allen Fremdkörpern“116 interpretierte. Tatsächlich muss aber eher davon ausgegangen werden, dass es sich bei der Entwicklung der historischen Fächerordnungen um eine Neuordnung älterer Wissenszusammenhänge handelte. Unter Hilfswissenschaften waren im 18. Jahrhundert und noch im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts die Hilfsdisziplinen aller möglichen weltgeschichtlichen Inhalte subsumiert worden. So bildeten die in Österreich 1774 dekretierten Hilfswissenschaften ein umfassendes Fächerkonglomerat, das nicht nur die später kanonisch gewordenen Hilfswissenschaften, sondern auch „Altertümer“, Mythologie, Geographie und Semiotik umfasste und längst nicht so stark mediävistisch ausgerichtet war wie die späteren Hilfswissenschaften. Dieses Fächerkonglomerat wurde an der Universität Wien 115
116
Landert-Scheuber: Das Politische Institut in Zürich, S. 102. Bonjour: Die Universität Basel, S. 289, 295. Zur Situation in Bern vgl. Im Hof/Bickel/Caroni et al. (Hrsg.): Hochschulgeschichte Berns 1528–1984, S. 711. Engel: Die deutschen Universitäten und die Geschichtswissenschaft, S. 315, 321.
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1. Geschichte treiben: Agenturen, Kulturen, Akteure
am Anfang des 19. Jahrhunderts am Lehrstuhl für Geschichte vertreten, dessen Inhaber sowohl Universal- und österreichische Staatengeschichte als auch historische Hilfswissenschaften vorzutragen hatte. In der Person des Professors Johann Nepomuk Kaiser überdauerte diese ältere Form der Hilfswissenschaften die Universitätsreform, denn Kaiser unterrichtete bis zu seinem Rücktritt 1861 weiterhin regelmäßig Diplomatik und Heraldik. Weil Kaiser keine Publikationen hinterließ und sich mit ausgesprochen kargen wissenschaftlichen Hilfsmitteln begnügen musste, ist anzunehmen, dass er nicht zur Festigung des hilfswissenschaftlichen Fachzusammenhangs beitrug.117 Im neuen Fächerverbund der reformierten philosophischen Fakultäten in Österreich wurde den historischen Hilfswissenschaften zunächst kein systematischer Ort im Fachgefüge zugewiesen. Ausschlaggebende Anstöße zu einer Neukonstituierung der hilfswissenschaftlichen Unterdisziplinen ereigneten sich vielmehr ab 1854 im institutionellen Rahmen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung und wirkten von dort aus auf den allgemeinen universitären Unterricht weit über Wien hinaus zurück.118 Wenn die historischen Hilfswissenschaften nun eine selbständige Vertretung erhielten, wurden sie – zumindest auf Lehrstuhlebene – fest an die Mittelaltergeschichte gebunden, während etwa Geographie und Mythologie ausgelagert wurden. In der Folge wurde die Spezialisierung „Geschichte des Mittelalters und historische Hilfswissenschaften“ in Österreich mehrfach lehrstuhlfähig. In diesem Rahmen richtete sich die methodisch-technische Ausbildung auf die historischen Hilfswissenschaften als Auxiliarwissenschaften der Mittelaltergeschichte aus. Viele Absolventen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung verfolgten ab den 1870er Jahren unter zunehmender Konkurrenz Hochschulkarrieren und boten als Privatdozenten spezialisierte hilfswissenschaftliche Themen an.119 Daneben wurde in Wien ein sehr 117
118 119
Härtel: Geschichte des Mittelalters und Historische Hilfswissenschaften, S. 128; Tropper: Urkundenlehre in Österreich, S. 62; Walter Höflechner: Die Vertretung der historischmediävistischen Hilfswissenschaften an der Universität Graz, in: Zeitschrift des Historischen Vereins der Steiermark 70/1979, S. 21–44. S. 22f.; Lhotsky: Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung in Österreich, S. 384. Zur Lehre in Wien vgl. die regelmäßigen Ankündigungen in den Vorlesungsverzeichnissen der Universität Wien, erstmals Sommersemester 1849/50, S. 13. Kaiser stand ihm etwa das bahnbrechende Grundlagenwerk der frühneuzeitlichen Diplomatik, Jean Mabillons „De re diplomatica“, nicht zur Verfügung. Lhotsky: Geschichte des Instituts, S. 52. So auch die Einschätzung von Höflechner: Die Vertretung der historisch-mediävistischen Hilfswissenschaften an der Universität Graz, S. 22. Härtel: Geschichte des Mittelalters und Historische Hilfswissenschaften, S. 132; Walter Höflechner: Zur Vertretung der historisch-mediävistischen Hilfswissenschaften von 1854 bis 1918 an der Universität Wien und an der Deutschen Universität Prag, in: Theo Kölzer/Franz Bornschlegel/Christian Friedl et. al. (Hrsg.): De litteris, manuscriptis, inscriptionibus . . . Festschr. zum 65. Geburtstag von Walter Koch, München 2007, S. 703– 711. Akademische Biographien der einzelnen Absolventen des Instituts finden sich bei Lhotsky: Geschichte des Instituts.
1.7 Hilfswissenschaftliche Rekonfigurationen im 19. Jahrhundert
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breites Spektrum altertumshistorischer Hilfswissenschaften unterrichtet. Die entsprechenden Veranstaltungen wurden allerdings zunehmend aus dem geschichtswissenschaftlichen Zusammenhang ausgegliedert und unter die neuen Fachzusammenhänge der Altertumswissenschaft und der Orientalistik subsumiert. An der Universität Zürich erfolgte der Ausbau der hilfswissenschaftlichen Subdisziplin nicht in der für Zürich bedeutsamen Ausbauphase der frühen 1870er Jahre, sondern erst ein Jahrzehnt später. In den 1880er Jahren wurden Privatdozenten Lehrbefugnisse mit einem explizit hilfswissenschaftlichen Teilauftrag erteilt.120 1892 wurden mit der Errichtung eines später zum Ordinariat aufgewerteten Extraordinariats für mittlere und neuere Geschichte und Hilfswissenschaften auf die Quelle gerichtete Techniken als Lehrbereich aufgewertet. Auch in Zürich wurden bei der Institutionalisierung der Hilfswissenschaften jetzt die nunmehr kanonisch gewordenen Subdisziplinen, allen voran Paläographie und Diplomatik, gelehrt. Die Stärkung der Hilfswissenschaften folgte damit inhaltlich und zeitlich einem auch an deutschen und anderen schweizerischen Universitäten verbreiteten Muster.121 Für beide institutionelle Kontexte lässt sich zusammenfassen, dass die historischen Hilfswissenschaften im Zug der disziplinären Differenzierung im 19. Jahrhundert eine neuartige Kanonisierung erfuhren. Sie wurden nicht als allgemeine Hilfsfächer der Quellenforschung überhaupt institutionalisiert, die sich gleichmäßig an alle sich nach inhaltlichen Kriterien ausdifferenzierenden Fächer angeschlossen hätten, sondern gingen eine enge Verbindung mit der Geschichte des Mittelalters ein. Diese Einengung ließe sich mit Blick auf das Institut für Österreichische Geschichtsforschung für Wien zunächst als Effekt des mittelalterzentrierten Curriculums des nationalen Instituts verstehen. Die gleichartige, wenngleich auch weniger ausgreifende Institutionalisierung der historischen Hilfswissenschaften in Zürich aber zeigt, dass diese Neuformierung des Faches Bestandteil einer übergreifenden Entwicklung war. Die umfassende Rekonfiguration der Hilfswissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die etwas später als im deutschsprachigen Raum auch in andern europäischen Ländern Fuß fasste, lässt sich daran ablesen, dass in der Zeit zwischen 1885 und 1914 ein umfangreiches Korpus an Handbüchern und Grundlagenwerken der historischen Hilfswissenschaften erschien, das bis heute die Basis hilfswissenschaftlichen Unterrichts darstellt.122 Während die Universität Zürich diese Entwicklungen curricular nur nachvollzog, waren Forscher im Umfeld des Wiener Instituts vor allem 120 121
122
Es handelte sich um die Privatdozenten Paul Schweizer (ab 1881) und Behrend Pick (ab 1888), der allerdings nur für kurze Zeit Antike Numismatik lehrte. Dubler: Historische Hilfswissenschaften; Weber: Priester der Klio, S. 134, Engel: Die deutschen Universitäten und die Geschichtswissenschaft, S. 314–317; Brunner: Die historischen Hilfswissenschaften. Rück: Zur Einhundertjahrfeier des Instituts (1894–1994), S. 286.
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1. Geschichte treiben: Agenturen, Kulturen, Akteure
im Bereich der Diplomatik wichtige Protagonisten dieser Rekonfiguration, wie im Kapitel 7 noch näher betrachtet werden soll. Dass das hilfswissenschaftliche Wissen auf diese mittelalterzentrierte, von den behandelten Quellen her verfassungs- und reichsgeschichtlich akzentuierte Weise rekonfiguriert wurde, hing erstens damit zusammen, dass die Erforschung des Mittelalters in beiden Kontexten die bestausgebaute Spezialisierung im Untersuchungszeitraum darstellte. Die Konzentration auf das Mittelalter wurde durch die Bedeutung der Mittelaltergeschichte für die nationalgeschichtlich angelegten Historiographien, im Fall Österreichs auch durch die „ideologische Bindung an die deutsch-italienische Reichsachse“123 und durch die großangelegten mediävistischen Editionsprojekte unterstützt. Zweitens ist diese Festschreibung als Resultat von Veränderungen in der Ökologie der sich entwickelnden wissenschaftlichen Disziplinen zu sehen: Denn umfassende, im weiteren Sinn des 18. Jahrhunderts hilfswissenschaftliche Bereiche spalteten sich in neue disziplinäre Gebilde ab, die sich nun nicht unmittelbar oder ausschließlich mit der Geschichtsforschung verbanden und eigene Vermittlungsweisen kannten. Kunstgeschichte, Geographie und Archäologie verfestigten sich etwas später als die Geschichte als eigene Fächer oder in neuen Fächerverbünden wie etwa den Altertumswissenschaften. Drittens lässt sich die Verengung der Hilfswissenschaften auch mit der inhaltlichen Ausrichtung der Geschichtswissenschaft im Zeitraum ihres disziplinären Ausbaus in Verbindung bringen. Bereits auf der Ebene der disziplinären Differenzierung wurden all jene materiellen Überreste aus dem Fokus des historischen Quellenblicks entfernt, die nicht im Zentrum der stark politik-, staats-, rechts- und verfassungsgeschichtlichen Ausrichtung der Geschichtswissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts standen. Für die Forschungsvermittlung bedeutete dies, dass vorwiegend Fragestellungen der Quellenbearbeitung behandelt wurden, die sich auf bevorzugte Quellentypen wie etwa Urkunden, Inschriften, Chroniken, Siegel und Münzen bezogen. Bestimmte technische Aspekte der Quellenarbeit rückten in der Diplomatik, Paläographie, Chronologie, Genealogie und andern Hilfswissenschaften selektiv in den Vordergrund, konnten gleichsam abgelöst von allgemeineren Fragestellungen studiert werden und luden zu einer großen Spezialisierung ein. Dies erklärt wenigstens zum Teil, weshalb die stark quellenzentrierte Spezialisierung im Mittelalterbereich, mit der die Geschichte der Neuzeit im Untersuchungszeitraum nicht Schritt halten konnte, so lange anhielt und institutionell auf Dauer gestellt wurde. Über einzelne hilfswissenschaftliche Fachfragen hinausgehende Probleme der Quellenbearbeitung und allgemeine methodologische Überlegungen hingegen blieben weiterhin auf den allgemeinen historischen Unterricht beschränkt.
123
Vgl. Rück: Erinnerung an Harry Bresslau, S. 252.
2. Von den Historien zum Speicher: Die universitäre Vermittlung Um 1850 vertrat der Wiener Geschichtsprofessor und spätere österreichische Unterrichtsrat Albert Jäger die Ansicht, dass der Geschichtsunterricht an der Universität sich nicht auf die historische Forschung ausrichten solle. Er verfolgte in seinem Unterricht wie auch als Universitätspolitiker die Meinung, „Quellenforschung und die Production von auf Quellenforschung gebauten Arbeiten gehöre für eine andere Kategorie von weiterstrebenden jungen Männern“1 , und beharrte vielmehr auf den berufspraktischen Ausbildungszielen des universitären Geschichtsunterrichts. Einundvierzig Jahre später kritisierte Jägers Nachfolger Ottokar Lorenz dagegen die forschungsfixierten Zugänge seiner Kollegen: „Es war soweit gekommen, daß der Begriff der Geschichtsschreibung fast gänzlich aufgegeben wurde, alles war nur ,Quelle‘.“ Im universitären Geschichtsunterricht habe sich ein Wahrheitsverständnis etabliert, in dem „historische Wahrheit“ mit „Quellenwahrheit“ und „kritischer Wahrheit“ gleichgesetzt und die Interpretationsleistung von Historikern zu wenig reflektiert werde.2 Diese gegenläufigen Einschätzungen stehen in kontroversen fachpolitischen Zusammenhängen und geben nur indirekt Einblick in die Praxis des Hochschulunterrichts. Sie verweisen aber auf substanzielle Verschiebungen in der Wahrnehmung der Forschungsdimension im universitären Unterricht. Dass Geschichte sich im 19. Jahrhundert als wissenschaftliche Disziplin unter anderem über die Aufwertung und Verselbständigung der historischen Forschungsverfahren autonom stellte, ist ein Befund, über den sich die historiographiegeschichtliche Forschung einig ist.3 Während die pro1 2 3
Albert Jäger: Graf Leo Thun und das Institut für österreichische Geschichtsforschung, in: Österreichisch-Ungarische Revue NF 8/1889. S. 1–22: S. 9f. Ottokar Lorenz: Die Geschichtswissenschaft in Hauptrichtungen und Aufgaben kritisch erörtert [Bd. 1], Berlin 1886, S. 292f. Vgl. Ulrich Muhlack: Geschichtsschreibung als Geschichtswissenschaft, in: Küttler/Rüsen/ Schulin (Hrsg.): Geschichtsdiskurs. Band 3, S. 67–89: 69–72; Jaeger/Rüsen: Geschichte des Historismus, bes. S. 48f., 67–69; Horst Walter Blanke: Historiographiegeschichte als Historik, Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, S. 273–282; Hardtwig: Geschichtskultur und Wissenschaft, bes. S. 91; Hans-Jürgen Pandel: Historik und Didaktik. Das Problem der Distribution historiographisch erzeugten Wissens in der deutschen Geschichtswissenschaft von der Spätaufklärung zum Frühhistorismus (1765–1830), Stuttgart/Bad Cannstatt 1990, S. 291; Muhlack: Von der philologischen zur historischen Methode, S. 165; Horst Walter Blanke: Aufklärungshistorie, Historismus und historische Kritik. Eine Skizze, in: ders./Jörn Rüsen (Hrsg.): Von der Aufklärung zum Historismus: Zum Strukturwandel historischen Denkens, Paderborn etc. 1984, S. 167–186:S. 175f.; Rüsen, Jörn/Schulze,Winfried: Historische Methode, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer/ Gottfried Gabriel (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, Basel 1980,
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2. Von den Historien zum Speicher: Die universitäre Vermittlung
grammatischen Aussagen aus den wichtigsten methodologischen Werken der Zeit untersucht worden sind, erhielt die Praxis des Hochschulunterrichts hingegen bisher wenig Aufmerksamkeit.4 Zwar erschienen im letzten Drittel
4
S. 1345–1355; Wolfgang Hardtwig: Konzeption und Begriff der Forschung in der deutschen Historiographie des 19. Jahrhunderts, in: Alwin Diemer (Hrsg.): Konzeption und Begriff der Forschung in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts, Meisenheim 1978, S. 11–26. Methodologien: Helmuth G. Walther: Droysens „Historik“ und der Positivismus des deutschen Historismus. Die Quellensystematik in Droysens Historik-Vorlesungen und in Ernst Bernheims „Lehrbuch der historischen Methode“, in: Klaus Ries (Hrsg.): Johann Gustav Droysen. Facetten eines Historikers, Stuttgart 2010, S. 43–56; Wolfgang Nippel: Johann Gustav Droysen. Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik, München 2008, S. 219–238; Torstendahl, Rolf: Fact, Truth, and Text. The Quest for a Firm Basis for Historical Knowledge around 1900, in: History and Theory 42/2003, S. 305–331; Hans Schleier: Ernst Bernheims Historik in seinem „Lehrbuch der historischen Methode“, in: Wolfgang Küttler (Hrsg.): Das lange 19. Jahrhundert. Personen, Ereignisse, Ideen, Umwälzungen, Ernst Engelberg zum 90. Geburtstag, Berlin 1999, S. 275–292; ders.: Ranke in the Manuals on Historical Methods of Droysen, Lorenz, and Bernheim, in: Georg G. Iggers/J. M. Powell (Hrsg.): Leopold von Ranke and the Shaping of Historical Discipline, Syracuse, NY 1990, S. 111–12; ders.: Geschichtstheorie und Geschichtsschreibung bei Leopold von Ranke, in: Wolfgang J. Mommsen (Hrsg.): Leopold von Ranke und die moderne Geschichtswissenschaft, Stuttgart 1988, S. 115–130; Thomas Nipperdey: Zum Problem der Objektivität bei Ranke, ebd., S. 215–222. Allg. zur Entwicklung des geschichtswissenschaftlichen Hochschulunterrichts im deutschsprachigen Raum: Manhart: In den Feldern des Wissens; Lingelbach (Hrsg.): Vorlesung, Seminar, Repetitorium; Lingelbach: Klio macht Karriere; Middell (Hrsg.): Historische Institute; Bernhard vom Brocke: Wege aus der Krise. Universitätsseminar, Akademiekommission oder Forschungsinstitut, Formen der Institutionalisierung in den Geistes- und Naturwissenschaften 1810 – 1900 – 1995, in: König/ Lämmert (Hrsg.): Konkurrenten in der Fakultät, S. 191–215; Christian Simon: Staat und Geschichtswissenschaft in Deutschland und Frankreich 1871–1917. Situation und Werk von Geschichtsprofessoren an den Universitäten Berlin, München, Paris, Bern 1988; Weber: Priester der Klio. Historische Seminare: William Clark: Academic Charisma and the Origins of the Research University, Chicago 2006, S. 141–183; ders.: On the Dialectical Origins of the Research Seminar, in: History of Science 27/1989, S. 111–154; HansJürgen Pandel: Die Entwicklung der historischen Seminare in Deutschland, in: Werner Freitag (Hrsg.), Halle und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Halle 2002, S. 25–36; Silvia Paletschek: Duplizität der Ereignisse: Die Gründung des Historischen Seminars 1875 an der Universität Tübingen und seine Entwicklung bis 1914, ebd., S. 37– 64; Markus Meumann: Koordinaten im Kaiserreich. Die Gründung des Historischen Seminars 1875 und das Wirken Gustav Droysens (1838–1908), ebd., S. 123–135; Markus Huttner: Historische Gesellschaften und die Entstehung historischer Seminare – zu den Anfängen institutionalisierter Geschichtsstudien an den deutschen Universitäten des 19. Jahrhunderts, in: Middell/Lingelbach/Hadler (Hrsg.): Historische Institute im internationalen Vergleich, S. 39–84; Smith: Gender and the Practices of Scientific History. The Seminar and Archival Research in the Nineteenth Century, in: American Historical Review 100/1995, S. 1150–1176; Hans-Jürgen Pandel: Von der Teegesellschaft zum Forschungsinstitut. Die historischen Seminare vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Kaiserreichs, in: Horst-Walter Blanke (Hrsg.): Transformation des Historismus. Wissenschaftsorganisation und Bildungspolitik vor dem ersten Weltkrieg, Interpretationen und Dokumente, Waltrop 1994, S. 1–31. Zu Österreich und der Schweiz: Fellner: Geschichte als Wissenschaft, S. 174–177; Höflechner: Forschungsorganisation und Metho-
2.1 Die frontale Vermittlung des Quellenblicks
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des 19. Jahrhunderts zunehmend Handbücher für historische Spezialgebiete, Quellenkunden und Lehrbücher, so dass man in diesem Zusammenhang von einer Standardisierung der Disziplin sprechen kann.5 Die beginnende disziplinäre Kanonisierung bietet jedoch nur begrenzt Aufschluss über die tatsächlich vermittelten Praktiken und Konzepte, weshalb diese vielmehr über administratives Schriftgut, Unterrichtsmaterialien und Selbstdarstellungen erschlossen werden müssen. Analysiert man die universitäre geschichtswissenschaftliche Lehre auf die in ihr geleistete Forschungsvermittlung hin, eröffnet sich die Möglichkeit, in andern Kontexten implizit bleibende Grundannahmen und Praktiken des Umgangs mit Quellen zu untersuchen. Dabei sollen für die beiden Hochschulstandorte Zürich und Wien die eingesetzten Lernformen diskutiert (Kapitel 2.1 und 2.2) und die Wissensbestände sowie die Praktiken und Konzepte der Forschung untersucht werden (Kapitel 2.3 bis 2.5), die unterrichtet wurden. Sie bildeten das oft implizit bleibende, als selbstverständlich erachtete Unterfutter der Geschichtsforschung der Zeit. Wie sich am Beispiel von Konflikten um neuartige Subdisziplinen zeigen lässt (Kapitel 2.6 und 2.7), konnte die Quellenorientierung des Unterrichts in der zweiten Hälfte des Untersuchungszeitraums überdies als wichtiges Abgrenzungskriterium geschichtswissenschaftlicher Fachlichkeit angerufen werden.
2.1 Die frontale Vermittlung des Quellenblicks Vorlesungen oder Kollegien, die meistverbreiteten Lehrformen an den Universitäten, die in wöchentlich bis zu vier ein- oder zweistündigen Einheiten unterrichtet wurden, stellten grundsätzlich eine Einwegkommunikation zwischen Hochschullehrern und ihren Studenten her. Die Vorbereitung der Vorlesungen war für die Lehrenden sehr zeitaufwendig, sehr oft wurden diese Veranstaltungen deshalb immer wieder rezykliert und ergänzt. Sie stellten für die Studierenden eine vorwiegend rezeptive Lernsituation dar, die oft durch die Reinschrift der Vorlesungsnotizen nachbereitet wurde. Die in den Kollegien gelehrten Themenbereiche waren überwiegend politik- und ereignisgeschichtlich ausgerichtet und orientierten sich in den meisten Fällen an epochalen, geographischen und staatlichen Einheiten und nicht an
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den der Geschichtswissenschaft, S. 232–235; Oberkofler/Goller: „Also soweit als möglich lebe ich in der Vergangenheit“, S. 46–58, bes. 50f.; Ernst Kirchshofer: Geschichte des Philologisch-Historischen Seminars an der Universität Wien 1849–1900, Diss. 16572, Universität Wien 1948; Feller/Bonjour: Geschichtsschreibung der Schweiz, Bd. 2, S. 574– 577; Feller: Hundert Jahre, S. 42f., 52, 54. Blanke: Historiographiegeschichte als Historik, S. 385–387.
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2. Von den Historien zum Speicher: Die universitäre Vermittlung
forschungs-, problem- oder methodenorientierten Fragen.6 Daneben etablierten sich jedoch zunehmend quellenfokussierte, das heißt quellenkundliche und hilfswissenschaftliche Vorlesungen, in denen die Forschungsdimension stärker im Zentrum stand. An der Universität Wien profilierte sich die Österreichische Geschichte am stärksten mit quellennahem Unterricht. Bereits der erste Professor auf dem Lehrstuhl, Albert Jäger, hielt wie sein Nachfolger Ottokar Lorenz regelmäßig quellenkundliche Vorlesungen ab. Auch die meisten späteren auf österreichische Geschichte spezialisierten Professoren boten regelmäßig Überblicke über nationalhistorisch relevante Quellenbestände. Diejenigen Professoren, die sich nicht auf österreichische Geschichte spezialisierten und auch nicht am Institut für Österreichische Geschichtsforschung affiliiert waren, boten dagegen in der Regel deutlich weniger, häufig auch gar keine quellenkundliche Kollegien an.7 Durch die starke Präsenz des Instituts für österreichische Geschichtsforschung für wurde auf dem Platz Wien die Weitergabe von hilfswissenschaftlich spezialisiertem Quellenwissen bereits seit den frühen 1850er Jahren zu einem wichtigen Bestandteil des Vorlesungsangebots. Neben Albert Jäger wurde 1857 Theodor Sickel berufen, der eine breite Palette hilfswissenschaftlicher und quellenkundlicher Themen las. Als die Universität ab den 1880er Jahren verschiedene Lehrstühle mit der Spezialisierung auf Geschichte des Mittelalters in Kombination mit Historischen Hilfswissenschaften errichtete, wurde dieses Vorlesungsangebot und damit auch die einschlägige Spezialisierung durch diejenigen Professoren ausgebaut, die neben der Universität auch am Institut affiliiert waren. Zwar zielten diese Vorlesungen auf die
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Alle im Folgenden genannten Veranstaltungsbezeichnungen der Universität Wien, des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung und der Universität Zürich stammen aus: Öffentliche Vorlesungen an der k. k. Universität zu Wien im Sommersemester 1848ff., Wien 1848–; Verzeichniss der Vorlesungen an der Hochschule Zürich, Zürich 1833–. Albert Jäger: erstmals „Über die Literatur der österreichischen Geschichte“, Sommersemester 1857, S. 18; Lorenz bot neben andern quellenkundlichen Vorlesungen ab 1863 eine quellenkundliche Standardvorlesung an: „Über einige Quellen und Geschichtsschreiber der deutschen Kaiserzeit“, erstmals Sommersemester 1863, S. 21; ab 1866 regelmäßig unter dem Titel „Über deutsche Geschichtsquellen des Mittelalters“, erstmals Sommersemester 1866, S. 23. Heinrich von Zeissberg: „Quellenkunde der österreichischen Geschichte im Mittelalter“, erstmals Wintersemester 1874/75, S. 33. Alfons Dopsch: „Quellenkunde der österreichischen Geschichte“, erstmals Wintersemester 1898/99, S. 46. Alfons Huber, der 1887 für allgemeine und österreichische Geschichte berufen wurde, bot keine rein quellenkundliche Vorlesung, ebenso der kaum forschungsorientierte, 1899 für österreichische Geschichte berufene Josef Hirn. Wilhelm Heinrich Grauert, Max Büdinger und August Fournier verzichteten auf diese Veranstaltungsform; lediglich Grauerts Nachfolger Joseph Aschbach hielt vereinzelt quellenkundliche Vorlesungen ab. Heinrich Kretschmayrs und Gustav Turbas Vorlesungen im Fach „Österreichische Reichs- und Staatengeschichte“, das sich vor allem an Jusstudenten richtete, waren nicht forschungsorientiert. Auch Victor Bibl beschränkte sich auf rein sachbezogene Vorlesungen.
2.1 Die frontale Vermittlung des Quellenblicks
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Institutsmitglieder ab, sie waren in der Regel8 aber auch andern Studierenden zugänglich.9 Eine ebenfalls ausgesprochen starke Betonung quellenkundlicher Themen lässt sich ab den 1880er Jahren für diejenigen Professoren beobachten, die neue Spezialisierungen etablierten; vor allem die Neue Geschichte wurde so ausgebaut, aber auch in den Bereichen osteuropäische Geschichte, Wirtschafts- und Verfassungsgeschichte kamen quellenkundliche Vorlesungen zum Zug.10 Auch die Professoren für die Geschichte des Altertums und des Orients, welche in Wien sehr bedeutende Arbeitsschwerpunkte aufbauten und sich mit diesen Spezialisierungen zunehmend vom allgemeinen Fachbereich Geschichte abkoppelten, boten eine Vielfalt quellenzentrierter Vorlesungen an. Die Privatdozenten, die anfänglich wenig Wert auf solche Unterrichtseinheiten gelegt hatten, begannen sich nun ebenfalls quellenkundlich zu profilieren. Viele von ihnen hatten am Institut für Österreichische Geschichtsforschung studiert und spezialisierten sich nun auf die Kombination aus Geschichte des Mittelalters und Historischen Hilfswissenschaften oder auf die Geschichte der Neuzeit.11 8
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Während von 1883 an die alle zwei Jahre gelesene Archivkundevorlesung offenbar allen offenstand, hieß es 1891 im Vorlesungsverzeichnis vorübergehend: „nur für IfÖGMitglieder“, Sommersemester 1891, S. 60. Albert Jäger: „Über mittelalterliche Paläographie“, erstmals Sommersemester 1855, S. 18.Theodor Sickel bot regelmäßig Vorlesungen in Diplomatik und Paläographie, daneben auch in Chronologie. Engelbert Mühlbacher las ab 1881 regelmäßig über Urkundenlehre, Paläographie, Sphragistik, Archiv- und Quellenkunde. Oswald Redlich las ab 1894 über Quellenkunde, Urkundenlehre, Chronologie, Archivkunde, Sphragistik und Heraldik, Emil von Ottenthal las ab 1904 Urkundenlehre und lateinische Paläographie. Hans Hirsch bot hilfswissenschaftliche und quellenkundliche Vorlesungen an, die sich teilweise mit Übungen verbanden. Erstmals: „Grundriss der lateinischen Paläographie (mit Übungen) “, Wintersemester 1909/10, S. 54. Beispiele: Hans Übersberger: „Quellenkunde zur russischen Geschichte“, Sommersemester 1913, S. 51. Wilhelm Bauer: erstmals „Die Zeitung, ihre Geschichte und ihre Bedeutung als historische Quelle der Neuzeit“, Sommersemester 1909, S. 49, und weitere quellenkundliche Vorlesungen. Ludo Moritz Hartmann: z. B. „Quellenkunde der spätrömischen Zeit“, Wintersemester 1899/1900, S. 44. Eine frühe Ausnahme bildete Beda Dudík: erstmals „Über die Würdigung und praktische Benützung der Quellen zur mittleren Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Chronisten Böhmens und Mährens“, Sommersemester 1855, S. 18; „Praktische Anleitung zur Benützung der Quellen der mittleren Geschichte“, Wintersemester 1855/56, S. 18. Ludwig von Zitkovsky und Adalbert Horawitz lehrten um 1870 beide selten quellenkundliche Themen. Dagegen boten die späteren Privatdozenten eine Vielfalt hilfswissenschaftlicher und quellenkundlicher Themen an, neben den später zu Professoren beförderten Mühlbacher, Redlich, Ottenthal Hirsch und Ludo Moritz Hartmann waren dies sukzessive Franz Kürschner, Carl Rieger, Sigmund Herzberg-Fränkel, Karl Uhlirz, Michael Tangl und Samuel Steinherz. Um 1900 veranstalteten darüber hinaus die meisten der anderweitig spezialisierten Privatdozenten solche Vorlesungen, so etwa Wilhelm Erben, Ludwig Bittner, Harold Steinacker in den Bereichen Kriegsgeschichte, Geschichte der Diplomatie, Mittelaltergeschichte, österreichische Geschichte.
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2. Von den Historien zum Speicher: Die universitäre Vermittlung
Wie in Wien kamen quellenkundliche Vorlesungen auch an der Universität Zürich über den ganzen Untersuchungszeitraum hinweg besonders ausgiebig am Lehrstuhl für Schweizer Geschichte zum Zug: Johann Jakob Hottinger, nach der Gründung der Universität Zürich 1833 Inhaber des Lehrstuhls für Schweizer Geschichte, bot in seinen Vorlesungen quellenkundliche Schwerpunkte. Sein Nachfolger Georg von Wyss veranstaltete unter dem Titel „Literatur der Schweizergeschichte“ eine äußerst erfolgreiche Überblicksvorlesung, die von seinem Nachfolger Wilhelm Oechsli weiterentwickelt wurde. Im Bereich der allgemeinen Geschichte hingegen erfolgte keine solche kontinuierliche Ausrichtung auf quellenkundliche Inhalte; hier kündigten Lehrstuhlinhaber in der Zeit bis 1880 nur sporadisch quellenkundliche Vorlesungen an. Auch die älteren Privatdozenten ließen sich nur selten auf quellenzentrierte Vorlesungsthemen ein.12 Diese Konstellation wurde in den 1880er Jahren aufgebrochen, als die Hilfswissenschaften an der Universität Zürich institutionalisiert wurden. Paul Schweizer und Behrendt Pick boten seit 1881 hilfswissenschaftliche und quellenkundliche Vorlesungen an. Zeitgleich mit dieser hilfswissenschaftlichen Spezialisierung begannen auch Privatdozenten in anderen Bereichen vermehrt quellenkundliche Aspekte in ihre Vorlesungen einzubeziehen. Typisch für diese erhöhte Integration der Forschungsperspektive ist die Lehre des Wirtschaftshistorikers Georg Caro um die Jahrhundertwende. Seine Veranstaltungen spiegeln eine erhöhte fachliche Spezialisierung und eine stärkere explizite Berücksichtigung quellenbezogener Forschungsfragen.13 12
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Johann Jakob Hottinger: Unter anderem „Anleitung zur Kenntniss der Quellen für Schweizerische Geschichte und Landeskunde“, Wintersemester 1835/36, S. 11. Wyss’ Manuskript diente seinen Schülern, die an der Abfassung nationalgeschichtlicher Synthesen arbeiteten, als Kompendium der historiographischen Quellen und erschien nach seinem Tod in Buchform: Wyss: Geschichte der Historiographie in der Schweiz. Wilhelm Oechsli: „Quellen zur Schweizergeschichte“, Erstmals Sommersemester 1907, S. 18. Dagegen las der außerordentliche Professor für Schweizergeschichte Carl Dändliker nur einmal explizit über Quellenkunde. Die Vertreter der Allgemeinen Geschichte Theodor Mittler und Wilhelm Adolf Schmidt veranstalteten jeweils nur zweimal eine solche Veranstaltung. Max Büdinger verzichtete auf quellenkundliche Vorlesungen. Auch dessen Nachfolger Gerold Meyer von Knonau und Johann Jakob Müller lasen nur vereinzelt über quellenkundliche Themen. Von den älteren Privatdozenten boten Hans Conrad Ott und Franz Pipitz in den 1840er Jahren und Heinrich Vögeli in den 1850er und 1860er Jahren quellenkundliche Vorlesungen an. Erstmals „Über Leben und Werke berühmter Geschichtsschreiber“, Wintersemester 1897/98, S. 13; daneben unter anderem auch „Quellenkunde der Wirtschaftsgeschichte“, erstmals Sommersemester 1909, S. 19. Weitere Beispiele: Otto Henne-Am Rhyn: „Grenzen, Gesetze, Quellen und Literatur der Culturgeschichte“, Wintersemester 1882/83, S. 9; Johannes Häne: „Das Wehr- und Kriegswesen in der alten schweizerischen Eidgenossenschaft“, erstmals Wintersemester 1900/1901, S. 14; Gustav Billeter: „Erklärung wirtschaftsgeschichtlicher Quellen in der römischen Rechtsliteratur“, Sommersemester 1909, S. 19; Eduard Fueter: „Geschichte der Historiographie seit der Renaissance“, erstmals Wintersemester 1907/08, S. 18.
2.1 Die frontale Vermittlung des Quellenblicks
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Sowohl in Wien als auch in Zürich begannen Hochschuldozenten ab den 1880er Jahren außerdem, auf ihre fachliche Ausrichtung abgestimmte, eigentliche Lehrprogramme anzubieten, die neben den üblichen Vorlesungen (und zunehmend auch Übungen) propädeutische und methodologische Ausführungen einbezogen. In Wien brachten als erste Engelbert Mühlbacher und Alfons Huber, die sich als Schüler des Innsbrucker Reichs- und Rechtshistorikers Julius Ficker auf dessen Vorarbeiten stützen konnten, regelmäßig methodologische Veranstaltungen ins Vorlesungsangebot ein.14 Auch ihr Schüler Alfons Dopsch bot eine Reihe allgemein- und wirtschaftshistorischer Vorlesungen zur Geschichtswissenschaft, die propädeutisch ausgerichtet waren. Der Wirtschaftshistoriker Ludo Moritz Hartmann vertrat seine Forschungsausrichtung in einem umfassenden Unterrichtsprogramm, zu dem neben quellenkundlichen Vorlesungen, historischen Übungen und mit Übungen verbundenen Einführungen in das Geschichtsstudium auch theoretische Vorlesungen zur historischen Soziologie und zum Entwicklungsgedanken in der Geschichte gehörten. Auch die Vertreter anderer neuer Fachausrichtungen wie hilfswissenschaftlicher Spezialisierungen boten nun zahlreiche „Einführungen“ und „Einleitungen“ an.15 An der Universität Zürich gingen gleichzeitig auch Privatdozenten und Extraordinarien dazu über, ihre Veranstaltungen nach Anforderungsgraden zu stufen und methodologisch einzubetten. Besonders ausgereift war zum Beispiel Georg Caros Lehrangebot, der eine programmatische Palette an wirtschafts- und sozialgeschichtlichen, mit Übungen und methodologischen Ausführungen ergänzte Einführungsveranstaltungen entfaltete. Dieser Trend wie auch die wachsenden propädeutischen Angebote der Ordinarien16 14
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Engelbert Mühlbacher: Erstmals „Anleitung zur historischen Kritik, I. Geschichtsschreiber“, Wintersemester 1881/82, S. 41; „Anleitung zur historischen Kritik, II. Verwandtschaft der Quellen, Emendation, Edition“, Sommersemester 1882, S. 38; regelmäßig weitere Vorlesungen unter den Titeln „Methodik der Geschichtswissenschaft“, „Historische Kritik“, „Methodologie der Geschichtsforschung“. Huber: „Anleitung zur Historischen Forschung“, erstmals Wintersemester 1888/89, S. 46. Alfons Dopsch: „Einführung in die Geschichte als Wissenschaft“, erstmals Wintersemester 1895/96, S. 63; „Einleitung in die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“, erstmals Wintersemester 1910/11, S. 52. Ludo Moritz Hartmann: „Über historische Entwicklung“, Sommersemester 1892, S. 64; „Einleitung in eine historische Sociologie“, Sommersemester 1895, S. 56; dann neben anderen methodologisch-theoretischen Vorlesungen auch die ab 1903 regelmäßig angebotene „Einführung in das Studium der Geschichte“, die Hartmann teilweise mit Übungen kombinierte, erstmals Wintersemester 1903/04, S. 46. Karl Uhlirz: „Bibliothekslehre und Einleitung in die Bibliographie“, erstmals Wintersemester 1888/89, S. 47. Hans Uebersberger: „Einführung in das Studium russischer Geschichte und ihrer Quellen“. Wintersemester 1907/08, S. 50. Karl Kaser: „Einführung in das Studium der Quellen zur neueren Geschichte“. Wintersemester 1907/08, S. 50. Samuel Steinherz: „Einführung in die österreichische Münzgeschichte“, Sommersemester 1886, S. 58; „Einführung in die Münzgeschichte des Mittelalters“, Wintersemester 1897/98, S. 45. Georg Caro: „Einleitung in die Geschichtswissenschaft“, erstmals Sommersemester 1897,
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2. Von den Historien zum Speicher: Die universitäre Vermittlung
spiegeln nicht nur eine curriculare Differenzierung der Veranstaltungen nach Schwierigkeitsgraden. Zusammen mit dem Ausbau quellenkundlicher Vorlesungen zeugen sie auch von einer Tendenz, die eigenen Fachgebiete historiographisch auszuleuchten, systematische Überblicke zu liefern und Anfänger mit Forschungsgrundlagen bekannt zu machen. Die wachsende Anzahl methodologischer Veranstaltungsbezeichnungen verweist darüber hinaus auf einen erhöhten fachlichen Erklärungsbedarf grundlegender geschichtswissenschaftlicher Arbeitskonzepte. Es scheint, dass Forschungszugänge – bedingt durch die fortschreitende Spezialisierung und die Entwicklung von Fachrichtungen, die von der Politikgeschichte abwichen – nun explikationsbedürftiger wurden. Nichtordinarien konnten damit offenbar auch thematische Nischen besetzen. Die Einführung von Propädeutiken verweist zudem auf eine Problematisierung der wenig strukturierten Studienverläufe und ist darüber hinaus zumindest für Wien mit den veränderten Studienbedingungen an der Universität in Verbindung zu bringen. Das exponentielle Wachstum der Studentenzahlen in diesem Zeitraum brachte Großveranstaltungen hervor, die gerade bei Übungen die Lernmöglichkeiten minimierten.17
2.2 Dialogische Vermittlungsformen Dialogische, partizipativere Lernformen ergänzten im Lauf des Untersuchungszeitraums den Frontalunterricht der Vorlesungen in zunehmend vielfältiger Weise. Neben den Repetorien und Konversatorien, die historischen Stoff überwiegend in aufbereiteter Form thematisierten und häufig Vorlesungen ergänzten, wurden auch Übungen – meist als „Quellenlektüren“ oder „kritische Übungen“ bezeichnet – angeboten, die sich auf die Vermittlung von Forschungswissen konzentrierten. Diese Veranstaltungsformen hatten verschiedene Vorläufer in frühneuzeitlichen Akademien,
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S. 12; „Einleitung in die Geschichtswissenschaft (Grundbegriffe und Methodenlehre)“, erstmals Sommersemester 1909, S. 19; „Einführung in die antike Wirtschaftsgeschichte mit Erklärung ausgewählter Quellen“, Sommersemester 1901, S. 14. Gerold Meyer von Knonau: „Einführung in die Kritik mittelalterlicher Geschichtsquellen an ausgewählten Beispielen“, Sommersemester 1871, S. 10. Salomon Vögelin: „Einleitung in die Culturgeschichte“, Wintersemester 1886/87, S. 10; „Einleitung in die allgemeine Culturgeschichte“, Sommersemester 1887, S. 11. Johann Jakob Müller: „Historische Einleitung in die Politik der Gegenwart“, Wintersemester 1877/78, S. 10. Das Aufkommen propädeutischer Veranstaltungen lässt sich in der Zeit vor 1870 noch nicht beobachten. Vgl. Oswald Redlich und Josef Hirn an das Ministerium für Cultus und Unterricht, 19.03.1900, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasc. 693, 8198/1900, fol. 3–5, hier 4r.
2.2 Dialogische Vermittlungsformen
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Universitäten und wissenschaftlichen Sozietäten.18 Ihre Aufwertung an den Universitäten wurde bisher vor allem im Zusammenhang mit der Etablierung der Organisationsform des Seminars untersucht: Seminare gelten in der Institutionengeschichte der Wissenschaften gemeinhin als Zeichen des Wandels von der älteren Form der „Vorlesungsuniversität“ zur forschungsorientierten „Arbeitsuniversität“ und damit als Indikatoren wissenschaftlicher Innovation.19 Tatsächlich wurden dialogisch angelegte Unterrichtsformen, die zunächst der Initiative einzelner Dozenten überlassen gewesen waren, im Wiener und im Zürcher Seminar, die beide in der mittleren Phase der Seminargründungswelle in den deutschsprachigen Ländern entstanden,20 verstetigt. Ein näherer Blick auf die Entstehungsbedingungen und die Unterrichtsziele der beiden Historischen Seminare zeigt allerdings, dass diese nicht das ganze Spektrum quellenorientierter, dialogischer Übungen abdeckten und dass die Organisationseinheit des Seminars verschiedene Ausbildungsziele bündelte, die sich keineswegs auf die historische Forschung beschränkten. „Seminar“ bezeichnete denn auch zunächst nur die spezifische Organisationseinheit des historischen Seminars, nicht aber die Lehrform forschungsorientierten Unterrichts,21 die Bezeichnung wurde nur selten verkürzend für Übungen innerhalb des historischen Seminars verwendet. In Wien wurde im Jahr nach der Universitätsreform 1850 ein PhilologischHistorisches Seminar errichtet, um die Grundlage für die Ausbildung von Gymnasiallehrern zu schaffen. Die Ausrichtung auf die Quellenforschung wurde hier gerade vermieden: Der seminaristische Unterricht blieb bis zu den Reformen im Jahr 1872, aus denen das eigenständige Historische Seminar hervorging, im Wesentlichen auf die Vermittlung von bereits aufbereitetem Lehrstoff beschränkt und sollte explizit keine Gelehrten, Forscher oder Professoren ausbilden. Das Seminarkonzept, das der ursprünglich als Altphilologe und Pädagoge wirkende Wilhelm Grauert einführte, schloss an die ältere Tradition der Philologisch-Pädagogischen Seminare an, die in den deutschen Ländern vielerorts bereits in der Sattelzeit institutionalisiert worden waren und die didaktische und pädagogische Ausbildung von Lehrern höherer Schulen im Blick hatten.22 Auch in Wien sollte der Seminarunterricht die Teilnehmer vor allem dazu befähigen, geschichtswissenschaftliche Werke 18
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Vgl. Clark: Academic Charisma, S. 141–183; ders.: On the Dialectical Origins of the Research Seminar; Huttner: Historische Gesellschaften und die Entstehung historischer Seminare; Pandel: Von der Teegesellschaft zum Forschungsinstitut. vom Brocke: Wege aus der Krise, S. 193f. Die erste Gründung eines Historischen Seminars in den deutschen Ländern erfolgte 1832 in Königsberg, die letzte 1890 in Heidelberg. Allein in den Jahren 1870–1873 wurden sechs Seminare gegründet. vom Brocke: Wege aus der Krise, S. 196–199. Vgl. vom Brocke: Wege aus der Krise, S. 194. Kirchshofer: Geschichte des Philologisch-Historischen Seminars, S. 43; vgl. auch Jäger: Graf Leo Thun und das Institut, S. 9f.; Pandel: Die Entwicklung der historischen Seminare in Deutschland, S. 25–28; Huttner: Historische Gesellschaften, S. 69–81.
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2. Von den Historien zum Speicher: Die universitäre Vermittlung
selbständig und reflektiert zu benutzen, um „die Geschichte ihren Schülern in anziehender Weise beizubringen“.23 Neben Grauert und seinem Nachfolger Aschbach lehrte bis 1870 Albert Jäger am Seminar, der Grauerts Konzept übernahm. Dank Jägers Verbindungen zum Unterrichtsministerium, die aus seiner Zeit als Unterrichtsrat in den Jahren 1864–1867 stammten, wurde diese Ausrichtung in Österreich über den lokalen Kontext hinaus wirksam: Noch 1869 sprach sich Jäger in einem Gutachten erfolgreich gegen forschungsorientierte Seminarübungen in Innsbruck aus, was die Innsbrucker Historiker zwang, nach dem Vorbild des Wiener Seminars zu unterrichten, und ihm den Zorn mancher Kollegen eintrug.24 An der Universität Wien blieb das quellenbezogene Übungsangebot deshalb bis 1872 auf die Übungen beschränkt, die Ottokar Lorenz außerhalb des Seminars regelmäßig abhielt.25 Dagegen wurde im Rahmen des Curriculums des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung seit 1854 eine Reihe von Übungen angeboten, die sich auf nichtnarrative Quellen, vor allem Urkunden, Siegel und Münzen, beschränkten. Erst als sich das Historische Seminar 1872 verselbstständigte, wurde auch dort die Forschungsvermittlung zu einem Unterrichtsziel erklärt. Die Wiener Seminarreform war im Wesentlichen Max Büdinger zu verdanken, der sich zuvor an der Universität Zürich jahrelang um die Gründung eines Historischen Seminars bemüht hatte. Mit der Verleihung des Mitgliederstatus und der Aussprechung von Seminarstipendien unterstützte das Wiener Seminar nun die Forschungsvermittlung, indem sie diese auf eine reguläre Basis stellte und zu einem formalen Unterrichtsziel erklärte.26 An der Universität Zürich hatten Vertreter des allgemeinhistorischen und des schweizergeschichtlichen Lehrstuhls seit Beginn vereinzelt Übungen an Quellen angeboten. Veranstaltungstitel wie „Freie Unterhaltung über Materien der vaterländischen Geschichte“ und ein „Privatissimum über die Quellen zur vaterländischen Geschichte des sechzehnten Jahrhunderts bei eigenen Arbeiten der Zuhörer“27 betonen sowohl die Quellenorientierung als auch den erhöhten Stellenwert der aktiven mündlichen und schriftlichen Mitarbeit der 23 24 25 26
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Jäger: Graf Leo Thun und das Institut, S. 9f. Jäger: Graf Leo Thun und das Institut, S. 19; Julius Ficker an Theodor Sickel, 10.12.1869 aus Innsbruck, IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 3f., hier 3v. Erstmals „Lectüre und Erklärung älterer österreichischer Geschichtsschreiber“, Sommersemester 1857, S. 18. Vgl. Kirchshofer: Geschichte des Philologisch-Historischen Seminars; Oswald Redlich: Zur Geschichte des Historischen Seminars an der Universität in Wien, in: Festschr. des akademischen Vereines deutscher Historiker in Wien. Hrsg. anl. der Feier des 25jährigen Bestandes, Wien 1914, S. 159–172. An den beiden Abteilungen des Seminars unterrichteten neben und nach Max Büdinger Ottokar Lorenz, Heinrich von Zeissberg, Alfons Huber, Oswald Redlich und Joseph Hirn. Johann Jakob Hottinger, Wintersemester 1844/45, S. 9; Sommersemester 1845, Zürich 1845, S. 10. Die Bezeichnung „Privatissimum“ verweist auf den außerplanmäßigen Charakter der Veranstaltung, die normalerweise in Hottingers Haus stattfand und sich an ausgewählte Studenten richtete.
2.2 Dialogische Vermittlungsformen
105
Studierenden. Allerdings gehörten dialogische Formen der Forschungsvermittlung noch keineswegs zu den selbstverständlichen Verpflichtungen der Geschichtsdozenten.28 1862 wandte sich der Professor für Allgemeine Geschichte Max Büdinger mit einem Rechenschaftsbericht an die Erziehungsdirektion des Kantons Zürichs. Darin bat er um die Aussprechung von speziellen Semesterpreisen, die Einrichtung einer Handbibliothek und zweier Arbeitszimmer für die Studierenden seiner historischen Übungen.29 Seine Bemühungen um den seminaristischen Unterricht fanden aber erst Widerhall, als mit den politischen Umwälzungen der demokratischen Bewegung Ende der 1860er Jahre im Kanton Zürich eine neue Bildungspolitik Einzug hielt und Johann Kaspar Sieber das Amt als Erziehungsdirektor antrat. Büdinger entwickelte in seinen Reformplänen eine Theorie des universitären Geschichtsunterrichts, die diesen als zentralen, integralen Bestandteil einer modernisierten Volksbildung definierte, wie sie die Demokraten forderten. Über die Schulung der Einbildungskraft könne, so Büdinger, der Geschichtsunterricht aller Stufen Individuen in einen staats- und weltbürgerlichen Zusammenhang integrieren. Ein zu errichtendes Seminar habe diesem Vergesellschaftungseffekt von Geschichte Rechnung zu tragen, indem es als „Regulator für die dem jedesmaligen Stande der historischen Wissenschaft entsprechende Mittheilung des Geschichtsstoffes“30 wirke. Büdingers programmatische Ausführungen waren gegen ein unter Lehrern verbreitetes, in seinen Augen veraltetes Geschichtsverständnis gerichtet, das historische Wissensbildung als Aneinanderreihung von Einzeldaten betrieb. Sein Vorschlag, den Geschichtsunterricht stärker zu individualisieren, sollte durch die Auseinandersetzung mit dem Instrumentarium der Forschung und durch die „Ausbildung und Steigerung der Seelenkräfte“31 das integrative Potential der Geschichte zum Tragen brin28
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Johann Jakob Hottinger: u. a. „Anleitung zu eigenen historischen Arbeiten“, erstmals Wintersemester 1842/43, S. 9. Theodor Mittler führte ab 1835 nur einmal eine Lektüreübung durch, ging in seinen die Vorlesung ergänzenden Repetorien zu der Vorlesung „Literatur der Geschichte des Mittelalters“ aber auch auf quellenkundliche Themen ein. Wilhelm Schmidt führte zwischen 1853 und 1856 Übungen durch, Büdinger hatte im ganzen Zeitraum seiner Lehre historische Übungen im Angebot. Der Nachfolger Hottingers, Georg von Wyss, beschränkte sich zunächst auf Vorlesungen und beteiligte sich erst in den 1870er Jahren an Übungen im Seminar. Die Privatdozenten (Heinrich Escher, Hans Conrad Ott, Franz Pipiz, Alex Flegler, Johannes Scherr, Wilhelm Rüstow, Jakob Venedey, Hans Heinrich Vögeli und Johann Jakob Honegger) beschränkten sich bis zur Einführung des Seminars auf sporadische Repetorien und Stilübungen. Büdinger an den Erziehungsdirektor des Kantons Zürich, 12.10.1862 aus Zürich, StAZH U 109g.1:3. Max Büdinger: Vorstellungen über eine neue Organisation des Geschichtsunterrichtes im Kanton Zürich, 03.07.1869, StAZH U 109g.1:3. Max Büdinger: Vorstellungen über eine neue Organisation des Geschichtsunterrichtes im Kanton Zürich, 03.07.1869, StAZH U 109g.1:3. Vgl. zur Forschung: Max Büdinger an den Erziehungsdirektor des Kantons Zürich, 12.10.1862 aus Zürich, StAZH U 109g.1:3.
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2. Von den Historien zum Speicher: Die universitäre Vermittlung
gen. Damit traf Büdinger die Interessen Siebers, der sich in dieser Zeit mit dem ehrgeizigen Projekt der Errichtung eines Eidgenössischen Historischen Instituts trug.32 Wenn die Vertreter der Geschichte an der Philosophischen Fakultät in den folgenden Jahren weitere Vorstöße unternahmen, um ein Historisches Seminar zu errichten, hoben sie der Strategie Büdingers folgend paradoxerweise auf die Volksbildung als demokratisches Prestigeprojekt ab, dem potentiell überkantonale Bedeutung zukam. Während Siebers Reformpläne für den Volksschulunterricht in einer Volksabstimmung 1873 scheiterten, gelangte die Gründung des Seminars schließlich nach einigen finanziellen Redimensionierungen im selben Jahr endlich zur Ausführung. Gemäß Reglement sollte das Seminar primär „in das Studium und die Kritik der Quellen allgemeiner sowohl als schweizerischer Geschichte“ einführen; gleichzeitig diente es der fachdidaktischen Ausbildung von Gymnasiallehrern.33 Die Doppelstruktur, die mit Vortragsübungen für Lehramtskandidaten den didaktischen Anforderungen Rechnung trug und mit den Quellenübungen die Forschung institutionalisierte, folgte einem Modell, das Büdingers Lehrer Heinrich von Sybel bei der Errichtung der Historischen Seminare in München und Bonn verfolgt hatte.34 Sowohl in Zürich als auch in Wien erschöpfte sich das Übungsangebot nach der Gründung beziehungsweise Umgründung der Historischen Seminare allerdings keineswegs in Seminarübungen. Ordinarien, Extraordinarien und Privatdozenten boten zusätzliche kritische Übungen an. In Wien führten die hilfswissenschaftlich spezialisierten Professoren und Privatdozenten zahlreiche Übungen in Diplomatik und anderen hilfswissenschaftlichen
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Max Büdinger: Vorstellungen über eine neue Organisation des Geschichtsunterrichtes im Kanton Zürich, 03.07.1869, StAZH U 109g.1:3. Zu Sieber vgl. Köhler: Johann Caspar Sieber, S. 135–147. Büdinger verwies auf Siebers „eigenen Ideen über die Vorbereitung eines eidgenössischen historischen Institutes“. Max Büdinger an den Erziehungsdirektor des Kantons Zürich, 09.12.1870 aus Zürich, StAZH U 109g.1:3. Es ist unklar, ob Büdinger mit seiner Programmschrift von 1869 aus eigener Initiative handelte. Sieber holte daraufhin ein Gutachten seines Parteifreundes Friedrich Salomon Vögelin ein. Vögelin benutzte die Gelegenheit, um seine kulturgeschichtliche Agenda zu unterbreiten, pflichtete Büdingers im Ganzen aber bei. Salomon Vögelin an den Erziehungsdirektor Sieber, 14.10.1869, StAZH U 109g.1:3. Reglement für die Mitglieder des historischen Seminars an der Universität Zürich, 16.07.1873, Sammelwerk der zürcherischen Gesetzgebung, Verwaltungsband II, S. 1304. Die Professoren der Geschichte der Universität Zürich an den Erziehungsdirektor des Kantons Zürich, 14.01.1871 aus Zürich; 01.03.1873 aus Zürich, StAZH U 109g.1:3. Vgl. Pandel: Von der Teegesellschaft zum Forschungsinstitut, S. 18f. Hedwig DickerhofFröhlich: Das historische Studium an der Universität München im 19. Jahrhundert. Vom Bildungsfach zum Berufsstudium, München 1979, S. 94–97; Paul Egon Hübinger: Das Historische Seminar der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn. Vorläufer – Gründung – Entwicklung, Ein Wegstück deutscher Universitätengeschichte, Bonn 1963, S. 59f.
2.2 Dialogische Vermittlungsformen
107
Fächern außerhalb des Seminars durch.35 Auch Privatdozenten und Professoren, die die Verankerung neu entstehender Subdisziplinen anstrebten, veranstalteten nun historische Übungen in spezialisierten Arbeitsbereichen, die am Historischen Seminar keinen Platz hatten. An der Universität Wien veranstalteten Vertreter der Neuen und Neuesten, der Osteuropäischen und der Wirtschafts- und Sozialgeschichte seit den 1880er Jahren eine Vielzahl quellenfokussierter Übungen.36 Angesichts der chronischen Überbelegung der offiziellen Seminare begann man im Wien, überdies auch die Seminarveranstaltungen mit propädeutischen Proseminaren zu entlasten. Die Philosophische Fakultät der Universität Wien, die dafür eigentlich zusätzliche feste Lehrstellen beantragt hatte, erhielt ab 1900 begrenzte, jeweils jährlich wieder zu bewilligende Entschädigungen für die Abhaltung von Proseminaren. Alfons Dopsch bot als erster eine solches „Historisches Proseminar: Einführung in die Geschichte als Wissenschaft“ an.37 Auch unter Max Büdingers Nachfolgern in der Schweiz wurden quellenzentrierte Übungen außerhalb der Seminare selbstverständlich; sie gehörten nun für Lehrstuhlinhaber wie für Privatdozenten zum guten Ton. Ab den 1870er Jahren findet sich mit Ausnahme zweier als randständig wahrgenommener Kulturhistoriker kein Privatdozent oder außerordentlicher Professor mehr, der darauf verzichtete, Übungen außerhalb des Seminars unentgeltlich anzubieten. Sowohl auf Epochen spezialisierte Privatdozenten als auch die Vertreter der neu institutionalisierten Hilfswissenschaften, der Verfassungs-,
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Heinrich von Zeissberg bot zusätzlich zu seinen Übungen im Seminar regelmäßig Lektüreübungen in österreichischer Geschichte an, erstmals „Lectüre der Annales Altahenses maiores mit literar-geschichtlicher Einleitung“, Wintersemester 1873/74, S. 34. Engelbert Mühlbachers Übungen schlossen sich teilweise an seine hilfswissenschaftlichen Vorlesungen an, daneben veranstaltet er zahlreiche weitere Übungen in Paläographie und Quellenkritik. Ottenthals Übungen schlossen sich zum Teil an seine regelmäßig gehaltenen Vorlesungen zur Diplomatik und zur Paläographie an. Daneben bot Ottenthal „Paläographisch-diplomatische Übungen“ an, die sich an Fortgeschrittene richteten, erstmals im Sommersemester 1905, S. 6. Unter den Privatdozenten boten seit 1873 sukzessive Franz Kürschner, Carl Rieger Karl Uhlirz und Michael Tangl Übungen in Paläographie, Urkundenlektüre und Editionstechniken an. Alfred Pribram: erstmals „Uebungen in neuerer Geschichte“, Wintersemester 1887/88, S. 47. Hans Schlitter: „Übungen aus der neueren Geschichte“, Wintersemester 1904/05, S. 48. Kurt Kaser: erstmals „Übungen zur deutschen Wirtschaftsgeschichte“, Wintersemester 1901/02, S. 46. Ludwig Bittner: „Wirtschaftsgeschichtliche Übungen“, Wintersemester 1906/07, S. 48. Alfons Dopsch: erstmals „Kritik der Urkunden zur neueren Geschichte, mit Übungen“, Sommersemester 1897, S. 45; später u. a. „Wirtschaftsgeschichtliche Übungen (späteres Mittelalter)“, erstmals Sommersemester 1904, S. 45. Ludo Moritz Hartmann: „Historische Übungen“ erstmals Wintersemester 1889/90, S. 50, dazu u. a. „Wirtschaftsgeschichtliche Übungen auf dem Gebiete der alten und mittleren Geschichte“, erstmals im Wintersemester 1893/94, S. 58. Wintersemester 1900/1901, S. 46. Auf Dopsch folgte ab 1902 Wilhelm Erben, ab 1903 Johann Lechner, ab 1906 Harold Steinacker und ab 1909 Heinrich von Srbik.
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2. Von den Historien zum Speicher: Die universitäre Vermittlung
Wirtschafts- und Sozialgeschichte machten den Studierenden so zahlreiche neue Quellenbestände zugänglich.38 Aus der zunehmenden Attraktivität historischer Übungen für Privatdozenten und Professoren lässt sich schließen, dass diese dialogischen Unterrichtsformen spätestens seit den frühen 1870er Jahren zu einer Voraussetzung der Fachlichkeit von Hochschulhistorikern wurden. Das Abhalten von Übungen gehörte nun nicht nur wegen einer zunehmenden Nachfrage zur professionellen Selbstausstattung akademischer Historiker, sondern vermutlich auch, weil ihre Meisterung zunehmend eine Qualifikation im Wettrennen um die historischen Lehrstühle darstellte. Die Orientierung an der historischen Übung als Ausweis der disziplinären Zugehörigkeit lässt sich für den deutschen Historiker Alfred Stern nachzeichnen, der 1887 von der Universität Bern auf den Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte des Eidgenössischen Polytechnikums berufen wurde. Da dieser Wechsel von einer wenn auch unbedeutenden Universität an eine technische Hochschule fachlich einer Marginalisierung gleichkam, klärte Stern die Unterrichtsbedingungen am Polytechnikum während seiner Bewerbung eingehend ab. Ihm lag besonders daran, trotz der stärkeren Verschulung am Polytechnikum auch historische Übungen abhalten zu können39 , um die studentische Klientel der benachbarten Universität anzusprechen, was ihm in der Folge auch gelang. Allerdings konnte das Eidgenössische Polytechnikum ihm die fachlich wie sozial verdichtete und von ihm als familiär erlebte Atmosphäre des Historischen Seminars nicht bieten, die Sterns eigene Sozialisation als Schüler von Georg Waitz und bekennender „Enkelschüler“40 Leopold von Rankes geprägt hatte. Trotz ihrer zentralen Stellung im kollektiven Gedächtnis der Historiker als Orte unbedingter Forschungsvermittlung und disziplinärer Einschwörung 38
39 40
Paul Schweizer, erstmals „Diplomatik mit Übungen“, Wintersemester 1887/88, S. 10. Karl Dändliker hielt während seiner Privatdozentenzeit 1875–1887 Semester für Semester seine historischen Übungen und „Conversatorien“ ab. Georg Caro bot seit dem Sommersemester 1897 in beinahe jedem Semester historische Übungen zu wirtschafts-, verfassungs- und handelsgeschichtlichen Quellen an; Johannes Häne bot ab dem Wintersemester 1899/1900 regelmäßig Lektüren kulturgeschichtlicher Quellen an; Eduard Fueter veranstaltete ab dem Sommersemester 1904 immer wieder historische Übungen, die zum Teil auf seine Vorlesungen abgestimmt waren. Ernst Gagliardi, Ernst Nabholz und Gustav Billeter veranstalteten während ihrer Privatdozentur eine Reihe von Übungen. Nur Otto Henne-Am Rhyn und Otto Hartmann hatten keine Übungen im Angebot. Alfred Stern an den Schulratspräsidenten des Eidgenössischen Polytechnikums, Karl Kappeler, 13.03.1887 aus Bern, WHS ETH Zürich, Akten 1887, Nr. 65. Alfred Stern: Gedächtnisrede auf Leopold von Ranke und Georg Waitz, gehalten vor der Versammlung der allgemeinen geschichtsforschenden Gesellschaft der Schweiz zu Aarau am 10. August 1886, in: ders: Reden, Vorträge und Abhandlungen, Stuttgart/Berlin 1914, S. 36–68: S. 23. S. auch Alfred Stern: Wissenschaftliche Selbstbiographie, Zürich/Leipzig 1932; Norbert Schmitz: Alfred Stern (1846–1936). Ein europäischer Historiker gegen den Strom der nationalen Geschichtsschreibung, Hannover 2009.
2.3 Ordnungen historischen Wissens
109
waren die Historischen Seminare multifunktionale Organisationseinheiten, neben denen überdies verschiedene andere Gelegenheiten der Forschungsvermittlung existierten. Viele der am Seminar abgehaltenen Veranstaltungen, etwa die sogenannten „Konservatorien“ über Unterrichtsinhalte, zielten auf die Lehrerbildung, während umgekehrt gerade außerhalb der Seminare zahlreiche ausgesprochen quellennahe Übungen angeboten wurden. Die auf Quellen gerichteten Übungen, die innerhalb des Seminars abgehalten wurden, erhielten allerdings eine privilegierte Position: Der Rahmen einer durch Mitgliedschaft definierten Organisation und die verstärkte Rechenschaftspflicht gegenüber den Unterrichtsbehörden erhöhte ihren Status in der Lehre. Und nicht zuletzt stellten die Semesterstipendien, welche für gelungene Seminararbeiten vergeben wurden, in den Händen der Dozenten eine wichtige Ressource dar, die ihnen die Aufmerksamkeit der Studierenden in größerem Ausmaß sicherten. Indem sie das Bild historischer Fachlichkeit prägte, förderte die Einrichtung der Historischen Seminare überdies, so ist anzunehmen, auch die auffällige Zunahme der quellenorientierten Übungen außerhalb der Seminare ab den 1880er Jahren.
2.3 Ordnungen historischen Wissens Die Arbeit an historischen Quellen war in eine Vielfalt von Umgangsweisen mit historischem Wissen eingebettet, die dazu dienten, auf gelehrte Literatur zuzugreifen, Notizen zu machen, Materialsammlungen aus heterogenen Arbeitselementen anzulegen und Wissen nach verschiedenen Sinnkriterien zu ordnen. Solche Ordnungsweisen historischen Wissens standen in der Zeit vor der (Um)gründung der Historischen Seminare in Wien und Zürich gegenüber stärker quellenfokussierten Praktiken im Vordergrund. Albert Jäger, der eine strikte Arbeitsteilung zwischen dem Historischen Seminar und dem Institut für Österreichische Geschichtsforschung verfolgte, ließ seine Studenten im Historischen Seminar Arbeiten aus der Sekundärliteratur anfertigen: „Als Methode wurde folgende vorgezeichnet: Das Thema mußte genau durchdacht und in seine Glieder oder Theile zerlegt werden; dann mußte der Schüler die einschlägige Literatur, und zwar das Vorzüglichste derselben benützen und excerpiren, die Excerpte nach den Gliedern des Themas einreihen und, wenn dieses erschöpfend geschehen, an die Ausarbeitung seiner Aufgabe gehen. Er mußte dabei gleichsam ein sprechendes Bild seines Themas zeichnen, jede Abschweifung von demselben oder das Hereinziehen fremder Excurse vermeiden und die Darstellung in eine reine Sprache kleiden.“41
Die Techniken des Exzerpierens, des regelhaften Kompilierens von Material aus der historischen Literatur und des Erkennens angemessener thematischer Elemente bildeten für Jäger im Verbund mit einer gelungenen sprachlichen 41
Jäger: Graf Leo Thun und das Institut, S. 10f.
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2. Von den Historien zum Speicher: Die universitäre Vermittlung
Darstellung den Inbegriff historischer Gelehrsamkeit, die an der Universität weitergegeben werden sollte. Mit dem von Jäger vertretenen Verfahren sind eher auf Ordnung, Reihung und Ausscheidung denn auf Quellenkritik zielende Zugänge angesprochen, welche die Lehre sowohl an der Universität Wien als auch in Zürich weiterhin prägten und eine lange Tradition in den Verfahren der frühneuzeitlichen Wissenskompilatorik haben.42 Auch diese Ordnungszugänge waren einem Wandel unterworfen. 1835 wurde im Preisausschreiben der philosophischen Fakultät der Universität Zürich, das alle zwei Jahre durchgeführt wurde, „mit besonderer Berücksichtigung des historisch-philologischen Faches“ eine lateinisch abgefasste „Xenophontische Prosopographie“ zur Aufgabe gemacht. Dabei wurde präzisiert: „Diese Schilderungen dürfen nicht in alphabetischer Reihenfolge gegeben werden, sondern der Bearbeiter wird ihnen eine beliebige organische Form ertheilen“.43 Dass die Autoren der Ausschreibung für die Bearbeitung antiker Historiographie statt der Orientierung am Buchstaben eine Ausrichtung am Lebendigen verlangten, weist darauf hin, dass die enzyklopädische Ordnung zu diesem Zeitpunkt noch nicht ganz undenkbar war, aber zunehmend als unangemessen galt. Die offenkundige Kontingenz des alphabetischen Prinzips, welches die leistungsstarken enzyklopädischen „Wissensapparate“44 der Frühen Neuzeit strukturiert hatte, sollte durch die innere, „organische“ Ordnung textueller Sinnbildung ersetzt werden. Die alphabetische Ordnung verschwand indessen erst später aus der Geschichtswissenschaft: Noch um 1850 edierte der Nürnberger Rechtshistoriker Johannes Merkel im Auftrag der Monumenta Germaniae Historica die Lex Alemannorum in alphabetischer Folge anstatt in der inzwischen bevorzugten chronologischen Ordnung, wurde dafür aber stark kritisiert.45 Andere reihende oder kommentierende Ordnungsweisen des Wissens blieben hingegen während des Aufstiegs einer auf Quellenkritik fokussierten Arbeitsweise weiterhin in Kraft. Wie an Seminarberichten, Gutachten und Preisaufgaben deutlich wird, stellten Sammlungen, Zusammenstellungen, Kommentare und annalistische Auflistungen im Untersuchungszeitraum zentrale Arbeitsformen dar. Insbesondere annalistische Reihen bildeten über 42
43 44 45
Helmut Zedelmaier: Wissensordnungen der Frühen Neuzeit, in: Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung, Konstanz 2007, S. 835–845; ders.: Buch, Exzerpt, Zettelschrank, Zettelkasten, in: Hedwig Pompe/Leander Scholz (Hrsg.): Archivprozesse. Die Kommunikation Der Aufbewahrung, Köln 2002, S. 38–53: 38–42; ders./Martin Mulsow (Hrsg.): Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2001; Frank Büttner/Markus Friedrich/Helmut Zedelmaier: Zur Einführung, in: dies. (Hrsg.): Sammeln, Ordnen, Veranschaulichen. Zur Wissenskompilatorik in der Frühen Neuzeit, Münster, 2003, 7–14; Pandel: Historik und Didaktik. Preisaufgaben, 29.04.1835, StAZH U 94.1b:10. Zedelmaier: Wissensapparate. Harry Bresslau: Geschichte der Monumenta Germaniae Historica im Auftrage ihrer Zentraldirektion, Hannover 1921 (Unveränderter Nachdruck 1976), S. 312f.
2.3 Ordnungen historischen Wissens
111
den ganzen Zeitraum hinweg ein bevorzugtes Ordnungsmuster der Seminararbeiten.46 Diese grundlegenden Verfahren des Umgangs mit Texten wurden in Seminarberichten eingehend nach ihrer Vollständigkeit beurteilt und unabhängig davon, wie forschungsorientiert die Arbeiten waren, als wichtiger Qualifikationsbestandteil des historischen Studiums betrachtet. So beförderte Max Büdinger 1873 zwei Studenten in Wien zu ordentlichen Mitgliedern des Seminars, indem er den einen mit den Worten lobte, er werde ein „ächtes Talent historischer Forschung“ werden, während er dem andern attestierte, das Zeug zum „eifrige[n] Sammler“ zu haben.47 Eine Forschungsorientierung im Sinn Max Büdingers, das heisst eine eigenständige historische Kritik an Quellen, lässt sich hingegen als Ziel der studentischen Beiträge sowohl für Wien als auch für Zürich bis in die 1860er Jahre erst vereinzelt erkennen. Ein aufschlussreiches Beispiel liefert der Zürcher Historiker Johann Jakob Hottinger. Der ordinierte Theologe lehrte, ohne eine methodische historische Ausbildung erfahren zu haben. Als einer der Fortsetzer von Johannes von Müllers Schweizergeschichte war er aber in den Foren der zeitgenössischen schweizerischen Geschichtskultur bestens verankert und publizistisch ausgewiesen.48 Hottinger reflektierte seine eigene Entwicklung hin zu einer forschungsbasierten Spielart von Geschichtswissenschaft durchaus kritisch: Erst für den zweiten Teil seiner 46
47 48
Hier können nur einige Beispiele erwähnt werden. Sammlungen: Franz Kuhn erstellte eine Sammlung „über römische Landauftheilungen zwischen 201 149 v. Chr.“, Max Büdinger: Seminarbericht Wintersemester 1878/79, 24.03.1879, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasc. 693, 4459/1879, fol. 3r v, hier 3r. Heinrich von Zeissberg unterschied für die Arbeiten, die er in seiner historischen Übung schreiben ließ, zwischen jenen, die „mehr orientierend über das vorhandene Quellenmaterial“ waren und den „kritische[n] Arbeiten“, ohne damit eine Wertung zu verbinden. Heinrich von Zeissberg, Seminarbericht Wintersemester 1887/88, 13.03.1888, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 693, 5368/1888, fol. 3rv, hier 3r. Kommentar: Max Büdinger erwähnte in einem Seminarbericht die „sehr fleissige Übersetzung und begonnene Erläuterung eines gleichzeitigen altrussischen Berichtes über die Eroberung von Constantinopel im Jahr 1453“, Max Büdinger, Seminarbericht Wintersemester 1887/88, 09.03.1888, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasc. 693, 5368/1888, fol. 4r. Annalistik: Der Semestralpreis 1870 ging an H. Wattelet für die Arbeit „Sièyes vom 9. Thermidor des Jahres III (27. Juli 1794) bis zum 14. Juni 1800“, Max Büdinger, Gutachten, 18.03.1870, StAZH U 109f.1:6. Die Preisaufgabe für 1901 hieß: „Die Schweiz vom Aussterben der Zähringer bis zum Ende der Stauferherrschaft 1218–1254“. Zirkular zur Erhebung einer Preisaufgabe, 17.04.1901, StAZH U 109f.1:5. Max Büdinger, Seminarbericht Wintersemester 1872/73, 23.03.1873, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasc. 693, 3883/1873, fol. 2r–6v, hier 5r. Hottinger setzte wenige Jahre nach Robert Glutz-Blotzheim Müllers „Geschichte der Eidgenossenschaft“ chronologisch fort: Johann Jakob Hottinger: Geschichte der Eidgenossen während der Zeiten der Kirchentrennung, (Johannes v. Müller: Geschichte der schweizerischen Eidgenossenschaft VI–VII), 2 Bde., Zürich1825/1829. Vgl. Feller/ Bonjour: Geschichtsschreibung der Schweiz, Bd. 2, S. 582–587. Zu Hottinger s. Peter Stadler: Ein autobiographischer Lebensabriß des Reformationshistorikers Johann Jakob Hottinger, in: Martin Haas/René Hauswirth (Hrsg.): Festgabe Leonhard von Muralt, Zürich 1970, S. 63–76.
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2. Von den Historien zum Speicher: Die universitäre Vermittlung
Berufslaufbahn könne er sich attestieren, „auf d[ie] Quellen zurückgegangen zu sein“, während vorher die „Phantasie“49 geherrscht habe. In dieser späteren Phase seines Lebens vermittelte Hottinger auf dem Zürcher Lehrstuhl für Schweizergeschichte durchaus eine Auseinandersetzung mit historischen Quellen. Sein Unterricht bezog vor allem erzählende Quellen ein50 und verweist auf eine ungebrochene Dominanz der historiographischen Tradition. So bot Hottinger im Sommersemester 1836 eine „Vergleichung und kritische Behandlung von Tschudi’s und Johannes Müller’s Darstellungen des alten Zürichkriegs“ an. Mit Aegidius Tschudi wurde ein frühneuzeitlicher Chronist ins Zentrum gerückt, der die Historiographie zur Entstehungsgeschichte der Schweiz bis ins 19. Jahrhundert prägte. Der unmittelbare Vergleich mit Johannes von Müller macht deutlich, dass Hottinger diese Narrationen aus dem 16. und 18. Jahrhundert über ein historisches Ereignis des 15. Jahrhunderts als strukturell gleichartig wahrnahm. In dieser ungebrochenen Linie historiographischer Produktion erschien der historiographische Nachfolger von Müllers, Hottinger, selbst als ein Fluchtpunkt: Er inszenierte sich im Unterricht selbst als lebendigen Zugang zur Vergangenheit. Als er 1849 trotz einer Krankheit seine Vorlesung über die „Culturgeschichte der letzten 90 Jahre“ hielt, entschloss sich Hottinger, diese zeitgeschichtliche Veranstaltung aus der Perspektive seiner eigenen Lebensgeschichte zu formulieren, denn „Augen- & Gehör-schwaeche hindert auch, d[er] neuern hist[orischen] Forsch[un]g so zu folg[en], wie es e[inem] akad[emischen] Dozent zukommt. Daher habe ich mir vorgesetzt aus d[em] Gedaechtniß die Zeit die ich durchlebte u[nd] die eigne Entwickl[un]g vor Ihnen zu schildern.“51 Die krankheitsbedingte Zuflucht zu dieser Version experimenteller Ego-Histoire52 war von der Vorstellung geprägt, die eigene Biographie könne als exemplarischer Abdruck
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Friedrich Salomon Vögelin, Vorlesungsnachschrift Johann Jakob Hottinger, Horner 1849, ZBZ HA Ms T 316 (Teilnachlass Friedrich Salomon Vögelin). Diese Selbsteinschätzung zeigt Hottingers Einbettung in die Entwicklung historischer Forschung in der Schweiz: Diese war mit Johannes Müller zunächst stark von der Rezeption chronikalischer Quellen und der Tradierung republikanischer Gründungsmythen geprägt und trat vor allem mit den polarisierenden Arbeiten von Joseph Eutych Kopp, die erstmals systematisch Urkunden berücksichtigten, in den 1830er Jahren in hitzige Debatten über die Ursprünge des schweizerischen Staates ein. Vgl. Zimmer: A Contested Nation, S. 214f.; Marchal: Die „alten Eidgenossen“ im Wandel der Zeiten; Feller/Bonjour: Geschichtsschreibung der Schweiz, Bd. 2, S. 676. Eine Ausnahme stellt die quellenkundliche „Uebersicht der Quellen der Schweizergeschichte, mit besonderer Berücksichtigung der Urkunden“ dar, Vorlesungsverzeichnis Universität Zürich, Wintersemester 1838/39, S. 11. Friedrich Salomon Vögelin, Nachschrift einer Vorlesung von Johann Jakob Hottinger, Horner 1849, ZBZ HA Ms T 316 (Teilnachlass Friedrich Salomon Vögelin). Zum Konzept der Ego-Histoire vgl. Pierre Nora (Hrsg.): Essais d’ego-histoire. Maurice Agulhon, Pierre Chaunu, Georges Duby, Raoul Girardet, Raoul Jacques Le Goff, Michelle Perrot, René Rémond, Paris 1987.
2.4 Kritische Übungen in historiographischer Tradition
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der Zeit, die sie hervorgebracht hatte, verstanden und zum Ausgangspunkt historischer Reflexionen werden. Die historiographische Autorschaft als organisierendes Prinzip dieses Zugriffs auf die Vergangenheit führte dazu, dass das Objekt historischer Forschung, die historiographische Quelle, epistemisch nicht gänzlich vom Subjekt der Forschung in der Gegenwart, dem Historiker, geschieden wurde. Die Behauptung und Vermittlung eines solchen Kontinuums zwischen gelehrter Literatur der Gegenwart und historiographischen Quellen der Vergangenheit war durch die Parallelsetzung gegenwärtiger und vergangener Autorpositionen grundsätzlich möglich, solange überwiegend erzählende Quellen im Mittelpunkt historischen Arbeitens standen. Dies spiegelte sich in der noch nicht ganz verschwundenen Verwendung eines weiten Literaturbegriffs, der sich auf beides beziehen konnte. Obwohl die Unterscheidung zwischen Quellen und Forschungsliteratur in vielen Fällen explizit getroffen wurde, war bis in die 1860er Jahre hinein auch von historiographischen Quellen durchaus noch als von „Literatur“ die Rede.53
2.4 Kritische Übungen in historiographischer Tradition Von den vorwiegend sammelnden und ordnenden Vermittlungsweisen historischen Wissens wollte sich die quellenfokussierte Übung abheben, die als „Quellenlektüre“ und später vor allem als „kritische Übung“ bezeichnet wurde. Deren Lerninhalte und Vermittlungspraktiken sollen anhand der Lehrpraxis Max Büdingers genauer betrachtet werden, die er nach seiner Ankunft in Zürich 1862 entwickelte und dann auf dem Lehrstuhl für allgemeine Geschichte an der Universität Wien von 1872 bis zu seiner Emeritierung 1899 weiterführte.54 Durch die beispiellose Kontinuität der Lehre Büdingers waren seine Lehrkonzepte in beiden Kontexten von großem Einfluss. Nach seiner Ankunft in Zürich setzte Büdinger seine Vorstellung quellen53
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Vgl. z. B. die Veranstaltung des in Zürich lehrenden Allgemeinhistorikers Wilhelm Adolph Schmidt: „Literärgeschichte des Mittelalters“, Wintersemester 1854/55, S. 11. Das historiographische Kontinuum betonte auch Georg von Wyss mit seiner Übersichtsvorlesung „Literatur der Schweizer Geschichte“ (s. o.). An der Universität Wien betitelte Jäger seine quellenkundliche Vorlesung zunächst „Über die Literatur der österreichischen Geschichte“, wechselte ab 1860 dann aber zum Titel „Über mittelalterliche (bzw.) mittelalterliche österreichische Geschichtsquellen“. Hottinger selbst verwendete dagegen einen engeren Literaturbegriff: Er veranstaltete unter dem Titel „Literatur der Schweizergeschichte“ Übersichtsvorlesungen zur neueren Forschungsliteratur. Zu Büdinger vgl. Bernhard Christoph Müller: Max Büdinger. Ein Universalhistoriker aus Rankes Schule, Diss. Universität München 1964; zu seiner wegen seiner jüdischen Herkunft erschwerten Karriere Notker Hammerstein: Antisemitismus und deutsche Universitäten 1871–1933, Frankfurt/New York 1955, S. 26.
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2. Von den Historien zum Speicher: Die universitäre Vermittlung
zentrierten Unterrichts bereits in kleinem Rahmen um, während er noch für ein subventioniertes Historisches Seminar kämpfte. Als er dann nach Wien kam, hatte er Gelegenheit, im 1872 verselbständigten Seminar diese Veranstaltungen im größeren Rahmen durchzuführen. Der Universalhistoriker bot neben Konversatorien regelmäßig kritische Übungen an, für die er jeweils eine narrative Quelle pro Semester auswählte, deren Übersetzung und Kritik von einzelnen Studenten vorbereitet, vorgetragen und vor sogenannten „Opponenten“ und dem Professor verteidigt wurden. Die Gestaltung als „oppositio“ war keineswegs neu, sondern hatte eine lange Tradition in den universitären Disputierkünsten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit.55 Zu diesen Plenarübungen kamen die Besprechungen von Seminararbeiten im kleineren Kreis, die auf weiteren historiographischen und chronikalischen Quellen beruhten. Wie Adolf Bauer, ein Student Büdingers, berichtete, wurde jeweils die Anordnung des „Stoffes“ besprochen und dann „zur Feststellung der Quellen übergegangen und die Art ihrer Benutzung untersucht“.56 Der Schwerpunkt der Übung lag in erster Linie auf der inneren Kritik einer Quelle, die fast immer zu einem eng umgrenzten Kanon antiker Historiographie und mittelalterlicher Chronistik gehörte. Die weitergehende Interpretation der Quellen und die Einordnung von Einzelresultaten in übergeordnete Fragestellungen blieben hingegen fast immer im Hintergrund. Büdingers Seminarberichte und Gutachten hoben immer wieder die minutiöse Feststellung des Tatsachengehalts der Überlieferung, die einzelnen Schritte der äußeren und vor allem inneren Kritik hervor. Tacitus wurde 1874 „soweit interpretiert, als geeignet schien, Arbeitsgang, Compositionsgrundsätze und Absichten des Autors zu veranschaulichen“, Herodot wurde auf die Entstehung seines Geschichtswerkes und auf die „Vergleichung und Ableitung seiner Nachrichten“ hin gelesen und die vita Karoli von Einhard intensiv mit den Annalen des gleichen Chronisten verglichen.57 Die Seminarberichte und Gutachten der gleichzeitig mit Büdinger lehrenden Professoren bestätigen, dass die erwähnten Lehrschritte die am weitesten verbreitete Übungsform konstituierten.58 Die beschränkte Bandbreite der behandelten Quellen hing zum einen damit zusammen, dass 55
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Max Büdinger, Seminarbericht zum Wintersemester 1872/73, 23.03.1873, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasc. 693, 3883/1873, fol. 2r–6v, und Büdingers Seminarberichte aus den darauffolgenden Jahren im selben Bestand. Zum 18. Jahrhundert s. Clark: On the Dialectical Origins of the Research Seminar, S. 115. Erzählung von Adolf Bauer, zit. Festschrift des akademischen Vereines deutscher Historiker in Wien. Hrsg. anlässlich der Feier des 25jährigen Bestandes, Wien, 1914, S. 159– 172, 165. Max Büdinger, Seminarbericht Sommersemester 1874, 14.07.1874, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasc. 693, 9730/1874, fol 4r–5r, hier fol. 4r–v; Seminarbericht Wintersemester 1879/80 vom 09.03.1880, MCU 4A, Fasc. 693, 2980/1880, fol. 4r v, hier 4r. Gerold Meyer von Knonau wie auch seine Kollegen Georg von Wyss und Karl Dändliker auf den Lehrstühlen für Schweizergeschichte führten diese Ausrichtung weiter. Vgl. die einzelnen Seminarberichte in StaZH U 109g.1:3 u. U 109g.2:3. In Wien folgten auch Büdingers Mitdirektoren am Historischen Seminar, Ottokar Lorenz und später Heinrich
2.4 Kritische Übungen in historiographischer Tradition
115
die narrativen Quellen ediert zur Verfügung standen und leicht zugänglich waren. Zumindest im Hintergrund blieb zum andern auch die Rückbindung an die Anforderungen des Gymnasialunterrichts wirksam, für den griechische und römische Geschichtsschreiber zum Stoff gehörten. Vor allem aber zeigt der ausgesprochen kanonisierte Umgang mit Überlieferungen, wie stark Kernverfahren der historischen Kritik in der gelehrten philologischen Tradition verwurzelt waren, in der Autoren als zentrale Struktureinheiten verstanden wurden.59 Ein abstraktes, umfassendes Konzept der historischen Quelle, wie es von Ernst Bernheim im Begriff der historischen Quelle als Oberbegriff für alle „Traditionen“ (vorwiegend narrative Überlieferungen) und „Überreste“ (nicht zu Tradierungszwecken hergestellte Hinterlassenschaften der Vergangenheit) zugleich verfolgt wurde, entfaltete sich in diesen Varianten der kritischen Übung erst in Ansätzen. Noch richtete sich das Verfahren der Quellenkritik hauptsächlich auf narrative Überlieferungen, auf die von den „Überresten“ und „Monumenten“ zu unterscheidenden „Quellen“ im Droysenschen Sinn.60 Wie in Johann Jakob Hottingers Unterricht wurde auch hier die Differenz zwischen der zeitgenössischen Geschichtsforschung und den Texten älterer Chronisten oder antiker Geschichtsschreiber nicht zwangsläufig als absolute Differenz zwischen wissenschaftlichem Zugriff und Forschungsobjekt, sondern eher als Kontinuität oder Abstufung wahrgenommen. Dies spiegelte sich auch auf der Darstellungsebene. Seminararbeiten mussten nach Büdinger den Nachweis der geleisteten kritischen Forschungsarbeit erbringen, sollten diese aber nur im Anmerkungsteil sichtbar machen. Für den Haupttext wurde eine faktizistische, annalistische Darstellungsweise gefordert, gerügt wurden hingegen „einige übertriebene bildliche Ausdrücke sowie die Einschiebung einiger unnöthigen halben Sätze und die Anfügung kritischer Schlusswendungen“ wie auch „Gefühlsausdrücke statt ruhiger Expositionen“.61 Für den auf diese Weise sowohl von Forschungsspuren wie auch von moralischen und emotionalen Wertungen gereinigten Text standen historiographische Vorlagen Pate, die in rhetorischer Tradition zur stilbildenden Vorlage erhoben wurden. Büdinger bot sogar eine „Übung im historischen Stil nach antiken und modernen Mustern“ an, dank der die Seminararbeiten selbst Bestandteil einer historiographischen Tradition werden konnten.62
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von Zeissberg, im Ganzen diesem Format. Vgl. die einzelnen Seminarberichte in ÖStA AVA MCU 4A Fasc. 693. Pandel: Von der Teegesellschaft zum Forschungsinstitut, S. 15. Zur antiken Historiographie als Ausbildungselement von Gymnasiallehrern s. Kirchshofer: Geschichte des Philologisch-Historischen Seminars, S. 43. Droysen: Historik, S. 37. Max Büdinger, Beurteilung der Preisschrift von Johannes Dierauer, 10.03.1866, StAZH U 94.1b:10; ders., Gutachten zu einem Semestralpreis, 27.03.1871, StAZH U 109f.1:6. Sommersemester 1871, S. 10. Eine knappe, annalistisch gehaltene Darstellung im Haupttext verbunden mit einem Fußnotenapparat wurde verschiedentlich verlangt. Vgl. Max
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2. Von den Historien zum Speicher: Die universitäre Vermittlung
Dieser historiographische Modus historischer Forschung wird noch in der Art und Weise deutlich, in der Ottokar Lorenz den Quellenbegriff in seinem Kompendium „Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter seit der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts“ verwendete, das ausschließlich narrative Quellensorten umfasste.63 Lorenz vertrat dort im Vorwort der dritten Auflage von 1887 zudem dezidiert die Vorstellung eines historiographischen Kontinuums der Quellen, das er am Beispiel eines Vergleichs zwischen Francesco Guicciardini und Leopold von Ranke illustrierte. Der Ranke-Verehrer Lorenz kam ganz im Einklang mit Rankes eigener Kritik an Guicciardini zu dem Schluss, dass Ranke eine weitaus zuverlässigere Quelle für die Geschichte des Cinquecento darstelle als der Historiker des 16. Jahrhunderts. Mit diesem Argument, das sich gegen den quellenkritischen Vorrang der Gleichzeitigkeit richtete, rief er allerdings zu diesem Zeitpunkt bereits Befremden hervor: Die Objektivierung des Blicks auf die Quelle war inzwischen bereits weiter fortgeschritten.64 Die Hinwendung zu den Operationen der Quellenkritik wurde durch eine Intensivierung des Austausches zwischen Professoren und Studenten begleitet. So hob Ottokar Lorenz in seinen Seminarberichten jeweils diejenigen Studenten besonders hervor, die ihm „Gelegenheit gaben sie persönlich kennen zu lernen, Fragen an sie zu stellen und Gespräche mit ihnen einzuleiten“.65 Pädagogische Vorstellungen, die sich am Ideal persönlicher Förderung und eigenständiger Arbeit orientierten, unterstrichen den Ausbau der Forschungsvermittlung. Büdinger schrieb 1862, es gehe ihm darum, den „Sinn für besonnene historische Kritik“ zu wecken, die methodischen Fähigkeiten zu schulen und dabei für alle seine Studenten die „der Individualität eines Jeden entsprechende Sphäre geschichtlicher Thätigkeit“ zu ergründen.66 Mit diesem individualisierenden Zugang verband sich die Konzeption, historische Forschung sei „strenge Arbeit“67 , die sich durch Fleiß und Gründlichkeit auszeichne. Als der Student und spätere Professor Karl Dändliker sich 1868 mit dem Gedanken trug, die für ihn vorgesehene theologische Laufbahn zu verlassen, ließ er sich von Büdingers Forschungsenthusiasmus fesseln. Er notierte in sein Tagebuch, dass Büdinger in seinen Vorlesungen alle Ergeb-
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Büdinger und Georg von Wyss, Vorschlag einer Preisaufgabe an die erste Sektion der Philosophischen Fakultät, 04.03.1865, StAZH U 105f.1:5; Max Büdinger, Gutachten zur Preisschrift von Karl Dändliker, 15. 01.1867, StAZH U 109f.1:5. Ottokar Lorenz: Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter seit der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts, 2 Bde., 3. Aufl., Berlin 1886–1887. Das Buch erschien in erster Auflage 1870. Lorenz: Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter, 2. Bd., 3. Aufl., S IX. Vgl. Lorenz: Die Geschichtswissenschaft in Hauptrichtungen und Aufgaben, S. 312; Lhotsky: Geschichte des Instituts, S. 146. Ottokar Lorenz, Seminarbericht Sommersemester 1876, undat., ÖStA AVA, MCU 4A, Fasc. 693, 11684/1876, fol. 7r 8r. Max Büdinger an den Erziehungsrat, 12.10.1862, StAZH U 109g.1:3. Max Büdinger an den Erziehungsrat, 12.10.1862, StAZH U 109g.1:3. Die Attribute „Fleiss“ und „Gründlichkeit“ finden sich durchgehend in Büdingers Beurteilungen.
2.4 Kritische Übungen in historiographischer Tradition
117
nisse als Forschungsresultate präsentiere um die Studierenden zum Forschen anzuregen: „Bei ihm ist jedes Wort, jeder Satz bedeutend, indem er oft eine ganze Reihe Gedanken verborgen enthält! Wer aber bei ihm nicht studiert u[nd] selbst forscht, hat keinen Nutzen u[nd] den kann es nicht interessiren.“68 Hier wurde die forscherische Selbständigkeit rhetorisch zum Zeichen der Fachlichkeit erhoben, indem sie zur Voraussetzung des Lernens überhaupt hochstilisiert wurde. Dändliker schrieb sich bald darauf in Büdingers historische Übungen ein und beschloss, Historiker zu werden.69 Die Studierenden eigneten sich methodische Kenntnisse wie auch praktische Kniffe im Umgang mit Quellenmaterial besonders im Rahmen des personalisierten Unterrichts in den Übungen an. Büdinger ließ Dändliker zum Zeitpunkt seines Studienfachwechsels eine besondere Förderung zukommen, indem er ihn zu gemeinsamen Arbeiten an mittelalterlichen Handschriften ins Lesezimmer des Staatsarchivs bestellte und seine Fortschritte intensiv überwachte.70 Die Betreuung in historischen Übungen und Einzelgesprächen vermittelte weniger systematisches Wissen als praktisches, in der gemeinsamen Lektüre von Texten weitergegebenes Know-how. Max Büdinger beispielsweise hielt keine grundsätzlichen Referate zur Quellenkritik oder zur historischen Interpretation, sondern unterwies seine Studenten mit praktischen Ratschlägen. Er wies Dändliker an, „ich solle nie andere, als ausgezeichnete Schriftsteller u[nd] ächte Quellen benützen; ich solle nie eine Entheilung machen, ohne daß ich vorher des Stoffes ganz mächtig sei; denn sonst komme ich in Gefahr, Unscheinbares, das doch wichtig ist, zu übersehen; für Erklär[un]g von Ortsnamen nur ausgezeichnete Werke benützen u[nd] stets nach der ersten urkundlichen Form deuten; in historischen Darstellungen nie oder dann mit Vorsicht Bilder anwenden, Chronisten nie benützen, ohne daß ich vorher wisse, was für Quellen sie u[nd] wie sie dieselben benützt!“71
Die Hilfestellungen Büdingers waren nicht systematisch ausgeführt, sondern kamen als praktische Regeln daher, die sich scheinbar kaum von ihrem Verwendungszusammenhang ablösen ließen. Die bewusste Distanz zu einer theoretisierenden Erklärung der eigenen Vorgehensweisen setzte sich in der verbreiteten Rede von der „Werkstatt des Historikers“ fort, die zu einer beliebten Metapher für die praktische Kunst der Geschichtswissenschaft wurde und gleichzeitig Abgrenzung von theorielastigen wissenschaftlichen Zugängen signalisierte.72 68 69 70 71 72
Karl Dändliker, Tagebuch 1. Januar–30. August 1868 Nr. III, S. 42, 15.04.1868, ZBZ HA NL Karl Dändliker 4. Zur Sozialisation Dändlikers vgl. Kap. 3.1, 4.1, 4.2. Karl Dändliker, Tagebuch 1. Januar–30. August 1868 Nr. III, S. 45–53, 11.07., 24.07. und 08.08.1868, ZBZ HA NL Karl Dändliker 4. Karl Dändliker, Tagebuch 1. Januar–30. August 1868 Nr. III, S. 52, 08.08.1868, ZBZ HA NL Karl Dändliker 4. Vgl. auch ebd., S. 42, 15.04.1868. Die Metapher findet sich bei Theodor Wiedemann: Sechzehn Jahre in der Werkstatt Leopold von Rankes. Ein Beitrag zur Geschichte seiner letzten Lebensjahre, in: Deutsche
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2. Von den Historien zum Speicher: Die universitäre Vermittlung
Weil die kritischen Übungen grundsätzlich dialogisch angelegt waren, hing ihre didaktische Wirksamkeit stark von der Größe der Veranstaltung ab. Bei Teilnehmerzahlen, die sich bereits in den 1870er Jahren manchmal in der Höhe von über fünfzig Studenten bewegten, besuchten viele Studenten die Wiener Seminarveranstaltungen eher als Kolleg denn als Übung. Das Seminar näherte sich hier einer Demonstration der Quellenübung an, indem einige wenige Teilnehmer die Seminarsituation vorexerzierten. Dagegen blieben die Runden in den historischen Übungen an der Universität Zürich so überschaubar, dass in der Regel alle Teilnehme aktive Beiträge lieferten.73 Der in solchen Fällen vergleichsweise intime Rahmen der Übungen verstärkte die oft implizit und praktisch bleibende Vermittlung quellenbezogenen Wissens. Es war besonders in der ersten Hälfte der Untersuchungszeit unter anderem aus Gründen der Raumknappheit sehr üblich, dass Professoren solche Übungen bei sich zuhause abhielten. Gerold Meyer von Knonau bat seine Studenten in seine herrschaftliche Stadtwohnung, wo er ein Arbeitszimmer eingerichtet hatte, in dem er sogar Prüfungen abhielt. Der von den Hausbewohnern als „Studentenzimmer“ bezeichnete Raum wurde durch einen großen Arbeitstisch dominiert, der gegenüber der Sitzordnung des Vorlesungssaals die Arbeitsatmosphäre des Seminars unterstrich. Dem Zutritt zu den historischen Übungen wurde durch die Insignien bürgerlicher Gastlichkeit – etwa den Empfang an der Haustür und das Reichen von Tee – eine zusätzliche Exklusivität verliehen, die, so kann vermutet werden, ein Zugehörigkeitsgefühl förderte. Für die Teilnahme an den historischen Übungen waren interessierte Studierende insbesondere außerhalb des Seminars in hohem Maß vom Gutdünken der Professoren abhängig. Es war üblich, sich im Professorenhaus vorzustellen, wenn man sich für solche Veranstaltungen empfehlen wollte. Auch im formell organisierten Historischen Seminar hing vor allem die Akkreditierung als ordentliches Mitglied, die mit Stipendien verbunden war, von der Beurteilung durch die Dozenten ab.74
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Revue für das gesamte nationale Leben der Gegenwart 16 (4)/1891, S. 164–179, 322–359– 18 (4)/1893, S. 253–265. Einzelnachweise in den Seminarberichten, AVA MCU 4A, Fasc. 693; StAZH U 109g.1:3, U 109g.2:3. Stadler: Ein autobiographischer Lebensabriss, S. 63–76; Erika Sarauw: Ein Haus in Zürich Riesbach und seine Bewohner um die Jahrhundertwende, in: Zürcher Taschenbuch 106/1986, S. 123–156: 139; August Fournier: Erinnerungen. Fragment, Nach des Verfassers Tode, hrsg. v. Rudolf Olden, München 1923; Gerold Meyer von Knonau [1911–1931], Autobiographische Aufzeichnungen, S. 93f., ZBZ HA FA Meyer v. Knonau 34.5; Ottokar Lorenz, Seminarbericht: Spezialbericht, 19.07.1878, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasc. 693, fol. 3f., hier 4r; ders.: Seminarbericht Sommersemester 1876, undat., ÖStA AVA, MCU 4A, Fasc. 693, 11684/1876, fol. 7r 8r.
2.5 Transparente Speicher: Quellenkonzepte in der Erweiterung
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2.5 Transparente Speicher: Quellenkonzepte in der Erweiterung Die kritische Übung im historiographischen Modus bildete auch um 1900 noch einen Kernbereich der Vermittlung von Quellenwissen an den untersuchten Universitäten. Allerdings wurde ihre Dominanz ab den 1870er Jahren durch inner- wie außerhalb der Historischen Seminare entwickelte, erweiterte Konzepte der Forschungsvermittlung eingeschränkt. Für Wien waren die wissenschaftlichen Erfolge des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung von großer Bedeutung, das vor allem seit der Reform von 1874 seine hilfswissenschaftlichen Schwerpunkte konsolidierte und Studenten und Ressourcen an sich binden konnte. Die auf narrative Texte ausgerichtete Form des Quellenunterrichts an der Universität wurde durch den Institutsunterricht ergänzt, wo im kleinen, überschaubaren Rahmen der Institutsklassen vor allem Diplomatik, Paläographie und andere hilfswissenschaftliche Disziplinen betrieben und der Verzicht auf eine narrative Aufbereitung von Forschungsresultaten – etwa in den Prüfungsarbeiten – zum Prinzip erhoben wurde. Am Institut setzte man überdies auf eine vergleichsweise direkte Konfrontation mit historischem Material. Aufgrund der hilfswissenschaftlichen Ausrichtung des Unterrichts wurden gerade die materialen Dimensionen der historischen Dokumente ins Blickfeld gerückt. Verlangt wurden beispielsweise ausgedehnte Transkriptionsübungen. Das Institut hatte dazu eine Sammlung von Originalurkunden zur Verfügung, daneben verwendete man vor allem auch Quellenreproduktionen in Form von fotografischen oder druckgrafischen Faksimiles von Urkunden und Chroniken oder auch in Gestalt von Siegelabgüssen. Hier kam auch die am Institut entstandene paläographisch-diplomatische Sammlung der Monumenta graphica zum Zuge, die im Unterricht vielfach eingesetzt wurde. Die Übungen mit Originalen und Reproduktionen sollte eine Arbeitssituation im Archiv möglichst realistisch nachstellen. Sickel nahm eigens die Fotografie einer versengten Urkunde in die Sammlung der Monumenta graphica auf, um ein möglichst praxisnahes Training zu ermöglichen.75 Im Unterricht an den Seminaren griff man dagegen in der Regel auf Quelleneditionen zurück, die von den Studenten in den Bibliotheken konsultiert und exzerpiert wurden. Wenn Professoren ihre eigenen Sammlungen zur Verfügung stellten oder Archivbesuche organisierten, konnten Seminarteilnehmer ausnahmsweise mit unedierten Archivquellen arbeiten. Nur in kleinen Umfang wurden in der zweiten Hälfte des Untersuchungszeitraums auch an den Universitäten hilfswissenschaftliche Apparate eingesetzt, allerdings war der Apparat in Zü-
75
Prüfungsakten des Institutslehrgangs, IfÖG; Lhotsky: Geschichte des Instituts, S. 255f.– 257 u. 336f.; zu den Monumenta graphica vgl. Kap. 6.
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2. Von den Historien zum Speicher: Die universitäre Vermittlung
rich nur rudimentär ausgestattet, da beispielsweise die Monumenta graphica unerschwinglich blieben.76 Als seit den 1880er Jahren ein größeres Spektrum an quellenfokussierten und quellenkundlichen Veranstaltungen angeboten wurde, erweiterte sich die Bandbreite der einbezogenen Quellensorten auch im regulären Universitätsunterricht. Ab dieser Zeit wurden an beiden Standorten darüber hinaus neue Unterrichtselemente eingeführt, die den Stellenwert von Traditionsquellen verkleinerten. In den Veranstaltungen der Historischen Seminare wurden zum Beispiel Besprechungen von Neuerscheinungen im Bereich der Quelleneditionen und Zeitschriftenpublikationen veranstaltet und gezielt hilfswissenschaftliche Übungen abgehalten, die sich an nicht auf die Hilfswissenschaften spezialisierte Studierende richteten.77 Mit dem Aufkommen programmatisch methodologischer und propädeutischer Veranstaltungen wurde nun die auf Quellen gerichtete geschichtswissenschaftliche Praxis überdies stärker systematisch expliziert und gerahmt. Als von ihrer Breitenwirkung her äußerst bedeutende Beiträge zur methodischen Grundausbildung in Wien sollen in diesem Zusammenhang die Vorlesungen zur historischen Methode genauer untersucht werden, die Alfons Huber an der Universität Wien hielt. Julius Ficker hatte unter dem Titel „Anleitung zur historischen Kritik“ in Innsbruck seit längerer Zeit ein Kolleg angeboten, das er in den Grundzügen bereits um die Mitte der 1850er Jahre konzipiert hatte. Wie er seinem Briefpartner Johann Friedrich Böhmer damals erklärte, war ihm kein Werk bekannt, das eine methodische Einführung in die historische Forschung auf dem aktuellen Stand der Geschichtswissenschaft bot. Seine Einführungsveranstaltung sollte den Studierenden endlich ein Forschungsinstrumentarium an die Hand geben.78 76
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Karl Dändliker, Tagebuch 1. Januar–30. August 1868 Nr. III, S. 46, 24.07.1868, ZBZ HA NL Karl Dändliker 4. Ottokar Lorenz, Seminarbericht: Spezialbericht, 19.07.1878, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasc. 693, fol. 3–4, hier 4r. Vgl. allg. die Seminarberichte AVA MCU 4A, Fasc. 693. Zum hilfswissenschaftlichen Apparat in Zürich vgl. Paul Schweizer an Engelbert Mühlbacher, 12.05.1884, Archiv IfÖG, NL Mühlbacher: Paul Schweizer an Engelbert Mühlbacher. Gerold Meyer von Knonau, Seminarbericht Sommersemester 1899, 31.07.1899, StAZH U 109g.2:3; ders., Seminarbericht Sommersemester 1901, undat. ebd., und weitere Seminarberichte in StAZH U 109g1:3. Heinrich von Zeissberg, Seminarbericht Wintersemester 1884/85, 14.03.1885, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasc. 693. 4840/1885, fol. 3rf., hier 3r; Max Büdinger, Seminarbericht Wintersemester 1895/96, 07.03.1896, ebd., 5915/1896, fol. 2, hier 2r; Josef Hirn, Seminarbericht Sommersemester 1901, Juli 1901, UA Wien, Akten des Historischen Instituts, Kart. 1:2, fol. 49, hier 49r. und weitere Berichte in MCU 4A Fasc. 693 u. UA Wen, Akten des Historischen Instituts, Kart. 1:2. Zu Fickers Unterricht vgl. Thomas Brechenmacher: Julius Ficker. Ein deutscher Historiker im Tirol, in: Geschichte und Region: Jahrbuch der Arbeitsgruppe Regionalgeschichte Bozen 5/1996 S. 53–92; Julius Jung: Julius Ficker (1826–1902). Ein Beitrag zur deutschen Gelehrtengeschichte, Innsbruck 1907, S. 202–206. Mühlbacher, der sich in den 1870er Jahren für eine Publikation eingesetzt hatte, erbte Fickers letztlich unpubliziert bleibendes Vorlesungsmanuskript. Hinweise zum Publikationsprojekt: IfÖG, NL Mühlbacher:
2.5 Transparente Speicher: Quellenkonzepte in der Erweiterung
121
Die Vorlesung, die Alfons Huber auf der Grundlage von Julius Fickers Vorlage ab 1888 hielt, bot eine Einleitung in die „historische Methode“ im Singular, ein Gitter aus Verfahrensschritten, die sich als fest umrissene, replizierbare Operationen präsentierten. Ihre Struktur und Inhalte geben nicht nur über Hubers Quellenverständnis Aufschluss, sondern auch über seine Konzeptualisierung des Forschungsprozesses. Der erste Hauptteil der Vorlesung unter dem Titel „Quellen“ bestand aus einer allgemeinen Quellenkunde, die etwa ein Drittel der Vorlesung einnahm. Im zweiten Hauptteil wurde schwerpunktmäßig die „Untersuchung des Werthes der Quellen“79 behandelt, die dazu dienen sollte, eine „möglichst genaue Ergründ[un]g des wirkl[ichen] Geschehens, der gesch[ichtlichen] Wahrh[ei]t“80 , zu erreichen. Die hier vermittelte Analyse der Quellen beschränkte sich im Wesentlichen auf die als innere und äußere Kritik bekannten Verfahrensschritte, auf die Bestimmung des Tatsachengehalts der Quellen. Huber minimierte dagegen die Bedeutung der interpretatorischen Leistungen von Historikern, indem er diese nicht als Forschungs-, sondern als Darstellungsmomente thematisierte. Die Autonomisierung der Forschung wurde in der Gegenüberstellung von Forschung und Geschichtsschreibung auf den Punkt gebracht: Die Forschung habe den ausschließlichen Zweck, die historische Wahrheit zu erschließen – die „Prüf[un]g ob d[a]s, was angebl[ich] gescheh[en], wirkl[ich] gescheh[en]“.81 Dagegen konnte die Geschichtsschreibung zwar unterschiedlichen Zwecken dienen und verschiedene Darstellungsweisen wählen, war dabei aber immer auf die durch die Forschung ermittelte Wahrheit zurückverwiesen, für die grundsätzlich die Beweislast beim Forscher lag.82 In dieser Perspektive wurde die Forschung zur unentbehrlichen Grundlage jeder Geschichtsschreibung, während Forschung ohne Geschichtsschreibung durchaus möglich erschien. Die Autonomisierung der Forschung war bei Huber zugleich von einer theoretischen Abstinenz und von der Aufwertung des Vorläufigen begleitet: Forscher sollten „n[icht] [von] einem v[on] vornherein als richtig angenommenen (theologisch, philos., politisch od. social) Princip“ ausgehen „u[nd]
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Julius Ficker an Engelbert Mühlbacher; IfÖG, NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker. Huber konnte sich auf eine eigene Vorlesungsmitschrift stützen. Julius Ficker, Anleitung zur quellenmäßigen Bearbeitung der Geschichte, Hefte II–IV, Mitschrift Alfons Huber mit Ergänzungen Hubers von späterer Hand, Archiv IfÖG, NL Huber 2. Erhalten ist auch ein Vorlesungsmanuskript Hubers, das darauf aufbaut. Alfons Huber, Anleitung zur historischen Forschung, Vorlesungsms., undat. [nach 1891], Archiv IfÖG, NL Huber 3. Alfons Huber, Anleitung zur historischen Forschung, Vorlesungsms., undat., fol. 116r, Archiv IfÖG, NL Huber 3. Alfons Huber, Anleitung zur historischen Forschung, Vorlesungsms., undat., fol. 2r, Archiv IfÖG, NL Huber 3. Alfons Huber, Anleitung zur historischen Forschung, Vorlesungsms., undat., fol. 3r, Archiv IfÖG, NL Huber 3. Alfons Huber, Anleitung zur historischen Forschung, Vorlesungsms., undat., fol. 2r–3r, Archiv IfÖG, NL Huber 3.
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2. Von den Historien zum Speicher: Die universitäre Vermittlung
alles, was diesem widerstreitet, als notwen[dig] unrichtig ü[ber]liefert“ verwerfen. „Hier muß strengste Objectivität gefordert werd.[en] u[nd] wenn d[a]s Ergebniß zweifelh[a]ft od[er] negativ, so darf der Histor[iker] dies n[i]cht verschweig[en], darf n[icht] diese Sache als sicher darstell[en].“83 Das Konzept einer sich aller Vorannahmen enthaltenden, sich dadurch autonom stellenden Forschung, das wissenschaftsgeschichtlich als objektivistisch oder faktizistisch bezeichnet werden kann, wurde durch die bei Huber angelegte Verallgemeinerung des Quellenkonzepts unterstrichen. Die Ubiquität der Quelle baute sich zu Beginn der Vorlesung auf, wenn die Studierenden über viele Stunden hinweg direkt in eine ausführliche Beschreibung von „Quellen“ eintauchten. „Quellen“ waren hier alle Überlieferungen: sowohl die „faktischen“ – die materiellen Überreste, die fortbestehenden Sitten von „Völkern“ und die geographischen Verhältnisse – als auch die mündlichen und die schriftlichen Überlieferungen.84 In Hubers Quellentypologie nahmen die erzählenden Quellen deshalb einen vergleichsweise kleinen Stellenwert ein. Sie wurden erst als letzte nach einer äußerst ausführlichen Darlegung aller sogenannten „Urkunden“ im weiteren Sinn, aller nicht zu Traditionszwecken hergestellten schriftlichen Überreste, diskutiert.85 Während Huber die Quelle als erstes und allgemeinstes Erkenntnisobjekt von Historikern mit einem verzweigten analytischen Instrumentarium erfasste86 , wurden sowohl die Heuristik als auch theoretische Perspektiven auf Quellen nicht berührt. Huber und Mühlbacher, dessen methodologischen Vorlesungen bereits seit 1881 dem gleichen Muster folgten, brachten diese Form der Methodenlehre erstmals breit als Propädeutik unter die Studierenden. Sie trugen in ihrem Wiener Umfeld wesentlich zu einer Verallgemeinerung und Festlegung dieser Ausprägung des „Quellenblicks“ bei, die die Geschichtswissenschaft bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein beeinflusste. Gegenüber dem älteren historiographiezentrierten Modus brachte dieses Forschungskonzept einen allgemeineren Quellenbegriff und eine Zurücksetzung historiographischer Autorschaft zugunsten einer intensiven Detailarbeit an einer Vielzahl von sogenannten „Überresten“ mit sich. Dies war nicht zuletzt dem Boom der Beschäftigung mit Herrscherurkunden zu verdanken, die seit den 1860er Jahren durch die rechtshistorischen Arbeiten Julius Fickers und seiner Schüler in Innsbruck wie auch durch die diplomatischen Forschungen Theodor Sickels am Institut für Österreichische Geschichtsforschung sehr promi-
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Alfons Huber, Anleitung zur historischen Forschung, Vorlesungsms., undat., fol. 2v, Archiv IfÖG, NL Huber 3 Alfons Huber, Anleitung zur historischen Forschung, Vorlesungsms., undat., fol. 87r, Archiv IfÖG, NL Huber 3. Alfons Huber, Anleitung zur historischen Forschung, Vorlesungsms., undat., fol. 2r, Archiv IfÖG, NL Huber 3. Alfons Huber, Anleitung zur historischen Forschung, Vorlesungsms., undat., fol. 198– 205, Archiv IfÖG, NL Huber 3.
2.5 Transparente Speicher: Quellenkonzepte in der Erweiterung
123
nent vorangetrieben wurde.87 Emil von Ottenthal, ein jüngerer Vertreter dieser Tradition, bettete die neuartige Ausweitung der Quellenlandschaft in einen Ethos wissenschaftlicher Ausdauer ein: „Darum arbeitet der Historiker oft geduldig u[nd] entsagungsvoll an der Feststellung der kleinsten minutiösesten, unbedeutend [sic] und fernabliegenden Details, weil er sie als Bausteine weiß für den großen Dom der geschichtlichen Wissenschaft.“88 Ottenthals Ideal der objektiven Geschichtsforschung ermöglichte eine gesteigerte Kleinteiligkeit historischer Arbeit, indem es auf die Standardisierung und Autonomisierung einzelner Forschungselemente zielte, die dadurch in größerem Umfang zuverlässig rekombinierbar werden sollten.89 Die Verallgemeinerung des an den Universitäten gelehrten Quellenkonzepts fand seine Entsprechung in der Erweiterung der konkret in den Unterricht einbezogenen Quellenbestände. Zunächst wurden die dominierenden staats- oder reichsgeschichtlichen, politikhistorisch ausgestalteten Themen nun nicht mehr nur durch Traditionsquellen, sondern auch durch nicht-narrative Quellen erschlossen. Vor allem Königsurkunden, Gesandtschaftsberichte oder Briefe standen im Verlauf des Untersuchungszeitraumes zunehmend ediert zur Verfügung. Im Hochschulunterricht in Zürich wurden seit den 1870er Jahren regelmäßig Urkunden zur Geschichte der alten Eidgenossenschaft herangezogen, die in dieser Zeit gerade besonders häufig ediert wurden, weil man sich um eine auf Urkunden beruhende verfassungsgeschichtliche Fundierung des modernen Bundesstaats bemühte. Gegen Ende des Jahrhunderts griff man dafür auch auf Originale aus dem Staatsarchiv und auf Faksimiles zurück. In Wien wurden nichtnarrative Quellen ausgehend von der Forscherschmiede des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, das die Spezialisierung auf Urkunden für den akademischen Nachwuchs besonders attraktiv machte, auch Gegenstand des allgemeinen Unterrichts.90 87 88
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Vgl. Kap. 7. Emil von Ottenthal, Vorlesungsms. (ohne Titel), undat, (Vorlesung zur Urkundenlehre, wohl um 1905, vgl. Vorlesungsverzeichnis, Wintersemester 1905/06, S. 46), Archiv IfÖG, NL Ottenthal 10. S. V. Emil von Ottenthal, Vorlesungsms. (o. T.), undat., (Vorlesung zur Urkundenlehre, wohl um 1905, vgl. Vorlesungsverzeichnis, Wintersemester 1905/06, S. 46), Archiv IfÖG, NL Ottenthal 10, S. VI–IX. Emil von Ottenthal spannte im Vorwort zu seiner Vorlesung zur Urkundenlehre im Kern das gleiche Forschungsprogramm einer „objectiven Geschichtsforschung“ auf wie sein Lehrer Ficker, erwähnte im Gegensatz zu Ficker und Huber aber, dass eine objektive Geschichte ein Ideal sei, dem sich der Historiker trotz seiner Überzeugungen und Zeitgebundenheit anzunähern versuchen müsse. Obwohl Ottenthal in seinen methodologischen Ausführungen Ernst Bernheims Handbuch der Geschichtswissenschaft erwähnte, beschränkte auch er seine Vermittlung von Forschungsverfahren im Wesentlichen auf die Probleme der Tatsachenfeststellung, ohne die bei Bernheim stärker angelegte Problematisierung von Theorien und Interpretationsansätzen aufzunehmen. Vgl. für diese Entwicklungen die Seminarberichte ab 1872 in StaZH U 109g.1:3 und U 109g.2:3 und in ÖStA AVA, MCU 4A Fasc. 693.
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2. Von den Historien zum Speicher: Die universitäre Vermittlung
Zum anderen boten vor allem Privatdozenten und Extraordinarien im Rahmen neuer Spezialisierungen etwa im Bereich der Wirtschafts- und Verfassungsgeschichte oder der Stadtgeschichte eine Auseinandersetzung mit vorher unberücksichtigten Quellenarten wie Privaturkunden und Stadtrechten an. Die Erweiterungen fanden insbesondere in der Landes-, Wirtschafts- und Verfassungsgeschichte, der osteuropäischen Geschichte und vor allem auch der Geschichte der Neuzeit statt, die nun immer stärker von Studierenden nachgefragt wurde91 . In Wien wurden in wirtschafts- und siedlungsgeschichtlichen Veranstaltungen ländliche Wirtschaftsquellen wie zum Beispiel Urbare besprochen, in Übungen zur osteuropäischen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte wirtschaftsgeschichtliche Quellen der Neuzeit thematisiert und als wichtige Quellen der Neuen und Neuesten Geschichte erstmals Zeitungen systematisch analysiert.92 Diese Spezialisierungsdynamik entfaltete sich auch an der kleinen Erstberufungsuniversität Zürich, wo nun in der Geschichte des Altertums wirtschaftsgeschichtliche Quellen besprochen wurden, der Quellenwert von Bildreproduktionen diskutiert und Quellen zur spanischen und lateinamerikanischen Geschichte vorgestellt wurden.93 Randständig und umstritten blieben hingegen diejenigen Beiträge zur Forschungsvermittlung, die die staats- und politikzentrierten Auffassungen nicht erweiterten, sondern grundlegend herausforderten. Marginalisierungsprobleme zu bewältigen hatten um die Jahrhundertwende neben Kultur- auch Wirtschafts- und Sozialhistoriker, die sich nicht aus der Landesgeschichte heraus definierten, sondern sich mit theoriegeleiteten Zugängen aus den frühen Sozialwissenschaften auseinandersetzten.94 Die Verallgemeinerung des Blicks auf die Quelle spiegelte sich ab den 1880er Jahren im Wandel der dialogischen Veranstaltungen am Seminar. 91 92
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94
S. Fellner: Geschichte als Wissenschaft. Alfons Dopsch: beispielsweise „Besiedlungs- und Verkehrsgeschichte der Alpenländer“, erstmals Wintersemester 1903/04, S. 46; „Übungen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters“, erstmals Sommersemester 1906, S. 46 und viele weitere Veranstaltungen. Dopsch edierte gleichzeitig ländliche Wirtschaftsquellen für die neu entstandene Urbarkommission der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Hans Übersberger: „Lektüre ausgewählter Quellen zur russischen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte“, Sommersemester 1908, S. 49, und weitere Veranstaltungen; Wilhelm Bauer: „Geschichte der Presse als historische Quelle des 19. Jahrhunderts“, Sommersemester 1910, S. 52, und weitere Veranstaltungen. Gustav Billeter: „Erklärung wirtschaftsgeschichtlicher Quellen in der römischen Rechtsliteratur“, Sommersemester 1909, S. 19; und weitere; Johannes Häne: „Lektüre und kulturgeschichtliche Erläuterung der Bilderchronik des Luzerner Schilling; mit Benutzung der Bilderreproduktionen“, erstmals Sommersemester 1905, S. 18 und weitere Veranstaltungen; Eduard Fueter: „Spanische Geschichte (Allgemeine und Kulturgeschichte) im 16. und 17. Jahrhundert“, Sommersemester 1910, S. 19; „Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika“, Wintersemester 1906/07, S. 19 und weitere. Vgl. Kap. 2.7.
2.5 Transparente Speicher: Quellenkonzepte in der Erweiterung
125
In den von Büdinger und seinen Kollegen durchgeführten Seminarveranstaltungen waren kritische Übungen an narrativen Quellen antiker und mittelalterlicher Autoren in der Regel durch Seminararbeiten und durch Konversatorien, auch „Übungen im historischen Lehrvortrage“ genannt, ergänzt worden, in denen die Studenten verschiedenste Themen in Form von Oppositionsvorträgen diskutierten. Während sich die kritischen Übungen oft an einen oder wenige historiographische Autoren hielten, zeichneten sich die Konversatorien wie auch die aus den Übungen entstandenen schriftlichen Arbeiten durch eine bunte thematische Mischung aus, die durch keine übergeordnete Forschungsfrage strukturiert war. So ließ Büdinger beispielsweise im Lauf eines Semesters gleichzeitig das altägyptische Königstum, den spartanischen Kriegsstaat, die fränkischen Hausmeier und den Schlesischen Krieg behandeln.95 Andere Veranstalter setzten zwar einen chronologischen Rahmen, nicht aber spezielle inhaltliche Akzente. Gegenüber diesen losen Themenbündeln entwickelte Oswald Redlich um 1900 in seinen Veranstaltungen am Seminar eine neue Spielart der Übung. Redlich bezog die einzelnen, vorher getrennten Bestandteile – die quellenkritische Übung, die Vortragsübung und die Seminararbeiten – stärker aufeinander, indem er sie um eine gemeinsame Frage zu einem historischen Ereignis herum arrangierte. Gleichzeitig wurden die Bezeichnungen für die herkömmlichen seminaristischen Unterrichtsformen der kritischen Übung und des Conversatoriums aufgegeben, die nun im Vorlesungsverzeichnis der Universität einheitlich als „Seminare“ aufgeführt wurden.96 Redlich legte die Vermittlung des Quellenwissens systematisch auf die Behandlung unterschiedlicher schriftlicher Quellensorten an, so dass nicht mehr die einzelne Überlieferung und ihr Autor im Mittelpunkt standen, sondern das historische Ereignis beziehungsweise der „historische Stoff “, der sich aus den Quellen herausschälen sollte. Ähnliches erreichten die spezialisierten Quellenveranstaltungen von Privatdozenten, die bestimmte Fachzugänge und spezialisierte Forschungsfragen in den Mittelpunkt ihrer Veranstaltungen stellten. Damit wurde ein größerer Allgemeinheits- und Abstraktionsgrad des Quellenblicks erreicht. Dies schlug sich auch in den Proseminaren nieder, die einen höheren Grad an methodischer Explizitheit hatten und Studienanfänger systematisch in unterschiedliche Gruppen von Quellen einführten.97 Das in der Lehre vermittelte Quellenverständnis verallgemeinerte sich 95 96
97
Max Büdinger, Seminarbericht Wintersemester 1872/73, 23.03.1873, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasc. 693, 3883/1873, fol. 2r–6v, hier 3v. Erstmals Wintersemester 1898/99, S. 45. Diese Entwicklung der Seminarbezeichnungen wurde an der Universität Wien bereits seit der Jahrhundertwende vollzogen, während die Historiker an der Universität Zürich die herkömmlichen Bezeichnungen im Untersuchungszeitraum noch aufrechterhielten und diesen Schritt erst nach dem Ersten Weltkrieg vollzogen. Vgl. Proseminarbericht von Johann Lechner, 15.07.1903, unfol., 29251/1903, AVA MCU 4A Fasc. 689, weitere Berichte in UA Wien, Akten des Historischen Seminars 1:2.
126
2. Von den Historien zum Speicher: Die universitäre Vermittlung
damit in entscheidender Weise. In der klassischen Form der Forschungsvermittlung im historiographischen Modus wurde die Lektüre und Kritik narrativer, von einem Autor ausgehender Quellen betrieben, an die die gegenwärtige Produktion der Historiker als eine Form höherer, kritisch begründeter Historiographie nahtlos anschloss. Dagegen kam in den im Untersuchungszeitraum erfolgenden Erweiterungen ein verallgemeinerter Quellenbegriff zum Einsatz, der immer mehr gerade in sogenannten „Überresten“, in nichtnarrativem Material die Grundsubstanz sah, aus der historisches Wissen und damit auch die historische Narration generiert werden konnte. Indem die Quelle nun auch vermehrt aus den Themenbeschreibungen der Historiker verschwand, wurde sie zugleich allgegenwärtig, vielgestaltig und unsichtbar. Durch diese neuartige Transparenz perfektionierte die Geschichtswissenschaft den Durchblick auf die sogenannten „historischen Tatsachen“. Allerdings handelte es sich bei diesem methodologischen Wandel nicht um einen radikalen Bruch, sondern eher um ein Gefüge von Rissen und Erweiterungen. So führte die tiefverwurzelte Sonderstellung erzählender Quellen wie auch die Konzentration auf schriftliche, als Texte interpretierbare Quellenbestände in vielen Aspekten die Traditionen des hermeneutischen Umgangs mit tradiertem Schriftgut fort, die das frühneuzeitliche akademische Lernen geprägt hatten. Dieser wurde mit den neuen Erweiterungen keineswegs aufgegeben; gerade an den zentralen Verfahrensschritten der „inneren“ und „äußeren“ Kritik, die nun auf alle Quellen angewandt wurden, ließe sich aufzeigen, wie die Prägungskraft der auktorialen, theologischen wie historiographischen Texte weiterwirkte, anhand derer diese Verfahren entwickelt worden waren. Der Ausbau quellenfokussierter Vermittlungsweisen historischen Arbeitens lässt eine selektive, voraussetzungsreiche Formalisierung des Umgangs mit unterschiedlichen quellenbezogenen Wissensbereichen erkennen. Einige Bereiche des Umgangs mit historischen Quellen wurden im Untersuchungszeitraum stark standardisiert und in ihrer Reichweite verallgemeinert, während andere auf implizit bleibenden Übereinkünften beruhten, die einem gemeinsamen, keiner Erklärung bedürfenden Denkstil zu verdanken waren. So wurden einerseits die als „innere“ und „äußere“ Kritik bezeichneten Verfahren ab den 1870er Jahren fast allen Studierenden der Geschichte explizit vermittelt, mit einer Vertiefung des quellenkundlichen Wissens verbunden und verallgemeinert. Andererseits blieben weite Bereiche des historischen Vorgehens unerklärt und wurden im Unterricht vor allem praktisch weitergegeben: die Kategorien historischer Interpretation, die Entwicklung eines disziplingerechten Themas oder die Bestimmung der historisch „wesentlichen“ Quellen ebenso wie unzählige der „kleinen Werkzeuge des Wissens“98 , die es erlaubten, gelehrte Literatur zuverlässig zu erschließen, heterogene 98
Vgl. Peter Becker/William Clark: Introduction, in: dies. (Hrsg.): Little Tools of Knowledge. Historical Essays on Academic and Scientific Practices, Ann Arbor, S. 1–34: 1.
2.6 Die „Symptome“ der Kulturgeschichte
127
Materialien einer befriedigenden Ordnung zu unterwerfen und relevante Kommentare anzubringen. Diese wenig formalisierten Bestandteile der Methodik wurden durch eine implizite Relevanztopographie geprägt, die kaum erklärt werden musste, weil sie von den meisten Vertretern der Geschichtswissenschaft geteilt wurde. Historische Relevanz wurde vorwiegend über politikhistorische, auf große Individuen, Nationen und Ideen ausgerichtete Kriterien definiert. Dieselbe Bedeutungshierarchie lässt sich auch in der Auswahl der nichtnarrativen Quellen erkennen, die nun vermehrt zum Zug kamen. Trotz der neuartigen Verallgemeinerung des Quellenblicks war deren Auswahl und Anordnung implizit von einem an Staaten, Politik und großen Individuen ausgerichteten Erkenntnisinteresse geprägt, wie beispielsweise Hubers Vorlesung zeigt. Diese rückte vor allem Quellen in den Vordergrund, die durch staatliches Handeln und politische Öffentlichkeiten hervorgebracht worden waren. Zuoberst auf der Interessenskala stand überdies unangefochten die jeweils eigene Nationalgeschichte, deren Quellenbestände mit größter Akribie erschlossen wurden. Sie generierte am meisten Forschungsinteresse und konnte direkt in geschichtskulturelle Aktualität umgemünzt werden.
2.6 Die „Symptome“ der Kulturgeschichte: Grenzziehungsargumente Friedrich Salomon Vögelin kam 1870 dank seiner Verankerung in der Zürcher demokratischen Bewegung zu seinem Amt als Professor der Kultur- und Kunstgeschichte an der Universität Zürich. Obwohl er auf Wunsch des Vaters Theologie studiert hatte, hatte der Sohn aus angesehener Stadtzürcher Theologenfamilie intensive historische Studien betrieben, in Basel zeitweilig bei Jacob Burckhardt studiert und schon vor seiner Berufung historische Artikel publiziert. Während seiner steilen Karriere als politisches und theologisches enfant terrible des Zürcher Protestantismus hatten Vögelins historisierende Dogmenkritik und sein Engagement als Sozialreformer in den 1860er Jahren zu turbulenten öffentlichen Auseinandersetzungen im Kanton Zürich geführt.99 Der fachliche Außenseiter zog in dem Bewusstsein in die Fakultät ein, einen neuartigen Fachzugang zu vertreten.100 Vögelin verfolgte unter dem Leitbegriff „Kultur“ eine polyperspektivische Integration verschiedens99
100
Zur Biographie vgl. Betulius: Friedrich Salomon Vögelin. Vögelin stand dem Grütli-Verein, der bedeutendsten Arbeiterassoziation vor der Etablierung der Sozialdemokratie in der Schweiz vor, saß 1868 im Zürcher Verfassungsrat und später im Nationalrat und engagierte sich auf kantonaler und nationaler Ebene für die Arbeiterschutzbewegung. Vögelin sah seine Kulturgeschichte als „neueingeführte Disziplin an unserer Universität“. Salomon Vögelin an die Erziehungsdirektion des Kantons Zürich, 12.06.1870, StAZH U 109a.1.
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2. Von den Historien zum Speicher: Die universitäre Vermittlung
ter Phänomenbereiche, die in der politikzentrierten Geschichtsauffassung marginal blieben, und betrieb seine kunsthistorischen Steckenpferde im Unterschied zum gleichzeitig verselbständigten Fach Kunstgeschichte nicht als eigenständige Disziplin, sondern als Bestandteil eines umfassenden Kulturkonzepts.101 Wie Vögelin an die demokratisch geführte Erziehungsdirektion des Kantons schrieb, vertrat er eine Kulturgeschichte im Sinne einer „Entwicklungsgeschichte der menschlichen Lebensverhältniße und Lebensanschauungen, worin das elementarste wie das höchste Verhältniß der menschlichen Gesellschaft seine organische Darlegung“ finde.102 Vögelin positionierte sich damit in Opposition zur staats- und politikzentrierten Geschichtswissenschaft. Mit seiner Betonung der gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Verhältnisse umging der Kulturhistoriker nicht nur bewusst politikgeschichtliche Kategorien, sondern sprach auch Lieblingsthemen der demokratischen Bewegung an. Trotz dieser disziplinären Extravaganzen wurde er zu einem akzeptierten Fachkollegen, der auch am Historischen Seminar unterrichtete. Wegen seines Außenseiterstatus’ entwickelte Vögelin eine Sensibilität für die erhöhten methodischen Anforderungen an eine solche erweiterte Geschichtswissenschaft, aber auch für die Folgen, die dieser Zugang für das Quellenverständnis zeitigte. In seinen Exposés an den Erziehungsdirektor Johann Kaspar Sieber, die zugleich die einzigen von ihm überlieferten programmatischen Schriften bilden, stellte er die Problematiken und Herausforderungen einer solchen politikfernen Geschichte dar. Während seines ersten „eigentlichen Quellenstudiums“103 hatte Vögelin mit den fast 1000 Urkunden des Klosters Rüti, die er transkribierte, eine Quellensorte in den Blick genommen, deren Bearbeitung eine große diplomatische Tradition hatte. Mit seinem neuen Fachkonzept zielte er nun dagegen auf eine ganze Reihe von ungewöhnlichen Untersuchungsobjekten. Er plädierte für die Berücksichtigung von kulturellen Gegenständen aller Art, die als Artefakte oder indirekt über die Analyse von Bildern erschlossen werden konnten, so zum Beispiel Bauten, Gerätschaften oder Kleidungsstücke. Im holistischen Konzept der Vögelinschen Menschheitsgeschichte konnte potentiell alles Material aus der Vergangenheit zum „Symptom“104 der Geschichte werden. Vögelin erkannte an, dass dieser Zugang hohe Anforderungen an das Fach Kulturgeschichte stellte: „[J]a es fehlte – und fehlt noch heute – eine anerkannte Methode
101 102 103 104
Vgl. Salomon Vögelin an die Erziehungsdirektion des Kantons Zürich vom 12.06.1870. StAZH U 109a.1. Friedrich Salomon Vögelin an Johann Caspar Sieber, 14.10.1869, StAZH U 109g.1:3. Friedrich Salomon Vögelin an die Erziehungsdirektion des Kantons Zürich, 12.06.1870, StAZH U 109a.1. Friedrich Salomon Vögelin an die Erziehungsdirektion des Kantons Zürich, 12.06.1870, StAZH U 109a.1.
2.6 Die „Symptome“ der Kulturgeschichte
129
für die Bearbeitung desselben.“105 Es galt, sich von Universalgeschichten älterer Prägung abzusetzen und gleichzeitig neue Herangehensweisen an die Quellen zu entwickeln. Dem Problem der Unermesslichkeit der Quellen, das sich aus der fehlenden Hierarchisierung relevanter Gegenstandsbereiche in der Kulturgeschichte ergab, versuchte er dadurch zu begegnen, dass er sich gegen umfassende Übersichtsdarstellungen und für eine Kultivierung des Nahen, für eine Bevorzugung der Regionalgeschichte aussprach. Indem er seine geschichtswissenschaftliche Seriosität im Hinblick auf die sorgfältige und methodische Erforschung der Quellen unterstrich, versuchte er das Konfliktpotential zu minimieren, das sein Fachzugang barg.106 Während Salomon Vögelins achtzehnjähriger Präsenz konnte sich mit dem Fachmuster „Kulturgeschichte“ ein alternatives Geschichtskonzept an der Universität Zürich halten, das auch nach seinem Tod in verschiedenen Spielarten insofern wirksam blieb, als es von Privatdozenten in Anspruch genommen wurde. Gerade die Quellenorientierung der Kulturgeschichte führte indessen indirekt zu Auseinandersetzungen um die disziplinären Grenzen der Geschichtswissenschaft. In der ersten dieser Affären wurde der ebenfalls explizit demokratisch orientierte Kultur- und Literaturhistoriker Johann Jakob Honegger wissenschaftlich demontiert. Der Erziehungsdirektor des Kantons hatte den langjährigen Privatdozenten 1875 unter Umgehung und zum Ärger der Fakultät zum außerordentlichen Professor ernannt.107 Als Honegger sich zwei Jahre später auf einen Lehrstuhl für deutsche Literatur bewarb, sprachen ihm seine Kollegen einen ernsthaften, methodisch begründeten Forschungszugang ab und bezichtigten ihn des mehrfachen Plagiats. Die Wissenschaftlichkeit von Honeggers Fachzugang wurde von den Gutachtern bestritten: Honegger habe sich als „Begründer einer neuen Wissenschaft“ der Kulturgeschichte hingestellt, er liefere aber nur ein „gedankenloses Gemengsel“ und „schwülstiges Gerede“. Der Hauptvorwurf an Honegger lautete, anstelle wissenschaftlich begründeter kulturhistorischer Arbeit auf dem „ehrlichen und mühevollen Wege wissenschaftlicher Forschung“ eine „Rhapsodie von Kompilationen“ im Genre „feuilletonistischer Deklamation“ produziert zu haben.108 Trotz eines positiven Gegengutachtens Friedrich Salomon Vögelins, der sich für seinen Kollegen bereits zuvor in der Fakultät eingesetzt hatte, blieb Honegger der Aufstieg verwehrt.109 105 106
107 108 109
Friedrich Salomon Vögelin an den Erziehungsrat des Kantons Zürich, 04.12.1876, StAZH U 109.b.1b:25a. Friedrich Salomon Vögelin an Johann Kaspar Sieber, 14.10.1869, StAZH U 109g.1:3; Friedrich Salomon Vögelin an die Erziehungsdirektion des Kantons Zürich, 12.07.1870, StAZH U 109a.1. Dekan der Universität Zürich an den Erziehungsrat, 18.06.1875, StAZH U 109a.1. Heinrich Breitinger, Gutachten zu Johann Jakob Honegger, 19.01.1878, StAZH U 109b.1b:37. Friedrich Salomon Vögelin an den Erziehungsrat des Kantons Zürich, 24.06.1877 und vom 09.09.1877, StAZH U 109a.1 StAZH U 109a.1. Honegger wurde in der Folge inner-
130
2. Von den Historien zum Speicher: Die universitäre Vermittlung
Die Problematik des Leitbegriffs der Kultur, der eine Verunsicherung über die Grundlagen historischen Arbeitens mit sich führte, wurde in den 1880er Jahren in den Habilitationsverfahren der bekannten Kulturhistoriker Otto Henne-Am Rhyn und Otto Hartmann erneut aktuell. Der aus St. Gallen stammende Henne-Am Rhyn hatte sich bereits zehn Jahre früher in Leipzig zu habilitieren versucht, war dort aber abgelehnt worden, weil die Gutachter seine mangelnde Fachlichkeit und seine kulturgeschichtliche und politische Ausrichtung kritisierten.110 Der erfolgreiche Schriftsteller und Journalist, der ebenfalls von Vögelin unterstützt wurde, beantragte eine Venia für „historische, u[nd] ganz vorzugsweise kulturhistorische Vorträge“, die er mit der Bemerkung erhielt, dass er sich in seiner Probevorlesung zu sehr „in Allgemeinheiten“ bewegt habe.111 Das für die Detailversessenheit der meisten zeitgenössischen Historiker befremdliche Thema dieses Vortrages, „Modifikation der menschlichen Kultur nach Zeit und Ort“112 , weist darauf hin, dass sich der Vorbehalt der Fakultät auf Henne-Am Rhyns Fachzugang bezogen haben könnte. In der Kritik der Fakultät wird die Differenz dieses Zugangs zur vorherrschenden Variante der Geschichtswissenschaft schlaglichtartig erhellt: Henne-Am Rhyn erfüllte die Grundanforderung historischen Fachlichkeit nicht, die alles Erforschbare von der einzelnen Quelle aus dachte und in einer absichtsvoll partikularen Anordnung präsentierte. Es erscheint daher nicht als Zufall, dass er nicht befördert wurde und bereits 1885 wieder aus der Universität ausschied. Auch der Habilitationsvortrag des Kulturhistorikers Otto Hartmann von 1887 wurde nur unter dem Vorbehalt akzeptiert, der Begutachtete müsse sich in Zukunft einen weniger populären Zugang aneignen.113 Hartmanns spätere, erfolglose Bemühungen um eine besoldete Anstellung an der Universität zeigen, wie sich am gesellschaftlichen Leitbegriff „Kultur“ und dem Fach Kul-
110 111
112 113
halb der Fakultät weiterhin nur als Privatdozent aufgeführt. Für eine werkgeschichtliche Würdigung s. Hans Schleier: Geschichte der deutschen Kulturgeschichtsschreibung, Waltrop 2003, , Bd. 2, S. 738–755, 1013–1019. Schleier: Geschichte der deutschen Kulturgeschichtsschreibung, Bd. 2, S. 758. Vgl. zum Werk ebd., S. 755–779, 1019–1923. Otto Henne-Am Rhyn an die Erziehungsdirektion, 10.01.1882; Gutachten der philosophischen Fakultät I. Sektion zur Probevorlesung von Henne am Rhyn, undat., StAZH U 109d.1:62. Sitzungsprotokoll der philosophischen Fakultät I. Sektion vom 11.02.1882, StAZH Z 70.2897. Das Gutachten befand, „es sei das von ihm (Dr. Hartmann) gewählte Thema zu allgemein gefasst und zu populär behandelt worden“, und es werde „eine wissenschaftlichere Behandlungsweise in den künftigen Vorlesungen“ erwartet. Der Dekan der philosophischen Fakultät I. Sektion an die Erziehungsdirektion, 09.07. 1887, StAZH U 109d.1:68. Hartmann habilitierte im Fach allgemeine Geschichte, verstand sich aber als ein Vertreter der Kulturgeschichte, wie sein Gesuch auf ein Extraordinariat im Jahr 1892 bezeugt, das er für „Kulturgeschichte, eventuell auf neuere und neueste Geschichte“ einreichte. Otto Hartmann an die Erziehungsdirektion des Kantons Zürich, 26.02.1892, ebd.
2.6 Die „Symptome“ der Kulturgeschichte
131
turgeschichte eine ausgeprägter Kampf um Grenzziehungen114 entzündete, der vom Herausforderer Hartmann wie auch von den arrivierten Historikern Meyer von Knonau, von Wyss und Dändliker betrieben wurde. Die drei Geschichtsprofessoren der Universität lehnten den Beförderungsantrag Hartmanns ab, indem sie die Kulturgeschichte als untergeordnete Spezialisierung beschrieben und ihr den Status einer umfassenden, alternativen Perspektive auf die Geschichte verweigerten, für die sie in den Augen Hartmanns einen Lehrstuhl verdient hatte.115 Kernstück des abwehrenden Gutachtens war erneut die Befestigung von Kriterien der Wissenschaftlichkeit, denen viele Vertreter der Kulturgeschichte nach Ansicht der Gutachter nicht genügten.116 Mit diesen Grenzziehungen waren die Geschichtsprofessoren erfolgreich: Sie wehrten Hartmanns Ambitionen auf die Nachfolge Vögelins so nachhaltig ab, dass dieser 1894 zurücktrat. Während die Zürcher Geschichtsprofessoren die Detailarbeit an Quellen als Maßstab wissenschaftlicher Objektivität anführten und so den fachlichen Kanon bewahrten, forderten die gescheiterten Kulturhistoriker während ihrer Etablierungsbemühungen eine neue Perspektivierung von Forschung ein. Henne-Am Rhyn verfolgte unter dem Begriff der Kultur eine fortschrittsgeschichtliche Vorstellung, die die Geschichtsschreibung als anwaltschaftliche Tätigkeit für den Fortschritt der demokratischen Ideen und der „Vernunft“ erscheinen ließ.117 Eine so verstandene Kulturgeschichte durfte sich seiner Meinung nach nicht auf eine fachwissenschaftliche Spezialforschung beschränken, sondern musste als eine „demokratische Wissenschaft“ allgemeinverständlich bleiben.118 Otto Hartmann, der dazu überging, außerakademische Allianzen zu suchen, zweifelte in einem Schreiben an den demokratischen Erziehungsdirektor sogar die Existenz wertfreier, objektiver Geschichtswissenschaft an: Die Lehre der Geschichtsprofessoren sei trotz anderslautenden Selbstdarstellungen immer von subjektiven politischen Präferenzen geprägt.119 Um die vorherrschenden konservativen und 114 115 116 117 118
119
Gieryn: Boundaries of Science. Gutachten der philosophischen Fakultät I. Sektion zum Gesuch Otto Hartmanns vom 07.03.1892, StAZH U 209d.1:68. Ebd. Vgl. Friedrich Salomon Vögelin an die philosophische Fakultät I. Sektion vom 18.02.1882, StAZH U 109d.1:62. Otto Henne-Am Rhyn an den Erziehungsdirektor des Kantons Zürich, 22.02.1889, StAZH U 109d.1:62. Unterstreichungen im Original. Henne-Am Rhyn bewarb sich 1889 nochmals vergeblich um eine Beförderung. Zu Henne-Am Rhyns Geschichtskonzept vgl. Stefan Haas: Historische Kulturforschung in Deutschland 1880–1930. Geschichte zwischen Synthese und Pluralität, Köln 1994, S. 62–65. Henne-Am Rhyn gilt Haas als Wegbereiter der Positivismusrezeption in der Kulturgeschichte. Ebd., S. 65. „Geschichtsschreibung soll ja freilich objectiv sein, allein im Colleg gestaltet sie sich mehr oder minder immer subjectiv und da ist es doch gewiss in der Ordnung, dass auch die democratische Anschauung zur Geltung kommt [...].“ Otto Hartmann an den Erziehungsdirektor des Kantons Zürich, 06.05.1892, StAZH U 109d.1:68.
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2. Von den Historien zum Speicher: Die universitäre Vermittlung
liberalen Meinungen zu ergänzen, wolle er dafür sorgen, dass an der Universität, wo „jetzt [. . . ] wesentlich nicht in demokratischem Sinn docirt“120 werde, Geschichte aus demokratischer Anschauung gelehrt werde. Hartmann warf also die normativen Grundlagen geschichtswissenschaftlicher Aussagen gegen das fachwissenschaftliche Objektivitätsideal in die politische Waagschale. In der Abwehr der Kulturgeschichte waren die Universitätsprofessoren erfolgreich. An ihren Grenzziehungsbemühungen121 wird sichtbar, wie effizient das Argument der mangelnden Forschungs- und Quellenorientierung war, um methodisch wie politisch abweichende Perspektiven auf die Geschichte zu marginalisieren. Die situative Übersetzung konkreter Ablehnungsgründe ins Kriterium der methodischen Zuverlässigkeit ließ in den betrachteten Fällen die politische Färbung des Konfliktes um die Kulturgeschichte122 in den Hintergrund treten. Der zur Disposition gestellte gesellschaftliche Leitbegriff der Kultur stellte jedenfalls den Gegenstand einer wissenschaftspolitischen Auseinandersetzung um die Grenzen und Inhalte der Geschichtswissenschaft und um den Habitus des Historikers dar. Diese Auseinandersetzung wurde vor allem entlang der Linien von Forschungsorientierung versus Dilettantismus beziehungsweise Quellenblick versus Kompilation ausgetragen.
2.7 Die historische Methode als „Selbstzweck“ der Wirtschaftsgeschichte Der aus Schlesien stammende Georg Caro war auf die Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters spezialisiert, als er sich 1896 an der Universität Zürich habilitierte. Er legte einen auf Archivstudien in Italien basierenden Beitrag zu „Genua und die Mächte am Mittelmeer“ als Habilitationsschrift vor.123 Während seiner langjährigen Lehrtätigkeit an der Universität hielt er Vorlesungen über sein wirtschaftshistorisches Spezialgebiet, aber auch Veranstaltungen zu weiter gefassten Themen in den Bereichen Mittelalter und Neuzeit. Nach der 120 121
122
123
Otto Hartmann an den Erziehungsdirektor des Kantons Zürich, 06.05.1892, StAZH U 109d.1:68. Vgl. zu weiteren Fällen an der Universität Wien auch: Albert Müller: Grenzziehungen in der Geschichtswissenschaft. Habilitationsverfahren 1900–1950 (am Beispiel der Universität Wien), in: Christian Fleck (Hrsg.): Soziologische und historische Analysen der Sozialwissenschaften, Opladen 2000, S. 287–307. Zu den Exponenten einer politisch gefärbten Kulturgeschichtsschreibung auf dem Platz Zürich gehörte neben den hier Erwähnten der liberale Vormärzaktivist und Schriftsteller Johannes Scherr, der bis 1886 am Polytechnikum lehrte. Vgl. Willibald Klinke: Johannes Scherr, Kulturhistoriker. Leben/Wirken/Gedankenwelt, Thayngen/ Schaffhausen 1943. Biographische Notiz Georg Caro, Album der Hochschule Zürich 1879–1912, fol. 193, StAZH Z 70.3082.
2.7 Die historische Methode als „Selbstzweck“
133
Jahrhundertwende begann er, seinen Fachzugang zu verallgemeinern, indem er wirtschaftsgeschichtliche Fragestellungen auch auf die Geschichte der Neuzeit anwandte und in Vorlesungen als erster Dozent in Zürich den Fachbereich Wirtschafts- und Sozialgeschichte explizit abdeckte.124 1903 beantragte Caro erstmals die Errichtung einer außerordentlichen Professur für Wirtschaftsgeschichte, der inzwischen „unter den historischen Disziplinen eine so hohe Bedeutung“ zukomme, „dass sie im Rahmen des akademischen Unterrichts nicht fehlen“ dürfe.125 Neben den angehenden Historikern hatte Caro dabei auch die Studierenden anderer Fächer im Visier, denn die Wirtschaftsgeschichte helfe „wesentlich die allgemeine Bildung fördern, indem sie das Verständnis für die wirtschaftlichen Verhältnisse der Gegenwart aus der Vergangenheit“ erschließe.126 Nachdem die Fakultät auf seine Beförderungsgesuche in den Jahren 1903 und 1905 ablehnend geantwortet hatte, verbreiterte Caro bei der nächsten Gelegenheit sein Argumentationsspektrum. 1908 verwies er auf die zunehmende institutionelle Verankerung der „Wirtschafts- und Socialgeschichte, einschliesslich Agrar-, Handels- und Kolonialgeschichte“, wie sie am „starken Anwachsen der Produktion auf dem Boden der Wirtschaftsgeschichte“, der Errichtung einer eigenen Fachzeitschrift und der vermehrten Sektionsbildung an historischen Fachkongressen ablesbar sei.127 Mit der Wirtschafts- und Sozialgeschichte vertrat Caro eine Fachrichtung, die im deutschsprachigen Raum bis zum Ersten Weltkrieg international innovative Forschungen hervorbrachte und sich seit den 1880er Jahren mit Fachzeitschriften und später auch Lehrstühlen institutionalisierte. Zum einen stellte die Wirtschaftsgeschichte in diesem Zeitraum einen wichtigen Forschungszweig der jüngeren historischen Schule der Nationalökonomie dar, die sich an der Universität Zürich während Caros Lehrtätigkeit durch Heinrich Herkner und dessen Nachfolger Heinrich Sieveking an der staatswissenschaftlichen Fakultät etablierte. Zum andern ließen sich auch fachwissenschaftlich sozialisierte Historiker wie Caro, die ab den 1880er Jahren wirtschaftsgeschichtliche Perspektiven entwickelten, von den sozialwissenschaftlichen Innovationen beeinflussen, die von der deutschen 124
125 126
127
Erstmals „Ausgewählte Kapitel der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“, Wintersemester 1907/08, S. 18; später u. a. auch „Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Deutschlands und der Schweiz in der Neuzeit“, Sommersemester 1911, S. 19. Georg Caro an die Erziehungsdirektion des Kantons Zürich, 10.05.1903, StAZH U 109d.2:84. Caro versuchte mit seinem Vorstoß vom Institutionalisierungsschub zu profitieren, mit dem gleichzeitig die Betriebswirtschaftslehre und die Journalistik durch eigene Abteilungen an der Universität verwissenschaftlicht wurden. Georg Caro an die Erziehungsdirektion des Kantons Zürich, 10.05.1903, StAZH U 109d.2:84. Georg Caro an die Erziehungsdirektion des Kantons Zürich, 21. Juni 1908, StAZH U109d.2:84. Zu den abgelehnten Gesuchen von 1903 und 1905 vgl. Georg Caro an die Erziehungsdirektion des Kantons Zürich vom 10.05.1903, StAZH U 109d.2:84; Auszug aus dem Protokoll des Erziehungsrates des Kantons Zürich, 24.05.1905, ebd.
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2. Von den Historien zum Speicher: Die universitäre Vermittlung
Nationalökonomie, der entstehenden Soziologie und benachbarten Wissensfeldern128 ausgingen. So pflegte Caro etwa auch Forschungskontakte mit historisch arbeitenden Nationalökonomen. In der Ökologie der Disziplinen musste sich Caro an der Schwelle zur historischen Nationalökonomie positionieren, als er sich nach 1900 um eine Verfestigung seines Fachzugangs bemühte. Die Auseinandersetzung mit dem historischen Methodenverständnis spielte in seinen Vorstößen deshalb argumentativ eine zentrale Rolle. Mit seinem Fachkonzept situierte sich Caro ausdrücklich als Spezialist im Feld einer sich ausdifferenzierenden, arbeitsteiligen Geschichtswissenschaft: „Als integrierender Bestandteil der Geschichtswissenschaft dient sie [die Wirtschaftsgeschichte, D.S.] zur Erschließung des historischen Verständnisses“.129 Er fuhr fort: „Sache des Historikers ist vor allem aber auch die Beschäftigung mit den Quellen. [. . . ] Aus älteren Epochen [. . . ] liegen oft nur vereinzelte Ueberreste vor, deren Interpretation und Verknüpfung die mannigfachen Denkoperationen erfordert, die als historisch-kritische Methode bezeichnet zu werden pflegen und deren Anwendung historische Schulung verlangt.“130
Mit diesem Bekenntnis zum methodischen Primat der Quelle beschrieb Caro seine Spezialisierung als Umsetzung der geschichtswissenschaftlich bereits angelegten Fachroutinen und nicht als Bruch zu den Methoden einer älteren, staats- und politikzentrierten Geschichtswissenschaft. Außerdem grenzte er sich explizit gegen die Nationalökonomie ab: Während diese im Hinblick auf ihre eigenen wissenschaftlichen Ziele historisch arbeite, sei der historische Zugang für die Wirtschaftsgeschichte „Selbstzweck“.131 Schließlich sah er sich auch genötigt, auf die Diskreditierung der Wirtschaftsgeschichte seit dem Lamprecht-Streit einzugehen. Dabei grenzte er sich von den gesetzeswissenschaftlichen „Theorien“ Lamprechts ab, der sich methodologisch von den herrschenden Grundannahmen der eigenen Herkunftsdiziplin entfernt hatte.132 Mit diesen Maßnahmen vollzog Caro strategische Grenzziehungen, 128
129
130 131 132
Vgl. Raphael: Die „Neue Geschichte“, Roger Chickering: Karl Lamprecht. A German Academic Life, Atlantic Highlands, NJ 1993, S. 49–52. Caro hatte während seines Studiums unter anderem auch nationalökonomische Vorlesungen besucht und publizierte in den „Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik“. Als der ebenfalls zu italienischer Wirtschaftsgeschichte arbeitende Nationalökonom Sieveking 1907 nach Zürich kam, kannte er Caro bereits aus einem Briefwechsel. Georg Caro an die Erziehungsdirektion des Kantons Zürich, 25.05.1896, StAZH U 109d.2:84; Sieveking (undat.), Autobiographische Aufzeichnungen, S. 217, Biogr. Doss. „Sieveking, Heinrich Johann, 1871–1946, Nationalökonomie“, UAZ, AB.1.0927. Georg Caro, Die Wirtschaftsgeschichte, [sic] im Hochschulunterricht, Aktenvermerk: 17. Oktober 1911, StAZH U 109d.2:84. Caro positionierte sich als geschichtswissenschaftlicher Spezialist, indem er selbst von einer fachlichen „,Arbeitsteilung‘“ sprach. Ebd. Georg Caro, Die Wirtschaftsgeschichte, [sic] im Hochschulunterricht, Aktenvermerk: 17. Oktober 1911, StAZH U 109d.2:84. Georg Caro, Die Wirtschaftsgeschichte, [sic] im Hochschulunterricht, Aktenvermerk:
2.7 Die historische Methode als „Selbstzweck“
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die die Demarkation der Geschichtswissenschaft stärkten und die disziplinäre Zugehörigkeit seines Fachzugangs bekräftigen sollten. An der Universität Wien musste der zeitgleich mit Caro lehrende Ludo Moritz Hartmann mit ganz ähnlichen Marginalisierungsproblemen kämpfen, die es ihm trotz einer erfolgreichen Lehrtätigkeit über zwanzig Jahre hinweg nicht ermöglichten, zum außerordentlichen Professor zu avancieren – erst 1918 erfolgte seine Beförderung unter veränderten politischen Vorzeichen. Hartmann, ein Spezialist für die Geschichte der Spätantike und des Mittelalters, der 1893 zu den Begründern der „Zeitschrift für Social- und Wirthschaftsgeschichte“ gehörte, hatte sich als editorischer Mitarbeiter der Monumenta Germaniae Historica und als Absolvent des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung als waschechter quellenkundiger Historiker nach allen Regeln der Kunst bewiesen, entwickelte aber auf der Grundlage seiner materialistischen Überzeugungen Interpretationsansätze, die dem individualisierenden Zugang des geschichtswissenschaftlichen Mainstreams widersprachen. Im Gegensatz zu Caro hatte Hartmann keine Bedenken, sich gesetzeswissenschaftlich orientierten Positionen anzunähern. Wie Günter Fellner gezeigt hat, wurde Hartmann nicht nur wegen seines sozialdemokratischen politischen Engagements, sondern auch wegen seiner typisierenden Herangehensweise an die Wirtschaftsgeschichte gerade von seinem engsten Kollegen Alfons Dopsch besonders hartnäckig bekämpft.133 Dopsch hatte seine eigenen wirtschaftsgeschichtlichen Interessen in landesgeschichtlichen Arbeitszusammenhängen und immer im Hinblick auf die Ebene des Politischen entwickelt. In seiner meist indirekten Auseinandersetzung mit Hartmann (der wie Dopsch unter anderem zur umstrittenen Frage des Übergangs von der Spätantike zum Frühmittelalter publizierte), brandmarkte er soziologische Zugänge als politisch gefährlich. Er konnotierte sie wiederholt mit den Gespenstern eines staatsfeindlichen Kollektivismus und Kommunismus und unterstellte ihnen gleichzeitig, „in den Quellen etwas zu suchen, was sie kritisch betrachtet, gar nicht erhalten“ könnten.134 Hier wurde nicht eine fehlende Quellenorientierung bemängelt, sondern die interpretatorische Perspektive auf die Quellen als verfehlt verurteilt. Die philosophische Fakultät der Universität Zürich hingegen hatte keinen Grund, an der disziplinären Verankerung Caros zu zweifeln. Sie wies dessen Ansprüche auf ein Extraordinariat vielmehr mit der Begründung zurück, Caro irre, wenn er einen Novitätsanspruch anmelde, denn Wirtschaftsgeschichte bilde bereits regulär einen Teil der allgemeinen und insbesondere
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17. Oktober 1911, StAZH U 109d.2:84. Vgl. dazu Chickering: Karl Lamprecht, S. 146– 174. Fellner: Ludo Moritz Hartmann, S. 239–241. Alfons Dopsch, Wirtschaftliche und soziale Grundlagen der europäischen Kulturentwicklung aus der Zeit von Cäser bis auf Karl den Großen. Bd. 1, Wien 1918, S. 226. Zum Kontext S. Fellner: Ludo Moritz Hartmann, S. 310.
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2. Von den Historien zum Speicher: Die universitäre Vermittlung
der Kulturgeschichte.135 Es sei deshalb nicht einzusehen, weshalb mit der Wirtschaftsgeschichte eine Spezialdisziplin ein Extraordinariat erhalte, eher sollte nach Meinung der Fakultät nun die inzwischen verwaiste „Hauptprofessur“ für Kulturgeschichte wiederbesetzt werden.136 Mit dieser Begründung, die sich den gesellschaftlichen Leitbegriff der Kultur ein letztes Mal zunutze machte, lehnte die Fakultät 1903 die Verselbständigung der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte ab. Das umfassende und unscharfe Fachmuster „Kulturgeschichte“, als dessen „speziellen Zweig“ sie die Wirtschaftsgeschichte nun sahen,137 erlaubte es den etablierten Professoren, ein Extraordinariat in Wirtschaftsgeschichte als Überspezialisierung zu klassifizieren. Wie die Methodenorientierung funktionierte die situative Deutung von Fachbezeichnungen als Vehikel disziplinärer Grenzziehungen. Mit der Vereinnahmung der innovativen Anliegen der Wirtschaftsgeschichte für die allgemeine Geschichte konnte jene neutralisiert werden. Die längerfristig anhaltende Marginalität der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte und das Verschwinden des Labels „Kulturgeschichte“ nach dem Ersten Weltkrieg an der Universität Zürich müssen im Kontext der Befestigung des disziplinären Selbstverständnisses der akademischen Geschichtswissenschaft der Zeit und der Abgrenzungsstrategien gegenüber sozialwissenschaftlichen Zugängen verstanden werden, die seit den 1880er Jahren die Fachpolitik der universitären Geschichtswissenschaft im deutschsprachigen Raum prägten.138 Der kunstgerechte Quellenblick wurde in diesem konfliktreichen Prozess von verschiedenen Seiten zum Argument im disziplinären „boundary work“139 erhoben. Trotzdem blieben die Praktiken der Quellenarbeit nur teilweise formalisiert. Sie bildeten eine komplexe Gemengelage aus relativ klar abgegrenzten Vorgehensweisen der sogenannten „Tatsachenfeststellung“, allgemeineren Ordnungsweisen von Wissen und unter der expliziten Ebene bleibenden Handlungsvorgaben, die situativ angeeignet wurden. Die Fixierung auf den Quellenblick als zentrales Merkmal der Fachlichkeit erscheint gerade dadurch wirkungsvoll und anpassungsfähig, dass sie in Auseinandersetzungen, in denen es oft auch um fachpolitische, politische und personelle Divergenzen ging, flexibel eingesetzt werden konnte. Entsprechend stellte die Rede von der historischen Methode im Singular, die auf
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Gutachten der philosophischen Fakultät I. Sektion zum Gesuch von Georg Caro an die Erziehungsdirektion des Kantons Zürich, 06.06.1903, StAZH 109d.2:84. Gutachten der philosophischen Fakultät I. Sektion zum Gesuch von Georg Caro an die Erziehungsdirektion des Kantons Zürich, 06.06.1903, StAZH U 109d.2:84. Gutachten der philosophischen Fakultät I. Sektion zum Gesuch von Georg Caro, an die Erziehungsdirektion des Kantons Zürich, 06.06.1903, StAZH U 109f:2. Hans Schleier: Historisches Denken in der Krise der Kultur. Fachhistorie, Kulturgeschichte und Anfänge der Kulturwissenschaften in Deutschland, Göttingen 2000, bes. S. 71–93. Vgl. Gieryn: Boundaries of Science, S. 405.
2.7 Die historische Methode als „Selbstzweck“
137
dem Quellenblick gründete, in vielerlei Hinsicht ein „Zunftgeheimnis“140 dar, wie Ottokar Lorenz es polemisch formulierte – einen situativ formbaren, kleinsten gemeinsamen Nenner geschichtswissenschaftlicher Identität, der die disziplinäre Zugehörigkeit ihrer Protagonisten und die Behauptung einer distinkten Form von Wissenschaftlichkeit garantierte. Sie war genügend spezifisch und lose zugleich, um weder kontrovers zu werden noch zu viele spezialisierte technische Vorgaben vorauszusetzen.141 Der Quellenblick konnte diese weitreichenden Funktionen erfüllen, weil sich die historische Quelle im Untersuchungszeitraum zunehmend zum abstrakten Grundelement historischer Forschung, zu einem Speicher vielfältiger und durch den Historiker von Grund auf zu organisierender Fakten entwickelte. Gegenüber der Quelle im historiographischen Kontinuum wurde sie nun zur gänzlich durchsichtigen Grundlage von Aussagen zur historischen Wirklichkeit und verhalf der Geschichtswissenschaft zu einer ihr eigenen Form der Bildung von Objektivität – einem Konzept von Wissen, das nicht durch den Wissenden strukturiert erscheint, sondern sich aus sich selbst offenbart142 und gerade aus der Vorläufigkeit der Erkenntnis eine Tugend macht. Diese Entwicklung spiegelt sich in der Verfestigung des Unterschiedes zwischen Sekundärliteratur und Primärmaterial, das das Forschersubjekt nun sehr viel strikter von den Grundlagen seiner Forschung trennte, als dies die Kontinuität des historiographischen Bezugsrahmens zuvor vermocht hatte. Die Verallgemeinerung, teilweise Entliterarisierung und Transparentwerdung der Quelle stellt deshalb die markanteste epistemische Schließung in der universitären Weitergabe der Geschichtsforschung im Untersuchungszeitraum dar.
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Lorenz: Die Geschichtswissenschaft in Hauptrichtungen und Aufgaben, Bd. 2, S. 286. Vgl. Ilana Löwy: The Strength of Loose Concepts – Boundary Concepts, Federative Experimental Strategies and Disciplinary Growth. The Case of Immunology, in: History of Science 30/1992, S. 371–396: 373. Laut Löwy sind lose Konzepte dauerhaft wirksam, wenn verschiedene Ausrichtungen und Zielsetzungen der wissenschaftlichen Arbeit in einem einzigen Arbeitszusammenhang hybridisiert werden müssen. In der Geschichtswissenschaft führte auch die Diskrepanz zwischen heterogener Praxis und einer nur auf wenige Aspekte der Arbeit begrenzten methodischen Explikation zu solchen losen Konzepten. S. die durch den Zweifel gekennzeichnete „strengste Objectivität“ bei Alfons Huber, Anleitung zur historischen Forschung, Vorlesungsms., undat., fol. 2v, Archiv IfÖG, NL Huber 3. Vgl. Daston/Galison: Objektivität, S. 42.
3. Aneignungen: Die Persona des Geschichtsforschers Die disziplinäre Festigung eines konzeptuellen wie materiellen Arbeitsinstrumentariums und der Wandel der Ausbildungshintergründe, Berufschancen und Arbeitsformen brachten im 19. Jahrhundert neue Spielarten eines geschichtswissenschaftlichen Selbstverständnisses hervor. Nachdem Geschichtsprofessoren in der Frühneuzeit oft nicht selbst historisch geforscht hatten, erwarteten die Universitäten von ihren Vertretern nun eine ausgesprochene Forschungsausrichtung, die diese beispielsweise mit der nebenamtlichen Durchführung von Editionsprojekten erfüllten. In den großen Editionsunternehmen des deutschen Sprachraums wie etwa den Monumenta Germaniae Historica arbeiteten sogar Historiker, die diese Arbeit für einen Abschnitt ihrer Laufbahn hauptberuflich ausübten, wenn auch die meisten von ihnen daneben eine akademische Laufbahn anstrebten.1 Die Forschungsorientierung konsolidierte sich nun überdies disziplinär: Während in der Frühneuzeit historische Methoden als empirische Zugänge in vielfältigen Wissenszusammenhängen wie der Theologie, dem Recht, der historia literaria, der antiquarischen Gelehrsamkeit und der Medizin nebeneinander angewendet worden waren, erhoben Historiker des 19. Jahrhunderts Anspruch auf die disziplinäre Vorherrschaft über die historische Forschung.2 Im Kontext der Universitäten und der Forschungsorganisationen entstanden neuartige geschichtswissenschaftliche Arbeitssubjekte, die in die Regelmäßigkeiten des disziplinären Feldes und in die Handlungshorizonte dieser Institutionen eingebunden waren.3 Einige der Handlungsbereiche und Selbstverständnisse, die sich Historiker im 19. Jahrhundert erschlossen, sind bereits näher untersucht worden. Geschichtswissenschaftler betrieben nicht nur Forschung und Lehre, sondern waren auch in die Administrationsabläufe der Universitäten und Forschungsorganisationen sowie in staatliche Bildungspolitiken eingebunden. Sie prägten die historischen Narrative ihrer Gesellschaften und trugen sich einer geschichtskulturellen Öffentlichkeit als Experten an, die sich unter anderem für Schulbücher, Museen und Ausstellungen, Festspiele oder auch politische Strategien zuständig fühlten. Sozial- und wissenschaftshistorisch bedeutsam ist insbesondere die Formierung einer 1 2
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Vgl. die Portraits in Fuhrmann: „Sind alles Menschen gewesen“. Vgl. Grunert/Vollhardt (Hrsg.): Historia literaria; Grafton: What was History; ders.: The Identities of History; Gianna Pomata: Praxis Historialis. The Uses of Historia in Early Modern Medicine, in: dies./Nancy G. Siraisi (Hrsg.): Historia. Empiricism and Erudition in Early Modern Europe, Cambridge, MA 2005, S. 105–146; dies./Siraisi: Introduction, Kelley: Faces of History; Seifert: Cognitio historica. Raphael: Organisational Frameworks, bes. S. 151–154; im internationalen Überblick: ders.: Geschichtswissenschaft, S. 25–43.
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3. Aneignungen: Die Persona des Geschichtsforschers
disziplinär geprägten „Zunft“ mit starken Schulbildungs- und politischen wie fachlichen Ausgrenzungstendenzen, die die Professionalisierung von Historikern im 19. Jahrhundert begleitete. Forschungen zum politischen Selbstverständnis von Historikern im deutschsprachigen Raum arbeiteten überdies die große Staatsaffinität eines Großteils der „Zunft“ im 19. und frühen 20. Jahrhundert heraus: Historiker traten oft als „Mandarine“ hervor, die maßgeblich an der Herausbildung nationalistischer Deutungsmuster und an der historischen Legitimierung von Staatsmacht, Imperialismus und Kriegen beteiligt waren.4 Die Praxis der Forschung als Gegenstandsbereich geschichtswissenschaftlicher Sozialisation5 und als bedeutender Aspekt der Aneignung eines geschichtswissenschaftlichen Selbstverständnisses6 wurde in der Regel hingegen kaum thematisiert. Hier soll nun analysiert werden, auf welche Weise sich junge Historiker soziale, kognitive und arbeitspraktische Kompetenzen als Geschichtsforscher aneigneten. Dabei geraten zunächst die Techniken der Selbstführung und Selbstdarstellung, die Sozialisationsprozeduren in Forschungsnetzwerken und schließlich die Erschließung von Forschungsressourcen, Reputation sowie von Zugängen zum historischen Material ins Blickfeld (Kapitel 3.1 bis 3.3). In einem zweiten Schritt wird herausgearbeitet, welche Rolle die materiellen und konzeptuellen Szenarien der historischen Forschung für das Selbstverständnis der untersuchten Historiker spielten, wenn sie auf Forschungsreise gingen und in Archiven Quellen erschlossen (Kapitel 3.4 und 3.5). All diese Selbstführungsverfahren, Arbeitstechniken und Forschungssozialisationen trugen zur Aneignung der wissenschaftlichen Persona7 des Geschichtsfor4
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Buchbinder: Der Wille zur Geschichte, S. 107–109; Gramley: Propheten des deutschen Nationalismus, S. 155–273; Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft, S. 59f., 125f.; Heiss: „Im Reich der Unbegreiflichkeiten“, S. 475; vom Bruch: Historiker und Nationalökonomen, S. 127f.; Weber: Priester der Klio, bes. S. 334f.; zur Figur des staatsnahen Mandarins vgl. Fritz K. Ringer: Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890–1933, München 1987 (amerikan. EA 1969). Geschichtswissenschaftliche Sozialisation wird hier verstanden als offener, laufbahnlang anhaltender Prozess der Aneignung und intersubjektiven Aushandlung von Verhaltensmustern, Selbstverständnissen und Wahrnehmungsgewohnheiten im disziplinären Rahmen der Geschichtswissenschaft. Zum Sozialisationsbegriff vgl. Matthias Grundmann: Intersubjektivität und Sozialisation – Zur theoretischen und empirischen Bestimmung von Sozialisationspraktiken, in: Dieter Geulen/ Hermann Veith (Hrsg.): Sozialisationstheorie interdisziplinär. Aktuelle Perspektiven, Stuttgart 2004, S. 317–346: 318; Klaus Hurrelmann: Einführung in die Sozialisationstheorie, 7., neu ausgest. Aufl., Weinheim/Basel 2001, S. 14; Klaus-Jürgen Tillmann: Sozialisationstheorien. Eine Einführung in den Zusammenhang von Gesellschaft, Institution und Subjektwerdung, 10., erw. und überarb. Aufl., Reinbek 2000, S. 10. In historischer Perspektivierung: Andreas Gestrich: Vergesellschaftungen des Menschen. Einführung in die Historische Sozialforschung, Tübingen 1988, S. 28–34. Zur Bedeutung der Arbeitspraxis für die historischen Ausprägungen eines wissenschaftlichen Selbstes vgl. Daston/Galison: Objektivität, S. 208–216. Lorraine Daston und Otto H. Siebum fassen wissenschaftliche Personae als histo-
3.1 Techniken der Selbsterziehung
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schers bei, in deren Kern die intime Beziehung zu den Forschungsobjekten, den Quellen, aufscheint.
3.1 Techniken der Selbsterziehung „Mommsen: Wenn ein Mensch seine Freude nicht mehr in der Arbeit findet, dann ist es nur ein Zufall, wenn er nicht zum Verbrecher wird.“8
Als der spätere Zürcher Geschichtsprofessor Ernst Gagliardi an der Wende zum 20. Jahrhundert in Berlin studierte, notierte er Auszüge aus seinen zahlreichen Lektüren und Bemerkungen seiner akademischen Lehrer in ein schmales Heft, das er mit „Meine Erzieher“ betitelte. Auch Theodor Mommsens Aphorismus fand Eingang in seine studentische Blütenlese. Sie formuliert eine Einstellung zur Arbeit, die das Emotionsideal der Hingabe und Arbeitsfreude mit der moralischen Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft verbindet. Gagliardi kam auch in seinen Tagebüchern, die er parallel zu diesem Heft führte, wiederholt auf die Aufgabe der Selbstdisziplinierung durch intellektuelle Arbeit zurück, die sich nicht nur an den praktischen Zielen einer erfolgreichen Berufslaufbahn ausrichtete, sondern zugleich dem moralischen Ziel der Selbstverbesserung diente. Dabei rief er sich dazu auf, aus „dumpfer Sehnsucht und unklarer Erwartung“9 zu konzentrierter wissenschaftlicher Arbeit zu gelangen und zweckfreie Leidenschaften wie den häufigen Besuch von Kunstmuseen und die Romanlektüre zu zügeln: „Aus einem überwiegend triebartigen Tätigsein und Nichtstun muss ich ein Arbeiten unter der Lenkung des Willens, nach Maßgabe der vorhandenen Kraft entwickeln, wenn ich hoffen soll, wieder in den Besitz des Maßes von Nervenkraft zu gelangen, das außerordentliche Leistungen ermöglicht. Diese Selbsterziehung zur Lebenskunst soll mir dies Tagebuch
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risch wandelbare kulturelle Identitäten wissenschaftlicher Subjekte. Die wissenschaftliche Persona prägt durch ihre normativen Vorgaben von Selbstverständnissen und Selbsttechniken die einzelnen Wissenschaftler, aber auch das soziale Bild der Wissenschaft. Lorraine Daston/ Otto H. Sibum: Introduction. Scientific Personae and Their Histories, in: Science in Context 16/2003, S. 1–8: bes. S. 3–5; Lorraine Daston: Die wissenschaftliche Persona. Arbeit und Berufung, in: Theresa Wobbe (Hrsg.): Zwischen Vorderbühne und Hinterbühne. Beiträge zum Wandel der Geschlechterbeziehungen in der Wissenschaft vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bielefeld 2003, S. 109–136. S. auch Daston/ Galison: Objektivität, S. 91–307; zu Subjektkonstitutierungen in den Wissenschaften vgl. auch Abbott: Chaos of disciplines, S. 130f. sowie Karin Knorr-Cetina: Epistemic Cultures. How The Sciences Make Knowledge, Cambridge MA/London 1999, S. 11f., 217. Ernst Gagliardi, „Meine Erzieher“, Eintragung 15.09.1901, ZBZ NL Ernst Gagliardi 26, Unterstreichung im Original. Ernst Gagliardi, Tagebücher, Heft IV, Eintragung 26.10.1901, ZBZ NL Gagliardi 27.
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3. Aneignungen: Die Persona des Geschichtsforschers
erleichtern; es ist eine Existenzfrage, wenigstens für den geistigen Menschen, ob ich von der Selbstzerstörung zur Selbstbeherrschung gelange.“10
Die Einübung einer bürgerlichen Arbeitsmoral11 und der damit verbundenen Techniken kleidete Gagliardi hier in eine sowohl medizinische als auch existenzialistische Terminologie. Gagliardi übertrug sie auf die Handlungsebene, wenn er sich dazu ermahnte, die rezeptive Position des Vorlesungshörers zu verlassen: „Ich brauche hier eine energische Anteilnahme am Stoff, ein Wegsehen über die dürre, bald auch furchtbar geschmacklose Behandlung (und Stil!) und kann Gewinn und Freude nur hoffen, wenn ich so intensiv als möglich mitarbeite, mir die Behandlung umforme, selbständig den Stoff aufzufassen suche.“12
Allerdings war der Übergang zu dieser autonomeren, Forschung ermöglichenden Einstellung, die verbreiteten Vorstellungen der Geschichtsdidaktik entsprach,13 nicht einfach zu bewerkstelligen. Gagliardi beklagte die „Verwirrung“, in die ihn der „Ueberreichtum an Stoff im Geschichtsstudium“ gestürzt hatte, und die „relative Unzugänglichkeit der Quellen“.14 Trotzdem nahm er sich, inzwischen nach Zürich zurückgekehrt, vor, für die Übung im Historischen Seminar eine „eigene Leistung, kein Compilat, wie bisher überwiegend“ in Angriff zu nehmen.15 Die Eintragungen geben Einblick in eine zunächst trivial scheinende Dimension der Laufbahn zum Quellenforscher: die Einübung grundlegender Arbeits- und Forschungstechniken als strukturierte Lese- und Schreiberfahrungen, in denen angehende Forscher weitgehend sich selbst überlassen waren. Dies betraf zum einen die geisteswissenschaftlichen Arbeitstechniken der Textbewältigung, die sich nicht grundsätzlich von bereits über Jahre hinweg antrainierten schulischen Techniken wie Auswendiglernen und Exzerpieren unterschieden. Zum anderen ging es um die Erarbeitung spezifischer geschichtswissenschaftlicher Zugänge zum Quellenmaterial, die forscherische Qualitäten hatten. Die stille Anstrengung der Umwandlung von 10 11
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Ernst Gagliardi, Tagebücher, Heft IV, Eintragung 13.04.1902, ZBZ NL Gagliardi 27. Vgl. Manfred Hettling: Die persönliche Selbständigkeit. Der archimedische Punkt bürgerlicher Lebensführung, in: ders./Stefan-Ludwig Hoffmann (Hrsg.): Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000, S. 57–78. Ernst Gagliardi, Tagebücher Heft IV, Eintragung 16.04.1902, ZBZ NL, Gagliardi 27. Bernd Mütter: Entwicklungslinien geschichtsdidaktischen Denkens in Deutschland während des 19. Jahrhunderts. Geschichtswissenschaft – Geschichtsunterricht – Pädagogik, in: ders.: Historische Zunft und historische Bildung. Beiträge zur geisteswissenschaftlichen Geschichtsdidaktik, Weinheim 1995, S. 15–39; Karl-Ernst Jeismann: Geschichte und Bildung. Beiträge zur Geschichtsdidaktik und zur historischen Bildungsforschung, Paderborn/Zürich 2000; Fritz Ringer: Bildungs- und Geschichtstheorien in Frankreich und Deutschland im 19. Jahrhundert, in Küttler/Rüsen/Schulin (Hrsg.): Geschichtsdiskurs, Band 3, S. 229–243. Vgl. Kap. 2.2. Ernst Gagliardi, Tagebücher Heft IV, Eintragung 17.09.1901, ZBZ NL Gagliardi 27. Ernst Gagliardi, Tagebücher Heft IV, Eintragung 22.04.1902. ZBZ NL Gagliardi 27.
3.1 Techniken der Selbsterziehung
143
„dumpfer Sehnsucht und unklarer Erwartung“16 , von emotionalen und lebensweltlichen Motivationen in zielgerichtete Forschungsarbeit bildete einen wichtigen, wenn auch meist implizit bleibenden Bestandteil forscherischer Sozialisation. Darüber hinaus wies diese oft einsame Tätigkeit auch eine weiterreichende, symbolische Dimension auf. Die beharrliche Tätigkeit im Studierzimmer oder in der Bibliothek reproduzierte das Arbeitsethos einer bürgerlichen Lebensführung und bewies die Leistungsfähigkeit angehender Historiker. Für deren zukünftige Laufbahnen war der Beweis von Ausdauer, Stetigkeit in der Ausführung von Aufgaben und zeitlicher Hingabe in der Tat in einem ökonomischen und sozialen Sinn existenziell, denn er floss, wie weiter unten deutlich werden wird, in ihre Reputation im disziplinären Feld ein. Eine diesen Vorgaben entsprechende, planmäßige Lebensführung wurde Kindern in bildungsbürgerlichen und patrizischen Häusern bereits im frühesten Alter zur Selbstverständlichkeit.17 Es ist deshalb möglicherweise kein Zufall, dass gerade in Gagliardis Aufzeichnungen die explizite Reflexion über Arbeitshaltungen viel Raum einnimmt. Während beispielsweise der aus patrizischer Familie stammende akademische Lehrer Gagliardis, Gerold Meyer von Knonau, bereits als Grundschüler dazu angehalten wurde, als Neujahrsgeschenke historisch-geographische Ortsbeschreibungen in mehreren Folgen zu verfertigen18 , musste sich Gagliardi vermutlich das benötigte Bildungsgut und den dazugehörigen Habitus selbständiger aneignen, denn er stammte als Sohn eines Telegraphenbeamten aus einer kleinbürgerlichen Familie. Seine verwitwete Mutter führte während seiner Studienzeit eine kleine Spezereihandlung in einem Außenquartier Zürichs.19 Die historische Arbeit wurde begleitet von zahlreichen disziplinierenden Routinen der „Selbsterziehung“, wie es bei Gagliardi hieß. Unter Studenten war das Schreiben von Tagebüchern sehr verbreitet, in denen eigene Ziele, Stärken und Schwächen reflektiert und Arbeitstugenden wie Planmäßigkeit und Ausdauer eingeübt wurden. Daneben begleiteten Strukturierungs- und Reflexionshilfen wie Rechnungsbücher, Itinerare und Reisetagebücher den 16 17
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Ernst Gagliardi, Tagebücher, Heft IV, Eintragung 26.10.1901, ZBZ NL Gagliardi 27. Vgl. Manfred Hettling/ Stefan-Ludwig Hoffmann: Einleitung. Zur Historisierung bürgerlicher Werte, in: dies. (Hrsg.): Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000, S. 7–22; Manuel Frey: Der reinliche Bürger. Entstehung und Verbreitung bürgerlicher Tugenden in Deutschland, 1760–1860, Göttingen 1997; Albert Tanner: Arbeitsame Patrioten – Wohlanständige Damen. Bürgertum und Bürgerlichkeit in der Schweiz, 1830–1914, Zürich 1995; Ulrike Döcker: Die Ordnung der bürgerlichen Welt. Verhaltensideale und soziale Praktiken im 19. Jahrhundert, Frankfurt 1994; Gunilla-Friedericke Budde: Auf dem Weg ins Bürgerleben. Kindheit und Erziehung in deutschen und englischen Bürgerfamilien 1840–1914, Göttingen 1994. Gerold Meyer von Knonau an Gerold Meyer von Knonau senior, 31.12.1853, ZBZ FA Meyer v. Knonau 34u.1; Gerold Meyer von Knonau an Gerold Meyer von Knonau senior, 31.12.1854, ebd. Georg Hoffmann: Ernst Gagliardi. Sein Leben und Wirken, Zürich 1943, S. 27.
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3. Aneignungen: Die Persona des Geschichtsforschers
Alltag. Gerold Meyer von Knonau legte seiner Mutter gegenüber regelmäßig Rechenschaft über seine aktuellen Arbeitsleistungen und -zeiten ab und führte während seines ganzen Lebens Buch über seine Forschungsstationen und -ausgaben. Sein Kollege Karl Dändliker setzte sich in seinem Tagebuch genaue Arbeitsziele und trug in seinen Stundenplan jeweils nicht nur seine Vorlesungen, Archiv-, Bibliotheks- und Exzerpierstunden ein, sondern auch die Zeiten, die er dem Spazieren und der Erholung widmete. Angehende Historiker lernten außerdem auch, ihre Curricula vitae angemessen zu gestalten. Dändliker ließ beispielsweise einen Entwurf seines Lebenslaufs von seinem älteren Freund, dem späteren Altertumsprofessor Johann Jakob Müller, ausführlich korrigieren und kommentieren. Die Aneignung und Darstellung der wissenschaftlichen Persona wurde auch ikonographisch vollzogen: Fotografien wie auch Skizzen, die im Verwandschafts- und Freundeskreis zirkulierten, geben Aufschluss darüber, wie angehende Historiker und deren Vorbilder, die Geschichtsprofessoren, ihr äußeres Erscheinungsbild sorgsam inszenierten und mit Zeichen der Gelehrtheit ausstatteten.20 Die untersuchten Forscher orientierten sich zudem an literarischen und persönlichen Vorbildern, die sie sich über Lektüren und Portraits lebendig hielten. Gerold Meyer von Knonaus Briefe aus seiner Studienzeit in den 20
Tagebücher: Georg von Wyss (ZBZ FA v. Wyss 365); Karl Dändliker (ZBZ NL Karl Dändliker 4); Ernst Gagliardi (ZBZ, NL Ernst Gagliardi 26–27); Theodor Sickel (teilw. ed. Für 1850/51 in Wilhelm Erben: Theodor Sickel. Denkwürdigkeiten aus der Werdezeit eines deutschen Geschichtsforschers, München/Berlin 1926, S. 122–133; Fragmente im Archiv IfÖG NL Sickel), Julius Ficker, (Erwähnung in: Karl Schabinger von Schowingen: Julius von Fickers Briefnachlaß, in: Clemens Bauer/Laetitia Boehm/Max Müller (Hrsg.): Speculum Historiale. Geschichte im Spiegel von Geschichtsschreibung und Geschichtsdeutung, München 1965, S. 736–748); Ludwig von Pastor (Ludwig von Pastor: Tagebücher, Briefe, Erinnerungen, hrsg. v. Wilhelm Wühr, Heidelberg 1950). Reiseaufzeichnungen und Itinerare: Georg von Wyss (ZBZ, FA v. Wyss 365–366), Gerold Meyer von Knonau (ZBZ, FA Meyer v. Knonau, 34.5, 34.l–q), Theodor Sickel (teilweise ediert in Erben: Theodor Sickel, S. 133–161; Fragmente im Archiv IfÖG NL Sickel). Ausgabenverzeichnis: Gerold Meyer von Knonau (ZBZ FA Meyer v. Knonau 34). Curriculum vitae: Karl Dändliker, Curriculum Vitae 1874, drei Ex., davon eines mit handschriftlichen Korrekturen von Johann Jakob Müller, ZBZ, NL Karl Dändliker 4. Portraits: Z. B. Gerold Meyer von Knonau, Fotografie, undat., abgedr. in: Ursula Isler-Hungerbühler: Johann Rudolf Rahn:. Begründer der schweizerischen Kunstgeschichte. Zürich 1956, Abb. 3. Johann Rudolf Rahn, Gerold Meyer von Knonau am Studiertisch, Bleistiftskizze undat, ZBZ FA Meyer v. Knonau 34b.1. Erwähnung der Zirkulation fotografischer Portraits: Gerold Meyer von Knonau an Emerentiana Meyer von Knonau, 12.05.1864 aus Bonn, ZBZ FA Meyer v. Knonau 34u; 06.04.1866 aus Freiburg, ebd.; 02.05. 1866 aus Göttingen, ebd.; Julius Ficker an Johann Friedrich Böhmer, 21.10.1860 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Ficker: Briefwechsel Johann Friedrich Böhmer mit Julius Ficker; Oswald Redlich an Engelbert Mühlbacher,06.05.1882 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Mühlbacher: Oswald Redlich an Engelbert Mühlbacher. – Vgl. auch Ulrich Muhlack: Die Genese eines Historikers. Zur Autobiographie und Korrespondenz des jungen Ranke, in: Dieter Hein/Klaus Hildeband/ Andreas Schulz (Hrsg.): Historie und Leben. Der Historiker als Wissenschaftler und Zeitgenosse, Festschr. für Lothar Gall, München 2006, S. 21–40.
3.1 Techniken der Selbsterziehung
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1860er Jahren schilderten regelmäßig die Umgangsformen und Unterrichtsstile der akademischen Lehrer, denen er während seiner Aufenthalte an den Universitäten Göttingen, Bonn und Berlin begegnete. Diese Passagen ließen nicht nur seine Verwandten an seinen Studienfortschritten teilhaben, sondern können auch als Elemente einer Suche nach dem perfekten Vorbild verstanden werden. Meyer von Knonau registrierte über die wissenschaftlichen Botschaften hinaus die Sprechweisen, Kleidungsstile und persönlichen Umgangsformen seiner Professoren. Nachdem er wiederholt mit kühler Enttäuschung darauf verwiesen hatte, dass berühmte deutsche Gelehrte seinen idealisierenden Vorstellungen keineswegs entsprachen, schien er 1865 in Göttingen in Georg Waitz endlich sein Vorbild gefunden zu haben, das ihn emotional motivierte: „Ich habe lange keine Arbeitslust in mir gehabt, wie eben jetzt. Wie die äußere Erscheinung von Waitz schwer, so zu sagen vierschrötig ist, so nüchtern sein Wesen. Sybel’s gewisse Eleganz und Hofton fehlen ihm. Er ist bei aller Freundlichkeit eine derbe Natur und hat daneben eine gewisse Portion holsteinischen Starrsinns. Wundert mich, was er zu einigen Sachen sagen wird, wo ich in meinem Nithard nicht seiner Ansicht bin. Aber lernen kann man etwas bei ihm, und zur Erkenntnis dessen kommen, was man auch nicht weiß.“21
Waitz wurde zum Mentor Meyers von Knonau und arbeitete im annalistischen Quellenforschungsunternehmen der Jahrbücher des Deutschen Reichs später mit ihm zusammen. Meyer von Knonau ließ die bewundernd vermerkte Nüchternheit und eine bis ins Detail kultivierte, kunstvolle Schlichtheit später zu Kennzeichen seiner eigenen Produktion werden. Angehende Historiker lasen überdies oft intensiv Autobiographien22 und Briefwechsel prominenter Historiker. Bereits lange vor seiner persönlichen Bekanntschaft mit Waitz hatte sich Meyer von Knonau von seiner Mutter dessen „Deutsche Kaiser“ zuschicken lassen, die eine wissenschaftliche Selbstdarstellung enthielten, und bemerkte dazu, „Waitzens Selbstbiographie interessiert mich.“23 Im Umfeld der österreichischen Urkundenforschung waren in den 1860er Jahren die Biographie und die edierten Briefe Johann Friedrich Böhmers, des Frankfurter Historikers der „Regesta Imperii“, geradezu Pflichtlektüre. Bei Karl Dändliker hinterließen die Briefe Johannes von Müllers, die er neben empfindsamen Romanen leidenschaftlich las, einen tiefen Eindruck.24 Zum Prozess der Subjektwerdung als Forscher gehörte 21
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Gerold Meyer von Knonau an Emerentiana Meyer von Knonau, 05.11.1865 aus Göttingen, ZBZ FA Meyer v. Knonau 34u. Vgl. Hermann Escher: Gerold Meyer v. Knonau 1843– 1931, Zürich 1933,, S. 31–34. Vgl. dazu Albert Müller: Alte Herren/Alte Meister. „Ego-Histoire“ in der österreichischen Geschichtswissenschaft. Eine Quellenkunde, in: ÖZG 4/1993, S. 120–133. Gerold Meyer von Knonau an Emerentiana Meyer von Knonau, 27.11.1864 aus Berlin, ZBZ FA Meyer v. Knonau 34u. Vgl. Georg Waitz: Deutsche Kaiser von Karl dem Grossen bis Maximilian (Deutsche National-Bibliothek IV), Berlin 1862,, S. VIII–XXVI. Karl Dändliker, Tagebuch 1. Januar–30. August 1868, Nr. III, Eintragung 08.01.1868, S. 3, ZBZ NL Karl Dändliker 4. In seiner Jugend verschmähte der Papsthistoriker Ludwig von
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3. Aneignungen: Die Persona des Geschichtsforschers
auch die Einrichtung der persönlichen Umgebung: der Aufbau einer Bibliothek, das Anlegen von Sammlungen und die Möblierung der Wohnung. Auch diesbezüglich verfolgte Meyer von Knonau die Orientierung an seinem wissenschaftlichen Vorbild sehr bewusst, als er sich nach seiner Heimkehr in die Schweiz für sein Arbeitszimmer einen Arbeitstisch anfertigen ließ, der in Stil und Maßen eine exakte Replik von Waitzens Studiertisch war.25 Solche Maßnahmen des Selbstmanagements, Ausstattungs- und Selbstdarstellungsstrategien brachten ein disziplinäres und berufliches Selbstverständnis hervor, das sich stark an einem Bild vom Historiker als selbständigem Einzelforscher orientierte, wie es auch in Autobiographien und Nachrufen häufig hervorgehoben wurde.
3.2 Forschungssozialisation: Arbeitserfahrungen in Netzwerken Entgegen diesem Selbstverständnis autonom handelnder, in vornehmer Vereinzelung forschender Gelehrter vollzog sich die wissenschaftliche Sozialisation in oft komplexen sozialen Konstellationen – in der Zusammenarbeit mit Doktorvätern und Mentoren, in der Mitarbeit an umfangreichen Forschungsprojekten und in prekären, vorläufigen Erwerbssituationen. Die im 19. Jahrhundert lancierten großen historischen Forschungsprojekte verbanden in vorher unbekanntem Umfang die Arbeit in Forschergruppen mit überlokalen Infrastrukturen und umfangreichen öffentlichen und privaten Investitionen. Junge Historiker arbeiteten nach ihrer Promotion vorübergehend für geschichtswissenschaftliche Organisationen, bevor sie nach einem erfolgreichen Einstieg in die akademische Karriere als Professoren häufig wieder eher Einzelforschung betrieben. Die Dauer und das Ausmaß solcher Anstellungen in Forschergruppen waren von der Art der Quellen-
25
Pastor, ein Kollege Julius Fickers, insgesamt Fiktion, las aber intensiv Johannes Janssens Biographie über Böhmer. Ludwig von Pastor: Tagebücher, Briefe, Erinnerungen, S. 12, 45. Die 1868 edierten Briefe Böhmers bildeten eine Standardlektüre angehender Historiker in Innsbruck. Jung: Julius Ficker, S. 377. Böhmer selbst las in großem Umfang Briefliteratur. Johann Friedrich Böhmer an Julius Ficker, 16.03.1862 aus Frankfurt, Archiv IfÖG NL Ficker: Briefwechsel Johann Friedrich Böhmer–Julius Ficker; Johann Friedrich Böhmer an Julius Ficker, 13.04.1863 aus Frankfurt, ebd. Vgl. allg. zur Bedeutung des biographischen und autobiographischen Genres für Wissenschaftskulturen: Daston/ Galison: Objectivity, S. 216f.; Michael Shortland/Richard Yeo (Hrsg.): Telling Lives in Science. Essays on Scientific Biography, Cambridge 1996. Gerold Meyer von Knonau [1911–1931], Autobiographische Aufzeichnungen, ZBZ FA Meyer v. Knonau 34.5, S. 114. Zu Sammlungen vgl. z. B. auch Karl Dändliker, Tagebuch 1. Januar–30. August 1868 Nr. III, Eintragung, 08.01.1868, S. 3, ZBZ, NL Karl Dändliker 4.
3.2 Forschungssozialisation: Arbeitserfahrungen in Netzwerken
147
spezialisierung26 , dem jeweiligen Institutionalisierungsstand der Forschung und den vorhandenen beruflichen Alternativen abhängig. Für beide Untersuchungskontexte lassen sich in Teams bearbeitete Editionsprojekte als Sozialisationsinstanzen von Universitätshistorikern in größerem Ausmaß erst ab den 1860er Jahren verfolgen. Allerdings erlangte die Mitarbeit in Editionsprojekten im österreichischen Kontext eine ungleich größere Bedeutung als in der Schweiz. Hier fehlten Agenturen historischer Forschung, die dieselben hierarchisch geordneten und relativ zentralisierten Forschungsstrukturen hätten hervorbringen können wie etwa das Konglomerat der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und des Instituts für österreichische Geschichtsforschung in Wien. Zwar arbeiteten auch in Zürich lehrende Historiker in großer Anzahl an Editionsprojekten mit. Manche von ihnen beteiligten sich an deutschen Großforschungsprojekten: Gerold Meyer von Knonau und Eduard Fueter arbeiteten jahrelang für die großen deutschen Unternehmen der Deutschen Reichstagsakten und der Jahrbücher des Deutschen Reichs, der Hilfswissenschaftler Behrendt Pick war ein Mitarbeiter des Corpus Nummorum.27 Die schweizerischen Unternehmungen, an denen sich die meisten Historiker beteiligten, hatten indessen nicht den Umfang der großen deutschen Forschungsunternehmen, konnten keine so umfangreichen Ressourcen mobilisieren und wurden in der Regel nebenamtlich im Auftrag von kantonalen und regionalen historischen Vereinen, der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz oder dem Schweizerischen Juristenverein bearbeitet. Forschungsunternehmen in der Schweiz waren damit zum einen weniger zentral organisiert und verfügten zum anderen nur in Ausnahmefällen über Ressourcen, die längere Forschungsaufenthalte erlaubt hätten. Angehende Hochschulhistoriker kombinierten dort vielmehr verschiedene kleine Arbeitsaufträge miteinander. Der Austausch zwischen jungen Forschern und arrivierten Projektverantwortlichen war kaum institutionell vermittelt, sondern beruhte auf einem direkten Austausch zwischen einigen wenigen zentralen Figuren der Forschungsorganisation in der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz und in den Vereinen.28 Durch die dezentralere und weniger verberuflichte Forschungs26
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Urkunden, Inschriften und serielle Quellen wurden in der Regel in Arbeitsgruppen ediert, während beispielsweise Chroniken normalerweise von einzelnen Editoren bearbeitet wurden. Zum Corpus Nummorum vgl. Hans-Markus von Kaenel: „...ein wohl grossartiges, aber ausführbares Unternehmen“. Theodor Mommsen, Friedrich Imhoof-Blumer und das Corpus Nummorum, in: Klio 73/1991, S. 304–314. Dies lässt sich an der äußerst schlanken Verwaltung der Editionsgeschäfte in der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz und aus Korrespondenzen erschließen. Vgl. die Geschäftskorrespondenzen der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz, BAR J 2.127-/1:26–30, die Gesellschaftsratsprotokolle 1840 bis 1923, BAR J II.127-/1:1, und die Erinnerungen Gerold Meyers von Knonau, Autobiographische Aufzeichnungen [1911–1931], S. 269f., ZBZ, FA Meyer v. Knonau 34.5. Die Koordination der Forschungsarbeiten der Gesellschaft lief auch im Gesellschaftsrat vor-
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3. Aneignungen: Die Persona des Geschichtsforschers
praxis spielten persönliche Mentoratsverhältnisse in der Schweiz vermutlich eine mindestens ebenso große Rolle wie in Österreich, in der Forschungspraxis eröffneten sich aber gerade durch die schwächere Standardisierung möglicherweise größere Spielräume forscherischer Autonomie. Im Umfeld des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung und der Universität Wien hingegen begannen sich die Möglichkeiten, an Editions- und Regestenforschungsprojekten teilzunehmen, mit den 1860er Jahren stärker zu festigen. Dazu trugen die Forschungsstipendien des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, die Zusammenarbeit des Instituts mit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften bei der Projektierung und Durchführung großer Editionsunternehmen und die äußerst zielbewusste forschungspolitische Zusammenarbeit des in Wien tätigen Diplomatikers Theodor Sickel mit seinem Kollegen Julius Ficker bei. Sickel ging mit allen Mitteln an die Verwirklichung diplomatischer Forschungen im großen Stil, brachte seine Forschungskapazitäten sowohl in die Wiener Projektstelle der Monumenta Germaniae Historica als auch in die Österreichische Akademie der Wissenschaften ein, betrieb in diesen Organisationskontexten eine aggressive Personalpolitik und mobilisierte Ressourcen für seine Projekte. Er bildete mit Julius Ficker trotz wissenschaftlicher Differenzen eine über den lokalen Forschungsstandort Wien hinweg tragfähige forschungspolitische Allianz, die die Forschungsmöglichkeiten von jungen Historikern vervielfachte. Julius Ficker trat aller Wahrscheinlichkeit nach erstmals 1865 mit Theodor Sickel in Kontakt, um aus dem Nachlass Johann Friedrich Böhmers stammende Arbeiten, deren Fortführung Ficker plante, zu besprechen.29 Die beiden aus Deutschland stammenden Urkundenforscher arbeiteten in der Folge regelmäßig zusammen und tauschten Quellenmaterial in Form von Transkriptionen, Drucken und Regesten und gelegentlich auch Mitarbeiter aus. Die Ausbildung am Institut für Österreichische Geschichtsforschung bildete eine wichtige Grundqualifikation, die Studierende und junge Historiker vermittlungsfähig werden ließ und ihnen Zugang zu Forschungsgütern und -aufträgen verschaffte. Das Institutszertifikat bot zwar eine formale Beurteilungsgrundlage. Wie sich aber an den Karrieren von Mittelalterprofessoren zeigen lässt, wurde daneben auch eine aktive Rekrutierungspolitik betrieben,
29
wiegend über die Delegation von Aufgaben an Einzelne; erst ab der zweiten Hälfte der 1890er Jahren sind vermehrt Diskussionen über die Standardisierungsmöglichkeiten verzeichnet. Gesellschaftsratsprotokolle 1840 bis 1923, BAR J II.127-/1:1. Zentrale Akteure in der deutschsprachigen Schweiz waren im Untersuchungszeitraum Gerold Meyer von Knonau in Zürich, Hermann Wartmann in Sankt Gallen und Rudolf Thommen in Basel, der am Institut für Österreichische Geschichtsforschung studiert hatte. Vgl. die Gesellschaftsratsprotokolle 1840 bis 1923, BAR J II.127-/1:1. S. auch Otto Hartmann an die Erziehungsdirektion des Kantons Zürich, 06.05.1892, StAZH U 109d:1. Julius Ficker an Theodor Sickel, 11.11.1865 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel, Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 1. Vgl. dazu Kap. 7.
3.2 Forschungssozialisation: Arbeitserfahrungen in Netzwerken
149
die diese formalen Kriterien bei Bedarf umging. So fragte Theodor Sickel bei Julius Ficker im Jahr 1875 an, ob er ihm einen geeigneten Kandidaten für den Lehrgang am Institut für Österreichische Geschichtsforschung empfehlen könne. Ficker empfahl ihm daraufhin den damals erst zwanzigjährigen Emil von Ottenthal als seinen fähigsten Schüler. Ottenthal hatte sich zwar nicht auf die obligatorische Institutsaufnahmeprüfung vorbereitet. Ficker attestierte ihm aber ein großes Potential und versicherte, dass er „in kürzester Frist alles aufgeholt haben würde“.30 Sickel fand daraufhin eine Lösung, die es erlaubte, die obligatorische Aufnahmeprüfung zu umgehen: Ottenthal sollte sich nach Kursbeginn als außerordentliches Mitglied aufnehmen lassen und sich später um eine Beförderung zum ordentlichen Mitglied mit Stipendienberechtigung bewerben. Damit integrierte Sickel die informelle Qualifikation Ottenthals als Schützling eines angesehenen Kollegen geschickt in die formalisierte Qualifikationsstruktur seiner Institution. Die Förderung Ottenthals stellt die soziale Logik der akademischen Reproduktion besonders eindrucksvoll dar. Denn dass er die Anfangshürde der Aufnahmeprüfung nicht überwinden musste, hatte Ottenthal dem persönlichen Urteil seines Innsbrucker Lehrers zu verdanken, der ihn nicht nur wegen bereits erbrachter Leistungen, sondern auch aufgrund seines vermuteten persönlichen Potentials förderte.31 Mit der nach einigen Monaten erfolgenden Aufnahme als ordentliches Mitglied wurden Ottenthals Qualifikationen nun auch formal bescheinigt. Vertrauen und Leistungserwartung gingen in dieser Förderungspolitik eine enge Verbindung ein, die Sickel in einem anderen Zusammenhang in die Formel fasste: „Bitte geben Sie dem jungen Manne Rath, oder suchen Sie ihn heranzuziehen. Es ist seine Sache sich dann zu bewähren.“32 Mit „Bewährung“ ist umschrieben, was in der Zirkulation der Mitarbeiter zwischen Ficker und Sickel auf dem Spiel stand: die Zuverlässigkeit der personalpolitischen Empfehlungen und damit auch die Reputation der akademischen Lehrer. Bald nachdem Ottenthal von Innsbruck nach Wien übergesiedelt war, meldete Sickel zurück, dass er mit dem neuen Schüler „recht zufrieden“ sei.33 Die Übersetzung persönlich gebundener in objektivierte Leistungskriterien erschien geglückt. Während die Ausbildung der jungen Forscher an den akademischen Institutionen durch Prüfungen und das staatliche Berechtigungswesen in vielen 30 31
32
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Julius Ficker an Theodor Sickel, 19.10.1875 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 54f., hier 54r–v. Theodor Sickel an Julius Ficker, 13.10.1875 aus Wien, Archiv IfÖG NL Sickel: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 47f. hier fol. 48v; 22.10.1875 aus Wien, ebd., fol. 49f., hier fol. 49r. Julius Ficker an Theodor Sickel, 19.10.1875 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel fol. 54f., hier fol. 54r. Mit diesen Worten empfahl Sickel 1875 den Sohn des Geschäftsführers einer ihm befreundeten Familie an Ficker. Theodor Sickel an Julius Ficker, 13.10.1875 aus Wien, Archiv IfÖG NL Sickel: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 47f., hier fol. 47v. Theodor Sickel an Julius Ficker, 01.01.1876 aus Wien, Archiv IfÖG NL Sickel: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 54f., hier fol. 54r.
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3. Aneignungen: Die Persona des Geschichtsforschers
Hinsichten formalisiert war, folgte die Vergabe von Arbeitsstellen, die nicht ausgeschrieben wurden, hingegen keinen formal zugänglichen Regeln. Dies galt beispielsweise für die kleineren Gelegenheitsarbeiten im Kontext der Böhmerschen Regesten, die Julius Ficker von Innsbruck aus an Schüler von Sickel vergab, während er Sickel im Gegenzug Materialien aus dem Böhmerschen Nachlass zur Einsichtnahme anbot. Sickel wurde zu einem eigentlichen wissenschaftlichen Unternehmer, indem er im Namen seiner Schüler Fickers Aufträge annahm und verwaltete.34 Wie sehr die ersten beruflichen Schritte von Historikern von ihren persönlichen Beziehungen zu ihren jeweiligen Förderern abhingen, zeigen die Karriereplanung und die Vermittlung erster Arbeitsstellen an junge Historiker. Durch sein Vertrauen in Fickers Urteilskraft erwarb sich Sickel einen Anspruch auf eine autoritäre Mitgestaltung von Ottenthals späterer Karriere, die dessen beiden Mentoren bereits planten, als dieser sich 1877 noch auf seine Promotion vorbereitete. Als Sickel Ottenthal eine Mitarbeit bei der Diplomata-Edition der Monumenta Germaniae Historica antrug und bei diesem auf Vorbehalte stieß, machte er Ficker für Ottenthals Widerspenstigkeit verantwortlich. Tatsächlich begegnete Ficker diesem Versuch, über Ottenthal zu disponieren, mit Skepsis, denn er war vor allem daran interessiert, dass sich sein Schüler habilitierte. Als Antwort arbeitete Sickel an die Adresse Fickers einen konkreten Habilitationsplan für den zu diesem Zeitpunkt noch unpromovierten Ottenthal aus: Er würde mindestens zwei Jahre für die Monumenta arbeiten, während derer er, wie üblich, jedes Jahr 6–8 Wochen Urlaub erhielte – Zeit genug, um in Wien oder anderswo eine Habilitation über ein bei der Editionsarbeit abfallendes Thema fertigzustellen. Darüber hinaus stellte Sickel auch eine längerfristige Beschäftigung bei den Monumenta Germaniae Historica in Aussicht. Als Ottenthal, aufgerieben zwischen der anhaltenden Skepsis seines Förderers Ficker und dem Drängen Sickels, unentschieden blieb, reagierte letzterer gereizt und entzog Ottenthal das Angebot, bevor dieser endgültig absagen konnte. Ottenthal konnte aber später wieder auf die Förderung Theodor Sickels zählen und arbeitete 1879 sogar vorübergehend bei Sickels Diplomata-Projekt mit. Noch zwanzig Jahre später nahmen Sickel und Ficker ihren für lange Zeit unterbrochenen Briefwechsel aus dem Grund wieder auf, dass sie Ottenthal zu einem Sitz in der Wiener Akademie der Wissenschaften verhelfen wollten.35 Wenige Jahre 34
35
Dabei erscheinen die von Sickel ausgelesenen Schüler als austauschbar, was auf eine hinreichende Standardisierung der Arbeitsabläufe und -haltungen hinweist. Julius Ficker an Theodor Sickel, 11.11.1865 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 1, hier fol. 1r; 14.04.1866 aus Innsbruck, ebd., fol. 7–9, hier 7r; Theodor Sickel an Julius Ficker, 15.11.1865 aus Wien, Archiv IfÖG NL Sickel: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 1–3, hier fol. 1v; 31.03.1866 aus Wien, ebd., fol. 8f., hier fol. 8r; 21.04.1866 aus Wien, ebd., fol. 10f., hier fol. 10r; 21.06.1869 aus Wien, ebd., fol. 23, hier fol. 23r. Emil von Ottenthal an Theodor Sickel, 27.08.1877 aus Sund, Archiv IfÖG NL Sickel: Emil von Ottenthal an Theodor Sickel, fol. 8f., hier fol. 9r; Theodor Sickel an Julius Ficker,
3.2 Forschungssozialisation: Arbeitserfahrungen in Netzwerken
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später durchlebte auch der Ficker-Schüler Oswald Redlich ganz ähnliche Konflikte mit Sickel, während derer ihn sein erster Mentor Ficker wiederholt in Schutz nahm. Obwohl sich im brieflichen Austausch zwischen Sickel und Ficker die Beziehungsdimension des Konflikts um Redlich, also die Frage persönlicher Loyalität, atmosphärisch durchaus ausdrückt, verfolgten beide Professoren die Strategie, den Konflikt möglichst sachbezogen und abgelöst von persönlichen Interessen darzustellen. Der Kampf um die Gunst oder Loyalität des Schülers wurde in der neutralen Sprache wissenschaftlicher Desiderate und Leistungen ausgetragen.36 Auch im schweizerischen Arbeitszusammenhang mussten sich Forscher auf mächtige Mentoren verlassen, um Zugang zu Arbeitsstellen zu erhalten. So beklagte sich der Privatdozent Otto Hartmann im Rahmen seiner erfolglosen Bemühungen um eine besoldete Anstellung an der Universität Zürich im Jahr 1892 darüber, dass ihn Gerold Meyer von Knonau bei der Vergabe von Forschungsaufträgen übergangen habe. Er nannte namentlich Konkurrenten, denen Meyer von Knonau, der eine wichtige Rolle als Forschungsverwalter spielte, bezahlte Aufträge verschafft hatte.37 Für Nachwuchshistoriker war es im Rahmen solch personalisierter Förderungsbeziehungen besonders wichtig, sich als eigenständige Forscher zu positionieren, ohne dabei die Gunst ihrer Mentoren zu verlieren. Dies zeigen die Beispiele von Engelbert Mühlbacher und Alfons Dopsch. Mit Mühlbacher platzierte Ficker einen persönlichen Schüler und Mitarbeiter an seinen Kaiserregesten in Wien, um ihn bei Sickel hilfswissenschaftlich ausbilden zu lassen. Ficker erwartete von diesem Arrangement eine indirekte Unterstützung seines Projekts.38 In der Folge wurde Mühlbacher in den 1870er Jahren immer mehr zu einer Mittlerfigur zwischen den beiden Urkundenforschern und verhalf damit dem Austausch zwischen den Forschungsstandorten Innsbruck und Wien
36
37 38
18.10.1877 aus Wien, Archiv IfÖG NL Sickel: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 63– 65, hier fol. 63v, 65r; 14.11.1877 aus Wien, Ebd., fol. 66f., hier fol. 66v 67r; 22.10.1877 aus Wien, Ebd., fol. 68f., hier fol. 68r; 20.04.1899 aus Wien, Ebd., fol. 126f. Julius Ficker an Theodor Sickel, 25.10.1877 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 71f., hier fol. 72r–v; 21.11.1877 aus Innsbruck, ebd., fol. 73f., hier fol. 73r–v; 23.04.1899 aus Innsbruck, Ebd., fol. 128. Der Konflikt entzündete sich an einer Forschungsposition bei den Monumenta Habsburgica in Rom, die Sickel Redlich anbot. Dieser entschied sich aber für eine ihm sicherer erscheinende Archivstelle. Julius Ficker an Theodor Sickel, 31.10.1879 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 101f., hier fol. 102r; 20.07.1881 aus Innsbruck, ebd., fol. 105–108; 22.09.1881 aus Innsbruck, ebd., fol. 109f., hier fol. 109r. Theodor Sickel an Julius Ficker, 18.07.1881 aus Aussee, Archiv IfÖG NL Sickel: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 94–97., hier fol. 94r–v. Otto Hartmann an die Erziehungsdirektion des Kantons Zürich, 06.05.1892, StAZH U 109d:1. Julius Ficker an Theodor Sickel, 22.11.1874 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 47–49. Theodor Sickel an Julius Ficker, 2.12.1874 aus Wien, Archiv IfÖG NL Sickel: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 42–44, hier fol. 44v.
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3. Aneignungen: Die Persona des Geschichtsforschers
zu einer größeren Kontinuität. Mühlbacher war älter als der typische Studienabgänger und hatte bereits eine Laufbahn als Geistlicher hinter sich; es gelang ihm außerordentlich gut, die Ansprüche seiner beiden Mentoren auszubalancieren, zu einer machtvollen Position zu gelangen und jüngere Forscher an sich zu binden. Gleichwohl begleiteten seine Lehrer seine wissenschaftliche Karriere minutiös. Als Mühlbachers Karriere an der Universität Wien von der klerikalen Partei behindert wurde, war es maßgeblich Ficker zu verdanken, dass seine Beförderung zum Extraordinarius 1881 schließlich trotzdem gelang. Sickel und Ficker tauschten sich über Mühlbachers Einkommensverhältnisse und seine Arbeitslast aus und berieten sich über seine Ernennung als Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Dabei kam es zeitweise zu einem Machtkampf um die Arbeitskraft Mühlbachers. Sickel forderte als implizite Gegenleistung für seine Beratungs- und Sachbeiträge zu Fickers Regestenprojekt Arbeitsbeiträge Mühlbachers, die er für Vorarbeiten für die Karolingerurkundenedition der Monumenta Germaniae Historica einsetzte. Mühlbacher blieb dennoch in erster Linie Ficker Rechenschaft schuldig. Er profitierte von der gegenseitigen forscherischen Abhängigkeit seiner Mentoren, die ihm besonders angesichts der Unlust Fickers, in die für die Urkundenforschung zentralen Metropolen Wien und Berlin zu reisen, Handlungsspielräume eröffnete.39 Für aspirierende Nachwuchshistoriker galt es, das Vertrauen ihrer Mentoren mit Gesten der Dankbarkeit und Unterordnung zu erwidern.40 Die affektive Dimension des Verhältnisses des Schülers zum Lehrer, die in Nachrufen als intellektuell begründete Verehrung oft einen vergeistigten Ausdruck bekam, nahm im hierarchischen Arbeitszusammenhang der Forschung vielschichtigere und gleichzeitig konkretere Bedeutungen an. Während Studenten in Briefen an ihre Lehrer in der Regel einen sehr ehrerbietigen Tonfall anschlugen41 , hatten junge Historiker, die eine akademische Karriere anstrebten, einen Balanceakt zwischen Unterordnung und der Selbstdarstellung als 39
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Julius Ficker an Theodor Sickel, 22.11.1874 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 47–49, hier fol. 47v; 15.05.1878 aus Innsbruck, ebd., fol. 82f., hier fol. 82v; 31.10.1879 aus Innsbruck, ebd., fol. 101–102, hier fol. 101r–v; 23.01.1881 aus Innsbruck, ebd., fol. 103–104; 17.03.[1883] aus Arles, ebd., fol. 125f.; 24.04.1883 aus Innsbruck, ebd., fol. 127; 03.11.1875 aus Innsbruck, ebd., fol. 59, hier fol. 59r; Theodor Sickel an Julius Ficker, 02.12.1874 aus Wien, Archiv IfÖG NL Sickel: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 42–44, hier fol. 44v; 01.11.1875 aus Wien, fol. 51–5v, hier fol. 52r– v; 29.12.1876 aus Wien, ebd., fol. 58f., hier 58r-v; 19.02.1878 aus Wien, ebd., fol. 71– 73, hier fol. 71r; 28.10.1879 aus Wien, ebd., fol. 89; 19.12.1880 aus Wien, ebd., fol. 90f.; 21.01.1881 aus Wien, ebd., fol. 92f.; 22.08.1881 aus Wien, ebd., fol. 98; 08.02.1883 aus Wien, ebd., fol. 110f.; 11.02.1883 aus Wien, ebd., fol. 114f.; 24.02.1883 aus Wien, ebd., fol. 116f.; 24.02.1884 aus Wien, ebd., fol. 116f.; 17.03.1884 aus Rom, ebd., fol. 118f. Z. B. Emil von Ottenthal an Theodor Sickel, 07.08.1876 aus Sund, Archiv IfÖG NL Sickel: Emil von Ottenthal an Theodor Sickel, fol. 2f. Hans Hirsch wählte sogar die Höflichkeitsform der dritten Person. Archiv IfÖG, NL Mühlbacher: Hans Hirsch an Engelbert Mühlbacher [1902–1903].
3.2 Forschungssozialisation: Arbeitserfahrungen in Netzwerken
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selbständige, innovative Wissenschaftler und zukünftige Professoren zu leisten. Als Alfons Dopsch in den 1890er Jahren für die Monumenta Germaniae Historica in Frankreich unterwegs war, pflegte er im Austausch mit seinem ehemaligen Lehrer Engelbert Mühlbacher, der inzwischen zum Leiter der Diplomata-Abteilung aufgestiegen war, einen sehr vertraulichen Ton. Nach einigen Monaten in Paris bedankte er sich in auffälliger Ausführlichkeit bei Mühlbacher: „Seitdem ich die Ehre habe, Ihr Schüler zu sein, haben Sie mir gegenüber jenes warme Herz, jenes selbstlose, still-thätige Wolwollen bekundet, das Ihnen alle Ihre Schüler dauernd u.[nd] innig verbindet. Mir war es vergönnt, nach der officiellen Ausbildung, noch als Jünger in Ihrer unmittelbaren Umgebung zu verbleiben; es ist eine Zeit ununterbrochener Bethätigung ihrer Güte, Ihrer freundlichen Gesinnung, deren ich so vor allen in besonderem Masse theilhaftig werde. Ich bin Kein Mensch der Phrasen, der schöne Worte drechseln könnte, ich vermag daher auch nicht das so recht auszudrücken, was mich im Innern bewegt. Aber vor allen anderen Collegen, Ihren Schülern, will ich hoffen, dass uns, den Jüngern, Gelegenheit sich bieten möge, durch die That dem Meister zu beweisen, welche die Bande sind, die uns mit ihm verbinden! Dank, nochmals viel Dank!“42
In diesem Dank verbanden sich Deferenzbekundungen mit einem Versuch, Intimität, Auserwähltheit und letztlich auch Kollegialität zu schaffen. Dopsch sprach eine persönlich erfüllende Beziehung zu seinem Lehrer an, den er als „Meister“ bezeichnete. Mit der Selbstbezeichnung als Jünger evozierte er eine weihevolle Bindung, die über den institutionalisierten Austausch zwischen Schülern und Lehrern hinausging und besondere emotionale Tiefe aufwies. Dopsch versicherte seinem Lehrer auch später, „dass die Gefühle aufrichtiger Dankbarkeit u[nd] treuer Verbundenheit“ zu dem geworden seien, „was der Franzose allein richtig auszudrücken vermag, zu einer Empreinte, einem signum indelebile fürs Leben“.43 Damit kultivierte Dopsch eine positive Gefühlssprache für einen professionellen Austausch, der gleichzeitig von Interessen und Konflikten geprägt war. Die Übersetzung von Interessen und Gefühlen ineinander stellte ein wichtiges Merkmal des Austausches zwischen Schülern und Lehrern dar.44 Die Konventionen der Schüler-Lehrer-Beziehung setzten voraus, dass die materiellen Aspekte der Beziehung gleichsam 42 43 44
Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, 17.05.1894 aus Paris, Archiv IfÖG NL Mühlbacher: Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, Bogen. 29f. Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, 25.04.1897 aus Montpellier, Archiv IfÖG, NL Mühlbacher: Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, Bogen 84. So quittierte Dopsch eine Gehaltserhöhung folgendermaßen: „Mehr aber als das Materielle würde mich freuen, wenn ich darin zugleich ein Zeichen Ihrer Zufriedenheit u[nd] Ihres Vertrauens zu sehen mir schmeicheln dürfte. – –“Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, 21.05.1895 aus Rom, Archiv IfÖG, NL Mühlbacher: Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, Bogen 49f., hier Bogen 49. Vgl. Hans Medick/David W. Sabean: Einleitung, in: dies. (Hrsg.): Emotionen und materielle Interessen. Sozialanthropologische und historische Beiträge zur Familienforschung, Göttingen 1984, S. 12–24: 18.
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3. Aneignungen: Die Persona des Geschichtsforschers
auf die nicht-interessierten, dem höheren Ziel der Wissenschaftlichkeit verpflichteten Aspekte hin ausgerichtet wurden. Angesichts der nur geringen Verhandlungsmacht der Projektmitarbeiter waren diese überdies vor allem auf ihr soziales Geschick angewiesen, um ihre Interessen durchzusetzen. Dopsch gelang dies sehr gut; er konnte sich damit langsam in die Position des Vertrauensmannes und gleichgestellten Mitarbeiters vorarbeiten, wie sein zunehmend kollegialer Tonfall und seine Mitsprache in Personalangelegenheiten zeigen.45 Weil die Beschäftigungsmöglichkeiten in beiden Untersuchungskontexten für junge Historiker kaum im offenen Wettbewerb zugänglich waren, war der enge Anschluss an einen wissenschaftlichen Mentor für Forschungsengagements unerlässlich. Die Erlangung der Aufmerksamkeit wissenschaftlicher Patrons stellte dabei eine Anfangshürde dar, die nicht formalisiert, sondern von situativen Arrangements sowie von Kriterien wie der sozialen Herkunft, dem Entwicklungspotential und der Vertrauenswürdigkeit geprägt war. Die Leistung aller Beteiligten bestand darin, die soziale Logik dieser Förderung und die außerwissenschaftlichen Selektionskriterien in eine Sprache wissenschaftlicher Objektivität und wissenschaftlicher Verdienste zu übersetzen, soziales und kulturelles Kapital in wissenschaftliche Reputation zu verwandeln.46 Die expliziten Kriterien der wissenschaftlichen Reproduktion wurden in der akademischen Ausbildung weitergegeben und später über die fachwissenschaftliche Öffentlichkeit der Fakultätsgutachten, Fachpublikationen und Kongresse, der Rezensionen, Zeitschriftenfehden und Korrespondenznetzwerke verhandelt. Die impliziten Beurteilungskriterien wissenschaftlicher Förderung, die angesichts der großen Ermessensspielräume von akademischen Mentoren von beträchtlicher Tragweite waren, kamen hingegen viel verstreuter zum Einsatz: in der politischen Meinungsbildung, in den Clubs und Vereinigungen, bei festlichen Dîners und im Austausch zwischen Altherren und Studenten in der studentischen Verbindung. Die Anlässe bildungsbürgerlicher, manchmal gemischtgeschlechtlicher, oft aber männlicher Geselligkeit bildeten wichtige soziale Situationen, in denen sich angehende 45
46
Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, 09.04.1894 aus Paris, Archiv IfÖG NL Mühlbacher: Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, Bogen 22f., hier Bogen 23; 17.05.1894 aus Paris, ebd., Bogen 29f., hier Bogen 30; 08.07.1894 aus Paris, ebd., Bogen 33f., hier Bogen 34; 29.07.1894 aus Paris, ebd., Bogen 35; 30.04.1895 aus Modena, ebd., Bogen 46f., hier Bogen 47; 17.07. 1895 aus Arezzo, ebd., Bogen 59f., hier Bogen 60; 10.08.1895 aus St. Ulrich, ebd., Bogen 63; 08.10.1895 aus Brescia, ebd., Bogen 68. Zu den Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter der Monumenta Germaniae Historica s. Fuhrmann: „Sind alles Menschen gewesen“, S. 65, 77f. Zur Vermittlung äußerer Zwänge durch die spezifische Logik des wissenschaftlichen Feldes und den diesem Feld eigenen Spielarten von symbolischem Kapital vgl. Pierre Bourdieu: Vom Gebrauch der Wissenschaft. Für eine klinische Soziologie des wissenschaftlichen Feldes, Konstanz 1998, S. 16–31.
3.3 Reputationsgewinnung und Materialzugang
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Historiker zu bewähren hatten. Zentral war hierbei wiederum der persönliche Verkehr mit den jeweiligen Lehrern und Mentoren, die ihre Schüler häufig zuhause empfingen, zum Essen einluden und mit ihrer Familie bekannt machten. So empfing Sickel beispielsweise junge Mitarbeiter in Rom auch in seinem Hotelzimmer. Einladungen zum „jour fixe“ boten die Möglichkeit, weitere Kreise einflussreicher Persönlichkeiten kennenzulernen. Daneben boten Stammtische wie die „Mittwochsgesellschaft“ im Umfeld des Wiener Instituts, Vortragsgesellschaften und Kränzchen die Möglichkeit, einen ungezwungenen fachlichen Austausch einzuüben und verschiedene Register akademischer Geselligkeit zu erproben. Selbst die ausgedehnte Freizeitkultur bürgerlicher Haushalte war in diese Soziabilität eingebunden: Wie Gerold Meyer von Knonau, der sich in seinen Sommerfrischen mit Kollegen aus Österreich und Deutschland traf, nutzten viele Historiker die Gelegenheit, in den Ferien akademische Bekanntschaften bewusst zu aktualisieren und Klatsch auszutauschen.47 So berichtete Dopsch aus seinen Tiroler Ferien, dass er neben anderen Forschern Harry Bresslau, den großen Diplomatiker und überragenden Konkurrenten der Wiener Schule, „als Salontiroler“48 angetroffen habe, und Sickel nahm es seinem Schüler Oswald Redlich übel, dass dieser seiner Aufforderung nicht sofort Folge leistete, ihn im noblen Sommerkurort Aussee zu besuchen.49
3.3 Reputationsgewinnung und Materialzugang Dass die Machtbeziehungen in der Sozialisation geschichtswissenschaftlicher Forscher nur wenig formalisiert waren, ist ein umso weiter reichender Befund, als auch der Aufbau wissenschaftlicher Reputation und der Zugang zu den zentralen Forschungsressourcen, den historischen Quellen, über die Vermittlung wissenschaftlicher Mentoren verlief. Da der Zutritt zu Archiven im Untersuchungszeitraum noch sehr selektiv erteilt wurde, erhielten Forscher häufig nur über die Vermittlung ihrer wissenschaftlichen Lehrer Zugang zu ihren Quellen. Als wissenschaftliche Patrons ließen Theodor Sickel und Julius 47
48 49
Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, 22.12.1893 aus Paris, Archiv IfÖG, NL Mühlbacher: Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, Bogen 13; 15.01.1894 aus Paris, ebd., Bogen 9. Gerold Meyer von Knonau [1911–1931], Autobiographische Aufzeichnungen, S. 93, ZBZ FA Meyer v. Knonau 34.5. Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, 22.08.1895 aus Cremona, Archiv IfÖG NL Mühlbacher: Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, Bogen 64. Julius Ficker an Theodor Sickel, 22.09.1881 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 109f., hier fol. 109r. Vgl. die autobiographischen Aufzeichnungen Gerold Meyers von Knonau, die Jahr für Jahr die Ferientreffen mit anderen Forschern schildern. Gerold Meyer von Knonau [1911–1931], Autobiographische Aufzeichnungen, ZBZ FA Meyer v. Knonau, 34.5.
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3. Aneignungen: Die Persona des Geschichtsforschers
Ficker ihren eigenen Namen zugunsten ihrer Schüler wirken: Die persönliche Empfehlung, mit der ein Name für den anderen bürgte, war neben den von staatlichen Stellen ausgestellten Legitimationsschreiben das wichtigste Instrument, um ins Innere der Archive zu gelangen. Sickel, der 1869 die Leitung des Instituts für österreichische Geschichtsforschung übernommen hatte, organisierte für seine Schüler in seinem eigenen Namen Forschungsmaterial. So ließ er in verschiedenen österreichischen Archiven liegende Urkunden nach Wien senden und schickte seine Studenten regelmäßig mit Institutsstipendien auf Forschungsreisen, die diese in seinem Namen arbeitend unternahmen.50 Sickel arbeitete in den 1870er und 1880er Jahren in diesem Bereich wie auch in der Karrierepolitik eng mit Ficker zusammen. Im Anschluss an Archivstudien in Deutschland, die den Diplomen Heinrichs II. gewidmet waren, plante Sickel 1873 für einige seiner Schüler eine Archivreise in Oberitalien. Weil Ficker gleichzeitig ebenfalls nach Italien reiste, bat Sickel seinen Kollegen, sein „Itinerar“ bekanntzugeben und gleichzeitig seinen Schülern Rat und schriftliche Empfehlungen mitzugeben.51 Auch vier Jahre später öffneten Fickers Empfehlungen Sickels Schülern die Archivtore. Sickel bat Ficker für zwei seiner Absolventen um „Notizen, Weisungen, Empfehlungen“.52 Das erklärende Begleitschreiben, das Ficker dem Stapel Empfehlungskarten daraufhin beilegte, enthüllt die Verweisungsstruktur solcher Referenzen: Die Empfehlungen ihrer inzwischen berühmten Mentoren dienten jungen Quellenforschern als Schlüssel zur Beschaffung weiterer Referenzen. Ficker schilderte detailliert, welche Archivare in welcher Form um weitere Empfehlungsschreiben gebeten werden konnten, damit der korrekte soziale Einsatz der Empfehlungsschreiben gewährleistet war. Er beschrieb darüber hinaus besonders gute Arbeitsgelegenheiten wie beispielsweise einen Arbeitsplatz im Zimmer eines parmaischen Bibliothekars.53 Die erfolgreiche Durchführung von Forschungsreisen hing wesentlich von den Verhandlungsfähigkeiten der jungen Forschungsreisenden wie auch von der Qualität der Empfehlungsschreiben ab, durch die später weitere Referenzen akkumuliert werden konnten. 50
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Theodor Sickel an Julius Ficker, 19.12.1872 aus Wien, Archiv IfÖG NL Sickel: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 29v. Vgl. die Schilderung einer solchen Reise bei Fournier: Erinnerungen, S. 85–101. Theodor Sickel an Julius Ficker, 18.03.1873 aus Wien, Archiv IfÖG NL Sickel: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 34f. Theodor Sickel an Julius Ficker, 01.01.1876 aus Wien, Archiv IfÖG NL Sickel: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 54f., hier fol. 54v.; Julius Ficker an Theodor Sickel, 03.01. 1876 aus Innsbruck, Archiv IfÖG, NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 60, 62, hier fol. 62v. Julius Ficker an Theodor Sickel, 03.01.1876 aus Innsbruck, Archiv IfÖG, NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 60, 62, und Beilage fol. 61, hier fol. 61r–v. Vgl. auch Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, 04.12.1893 aus Nancy, Archiv IfÖG NL Mühlbacher: Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, Bogen 6.
3.3 Reputationsgewinnung und Materialzugang
157
Die Teilhabe an der Reputation wissenschaftlicher Lehrer setzte einen Prozess gegenseitiger reputationaler Abhängigkeit in Gang, denn der Einsatz des eigenen Namens brachte das Risiko mit sich, dass Fehlleistungen der Schüler auf ihre wissenschaftlichen Mentoren zurückfielen. Wie sehr die Tücken des Reputationsaufbaus das Arbeitsumfeld junger Historiker in Mitleidenschaft ziehen konnten, kann am Konflikt um die Promotion Emil Ottenthals aufgezeigt werden, der sich als Schüler Fickers bei Sickel in Wien weitergebildet und 1877 die Institutsprüfung absolviert hatte. Ottenthal wollte mit dem Einverständnis Sickels in Innsbruck bei Karl Friedrich Stumpf-Brentano und Ficker rasch promovieren, indem er seine Institutsarbeit über die Churer Diplome nochmals verwertete. Stumpf-Brentano, der als Urkundenforscher ein erklärter wissenschaftlicher Gegner Sickels war, erklärte Ottenthals Dissertation im März 1878 in seinem Gutachten aber für ungenügend. Der Korreferent Ficker verstand die Situation sofort als Manöver, das gegen Sickel gerichtet war: „St[umpf]’s Gutachten hat mich empört; was er sagt ist offenbar häufig mehr gegen Sie gerichtet, als gegen O[ttenthal]. Dazu ist es in vielen Punkten geradezu unehrlich abgefasst; er legt O[ttenthal] Sachen in den Mund, von denen sich nichts in der Arbeit findet.“54 Trotz dieser Einschätzung fühlte sich Ficker in seiner positiven Beurteilung der Arbeit Ottenthals nicht sicher genug, um von Sickel nicht nochmals zu verlangen, dass er den Wert der Dissertation bestätigte. Er verwendete das Abgangszeugnis des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, auf das ihn Sickel daraufhin verwies, anschließend für eine informelle Beeinflussung seiner Kollegen.55 Ficker zog seinen früheren Schüler Ottenthal in zwei Schritten aus der Affäre. Zum einen argumentierte er gegenüber seinen Kollegen in der Fakultät, dass „es einem Anhänger, der ja nicht alles ab ovo entwickeln kann, durchaus zustehen muss, sich an das anzuschließen, was in seiner Schule als das richtige galt“.56 Dieses Argument bestätigte den Eindruck, dass Ottenthal der Sickelschen Forschungsrichtung zugehörte, und setzte auf die gute Reputation Sickels, der zu diesem Zeitpunkt als Diplomatiker alle anderen Hilfswissenschaftler überstrahlte. Zum anderen versuchte Ficker in seinem Gutachten aufzuzeigen, dass Ottenthal nicht wie unterstellt alle Vorgaben Sickels unkritisch übernommen, sondern dessen Hypothesen mit kritischem Blick geprüft
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Julius Ficker an Theodor Sickel, 10.03.1878 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 79, hier 79r. Julius Ficker an Theodor Sickel, 10.03.1878 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 79, hier 79r–v. Theodor Sickel an Julius Ficker, 13.03.1878 aus Wien, Archiv IfÖG, NL Sickel: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 74–77, hier fol. 74v–75r. Julius Ficker an Theodor Sickel, 17.03.1878 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 81, hier fol. 81r. Julius Ficker an Theodor Sickel, 10.03.1878 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 79, hier 79r.
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3. Aneignungen: Die Persona des Geschichtsforschers
habe. Diese Argumentationsfigur einer kritischen Zugehörigkeit hatte Erfolg, und Ottenthal wurde schließlich promoviert.57 Der Konflikt zeigt auf, wie intrikat die Arbeits- und Förderungsbeziehungen zwischen den beiden Historikern und ihren Schülern waren. Dazu trugen auch die Reputationsmechanismen bei Habilitations- und Einstellungsverfahren an den Universitäten bei, bei denen wissenschaftliche Filiationen ebenfalls eine große Rolle spielten. Michael Tangl, ein Absolvent des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, der als Mediävist und Hilfswissenschaftler auf deutschen Lehrstühlen erfolgreich war, beklagte sich aus Marburg, wo er inzwischen eine Professur bekleidete, dass er sich „halb blamiert“ habe, als er in einem Berufungsverfahren den Basler Rudolf Thommen, einen Institutsabsolventen, unterstützt habe, denn Thommen habe sich „hervorragend ungeschickt“ verhalten.58 Ähnlich hätte ein Scheitern Ottenthals im Jahr 1878 Sickel möglicherweise diskreditiert und Fickers Ruf in Mitleidenschaft gezogen. Die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Wissenschaftlern, die Mentorfunktionen gegenüber Nachwuchshistorikern ausübten, erforderte, dass das Kräftegleichgewicht im Austausch von Schülern und Gütern immer wieder ausbalanciert und durch selektive Kommunikation gesteuert werden musste.59 Der Aufbau von Reputation stellte außerdem eine kollektive Anstrengung dar, die sich nicht nur auf Einzelpersonen, sondern auch auf Institutionen bezog. Die Fachpolitik Theodor Sickels bewegte sich in diesem Spannungsfeld zwischen dem Aufbau auktorialer Eigenleistung und der Förderung institutioneller Reputation. Sickel sah sich als Vertreter einer eigenständigen hilfswissenschaftlichen Richtung, die es mit Leistungszuschreibungen an das Institut für Österreichische Geschichtsforschung institutionell zu befestigen galt. Nachdem Julius Ficker erstmals von Sickels Schülern verfasste Abschrif57
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Julius Ficker, Zweitgutachten zur Dissertation von Emil von Ottenthal, 15.03.1878, ed. in: Oberkofler, Goller (Hrsg.): Alfons Huber, Briefe (1854–1898), S. 475–489: 482f. Vgl. Julius Ficker an Theodor Sickel, 17.03.1878 aus Innsbruck, Archiv IfÖG, NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 81, hier fol. 81r. Theodor Sickel an Julius Ficker, 17.05.1878 aus Wien, Archiv IfÖG NL Sickel: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 78f., hier fol. 78v. Vgl. dazu Susanne Lichtmannegger: Emil Von Ottenthal (1855–1931). Diplomatiker in der Tradition Theodor von Sickels und Julius von Fickers, in: Karel Hruza (Hrsg.): Österreichische Historiker 1900–1945, Wien/Köln/Weimar 2008, S. 73–95: 75–78. Michael Tangl an Engelbert Mühlbacher, 18.07.1897 aus Marburg, Archiv IfÖG NL Mühlbacher: Michael Tangl an Engelbert Mühlbacher, fol. 47. So informierte Sickel Ficker immer darüber, wenn er einem Schüler Fickers unter die Arme gegriffen hatte. Und Ficker informierte Sickel über direkte Interaktionen mit dessen Schülern, um alternativen Deutungen dieser Interaktionen zuvorzukommen. Julius Ficker an Theodor Sickel, 17.04.1866 aus Innsbruck, Archiv IfÖG, NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 10; 11.05.1866 aus Innsbruck, ebd., fol. 12; 05.01.1867 aus Innsbruck, ebd., fol. 18f., hier fol. 18r. Theodor Sickel an Julius Ficker, 28.05.1866 aus Wien, Archiv IfÖG NL Sickel: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 12; 26.01.1869 aus Wien, ebd., fol. 22.
3.3 Reputationsgewinnung und Materialzugang
159
ten erhalten hatte, erkundigte er sich 1866 danach, wie er diese Mitarbeit in dem von ihm bearbeiteten Regestenwerk verdanken sollte. Sickel befürwortete die Nennung der einzelnen Kopisten, um ihnen auch außerhalb Österreichs zu Forschungskontakten zu verhelfen, und drängte vor allem darauf, dass sie als Mitglieder des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung und nicht als seine Schüler ausgewiesen würden.60 Sickel wollte damit das Institut, dessen Neuorientierung und Leitung er zu diesem Zeitpunkt anstrebte, in der Forschungslandschaft bekannt machen. Er zielte auf eine institutionelle Stabilisierung der Reputation seiner Schüler ab, die indirekt wiederum seine eigenen wissenschaftlichen Konzepte am Institut verfestigen sollte. Mit dieser Strategie war Theodor Sickel sehr erfolgreich: Das Institut für Österreichische Geschichtsforschung wurde zum Inbegriff einer streng hilfswissenschaftlich verfahrenden, innovativen Richtung insbesondere der Urkundenforschung. Im Bereich der Editionsarbeit verliefen Reputationsgewinne auf verschlungenen Wegen. Während die Autorschaft von Wissenschaftlern aus der Veröffentlichung historischer Abhandlungen selbstverständlich hervorzugehen schien, stellte sich das Problem der Urheberschaft bei der Quellenforschung auf eine komplexere Weise.61 Bei Urkundeneditionen und Regestenunternehmen, die aus der Zusammenarbeit verschiedener Historiker hervorgingen und sich zusätzlich auf nachgelassenes Material und ältere Drucke stützten, war der Ausweis von Mitarbeitern und die Bestimmung der Herausgeberschaft Teil einer oftmals verwickelten Forschungspolitik.62 Der Weg vom anonymen Zuarbeiter zum Wissenschaftler mit Namen war daher nicht selbstverständlich, ausgewiesene Mitarbeiterschaft oder gar Urheberschaft als Editor ein Ergebnis von institutionellen Machtverhältnissen und Aushandlungsprozessen, in denen Forschungsanfänger nur eine geringe Verhandlungsmacht hatten. Allerdings lag arrivierten Hochschulhistorikern durchaus daran, ihren Schülern Publikationsforen zu eröffneten, die ihnen über die anonyme Mitarbeit in Editionen hinaus die Möglichkeit gaben, sich als Autoren einen Namen zu machen. Dabei lassen sich jedoch große institutionelle Unterschiede beobachten. An der Universität Zürich, wo die Publikation der Dissertation ein 60
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Julius Ficker an Theodor Sickel, 14.04.1866 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 7–9, hier fol. 7r.; Theodor Sickel an Julius Ficker, 21.04.1866 aus Wien, Archiv IfÖG, NL Sickel: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 10f., hier 10r. Zu disziplinär unterschiedlich angelegten Mechanismen der Konstituierung von Autorschaft vgl. Michel Foucault: Qu’est-ce qu’un auteur? in: ders.: Dits et Écrits. Bd. 1, Paris 1993 (1969), S. 789–821. Vgl. zum Beispiel die Auseinandersetzungen um die Herausgeberschaft der Fortsetzung der Kaiserregesten Böhmers. Böhmer hatte seine drei Schüler Johannes Janssen, Wilhelm Arnold und Julius Ficker zur Auswertung seines Nachlasses bestimmt. Während Janssen darauf beharrte, dass auch dann alle drei Nachlassverwalter als Herausgeber aufgeführt würden, wenn es sich um die Arbeit Einzelner handelte, wollte Ficker nur für selbst ausgeführte Arbeiten namentlich Verantwortung tragen. Jung: Julius Ficker (1826–1902), S. 363.
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3. Aneignungen: Die Persona des Geschichtsforschers
obligatorischer Bestandteil der Promotion war, konnten sich Absolventen bereits mit ihrer Dissertation bekanntmachen. Dagegen blieben Wiener Dissertationen in der Regel unpubliziert. Die Kontrolle von Zeitschriften- und Serienredaktionen bot dort die wichtigste Möglichkeit, Hochschulabgängern zu ersten Publikationen zu verhelfen. In Wien eröffneten die Zeitschriften der historisch-philosophischen Klasse der Akademie der Wissenschaften und der Historischen Kommission der Akademie Publikationsmöglichkeiten. Ende der 1870er Jahre begannen Sickel und Mühlbacher mit der Unterstützung Fickers außerdem, eine institutseigene Zeitschrift aufzubauen, die es in erster Linie Abgängern des Instituts ermöglichen sollte, Forschungsresultate rasch zu publizieren. Die „Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung“ boten ab 1879 ein auf die Quellenforschung zugeschnittenes Publikationsformat mit sehr technisch gehaltenen Abhandlungen. In Zürich hatte Max Büdinger in den 1860er Jahren eine Monographienserie eröffnet, die seinen Studenten die Publikation ihrer Dissertation ermöglichte. Sein Nachfolger auf dem Lehrstuhl für allgemeine Geschichte, Gerold Meyer von Knonau, und Georg von Wyss, der Professor für Schweizer Geschichte, waren Redaktionsmitglieder bei den verschiedenen Periodika der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft und sprachen bei den Publikationen der für den Zürcher Raum zentralen Antiquarischen Gesellschaft mit. Junge Forscher publizierten ihre Dissertationen und ersten Aufsätze deshalb häufig in den von ihren Mentoren kontrollierten Publikationsforen.
3.4 Selbstermächtigung auf Forschungsreisen Ab den 1870er Jahren leisteten die Absolventen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung auf zahlreichen Forschungsreisen europaweit Quellenerschließungsarbeiten. Die Gestaltung und Bewältigung dieser Forschungsreisen, die im Gegensatz zu vielen naturwissenschaftlichen und altertumswissenschaftlichen Expeditionen alleine unternommen wurden, stellte im Wiener Kontext bereits während der Institutsausbildung einen wichtigen Bestandteil der Forschungssozialisation dar.63 Während die durch die Reisestipendien des Instituts finanzierten Exkursionen nur wenige Wochen dauerten, verbrachten die Mitarbeiter der von Theodor Sickel und später von Engelbert Mühlbacher betreuten Diplomata-Abteilung der Monumenta Germaniae Historica bis zu einjährige Aufenthalte in Frankreich, Italien und anderen europäischen Ländern.64 Alfons Dopschs Briefe an Engelbert 63 64
Vgl. dazu die Reiseberichte der Institutsstipendiaten. Archiv IfÖG, Institutsakten. Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten die Monumenta Germaniae Historica verschiedene solche Reisen unternehmen lassen. Vgl. dazu Fuhrmann: „Sind alles Menschen gewesen“, S. 37–44; Briefe der Monumenta-Mitarbeiter finden sich zitiert und
3.4 Selbstermächtigung auf Forschungsreisen
161
Mühlbacher, die detaillierte Schilderungen von Forschungsproblemen und Arbeitsabläufen enthalten, lassen den Forschungsaufenthalt des jungen Historikers in Paris als eigentliche Bewährungsprobe erscheinen. Dopsch reiste anfangs Dezember 1893 nach Frankreich, um die Originale bekannter Urkunden einzusehen, wenn möglich noch unediertes Material zu vermerken und zu transkribieren und alte Archivverzeichnisse durchzuarbeiten. Diese zentralen Forschungsaufgaben erforderten Organisationsgeschick: Dopsch verhandelte nicht nur mit staatlichen Institutionen, sondern traf auch auf private Sammler, deren Wohlwollen es zu gewinnen galt. Bereits in Nancy, seiner ersten Reisestation, besuchte er den Sohn des bekannten Urkundensammlers Antoine-François Dufresne, um einige bereits bekannte Urkunden zu verifizieren. Um an sein Ziel zu kommen, musste Dopsch Spürsinn, Takt und Beharrlichkeit einsetzen, denn Dufresnes Sammlung war nach privaten Vorlieben geordnet und verwahrt. So vermisste Dopsch im Kasten, in dem die Urkunden gelagert waren, eine bekannte Karolingerurkunde. Erst nach längerem Suchen kam sie in einer beinahe vergessenen Truhe auf dem Dachboden zum Vorschein.65 Dass Dufresnes Sohn Dopsch überhaupt seine Schubladen öffnete, hing nicht zuletzt vom sozialen Gespür des Forschungsreisenden ab. Dopsch ging am selben Abend mit dem seinem Gastgeber – sinnigerweise in die „Brasserie Viennoise“ – „kneipen“, um seine Sympathie zu gewinnen: „Nachdem wir gestern beim Bier sehr warm geworden waren u[nd] er mich im Gegensatz zu den Allemands immer als Autrichien behandelte, auch seinen Freunden als solchen vorritt, lenkte ich das Gespräch zufällig noch auf seine Sammlung u[nd] erzählte ihm von unserm Institut etc., wo wir dieselben gut gebrauchen könnten. Dufresne will davon aber absolut nichts wissen u[nd] obwohl ich die Überzeugung gewann, dass er mir gegenüber gar keinen Argwohn hegt, glaube ich, ist es unmöglich einen Ankauf der Sammlung zu ermöglichen. Wenn auch selbst wenig dafür interessirt, betrachtet er die Sammlung als Erbstück, auf das er sehr stoltz ist. Zudem scheint er sehr wohlhabend zu sein.“66
Dopsch trat hier als Unterhändler im Namen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung auf. Mit seinem Anliegen, die private Sammlung der staatlichen Kollektion des Instituts einzuverleiben, vertrat er professionelle und nationale Interessen der österreichischen Geschichtswissenschaft, gegenüber denen er Dufresnes Kollektionen abschätzig als Raubgut beschrieb.67 Dagegen stand Dufresnes Sohn in einer familiären Sammlungstradition,
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paraphrasiert in Arnold Esch: Auf Archivreise. Die deutschen Mediävisten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, aus Italien-Briefen von Mitarbeitern der Monumenta Germaniae Historica vor der Gründung des Deutschen Historischen Instituts in Rom, in: ders./Jens Petersen (Hrsg.): Deutsches Ottocento. Die deutsche Wahrnehmung Italiens im Risorgimento, Tübingen 2000, S. 187–235. Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, 04.12.1893 aus Nancy, Archiv IfÖG NL Mühlbacher: Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, Bogen 6. Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, 04.12.1893 aus Nancy, Archiv IfÖG NL Mühlbacher: Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, Bogen 6. „Man muss sagen, Dufrèsne [sic] le père hat an Bescheidenheit im Stehlen nicht gerade gelitten! Ein grosser Kasten mit ungefähr 20 Schubladen gestopft voll mit Archivalien.“
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3. Aneignungen: Die Persona des Geschichtsforschers
die historisches und antiquarisches Interesse, familiäre Gedenkkultur und Vermögensbildungsstrategien verband. Da sein Verhandlungspartner finanziell nicht auf einen Verkauf angewiesen war, hatte Dopsch aber keine große Verhandlungsmacht. Gleichwohl signalisierte er mit dem Rapport seines geschäftsmäßigen Auftretens an Mühlbacher, dass er als eigenständiger, planhaft vorgehender Akteur ernst zu nehmen war.68 Aus Nancy in Paris angekommen, legte Dopsch auf der österreichischen Botschaft die mitgebrachten Empfehlungsschreiben vor, um dank der diplomatischen Dienste der Botschaft sogleich die Legitimationskarte für die Bibliothèque Nationale, die seine Arbeitsstation für die folgenden Forschungen bilden sollte, und eine Nutzungserlaubnis für die Archives Nationales zu erhalten. In der Bibliothèque Nationale in Paris präsentierte er sich dem Direktor des Manuskriptkabinetts Henri Auguste Omont und dem Generaldirektor Léopold Delisle, um die nötigen Unterstützung für die Einsicht in relevante Archivmaterialien zu erhalten und die Bibliotheksbestände zu nutzen.69 Wie an anderen Forschungsstandorten war Dopsch auch hier immer wieder auf die persönliche Vermittlung wohlwollender lokaler Akteure angewiesen, um Zugang zu den Infrastrukturen der Forschung zu erhalten. Er machte mit dem bedeutenden Pariser Diplomatiker Arthur Giry Bekanntschaft, der ihm von seinen Projekten erzählte, die in engem Zusammenhang mit den Unternehmungen der Monumenta Germaniae Historica standen. Dass Dopsch bei Giry gute Aufnahme fand, kam ihm schon bald zugute, denn über ihn entdeckte er zahlreiche Hinweise auf ihm bis dahin unbekannte Überlieferungsformen von Urkunden und erhielt das Angebot, Girys persönliche Verzeichnisse von Handschriften und Urkundengruppen durcharbeiten zu dürfen. Giry stellte ihm auch ein Faksimile und eine Transkription einer bisher nur abschriftlich bekannten Urkunde zur Verfügung, die erst kurz zuvor in Privatbesitz gefunden worden war. Auch in Paris verstand sich Dopsch als Botschafter des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung und der Monumenta Germaniae Historica. Die Forschungsaufenthalte in der französischen Metropole stellten eine seltene Gelegenheit dar, die sonst kaum face-to-face verlaufenden Beziehungen zwischen französischen und deutschsprachigen Forschern im Bereich der Urkundenlehre und der Mittelaltergeschichte zu vertiefen und von laufenden Projekten zu erfahren. Daher
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Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, 04.12.1893 aus Nancy, Archiv IfÖG NL Mühlbacher: Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, Bogen 6. Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, 12.02.1894 aus Paris, Archiv IfÖG NL Mühlbacher: Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, Bogen 16f., hier Bogen 16. Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, 08.12.1893 aus Paris, Archiv IfÖG, NL Mühlbacher: Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, Bogen 7; 22.12.1893 aus Paris, ebd. Bogen 8f.; 12.02.1894 aus Paris, ebd., Bogen 16f., hier Bogen 17.
3.5 Meisterung der Quellen, Hingabe an die Quellen
163
regte Dopsch an, die Hilfe von Delisle, Omont und Giry im Jahresbericht der Monumenta Germaniae Historica dankend zu erwähnen.70 Solche Begegnungen gaben dem österreichischen Forscher Gelegenheit, einen weiteren Aspekt der forscherischen Selbstermächtigung zu aktualisieren: Auf Dopschs Archivexpeditionen reiste die Überzeugung mit, im Namen einer „deutschen“ Sache zu handeln, für die insbesondere die Monumenta Germaniae Historica standen. Der österreichische Historiker ließ in seinen Berichten viele wissenschaftspolitische Einschätzungen mitlaufen, die eine nationalistische Einstellung zu erkennen gaben und die Überlegenheit der deutschen Wissenschaft unterstrichen. Die Nachgeschichte des Krieges von 1870/71 diente dabei als Folie, um manche Aversionen französischer Wissenschaftler gegenüber der deutschen Forschung wie auch die Erfolge der deutschen Forschung zu deuten. Der Deutschnationale Dopsch ergriff dabei auch die Gelegenheit, chauvinistische Nationalstereotype, etwa dasjenige vom opportunistischen Franzosen, aufzugreifen und zu bestätigen.71 Forschungsaufenthalte in England, Italien und Spanien boten Dopsch später ähnliche Möglichkeiten, nationale Vergleiche über den Stand der Forschung und den Modernisierungsstand der Archive anzustellen. Quellenforschung im Ausland wurde auf diese Weise für Dopsch zu einem Faktor der Selbstermächtigung und Selbstverortung in der internationalen Forschungslandschaft und zu einem Vehikel deutschnationaler Selbstvergewisserung.
3.5 Meisterung der Quellen, Hingabe an die Quellen Als Emil Ottenthal 1875 mit einem Reisestipendium des Instituts seine erste diplomatische Exkursion in die Schweiz unternahm, berichtete er von seinen Bemühungen um die urkundlichen Quellen. Die Zugangsschwierigkeiten, von denen er schrieb, betrafen zum einen die äußeren Benutzungsumstände, die manchmal sehr restriktiv waren. Die Probleme beruhten andererseits auch 70
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Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, 15.01.1894 aus Paris, Archiv IfÖG NL Mühlbacher: Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, Bogen 13; 12.02.1894 aus Paris, ebd., Bogen 16f., hier Bogen 17; 15.03.1894 aus Paris, ebd., Bogen 19–21, hier Bogen 19. Vgl. Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, 15.03.1894 aus Paris, Archiv IfÖG, NL Mühlbacher: Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, Bogen 19–21, hier Bogen 20; 09.04.1894 aus Paris, ebd., Bogen 22f., hier Bogen 22; über Giry: „Giry scheint die Anzahl der gefundenen Inedita mächtig imponirt zu haben. Er bietet sich nochmals mir u[nd] ! Monsieur le professeur Mühlbacher! in den verbindlichsten Wendungen für eventuelle Auskünfte nach jeder Richtung hin an. Der geschmeidige Franzose will sich offenbar von vornherein die Suppe nicht versalzen. Zudem steht die Recension seines ‹Manuel› in Ihrer Zeitschr[rift]. noch aus. d. h. zu erwarten. – –“ 30.03.1895 aus Verona, ebd., Bogen 43, Hervorhebung im Original.
164
3. Aneignungen: Die Persona des Geschichtsforschers
auf der Ordnung der Archivalien, die oft nicht neueren wissenschaftlichen Kriterien entsprach und das Auffinden erschwerte; das lokale Wissen über die verwalteten historischen Dokumente war überdies oft bruchstückhaft und stark personengebunden.72 Ottenthal hatte es auf seiner Reise vor allem mit kirchlichen Institutionen zu tun; er besuchte in der Schweiz unter anderem die Klöster in St. Gallen, Einsiedeln und Münster. In Einsiedeln quartierte ihn der Klosterarchivar zunächst im Kloster ein, wo Ottenthal in einem Zimmer wohnen konnte. Allerdings hielt diese Zuvorkommenheit nicht lange an, denn, so schrieb Ottenthal in einem Brief, „später sagte mir der Archivar in der naivesten Freundlichkeit bis 1.IX. abends würde ich wol fertig werden, da man dort den Platz sonst brauche; u[nd] ich glaubte mich einfach fügen müssen, da man rein vom Archivar abhängt“.73 Mit dieser resignierten Einsicht drückte Ottenthal eine Gefühlslage aus, die unter Quellenforschern weit verbreitet war: die Ohnmacht gegen über den Hütern und Hüterinnen der Quellen vor Ort. Historiker hatten es auf ihren Reisen mit einer Vielfalt lokaler Akteure zu tun: mit Bibliotheksdirektoren, privaten Sammlern, Klosterfrauen, Stiftsarchivaren, Fotografen, Bischöfen, Kirchendienern und staatlichen sowie kommunalen Archivbeamten, die alle ihre eigenen Zugangspolitiken verfolgten und über ein Wissen über die aufgesuchten Bestände verfügten, auf das die Historiker angewiesen waren. Aus Sicht der Forscher erschienen diese Verwalter der Dokumente oft als lebendige Forschungshindernisse: Archivverwalter wollten ihre Schätze nur unter großem Widerwillen preisgeben, der Archivzutritt konnte schlichtweg verweigert werden, der Archivar mit den Schlüsseln auf unbestimmte Zeit verreist oder der Schlüssel zum Archiv bei jemandem hinterlegt sein, der gerade in den Ferien weilte. Archivare verlangten komplizierte Akkreditierungsprozeduren und setzten willkürlich erscheinende Öffnungszeiten fest. Nachlässe konnten von Erben zurückgehalten und an unbekannte Orte verschoben werden. Da der Handschriftenmarkt im 19. Jahrhundert boomte und ganze Bestände unter den Auktionshammer kamen, ergaben sich unvorhergesehene Veränderungen in den Besitzverhältnissen, die die Erschließung von Urkunden verunmöglichen konnten.74 Dazu kamen die Unwägbarkeiten der Überlieferung: Findmit72 73 74
Emil von Ottenthal an Theodor Sickel, 02.10.1876 aus Rasten, Archiv IfÖG NL Sickel: Emil Ottenthal an Theodor Sickel, fol. 6f. Emil von Ottenthal an Theodor Sickel, 02.09.1876 aus Zürich, Archiv IfÖG,, NL Sickel: Emil Ottenthal an Theodor Sickel, fol. 4f., hier fol. 4v–5r. Der Archivzutritt wurde Alfons Dopsch in Manua und Piacenza verweigert. Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, 13.04.1895 aus Parma, Archiv IfÖG NL Mühlbacher: Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, Bogen 44f., hier 44; Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, 07.09.1895 aus Turin, ebd., Bogen 65. Vgl. auch die Verwicklungen um Urkunden in Osnabrück, die der Bischof aus dem Archiv entfernt hatte und in seinem Palais versteckt hielt. Die Angelegenheit wurde von Historikern der Monumenta an die Öffentlichkeit gebracht. Michael Tangl an Engelbert Mühlbacher, 26.10.1897 und
3.5 Meisterung der Quellen, Hingabe an die Quellen
165
tel fehlten, Urkunden waren in dunklen Gewölben oder auf Dachböden verborgen, Bestände zerstört und auseinandergerissen geworden, Archive hatten unter Überschwemmungen und undokumentierten Neuordnungen gelitten, und bereits bekannte Urkunden waren aus verschiedensten Gründen verschollen – unter anderem, weil Forscher historische Materialien, die oft verschickt wurden, nicht retournierten oder aus dem Archiv stahlen.75
75
30.11.1897 aus Berlin, Archiv IfÖG NL Mühlbacher: Michael Tangl an Engelbert Mühlbacher, fol. 53f., Michael Tangl an Engelbert Mühlbacher, 03.07.1899 aus Münster, ebd., fol. 79. Unauffindbar hinterlegte Schlüssel erlebte Harry Bresslau 1879 in Sion, Harry Bresslau an Theodor Sickel, 22.08.1879 aus Bergamo, NL Sickel: Bresslau an Sickel, fol. 4f. Über das unkooperative Verhalten von Archivaren finden sich viele Hinweise in Briefwechseln. Der St. Galler Historiker Hermann Wartmann musste Engelbert Mühlbacher wegen der Bearbeitung einiger Urkunden vertrösten, weil er mit dem Klosterarchivar in einem Benutzungsdisput lag. Hermann Wartmann an Engelbert Mühlbacher, 11.11.1883 aus St. Gallen, Archiv IfÖG NL Mühlbacher: Hermann Wartmann an Engelbert Mühlbacher, fol. 4f., hier fol. 4r–v. Dopsch erlebte im italienischen Brugnato einen widerspenstigen Archivar. Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, 07.09.1895 aus Turin, Archiv IfÖG, NL Mühlbacher: Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, Bogen 65. Vgl. auch Dopschs Umgang mit Kanonikern in Piacenza: „Die Herrn Canonici waren allerdings wüthend und konnten sich selbst in den Chorstühlen (das Archiv ist im Dom) kaum ruhig halten! Doch ich räumte alles fein säuberlich aus und in aller Ruhe noch dazu.- ” Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, 08.10.1885 aus Brescia, Archiv IfÖG NL Mühlbacher: Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, Bogen 68. Akkreditierungsprozedur: Tangl berichtete 1896 von einem Beamten im Staatsarchiv in Koblenz, der jeweils polizeiliche Benimmnoten einforderte, eine Maßnahme, die Ende des 19. Jahrhunderts zum Anachronismus geworden war. Michael Tangl an Engelbert Mühlbacher, 03.07.1896 aus Marburg, Archiv IfÖG NL Mühlbacher: Michael Tangl an Engelbert Mühlbacher, fol. 28. Eingeschränkte Öffnungszeiten: Hermann Wartmann an Engelbert Mühlbacher 12.08.1894 aus St. Gallen, Archiv IfÖG, NL Mühlbacher: Hermann Wartmann an Engelbert Mühlbacher, fol. 8. Verschiebungen privater Nachlässe: Dopsch wollte in Mantua Kaiserurkunden im Privatbesitz des Monsignore Scardavelli durchschauen, die allerdings seit dessen Tod verschollen waren. Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, 13.04.1895 aus Parma, Archiv IfÖG NL Mühlbacher: Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, Bogen 44f., hier 44. Veränderte Besitzverhältnisse: Als Dopsch 1895 eine Kollektion im British Museum bearbeiten wollte, erfuhr er, dass ein großer Teil der Sammlung inzwischen verkauft worden war. Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, 12.11.1896 aus Cheltenham, Archiv IfÖG NL Mühlbacher: Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, Bogen 79. Tangl erzählte 1897 von einem größeren Urkundenhandel, der die Arbeit der Monumenta beeinträchtigte. Michael Tangl an Engelbert Mühlbacher, 21.02.1897 aus Marburg, Archiv IfÖG NL Mühlbacher: Michael Tangl an Engelbert Mühlbacher, fol. 37. Emil von Ottenthal an Theodor Sickel, 02.10.1876 aus Rasten, Archiv IfÖG NL Sickel: Emil Ottenthal an Theodor Sickel, fol. 6f.; Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, 30.03.1895 aus Verona, Archiv IfÖG NL Mühlbacher: Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, Bogen 43. Vgl. auch die Suche nach verschollenen Urkunden im Staatsarchiv Zürich und im St. Galler Klosterarchiv: Michael Tangl an Engelbert Mühlbacher, 26.08.1897 aus St. Gallen, Archiv IfÖG NL Mühlbacher: Michael Tangl an Engelbert Mühlbacher, Bogen. 49. Hermann Wartmann an Engelbert Mühlbacher, 10.05.1890 aus St. Gallen, Archiv IfÖG NL Mühlbacher: Hermann Wartmann an Engelbert Mühlbacher, fol. 6f.
166
3. Aneignungen: Die Persona des Geschichtsforschers
Auf Forschungsreisen galt es, geschickt mit all diesen Kontingenzen und ungeschriebenen Restriktionen umzugehen und wissenschaftliche „Gefühlsarbeit“76 zu leisten, um die Gefühle der Ohnmacht, die dem Ideal des selbstbestimmten Forschers widersprachen, durch die Aneignung der Quellen zu überwinden. Anekdoten von Archiverlebnissen, die unter Historikern zirkulierten, erzeugten ein Narrativ der Bewältigung, das die oft frustrierenden Erfahrungen des beschränkten Quellenzugangs in bestandene Archivabenteuer umdeutete. Michael Tangls Bericht von seiner Mission für die Monumenta Germaniae Historica in Chur im Jahr 1897 schildert eine solche Bemächtigung der Quellen in zufriedener Ausführlichkeit. Nachdem er im bischöflichen Archiv eine bereits von „saftigsten Grobheiten“ begleitete Legitimationsprozedur über sich hatte ergehen lassen müssen, wurde Tangl schließlich vom Stellvertreter des Archivars hereingelassen. „Dann war’s gut, und ich genoss wenigstens die Vergünstigungen, dass ich in seinem Empfangszimmer die Urkunden – natürlich unter Glas und Rahmen! – bearbeiten durfte. Am zweiten Tag habe ich ihn aber doch bemogelt. Während er einen Gang in die Stadt machen musste, und mich auf meinen eigenen Wunsch hin in seiner Wohnung einschloss, nahm ich rasch die beiden wichtigsten Stücke N. 1062 und 1352 aus dem Rahmen und kann mit voller Sicherheit konstatieren, dass es sich um Interpolationen handelt, die über Rasur, nicht wie bei N. 1352 angenommen war, auf ursprünglich leerem Raum stehen. Die Tilgungen der Oberlängen sind noch so deutlich sichtbar, dass die Sache gar keinem Zweifel unterliegt. Auch die Aktumfrage bei N. 1352 ist gelöst; es steht Driburin. Das ist immerhin etwas; als Tuor nach 20 Minuten wieder zurückkehrte, waren beide Stücke wieder unter Glas und Rahmen.“77
Tangls triumphale Erzählung verweist auf unterschiedliche Quellenkonzepte, die hier im Spiel waren. Während er selbst als Vertreter einer innovativen Forschungsrichtung auch die äußeren Merkmale von Urkunden berücksichtigte und deshalb auf die eingehende Analyse der materialen Qualitäten der Dokumente angewiesen war, beharrte der Verwalter vor Ort auf der Verwahrung der Dokumente unter Glas, die er als seine eigene Erfindung bezeichnete. Der Vertreter des Archivar veranschlagte die Kostbarkeit des Quellenmaterials so hoch, dass er die Entnahme der Urkunde für eine Fotografie verweigerte und so die Quelle selbst Forschern materiell unzugänglich machte78 , sie geradezu einem Kunstgegenstand in einem Museum annäherte. 76
77
78
Der Begriff stammt von Arlie Russell Hochschild (Emotion Work, Feeling Rules, and Social Structure, in: The American Journal of Sociology 85/1979, S. 551–575). Vgl. Daniela Saxer: Geschichte im Gefühl. Gefühlsarbeit und wissenschaftlicher Geltungsanspruch in der historischen Forschung des späten 19. Jahrhunderts, in: Uffa Jensen/Daniel Morat (Hrsg.): Rationalisierungen des Gefühls. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Emotionen 1880–1930, München 2008, S. 79–98. Michael Tangl an Engelbert Mühlbacher, 26.08.1897 aus St. Gallen, Archiv IfÖG NL Mühlbacher: Michael Tangl an Engelbert Mühlbacher, fol. 49, hier fol. 49v. Hervorhebung im Original. „Montag früh gedachte ich ihn doch für das Photographiren herumzukriegen; da überraschte er mich durch die Nachricht, daß er Nachmittag verreise. Überhaupt ist er auf die
3.5 Meisterung der Quellen, Hingabe an die Quellen
167
Höher noch als den Triumph der Bemächtigung veranschlagten Quellenforscher die Entdeckung bisher unbekannter Quellen. Zwar hob die geschichtswissenschaftliche Rhetorik auf die Entdeckung neuer Quellenbestände ab, die Realität der historischen Forschung im Untersuchungszeitraum war aber vielmehr von der Wiederentdeckung bereits in der Frühneuzeit bekannter Urkunden und Chroniken sowie von der Suche nach dem Original hinter den älteren Editionen geprägt. Entdeckungen unbekannter Quellen waren im Rahmen bereits gebräuchlicher Gattungen wie der Urkunden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts deshalb umso außergewöhnlicher. Als wesentliche Ausbeute seines Frankreich-Aufenthalts von 1894 hob Alfons Dopsch in seiner Autobiographie deshalb die Ortung neuer Urkunden hervor: „[I]ch hatte nicht weniger als 18 neue Urkundentexte deutscher Karolinger heimgebracht“.79 Die Qualifizierung als „neu“ bezog sich allerdings in diesem Zusammenhang ganz klar auf den Kontext der deutschsprachigen Forschung – denn diese Urkunden waren in Frankreich nicht etwa gänzlich unverzeichnet gewesen, sondern von Dopsch durch die Durcharbeitung von Bibliotheks- und Archivkatalogen und Kopialbüchern erfasst worden. Damit standen sie nun erstmals der deutschsprachigen Forschung zur Verfügung. Funde von unbekannten Beständen oder Einzeldokumenten waren rar, sie wurden im Wettbewerb der Forscher und der Großprojekte, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in großer Zahl die europäischen Archive beforschten und einander oft starke Konkurrenz machten, häufig geheimgehalten, bis sie publiziert wurden.80 Hinter den seltener werdenden Publikationen von Fundstücken und den Phantasien der Erstentdeckung und Eroberung81 stand in der Tat eine oft sehr monotone Tätigkeit in den Archiven, die von den Forschern weniger Entdeckerlust als Ausdauer und Planmäßigkeit verlangte. Es galt, Serien von Dokumenten zu verzeichnen, Urkunden zu transkribieren und zu faksimilieren und vor allem mitgebrachte Abschriften mit den Dokumenten vor Ort zu vergleichen. In Dopschs Berichten konnte das Kollationieren, das Aufmerk-
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81
dumme Verwahrungsweise, die seine eigene Erfindung ist, so stolz, daß sich mit ihm gar nicht reden läßt.“ Ebd. Es handelte sich um den Domdekan Christian Modest Tuor. Vgl. Alfons Dopsch: [Selbstdarstellung], in: Sigfrid Steinberg (Hrsg.), Die Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Leipzig 1925, S. 51–90: 59. S. Alfons Dopsch: Unedirte Karolinger-Diplome aus französischen Handschriften, in: MIÖG 16/1895, S. 193–221. Die Aushebung von noch unbekannten Originalurkunden war in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits eine Seltenheit, die Aufsehen erregte. So schrieb Hirsch Mühlbacher, dass Paul Kehr in Rom das Original einer Urkunde Karls III. gefunden habe, die vorher nur im Auszug bekannt war und schloss daran: „Da er ein etwas ungemütlicher Herr ist, habe ich es vermieden, mich näher für die Sache interessiert zu zeigen, er wird ja hoffentlich nicht lange warten, von seinem Funde zu berichten.“ Hans Hirsch an Engelbert Mühlbacher, 05.05.1903 aus Rom, Archiv IfÖG NL Mühlbacher: Hans Hirsch an Engelbert Mühlbacher, fol. 14f., hier fol. 14v. Vgl. Smith: The Gender of History, S. 119.
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3. Aneignungen: Die Persona des Geschichtsforschers
samkeit für unscheinbarste Details verlangte und weniger zu gedanklichen Höhenflügen als zur Ausdauer eines Beamten aufforderte, geradezu die Form eines Kampfes mit feindlichen Kräften annehmen. Dopsch beklagte sich beispielsweise über die „Arbeit an den niederträchtigen Collectionen“, die auf die Dauer „geisttötend“82 wirke, und beklagte sich über die stundenlange Kollation eines Rodels im Domkapitel von Novara, der das „Gemeinste was ich an Hss. [Handschriften] je in der Hand hatte“83 gewesen sei. Diese negativen Umschreibungen verstärkten sich auf Dopschs Reise nach England im darauffolgenden Jahr. Bei den unzähligen Archivbesuchen für die Diplomata-Abteilung der Monumenta ging es vor allem um die Verifizierung früherer Forschungsergebnisse. Dass er nicht auf unbekannte Dokumente stieß, wurde von Dopsch als Niederlage verstanden. „Die Arbeiten sind rüstig u[nd] gut fortgegangen, leider ohne positiv neue Ergebnisse. Zahlreiche neue Überlieferungen Verbesserungen der bekannten Texte, Richtigstellungen allenthalben – eine Unmasse Arbeit (ich erinnere nur an Utrecht!) aber nichts ganz Neues. Ich kam mir vor wie die Franzosen a[nn]o 70, die bei jeder Schlacht wussten, dass sie auch bei der größten Anstrengung doch nichts ausrichten könnten. Das ist eine langweilige, Entsagung heischende Arbeit! –“.84
Der Vergleich mit den französischen Soldaten verlieh der seriellen Arbeit des Kollationierens Größe. Dopschs Vergleich verweist darüber hinaus auf die untergründigen Konnotationen der Quellenforschung als männlicher Eroberungsgeste. Der Mangel an glanzvollen Eroberungen, der Überfluss an Ausdauer erheischender, monotoner Arbeit wurde vor diesem Hintergrund deshalb oft als heroisches Aushalten stilisiert: „Ein ordentlicher Soldat beißt die Zähne zusammen und – marschirt weiter!“85 Ausdauer und Exaktheit im Umgang mit dem historischen Material waren deshalb zentrale „epistemische Tugenden“86 , die von den Forschern selbst immer wieder hervorgehoben und gefordert wurden, während die Originalität des Arbeitszugangs weniger im Vordergrund stand. Ottenthal betonte in seinen Forschungsberichten, wie er jede Arbeitsmöglichkeit ausnütze und in St. Gallen jeden Tag acht Stunden im Archiv verbracht habe.87 Dopsch hob 82 83 84 85
86 87
Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, 12.03.1894 aus Paris, Archiv IfÖG,NL Mühlbacher: Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, Bogen 16f., hier Bogen 17. Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, 20.09.1895 aus Mailand, Archiv IfÖG NL Mühlbacher: Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, Bogen 66. Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, 27.10.1896 aus Brüssel, Archiv IfÖG NL Mühlbacher: Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, Bogen 78. Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, 13.09.1896 aus London, Archiv IfÖG NL Mühlbacher: Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, Bogen 75. Vgl. auch: „Completiren u. Richtigstellen das ist die wenig trostvolle Devise dieser meiner Reise –“. Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, 12.11.1896 aus Cheltenham, Archiv IfÖG NL Mühlbacher: Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, Bogen 79. Daston/Galison: Objektivität, S. 215. Emil von Ottenthal an Theodor Sickel, 02.09.1876 aus Zürich, Archiv IfÖG NL Sickel: Emil Ottenthal an Theodor Sickel, fol. 4f, hier fol.4r–v.
3.5 Meisterung der Quellen, Hingabe an die Quellen
169
20 Jahre später in einer Auseinandersetzung mit seinem Vorgesetzten Mühlbacher hervor, dass er pausenlos arbeite: „Ich darf erwähnen, dass ich trotz Ihrer Erlaubniß, mich einmal kurze Zeit zu verschnaufen, davon bis heute (seit December) niemals Gebrauch gemacht habe, obwohl die niederträchtige staubige Hitze, die hier seit 3 Wochen herrscht, dies auch ohne die saure Collationsarbeit als Postulat eines menschenähnlichen (!) Daseins hinstellen müsste.– –“88 Hier wird der Durchhaltewille, der den wissenschaftlichen Zugriff auf das Material trotz widriger Arbeitsumstände möglich machte, als heroischer Akt geschildert. Das Aufrechterhalten der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit während der seriellen Erfassung wurde hier zum zentralen Qualitätsmerkmal der wissenschaftlichen Arbeit89 , Exaktheit zu einer wissenschaftlichen Schlüsseltugend. Alfons Dopsch versicherte Mühlbacher, dass er „mit der peinlichsten Genauigkeit“ arbeite90 und beklagte sich in Italien wegen der „minderwertigen Qualität der hiesigen Copisten“.91 Dopsch beschwerte sich auch über die ungenauen Abschriften eines anderen Mitarbeiters von Mühlbacher. Diese Transkriptionen seien „unfassbar“ und zeigten so recht die „Hirnlosigkeit des Copisten“, so dass Dopsch prophezeite: „Es wird alles nochmals müssen abgeschrieben werden u[nd] also rein umsonst!“92 Die Betonung des Durchhaltevermögens ersetzte hier den Triumph, unbekannte Archivschätze gehoben zu haben. Oft hatten es die Forscher mit im Wesentlichen bereits bekannten Beständen zu tun, denen ein noch unbekanntes Detail abgerungen werden musste. Das wissenschaftlich Neue, das hier produziert wurde, musste oft mühsam aus bereits Bekanntem herausgeklaubt werden.93 Ausdauer als fundamentale Arbeitseigenschaft im Umgang mit den Quellen hatte auch Paul Kehr verinnerlicht, ein Absolvent des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, der noch unter Mühlbacher studiert hatte. Als er in der Zwischenkriegszeit selbst Direktor der Monumenta Germaniae Historica wurde, setzte er seine damaligen Mitarbeiter Theodor Mommsen und Gerhard Ladner, ebenfalls ein Absolvent des Wiener Instituts, 88 89 90
91 92 93
Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, 08.07.1894 aus Paris, Archiv IfÖG NL Mühlbacher: Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, Bogen 33f., hier Bogen 34. Vgl. Lorraine Daston: Eine kurze Geschichte der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit, München 2000, S. 47–49. Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, 12.02.1894 aus Paris, Archiv IfÖG NL Mühlbacher: Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, Bogen 16f., hier Bogen 16. Hervorhebung im Original. Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, 17.06.1895 aus Rom, Archiv IfÖG NL Mühlbacher: Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, Bogen 54f., hier Bogen 54. Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, 24.03.1896 aus San Daniele, Archiv IfÖG NL Mühlbacher: Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, Bogen 69. Vgl. z. B. die stolze Meldung Hans Hirschs nach Wien: „Speciell für Heinrich V. gelang es mir eine Nachzeichnung von einem noch heute erhaltenen Original hervorzuziehen, die man bisher als blosse Copie angesehen hatte, deren Text sich aber als verfälscht erwies.“ Hans Hirsch an Engelbert Mühlbacher, 17.03.1903 aus Rom, Archiv IfÖG NL Mühlbacher: Hans Hirsch an Engelbert Mühlbacher, fol. 6f., hier fol. 6v.
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3. Aneignungen: Die Persona des Geschichtsforschers
einem Archivtest im Bayerischen Staatsarchiv aus. Ladner erinnerte sich in seinen autobiographischen Aufzeichnungen: „Auf diese Einleitungen folgte dann der erste Arbeitstag im Archiv, wo Kehr ein eigenes Zimmer für sich und seine Mitarbeiter hatte. Theodor und ich konnten nur staunen, wie Wägelchen nach Wägelchen mit Kaiserurkunden des 9. bis 11. Jahrhunderts herangerollt wurden. Es war unter anderem das erste Mal in meinem Leben, dass ich karolingische Originalurkunden sah. Im Laufe des Tages sollte freilich ein Erstaunen etwas anderer Art eintreten. Es wurde 12 Uhr Mittag, es wurde eins, es wurde zwei, es wurde drei, und Kehr arbeitete ruhig weiter und erwartete offenbar, dass wir dasselbe täten. Von Mittagessen keine Rede. Um sieben Uhr machte Kehr Schluss und sagte mit einem leicht schadenfreudigen Lächeln, er habe doch einmal sehen wollen, wieviel die jungen Leute heute aushalten können. Er lud uns aber zu einem Nachtmahl im Augustiner Keller mit Bier und riesigen Kalbshaxen ein. An den folgenden Tagen machte er es klar, dass wir zum Mittagessen ausgehen konnten. Er ging mittags nie aus. Er brachte nur eine Semmel, eine Orange und eine Flasche Fachinger von zu Hause mit. Das Mineralwasser Fachinger war auch seine Tröstung während des mühsamen Lesens der Korrekturbögen der späten Karolingerurkunden.“94
Tatbeweise von Ausdauer, Entsagung und Enthaltsamkeit wurden besonders von angehenden Forschern erwartet, die langen Stunden im Archiv wurden zur Initiation. Damit verinnerlichten Quellenforscher ein Selbstbild heroischer Selbstüberwindung im Dienst der Quellenarbeit, die sie unter der väterlichen Autorität ihrer Mentoren verbrachten.95 Dies zeigt sich beispielsweise im Umgang Theodor Sickels mit seinen jungen Studenten. Forscherqualitäten wurden von Sickel in Auseinandersetzungen um seine Schüler wiederholt mit einer Hingabe und Zielstrebigkeit identifiziert, die über kühle Kalkulation hinausging und unbedingte Unterwerfung unter die Strategien der Lehrer einschloss. So kritisierte Theodor Sickel 1877 Emil Ottenthal wegen seiner Unschlüssigkeit angesichts verschiedener Berufsoptionen. „Nicht, dass er ein entschiedenes Nein gesagt; aber grade die Unentschlossenheit hat in meinen Augen den Ausschlag gegeben. Auf die volle Hingabe an die Sache konnte ich nicht rechnen.“96 Und Oswald Redlich warf er in einer etwa acht Jahre später erfolgenden Auseinandersetzung vor, dass es ihm an „Interesse für Wissenschaft“, und dem „wissenschaftlichen Eifer“ fehle, die für die ihm zugedachte Mission nötig seien. Sickel urteilte: „Nur das Amt u[nd] zwar das ganze auf den eigenen Leib zugeschnittene Amt liegt ihm am Herzen“97 , er unterstellte ihm damit wenig risikofreudigen Karrierismus.98 Die Vorbehalte, 94 95
96 97 98
Gerhart B. Ladner: Erinnerungen, Hrsg. Herwig Wolfram und Walter Pohl (Philosophisch-historische Klasse, Sitzungsberichte 617), Wien 1994, S. 30f. Damit befanden sich die Historiker in guter Gesellschaft: Der Topos der entbehrungsreichen, ausdauernden Arbeit war für die Selbstentwürfe der Wissenschaften im 19. Jahrhundert disziplinenübergreifend grundlegend. Daston: Die wissenschaftliche Persona, bes. S. 120f., 129f. Theodor Sickel an Julius Ficker, 22.10.1877 aus Wien, Archiv IfÖG NL Sickel: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 68f., hier fol. 68r. Theodor Sickel an Julius Ficker, 18.07.1881 aus Aussee, Archiv IfÖG NL Sickel: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 94–97, hier fol. 94r–v. Ficker verwies dagegen auf Redlichs „Verehrung“ für Sickel und auf sein herausragendes
3.5 Meisterung der Quellen, Hingabe an die Quellen
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die Ottenthal, Redlich und Dopsch in Bezug auf die extensiven Arbeiten in den Archiven zum Ausdruck brachten, sollten im Namen der „Sache“ unterdrückt, die äußerste Exaktheit, aber wenig selbständige Kreativität erfordernde Arbeit des Kollationierens und die Monotonie der Archivstunden für angehende Forscher als erstrebenswerte Opfer verstanden werden. Angehende Hochschuldozenten durchliefen also spätestens seit den 1870er Jahren routinemäßig eine wissenschaftliche Sozialisation in den Netzwerken und Agenturen historischer Forschung, die nun in größerem Ausmaß als zuvor auf Arbeitsteiligkeit, überlokaler Zusammenarbeit zwischen Forschergruppen und der Mobilisierung umfangreicher staatlicher Ressourcen beruhten. Ihre ersten Arbeitserfahrungen waren weniger von den formalisierten Erwartungen der Institutionen als von den persönlichen Beziehungen zu geschichtswissenschaftlichen Mentoren geprägt und hingen von deren Vertrauen ab. Auch der Zugriff auf das zentrale Untersuchungsobjekt historischer Forschung, die historischen Quellen, war kaum formal geregelt: Lehrstuhlinhaber und Mentoren angehender Forscher wie Meyer von Knonau, Sickel oder Ficker kontrollierten nicht nur den Zugang zu finanziellen Ressourcen und Forschungsaufträgen, sondern verhalfen ihren Schützlingen überhaupt erst zu ihrem Materialzugang. Alle Erfolgsstrategien aufstrebender Wissenschaftler mussten sich deshalb zunächst an diesen persönlichen Beziehungen ausrichten. Durch die verbreitete Arbeitsteiligkeit der Arbeit an Quellen wie auch die Konzentration der Entscheidungsmacht in den Händen der mächtigen Mentoren, die in der Regel Lehrstuhlinhaber waren, wurde der Aufbau der wissenschaftlichen Reputation von Quellenforschern zu einem komplexen Unterfangen. Die Teilnahme an Quelleneditionen und anderen kollektiven Unternehmungen widersprach dem Ideal einer selbstbestimmten, auktorialen Position des Geisteswissenschaftlers und führte zu Interessenkonflikten mit den vorgesetzten wissenschaftlichen Unternehmern. Die Forschungsreisen, die im Wiener Kontext im Rahmen des Unterrichts am Institut für Österreichische Geschichtsforschung und der DiplomataEdition der Monumenta Germaniae Historica finanziert wurden, boten demgegenüber jungen Historikern eine Möglichkeit, zu einem autonomeren Forschungszugang zu finden und selbst unternehmerische Positionen einzuüben. Historiker eigneten sich in diesem Prozess ein fachspezifisches Selbstverständnis an, das mit Hilfe zahlreicher Techniken der Selbstdisziplinierung und Selbstdarstellung wie auch durch die Ausrichtung an aktuellen oder literarischen wissenschaftlichen Vorbildern angeeignet, in der Arbeitspraxis eingeübt, in den Forschungsinteraktionen in Arbeitsnetzwerken auf Probe wissenschaftliches Interesse. Er verfolgte gleichzeitig eine viel realistischere Einschätzung der ökonomischen Aspekte wissenschaftlicher Tätigkeit. Julius Ficker an Theodor Sickel, 20.07.1881 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 105–108, hier fol. 108r.
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3. Aneignungen: Die Persona des Geschichtsforschers
gestellt und bei den Anlässen bildungsbürgerlicher Soziabilität spielerisch und kompetitiv zugleich aufpoliert werden konnte. Geschichtsforscher übten hier nicht nur die verbreiteten Tugenden bürgerlicher Arbeitsamkeit und wissenschaftlicher Hingabe ein, sondern erzogen sich auch disziplinspezifische Einstellungen gegenüber ihren Untersuchungsgegenständen, den historischen Quellen, an. Die Meisterung und hingebungsvolle Erforschung der Quellen schälen sich als Kernelemente der wissenschaftlichen Persona des Geschichtsforschers heraus, die dessen intellektuelle Existenz gleichsam auf den Punkt bringen. Exaktheit, Ausdauer und das Aufrechterhalten wissenschaftlicher Aufmerksamkeit unter zuweilen widrigen Umständen im Archiv erschienen deshalb als zentrale geschichtswissenschaftliche Tugenden. Die Ausrichtung an den Quellen als den zentralen epistemischen Objekten historischer Erkenntnis war allerdings von Ohnmachtsgefühlen, Ambivalenzen und streckenweise monotoner Arbeit begleitet. Der Produktion des geschichtswissenschaftlich Neuen in der Bibliothek und im Archiv gingen die mühevolle Begegnung mit dem unendlich umfangreichen Material, den verästelten Überlieferungen und den Bergen bereits geleisteter Editionen wie auch zahlreiche Feststellungen äußerster Ähnlichkeit beim Kollationieren voraus. Nur mit großer Anstrengung konnte der Arbeitsalltag in der arbeitsteiligen und seriellen Quellenforschung in ein hingebungsvoll durchlebtes Abenteuer der Forschung verwandelt und die bestimmende Rolle von außerwissenschaftlichen Akteuren im Forschungsprozess zugunsten des Selbstbilder des heroischen Entdeckers minimiert werden.
4. Forschungsökonomien: Die Rolle von Verwandtschaft und Geschlecht Familie und Verwandtschaft fristen als Erzählkategorien in biographischen Narrativen über Wissenschaftler der Moderne wie auch als analytische Größen in wissenschaftshistorischen und -soziologischen Untersuchungen in der Regel ein Randdasein. Die biographische Forschung zu Historikern etwa tendiert dazu, das intrikate Geflecht von wissenschaftlichen und lebensweltlichen Prägungen in die chronologische Ordnung einer wissenschaftlichen Genealogie aufzulösen. Die Familie als Einflussgröße der Sozialisation ist in dieser Tradition überwiegend auf die Zeit der Kindheit beschränkt. Auch autobiographische Erzählungen von Historikern greifen auf dieses Muster zurück, indem sie üblicherweise in der Kindheit und Jugend die Anfänge späterer außerordentlicher wissenschaftlicher Leistungen verorten, dem Beitrag des späteren familiären und verwandtschaftlichen Umfeldes zur Gestaltung der Berufslaufbahn hingegen in der Regel nur geringe Aufmerksamkeit schenken.1 Beiträge zur wissenschaftlichen Sozialisation wiederum analysieren vor allem innerwissenschaftliche Faktoren wie die Wirkung von „peer review“, wissenschaftlicher Arbeitsorganisation und disziplinären Blickprägungen.2 Verschiedene Forschungsbefunde verweisen demgegenüber darauf, dass verwandtschaftliche Beziehungen und Ressourcen für Historiker des langen 19. Jahrhunderts von größerer Bedeutung gewesen sein könnten, als das Autonomieideal der modernen Wissenschaften es vermuten ließe. Wie neue Untersuchungen zu Verwandtschaft, Heiratsverhalten und Klassenbildung postulieren, büßte Verwandtschaft im 19. Jahrhundert in Europa keineswegs an Bedeutung ein, wie dies etwa in soziologischen Modernisierungstheorien 1
2
Vgl. die biographischen Selbstdarstellungen in Nikolaus Grass (Hrsg.): Österreichische Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Innsbruck 1950; Steinberg (Hrsg.): Die Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Z. B. Peter Weingart: Wissenschaftssoziologie, Bielefeld 2003; Richard Whitley: The Intellectual and Social Organization of the Sciences, Oxford 1984. In vielen Sozialisationstheorien nehmen Familie und Verwandtschaft eine strukturell ähnliche Position wie in Modernisierungstheorien ein: Ihre Prägungskraft wird sowohl für das Erwachsenenalter wie auch für die Moderne als gering betrachtet. Vgl. z. B. Grundmann: Intersubjektivität und Sozialisation; Ansgar Weymann: Individuum – Institution – Gesellschaft. Erwachsenensozialisation im Lebenslauf, Wiesbaden 2004, S. 154–160; Hurrelmann: Einführung in die Sozialisationstheorie; Gestrich: Vergesellschaftungen des Menschen, S. 119–132; Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a. M. 1969 (amerikan. EA 1966), S. 121– 123,127–135. Vgl. die Kritik in David W. Sabean/Simon Teuscher: Kinship in Europe. A New Approach to Long Term Development, in: dies./Jon Mathieu (Hrsg.): Kinship in Europe. Approaches to Long-Term Development 1300–1900, Oxford 2007, S. 1–32; David W. Sabean: Kinship in Neckarhausen, 1700–1870, Cambridge 1998, S. 2f.
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4. Forschungsökonomien: Die Rolle von Verwandtschaft und Geschlecht
unterstellt wird. Vielmehr wurde Verwandtschaft im Bürgertum als in vielen Fällen endogam akzentuiertes Allianzsystem rekonfiguriert und bestimmte damit die Klassenbildung, den Umgang mit Institutionen und die Zirkulation von Gütern stark mit. Arbeiten zur Bürgertumsforschung und zur Geschlechtergeschichte in der Schweiz und in Österreich unterstützen diese Hypothese.3 Pierre Bourdieus Beitrag zur Wissenschaftssoziologie erlaubt es, diese Befunde für die Untersuchung der wissenschaftlichen Sozialisation von Historikern fruchtbar zu machen. In seiner Analyse des wissenschaftlichen Kapitals betont Bourdieu die Bedeutung eines an die soziale und kulturelle Herkunft gebundenen, adäquaten Habitus’ für die Sozialisation und Reputation von Wissenschaftlern. In die Akkumulation wissenschaftlichen Kapitals gehen so immer auch soziale, ökonomische und kulturelle Ressourcen ein; die Aneignung der sozialen Position des Wissenschaftlers erscheint deshalb als Prozess einer Umwandlung von Kapital, die auch Auswirkungen auf die Verteilung von wissenschaftlicher Verfügungsmacht und Deutungshoheiten hat.4 Mit dem gendering der wissenschaftlichen Praxis ist ein weiterer Faktor der sozialen Reproduktion der Geschichtswissenschaft5 benannt, der die Produktionsbedingungen und die soziale Verteilung von historischem Wissen grundlegend strukturierte. Das Geschlecht der Geschichtswissenschaft wurde in den letzten Jahren verstärkt zum Thema: Neben Untersuchungen zu einzelnen frühen Historikerinnen und zum gendering der Historiographie haben die Prozesse des institutionellen Ein- und Ausschlusses von Frauen in der Geschichtswissenschaft Aufmerksamkeit erhalten.6 Demgegenüber 3
4 5
6
Sabean: Kinship in Neckarhausen, bes. S. 449; Tanner: Arbeitsame Patrioten, bes. S. 279. Zu Österreich und der Schweiz: Hannes Stekl: Bürgertumsforschung und Familiengeschichte, in: ders. (Hrsg.): Bürgerliche Familien. Lebenswege im 19. und 20. Jahrhundert, Wien/Köln/Weimar 2000, S. 9–34; ders.: Bürgerliche Jugend in Autobiographien, in: ders. (Hrsg.): „Höhere Töchter“ und „Söhne aus gutem Haus“. Bürgerliche Jugend in Monarchie und Republik, Wien/Köln/Weimar 2000, S. 11–53; Ernst Bruckmüller: Das österreichische Bürgertum zwischen Monarchie und Republik, in: Zeitgeschichte 20/1993, S. 60–84; Jon Mathieu: Verwandtschaft als historischer Faktor. Schweizer Fallstudien und Trends, 1500–1900, in: HA 10/2002, S. 225–244; Philipp Sarasin: Stadt der Bürger. Bürgerliche Macht und städtische Gesellschaft, Basel 1846–1914, Göttingen 1997 (EA 1990), S. 102– 114; Elisabeth Joris/Heidi Witzig: Brave Frauen, aufmüpfige Weiber. Wie sich die Industrialisierung auf Alltag und Lebenszusammenhänge der Frauen auswirkte (1820–1940), Zürich 1992, S. 239–283. Bourdieu: Vom Gebrauch der Wissenschaft; ders.: Homo academicus, Frankfurt a. M 1992 (franz. EA 1984). Beide Untersuchungsaspekte weisen einen engen inneren Zusammenhang auf. Geschlechterbeziehungen artikulierten sich u. a. in Verwandtschaftsbeziehungen, die im 19. Jahrhundert als besonders emotionaler, vor allem von Frauen gelebter Bereich inszeniert wurden. Umgekehrt trägt auch die Kategorie „Verwandtschaft“ zum Verständnis des gendering der Geschichtswissenschaft bei, wie im folgenden deutlich werden soll. Vgl. dazu allg. Joris/Witzig: Brave Frauen, aufmüpfige Weiber, S. 130–132, 278–182. Béatrice Ziegler/Silvia Bolliger: Historikerinnen und ihre Disziplin an der Universität
4. Forschungsökonomien: Die Rolle von Verwandtschaft und Geschlecht
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gibt es noch kaum Studien, die – im Sinn der Postulate einer symmetrischen Geschlechtergeschichte und der Männergeschichte – nach der Produktion von Männlichkeit in der Historiographie wie auch in der geschichtswissenschaftlichen Praxis fragen. Bereits geleistete Arbeiten deuten darauf, dass die professionelle Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert verstärkt als männliche Tätigkeit gekennzeichnet wurde und sich neue geschlechtsspezifische Hierarchien geschichtswissenschaftlichen Wissens etablierten, die Frauen als Amateurinnen ausschlossen.7 Die geschlechtersoziologisch orientierte Wissenschaftsforschung hat sich mit geschlechtlich codierten Produktionsverhältnissen in den Wissenschaften beschäftigt. Sie verwies seit langem auf die starke kulturelle Kopplung von Wissenschaft und Männlichkeit und hat in
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Zürich. Definitions(ohn)macht durch fehlende Institutionalisierung, in: ÖZG 21/2010, S. 143–174; Hiram Kümper (Hrsg.): Historikerinnen. Eine biobibliographische Spurensuche im deutschen Sprachraum, Kassel 2009; Angelika Epple/Angelika Schaser (Hrsg.): Gendering Historiography. Beyond National Canons, Frankfurt a. M. 2009; Heike Anke Berger: Deutsche Historikerinnen 1920–1970. Geschichte zwischen Wissenschaft und Politik, Frankfurt 2007; Silvia Paletschek: Die Geschichte der Historikerinnen. Zum Verhältnis von Historiographiegeschichte und Geschlecht, in: Erinnern und Geschlecht 2/2007, S. 27–50; dies.: Historiographie und Geschlecht, in: R. Johanna Regnath/Mascha Riepl-Schmidt/Ute Scherb (Hrsg.): Eroberung der Geschichte. Frauen und Tradition, Hamburg 2007, S. 105–128; dies.: Ermentrude und ihre Schwestern. Die ersten habilitierten Historikerinnen in Deutschland, in: Claudia Bruns/Henning Albrecht/Gabriele Boukrif et al. (Hrsg.): Politische Gesellschaftsgeschichte im 19. und 20. Jh. Hamburg 2006, S. 175–187; Maura Palazzi/Ilaria Porciani (Hrsg.): Storiche di ieri e di oggi. Dalle autrici dell’Ottocento alle riviste di storia delle donne, Rom 2004; Mary O’Dowd/Ilaria Porciani: History Women. Introduction, in: Storia della storiografia 46/2004, S. 3–34; Irène Herrmann: Au croisement des impasses de la démocratie? Les femmes et l’ecriture de l’histoire nationale suisse (1870–1930), ebd., S. 59–68; Jo Tollebeek: Writing history in the Salon vert, ebd., S. 35–40; Natalia Tikhohov: Donne e discipline storiche nelle università svizzere (1870–1930), in: Palazzi/Porciani (Hrsg.): Storiche di ieri e di oggi, S. 109–126; Béatrice Ziegler: Historikerinnen an der Universität Zürich 1900–1970. Geschlecht als soziale und als Wissenskategorie, in: Catherine Bosshart-Pfluger/Dominique Grisard/Christina Späti (Hrsg.): Geschlecht und Wissen – Genre et Savoir – Gender and Knowledge. Beiträge der 10. Schweizerischen Historikerinnentagung 2002, Zürich 2004, S. 237–247; Natalia Tikhohov: Les débuts de l’accès des femmes aux professions de l’enseignement supérieur en Suisse, ebd., S. 143–184; Brigitte Studer: „Die Wissenschaft sei geschlechtslos und Gemeingut Aller“. Frauen in der Genese und Tradition der historischen Disziplin, ebd., S. 185–217; Angelika Epple: Historiographiegeschichte als Diskursanalyse und Analytik der Macht. Eine Neubestimmung der Geschichtsschreibung unter den Bedingungen der Geschlechtergeschichte, in: L’Homme 15/2004, S. 77–96; dies.: Empfindsame Geschichtsschreibung. Eine Geschlechtergeschichte der Historiographie zwischen Aufklärung und Historismus, Köln 2003; Smith, The Gender of History; Maria Grever: Die relative Geschichtslosigkeit der Frauen. Geschlecht und Geschichtswissenschaft, in: Küttler/Rüsen/ Schulin (Hrsg.): Geschichtsdiskurs, Band 4, S. 108–123; Margret Friedrich/Brigitte Mazohl-Wallnig: Frauen und Geschichtswissenschaft im deutschsprachigen Raum, in: Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento XXII/1996, S. 349–383; Nagl-Docekal, Herta: Für eine geschlechtergeschichtliche Perspektivierung der Historiographiegeschichte, in: Küttler/Rüsen/Schulin (Hrsg.): Geschichtsdiskurs, Bd. 1, S. 233–256. Vgl. Studer: „Die Wissenschaft sei geschlechtslos [...]“; Smith: The Gender of History.
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4. Forschungsökonomien: Die Rolle von Verwandtschaft und Geschlecht
den letzten beiden Jahrzehnten in verschiedensten Untersuchungskontexten insbesondere auf die Durchdringung vordergründig männlich geprägter wissenschaftlicher Arbeitsprozesse mit geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung aufmerksam gemacht.8 Geschlechtsspezifische Zuschreibungen von Fähigkeiten und Pflichten wie auch praktische Arrangements der Arbeitsteilung erscheinen in dieser Perspektive als wichtiger Bestandteil der geschichtswissenschaftlichen Produktion. Sie hielten ihre Prägungsmacht auch aufrecht, nachdem Frauen formal zum Studium zugelassen worden waren9 . Im Folgenden wird zunächst der Frage nachgegangen, wie historische Forscher in einem symbolischen wie auch in einem unmittelbar sozialen und ökonomischen Sinn mit Verwandtschaft wirtschafteten (Kapitel 4.1 bis 4.3). Anschließend wird die hochgradig geschlechtsspezifische Ausformung von Bildungs- und ökonomischen Positionen, Handlungsmöglichkeiten und Verhaltensnormen im Feld des Geschichtetreibens analysiert. Dabei wird nach dem Institutionalisierungsgrad des gendering der sich verberuflichenden Geschichtswissenschaft sowie nach der Bedeutung geschlechtsspezifischer Arbeitsarrangements für die Arbeitsabläufe der geschichtswissenschaftlichen Quellenbearbeitung gefragt (Kapitel 4.4 und 4.5).
4.1 Symbolische Genealogien der Geschichtswissenschaft Verwandtschaft und Abstammung bilden wichtige Konzepte der Geschichtswissenschaft, die sich im 19. Jahrhundert nicht nur als Herrschergenealogien, sondern in den dominierenden nationalhistorisch geprägten Herkunftsnarrativen auch als Volksgenealogien10 einen prominenten Platz sichern konnten. Die sehr alte Beschäftigung mit Genealogie erfuhr als Wissensbereich in dieser Zeit überdies eine disziplinäre Aufwertung: Als Lehre von den Abstammungs- und Verwandtschaftsverhältnissen bildete sie einen Bestandteil des kanonischen Fächerreigens der Hilfswissenschaften und erhielt durch Ottokar Lorenz’Lehrbuch von 1898 eine klassische Fundierung. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten genealogische Gesellschaften Konjunktur, die die zunächst vor allem adlige und patrizische Beschäftigung mit Herkunft und Verwandtschaft auch dem Bürgertum und später sogar unterbürgerlichen Schichten zugänglich machten. Damit beschäftigten sich
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Vgl. den Forschungsüberblick in Wobbe: Instabile Beziehungen. In Zürich wurden Frauen 1867, in Wien 1897 zum Studium zugelassen. Vgl. Patrick Geary: Europäische Völker im frühen Mittelalter. Zur Legende vom Werden der Nationen, Frankfurt a. M. 2002.
4.1 Symbolische Genealogien der Geschichtswissenschaft
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auch Amateure intensiv mit genealogischem Wissen, das Vorstellungen historischer Kontinuität und naturwüchsiger Identität kultivierte.11 Gleichzeitig bewegten sich akademische Historiker im Untersuchungszeitraum in ihren ganz eigenen Abstammungszusammenhängen, in einem Referenzsystem wissenschaftlicher Zugehörigkeit, das sich aus Zusammengehörigkeits- und Nachfolgebeziehungen zwischen Historikern konstituierte, die als symbolische Verwandtschaften dargestellt wurden. Gedenk- und Jubiläumsveranstaltungen, Dozentenalben, Nekrologe, historiographiegeschichtliche Einordnungen, Doktorjubiläen, „tabulae gratulatoriae“ in Festschriften und Gratulationsurkunden, fotografische Porträtcollagen ehemaliger Schüler, Gedenkmedaillen, Festansprachen und Gedichte bildeten die Medien, in denen sich die universitären Vertreter der Geschichtswissenschaft um die Tradition ihrer Institutionen und ihrer Disziplin bemühten.12 Sie trugen damit wie ihre Kollegen aus andern Disziplinen zur universitären Traditionsbildung und Festkultur bei. Zwischen „alma mater“ und „Doktorvater“ aktualisierten Redeweisen und Bilder von Zeugung und Verwandtschaft eine Sukzessionsstruktur, in die sich Historiker einfügen konnten. Der in Zürich lehrende Historiker Alfred Stern erfuhr eine solche genealogische Einordnung als Historiker bereits als Student bei Georg Waitz, einem Schüler von Leopold von Ranke: Zu Rankes fünfzigjährigem Doktorjubiläum im Jahr 1867 schenkte Waitz seinen Seminarteilnehmern an der Universität Göttingen sein gedrucktes Glückwunschschreiben an Ranke und lud sie am Abend des Jubiläums in einem örtlichen Museum zu einem Festtrunk ein. Stern empfand es auch 65 11
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Ottokar Lorenz: Lehrbuch der gesammten wissenschaftlichen Genealogie – Stammbaum und Ahnentafel in ihrer geschichtlichen, sociologischen und naturwissenschaftlichen Bedeutung, Berlin 1898. Zur Weiterentwicklung der Genealogie nach dem Untersuchungszeitraum vgl. Rück: Historische Hilfswissenschaften nach 1945, S. 10. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde in Wien die Genealogisch-Heraldische Gesellschaft Adler gegründet; in der Schweiz entstand 1891 die Heraldische Gesellschaft, die sich später zur Heraldisch-genealogischen Gesellschaft wandelte. Fueter: Geschichte der gesamtschweizerischen historischen Organisation, S. 473. Vgl. die Überzeichnung der genealogischen Obsession in der Figur der „totalen Familie“ in Heimito von Doderers Roman „Die Merovinger oder die totale Familie“ aus dem Jahr 1962. Doderer hatte ab 1923 selbst die Ausbildung am Institut für Österreichische Geschichtsforschung durchlaufen. Heimito von Doderer: Die Merowinger oder Die totale Familie, München 1990 (Erstausg. 1962). S. Horst Möller: Heimito von Doderer – Der Archivar als Schriftsteller, in: Archivalische Zeitschrift 80/1997, S. 283–302. Dozentenalbum: Dozentenalbum Universität Zürich 1879–1912, StAZH Z 70.3082, Dozentenalbum Universität Zürich 1912–1946, StAZH Z 70.3083. Portraits: z. B. Oswald Redlich an Engelbert Mühlbacher, 06.05.1882 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Engelbert Mühlbacher, Oswald Redlich an Engelbert Mühlbacher. Medaillen: z. B. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 20.07.1887 aus Wien, Archiv IfÖG NL Julius Ficker, Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 12; 08.08.1887 aus Wien, ebd., Bogen 13; Umschlag „Hirsch-Medaille“, Archiv IfÖG, NL Hans Hirsch 21. Zahlreiche Gelegenheitsgedichte in persönlichen Nachlässen.
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4. Forschungsökonomien: Die Rolle von Verwandtschaft und Geschlecht
Jahre später noch als große Ehre, dass Waitz die Teilnehmer seiner Übungen in seinem Gratulationsschreiben „als „,Enkelschüler‘ Rankes“ bezeichnet hatte.13 Die verwandtschaftliche Nachfolgestruktur geschichtswissenschaftlicher Reproduktion schuf eine metaphorische Genealogie, die analog zur auf Blutsverwandtschaft beruhenden familiären Genealogie „Ursprungsgeschichte und dynastische Verheissung“14 miteinander verknüpfte. Im Falle Sterns stand die Ahnenstelle für den Ursprung der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft schlechthin; die Urvater-Position Rankes wurde mit einer großen Anzahl von Memorabilia, einem Rankemuseum und -verein und der Publikation biographischer Aperçus in den Feuilletons geradezu Bestandteil einer bürgerlichen Geschichtskultur. Wie im letzten Kapitel deutlich gemacht wurde, nahmen die symbolischen Verwandtschaftsbande, die zwischen akademischen Historikern geknüpft wurden, in institutionellen Zusammenhängen indessen sehr spezifische Bedeutungen an. Darüber hinaus wurden wissenschaftliche Filiationen zum Gegenstand von Auseinandersetzungen über disziplinäre und institutionelle Positionen. Die symbolische Genealogie der Geschichtswissenschaft transportierte geschlechtsspezifische Zuschreibungen. Dies lässt sich einmal aus der ganz offenkundigen vollständigen Abwesenheit von weiblichen Positionen in den geschichtswissenschaftlichen Stammbäumen ableiten, die mit strukturellen Zugangsbarrieren und einer Traditionsbildung korrespondiert, die historiographisch tätige Frauen aus der Fachgeschichte ausschloss. Ein solches männliches gendering lässt sich darüber hinaus an den Redeweisen ablesen, mit denen die Aufnahme beziehungsweise das drohende Scheitern einer Inklusion in eine solche Genealogie umschrieben wurde. Geschichtsprofessoren, die die Position des (Doktor-)Vaters innehatten, mussten ihre Schützlinge „unter die Haube bringen“15 ; in doppelt abwertender Diktion wurden Privatdozenten im Zug der zunehmenden Schwierigkeiten, auf Ordinariate nachzurücken, um die Wende zum 20. Jahrhundert dagegen auch als „alte Jungfern“16 bezeichnet. Die rein männlichen Erbfolgelinien der wissenschaftlichen Genealogie erhielten so ihre implizite Vervollständigung in der Figur der Vermählung mit der Wissenschaft. Indem Nachwuchswissenschaftlern ohne Professur weibliche Eigenschaf13
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Stern: Wissenschaftliche Selbstbiographie, S. 23. Vgl. die Dokumentation der Rankeverehrung auf dem Stand von 1910 in Hans F. Helmholt: Ranke-Bibliographie. Mit einem Bildnis Rankes von W. Hensel aus dem Jahr 1859, Leipzig 1910. Aleida Assmann: Zeit und Tradition. Kulturelle Strategien der Dauer, Köln/Weimar/Wien 1999, S. 102. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 30.08.1880 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 29+a, hier 29. [Anonym]: Zur Privatdozentenfrage, in: Schweizerische Blätter für Wirtschafts- und Socialpolitik 4/1896, S. 309–311; [Anonym]: Zuschrift eines Privatdozenten, in: Züricher Post 16.05.1901, Beilage; [Anonym [Theodor Vetter]]: Stiefkinder der Zürcher Hochschule, in: Züricher Post , 04.05.1904.
4.1 Symbolische Genealogien der Geschichtswissenschaft
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ten zugeschrieben wurden, erschien deren anhaltende Warteposition als unmännlich-passive berufliche Fehlleistung und die Filiation der Wissenschaft als essentiell männlich. In Alfred Sterns Gedächtnisrede auf seine akademischen Lehrer Leopold von Ranke und Georg Waitz, die er 1886 vor den Delegierten der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz hielt, erschien das Seminar Rankes, von dem Stern schwärmte, geradezu als Rückzugssphäre gegenüber den Ablenkungen gemischtgeschlechtlicher Soziabilität. Unter Anspielung auf die berühmten Salons Rahel Varnhagens und Bettina von Arnims schrieb Stern, diese Zerstreuungen hätten den verehrten Ranke „nicht dem Dienste der höheren Herrin, auf die eine Bettina oder Rahel oftmals eifersüchtig sein mochte: der Wissenschaft“17 entzogen. Es erscheint daher nur folgerichtig, dass Stern, der im übrigen ein glühender Verfechter der Rechtsgleichheit von Frauen und des Frauenstudiums war, in seiner Selbstdarstellung die Namen seiner Lehrer aller Stufen ausführlich auflistete, den Namen seiner Frau dagegen diskret verschwieg. Das prekäre Verhältnis von Wissensfähigkeit und Weiblichkeit, das in die symbolische Genealogie der Geschichtswissenschaft eingelassen war, lässt sich überdies an der baulichen und künstlerischen Gestaltung des wissenschaftlichen Raumes ablesen. Als in Wien 1896 Frauen zum Studium zugelassen wurden, blieb der deutlich vom übrigen Universitätsbetrieb abgesetzte repräsentative Flügel des Universitätsgebäudes, in dem das Institut für Österreichische Geschichtsforschung angesiedelt war, vorerst eine imposante Festung männlicher Forschung. Denn nach Ansicht des damaligen Direktors Emil Ottenthal konnte man schon aus rein baulichen Gründen keine Frauen aufnehmen, hätte man für diese doch, wie er dem Bildungsministerium auseinandersetzte, ein separates Arbeitszimmer einrichten müssen.18 Denkmäler männlicher Wissenschaftler in den Räumlichkeiten der Universitäten verräumlichten und vergegenständlichten überdies die symbolische Genealogie der Wissenschaft. Sie stellen männliche Charakterköpfe dar und betonten die Geschichtlichkeit und Individualität ihrer Geisteshelden durch eine individualisierende figürliche Gestaltung. In Zürich wurde im von Gottfried Semper entworfenen Polytechnikumsbau, der bis 1914 auch die Universität beherbergte, seit seiner Eröffnung ein ganzes Arsenal von Ehrenmälern, Büsten, Bildern und Vignetten aufgestellt, das eine institutionelle Gedächtniskultur repräsentierte. In Wien wurde der vom Architekten Heinrich von Ferstel nach dem Vorbild des Römer Palazzo Farnese als „campo santo“ der Wissenschaft konzipierte Arkadenhof seit 1884 sukzessive mit Gelehrtendenkmälern ausgestattet.19 An seinem Rand, unter den Arkaden 17 18 19
Stern: Gedächtnisrede auf Leopold von Ranke und Georg Waitz: S. 36–68: 39. Vgl. ders.: Wissenschaftliche Selbstbiographie; Schmitz: Alfred Stern. Emil Ottenthal an das Ministerium für Cultus und Unterricht, 17.05.1911, Konzept, Archiv IfÖG Institutsakten: Karton 1910–1911. Universität Zürich: Leitung und Lehrerschaft im Allgemeinen, Professoren überhaupt
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4. Forschungsökonomien: Die Rolle von Verwandtschaft und Geschlecht
des Wiener Universitätsgebäudes, wurde in einer Reihe von Ehrenmälern die Büste des wichtigsten Promotors des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Theodor von Sickel, und ein Relief mit dem Portrait des Wirtschaftshistorikers Alfons Dopsch aufgestellt. Die Entstehungsgeschichte des Denkmals für Sickel zeigt, auf welche Weise Monumente an der Bildung institutioneller Traditionen beteiligt waren. Vor dem Ersten Weltkrieg wurde der Plan gefasst, das „gelehrte[n] Viergestirn“20 der Wiener Hochschulhistoriker Theodor Sickel, Heinrich von Zeissberg, Engelbert Mühlbacher und Alfons Huber in einem gemeinsamen Denkmal zu porträtieren. Die Spitze und den Mittelpunkt der aus vier Büsten bestehenden Skulptur sollte Sickel bilden, um den herum das Dreiergespann Mühlbacher, Zeissberg und Huber, der als einziger dem diplomatischen Spezialistentum des Instituts ferner stand, gruppiert wurde. Damit wurde die wissenschaftliche Bedeutung Theodor Sickels skulptural überhöht und implizit die Eigenständigkeit und die Innsbrucker Wurzeln der Fickerschüler Mühlbacher und Huber gemindert. Zumindest bildlich drückte das Denkmal nicht nur das „erfreuliche Zusammenarbeiten von Personen und Schulen“21 aus, wie es im Spendenaufruf hieß, sondern auch eine klare Hierarchie wissenschaftlicher Positionen. Nach dem Ersten Weltkrieg erwies sich die Finanzierung des Monuments aber als schwierig, so dass die Skulptur zunächst als günstigere Reliefdarstellung weitergeplant wurde und 1927 lediglich in Form einer Büste Sickels zustande kam.22 Die Skulptur wies den Historiker durch das Diplom, das er in den Händen trägt, als Urkundenforscher aus und meißelte den Vorrang Sickels endgültig in Stein. Trotz dieser Sättigung des akademischen Raums mit Bildern einer männlichen Genealogie erschien dieser von Zeichen der Weiblichkeit durchzogen: Weibliche Allegorien von Wissenschaft und Weisheit, Personifikationen abstrakter Ideale, schmückten und legitimierten in beiden lokalen Kontexten den Autoritätsanspruch der Institutionen. In Gottfried Sempers Polytechnikumsgebäude lässt sich ein ganzer Reigen solcher Veranschaulichungen von Wissenschaft finden. Skulpturen, Bildprogramme in den Innenräumen und
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1833–1890, Dossier: Bilder, Büsten & Grabdenkmäler verdienter Professoren. StAZH U 97.1:9h; Polytechnikum: Verzeichnis von Ehrenzeichen und Kulturgütern, Kulturgüterschutz-Ordner, WHS ETHZ; Universität Wien: Vgl. Thomas Maisel: Die Denkmäler im Arkadenhof der Universität Wien. Biographische Skizzen, Wien 1990. Als einzige Frau fand die Dichterin Marie Ebner-Eschenbach 1925 den Weg in den Arkadenhof. Ebd., S. 11. Spendenaufruf für ein Historikerdenkmal, Juli 1918, Archiv IfÖG Institutsakten: Karton 1912–1913 [sic]. Spendenaufruf für ein Historikerdenkmal, Juli 1918, Archiv IfÖG, Institutsakten: Karton 1912–1913 [sic]. Josef Kassin (Bildhauer) an Emil von Ottenthal, 19.03.1915 aus Wien, Archiv IfÖG, Institutsakten: Karton 1912–1913 [sic]. Lhotsky: Geschichte des Instituts, S. 296. Zur wissenschaftlichen Distanzierung Hubers vgl. Oberkofler/Goller: „Also soweit als möglich lebe ich in der Vergangenheit“, S. 52.
4.2 Verwandtschaftliche Ressourcen für Laufbahnen
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Sgraffiti an den Fassaden verkörperten Wissenschaft und Technik in weiblicher Gestalt. Diese weiblichen Zeichen erscheinen überzeitlich und überindividuell, sie repräsentieren höhere Werte, gleichzeitig bleibt „Weiblichkeit“ in ihnen eine unhistorische, stumme und gesichtslose Größe, deren Irrealität gerade den idealen Status der repräsentierten Werte garantiert.23 Das Brust- oder Kopfbild des Gelehrten trifft hier auf den statuarischen Leib der weiblichen Allegorie, seinem unverwechselbaren Eigennamen steht ihre Verkörperung eines Prinzips entgegen. Pointiert verwirklicht ist diese Opposition im Arkadenhof der Universität Wien, wo neben berühmten Historikern auch deren weiblich allegorisiertes Untersuchungsobjekt seine plastische Darstellung fand. Seit 1910 thront in der Mitte des Arkadenhofs eine überlebensgroße weibliche Brunnenfigur, eine 1904 gestaltete Statue des Künstlers Edmund Hellmer, die Kastalia, die Nymphe der Kastalischen Quelle in Delphi darstellt, die als Inspiratorin von Dichtung und Weisheit verehrt wurde.24 Der Kastaliabrunnen versinnbildlicht die metaphorischen Bedeutungsaspekte des Quellenbegriffs, die weit über den fachlichen Betrieb der Geschichtsforschung hinausreichen und eine zentrale Denkfigur der geisteswissenschaftlichen Denktradition bilden.
4.2 Verwandtschaftliche Ressourcen für Laufbahnen Während symbolische Verwandtschaftsverhältnisse in der Geschichtswissenschaft geradezu ein Strukturprinzip der Historiographiegeschichte bilden, geht die wissenschaftshistorische Forschung davon aus, dass Verwandtschaft im 19. Jahrhundert an sozialer Bedeutung verlor, als ältere Formen verwandtschaftsgebundener Patronage von der Schulpatronage an den Universitäten abgelöst wurden.25 Obwohl die Erblichkeit von Lehrstühlen im Untersu23
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Silke Wenk: Versteinerte Weiblichkeit. Allegorien in der Skulptur der Moderne, Köln/ Weimar/Wien 1996, S. 40, 67; Aleida Assmann: Der Wissende und die Weisheit – Gedanken zu einem ungleichen Paar, in: Sigrid Schade/Monika Wagner/Sigrid Weigel (Hrsg.): Allegorien und Geschlechterdifferenz), Köln/Weimar/Wien 1994, S. 11–25, hier S. 24; Friederike Hassauer: Homo. Academica. Geschlechterkontrakte, Institution und die Verteilung des Wissens, Wien 1994, S. 21. Für den Hinweis auf die Statue danke ich Mario Wimmer. „Die Inschrift auf der rechten Seite des Thronsessels lautet: „Ich bin Kastalia, die Tochter des Acheloos“, auf der linken Seite: „Mein Schlaf ist Träumen, mein Traum aber ward zur Erkenntnis“. Dieser Spruch stammt von Hans von Arnim, Professor der Klassischen Philologie an der Universität Wien, und lehnt sich an die Worte der Erda bei Richard Wagner an: ,Mein Schlaf ist Träumen, Mein Traum Sinnen, mein Sinnen Walten des Wissens‘ (Siegfried, 3. Akt).“ Maisel: Die Denkmäler im Arkadenhof, S. 5. Vgl. Marian Füssel: Akademische Lebenswelt und gelehrter Habitus. Zur Alltagsgeschichte des deutschen Professors im 17. und 18. Jahrhundert, in: Jahrbuch für
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4. Forschungsökonomien: Die Rolle von Verwandtschaft und Geschlecht
chungszeitraum der Vergangenheit angehörte, spielten verwandtschaftliche Beziehungen jedoch auch im 19. Jahrhundert eine große Rolle bei der Berufswahl, im Berufsalltag und für die Laufbahngestaltung junger Historiker. Unverheiratete Studenten und Privatdozenten waren in der Regel in ihre Herkunftsfamilien eingebettet, die ihre ökonomische und alltagspraktische Basis bildeten; sie hatten im Untersuchungszeitraum üblicherweise die Rolle des „Haussohns“26 inne. Eltern hatten über die Volljährigkeit der Söhne und Töchter hinaus weitreichende Mitsprachemöglichkeiten bei der Ausgestaltung der Ausbildung und in prekären Lebenssituationen und wurden von den Hochschulinstitutionen auch als Ansprechpartner adressiert. Selbst in Familien, deren Söhne ihre Ausbildung selbst bestreiten mussten, beanspruchten Eltern Autorität über die Berufswahl und die Gestaltung der Ausbildung.27 Verwandtschaftliche Ressourcen wurden mobilisiert, wenn Hochschulhistoriker durch ihre Verwandten gefördert wurden oder ihre eigenen Söhne oder Verwandte selbst intensiv durch ihren Einfluss, mit Ratschlägen und Zuwendungen unterstützten.28 Eine vorteilhafte familiäre Herkunft konnte
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Universitätsgeschichte 10/2007, S. 35–51, bes. 38f.; zu den Selektions- und Patronagestrukturen der Geschichtswissenschaft im 19. Jh. vgl. die strukturellen Analysen bei Weber: Priester der Klio. So die Selbstbezeichnung des Frankfurter Geschichtsforschers und Herausgebers der Regesta Imperii, Johann Friedrich Böhmer, der bis zu deren Tod mit seinen Eltern zusammenlebte. Zit. Johannes Janssen: Joh. Friedrich Böhmer’s Leben und Anschauungen, Freiburg i. Br. 1869, S. 202. Zu der Mitsprache der Eltern bei Studienproblemen finden sich in den Akten des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung zahlreiche Hinweise; Archiv IfÖG Institutsakten. Vgl. auch Harry Bresslau: [Selbstdarstellung], in: Steinberg: Die Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, S. 28–55: 32; Julius Ficker an Theodor Sickel, 19.10.1875 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 54f., hier fol. 54v. An der Universität Zürich wurden Eltern schon volljähriger Studierender von Disziplinarmaßnahmen gegenüber ihren Söhnen benachrichtigt. Statuten für die Studirenden (19.07.1882), in: Die Gesetze und Verordnungen des Kantons Zürich betreffend das Unterrichtswesen, S. 156–162, hier S. 160. Vgl. Stekl: Bürgerliche Jugend in Autobiographien, S. 18. Gunilla Friederike Budde kommt für unverheiratete Bürgerssöhne in Deutschland und England zum selben Schluss: Auf dem Weg ins Bürgerleben. Kindheit und Erziehung in deutschen und englischen Bürgerfamilien 1840–1914, Göttingen 1994, S. 213, 269. So wurde Max Büdinger von seinem Vormund und Onkel, dem Altertumshistoriker Joseph Rubino, in die Geschichtsforschung eingeführt und genoss später die Protektion eines anderen Onkels in Wien. Kirchshofer: Geschichte des Philologisch-Historischen Seminars, S. 114. Bei Julius Ficker in Innsbruck studierten Florenz Tortual, ein Cousin mütterlicherseits, und Paul Scheffer-Boichorst, ein entfernter Verwandter des Stiefvaters, der später bei den Monumenta Germaniae Historica arbeitete. Jung: Julius Ficker, S. 290f. Theodor Sickel ließ wiederholt seine Beziehungen spielen, um seinem Schwager, dem Kunsthistoriker Manfred Semper, und seinem Neffen, dem Rechtshistoriker Wilhelm Sickel, in Berufungsangelegenheiten und Konflikten zu helfen. Die Mobilisierung von Verwandtschaft führte mündete oft in konkrete materielle Unterstützung. Theodor Sickel an Julius Ficker, 13.10.1875 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 47f., hier fol. 48v; Engelbert Mühlbacher an das Ministerium für Kultus und
4.2 Verwandtschaftliche Ressourcen für Laufbahnen
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den Eintritt in die akademische Welt nicht nur aus ökonomischen Gründen erheblich erleichtern, sondern stellte auch ein soziales und kulturelles Kapital dar, das von den akademischen Lehrern als Leistungsversprechen interpretiert wurde. Als Julius Ficker Emil Ottenthal nach Wien empfahl, ließ er gegenüber Theodor Sickel nicht unerwähnt, dass der junge Tiroler aus guter Familie stammte.29 In den sozialen Netzwerken der untersuchten Hochschullehrer mischten sich überdies Förderungsleistungen aufgrund von Herkunft und Verwandtschaft mit Formen kollegialer Reziprozität: Unter den Professoren der Universität Zürich zirkulierte in den 1890er Jahren ein Unterschriftenbogen, auf dem Dozenten sich verpflichteten, den Kindern ihrer Kollegen die Vorlesungsgebühr zu erlassen: „Professoren-Kinder“30 konnten hier sehr unmittelbar von einem erleichterten Zugang zu Bildungsressourcen profitieren. Und die Dozenten des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung unterstützten nach dem 1903 erfolgten unerwarteten Tod ihres Direktors Engelbert Mühlbacher die Gymnasialausbildung eines Verwandten mit Geldbeiträgen.31 Angesichts der starken Bildungsorientierung der involvierten Milieus verwundert es nicht, dass vor allem Ressourcen weitergegeben wurden, die die Bildungschancen der Empfänger erhöhten. Solche Förderungsbeziehungen konnten allerdings auch zum Thema von Auseinandersetzungen werden. So trug Theodor Sickel im Fall der Monumenta Germaniae Historica dazu bei, dass dem Mittelalterforscher Karl Pertz, dem Sohn der zentralen Gründerfigur Georg Heinrich Pertz, der von seinem Vater die Herausgabe der karolingischen Kaiserurkunden übernommen hatte, diesen Auftrag nach einiger Zeit entzogen wurde. Ficker wiederum beendete nach einiger Zeit die Unterstützung des Neffen Florenz Tortual, als sich dieser fachlich nicht nach seinen Vorstellungen entwickelte.32 Engelbert Mühlbacher wiederum bewegte sich
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Unterricht, 12.03.1903, Konzept, Archiv IfÖG Institutsakten: Karton 1898–1900; Anton Largiadèr: Theodor von Sickels Briefwechsel mit Georg von Wyss und Gerold Meyer von Knonau, in: MIÖG 72/1954. S. 574–587, hier, S. 579. Zu Dändlikers verwandtschaftlicher Unterstützung: Karl Dändliker, Autobiographie, S. 23, ZBZ NL Karl Dändliker 4; zur familiären Fachpolitik des Leiters der Monumenta Germaniae Historica Georg Heinrich Pertz: Bresslau: Geschichte der Monumenta Germaniae Historica, S. 471–477, 586f. Vgl. auch die zahlreichen Hinweise im Korrespondenznetzwerk von Alfons Huber: Gerhard Oberkofler/Peter Goller (Hrsg.): Alfons Huber, Briefe (1854–1898), Innsbruck 1995. Julius Ficker an Theodor Sickel, 19.10.1875 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel fol. 54f., hier fol. 54r. „Verzeichnis der Dozenten, welche Professoren-Kinder von der Honorarbezahlung befreien“, um 1897, Universität Zürich: Leitung und Lehrerschaft im allgemeinen: Professoren überhaupt: Kollektivakten 1892–1918, StAZH U 97.2:7a. Zu Ficker: Jung: Julius Ficker, S. 291. Beitragsliste und Einnahmen- und Ausgabenverzeichnis 1903–1904, Konvolut „Tod Mühlbacher – Engelbert Leutmeyer“, Archiv IfÖG NL Redlich 11. Bresslau: Geschichte der Monumenta Germaniae Historica, S. 471–477, 586f. Jung: Julius Ficker, S. 291.
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4. Forschungsökonomien: Die Rolle von Verwandtschaft und Geschlecht
auf schwierigem Terrain, als er als Redaktor der Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung mit dem Rechtshistoriker Wilhelm Sickel, einem Neffen Theodor Sickels, in einen Konflikt um einen Zeitschriftenbeitrag geriet.33 Historiker waren aber nicht ausschließlich auf ihre Herkunftsfamilien angewiesen, sondern konnten sich sozial neu positionieren, indem sie durch Heirat weitere verwandtschaftliche Bindungen eingingen, die ihnen neue Handlungsspielräume eröffneten. Ihr Heiratsverhalten bietet Einblicke in ihre Positionierung im Bürgertum und in wissenschaftlichen Netzwerken. Auch bei Historikern kamen die im 19. Jahrhundert im Bürgertum verbreiteten endogamen Heiraten zwischen Cousin und Cousine vor, die von einer Tendenz zeugen, soziale Positionen zu konsolidieren. Heiratsallianzen mit gesellschaftlich angeseheneren und begüterteren Familien stärkten überdies die gesellschaftliche Position von jungen Historikern; ihre Anbahnung wurde unter Fachkollegen äußerst genau beobachtet.34 Die für das 18. Jahrhundert reich dokumentierte Praxis der Verehelichung mit Professorentöchtern war für aufstrebende Historiker im Untersuchungszeitraum noch von einer gewissen Bedeutung. Die Tochter des Professors stellte ebenso wie dessen Gattin als soziale Kategorie weiterhin eine Referenzgrösse der Soziabilität junger Historiker dar, die oft in den Häusern und Wohnungen der Hochschulhistoriker stattfand.35 33 34
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Engelbert Mühlbacher an das Ministerium für Cultus und Unterricht, 12.03.1903, Konzept, Archiv IfÖG Institutsakten Karton 1901–1903. Obwohl im Rahmen dieser Arbeit keine prosopographisch umfassende Rekonstruktion von Verwandtschaftsbeziehungen geleistet werden konnte, lassen sich auf der Grundlage der gesammelten biographischen Daten Aussagen über Tendenzen verwandtschaftlicher Positionierung gewinnen. Zu den Schwierigkeiten quantitativer Auswertungen vgl. Sabean: Kinship in Neckarhausen, S. 432. Als Beispiel für einen gut dokumentierten Mikrokontext s. Barth-Scalmani: Familiäre Selbstzeugnisse und bürgerliches Leben. Endogame Heiraten (vgl. Sabean: Kinship in Neckarhausen, S. 379–395): Georg von Wyss und Alfred Stern heirateten beide eine Cousine ersten Grades. Aufwärtsheiraten: Gerold Meyer von Knonau an Emerentiana Meyer von Knonau, 05.11.1865 aus Göttingen, ZBZ FA Meyer v. Knonau 34u.3 (über die Vermögensverhältnisse des Basler Historikers Wilhelm Vischer). Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 23.06.1876, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 59+a+b, hier 59a; 8. November 1878, ebd., Bogen 100 (über die vermögensträchtige Heiratsabsichten zweier Historiker und Stammtischfreunde in Innsbruck). Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, 21. 05.1895 aus Rom, Archiv IfÖG NL Mühlbacher: Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, Bogen 49f., hier 50 (über das angeheiratete Vermögen des Historikers Lothar von Heinemann). Heiraten untersuchter Historiker mit Professorentöchtern: Johann Jakob Müller, Paul Schweizer und Jakob Krall heirateten Töchter ihres Lehrers Max Büdinger, Alfons Dopsch heiratete Marie Ficker, die Tochter Julius Fickers. Ottokar Lorenz heiratete Marie Lott, eine Tochter des Philosophieprofessors Franz Lott. Heiraten von Kindern der untersuchten Professoren mit Söhnen und Töchtern von Professoren: Eine Tochter Alfons Hubers, Mathilde Huber, heiratete einen Sohn Max Büdingers, Konrad Büdinger. Mathilde Büdinger, eine weitere Tochter Max Büdingers, heiratete einen Mathematik-
4.2 Verwandtschaftliche Ressourcen für Laufbahnen
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Wie begleiteten Verwandte die Studienpläne, Karrierewünsche und Berufseinstellungen angehender Historiker, und welche Bewertung erfuhr die Forschungsdimension der Geschichte in diesem Prozess? Drei biographische Fallbeispiele aus der mittleren Gruppe der zwischen 1840 und 1850 geborenen Historiker ermöglichen es, Dynamiken verwandtschaftlicher Interaktionen zu erschließen, wie sie sich in der zweiten Jahrhunderthälfte entwickelten. Gerold Meyer von Knonau, der einzige Sohn des Zürcher Staatsarchivars gleichen Namens und der (Cleophea) Emerentiana Meyer von Knonau, hatte ein beträchtliches Vermögen geerbt, das ihm ein sorgenfreies Studium und ausgedehnte Kulturreisen ermöglichte. Materielle Sorgen bewegten ihn nur insofern, als seine Mutter mitunter seine hohen Ausgaben für Bücher kritisierte.36 Nachdem der Sohn aus patrizischem Milieu 1861 ein Rechtsstudium in Angriff genommen hatte, sattelte er nach zwei Semestern auf Geschichte um; er gehörte zu den ersten Schülern Max Büdingers, der kurz vorher seine Professur in Zürich angetreten hatte. Meyer von Knonau hatte sehr früh seinen Vater verloren, und die elterliche Autorität war in rechtlicher Hinsicht auf einen Onkel, in allen andern Belangen aber auf die Mutter übergegangen, die seinen Berufswunsch, Geschichtsprofessor zu werden, unterstützte. Dieses Ziel fügte sich durchaus in die patrizische Familientradition der Meyer von Knonau ein, die in der Vergangenheit Chronisten, Stadtschreiber und Archivare hervorgebracht hatten. Verwandte vergewisserten sich bereits vor der Rückkehr des Studenten aus dem Deutschland, wo er zwischen 1863 und 1866 weiterstudierte, dass eine Karriere an der heimischen Universität aussichtsreich sein würde.37 Meyer von Knonau, der einzige männliche Nachkomme väterlicherseits, erscheint als behüteter Mittelpunkt seiner Familie. Neben seiner Mutter waren während seines Auslandaufenthaltes zahlreiche Verwandte fernschriftlich um sein Wohl besorgt, insbesondere seine Tante Karoline Meyer von KnonauSchweizer, deren Tochter gleichen Namens und Annie Hartmann, ein Ziehkind seiner Mutter, die bezeichnenderweise ebenfalls Karoline gerufen wurde. Die umfassende emotionale Unterstützung und Interessensbekundung, die der angehende Historiker von allen erfuhr, äußert sich in der scherzhaften
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professor. Gegenseitige Patenschaften verdichteten dieses Beziehungsnetz zusätzlich. Vgl. Birgit Panke-Kochinke: Göttinger Professorenfamilien. Strukturmerkmale weiblicher Lebenszusammenhänge im 18. und 19. Jahrhundert, Pfaffenweiler 1993, S. 72–75. Zur sozioökonomischen Position der Meyer von Knonau vgl. Tanner: Arbeitssame Patrioten, S. 283–288. Emerentiana Meyer von Knonau an Gerold Meyer von Knonau, 20.10.1864 aus Zürich, ZBZ FA Meyer v. Knonau 32.ba.10; 02.02.1865 aus Zürich, ebd.; 18.12.1865 aus Zürich, ebd. Gerold Meyer von Knonau, Autobiographische Aufzeichnungen [1911–1931], S. 53, ZBZ FA Meyer v. Knonau 34.5. Hermann Escher: Gerold Meyer v. Knonau 1843–1931, Zürich 1933, S. 14; zum städtischen Großbürgertum im 19. Jh. Sarasin: Stadt der Bürger, S. 102.
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4. Forschungsökonomien: Die Rolle von Verwandtschaft und Geschlecht
Serialisierung der weiblichen Entourage, die Meyer von Knonau in seinen Briefen als „Karoline I, II und III“ durchnummerierte. Der Mutter, die äußerst bildungsbeflissen und neugierig war, legte Meyer von Knonau regelmäßig Rechenschaft ab. Sie prägte seine gesellschaftlichen Gewohnheiten auf dem Weg in die Selbständigkeit und bündelte die familiären Beziehungsleistungen, indem sie ihn in Fragen der Lebensführung beriet, ihm moralische Ermahnungen mitgab und die praktische Unterstützung der männlichen Familienangehörigen an ihn vermittelte. Sie hielt ihn zur Geselligkeitspflege und zu karitativen Leistungen gegenüber unbemittelten Kommilitonen an und debattierte mit ihm politische Themen. Überdies nahm die Mutter die Einbettung der beruflich-wissenschaftlichen Sozialisation ihres Sohnes in die familiäre Tradition vor, indem sie die Erfahrungen des Sohnes bis ins Detail mit den Erfahrungen seines Vaters verglich, der ebenfalls in Berlin studiert hatte.38 Emerentiana Meyer von Knonau begleitete die beruflichen Wege ihres Sohnes und dessen besten Freundes Johann Rudolf Rahn den sie als Wahlsohn informell adoptierte, mit Anerkennung und formulierte mit wiederkehrenden Wunschbildern gleichzeitig indirekte Erwartungen an deren akademischen Erfolge. Sie imaginierte sich immer wieder an der Seite ihrer beiden Söhne als Professorenmutter und wünschte sich Meyer von Knonau – vorerst unverheiratet – zurück in das gemeinsame Heim, wo er sich „nach u[nd] nach zu einem recht stattlichen Philister“39 entwickeln sollte. Meyers von Knonau erste Zürcher Jahre als Privatdozent setzten sich tatsächlich in enger intellektueller und häuslicher Gemeinschaft mit seiner Mutter fort, die seine wissenschaftlichen Interessen von nahe mitverfolgte, bis sie 1871 unerwartet starb. Der Patriziersohn konnte es sich nach seiner Rückkehr in die Schweiz leisten, sich unbelastet von finanziellen Sorgen als unbesoldeter Privatdozent die ersten Sporen zu verdienen. Damit konnte er seine Forschungsleidenschaften geradewegs zum Beruf machen. Er wusste allerdings um seine Privilegiertheit und sorgte sich darum, seine geschichtswissenschaftliche Beschäftigung nicht als Müßiggang erscheinen zu lassen. Im Einklang mit dem im 19. Jahrhundert prägenden Ideal der Wissenschaft als mühevoller Arbeit bemühte er sich, Anerkennung als schwer arbeitender Gelehrter zu finden.40 38
39 40
Emerentiana Meyer von Knonau an Gerold Meyer von Knonau, 11.03.1864 aus Zürich, ZBZ FA Meyer v. Knonau 32ba.10; 20.10.1864 aus Zürich, ebd.; 12.01.1865 aus Zürich, ebd.; 16.07.1865 aus Zürich, ebd. Emerentiana Meyer von Knonau an Gerold Meyer von Knonau, 12.01.1865 aus Zürich, ZBZ FA Meyer v. Knonau 32.ba.10. Zum Konzept der Wissenschaft als Arbeit s. Daston: Die wissenschaftliche Persona, bes. S. 120f. Emerentiana Meyer von Knonau an Gerold Meyer von Knonau, 28.02.1864 aus Zürich, ZBZ FA Meyer v. Knonau 32ba.10; 29.05.1864 aus Zürich, ebd.; 07.10.1864 aus Zürich, ebd.; 27.11.1864 aus Zürich, ebd.; 12.01.1865 aus Zürich, ebd.; 02.02.1865 aus Zürich, ebd.; 05.12.1865 aus Zürich, ebd.; an Gerold Meyer und Knonau und Johann Rudolf Rahn, 07.04.1865 aus Zürich, ebd.; 23.08.1866 aus Zürich, ebd. Gerold Meyer von
4.2 Verwandtschaftliche Ressourcen für Laufbahnen
187
Für Emerentia Meyer von Knonau waren allerdings die öffentlichen Aspekte der Hochschulkarriere weitaus anziehender: Nach dem Besuch der populären Rathausvorlesungen, die die Zürcher Professoren für ein breites Publikum hielten, schrieb sie: „Ich kriege jedesmal ein vorahnendes Herzklopfen, wenn ich mir Dich oder Rahn in den de rigeur gewordenen weißen Glacehandschuhen auf dem Katheder unter dem Schutz der drei Eidgenossen vorstelle.“41 Das aufregende Wunschbild vereinigte die kognitive Autorität der Wissenschaft, symbolisiert durch die erhöhte Position auf dem Katheder, mit dem sozialen Kapital öffentlicher Gelehrsamkeit, das sich in der imaginierten Eleganz der modischen Erscheinung des Professors ausdrückte. Darüber hinaus evozierte die patriotisch-politische Rahmung des Auftritts mit den ikonographischen Bezügen auf die nationale Mythologie42 ein Publikum, das über die bessere Gesellschaft Zürichs hinaus eine nationale Gemeinschaft umfasste, der viele von Meyers von Knonau wissenschaftliche Interessen galten. Damit bezog sich Emerentiana Meyer von Knonau gerade nicht auf jenen Bereich der Studien ihres Sohnes, der während seines langen Lebens den Hauptteil seiner Arbeit bilden sollte: die oft mühselige, repetitive und serielle Arbeit an Quellen, die nicht im Glanz einer gesellschaftlichen Veranstaltung stand, sondern im Arbeitszimmer, in der Bibliothek und im Archiv ausgeführt wurde. Obwohl die Mutter diese Quellenarbeit genau kannte, wie weiter unten gezeigt wird, hielt sie sie für wenig attraktiv und warnte ihren Sohn sogar wiederholt davor, sich zu sehr in seine „Bücher und Pergamente einzuspinnen“.43 Mit großem Interesse kommentierte sie hingegen den wissenschaftlichen Stil ihres Sohnes, dessen Fortschritte sie verfolgte. Als schließlich Ende 1865 Meyers von Knonau Dissertation über den frühmittelalterlichen Chronisten Nithard im Druck lag, lobte die Mutter die „fließende, mitunter blühende Sprache“ und die Wiedergabe eines Gedichts, das sich ausnehme „wie eine Blume in einem Kranze von grünem Laubwerk“.44 Mit dem „grünen Laubwerk“ war das Textgeflecht der nüchternen, faktizistischen Dissertation
41 42
43
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Knonau an Emerentiana Meyer von Knonau, 03.06.1866 aus Göttingen, ZBZ FA Meyer v. Knonau 34u. Vgl. Gerold Meyer von Knonau: Meine Mutter (gestorben am 30. Januar 1871). Denen, welche sie lieb hatten, gewidmet von Gerold Meyer von Knonau, [S. l.] 1871. Emerentiana Meyer von Knonau an Gerold Meyer von Knonau, 05.12.1865 aus Zürich, ZBZ FA Meyer v. Knonau 32ba.10. Es handelt sich um das Fresko des Zürcher Malers (Johann) Heinrich Füssli (1741–1825) „Beschwörung des Schweizerbundes durch die drei Eidgenossen“ im Zürcher Rathaus. Schweizerisches Künstler-Lexikon, Hrsg. Schweizerischer Kunstverein, Frauenfeld/ Bern 1905–1917, S. 520. Emerentiana Meyer von Knonau an Gerold Meyer von Knonau, 27.11.1865 aus Zürich, ZBZ FA Meyer v. Knonau 32ba.10. Vgl. auch Emerentiana Meyer von Knonau an Gerold Meyer von Knonau, 22.10.1865 aus Zürich, ZBZ FA Meyer v. Knonau 32ba.10, 05.12.1865 aus Zürich, ebd. Emerentiana Meyer von Knonau an Gerold Meyer von Knonau, 18.2.1865 aus Zürich, ZBZ FA Meyer v. Knonau 32ba.10.
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4. Forschungsökonomien: Die Rolle von Verwandtschaft und Geschlecht
Meyers von Knonau angesprochen, die sich eher an den Minutia historischer Textkritik als an einer bildreichen Erzählung orientierte.45 Bei Meyers von Knonau Zürcher Kollegen Karl Dändliker gestalteten sich Berufswahl und Ausbildung bedeutend konfliktreicher. Der 1849 geborene Dändliker war der Sohn eines zürcherischen Landpfarrers und brachte eine ausgesprochen starke Bildungsorientierung und das Bewusstsein, zur ländlichen bildungsbürgerlichen Elite zu gehören, in seine Laufbahn ein, verfügte aber über kein nennenswertes ökonomisches Kapital. Die Pfarrstelle des Vaters erlaubte der vielköpfigen Familie keine großen Sprünge, und nach dem plötzlichen Tod des Vaters kurz nach dem Studienende des erstgeborenen Sohnes Karl war dieser verpflichtet, für die Mutter und die drei jüngsten Brüder zu sorgen, die während seiner ersten Berufsjahre wieder mit ihm zusammenzogen.46 Der Pfarrerssohn, der eigentlich dazu bestimmt war, seinem Vater nachzufolgen, hatte bereits als Schüler eine große Vorliebe für historische Themen entwickelt. Zu Beginn seines Studiums im Herbst 1867 bezeichnete Dändliker seine historischen Interessen aber als „Privatbeschäftigung“.47 Der Großteil seiner Zeit galt dem theologischen Studium und der Selbstverortung im umstrittenen Feld des zeitgenössischen zürcherischen Protestantismus. Allerdings konnte er seine historischen Interessen nur mit Mühe bändigen und klagte sich in seinem Tagebuch entsprechend an, den theologischen Studien zu wenig Aufmerksamkeit zu widmen. „Aber, möchte Jemand fragen, daran bist Du ja ganz selbst Schuld, Du musst Dich nur überwinden, es steht ja in Deiner Hand, über Deine Stunden zu verfügen. Ja wohl, aber ich habe es wie ein kleines Kind, das einen ernsten u[nd] strengen Vater hat, dessen Mutter aber es als seinen Liebling pflegt u[nd] verzärtelt. Wenn ihn der Vater ruft, so wird es nur widerstrebend gehorchen und schnell wieder davon eilen zu seiner guten, liebkosenden Mutter. Es kann‘s nicht glauben, dass der ernste Vater mehr auf sein Wohl bedacht ist u[nd] seine gute Erziehung, als seine Mutter, die es eher verzieht. Ganz so ist mein Zustand!“48
Mit diesem Vergleich ist nicht nur der Widerstreit zwischen zwei intellektuellen Bezugsfeldern umrissen, sondern auch der spannungsreiche Raum familiärer Beziehungen beschrieben. Die Auseinandersetzung mit Geschichte, die Dändliker in einem antiquarischen Bezugsrahmen begonnen hatte, 45
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Emerentiana Meyer von Knonau an Gerold Meyer von Knonau, 07.04.1864 aus Zürich, ZBZ FA Meyer v. Knonau 32ba.10. Vgl. Gerold Meyer von Knonau: Ueber Nithards vier Bücher Geschichten. Der Bruderkrieg der Söhne Ludwigs des Frommen und sein Geschichtschreiber, Leipzig 1866, S. 139. Vgl. im Überblick Gottfried Guggenbühl: Karl Dändliker. Lebensbild nach eigenhändigen Aufzeichnungen, Tagebüchern und mündlichen Mitteilungen, Zürich 1912, S. 42– 59. Eine Gesamtwürdigung der historiographischen Produktion Dändlikers findet sich bei Buchbinder: Der Wille zur Geschichte, S. 197–226. Karl Dändliker, Tagebuch 1. Januar–30. August 1868, Eintragung 08.01.1868, 11.02.1868, S. 3, 5, ZBZ NL Karl Dändliker 4. Karl Dändliker, Tagebuch 1. Januar–30. August 1868, Eintragung 13.01.1868, S. 8, ZBZ NL Karl Dändliker 4. Unterstreichung im Original.
4.2 Verwandtschaftliche Ressourcen für Laufbahnen
189
wuchs sich immer mehr zu einem lockenden Schonraum gegenüber den strengen Anforderungen aus, die der angehende Pfarrer mit der Tätigkeit des Vaters verband. Es erscheint deshalb nur folgerichtig, dass Dändliker seinen Konflikt als Gegensatz zwischen Vaterstrenge und Muttertrost fasste. Zumindest vordergründig ging es dabei weniger um die Auseinandersetzung mit der Orthodoxie des Vaters, an der Dändliker ganz entgegen dem Zeitgeist an der Zürcher Theologischen Fakultät zu diesem Zeitpunkt noch festhielt, als um die Selbstzweifel angesichts des übermächtigen väterlichen Vorbilds, das Dändliker für seine Predigten und Disputierkünste bewunderte.49 Das in seinem Tagebuch in viele bange Seufzer gegossene Gefühl des Unvermögens verstärkte sich bei Dändliker um so mehr, als er die Predigtstile junger Pfarrer aufmerksam verfolgte und dabei eher entmutigt wurde.50 Der Konflikt zwischen der Leidenschaft für die Geschichtsforschung und dem Leiden am väterlichen Vorbild spiegelte sich in Dändlikers Gesundheitsproblemen, die ihn in dieser Zeit immer wieder heimsuchten – und die in seinen Aufzeichnungen dann auftauchten, wenn er vorübergehend ins elterlichen Pfarrhaus zurückging. Die „Nervenschwäche“ und die epileptischen Anfälle51 waren auch dafür verantwortlich, dass sein Vater im Sommer 1868 in den Studienfachwechsel zur Geschichte einwilligte: Der konsultierte Arzt riet vom Pfarrberuf ab.52 Der metaphorische Mütterlichkeit der Geschichtsforschung entsprach in Dändlikers familiärem Netzwerk die reale Unterstützung der Mutter. Während Dändliker die Auseinandersetzung mit dem Vater in der Lektüre der „Expektorationen über das Studium der Theologie“ fortsetzte, schenkte ihm die Mutter eine Sammlung religiöser Gedichte mit einer auf seine Liebhabereien bezogenen Widmung.53 Die Mutter war es auch, die sich für die Geschichte 49
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Karl Dändliker, Tagebuch 1. Januar–30. August 1868, Eintragung 12.01.1868, S. 8, ZBZ NL Karl Dändliker 4; 18.01.1868, ebd., S. 12; Eintragung 29. Januar 1868, ebd. S. 17; 12. 04.1868, ebd. S. 39. Der Konflikt erscheint erst in Dändlikers autobiographischem Rückblick zur impliziten Distanzierung von der Orthodoxie umgedeutet. Karl Dändliker, Autobiographie, S. 31f., ZBZ NL Karl Dändliker. „Ach! Wenn ich einst auch so auftreten könnte??!!“ Karl Dändliker, Tagebuch 1. Januar– 30. August 1868, Eintragung 02.02.1868, S. 21, ZBZ NL Karl Dändliker 4. Karl Dändliker, Autobiographie, S. 33, ZBZ NL Karl Dändliker 4. Karl Dändliker, Tagebuch 1. Januar–30. August 1868, Eintragung 06.01.1868, S. 2, ZBZ NL Karl Dändliker 4; Eintragung 01.04. 1868, ebd. S. 35; Eintragung 12.04.1868, ebd. S. 39. „Wenn Dein nimmermüder Geist alle Völker u[nd] Vorfahren durchstreift hat, so lies noch ein Verslein aus diesen Blättern!“. Zit. Karl Dändliker, Tagebuch 1. Januar–30. August 1868, S. 12. Es handelt sich um die Gedichtsammlung „Palmblätter“ des geistlichpatriotischen Dichters Karl Gerok (1815–1868), die 1856 erstmals erschienen war. Karl Dändliker, Tagebuch 1. Januar–30. August 1868, Eintragung 22.02.1868, S. 29, ZBZ NL Karl Dändliker 4. Vgl. auch die Eintragung Januar 1868, S. 7, ZBZ NL Karl Dändliker 4. Das theologische Traktat „Expektorationen über das Studium der Theologie: Vademekum für meinen Sohn Hermann“ stammte vom Erweckungsprediger Gottfried Daniel Krummacher.
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4. Forschungsökonomien: Die Rolle von Verwandtschaft und Geschlecht
der Kirchgemeinde von Rorbas interessierte, die Dändliker bereits als Gymnasiast recherchiert hatte. Dändliker musste die Arbeit aber im Rohmanuskript liegen lassen, weil sie im väterlichen Anforderungskatalog keinen Platz fand. Als ihr Sohn schließlich zu Büdingers Schützling avancierte, erhielt die Mutter vertrauliche Schilderungen der Sprechstunden bei seinem neuen Lehrer.54 Das Urteil des medizinischen Experten ermöglichte es, die Probleme Dändlikers als somatische Krise zu deuten und die Abwendung vom Pfarrerberuf als schicksalhaft zu verstehen. Die neue Studienrichtung lag für Dändliker nahe, weil er schon lange ein starkes Interesse für historische Forschungen gehegt hatte. Karl Dändlikers Phantasie wurde durch historische Forschungsarbeiten so angesprochen, dass er sich im Tagebuch wiederholt anklagte, beim Ausüben dieses neuen Tätigkeitsfeldes zu leidenschaftlich zu sein und den Sinn für die Realität zu verlieren. Der spätere Hochschullehrer schwärmte von langen Stunden im Handschriftenzimmer, dem gemeinsamen Forschen und Arbeiten mit dem neugewonnenen Freund und späteren Kollegen Johann Jakob Müller und der Erschließung von Hilfsmitteln der Forschung.55 Die Forschung stand in der Pfarrersfamilie indessen keineswegs im Zentrum der Überlegungen zum Studienfachwechsel. Die neue Ausrichtung auf Geschichte wurde von seiner Familie vor allem im Hinblick auf die Erwerbschancen im Gymnasialbereich beurteilt, die Freunde und Lehrer als durchaus gut einschätzten. In den Augen des Vaters waren die historischen Zeitvertriebe des Sohnes bis jetzt vor allem „verlorene Mühe u[nd] verlorene Zeit“56 gewesen, die keine lebenspraktische Relevanz hatten. Tatsächlich fehlte Dändliker, der als gering besoldeter Extraordinarius ohne Vermögen an der Universität auf Lehraufträge an Mittelschulen angewiesen war, sein Leben lang die Zeit für die Forschung, die gegenüber den Gesamtdarstellungen und Schulbüchern, die er schrieb, oft das Nachsehen hatte.57 Unter viel schwierigeren Voraussetzungen als Dändliker und erst im Alter von 30 Jahren löste sich auch der spätere Professor der Wiener Universität 54
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Karl Dändliker, Tagebuch 1. Januar–30. August 1868, Eintragung 12.02.1868, S. 23, ZBZ NL Karl Dändliker 4. Karl Dändliker an Marie Dändliker, 27.07.1868 aus Zürich, Einlage im Tagebuch 1. Januar–30. August 1868, ZBZ NL Karl Dändliker 4. „Die Geschichtforschung regte mich allemal auf, indem ich mich ihr mit zügelloser Leidenschaft ergab, missstimmte mich für Alles u[nd] zog mich auch von allem ab.“ Karl Dändliker, Tagebuch 1. Januar–30. August 1868, Eintragung 24.02.1868, S. 21, ZBZ NL Karl Dändliker 4. Karl Dändliker, Tagebuch 1. Januar–30. August 1868, Eintragung 12.02.1868, S. 23, ZBZ NL Karl Dändliker 4. Karl Dändliker, Tagebuch 1. Januar–30. August 1868, Eintragung 24.07.1868, S. 46, ZBZ NL Karl Dändliker 4; Eintragung 25.07.1868, ebd., S. 47–49; 11.07.1868, ebd. S. 44. Guggenbühl: Karl Dändliker, S. 116f., S. 130–133. Dändliker hatte ein hohes Lehrpensum zu bewältigen. Erst 1893 wurde seine Pflichtstundenzahl am Lehrerseminar auf 15 Stunden reduziert, daneben hatte er vier bis sechs Stunden Lehraufträge an der Universität. Ebd., S. 133.
4.2 Verwandtschaftliche Ressourcen für Laufbahnen
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Engelbert Mühlbacher aus der ursprünglichen Bestimmung zum Geistlichen. Der 1843 geborene Mühlbacher war als Sohn eines Schmieds in Gresten in Niederösterreich aufgewachsen, hatte in Linz das Gymnasium besucht und trat im Alter von neunzehn Jahren in das Stift St. Florian in Oberösterreich ein. Mühlbacher brachte kein soziales und ökonomisches Kapital aus seiner Herkunftsfamilie mit, für ihn lag es nahe, Bildung über eine geistliche Laufbahn zu erwerben.58 Umso wichtiger wurde in der Folge das Stift, das in Bezug auf seine Lebensgestaltung eine ähnlich dominierende Funktion einnahm wie Familie und Verwandtschaft in den Lebensläufen von Historikern bürgerlicher Herkunft. Mit dem Stiftseintritt überantwortete Mühlbacher viele Bereiche der eigenen Lebensführung an die Kanonikerkongregation, die sich durch eine hierarchische Steuerung der ökonomischen Ressourcen und beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten ihrer Mitglieder und ein stark ritualisiertes Gemeinschaftsleben auszeichnete. Mühlbachers späte Sozialisation zum professionellen Historiker ab 1870 war deshalb von Restriktionen geprägt, die üblicherweise sehr viel jüngere Geschichtsstudenten durch ihre Eltern erfuhren. Als angehender Augustiner Chorherr betrieb Mühlbacher während seines Theologiestudiums bereits historische Studien, für die sich die St. Florianer Bibliothek mit ihren umfangreichen und wertvollen alten Buch- und Handschriftenbeständen anbot. Er war zwar für das Amt des Stiftshistoriographen ausgewählt worden, musste nach der Priesterweihe 1867 aber als Seelsorger arbeiten.59 In seinen brieflichen Äußerungen ab 1870 lässt sich eine zunehmende Desillusionierung den institutionellen Zwängen des Stifts gegenüber erkennen, mit denen sich der angehende Historiker mühsam zu arrangieren versuchte, als er in der Folge anstrebte, eine historische Fachausbildung zu erlangen. Mühlbacher bemühte sich beim Prälaten von St. Florian um die Erlaubnis, sich im Hinblick auf seine Aufgaben als Geschichtsschreiber an der Universität Innsbruck bei Julius Ficker historisch weiterbilden zu dürfen. Nach anfänglicher Zustimmung zogen die Stiftsoberen unter Hinweis auf den in ihren Augen geringen Ertrag eines solchen Studiums aber bald ihre Zusage zurück. Mühlbacher vermutete, dass sich dahinter die Angst verbarg, dass er zu kritisch schreiben würde – eine Angst, die sich durch seine Ablehnung des Unfehlbarkeitsdogmas verstärkt haben könnte.60 58
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Emil von Ottenthal: Mühlbacher, Engelbert, in: Biographisches Jahrbuch und Deutscher Nekrolog, Bd. 8, Berlin 1905, S. 344349, hier S. 345; Oswald Redlich: Engelbert Mühlbacher, in: MIÖG XXV/1904, S. 201–207, hier S. 202. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 22.10.1870 aus St. Florian, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 1. Vgl. Karl Rehberger: Ein Beitrag zur Vorgeschichte der „Historikerschule“ des Stiftes St. Florian im 19. Jahrhundert, in: Oberösterreichisches Landesarchiv (Hrsg.): Sankt Florian. Erbe und Vermächtnis, Festschrift zur 900-Jahr-Feier, Wien 1971, S. 210–250. Engelbert Mühlbacher: Die literarischen Leistungen des Stiftes St. Florian bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Innsbruck 1905. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 21.11.1870 aus St. Florian, Archiv IfÖG NL Fi-
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4. Forschungsökonomien: Die Rolle von Verwandtschaft und Geschlecht
Zwei Jahre später konnte Mühlbacher seinen Ausbildungswunsch doch noch realisieren. Bereits 1874 schloss er sein Geschichtsstudium ab und reiste für eine Weiterbildung bei Theodor Sickel nach Wien weiter, um anschließend dort für das von Ficker geleitete Böhmersche Regestenwerk zu arbeiten. Die Stiftsleitung, die diese Entwicklung ungern sah, versuchte, Mühlbacher auf administrativem Weg Hindernisse in den Weg zu legen. 1875 erreichte Mühlbacher ein neues Stadium der Entfremdung, als das Stift ihm seine Auslagen für Lebenskosten nur noch mit großer Verspätung vergütete, eine demütigend detaillierte Rechnungslegung verlangte und Briefe monatelang nicht beantwortete. Mühlbacher ließ sich im Gegenzug einen Bart wachsen und dankte provozierend „für die Gnade [...] auf Stiftskosten einen ,anständigen Hut, nämlich einen Cylinder‘ u[nd] einen langen Clerikalrock beibringen zu dürfen“.61 Die äußerlichen Zeichen der Verweltlichung entsprachen dem Gefühl Mühlbachers, zu wenig „Abat u[nd] Klostermann“62 zu sein, um sich vom Stift zu einer Aufgabe seiner neuen beruflichen Ausrichtung bringen zu lassen. Er ließ sich auf eine riskante berufliche Positionierung ein, die er immer wieder als „Kampf um die Existenz“ umschrieb.63 Seine Beziehungen zum Stift pendelten sich in der Folge als loses Verhältnis ein, das den offenen Bruch vermied.64 Anstatt mit verwandtschaftlich mobilisierten Ressourcen haushaltete Mühlbacher mit den finanziellen Zuwendungen und dem Namen des Stifts St. Florian. Diese geistliche Herkunft empfahl Mühlbacher als vertrauenswürdig, als er seine historische Ausbildung begann.65 In seiner Familie verliefen symbolische und materielle Transaktionen hingegen früh in umgekehrter Richtung: Bereits während seiner Ausbildung zum Historiker musste Mühlbacher, der seinen Vater verloren hatte, seine kranke Mutter versorgen, die
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cker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 2+a, hier 2; 22.10.1870 aus St. Florian, ebd., Bogen 1. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 24..02.1875 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 68+a+b. Vgl. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 24.02.1875 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 68+a+b; 02.06.1875 aus Wien, ebd., fol. 78; 15.06.1876 aus Wien, ebd., 61+a+b; 23.06.1876 aus Wien, ebd. 59+a+b; 09.07.1876, ebd., 55+a+b. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 24.02.1875 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 68+a+b; 02.06.1875 aus Wien, ebd., fol. 61+a+b; 15.06.1876 aus Wien, ebd., fol. 59+a+b; 23.06.1876 aus Wien, ebd., 55+a+b. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 24.02.1875 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 68+a+b; , 21.08.1875 aus Wien, ebd., Bogen 74, 09.07.1876 aus Wien, ebd. 55+a+b. Mühlbacher kehrte noch in den Sommerferien 1875 und 1876 ins Stift zurück, um seine Arbeit über die Gelehrtengeschichte des Stifts fertigzustellen. Davon zeugen die Empfehlungen an Wiener Beamte, die sich Mühlbacher von seinen Stiftsoberen ausstellen ließ. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 24. 02.1875 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 68+a+b, hier 68.
4.2 Verwandtschaftliche Ressourcen für Laufbahnen
193
ihm sehr nahestand. Als Extraordinarius in Wien, der unter großer Arbeitsbelastung mit Zusatzaufträgen sein Gehalt aufbesserte, unterstützte er später auch die Witwe seines verstorbenen Bruders mit ihren Kindern.66 Mühlbacher habilitierte sich 1878 in Innsbruck und kehrte 1881 als außerordentlicher Professor für Geschichte des Mittelalters und historische Hilfswissenschaften an die Universität Wien und ans Institut zurück. An diesem Punkt aber kam seine Karriere zu einem Stillstand. Obwohl Mühlbacher sich in den 1880er Jahren als Karolingerspezialist einen Namen machte, aspirierte er bis 1896 vergeblich auf eine Beförderung zum Ordinarius und auf eine bessere Besoldung, während die jüngeren Kollegen Ottenthal und Redlich, ebenfalls Schüler Fickers und Sickels, avancierten. Zum einen war dies dem spannungsvollen Verhältnis Mühlbachers zu Theodor Sickel geschuldet.67 Zum andern aber beruhte die Zurückstellung auf der ungeklärten Position als Geistlicher, die zu Vorbehalten in klerikalen Kreisen führte. Kirchlich-konservative Kreise führten 1890 eine Kampagne gegen Mühlbacher, die seine Beförderung auf ein Ordinariat bis 1896 verzögerte. An dieser wissenschaftspolitischen Intrige wird die Bedeutung der Langzeitwirkungen von Herkunft und Verwandtschaft und Herkunft sichtbar. In einem gehässigen anonymen Schreiben, das 1890 beim Bildungsministerium einging, wurde Mühlbacher als abtrünniger Priester angeprangert, der in Sünde lebe. Julius Ficker übernahm entgegen dem Rat seines Schülers Huber die peinliche Aufgabe, Mühlbacher über die Denunziation und die Konkubinatsvorwürfe zu informieren, denn er wollte ihn vor unerwarteten Angriffen schützen.68 Der Innsbrucker Professor fühlte sich in Mühlbachers Situation nicht zuletzt deswegen ein, weil er selbst zu diesem Zeitpunkt schon seit über zwölf Jahren in einem Konkubinatsverhältnis lebte, das er neben seiner kinderlosen Ehe aufrechterhielt und dem mittlerweile fünf Kinder entsprossen waren. Zum Zeitpunkt der Angriffe gegen Mühlbacher war dieser bereits mit den Kindern Fickers und mit dessen Geliebter Marie Tschaffeler bekannt.69 Spätestens von diesem Zeitpunkt an entspannen sich zwischen der Familie 66
67 68
69
Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 24.11.1875 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 68+a+b; 28.01.1883 aus Wien, ebd., Bogen 178+a, hier 178. Theodor Sickel an Julius Ficker: 24.02.1884 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 116f., hier fol. 116v. Dazu ausführlich Lhotsky: Geschichte des Instituts, S. 202–204. Julius Ficker an Engelbert Mühlbacher, 28.08.1890 aus Innsbruck, Archiv IfÖG, NL Mühlbacher: Julius Ficker an Engelbert Mühlbacher, Bogen 102; 30.09.1890 aus Innsbruck, ebd., Bogen 103. Aus dem Brief vom 30. September lässt sich schließen, dass Mühlbacher in seiner (nicht erhaltenen) Antwort auf den Brief vom 28. August ein Konkubinatsverhältnis mitgeteilt hatte, für das er viele Verpflichtungen einging. Ficker bot Mühlbacher im Brief vom 30. September nicht nur seine „aufrichtige Theilnahme“, sondern auch finanzielle Unterstützung an. Er hatte Ficker und seine Zweitfamilie im Sommer 1888 in ihrer Sommerfrische im bayrischen Priental besucht. Julius Ficker an Engelbert Mühlbacher, 19.08.1888 aus Innsbruck, Archiv IfÖG, NL Mühlbacher: Julius Ficker an Engelbert Mühlbacher, Bogen 97.
194
4. Forschungsökonomien: Die Rolle von Verwandtschaft und Geschlecht
Fickers und Mühlbacher Kontakte, die am besten als wahlverwandtschaftlich beschrieben werden können: Mühlbacher wurde als „Onkel“ angesprochen, als ein Vertrauter der Konkubinatsfamilie, die Ficker nach dem Tod der ersten Frau nach Innsbruck nahm.70 Während der großbürgerliche Julius Ficker ohne Ansehensverlust seine zunächst illegitimen Kinder in ein erfolgreiches Bürgerleben einführen konnte, schützte Mühlbacher weder seine familiäre noch seine geistliche Herkunft vor der politischen Intrige. Allerdings trug möglicherweise die wahlverwandtschaftliche Unterstützung seines Mentors dazu bei, dass Mühlbacher dieser Krise 1890 standhalten konnte und schließlich die Beförderung doch noch erhielt. Auch für Mühlbacher stand die historische Forschung von Beginn weg als geschichtswissenschaftlicher Praxisbereich im Zentrum. Als Mühlbacher sich entschied, Historiker zu werden, begründete er dies mit seinem Wunsch, sich durch eine gründliche Ausbildung von der „Misère des Autodidaktentums“71 befreien zu können. Er befand sich damals mitten in seiner ersten größeren historischen Arbeit. Mühlbacher war in seinen autodidaktischen Bemühungen offensichtlich an eine Grenze gelangt, die sich vor allem an der Unerreichbarkeit von gedrucktem und ungedrucktem Material bemerkbar machte.72 Die fachlichen Fragen zu urkundlichen Belegen, die er Ficker bereits bei der ersten brieflichen Kontaktaufnahme stellte, zeigen, wie stark Mühlbachers Imagination von den Möglichkeiten zukünftiger Forschungen besetzt war. Mühlbacher schrieb seine Lust auf lauter noch ungesichtete,
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Mühlbacher tauschte mit der Tochter Cenci Ficker Gratulationen und Geschenke und wurde als „Großonkel“ angesprochen. Als 1899 Fickers älteste Tochter Marie Alfons Dopsch heiraten wollte, holte Julius Ficker bei Mühlbacher ein vertrauliches Persönlichkeitsgutachten über Dopsch ein. Umgekehrt waren Marie Ficker-Tschafeller und Cenci Ficker nach Mühlbachers Tod unter den Spenderinnen, als es darum ging, Engelbert Leutmeyer, dem Verwandten Mühlbachers, den Weiterbesuch des Gymnasiums zu ermöglichen. Cenci Ficker an Engelbert Mühlbacher, 01.09.1897 aus Innsbruck, Archiv IfÖG, NL Mühlbacher: Julius Ficker an Engelbert Mühlbacher, Bogen 184; 02.12.1897 aus Innsbruck, ebd., Bogen 169; 31.12.1897 aus Innsbruck, ebd., Bogen 170; 24.02.1898 aus Innsbruck, ebd., Bogen 195; 09.08.1898 aus Igls, ebd., Bogen 183; 30.12.1898 aus Igls, ebd., Bogen 171; 04.09.1899 aus Igls, ebd. Bogen 172. Julius Ficker an Engelbert Mühlbacher, 20.10.1899 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Mühlbacher: Julius Ficker an Theodor Mühlbacher, Bogen 190. Beitragsliste und Einnahmen- und Ausgabenverzeichnis 1903– 1904, Konvolut „Tod Mühlbacher – Engelbert Leutmeyer“, Archiv IfÖG NL Redlich 11. Vgl. zu Fickers Familie auch Oberkofler/Goller: „Also soweit als möglich lebe ich in der Vergangenheit“, S. 95f. und Fußnoten 142f. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 22.10.1870 aus St. Florian, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Theodor Ficker, Bogen 1. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 21.11.1871 aus St. Florian, ebd., Bogen 2+a, hier 2a. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 22.10.1870 aus St. Florian, Archiv IfÖG, NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 1. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 21.11.1870 aus St. Florian, ebd., Bogen 2+a, hier 2a.
4.2 Verwandtschaftliche Ressourcen für Laufbahnen
195
begehrenswerte Quellen, von denen er in Briefen phantasierte, im Rückblick der „innere[n] Unbefriedigtheit“73 zu, die ihn damals erfüllt habe. Die Vorstellung von historischer Arbeit, die seine Stiftsoberen vertraten, war hingegen unverrückbar um die Welt des Stiftes zentriert, das mit seiner prächtig ausgestatteten Bibliothek ein ländliches Zentrum frühneuzeitlicher Gelehrsamkeit in Österreich gewesen war und mit Joseph Chmel einen wichtigen Geschichtsorganisator der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hervorgebracht hatte. So sprach der Stiftsdechant, dessen Expertise beim Prälaten Gewicht hatte, gemäß Mühlbacher „viel von sich selber, dass er als früherer Archivar auch keine Ausbildung genossen; zum Glücke sei aber das Archiv schon ganz geordnet gewesen“.74 In der Wahrnehmung Mühlbachers hörte der Möglichkeitsraum der Forschung für den Dechanten an der Stiftsmauer auf. Auch der Prälat verfolgte für Mühlbacher eine „principielle Überschätzung des alles Selbstlernens“.75 Nachdem ihn zu Beginn ein „fast instinktmäßiges Tappen nach festen kritischen Principien“76 geleitet hatte, suchte Mühlbacher nun nach einer methodisch abgesicherten Vorgehensweise. Bei Mühlbachers Mühen mit dem Stift ging es nicht um den prinzipiellen Nutzen der Quellenforschung, die im Stift im Hinblick auf die gelehrte Reputation der Institution und zum Wohl der eigenen Traditionsbildung durchaus geschätzt wurde. Zur Debatte stand vielmehr deren Generalisierung über den Bezugsrahmen des Stiftes hinaus, die Verwissenschaftlichung als Selbstzweck. So meinte der Dechant, dass der kirchliche Geist gar leicht verloren gehen könne, „wenn man sich ganz der Wissenschaft hingebe u[nd] ohne Contakt mit der Seelsorge bleibe“.77 An allen drei biographischen Fallbeispielen ließ sich aufzeigen, dass familiären, verwandtschaftlichen und quasiverwandtschaftlichen Ressourcen auf verschiedenen Ebenen eine große Rolle bei der wissenschaftlichen Sozialisation von Historikern zukam. Die Prozeduren der historischen Forschung und die materiellen Objekte der Geschichte hatten überdies auf alle drei Historiker bereits vorwissenschaftlich eine große Faszination ausgeübt. Sie bildeten einen wichtigen Faktor der Berufswahl. Forschen erschien mit Leidenschaft besetzt und machte einen Hauptbestandteil der Anziehungskraft der Geschichtswissenschaft aus. Für das familiäre Umfeld – beziehungsweise im Fall Mühlbachers seine unmittelbaren Vorgesetzten im Stift – hingegen war dieser Aspekt 73 74 75 76 77
Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 17.03.1876 aus Wien, Archiv IfÖG, NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 42+a, hier 42. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 21.11.1870 aus St. Florian, Archiv IfÖG, NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 2+a, hier 2. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 21.11.1870 aus St. Florian, Archiv IfÖG, NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 2+a, hier 2. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 17.03.1876 aus Wien, Archiv IfÖG, NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 42+a, hier 42. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 21.11.1870 aus St. Florian, Archiv IfÖG, NL Ficker, Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 2+a, hier 2.
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4. Forschungsökonomien: Die Rolle von Verwandtschaft und Geschlecht
historischer Praxis in seiner Eigendynamik nicht immer ohne weiteres zugänglich. Diese Kluft zwischen den subjektiven Erwartungen der angehenden Historiker an ihre zukünftige Tätigkeit und den Vorstellungen ihres familiären oder quasifamiliären Umfelds von ihrer Arbeit hatte wohl damit zu tun, dass sich die Dimension der Quellenforschung weder mit dem sozialen Status noch mit den ökonomischen Möglichkeiten des Hochschulhistorikers so unmittelbar verband wie etwa die Lehrtätigkeit, die für Familienangehörige im Vordergrund stand.
4.3 Vererbte Arbeitsgrundlagen Die Weitergabe von Infrastrukturen der Forschung – von Forschungsapparaten, Quellen- und Abschriftensammlungen – bildete im Untersuchungszeitraum eine wichtige Voraussetzung geschichtswissenschaftlicher Arbeitskontinuität, die in vielen Fällen nicht institutionell gesichert war. Zwar bauten Hochschulinstitutionen und Forschungsorganisationen ihre Apparate in großem Ausmaß aus und ermöglichten damit die Kontinuität von Forschungsaufgaben, die über mehrere Forschergenerationen hinweg weiterliefen. Dies gilt für die Apparate der Monumenta Germaniae Historica und insbesondere für die Einrichtungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, dessen Urkunden- und Siegelsammlungen und wissenschaftliche Hilfsmittel im deutschsprachigen Raum vorbildlich waren und eine große Zahl von Forschern anzogen.78 Gleichzeitig war aber ererbtes oder angeheiratetes Kapital von Forschern weiterhin von großer Bedeutung, wenn es galt, Forschungsinfrastrukturen aufrechtzuerhalten oder auszubauen. Gerold Meyer von Knonau verfügte nicht nur über ein beträchtliches Kapital, das es ihm erlaubte, sich an antiquarischen Auktionen zu beteiligen und Forschungsreisen zu unternehmen, sondern auch über eine sehr gut ausgestattete Bibliothek sowie über geerbte Sammlungen. Georg von Wyss konnte es sich dank seines Vermögens erlauben, in einem Prioritätsstreit der Öffentlichkeit eine selbstfinanzierte, eigene Edition des Weissen Buches von Sarnen vorzulegen; sein Bruder, ein Rechtsprofessor, kaufte den wissenschaftlichen Apparat eines Frühmittelalterforschers auf und verbreiterte so die historischen Arbeitsgrundlagen im Familienverbund. Julius Ficker, der reiche westfälische Historiker in Innsbruck, der die Wiener Diplomatiker entscheidend beeinflusste, betrieb Wissenschaftspolitik, indem er wiederholt damit drohte, seine bezahlte Professorentätigkeit an der Universität zu verlassen, und konnte es sich wie bereits erwähnt auch leisten, als Mäzen aufzutreten. Sein Kollege Karl Friedrich Stumpf-Brentano wiederum, der zu einem wissenschaftlichen Gegner 78
Vgl. Kap. 7.
4.3 Vererbte Arbeitsgrundlagen
197
Theodor Sickels in Wien avancierte, besetzte eine Professur ohne Gehalt, was ihm durch das große Vermögen seiner Frau ermöglicht wurde.79 Allerdings gehörten solche private Ressourcen nicht zum offiziellen Bild, das die sich verberuflichende Geschichtsforschung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entwarf, wenn sie sich von privat finanzierter Amateurforschung distanzierte. Forscher etwa, die sich zu offenkundig auf das Kapital ihrer Frauen abstützten, wurden unter Kollegen mitunter lächerlich gemacht,80 und in gegenseitigen Würdigungen herrschte die Sprache des wissenschaftlichen Verdienstes. Der Umgang mit nachgelassenem Arbeitsmaterial von Historikern stellt eine besonders aufschlussreiche Situation dar, in der der Anteil von Familie und Verwandtschaft bei der Verwaltung von Forschungsinfrastrukturen deutlich wird. Bei der Vererbung von Forschernachlässen traf die verwandtschaftliche Logik der Vererbung auf die Strategien geschichtswissenschaftlicher Interessenvertreter, die an einer institutionellen Kontinuitätssicherung interessiert waren und sich im Wettlauf der Forschung den Zugriff auf kostbare Vorarbeiten sichern wollten. Dies galt besonders für hilfswissenschaftlich spezialisierte Historiker, die oft in sehr eng abgesteckten und von mehreren Forschern gleichzeitig bearbeiteten Feldern arbeiteten und besonders an wertvollen Archivnotizen über Dokumente interessiert waren, die in der Zwischenzeit nicht mehr auffindbar oder zugänglich waren. Als der Mittelalterhistoriker Stumpf-Brentano im Januar1882 überraschend starb, waren es vor allem seine Kollegen Julius Ficker in Innsbruck und Theodor Sickel in Wien, die sich um seinen Nachlass bemühten. Beide hatten ein recht schwieriges Verhältnis zu ihrem Kollegen gehabt, der gleichzeitig mit ihnen an eine Erneuerung diplomatischer Ansätze gegangen war und wie Ficker beanspruchte, das Erbe Johann Friedrich Böhmers weiterzuführen. Ficker hatte sich nach längerer Entfremdung gegen Ende von Stumpfs Lebenszeit wieder mit seinem langjährigen Kollegen versöhnt. Er hatte großes wissenschaftliches Interesse an den Hinterlassenschaften Stumpf-Brentanos und ging auf die Bitte der Witwe Magdalena Stumpf-Brentano ein, Stumpfs Hinterlassenschaften zu ordnen, sie bei der Verwaltung des Nachlasses zu beraten und eine begonnene wissenschaftliche Arbeit fertigzustellen.81 79
80
81
Vgl. Emerentiana Meyer von Knonau an Gerold Meyer von Knonau, 07.11.1865 aus Zürich, ZBZ FA Meyer v. Knonau 32ba. Werner Koller: Georg von Wyss. Welt- und Geschichtsbild, Diss. Univ. Zürich, Zürich 1958, S. 22f.; Gerold Meyer von Knonau: Georg von Wyss, Teil 2, Zürich 1896, S. 7; Oberkofler/Goller: „Also so weit als möglich lebe ich in der Vergangenheit“, S. 76f.; Gerhard Oberkofler: Die geschichtlichen Fächer an der Universität Innsbruck, Innsbruck 1969, S. 40–42; Jung: Julius Ficker, S. 284f. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 22.01.1875, Archiv IfÖG NL Ficker: Mühlbacher an Ficker, Bogen 70 (referiert die abschätzigen Bemerkung Sickels, der reich verheiratete Diplomatiker Karl Friedrich Stumpf betreibe seine Arbeit nur als „noble Passion“); Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, 21.05.1895 aus Rom, Archiv IfÖG, NL Mühlbacher: Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, fol. 49f., hier fol. 50 (über den reichen deutschen Historiker Lothar von Heinemann). Vgl. zum wissenschaftlichen Aspekt der Auseinandersetzung Oberkofler/Goller: „Also
198
4. Forschungsökonomien: Die Rolle von Verwandtschaft und Geschlecht
Zu diesem Arrangement führte allerdings eine Phase gewundener und delikater Abklärungen, an denen neben der Witwe verschiedene Historiker beteiligt waren. Fickers Ziel war es, die nachgelassenen Unterlagen für die Forscher des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung zugänglich zu machen. Allerdings stieß er damit bei Stumpf-Brentano auf beharrlichen Widerstand, die Theodor Sickel schon bei der Versendung der Todesanzeigen zu berücksichtigen „vergessen“ hatte. Sie übertrug ihr durch die fachlichen Differenzen zwischen ihrem verstorbenen Mann und Sickel entstandenes Misstrauen auf die in Innsbruck lehrenden Sickelschüler Ottenthal und Kaltenbrunner, die sich ebenfalls für das Material interessierten. Die Witwe bot Ficker den Nachlass zur Aufbewahrung bei ihm zuhause und zur ausschließlich persönlichen Verwendung an, dieser lehnte unter dem Vorwand der Brandgefahr ab und vermied so ein Verbleiben des Materials in der häuslichen Sphäre. Auch die Verwahrung unter Verschluss auf der Universitätsbibliothek Innsbruck, die Stumpf-Brentano daraufhin vorschlug, reichte Ficker nicht. Zusammen mit weiteren Kollegen erreichte Ficker, der die taktischen Einflussnahmen auf die Witwe in seinem Sinn orchestrierte, schließlich, dass diese ihre Verfügungsmacht über den wissenschaftlichen Nachlass faktisch aufgab, indem sie einwilligte, die nachgelassenen Arbeitsunterlagen nach Wien zu senden.82 Um die wissenschaftliche Anerkennung der nachgelassenen Arbeiten zu erreichen, war Stumpf-Brentano auf die Expertise der Kollegen ihres Mannes angewiesen. Die Erwartungen der Witwe an eine angemessene Würdigung der Hinterlassenschaften des Verstorbenen erfüllten sich indessen nicht. Die Urkundenforscher kamen bald zum Schluss, dass Stumpf-Brentanos Vorarbeiten zu frühmittelalterlichen St. Galler Urkunden und zu Monogrammen weniger hergaben als erwartet.83 Sie verzichteten darauf, dem Verstorbenen ein wissenschaftliches Monument
82
83
soweit als möglich lebe ich in der Vergangenheit“, S. 54. Vgl. Julius Ficker an Theodor Sickel, 08.01.1877 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol.66f., hier 66v; 23. Januar 1881 aus Innsbruck, ebd., fol. 103f., hier 103r; Julius Ficker an Engelbert Mühlbacher, 16.01.1882, Archiv IfÖG, NL Mühlbacher: Julius Ficker an Engelbert Mühlbacher, Bogen 357. Ficker figurierte als Herausgeber des zweiten Bandes über die deutschen Reichskanzler, der posthum veröffentlicht wurde. Karl Friedrich Stumpf-Brentano: Die Reichskanzler vornehmlich des X., XI. und XII. Jahrhunderts nebst einem Betrage zur den Regesten und zur Kritik der Kaiserurkunden dieser Zeit, Bd. 2, Innsbruck 1865–1881. Julius Ficker an Theodor Sickel, 07.06.1882 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 112f., hier fol. 112v-113r; 21.06.1882 aus Innsbruck, ebd., fol. 114, hier fol. 114v. Theodor Sickel an Julius Ficker, 23.07.1882 aus Aussee, Archiv IfÖG NL Ficker: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 106f., hier fol. 106v. Julius Ficker an Theodor Sickel, 03.08.1882 aus Innsbruck, Archiv IfÖG Institutsakten: Karton 1882–1886. Auch Sickel äußerte Vorbehalte. Theodor Sickel an Julius Ficker, 08.02.1883 aus Wien, Archiv IfÖG, NL Ficker: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 110f. 18.09.1882 aus Aussee, ebd., fol. 108f., hier 108v. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 23.10.1883 aus St. Gallen, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 182.
4.3 Vererbte Arbeitsgrundlagen
199
zu errichten, sondern sahen eine Auswertung und Verwendung verstreuter Hinweise und Notizen Stumpf-Brentanos in ihren eigenen wissenschaftlichen Kontexten vor. So wurde der wissenschaftliche Nachlass Stumpf-Brentanos dem Institut einverleibt, ohne in das von der Witwe gewünschte größere Werk gegossen zu werden. Der Umgang mit Stumpf-Brentanos Nachlass war kein Einzelfall: Wenn Hochschulhistoriker oder Kollegen aus verwandten Gebieten verstarben, bemühten sich Kollegen darum, die nachgelassenen Arbeitsunterlagen aus der Verwandtschaftssphäre hinaus in institutionelle Zusammenhänge zu überführen oder sie zumindest Forschungszwecken zugänglich zu machen. Dies setzte gute Beziehungen zu den Verwandten – meist den verwitweten Gattinnen – der Forscher voraus.84 Engelbert Mühlbacher sicherte sich dagegen bereits prae mortis gegen seine eigentlich erbberechtigte geistliche Gemeinschaft ab, indem er schriftlich bestimmte, dass die Materialien und der Bücherapparat der von ihm bearbeiteten Kaiserregesten nicht dem Chorherrenstift, sondern dem Apparat der Kaiserregesten zufallen sollten. In manchen Fällen kamen aus Nachlasspapieren eigentliche Gemeinschaftswerke zustande. So machten sich die Zürcher Kollegen und Schüler des verstorbenen Georg von Wyss daran, seine Vorlesungen zur Quellenkunde der Schweiz gemeinsam auszubauen und zu veröffentlichen.85 Während den Witwen vor allem an einer Pflege der Erinnerung und einer wissenschaftlichen Würdigung der Verstorbenen gelegen war, ging es den professionellen Akteuren vielmehr darum, die Infrastrukturen und Ressourcen ihrer verstorbenen Kollegen in ihre Organisationen zu übernehmen und dadurch zu depersonalisieren. An die Stelle der verwandtschaftlichhäuslichen und damit oft auch weiblichen Verfügungsmacht sollten die Zugangsregelungen der Institutionen treten, die ihre eigenen Bedingungen der Ressourcenallokation hatten. So erscheinen diese Vererbungssituatio84
85
Weitere Beispiele: Julius Ficker arrangierte in Paris, dass ihm die Witwe den Nachlass des Historikers Huilland auf die Bibliothek schickte. Julius Ficker an Theodor Sickel, 10.03.1878 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 79, hier fol. 79v; 15.05.1878 aus Innsbruck, ebd., fol. 82f., hier fol. 82r. Als der Rechtsprofessor Anton Nissl starb, begutachtete der ihm nahestehende Ficker zusammen mit der Frau des Verstorbenen die nachgelassenen Unterlagen. Julius Ficker an Engelbert Mühlbacher, 20.01.1890 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Mühlbacher: Julius Ficker an Engelbert Mühlbacher, Bogen 100. Im Fall des 1854 verstorbenen Churer Historikers Theodor Mohr (1794–1854) ging es hingegen nicht darum, seine private Papiere zu erhalten, sondern seinen Sohn, den Historiker (Peter) Conradin Mohr (1819–1886) dazu zu bewegen, kostbare alte Urkunden zurückzuerstatten, die dessen Vater aus dem lokalen Archiv nachhause genommen hatte. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker,16.02.1877 aus Wien, Archiv IfÖG, NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 204+a, hier Bogen 204. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 04.07.1875 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Ficker, Bogen 77. von Wyss: Geschichte der Historiographie.
200
4. Forschungsökonomien: Die Rolle von Verwandtschaft und Geschlecht
nen als Transaktionen der institutionalisierten Geschichtswissenschaft, die verwandtschaftlich gebundenes wissenschaftliches Kapital in institutionell gebundenes überführten.
4.4 Männer der Geschichte Auf welche Weise waren nun geschlechtsspezifische Zuschreibungen und Handlungsmuster im Kontext von historischen Forschungsorganisationen und Hochschulen relevant? Ganz offenkundig wirkte Geschlecht im Untersuchungszeitraum als effiziente soziale Kategorie, die den männlichen Historikern einen ausschließlichen Anspruch auf Hochschul- und Forscherkarrieren, aber auch auf andere Anstellungen, etwa als Archivbeamte, garantierte. Studentinnen und Absolventinnen der Geschichtswissenschaft tauchen – in Zürich seit den 1860er Jahren, in Wien seit 1897 – im Untersuchungszeitraum erst vereinzelt auf. Sie schafften den Schritt zur Verberuflichung ihrer Studieninteressen nur ansatzweise und ausschließlich außerhalb des akademischen Bereichs. Die Lehrerinnentätigkeit bildete für diese frühen Akademikerinnen einen wichtigen Tätigkeitsbereich, weil es sich dabei um eines der wenigen Berufsfelder handelte, das bürgerlichen Frauen im Untersuchungszeitraum offen stand.86 In der Zwischenkriegszeit wurde an der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich die erste Privatdozentin überhaupt ernannt; es dauerte aber noch bis in die 1980er Jahre, bis eine Historikerin diese Position errang. Erna Patzelt, der Assistentin von Alfons Dopsch, wurde an der Universität Wien 1925 die erste Privatdozentin für Geschichte.87 Der Studiengang des Instituts für Österreichische 86
87
Zum frühen Frauenstudium in Wien und Zürich: Waltraud Heindl/Marina Tichy (Hrsg.): „Durch Erkenntnis zu Freiheit und Glück“. Frauen an der Universität Wien (ab 1897), Wien 1990; Verein Feministische Wissenschaft Schweiz (Hrsg.): „Ebenso neu als kühn“. 120 Jahre Frauenstudium an der Universität Zürich, Zürich 1988. Zu den frühen akademischen Historikerinnen s. allg. Fn. 6. Zur Professionalisierung der Lehrerinnenlaufbahn: Claudia Crotti: Die Professionalisierung der Weiblichkeit für das öffentliche Bildungssystem. Lehrerinnenbildung in der Schweiz in der Mitite des 19. Jahrhunderts, in: Claudia Honegger/ Brigitte Liebig/Regina Wecker (Hrsg.): Wissen, Gender, Professionalisierung. Historisch-soziologische Studien, Zürich 2003, S. 229–248; Marianne von Wartburg– Adler: Der steinige Weg zur Professionalisierung. Die Lehrerin in der Schweiz, in: Hans Badertscher/ Hans-Ulrich Grunder (Hrsg.): Geschichte der Erziehung und Schule in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert: Leitlinien, Bern/Stuttgart/Wien 1997, S. 441–467; Gunda Barth-Scalmani: Geschlecht: weiblich, Stand: ledig, Beruf: Lehrerin. Grundzüge der Professionalisierung des weiblichen Lehrberufs im Primarschulbereich in Österreich bis zum Ersten Weltkrieg, in: Brigitte Wallnig Mazohl (Hrsg.): Bürgerliche Frauenkultur im 19. Jahrhundert: Wien/Köln/Weimar 1995, S. 343–400. Vgl. Ziegler/Bolliger: Historikerinnen und ihre Disziplin; Ziegler: Historikerinnen an der Universität Zürich; Schnurrenberger: Die Philosophische Fakultät I, S. 165–176; Friedrich/Mazohl-Wallnig: Frauen und Geschichtswissenschaft, S. 356.
4.4 Männer der Geschichte
201
Geschichtsforschung, der eine besondere Scharnierrolle zwischen Beruf und akademischer Karriere einnahm, wurde später als das Universitätsstudium für Frauen geöffnet. Die Institutsprüfung oder zumindest die am Institut abgelegte Ergänzungsprüfung für den Archivdienst bildeten zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Österreich in der Regel die Zulassungsbedingung für staatliche Archive, die dann 1927 für alle Zentralarchive auch gesetzlich festgelegt wurde. Die Zulassung von Frauen zum Institut wurde deshalb auch explizit unter dem Aspekt der Berufskonkurrenz diskutiert. Zwar konnte 1911 Baronin Melitta Winkler als erste Frau die Ergänzungsprüfung für Archivbeamte ablegen, es dauerte aber noch fast zwei Jahrzehnte, bis Hertha Bittner, die Tochter eines Professors und Archivars, als erste Frau und als außerordentliches Mitglied den Institutskurs absolvierte.88 Dies bestätigt den Trend, dass bürgerlichen Männern am Ende des 19. Jahrhunderts zunächst vor allem auf dem Feld der Studienausweise Konkurrenz erwuchs, während die Berufszulassungen für Frauen in der Regel erst später erreicht wurden. Dies gilt in der Praxis auch für die Universitätslaufbahnen der österreichischen Mittelalter- und Neuzeithistoriker, für die der Institutslehrgang faktisch eine Voraussetzung bildete. Auch bei seinen editorischen Arbeiten blieb der männliche Nachwuchs des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung unter sich. Dies entspricht etwa den Entwicklungen in Deutschland, wo Frauen seit der Wende zum 20. Jahrhundert erst ganz vereinzelt in die großen geisteswissenschaftlichen Forschungsorganisationen Eingang fanden.89 Um 1901 stellten die „Collationier-Fräuleins“ in Begleitung des Wiener Philologen Michael Gitlbauer, die dem Institutsabsolventen und Monumentisten Michael Tangl in einem Pariser Archiv vorgestellt wurden, noch eine große Ausnahme dar, die Tangl eine Notiz an seinen Lehrer Mühlbacher wert war.90 Ob diese von Tangl 88
89
90
Friedrich/Mazohl-Wallnig: Frauen und Geschichtswissenschaft, S. 358f. Lhotsky: Geschichte des Instituts, S. 298f., 307. Zu den ähnlich zeitlich verschobenen Zulassungen zu Studium und Berufsausübung für die Juristinnen in der Schweiz.vgl. Marianne Delfosse: Emilie Kempin-Spyri (1853–1901). Das Wirken der ersten Schweizer Juristin unter besonderer Berücksichtigung ihres Einsatzes für die Rechte der Frau im schweizerischen und deutschen Privatrecht, Zürich 1994. Aus den Monumenta Germaniae Historica scheinen Frauen noch länger ausgeschlossen gewesen zu sein, dies lässt sich jedenfalls aus der fehlenden Erwähnung bei Fuhrmann: „Sind alles Menschen gewesen“, schließen. In der Orientalischen Kommission der Preussischen Akademie der Wissenschaften waren nach 1907 Frauen für Hilfsarbeiten eingestellt. Gerdien Jonker: Gelehrte Damen, Ehefrauen, Wissenschaftlerinnen. Die Mitarbeit der Frauen in der Orientalischen Kommission der Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (1907–1945), in: Theresa Wobbe (Hrsg.): Frauen in Akademie und Wissenschaft. Arbeitsorte und Forschungspraktiken 1700–2000, Berlin 2002, S. 125– 166: 131. Für weitere Belege vgl. auch Petra Hoffmann: Innenansichten der Forschungsarbeit an der Akademie. Zur Geschichte von Mitarbeiterinnen in den wissenschaftlichen Projekten der Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (1890–1945), ebd., S. 93–123. „Von Menschen deutscher Zunge arbeitet augenblicklich nur Gittelbauer hier, der gleich-
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4. Forschungsökonomien: Die Rolle von Verwandtschaft und Geschlecht
überdies als „Artikel“ bezeichneten Damen als bezahlte Zuarbeiterinnen arbeiteten, wird durch Tangls Umschreibung nahegelegt, geht aber aus dem Schreiben nicht eindeutig hervor. In der Schweiz beschäftigte die Allgemeine Geschichtforschende Gesellschaft seit der Jahrhundertwende vereinzelt weibliche Mitarbeiterinnen für Quellenerschließungs- und bibliographische Arbeiten, darunter Frieda Gallati, die bei Gerold Meyer von Knonau studiert hatte.91 Berufstätige Frauen, die ihr Geschichtsstudium so vielseitig einsetzten konnten wie Ricarda Huch, eine Studentin von Meyer von Knonau und Stern, blieben die Ausnahme. Wie eine andere frühe akademische Historikerin, die erste in Geschichte promovierte Schweizerin Meta von Salis, war Huch als Schriftstellerin tätig. Daneben arbeitete sie als Lehrerin und als Sekretärin in der Zürcher Stadtbibliothek.92 In Wien, wo die meisten Berufsfelder, die Absolventen eines Geschichtsstudiums offenstanden, in bürokratisierte Verwaltungsstrukturen eingespannt waren, waren Bibliotheksstellen zu diesem Zeitpunkt gänzlich in männlicher Hand. Die im Vergleich schwächere Ausbildung von Beamtenlaufbahnen in der Schweiz mag sich für Verberuflichungsverläufe zweischneidig ausgewirkt haben. Vielleicht ermöglichte sie es Frauen wie Frieda Gallati und andern, in Nischen tätig zu sein. Die stärkere Bürokratisierung und Formalisierung von Berufslaufbahnen in Österreich dagegen eröffnete Frauen dort zumindest theoretisch umfassendere Einklagemöglichkeiten, wie sich an der Durchsetzung der ersten Zulassungen von Frauen zur Ergänzungsprüfung für Archivbeamte sehen lässt, die gegen den Willen der Institutsleitung erfolgten.93 Wie bereits die symbolische Genealogie von Historikern im 19. Jahrhundert
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zeitig mit mir, aber in Begleitung zweier ,Collationier-Fräuleins‘ (– unter diesem Titel stellte er sie mir selbst vor –) auftauchte. – Auch in diesem Artikel sind Sie uns in Wien voraus!“ Michael Tangl an Engelbert Mühlbacher, 30.08.1901 aus Paris, Archiv IfÖG NL Mühlbacher, Tangl an Mühlbacher, fol. 37ar. Ein „Frl. Dr. von Lengefeld“ wurde 1901 mit der Registrierung von Urkunden im Germanischen Museum in Nürnberg betraut, Sitzung des Gesellschaftsrats, 27.04.1901, S. 3, Protokoll des Gesellschaftsrats der AGGS 1895–1923, BAR J II.127 -/1:1. Frieda Gallati wurde 1904 Mitarbeiterin für eine schweizergeschichtliche Bibliographie, Sitzung des Gesellschaftsrats, 02.05.1904, S. 3, ebd. Zu Gallati s. Alice Denzler: Nachruf – Nécrologie: Frieda Gallati 1876–1955. SZG 6/1956, S. 226–228.Christine Hoiningen-Huene, die an der Universität Zürich studiert hatte, betrieb 1911 für die Bündner Kantonsbibliothek genealogische Arbeiten. Angela Berlis: Zwischen Korsett und Zwangsjacke. Die Historikerin Christine von Hoiningen-Huene (1848–1920), in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte 98/2004, S. 67–86: 82. Erst in der Zwischenkriegszeit wurde mit Ella Wild die erste Historikerin reguläre Bibliothekarin in einer wissenschaftlichen Bibliothek. Zu Huch und Wild vgl. Schweizerischer Verband der Akademikerinnen (Hrsg.): Das Frauenstudium an den Schweizer Hochschulen, Zürich 1928, S. 46–49. Zu Salis vgl. Doris Stump: Sie töten uns – nicht unsere Ideen. Meta von Salis-Marschlins, 1855–1929, Schweizer Schriftstellerin und Frauenrechtskämpferin, Zürich 1986. Scott J. Long/Mary Frank Fox: Scientific Careers. Universalism and Particularism, in: Annual Review of Sociology 21/1995, S. 45–71: 62–64.
4.4 Männer der Geschichte
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deutlich macht, war der wissenschaftliche Raum, in dem sich Historiker bewegten, jedoch auch über die formale Minderberechtigung von Frauen hinaus hochgradig männlich konnotiert. Die Männlichkeit der Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert wurde verschiedentlich wissenssoziologisch als Affinität zwischen den staats- und nationsfixierten Geschichtskonzepten der Zeit, die sich vor allem mit herausragenden männlichen Akteuren der Vergangenheit befassten, und ihren Vertretern, den Mitgliedern der staatsnahen Historikerzunft, beschrieben. Diese wissenssoziologische Konstellation, in der Männer der Geschichte als Subjekte und Objekte ihrer Forschungen im Zentrum stehen, müsste für die historiographische Produktion und die bürgerliche Geschichtskultur in der Schweiz und in Österreich noch genauer erforscht und differenziert werden.94 Jedoch bereits jetzt lässt sich zeigen, dass sich der im historiographischen Wissen angelegte und in den Hochschulinstitutionen auf Dauer gestellte Nexus zwischen Geschichtswissenschaft und Männlichkeit in der disziplinären Sozialisation von Historikern fortsetzte. Das ausgesprochen männliche gendering der Geschichtswissenschaft konnte dabei an die stark männliche Codierung von Wissenschaft insgesamt anschließen und von zahlreichen Gelegenheiten exklusiv männlicher Soziabilität profitieren. Zahlreiche Gelegenheiten männlicher Geselligkeit im Umfeld des universitären Betriebs, aber auch im Rahmen der bürgerlichen Vereinskultur boten die Möglichkeit, einen Habitus als Historiker einzuüben, der mit männlichen Solidaritäten rechnete. Neben den Anlässen der Verbindungen ermöglichten Diskussionskreise und Stammtische verschiedene fachspezifische Spielarten des Austauschs vom rein beruflichen Gespräch bis zur über akademische Themen hinausgehenden Männerfreundschaft. Ein Beispiel für die verbreiteten studentischen Kränzchen und Zirkel stellt das „historisch-antiquarische Kränzchen“ dar, das der junge Karl Dändliker mit drei Freunden gründete. Die drei lasen einander selbstverfasste Arbeiten vor und studierten gemeinsam historiographische Werke. Vor allem aber pflegten sie ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das sich in Freundschaftsbekundungen und in einer Gefühlssprache äußerte, die ihrem Interesse an Geschichte Ausdruck verlieh. Der stärker statusorientierte sogenannte „Löwenclub“ in Göttingen hingegen, in den der junge Gerold Meyer von Knonau eingeführt wurde, bot fortgeschrittenen Akademikern ein Forum für anregende Unterhaltungen und Vorträge aus verschiedenen Fachrichtungen. In Wien wiederum trafen sich Historiker unter anderem in der „Mittwochgesellschaft“ im Umfeld des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung zu Bierabenden, die von fachpolitischen Diskussionen 94
„Innerhalb dieser männlichen, sich selbst begründenden Logik blieben Frauen sowohl als Objekte wie auch als Subjekte historischen Interesses ausgeblendet“. Friedrich/MazohlWallnig: Frauen und Geschichtswissenschaft, S. 362. Hinweise auf ein gleichwohl hohes Aneignungspotential nationaler Narrative durch weibliche Historikerinnen finden sich bei Herrmann: Au croisement des impasses.
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4. Forschungsökonomien: Die Rolle von Verwandtschaft und Geschlecht
begleitet waren, oder im akademischen Verein deutscher Historiker.95 Fachsimpelei, Beziehungspflege und Fachpolitik ließen sich in Bierrunden locker verbinden, wie Postkarten zeigen, die junge Historiker ihren wissenschaftlichen Mentoren anlässlich von „Kneipereien“ schickten. Ihre Botschaften verbanden männerbündischen Burschenhumor spielerisch mit der Affirmation der eigenen fachlichen Verortung und mit Ehrbezeugungen an den Lehrer.96 Wie Grenzziehungen zwischen der männlichen Welt der Geschichtswissenschaft und der weiblich konnotierten Lebenswelt im geselligen Austausch unter Männern aktualisiert wurden, zeigt eine Episode auf, die Engelbert Mühlbacher 1879 Julius Ficker mit großem Vergnügen mitteilte. Der gemeinsame Bekannte David Schönherr, ein Innsbrucker Historiker und Archivar, besuchte Wien, um berufliche Netzwerkarbeit zu betreiben. Schönherr sammelte nicht nur Geld für ein denkmalschützerisches Projekt im Tirol, sondern warb auch für seine Wahl in den Olymp der österreichischen Wissenschaft, die Akademie. Mühlbacher schilderte ironisch, wie sich Schönherr über passende Mitbringsel für seine Frau und seine Schwägerin den Kopf zerbrach und mit der kundigen Hilfe einer Bekannten je einen Unterrock erstand, „damit sie ihn bald wieder nach Wien ,ließen‘“.97 In der Erzählung Mühlbachers wird das weibliche Kleidungsstück geradezu überdeutlich zur Chiffre für eine (untere) weibliche Sphäre, der mit allerlei Tand Tribut gezollt werden muss, um männliche Arbeit an der Wissenschaft zu ermöglichen. Darüber hinaus lässt sich annehmen, dass die Orientierung an der Quellenerschließung in einem Zeitraum, in dem der Aktionsradius bürgerlicher Frauen im öffentlichen Raum durch zahllose Anstandszwänge beschränkt wurde, einen Ausschluss von Frauen aus einer sich rasant spezialisierenden Disziplin förderte. Wie gezeigt erforderten Quellenforschungen komplexe Interaktionen mit Akteuren der Geschichtsverwaltung und waren mit 95
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Karl Dändliker, Tagebuch 1. Januar–30. August 1868, Eintragung 08.01.1868, S. 3, ZBZ NL Karl Dändliker 4; Eintragung 11.01.1868, ebd, S. 5; Eintragung 31.01.1868, ebd., S. 11; Eintragung 04.02.1868, ebd. S. 18–20; Eintragung 11.02.1868, ebd., S. 22f. Vgl. auch das Akrostichon, das Rudolf Bölsterli, einer der Kränzchenteilnehmer, auf die drei Freunde dichtete, in: Guggenbühl: Karl Dändliker, S. 51f. Gerold Meyer von Knonau an Emerentiana Meyer von Knonau, 17.07.1866 aus Göttingen, ZBZ FA Meyer v. Konau 34u; 21.07.1866 aus Göttingen, ebd. Bierabende im Institutsmilieu: Lhotsky: Geschichte des Instituts, S. 153; Mittwochgesellschaft: Z. B. Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, 22.12.1893 aus Paris, Archiv IfÖG NL Mühlbacher: Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, Bogen 13; Akademischer Verein deutscher Historiker: Boguth: Die Gründung des akademischen Vereins. Z. B. Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher, 10.10.1894 aus Paris, Archiv IfÖG NL Mühlbacher, Dopsch an Mühlbacher; Michael Tangl an Engelbert Mühlbacher, 18.07.1890, Archiv IfÖG NL Mühlbacher: Michael Tangl an Engelbert Mühlbacher, fol. 2. Vgl. auch Michael Tangl an Engelbert Mühlbacher, 25.06.1897 aus Marburg, ebd., fol. 44r. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 28.11.1879 aus Wien, Archiv IfÖG, NL Ficker, Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 154.
4.4 Männer der Geschichte
205
kostspieligen Reisen in entlegene Orte verbunden. Der Zugriff auf Arbeitsapparate, Abschriftensammlungen und Suchhinweise war nicht durch eine Berufsrolle oder allgemeine Regelungen garantiert, sondern beruhte auf guten Beziehungen zu Kollegen und damit auch auf einer guten Vernetzung im geschichtswissenschaftlichen Feld. Allfällige Sanktionsmöglichkeiten gegenüber den Hütern der Quellen vor Ort hingen von guten Beziehungen zu Persönlichkeiten in Politik, Verwaltung und Kirche ab. Alle diese sozialen und infrastrukturellen Voraussetzungen waren Frauen in der Regel nur in beschränktem Maß erschließbar. Überdies beließ die geschlechterhierarchische familiäre Ordnung selbst private Quellenbestände in der Regel in den Händen der männlichen Familienmitglieder. Eine Ausnahme bildeten Witwen und Nonnen: Emerentiana Meyer von Knonau verwaltete die bedeutende Münz- und Medaillensammlung ihres verstorbenen Mannes. Sie schrieb ihrem Sohn über eine neubezogene Wohnung: „ Mein Schlafzimmer enthält alles Werthvolle, dem ich gerne selbst hüte, die Medaillenschränkchen, den alten Schreibtisch mit der Münzsammlung u[nd] dem Silberzeug, dann den schwarzen Sopha mit kleinem Tische davor.“98 Emil Ottenthal berichtete 1876 seinem Lehrer Theodor Sickel von seiner Archivreise in der Schweiz, dass die Klosterfrauen des Benediktinnerinnenklosters in Münster, die ihn zu den Archivalien in ein Gewölbe führten, ihm „eigentlich mehr helfen“99 konnten als seine primäre männliche Ansprechperson. Es würde nun aber zu kurz greifen, aus den genannten Ausschließungsmechanismen zu folgern, die Arbeitspraxis der Geschichtswissenschaft sei außerhalb der universitären Unterrichtssituation, zu der um die Wende zum 20. Jahrhundert zunehmend Studentinnen Zugang hatten, eine rein männliche gewesen. Von Ausnahmen abgesehen lässt sich die Teilhabe der Frauen an dieser Arbeitspraxis allerdings vor allem als Zuarbeit in jenem Raum ausmachen, der schon in der Frühen Neuzeit wichtige Forschungsinfrastrukturen bereitstellte: im Haushalt.
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Emerentiana Meyer von Knonau an Gerold Meyer von Knonau, 07.10.1864 aus Zürich, ZBZ FA Meyer v. Knonau 32ba. Emil Ottenthal an Theodor Sickel, 02.10.1876, Archiv IfÖG NL Sickel, Ottenthal an Sickel, fol. 6f., hier 6v. Vgl. auch die Erwähnung der Sozialdemokratin Emma Adler, die um die Jahrhundertwende im österreichischen Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien forschte, in Friedrich/Mazohl-Wallnig: Frauen und Geschichtswissenschaft, S. 365. Zu den Historikerwitwen vgl. 4.3.
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4. Forschungsökonomien: Die Rolle von Verwandtschaft und Geschlecht
4.5 Liebesdienste für die Forschung Im deutschsprachigen Raum gab es erst nach dem Ersten Weltkrieg geschichtswissenschaftliche Arbeitspaare100 im engeren Sinn, Paare mit fachspezifischer Hochschulbildung, die zusammenarbeiteten.101 Hingegen lässt sich für das lange 19. Jahrhundert untersuchen, auf welche Weise Amateurinnen an der geschichtswissenschaftlichen Forschung beteiligt waren und wie geschichtswissenschaftliche Forschungspraktiken von Mustern geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung durchdrungen waren.102 Im Rahmen einer dichotomen bürgerlichen Geschlechterordnung wurden die Tätigkeiten bürgerlicher Frauen als öffentlichkeits- und berufsfremd taxiert, was ihre Entlöhnung und formale Regulierung verhinderte. Dadurch muss die Praxis informeller weiblicher Mitarbeit aus verstreuten Erwähnungen rekonstruiert und in den Kontext wissenschaftlicher Produktion verortet werden. Mit vielen anderen weiblichen Angehörigen von Wissenschaftlern im 19. Jahrhundert teilten Ehefrauen von Historikern eine grundlegende Funktion im wissenschaftlichen Arbeitsprozess: Viele von ihnen arbeiteten bis weit nach 1900 für ihre Männer als Schreiberinnen. Sie stellten mit ihren Reinschriften aus Diktaten, Kladden, Notizzetteln und Entwürfen lesbare und versendbare Schriftstücke her und leisteten damit einen wesentlichen Beitrag zur Produktivität ihrer akademischen Partner, die dadurch von der 100
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Marilyn Bailey Ogilvie: Marital Collaboration. An Approach to Science, in: Helena M. Pycior/Nancy G. Slack/Pnina G. Abir-Am (Hrsg.): Creative Couples in the Sciences, New Brunswick, NJ 1996, S. 104–125. Für Beispiele geschichtswissenschaftlicher Arbeitspaare im engeren Sinn im deutschsprachigen Raum: Heiss: Von Österreichs deutscher Vergangenheit und Aufgabe, S. 44, 56f.; Friedrich/Mazohl-Wallnig: Frauen und Geschichtswissenschaft; Peter Schöttler: Lucie Varga – eine österreichische Historikerin im Umkreis der „Annales“ (1904–1941), in: ders. (Hrsg.): Lucie Varga, Zeitenwende: Mentalitätshistorische Studien 1936–1939, Frankfurt a. M. 1990, S. 13–110; Brigitta Oestreich: Hewig und Otto Hintze. Eine biographische Skizze, in: Geschichte und Gesellschaft 11/1985, S. 397–419; dies.: Hedwig Hintze geborene Guggenheimer (1884–1942). Wie wurde sie Deutschlands erste bedeutende Fachhistorikerin?, in: Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento 22/1996, S. 421–432. Vgl. Dorinda Outram: Familiennetzwerke und Familienprojekte in Frankreich um 1800, in: Wobbe (Hrsg.): Zwischen Vorderbühne und Hinterbühne, S. 73–82; Sandra Beaufays: Wie werden Wissenschaftler gemacht? Beobachtungen zur wechselseitigen Konstitution von Geschlecht und Wissenschaft, Bielefeld 2003; Wobbe: Instabile Beziehungen; Margaret W. Rossiter: „Women’s Work“ in Science, 1880–1910, in: Sally Gregory Kohlstedt (Hrsg.): History of Women in the Sciences. Readings from ISIS, Chicago/ London 1999, S. 287–403; dies.: Der (Matthäus) Matilda-Effekt in der Wissenschaft, in: Wobbe (Hrsg.): Zwischen Vorderbühne und Hinterbühne, S. 191–210; Debra Lindsay: Intimate Inmates. Wives, Households, and Science in Nineteenth Century America, in: Isis 89/1998, S. 631–652; Ilana Löwy: Le genre dans l’histoire sociale et culturelle des sciences, in: Annales 50/1995, S. 523–529; Londa Schiebinger: Schöne Geister. Frauen in den Anfängen der modernen Wissenschaft, Stuttgart 1993.
4.5 Liebesdienste für die Forschung
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reproduzierenden Arbeit entlastet wurden. So brachte Susanna DändlikerBosshart über die Hälfte von Dändlikers dreibändiger Schweizergeschichte zu Papier,103 und Bertha Meyer von Knonau amtete als Schreiberin der gesamten wissenschaftlichen Produktion ihres Mannes. Vermutlich erhielt nicht jede Professorengattin im Untersuchungszeitraum für diese Hilfstätigkeiten im gleichen Maß Anerkennung wie Bertha Meyer von Knonau-Held, der die Dankbarkeit jener Brief- und Arbeitspartner ihres Mannes sicher war, die Briefe aus ihrer Hand erhielten. Der Altphilologe Hugo Blümner ließ sein Gratulationsgedicht zum 70. Geburtstag seines Kollegen Meyer von Knonau im Jahr 1913 geradezu in eine Hymne an dessen Frau münden. Berta Meyers von Knonau Verdienst gehe weit über ihre Tätigkeit als „brave Hausfrau“ hinaus: „[...] Doch wär’ sein Name auch so viel genannt, / wenn nicht im Druck erschien, was er geschrieben? / Es wäre alles unbekannt geblieben, / wenn ihm der güt’ge Lenker unserer Welt / nicht diese Frau zur Seite hätt‘ gestellt. / Denn seine Schrift, – sie hat ein eigenes Wesen, / originell – nur äußerst schwer zu lesen. / Man sagt, dass unter seinen Schülern allen / ein einziger war – ich glaube in St. Gallen – / dem diese krause Schrift kein Rätsel war. / Dafür schreibt äußerst leserlich und klar / Frau Bertha, und so wurd es ihr nicht schwer, / zu functionieeren [sic] als sein Sekretär. / Viel tausend Seiten, ungefähr taxiert, / die hat er in die Feder ihr diktiert, – / Gutachten, Briefe, Bertoldstagsgedichte / und selbstverständlich vornehmlich Geschichte.“104
Nicht umsonst kontrastiert im Glückwunschgedicht die rätselvoll-originelle Subjektivität der unlesbaren Forscherschrift mit der klaren, aber sozusagen charakterlosen Lehrerinnenschrift der Ehefrau, die als vollkommen interferenzfreies Medium der Fachproduktion des Mannes, ja als Medium von Geschichte an sich dargestellt wird.105 Historiker konnten durch das Auslagern der Reinschriften und der Ordnungsarbeiten, die häufig damit einhergingen, nicht nur ihre Produktivität erhöhen, sondern auch ihren Forscherstatus betonen. Während der Arbeit an Quellen, die für Historiker im Untersuchungszeitraum bisweilen sogar einen Hauptbestandteil ihrer Tätigkeit ausmachte, vervielfachte sich die Schreibarbeit in spezifisch geschichtswissenschaftlichen Formen. Die Analyse verschiedener textueller Überlieferungen historischer Schriftstücke bedingte, dass nicht nur die Originale, sondern auch die verschiedenen Druck- und Regestenversionen immer wieder abgeschrieben und kollationiert wurden; Abschriften wurden seriell hergestellt, nach bestimm103 104 105
Guggenbühl: Karl Dändliker, S. 102. Hugo Blümner, Gratulationsgedicht zum 70. Geburtstag von Gerold Meyer von Knonau, August 1913, ZBZ FA Meyer v. Knonau 34d.7. Diese häusliche Tradition stellt die These von Kittler in Frage, wonach Frauen im neuen medialen Rahmen des zunehmend technisierten Büros um 1900 „auf dem Feld der Textverarbeitung“ in männliche Berufe eingedrungen seien, nämlich als Sekretärinnen, die Schreibmaschine schreiben konnten. Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, 1. Aufl., München 1985, S. 358–361.
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4. Forschungsökonomien: Die Rolle von Verwandtschaft und Geschlecht
ten Kriterien verzettelt und aufbewahrt und in Fußnoten von Editionen und Darstellungen eingearbeitet. Hier beteiligten sich Ehefrauen und weibliche Verwandte in verschiedenen Formen. In einem Zeitraum, in dem die vergleichende Beherrschung der unterschiedlichen schriftlichen Überlieferungen zu einem maßgeblichen Kennzeichen gelungener Quellenarbeit wurde, kam ihren Textverarbeitungstätigkeiten der Kollation, des Abschreibens und Ordnens außerhalb der Archive große Bedeutung zu. So war Theodor Sickels zweite Frau Anna Sickel-Semper eine äußerst geübte Textvergleicherin und Korrekturleserin, die auf kleinstteilige Textarbeit spezialisiert war. Gerold Meyer von Knonau zog seine Mutter und seine Frau für Registerarbeiten, Recherchen und Korrekturarbeiten heran. Geradezu unabdingbar wurden weibliche Hilfskräfte für den Urkundenspezialisten Richard Heuberger, der 1908 bis 1910 das Institut für Österreichische Geschichtsforschung absolvierte. Heuberger musste sich später während seiner Professorentätigkeit wegen einer Sehschwäche Quellen und Sekundärliteratur vorlesen lassen, was den Textvergleich gänzlich von seinen Vorleserinnen abhängig machte. Als Hilfskräfte standen ihm neben seiner Frau „vor allem befreundete“ und mit dem Paar „verwandte Damen“106 zur Verfügung. Ernst Gagliardi, der Schüler und Nachfolger Wilhelm Oechslis, heiratete im Alter von vierzig Jahren nach dem Tod der Mutter, mit der er zusammengelebt hatte, Emma Graf, die Stieftochter eines Onkels, die ihm fortan bei seinen Arbeiten behilflich war. Sein Lehrer Wilhelm Oechsli wiederum konnte auf die tatkräftige Hilfe seiner Tochter Elwine Berta Fehr-Oechsli zählen, die sehr genaue Kenntnisse von Oechslis Arbeit besaß. Als der Institutsabsolvent und Professor Wilhelm Erben 1926 als Hommage an seinen Lehrer Theodor Sickel eine Sammlung von Schriften und Briefen Sickels edierte, griff er auf die Transkriptionen seiner Frau und seiner Tochter zurück. In disziplinär verfassten Formen spielte sich das Korrekturlesen von Druckfahnen und das Anlegen von Registern ab, Arbeiten, die die 1881 geborene Mathilde Uhlirz – die 1939 in Graz die erste Geschichtsprofessorin an einer österreichischen Universität werden sollte – als Kind für ihren Vater, den Historiker und Archivar Karl Uhlirz, erledigte.107 Solche Zuarbeiten hingen unter anderem von der räumlichen Organisation der Infrastrukturen der Forschung und von ihrer Zugänglichkeit 106 107
Richard Heuberger: [Selbstdarstellung], in: Grass (Hrsg.), Österreichische Geschichtswissenschaft, S. 30. Anna Sickel-Semper: Theodor Sickel an Georg Waitz, 21.01.1879 aus Wien, abgedr. in: Wilhelm Erben: Georg Waitz und Theodor Sickel, 169f. Berta Meyer von Knonau und Emerentiana Meyer von Knonau: s. weiter unten. Emma Gagliardi-Graf: Georg Hoffmann: Ernst Gagliardi. Sein Leben und Wirken, Zürich 1943, S. 27, 107. Elwine FehrOechsli: David Wechsler: Wilhelm Oechsli. Diss. Univ. Zürich, Zürich 1945, S. 17, Fn. 10. Weibliche Verwandte Wilhelm Erbens: Erben: Theodor Sickel, S. VI; Mathilde Uhlirz: Mathilde Uhlirz: [Selbstdarstellung], in: Grass (Hrsg.), Österreichische Geschichtswissenschaft, S. 235–242: 238.
4.5 Liebesdienste für die Forschung
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ab. Aus Briefwechseln zwischen den untersuchten Forschern geht vielfach hervor, dass die Arbeit zuhause für alle Hochschulhistoriker die eigentliche Basis ihrer Berufspraxis darstellte. Dazu trugen die beengten Verhältnisse an den Universitäten und die oft kurzen Öffnungszeiten von Bibliotheken bei. Theodor Sickel etwa nahm, wie aus den Berichten Mühlbachers an Ficker hervorgeht, oft Teile von Arbeitsapparaten nachhause, um in Ruhe arbeiten zu können.108 Die Arbeitsinteraktionen zwischen Historikern und ihren weiblichen Familienmitgliedern fanden vorwiegend im bürgerlichen Heim statt, dessen Unterhalt den Frauen oblag und in dem sich die Sorge um die Quellenforschung mit ganz anderen Lebensbereichen kreuzte. Während in der Selbstdarstellung der Institutionen eine klare Grenzziehung zwischen Wissenschaftswelt und häuslicher Ordnung auszumachen ist, stellte sich der wissenschaftliche Alltag zuhause viel eher als Gebilde dar, das für verschiedene Arbeitsteilnehmer und -teilnehmerinnen durchlässig war, auch wenn es nicht immer so symbiotisch ausgestaltet war wie bei der Familie Meyer von Knonau.109 Gleichwohl lassen sich einige weitreichende institutionelle Unterschiede zwischen den verschiedenen Fallbeispielen ausmachen: Die Dozenten am Institut für Österreichische Geschichtsforschung, die sich auf hilfswissenschaftliche Themen spezialisiert hatten, konnten für ihre Arbeiten auf ein vergleichsweise großes Reservoir von instruierten und spezialisierten Studenten zählen, die sie für ihre Zwecke, etwa für Zusatzrecherchen im Rahmen von Institutsreisen oder für kleinere Zuarbeiten und Gefälligkeiten gegenüber Dritten, einsetzen konnten. Zudem wurden am Institut die quellenforscherischen Infrastrukturen in Form von Apparaten, Sammlungen und zunehmend auch Bibliotheksbeständen ausgebaut und standardisiert. Die besonders gute Ausstattung des Forschungsplatzes Wien stellte einen nicht zu unterschätzenden Standortvorteil der Wiener Quellenforschung dar. Davon zeugen die Klagen von Historikern, die in Provinzstädten arbeiten mussten.110 Im gleichen Zug bildete das Institut im Vergleich zum Zürcher Kontext und ab 1897 selbst im Vergleich zum allgemeinen Geschichtsunterricht an der Universität Wien eine strikt geschlechtersegregierte Sphäre. Durch die sehr intensive Nachwuchsförderung und die ausgebauten hilfswissenschaftlichen Infrastrukturen bestand weniger Bedarf nach weiblicher Zuarbeit als anderswo. Die Hilfsmittelsituation in Zürich, wo das Historische Seminar nur sehr langsam zu eigenen Bibliotheksbeständen kam, war damit nicht zu vergleichen. Die eigene, umfangreiche Bibliothek stellte deshalb für Meyer von Knonau nicht nur ein Prestigeobjekt, sondern eine unentbehr108 109 110
Z. B. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 18.07.1876 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 3. Vgl. die Überhöhung dieser Symbiose in: Meyer von Knonau: Meine Mutter, S. 3f. Vgl. Oberkofler/Goller: „Also so weit als möglich lebe ich in der Vergangenheit“, S. 92– 94.
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4. Forschungsökonomien: Die Rolle von Verwandtschaft und Geschlecht
liche Arbeitsgrundlage dar.111 Auch die Auswahl an Studierenden, die für spezialisierte hilfswissenschaftliche Arbeiten beigezogen werden konnten, war kleiner, so dass möglicherweise auch der Bedarf an weiblicher Mitarbeit größer blieb. Die Bildungskonstellation zwischen den Geschlechtern trug ebenfalls zur Ausgestaltung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung bei. Die Ehefrauen und Zuarbeiterinnen von Professoren waren im Untersuchungszeitraum in aller Regel nicht fachhistorisch geschult, sondern verfügten höchstens über eine höhere schulische Mädchenbildung. Die auf Sprachen und die schönen Künste ausgerichtete Bildung der Frauen sollte sich zwar in bildungsbürgerlichen Causerien bewähren, musste aber keineswegs auf wissenschaftliche Arbeiten vorbereiten. Die mediävistische oder altertumshistorische Quellenforschung in Spezialbereichen der Urkundenforschung, der Chronologie oder der mittelalterlichen Chronistik setzte hingegen eine Vielzahl hochspezialisierter Wissensbestände voraus, die sich die weiblichen Verwandten von Historikern im Untersuchungszeitraum in der Regel nur autodidaktisch aneignen konnten. Ein besonderes Hindernis gelehrter Mitarbeit stellte das Fehlen des Lateinunterrichts in den üblichen Curricula der Mädchenbildungsinstitutionen im Untersuchungszeitraum dar.112 Die weibliche Arbeitsentourage Meyers von Knonau kam beispielsweise mit dem Latein in den Fußnoten nicht zurecht, so dass die Mutter diese einem Studenten zur Abschrift gab. Bereits früher hatte Meyer von Knonau für Kopierarbeiten einen lateinkundigen „Zuchthäusler“ angestellt. Auch sechzig Jahre später blieben fehlende Lateinkenntnisse ein Problem weiblicher Zuarbeit, wie Richard Heuberger in seiner Selbstdarstellung bemerkte.113 Beispielhaft für die Bildung einer häuslichen Mitarbeiterin mag Bertha Meyers von Knonau Werdegang zur Professorengattin sein: Die Tochter einer verwitweten preussischen Offiziersfrau war eine sehr gute Schülerin und verfolgte eine höhere Ausbildung. Kurz vor Abschluss des Lehrerinnenseminars begann Meyer von Knonau, den sie als Zehnjährige kennengelernt hatte, um Bertha Held zu werben. Er trat als würdiger Gelehrter auf, dem 111 112
113
Vgl. Erika Sarauw: Ein Haus in Zürich Riesbach und seine Bewohner um die Jahrhundertwende, in: Zürcher Taschenbuch 106/1986, S. 123–156, hier S. 144f. Sowohl in Österreich als auch in der Schweiz gab es bis zum Ersten Weltkrieg im Bürgertum keinen einheitlichen, dem Jungengymnasium analogen höheren Schulbildungsgang für Mädchen. Ursi Blosser/Franziska Gerster: Töchter der guten Gesellschaft. Frauenrolle und Mädchenerziehung im schweizerischen Grossbürgertum um 1900, Zürich 1985, S. 177–181; Margret Friedrich: „Ein Paradies ist uns verschlossen.“ Zur Geschichte der schulischen Mädchenerziehung in Österreich im „langen“ 19. Jahrhundert, Wien 1999, bes. S. 228–230, 281, 395. Emerentiana Meyer von Knonau an Gerold Meyer von Knonau, 29.05./3.06.1864 aus Zürich, ZBZ FA Meyer v. Knonau 32ba.10. Beim Strafgefangenen handelte sich um den Bruder einer ehemaligen Magd der Mutter. Gerold Meyer von Knonau an Emerentiana Meyer von Knonau, 12.05.1864 aus Bonn, ZBZ FA Meyer v. Knonau 34u; 16.06.1864 aus Bonn, ebd.; 05.11.1865 aus Göttingen, ebd. Heuberger: [Selbstdarstellung], S. 31.
4.5 Liebesdienste für die Forschung
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seine Wissenschaft „eine heilige Sache ist als die Pflege der Wahrheit“114 , wie er der zukünftigen Schwiegermutter schrieb, als er um die Hand ihrer Tochter anhielt. Gegen den Willen seiner Tante, die ihm die Bekanntschaft mit der Familie der Braut vermittelt hatte, drängte der angehende Professor auf eine baldige Heirat, so dass die Achtzehnjährige wenige Wochen vor Studienabschluss das Seminar verließ.115 Weibliche Verdienste um gelehrte Leistungen wurden in Selbstdarstellungen nicht gänzlich unterschlagen, aber häufig nicht in ihrem ganzen Ausmaß sichtbar gemacht, weil die informelle weibliche Mitarbeit im 19. Jahrhundert als Selbstverständlichkeit stark im Geschlechter- und Eheverständnis bildungsbürgerlicher Paare verankert war. Gerold Meyer von Knonau legte die umfangreiche Mithilfe seiner Frau in seinen autobiographischen Aufzeichnungen nur umwunden offen. Sein Kollege Paul Schweizer hatte scherzhaft geäußert, Meyers von Knonau literarische Leistungen rührten gar nicht von ihm selbst her. Meyer von Knonau bestätigte, dass dies insofern wahr sei, als seine Frau umfangreiche Kopierarbeit habe verrichten müssen, und fügte rechtfertigend hinzu: „Aber dafür bin ich ihr auch immer herzlich dankbar gewesen und manchmal legte ich ihr als Beweis dafür eine Belohnung unter die Bogen.“116 Dass er das Geld unter dem Schreibbogen als Ausdruck der Dankbarkeit und nicht etwa als Entgelt für die geleistete Arbeit umschrieb, beruht auf einer Arbeitsordnung, die die Tätigkeit der Ehefrau eben nicht als Dienstleistung betrachtete, sondern als Liebesdienst, der tief in der moralischen Ökonomie der bürgerlichen Ehe- und Geschlechterordnung verankert war.117 Mit dieser Darstellung folgte der Historiker einer Vorstellung geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung, die seine Mutter lange Jahre in Zusammenarbeit mit ihm praktiziert hatte. In einer mütterlichen Lektion zum Thema der Gattinnenwahl, die sie dem Sohn und Ziehsohn Rahn zukommen ließ, figurierte weiblicher Altruismus im Anforderungskatalog an zukünftige Schwiegertöchter gleich an zweiter Stelle nach einer genuinen Religiosität: „Hieran [an die Religiosität, D.S.] schlißt sich die möglichste Selbstlosigkeit, freilich oft zum Missbrauch für Euch Ihr starken Herren; aber indem Ihr vielleicht die aufopfernde Liebe zu viel in Anspruch nehmt, könnt Ihr derselben doch Eure innere
114
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116 117
Gerold Meyer von Knonau an die Mutter von Bertha Held, 01.08.1872, zit. in: Bertha Meyer von Knonau, Nachtrag, 01.07.1931, in: Gerold Meyer von Knonau, Autobiographische Aufzeichnungen [1911–1931], S. 413, ZBZ FA Meyer v. Knonau 34.5. Gerold Meyer von Knonau, Autobiographische Aufzeichnungen [1911–1931], S. 151, ZBZ FA Meyer v. Knonau 34.5. Vgl. Schulzeugnis für Bertha Held, Höhere Töchterschule Torgau, 30.09.1868; Zeugnis für Bertha Held, Lehr- und Erziehungs-Anstalt für Töchter gebildeter Stände Dresden, 14.10.1871, ZBZ FA Meyer v. Knonau, 34ea. Meyer von Knonau, Autobiographische Aufzeichnungen [1911–1931], S. 17, ZBZ FA Meyer v. Knonau 34.5. Dazu vgl. Joris/Witzig: Aufmüpfige Frauen, brave Weiber, S. 278–283.
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4. Forschungsökonomien: Die Rolle von Verwandtschaft und Geschlecht
Bewunderung u[nd] Achtung nicht versagen.“118 Hier erscheint die uneigennützige Tatkraft der Ehegattin in einem Konzept spezifisch eheweiblicher Beziehungsarbeit verankert, das die moralische und praktische Bewirtschaftung der weiblichen Arbeitskraft ganz dem Ermessen des Ehegatten anheimstellt. In diesem Verständnis wurden ökonomische Aspekte weiblicher Arbeit in eine Sprache der Beziehungen und Gefühle übersetzt. In ihren Brautbriefen an Meyer von Knonau reflektierte Bertha Held ihren Entschluss, sich ohne Berufsabschluss mit dem zwölf Jahre älteren und vermögenden Zürcher zu verheiraten, in der Sprache der bräutlichen Liebe – als Ausdruck dessen, „dass Du mir viel, viel lieber bist, als so ein Bogen Papier mit einer Nummer drauf!“119 Wie aus anderen Briefstellen hervorgeht, wog sie gleichzeitig ihre Berufschancen als unverheiratete Frau durchaus illusionslos ab. Bertha Helds Alternative zur Heirat wäre gewesen, als Gouvernante in Stellungen zu gehen, was ihr wegen abschreckender Erfahrungsberichte aus ihrem Umfeld sehr widerstrebte. Wie der Bräutigam in ein Scherzgedicht gekleidet versicherte, war mit der Eheschließung nicht nur sie selbst nicht mehr den Zufällen solcher Erwerbsverhältnisse ausgeliefert, auch für das Unterkommen ihrer etwas älteren Schwester war damit langfristig gesorgt.120 Die im Eheverhältnis angelegte Manipulierbarkeit des weiblichen Arbeitsvermögens wurde oft implizit als umgekehrt proportional zu dessen intellektueller Leistungsfähigkeit gedacht. Männer wie Frauen reproduzierten dieses Stereotyp weiblicher Inferiorität. Emerentiana Meyer von Knonau, die selbst ungemein bildungshungrig und gebildet war, unterstrich rhetorisch ihren geringeren Bildungsgrad und glaubte von einer zukünftigen Schwiegertochter nicht verlangen zu können, dass sie im modernen Sinn gebildet, sehr wohl aber, dass sie verständig sei.121 Damit verfolgte sie eine Geschlechternorm, die sich kaum von derjenigen unterschied, die ihr bereits ihre Mutter in Form gereimter Merkverse nahegelegt hatte. In diesen war zwar alphabetisch etwa von „Bescheidenheit“, „Ordnung“, „Übung“ und „Wachsamkeit“ die Rede, nicht aber von intellektuellen Fähigkeiten.122 Es wundert deshalb nicht, dass Gerold Meyer von Knonau im Rückblick Wert darauf legte, dass seine Frau zwar die repetitive Arbeit des Kopierens erledigt, 118 119 120
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Meyer von Knonau an Gerold Meyer von Knonau, 07./11.04.1865 aus Zürich, ZBZ FA Meyer v. Knonau 32.ba.10. Hervorhebung im Original. Bertha Held an Gerold Meyer von Knonau, 04.02.1873 aus Torgau, ZBZ FA Meyer v. Knonau 34ea. Bertha Held an Gerold Meyer von Knonau, 14.02.1873 aus Torgau, ZBZ FA Meyer v. Knonau 34ea; 19.02.1873 aus Torgau, ebd.; 23.02.1873 aus Torgau, ebd. Die Schwester Lina lebte weiterhin mit der Mutter zusammen und zog später nach Zürich, wo sie im Alter zusammen mit ihrer Schwester den inzwischen emeritierten Professor umsorgte. Emerentiana Meyer von Knonau an Gerold Meyer von Knonau, 7./11.04.1865 aus Zürich, ZBZ FA Meyer v. Knonau 32.ba.10. „Goldenes A-B-C für ein Mädchen“, gereimte Merkverse, ZBZ FA Meyer v. Knonau, 32.ba.2.
4.5 Liebesdienste für die Forschung
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sich nicht aber intellektuell beteiligt habe. Noch in den Beschreibungen Richard Heubergers über seine Arbeit mit weiblichen Verwandten in der Zwischenkriegszeit, die ihm geduldig Bücher und Manuskripte reichten und daraus vorlasen, klingt diese Einschätzung an, wenn er schrieb, dass für solche Arbeiten Männer viel schlechter zu gebrauchen seien.123 Das Argument der mangelnden kreativen Forschungsleistung von Frauen wurde auch im institutionellen Rahmen verwendet, als es 1911 erstmals darum ging, am Institut für Österreichische Geschichtsforschung eine Frau zur Ergänzungsprüfung für den staatlichen Archivdienst zuzulassen. Ottenthal führte in seinem Bericht an das Ministerium nicht nur das effektvolle berufspolitische Argument an, dass die Berufschancen des männlichen Nachwuchses dadurch gemindert werden würden, sondern riet auch davon ab, Frauen im Institut auszubilden, „da das Institut in allererster Linie eine höhere methodische wissenschaftliche Ausbildung bieten soll, die geistige Leistungsfähigkeit des Schülermaterials aber durch Zulassung von Frauen im allgemeinen sicherlich nicht steigen sondern fallen würde.“124 Diese These war zwar weder besonders neu noch argumentativ auf das betroffene geschichtswissenschaftliche Wissen zugeschnitten, lag aber 1911 offenbar durchaus im zeitgenössischen Argumentationshorizont, wenn es darum ging, Frauen den Zugang zu einer Berufs- und Forschungsausbildung zu verwehren.125 Frauen tauchen also als Zuarbeiterinnen in den Selbstdarstellungen vorab als Verrichterinnen repetitiver Arbeit auf, nicht aber als wissenschaftliche Anregerinnen oder gar stille Koautorinnen. Diese Abgrenzung war aber nicht so eindeutig, wie die Dissertation Meyers von Knonau zeigt, die in zahlreichen Aspekten von weiblicher Zuarbeit profitieren konnte. Bevor Bertha Meyer von Knonau nach der Heirat 1873 die Funktion einer Schreiberin übernahm, setzte der Zürcher Historiker in den 1860er Jahren seine Mutter, seine Cousine und eine Tante ein. Er engagierte die weiblichen Verwandten für seine Dissertation und für andere Arbeiten nicht nur als Schreiberinnen, sondern auch für die anspruchsvollere Arbeit der Kollation von Texten. Überdies schickte die Archivarswitwe Emerentiana Meyer von Knonau ihrem Sohn nicht nur immer wieder benötigte Bücher an seine deutschen Studienorte, sie ließ sich auch für Bibliotheksgänge und Nachforschungen einspannen. Die Auftragslisten für Recherchen, die sie von ihrem Sohn erhielt, erforderten einige Fertigkeit im Finden von edierten Quellenstellen und ein Verständnis mittelalterlicher Überlieferungen. Schließlich half die Mutter, die Publikation an Fachkollegen zu verschicken, und die Hausangestellte Sophie trug die ungewöhnlich gut123 124 125
Heuberger: [Selbstdarstellung], S. 31. Emil Ottenthal an das Ministerium für Cultus und Unterricht, 17.05.1911, Konzept, Archiv IfÖG, Institutsakten: Karton 1910–1911. Ottenthal hatte bereits einige Jahre früher als Professor in Innsbruck ein ähnlich ablehnendes Gutachten zum Frauenstudium verfasst. Barth-Scalmani: Studentinnen der Geschichtswissenschaft, S. 306.
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4. Forschungsökonomien: Die Rolle von Verwandtschaft und Geschlecht
ausgestattete Monographie an verschiedene Empfänger in Zürich aus.126 Der patrizische Haushalt der Meyers von Knonau kann als Beispiel für die von Monika Mommertz für das 18. Jahrhundert konstatierte „Schattenökonomie der Wissenschaft“ gelten, in der die weibliche Arbeit in Wissenschafterhaushalten an die Arbeitszusammenhänge wissenschaftlicher Institutionen gekoppelt und damit genutzt, kontrolliert und gleichzeitig unsichtbar gemacht wurde.127 Während aber im von Mommertz untersuchten Astronomenhaushalt weibliche Arbeit zuhause noch als Bestandteil der finanziell entlohnten Erwerbsarbeit einkalkuliert wurde, erscheinen die Arbeitsleistungen der weiblichen Haushaltshaltsmitglieder nach 1840 als Teil weiblicher Beziehungsarbeit in der Familie umgedeutet. Die Forschungsarbeit, die Emerentiana Meyer von Knonau für ihren Sohn leistete, zeigt auf, dass die Grenze, die Historiker selbst zwischen Forschung und weiblicher Handwerksarbeit zogen, keineswegs undurchlässig war. Selbstzeugnisse und Briefe verweisen allerdings darauf, dass diese Grauzone zwischen weiblicher Zuarbeit und wissenschaftlicher Autorschaft in vielen Fällen zugunsten einer klaren Grenzziehung wieder eingedämmt wurde. So ging die Beanspruchung mütterlicher Mitarbeit im Falle der Meyers von Knonau nicht so weit, dass sie eine Verwischung der Geschlechterrollen nach sich gezogen hätte. Die Mutter kontrollierte die Bücherwirtschaft ihres Sohnes und erhielt detaillierte Rechtfertigungen für dessen umfangreiche Einkäufe. Sie war es auch, die bis zu ihrem Tod die Bibliothek des Sohnes in Ordnung hielt und die Münzsammlung der Familie wissenschaftlichen Besuchern zugänglich machte.128 Da sie die Bestände sehr genau kannte, verwundert es nicht, dass sie einem bekannten Studenten während der Studienzeit des Sohnes in Berlin einige Bücher lieh. Meyer von Knonau reagierte darauf sehr verstimmt: „Ich will keine Leihbibliothek anlegen und auch Du ließest Dir gewiss nicht gerne in Deiner Abwesenheit in Deine Wäscheschränke 126
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Emerentiana Meyer von Knonau an Gerold Meyer von Knonau, 07.04.1864 aus Zürich, ZBZ FA Meyer v. Knonau 32ba.10. Recherchelisten: Gerold Meyer von Knonau an Emerentiana Meyer von Knonau, 16.06.1864 aus Bonn, ZBZ FA Meyer v. Knonau 34u; 19.04.1865 aus Prag, ebd. Die Mutter schrieb chronikalischen Stellen heraus, sammelte Nachweise ungedruckter Quellen und ging onomastischen Problemen nach. Gerold Meyer von Knonau an Emerentiana Meyer von Knonau, 03.06.1866 aus Göttingen, ZBZ FA Meyer v. Knonau 34u; 24.12.1865 aus Göttingen, ebd. Monika Mommertz: Schattenökonomie der Wissenschaft. Geschlechterordnung und Arbeitssysteme in der Astronomie der Berliner Akademie der Wissenschaften im 18. Jahrhundert, in: Wobbe (Hrsg.): Frauen in Akademie und Wissenschaft, S. 31–64: 33. In der Koppelung der weiblichen astronomischen Arbeit im Haushalt (der vorher der Ort eines eigenständigen astronomischen Arbeitssystems gewesen war), mit dem Arbeitssystem der Akademie sieht Mommertz im 18. Jh. eine neue Phase der wissenschaftlichen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung erreicht, ebd., S. 34. Diese asymmetrische Koppelung von Haushalt und akademischer Institution trifft auch auf die Geschichtsforschung des 19. Jahrhunderts zu. Meyer von Knonau: Meine Mutter, S. 1.
4.5 Liebesdienste für die Forschung
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guken. Eine Bibliothek ist so gut ein Stück Ausdruck der innersten Individualität, wie eine Correspondenz. Nicht für ungut!“129 Damit beanspruchte der Sohn die Verfügungsmacht über seine Bücher und befestigte nicht nur die geschlechtsspezifische Arbeitsordnung, sondern auch eine geschlechtsspezifische Ausformung von Subjektivität. Über die Analogisierung und gleichzeitige Gegenüberstellung von Wäscheschrank und Forscherbibliothek wurde die Bibliothek hier zum Symbol bildungsbürgerlich-männlicher Subjekthaftigkeit, während die weibliche Subjektivität auf die Sphäre des Haushalts zurückverwiesen wurde. Auch praktisch setzte sich der Sohn mit seinen kostspieligen Bücherkäufen durch. Eine solche Festschreibung der weiblichen Position als wissenschaftsfern lässt sich auch für Bertha Meyer von Knonaus Beiträge beobachten. Neben einem Teil der professoralen Alltagskorrespondenz, Meyers autobiographischen Erinnerungen und zahlreichen Publikationen flossen unter anderem alle Bände annalistischer Texte, die Meyer von Knonau über Jahrzehnte hinweg für die Reihe der „Jahrbücher des deutschen Reiches“ erstellte, durch ihre Feder. Angesichts der Arbeitslast, die mit Meyers von Knonau professionellem Engagement verbunden war, trug sie wahrscheinlich auch dazu bei, das umfangreiche Quellenmaterial, das dazu herbeigeschafft werden musste, zu ordnen und zu vergleichen. Darüber hinaus legte sie Register an und versah Korrekturarbeiten.130 Diese vielfältige Involviertheit klingt auch im letzten Abschnitt der oben erwähnten Hommage Blümners an: „[...]Von alledem tat viel sie profitieren – / sie könnte sicherlich brav promovieren, / magna cum laude – darauf möchte’ ich wetten, / wenn wir die Noten nicht beseitigt hätten. / Doch heute lassen wir’s einmal beim Alten / und wollen unsere Noten beibehalten. / Einstimmig wird hier von allen Tischgenossen / in offner Abstimmung, wie folgt, beschlossen: / Frau Bertha hat das Ehestandsexamen / summa cum laude absolviert. Amen!“131
Mit der Umwandlung der für ein philosophisches Doktorat verlangten Kenntnisse in die Anforderungen eines „Ehestandsexamens“ für die Professorsgattin wurde die Transformation der wissenschaftlichen Mitarbeit Meyer von Knonau-Helds in ein Bewährungsstück ehelicher Pflicht rhetorisch vollzogen. Diese Umdeutung zeigt auf, wie der weibliche Arbeitsbeitrag in geschichtswissenschaftlichen Zusammenhängen nicht nur aufgrund seiner Inhalte und Leistungen qualifiziert wurde, sondern in erster Linie aufgrund seiner Ausführung durch Frauen. Junge Forscher verbrachten im Rahmen der mediävistischen Quellenforschung viel Zeit damit, in Archiven und Bibliotheken textuelle Überlieferungen aufzuspüren und abzuschreiben. Die Kollationsarbeit wurde im Rahmen der Ausbildung am Institut für 129 130 131
Gerold Meyer von Knonau an Emerentiana Meyer von Knonau, 02.05.1866 aus Göttingen, ZBZ FA Meyer v. Knonau 34u. Escher: Gerold Meyer v. Knonau, S. 38. Hugo Blümner, Gratulationsgedicht zum 70. Geburtstag von Gerold Meyer von Knonau, August 1913, ZBZ FA Meyer v. Knonau 34d.7. Hervorhebung im Original.
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4. Forschungsökonomien: Die Rolle von Verwandtschaft und Geschlecht
Österreichische Geschichtsforschung als Prüfstein hilfswissenschaftlicher Professionalisierung benotet. Auch wenn Forscher mit zunehmenden Entscheidungsbefugnissen und Erfahrungen es sich leisten konnten, über die Langeweile des Kollationierens zu klagen und so ihren akademischen Ehrgeiz zu betonen, werteten sie diese für neue Arbeitsergebnisse zentralen Praktiken damit nicht automatisch ab. Eine Abspaltung des abschreibenden Vergleichens als rein mechanische Arbeit setzte vor allem dann ein, wenn sie von Frauen geleistet wurde. Diese Minderbeurteilung weiblicher Beiträge zur geschichtswissenschaftlichen Arbeit kann somit als Beleg für die von Karin Hausen beschriebene große Elastizität eines Prinzips der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung verstanden werden, das – bei allen Veränderungen im Verhältnis zwischen konkreten Arbeiten –der von Frauen ausgeübten Arbeit mit bemerkenswerter Konstanz jeweils einen niedrigeren Status zuweist.132 Die Grenzziehungen, die an diesen Beispielen deutlich werden, bestätigen auch die These von Theresa Wobbe, wonach das für das 19. Jahrhundert neue Verständnis von Wissenschaft als Beruf in besonderer Weise die Ausschlussmechanismen gegenüber Frauen verstärkte, indem es die übergreifende Wirkmacht der polaren Auffassung der Geschlechterdifferenz durch die Betonung des Auseinandertretens von Beruf und Familie, Öffentlichem und Privatem erhöhte.133 In Blümners Würdigung der Professorsgattin wurde deren Arbeit durch die Attribute weiblich konnotierter Häuslichkeit und Beziehungsarbeit tatsächlich der Welt wissenschaftlicher Leistungen enthoben. Wie oben gezeigt wurde, kann die bezahlte Arbeit von akademisch ausgebildeten Frauen im Rahmen von geschichtswissenschaftlichen Forschungsinstitutionen bis zum Ersten Weltkrieg nur für wenige Fälle in der Schweiz belegt werden. Gleichwohl bahnte sich eine langsame Veränderung des geschlechtsspezifischen Arbeitsarrangements ab, das zwischen unbezahlter verwandtschaftlicher weiblicher Zuarbeit und männlicher Forschung unterschied, als Frauen in Zürich 1863 und in Wien 1897 zum Studium zugelassen wurden. Die spezifischen Erfahrungen der Geschichtsstudentinnen, ihre Forschungsleistungen während des Studiums, ihre weiteren Erwerbsverläufe und Erkenntnisinteressen verdienten eine eigene Untersuchung. Es soll aber zumindest danach gefragt werden, wie diese zögerliche Deinstitutionalisierung des Ausschlusses von Frauen ins Berufsverständnis und in die Arbeitspraxis der untersuchten Hochschulhistoriker einging. Bekanntermaßen war der formale Einlass von Frauen in die Universität und zu Forschungsausbildungen äußerst umstritten.134 Als die ersten Studen132 133 134
Karin Hausen: Wirtschaften mit der Geschlechterordnung. Ein Essay, in: Wobbe (Hrsg.): Zwischen Vorderbühne und Hinterbühne., S. 83–108: 91f. Wobbe: Instabile Beziehungen, S. 23. Vgl. Elisabeth Berger: „Ich will auch studieren“. Zur Geschichte des Frauenstudiums an der Universität Wien, in: Wiener Geschichtsblätter 57/2002, S. 269–290; Heindl/
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tinnen zu den Autoritätsschmieden der Wissenschaften zugelassen wurden, etablierten sich aufgeregte Diskurse um studierende Damen, deren Recht, männlichen Studierenden Konkurrenz zu machen, und deren Potential, die Wissenschaften zu verändern, zur Diskussion standen. Besonders die universitätsgeschichtliche Darstellung des Zürcher Geschichtsprofessors Ernst Gagliardi zur Zulassung der ersten Frauen verdient hier Beachtung. Ernst Gagliardi studierte um die Jahrhundertwende bei Wilhelm Oechsli und Meyer von Knonau und traf als Student auf Geschichte studierende Kommilitoninnen. Obwohl kein prinzipieller Gegner des Frauenstudiums, zeigte Gagliardi Verständnis für die Widerstände gewisser Universitätsangehöriger gegenüber den vor allem osteuropäischen Studentinnen, die in der ersten großen Immatrikulationswelle der 1870er Jahre die Flure der Universität bevölkert hatten. Er beschrieb die gelehrten „Mannweiber“ jener Zeit mit misogynen und wiederholt antisemitischen Stereotypen, die erklären sollten, weshalb die Studentinnen auf Widerstand und Ablehnung stießen.135 Dagegen lässt sich bei seinem älteren Lehrer und Kollegen Gerold Meyer von Knonau eine etwas subtilere Auseinandersetzung mit seinen weiblichen Studenten finden. Der aktive Befürworter des Frauenstudiums führte in seiner Autobiographie seine Studentinnen zum Teil namentlich an. Anders als bei seinen männlichen Studenten verzichtete er allerdings darauf, deren wissenschaftlichen Leistungen zu würdigen.136 Über die vorübergehend in Zürich studierende Mathilde Büdinger, die Tochter Max Büdingers und Schwester seines Patenkindes, notierte er rückblickend, dass die Bildungsausweise, die sie zur Immatrikulation vorlegte, später nicht mehr genügt haben würden. Auf ihre Studien ging er aber nicht ein. Wie bei anderen Studentinnen erwähnte er dann eine Episode aus Mathilde Büdingers Studienzeit, die eine als typisch weiblich gesehene Attitüde ironisierte: Die Studentin brachte ihn in Verlegenheit, indem sie im Rektoratszimmer aufs Kanapee stieg, um vor dem darüber hängenden Spiegel ihre Toilette aufzufrischen.137 Die Zuschreibung von Weiblichkeitsstereotypen und die unterlassene Nennung der wissenschaftlichen Leistungen der Studentinnen brachten eine effektvolle rhetorische Grenzziehung zwischen Wissenschaftlichkeit und Weiblichkeit hervor.
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Tichy (Hrsg.): „Durch Erkenntnis zu Freiheit und Glück...“; Verein Feministische Wissenschaft Schweiz (Hrsg.): „Ebenso neu als kühn“. Gagliardi: Die Universität Zürich 1833–1933, S. 626–640. Meyer von Knonau nannte Meta von Salis, die erste Schweizerin, die in Geschichte promovierte, „etwas sonderbar“, verzichtete aber auf Charakterisierungen ihrer Arbeit. Die ausgewiesene Historikerin Christine Hoiningen-Huene, die er als Rektor immatrikulierte, führte er als geschiedene, „schon ziemlich reife Dame“ ein, die ihm später, „da sie an Verfolgungswahn litt, allerlei Ungelegenheiten bereitete“. Gerold Meyer von Knonau, Autobiographische Aufzeichnungen [1911–1931], S 279, ZBZ FA Meyer v. Knonau 34.5. Zu Hoiningen-Huene S. Fn. 91. Gerold Meyer von Knonau, Autobiographische Aufzeichnungen [1911–1931], S. 279, ZBZ FA Meyer v. Knonau 34.5.
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4. Forschungsökonomien: Die Rolle von Verwandtschaft und Geschlecht
Solche Bemühungen lassen eine subkutane Beunruhigung erkennen, die durch die zunehmende geschichtswissenschaftliche Präsenz von Frauen ausgelöst wurde. Eine gleichsam beiläufige Auseinandersetzung mit dem schleichenden Wandel, der sich durch die akademische Qualifikation einiger weniger Frauen ankündigte, fand an verschiedenen Jubiläumsfeiern statt, die nicht nur der Würdigung von Historikerpersönlichkeiten, sondern auch der Aktualisierung der symbolischen Genealogie des Faches dienten. Als Gerold Meyer von Knonau und sein Freund Johann Rudolf Rahn im Jahr 1900 ihr dreißigstes Berufungsjubiläum feierten, lobte ihr Kollege, der Geschichtsprofessor Paul Schweizer, die beiden Jubilare für ihre Verdienste um das Frauenstudium. Laut einem Zeitungsbericht fügte er an, „dass die Gemahlinnen der Gelehrten ohne akademisches Studium sich dennoch große, vielleicht größere Verdienste um die Wissenschaft erworben durch treue Unterstützung ihrer Gatten“.138 Diese Einschätzung, die die Verdienste der ersten Studentinnen den Verdiensten der Gattinnen gegenüberstellte, implizierte, dass sich die uneigennützigen weiblichen Liebesdienste für die Forschung nicht mehr von selbst verstanden. Bei der Eremitierung Meyers von Knonau zwanzig Jahre später dachte der damalige Rektor Rudolf Fueter an die freundliche Atmosphäre im Haus des Historikers zurück, wo dessen Frau immer „warmes Verständis für die Historie“139 aufgebracht hatte, und hob damit ebenfalls die Rolle der Professorengattin als umsorgender Gehilfin ihres Mannes nostalgisch hervor. Ganz anders würdigte Alfred Stern aus gleichem Anlass die Aufgaben für Frauen im Feld der Geschichtswissenschaft. Er gedachte in seiner Rede ausdrücklich „der Arbeiten der Historikerinnen“140 und zollte damit den Verschiebungen der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung im Feld der Geschichtswissenschaft Tribut. Mit dieser unverdrossenen Referenz an den gesellschaftlichen Wandel legte der betagte Liberale ein Bekenntnis zum Universalismus der Aufklärung ab, den er auch auf die Geschlechterordnung bezog.141 Allerdings blieb das Inklusionsangebot, das aus seiner Würdigung sprach, noch lange weitgehend ein Versprechen. Die Geschichtswissenschaft und mit ihr die Quellenforschung bildete also im Untersuchungszeitraum einen hochgradig männlich konnotierten Raum, dessen Grenzen über den Ausschluss von Frauen und ihre anhaltende Minderberechtigung hinaus immer wieder symbolisch aktualisiert wurden. Männliche Soziabilität förderte für Männer den Zugriff aufs Arbeitsmaterial, 138 139 140 141
F. M.: Ein Doppeljubiläum, in: NZZ, 24. Oktober 1900, Nr. 295. Hermann Escher: Feier für Prof. Meyer von Knonau, in: NZZ, 18. Oktober 1920, Nr. 1713. Hermann Escher: Feier für Prof. Meyer von Knonau, in: NZZ, 18. Oktober 1920, Nr. 1713. Vgl. auch Alfred Stern: Mary Wollstonecraft. Die erste Vorkämpferin der Gleichberechtigung der Frau, in: ders.: Reden, Vorträge und Abhandlungen, Stuttgart/Berlin 1914, S. 167–188.
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weibliche Anstandszwänge und fehlende Beruflichkeit erschwerten Frauen den Zugang zu Archiven und Informationen. Die Arbeit von Frauen bildete hingegen als geschlechtsspezifische Arbeitsteilung des Gelehrtenhaushalts einen wichtigen Bestandteil der geschichtswissenschaftlichen Praxis, der weitgehend unsichtbar und nicht formalisiert blieb. Die Sozialisation zum erfolgreichen Quellenforscher und eine erfolgreiche Berufslaufbahn waren im Untersuchungszeitraum kaum denkbar ohne die Zuarbeit weiblicher Haushaltsmitglieder und Verwandter, die vielfältige praktische Beiträge lieferten. Diese weiblichen Beiträge wurden im Rahmen der bürgerlichen Ehe- und Geschlechterkonzepte aber weniger als fachliche Mitarbeit denn als Liebesdienst betrachtet und somit oft nicht explizit gemacht. Durch deren Deutung und Darstellung als Beziehungsarbeit wurden die Arbeitsleistungen der Frauen zudem als Zuarbeiten eingeschätzt, die der männlichen Arbeit nicht gleichwertig waren. Dennoch erwies sich in der Praxis die Trennlinie zwischen handwerklicher Hilfsarbeit und intellektuell anspruchsvoller Forschung als so unscharf, dass die männliche Persona des Geschichtsforschers in symbolischen Grenzziehungsbemühungen von einer weiblichen, wissenschaftsfremden Subjektivität abgehoben werden musste. Trotz der zunehmenden Institutionalisierung der Forschung spielten darüber hinaus auch verwandtschaftliche Beziehungen als soziale Bezugsfelder, Bestandteile forscherischer Infrastrukturen und Elemente der Ressourcenallokation in der geschichtswissenschaftlichen Praxis des 19. Jahrhunderts trotz der zunehmenden Institutionalisierung der Forschung eine große Rolle. Symbolische Genealogien stellten fachliche Herkunftsnarrative zur Verfügung, in die sich Historiker einfügen konnten und die sie benutzten, um ihrem Fach Glanz zu verleihen. Verwandtschaftlich gebundene Ressourcen bildeten über die Jugendjahre von Historikern hinaus wichtige Elemente des wissenschaftlichen Erfolgs. Umgekehrt konnten eine unterbürgerliche Herkunft und mangelnde verwandtschaftlich verfügbare Ressourcen eine erhebliche Hypothek bilden, wie das Beispiel Engelbert Mühlbachers zeigt. Aber auch im Prozess der Berufsfindung und Laufbahngestaltung spielte die verwandtschaftliche Begleitung von Historikern eine große Rolle. Der familiäre Hintergrund bot einen wichtigen Bezugsraum aus Einstellungen, Werten und Erwartungen, auf den sich die intellektuelle und emotionale Auseinandersetzung mit den eigenen Berufswünschen beziehen musste. Die Beispiele legen nahe, dass den Müttern in diesen Auseinandersetzungen eine mindestens ebenso wichtige Rolle zukam wie den Vätern. In den vertieften Fallbeispielen wird überdies sichtbar, dass die Aneignung der Persona des Geschichtsforschers oft sehr stark an die emotionalen und intellektuellen Leidenschaften der Quellenforschung gebunden war. Gerade dieser Aspekt des Historikerwerdens war es aber, der von den Verwandten häufig wenig gewürdigt und anerkannt wurde, nicht zuletzt wohl deshalb, weil er im Untersuchungszeitraum nur ansatzweise mit beruflicher Erwerbsarbeit in Verbindung gebracht werden konnte. Die Ausweitung der akademischen Quellenforschung in der zweiten Hälfte
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4. Forschungsökonomien: Die Rolle von Verwandtschaft und Geschlecht
des 19. Jahrhundert wurde nicht nur von Seite des Staates und der wissenschaftlichen Organisationen, sondern in vielen Fällen auch von privater Hand betrieben und blieb entgegen dem wissenschaftlichen Autonomieideal mit der Sphäre der Verwandtschaft verbunden. Besonders deutlich wird dies an der Situation des Erbfalls von Nachlässen. Diese Erbgeschichten lassen sich als Transaktionen zugunsten der institutionalisierten Geschichtswissenschaft beschreiben, die nicht nur verwandtschaftlich gebundenes in wissenschaftliches Kapital, sondern oft in mehrfacher Hinsicht weibliches in männliches Kapital verwandelten. In die Hinterlassenschaften von Kollegen, um die sich die Historiker bemühten, war schon zu Lebzeiten der Wissenschaftler oft weibliches Kapital eingegangen – in direkter Form als von der Frau in die Ehe eingebrachtes Vermögen, in indirekter Form als weibliche Arbeitsleistungen.
5. Materialberge: Die Sammlungspraktiken eines Urkundenregisters Historiker des 19. Jahrhunderts erschienen im Blick ihrer Zeitgenossen oft als Quellensammler, die mit der Besessenheit von Schatzsuchern alle denkbaren Repositorien historischer Überreste durchforsteten. Ihr überbordender Jagdeifer wurde je nach Perspektive zum Inbegriff eines wissenschaftlichen Heroismus oder zum Sinnbild historischer Pedanterie, einer „Notizenkleberei historischer Sandbienen“1 , wie ein anonymer Rezensent 1855 in der Neuen Zürcher Zeitung kritisch vermerkte. Geschichtsgelehrte, die Hinterlassenschaften der Vergangenheit dem Vergessen entreißen wollten, bevölkerten auch literarische Bestseller: Gustav Freytags Roman „Die verlorene Handschrift“ (1864) der in den Augen seines begeisterten Lesers Gerold Meyer von Knonau eine „ausgezeichnete Apotheose des deutschen Gelehrten“2 darstellte, verklärte den Quellensucher zum Ideal des deutschen Kulturarbeiters. Johann Christoph Heer, der sich von der schillernden Figur des Zürcher Kulturhistorikers Salomon Vögelin inspirieren ließ, stellte in seinem Roman „Felix Notvest“ (1901) den historischen Sammlungsdrang als patriotische Tat dem Materialismus und der Geschichtsvergessenheit des industriellen Zeitalters entgegen.3 Die literarischen Motive historischen Sammelns verweisen darauf, wie wichtig die materielle Aneignung des Historischen für das Selbstverständnis des Bildungsbürgertums des 19. und frühen 20. Jahrhunderts war.4 Histo1 2 3
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[Anonym]: O Codex Bernensis, in: Neue Zürcher Zeitung 7.1.1855, Nr. 7–8. Gerold Meyer von Knonau an Emerentiana Meyer von Knonau, 27.11.1864 aus Berlin, ZB FA Meyer v. Knonau 34u. Gustav Freytag: Die verlorene Handschrift, Leipzig 1864; Johann Christoph Heer: Felix Notvest, Zürich 1901. In beiden – äusserst populären – Romanen finden sich mit dem heroischen Professor Felix Werner und dem gelehrten Faktotum Magister Knirps (Freytag) beziehungsweise dem idealgetriebenen Pfarrer und Historiker Felix Notvest und dem habgierigen Antiquitätenhändler Joseph Lombardi (Heer) sowohl positive wie auch negative Motivvarianten. Vgl. Alyssa Lonner: History’s Attic. Artifacts, Museums, and Historical Rupture in Gustav Freytag’s Die verlorene Handschrift, in: Germanic Review 82/2007, S. 321–342; Klaus Pezold (Hrsg.): Geschichte der deutschsprachigen Schweizer Literatur im 20. Jahrhundert, Berlin 1991, S. 15, 26f. Vgl. z. B. Crane: Collecting and Historical Consciousness. Solche am materiellen Objekt ausgerichteten Sammlungspraktiken laßen sich in den intermedialen Zusammenhang der Geschichtsaktualisierungen in der bildenden Kunst und Literatur, der Denkmalpflege, den entstehenden Massenmedien und der bürgerlichen Festkultur einbetten. Vgl. z. B. Werner Telesko: Geschichtsraum Österreich. Die Habsburger und ihre Geschichte in der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts, Wien 2006; Tschirner: Museum, Photographie und Reproduktion; Samuels: The Spectacular Past; Sylvia Paletschek (Hrsg.): Popular Historio-
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5. Materialberge: Die Sammlungspraktiken eines Urkundenregisters
risches Sammeln ist aber auch wissenschaftsgeschichtlich aufschlussreich: Angeregt durch kunsthistorische Arbeiten hat die Wissenschaftsgeschichte die Geschichte von Sammlungen als Möglichkeit entdeckt, die Repräsentationspolitiken und epistemischen Ordnungen, die Sachkultur und die ästhetischen Arrangements der Wissenschaft zu untersuchen. Sammlungsprozesse erscheinen dabei nicht als kompilatorische Vorarbeiten zu wissenschaftlichen Innovationen, sondern als komplexe Verfahren der Wissensgewinnung.5 Eine Aufwertung erfährt das historische Sammeln auch in der Perspektive einer Mediengeschichte, die sich für die Speichermedien von Geschichte interessiert. In der Historiographiegeschichte wurden historische Sammlungstätigkeiten hingegen bisher nur ansatzweise als eigenständiger Forschungsaspekt behandelt.6 Im Untersuchungszeitraum spielten von Museen, Vereinen und privaten Sammlern errichtete Urkundensammlungen, numismatische Kollektionen und andere Ensembles historischer Dinge eine wichtige Rolle für die gesellschaftliche Präsenz der Geschichte.7 Diese materiale Kultur der Geschichte ist bisher insbesondere in ihrer ökonomischen Dimension nur wenig erforscht.
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graphies in the 19th and 20th Centuries. Cultural Meanings, Social Practices, Oxford 2010; Barbara Korte/dies., (Hrsg.): Popular History Now and Then. International Perspectives, Bielefeld 2012. Anke te Heesen/Emma C. Spary: Sammeln als Wissen, in: dies. (Hrsg.): Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung, Göttingen 2001, S. 7–21:8; Vgl. auch Aleida Assmann/Monika Gomille/Gabriele Rippl: Sammler – Bibliophile – Exzentriker, Tübingen 1998; Christoph Becker: Vom Raritäten-Kabinett zur Sammlung als Institution. Sammeln und Ordnen im Zeitalter der Aufklärung, Egelsbach/ Frankfurt a. M. 1996; Andreas Grote (Hrsg.): Macrocosmos in microcosmo. Die Welt in der Stube, Zur Geschichte des Sammelns 1450 bis 1800, Opladen 1994; Krzysztof Pomian: Sammlungen – eine historische Typologie, in: ebd., S. 107–126. Ernst: Im Namen von Geschichte; Crane: Collecting and Historical Consciousness. National- und regionalhistorische Museen sowie historische Abteilungen an Landes- und Weltausstellungen integrierten nun historische Sammlungen für breitere Bevölkerungskreise in den Deutungszusammenhang national-, regional- und volksgeschichtlicher Identitätsangebote. Vgl. Puchalski: Vom Parnassus Ossolinius zur Nationalschatzkammer; Sommer: Das Steiermärkische Landesmuseum Joanneum; Hastaba: „Unser Museum ist die Vereinigungsstätte“; Rauchensteiner: Nation ohne Museum; Renate Kohn: Wiener Inschriftensammler vom 17. zum beginnenden 19. Jahrhundert, Wien 1998; Fliedl/ Muttenthaler/Posch (Hrsg.): Museumsraum, Museumszeit; Mais: Historische und kulturhistorische Sammlungen; Messerli: Das Schweizerische Landesmuseum; Senn: Die Sammel- und Vermittlungstätigkeit, S. 9f.; Tommy Sturzenegger: Der grosse Streit. Wie das Landesmuseum nach Zürich kam, Zürich 1999; Hanspeter Draeyer: Das Schweizerische Landesmuseum Zürich. Bau- und Entwicklungsgeschichte 1889–1998, Zürich 1999; Josef Brülisauer: Archive, Bibliotheken und Museen als Grundlage der Geschichtsforschung in der Innerschweiz, in: Historisches Seminar der Universität Luzern (Hrsg.): Geschichte in der Zentralschweiz. Forschung und Unterricht, Zürich 1994, S. 1–23; Karl Zimmermann: Chronikalische Notizen zur Museumsgeschichte, in: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 54/1994, S. 371–459; Meinrad G. Lienert: Zur Geschichte des schweizerischen Ausstellungswesens, in: Schweiz. Landesausstellung 1939 (Hrsg.): Die Schweiz im Spiegel der Landesausstellung, Zürich 1940, S. 52–59.
5. Materialberge: Die Sammlungspraktiken eines Urkundenregisters
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Skandale um Versteigerungen, Urkundenhandel und Fälschungsaffären verweisen darauf, dass die historische Sammlungspraxis sich zum Teil auf einem regen, internationalen antiquarischen Markt abspielte.8 In vielen Fällen zog historisches Sammeln indessen nicht eine dauerhafte örtliche Verrückung oder den Ankauf des Sammlungsguts nach sich, sondern bestand in der abschriftlichen Aufnahme von historischem Schriftgut, das anschließend in neue schriftliche Zusammenhänge überführt wurde. Als solches bildete es einen alltäglichen Bestandteil der geschichtswissenschaftlichen Praxis. Darüber hinaus stellte abschriftliches Sammeln einen ersten Arbeitsschritt bei der Produktion von Editionen dar, die den Wortlaut schriftlicher Quellen zur Verfügung stellen sollten.9 Quellenregister und -regesten dagegen beschränkten sich vor allem auf den Sammlungsaspekt. Sie orteten und erfassten umfangreiche Quellenbestände, ohne wie Editionen deren Inhalte integral wiedergeben zu wollen. Die Ausdrücke Register (beziehungsweise registrum oder regestrum) und Regest (beziehungsweise regestum) bilden im Deutschen und Mittellateinischen ein zusammenhängendes semantisches Feld. Im Rahmen administrativer Prozeduren bezeichnet „Register“ seit dem Mittelalter ein fortlaufendes Verzeichnis von Namen, Bestimmungen oder Einnahmen. Unter Regesten wiederum wurden zusammenfassende Auszüge der Merkmale und Inhalte eines Dokuments verstanden. Register listeten in Registraturen von Administrationen und Archiven solche kurze Zusammenfassungen von Urkunden, Akten und anderen Schriftgutsorten auf. Sie wurden so zu Repertorien, deren Hauptaufgabe das physische Auffinden von abgelegten Dokumenten war. Diese Ordnungs- und Findfunktion von Registern äußert sich sprachlich darin, dass der Begriff im Mittellateinischen vom Aufbewahrungsmedium auch auf den Indikator einer Registerstelle, den Merkfaden – und von da aus auf das Glockenzugseil und auf Schnüre schlechthin – überging. Die Quellenregister, die ausschließlich historischen Interessen dienten, entstanden zwar erst im Rahmen der neuzeitlichen Geschichtsforschung. Sie hatten jedoch eine lange Vorgeschichte in diesen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen
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In den Korrespondenzen der untersuchten Historiker finden sich zahlreiche Hinweise. Cause célèbre in der Schweiz war die berühmte Sammlung des Berner Politikers und Sammlers Karl Bürki, dessen Kollektionen 1882 von seinen Erben teilweise ins Ausland versteigert wurden. Zimmermann: Chronikalische Notizen, S. 371f. Auch die Pfahlbauerforschung in der Schweiz des 19. Jahrhunderts war stark durch die ökonomischen Interessen der Sammler bestimmt. Kauz: Zur Praxis antiquarisch-prähistorischer Forschung. Vgl. auch Philipp Müller: Doing historical research in the early nineteenth century. Leopold Ranke, the archive policy, and the Relazioni of Venetian Republic, in: Storia della Storiografia 56/2009, S. 80–102; Ugo Tucci: Ranke and the Venetian Document Market, in: Iggers/Powell (Hrsg.): Leopold von Ranke and the Shaping of Historical Discipline, S. 99– 108. Vgl. Kap. 7.
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5. Materialberge: Die Sammlungspraktiken eines Urkundenregisters
Administrationspraktiken und wiesen eine innere Verwandtschaft mit dem Wissens- und Herrschaftszusammenhang des Archivs auf.10 Im Zentrum des vorliegenden Kapitels steht eine solche registerförmige Quellensammlung, die historische Quellen aus dem Gebiet der Schweiz in Archiven, Sammlungen, Bibliotheken und Druckwerken nachweisen sollte. Das von der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz herausgegebene Schweizerische Urkundenregister erschien in den Jahren 1863 und 1877 in zwei Bänden. Das umfangreiche Projekt ermöglicht facettenreiche Einblicke in die Genese von Quellensammlungen, weil das Publikationsvorhaben am Schnittpunkt von geselliger Geschichtsforschung im Vereinskontext und akademischer Geschichtswissenschaft angesiedelt war, eine große Zahl von Mitarbeitern einbezog und im Lauf seiner Realisierung zunehmend von Konflikten begleitet war.11 Die beiden Zürcher Professoren Georg von Wyss und Gerold Meyer von Knonau spielten eine wichtige Rolle bei der wissenschaftlichen Begleitung des Unternehmens, das unter der langjährigen redaktionellen Leitung Basilius Hidbers über 120 Beiträger einbezog. Der Blick auf die verschiedenen Phasen des Projekts erlaubt es in einem ersten Schritt, die Sammlungspraktiken der beteiligten Akteure im Hinblick auf die gesellschaftlichen Mobilisierungsverläufe und die sie leitenden politischen Konzepte zu untersuchen, die dem Projekt öffentliche Ressourcen erschlossen (Kapitel 5.1 und 5.2). Anschließend soll der Aufbau wissenschaftlicher Infrastrukturen wie auch die Kooperation unter den Akteuren betrachtet werden, die die Registrierung Tausender von mittelalterlichen Urkunden aus der ganzen Schweiz erst ermöglichten (Kapitel 5.3 und 5.4). Im letzten Teil stehen schließlich die epistemischen Praktiken der Registrierung im Zentrum: Die heterogenen Mitarbeiter, die sich um das Urkundenregister bemühten, brachten durchaus unterschiedliche Verständnisse der „schweizerischen Urkunde“ beziehungsweise ihrer Registrierung mit. Die Untersuchung der konzeptuellen Vorentscheidungen der Registerredaktion 10
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Auf die Nähe des Registers zum Ordnen, Führen und Regieren wies Adelungs Wörterbuch ausdrücklich hin, indem es festhielt, dass die Bedeutung von „Register“ als „Werkzeug, vermittelst dessen mehrere Dinge einer Art beweget werden“ (wie etwa beim Orgelregister) auf die Verwandtschaft zum lateinischen regere zurückgehe. Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 3, Wien 1811, Sp. 1025–1027: 1027. Zur Begriffsgeschichte des Registers s. auch Charles du Fresne Du Cange (Hrsg.): Glossarium mediae et infimae Latinitatis, Niort 1883–1887, Bd. 7, S. 91f.; Jacob u. Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, 33 Bde., Leipzig 1854– 1960, Bd. 14 (1893) (fotomechan. Nachdr. der Erstausg., Leipzig 1984, Bd. 8), S. 540– 542: 542; Johann Heinrich Zedler (Hrsg.): Grosses vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste, Halle/Leipzig 1732–1754 (Nachdr. Graz 1993–1999), Bd. 30, S. 1778, 1866f. Schweizerisches Urkundenregister, hrsg. mit Unterstützung der Bundesbehörden von der allgemeinen geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz, Bern 1863–1877; Basilius Hidber (Hrsg.): Diplomata Helvetica Varia. Vermischte Schweizerische Urkunden, Als Beilage zum Schweizerischen Urkundenregister hrsg., Bern 1873.
5.1 Die Politik der nationalen Urkunde: Geschichte ohne Darstellung
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wie auch der Umsetzung, Verhandlung und Durchkreuzung dieser Vorgaben durch die beteiligten Akteure erlaubt die Rekonstruktion von Konzepten, Objektverständnissen und Arbeitsstandards der historischen Forschung (Kapitel 5.5 bis 5.7).
5.1 Die Politik der nationalen Urkunde: Geschichte ohne Darstellung Neue historische Forschungsunternehmen wie das Schweizerische Urkundenregister mussten auf bereits vorhandene Interessenlagen und institutionelle Arrangements Rücksicht nehmen, wenn sie sich um gesellschaftliche Aufmerksamkeit und um die Mobilisierung von Ressourcen bemühten: Neben kirchlichen und privaten Instanzen, die sich um die Erschließung von lokalen und regionalen Quellenbeständen bemühten, traten im 19. Jahrhundert die Nationalstaaten in zunehmendem Maß als Geschichtsunternehmer auf, die geschichtswissenschaftliche Sammlungsprojekte in großem Stil durchführten oder finanzierten.12 In der Schweiz hatte die bundesstaatliche Forschungsförderung allerdings noch kaum eingesetzt, als sich die Allgemeine Geschichtforschende Gesellschaft in den 1850er Jahren um die öffentliche Finanzierung eines Urkundensammlungsprojekts zu kümmern begann. Die Gesellschaft musste deshalb die gesellschaftliche und politische Relevanz des Projekts, „schweizerische Urkunden“ des Mittelalters zu registrieren, in der Öffentlichkeit glaubhaft machen, ohne auf ausgereifte Konzepte einer nationalen Wissenschaftspolitik zurückgreifen zu können. Das Vorhaben des Schweizerischen Urkundenregisters war das Ergebnis langjähriger Bemühungen um die Erfassung ungedruckter Quellen aus der Schweiz. Die Allgemeine Geschichtforschende Gesellschaft der Schweiz hatte von Beginn an die Veröffentlichung von historischem Material in den Mittelpunkt ihrer Tätigkeit gestellt. In den Statuten waren als Gesellschaftszweck unter anderem „Publicationen (wo möglich auch größere: Monumenta)“13 aufgeführt. Die Publikationen der Gesellschaft, allen voran das Archiv für Schweizerische Geschichte, sollten als wichtigste Aufgabe eine „ächte Materialiensammlung“14 bieten und explizit eher Geschichtsforschung denn Geschichtsschreibung betreiben. Neben der Veröffentlichung einzelner 12 13 14
Für eine Übersicht s. Saxer: Monumental Undertakings. Statuten der allgemeinen geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz, in: Archiv für Schweizerische Geschichte 1/1843, S. XVIIf.: XVII. Bei dieser Zweckbestimmung wurde allerdings festgehalten, dass der Unterschied zwischen Geschichtsschreibung und -forschung „indessen zu wenig präcis & klar gefunden werde, um ihn als eigentliche Regel aufzustellen“. Sitzung der provisorischen Vorsteherschaft vom 25.5.1841, Protokolle des Gesellschaftsrates der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz 1841–1887, S. 7, BAR J II. 127 -/1:1.
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5. Materialberge: Die Sammlungspraktiken eines Urkundenregisters
Fundstücke war im Archiv für Schweizerische Geschichte auch eine Bestandesaufnahme von Quellen vorwiegend nicht-narrativer Art aus Schweizer Archiven vorgesehen.15 Schon 1842 indessen wurden diese Archivaufnahmen ausgegliedert und durch eine selbständige Regestenpublikation ersetzt, die in den Jahren 1851–1854 unter der Leitung des Churer Historikers Theodor von Mohr herauskam.16 Diese Regesten, die sich von der Arbeit des Frankfurter Reichshistorikers Johann Friedrich Böhmer beeinflussen ließen, sollten Quellenaufnahmen bieten und gleichzeitig als eigentliche Archivrepertorien fungieren, die Forschern einen systematischen Überblick in die bislang oft noch wenig bekannten und geordneten Archivbestände ermöglichten. Die Regierungen der meisten Kantone unterstützten das Infrastrukturprojekt bis zur Bundesstaatsgründung 1848 regelmäßig mit finanziellen Beiträgen. Allerdings kam das Unternehmen im Jahr 1854, als von Mohr starb, mit der Veröffentlichung des zweiten Bandes zu einem vorzeitigen Ende. Diese personelle Zäsur wurde für die Gesellschaft zum Anlass, ihre Publikationsprojekte zu überdenken.17 Bereits 1850 war die schon ältere Idee einer umfassenden Urkundenedition erneut vorgebracht worden. Der Luzerner Urkundenforscher Joseph Eutych Kopp schlug vor: „Il serait publié un codex diplomaticus enfermant un codex saecularis et un codex ecclesiasticus“18 , der auch in ausländischen Archiven liegende Urkunden beinhalten sollte. Damit nahm er ein ehrgeiziges Projekt des Solothurner historischen Vereins auf. Der Vorschlag einer solchen integralen Urkundenedition wurde bei der erneuten Thematisierung möglicher Sammlungsvorhaben 1854 zugunsten eines dritten, maßgeblich von Basilius Hidber propagierten Projekts zurückgestellt.19 Das Schweizerische Urkun15
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Vgl. Die Zürcherischen Königs- und Kaiserregesten aus dem Zeitraume von 852–1400, bearb. Gerold Meyer von Knonau, in: Archiv für Schweizerische Geschichte 1/1843, S. 69– 140; Regesten des Archivs der Stadt Baden im Aargau, bearb. Carl von Reding und Theodor von Mohr, in: Archiv für Schweizerische Geschichte 2/1844, S. 29–200. Sitzung der Vorsteherschaft vom 2.10.1842, Protokolle des Gesellschaftsrates der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz 1841–1887, S. 15–16: 15, BAR J II. 127 -/1:1. Vgl. Theodor von Mohr (Hrsg.): Die Regesten der Archive in der schweizerischen Eidgenossenschaft. Auf Anregung der schweizerischen Geschichtsforschenden Gesellschaft hrsg., Chur 1851–1854. Sitzung der Vorsteherschaft vom 18.09.1854, Protokolle des Gesellschaftsrates der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz 1841–1887, S. 86, BAR J II. 127 -/1:1. Zu den Unterstützungsleistungen der Kantone, die in den meisten Fällen finanzieller Art waren, teilweise aber auch nur die Archivöffnung betrafen, s. Sitzung der Vorsteherschaft vom 27.09.1844, Protokolle des Gesellschaftsrates der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz 1841–1887, S. 37–42: 38, BAR J II. 127 -/1:1; Sitzung 23.09.1845, ebd., S. 45. Sitzung der Vorsteherschaft vom 31.07.1850, Protokolle des Gesellschaftsrates der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz 1841–1887, S. 74–75: 74, BAR J II. 127 -/1:1. Hervorhebung im Original. Sitzung der Vorsteherschaft vom 18.09.1854, Protokolle des Gesellschaftsrates der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz 1841–1887, S. 86,
5.1 Die Politik der nationalen Urkunde: Geschichte ohne Darstellung
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denregister, das alle mittelalterlichen Urkunden aus dem geographischen Gebiet der modernen Schweiz in Form knapper Registereinträge aufnehmen sollte, führte mit seiner umfassenden, auf eine geographisch definierte Vollständigkeit abzielenden Anlage die Bestandesaufnahmen der Mohrschen Regesten fort, favorisierte gegenüber diesen aber eine kompaktere Erfassungsform, eine durchgehende chronologische Anordnung und eine strenge Beschränkung auf Urkunden. Weswegen sich die Allgemeine Geschichtforschende Gesellschaft für das Urkundenregister entschied, lässt sich nur indirekt erschließen.20 Im Rückblick wurde das noch nicht sehr weit gediehene Mohrsche Regestenwerk als gescheitert betrachtet, denn für viele wichtige Archive liessen sich keine Bearbeiter finden, und die bereits vorhandenen Aufnahmen erschienen retrospektiv als zu wenig regelhaft durchgeführt. Die Regesten Mohrs erschienen mit dem doppelten Anspruch, umfassende Regesten zu liefern und Archivkorpora vollständig abzubilden, zu groß angelegt. Dies galt erst recht für das Projekt eines codex diplomaticus, das allerdings erst Ende der 1850er Jahre auch als Fernziel aus den Traktanden verschwand.21 Der Vorschlag eines knappen Registers führte hingegen das Versprechen mit sich, vom Arbeitsumfang her absehbarer und vor allem auch finanzierbar zu sein, was inzwischen stärker ins Gewicht fiel. Denn nach der Bundesstaatsgründung hatten die Kantonalregierungen dem Regestenwerk die Geldbeiträge entzogen, weil sie die Subvention der nationalen historischen Gesellschaft nun als Sache der Bundesbehörden betrachteten. Diese wollten aber nicht ohne weiteres einspringen.22 Den größeren Kantonalvereinen hingegen gelang es vielfach, mit kantonalen Geldern erfolgreich eigene Quellenforschungsunternehmen zu etablieren, womit die lokalen Historiker bereits reiche Ressourcen an sich gebunden hatten. Die Argumentation der Geschichtforschenden Gesellschaft richtete sich nun am geschichtspolitischen Repräsentationsbedürfnis des Bundesstaats aus, der als offizieller staatlicher Träger eines schweizerischen Geschichtsbewusstseins angesprochen wurde. Dabei betonte die Gesellschaft ihre Rolle als überkantonale Einheitsgesellschaft, die sie dazu prädestinierte, den Gesamtstaat betreffende Projekte durchzuführen, damit „über dem Einzelnen auch das Ganze, über den verschiedenen Theilen des schweize-
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BAR J II. 127 -/1:1. Vgl. Urban Winistörfer an Basilius Hidber, 22.01.1855 aus Solothurn, BB Bern, N: Mss.h.h.XXVI.103; 23.07.1856 aus Solothurn, ebd.; 7.11.1856 aus Solothurn, ebd., 27.07.1857 aus Solothurn, ebd. Für die Jahre 1855–1857 fehlen Protokolleinträge zu den Gesellschaftssitzungen. Vgl. Georg von Wyss und Josef Ignaz Amiet an das Eidgenössische Departement des Innern, 19.10.1870, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 85. Ein letztes Mal wurde das Vorhaben eines integralen codex diplomaticus 1858 protokollarisch festgehalten. Sitzung der Vorsteherschaft vom 25.05.1858, Protokolle des Gesellschaftsrates der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz 1841–1887, S. 89–92: 91, BAR J II. 127 -/1:1. Basilius Hidber an Georg von Wyss, 03.11.1854 aus Bern, ZBZ FA v. Wyss IX 316.1.
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5. Materialberge: Die Sammlungspraktiken eines Urkundenregisters
rischen Vaterlandes seine Gesammtheit nicht vergessen [...] werde“.23 Der Politik wurden Grundlagenarbeiten angeboten, die das „erste Erforderniß um der Geschichte unseres Vaterlandes eine sichere Grundlage zu geben und eine unumstößliche Geschichtsdarstellung möglich zu machen“, erfüllen sollten.24 Hier erschien die Geschichtsdarstellung nur als Fernziel einer streng auf Fakten aufbauenden, objektiven Wahrheitsfindung. Die Betonung der strengen Faktenerarbeitung verstärkte die auf das Staatsganze abzielende offizielle Linie der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft. Diese musste um jeden Preis vermeiden, als Sprachrohr eines der verschiedenen Landesteile, einer bestimmten politischen Gruppierung oder einer Konfession zu erscheinen. Dieses Programm einer Geschichtskenntnis ohne Geschichtsschreibung machte vor dem Hintergrund der politischen und konfessionellen Antagonismen in der Schweiz und der nicht weit zurückliegenden Bürgerkriegserfahrung von 1847/48 unmittelbar Sinn: Die moderne Schweiz war aus Konflikten hervorgegangen, die sich mit sehr unterschiedlichen Deutungen der Revolutionen ab 1798, aber auch der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geschichte in Verbindung bringen ließen. Die im frühen Bundesstaat anstehende Integration des im Bürgerkrieg unterlegenen katholisch-konservativen Lagers in den liberal dominierten Staat etwa hätte durch die Verfolgung eines Geschichtsprogramms in der Form von historiographischen Arbeiten gefährdet werden können.25 Mit dem Sammlungsvorhaben hingegen konnte ein Forschungsbedarf geltend gemacht werden, der gleichsam selbsterklärend war und wenig politisches Konfliktpotential bot. Das wohlwollende Gutachten, das die ab 1860 erfolgende Subvention des Urkundenregisters bewirkte, hob folglich auch nicht das Fernziel der Geschichtsschreibung hervor, sondern betonte den Sammlungseifer der Beteiligten und die positiven Auswirkungen auf die Erschließung der Archive in der Schweiz.26 Dass das Urkundenregister seine Relevanz erfolgreich behauptete, kann 23 24 25
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Vorsteherschaft der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz an den schweizerischen Bundesrat, 6.12.1857, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 85. Vorsteherschaft der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz an den schweizerischen Bundesrat, undat. [1858], BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 85. Zur Rolle zahlreicher radikaler und liberaler katholischer Geistlicher im Kampf gegen die Jesuiten und für den liberalen Staat vor dem Sonderbundskrieg von 1847 und ihrer Marginalisierung seit 1848 vgl. Josef Lang: Die beiden Katholizismen und die Krux der Schweizer Demokratie, in: Schweizerisches Bundesarchiv (Hrsg.): Die Erfindung der Demokratie in der Schweiz, Zürich 2004, S. 45–74; ders.: „Vernünftig und katholisch zugleich“. Katholische Radikale und antiklerikale Dynamik, in: Ernst/ Tanner/Weishaupt (Hrsg.): Revolution und Innovation, S. 259–270; Marco Iorio: „Gott mit uns“. Der Bund des Sonderbundes mit Gott, in: ebd., S. 245–258. Josef Karl Krüttli an das Eidgenössische Departement des Innern, Gutachten zur Subvention des Urkundenregisters vom 2.05.1860, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 85. Zu konkurrierenden Geschichtsbildern in der Schweiz des 19. Jahrhunderts vgl. Zimmer: A Contested Nation.
5.1 Die Politik der nationalen Urkunde: Geschichte ohne Darstellung
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auch auf das Überzeugungspotential der Quellensorte „Urkunde“ zurückgeführt werden. Das Urkundenregister hatte in den Augen aller Beteiligten „eine Gattung historischer Quellen zum Gegenstande, welche in ihrer Qualität als Rechtszeugnisse u[nd] unmittelbarste Beweise geschichtlicher Vorgänge die gewissenhafteste und sorgfältigste Behandlung, die genaueste Wiedergabe bis in das Einzelne erfordern“.27 Die Zeugnisqualität der Urkunde wurde durch die hohen Anforderungen an die Erfassung und Einordnung der Quellen aufgewertet. Außerdem eignete sich das Objekt der Urkunde hervorragend zur Rechtfertigung eines öffentlichen Subventionsbedarfs, weil es mit seiner Affinität zum Recht mit der politischen Sphäre in Verbindung stand. Der politische Erfolg der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft war überdies auf die Konvergenz mehrerer politischer Handlungsfelder zurückzuführen. Im Parlament wurde 1857 erstmals die Subvention von Wissenschaft und Kunst diskutiert.28 Nur wenig später rückte die gesellschaftliche Rolle der Vereine und Gesellschaften ins Bewusstsein der Bundespolitik. 1858 initiierte die statistische Bundesanstalt, das Statistische Bureau, eine Vereinsstatistik, die einerseits einen Überblick über die zahllosen Vereinigungen und Gesellschaften in den verschiedenen Kantonen bieten sollte, andererseits zivilgesellschaftliche Organisationen aller Art für zukünftige staatliche Datenerhebungen in Dienst zu nehmen versuchte.29 Die staatliche Förderung des Urkundenregisters erfolgte nach einer ersten erfolglosen Gesuchstellung zwei Jahre zuvor ab 1860 im Rahmen der erstmaligen Bundessubvention von insgesamt fünf Gesellschaften. Alle geförderten Gesellschaften führten „gemeinnützige vaterländische Werke“ im Programm, standen aber in keinem engeren inhaltlichen Zusammenhang zueinander. So wurden neben dem historischen Unternehmen drei landwirtschaftliche Vereinigungen und die Schweizerische Naturforschende Gesellschaft gefördert. Wie der Naturforschenden Gesellschaft, die Geld für eine geologische Karte der Schweiz erhielt, wurde der Geschichtforschenden Gesellschaft ein erstmaliger Bundesbeitrag von 3000 Franken ausgesprochen.30 In der Folge gelang es dem Urkundenregister, sich über siebzehn Jahre hinweg auf der Liste der Empfän27 28 29
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Bericht der Untersuchungskommission an das Eidgenössische Departement des Innern, 06.08.1873, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 86. Allgemeine Geschichtforschende Gesellschaft der Schweiz an den schweizerischen Bundesrat, 06.12.1857, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 85. Der Aufruf erfolgte erstmals 1858 und wurde in den folgenden Jahren regelmäßig weitergeführt. Aufruf des eidg[enössischen] Departements des Innern an die schweizerischen Vereine im In- und Auslande, in. Bundesblatt X.II/1858, 62 (31.12.1858), S. 387–389. Ein erster grösserer Zwischenbericht erfolgte 1860. Geschäftsbericht des Bundesrates pro 1859, Geschäftskreis des Departements des Innern, in: Bundesblatt XII.II/1860, 28 (26.05.1860), S. 103–148: 112f. Basilius Hidber an Urban Winistörfer, 16.05.1858 aus Bern, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103; 06.02.1859 aus Bern, ebd.; Geschäftsbericht pro 1859, Geschäftskreis des Departements des Innern, in: Bundesblatt der schweizerischen Eidgenossenschaft, XII.II/1860, 28 (26.05.1860), S. 103–148: 128. Verhandlungen des
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5. Materialberge: Die Sammlungspraktiken eines Urkundenregisters
ger von Bundessubventionen zu behaupten, obwohl sich die Subvention von Wissenschafts- und Forschungsaufgaben sonst praktisch ausschließlich auf die Eidgenössische Technische Hochschule beschränkte. Hinzu kam, dass die schweizerische Geschichte in den Anfängen der bundesstaatlichen Kulturförderung bereits vor der Finanzierung des Urkundenregisters einen wichtigen Förderungsbereich dargestellt hatte. Erstens wuchs die politische Beschäftigung mit vaterländischer Historie aus den administrativen Aufgaben des Bundes selbst heraus: Das Bundesarchiv etablierte sich als eine Institution, die nicht nur das Geschäftsschriftgut der neuesten Zeit ordnete und verwahrte, sondern die Neuordnung und Verwaltung älteren Materials, das vor die Gründung des modernen Bundesstaates zurückreichte, in Angriff nahm.31 Das neue Zentralarchiv war zugleich das Repositorium des Gedächtnisses des modernen Staates und Hüter der politischen Vorgeschichte der Schweiz. Es situierte sich an einer Scharnierstelle zwischen staatlicher Herrschaftssicherung, Regulierung des kollektiven historischen Gedächtnisses und Forschungsförderung. Dies wird besonders deutlich am Editionsunternehmen der Eidgenössischen Abschiede, die die Vorgeschichte der modernen schweizerischen Staatlichkeit als lange Tradition der Tagsatzung, der Versammlung der eidgenössischen Stände, editorisch herausarbeiteten. Sie waren bereits 1837 als gedrucktes Gesamtrepertorium begonnen worden und wurden seit 1852 unter der redaktorischen Ägide des Bundesarchivs weitergeführt. Die aus Regesten bestehende Publikation von Abschieden32 und verwandten Quellen begann mit dem sogenannten Bundesbrief, einer Urkunde von 1291, und konstruierte aus einer teilweise heterogenen Masse von Urkunden und anderen Quellen eine frühe Staatlichkeit im Spätmittelalter. Damit wurde der Vorstellung einer bis auf die Helvetik ungebrochenen, altdemokratischen schweizerischen Staatstradition Vorschub geleistet.33 Dem Schweizerischen Urkundenregister kam zugute, dass es als Ergänzung zu dieser erfolgreichen Edition gesehen werden konnte: Während
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schweizerischen Bundesrates vom 27. Februar 1860, Bundesblatt der schweizerischen Eidgenossenschaft, XII.I/1860, 9 (03.03.1860), S. 332f.: 332. Jakob Tanner: Von der „Brustwehr des Staates“ zum Dokumentenkorpus im Cyberspace, in: SZG 53/2003, S. 345–349: 345; Graf : „Arsenal der Staatsgewalt“ oder „Laboratorium der Geschichte?“, S. 69f.; Walter Meyrat: Das Schweizerische Bundesarchiv von 1798 bis zur Gegenwart, Bern 1972. Amtliche Sammlung der ältern eidgenössischen Abschiede. Mit den ewigen Bünden, den Friedbriefen und anderen Hauptverträgen, als Beilage, Hrsg. Joseph Eutych Kopp, Luzern 1839. Unter „Abschieden“ werden Protokolle oder Memoranden der Tagsatzung der Eidgenossenschaft, aber auch von anderen Tagungen wie derjenigen der Reichsstände oder von Staatenbünden wie etwa den Drei Bünden verstanden. Vgl. Catherine Santschi: „Abschiede“, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Vers. vom 1.3.2001, URL: http://www.hlsdhs-dss.ch/textes/d/D8955.php (17.4.2003). Vgl. Michael Jucker: Gesandte, Schreiber, Akten. politische Kommunikation auf eidgenössischen Tagsatzungen im Spätmittelalter, Zürich 2004, S. 33–72; Alfred Häberle: Die Amtliche Sammlung der ältern Eidgenössischen Abschiede. Entwurf zu einer Geschich-
5.1 Die Politik der nationalen Urkunde: Geschichte ohne Darstellung
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die Abschiede nicht vor das späte 13. Jahrhundert zurückgingen, bot das Urkundenregister gleichsam deren chronologischen Vorlauf. Neben weiteren Quellensammlungen34 übernahm das Bundesarchiv außerdem geschichtspolitische Beratungsaufgaben. So verfassten die Bundesarchivare Josef Karl Krütli und Jakob Kaiser Gutachten zum Schweizerischen Urkundenregister und verwendeten ihre Stellung in der Administration dazu, Einfluss auf den Verlauf des Projekts auszuüben.35 Zweitens richteten die Bundesbehörden auch außerhalb des administrativarchivalischen Rahmens ihr Augenmerk auf die Geschichtsforschung. In der Dritten Allgemeinen schweizerischen Ausstellung 1857, einer Vorläuferin der späteren Landesausstellungen, förderte das Eidgenössische Departement des Innern die vaterländische Geschichtsforschung im Rahmen der – erst kurz vor Ausstellungsbeginn eingeschobenen – literarischen Abteilung bereits in auffälliger Weise. Während die beiden goldenen Medaillen der literarischen Ausstellung an berühmte topographische und geologische Kartierungsarbeiten gingen, wurde ein großer Teil der zahlreichen silbernen und bronzenen Medaillen sowie der Verlagsprämierungen für historische Arbeiten vergeben.36 Das prominente Nebeneinander von naturwissenschaftlichen Werken und Publikationen aus der Geschichtsforschung verweist darauf, dass sich vaterländische Geschichte ganz selbstverständlich mit den neuesten Resultaten der Naturwissenschaften und ihren patriotischen Fortschrittsversprechungen auf eine Stufe stellen ließ. Vertretern der Geschichtsforschung gelang es offenbar relativ früh, politische Aufmerksamkeit für ihre Anliegen zu wecken, Legitimität zu behaupten und damit durch einen disziplinspezifischen, kollektiven Matthäus-Effekt37 zu einer Akkumulation positiver Einschätzungen zu gelangen.
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te des Unternehmens unter besonderer Berücksichtigung der Bearbeiter aus Luzern und der Innerschweiz, in: Der Geschichtsfreund 113/1960, S. 5–80: 15–20. Ab 1875 wurden Abschriftensammlungen von diplomatischen Dokumenten der Schweiz aus auswärtigen Archiven angelegt, später folgten weitere amtliche Aktensammlungen. Graf : „Arsenal der Staatsgewalt“ oder „Laboratorium der Geschichte“?, S. 69; Walter Meyrat (Bearb.): Die Abschriftensammlung des Bundesarchivs, Bern 1977, S. 9. Der Hauptpromotor des Urkundenregisters erkannte dies früh. Er schrieb 1860 über den Bundesarchivar Krütli: „Er wird künftig alleiniger eidg[enössischer] Archivar sein, wie ich bestimmt höre. Dies ist uns von grosser Wichtigkeit, da er dann stets Experte des Depart[ements] d[es] Innern sein wird.“ Basilius Hidber an Georg von Wyss, 05.02.1860 aus Bern, ZBZ FA v. Wyss IX 316.1. Preisgericht für die allgemeine schweizerische Ausstellung in Bern im Jahr 1957, Verzeichniss der an Exponenten zuerkannten Preise und Ehrenmeldungen, in: Bundesblatt IX.II/1857, 51 (17.10.1857), S. 289–293; 52 (22.10.1857), S. 306–313; 53 (23.10.1857) S. 317–332; 54 (28.10.1857), S. 333–354; 55 (31.10.1857), S. 357–367; 56 (02.11.1857), S. 371–382; 57 (6.11.1857), S. 383–391; 58 (10.11.1857), S. 395–419. Als „Matthew effect in Science“ bezeichnete Robert K. Merton die Tendenz, wissenschaftlichen Akteuren, die bereits eine hohe Reputation haben, weit mehr Kredit und Aufmerksamkeit für neue wissenschaftliche Ergebnisse zu schenken als unbekannten Akteuren: The Matthew Effect in Science, in: Science 159/1968, S. 56–63.
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5. Materialberge: Die Sammlungspraktiken eines Urkundenregisters
Die politische Aufmerksamkeit gegenüber den Möglichkeiten der historischen Forschung kam nicht zuletzt deswegen zustande, weil die Promotoren des Urkundenregisters sich in Netzwerken bewegten, die äußerst politiknahe waren. Die Überschaubarkeit der politischen Plattformen und die ausgesprochen flachen administrativen Hierarchien in der Bundeshauptstadt hielten die Durchlässigkeit der Kommunikation zwischen den Promotoren und den politischen Protagonisten aufrecht und erleichterten persönliche Kontakte. Besonders einfach war dies für den in Bern wohnhaften Hidber, der bereits seit 1854 bei Parlamentariern für die Projekte der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft geworben hatte und 1859 die Vorarbeiten zum Schweizerischen Urkundenregister übernahm. Hidber, ein gebürtiger Glarner, war ein umtriebiger Lehrer und Forscher, der eine vielseitige und materialreiche Forschungstätigkeit entfaltete. Er durchlief eine späte Karriere als Universitätsprofessor, obwohl er mit dem Vorwurf des Dilettantismus konfrontiert war, den die Kritiker des Urkundenregisters gegen ihn erhoben.38 Als Mitgründer der radikal-liberalen studentischen Verbindung Helvetia war er im zeitgenössischen Politestablishment gut verankert. Hidber tauschte sich nicht nur mit Parlamentariern, sondern auch mit Bundesarchivar, dem Bundeskanzler und verschiedenen Bundesräten aus. Hinter dem Erfolg des Projekts steckte ein vielfältiges Lobbying, mit der Parlamentarier überzeugt, die öffentliche Meinung beeinflusst und Gegner einkalkuliert werden mussten.39
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Vgl. z. B. die Einschätzung Meyers von Knonau: „Das Unternehmen war dann immer mehr die Privatdomäne des Berner Professors Hidber geworden, eines aufgeblasenen, wissenschaftlich minderwerthigen Individuums.“ Gerold Meyer von Knonau, Autobiographische Aufzeichnungen [1911–1931], S. 166, ZBZ FA Meyer v. Knonau 34.5. Zur Vita vgl. Professor Basilius Hidber. 1817–1901, In memoriam, Bern 1901. Hidber gelangte insbesondere an die Bundesräte Giovanni Battista Pioda, Jakob Dubs, Emil Welti und Karl Schenk. Die Nationalräte Gottlieb Ludwig Lauterburg (Bern), Johann Ludwig Sulzberger (Thurgau) und Johann Matthias Hungerbühler (St. Gallen) und der Ständerat Johann Jakob Blumer (Glarus) stellten die wichtigsten Befürworter des Urkundenprojekts im Parlament dar, und Hidber bezeichnete sie entsprechend als seine „Freunde“ im Parlament. Basilius Hidber an Georg von Wyss, 29.11.1857 aus Bern; ZBZ FA v. Wyss IX 316.1; 09.03.1858 aus Bern, ebd. Vgl. auch die Briefe vom 04.07.1860 aus Bern, ebd. Umgekehrt rekapitulierte Hidber in einem Schreiben an Urban Winistörfer die Positionen einflussreicher Projektgegner wie des Historikers Anton Henne. Auch Amiet spielte auf die Gegner des Projekts an. Basilius Hidber an Urban Winistörfer, 08.02.1859 aus Bern, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103; 19.07.1859 aus Bern, ebd.; 08.02.1859 aus Bern, ebd.; Josef Ignaz Amiet an Basilius Hidber, 03.10.1859 aus Solothurn, ebd.
5.2 Konfliktpotentiale öffentlicher Rechenschaftspflicht
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5.2 Konfliktpotentiale öffentlicher Rechenschaftspflicht Der Subventionsbeginn im Jahr 1860 bildete erst den Auftakt zu einer langjährigen politischen Öffentlichkeitsarbeit, denn in den folgenden Jahren stellte sich heraus, dass die Arbeit am Urkundenregister noch lange dauern und kontinuierlich namhafte Forschungsbeiträge benötigen würde. Die Publikation des ersten Bandes ließ bis 1863 auf sich warten. Die Diskrepanz zwischen der anfänglichen Konzeption des Projekts, die von einer relativ raschen Veröffentlichung ausgegangen war, und der tatsächlichen Durchführung stellte hohe Anforderungen an die öffentliche Vermittlung des Vorhabens. Bereits 1862 stand das Register von Seite des Parlaments unter einem erhöhten Rechtfertigungsdruck, so dass es galt, ein einflussreiches Netzwerk von Projektalliierten aufzubauen. Der nicht nur im geographischen, sondern auch im politischen Sinn bernferne, konservative Präsident der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz, Georg von Wyss, überließ die hierzu notwendigen persönlichen Kontaktaufnahmen, die jeweils vor den Budgetberatungen im Parlament besonders wichtig wurden, gerne seinem Redaktor Hidber.40 Insbesondere mit dem wichtigsten Mentor des Projekts, Bundesrat Pioda, stand der Redaktor in engem persönlichem Austausch. Der Urkundenforscher sprach beim Bundesrat vor und appellierte an den Lokalstolz des Tessiners, indem er ihm in mehreren Audienzen von seinen ersten Urkundenfunden aus dem Tessin berichtete. Als Pioda Anfang 1863 die Weiterfinanzierung des Projekts an ein Publikationsultimatum band, erschien Hidber die Erfüllung dieser Auflage entsprechend als ein Gebot seiner persönlichen Ehre: „Ich selbst muss gestehen, dass ich lieber von Bern und aus der Nähe des Bundesrathhauses fort ziehe, als dass ich mit einem Hefte noch länger zurückhalte.“41 Hidber sorgte sich um seine Reputation in den Zirkeln der Bundespolitik. Als das Projekt zehn Jahre später erneut in eine bedrohliche Glaubwürdigkeitskrise geriet, versuchte Hidber eine offizielle Prüfung des Unternehmens abzuwenden, indem er die Vermittlung seines persönlichen Freundes Bundesrat Emil Welti in Anspruch nahm.42 40
41 42
So dankte von Wyss Hidber 1861 für seine Bemühungen um die Aufmerksamkeit von Parlamentariern im Hinblick auf die Budgetberatungen des Bundes. Georg von Wyss an Basilius Hidber, 29.06.1861 aus Zürich, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103. Basilius Hidber an Georg von Wyss aus Bern, 18.01.1863 aus Bern, ZBZ FA v. Wyss IX 316.1. Basilius Hidber an Georg von Wyss in zwei Briefen vom 01.01.1873 aus Bern, ZBZ FA v. Wyss IX 316.1. Unterredungen mit Bundesrat Giovanni Battista Pioda: Basilius Hidber an Georg von Wyss aus Bern, 06.02.1859, ZBZ FA v. Wyss IX 316.1; 02.04.1860 aus Bern; ebd.; 24.02.1861 aus Bern, ebd.; 11.03.1861, ebd.; 16.08.1862 aus Bern, ebd.; 08.03.1863 aus Bern, ebd. (persönliches Vorbeibringen der ersten acht Druckbogen). Mit Bundesrat Jakob Dubs: Basilius Hidber an Georg von Wyss, 24.10.1865 aus Hospental, ZBZ FA v. Wyss IX 316.1; 22.12.1865 aus Bern, ebd.; 20.03.1871 aus Bern, ebd. Mit
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5. Materialberge: Die Sammlungspraktiken eines Urkundenregisters
Die Öffentlichkeitsarbeit der Initianten des Urkundenregisters versuchte, die wissenschaftlichen Konzepte, die hinter den langwierigen Erfassungsarbeiten steckte, zu plausibilisieren. Georg von Wyss instruierte Basilius Hidber, dem Publikationsdruck nicht vorschnell nachzugeben: „Was die Herrn von der Bundesversammlung anbetrifft, so muß ihnen, sie mögen es begreifen oder nicht, die Überzeugung beigebracht werden, daß eben eine solche Arbeit nicht Sache eines Augenblickes, oder einiger Monate ist, sondern lange u[nd] angestrengte Vorarbeit erfordert.“ Er sprach sich dagegen aus, bereits einzelne Registerbogen vorzulegen, weil der Eindruck entstehen könne, dass man „bey Fleiß auch mehrere zu Stande gebracht; denn den Bogen selbst sieht man die Mühe nicht an, welche sie kosten.“43 Die ausgedehnten Sammlungsaktivitäten, aufwendigen Echtheitsprüfungen und namenskundlichen Abklärungen waren in der Textform des Registers kaum mehr sichtbar. Von Wyss verlangte deshalb eine wissenschaftliche Aufklärung der Parlamentarier. Die Organisatoren des Urkundenregisters verfolgten über persönliche Unterredungen hinaus verschiedene Strategien, um dieser Verkennung entgegenzuwirken und das politische Publikum geschichtswissenschaftlich zu erziehen. Hidber lud wiederholt politische Vertreter in seine Studierstube ein, um ihnen die Arbeit am Urkundenregister persönlich nahezubringen. 1860 bat er den Parlamentarier Johann Ludwig Sulzberger zu einer Arbeitsdemonstration: „[Ich] gab ihm Idee u[nd] Plan des U[rkunden]registers an u[nd] legte ihm auch den Stoff vor, der in meinem Zimmer auf einem grossen Tische ausgebreitet u[nd] nach der alten Schweiz vor 1798 geordnet ist. Er bezeugte grosse Freude daran; so sprach ich auch mit andern Nat[ional]räthen.“44 Die textuelle Anordnung des Registers wurde hier in eine räumliche Auslegeordnung übersetzt, die einzelnen Auszüge als Stellvertreter für die Urkunden positioniert, so dass die Anlage des Projekts nach dem vertrauten Muster der politisch-geographischen Landkarte vermittelt werden konnte. In der ersten Rechtfertigungskrise von 1863 lud Hidber nach Absprache mit Bundesarchivar Krütli auch Bundesrat Pioda selbst in sein Arbeitszimmer ein. Er wollte ihn „auf die Schwierigkeiten aufmerksam machen“, die sich mit dem Unternehmen verbanden, und danach erneut auch einzelne Mitglieder der Bundesversammlung „instruiren“.45 Die Instruktion erstreckte sich nicht nur auf die Demonstration von Arbeitsverfahren, sondern zählte vor allem auch auf die Überzeugungskraft der schieren physischen Fülle des Arbeitsmaterials
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Bundesrat Emil Welti: Basilius Hidber an Georg von Wyss, 05.03.1871 aus Bern, ZBZ FA v. Wyss IX 316.1; 16.08.1872 aus Bern, ebd. Mit Emil Welti ging Hidber sogar in die Ferien ins Oberengadin, Basilius Hidber an Georg von Wyss, 05.08.1871 aus Ragaz, ZBZ FA v. Wyss IX 316.1. Mit Bundesrat Carl Schenk: Basilius Hidber an Georg von Wyss, 24.12.1872, ZBZ FA v. Wyss IX 316.1. Georg von Wyss an Basilius Hidber aus Zürich, 19.06.1862, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103. Basilius Hidber an Georg von Wyss, 18.07.1860 aus Bern, ZBZ FA v. Wyss IX 316.1. Basilius Hidber an Georg von Wyss, 23.06.1862 aus Bern, ZBZ FA v. Wyss IX 316.1.
5.2 Konfliktpotentiale öffentlicher Rechenschaftspflicht
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– nicht etwa der Urkunden selbst, sondern ihrer zu Tausenden gebündelten Abschriften. Dem gleichen Zweck dienten darüber hinaus die Arbeitsberichte zuhanden der Trägerschaft und der Politik, die eine Balance zwischen der Hervorhebung des bereits Geleisteten und der Erläuterung all jener technischen Komplikationen herzustellen versuchten, die den Abschluss des Werks hinauszögerten. Hier kam neben den technischen Daten über den Zuwachs der aufgenommenen Urkunden in einigen Fällen ein historisches Narrativ zum Zug, das die trockenen Aussagen über die im Register dokumentierten urkundlichen Geschäften in impressionistische historische Skizzen einbettete. So erstattete Hidber 1864 vor der Versammlung der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz über die Urkunden des 10. und 11. Jahrhunderts Bericht: „Es sind dieß jene traurigen Zeiten, in welchen das Alte nicht mehr fest und das Neue noch nicht gegründet ist. Der Zerfall des Karolinger Reichs verwirrt ganz Europa, ruft auswärtigen Feinden, den Hungarn und Sarazenen. Nur langsam bildet sich eine neue Zeit, neue Verhältnisse, die vielfach von den frühern abweichen. Aus Dienern werden Herren, da die Aemter und Lehen erblich werden. Die blühendsten geistlichen Stifte sinken, die Vergabungen an sie hören auf und es will sich sogar ein Geist der Verschwendung aufthun. Im Jahr 990 wird zuerst ein bedeutender Besitz des Klosters St. Gallen, Adorf, vom Abte verkauft und der Erlös verschwendet. Aehnlich das Kloster St. Ambrosius in Mailand, reich begütert im Kanton Tessin. Daher nehmen denn plötzlich die Urkunden beider Stifte ab. [...] Glücklicherweise treten andere Stifte in die Fussstapfen und füllen einigermassen die Lücken aus, wenn auch in bescheidener Weise. Dazu gehören Einsiedeln mit seinen sonst seltenen ottonischen Kaiserurkunden, Chur, Engelberg u. a. m.“46
Der Text oszilliert zwischen einer von der Urkunde aus gedachten Entwicklungsbeschreibung und einem historischen Abstiegsnarrativ und erzeugt damit einen eigentümlich flimmernden Eindruck. So beziehen sich die letzten beiden Sätze auch nicht etwa auf die historische Präsenz der Klöster St. Gallen und St. Ambrosius, sondern auf deren geschrumpfte Urkundenproduktion, die „glücklicherweise“ durch andere geistliche Institutionen teilweise wettgemacht wurde. Das im Zentrum des Projekts stehende urkundliche Untersuchungsobjekt wurde damit zu einem Akteur der historischen Erzählung. Auch die Fotografie, zu der Hidber als Anschauungsmittel griff, stellte das materielle Objekt der Urkunde in den Mittelpunkt. Sie erschien besonders geeignet, ein Gefühl für die authentischen Grundlagen der Geschichte anschaulich zu vermitteln.47 Ursprünglich war vorgesehen, jedes Heft der 46
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Protokoll der zwanzigsten Versammlung der allgemeinen geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz, in: Anzeiger für schweizerische Geschichte und Alterthumskunde 3/1964, S. 53–56: 54. Ganz ähnlich die narrative Zusammenfassung, die Hidber nach Abschluss des Druckes des ersten Bandes 1867 in einem Bericht an den Vorsteher des EDI lieferte: Basilius Hidber an den Vorsteher des Eidgenössischen Departements des Innern, 25.11.1867, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 85. Zur Quellenfotografie vgl. Kap. 6.
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5. Materialberge: Die Sammlungspraktiken eines Urkundenregisters
geplanten Bände mit einem fotografischen Faksimile einer jeweils als zeittypisch erachteten Urkunde auszustatten, „damit [...] der Leser einen Begriff von dem ursprünglichen Stoffe erhalte“48 und sich paläographisch üben könne, was aber aus Kostengründen nicht realisiert wurde. Daraufhin ließ der Registerredaktor auf einen Vorschlag des Bundesarchivars hin Fotografien frühmittelalterlicher Urkunden anfertigen, die zumindest den Projektbeteiligten und Politikern die Komplexität der damit verbundenen historischen Arbeiten vor Augen führen sollten. Hidber ließ über das Departement des Innern dem Bundesparlament die Fotografie einer frühen St. Galler Urkunde „mittheilen“, „um den weniger kundigen Mitgliedern der eidgenössischen Behörden und dem weiteren Publikum etwas zu bieten“,49 und legte den Berichten an das Eidgenössische Departement des Innern wiederholt Fotografien bei. Fotografien illustrierten auch Vorträge vor den Mitgliedern der Geschichtforschenden Gesellschaft und wurden gegen Urkundenabschriften eingetauscht.50 Die mittelalterlichen Urkunden, welche die zentralen materiellen Objekte des Urkundenregisters bildeten, standen bei der Plausibilisierung des großen Forschungsaufwandes gegenüber der Politik im Mittelpunkt: In verschiedenen Aggregatszuständen und Reproduktionsformen dienten sie den Projektmitarbeitern als berührbares, erlebbares, visuell beeindruckendes und sogar erzählbares Demonstrationsobjekt und wurden nach Bedarf als Urkundenlandschaft auf dem Tisch arrangiert. Die erfolgreiche Ressourcenmobilisierung der Geschichtforschenden Gesellschaft wurde erst durch den hohen Grad der Personalisierung und den Aufbau von Kontakten zu Bundespolitikern und andern einflussreichen staatsnahen Persönlichkeiten möglich, den Hidber gewährleistete. Allerdings führten diese engen Bindungen ebenso wie die oft informelle Berichtspraxis und Rechnungsführung im Projektverlauf auch zu erheblichen Problemen, die das Projekt 1877 zu einem vorzeitigen Abschluss brachten. Nachdem der Redaktor Hidber drei Jahre lang gegenüber dem Ministerium des Innern keine Rechnung offengelegt hatte, verlangte dieses 1863 schließlich erstmals einen Finanzbericht. Hidbers Abrechung war allerdings so ungenau, dass sie auf Aufforderung des Departements präzisiert werden musste. Die informelle Organisation der Urkundenarbeit im Netzwerk der Geschichtforschenden 48 49 50
Basilius Hidber an die Vorsteherschaft der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz, 20.04.1873, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 86. Basilius Hidber an die Vorsteherschaft der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz, 20.04.1873, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 86. Basilius Hidber an Georg von Wyss, 18.01.1863 aus Bern, ZBZ FA v. Wyss 316.1; 01.11.1863 aus Bern, ebd.; 2.03.1871 aus Bern, ebd.; 05.08.1871 aus Bern, ebd.; 13.08.1873 aus Bern, ebd. Basilius Hidber, Bericht an das Eidgenössische Departement des Innern, 11.03.1864, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 85; Jahresbericht an das Eidgenössische Departement des Innern, 27.12.1894, ebd.; Jahresbericht an das Eidgenössische Departement des Innern, 22.12.1866, ebd.; Georg von Wyss und Joseph Ignaz Amiet an das Eidgenössische Departement des Innern, ebd. Zur Quellenfotografie vgl. Kapitel 6.
5.2 Konfliktpotentiale öffentlicher Rechenschaftspflicht
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Gesellschaft geriet vollends mit der erhöhten Rechenschaftspflicht gegenüber den Bundesbehörden in Konflikt, als das Urkundenregister ab 1870 in der Presse öffentlich kritisiert wurde und die Gesellschaft das Kosten-NutzenVerhältnis dieser Arbeit in einem Rechenschaftsbericht darlegen musste.51 1873 wurde schließlich eine Untersuchungskommission eingesetzt, um das Projekt zu überprüfen. Der durch das Departement des Innern einberufenen Kommission gehörten der Bundesarchivar Jakob Kaiser, der Zürcher Professor Gerold Meyer von Knonau und der St. Galler Historiker Hermann Wartmann an. Die Gutachter nahmen die intransparente Rechnungsführung zum Anlass, um der Gesellschaftsleitung ineffiziente Mittelverwendung und Hidbers Projektverwaltung qualitative Unzulänglichkeiten vorzuwerfen.52 Durch die Kontrollverfahren der Behörden und die öffentliche Rechenschaftspflicht wurde das Unternehmen zu einem Objekt politischer Verhandlungen im Licht der Presseöffentlichkeit. Hidber und von Wyss hingegen orientierten sich nach wie vor an der Autonomie der Gesellschaft und an der Freiwilligenarbeit ihrer Mitglieder.53 Sie empfanden die administrativen Pflichten, die mit der Subvention verbunden waren, teilweise als überflüssige Last. Umgekehrt kommentierte Jakob Kaiser einen Bericht Basilius Hidbers mit der Randnotiz: „!!!! Wer hat etwa solche Brühe verlangt!“.54 Hidber war in den Augen seiner Gegner deswegen diskreditiert, weil es ihm in seinen wortreichen Rechtfertigungen nicht gelang, die Rationalität und Effizienz des Unternehmens rechnerisch plausibel zu machen und seine Schreiben in kohärente Berichtsprosa zu kleiden. Hinter diesen Stilfragen verbargen sich unterschiedliche Konfliktlösungsstrategien: Der Berner Professor versuchte Auseinandersetzungen immer in persönlichen Aussprachen zu bereinigen und an den guten Willen aller Beteiligten zu appellieren. Er kämpfte mit der „Bundesschablone“55 , der amtlichen Verwaltungslogik. Seine Gegner wichen direkten Begegnungen aus und entzogen dadurch dem eifrigsten Promotor des Urkundenregisters seine Kommunikationsgrundlage.56 51
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Basilius Hidber an Georg von Wyss, 20.03.1863 aus Bern, ZBZ FA v. Wyss IX 316.1. Vgl. 18.02.1863 aus Bern, ebd.; Das Eidgenössische Departement des Innern an die Allgemeine Geschichtforschende Gesellschaft der Schweiz, 19.09.1870, BAR J II.127 -/1:23. Bericht der Untersuchungskommission an das Eidgenössische Departement des Innern, 06.08.1873, BAR E 88 -/-- Bd. 9, Doss. 86. Georg von Wyss an die Untersuchungskommission zum Schweizerischen Urkundenregister, 11.03.1873, fol. 1v, BAR E 88 -/-- Bd. 9, Doss. 86. Basilius Huber an die Vorsteherschaft der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz, 20.04.1873, fol. 1, ebd. Basilius Huber an die Vorsteherschaft der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz, 20.04.1873, fol. 9, Randnotiz von anderer Hand (Jakob Kaiser), BAR E 88 -/-- Bd. 9, Doss. 86. Basilius Hidber an Georg von Wyss, 19.12.1874 aus Bern, ZBZ FA v. Wyss IX 316.1. So schrieb Hidber resigniert: „H[er]r Schenk könnte sich immer direkt bei mir erkundigen, wie dies H[er]r Pioda gethan u. H[er]r Welti noch immer thut: aber er geht lieber zur sog[enannten] Schwafelbande, ein bekanner Saufverein!“ Basilius Hidber an Georg
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5. Materialberge: Die Sammlungspraktiken eines Urkundenregisters
Anstelle des Verständigungsmodus’ bürgerlicher Geselligkeit kam nun die Logik wissenschaftlicher Beratung im Dienst der Bundesadministration ins Spiel. Auch wenn der Untersuchungsbericht im Einzelnen zu sehr ernüchternden Schlüssen kam und dem Redaktor Dilettantismus vorwarf, riet er letztlich nicht zu einem Abbruch des Projekts, sondern lediglich zu einem frühzeitigen Abschluss. Die geschichtswissenschaftliche Expertise konnte hier in neuartiger Weise auf staatliche Sanktionsmittel zurückgreifen. Die neugewonnene Autorität der Kritiker äußerte sich insbesondere darin, dass der Untersuchungsbericht dem verantwortlichen Redaktor zwei Jahre lang bewusst vorenthalten wurde.57 Der Konflikt kann allerdings nicht auf den Gegensatz zwischen den Verwaltungsroutinen des Bundesstaates, die auf Zurechenbarkeit und Entpersonalisierung Wert legen mussten, und der zivilgesellschaftlichen „tätigen Geselligkeit“ der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft reduziert werden. Die Gegnerschaft des Urkundenregisters kam erstens aus dem Innern der Gesellschaft selbst, wo Historiker einer jüngeren Generation, allen voran Jakob Kaiser, Gerold Meyer von Knonau, Hermann Wartmann und Wilhelm Vischer, eine neue Ausrichtung der Gesellschaftsaktivitäten anstrebten. Sie bekamen mit der Durchführung der vom Departement des Innern veranlassten Untersuchung die Chance, Hidber zu entmachten. Tatsächlich führte die Untersuchung des Urkundenregisters zum Einzug dieser Gesellschaftsmitglieder in verschiedene Gremien der Gesellschaft. Die Allgemeine Geschichtforschende Gesellschaft der Schweiz selbst setzte 1874 eine Subkommission ein, die Hidbers Registerarbeiten vor der Drucklegung begutachtete.58 Zweitens machte sich in der Opposition gegen Hidbers Register die wissenschaftspolitische Funktion des Bundesarchivs geltend. Denn der Anstoß zu den ersten Misstrauensbekundungen aus dem Departement selbst kam von Bundesarchivar Jakob Kaiser, der beim Aufbau der Vorwürfe an das Unternehmen eine zentrale Rolle spielte.59 Drittens spiegelte sich im Konflikt das Konkurrenzverhältnis zwischen der nationalen historischen Gesellschaft und anderen historischen Gesellschaften, deren Dachverband die Allgemeine Gesellschaft eigentlich darstellen wollte. Die größte Konkurrenz erwuchs ihr aus zwei der drei überkantonalen Vereine, der Société d’histoire de la Suisse romande und dem Historischen Verein der V Orte, die beide eine
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von Wyss, 12.02.1873 aus Bern, ZBZ FA v. Wyss IX 316.1. Auch der Bundesarchivar ließ Gesprächsangebote unbeantwortet. Basilius Hidber an Georg von Wyss, 17.02.1873 aus Bern, ZBZ FA v. Wyss IX 316.1; 26.02.1873 aus Bern, ebd. Der Bericht gelangte erst im März 1875 in die Hände Hidbers. Basilius Hidber an Georg v. Wyss, 23.01.1875 aus Bern, ZBZ FA v. Wyss IX 316.1; 20.03.1875 aus Bern, ebd. Die Subkommission war eine Abteilung der neubestellten „literarischen Kommission“ der Gesellschaft. Erste (konstituierende) Sitzung der literarischen Kommission, 20.08.1873, Protokolle des Gesellschaftsrates der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz 1841–1887, S. 127f., BAR J II. 127 -/1:1. Vgl. Basilius Hidber an Georg von Wyss, 11.0.1873, ZBZ FA v. Wyss IX 316.1.
5.2 Konfliktpotentiale öffentlicher Rechenschaftspflicht
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Minderheit repräsentierten – die Romands und die katholische Innerschweiz. Die Pressekampagne gegen das Urkundenregister, die 1870 begann, wurde unter anderem durch Theodor von Liebenau, den Luzerner Staatsarchivar und Exponenten des sogenannten „fünförtigen Vereins“ betrieben.60 Das Schweizerische Urkundenregister stellte das erste national ausgerichtete, vom noch jungen schweizerischen Bundesstaat finanzierte Quellenforschungsunternehmen dar.61 Es verwirklichte durch seine umfassende Sammlungstätigkeit eine neue Bezugsgröße historischer Forschung: die Urkunde der Schweiz, die nun in einem dem Anspruch nach erschöpfenden Register umfassend zugänglich wurde. Der spezifische Objektcharakter der Urkunden trug zum politischen Erfolg des Sammlungsprojekts bei. Als materiales Objekt war die mittelalterliche Urkunde vorzeigbar; es hatte neben seiner inhaltlichen auch eine graphische und bildliche Dimension; nicht zufällig wurde die Urkunde im Parlament als Bild – nicht als Text – präsentiert. Daneben spielte auch der Status der Urkunde als Objekt des Rechts und der Politik eine Rolle. Urkunden hatten einen Wiedererkennungseffekt, sie waren politischen Akteuren mit ihrer Nähe zu Recht und Verwaltung als Schriftstücke besonders vertraut, transportierten die Autorität vergangener Rechtshandlungen und konnten durch ihre autoritative Ausstattung mit sich überlagernden, manchmal prächtig angelegten Zeichensystemen als besonders feierliche Repräsentationen von Geschichte dienen. Als das Unternehmen 1877 wegen mangelnder Unterstützung und Forschungsproblemen vorzeitig abgeschlossen wurde, wurde allerdings klar, dass aus den erfassten Urkunden auch bei der extensivsten Verwendung des Schweizbegriffs ausschließlich „schweizerische Urkunden“ einer Schweiz avant la lettre geworden waren: Die Sammlung brach um 1200 ab, „wo, man kann sagen, die Schweizer Geschichte noch gar nicht begonnen hat“62 , wie der deutsche Historiker Georg Waitz ironisch anmerkte, denn in der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft galt das Datum 1315 gemeinhin als Gründungsdatum der Eidgenossenschaft. Als Nachschlagewerk leistete es in der Folgezeit nicht nur einzelnen Forschern, sondern auch anderen großangelegten Quellenerfassungsunternehmen trotz bekannter Mängel seine 60
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Theodor Liebenau, ein Exponent des Innerschweizer Vereins, war laut Archivnotiz Autor eines anonymen Beitrags zum Schweizerischen Urkundenregister in der Basler Zeitung. Schweizerisches Urkundenregister, in: Basler Nachrichten, 17. November 1872. Dagegen wiesen die weiter oben erwähnten Eidgenössischen Abschiede eine eher eidgenössische als im modernen Sinn nationale staatliche Radizierung auf. Georg Waitz: Über die Herausgabe und Bearbeitung von Regesten, in: Historische Zeitschrift 40 (NF 4)/1878, S. 280–295: 292. Vgl. auch die Rezensionen des Ficker-Schülers Huber: [Alfons] H[u]b[er]: Schweizerisches Urkundenregister herausgegeben von der allgemeinen geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz.1. Bd., in: Literarisches Centralblatt für Deutschland 4/1869, S. 85; ders.: Schweizerisches Urkundenregister herausgegeben von der allgemeinen geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz. 2. Bd., 1. u. 2. Heft, Bern, 1869, in: Literarisches Centralblatt für Deutschland 3/1872, S. 54.
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5. Materialberge: Die Sammlungspraktiken eines Urkundenregisters
Dienste. Als Forschungsprojekt gelang es ihm über siebzehn Jahre hinweg, demokratisch legitimierte Subventionen zu erhalten. Das angezielte epistemische Objekt der „schweizerischen Urkunde“ war ohne den seit 1848 bestehenden modernen Staat undenkbar – die Konzeption hatte eine offenkundig voluntaristische Ausrichtung, die sich gerade nicht um die politischen Größen der Vergangenheit kümmerte. Dieser konzeptuelle Anachronismus wurde von den Beteiligten bewusst in Kauf genommen. Sie begriffen das Projekt als Teil einer nationalen Geschichtspolitik, die alle Teile des kulturell und historisch äußerst heterogenen Gebildes der Schweiz in einer Geschichte ohne Darstellung abdecken sollte und den geographischen Raum zum Kriterium der Zugehörigkeit machte. Gegenüber den großen historiographischen Projekten in den beiden letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, die bisher in der Forschung hervorgehoben und untersucht worden sind,63 verweist das Sammlungsprojekt auf einen früheren, alternativen Versuch, ein gesamtschweizerisch orientiertes Objekt der nationalen Geschichtskultur zu schaffen, das gerade nicht auf die Eidgenossenschaft, sondern auf die zeitgenössische Schweiz ausgerichtet war. Die Kategorie der „schweizerischen Urkunde“ hatte allerdings längerfristig das Nachsehen gegenüber späteren national ausgerichteten Sammlungs- und Editionsunternehmen, die sich viel enger auf die Geschichte der schweizerischen Eidgenossenschaft bezogen, indem sie stärker staatsgenetisch verfuhren und damit gewissermaßen eine größere Reifizierung schweizerischer Staatlichkeit leisten.64
5.3 Phasen, Kanäle, Orte und Anschlüsse Die Registrierungspraxis des Schweizerischen Urkundenregisters baute auf den spezifischen Infrastrukturen auf, die sich aus der Organisation von Ar63
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Beiträge zur schweizerischen Historiographiegeschichte heben die Verfestigung der nationalen Geschichtskultur der Schweiz gegen Ende des 19. Jahrhundertshervor, die durch die liberalen schweizergeschichtlichen Gesamtdarstellungen von Dierauer, Wilhelm Oechsli und Karl Dändliker, die Eröffnung des Landesmuseums im Jahr 1891 und die gleichzeitige Neuausrichtung der Bundesfeiern auf den 1. August hin geprägt war. Vgl. z. B. Buchbinder: Der Wille zur Geschichte. Hervorzuheben sind hier Wilhelm Oechslis an ein breites Publikum gerichtete Quellenedition und seine Arbeit zur Entstehung der Eidgenossenschaft sowie die von der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft ab 1933 herausgegebene Quellensammlung zur Geschichte der Eidgenossenschaft, die im Kontext der Geistigen Landesverteidigung steht. Wilhelm Oechsli (Hrsg.): Quellenbuch zur Schweizergeschichte. Für Haus und Schule bearbeitet, Zürich 1886; ders. (Hrsg.): Die Anfänge der schweizerischen Eidgenossenschaft. Zur sechsten Säkularfeier des ersten ewigen Bundes vom 1. August 1291 verfasst, Zürich 1891; Allgemeine Geschichtforschende Gesellschaft der Schweiz (Hrsg.): Quellenwerk zur Entstehung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Aarau 1933–1975.
5.3 Phasen, Kanäle, Orte und Anschlüsse
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beitsabläufen, aus dem Ressourcenzugang, den Kommunikationswegen und den sozialen Zugehörigkeiten der Beteiligten ergaben. Eine „infrastrukturelle Inversion“65 der Untersuchungsperspektive, die nicht vom wissenschaftlichen Endprodukt, sondern von den Praktiken ausgeht, vermag die Aushandlungsprozesse der unterschiedlichen beteiligten Akteure und die wechselseitige Abhängigkeit zwischen den Pfaden der Wissensproduktion, den materiellen Ressourcen und den Arbeitsbeziehungen der Akteure wieder sichtbar zu machen. Infrastrukturen können als die praktische Verbindung von unterschiedlichen organisatorischen Ressourcen, technischen Grundlagen und Arbeitsroutinen verstanden werden.66 Ruhleder und Leigh Star haben aus interaktionistischer Perspektive auf drei Merkmale von Infrastrukturen hingewiesen, die für das Verständnis kooperativer Formen der Wissensproduktion bedeutsam sind. Erstens bauen Infrastrukturen immer auf älteren Grundlagen auf, deren Schwächen und Begrenzungen sie gleichzeitig erben; sie verändern sich außerdem je nach Kommunikationsverlauf und sich wandelnden arbeitspraktischen Anforderungen. Eine Untersuchung von Arbeitspraktiken muss deshalb ihr Augenmerk auf zeitliche Verläufe richten. Zweitens sind Infrastrukturen immer in weitere gleichzeitige Arrangements und Technologien eingebunden, was ihre je unterschiedliche Ausgestaltung in lokalen Kontexten begründet. Deshalb ist es sinnvoll, die Kommunikationskanäle, Arbeitsorte und Anschlussmöglichkeiten von Arbeitsprojekten zu betrachten. Drittens entstehen Infrastrukturen eigentlich erst durch die organisierte Einbindung in die Tätigkeiten der Projektteilnehmer. Trotzdem müssen sie nicht immer wieder erfunden werden, sondern stehen gleichsam latent zur Verfügung und gehen über einen lokalen Handlungsort hinaus, denn Infrastrukturen werden über eine Handlungsgemeinschaft mit je eigenen Handlungskonventionen und Kommunikationsmöglichkeiten vermittelt.67 Die Untersuchung von Handlungsgemeinschaften bildet deshalb einen wichtigen Zugang zu den Infrastrukturen von Projekten. Das Schweizerische Urkundenregister erlebte drei Phasen. Das Projekt wurde nach Anregungen Basilius Hidbers 1855 an der Jahresversammlung der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft beschlossen. In der Redaktionskommission saßen zunächst neben Hidber der Geistliche Urban Winistörfer und der Politiker und Archivar Josef Ignaz Amiet, die das Vorhaben von Solothurn aus verwalteten. Das Urkundenregister war als dezentrales, auf Freiwilligenarbeit basierendes Unternehmen konzipiert, zu dem Mitarbeiter aus allen Teilen der Schweiz mit Einsendungen beitragen sollten.68 In einer ersten Arbeitsphase bis 1860 ließ die locker organisierte Re65 66 67 68
Bowker/Star: Sorting Things Out, S. 34. So die Definition von Bowker/Star: Sorting Things Out, S. 34. Susan Leigh Star/Karen Ruhleder: Steps Toward an Ecology of Infrastructure, in: Information Systems Research 7/1996, S. 111–134: 113. Protokoll der 10. Versammlung der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der
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5. Materialberge: Die Sammlungspraktiken eines Urkundenregisters
daktion Auszüge aus Archiven und Sammelwerken anfertigen. Die Redaktion setzte zu diesem Zweck 1856 ein Zirkularschreiben in Umlauf, das potentielle Mitarbeiter über die Vorgehensweise informieren sollte. Dem selben Zweck diente eine Bekanntmachung im Anzeiger für schweizerische Geschichte und Alterthumskunde. Die Redaktion steuerte die Partizipation aber auch durch die aktive Rekrutierung geeigneter Beiträger.69 Während das Endprodukt des Urkundenregisters chronologisch geordnet sein sollte, orientierte sich die Arbeitsorganisation an Archivbeständen und umfangreichen Sammelwerken, die durch lokale Kenner erschlossen werden konnten. Durch diese Überkreuzung von Ordnungsprinzipien war zumindest theoretisch vorgegeben, dass die Sammlung der Urkunden der chronologischen Aufnahme ins Register vollständig vorangehen musste, wenn das Versprechen einer umfassenden Wiedergabe von Urkunden aus dem Gebiet der zeitgenössischen Schweiz eingelöst werden sollte. Tatsächlich meldeten die jährlichen Berichte an die Gesellschaft jeweils die Registrierung von einzelnen Quellenbeständen, nicht von chronologischen Abschnitten. Die Redaktionskommission machte 1859 bereits Anstalten, einen Verleger für das Projekt zu suchen, lieferte aber noch keine inhaltliche, sondern lediglich auf die Erscheinungsform der Registereinträge bezogene Kostproben davon, wie diese zahlreichen Auszüge in Registereinträge zu überführen seien.70 Die zweite Arbeitsphase wurde durch den Wechsel in der Arbeitsleitung, der durch den Tod Winistörfers eintrat, und die Aussprache von Bundessubventionen im Jahr 1860 eingeleitet. Während die Registermitarbeiter vor Ort weiterhin Beiträge lieferten, begann der neue hauptverantwortliche Redaktor Hidber mit der chronologischen Ordnung der vorhandenen Urkundenauszüge. Dieser Arbeitsschritt wirkte nicht stabilisierend, sondern ließ im Gegenteil
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Schweiz vom 18./19.09.1854 in Solothurn, in: Archiv für Schweizer Geschichte X/1855, S. XVII–XXIII: XVIII; Protokoll der 11. Versammlung der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz vom 21./22. August 1855 in Solothurn, in: Archiv für Schweizer Geschichte XI/1856, S. VII–XII: IXf. Die frühen Aufrufe lenkten alle Zuschriften nach Solothurn an die Adresse Pater Urban Winistörfers. Das Zirkular ist an der Jahresversammlung erwähnt, aber nirgends abgedruckt. Protokoll der 12. Versammlung der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz vom 19/20.08.1856 in Solothurn, in: Anzeiger für schweizerische Geschichte und Alterthumskunde 2/1856, S. 48–51:48f. Zur aktiven Rekrutierung schrieb Hidber: „Wir haben eine Liste entworfen von Personen, die wir um Beihilfe anfragen wollen.“ Basilius Hidber an Georg von Wyss vom 10.08.1856 aus Bern, ZBZ FA v. Wyss IX 316.1. Protokoll der 12. Versammlung der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz vom 19./20. 08.1856 in Solothurn, in: Anzeiger für schweizerische Geschichte und Alterthumskunde 2/1856, S. 48–51:48f.; Protokoll der 14. Versammlung der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz vom 6./7.09.1858 in Solothurn, in: Anzeiger für schweizerische Geschichte und Alterthumskunde 6/1860, S. 109–111: 109; Protokoll der 15. Versammlung der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz vom 19./20.09.1859 in Basel, in: Anzeiger für schweizerische Geschichte und Alterthumskunde 6/1860, S. 67–69: 68.
5.3 Phasen, Kanäle, Orte und Anschlüsse
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in vielen Fällen die bisher geleistete Sammelarbeit als problematisch erscheinen. Hidber konstatierte, dass zahlreiche Doubletten die Auszugssammlung im Umfang reduzierten, er bemängelte die ungleichmässige Bearbeitung, die zur Unterrepräsentation von Zeitabschnitten und Landesgegenden führte, und kritisierte vor allem die Qualität der Urkundenauszüge. Besonders für die frühmittelalterlichen Urkunden waren deshalb nochmals zeitintensive Abklärungen zu machen, die den Charakter des Urkundenregisters vollständig veränderten: Es ging nun darum, jede von Mitarbeitern in mühevoller Kleinarbeit erstellte Abschrift zu überprüfen und wenn möglich mit dem Original abzugleichen. Gleichzeitig spielte das Argument einer geographischpolitischen, auf die Gegenwart des subventionierenden Staates gemünzten Ausgewogenheit nun eine größere Rolle.71 Und nicht zuletzt wurde die Verwaltung des Projekts durch die neue Rechenschaftspflicht gegenüber den eidgenössischen Behörden arbeitsaufwendiger: Hidber legte hierzu 1861 ein Arbeitstagebuch an, in das er rückdatierend auch die ersten Schritte des Unternehmens bis 1854 eintrug, womit er retrospektiv eine Projektkontinuität herstellte, und erstattete ausführliche Arbeitsberichte an die Geschichtforschende Gesellschaft und die Behörden.72 Das Projekt wurde in dieser Phase stärker als zuvor personalisiert. Hidber zeichnete als einziger für die eigentlichen Registereinträge verantwortlich und bereiste zahlreiche Archive. Mit dem Untersuchungsverfahren, das 1873 gegen das Urkundenregister eingeleitet wurde, begann die dritte Phase des Projekts, die nicht mehr von einer aktiven Mitarbeit der Gesellschaftsmitglieder getragen war, sondern als letzte Bringschuld des Redaktors wahrgenommen wurde. Der inzwischen zum Geschichtsprofessor ernannte Hidber hatte sein Amt zur Verfügung gestellt, aber keinen Nachfolger für die letzten Arbeiten am zweiten Band finden können, und arbeitete widerstrebend an der Fertigstellung des im Umfang reduzierten Registers weiter, das nun statt bis 1353 nur bis 1291 reichen sollte und schließlich mit dem Jahr 1200 abgebrochen wurde.73 Die verantwortlichen Redaktoren und die Mitarbeiter in den Regionen tauschten sich vor allem brieflich über personelle Angelegenheiten, Fragen der Urkundenbearbeitung, Urkundenabschriften und behördliche Auflagen aus. Daneben stellte die Zirkulation von Druckbögen ein wichtiges Arbeitsmittel für den Redaktor und seine wissenschaftlichen Berater – allen voran den eigentlichen Korrektor des Registers, den Gesellschaftspräsidenten Georg von Wyss – dar. Die Vorversionen des endgültigen Registertexts wurden 71
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Basilius Hidber an das Eidgenössische Departement des Innern, Bericht über das Urkundenregister vom 04.03.1862, BAR E 88 -/-- Bd. 9, Doss. 85; Basilius Hidber an Bundesrat Giovanni Battista Pioda, 1.07.1862, ebd. Das Tagebuch ist nicht mehr erhalten. Zur Verwendung s. Basilius Hidber an Georg von Wyss, 24.01.1861 aus Bern, ZBZ FA v. Wyss IX 316.1; Georg von Wyss an den Schweizerischen Bundesrat, 6. März 1863, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 85. Vgl. die Briefe Hidbers an Georg von Wyss aus den 1870er Jahren, ZBZ FA v. Wyss IX 326.1.
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5. Materialberge: Die Sammlungspraktiken eines Urkundenregisters
zumindest für die ersten Bögen bis zu vierunddreißigmal neu gesetzt und in Umlauf gebracht, bevor sie endgültig gedruckt wurden.74 Hidber ergänzte die losen Kommunikationsformen des Projekts überdies mit punktuellen persönlichen Kontakten. Er sprach bereits im Jahr 1854 davon, dass er die Archivare in den kleinen Zentralschweizer Kantonen nicht nur per Zirkular erreichen, sondern persönlich, „freundschaftlich“75 , ansprechen wolle. Die zahlreichen Archivreisen, die im Rückblick als Indiz für die Ineffizienz Hidbers gewertet wurden76 , erfüllten ihren Sinn oft als Beziehungspflege. So reiste er 1860 nur deswegen nach Basel, um seinen brieflichen Bitten um Urkundenauszüge persönlich Nachdruck zu verleihen und den dortigen Archivar zur Mitarbeit zu verpflichten.77 Anfänglich verfügte das Urkundenregister nicht über einen zentralen Arbeitsort, der als von allen einsehbarer Speicher des gesammelten Materials funktionierte. Hidber hingegen, der auch als Bibliothekar der Geschichtforschenden Gesellschaft waltete, baute ab 1859 im Berner Bibliothekslokal der Gesellschaft78 und bei sich zuhause einen Arbeitsapparat auf. Der Apparat setzte sich aus Packen von Urkunden- und Editionsabschriften und raren Druckwerken zusammen, die Hidber aus den Mitteln der Gesellschaft angeschafft hatte. Über den arbeitspraktischen Nutzen hinaus verfolgte der Redaktor das Ziel, sowohl die Sichtbarkeit als auch die Zugänglichkeit des Registers zu verbessern und die Transparenz seiner Arbeit zumindest symbolisch zu erhöhen, deren materielles Substrat nun jederzeit „zur Ansicht bereit“ sein sollte.79 Damit verband er die Aufforderung, sich persönlich von der Qualität seiner Arbeit zu überzeugen. Der offizielle Arbeitsapparat des Urkundenregisters bildete in der Praxis vornehmlich das persönliche Arbeits-, Demonstrations- und Repräsentationsinstrument des verantwortlichen Hauptredaktors. Dagegen waren die tatsächlichen Arbeitsorte der Mitarbeiter über die ganze Schweiz verstreut. An diesen entstand das Unternehmen allerdings keineswegs aus dem Nichts heraus: Die Zuträger des Urkundenregisters orientierten sich vielmehr an bereits vorhandenen Infrastrukturen, die sie 74
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Basilius Hidber an das Eidgenössische Departement des Innern, 04.03.1862, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 85; Georg von Wyss und Jakob Ignaz Amiet, Bericht an das Eidgenössische Departement des Innern, 19.10.1870, ebd. Basilius Hidber an Georg von Wyss, 3.11.1862 aus Bern, ZBZ FA v. Wyss IX 316.1. Schweizerisches Urkundenregister, in: Basler Nachrichten vom 17. Dezember 1872. Basilius Hidber an Georg von Wyss, 14.10.1860 aus Bern, ZBZ FA v. Wyss IX 316.1. Katalog der Bibliothek der allgemeinen geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz in Bern, Bern 1874. So appellierte Hidber an seinen schärfsten Kritiker, Bundesarchivar Jakob Kaiser: „Alles steht hübsch geordnet in Reihe u[nd] Glied in meinem Studirzimmer auf einem großen Tisch, zu Jedermanns Besichtigung, ganz so nacheinander wie dies im Berichte angegeben ist“. Basilius Hidber an Jakob Kaiser, 20.02.1873, BAR E 88 -/--, Bd. 10, Doss. 91. Vgl. Basilius Hidber an das Eidgenössische Departement des Innern, 25.11.1867, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 85.
5.3 Phasen, Kanäle, Orte und Anschlüsse
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für diesen Zweck adaptierten. Die Inventare lokaler und kantonaler Archive und privater wie kommunaler Sammlungen wiesen Quellen aus. Wo eine solche Erschließung fehlte, vervielfachte sich der Arbeitssaufwand, weil relevante Urkunden dann nur über die Durchforstung großer Schriftgutmengen gefunden werden konnten. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war nur ein Teil des in Archiven liegenden historischen Schriftguts in der Schweiz bereits zuverlässig erschlossen. Vielfach handelte es sich gerade bei kleineren Archiven um „terra incognita“80 , wie ein Mitarbeiter aus Basel schrieb. Ähnlich verhielt es sich mit dem Staatsarchiv des Kantons Baselland, das weder über einen Archivar noch über ein Inventar verfügte, so dass Winistörfer selbst Hand anlegte.81 Der ebenfalls gerade erst selbständig gewordene Kanton Tessin – wie Baselland in der Frühneuzeit Untertanengebiet – hatte zu diesem Zeitpunkt noch kaum zentralisierte Archivstrukturen aufgebaut, sondern verfügte lediglich über ein „transportables Handarchiv mit Akten neuesten Datums“.82 Das Urkundenregister versuchte überdies an eine Vielzahl editorischer und registerartiger Projekte der Kantonal- und Regionalvereine anzuschließen und musste auf die Archivierungsstrategien der einzelnen Kantone oder lokalen Behörden Rücksicht zu nehmen. So stellte 1862 der Luzerner Staatsarchivar in Aussicht, nun endlich Abschriften aus kleineren Archiven liefern zu können, nachdem das Kantonsparlament entsprechende Erfassungsaufträge beschlossen hatte.83 Die Zürcher Behörden sträubten sich hingegen anfänglich mit dem Argument gegen den Einsatz ihres Staatsarchivars, dass ein „Urkundenbuch der Republik Zürich“84 in Planung sei. Als besonders einschneidend erwiesen sich im Verlauf des Projekts die auch für die übrigen Aktivitäten der Gesellschaft beobachtbare Zurückhaltung westschweizerischer Historiker und die ungleichmäßige Abdeckung der Archive.85 Die Verbindungen zu heterogenen Projekten mit unterschiedlichen Zielsetzungen zogen strukturelle Abhängigkeiten nach sich, die zu langen Aushandlungsprozessen mit den betreffenden Projektverantwortlichen führten und wechselnden Erfolg hatten. Besonders bedeutsam waren in diesem 80 81 82
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85
Urban Winistörfer an Basilius Hidber, 30.03.1855 aus Solothurn, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103. Urban Winistörfer an Basilius Hidber, 23. 07.1856 aus Solothurn, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103. Georg von Wyss und Josef Ignaz Amiet an das Eidgenössische Departement des Innern, 19.10.1870, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 85. Dagegen drängte Amiet Hidber mit dem Hinweis auf die „guten Register“ und die „ganz vorzüglichen Dokumentenbücher“ darauf, zunächst das Berner Staatsarchiv zu bearbeiten. Josef Ignaz Amiet an Basilius Hidber, 12.09.1859 aus Solothurn, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103. Alois Bell an Basilius Hidber, 08.03.1862 aus Luzern, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103. Urban Winistörfer an Basilius Hidber, 22.01.1855 aus Solothurn, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103. Auch das Staatsarchiv Bern argumentierte ähnlich. Urban Winistörfer an Basilius Hidber, 30.03.1855 aus Solothurn, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103. Schweizerisches Urkundenregister, Bd. 1, Vorwort 1. Heft, S. V–XXXI.
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5. Materialberge: Die Sammlungspraktiken eines Urkundenregisters
Kontext zwei große Projekte, François Forels Régeste de la Suisse romande, das 1862 erschien, und das Urkundenbuch der Abtei St. Gallen, das ab 1863 veröffentlicht wurde.86 So machte Forel, der damalige Präsident der Société d’histoire de la Suisse romande, mit seiner seit langem erhofften Kooperationseinwilligung 1859 zugleich auch ein Mitspracherecht geltend. Forel leistete mit seinem gleichzeitig entstehenden Parallelprojekt einen wichtigen Beitrag zur Quellenforschung in der Romandie. Als Gegenleistung für seine noch ungedruckten Regesten verlangte er aber, das Urkundenregister solle nicht rein chronologisch geordnet, sondern nach Bistümern rubriziert werden. Als dies in der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft nicht auf Gegenliebe stieß, zog der Waadtländer sein Angebot wieder zurück.87 Erfolgreicher verliefen die Verhandlungen mit den Initianten des Urkundenbuchs der Abtei St. Gallen88 . Als die Antiquarische Gesellschaft des Kantons Zürich ein St. Galler Urkundenbuch in Auftrag gab, wollte sie einen Beitrag zur Erschließung des wertvollsten früh- und hochmittelalterlichen Archivbestands der Schweiz leisten. Sie rekrutierte für das Projekt den St. Galler Historiker Hermann Wartmann, einen Schüler von Georg Waitz und Freund Gerold Meyers von Knonau. Die St. Galler Urkunden stellten das zentrale Korpus gerade für die ersten Hefte des Urkundenregisters dar. Wartmann und die Antiquarische Gesellschaft konnten gegen eine Beteiligung der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz an den Druckkosten dafür gewonnen werden, ihre Forschungen auch dem Urkundenregister zugänglich zu machen. Diese Konvergenz half der Redaktion des Urkundenregisters aus einer großen Verlegenheit, weil die Entzifferung und Interpretation der in der Forschung umstrittenen frühmittelalterlichen Urkunden ungeheuer anspruchsvoll waren. Als Hidber ab 1859 an die Aufbereitung der Registerabschriften für den Druck ging, hing der Erfolg seiner Arbeit deshalb zu großen Teilen von Wartmann ab, der ihm regelmäßig Abschriften lieferte. Mit dieser Einverleibung neuer Forschungsresultate war allerdings auch der Grundstein zu einem Konflikt gelegt, der mit der Krise des Urkundenregisters ab 1871 an die Oberfläche geriet. Denn Wartmann war mit den Bearbeitungen Hidbers nicht einverstanden und trug ab 1869 mit einer negativen Rezension des Urkundenregisters und später als Mitglied der Untersuchungskommission
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Urkundenbuch der Abtei Sanct Gallen, auf Veranstaltung der antiquarischen Gesellschaft in Zürich bearb. v. Hermann Wartmann, 6 Bde., Zürich 1863–1955; Régeste, soit répertoire de documents relatifs à l’histoire de la Suisse romande, 1re [et seule] série dès les premiers temps jusqu’à l’an 1316, Hrsg. François Forel, Lausanne 1862. Basilius Hidber an Georg von Wyss, 28.09.1859 aus Bern, ZBZ FA v. Wyss IX 316.1; Basilius Hidber an die Vorsteherschaft der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz, 20.04.1873, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 86. Urkundenbuch der Abtei Sanct Gallen.
5.4 Die Handlungsgemeinschaft des Urkundenregisters
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maßgeblich zur Kritik des Projekts und zu dessen vorzeitigem Abschluss bei.89
5.4 Die Handlungsgemeinschaft des Urkundenregisters Die verschiedenen beteiligten Akteursgruppen bildeten durch den gemeinsamen Bezug auf die „schweizerischen Urkunden“, die Anbindung an die Ziele der Redaktionskommission und die geteilten Infrastrukturen eine – allerdings nur sehr lose strukturierte und instabile – Handlungsgemeinschaft, die ganz unterschiedliche lokale Interessen, Wissenshintergründe, Motivationen und Praktiken in das Projekt einbrachte. Die Etablierung einer Gemeinschaft aus Zuarbeitern konnte auf kein ähnlich gelagertes Vorläuferprojekt zurückgreifen und erwies sich bald als anspruchsvoll. Urban Winistörfer antizipierte bereits 1855 besorgt die auseinandergehenden „Meinungen der gelehrten Herren“, die nur schwer zu bündeln seien, und die ganz unterschiedlichen Widerstände, die von den kantonalen historischen Vereinen und den kantonalen Archiven ausgehen könnten. In starker Konkurrenz zu den Kantonalvereinen gelang es aber dennoch langsam, Geschichtsinteressierte zu mobilisieren.90 Aus Briefwechseln und den Protokollen der Geschichtforschenden Gesellschaft geht hervor, dass eine große Anzahl von Historikern nicht namentlich verdankte Beiträge leistete: Bis zum Abschluss der zweiten Phase des Urkundenregisters 1873 engagierten sich insgesamt mindestens 124 Beiträger für das Urkundenregister. Mehr als drei Viertel von ihnen, insgesamt 91 Personen, waren direkt in die Urkundenbearbeitung involviert, indem sie Auszüge aus Originaldokumenten und aus Kopialsammlungen, Abschriften von Archivregistern oder Kopien aus Druckwerken anfertigten. Die anderen Zuarbeiter nahmen als wissenschaftliche Berater, mit Hilfeleistungen zur Nutzung einzelner Archive, mit der Ausstellung von Empfehlungsschreiben und mit anderen Beiträgen teil. Daneben wurde auch eine unbekannte Anzahl von technischen Mitarbeitern einbezogen, die kaum inhaltlichen Beiträge lieferten, aber zum Gelingen des Werks nicht wenig beitrugen. Neben dem Verleger, der bei der Namensgebung der Bände mitsprach, spielten auch die Setzer eine wichtige Rolle, von deren Urteilsvermögen und Geschicklichkeit
89 90
Schweizerisches Urkundenregister, Bd. 1, Vorwort 1. Heft, S. XVIf. Basilius Hidber an Gerold Meyer von Knonau, 22.04.1869 aus Bern, ZBZ FA Meyer v. Knonau 34y. „Bei uns geht es auch nach der österreich[ischen] Devise: Ganz langsam voran. Doch immer etwas.“ Urban Winistörfer an Basilius Hidber, 28.01.1859 aus Solothurn, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103. Vgl. auch Urban Winistörfer an Basilius Hidber, 22.01.1855 aus Solothurn, ebd.; 30.03.1855 aus Solothurn, ebd.
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5. Materialberge: Die Sammlungspraktiken eines Urkundenregisters
viel abhing, oder etwa eine Dame in Bern, die offenbar für die Abschriften von Urkundenauszügen bezahlt wurde.91 In Bezug auf die berufliche Zusammensetzung der Beteiligten92 werden vier dominierende Gruppen sichtbar: An der Spitze standen Geistliche, die sich mit insgesamt 31 Vertretern am Urkundenregister beteiligten und von denen mindestens vier die kirchliche Archive verwalteten. Ihnen folgten Archivare, die oft nebenberuflich tätig waren, wenn sie nicht in großen Archiven angestellt waren, dann die Gruppe der Lehrer und Hochschullehrer und die Juristen. Die restlichen Mitarbeiter verteilen sich auf hohe Verwaltungsbeamte und Berufsmilitärs, Angehörige freier Berufe, Unternehmer und mittlere Angestellte.93 Viele der Mitarbeiter am Urkundenregister traten zudem in politischen Ämtern hervor; für rund ein Drittel der Erfassten sind Ämter auf allen politischen Ebenen belegt, unter ihnen auch Richter, Staats-, Stadt- oder Landschreiber.94 Die Schreiberämter wiesen eine besondere Affinität zur historischen Überlieferung auf, da sie eine wichtige Produktionsinstanz staatlichen Schriftguts verkörperten. Der Blick auf die beruflichen Hintergründe, die politischen Ämter, geographische Herkunft und Konfessionszugehörigkeit der Mitarbeiter ermöglicht eine erste Annäherung an die Motivationen, Verstehensvoraussetzungen und Ressourcen, die die einzelnen Beteiligten in das Unternehmen einbrachten. Zunächst lässt sich unter den Mitarbeitern des Urkundenregisters eine dominante bildungsbürgerliche Komponente feststellen, während das Besitzbürgertum nur marginal vertreten war. Es scheint, dass das Urkundenregister nicht von jenen liberalen Wirtschaftskreisen getragen wurde, die die Industrialisierung und wirtschaftliche Verflechtung der Schweiz damals entscheidend vorantrieben. Zudem ist eine sehr ungleiche geographische Verteilung der Mitarbeiter festzustellen. Das Urkundenregister ermöglichte 91 92 93
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Hidber erwähnte gegenüber von Wyss eine „Frau Jenner“. Basilius Hidber an Georg v. Wyss, 22.03.1873 aus Bern, ZBZ FA v. Wyss IX 316.1. Von den 124 nachgewiesenen Personen konnte 107 Personen eine berufliche Beschäftigung zugeordnet werden. Tätigkeitsfelder (Mehrfachnennungen möglich): Geistliche (31), Archivare der Kantone und großen Städte (27), Archivare kleinerer Archive (6), Lehrer an Volksschulen und Gymnasien (16), Lehrer an Akademien, Lehrer- und Priesterseminaren (6), Universitätsprofessoren (4), Juristen (12), hohe Staatsangestellte (5: Spitalverwaltungspräsident, Strafhausdirektor, Polizeikorpspräsident, Zolldirektor, Generalkonsul), hochrangige Militärs (5), Unternehmer, Verleger (2), Bankier (1), „Negoziant“ (1), Ingenieur (1), Journalist (2), Goldschmied (1), Aktuar des kaufmännischen Direktoriums (1), Arzt (1). Unter den Mitarbeitern befanden sich 25 zeitweilige Kantonalparlamentarier, von denen 11 auch im Bundesparlament saßen. Sechs Mitarbeiter betrieben auch Lokalpolitik. Die meisten dieser Amtsträger versahen ihr Amt nebenamtlich. Männer mit patrizischem Hintergrund konnten zuweilen von einer Kombination aus politischen Ämtern und Kapitaleinkünften leben und kamen damit dem Bild des Berufspolitikers und Staatsmanns nahe. Unter den Mitarbeitern befanden sich acht Personen, die zeitweise Staats-, Land-, Stadt- oder Ratsschreiber bzw. Regierungssekretär waren, und neun, die richterliche Ämter versahen.
5.4 Die Handlungsgemeinschaft des Urkundenregisters
249
durch seine geographische, gerade nicht auf die politische Gründungsgeschichte der Eidgenossenschaft reduzierte Radizierung eine retrospektive Integration auch jener Kantone, die in der Alten Eidgenossenschaft noch gar nicht als solche bestanden hatten. Trotzdem waren die Vertreter der der Romandie nur in beschränktem Maß für das Projekt zu begeistern, wie sie ja auch in der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz insgesamt massiv unterrepräsentiert waren.95 Das Urkundenregister wurde von den Historikern der französischsprachigen Schweiz sehr stark als deutschschweizerisches Projekt wahrgenommen. Die Berufsstruktur der Mitarbeiter enthüllt darüber hinaus die Staatsnähe des Unternehmens: Eine große Zahl der beteiligten Protagonisten arbeitete in kantonalen oder bundesstaatlichen Positionen oder besetzte politische Ämter und gehörte damit zu der schmalen Schicht kantonaler und zum Teil bundesstaatlicher Funktionsträger. Diese Staatsnähe leuchtet im Fall der starken Beteiligung der Archivare unmittelbar ein, waren diese doch die ausgewiesenen Urkundenspezialisten vor Ort, die lokale Bestände am besten kannten. Archivare vertraten auch die geschichtspolitischen Interessen der lokalen und kantonalen Staatsbeamten und Politiker wirkungsvoll. Wie ein Beispiel aus Zürich zeigt, konnte die Mitarbeit am Urkundenregister so auf die kantonalen und kommunalen Archive zurückwirken. Wenn der Zürcher Staatsarchivar Johann Heinrich Hotz mit Basilius Hidber zusammenarbeitete, wollte er damit seine eigene Institution fördern, für die er zu Beginn der 1860er Jahre große Reorganisationspläne hegte. Die Transaktionen zwischen der Gesellschaft und dem Zürcher Staatsarchiv waren – wie auch in allen ähnlichen Fällen – Gegenstand situativer Aushandlungen. So schrieb Hotz im Dezember 1859, er wolle für den Arbeitsaufwand nichts berechnen, „[w]ohl aber für den von mir für künftige grosse Umgestaltung gegründeten Archivfond der dato noch in schäbigenstem Zustand ist.“96 Der Staatsarchivar verlangte für die Benutzung der Archivinfrastruktur eine Bezahlung, die in Form einer Investition in ihren Ausbau abgegolten werden sollte.97 Schon ein halbes Jahr später nahm Hotz aber die Verhandlungen mit Hidber wieder auf. Hotz’ Sekretär hatte für die zahlreichen Abschreibearbeiten „durchaus keine Fähigkeit & grosse Unlust“98 gezeigt, so dass Hotz selbst viel Zeit für die mühselige Arbeit aufwenden musste. Die mit der Bundessubvention für 95 96
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Aus der Romandie nahmen nur zehn Historiker teil, während das Urkundenregister im viel kleineren Tessin beinahe gleich viele Mitarbeiter hatte. Johann Heinrich Hotz an Basilius Hidber, Dezember 1859 aus Zürich, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103. Hervorhebung im Original. Zum Zürcher Staatsarchiv s. Ulrich Helfenstein: Ordnung und Unordnung im Zürcher Staatsarchiv. Aus dem Wirken der vier ersten Archivleiter (1837–1897), in: Zürcher Taschenbuch NF 100/1980. S. 137–150. Johann Heinrich Hotz an Basilius Hidber, Dezember 1859 aus Zürich, BB Bern Mss.h.h.XXVI.103. Johann Heinrich Hotz an Basilius Hidber, 12.07.1860 aus Zürich, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103.
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5. Materialberge: Die Sammlungspraktiken eines Urkundenregisters
das Urkundenregister veränderten finanziellen Rahmenbedingungen trugen ebenfalls dazu bei, dass Hotz nun nicht nur fünf Centimes pro Regest für den Archivfond, sondern auch „etwas Erkleckliches“ für seine „eigene große Mühe“99 forderte. Auch andere Archivare verbanden mit ihren Beiträgen ans Schweizerische Urkundenregister ihre lokalen und persönlichen Agenden, die oft durchaus nicht mit den Interessen der Geschichtforschenden Gesellschaft übereinstimmten, was delikate Interessenabwägungen verlangte. So vertrat der Solothurner Archivar Josef Ignaz Amiet auch das vom Solothurner historischen Verein bereits seit langer Zeit verfolgte Projekt eines schweizerischen codex diplomaticus, das von Hidber und anderen eher ablehnend beurteilt wurde, und versuchte deshalb anfänglich, den Einfluss Hidbers auf das Urkundenregister einzudämmen.100 Der Luzerner Archivar Schneller wiederum war gleichzeitig Präsident des mit der Geschichtforschenden Gesellschaft publizistisch konkurrierenden Historischen Vereins der V Orte und war dem Urkundenregister trotz offizieller Mitarbeit nicht sehr günstig gesinnt.101 Das Engagement vieler Mitarbeiter kann aus ihrer Teilhabe an den Wissensbeständen staatlicher Herrschaft heraus verstanden werden. Dieses gleichsam intime Wissen vom Staat und die Affinität zum Recht verwirklichte sich bei den Archivaren in der Bewahrung historischer Zeugnisse staatlicher Herrschaft und in der Gutachtertätigkeit in Gerichtsprozessen,102 für das politische Amt des Schreibers in der Produktion und Überwachung amtlichen Schriftguts, bei den Lehrern in der Weitergabe staatlich verordneter Geschichtsbilder und beim Strafhausdirektor, den Militärs, den Richtern und dem Polizeikorpskommandant in der Teilhabe am staatlichen Gewaltmonopol. Ein Berner Spitalverwaltungsdirektor wiederum erfasste die mittelalterlichen Urkunden des Berner Burgerspitals103 und betrieb so Institutionengeschichte. Überproportional oft arbeiteten überdies Beiträger aus katholischen Gebieten, insbesondere katholische Geistliche, mit.104 Während reformierte Pfarrer fast gänzlich fehlten, bildeten die Priester und Ordensangehörigen mit 29 Vertretern eine wichtige Trägergruppe des Urkundenregisters. Die katholischen Geistlichen waren nicht nur mit der Geschichte ihrer lokalen 99 100 101 102 103 104
Johann Heinrich Hotz an Basilius Hidber, 12.07.1860 aus Zürich, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103. Josef Ignaz Amiet an Basilius Hidber, 03.10.1859 aus Solothurn, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103. Johann Ludwig Sulzberger an Basilius Hidber, 28.07.1861, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 85. Vgl. Josef Ignaz Amiet an Basilius Hidber, 19.11.1959, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103. Basilius Hidber an Urban Winistörfer, 08.02.1859 aus Bern, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103. Die Konfessionszugehörigkeit konnte in 94 Fällen eruiert werden. Unter den Ermittelten befanden sich 62 katholische gegenüber 32 reformierten Mitarbeitern.
5.4 Die Handlungsgemeinschaft des Urkundenregisters
251
kirchlichen Institutionen verbunden, sondern engagierten sich in vielen Fällen auch in kantonalen historischen Vereinen. Teilweise lässt sich dies mit der großen Bedeutung der kirchlichen Institutionen für die Aufbewahrung von mittelalterlichen Urkunden und mit dem privilegierten Zugang lokaler Geistlicher zu den entsprechenden Beständen erklären. Wie sich beispielsweise am Historischen Verein des Kantons Solothurn aufzeigen ließe, waren darüber hinaus katholische Geistliche offenbar nicht zuletzt durch ihren Bildungshintergrund die überragenden Träger einer regionalen Geschichtskultur in katholischen Kantonen. Historiker wie Pater Gall Morel in Einsiedeln, der sich mit der überaus reichen Überlieferung seines Stifts beschäftigte, François Boccard, Chorherr von St. Maurice, der 1844 eine „Histoire du Valais“ schrieb, Pater Sigismund Furrer, der 1861 den ersten historischen Verein im Oberwallis gründete, oder der Tessiner Priester Gaetano Rovida, der sich als Lokalhistoriker betätigte, boten sich dem Urkundenregister als Ansprechpartner an. Die Integration der katholischen Minderheit gelang dem Urkundenregister damit weitaus besser als der Einbezug der Romandie. Die Zuträger rekrutierten sich vor allem aus Amateurkreisen; im Projektverlauf wurde die Bezugnahme auf die Vertreter der akademischen Geschichtswissenschaft aber immer stärker aufgewertet. Viele Mitarbeiter waren in Produktionszusammenhängen der bürgerlichen Geschichtskultur aktiv. Manche traten sogar als Urkundensammler auf.105 Hidber, der selbst Geschichte studiert hatte und akademische Ambitionen hatte, versuchte demgegenüber nach 1860, zusätzlich wissenschaftlichen Rückhalt zu finden. Er richtete sich deshalb mit konzeptuellen Fragen an Universitätshistoriker, denen er auch wiederholt schwierige Datierungsfragen und Probebogen unterbreitete. Kontakt hatte er insbesondere mit Theodor Sickel in Wien, der nach Aussage von Wyss’ bei der „Aufstellung des Modells mithalf u[nd] die ersten Druckbogen corrigirte“.106 Hidber zog zudem günstig lautende Urteile aus der Fachpresse hinzu, um die wissenschaftliche Konzeption des Urkundenregisters zu bekräftigen, und ließ Universitätshistoriker wenn nicht mit aktiven Beiträgen, so doch mit ihren Namen am Projekt teilnehmen.107 So konnte der streitbare Redaktor die Namen von Georg Waitz und Theodor 105
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107
So hatte der Kantonspolitiker, zeitweilige Staatsarchivar und spätere Bundespolitiker Johann Jakob Blumer aus Glarus selbst Quellen ediert. Der Strafhausdirektor Hans Wilhelm Harder aus Schaffhausen trat als Urkundensammler hervor. Georg von Wyss und Josef Ignaz Amiet, Bericht an das Eidgenössische Departement des Innern, 19.10.1870, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 85. Theodor Sickel erhielt die Druckbogen in Etappen zugeschickt und wollte sich 1862 für eine gemeinsame Sichtung von als spuria verdächtigen Urkunden in Turin mit Hidber verabreden. Theodor Sickel an Basilius Hidber, 11.05.1862 aus Paris, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103. Basilius Hidber an das Eidgenössische Departement des Innern, 04.03.1862, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 85; Basilius Hidber an Bundesrat Giovanni Battista Pioda, 01.07.1862, ebd.; Basilius Hidber, Jahresbericht an das Eidgenössische Departement des Innern, 11.03.1864, ebd.; Basilius Hidber und Georg von Wyss, Bericht an das Eidgenössische Departement des Innern, 31.01.1872, ebd.
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5. Materialberge: Die Sammlungspraktiken eines Urkundenregisters
Sickel als wissenschaftliche Referenzen ins Feld führen, als das Unternehmen 1873 von der Untersuchungskommission angegriffen wurde. Diese argumentierte ihrerseits wiederum mit wissenschaftlichen Kriterien, um Hidber zu diskreditieren und ihn aus dem Kreis ernstzunehmender akademischer Historiker auszuschließen. Die Arbeit am Urkundenregister war in mehrfacher Hinsicht verstreut: Das Projekt verwendete dezentralisierte Kommunikationsweisen und Technologien über große geographische Distanzen hinweg.108 Die Forschung für das Urkundenregister fand an den verschiedensten Orten in der Schweiz und im Ausland statt und bezog schon dadurch eine große Vielfalt lokaler Urkundenbestände, institutioneller und politischer Kontexte ein. Darüber hinaus konstituierte sich das Schweizerische Urkundenregister aus der Zusammenarbeit heterogener Akteure der staatsnahen und kirchlichen Eliten, die eine Vielfalt von Anschlüssen an bereits existierende forscherische Infrastrukturen, aber auch unterschiedliche lokale Interessen und strukturelle Zwänge ins Spiel brachten und den zeitlichen Verlauf und die Ungleichmäßigkeiten der Bearbeitung maßgeblich mitbestimmten. Die Vielfalt der involvierten Wissenshintergründe der Mitarbeiter führte außerdem dazu, dass die Arbeitselemente, die in das Sammlungsprojekt eingebracht wurden, nicht nur geographisch, sondern auch konzeptuell breit gestreut waren.
5.5 Mobilisierungsverfahren zwischen res gestae, Regest und Register Die Sorge um das gesicherte Dokument prägte die Praxis der Urkundenregistrierung, die zahlreiche konzeptuelle Vorentscheide zu Ordnungs- und Standardisierungsverfahren erforderte. Der Korrektor im Hintergrund des Unternehmens, Georg von Wyss, wollte das Urkundenregister nicht einfach mit irgendeiner Urkunde, sondern mit einem „sicheren u[nd] schönen Dokumente“109 eröffnen. Dieser Wunsch bezog sich auf die Plausibilität der Datierung, die Echtheit und offenbar auch die ästhetische Überzeugungskraft derjenigen Urkunden, die das Register anführen sollten. Alle diese Arbeitsaspekte waren umstritten. Es lohnt sich deshalb, Akteuren zunächst einmal in dem zu folgen, was sie unter der Praxis des Sammelns verstanden. Als 108
109
Damit trifft auch auf Unternehmen wie das Urkundenregister zu, was Star und Ruhleder vor allem den dezentralisierten Technologien des Informationszeitalters zuschreiben: „[B]oth the need for common standards and the need for situated, tailorable and flexible technologies grow stronger“. Star/Ruhleder: Steps Toward an Ecology of Infrastructure, S. 112. Georg von Wyss an Basilius Hidber, 09.01.1861 aus Zürich, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103.
5.5 Mobilisierungsverfahren zwischen res gestae, Regest und Register
253
das Urkundenregister 1854 in Angriff genommen wurde, existierte noch kein detaillierter Arbeitsplan, der die endgültige Gestalt der Registereinträge geregelt hätte. Winistörfer hielt deshalb 1855 fest, man werde später notwendigerweise die Registereinträge näher definieren müssen. „Einstweilen wird es gut seyn, dafür zu sammeln.“110 Er betrachtete den Sammlungsvorgang als einen weitgehend unproblematischen Arbeitsgang, als eine black box111 , die der eigentlichen Arbeit am Register vorgelagert war. In der Praxis bestand das Sammeln hingegen aus zahlreichen komplexen Arbeitsschritten, mit denen die chaotische Fülle des urkundlichen Materials gebändigt werden sollte. Immer wieder sprachen die Promotoren des Urkundenregisters vom „gewaltigen Stoff “112 oder der „grosse[n] Masse des Stoffs“113 den die Redaktion bewältigen müsse. Die Quantität der Urkundenvorkommen, die für das Hoch- und erst recht das Spätmittelalter dramatisch zunahm, war ein Grund für die umstrittene zeitliche Einschränkung des Registers. Sie dämpfte auch den Kooperationswillen einzelner Archivare. Diese Urkundenmassen wurden mit der Registrierung und Ordnung nun nicht reduziert. Es wurden vielmehr immer neue Materialien produziert, wie die Rechenschaftsberichte Hidbers aus den 1860er Jahren zeigen. Diese wiesen die steigenden Zahlen gesammelter Urkundennachweise aus, die die eigentlichen Registereinträge, die gedruckt wurden, schließlich um ein Vielfaches überstiegen.114 Als Georg von Wyss 1871 seiner Frau Nancy von Wyss einen Stimmungsbericht über einen Arbeitsbesuch in der Bundeshauptstadt Bern sandte, verweilte er für eine Weile bei der schönen Aussicht auf das Alpenpanorama, die er vor einem Arbeitstreffen mit Hidber von der Berner Schanzenterrasse aus genossen hatte. Er fuhr dann fort: „Puis je frappai à la porte de Mr. Hidber, qui demeure à deux pas de là; et, y trouvant déjà nos deux collègues de Solure, Mrss Fiala et Amiet, [...] nous entrames de suite en séance, ce qui
110 111
112 113 114
Urban Winistörfer an Basilius Hidber, 24.09.1855 aus Solothurn, BB Bern, N: Mss.h.h.XXVI.103. Hervorhebung im Original. Der Begriff wird hier im weiteren Sinn als Bezeichnung für ein unhinterfragtes wissenschaftliches Faktum oder ein unproblematisches wissenschaftliches Objekt verwendet. Vgl. Latour, Science in Action, S. 2f., dagegen die engere Fassung des Begriffs auf S. 131. Josef Karl Krütli an das Eidgenössische Departement des Innern, 02.05.1860, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 85. Basilius Hidber an das EDI, 04.03.1862, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 85. 1866 hatte Hidber bereits über 20 000 Urkundenauszüge gesammelt. Der offizielle Plan sah den Abschluss des Registers für das symbolträchtige Jahr 1353 (das Datum des Abschlusses der achtörtigen Eidgenossenschaft) vor. Winistörfer wollte dagegen aus quantitativen Gründen höchstens bis 1300 gehen, „denn von da an erscheint die Zahl der Urkunden zu massenhaft u[nd] Sammlung zu schwierig“. Das Register wurde 1877 mit dem Datum 1200 beendet. Urban Winistörfer an Basilius Hidber, 30.03.1855 aus Solothurn, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103. Vgl. Basilius Hidber an das Eidgenössische Departement des Innern, 22.12.1866, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 85.
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5. Materialberge: Die Sammlungspraktiken eines Urkundenregisters
fut d’un interêt particulier vu la longue interruption que les événements ont produite dans nos réunions, et les matériaux historiques amassés autour de Mr. Hidber dans son étude.“115
Als textueller Gegenpart der von Wyss so bewunderten Alpen fielen nun die um Hidber herum aufgetürmten und in Szene gesetzten Materialien in den Blick, die in ihrer Fülle für einen spektakulären Effekt sorgten. Doch was wurde hier unter der umfassenden Bezeichnung „Stoff “ oder „Material“ auf Hidbers Tisch aufgehäuft? Zwei junge Juristen fertigten im Auftrag Hidbers Auszüge aus einer neu erschienenen Berner Quellenedition an. Hidber wies sie an, die Überschriften der edierten Urkunden, „dann eine Rektifikation derselben nebst Datum, Stemmen usw.“ auf einzelne Quartblätter zu kopieren.116 Diese Auszüge blieben anschließend jahrelang liegen, um weiter bearbeitet zu werden: „Ich behielt dieses Register wie ich immer beifügte, nur deßhalb zurück, weil ich damit die Originalien vergleichen will; dies ist aber keine so kurze Arbeit und kann je später je besser gemacht werden, da H[er]r Staaatsschreiber v[von] Stürler mir neue, aber langsam entstehende Abschriften zur Einsicht überläßt. Dieses Register habe ich deßhalb auf Quartblättern und [...] könnte es zu einem rektifizirten Auszug benutzen.“117
In dieser Beschreibung eines einzelnen Sammlungsvorgangs häufen sich heterogene materielle Objekte, mit denen Hidber und seine Mitarbeiter hantierten: Das „Register“, das heißt im vorliegenden Fall die Reihe aller aus einem Druckwerk verfertigten Auszüge, bestand aus einer Serie von Blättern im Quartformat, die selbst wiederum einzeln exzerpiert werden konnten, um wenn nötig in eine andere Sammlung einzugehen. Die im Staatsarchiv liegenden Urkundenoriginale waren hierzu von den beiden Juristen nicht eingesehen worden. Auch die erneute Annäherung an die Untersuchungsobjekte fand nun nicht als direkte Sichtung statt: Vielmehr sollten neue, vom Staatsschreiber zur Verfügung gestellte Urkundenabschriften mit den bereits vorliegenden Abschriften verglichen werden. Der Luzerner Archivar Josef Karl Krütli kombinierte bei seiner Sammlungstätigkeit ebenfalls mehrere Arbeitselemente. Er gab abschriftliche Auszüge von Luzerner Urkunden nicht gleich aus der Hand, denn er meinte, „zur Abgabe zum Druck bedarf es jedenfalls einer nochmaligen Vergleichung & Beifügung des Orts der Ausstellung, den ich bei einigen ausser Acht gelassen habe, zudem habe ich, wie Sie wissen, angefangen, auch die Regesten von Abschriften, deren Originale wir nicht besitzen, mit den Regesten der Urkunden zu vereinigen“.118
115 116 117 118
Georg von Wyss an Anna Regina (Nancy) von Wyss, 13.05.1871 aus Bern, ZBZ FA v. Wyss, IX 361. Basilius Hidber an Urban Winistörfer, 19.07.1859 aus Bern, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103. Basilius Hidber an Urban Winistörfer, 23.05.1856 aus Bern, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103. Josef Karl Krütli an Basilius Hidber, 07.05.1856 aus Luzern, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103.
5.5 Mobilisierungsverfahren zwischen res gestae, Regest und Register
255
Die Vereinigung der teilweise nochmals mit den Originalen verglichenen Auszüge mit Auszügen aus Abschriften brachte ein neues, kombiniertes Objekt hervor, das aus Elementen verschiedener Herkunft und Bearbeitungsstufen zusammengefügt war. Dies galt auch für die Registereinträge zu Urkunden aus dem Stadtarchiv Biel, die Urban Winistörfer aus „Mittheilungen“ des lokalen Archivars anfertigte und die er diesem – allerdings nur teilweise – nochmals zur Kollation zusandte.119 In anderen Arbeitssituationen kamen zu den Abschriften weitere, zugleich materiell und epistemisch distinkte Objekte hinzu. Josef Ignaz Amiet beispielsweise konnte sich auf eine Serie von Faksimiles stützen, als er sich mit dem Gedanken trug, St. Galler Urkunden zu registrieren.120 Der Schaffhauser Strafhausdirektor und Sammler Harder wiederum notierte Auszüge aus einer Kollektion von etwa 500 Diplomen, die er selbst angelegt hatte. Allerdings konnte er sich in vielen Fällen nicht auf die Urkunden selbst beziehen, da er ihr Latein nicht verstand, und musste auf die Übersetzungsdienste befreundeter Kenner zurückgreifen, bevor er zur Registrierung schreiten konnte.121 Hinzu kamen verschiedene aggregierende Dokumentsorten. Am bedeutungsvollsten waren die bereits vorhandenen Registraturen der kantonalen, kirchlichen und kommunalen Archive, die ganze Urkundenbestände nachwiesen.122 Urkunden erschienen aber auch abschriftlich in Kollektaneen aus der Frühneuzeit, in eine Vielfalt von Dokumentstypen eingestreut und in umfangreiche Folianten eingebunden. Die Zurlaubiana beispielsweise, die Sammlung einer Zuger Familie aus dem 16.–18. Jahrhundert, die ab 1804 den Grundstock der Kantonsbibliothek des neugegründeten Kantons Aargau bildete, enthielten neben Büchern auch Handschriften wie die Acta Helvetica und die Stemmatographia, die zusammen beinahe 300 Bände umfassten und viele Urkundenabschriften enthielten. Die Aufnahme dieser Urkundenbelege war äußerst arbeitsaufwendig, weil keine taugliche Indices vorlagen.123 Auch frühneuzeitliche und zeitgenössische Druckwerke aller Art bildeten ein unabsehbares Überlieferungsreservoir und waren gerade für diejenigen Urkunden von größter Bedeutung, die inzwischen nicht mehr auffindbar waren. Basilius Hidber berief sich angesichts der potentiellen Unabschließbarkeit der Erfassung gedruckter Überlieferungen gerne auf den angeblichen Ausspruch
119 120 121 122 123
Urban Winistörfer an Basilius Hidber, 07.11.1856 aus Solothurn, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103. Josef Ignaz Amiet an Basilius Hidber, 12.09.1859 aus Solothurn, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103. Hans Wilhelm Harder an Basilius Hidber, 10.09.1861 aus Schaffhausen, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103. Vgl. z. B. die Aufnahmen aus dem Zürcher Staatsarchiv. Johann Heinrich Hotz an Basilius Hidber, 12.07.1860 aus Zürich, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103. Heinrich Kurz an Basilius Hidber, 05.12.1862 aus Aarau, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103.
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5. Materialberge: Die Sammlungspraktiken eines Urkundenregisters
Johann Friedrich Böhmers: „Gott allein weiß ob eine Urkunde gedruckt ist oder nicht.“124 Bei dieser Mobilisierung des schweizerischen Urkundenvorrats125 wurden Arbeitselemente aus ihren lokalen Kontexten entfernt, herumgeschoben, verschickt und zu neuen Objekten aggregiert, um ein umfassendes Wissen über die „schweizerische Urkunde“ zu generieren und die vielen lokalen und regionalen Sammlungen durch eine nationales Monument zu überspannen. Anders als bei vielen naturwissenschaftlichen Sammlungen ging es hier nicht darum, ein Specimen oder besonders aussagekräftige Proben zu mobilisieren und neu zu arrangieren, das heißt, taxonomisch-exemplarisch vorzugehen. Das Register sollte vielmehr den Gesamtbestand erschöpfend nachweisen und charakterisieren. Die Bezeichnungen für die erfassten Elemente geben Hinweise auf die eingesetzten Arbeitstechniken. Während manche der Objektbezeichnungen die Materialität des Gegenstandes betonen (Originale, Quartblätter, Material, Stoff, Exemplar, Stück) oder eine bildliche Reproduktion bezeichnen (Faksimile, Fotografie), verweisen andere auf den Arbeitsvorgang der textuellen Übertragung von Sinn (Zusammenfassung, rektifizierter Auszug, Übersetzung, Abschrift, Regest). Die Bezeichnung „Register“ schließlich konnotiert vor allem den Aspekt der Ordnung von Wissen. Sie alle bezeichneten Bestandteile eines Netzwerks aus verschiedenen Aggregatszuständen und Erscheinungsformen der „schweizerischen Urkunde“. Der Sammlungsprozess brachte neue Materialitäten hervor – eine Flut von Dokumenten aller Art, die sich an verschiedenen Orten anhäuften und schließlich auf dem Tisch des Hauptredaktors landeten.126 Den neugewonnenen Arbeitselementen lagen in den meisten Fällen verschiedene Textverfahren zugrunde: Urkundenüberschriften wurden abgeschrieben, bibliographische Angaben abgekürzt, Überlieferungsvarianten kollationiert, lateinische Formeln ins Deutsche übersetzt und Zusammenfassungen aufgesetzt. Gleichwohl wäre es nicht adäquat, hier lediglich von einer Zirkulation von sprachlichem Sinn und von verschiedenen textuellen Fassungen von Urkunden zu sprechen. Es war gerade die jeweils spezifische Koppelung von 124
125 126
Basilius Hidber an den Vorsteher des Eidgenössischen Departements des Innern, 25.11.1867 aus Bern, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 85. Vgl. auch Basilius Hidber an die Vorsteherschaft der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz, 20.04.1873, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 86. Vgl. Latour: Science in Action, S. 223–228. Auf das materielle Objekt zielende Bezeichnungen wie „Stoff “ und „Material“ wurden keineswegs nur für die mittelalterlichen Schriftstücke selbst verwendet, sondern kamen auch für Arbeitselemente zum Einsatz, die von diesen nur abgeleitet waren. Typisch ist die Ausdrucksweise des Mitarbeiters Johannes Krapf-von Reding, er wolle in der Beilage „einige Exemplare von schweiz[erischen] Urkunden“ mitschicken, womit natürlich Abschriften gemeint waren. Johannes Krapf-von Reding an Basilius Hidber 14.03.1860 aus Basel, BB Bern, Mss.h.h.XXVI.103.
5.5 Mobilisierungsverfahren zwischen res gestae, Regest und Register
257
materiellen Formen, aktuellem Erkenntnisinteresse und textuellen Verfahren, die die Position und Funktion der einzelnen Arbeitselemente im Arbeitsprozess bestimmte. Oft lassen sich Form und Verwendungszweck erst aus dem Verwendungskontext erschließen: So geben die in den Korrespondenzen verwendeten Bezeichnungen „Auszug“ und „Abschrift“ nicht preis, welche materielle und textuelle Form hier vorlag. Auch die Bezeichnung „Register“ war uneindeutig: Register konnten aus einem Zettelsystem bestehen, dessen einzelne Bestandteile leicht voneinander abgelöst, beschlagwortet und anderswo eingesetzt werden konnten, oder die Form einer fortlaufenden Liste annehmen, deren Elemente nur durch separate Abschriften oder durch Ausschneiden wieder voneinander zu trennen waren. Die beweglichen Arbeitselemente des Urkundenregisters waren meistens schon mehrfach bearbeitet worden, bevor sie in der Zentrale des Registers ankamen. Sie bildeten also beispielsweise Auszüge aus Abschriften von Abschriften von Abschriften, Kollationen verschiedener Transkriptionen oder Exzerpte von Abschriften, die auf der Grundlage von Faksimiles hergestellt worden waren. Die Bearbeitungen, die der Redaktor abschließend vornahm, stellten also nicht „Spuren zweiter Ordnung“ oder „Re-reproduktionen“127 sondern meistens komplexere Bearbeitungen höherer Ordnung dar. Überdies gingen die Transformationen, die diese Elemente erfuhren, in Verwicklungen und Verknotungen vor sich128 . Der Arbeitsprozess verlief mehrfach zwischen Elementen verschiedener Bearbeitungsgrade hin und her, von denen manche nur begrenzt mobilisiert wurden, andere aber in den neuen Kontext des Urkundenregisters weitertransportiert wurden. Das Arbeitsresultat, das dann zum Redaktor gelangte, war somit aus mehrfachen Übersetzungen129 zwischen verschiedenen Arbeitselementen wie auch zwischen den unterschiedlichen involvierten Akteuren und ihren Erkenntnisinteressen hervorgegangen. Die untereinander nicht trennscharfen Bezeichnungen für die komplexen Tätigkeiten der Sammler, „Registrieren“, „Sammeln“, „Rektifizieren“, „Auszüge anlegen“ oder „Abschriften anfertigen“, weisen auf den geringen Formalisierungsgrad der Bearbeitungen hin. Die lose Begrifflichkeit trug dazu bei, dass das Urkundenregister überhaupt als kollektives Unternehmen Anklang
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129
Latour: Science in Action, bes. S. 241. Es handelte sich gerade nicht um Kaskaden von Inskriptionen (Latour: Science in Action, S. 241), die von der der Urkunde selbst zu immer knapperen, abstrakteren Aufzeichnungen von größerer Reichweite fortgeschritten wären. In den Einschreibungsprozessen des Urkundenregisters konkurrierten sich in jeder Phase Elemente verschiedenster Bearbeitungsstufen, was zur Instabilität des Registers beitrug. Der Begriff der Übersetzung wird hier in einem doppelten Sinn als Übertragung von Sinn wie auch als Aushandlungsprozess verstanden, während dem die Interessen der beteiligten Akteure aufeinandertreffen und wechselseitig in Dienst genommen werden. Vgl. zum Begriff der Übersetzung in der Aktor-Netzwerk-Theorie Latour: Science in Action, S. 108–121.
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5. Materialberge: Die Sammlungspraktiken eines Urkundenregisters
fand und unterschiedliche Akteure ansprechen konnte.130 Denn die mit diesen Bezeichnungen verbundenen Arbeitstechniken waren jenen schriftlichen Ordnungs- und Erfassungstechniken ähnlich, die in institutionellen Zusammenhängen, insbesondere aber in den Bereichen staatlicher Administration, in geistlichen und in Bildungsinstitutionen, zum Einsatz kamen. Sie gehörten zu jenen „kleinen Werkzeugen des Wissens“131 , die aus den administrativjuridischen, kirchlichen und schulischen Zusammenhängen, aus denen viele der Teilnehmer stammten, mitgebracht und auf die aktuelle Situation übertragen werden konnten. Dadurch konnten die bisher oft lokal und regional beschränkten Wissensbestände zu verschiedenen Urkundenkorpora beweglich gemacht und miteinander verbunden werden. Zu sammeln hieß also, mit heterogenen Objekten umzugehen, die aus ganz unterschiedlichen Wissenskontexten und medialen Konfigurationen stammten: aus dem Bildungszusammenhang einer patrizischen Familie etwa, aus der privaten Sammlung eines lateinunkundigen Gefängnisdirektors, aus den Registraturen eines staatlichen Archivs oder aus den Publikationen historischer Vereine. In multiplen Übersetzungsprozessen wurden diese Elemente in ein als erschöpfend gedachtes Aggregat, das Urkundenregister, integriert, das im Gegensatz zu den lokal gebundenen Archivalien überall eingesetzt werden und eine neue Arbeitsgrundlage der schweizerischen Geschichtsforschung bilden konnte. Die nachträglich postulierte Leitvorstellung einer ununterbrochenen und linearen Ableitung vom urkundlichen Fundstück vor Ort zum Druckwerk, die in die Formel „aus den Originalien“132 gefasst wurde, wurde jedoch zu keinem Zeitpunkt der Arbeit aufrechterhalten. Der Eintrag im schweizerischen Urkundenregister war vielmehr das Ergebnis einer Vielzahl von nichtlinearen Übersetzungen, welche die verschiedenen Arbeitselemente miteinander verknoteten. Diese Urkundenableitungen führten ein Eigenleben: Sie blieben auch da, wenn das ihnen zugrunde liegende Schriftgut längst vernichtet oder unzugänglich geworden war. In andern Fällen war nicht mehr klar, wie solche Ableitungen zustande gekommen waren, weshalb der Abbildcharakter dieser abschriftlichen Objekte nicht mehr zu verifizieren war.
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Vgl. Löwy: The Strength of Loose Concepts, S. 73; Star/Griesemer: Institutional Ecology, ,Translations‘ and Boundary Objects, S. 387–392. So bezeichnen die Herausgeber des gleichnamigen Sammelbands treffend verschiedenste Techniken des Sammelns und Aufbewahrens von Wissen. Auch sie betonen dabei den Zusammenhang zwischen wissenschaftlichen und administrativen Praktiken. Becker/ Clark: Introduction, S. 1. Basilius Hidber an das Eidgenössische Departement des Innern, 04.03.1862, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 85.
5.6 Standardisierungsprobleme vom Register zum Original und zurück
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5.6 Standardisierungsprobleme vom Register zum Original und zurück Die in der Praxis zu beobachtende Uneinheitlichkeit des Urkundenregisters barg große Risiken. Das Register verhieß den direkten und fraglosen Zugriff auf die Urkunden. Die Heterogenität der Ab- und Umschreibeprozesse gefährdete aber die „einheitliche Durchführung“133 , welche das Register von seinen Vorgängerprojekten unterscheiden sollte. Vielen eingehenden Auszügen war nicht mehr anzusehen, welche Übersetzungsprozesse sich in ihnen verknäult hatten, was die Kontrolle der Herausgeber und die Verwendungsmöglichkeiten potentieller Nutzer massiv einschränkte und zu großen Instabilitäten führen konnte. Die neue Beweglichkeit der einbezogenen Arbeitselemente brachte also gleichzeitig das Problem hervor, wie deren Zuverlässigkeit und Kombinierbarkeit erreicht werden konnte – wie aus mobilen Elementen „immutable mobiles“ werden konnten, jene epistemischen Objekte, die nach Bruno Latour maßgeblich zum Expansionskurs von Wissenschaft beitragen, weil sie in verschiedene Kontexte übertragen werden können, ohne ihre Bedeutung zu verlieren.134 Die Projektverantwortlichen legten deshalb seit Beginn des Unternehmens mit wechselndem Erfolg Wert darauf, Arbeitsstandards zu implementieren, um die heterogenen Akteure auf bestimmte Erfassungsregeln einzuschwören. Nachdem die Sammlungstätigkeit bereits angelaufen war, konzentrierten sich die Herausgeber vor allem auf den einen Pol der Achse zwischen urkundlichem Original und Publikation, auf den Registereintrag, der standardisiert werden musste. Die Geschichtforschende Gesellschaft gab 1856 einen Rahmenplan bekannt, der nur wenig über das Vorgehen zur Zusammenfassung eines Urkundeninhalts aussagte.135 Nachdem einzelne Mitarbeiter exaktere Arbeitsvorgaben gewünscht hatten, präzisierte ein etwas eingehenderer Plan zwei Jahre später einzelne Punkte des Registrierverfahrens, um eine größe-
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Vgl. Bericht der Kommission zur Untersuchung des Urkundenregisters an den Bundesrat, 6. August 1873, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 86. Latour: Science in Action, S. 227. Der Plan sah vor:„1) Das urkundliche Datum. 2) Der Ort der Ausstellung. 3) Die Sprache, wenn sie nicht lateinisch ist. 4) Der Name des Ausstellers und der wesentliche Inhalt der Urkunde. 5) Angabe, wo das Original liegt und wo es etwa schon abgedruckt ist.“ Zirkularschreiben an potentielle Mitarbeiter des Urkundenregisters, April 1856, zit. Schweizerisches Urkundenregister, Bd. 1, Vorwort 1, Heft, S. V–XXXI: IX. Hervorhebung im Original. An der Gesellschaftsversammlung von 1855 war außerdem erwähnt worden, dass das einzelne „Regest [...] in der Art des chronologischen Registers zum Solothurner Wochenblatt von Herrn Pfarrer Fiala“ angefertigt werden könne. Protokoll der Versammlung der AGGS vom 21./22.08.1855 in Solothurn, in: Archiv für Schweizerische Geschichte 11/1856, S. VII–XII: VIII.
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5. Materialberge: Die Sammlungspraktiken eines Urkundenregisters
re „Einförmigkeit und Genauigkeit“136 zu erreichen. Die Redaktion verlangte nun, dass zusätzlich zum aufgelösten Datum auch die originalen Datumsangaben erfasst wurden,137 denn Datierungsfehler stellten eines der größten Probleme des Projektes dar, da die Chronologie dessen zentrales Ordnungselement war und jede Datierungsunsicherheit den Fortgang der Arbeit blockieren konnte. Die Frage, wie denn der Urkundeninhalt zu beschreiben sei, wurde außerdem auf zwei Arten präzisiert. Die Redaktion verwies darauf, der „wesentliche Inhalt“ sei so darzustellen, dass der „Aussteller derselben [der Urkunde, D.S.] in der Regel handelnd aufgeführt wird“.138 Indem der Aussteller zum Subjekt der Inhaltsbeschreibung bestimmt wurde, wurde eine Standardisierung der Textperspektive verfolgt, die nicht nur die Vergleichbarkeit erhöhte, sondern auch die Darstellung der Urkunde als rechtsdispositives Dokument einer Transaktion stärkte. Die Redaktion gab weitere Fingerzeige, indem sie vorgab, welche Angaben nicht in eine solche Inhaltsbeschreibung aufgenommen werden sollten: Zeugen und Siegler etwa sollten weggelassen werden, um gegenüber längeren Regestenwerken den Charakter eines Registers zu bewahren. Genauso wichtig für die Standardisierung der Inhaltsbeschreibung waren die Probeblätter, die den Arbeitsplänen beigelegt wurden. An ihnen ließ sich nicht nur die graphische Umsetzung, die in der schriftlichen Anleitung unerwähnt blieb, sondern auch die Formulierung von Urkundeninhalten studieren. Da aber die einzelnen Arbeitsschritte nicht abgebildet wurden, eigneten sich die Probeblätter weniger für einen systematischen Nachvollzug der Prozedur als für die mimetische Nachbildung. Das Problem der Bedeutungswiedergabe verschärfte sich dadurch, dass darauf verzichtet worden war, die Überlieferungsform zu präzisieren, die den Auszügen zugrunde liegen sollte. Während manche Sachkundige aus praktischen Gründen vorgeschlagen hatten, ausschließlich Druckwerke zu berücksichtigen,139 strebten die Initianten an, gleichzeitig „Archivare, die sogleich die Originalen bearbeiten würden, u[nd] Stubenarbeiter, die Druckwerke registriren könnten“140 , zu engagieren. Die Vielfalt der Überlieferungsformen wurde von der Redaktion in der ersten Arbeitsphase sehr bewusst gefördert, denn sie ermöglichte erst die breite geographische Streu136 137 138 139 140
Conspect und Probeblatt zu einem Allgemeinen schweizerischen Urkunden-Repertorium (1858), S. 4f., BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 85. Conspect und Probeblatt zu einem Allgemeinen schweizerischen Urkunden-Repertorium (1858), S. 4f., BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 85. Conspect und Probeblatt zu einem Allgemeinen schweizerischen Urkunden-Repertorium (1858), S. 5, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 85. Urban Winistörfer an Basilius Hidber, 11.12.1855 aus Solothurn, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103. Urban Winistörfer an Basilius Hidber, 11.12.1855 aus Solothurn, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103. Unterstreichung im Original.
5.6 Standardisierungsprobleme vom Register zum Original und zurück
261
ung des Registrierens und das abgestufte Engagement heterogener Akteure. Dass Hidber dieses Arbeitsprinzip Anfang der 1870er Jahre gegenüber den Behörden und Gutachtern rückblickend als nicht intendiertes Ergebnis der Unerfahrenheit der Mitarbeiter darstellte,141 lässt sich als nachträgliche Begründung für den verschlungenen Arbeitsprozess verstehen, der zunehmend in die Kritik geriet. Tatsächlich ließ diese Vielfalt der beigezogenen Überlieferungsformen viele Standardisierungsvorgaben ins Leere laufen. Dies ist deutlich an den Beiträgen von Mitarbeitern zu beobachten: Schon Theodor von Mohr hatte 1842 zweifelnd angemerkt, dass er es nicht riskieren könne, Regesten, die ihm übergeben worden waren, für sein Regestenwerk weiter zu beschneiden und in eine neue Form zu zwängen.142 Auch der St. Galler Stiftsarchivar, der in den 1850er Jahren der Ansprechpartner für die wichtigen frühmittelalterlichen Bestände des Klosters St. Gallen war, wagte es nicht, die frühesten Urkunden in Regestenform zu bringen.143 Die notwendige Beurteilung der Masse der Urkunden und ihre Überführung in die Ordnung des Registers erschienen hier als potentielle Vernichtung von Sinn. Die Unsicherheiten von Mitarbeitern hielten an: Johann Heinrich Hotz stellte 1860 fest, dass ihm die „Lust [...] vergangen“ sei, weitere Auszüge zu produzieren, und führte neben organisatorischen vor allem forschungstechnische Schwierigkeiten mit dem „interessante[n] aber häufig auch sehr trockene[n] Geschäft“ an.144 1861 beklagte sich ein Schaffhauser Archivar, dass er es statt eines Honorars für seine Arbeit begrüßt hätte, „wenn mir früher mit Gelegenheit der Empfehlung derselben und über den Grad der Brauchbarkeit & der Mängel der gelieferten Beiträge etwas Näheres mitgetheilt worden wäre“.145 Auch der Urkundensammler Harder ließ im gleichen Jahr verlauten, er befürchte, „daß seine Arbeit ungenügend oder nachgerade kaum zu brauchen sein dürfte; auch jede meiner Urkunden wenig Interesse für eine größere Sammlung haben möchten“146 , und gestand ein, deswegen nicht weitergemacht zu haben. Der Prozess des Sammelns und Registrierens wurde von verschiedenen Akteuren als ausgesprochen voraussetzungsreicher Vorgang wahrgenommen. Das Fehlen eines
141
142 143 144 145 146
„Endlich fand sich auch, dass manche Mitarbeiter, besonders die für die ältesten Zeiten, ihre Auszüge nur aus Druckwerken und Copien, nicht aber aus den Originalien selbst ausgefertigt hatten.“ Basilius Hidber an das Eidgenössische Departement des Innern, 04.03.1862, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 85. Theodor von Mohr [ohne Adressat], 26.06.1842 aus Chur, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103. Schweizerisches Urkundenregister, Bd. 1, Vorwort 1. Heft, S. V–XXXI: XVI. Johann Heinrich Hotz an Basilius Hidber, 12.07.1860 aus Zürich, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103. Johann Georg Ammann-Kuhn an Basilius Hidber, 18. Juli 1861 aus Schaffhausen, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103. Hans Wilhelm Harder an Basilius Hidber, 10.09.1861 aus Schaffhausen, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103.
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5. Materialberge: Die Sammlungspraktiken eines Urkundenregisters
regelmäßigen, institutionalisierten Austauschs147 und die anhaltenden editorischen Unsicherheiten verweisen darauf, dass die von vielen Zuarbeitern geteilten Standardisierungsprobleme dauerhaft ungelöst blieben. Die Intensivierung der zentralen editorischen Aufbereitung aller eingereichten Beiträge in den 1860er Jahren bestätigt diesen Befund. Obwohl dies die Bedeutung der Mitarbeiter minderte, war beispielsweise Harder erleichtert, dass er die Auflösung der urkundlichen Daten nun nicht mehr selber leisten musste.148 Mit der Druckvorbereitung verlagerte sich der Standardisierungsprozess in der zweiten Phase des Projekts vom Endpunkt der Bearbeitung zum bis dahin oft nur unterstellten Ausgangspunkt, dem urkundlichen Original. Damit verband sich die Annahme, dass das Studium der Urkunden vor Ort eine zuverlässigere Einordnung der wichtigsten Bearbeitungsaspekte erlauben würde. Diese Rückwendung wurde von Hidber nun in großem Stil als sekundäre Autopsie vollzogen, indem er die eingetroffenen Urkundenauszüge nurmehr als Ausgangspunkt für Forschungen vor Ort benutzte. Mit der Arbeit „aus den Originalien“149 stellten sich nun Standardisierungsprobleme, die bereits die erste Phase begleitet hatten, gleichsam unter dem Vergrößerungsglas dar. Insbesondere die frühmittelalterlichen Urkunden, die das Register einleiten sollten, waren bis dahin nur schlecht erschlossen gewesen. Die Sprache, in der sie rechtliche Vorgänge dokumentierten, erschien geradezu als rätselhaft, und Hidber betonte deshalb immer wieder die wissenschaftliche Anstrengung, die es brauchte, „[b]is nur die Urkunden des 8ten Jahrhunderts, gegen 200 Stück an der Zahl, genau durchstudirt, ihr Inhalt, der oft in der verworrensten und dunkelsten Sprache sich birgt, herausgeforscht war“.150 Dazu verzögerten außerordentlich schwierige Datierungs- und Namensprobleme den Druck immer wieder. Je genauer sich der Redaktor mit den einzelnen Urkunden beschäftigte, desto höher türmten sich die Forschungsfragen auf. Hidber und seine Berater waren mit den aktuellen Problemen der zeitgenössischen Diplomatik konfrontiert, die in den 1860er Jahren stark im Umbruch war und zudem über keine einheitliche Terminologie verfügte.151 Darüber hinaus brachte der Anspruch, mit Originalen zu arbeiten, vor147
148 149 150 151
Die verantwortliche Redaktion erstattete zwar jeweils an den Jahresversammlungen der Gesellschaft Berichte, die den Mitgliedern später in den Gesellschaftsperiodika vorlagen. Allerdings dienten diese Berichte als Ausweise der Fortschritte des Urkundenregisters, nicht als Gelegenheiten, sich über Arbeitsprobleme zu verständigen. Hans Wilhelm Harder an Basilius Hidber, 10.09.1861 aus Schaffhausen, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103. Basilius Hidber an das Eidgenössische Departement des Innern, 04.03.1862, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 85. Basilius Hidber an Bundesrat Giovanni Battista Pioda, 01.07.1862, BAR E 88 -/-, Bd. 9, Doss. 85. Basilius Hidber an das Eidgenössische Departement des Innern, 09.03.1863, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 85. 25.11.1867, ebd.. Zur Entwicklung der Diplomatik ab den 1860er Jahren vgl. Kap. 7, insbes. 7.6–7.8.
5.6 Standardisierungsprobleme vom Register zum Original und zurück
263
her latent gebliebene Forschungsfragen an den Tag. Mit der Annäherung an das „ursprüngliche“ Schriftstück, die Urkunde, stellte sich nun viel stärker die quellenkritische Frage, wie denn Originale überhaupt zu erkennen waren und von Fälschungen und Kopien unterschieden werden konnten. Sieben Jahre nach dem Beginn des Unternehmens gelangte dieses konzeptuelle Problem unvermittelt an die Oberfläche, als Hidber Georg von Wyss einen Entwurf der ersten fünf Registereinträge vorlegte. Die Antwort des Zürcher Professors war vernichtend. Von Wyss führte aus: „Vor allem, ich gestehe es, bin ich der Überzeugung, wir sollten im Urkundenregister nur eigentliche Urkunden, d. h. offizielle Ausfertigungen irgend welchen staatlichen, kirchlichen oder privatrechtlichen Geschäftes (um eine Definition zu versuchen, die der Sache am entsprechendsten scheint), aufzunehmen u. dabey nur solche Urkunden berücksichtigen, die unzweifelhaft ächt, oder doch der Ächtheit so nahe als möglich (d. h. von glaubwürdiger Seite u. nicht in viel späterer, sondern ganz naher Zeit nach dem Akte selbst aufgezeichnet) sind.“152
Mit dieser Definition, die für Wyss ein Gebot der Wissenschaftlichkeit darstellte, waren vier der fünf von Hidber vorgesehenen frühesten Registereinträge nicht als relevante schweizerische Urkunden, sondern als bloße Fälschungen und in einem Fall sogar als ein „historisch-litterarisches Stück, das nicht in unser Urkundenregister gehört“153 , kategorisiert. Der Redaktor musste sich damit begnügen, das Register mit der fünften Urkunde, einem von Wyss um das Jahr 700 datierten St. Galler Diplom, zu eröffnen. Was hier auf den ersten Blick als simpler Fehler erscheint, verweist auf konzeptuelle und politische Probleme. Der Redaktor war sich im Klaren darüber, dass die von ihm zur Diskussion gestellten ersten Einträge „auf sehr schwachen Füssen“154 standen. Fehleinschätzungen konnten zu falschen historischen Hypothesen, Korrekturen falscher Datierungen wiederum zu einer Kaskade von Revisionen anderer urkundlicher Daten, ja ganzer Ereignisreihen führen.155 Gleichwohl fiel es dem Redaktor schwer, die angeblich ältesten Urkunden nicht zu berücksichtigen. Auf dem Spiel stand mit dem Beginn des Urkundenregisters nicht allein die von Wyss so betonte Wissenschaftlichkeit des Projekts, sondern vielmehr auch die Frage nach den historisch-symbolischen Grenzen der Schweiz und den frühesten Überresten „unserer ältesten Cultur“.156 Die Bezeichnung von angeblich bis ins 6. Jahrhundert zurückreichenden Urkunden als Fälschungen konnte, befürchtete Hidber, die Bewahrer der 152 153 154 155 156
Georg von Wyss an Basilius Hidber, 09.08.1861 aus Zürich, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103. Hervorhebung im Original. Georg von Wyss an Basilius Hidber, 09.08.1861 aus Zürich, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103. Hervorhebung im Original. Basilius Hidber an Georg von Wyss, 08.08.1861 aus Bern, ZBZ FA v. Wyss IX 316.1. Vgl. Basilius Hidber an das EDI, 25.11.1867, BAR, E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 85. Georg von Wyss an Basilius Hidber, 8.03.1862 aus Zürich, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103. Basilius Hidber an Georg von Wyss, 13.08.1861 aus Bern, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103.
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5. Materialberge: Die Sammlungspraktiken eines Urkundenregisters
Urkunden vor Ort irritieren und sogar Zugangsrestriktionen nach sich ziehen. Zu fürchten war insbesondere, dass die Chorherren von St. Maurice im Wallis seinen Zugang zum Archiv in Zukunft noch mehr erschweren würden, wenn eine ihrer frühesten Urkunden als Fälschung bezeichnet würde. Hidber lenkte schliesslich trotzdem ein und erwähnte die gefälschten Urkunden nur noch im Vorwort. Um den pejorativen Beigeschmack des Fälschungsbegriffs zu vermeiden, einigte er sich mit Wyss auf den Terminus „unecht“.157 Die Standardisierung der Arbeitspraktiken im Schweizerischen Urkundenregister stieß nicht nur durch die unterschiedlichen Vorverständnisse der Beteiligten, sondern auch durch die Politiken historischer Repräsentation, die lokal verankert waren, an ihre Grenzen. Relevanz-, Datierungs- und Echtheitsfragen konnten potentiell für lokale Agenden in Dienst genommen werden. Gerade deshalb hatte man möglicherweise mit der geographischen Radizierung des Urkundenregisters auf das Gebiet der modernen Schweiz ein relativ einfach anzuwendendes sachliches Kriterium für die Zugehörigkeit einer Urkunde zum Register vorgegeben. Der unberücksichtigte Ordnungsvorschlag François Forels für das Urkundenregister lässt die Auseinandersetzungsanlässe erahnen, die mit komplexeren Ordnungskriterien einhergingen. Forels Forderung, das Register nach Bistümern zu ordnen, kann nämlich als symbolische Stärkung der Westschweizer Perspektive gelesen werden, die zumindest darstellungstechnisch den mächtigen Herrschaftskomplex Bern im Schatten des Bistums Lausanne hätte versinken lassen. Die schweizerische Urkunde als epistemisches Objekt hatte auch als geschichtspolitisch relevante Einheit unscharfe Grenzen, die in verschiedensten Anläufen ausgehandelt werden mussten.
5.7 Eine regulative Figur: Die Registrierung des Wesentlichen In der Gestaltung des Urkundenregisters, die durch das Untersuchungsverfahren schließlich systematisch demontiert wurde, kamen verschiedene Auffassungen des Registrierens zusammen. Diese divergierenden Konzepte lavierten zwischen einem Verständnis der Urkunde als materiellem Objekt, als Kodifizierung eines Rechtsinhalts und als Zeugnis der res gestae, der historischen Tatsachen. Das deklarierte, im Vordergrund stehende Konzept des Schweizerischen Urkundenregisters wollte den Benutzern eine „Ue157
Vgl. Basilius Hidber an Georg von Wyss, 13.08.1861 aus Bern, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103. Die Urkundenbestände von St. Maurice galten als besonders schwer zugänglich. Kurz vorher war offenbar der Historiker der Monumenta Germaniae Historica Philipp Jaffé vom Walliser Kloster abgewiesen worden. Zur Fälschungsproblematik vgl. auch Kap. 6.1, 6.6, 7.6.
5.7 Eine regulative Figur: Die Registrierung des Wesentlichen
265
bersicht des urkundlichen Stoffes zur schweizerischen Geschichte“158 , ein Findmittel liefern, mit dem man auf die materielle Einheit des urkundlichen Schriftstücks zugreifen konnte. Ein Teil des erfassten Schriftguts war schon vorher in Druckwerken zugänglich gewesen, deren Ordnungslogik sich an anderen Größen als dem modernen Staat orientiert hatte. Das Register zog den roten Faden der chronologischen Reihung durch das verstreute Schriftgut und ermöglichte damit eine neuartig umfassende Übersicht über die urkundlichen Grundlagen der Schweizer Geschichte. Der Anspruch auf eine flächendeckende Abdeckung der Urkundenlandschaft war mit einer bewussten Selbstbeschränkung verbunden, die sich gerade aus der Differenz zur Erfassungsform des Regestenwerks definierte, von der sich die Initianten nach dem gescheiterten Sammlungsvorhaben Theodor von Mohrs absetzten.159 Als Georg von Wyss im Jahr 1862 Basilius Hidber eine Rückmeldung zu ersten Druckentwürfen gab, ermahnte er ihn nochmals ausdrücklich, alle ausholenden Erklärungen und Kommentare wegzulassen und damit eine „scharfe Begrenzung des wissenschaftlichen Begriffes, welcher dem Unternehmen zu Grunde liegt“160 , zu verfolgen. Gegenüber einem Regestenwerk sollten sich Registereinträge durch Kürze und die Abwesenheit von weitergehenden Interpretationsleistungen auszeichnen. Damit war impliziert, dass das Register den Beizug von Editionen nicht ersetzten konnte.161 In dieser Theorie des Registrierens sollte sich die Aufnahme auf eine reine Ortung und objektive Charakterisierung des materiellen Objekts der Urkunde beschränken. Urban Winistörfer wollte auf die zum Teil nur gegen Bezahlung zu erhaltenden Urkundenabschriften aus Archiven verzichten und ging davon aus, dass eine „einfache Angabe der Urkunden (was ich als Register verstehe)“162 reiche, die die Archive kostenlos lieferten. In der Praxis erschien diese Vorgabe allerdings nicht so eindeutig, wie sich die Initianten gewünscht hätten. So verstand der Einsiedler Geschichtsforscher Pater Gall Morel die Fixierung auf den Registerbegriff nicht, denn er ging davon aus, dass „ein Register mit Angabe des wesentlichen Inhaltes“, wie es das Urkundenregister sei, zwangsläufig einer Regestensammlung gleichzusetzen sei.163 Im Wortgebrauch vieler Beteiligten zeigt sich, dass die Unterscheidung oft als nicht 158 159 160 161 162 163
Bericht der Untersuchungskommission an das Eidgenössische Departement des Innern, 06.08.1873, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 86. Vgl. z. B. Josef Karl Krütli an das Eidgenössische Departement des Innern, 02.05.1860, BAR, E 88 - /--, Bd. 9, Doss. 85. Georg von Wyss an Basilius Hidber, 7./08.01.1862 aus Zürich, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103. Hervorhebung im Original. Bericht der Untersuchungskommission an das Eidgenössische Departement des Innern, 06.08.1873, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 86. Urban Winistörfer an Basilius Hidber, 30.03.1855 aus Solothurn, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103. Hervorhebung im Original. Gall Morel an Basilius Hidber, 04.05.1856 aus Einsiedeln, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103. Hervorhebung im Original.
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5. Materialberge: Die Sammlungspraktiken eines Urkundenregisters
trennscharf betrachtet wurde.164 Mit der Kurzumschreibung des „wesentlichen Inhaltes“ verfügten die Registereinträge tatsächlich über einen regestartigen Kernbestandteil, der weit über eine Benennung oder Identifizierung der Urkunde hinausging und als dehnbare Aufnahmekategorie beträchtliche Interpretationsspielräume eröffnete. Diese Interpretationsspielräume entfalteten sich in der Kategorie des „wesentlichen Inhalts“, die als Zielvorgabe, aber auch bei der Formulierung von Kritik zum Tragen kam. So wurde im Bericht der Untersuchungskommission festgehalten, dass Basilius Hidber mit seinen Registereinträgen den Imperativ des Wesentlichen mehrfach verletzt habe. Die Unregelmäßigkeit betraf die Ausgestaltung der Registereinträge, die ab der Mitte des ersten Bandes ausführlicher wurden und sich von der selbstauferlegten Beschränkung „auf das Nothwendigste“ entfernten.165 Hidber weitete seine Einträge nach Ansicht der Kommission auf ungleichmäßige Weise aus, „willkürlich hier, bald dort, innerhalb verschiedener nicht stets wesentlichen Bestandttheilen [sic] der Urkunden, so dass von Gleichheit der Behandlung nicht mehr die Rede sein“ könne und nicht mehr zwischen „wesentlichen u. unwesentlichen Bestandteilen der Urkunden innerhalb der Auszüge“ unterschieden werde.166 In den Augen der Gutachter führte die angestrebte größere Detailgenauigkeit durch die nicht eingehaltene Gleichmäßigkeit der Wiedergabe paradoxerweise zu einer größeren Unschärfe. Das „Wesentliche“ wurde gleichzeitig von Hidber selbst in Anspruch genommen. Typisch für diesen Einsatz ist ein Rechenschaftsbericht des Urkundenregisters, in dem drei verschiedene Registrierungen einer Schenkungsurkunde aus dem 12. Jahrhundert vorgeführt wurden. Die Demonstration bot eine Serie von Auszügen, deren Unterschiede bereits quantitativ ins Auge fielen. Während die älteren beiden Registrierungen kurz gehalten waren, evozierte der von Hidber selbst erstellte Registereintrag, der als Musterbeispiel angeführt wurde, durch seine Länge und sprachliche Detailliertheit größere Genauigkeit. Zusätzlich setzte er ein Fragezeichen hinter 164
165 166
So sprach der Archivar Hotz vom „Urkundenregest“. Johann Heinrich Hotz an Basilius Hidber, Dezember 1859 aus Zürich, BB Bern N Mss.h.h.XXVI.103. Johann Ludwig Sulzberger sprach ebenfalls vom „Regestenwerke“. Johann Ludwig Sulzberger an das Eidgenössische Departement des Innern, 28.07.1861, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 85. Archivar Bell schrieb, er habe die Urkunden „regestrirt“. Alois Friedrich Josef Bell an Basilius Hidber, 08.08.1862 aus Luzern, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103. Auch gesellschaftsintern war manchmal noch von „Regesten“ die Rede, wenn das Register gemeint war. Protokoll der Versammlung der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft vom 21./22.08.1855 in Solothurn, in: Archiv für Schweizerische Geschichte 11/1856, S. VII–XII: VIII; Zur Regestensache, in: Anzeiger für schweizerische Geschichte und Alterthumskunde I/1855, S. 40. Bericht der Untersuchungskommission an das Eidgenössische Departement des Innern, 06.08.1873, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 86. Bericht der Untersuchungskommission an das Eidgenössische Departement des Innern, 06.08.1873, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 86.
5.7 Eine regulative Figur: Die Registrierung des Wesentlichen
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das urkundlich behauptete Datum, das die beiden älteren Bearbeitungen unbesehen übernommen hatten.167 Allerdings konnte die Demonstrationsanordnung nur suggerieren, dass Hidber das „Wesentliche“ getroffen hatte: Abgesehen von der Aussage über die Datierung, die anhand der unterbreiteten Informationen überprüft werden konnte, gab der Bericht nämlich kein Instrument in die Hand, um den Registereintrag zu überprüfen. Die elliptisch gehaltene Beweisanordnung gewährt Einblick in die implizit bleibenden Operationen des Urkundenregisters. In die Bestimmung des „Wesentlichen“ gingen Entscheidungen und Deutungen ein, die nicht durch explizite Standards angeleitet waren, sondern auf den Urteilen der Mitarbeiter, ihren Vorkenntnissen und der Nachahmung von Vorbildern beruhten. Die Figur des „Wesentlichen“ sprengte die lediglich ortende Zielsetzung der materiellen „Feststellung“ der Urkunden. Sie zog sich als loser Grenzbegriff168 durch das Projekt, der von verschiedenen Seiten angeeignet und mit jeweils spezifischen Inhalten gefüllt werden konnte und als Regulativ des impliziten Wissens und der divergierenden Interessen und Konzepte der verschiedenen Akteure diente. Über die Figur des „Wesentlichen“ erschließen sich zwei weitere Verständnisse des epistemischen Objekts der urkundlichen Quelle, die mit der Vorstellung der Urkunde als materieller Einheit in einem Spannungsverhältnis standen. Im Arbeitsplan von 1858 wurde angegeben, dass die Beschreibung des „wesentlichen Inhalts“ der Urkunde in der Perspektive des handelnden Ausstellers erfolgen solle. Damit war die Urkunde als Dokument rechtlicher Vorgänge angesprochen und der „Rechtsinhalt“ der Urkunde zum wesentlichen Kern des Dokuments erklärt. Hier wurde die Urkunde nicht in erster Linie als materiale Einheit, sondern als Rechtstext gedacht, der durch geeignete textuelle Verfahren wie das Regestieren unversehrt transportiert werden konnte. Dieses Verständnis hatte zur Folge, dass der Einbezug von Urkunden als historische Quellen unter rechtliche Kriterien gestellt wurde. Dies hatte verschiedene Auswirkungen auf die Erfassungspraxis: Zum einen berücksichtigte das Urkundenregister gefälschte Urkunden grundsätzlich nicht, es sei denn ihr Status war – wie dies Hidber zunächst für die angeblich ältesten, gefälschten Urkunden aus dem 6. Jahrhundert annahm – nicht eindeutig geklärt.169 Weil ihnen keine rechtliche Geltung zukam, wurden die gefälschten Urkunden für bedeutungslos erklärt. Zum andern kam es in dieser Perspektive nicht auf das materielle Substrat, sondern auf den unverdorbenen Text oder kondensierten Inhalt der Urkunde an, der grundsätzlich auch einer Kopialüberlieferung, Editionen, Druckwerken oder früheren Regesten 167 168 169
Georg von Wyss, Josef Ignaz Amiet, Rechenschaftsbericht an das Eidgenössische Departement des Innern, 19.10.1870, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 85. Löwy: The Strength of Lose Concepts, S. 374f. Die Allgemeine Geschichtforschende Gesellschaft an das Eidgenössische Departement des Innern, 04.03.1862, unfol., BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 85.
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5. Materialberge: Die Sammlungspraktiken eines Urkundenregisters
entnommen werden konnte.170 Es war wohl gerade diese Beschränkung auf die Rechtsinhalte der Urkunde, die es vielen Mitarbeitern, die Erfahrung im politischen und administrativen Bereich hatten, möglich machte, sich am Projekt zu beteiligen. In dieser Perspektive war der Zugriff auf das Original ebenso wenig zwingend wie die Auseinandersetzung mit den historischen Kontexten der Urkundenausstellung. Dadurch unterminierte das Verständnis der Urkunde als Rechtsdokument den Anspruch auf die materielle Identifizierung der urkundlichen Objekte. So notierte der Gutachter Jakob Kaiser zum Urkundenregister, „Man erfährt selten, ob d[a]s benuzte Document Original (besiegelt oder nicht), Copie usw. sei; oder ist gemeint, daß wo nichts steht, es ein Original sei? Wann, da öfter für dieselbe Urk[un]de ohne weitere Bemerkung zwei Archive angegeben sind.“171 Darüber hinaus war eine dritte Konzeption der urkundlichen Quellen im Spiel, die diese als Zeugnis der res gestae, der historischen Tatsachen betrachtete, die besonders unverfälscht waren, weil sie nicht bewusst als Tradition gestaltet worden waren.172 In dieser Sicht spiegelte die chronologische Anordnung des Urkundenregisters gleichzeitig eine Abfolge historischer Vorgänge. Auch in dieser Perspektive war die Fälschungsproblematik zentral: Die einzelnen Urkunden waren – diesmal als Beweise geschichtlicher Vorgänge – auf das strengste auf ihre Echtheit zu prüfen. Dieses Interesse an den res gestae, das im Projekt immer wieder bemüht wurde, konnte die erforderliche Gleichmäßigkeit in der Behandlung der Urkunden unterlaufen und sich gegen die gleichmäßige Berücksichtigung der Urkunde sowohl als materielles Objekt wie als Rechtstext richten. So behandelte Hidber die bereits gedruckten Urkunden weniger ausführlich als die noch ungedruckten, um noch unbekannte Einzelheiten zu einer Geschichte der Schweiz beizutragen. Als Historiker wollte Hidber nicht nur den Rechtstext wiedergeben, sondern darüber hinaus hervorstreichen, was sich in der Urkunde „Thatsächliches und Individuelles“ darbiete.173 Das Historische als der „wesentliche Inhalt“ der urkundlichen Quelle bildete eine vage Größe, deren Bestimmung von verschiedensten Kontextualisierungs- und Verwendungsabsichten abhing und sich als außerordentlich umstritten und situativ erwies. Als der Zürcher Staatsarchivar Hotz sich daran machte, Bestände aus dem Zürcher Staatsarchiv zu exzerpieren, ging er davon aus, die bereits vorhandenen Archivregistraturen seiner Vorgän170 171 172
173
Bericht der Untersuchungskommission an das Eidgenössische Departement des Innern, 06.08.1873, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 86. Jakob Kaiser, Notizzettel Nr. 21, BAR E 88 -/--, Bd. 10, Doss. 91. Der Untersuchungsbericht nennt Urkunden eine „Gattung historischer Quellen“, die „unmittelbarste Beweise geschichtlicher Vorgänge“ darstellen. Bericht der Untersuchungskommission an das Eidgenössische Departement des Innern, 06.08.1873, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 86. Basilius Hidber und Georg von Wyss an das Eidgenössische Departement des Innern, 15.02.1870, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 85.
5.7 Eine regulative Figur: Die Registrierung des Wesentlichen
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ger als Vorlagen benutzen und den Blick auf die Originale vermeiden zu können. Er täuschte sich gründlich: Neben vielen Übertragungsfehlern – etwa Fehlkopien, falschen Auflösungen von Daten und Abkürzungen und Flüchtigkeitsfehlern – traf er auf ein grundlegendes Verständnisproblem: „Da sie [die Registraturen, D.S.] in fiskalischem Interesse gemacht sind, so enthalten sie vorzüglich das worauf nichts ankommt – zB wie viel Mütt Kernen auf einem Grundstück haften etc. – & lassen das historisch Interessante aus.“174
Hotz’ Vorgänger hatten ihre Regesten und Registraturnotizen mit ganz anderen Gebrauchsabsichten angefertigt: Ihre Verzeichnisse standen im pragmatischen Zusammenhang der staatlichen Dokumentation von Besitz- und Herrschaftsverhältnissen. Was sie an Urkundeninhalten als wesentlich betrachteten, nämlich die mit Herrschaftsrechten verknüpften Abgaben, deckte sich nicht mit Hotz’ Vorstellungen, was historisch von Bedeutung sei. Außerdem bemängelte der Zürcher Archivar die mangelnde Epochentreue der Registereinträge, deren „Ausdrucksweise überaus abgeschmackt-modern“175 sei. Er vermisste die historisierende Begrifflichkeit der geschichtswissenschaftlichen Terminologie, die seinen Vorgängern fremd gewesen war. Anstatt sich also von den Registraturen seiner Vorgänger aus zu den Registereinträgen für das Urkundenregister vorzuarbeiten, war Hotz durch diese Übersetzungsprobleme wider Willen auf das Original zurückverwiesen. Involviert war hier nicht nur ein anderes Gebrauchsinteresse, sondern auch eine sich wandelnde Vorstellung historischer Relevanz: Die Tatsache, dass Hotz wirtschaftshistorische Daten als historisch uninteressant einstufte, weist auf ein Konzept von Geschichte, das sich gegenüber demjenigen der Zeit um 1800 auf politische Geschichte verengt hatte. Zudem zeigt Hotz’ Kritik einen Wandel in der Taxierung des Wesentlichen an, der von der Rechts- und Verwaltungsperspektive des Archivs zur politikhistorischen Perspektive der Historiker und ihrem Historisierungsanspruch verlief. Die Sammlungspraktiken und Objektverständnisse der am Schweizerischen Urkundenregister beteiligten Historiker folgten also einer heterogenen und teilweise spannungsvollen Forschungslogik. Sie lassen sich nicht allein aus den Standardisierungsvorgaben der Redaktion erschließen: Diese waren sehr allgemein gehalten und wurden nicht offensiv durchgesetzt, um die meist unentgeltlich arbeitenden Laienbeiträger nicht abzuschrecken. Überdies setzten sie ein Wissen voraus, das in vielen Aspekten nicht expliziert wurde. Die Untersuchung der in der Arbeitspraxis angelegten Unklarheiten und Konflikte erlaubte Einblicke in die Produktion und Wirkungsweise von oft implizit bleibenden Quellenkonzepten. Die Urkunden, die gesammelt und
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Johann Heinrich Hotz an Basilius Hidber, 12.07.1860 aus Zürich, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103. Hervorhebung im Original. Johann Heinrich Hotz an Basilius Hidber, 12.07.1860 aus Zürich, BB Bern N: Mss.h.h.XXVI.103.
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5. Materialberge: Die Sammlungspraktiken eines Urkundenregisters
erforscht werden sollten, standen dabei als epistemische Dinge, als „Dinge, denen die Anstrengung des Wissens gilt“176 , im Zentrum des Erschließungsaufwandes. Allerdings kamen die meisten Mitarbeiter nicht in der materiellen Form des Originals mit ihnen in Berührung. Gesammelt, kombiniert und weiterverwertet wurden vielmehr zunächst Ableitungen des urkundlichen Originals, die aus verwickelten Übersetzungen hervorgegangen waren: etwa Transkriptionen und Auszüge, Textvergleiche, Archivregisterauszüge, Faksimiles und Übersetzungen. Deren Eigenschaften und Wirkungsweisen blieben oft undiskutiert und wurden erst dann problematisiert, wenn sie in Konfliktfällen vorübergehend zu Gegenständen der konzeptuellen und politischen Auseinandersetzung wurden. Die Registrierungsarbeit änderte in oft fließenden Übergängen immer wieder ihren Problemfokus und brachte flüchtige Gegenstände des Wissens hervor, die die Projektleitung des Urkundenregisters nicht immer stabilisieren konnte. Die Heterogenität und Unschärfe der zugrundeliegenden Objektverständnisse lässt sich an den losen Begrifflichkeiten ablesen, die verwendet wurden. Sie zeigt sich insbesondere an der regulativen Figur des „Wesentlichen“, die verwendet wurde, um das epistemische Objekt der schweizerischen Urkunde näher zu definieren. Das „Wesentliche“ war inhaltlich unterbestimmt und ermöglichte wohl gerade dadurch heterogenen Beiträgern das Mitmachen. Wie die Einschätzung der Urkundeninhalte oder das Verständnis für die Ausgewogenheit eines Registereintrags war das Wissen vom Wesentlichen Bestandteil eines personengebundenen, impliziten Wissens, das in der Praxis gelernt und anhand von Probedrucken mimetisch nachvollzogen wurde. Es konnte die Praxis deshalb oft nicht explizit regeln, sondern nur „begleiten“.177 Wie die Urkunden selbst war auch dieses implizite Wissen vielfachen Ursprungs und nicht ausschließlich durch die geschichtswissenschaftlichen Kenntnisse der Hochschulhistoriker angeleitet. Es speiste sich vielmehr ebenso sehr aus den staatlichen und kirchlichen Wissens- und Verwaltungszusammenhängen, aus denen viele der beteiligten Akteure stammten, und aus den Amateurtätigkeiten der historischen Vereine, Gesellschaften und Publikationsforen. Dass das Wesentliche, das hier zum Vorschein kam, zwischen Materialität, Rechtstext und historischer Tatsache oszillierte, hatte mit dieser Vielfalt zu tun.
176 177
Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S. 24. Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge, S. 82.
6. Quellen im Bild: Fotografien für ein repräsentatives Tafelwerk Die Monumenta graphica machten sich als erstes geschichtswissenschaftliches Forschungsprojekt das noch junge Verfahren der Fotografie in größerem Umfang zunutze.1 Das Tafelwerk nahm den späteren Erfolg fotografischer Verfahren in der Geschichtswissenschaft bereits in den 1850er Jahren vorweg; es wurde am Institut für Österreichische Geschichtsforschung und in der kaiserlich königlichen Hof- und Staatsdruckerei entwickelt, von Theodor Sickel geleitet, vom österreichischen Bildungsministerium finanziert und in den Jahren 1858 bis 1882 publiziert. Das Werk erschien in zehn Lieferungen und bot dem Historikerauge 200 Fotografien von Urkunden und Manuskriptseiten dar. Im Gegensatz zu Editionen oder Regesten bildeten Bildreproduktionen historischer Schriftquellen nicht nur Texte, sondern auch nichtsprachliche Gestaltungselemente ab. Mit der Abbildung historischer Schriftquellen wurde zugleich das Verhältnis von Bild und Schrift, Gestalt und Text, Form und Inhalt sichtbar gemacht. Die Analyse der Monumenta graphica erlaubt es deshalb, nicht nur den spezifischen Forschungsverfahren und Erschließungsproblemen nachzugehen, die mit der Quellenfotografie einhergingen, sondern auch die neuartigen epistemischen und sozialen Effekte zu untersuchen, die dieses moderne Bildgebungsverfahren im geschichtswissenschaftlichen Arbeitszusammenhang zeitigte. Faksimiles sind bisher vor allem im Rahmen der Buch- und Kunstgeschichte behandelt worden.2 In technikgeschichtlicher Perspektive erscheint ihre Geschichte oft als Reihe von technologischen Innovationen, die von 1
2
Monumenta graphica medii aevi ex archivis et bibliothecis imperii Austriaci collecta edita iussu atque auspiciis ministerii cultus et publicae institutionis Caesaris regis, Fasc. IX, Wien 1859–1882; Die Texte der in den Monumenta graphica [. . . ] enthaltenen Schrifttafeln, Lieferung 1–9, Hrsg. Theodor Sickel, Wien 1859–1869, Lieferung 10, Hrsg. Karl Rieger, Wien 1882. Nach Thomas Hilka sind Versuche, Schriftgut genau zu reproduzieren, so alt wie „die Erkenntnis der immateriellen Wertbeständigkeit schriftlich fixierten Kulturgutes“: Zur Terminologie und Geschichte der Faksimilierung, in: Bibliothek. Forschung und Praxis 9/1985, S. 290–299: 291. Als erstes Faksimile der Buchgeschichte gilt die Herausgabe einer Kupferstichausgabe der „Goldenen Bulle“ in der Prachthandschrift von König Wenzel durch den Frankfurter Rechtshistoriker Heinrich Günther Thülemeyer im Jahr 1697. Für den Bereich der Diplomatik gehörten seit Jean Mabillon, der seinem die Diplomatik begründenden Handbuch „De re diplomatica“ von 1681 eine Faksimilesammlung beilegte, Faksimiles zum gebräuchlichen Instrumentarium. Cristina Urchueguía: Edition und Faksimile. Versuch über die Subjektivität des Objektivs, in: Rüdiger Nutt-Kofoth/Bodo Plachta/H. T. M. van Vliet et al. (Hrsg.): Text und Edition. Positionen und Perspektiven, Berlin 2000, S. 323–352: 325, Fn. 9; Manfred Kramer: Was ist ein Faksimile? Geschichte und Technik des Faksimiles, in: Imagination 1/1986, S. 6f. Vgl. auch: Stadt- und Universitätsbibliothek Bern, Burgerbibliothek Bern, Schweizerisches Gutenbergmuseum Bern et al.
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6. Quellen im Bild: Fotografien für ein repräsentatives Tafelwerk
der Verbreitung des Buchdrucks an der Schwelle zur Neuzeit über den Einsatz des Kupferstichs und später des Steindrucks bis zur Anwendung fotografischer Methoden und ihrer Vervielfältigung mittels verschiedenster Druckverfahren im 19. Jahrhundert reicht. In der Fortschrittsperspektive einer solchen Technikgeschichte stellt die Erfindung der Fotografie die Krönung der Abbildungsverfahren dar, die es endlich ermöglichte, „echte“ Faksimiles herzustellen.3 Dagegen haben neuere wissenschafts- und kulturgeschichtliche Arbeiten zum Einsatz fotografischer Techniken darauf hingewiesen, dass neue Visualisierungstechniken die Zugriffsmöglichkeiten auf Phänomene nicht einfach verfeinerten. Vielmehr ging der technologische Wandel mit Veränderungen der Wahrnehmungsgewohnheiten und des Verständnisses von Abbildung wie auch von Objektivität einher, die auf das wissenschaftliche Arbeiten zurückwirkten.4 Allerdings blieben die speziell für Zwecke der Geschichtsforschung hergestellten Nachbildungen historischer Quellen lange im Hintergrund der Wissenschafts- und Historiographiegeschichte.5 Erst Wolfgang Ernst untersuchte anhand von lokalen Sammlungen von Urkundenfotografien des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts, die als Archive höherer Ordnung konzipiert waren, den „Einbruch der Bilder in den Text“6 und die Folgen für das mediale Gedächtnis deutscher Geschichte.7 Gegenüber solchen Sammlungen von fotografischen Unikaten waren publizierte Tafelwerke wie die Monumenta graphica, die auf fotografischen Verfahren
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(Hrsg.): Machs na. Fac-simile, Berner Gemeinschaftsausstellung zu Buchkunst und Faksimiliertechnik, Bern 1985. So die Einschätzung Thomas Hilkas, wonach erst die Erfindung der Fotografie „die Reproduktionsverfahren objektiviert und somit eine echte Faksimilierung ermöglicht“ habe. Hilka: Zur Terminologie, S. 298. S. z. B. Anja Zimmermann: Ästhetik der Objektivität. Genese und Funktion eines wissenschaftlichen und künstlerischen Stils im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2009; Hubert Locher: Reproduktionen. Erfindung und Entmachtung des Originals im Medienzeitalter, in: Matthias Bruhn, Kai-Uwe Hemken (Hrsg.): Modernisierung des Sehens. Sehweisen zwischen Künsten und Medien, Bielefeld 2008, S. 39–53; Daston/Galison: Objektivität, bes. S. 121–200; Thomas Kleinknecht: Die Fotografie – ein neues Bildmedium im Wissenschaftspanorama des 19. Jahrhunderts. Einführung in das Symposium, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 28/2005, S. 103–113; Peter Geimer: Einleitung, in: ders. (Hrsg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie. Frankfurt a. M. 2002, S. 7–25; Urchueguía: Edition und Faksimile; Jennifer Tucker: Photography as Witness, Detective, and Imposter. Visual Representation in Victorian Science, in: Bernard Lightman (Hrsg.): Victorian Science in Context, Chicago 1997, S. 378–408; Hillel Schwartz: The Culture of the Copy. Striking Likenesses, Unreasonable Facsimiles, Cambrige, MA 1996. Vgl. dazu Peter Rück: Im Zeitalter der Fotografie, in: ders. (Hrsg.), Mabillons Spur. Zweiundzwanzig Miszellen, Marburg an der Lahn 1992, S. 39–52: 41. Ernst: Im Namen von Geschichte, S. 241. Ernst: Im Namen von Geschichte, S. 241–270, bes. S. 246–256. S. auch Peter Rück (Hrsg.): Fotografische Sammlungen mittelalterlicher Urkunden in Europa. Geschichte, Umfang, Aufbau und Verzeichnungsmethoden der wichtigsten Urkundenfotosammlungen, mit Beiträgen zur EDV-Erfassung von Urkunden und Fotodokumenten, Sigmaringen 1989.
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beruhten, weiter verbreitet. Darüber hinaus wurden auch Sachquellen wie Siegel und Gemmen im Untersuchungszeitraum nicht nur in Editionen beschrieben, sondern auch durch Abgüsse reproduziert oder zweidimensional abgebildet.8 Das Kapitel untersucht die Verwendungsziele, Repräsentationspolitiken, Darstellungsverfahren und konzeptuellen Auseinandersetzungen der Monumenta graphica.9 Neben den wissenschaftlichen Gebrauchskontexten und Abbildkonzepten der Reproduktionen kommt dabei auch die Bedeutung von fotografischen Faksimiles für die Geschichtskultur in den Blick. Die Wirkungsweise dieser Quellenfotografien kann nicht nur aus den technischen Möglichkeiten der Fotografie heraus erklärt werden, sondern steht im Kontext der sich wandelnden Verwendungszusammenhänge und Arbeitskonzepte. Die technischen Verfahren und verwendeten Apparaturen werden hier deshalb als Bestandteile der Infrastrukturen und umstrittenen Ressourcen des Projekts diskutiert. Im Folgenden kommen zunächst die Verwendungsziele, politischen Erfolgsbedingungen und historischen Repräsentationspolitiken des ehrgeizigen, kostspieligen und technisch anspruchsvollen Unternehmens zur Sprache (Kapitel 6.1 und 6.2). In einem zweiten Schritt soll danach gefragt werden, welche Infrastrukturen, Akteure und materiellen Voraussetzungen das Projekt trugen (Kapitel 6.3 und 6.4). Zuletzt sollen die konzeptuellen Auseinandersetzungen diskutiert werden, die den Einsatz fotografischer Techniken begleiteten: Wenn über die divergierenden Einschätzungen der Wirkungsweise der Fotografie diskutiert wurde, kamen auch Objektkonzepte, epistemische Zielsetzungen und Standardisierungspraktiken zur Sprache, die zur Weiterentwicklung und Schließung des historischen Forschungsverständnisses beitrugen (Kapitel 6.5 bis 6.7).
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Ed. Melly: Ueber Siegelkunde und Siegelsammlungen, in: Zeitschrift für die Archive Deutschlands 2/1850, S. 48–55: 54. Zum Stand des Faksimilebegriffs und zu populären Verwendungskontexten im Untersuchungszeitraum vgl. Kap. 6.3. Einen Überblick über die Geschichte der „Monumenta graphica“ liefern: Winfried Stelzer: Theodor Sickel und die Fotografie der 1850er Jahre. 150 Jahre „Monumenta graphica medii aevi“, der Fotograf Moritz Lotze (Verona) und Plagiate am letzten Portraitfoto Radetzkys, in: Johannes Gießauf (Hg.): Päpste, Privilegien, Provinzen. Beiträge zur Kirchen-, Rechts- und Landesgeschichte, Wien 2010, S. 419–448; Lhotsky: Geschichte des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, S. 52–61; Josef Karl Mayr: Die Anfänge Theodor Sickels, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 62/1954, S. 537–573: 562–564.
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6.1 Didaktische Nützlichkeit und politische Repräsentation Die Monumenta graphica waren ein Renommierunternehmen der österreichischen Bildungsbehörden, das als historisch repräsentatives Quellenwerk wie als Hilfsmittel für den historischen Unterricht gedacht war. Der paläographische Unterricht am Institut für Österreichische Geschichtsforschung war von Beginn an auf Demonstrationsobjekte angewiesen, anhand derer die Studenten sich mit konkreten Schriftbildern von Quellen vertraut machen konnten. Allerdings war in den ersten Jahren des Instituts unklar geblieben, welches curriculare Gewicht die praktische Schulung haben sollte. Der erste Leiter des Instituts, der Benediktiner Albert Jäger, sah in der hilfswissenschaftlichen Ausbildung der Studierenden höchstens „einleitende Vorstudien“.10 Zum einen schätzte er den Stand der Editionsarbeiten im österreichischen Raum derart optimistisch ein, dass er meinte, in den meisten Fällen erübrige sich ein Rückgriff auf das „ursprüngliche historische Materiale“, die „handschriftlichen erst zu Tage zu fördernden Quellen“11 . Zum anderen verstand er hilfswissenschaftliche Arbeiten lediglich als Mittel zum übergeordneten Institutszweck, den er in historiographischen Leistungen ortete.12 Jäger ging deshalb in seinem paläographischen Unterricht sehr pragmatisch vor. Er legte seinen Studierenden seine eigene kleine Sammlung von Urkunden aus dem Spätmittelalter und einen vom Trödlermarkt stammenden Zufallsbestand seines Bekannten Joseph Feil vor.13 Außerdem konnte Jäger mit dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv sowie der Hofbibliothek eine Vereinbarung treffen, um mit seinen Studenten einzelne von den Archivbeamten selbst ausgelesene Urkunden und Manuskripte einzusehen.14 Die Arbeit mit Originalen war jedoch nicht unproblematisch, weil sie diese in Mitleidenschaft zog: So zerdrückte schon im ersten Jahr ein Student ein Wachssiegel, ein anderes Mal wurde eine Urkunde entwendet.15 Darüber hinaus waren diese Übungsmöglichkeiten durch die kontingente Auswahl der Untersuchungsbeispiele eingeschränkt, und es bestand keine Möglichkeit, 10 11 12 13 14 15
Albert Jäger, Promemoria, 21.04.1857, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 668: Institut für österreichische Geschichtsforschung 1854–1890, 8617/1857, fol. 1–10, hier 5r. Albert Jäger, Promemoria, 21.04.1857, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 668: Institut für österreichische Geschichtsforschung 1854–1890, 8617/1857, fol. 1–10, hier 7v. Albert Jäger, Promemoria, 21.04.1857, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 668: Institut für österreichische Geschichtsforschung 1854–1890, 8617/1857, fol. 1–10, hier 4v–5v. Jäger: Graf Leo Thun, S. 7. Vgl. Lhotsky: Geschichte des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, S. 23, 37. Lhotsky: Geschichte des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, S. 37. Lhotsky: Geschichte des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, S. 55; Jäger: Graf Leo Thun, S. 8.
6.1 Didaktische Nützlichkeit und politische Repräsentation
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„Muster“ für die „Privatübung der Schüler“16 zuhause zu beschaffen. Obwohl an der Wiener Universität bereits vor 1848 Hilfswissenschaften gelesen worden waren und sich auch der Geschichtsprofessor Johann Nepomuk Kaiser im Vormärz um einen Lehrapparat bemüht hatte17 , gab es offenbar aus dieser Zeit kein Anschauungsmaterial für den Unterricht. Auch die Lithographien von Kupferstichen aus den paläographischen Sammlungen zweier ausgebauter hilfswissenschaftlicher Apparate, die Jäger und Sickel beschaffen konnten, reichten für die Zielsetzungen Sickels nicht aus.18 Die Bedingungen, unter denen im Institutsunterricht die Sichtung historischer Quellen eingeübt wurde, wurden von Beginn an unmittelbar durch staatliche Stellen reguliert. Zunächst mussten mit dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv Einsichtserlaubnisse ausgehandelt werden, ein Prozess, der von vielen Hindernissen gesäumt war. Denn das wichtigste Archiv der Habsburgermonarchie war zu diesem Zeitpunkt noch nicht öffentlichkeitsorientiert, sondern sah seine Hauptaufgabe darin, die Kontinuität staatlicher und dynastischer Herrschaftsansprüche zu sichern. Der spätere Archivdirektor Alfred von Arneth, der ab 1868 die Öffnung des Archivs einleitete, sprach am Ende des 19. Jahrhunderts rückblickend von einem eigentlichen „Geheimhaltungssystem“19 , das vor allem die neueren Bestände umgab, sich aber auch auf staatsrechtlich und politisch brisante ältere Akten und Urkunden ausdehnte.20 Zudem nahm das Institut die staatliche Diplomatie in Anspruch, um Übungssammlungen für Diplomatik und Paläographie aus dem Ausland anzuschaffen.21 Überhaupt war das Institut in seiner zunehmend hilfswis-
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Albert Jäger, Gesuch auf Errichtung eines Faksimile-Apparates, 20.04.1856, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 668: Institut für österreichische Geschichtsforschung 1854–1890, 10004/1856, fol. 3f., hier 3v. Lhotsky: Geschichte des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, S. 52. Theodor von Sickel, Gutachten [1856], MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 16160/1856, fol. 2–6, hier 5v. Es handelte sich um die berühmte diplomatische Faksimilesammlung der Universität Göttingen und die Sammlung der Pariser École des chartes. Zum von Johann Heinrich Gatterer aufgebauten Göttinger diplomatischen Apparat vgl. Petke: Aus der Geschichte des Diplomatischen Apparats; Götting: Geschichte des Diplomatischen Apparats. Arneth: Aus meinem Leben, Bd. 2, S. 76. Vgl. die Kontroverse über die österreichischen Freiheitsbriefe, die in den 1860er Jahren ihren Höhepunkt und Abschluss fand: Oberkofler/Goller: „Also soweit als möglich lebe ich in der Vergangenheit“, S. 31f. Zur Einsichtspolitik des Archivs vgl. Michael Hochedlinger: Das k. k. „Geheime Hausarchiv“: in: Josef Pauser/Martin Scheutz/Thomas Winkelbauer (Hrsg.): Quellenkunde der Habsburgermonarchie (16.–18. Jahrhundert). Ein exemplarisches Handbuch, München 2004, S. 33–44: 40–42. Dies bestätigen die forschungsfeindlichen Restriktionen, die dem ausländischen Dozenten Theodor Sickel während der ersten Jahre seiner Tätigkeit vom Archiv auferlegt wurden. Vgl. weiter unten, Kap. 6.2. Albert Jäger, Gesuch auf Errichtung eines Faksimile-Apparates, 20.04.1856, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 668: Institut für österreichische Geschichtsforschung 1854–1890,
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senschaftlichen Ausrichtung maßgeblich auf die Unterstützung staatlicher Beamter angewiesen.22 Die Entstehung der Monumenta graphica reihte sich in dieses staatliche Interesse an historischem Material am Übergang von Staatsdokument und historischer Quelle ein. Die Projektleitung trug dieser Koppelung von Beginn an Rechnung, indem sie didaktische mit staatspolitischen Zielsetzungen verband. Als Jäger 1856 sein Gesuch zur Beschaffung von paläographischen Sammlungen anderer Institute stellte, führte er aus, dass er eine Vorlage für einen österreichischen Lehrapparat brauche.23 Das Projekt einer institutseigenen Faksimilesammlung, das hier angedacht wurde, war national ausgerichtet und als Bestandteil der historischen Repräsentation des Habsburgerreiches konzipiert. Das geplante Übungskorpus schloss an die von Sickel im diplomatischen Unterricht durchgeführten Studien zu einer österreichischen Spezialdiplomatik24 und an Jägers Vorhaben einer österreichischen Quellenkunde an. Besonders dem Unterrichtsminister, aber auch Jäger, der sich vor allem für die Gründung einer österreichischen historiographischen Schule interessierte, ging es nicht nur darum, ein praktisches Hilfsmittel für zukünftige Archivare und historische Forscher herzustellen, sondern die Einheit des Reiches in einer Serie von prachtvollen und kostbaren Quellenreproduktionen darzustellen.25 Die Erscheinung des Tafelwerks in Form noch nie gesehener fotografischer Quellenbilder hatte repräsentative Züge, die über seine deklarierten didaktischen Inhalte hinausgingen und an verbreitete geschichtskulturelle Verwendungsweisen von Quellenbildern anschlossen.26 Allerdings verbreiteten die Monumenta graphica ihre imponierende Geschichtlichkeit, die das Bildungsministerium anvisiert haben mochte, nicht massenmedial, sondern vor allem in Ministerialkreisen, im akademischen
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10004/1856, fol. 3f. , hier 4r. Später wurden mit den Monumenta graphica Tauschgeschäfte betrieben. Zu Joseph Feil siehe weiter unten, Kap. 6.3. Albert Jäger, Gesuch auf Errichtung eines Faksimile-Apparates, 20.04.1856, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 668: Institut für österreichische Geschichtsforschung 1854–1890, 10004/1856, fol. 3f., hier 4r; Theodor von Sickel, Bericht, 20.03.1858, ebd., 4822/1858, fol. 18–25, hier 20rv. Theodor Sickel, Gesuch um Benutzung von Urkunden, 25.01.1857, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 668: Institut für österreichische Geschichtsforschung 1854–1890, 1511/1857, fol. 4f., hier 4r. Den Repräsentationszwecken wurde Rechnung getragen, indem neben einer Schulausgabe eine Prachtausgabe herausgegeben wurden. Lhotsky: Geschichte des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, S. 60, Fn. 41. S. Kap. 6.3.
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Kontext, in den Geschichtsmuseen und in Bibliotheken, also in elitären Bereichen der Gesellschaft.27 Theodor Sickel arbeitete einen Gestaltungsplan aus, der sowohl das gesamtstaatliche Repräsentationsbedürfnis des österreichischen Staates als auch sein eigenes paläographisches und diplomatisches Erkenntnisinteresse berücksichtigte. Der Plan war das Resultat von Interessenabwägungen entlang mehrerer Achsen. Schon der zeitliche und geografische Umfang musste der staatspolitischen Ausrichtung gerecht werden. Als „österreichische Documente“ galt Sickel potentiell alles im Gebiet des zeitgenössischen Staates überlieferte Schriftgut, also auch Überlieferungen aus der Antike und außereuropäische Dokumente, die in Österreich erhalten waren. Er betonte, dass gerade die altrömischen Inschriften, die zu dieser Zeit häufig ausgegraben wurden, und die griechischen Handschriften in Wien und Venedig größte Aufmerksamkeit verdienten. Sie waren zwar nicht Dokumente einer österreichischen Geschichte im engeren Sinn, aber Dokumente Österreichs, Kulturschätze, die im internationalen Wettbewerb der Wissenschaft wichtiges Kapital bildeten. Trotzdem empfahl Sickel unter Berufung auf die Unterrichtsgrundsätze der École des chartes, antike Überlieferungen und außereuropäische Dokumente aus dem Projekt auszuschließen, um eine gründliche Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen Überlieferung Österreichs zu ermöglichen. Dagegen ließ er es offen, inwiefern in slawischen Sprachen abgefasste spätmittelalterliche Dokumente berücksichtigt werden sollten.28 Durch diese zeitliche und geografische Abgrenzung wurde die inhaltliche Weichenstellung ins fotografische Unterrichtsmaterial eingeschrieben, die für den weiteren Verlauf der Unterrichtsschwerpunkte am Institut für österreichische Geschichtsforschung maßgeblich sein sollte: Das Institut behandelte schwerpunktmäßig mittelalterliche Überlieferungen aus den deutschsprachigen Teilen des Kaiserstaats bis zu Maximilian I. und ließ spätantike Entwicklungen, die sich nicht national perspektivieren ließen, im Hintergrund. Die gesamtstaatliche Repräsentation verlangte, dass die Bezugsgrößen österreichischer Staatlichkeit ausgewogen repräsentiert wurden. Dazu schlug Sickel je eine Urkundenserie zu allen Königen und Kaisern, zu allen Landesfürsten der österreichischen Kronländer und zu den Päpsten vor.29 Die serielle und chronologische Ordnung, die nach der Publikation der letzten Tafeln möglich werden sollte, stiftete nicht nur in paläographischer 27
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Hierin waren sie den Faksimiles ähnlich, die die Leitung der Monumenta Germaniae Historica in den 1830er Jahren plante und die mit der Unterschrift der vornehmen Gönner des Unternehmens versehen herausgegeben werden sollten. Der Plan wurde aber nicht realisiert. Bresslau: Geschichte der Monumenta Germaniae Historica, S. 174. Theodor Sickel, Gutachten, 14.10.1856, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 16160/1856, fol. 2–6, hier 2rv. Theodor Sickel, Gutachten, 14.10.1856, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 16160/1856, fol. 2–6, hier 3v.
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Hinsicht Kontinuitäten, sondern auch als legitimatorische Rahmung österreichischer Geschichte. Für das Frühmittelalter gestaltete sich dies allerdings nicht ganz einfach, weshalb Sickel plante, auf Bestände in den italienischen Kronländern zurückzugreifen, um „eine alle Jahrhunderte des Mittelalters umfassende, allen Anforderungen der diplomatischen Wissenschaft entsprechende Facsimilesammlung zu bilden, ohne die Originalien aus Archiven oder Bibliotheken zu nehmen, welche außerhalb des Kaiserstaates“ lagen.30 Ausschlaggebend war hier nicht nur die Berücksichtigung möglichst früher, in Österreich liegender Dokumente, sondern auch eine ununterbrochene Zeitlinie. Sickel lag vor allem daran, nach paläographischen Kriterien zu arbeiten. Diese mussten gleichzeitig auf die gesamtstaatliche Ausrichtung abgestimmt werden, so dass sich die Studierenden mit spezifisch österreichischen Aspekten der Literatur des Mittelalters, der mittelalterlichen Sprachformen und der Institutionen der Schriftgutproduktion vertraut machen mussten. Um gleichzeitig eine möglichst große paläographische Vielfalt zu erhalten, forderte Sickel deshalb: „So ist hinsichtlich der literarischen Werke des Mittelalters (Handschriften) auf die Mannichfaltigkeit der Gegenstände, von denen sie handeln, zu sehn; denn mit dem Gegenstande wechselt die Sprache, mit der Sprache wechseln die Abbreviaturen.“31 Die Varianz der Schriftgutinhalte bildete den Schlüssel zur angestrebten formalen Vielfalt, denn sie brachte eine Vielzahl von interessanten paläographischen Abkürzungen mit sich. Darüber hinaus sollte die Faksimilesammlung des Instituts auch Lernzielen der Urkundenlehre dienen. Hier kam Sickels Interesse an weitergehenden diplomatischen Fragestellungen zum Zug, die nicht in der nationalhistorischen Ausrichtung des Projekts aufgingen. Sickel plädierte dafür, neben anerkannt echten auch gefälschte Urkunden in das kostspielige Tafelwerk aufzunehmen und wenn möglich das Original sogar neben der Fälschung abzudrucken. Zudem betonte er, dass das hilfswissenschaftliche Lernpotential einer Quelle für die Auswahl ausschlaggebender sein müsse als das Kriterium der Erstveröffentlichung, das für die wissenschaftliche Reputation des Projekts attraktiver war.32 Hier wurde die Repräsentativität des Projekts hinter eine Anzahl diplomatischer Detailfragen zurückgestellt, die nicht im Prunkhaften und Exemplarischen aufgingen. Wie noch gezeigt werden soll, konnte Sickel diesen weiterreichenden Ausbau der diplomatischen Aspekte allerdings nicht durchgängig verwirklichen.
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Theodor Sickel, Gutachten, 14.10.1856, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 16160/1856, fol. 2–6, hier 5v. Theodor Sickel, Gutachten, 14.10.1856, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 16160/1856, fol. 2–6, hier 3rv. Theodor Sickel, Gutachten, 14.10.1856, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 16160/1856, fol. 2–6, hier 4r.
6.2 Imperiale Geschichtspolitik in Lombardo-Venetien
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6.2 Imperiale Geschichtspolitik in LombardoVenetien Das Ministerium für Cultus und Unterricht befürwortete Sickels Konzept der Monumenta graphica. Die k. k. Hof- und Staatsdruckerei wurde bereits 1856 aufgefordert, in Absprache mit dem Institut für Österreichische Geschichtsforschung „Versuche zur Gewinnung vollkommen getreuer Nachbildungen von Schriftproben durch die Photographie einzuleiten“.33 Im Jahr darauf reiste Sickel selbst in verschiedene Kronländer, um geeignete Vorlagen für die Reproduktionen aufzutreiben. Dabei kam die österreichische Herrschaft in Italien dem Ziel der wissenschaftlichen Autarkie der Monumenta graphica in entscheidender Weise entgegen. Zum einen organisierte Sickel dort Fotografien von frühmittelalterlichen Urkunden, zu denen es in Wien keine Äquivalente gab. Zum anderen erlaubte es die offizielle Sendung Sickels, die das Ministerium des Innern an die Statthalter der Lombardei und Venetiens übermittelte34 , die Interessen der Projektinitianten gegenüber den lombardovenezianischen Behörden durchzusetzen. Als Sickel ab 1857 italienische Archive bereiste, führte er mit seinem Projekt keineswegs unbekannte hilfswissenschaftliche Umsetzungsvorschläge ein. Auch in der Lombardei und in Venetien waren zu diesem Zeitpunkt Faksimileprojekte im Gang. In verschiedenen Städten der italienischen Kronländer hatten sich paläographische Schulen etabliert, so auch in Padua und Venedig. Der Direktor des Stadtarchivs in Padua und der Archivar am staatlichen Archivio ai Frari in Venedig hatten damit begonnen, für den Unterricht eigene Faksimilesammlungen aus lokalen Beständen anzulegen.35 Zumindest in Venedig waren – zeitgleich mit Quellenfotografieexperimenten in Mailand – auch Fotografien zum Einsatz gekommen. Sickel bewegte die beiden Archivare dazu, auf die Weiterführung ihrer Faksimileprojekte zu verzichten. Aus den Abmachungen wird deutlich, dass diese Verzichte zugunsten des zentralen Instituts für Österreichische Geschichtsforschung nicht ohne Druck zustande kamen – entgegen der Darstellung in den Erin33
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Ministerium für Cultus und Unterricht an die k. k. Hof- und Staatsdruckerei-Direktion, 24.12.1856, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 20390/1856, fol. 2r. Ministerium des Innern an das Ministerium für Cultus und Unterricht, 11.04.1857, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 6489/1857, fol. 2r–4r. Theodor Sickel, Bericht, 08.07.1857, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 11603/1857, fol. 7–16, hier fol. 11v–12r. In Venedig war 1854 eine „scuola di paleografia“ gegründet worden, die mit dem Staatsarchiv verbunden war, während in Padua paläographischer Unterricht an der Universität angeboten wurde. Sowohl der Archivar Luigi Ferrario in Mailand als auch Cesare Foucard in Venedig liessen Quellenfotografien anfertigen. Theodor von Sickel: Erinnerungen, aufgez. von B. Bretholz, in: Berthold Bretholz: Theodor v[on] Sickel, in: Zeitschrift des Deutschen Vereins für die Geschichte Mährens und Schlesiens 13/1909, S. 1–28: 16.
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6. Quellen im Bild: Fotografien für ein repräsentatives Tafelwerk
nerungen Sickels, dem im Rückblick nur noch das kollegiale Verhältnis zu dem Archivar Cesare Foucard präsent war.36 Mit dem Erlass an die lokalen Archivare in Venedig und Padua verwendete das Bildungsministerium seine zentralistische Steuerungskompetenz, um dem Wiener Standort und damit dem deutschsprachigen Österreich zum Vorrang zu verhelfen. Mit der Unterstützung durch das Bildungsministerium und das Ministerium des Innern, das mit der Förderung der italienischen Archivare anfänglich eine eigene Projektschiene gefahren war37 , nun aber auf die Linie des Bildungsministeriums einschwenkte, entschied Theodor Sickel einen potentiellen Prioritätsstreit um die Erstveröffentlichung eines umfangreichen fotografischen Faksimilekorpus vorzeitig für das Wiener Institut. Der weitere Verlauf dieser aus Wien gesteuerten Wissenschaftspolitik zeigt jedoch, dass der Widerstand gegen Sickels Durchsetzungsanspruch für die Monumenta graphica und die damit verbundene Geschichtspolitik anhielt. Der Direktor des venezianischen Archivio ai Frari schob die Kollaboration mit Sickel hartnäckig hinaus, weil das Archiv weniger Exemplare des Tafelwerks als Entschädigung erhielt als geplant.38 Der Direktor erhob außerdem vergeblich den Anspruch, dass die venezianischen Quellen, die in das Tafelwerk eingingen, als Gruppe erkennbar sein sollten. Er wünschte sogar einen modularen Aufbau, „in modo che ogni provincia possa aver separata della collezione generale la parte che riprodurrà i monumenti relativi alla propria storia“.39 Als Antwort schrieb Sickel, dass Foucard sich ohne Grund beschwere, ja „dass es sogar vom wissenschaftlichen Standpunkte aus gar nicht zu billigen ist, wenn die dortige Anstalt in ganz exclusiver Weise sich nur mit dem Unterricht in der Venetianischen Paläographie und Diplomatik befassen und die Kenntniss des Urkundenwesens der anderen Kronländer des Kaiserstaates von der Hand weisen will“.40
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Cesare Foucard, Protokoll einer Zusammenkunft mit Theodor von Sickel, 10.12.1856, Archiv IfÖG, Institutsakten: Monumenta graphica; Theodor Sickel, Bericht an das MCU, 08.07.1857, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 11603/1857, fol. 7–16, hier fol. 12r. Vgl. dagegen Theodor von Sickel: Erinnerungen, aufgez. von B. Bretholz, in: Bretholz: Theodor v[on] Sickel, S. 16. Laut Sickel wollte sich der Bildungsminister vom Innenminister „in dieser Angelegenheit nicht den Rang ablaufen lassen und es entstanden ganz eigentümliche Konflikte, welche wohl zwei Jahre lang gespielt haben und in denen einerseits das offizielle Journal von Mailand und die Wiener Zeitung das Wort ergriffen“. Theodor von Sickel, Erinnerungen, aufgez. von B. Bretholz, in: Bretholz: Theodor v[on] Sickel, S. 16. Theodor Sickel, Bericht, 20.03.1858, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 4822/1858, fol. 18–25, hier fol. 23v–25r. „[S]o dass für jede Provinz derjenige Teil, der die auf die eigene Geschichte Bezug nimmt, von der allgemeinen Sammlung getrennt wird“. Cesare Foucard, Protokoll einer Zusammenkunft mit Theodor von Sickel, 10.12.1856, Archiv IfÖG, Institutsakten: Monumenta graphica. Theodor Sickel, Bericht, 20.03.1858, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 4822/1858, fol. 18–25, hier fol. 24v.
6.2 Imperiale Geschichtspolitik in Lombardo-Venetien
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Mit dem am Ganzen des Kaiserstaates ausgerichteten Konzept der Monumenta graphica ging nicht nur eine wissenschaftliche Standortpolitik einher, sondern auch der Versuch, die lokalen Repräsentanten der Geschichtsforschung auf die offizielle Geschichtsvorstellung des Habsburgerreiches einzuschwören. Mehr noch als auf Vorbehalte, die auf einem italienischen Nationalismus gegründet waren, stießen die Wiener mit ihren geschichtswissenschaftlichen Lektionen aber auf regional- und lokalhistorisch begründeten Widerstand, was zeigt, wie wenig Akzeptanz das offizielle Geschichtsbild des Kaiserstaates hatte. Die Monumenta graphica nahmen aber die Durchsetzungsmöglichkeiten der österreichischen Administration zu Hilfe und wurden so zu einem erfolgreichen Instrument einer großösterreichischen Geschichtspolitik, wie sie im neoabsolutistischen Österreich von Regierungsbeamten und Historikern gefördert wurde.41 Dies bestätigte sich in der späteren Bevorzugung des Paduaner Archivars Andrea Gloria vor seinen Kollegen. Theodor Sickel lobte 1863 Gloria dafür, dass er sich in seinen Vorlesungen „nicht auf italienische oder Italien zugehörige Schriftstücke beschränken, sondern das Material für Gesammtgeschichte Oesterreichs, wie es sich in den Monumenta graphica“ finde, „zum Gegenstande seines Unterrichts machen“ wolle,42 und sprach ihm dafür zusätzliche Exemplare der Monumenta graphica zu. Inzwischen hatte Österreich durch die Niederlage im von ihm selbst begonnenen Sardisch-französischen Krieg von 1859 die Lombardei verloren. Dieser Verlust eines italienischen Kronlandes hatte zunächst unmittelbare praktische Auswirkungen auf die Monumenta graphica. Als direkte Folge konnten im August 1859 die Negative von vierzehn Urkunden aus Mailänder Archiven nicht mehr beschafft werden.43 Diese technische Schwierigkeit verweist auf eine grundlegendere Problematik: Der umfassende Plan der Monument graphica erwies sich angesichts innenpolitischer Konflikte und einer kriegerisch geführten Außenpolitik, die die Grenzen des Habsburgerreiches veränderte, als obsolet. Der Anspruch auf die Repräsentation aller zeitgenössisch bestehenden Kronländer wurde durch die politischen Ereignisse vorzeitig historisiert. Als die aus lombardischen und venezianischen Beständen aufgenommenen Quellen 1859 und 1866 die Staatszugehörigkeit wechselten, konnte der Anspruch nicht mehr aufrechterhalten werden, nur eigene Bestände zu berücksichtigen. Sickel schlug deshalb Ende der 1860er Jahre vor, eine explizite Programmänderung vorzunehmen und einzelne 41
42 43
Vgl. Rumpler: Eine Chance für Mitteleuropa, S. 339–341. Zum verwaltungspolitischen Hintergrund s. Andreas Gottsmann: Amministrazione austriaca e autogestione comunale nel Veneto (1859–1866), in: Donatella Calabi (Hrsg.): Dopo la serenissima. Società, amministrazione e cultura nell’Ottocento Veneto, Venedig 2001, S. 327–345. Theodor Sickel an das Staatsministerium, 29.05.1863, fol. 3f., hier fol. 4r. Theodor Sickel an das Ministerium für Cultus und Unterricht, 05.08.1859, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 671, Monumenta graphica ab 1856, 12205/1859, fol. 2–6, hier fol. 3rv; Ministerium für Cultus und Unterricht an die k. k. Hof- und Staatsdruckerei, Konzept, August 1859, ebd., fol. 1, 9, 2r, hier 1rv. Zu den Folgen vgl. Kap. 6.2.
282
6. Quellen im Bild: Fotografien für ein repräsentatives Tafelwerk
Dokumente zu berücksichtigen, die sich nicht – oder inzwischen nicht mehr – in österreichischem Besitz befanden, was er offiziell mit einer benötigten „Vervollständigung für wissenschaftliche Zwecke“44 begründete. Auf diese Weise umging er die explizite Auseinandersetzung mit den veränderten politischen Rahmenbedingungen. Das gleiche galt für den Wandel der Staatsform durch den Ausgleich von 1867, durch den sich Sickels anfänglich nur praktisch begründete Zurückhaltung gegenüber ungarischen Quellen gleichsam natürlich ausnahm: Die Monumenta graphica wurden nun – mit Ausnahme einiger zu Beginn des Projekts publizierter Quellen aus zwei Standorten – faktisch vor allem zu einem Werk des nunmehrigen Cisleithanien. Damit entsprachen sie einer Tendenz der gesamtstaatlichen geschichtswissenschaftlichen Institutionen, die patriotische Rhetorik und die Wissenschaftspraxis immer mehr auseinandertreten zu lassen. Personell und inhaltlich trat dort spätestens nach 1867 eine Separierung einzelner wissenschaftlicher Teilräume nach sprachnationalen Kriterien ein.45 Zudem überstieg die Ausrichtung auf den Gesamtstaat mit seinen historisch, sprachlich und kulturell äußerst heterogenen Herrschaftsgebilden die wissenschaftlichen Möglichkeiten der Mitarbeiter des Instituts. Der Anspruch, alle Länder der Monarchie mit charakteristischen Quellen zu dokumentieren46 , konnte aus organisatorischen und inhaltlich-konzeptuellen Gründen nicht eingelöst werden. Sickel gestand 1869 im Rückblick ein, dass das „massenhafte Material“47 , das potentiell in Frage kam, nicht immer im Detail geprüft werden konnte und er bis dahin aus Kroatien, Dalmatien, Siebenbürgen und Galizien keine geeigneten Dokumente aufgenommen hatte. Schlechte Erfahrungen mit lokalen Beamten, mangelnde inhaltliche Kompetenzen und fehlende Übersicht ließen ihn darauf verzichten, diesen Gebieten mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Schließlich erwies sich die gesamtstaatliche Ausrichtung auch unter paläographischen und diplomatischen Gesichtspunkten als wenig überzeugend. Für die weitere Arbeit an den Monumenta graphica schlug Sickel 1869 deshalb vor, von den konzeptuellen Grundlagen des Werks abzuweichen: „Paläographie ist hier zu Lande also nicht anders zu betreiben als in Florenz, München oder Paris. Ja, weil unsere Bibliotheken Handschriften der verschiedensten Provenienz enthalten, 44 45 46
47
Theodor Sickel, Bericht, 15.08.1869, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 671, Monumenta graphica ab 1856, 7678/1869, fol. 2–8, hier fol. 6r. Pischinger: Geschichtsministerium oder Verlagsanstalt?, S. 168–172. Ministerium für Cultus und Unterricht an die Direktion des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 30.03.1857, Archiv IfÖG, Institutsakten: Monumenta graphica, fol. 7–13, hier fol. 8r. Sickel sprach davon, dass ihm aufgetragen worden sei, „die hervorragenderen Sammlungen wo möglich aller Kronländer aufzunehmen“. Theodor Sickel, Bericht, 15.08.1869, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 671, Monumenta graphica ab 1856, 7678/1869, fol. 2–8, hier fol. 3rv. Theodor Sickel, Bericht, 15.08.1869, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 671, Monumenta graphica ab 1856, 7678/1869, fol. 2–8, hier fol. 3v–4r.
6.2 Imperiale Geschichtspolitik in Lombardo-Venetien
283
muss im Unterricht in mittelalterlicher Schriftkunde auch auf diejenigen nationalen Schriftarten des frühen Mittelalters Rücksicht genommen werden, die hier zu Lande nie in Übung sein konnten, aber in den importierten Handschriften vorkommen.“48
Indem er die Aufmerksamkeit auf die heterogene Provenienz der historischen Schriftgutbestände lenkte, verabschiedete sich Sickel hier von einer nationalen Konzeption des Paläographieunterrichts wie auch vom Prinzip, dass einzig im Gebiet Österreichs entstandene Quellen verwendet werden sollten. Ebenso relativierte er seine frühere Forderung nach einer österreichischen Spezialdiplomatik, indem er sie implizit als eine aus praktischen Gründen erfolgte Fiktion darstellte. Auch eine sinnvolle mittelalterliche Urkundenlehre, der die Monumenta graphica ja ebenfalls dienen sollten, sei mit einer Beschränkung auf österreichische Dokumente nicht zu bewerkstelligen. Sickels Vorschlag, auf ausländische Bestände auszuweichen,49 konnte sich zwar nicht durchsetzen. Er zeigt aber, dass sich die einzelnen Zielsetzungen des Unternehmens gegenseitig aushebelten, die patriotische Ausrichtung mit den paläographischen und diplomatischen Interessen nicht in Einklang zu bringen war. Als sich die Monumenta graphica in den späten 1850er Jahren in der Lombardei und in Venezien konkurrierende Faksimileprojekte einverleibten, profitierten sie demnach stark von der zentralstaatlichen österreichischen Verwaltung und ihren Machtinstrumenten. Sickel konnte dabei bereits auf Erfahrungen mit der Verquickung von Forschungsarbeiten mit politischen und administrativen Zielen zurückgreifen. Er hatte vor seiner Anstellung in Wien seit 1854 im Auftrag des französischen Unterrichtsministeriums für das Comité des missions scientifiques in Mailand und Wien historische Recherchen ausgeführt. Für eine Edition diplomatischer Akten hatte er sich damals schon mit lombardo-venezianischen Archivbeständen beschäftigt, die durch die österreichische Herrschaft teilweise nach Wien gekommen waren.50 Damit reihen sich die Monumenta graphica in eine ganze Serie von staatlich betriebenen Quellenerfassungs- und Quelleneroberungsbemühungen im umkämpften Gefüge der europäischen Mächte der Zeit ein. Dies macht der Vergleich mit einer weiteren Unternehmung Österreichs deutlich, in die einige Kollegen Sickels verwickelt waren. Die österreichische Geschichtswissenschaft bemühte sich im Italienfeldzug von 1866 darum, lombardovenezianischen Archivbestände zu beschlagnahmen. Als besonders tatkräftig erwies sich dabei der Historiker und Wiener Privatdozent Beda Dudík, der wenige Jahre zuvor zu den Kritikern der Monumenta graphica gehört hatte. Dudík war ein Benediktinerpater des mährischen Stifts Raigern, der als 48 49 50
Theodor Sickel, Bericht, 15.08.1869, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 671, Monumenta graphica ab 1856, 7678/1869, fol. 2–8, hier fol. 4v–5r. Theodor Sickel, Bericht, 15.08.1869, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 671, Monumenta graphica ab 1856, 7678/1869, fol. 2–8, hier fol 5v–6v. Theodor Sickel, Entwurf zu dem Anfang einer Selbstbiographie, in: Erben: Theodor Sickel, S. 161–166: 165.
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6. Quellen im Bild: Fotografien für ein repräsentatives Tafelwerk
Historiograph und Quelleneroberer im Gefolge des Oberkommandierenden der österreichischen Armee in Italien, Erzherzog Albrecht, mitreiste. Als Venedig zugunsten des Königreiches Italien an Frankreich abgetreten wurde, erhielt Dudík den Befehl, beim Abzug alle venezianischen Archivalien mitzunehmen, die sich nicht auf die lokalen Territorial- und Administrationsverhältnisse der zeitgenössischen Provinz bezogen. Zusammen mit seinem Abt konnte er 19 Kisten Archivalien aus dem Staatsarchiv und der staatlichen Bibliothek Marciana auf dem Seeweg über Triest nach Wien überführen. Was sich in seinen Kriegserinnerungen als simple administrative Handlung darstellt, die Dudík gewissermaßen kraft seines Auftrags durchführen konnte51 , erscheint aus der Perspektive von Zeitgenossen als ein Miniaturfeldzug zur Eroberung lokaler Quellenbestände, auf die der Kaiserstaat Anspruch erhob. Dudík ließ sich bei seinem Auftrag von einem Artillerieoffizier eskortieren, der eine ganze Kompanie Geniesoldaten einsetzte und einen renitenten lokalen Archivar verhaften ließ.52 Dagegen blieben die Quellenausflüge, die Julius Ficker, der Innsbrucker Kollege Sickels, im selben Krieg als Offizier einer Innsbrucker Freiwilligenkompanie unternahm, eher privater Zeitvertreib. Aber auch Ficker nahm gegenüber den lokalen Priestern gerne seine militärische Autorität in Anspruch, und so öffneten ihm lokale Geistliche ihre Pfarreiarchive – erleichtert darüber, dass er keine Maulesel konfiszieren wollte, sondern nur an alten Codices interessiert war.53 Sickel und Dudík, die beide in der zweiten Hälfte der 1850er Jahre auch als Fachleute für die Neuordnung der Archive in den Kronländern in Anspruch genommen wurden54 , nahmen die Herrschaftsinstrumente der österreichischen Verwaltung ganz bewusst in Anspruch, um ihre wissenschaftlichen Ziele zu erreichen. Für Sickel stellte die den gegenwärtigen Staat legitimierende Funktion der Monumenta graphica allerdings vor allem eine Möglichkeit dar, seine didaktischen und forscherischen Ziele zu erreichen. Trotz der nationalen Rhetorik, die er in seinen Gesuchen einsetzte, war er aus sachlichen Gründen bereit, die gesamtösterreichische Perspektive aufzugeben – die von ihm an51 52
53 54
Beda Dudík: Erinnerungen aus dem Feldzuge 1866 in Italien, Wien 1870, S. 139–143. Alfred Ritter von Arneth: Aus meinem Leben, Bd. 2, Stuttgart 1893, S. 205f. Die Bestände, zu denen auch noch Werke der darstellenden Kunst kamen, mussten später zum großen Teil wieder restituiert werden. Vgl. ebd., S. 206–214, 226; Dudík: Erinnerungen, S. 148. Jung: Julius Ficker, S. 388f. Sickel erwog zu diesem Zeitpunkt sogar seine Karriereaussichten im Archivwesen. Theodor von Sickel an Karl Friedrich Sickel, 28.05.1858, in: Karl Heldmann: Drei Briefe Sickels, in: HZ 104/1910, S. 119–138: 133. Zu Dudíks Rolle bei der Planung der Reorganisation österreichischer Archive s. Pischinger: Geschichtsministerium oder Verlagsanstalt?, S. 168–172; Goldinger: Die österreichischen Archive, S. 27f. Dudík arbeitete auch im Auftrag verschiedener österreichischer Minister und Generäle und recherchierte unter anderem in Schweden über Wallenstein und die mit ihm verbundene Kriegsschuldfrage. Oskar Meister: Ergänzungen zur mährischen Gelehrtengeschichte. Über den mährischen Geschichtsforscher Dudík, in: Zeitschrift des Deutschen Vereines für die Geschichte Mährens und Schlesiens 40/1938, S. 81–83.
6.3 Zentralstaatliche Ressourcen
285
visierten Handschriftenserien und urkundlichen Reihen fügten sich, wie er erkennen musste, nicht in die gegenwärtige Landkarte des österreichischen Staates.55
6.3 Zentralstaatliche Ressourcen Die Nachgeschichte des Projekts war von Versuchen geprägt, die Monumenta graphica als fotografisch-geschichtswissenschaftliche Innovation darzustellen und ihre Urheberschaft zu personalisieren. Albert Jäger erinnerte sich im Rückblick, dass die Idee einer fotografischen Faksimilierung ursprünglich vom maßgeblichen Förderer des Instituts, dem Ministerialbeamten Joseph Feil, ausgegangen sei, der auf den Gedanken verfallen sei, „ob sich nicht auf photographischem Wege Abdrücke von Urkunden erzeugen ließen?“56 . Er und Feil hätten lange vor Sickel zusammen mit dem Chemiker Joseph Redtenbacher fotografische Versuche angestellt. Jäger war mit diesem Urheberschaftsanspruch nicht allein. Theodor Sickel führte die Idee auf den Direktor der k. k. Hof- und Staatsdruckerei Auer zurück, gab aber zu, dass gleichzeitig ähnliche Bemühungen in Mailand und Venedig stattfanden.57 Der Privatdozent Beda Dudík schließlich, der sich gegen das neue Projekt engagierte, behauptete, schon vor Jahren auf den Gedanken gekommen zu sein und damals auf eigene Kosten fotografische Experimente mit Urkunden angestellt zu haben.58 Diese Erzählungen einer gleichsam voraussetzungslosen Erfindung der Quellenfotografie stellen biographische Vereinfachungen von komplexen Rezeptions- und Diffusionsprozesse dar, die, wie im Folgenden
55
56 57 58
Sickels journalistische Kommentare zu den Verfassungskämpfen nach der österreichischen Niederlage von 1859 lassen eine auch politisch kritische Haltung gegenüber dem transleithanischen Teil Österreichs erkennen. Sickel kritisierte den Machtgewinn Ungarns, der mit dem „Oktoberdiplom“ von 1860 einherging, mit der den Diplomatiker verratenden Beobachtung, dass man schon an der Bezeichnung „Diplom“ statt „Gesetz“ den übergroßen Einfluss ungarischer Politiker ablesen könne. Theodor von Sickel: Die Neugestaltung Österreichs, in: Erben: Theodor von Sickel, S. 46–69: 49. Jäger: Graf Leo Thun, S. 17f. Theodor von Sickel: Erinnerungen, aufgez. von B. Bretholz, in: Bretholz: Theodor v[on] Sickel, S. 16. „[Dr. B. Dudik O. S. B.] habe schon vor Jahren den Gedanken gehabt, alte Schriftstücke photographisch zu vervielfältigen, habe, da er sich keiner hohen Unterstützung zu erfreuen gehabt, aus eignen Mitteln die beträchtlichen Kosten der ersten Versuche bestritten, sich dabei aber von der Schädlichkeit des von ihm angewandten Verfahrens überzeugt und deshalb die weiteren Versuche eingestellt.“ Theodor von Sickel, Bericht, 20.03.1858, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 4822/1858, fol. 18–25, hier fol. 18rv.
286
6. Quellen im Bild: Fotografien für ein repräsentatives Tafelwerk
gezeigt werden soll, institutionell vermittelt59 und teilweise staatlich gelenkt waren. Fotografien von Schriftstücken hatten die Entwicklung fotografischer Techniken seit der Publikmachung der Erfindungen von Daguerre und Talbot im Jahr 1839 begleitet.60 William Henry Fox Talbot, der als ausgebildeter Altphilologe selbst Studien zu Keilschriften betrieb, reproduzierte im Jahre 1840 verschiedene Handschriften, die der Pariser Académie des inscriptions vorgelegt und von der Zeitschrift der Pariser École des chartes –allerdings ohne Abbildung– einem hilfswissenschaftlich interessierten Historikerpublikum bekanntgegeben wurden.61 Im selben Jahr entstanden in Deutschland bereits die ersten Pläne zur fotografischen Faksimilierung ganzer Codices, die jedoch nicht verwirklicht werden konnten, und 1855, ein Jahr nach der Gründung des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, legten russische Philologen 32 photolithographische Abdrücke von Schriften vor62 . Als Technologie, die sich in raschem Tempo in den Metropolen verbreitete und dann dezentral weiterentwickelt wurde, fand die Fotografie als Porträtmedium und in der Wissenschaft rasch vielfältig Anwendung.63 Damit ist im europäischen Kontext davon auszugehen, dass die fotografischen Aufnahme von Schriftbildern spätestens in den 1850er Jahren verstreut weiterentwickelt wurde. Für den Erfolg der österreichischen Monumenta graphica war demnach nicht die technische Idee der Quellenfotografie ausschlaggebend, sondern die finanzielle und infrastrukturelle Möglichkeit ihrer groß angelegten Umsetzung. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, waren zahlreiche Akteure in unterschiedlichen Rollen in das Projekt involviert. Im Gegensatz etwa zum Schweizerischen Urkundenregister verfügte das Projekt über eine starke be59 60 61
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Eine abweichende Interpretation dieser Erinnerung findet sich bei Ernst: Im Namen von Geschichte, S. 253. Ernst: Im Namen von Geschichte, S. 270; Hilka: Zur Terminologie und Geschichte der Faksimilierung, S. 298. Der Hinweis erfolgte als technisch nur grob spezifizierter Hinweis auf „procédés photogéniques [...]“, beschrieben als „copies [...] effectuées sur papier sensible avec la plus grande netteté“. [Ohne Titel; über das Fotografieren von historischen Quellen], in: Bibliothèque de l’École des Chartes 1/1839–40, S. 408. Der Bonner Bibliothekar Friedrich Wilhelm Ritschl legte der deutschen Philologenversammlung 1840 einen Plan zur photographischen Dokumentation von Codices vor. Hilka: Zur Terminologie und Geschichte der Faksimilierung, S. 298. Zu Russland vgl. Lhotsky: Geschichte des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, S. 56. Nach der raschen Adaption der Daguerreotypie in der österreichischen Hauptstadt wurde die Fotografie in Wien seit den 1840er Jahren von Wissenschaftlern im Umfeld der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und des Polytechnikums rege erprobt. Monika Faber: „Ein guthmüthiger Privat-Thor“. Die Fotografie am Chemischen Laboratorium des Polytechnicum in Wien, in: Fotogeschichte 22/2002, S. 21–37; dies./Timm Starl: „Wäre die Zeit Null“. Daguerreotypie in Wien 1839 bis 1841, in: ebd., S. 3–20; Hans Frank/Margarete Kuntner: Österreich war von Anfang an dabei: Die Frühzeit der Fotografie von 1839 bis 1860, in: Otto Hochreiter/Timm Starl (Hrsg.): Geschichte der Fotografie in Österreich, Bad Ischl 1983, S. 15–25, Tafelteil S. 61–93: 23f.
6.3 Zentralstaatliche Ressourcen
287
hördliche Führung von oben und konzentrierte zentrale Abläufe in Wien. Jäger und Sickel konnten von den technischen Möglichkeiten und Ressourcen der staatlichen Adressaten profitieren, die sich im Ministerium für Cultus und Unterricht, im Finanzministerium und wie bereits gezeigt in den Ministerien des Innern und des Äußern fanden. Die finanziellen und infrastrukturellen Ressourcen, die dem Projekt so direkt und indirekt zuflossen, waren beträchtlich.64 Neben Sickel, dem konzeptuellen Kopf des Unternehmens, war bis 1869 die k. k. Hof- und Staatsdruckerei für die technische Ausführung des Projekts zuständig.65 Diese zu dieser Zeit international führende staatliche Agentur neuer Drucktechnologien brachte bereits Erfahrung mit technischen Anwendungen der Fotografie mit. Der zentrale staatliche Druckereibetrieb experimentierte unter der Leitung des versierten Erfinders Alois Auer in dieser Zeit mit zahlreichen Drucktechniken.66 Die Innovationen im fotografischen und drucktechnischen Bereich wurden von den staatlichen Stellen als Bestandteil einer nationalen Standortpolitik für Industrie und Technik dezidiert gefördert und im Rahmen der Industrieausstellungen im Ausland publik gemacht. Neben dem internationalen Wettbewerb der Reputationen ging es dabei häufig auch um die kommerziellen Möglichkeiten des Urheberrechts.67 Zumindest im Hinblick auf die internationale Konkurrenz bildete auch das Projekt der Monumenta graphica keine Ausnahme. Das Ministerium für Cultus und Unterricht drängte darauf, die Quellenfotografien möglichst rasch herauszubringen. Es galt, durch eine schnelle Veröffentlichung nicht nur weitere Projektalliierte zu gewinnen, sondern auch „der Benutzung der Photographie für diese Facsimiles [...] gegenüber auswärtigen Unternehmungen ähnlicher Art, gebührende Selbständigkeit und Priorität zu wahren“.68 Mit seiner raschen Veröffentlichung wurde das österreichische paläographische Tafelwerk zum Vorreiter in einer europäischen Serie nationalstaatlich konzipierter, stark patriotisch aufgeladener paläographischer Veröffentli64 65 66
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68
Jede Lieferung wurde mit 1500 Gulden subventioniert. Theodor von Sickel an Karl Friedrich Sickel, 28.05.1858, in: Heldmann (Hrsg.): Drei Briefe Sickels, S. 129–136: 130. Theodor von Sickel: Erinnerungen, aufgez. von Bertold Bretholz, in: Bretholz: Theodor v[on] Sickel, S. 16. Wenige Jahre zuvor hatte sich die Druckerei mit dem Erfinder der Fotogalvanografie, Paul Pretsch, profiliert. Walter Koschatzky: Drei österreichische Schicksale. Die Erfinder der Phototypie, Galvanographie und Heliogravure, in: Hochreiter/ Starl (Hrsg.): Geschichte der Fotografie in Österreich, S. 49–54: 51f. [Alois Auer von Welsbach]: Geschichte der k.k. Hof- und Staatsdruckerei in Wien. Von einem Typographen dieser Anstalt, Wien 1851: 1. Teil, S. 52; ders.: Die Industrie-Ausstellungen von London, München, Paris 1851, 1854, 1855, Wien 1857. Vgl. Koschatsky: Drei österreichische Schicksale, S. 51f.; Bernd Busch: Fotografie im 19. Jahrhundert. Kunst, Industrie, Wissenschaft, in: Fotogeschichte 18/1998, S. 9–20: 17–19. Ministerium für Cultus und Unterricht, Konzept Ministerialerlass an Theodor von Sickel, 08.07.1857, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 11603/1857, fol. 1–5, 17, hier fol. 17rv.
288
6. Quellen im Bild: Fotografien für ein repräsentatives Tafelwerk
chungen und Ausstellungen, die die Schrifttypen zu national ausgeprägten Schrifttraditionen gruppierten – parallel zur Kanonisierung von Literaturen zu „Nationalliteraturen“69 .
6.4 Die Mobilisierung von Projektalliierten Das Projekt lebte von vielfältigen Interaktionen zwischen unterschiedlichsten Akteuren, Instrumenten und historischen Objekten; Interaktionen, die nur teilweise von der Projektleitung initiiert und gesteuert wurden und Gegenstand eines immer wieder konfliktgeladenen Aushandelns von verschiedenen Seiten waren. Ausschlaggebend für den Erfolg des Projekts erscheint dessen erste Phase, die von 1856 bis zum Erscheinen der ersten Lieferung 1858/1859 dauerte. Zunächst ging es darum, das Projekt zu etablieren und ihm einen Weg durch die Institutionen zu bahnen. Dazu arbeitete Sickel in allen Projektschritten eng mit dem Ministerium für Bildung und Unterricht zusammen.70 Obwohl die ersten Versuche im Jahr 1856, Schriftproben zu faksimilieren, als gelungen galten71 , wurde das Projekt bald darauf von mächtigen Projektgegnern behindert. Mit dem Argument, die Quellen könnten durch die Ablichtung Schaden nehmen, verweigerte das Ministerium des Äußern nun fotografische Aufnahmen aus dem ihm unterstellten Haus-, Hof- und Staatsarchiv, das für das Projekt eine wichtige Rolle spielte.72 Damit setzte sich ein Spannungsverhältnis zwischen dem Archiv und der Geschichtsforschung fort, das Theodor Sickel bereits früher in exemplarischer Weise erlebt hatte. Schon zu Beginn seines Engagements am Institut für Österreichische Geschichtsforschung war der Preuße Sickel vom österreichischen Haus-, Hof- und Staatsarchiv mit Misstrauen behandelt worden: Die Jäger erteilte Erlaubnis, Archivalien für den Paläographieunterricht zu benutzen, war nicht auf ihn übertragen worden. Dies hing wohl mit Sickels – in den Augen der 69 70
71
72
Rück, Im Zeitalter der Fotografie, S. 44–47. Joseph Feil hatte den Kontakt mit dem Direktor der k. k. Hof- und Staatsdruckerei hergestellt, während Joseph Alexander von Helfert bald darauf Kontakte zum böhmischen Museum in Prag vermittelte, wo für das Tafelwerk interessante Quellen lagen. Theodor von Sickel, Bericht, 08.07.1857, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 11603/1857, fol. 7–16, hier fol. 14v. Vgl. Lhotsky: Geschichte des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, S. 51, 116. Ministerium für Cultus und Unterricht, Anweisung an die Direktion der k. k. Hof- und Staatsdruckerei, 24.12.1856, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 20390/1856, fol. 2r. Theodor von Sickel, Bericht an das Ministerium für Cultus und Unterricht, 20.03.1857, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 4975/1857, fol. 17–21. Direktion des Haus-, Hof- und Staatsarchivs an das Ministerium für Cultus und Unterricht, 26.06.1857, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 10866/1857, fol. 6–8, 11; Gutachten, undatiert, unsigniert, ebd., fol. 9–10.
6.4 Die Mobilisierung von Projektalliierten
289
Behörden – mangelnder staatspolitischer Vertrauenswürdigkeit zusammen: Sickel war im Vormärz in Berlin wegen der Teilnahme an liberalen Kundgebungen aus Berlin ausgewiesen worden, was von den preußischen Behörden nach Wien gemeldet worden war, als er dort 1854 für Frankreich forschen wollte. Die Feindseligkeit des zentralen Archivs gegenüber den Monumenta graphica sollte bis 1869 anhalten und hatte zur Folge, dass das Projekt in den ersten neun Lieferungen keinen Wiener Schwerpunkt aufwies.73 Der Widerstand des Außenministeriums führte dazu, dass die Projektbefürworter eine große Zahl von Projektalliierten mobilisierten. Obwohl das Ministerium für Cultus und Unterricht weitere technische Abklärungen von Sickel verlangte, trieb dieser die Organisation des Projekts im Sommer 1857 weiter. Den Beamten der Hofbibliothek und wohlwollenden Beamten des Haus-, Hof- und Staatsarchivs hatte Sickel bereits die ersten Probefotografien vorgelegt, die sie gutgeheißen hatten. Sickel zog nun möglichst viele Hüter der Quellen vor Ort als Zeugen für die Unschädlichkeit des Verfahrens heran, die mitunter selbst auch fotografische Versuche anstellten. Außerdem bat Sickel die Direktoren der Staatsarchive in Mailand und Venedig, die dort fotografierten Urkunden einige Monate nach den Versuchen nachzuuntersuchen, um die Unversehrtheit der Versuchsobjekte zu demonstrieren.74 Daneben experimentierte die k. k. Hof- und Staatsdruckerei mit einer Papyrusrolle, einem Palimpsest und weiteren Schriftstücken, um das Verfahren zu verbessern.75 Indem Sickel all jene adligen hohen Beamten, Professoren, Archivdirektoren und geistlichen Würdenträger als renommierte Verbündete gewann, die ihre Bestände bereits für das Projekt zugesichert hatten, setzte er die technischen Argumente mit sozialen Mitteln fort.76 Während Sickel auf jene Archive und Bibliotheken verzichtete, deren Di73
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75 76
Josef Karl Mayr: Die Anfänge Theodor Sickels, in: MIÖG 62/1954, S. 537–573:545–549; Bretholz: Theodor v[on] Sickel, S. 22f. Theodor von Sickel, Jahresbericht Institut für Österreichische Geschichtsforschung, 20.08.1858, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 668: Institut für Österreichische Geschichtsforschung 1854–1890, 14406/1858, fol. 8–13, hier 10v. Lhotsky: Geschichte des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, S. 61, Fn. 41. Theodor Sickel, Bericht, 20.03.1857, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 4975/1857, fol. 17–21, hier fol. 17r; Theodor Sickel, Bericht an das Ministerium für Cultus und Unterricht, 08.07.1857, ebd., 11603/1857, fol. 7–16, hier fol. 8r. Vgl. Mayr: Die Anfänge Theodor Sickels, S. 563. Mayr: Die Anfänge Theodor Sickels, S. 545–549; Bretholz: Theodor v[on] Sickel, S. 22f. Bis im Juli 1857 stand Sickel bereits in Kontakt: mit Wien: Friedrich von Erb, Direktor der Hofbibliothek; Beamte der Hofbibliothek; Beamte des Haus-, Hof- und Staatsarchivs. Venedig: Cesare Foucard, Archivar im Staatsarchiv „ai frari“; Abbate Valentinelli, Präfekt der Biblioteca Marciana. Lemberg: Graf Dzieduszicki, Kurator des Ossolinski’schen Instituts. Mailand: Luigi Ferrario, Direktor des diplomatischen Archivs Mailand; A. Osio, Direktor der lombardischen Staatsarchive; Direktion der Biblioteca Ambrosiana. Verona: Abbate Giuliari, Vorsteher der Kapitelbibliothek; Direktion des „Orfanotrofio femminile“. Padua: Andrea Gloria, Archivar des Staatsarchivs. Brünn: Direktion Mährisch-ständisches Landesarchiv. Laibach: Direktion der Gymnasialbibliothek. Er ließ sich außerdem von Julius Ficker und Heinrich Glax in Innsbruck und Vaclav Tomek sowie Konstan-
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6. Quellen im Bild: Fotografien für ein repräsentatives Tafelwerk
rektoren – wie etwa der Vorsteher der Biblioteca Ambrosiana in Mailand77 – unzugänglich blieben, etablierte er zu anderen Vertrauensbeziehungen. Aus den Projektberichten wird deutlich, mit welchen Gegenleistungen die lokalen Archivare und Bibliothekare rechnen konnten: Sickel bemühte sich, entgegenkommende Mitarbeiter der Anerkennung durch das Ministerium für Cultus und Unterricht zu empfehlen. So setzte er sich für den Archivar Andrea Gloria in Padua ein, als dieser in bewusster Anlehnung an deutschsprachige Entwicklungen 1862 an der Universität einen außerordentlichen Lehrstuhl für historische Hilfswissenschaften anstrebte.78 Sickel plädierte außerdem dafür, den beteiligten Institutionen ein Exemplar der produzierten Fotografie zukommen zu lassen, um damit längerfristiges Interesse und eine breite Förderung durch zukünftige Projektalliierte zu erreichen.79 Um die Projektverbündeten bei Laune zu halten, achtete er zudem darauf, schon in der ersten Lieferung des Tafelwerks möglichst viele Herkunftsorte zu berücksichtigen.80 Gleichzeitig rief Sickel in seinen Berichten auch wissenschaftliche Verbündete an. So setzte er seine Kenntnis der Pariser École des chartes effektvoll ein, die er während seines ersten Aufenthalts in Paris als Gast besucht hatte. Er betonte in seinem ersten Projektentwurf bescheiden, sich mit seinem Konzept nur auf die Grundsätze zu stützen, „welche einerseits in den anerkannt besten Werken der Diplomatik befolgt worden“ seien und „deren Anwendung andrerseits sich auf den bisher bestehenden paläographischen Anstalten, namentlich der Ecole des Chartes“ bewähre81 . Damit konnte er an die Wertschätzung anknüpfen, die diese bei den Initianten des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung bereits genoss. Außerdem bezog sich Sickel explizit auf Gottfried Bessels „Chronicon Gotwicense“ aus dem Jahr 1732, die wichtigste österreichische hilfswissenschaftliche Publikation des
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tin Höfler in Prag beraten und nahm die Vermittlung des Politikers Johann Freiherr von Chlumecky in Brünn und des Bischofs von Verona in Anspruch. Sickel sprach davon, dass dieser „mit Eifersucht die Unabhängigkeit dieses Instituts zu wahren trachtet“. Theodor von Sickel, Bericht an das Ministerium für Cultus und Unterricht, 08.07.1857, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 11603/1857, fol. 7–16, hier fol. 10v. Vgl. „Gloria, Andrea“, in: Dizionario biografico degli Italiani, Hrsg. Istituto della Enciclopedia Italiana, Roma 1975–, Bd. 57, S. 412. Sickel lobte auch den Bischof von Verona, der sich für die Benutzung älterer Königs- und Kaiserurkunden eingesetzt hatte, die im veronesischen Orfanotrofio femminile lagen. Theodor von Sickel, Bericht an das Ministerium für Cultus und Unterricht, 08.07.1857, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 11603/1857, fol. 7–16, hier fol. 11rv. Theodor von Sickel, Bericht an das Ministerium für Cultus und Unterricht, 08.07.1857, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 11603/1857, fol. 7–16, hier fol. 15v–16r. Theodor Sickel, Bericht, 20.03.1857, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 4975/1857, fol. 17–21, hier 19v. Theodor Sickel, Gutachten, 14.10.1856, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 16160/1856, fol. 2–6, hier fol. 2r.
6.4 Die Mobilisierung von Projektalliierten
291
18. Jahrhunderts82 : In seinen Erörterungen zur Urkundenauswahl knüpfte er an den dort nur teilweise ausgeführten Plan an, alle Könige und Kaiser mit einem eigenen Urkundenfaksimile zu verewigen. Obwohl Sickel nicht an das Faksimilierverfahren des „Chronicon Gotwicense“ anknüpfen konnte, das schon im ausgehenden 18. Jahrhundert wegen seiner selektiven Konzeption stark kritisiert worden war83 , erwies er so diesem österreichischen Monument der Hilfswissenschaften seine Referenz. Auch die Mobilisierung technischer Verbündeter erhöhte die Machbarkeit des Projekts. Besonders der Chemiker Joseph Redtenbacher verhalf mit seinen Gutachten den Projektbefürwortern dazu, die Autorität der Naturwissenschaften auf ihre Seite zu ziehen. Druckereidirektor Alois Auer wiederum konnte gewichtige technische Argumente und das Renommee eines erfolgreichen Staatsbetriebes in die Waagschale werfen.84 Seit Auers Amtsantritt 1841 war die staatliche Zentraldruckerei baulich und personell um ein Mehrfaches erweitert worden.85 Dass Auer sich offenbar für die Monumenta graphica begeisterte, lässt sich mit seinen sprachkundlichen und typografischen Interessen in Verbindung bringen. Er selbst beherrschte eine Vielzahl von Sprachen, betrieb orientalistische Studien und beschäftigte sich mit der Begründung eines grammatischen Universalsystems.86 Der gelernte Setzer gehörte darüber hinaus zu den frühen Förderern wissenschaftlicher und technischer Anwendungen der Fotografie.87 Für die Londoner Weltausstellung 1851 hatte er die Möglichkeiten der Fotografie in der Absicht skizziert, die bisherige Konzentration auf die Portraitfotografie zu durchbrechen. Unter vielen anderen Anwendungsmöglichkeiten hatte Auer hervorgehoben, dass 82
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Theodor von Sickel, Gutachten, 14.10.1856, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 16160/1856, fol. 2–6, hier fol. 2. Vgl. Tropper: Urkundenlehre in Österreich, S. 26–45. Tropper: Urkundenlehre in Österreich, S. 43. Gutachten der k. k. Staatsdruckerei, 19.03.1858, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 4822/1858, fol. 36–37; Gutachten Joseph Redtenbacher, 23.02.1858, ebd., fol. 38f. Der Personalbestand der Druckerei war zwischen 1841 und 1850 um das beinahe Achtfache von 115 auf 868 Mitarbeiter angewachsen. Auer: Geschichte der k. k. Hof- und Staatsdruckerei, 1. Teil, S. 53. S. das Gesamtkunstwerk: Alois Auer von Welsbach: Sprachenhalle, oder das Vater-Unser in 608 Sprachen und Mundarten. Mit lateinischen Typen, in 9 Tafeln, Wien 1844; ders.: Sprachenhalle, oder das Vater-Unser in 206 Sprachen und Mundarten. Mit allen den Völkern eigenthümlichen Typen, in 8 Tafeln, Wien 1947. Vgl. Josef Maria Eder: Die Säkularfeier der k. k. Hof- und Staatsdruckerei in Wien, in: Österreichische Rundschau I/1905, S. 47–51: 48; Zur Feier des einhundertjährigen Bestandes der k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Wien 1904. Auer besuchte beispielsweise 1845 die Versammlung deutscher Orientalisten in Darmstadt, wo er einen Vortrag über den „Typenschnitt auf dem ganzen Erdkreise“ hielt, worauf ihm der Verein 1850 den Druck seiner Vereinsschriften übertrug. Besonders eng arbeitete Auer mit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zusammen. Auer: Geschichte der k. k. Hof und Staatsdruckerei, 1. Teil, S. 50.
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6. Quellen im Bild: Fotografien für ein repräsentatives Tafelwerk
die Fotografie sich besonders eigne, um Bilder von „Medaillen, Denkmälern, Antiquitäten, ja selbst von Gemälden, Handschriften u. dgl.“88 herzustellen. Zu dieser Zeit beschäftigte die k. k. Hof- und Staatsdruckerei in der Abteilung Fotografie bereits zwei Fotografen, denen vier Gehilfen und ein Hausdiener unterstellt waren.89 Mit ihnen arbeitete Sickel nun eng zusammen. Daneben wurden auch lokale Fotografen engagiert, die die Urkunden und Codices vor Ort ablichten konnten, was die Wahrscheinlichkeit erhöhte, dass Schriftstücke zur Ablichtung freigegeben wurden. Das Institut für Österreichische Geschichtsforschung beantragte überdies neue Personalmittel, um dem mit den Monumenta graphica zu erwartenden Ausbau des Lehrapparates Rechnung zu tragen. Der neu eingestellte Institutsdiener verwaltete die Schätze, die sich mit neuen Bild- und Druckverfahren herstellen ließen90 ; er trug zur Nachhaltigkeit des Unternehmens und zur Anbahnung neuer Infrastrukturen bei. Bereits die Vorbereitung des Tafelwerks band viele lokale Akteure erfolgreich in das Projekt ein und ließ das Vorhaben schnell als unentbehrlich erscheinen. Umgekehrt handelte sich die Projektleitung damit aber auch die spezifischen Zielsetzungen der einzelnen Akteure ein: Diese erhoben Ansprüche, brachten Gliederungsvorstellungen ein, strukturierten die Zeitpläne mit und erwarteten schon bei der ersten Lieferung eine Berücksichtigung „ihrer“ Quellen. Der Abt des Benediktinerstifts Kremsmünster in Oberösterreich antwortete anfangs März 1862 erst nach sieben Wochen auf die Aufforderung des Ministeriums für Cultus und Unterricht, Angaben zu einem Codex im Klosterarchiv zu liefern. Er berichtete, dass das Kloster gleich bei Eintreffen der Anfrage den Entschluss fasste, „hier durch unseren Professor der Physik, HH Sigismund Fallöcher, solche photographische Abbildungen anzufertigen, und dieselben zur beliebigen Verfügung zu stellen“.91 Die Witterung sei aber über Wochen hinweg so ungünstig gewesen, dass die Aufnahmen erst nach längerer Zeit hätten abgeschlossen werden können. Der Abt erteilte eine Antwort, die das Bildungsministerium nicht brüskieren und dem Kloster trotzdem möglichst weitgehende Verfügungsmacht über den Codex erhalten sollte. Beim „Codex millenarius“ handelte es sich um eine äußerst wertvolle Evangelienhandschrift aus dem frühen 9. Jahrhundert, die für eine besonders gleichmäßige Unziale, ihre Illuminationen und eine seltene 88
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Auer: Geschichte der k. k. Hof- und Staatsdruckerei, 2. Teil, S. 36. Zur frühen Entwicklung verbesserter Portraitdaguerreotypien in Wien vgl. Mayr: Reisebericht eines Photographen, S. 969f. Auer: Geschichte der k. k. Hof- und Staatsdruckerei, 2. Teil, S. 41. Albert Jäger, Gesuch an das Ministerium für Cultus und Unterricht, 01.11.1856, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 17406/1856, fol. 4–6, hier fol. 4v–5r. Abt Augustin Beslhuber an das Ministerium für Cultus und Unterricht, 01.03.1862, ÖStA AVA, MCU 4A, Historisch-philologisches Seminar, Historisches Seminar, 2473/1862, fol. 1–2.
6.4 Die Mobilisierung von Projektalliierten
293
Form der Vulgata bekannt war. Mit seinem Entschluss stand das Stift Kremsmünster nicht allein – verschiedene geistliche Institutionen weigerten sich im Untersuchungszeitraum, ihre Kostbarkeiten dem Institut für Österreichische Geschichtsforschung anzuvertrauen.92 Der Abt ging mit dem Kunstgriff der Fotografie vor Ort aber ungewöhnlich weit, um die Kontrolle über sein kostbares Original nicht zu verlieren. Die Tatsache, dass ein Zentrum klösterlicher Gelehrsamkeit in Oberösterreich zu diesem Zeitpunkt offenbar erfolgreich mit der Quellenfotografie experimentierte, zeigt, wie verbreitet die dazu benötigten Wissensbestände und Apparate bereits waren. Es kann vermutet werden, dass die namhafte wissenschaftliche Tradition des Klosters hierbei eine wichtige Rolle spielte.93 Die Beherrschung dieser relativ neuen Technologien in der Auseinandersetzung um die Verfügungsmacht über das historische Material wurde demnach nicht nur von den zentralstaatlichen Agenturen der Wissenschaft als Mittel der Ermächtigung eingesetzt, sondern auch von den Protagonisten einer lokalen oder regionalen Geschichtskultur. Auch lokale künstlerischtechnische Experten steuerten ihre eigenen Arbeitsvorstellungen bei – drei Fotografen wurden im Verlagsprospekt sogar als Bildautoren vermerkt.94 Die Leitung der Monumenta graphica versuchte deren Einflusspotential jedoch zu begrenzen, indem sie festlegte, dass diese zusätzlichen Fotografen lediglich die Negative anfertigen sollten, damit die Abzüge möglichst einheitlich erschienen.95 Im Fall des Veroneser Fotografen Moritz Lotze konnte diese Auflage nicht durchgesetzt werden. Er verlangte, auch die Positive selbst herzustellen, und hatte damit Erfolg, weil Sickel auf sein gutes Einvernehmen mit den lokalen Archivbeamten angewiesen war, die es erlaubten, das benötigte Schriftgut in Lotzes Atelier zu schaffen.96 Wenn lokal keine geeigneten fotografischen Apparate und Fotografen zur Verfügung standen, mussten die Schriftstücke hingegen nach Wien geschickt werden. Als einziges Atelier im Kaiserstaat verfügte das Atelier der Druckerei bereits um 1851 über die Kapazität, sehr großformatige Bilder herzustellen, was das Konzept der Mo92
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So auch die Stifte Zwettl und Michaelbeuern. Der Abt des Stifts Zwettl an Theodor Sickel vom 21.12.1887, Archiv IfÖG Institutsakten: 1887–1891; Wolfgang Stockhauer, Stellvertretender Abt des Stifts Michaelbeuern, an Theodor Sickel, 10.05.1910, ebd., Institutsakten: 1910–1911. Mit seinem Observatorium und dem Gymnasium stellte das Kloster ein ländliches Zentrum naturwissenschaftlicher Forschungs- und Sammlungstätigkeit dar. Jakob Krinzinger: Naturwissenschaften in Kremsmünster, in: Oberösterreich 27/1977, S. 4–14. Namentlich genannt wurden Moritz Lotze in Verona, Alessandro Duroni in Mailand und Antonio Perini in Venedig. Verlagsprospekt, 15.03.1859, Archiv IfÖG Institutsakten: Monumenta graphica. Ministerium für Cultus und Unterricht an Theodor Sickel, 08.07.1857, Konzept, ÖStA, AVA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 11603/1857, fol. 1–5r u. 17, hier fol. 3r. Theodor Sickel, Bericht 08.07.1857, ÖStA, AVA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 11603/1857, fol. 7–16, hier fol. 10v–11r.
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6. Quellen im Bild: Fotografien für ein repräsentatives Tafelwerk
numenta graphica, so weit wie möglich die Originalformate der Schriftstücke beizubehalten, überhaupt erst ermöglichte.97 Sickels Vorgehensweise zeichnete sich durch das Geschick aus, heterogene Akteure für die Ziele der Monumenta graphica einzuspannen. Schon 1857 war das Unternehmen in vielerlei Hinsicht bereits Realität geworden: als technische Möglichkeit, als soziales Netzwerk sowie als konzeptuelles Gebilde, das bereits Erwartungen weckte – nicht zuletzt an denjenigen Orten, an denen das historische Material auf seine Ablichtung wartete. Demgegenüber hatten die Projektgegner einen schweren Stand. Das Ministerium des Äußern verweigerte sich zwar einer Archivöffnung; sein einziger technischer Experte erwies sich aber als schwach, wie weiter unten gezeigt werden soll. Sogar das Haus-, Hof- und Staatsarchiv stand nicht geschlossen hinter dem Verbot, wie positive Rückmeldungen aus dem Inneren des Archivs zeigten. Zudem gelang es Sickel, die Bestände des Archivs einfach zu umgehen, weil man auf ähnliche Schriftstücke ausweichen konnte. Das Projekt wurde daher mit dem offiziellen kaiserlichen Placet vom Februar 1858 auch definitiv bewilligt.98 In der zweiten Phase der Monumenta graphica von 1858 bis 1869 erschienen die ersten neun Lieferungen der Tafeln. Sie wurden im Unterricht des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung sofort eingesetzt und stießen bei ihrem Erscheinen auf großes Interesse, ja „Bewunderung“99 , wie der Einsiedler Historiker P. Gabriel Meier im Rückblick schrieb. Die paläographischen Tafeln wurden im Handel vertrieben.100 Allerdings war das Werk mit 25 Gulden pro Lieferung dermaßen teuer, dass es selbst mit der großzügigen Subvention des österreichischen Staates „für die große Mehrzahl der Gelehrten ein unerreichbares Gut wurde“101 und auch für Institutionen teil97
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So es im wirtschaftlich und industriell hochentwickelten Mailand 1857 angeblich keinen Fotografen, der die großformatigen Kaiserurkunden aus dem Mailänder Staatsarchiv hätte aufnehmen können. Theodor Sickel, Bericht, 08.07.1857, fol. 7–16, hier 10r. Zum technischen Stand der Hof- und Staatsdruckerei im Jahr 1851 vgl. Auer: Geschichte der k. k. Hof- und Staats-Druckerei in Wien, Teil 1, S. 38. Theodor Sickel, Bericht an das Ministerium für Cultus und Unterricht, 20.03.1857, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 4975/1857, fol. 17–21, hier fol. 17r; Theodor Sickel, Bericht an das Ministerium für Cultus und Unterricht, 20.03.1858, ebd., 4822/1858, fol. 18–25, hier fol. 18r–19r. Vgl. Lhotsky: Geschichte des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, S. 59. Pater Gabriel Meier: Die Fortschritte der Paläographie mit Hilfe der Photographie, in: Centralblatt für Bibliothekswesen 17/1900, S. 1–32, 113–130, 191–198, 355–278: 6. Die Auflage bestand Mitte der 1870er Jahre aus etwas mehr als 100 Exemplaren, von denen etwa 50 unentgeltlich abgegeben wurden. Theodor von Sickel, Bericht an das Ministerium für Cultus und Unterricht, Konzept, 30.03.1875, Archiv IfÖG Institutsakten: Konzepte 1869–1884. Meier: Die Fortschritte der Palaeographie mit Hilfe der Photographie, S. 6. Der Kärntner Geschichtsverein bot zu Beginn des Projekts unaufgefordert seine Urkundenbestände zur Ablichtung an, um im Gegenzug ein Exemplar der für ihn unerschwinglichen Monumenta graphica zu erhalten. 1864 bemühte sich das Grazer Joanneum um unentgeltliche Exemplare. Die Universität Zürich konnte sich die Monumenta graphica aus Kosten-
6.4 Die Mobilisierung von Projektalliierten
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weise unerschwinglich blieb. Über einen Verteilschlüssel des Ministeriums für Cultus und Unterricht wurde es aber in Österreich in den beteiligten Ministerien, in Universitätsbibliotheken, in einigen Archiven und – solange sie zu den österreichischen Kronländern gehörten – in den paläographischen Schulen in Mailand und Venedig kostenlos verteilt. Im Ausland wurde es außerdem ausgewählten renommierten Institutionen als Geschenk überlassen.102 Durch den Tauschverkehr, der sich daraus entwickelte, kam das Wiener Institut wie geplant zu zusätzlichem hilfswissenschaftlichem Unterrichtsmaterial. Die von Schwierigkeiten geprägte letzte Phase der Monumenta graphica nach 1869 bis zum Erscheinen der letzten Folge 1882 stellt einen Indikator für den raschen technologischen Wandel auf dem Gebiet der Druckverfahren und für die Abhängigkeit des Projekts von seinen institutionellen Rahmenbedingungen dar. Inzwischen hatten sich die institutionellen Parameter grundlegend verändert: Die maßgeblichen Förderer des Projekts arbeiteten nicht mehr am Ministerium für Cultus und Unterricht103 , und die Politik der k. k. Hof- und Staatsdruckerei hatte sich mit dem Abgang von Auer 1864 zu Ungunsten der Fotografie entwickelt. Die von Auer propagierte Verbindung von Technik, Kunst und Wissenschaft wurde nicht mehr gefördert, so dass die „Kunstabteilung“ der Druckerei104 schließen musste. Die neueren Lieferungen des Tafelwerks waren zudem technisch äußerst mangelhaft – sie verblassten nach kurzer Zeit.105 Sickel hielt 1869 noch an der reinen Fotografie fest, die den ersten neun Lieferungen zugrunde lag, obwohl er „wegen der zweifelhaften Dauerhaftigkeit“106 der Abbildungen große Bedenken hatte,
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gründen nicht anschaffen, wie der erste Zürcher Professor für Hilfswissenschaften, Paul Schweizer, 1884 seinem österreichischen Kollegen Engelbert Mühlbacher klagte. Der Direktor des kärntnerischen Geschichtsvereins an das Ministerium für Cultus und Unterricht, 16.06.1858, Archiv IfÖG Institutsakten: Monumenta graphica, fol. 49, 54; Theodor Sickel, Bericht über den Antrag des steiermärkischen Landesausschusses, 01.06.1864, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 18565260/1865, fol. 2–5. Paul Schweizer an Engelbert Mühlbacher, 12.05.1884, Archiv IfÖG NL Engelbert Mühbacher: Paul Schweizer an Engelbert Mühlbacher, fol. 29. Zu den Empfängern gehörten die Universitätsbibliotheken in Berlin, Dresden, Göttingen, London, München, St. Petersburg und Rom; hinzu kamen die École des chartes in Brüssel, die Escuela de paleografia in Madrid, das Germanische Museum in Nürnberg, das Institut de France und natürlich die École des chartes in Paris. Vertheilungs– Massstab für die Monumenta graphica medii aevi [1858], Archiv IfÖG Institutsakten: Monumenta graphica, fol. 55f. 1860 schieden Thun und Helfert aus dem Amt, 1862 starb Feil. Lhotsky: Geschichte des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, S. 116. Eder: Die Säkularfeier der k. k. Hof- und Staatsdruckerei, S. 50. S. a. Alois Auer von Welsbach: Mein Dienstleben. Verk. Neudr. der vom Finanzministerium 1864 unterdr. Original-Ausg.,Wien/Leipzig 1923, S. 82–85. Theodor Sickel, Bericht, 30.03.1875, Konzept, Archiv IfÖG Institutsakten: Akten (Konzepte) 1869–1884. Theodor Sickel, Bericht, 15.08.1869, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 7678/1869, fol. 2–8, hier fol. 6v.
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6. Quellen im Bild: Fotografien für ein repräsentatives Tafelwerk
und löste sich erst 1875 von dieser Technik. Inzwischen hatte der Lichtdruck so große Fortschritte gemacht, dass das Herstellungsverfahren der Monumenta graphica hoffnungslos veraltet und überteuert erschien. Es wurden nun Gutachten zu verschiedenen Verfahren in England, Deutschland und Frankreich und vor Ort eingeholt, bevor man sich schließlich für das Verfahren der Fotogravure (Heliogravure) entschied.107 Auch inhaltlich holte die letzte Lieferung bis anhin Verpasstes nach. Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv verfolgte mit dem Amtsantritt des neuen Archivdirektors Alfred von Arneth seit 1868 eine Zugangspolitik, die es endlich erlaubte, Bestände aus diesem wichtigen Zentralarchiv zu fotografieren, so dass in die letzte Folge eine Reihe von Dokumenten aus diesem Wiener Archiv Aufnahme fand. Theodor Sickel und seine Alliierten im Bildungsministerium bedienten mit ihrem Projekt nicht nur eine gesamtösterreichisch ausgerichtete Geschichtspolitik. Sie arbeiteten auch an der von den Behörden verfolgten Positionierung Österreichs im internationalen wissenschaftlichen und technischen Wettbewerb mit und verhalfen dem eigenen geschichtswissenschaftlichen Institut zu einem weiteren Ausbau von Ressourcen. Dieser Effekt einer Ressourcenakkumulation kann über das Projektende der Monumenta graphica hinaus weiterverfolgt werden. Die frühen Erfahrungen mit fotografischen Verfahren erhöhten von Seiten der Behörden das Vertrauen in eine technikunterstützte Geschichtsforschung und wurden für Nachahmungsprojekte zum Vorbild. Manche Fotografien wurden auch einzeln nachgefragt, möglicherweise für Lehrinstitutionen, die sich das Werk nicht leisten konnten.108 Die kostbaren Faksimiles hatten ursprünglich Argumentationshilfen im Kampf um mehr Personalmittel geliefert. Die erkämpfte Dienerstelle blieb dem Institut auch nach Projektende erhalten und spielte später eine wichtige Rolle bei der Veralltäglichung der fotografischen Anwendungen für die paläographische und diplomatische Forschung im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Das Institut bemühte sich seit Ende der 1880er Jahre darum, fotografisch autark zu werden, um Fotografien zum Selbstkostenpreis produzieren zu können. In der Hoffnung, das Ministerium für Cultus und Unterricht finanziere eine fotografische Kammer, wurde der Kanzlist Josef Kurz 1889 bis 1890 an der neueröffneten, renommierten „k. k. Lehranstalt für Photographie“ zum Fotografen ausgebildet.109 Seine hohen Qualifikationen weisen ihn als Mitarbeiter 107
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Theodor Sickel, Bericht, 30.03.1875, Konzept, Archiv IfÖG, Institutsakten: Akten (Konzepte) 1869–1884; Theodor Sickel, Kommissionsbericht an das Ministerium für Cultus und Unterricht, 12.03.1875, Konzept, ebd. Vgl. Meier: Die Fortschritte der Palaeographie mit Hilfe der Photographie, S. 6. So bezog Basilius Hidber aus Bern, der inzwischen an der Universität lehrte, 1876 dreißig Fotografien. Rechnung für das Schuljahr 1876, Archiv IfÖG Institutsakten: Akten (Konzepte) 1869–1884. Kurz lernte das Nass- und das Trockenverfahren und erhielt darüber hinaus Einblick in Verfahren wie Lichtdruck und Fotolithografie. Der Leiter der k. k. Lehr- und
6.4 Die Mobilisierung von Projektalliierten
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aus, der sich durch technisches Können und beträchtliche hilfswissenschaftliche Kenntnisse aus der Kanzlistenfunktion in eine Position als Techniker heraufarbeiten konnte. Kurz beherrschte nicht nur die Fotografie, sondern auch das galvanoplastische Verfahren, das er für die Nachbildung von Siegeln einsetzte. Er unternahm in der Folge Forschungsreisen, um Repliken für die Siegelsammlung des Instituts zu gewinnen, eine selbständige Tätigkeit, die bis dahin den Studenten vorbehalten gewesen war.110 Der institutseigene Fotoapparat ließ aber auf sich warten, denn das Ministerium erlaubte erst sieben Jahre nach Kurz’ Tod die Einrichtung eines Ateliers. 1906 stattete das Institut seine neueingerichtete fotografische Kammer mit einem für professionelle Zwecke gebauten Apparat aus. Bei der Anpassung einzelner Vorrichtungen an die Bedürfnisse der Quellenfotografie richtete man sich nach dem Vorbild des Haus-, Hof- und Staatsarchives aus, das sich fünfzig Jahre zuvor so vehement gegen die Quellenfotografie gewehrt hatte, inzwischen aber über vorbildliche fotografische Einrichtungen verfügte.111 Aus verstreuten Hinweisen in den Reiseberichten kann geschlossen werden, dass Studierende erst nach der Jahrhundertwende vermehrt an ihren Rechercheorten Quellen fotografierten oder fotografieren ließen, während Absolventen des Instituts, die als Mitarbeiter der Monumenta Germaniae Historica Forschungsreisen unternahmen, die Fotografie bereits seit den 1890er Jahren routiniert einsetzten.112 Diese Veralltäglichung der Fotografie am In-
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Versuchsanstalt für Photographie und Reproducionsverfahren an Theodor von Sickel, 30.12.1889, Archiv IfÖG Institutsakten: 1887–1891. Vgl. auch Theodor von Sickel an das Ministerium für Cultus und Unterricht, 22.01.1890, Konzept, ebd. Josef Kurz, Reisebericht an die Direktion des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 15.10.1892, Archiv IfÖG Institutsakten: 1887–1891. Auch Kurz’ Nachfolger sollte laut Stelleninserat Fertigkeiten im Umgang mit dem paläographischen und sphragistischen Apparat und im „Formen und galvanoplastischen Nachbilden von Kunstobjekten“ mitbringen. Engelbert Mühlbacher, Stelleninserat, Konzept, Oktober 1899, Archiv IfÖG Institutsakten: 1898–1900. Das Institut schaffte eine Kamera der Wiener Firma Goldmann mit Schwingstativ an. R. A. Goldmann, Kostenvoranschlag, 07.12.1806, Archiv IfÖG Institutsakten: 1906–1907; Interimskatalog Nr. 27 der Firma R. A. Goldmann, 1906, S. 15, ebd. Eigens angefertigt wurden unter anderem ein Buchspanner und eine Befestigungsvorrichtung für Urkunden. Notizzettel mit Anmerkungen zur Anpassung der fotografischen Vorrichtungen, undat. [1907], Archiv IfÖG Institutsakten: 1906–1907. Als 1906 der Fotoapparat angeschafft wurde, begannen auch Studierende regelmäßig zu fotografieren. Bereits 1879 hatte ein siebenbürgischer Absolvent die Fotografie für ein paläographisches Tafelwerk eingesetzt: Friedrich Zimmermann: Photographien von Urkunden aus siebenbürgisch-sächsischen Archiven, Hermannstadt 1879. Die Berichte der Monumenta Germaniae Historica-Mitarbeiter Alphons Dopsch und Michael Tangl aus den Jahren 1889 bis 1903 zeigen, dass im Rahmen der Recherchen für die Diplomata-Abteilung der Monumenta Germaniae Historica die Fotografie in den 1880 und 1890er Jahren sehr weitgehend eingesetzt wurde – allerdings immer noch alternierend mit Handpausen. Friedrich Zimmermann an Theodor Sickel vom 27.02.1880, Archiv IfÖG Institutsakten: 1880; ; Robert Eisler, Reisebericht, 19.02.1906, Archiv IfÖG Institutsakten: 1906–1907; Landesarchivdirektor des Königreichs Böhmen an die Direktion
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6. Quellen im Bild: Fotografien für ein repräsentatives Tafelwerk
stitut setzte gleichzeitig mit der Integration der Fotografie in den universitären Unterricht113 und mit der Verbreitung der Amateurfotografenvereine114 ein.
6.5 Faksimile und Augenschein Im 19. Jahrhundert gab es eine Fülle von Wiedergabeverfahren für historisches Material, die sich an graphischer Detailtreue orientierten.115 Die sich rasch ablösenden Innovationen im Bereich der Abbildungs- und Druckverfahren wurden auch für die Quellenreproduktion in Anspruch genommen, ohne dass ältere Techniken immer außer Gebrauch gekommen wären. Für all diese Abbildungs- und Druckverfahren wurde oft unterschiedslos der Sammelbegriff „Facsimile“ verwendet. Dessen vielseitige Verwendung verweist
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des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 14.02.1908, Archiv Institutsakten: 1908–1909; Reisebericht des verstorbenen Institutsstudenten Johann Gebauer mit 8 fotografischen Beil., eingesandt durch die Angehörigen, ebd; Alphons Dopsch an Engelbert Mühlbacher (1892–1903), Archiv IfÖG, NL Engelbert Mühlbacher; Michael Tangl an Engelbert Mühlbacher (1889–1903), ebd. Seit 1892 bemühten sich Fotografen um Dozentenstellen an der Universität. 1896 wurde das Lektorat für Fotografie bewilligt, allerdings bis 1924 nicht ordentlich dotiert. Ministerium für Cultus und Unterricht an das Dekanat der philosophischen Fakultät der Universität Wien, Briefkonzept (Ablehnung des Antrags Anton Hascheks für ein Lektorat für Photographie), undat., ÖStA, AVA, MCU 4, Fasz. 629: Lehrkanzeln N – Phot, 20267/1892, fol. 1v u. fol. 13r; Akteintrag, Bewilligung des Lektorats für Photographie für Hugo Hinterberger, 20.01.1896, ebd., 942/1896, fol. 1; Akteintrag, Bericht der philosophischen Fakultät über die Verwendung der Subvention für Hinterberger pro 1908, 05.12.1907, ebd., 50872/1907, fol. 2r; Bewilligung der Subvention für Hugo Hinterberger, 01.03.1924, ebd., 14524/1924, fol. 1r. – Der Dozent Hugo Hinterberger bot seit 1892 wechselnde Unterrichtseinheiten an, die auf die technologischen Fortschritte Rücksicht nahmen. 1901 lautete der Grundkurs z. B. „Photographie mit besonderer Berücksichtigung ihrer Anwendung in der Wissenschaft: Mikrophotographie, Photographie auf Forschungsreisen, photomechanische Reproducionsverfahren, Aufnahmeverfahren mit Röntgenstrahlen (mit Demonstrationen)“, Universität Wien, Vorlesungsverzeichnis, Wintersemester 1901/02, S. 54. Vgl. auch die Diskussionen zur gewerbegesetzlichen Regelung der Fotografie an der Universität 1911. UA Wien, Philosophische Fakultät: Sonderreihe Dekanatsakt (Photographie, wissenschaftlich und künstlerisch), Ph/S 16. Astrid Lechner: „Aus Liebe zur Sache und zum Vergnügen“. Österreichische Amateurfotografenvereine 1887 bis 1914, in: Fotogeschichte 21/2001, S. 57–74: 70. Eine Aufstellung gebräuchlicher neuzeitlicher Drucktechniken liefert: Stadt- und Universitätsbibliothek Bern et al (Hrsg.).: Machs’ na. Spezifisch zu zeitgenössischen Druckverfahren in Verbindung mit der Fotografie und zum Stand der Quellenfotografie: Karl Krumbacher: Die Photographie im Dienste der Geisteswissenschaften mit 15 Tafeln im Anhang, in: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und Deutsche Literatur und für Pädagogik 17/1906, S. 601–659. Meier: Die Fortschritte der Paläographie mit Hilfe der Photographie; ders.: Die Photographie im Dienste der Paläographie, in: Compte rendu du quatrième congrès scientifique international des catholiques tenu à Fribourg (Suisse) du 16 au 20 août 1897, Fribourg 1898, S. 436–445.
6.5 Faksimile und Augenschein
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auf ein für die verschiedenen Verfahren geteiltes Abbildideal: Die Nachbildungen sollten eine möglichst große Ähnlichkeit mit dem Original erreichen. Die einzelnen Realisierungen zeigen, dass sich unter dem flexiblen Oberbegriff ganz unterschiedliche Auslegungen dieses Postulats zusammenfanden, die mit divergierenden Vorstellungen von authentischer Wiedergabe und wissenschaftlicher Objektivität in Verbindung standen. Gegenüber dieser vielseitigen Verwendung des Faksimilebegriffs, die auf ein Kontinuum heterogener Praktiken verweist, bestimmen heutige Definitionen das Faksimile etwa als „technisch-mechanische Wiedergabe unter möglichst vollständiger Ausschaltung händischer Kopierarbeit einer einmaligen, praktisch zweidimensionalen Vorlage unter größtmöglicher Beibehaltung der inneren und äußeren Kriterien des Originals und unter Heranziehung aller zur Verfügung stehenden technischen Mittel“.116 Dieser normative Gebrauch des Begriffs als terminus technicus greift historisch jedoch zu kurz. Die Tatsache, dass Historiker auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch oft gerade das Handpausen als „Facsimilierung“ bezeichneten, zeigt, dass sich die Verengung des Faksimilebegriffs auf die Drucktechnik im Untersuchungszeitraum noch nicht durchgesetzt hatte. Trotz des Aufkommens der Fotografie blieben solche von Hand gefertigten „Bausen“ schon aus praktischen Gründen ein unentbehrliches Hilfsmittel der Archivforschung, denn Fotografien waren teuer und umständlich und stießen auf die Vorbehalte der Archivare.117 Die Technik des Durchpausens oder des Abzeichnens, in der die erforderliche Detailtreue gerade durch das zeichnerisch-schreiberische Geschick der Hand erreicht wurde, blieb eine gefragte handwerkliche Fähigkeit, die gerade das Institut für Österreichische Geschichtsforschung von angehenden Forschern sogar ausdrücklich verlangte und prüfte.118 Dabei ging es nicht nur um den praktischen Zweck der Abbildung, sondern auch um den haptischen Nachvollzug der Schriftbewegung, der auch im Zeitalter der Fotografie bedeutsam blieb, um eine „,Einfühlung‘ in den Duktus“119 der Schrift zu ermöglichen. Ein Heft mit sorgsam gezeichneten, von Transkriptionen begleiteten Pausen, das der 116
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Kramer: Was ist ein Faksimile?, S. 7. Vgl. Hilka: Zur Terminologie und Geschichte der Faksimilierung, S. 291. Solche Begriffsbestimmungen spiegeln selbst den großen Wandel der Reproduktionstechniken, die zu den heutigen Wiedergabemöglichkeiten des Licht- und Offsetdrucks geführt haben. Denn die „technisch-mechanische Wiedergabe“ und der Ausschluss der Handarbeit sind Anforderungen, die sich erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts realisiert haben. Vgl. dazu Krumbacher: Die Photographie im Dienste der Geisteswissenschaften, S. 645– 654. Protokoll Aufnahmeprüfung Institut für Österreichische Geschichtsforschung, 26.06.1901, Konzept, Archiv IfÖG Institutsakten: 1901–1903. Faksimiles wurden zudem über den ganzen Untersuchungszeitraum an Institutsstudierende in Auftrag gegeben, die Archive in den Kronländern durchforschten. Vgl. Archiv IfÖG Institutsakten; Fournier: Erinnerungen, S. 100. Heinrich Fichtenau: Die historischen Hilfswissenschaften und ihre Bedeutung für die
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6. Quellen im Bild: Fotografien für ein repräsentatives Tafelwerk
spätere Professor Hans Hirsch wahrscheinlich zu seiner Aufnahme in den Lehrgang des Wiener Instituts im Jahr 1899 vorlegte, illustriert, dass es hier auch um den Nachweis der handwerklichen Genauigkeit ging, die für hilfswissenschaftlich arbeitende Mediävisten von besonderer Bedeutung war.120 Der Begriff des Faksimiles bezog sich im 19. Jahrhundert darüber hinaus nicht nur auf den Druck und das Bild, sondern umschrieb auch Nachbildungen dreidimensionaler Artefakte, beispielsweise von Siegeln und Gemmen121 , die in Metall, Gips und Wachs reproduziert wurden. Die Fotografie stellte in diesem ganzen Spektrum von Faksimiliertechniken nur eine der bildnerischen Möglichkeiten dar. Sie setzte sich als neuer „Goldstandard“ erst langsam durch, wurde ab den 1880er Jahren dann in großem Stil für paläografische Tafelwerke verwendet und konnte sich im 20. Jahrhundert – wie später der Mikrofilm – als Archivierungsmedium etablieren.122 Der Gebrauch von Faksimiles zielte darauf, die „Beaugenscheinigung“123 der originalen Quelle nachzuvollziehen. Die Autopsie beziehungsweise der Augenschein stellt eine zentrale Bezugsgröße historischer Erkenntnis dar. Als Bezeichnung unmittelbarer, direkter Anschauung erschien die Autopsie seit der Antike als Motiv der Historiographie. Zum einen bildete sie im gelehrten Diskurs ein Wahrheitskriterium historischer Darstellungsleistungen. Wenn der Wahrheitswert von Erzählungen antiker Historiographen und mittelalterlicher Chronisten bestimmt wurde, spielte deren Nähe zu den historischen Geschehnissen – die Augenzeugenschaft der Historiographen – eine wichtige Rolle. Entsprechend erschienen die sogenannten „gleichzeitigen“ Quellen als grundsätzlich höherwertig. Andererseits übertrug sich das Konzept der Autopsie auch auf diejenigen Operationen der historischen Forschung, die nicht die Anschauung der Geschehnisse, sondern die Untersuchung der historischen Dokumente betrafen. Die Sichtung historischen Materials mit eigenen Augen wurde – bereits in der Frühneuzeit – gegenüber dem bloßen Abschreiben aus zweiter Hand zu einem Gütezeichen historischer Forschung, der Akt des Mit-eigenen-Augen-Sehens zu einer Autoritätsbesiegelung der historischen Aussage. Im Begriff der Autopsie beziehungsweise des Augenscheins enthüllt sich die Nähe der Vorgehensweisen der Geschichtswis-
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Mediävistik, in: Karl Acham/Ernst Opgenoorth/ders. et al.: Methoden der Geschichtswissenschaft und der Archäologie, München/Wien 1974, S. 115–144: S. 24. Hans Hirsch, Heft „Hirsch, Johann“, [eingeklebte Pausen und Nachzeichnungen von Schriftproben aus paläographischen Tafelwerken; Transkriptionen], undat., Archiv IfÖG NL Hans Hirsch 21. So hob Bechstein Siegelnachbildungen in Metall gegenüber einer „in Wachs facsimilirte[n] Siegelsuite“ positiv hervor. A. Bechstein: Ueber plastische Siegel-Nachbildungen, namentlich in Metall, in: Zeitschrift für die Archive Deutschlands 2/1850, S. 55–57: 57. Rück: Im Zeitalter der Fotografie, S. 39–41. Einzelne Nachweise: Meier: Die Fortschritte der Paläographie mit Hilfe der Photographie; Wattenbach: Deutschlands Geschichtsquellen. Joseph Feil, Vortrag 27.09.1856, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 668: Institut für österreichische Geschichtsforschung 1854–1890, 6980/1856, fol. 2–6, 16r, hier fol. 3r.
6.5 Faksimile und Augenschein
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senschaft zur juristischen und rhetorischen demonstratio ad oculos und zum Empiriepostulat der neuzeitlichen Naturwissenschaften. Diese Nähe bildete – wenn auch in sich wandelnden Bezugsformen – eine große Kontinuität im historiographischen Diskurs,124 Die Gebrauchsweisen von Faksimiles waren aber noch von weiteren Funktionen bestimmt. Nachbildungen spielten im 19. Jahrhundert für die Popularisierung, Musealisierung und Kommerzialisierung von Geschichte als Originalersatz, Devotionalien der Geschichtskultur oder Authentizitätszeichen eine wichtige, noch kaum untersuchte Rolle. Drei Beispiele aus dem vorliegenden Untersuchungszusammenhang zeigen aber zumindest auf, wie stark sich in der populären Verwendung von Faksimiles wissenschaftliche Zugänge mit jeweils unterschiedlichen gesellschaftlichen Verständnissen von Geschichte verbanden. Basilius Hidber setzte wie bereits erwähnt in den 1860er Jahren Fotografien frühmittelalterlicher Urkunden ein, um das „Schweizerische Urkundenregister“ unter Parlamentariern und Bundesangestellten in Bern zu propagieren. Die Fotografien wurden angefertigt, um „den weniger kundigen Mitgliedern der eidgenössischen Behörden und dem weiteren Publikum etwas zu bieten“.125 Das Bild eines uralten Schriftobjekts sollte wohl in seiner Bildhaftigkeit und Fremdartigkeit wirken; denn selbst das gebildete Publikum konnte den urkundlichen Text wohl kaum entziffern.126 Ein Beispiel aus Österreich zeigt, dass auch die Massenmedien solche Quellenbilder transportierten. Die durch Nachzeichnung erzielten Faksimiles von galizischen Urkunden, die eine Lemberger Zeitung Ende der 1850er Jahre abdruckte, illustrierten ein lokales oder regionales Geschichtsinteresse. Die Publikation rechnete wohl nicht mit der fachmännischen Urteilskraft der Leserschaft, sondern machte regionale Geschichte anschaulich und hob 124
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Vgl. „Augenschein“, in: Adelung: Wörterbuch, Bd. 1, S. 564f. – Hammerstein: Jus und Historie, geht nicht auf die von Recht und Geschichte geteilten Vorgehensweisen der Autopsie ein. Ginzburg geht von einer neuartigen Konvergenz von Kriminalistik und geisteswissenschaftlichen Verfahren in der Verfolgung eines „Indizienparadigmas“ im letzten Drittel des 19. Jhs. aus, blendet jedoch die Geschichte der Autopsie in der Frühneuzeit aus. S. Carlo Ginzburg: Spie. Radici di un paradigma indiziario, in: ders.: Miti emblemi spie. Medodologia e storia, Torino 1986 (EA 1979), S. 158–209. Zu den Konvergenzen von kriminalistischen und historiographischen Vorgehensweisen im Kriminalroman und in der Historik jüngst auch Achim Saupe: Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker. Historik, Kriminalistik und der Nationalsozialismus als Kriminalroman, Bielefeld 2009; ders.: Der Historiker als Untersuchungsrichter und Detektiv. Historik, Kriminalistik und die Poetologie der Geschichte, in: ZeitRäume. Potsdamer Almanach des Zentrums für Zeithistorische Forschung 2008, Potsdam 2009, 138–150. Basilius Hidber an die Vorsteherschaft der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz, 20.04.1873, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 86. Basilius Hidber, Jahresbericht an das Eidgenössische Departement des Innern, 11.03.1864, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 85; Basilius Hidber, Jahresschlussbericht an das Eidgenössische Departement des Innern, 27.12.1864, ebd.; Basilius Hidber, Jahresschlussbericht an das Eidgenössische Departement des Innern, 22.12.1866, ebd.
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6. Quellen im Bild: Fotografien für ein repräsentatives Tafelwerk
lokale wissenschaftliche Leistungen hervor.127 Ähnlich sollte wohl das in der Einleitung zu diesem Buch diskutierte fotografische Faksimile einer Urkunde wirken, das die Mitglieder der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz im Jahr 1891 von den Zürcher Gesellschaftsmitgliedern als patriotisches Souvenir geschenkt bekamen.128 Alle Beispiele zeigen auf, dass populär verwendete Faksimiles durch die Zurschaustellung des ehrwürdigen Alters der Schriftstücke über die konkreten Inhalte hinaus auch die Authentizität und Autorität der Überlieferung selbst betonten. Die Geschichtswissenschaft konnte demnach mit einem geschichtskulturellen Interesse an bildlichen Reproduktionen authentischer historischer Objekte rechnen.
6.6 Konfliktpotentiale fotografischer Autopsiesimulation Die Monumenta graphica knüpften an diese vielfältigen Nachbildungsformen historischer Objekte an und brachten die neuen Abbildungspotentiale des fotografischen Verfahrens wie auch divergierende Quellenkonzepte ins Spiel. Das deklariert wichtigste, unmittelbar praktische Ziel der Monumenta graphica bildete die Konfrontation mit dem historischen Material. Dieser Gebrauchszusammenhang der Autopsiesimulation129 führte zu konzeptuellen Auseinandersetzungen. Als der Bildungsbeamte Joseph Feil sich im Ministerium für Cultus und Unterricht für eine Stärkung der Forschungsorientierung des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung aussprach und Theodor Sickels Fotografieprojekt unterstützte, plädierte er für die Einübung der Autopsie als Qualitätsmerkmal. Feil kritisierte, dass der amtierende Direktor Jäger zusammen mit seinen Studenten Forschungsfragen nur punktuell anhand der Originaldokumente prüfte. Meistens seien die Studenten schweigend mit der „Ausarbeitung der ihnen zur Aufgabe der Behandlung gestellten geschichtlichen Themata beschäftigt“ und betrieben eher Historiographie als 127
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Strónsky [Universitätsbibliothekar], Bericht über die in den Archiven in Galizien liegenden Schriftdenkmale, 01.06.1858, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 9811/1858, fol. 3–6, hier 4v. Es handelte sich um den wiedergefundenen Bündnisbrief des Kantons Zürich mit den vier Waldstätten von 1351. [Antiquarische Gesellschaft des Kantons Zürich (Hrsg.):] Das ewige Bündniss zwischen Zürich und den vier Waldstädten. Vgl. dazu der Beginn der Einleitung. Vgl. dazu Peter Geimer: Einleitung, in: ders. (Hrsg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie. Frankfurt a. M. 2002, S. 7–25: 12f. Geimer stellt einer verallgemeinernden Fotogeschichte als ästhetisierender Zusammenschau die Berücksichtigung unterschiedlicher Funktionszusammenhänge und formaler Differenzen von Fotografien gegenüber. Eine Analyse habe deshalb immer den „Wert und Gebrauch der Bilder in spezifischen Konstellationen zu beschreiben“. Ebd.
6.6 Konfliktpotentiale fotografischer Autopsiesimulation
303
Forschung. Feil forderte deshalb, dass die praktische Quellenanalyse durch eine breitere Berücksichtigung quellenkundlichen Wissens und durch Autopsie ausgebaut werde. Nur mit einer „Beaugenscheinigung“ lasse sich der „Weg der Forschung“ beschreiten. In seinem Vorschlag unterstrich der Beamte die Aufgabe des Instituts, „quellengemässe Ausrüstung“ anzubieten und zu „quellensicherer Forschung“ anzuregen, während die Syntheseleistung der Darstellung „immerdar dem Genius des Einzelnen überlassen bleiben“ müsse, eben nicht gelehrt werden könne.130 Der Autopsie kam dabei nicht nur die Funktion zu, neue Erkenntnisse zu generieren. Wenn die Institutszöglinge vorschnell zur Synthese ihrer Arbeiten übergingen, wäre zu befürchten, „dass gerade die Zöglinge selbst, bei derartigem Vorgange am leichtesten zu jener verderblichen Richtung sich verirren könnten, welche sich durch übersichtiges rasches Aburtheilen, durch Geringschätzung historischer Autoritäten kundgibt, zumal wenn es dem Zögling, ohne vorläufig durch die Erkenntniss der nur durch die angestrengtesten und eifrigsten Bemühungen zu überwindenden Schwierigkeiten gründlicher historischer Forschungen gedemüthigt zu sein, gelungen sein sollte, in irgend einer Parthie etwa der späteren Zeit, wo es keine paläographischen, semiotischen oder chronologischen Schwierigkeiten mehr zu überwinden, unter der Gunst von aufgefundenem und leicht zu verarbeitendem Material, wirklich in einer speciellen Richtung eine Darstellung des thatsächlichen Verlaufes zu gewinnen“.131
Mit der gründlichen „Beaugenscheinigung“ des historischen Materials sollten demnach vorschnelle, falsche Synthesen vermieden werden. Die Autopsie förderte eine moralische Arbeitshaltung, die von Ehrfurcht vor der Autorität des Überlieferten und von Bescheidenheit geprägt war. Wie bereits aufgezeigt wurde, war diese Haltung unmittelbar mit der umfassenden staatlichen Kontrolle des Zugangs zu staatlichen Quellen verknüpft, die in den 1850er Jahren noch intakt war. Dass sich mit dem Überzeugungspotential der Autopsie nicht nur ein staatstreuer Quietismus, sondern auch sein Gegenteil erreichen ließ, verschwieg Feil. Historiker in den Kronländern, die sich in dieser Zeit gegen die Einheit des Kaiserstaats wandten, wussten hingegen von der Wirkung „anschaulicher“ Geschichte und machten ihre partikularistischen Geschichtserzählungen durch authentische wie auch gefälschte Schriftstücke „autoptisch“ erfahrbar.132 130
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Joseph Feil, Vortrag 27.09.1856, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 668: Institut für österreichische Geschichtsforschung 1854–1890, 6980/1856, fol. 2–6, 16r, hier fol. 3r. Feil publizierte selbst zahlreiche historische Arbeiten. Vgl. z. B. Joseph Feil: Sonnenfels und Maria Theresia: Sylvester-Spende für Freunde zum Neujahr 1859, in: Sylvester-Spenden eines Kreises von Freunden vaterländischer Geschichtsforschung, Wien 1858, S. 1–34. Joseph Feil, Vortrag 27. 09.1856, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 668: Institut für österreichische Geschichtsforschung 1854–1890, 6980/1856, fol. 2–6, 16r, hier fol. 3v–4r. Tschechische Historiker im Franzenmuseum in Prag legten gefälschte Urkunden vor, um für einen tschechischen Nationalstaat zu argumentieren. Vgl. Friedrich Bock: Fälschungen des Freiherrn von Hormayr (1782–1848), in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 47/1927, 225–243. Vgl. auch die lange andauernden Kontroversen um die gefälschte sogenannte Königinhofer Handschrift, in die sich auch
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6. Quellen im Bild: Fotografien für ein repräsentatives Tafelwerk
Dass das Projekt für die Autopsiesimulation auf die Fotografie zurückgriff, sahen Feil und seine Mitinitianten als Fortführung geläufiger Faksimiliertechniken. Die Einführung der Fotografie in die Quellenreproduktion wurde in den 1850er Jahren auch technisch nicht als Bruch mit älteren Verfahren, sondern als Steigerung laufender Innovationsbemühungen wahrgenommen. Dies wird an der Situierung der Fotografie im Gefüge der Techniken deutlich, wie sie in der k. k. Haus-, Hof- und Staatsdruckerei vertreten wurden. Alois Auer präsentierte die Fotografie Anfang der 1850er Jahre als eine unter mehreren Innovationen, die den technischen Zielen der Schärfe, Reinheit und Genauigkeit der Abbildung besonders nahe kamen. Wie die Galvanoplastik die Kräfte der Elektrizität, die „zeugende Kraft des Weltalls“ in ihren Dienst nahm, wurde in der Photographie das Licht „zur Hervorbringung von Resultaten gezwungen, die zu verschiedenen Zwecken mit außerordentlichem Vortheile benützt werden können“.133 Das Frontispiz seines „Polygraphischen Apparats“ von 1853 stellt eine Allegorie der graphischen Verfahren dar, welche die Fotografie in Gestalt eines Engels gleichberechtigt im Kreis der „graphischen Künste“ zeigt. Die Fotografie reicht dem ebenfalls als Engel dargestellten Naturselbstdruck die Hand, während unter ihnen die traditionellen typografischen Künste als ehrwürdige Weisen thronen. In kleineren Seitenvignetten sind die Genien der Drucktechniken, der Kunst, des Gewerbes, der Sprachen und der Wissenschaften dargestellt.134 Dennoch wurden der Fotografie innerhalb dieses Funktionsrahmens spezifische Leistungen zugeschrieben. Die Beschreibungen, zu denen die Projektbeteiligten griffen, um ihr Vorhaben zu erklären, knüpfen nicht überraschend an geläufige Charakterisierungen an, die die Fotografie von Beginn an begleitet hatten. Alois Auer etwa schrieb, die Fotografie liefere „ein getreues Spiegelbild der Natur mit allen Einzelheiten, die keine menschliche Hand so wiederzugeben“ vermochte.135 Die Spiegelbildmetapher, der Hinweis auf die Selbstabbildung der Natur, die für Talbots Fotografiebibel „The Pencil of Nature“ von 1844 titelgebend war, wie auch der Vergleich mit dem begrenzten Können der Hand waren in den frühen Jahren der Fotografie sehr verbreitet.136 Damit wurden die Fotografien der Monumenta graphica als
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Max Büdinger mit einer Expertise einmischte. Jiří Kořalka: František Palacký (1798– 1876). Der Historiker der Tschechen im österreichischen Vielvölkerstaat, Wien 2007, S. 150, 385–390; Raffler: Museum – Spiegel der Nation?, S. 194f. Auer: Geschichte der k. k. Hof- und Staatsdruckerei, 1. Teil, S. 30, 36. Bei der Publikation handelte es sich um eine Präsentation der verschiedenen an der Staatsdruckerei vertretenen graphischen Künste. Alois Auer von Welsbach: Der polygraphische Apparat oder die verschiedenen Kunstfächer der k. k. Hof- und Staatsdruckerei zu Wien, Wien 1853, Frontispiz „Die Vereinigung der graphischen Künste“. Vgl. auch ders.: Die Entdeckung des Naturselbstdruckes oder die Erfindung durch das Original selbst auf einfache und schnelle Weise Druckformen herzustellen, Wien 1854. Auer: Geschichte der k. k. Hof- und Staatsdruckerei, Teil 1, S. 37. Vgl. Joel Snyder: Sichtbarmachung und Sichtbarkeit, in: Geimer: Ordnungen der Sicht-
6.6 Konfliktpotentiale fotografischer Autopsiesimulation
305
mechanische Nachbildungen auf physikalisch-chemischem Weg dargestellt, die die Phänomene für sich selber sprechen ließen und das Auge von der Hand abkoppelten. Gleichzeitig erhielt Auer aber auch für die Fotografie den Anspruch auf den Kunstcharakter im Sinn handwerklichen Könnens und künstlerischer Einfühlung aufrecht. Wie die anderen graphischen Künste war sie für ihn das Resultat einer gleichzeitig technischen, künstlerischen und wissenschaftlichen Kompetenz.137 Auch bei der öffentlichen Ankündigung der Monumenta graphica nahm die Fotografie diese zweideutige Position zwischen einem mechanischen Verfahren, das die Natur – das „unentgeltliche Tageslicht als Zeichner und Vervielfältiger“138 – für sich arbeiten ließ, und einem Artefakt ein.139 Zum einen wurde die getreue Wiedergabe der Schrift hervorgehoben, die die Fotografie ermöglichte. Das fotografische Bild erschwere durch die mechanische Wiedergabe gegenüber den älteren Techniken des Stichs oder des Steindrucks die rasche Entzifferung der Schrift, dafür liefere sie eine Abbildungstreue, eine „garantie de reproduction exacte“140 , die die paläographische Übung der Erfahrung des Originals annähere. Andererseits wurde aber auch die Könnerschaft der Fotografen – darunter die namentlich genannten italienischen „artistes-photographes“ – hervorgehoben, die diese Exaktheit erst ermöglichte.141 Im Vergleich mit den herkömmlichen Techniken des Kupferstichs oder der Lithografie wurde der mechanische Charakter der Fotografie jedoch insgesamt viel stärker betont als die Könnerschaft, die sie bedingte: „Les facsimilés photographiés ont aussi l’avantage d’imiter aussi bien l’état de l’encre que celui du parchemin ou du papier. Le parchemin mal conservé, bruni ou noirci soit par l’humidité ou par la poussière, donne au facsimilé photographié un fond obscur duquel se détachent à peine les traits de l’écriture. De même quand l’encre s’est détachée ou pâli, la photographie ne montre plus que des lettres faiblement dessinées. C’est avec intention que l’on a mis dans la collection un certain nombre de facsimilés d’originaux mal conservés ou même mutilés pour introduire mieux les lecteurs de ces planches dans l’art de déchiffrer les pièces les plus difficiles.“142
Gegenüber der durch Hand und Verstand geführten Abbildung des Kupferstichs und der Lithographie bildete die Fotografie unterschiedslos
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barkeit, S. 142–167:161; Bernd Busch: Belichete Welt. Eine Wahrnehmungsgeschichte der Fotografie, München/Wien. 1995: S. 21f., 77, 198–205. Auer: Geschichte der k. k. Hof- und Staatsdruckerei, Teil 1, S. 36–38. Auer: Geschichte der k. k. Hof- und Staatsdruckerei, Teil 1, S. 38. Vgl. Geimer: Einleitung, S. 15; ders.: Was ist kein Bild? Zur ,Störung der Verweisung’, in: ebd., S. 313–341: 313–320; Busch: Belichtete Welt, S. 10f. Verlagsprospekt, 15.03.1859, Archiv IfÖG Institutsakten: Monumenta graphica. Es handelte sich um Moritz Lotze in Verona, Alessandro Duroni in Mailand und Antonio Perini in Venedig. Verlagsprospekt, 15.03.1859, Archiv IfÖG, Institutsakten: Monumenta graphica. Zu den Fotografen s. ausführlich Stelzer: Theodor Sickel und die Fotografie, S. 422–429. Verlagsprospekt, 15.03.1859, Archiv IfÖG Institutsakten: Monumenta graphica.
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6. Quellen im Bild: Fotografien für ein repräsentatives Tafelwerk
auch die verderbten Stellen ab, ihre Abbildung war also informationsreicher als diejenige der älteren Techniken. Darüber hinaus bildete sie aber auch wahrheitsgetreuer ab – ohne zu beschönigen oder schwach Lesbares nachzudunkeln. Diese Wiedergabetreue betonte das Fragmentarische und Verwitterte der Schriftstücke. Sie ermögliche, so die Argumentation des Prospekts, eine realistischere Simulation der Autopsie. Darüber hinaus wurde der Realismus der Fotografie durch die bewusste Wahl von schlecht erhaltenem Schriftgut geradezu ästhetisch überhöht. Fotos eingerissener und angebrannter Urkunden wurden dadurch zum Zeichen einer doppelten Authentizität. Sie standen zum einen für die mechanisch erzielte, unmanipulierte Authentifizierungskraft der fotografischen Technik143 , die dem historischen Faksimilewerk eine weiterreichende wissenschaftliche Glaubwürdigkeit verlieh als etwa ein Kupferstich. Zum anderen repräsentierten sie das geschichtswissenschaftliche Konzept der unbedingten und unvermittelten Auseinandersetzung mit dem Original, die sich weder von schlechter Lesbarkeit noch von der Versehrtheit ihrer Objekte abhalten ließ. Die Fotografien defekter Schriftstücke illustrierten auf neuartige Weise das Ideal der Autopsie, die moralische Arbeitshaltung der Demut vor dem Original. Die Anrufung der Darstellungspotentiale der Fotografie im Prospekt der Monumenta graphica schloss alle Konfliktmotive ein, die das Unternehmen zu Beginn prägten: die Behauptung eines Selbstabdrucks der Natur, das erhöhte Authentifizierungspotential und damit auch eine weitreichende Verfügbarkeit der dargestellten Objekte, die sich dem Auge darbieten wollten wie Originale. Ein erster Konflikt entspann sich um die Unschädlichkeit des fotografischen Verfahrens. Während man sich einig war, dass der Ablichtungsvorgang keine Schädigung des Schriftguts zur Folge hatte, wurde die Handhabung der Originale kontrovers diskutiert. Anders als es die idealisierende Darstellung der Fotografie als Spiegelung der Phänomene formuliert, war die Aufnahme von Schriftstücken mit der sehr handfesten Herrichtung der Originale verbunden, die den technischen Voraussetzungen der Apparaturen angepasst werden mussten. Die Originale wurden möglichst geglättet in senkrechter Position vor den Apparat gebracht, wofür zwei Fotografen zusammenarbeiteten.144 Dazu wurden bei Urkunden die empfindlichen Siegel, die nicht gleichzeitig aufgenommen werden konnten, sorgsam in Watte gepackt und eingenäht. Das Pergament wurde anschließend auf der Rückseite mit destilliertem Wasser befeuchtet, um es biegsam zu machen. Es wurde auf eine gepolsterte Brettunterlage montiert und unter eine Glasplatte geschraubt, die die Urkunde fixierte und vor weiteren Manipulationen abschirmte. Bei Codices wurde ähnlich ver143 144
Vgl. Busch: Belichtete Welt, S. 235f. Theodor Sickel, Bericht über den Besuch ungarischer Archive, 01.06.1858, ÖStA, AVA MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 93601/1858, fol. 4–6, hier 5r. Vgl. Krumbacher: Die Photographie im Dienste der Geisteswissenschaften, S. 624.
6.6 Konfliktpotentiale fotografischer Autopsiesimulation
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fahren, wobei der aufzunehmende Bogen aus dem Einband entfernt und die Einheit des Objekts vorübergehend zerstört werden konnte.145 Die Diskussion solcher technischer Details wurde 1857 zum Gegenstand der bereits erwähnten Auseinandersetzung zwischen dem Ministerium für Cultus und Unterricht und dem Ministerium des Äußern, dem das Haus-, Hof- und Staatsarchiv unterstand. Der Direktor des Haus-, Hof- und Staatsarchivs brachte ein anonymes Gutachten bei, das die Gefährlichkeit der fotografischen Manipulation belegen sollte. Der anonyme Gutachter, der bald als der Privatdozent Beda Dudík identifiziert wurde, diagnostizierte, dass Pergamente durch die für die Fotografie erforderliche Glättung, durch die Benetzung mit Wasser, durch den Einsatz von „Reagentien“ und schließlich durch das Abwischen jahrhundertealten Staubes beschädigt würden. Er erbrachte auf Nachfragen hin aber keine technische Beweise für seine Sichtweise, die sich nach eigener Aussage auf eigene Experimente stützte.146 Die Gegenseite antwortete mit Gutachten des Chemieprofessors Joseph Redtenbacher und des Druckspezialisten Alois Auer. Redtenbacher zerpflückte Dudíks Behauptungen, indem er ihre naturwissenschaftliche Stichhaltigkeit anzweifelte. Dudík hatte behauptet, die Glättung der Pergamente führe zum Absplittern von Tinte und zum Riss der Pergamentfasern. Sein Gegengutachter brachte gegenteilige Belege aus Experimenten, die er mit alten Pergamenten angestellt hatte, vor und widerlegte Dudíks naturwissenschaftliche Aussagen. Der Chemiker strich die Unhaltbarkeit von Behauptungen wie derjenigen, dass das ursprünglich in Pergamenten vorhandene Fett über die Jahrhunderte langsam „verdunstet“147 sei, polemisch hervor. Er wurde vom Direktor der Hof- und Staatsdruckerei unterstützt, der ausführte, dass sowohl die übliche Benutzung der Urkunden mit Hilfe von eisernen Linealen als auch klimatische Schwankungen den Urkunden weit mehr Schaden zufügten als die Fotografie. Auer sprach dem gegnerischen Gutachter die fachmännische Kompetenz in praktischen Belangen
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Bericht, 20.03.1858, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 4822/1858, fol. 18–25, hier fol. 17v–18r. Der Direktor des Haus-, Hof- und Staatsarchivs an das Ministerium für Cultus und Unterricht, 26.06.1857, ÖStA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 10866/1857, fol. 6–8, 11; [Beda Dudík], Parere, undat., unsign., ebd., 10866/1857, fol. 9f.; Theodor Sickel, Bericht, 08.07.1857, ebd., 11603/1857, fol. 7–16; Theodor Sickel, Bericht, 20.031858, ebd., 4822/1858, fol. 18–25; Alois Auer, Stellungnahme der k. k. Haus- und Staatsdruckerei, 19.03.1858, ebd. 4822/1858, fol. 36f.; Joseph Redtenbacher, Gutachten, 23.02.1858, ebd., 4822/1858, fol. 38f. Vgl. Mayr: Die Anfänge, S. 563f. Zu Redtenbacher: „Redtenbacher, Joseph“, in: Constantin Wurzbach: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Österreich, enthaltend die Lebensskizzen der denkwürdigen Personen, welche 1750 bis 1850 im Kaiserstaate und in seinen Kronländern gelebt haben, Wien 1856– 1891, , Bd. 25, S. 116–121. [Beda Dudík], Parere, undat., unsign., ÖStA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 10866/1857, fol. 9f., hier fol. 9v.
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6. Quellen im Bild: Fotografien für ein repräsentatives Tafelwerk
gänzlich ab.148 Die Gutachten der Befürworter überzeugten die Beamten im Ministerium für Cultus und Unterricht und ließen es für den weiteren Projektverlauf als erwiesen erscheinen, dass mittelalterliches Schriftgut durch die Fotografie keinen Schaden nahm.149 Gleichzeitig dokumentierte die Auseinandersetzung erstmals die handwerklichen Praktiken der Herrichtung der fotografierten Objekte akribisch und unterlief damit implizit die Vorstellung einer fotografischen Selbstabbildung der Natur. Es gelang den Projektbefürwortern also, die Autorität der Naturwissenschaften auf die Seite der Monumenta graphica zu ziehen. Damit hatte sich die Diskussion allerdings nicht erschöpft. Die Gegner brachten Vorbehalte gegenüber der neuen Faksimilierungstechnik zum Ausdruck, die mit der erhöhten Authentifizierungskraft der Fotografie verbunden waren. Der Direktor des Haus-, Hof- und Staatsarchivs Franz von Erb gestand zu, dass „im Interesse der Wissenschaft“ die Benutzung und sogar die Edition gewisser für die Geschichte des Herrscherhauses und des Staates zentraler Urkunden und Akten erlaubt werden könne. Er fügte dann aber an, „so würde doch die Vervielfältigung derselben auf photographischem Wege, nemlich in einer Art und Weise, dass die Copie vom Original gar nicht oder nur mit Mühe mehr unterschieden werden könnte, eine Entwerthung der letzteren zur Folge haben, wozu ich von meinem Standpunkte die Hand nicht bieten könnte“.150
Der Vorbehalt des Archivars verweist auf die politisch-rechtlichen Funktionen des Archivs, das in der Frühen Neuzeit zur Dokumentation staatlicher Herrschaftsansprüche angelegt worden war. Diese Funktionen wirkten im Haus-, Hof- und Staatsarchiv sowohl im Hinblick auf den Staat als auch im Hinblick auf das Herrscherhaus weiter, obwohl sich die Rechtsgrundlagen
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149
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Joseph Redtenbacher, Gutachten, 23.02.1858, ÖStA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 4822/1858, fol. 38f.; Alois Auer, Stellungnahme der k. k. Haus- und Staatsdruckerei, 19.03.1858, ebd., fol. 36f., hier 36v. Die Diskussion verschwand aber nicht ganz von der Bildfläche. Die Handhabung von Handschriften und Urkunden zu Zwecken der Fotografie wurde später wieder problematisiert. Der Philologe Krumbacher prangerte um 1900 vor allem die unsorgsame Handhabung durch Fotografen an, die die Aufnahmequalität vor die Erhaltung der Handschriften stellen würden und mit den Glasplatten übers Pergament schabten. Krumbacher: Die Photographie im Dienste der Geisteswissenschaften, S. 624f. Der Direktor des Haus-, Hof- und Staatsarchivs an das Ministerium für Cultus und Unterricht, 26.06.1857, ÖStA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 10866/1857, fol. 6–8, 11, hier fol. 7v–8r.
6.6 Konfliktpotentiale fotografischer Autopsiesimulation
309
inzwischen verändert hatten.151 Wenn der Archivdirektor festhielt, dass eine „Sammlung dieser Urkunden in mechanischer Nachbildung“ nur vom Archiv selbst ausgehen könne, das allein „einerseits die Grenzen, andererseits die würdige Ausstattung des Werkes in einer allen Rücksichten entsprechenden Weise“152 bestimmen könne, knüpfte er an rechtliche Rahmenbedingungen des Schrifthandelns an: Solange Originalen Rechtskraft zukam, musste jede Reproduktion von einer amtlichen Beglaubigung begleitet sein, die deren rechtlichen Status autorisierte – wie etwa in der mittelalterlichen Form des Vidimus. Den Archivaren, die zu diesem Zeitpunkt oft noch eine juristische Ausbildung hatten153 , war überdies bewusst, dass die Fälschungsproblematik keineswegs nur von historischem Interesse war. Wie eine spätere Fälschungsaffäre um einen angeblich neu gefundenen Brief Karls des Großen zeigt, dessen Fotografie bekannt gemacht wurde, bot die Fotografie auch dafür neues Authentifizierungspotential.154 Der Archivdirektor nahm die Verheißung einer vollkommen mechanisch erzielten Abbildung von Dokumenten durch die Fotografie beim Wort und verwendete sie gegen diese. Seine Befürchtung, die Fotografie könne mit dem Original verwechselt werden, empfand man später als unverständlich.155 Problematisiert wurde hier allerdings das selbstdeklarierte Potential der Fotografie, vollkommen naturgetreu zu sein, nicht deren erprobte Wirkung. Urkundenfotografien hatten zu diesem Zeitpunkt noch keine nennenswerte Verbreitung gefunden. Die Sehgewohnheiten des Publikums in Bezug auf „realistisch“ überhöhte Quellenfotografien waren zum Zeitpunkt der Ersterscheinung der Monumenta graphica noch nicht eingespielt, was den Archivdirektor offenbar zu der Vermutung veranlasste, ungeübte Betrachter würden dem Realismuseffekt der Fotografie zum Opfer fallen.156 Erb war sich 151
152
153 154
155 156
Ein Beispiel für diese Haltung sind die Auseinandersetzungen des späteren Archivdirektors Alfred Arneth mit seinem Vorgesetzten Baron von Werner über die vorab nicht autorisierte Publikation einer Korrespondenz aus dem 18. Jahrhundert zwischen Kaiser Karl VI. und dem Kanzler von Böhmen. Arneth: Aus meinem Leben, Bd. 2, S. 57f. Auch der Wiener Geschichtsprofessor Alfons Fournier erfuhr Kritik aus dem Inneren des Archivs, als er als Archivbeamter Dokumente zur Pragmatischen Sanktion von 1703 veröffentlichte, die bis dahin zurückgehalten worden waren. Fournier: Erinnerungen, S. 151. Vgl. auch Hochedlinger: Das k. k. „Geheime Hausarchiv“, S. 40–42. Der Direktor des Haus-, Hof- und Staatsarchivs an das Ministerium für Cultus und Unterricht, 26.06.1857, ÖStA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 10866/1857, fol. 6–8, 11, hier fol. 8r–9r. Hochedlinger: Das k. k. „Geheime Hausarchiv“, S. 40. Rudolf Thommen an Engelbert Mühlbacher, 22.10.1890 aus Basel, Archiv IfÖG NL Engelbert Mühlbacher: Rudolf Thommen an Engelbert Mühlbacher, fol. 49f.; 29.10.1890 aus Basel, ebd., fol. 50. Lhotsky: Geschichte des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, S. 58f. Die Anfänge der Monumenta graphica liegen vor dem großen Schub der Popularisierung der Fotografie Ende der 1850er Jahre, und auch dann noch waren Fotografien wegen ihrer Kostspieligkeit nur für Gutverdienende erschwinglich. Die erste öffentliche Fotografieausstellung in Wien fand erst 1864 statt. Starl: „Die Photographie ist eine
310
6. Quellen im Bild: Fotografien für ein repräsentatives Tafelwerk
als restriktiver Quellenhüter durchaus dessen bewusst, dass bisher nur sehr wenigen Personen überhaupt ein Blick auf die in Frage stehenden Originale möglich gewesen war. Zur Disposition stand hier letztlich allerdings nicht die Unterscheidung zwischen Vorlage und Bild an sich, sondern vielmehr die Autorität des archivierten Originals, das entwertet wurde, weil das fotografische Verfahren Anspruch auf eine Naturtreue erhob, die jede menschliche Führung ausschloss. Durch eine fotografische „Kopie“ wurde ein, wie auch die Befürworter selbst unterstellten, perfektes, umfassendes Abbild hergestellt, das nicht mehr durch behördliche Autorität oder die handwerkliche Tätigkeit des Historikers, sondern durch die Natur selbst ermöglicht wurde. Die befürchtete Entwertung bezog sich auf die Auflösung des Zusammenhangs zwischen beglaubigenden Institutionen und Abbild.
6.7 Entkontextualisierung und Objektivierung durch die Linse Die Bemächtigung der Originale in Form von Codices und Urkunden stellte einen zentralen Schritt bei der Produktion der Monumenta graphica dar. Projektverantwortliche und lokale Akteure bemühten sich gleichermaßen, möglichst weitgehende Verfügungsmacht über das Original zu erlangen oder zu bewahren. Es gehörte deshalb zu den wichtigsten Aufgaben der Projektleitung, die Archivare dazu zu bringen, die entsprechenden Urkunden und Codices vorübergehend aus ihrer Obhut zu entlassen. Die technische Herrichtung der Objekte spielte dabei eine wichtige Rolle. Bei der Rahmung unter Glas, die der Fotografie voranging, ging es nicht nur um die Glättung und den Schutz des Objekts, sondern auch um dessen praktische Verfügbarkeit, wie Sickel am Beispiel des k. k. Hausarchivs aufzeigte: „So würde z. B. ein darauf eingeübter Arbeiter der Druckerei eine Urkunde des k. k. Hausarchivs im Archiv selbst und in Gegenwart der dortigen Beamten anfeuchten, aufspannen und einrahmen. Die eingerahmte Urkunde bliebe dann auf dem Archiv bis zu einem zur Aufnahme günstigen Tage; erst dann würde sie auf wenige Stunden in das photographische Atelier getragen und schließlich wieder auf dem Archiv aus dem Rahmen herausgenommen.“157
Die Rahmung unter Glas erhöhte die Mobilität der zu fotografierenden Elemente und die Handlungsoptionen der Projektleitung, indem sie die
157
Nothwendigkeit...“, S. 27; ders.: Die Verbreitung der Fotografie im 19. Jahrhundert. Materialien und Anmerkungen zur Entwicklung in Österreich, in: Hochreiter/ders. (Hrsg): Geschichte der Fotografie in Österreich, S. 12. Theodor Sickel, Bericht, 20.03.1858, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 4822/1858, fol. 18–25, hier fol. 18v.
6.7 Entkontextualisierung und Objektivierung durch die Linse
311
Ausleihzeit der Dokumente verkürzte und den lokalen Quellenhütern die Überwachung der materiellen Integrität der Schriftobjekte ermöglichte. Gleichzeitig leitete die Rahmung eine Entkontextualisierung ein, in deren Verlauf das Schriftgut in den neuen Zusammenhang der Monumenta graphica überführt wurde. Dieser Aneignung durch die professionelle Geschichtswissenschaft setzten die lokalen Akteure ihre eigenen Praktiken der Quellenhandhabung und -mobilisierung entgegen. Der Abt des Benediktinerstifts Kremsmünster in Oberösterreich, der sich 1862 die technische Avanciertheit seines fotografierenden Stiftsbruders zunutze machte, zielte darauf ab, den Wiener Behörden bereits fertige Arbeitsresultate zukommen zu lassen, die den „Codex millenarius“ auf ihm genehme Art fixierten. Er schrieb: „Bei der Anfertigung derselben wurde vorzüglich darauf Bedacht genommen, dass das ganze Alphabet der Schriftart des Codex darin aufgeführt ist, und auch ein Blatt mit der zweiten Schriftart, in welcher die Einleitungen zu den vier Evangelien geschrieben sind, beigegeben wurde. Eine kurze Beschreibung und Geschichte des Codex gibt die nothwendigen Erläuterungen.“158
Er lieferte mit der inhaltlichen Vorauswahl, den sechs Fotografien, den Kommentaren und Interpretationen ein Konglomerat von Arbeitselementen, in dem das von Sickel erbetene Material bereits mehrfach aufbereitet war. Ganz ähnlich verfuhren auch andere Projektbeteiligte, die ausführliche wissenschaftliche Programme beisteuerten. Als ein Lemberger Universitätsbibliothekar der galizischen Statthalterei einen Bericht über in galizischen Archiven liegendes Schriftgut erstattete, das für die Monumenta graphica in Frage kam, dokumentierte er nicht nur im Kronland selbst liegende Quellen, sondern fasste darüber hinaus auch geeignete Bestände außerhalb Galiziens sowie bereits erschienene Editionen und Faksimiles ins Auge. Dazu schickte er einige Urkundenlithographien mit. Aus der Wiener Zeitung, dem offiziellen Organ der österreichischen Behörden, hatte der lokale Experte von der fotografischen Faksimiliertechnik der Monumenta graphica erfahren, deshalb wollte er die eigenen Lithographien bloß als „graphische Probestücke“159 verstanden wissen und regte an, sie nochmals zu fotografieren.160 Ganz ähnlich lieferten die italienischen Beamten, die Sickel 1857 ihre Vorarbeiten zur Verfügung stellen mussten, „dickleibige Kommentare“161 zu den fotografierten Objekten mit. Obwohl die Projektverantwortlichen durch die Indienstnahme der staatli158 159
160 161
Abt Augustin Beslhuber an das MCU, 01.03.1862, ÖStA AVA, MCU 4A, Historischphilologisches Seminar, Historisches Seminar, 2473/1862, fol. 1f. Universitätsbibliothekar Strónsky, Bericht über die in den Archiven in Galizien liegenden Schriftdenkmale, 01.06.1858, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 9811/1858, fol. 3–6, hier fol. 4v. Ebd. Theodor von Sickel: Erinnerungen, aufgez. von B. Bretholz, in: Bretholz: Theodor v[on] Sickel, S. 17.
312
6. Quellen im Bild: Fotografien für ein repräsentatives Tafelwerk
chen Verwaltung über weitgehende Machtmittel verfügten, wurde das Projekt also in verschiedenster Hinsicht von lokalen Akteuren mitgestaltet, wenn die Zuträger vor Ort sich bemühten, mit den eingesandten Quellen ihren lokalen Wissenskontext nach Wien hinüberzuretten. Manche ließen ihre Originale sogar von Vertrauenspersonen nach Wien eskortieren, die zugleich „lebendige Kommentare“ der materiellen Objekte liefern konnten. Diese Bemühungen können als Standardisierungsanläufe in Form von „standardisierten Paketen“162 aus verschiedenen Arbeitselementen verstanden werden, welche die Projektverantwortlichen dazu bringen sollten, die Vorschläge unverändert zu übernehmen. Diesen Gestaltungsversuchen standen die Standardisierungsbemühungen gegenüber, die die Herausgeber des Tafelwerks leisteten. Zum ersten gaben die technischen Formate bereits eine Vorauswahl der abzulichtenden Dokumente vor, so dass sehr große Urkunden nicht einbezogen werden konnten. Die Fotografien lieferten außerdem einen manche Differenzen einebnenden Blick auf die Objekte, indem sie Ausschnittbildungen vornahmen. Die radikalste Standardisierung der Monumenta graphica bestand indessen in einer umfassenden Entkontextualisierung der fotografierten Schriftstücke, die lediglich von Transkriptionen begleitet wurden. Obwohl der Verlagsprospekt einen ausführlichen Kommentar ankündigte163 , kam dieser nie zustande. Sickel hatte ursprünglich die Absicht gehabt, das Projekt mit programmatischen paläographischen Ausführungen zu versehen, die „ein in vielen Punkten neues System der Palaeographie“164 entwerfen und Sickel zu einer Standardreferenz der Paläographie hätte werden lassen sollen. Wie wiederholt negativ vermerkt wurde, lieferte er zum Abschluss des Projekts aber nur ein Register nach.165 Der Verzicht auf einen Kommentarband war bewusst gewählt. Sickel schrieb, nur so habe er die „Kommentare abwehren“ können, die „nicht allein von Mailand her, sondern auch von anderen Orten bei Einsendung der Stücke angeboten“ wurden.166 Eine selektive Ablehnung der Kommentare von Mitarbeitern, die viel Zeit auf ihre Hilfeleistungen und ausgefeilten Erläuterungen verwendet hatten, hätte offenbar zu folgenreichen Brüskierungen geführt. Dagegen konnte der gänzliche Verzicht auf einen Kommentar als konzeptueller Entscheid aufgefasst werden. Dass die faksimilierten Schriftstücke in Sickels Monumenta graphica weitgehend für sich selbst standen, 162 163 164 165
166
Vgl. Fujimura: Crafting Science. Verlagsprospekt, 15.03.1859, Archiv IfÖG Institutsakten: Monumenta graphica. Theodor Sickel an Karl Friedrich Sickel, 28.05.1858, abgedr. in Heldmann: Drei Briefe Sickels, S. 129–136: 131. Sickel schrieb, der Mangel eines Begleitkommentars sei ihm oft vorgeworfen worden. Theodor von Sickel: Erinnerungen, aufgez. von B. Bretholz, in: Bretholz: Theodor v[on] Sickel, S. 17. Vgl. Meier: Die Fortschritte der Palaeographie mit Hilfe der Photographie, S. 6. Theodor von Sickel: Erinnerungen, aufgez. von B. Bretholz, in: Bretholz: Theodor v[on] Sickel, S. 17f.
6.7 Entkontextualisierung und Objektivierung durch die Linse
313
hatte demnach in erster Linie weder konzeptuelle noch ästhetische Gründe, sondern lag in der sozialen und politischen Praxis der Quellenforschung begründet. Den Beiträgern der Monumenta graphica gelang es nicht, Sickel ihre eigenen Deutungen und Kontextualisierungen der fotografierten Quellen aufzudrängen. Aber sie verunmöglichten es dem Projektleiter, seine eigenen Vorstellungen in allen Belangen durchzusetzen. Auf diese Weise wurde aus der planvollen Reihung, die Sickel vorhatte, im Lauf der Zeit eine Sammlung, deren Kontingenzen offenkundig waren. Mit dem Verzicht auf einen Kommentar wurden die Fotografien darüber hinaus zu einem Instrument, das die fotografierten Schriftstücke radikal aus ihren Kontexten heraushob und so die fotografische Darstellung vermeintlich für sich selbst sprechen ließ. Diese Löschung von Sinn sicherte dem Projekt die Akzeptanz verschiedener Interessengruppen und machte die fotografierten Objekte für gesamtstaatliche Deutungen verfügbar. Gleichzeitig ebnete die Unverfänglichkeit der Fotografie den Weg für neue wissenschaftliche Interpretationen, die den lokalen gelehrten Traditionen zuwiderliefen. Die lokalen und regionalen Kontexte der Quellen wurden durch die neuen Referenzkontexte des Quellenwerks überschrieben. Die verschlungenen Verläufe der Arbeitsgänge zwischen Wien und den verschiedenen Orten der Quellenaufbewahrung in den Kronländern verdeutlichen, welche epistemischen Objekte die Monumenta graphica nach dem Willen der Projektverantwortlichen mit den Mitteln der Fotografie hervorbringen sollten und welche Dimensionen der Quelle für die Akteure vor Ort von Interesse waren. Das materielle Objekt des Originals, das abgelichtet werden sollte, diente den Akteuren dabei als Grenzobjekt167 , auf das sich die Projektbeteiligten zunächst gemeinsam beziehen konnten. An die materielle Einheit des Originals hefteten sich divergierende Erkenntnisziele und -funktionen. Für viele Zuträger stand die Quelle nicht in erster Linie als wissenschaftliches Erkenntnisobjekt im Mittelpunkt. Als Urkunde oder Codex stellte sie einen lokalisierten, einmaligen Gegenstand dar, der nicht nur Träger textueller Bedeutung war, sondern weitere symbolische und praktische Bedeutungen in sich vereinigte, die sich mit seinen lokalen Gebrauchszusammenhängen verbanden. Besonders deutlich wird dies am Beispiel des Benediktinerstifts Kremsmünster. Der illuminierte „Codex millenarius“ war Garant einer aus der Tradition gespeisten klösterlichen Autorität und repräsentierte den kulturellen Reichtum des Klosters sowie eine lokale, stark kirchlich geprägte Geschichtskultur. Es ist anzunehmen, dass die Prachthandschrift bei feierlichen Gelegenheiten in der Liturgie eingesetzt wurde und repräsentative Funktionen hatte. Ihre Macht im klösterlichen Kontext lag gerade darin, dass sie weder replizierbar noch von ihrem hergebrachten 167
Star/Griesemer: Institutional Ecology, S. 393.
314
6. Quellen im Bild: Fotografien für ein repräsentatives Tafelwerk
Kontext ablösbar war. Sie aus der Hand zu geben wäre mit dem potentiellen Verlust einer unersetzlichen, weil materiell gebundenen Autorität verbunden gewesen. Ganz abgesehen davon lag die Zerstörung kostbarer Manuskripte durch missbräuchliche Verwendungen durchaus im Erfahrungshorizont von Klöstern.168 Der Funktion mancher für die Monumenta graphica verwendeter Quellen als symbolische, ermächtigende Objekte einer lokalen historischen Tradition war es zuzuschreiben, dass lokale Akteure ihr Schriftgut nicht aus der Hand geben wollten. Solche Gebote lokalen Gebundenseins galten abgestuft nach der inhaltlichen Bedeutung der jeweiligen Quellen. Auch der Erzabt der Benediktinerabtei Martinsberg in Ungarn fühlte sich nicht in der Lage, Quellen aus dem Klosterarchiv nach Wien zu verschicken, wie Theodor Sickel bei seinem Besuch im Frühsommer 1858 erfuhr. Er erklärte sich aber schließlich bereit, den Klosterarchivar mit einigen der ausgelesenen Schriftstücke für zwei Wochen nach Wien zu entsenden, um diese dort in dessen Gegenwart fotografieren zu lassen. Allerdings nahm er die Stiftungsurkunde des Klosters davon aus, deren Herausgabe ihm durch „alte Vorschriften und altes Herkommen“169 verboten war. Sickel beantragte nun, die Stiftungsurkunde, die er als älteste Urkunde Ungarns identifizierte, durch die zwei Fotografen der k. k. Hof- und Staatsdruckerei vor Ort aufnehmen zu lassen.170 Ganz ähnlich kann in diesem Zusammenhang die abwehrende Haltung des Direktors des Haus-, Hof- und Staatsarchivs verstanden werden, der bei weniger bedeutsamen Urkunden eine gewisse Verhandlungsbereitschaft signalisierte, die Urkunden von Kaisern und Landesherren aber dauerhaft vor jeder Ablichtung schützen wollte.171 Darüber hinaus erfüllten die mobilisierten Originale in den Augen der Mitarbeiter vor Ort eine Vielfalt von Erkenntnisfunktionen, die mit einer lokalen oder landesspezifischen Geschichtskultur verbunden waren und sich nicht unbedingt mit den geschichtspolitischen Zielen der Monumenta 168
169 170 171
Vgl. die Erfahrung des Stifts Michaelbeuern: „Nachdem im Jahre 1873 gelegentlich der Weltausstellung in Wien dorthin 2 unserer kostbarsten Codices gegen eine ausdrücklich gewährte Garantie eingesendet wurden und aus einem derselben grosse Stücke Pergament mit herrlichen Initialen und Vignetten herausgeschnitten worden waren, selbstverständlich ohne irgendwelchen Ersatz, beschloss das hiesige Stiftskapitel, fortan nie mehr eine Urkunde oder einen Codex aus der Hand zu geben.“ Wolfgang Stockhauer, Stellvertretender Abt des Stifts Michaelbeuern, an die Direktion des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 10.05.1910, Archiv IfÖG Institutsakten: 1910– 1911. Theodor Sickel, Bericht über den Besuch ungarischer Archive, 01.06.1858, ÖStA, AVA MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 93601/1858, fol. 4–6, hier fol. 5r. Ministerialvortrag, Konzept, 01.06.1858, ÖStA, AVA MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 93601/1858, fol. 1, hier fol. 1v. Direktion des Haus-, Hof- und Staatsarchivs an das Ministerium für Cultus und Unterricht, 26.06.1857, ÖStA AVA, MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 10866/1857, fol. 6–8, 11, hier fol. 8v, 11r.
6.7 Entkontextualisierung und Objektivierung durch die Linse
315
graphica deckten. Das Verzeichnis galizischer Quellen, das der Lemberger Bibliothekar erstellte, lieferte Hinweise auf einen Korpus zur Repräsentation galizischer Geschichte, die sich nicht mit der Geschichte Galiziens als Kronland deckte; die Auswahl von Manuskriptseiten, die der Kremsmünstermer Abt traf, gab dessen eigene Vorstellungen paläographischer Repräsentativität wieder; auch die Kommentare der italienischen Archivare schließlich richteten sich offensichtlich nicht an den von Sickel gewünschten Kriterien aus. Welches epistemische Objekt aber sollte das Tafelwerk selbst zur Darstellung bringen? Die Monumenta graphica ermöglichten grundsätzlich mehrere Gebrauchsweisen, die mit je unterschiedlichen epistemischen Objekten korrespondierten. Die inhaltlichen, paläographischen und diplomatischen Zielsetzungen, die die Projektplanung anleiteten, wurden jedoch in unterschiedlichem Umfang realisiert: Gegenüber den paläographischen Aspekten blieben die historisch-inhaltlichen und die diplomatischen Ziele untergeordnet. Die Tafeln konnten zwar als Fotografien von historischen Quellen gelesen werden, die ein historisches Problem erhellten oder von Bedeutung für Fragen der Urkundenforschung waren. Eine solche Lesart blieb jedoch weitgehend ohne praktischen Nutzen, was zum einen mit der Disparität der ausgewählten Stücke, zum anderen mit den formalen Beschränkungen des Werks zu tun hatte. Gegenüber den Editionen wiesen die Fotografien große Nachteile auf – Kontextinformationen fehlten, und von Handschriften wurden nur einzelne Seiten berücksichtigt. Auch für diplomatische Fragen waren die Bilder nur sehr begrenzt hilfreich, weil die Urkunden gänzlich entkontextualisiert wurden. Gegenüber der Vorstellung des Ministeriums, mit der Fotografie von Quellen einen Ersatz für die Benutzung von Originalen im Unterricht geschaffen zu haben, beharrte Sickel daher auch auf der Notwendigkeit der Archiveinsicht für Studierende. Denn zur Einübung der diplomatischen Kritik und zur Anfertigung von Regesten genüge nicht eine „einzelne Urkunde einer gewissen Kategorie“172 , es müssten vielmehr ganze zeitlich oder nach Herrschern gruppierte Urkundengruppen studiert werden. Dagegen brachten die Monumenta graphica paläographisch interessante Schriftproben erfolgreich zur Darstellung. Als Bestandteil der Autopsiesimulation stellte das Erlernen des Lesens alter Schriften und schriftkundlicher Merkmale den deklarierten Hauptzweck des Tafelwerks dar.173 Im Rahmen dieser paläographischen Tradition brachten die Monumenta graphica durch das Authentifizierungspotential der Fotografie eine neuartige Form der Darstellung ins Spiel. Zwar sollten die einzelnen Fotografien „Modelle“174 für die 172 173 174
Theodor Sickel, Jahresbericht, 20.08.1858, ÖStA, AVA MCU 4A, Fasz. 668: Institut für Österreichische Geschichtsforschung 1854–1890, 8617/1857, fol. 8–13, hier fol. 11r. Verlagsprospekt, 15.08.1859, Archiv IfÖG Institutsakten: Monumenta graphica. Die Tafeln waren „destinées à servir de modèles pour l’étude de la paléographie“. Verlagsprospekt, 15.03.1859, Archiv IfÖG, Institutsakten: Monumenta graphica. Auch der
316
6. Quellen im Bild: Fotografien für ein repräsentatives Tafelwerk
paläographische Übung sein, Typen darstellen. Gleichzeitig jedoch betonte die Fotografie das Einzigartige eines jeden fotografierten Schriftbilds, das so in seiner Individualität wahrgenommen werden sollte. Weil nun nämlich nicht mehr eine ideale oder retuschierte Schrift, sondern eine singuläre Realisation von Schrift zur Darstellung gebracht wurde, stellte sich das analytische Verständnis für die Schriften erst durch das serielle Studium solcher Realisationen ein. Dies war nicht unbedingt selbstverständlich, denn frühere hilfswissenschaftliche Hilfsmittel hatten typisierende Darstellungen aufgewiesen. Diese Verschiebung im Verständnis von Handschriften wird schlaglichtartig im Vergleich mit älteren Arbeiten des Schriftenliebhabers und Druckereidirektors Alois Auer deutlich, der nur wenige Jahre vor den Monumenta graphica Drucklettern hatte entwerfen lassen, die die mittelalterlichen Handschriften des 6. bis 15. Jahrhunderts typisierend wiedergeben sollten. Für jedes Jahrhundert stand dort eine Schrift, die die Schriftcharakteristiken des jeweiligen Zeitalters idealtypisch verkörperte.175 Dieses Konzept wurde im ebenfalls von der Staatsdruckerei gedruckten „Urkundenbuch für die Geschichte des Benedictiner-Stiftes Kremsmuenster“ weitergeführt, für das Auer auf den Kremsmünsterner Kontext zugeschnittene Lettern schneiden ließ.176 Aus Sicht des 20. Jahrhunderts erschien ein solcher schematisierender Nachbildungsversuch unverständlich177 , denn die Edition konnte die unverwechselbaren Schriftbilder der einzelnen Urkunden nicht realistisch wiedergeben, sondern stellte sie idealisierend dar, abstrahierte umgekehrt aber auch nicht vom Abbildungspostulat, wie dies Editionen üblicherweise taten, die ein modernes Schriftbild aufwiesen. Die Monumenta graphica zeigen demgegenüber, dass die Individualität des Schriftbilds nun zu einem wichtigen Bezugspunkt der paläographischen Forschung wurde, der durch die erhöhte Authentifizierungskraft der Fotografie, ihr Ideal der Selbstabbildung,178 herausgearbeitet und in Szene gesetzt wurde. Hier wurde eine Vorgehensweise „mechanischer Objektivität“ fotografisch ins Bild gesetzt,
175 176
177
178
venezianische Paläographiedozent Foucard von den Schriftbildern als „tipi grafici del medio evo“. Cesare Foucard, Protokoll einer Zusammenkunft mit Theodor von Sickel, 10.12.1856, Archiv IfÖG Institutsakten: Monumenta graphica. Auer: Polygraphischer Apparat, o. S. (Bildtafeln „Typographie“). Urkundenbuch für die Geschichte des Benedictiner Stiftes Kremsmuenster seiner Pfarreien und Besitzungen vom Jahre 777 bis 1400, Bearb. P. Theoderich Haga, Wien 1852, mit Anhang: [Alois Auer von Welsbach:] Die Buchschriften des Mittelalters mit besonderer Berücksichtigung der deutschen, und zwar vom sechsten Jahrhundert bis zur Erfindung der Buchdruckerkunst. Historisch-technisch begründet von einem Mitgliede der k.-k. Hof- und Staatsdruckerei zu Wien bei Gelegenheit der Herausgabe des Urkundenbuches für das Benediktiner-Stift Kremsmünster. Vgl. Lhotsky: Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung in Österreich, S. 411. Lhotskys Kritik an Auer war eurozentristisch verfasst: Sie monierte nur die Stereotypisierung der europäischen Schriften des Mittelalters, nicht aber die Herstellung von Lettern für nichtlateinische Schriften etwa aus Asien. Vgl. hierzu Jens Jäger: Das Wunder toter Nachahmung? Diskurse über Photographie
6.7 Entkontextualisierung und Objektivierung durch die Linse
317
die nicht mehr typisierende, „wahre“ Bilder, sondern authentische Reproduktionen eines unbeschönigten, einmaligen Vorkommens einer Schrift liefern wollte.179 Neben dem individuellen Schriftbild akzentuierten die Monumenta graphica auch die Materialität der Schriftstücke. Der Verlagsprospekt hob hervor, wie sehr die Fotografie die Dinglichkeit der Originale einfing, denn im Gegensatz zu Stichen und Lithographien kämen nun das gebräunte oder geschwärzte Pergament, das Verblasstsein der Tinte und der unregelmäßige Umriss des Schriftstücks zur Geltung.180 Die fotografische Inszenierung der Materialität wurde dadurch unterstrichen, dass das Tafelwerk kein einheitliches Format hatte, sondern die Größenunterschiede zwischen den verschiedenen Beispielen wiedergab. Die am Institut für Österreichische Geschichtsforschung gebrauchten Tafeln, die auf Leinwand aufgezogen waren, um sie für den Unterricht widerstandsfähiger zu machen, betonten zudem die Konturen der Schriftstücke, indem die Fotografien entsprechend beschnitten waren. Bedeutete nun die Betonung der materialen Merkmale des Schriftstücks und der Individualität der Schrift, dass der Medienwechsel zur Fotografie zu einem grundlegenden epistemischen Wandel beitrug?181 Es war nicht erst die Fotografie, die den Blick von Historikern auf die Bilddimension von Schriften lenkte – auf jene Dimensionen, die nicht sprachzeichenhaft waren. Auch für Nachbildungen im Schriftsatz und mittels herkömmlicher Druckverfahren sowie für die textuellen Verfahren der Edition und des Regests musste immer wieder entschieden werden, welche Schriftgutelemente in bildlicher Form reproduziert, textualisierend erfasst oder weggelassen werden sollten. Historiker, die sich auf Manuskripte und Urkunden des Mittelalters spezialisierten, setzten sich auch außerhalb der Paläographie und keineswegs nur im Zusammenhang mit der Fotografie mit Problemen auseinander, die sich genau an der Schwelle zwischen Text und Nichttext, semantischer und nichtsprachlicher Bedeutungsbildung situierten. Diskussionen um die Vereinheitlichung von Schreibweisen in Editionen führten mitten in solche Probleme hinein. So herrschten verschiedene Auffassungen über die Reproduktion von Interpunktionen, deren Zeichencharakter umstritten war, oder von offensichtli-
179
180 181
um 1850, in: Friedrich Weltzien (Hrsg.): „Von selbst“. Autopoietische Verfahren in der Ästhetik des 19. Jh., Berlin 2006, S. 199–218. . S. Daston/Galison: Objektivität, S. 121–200. Dieser Übergang zum typischen Schriftbild zur als authentisch inszenierten Fotografie weist Parallelen auf zu dem von Daston und Galison untersuchten Übergang von Darstellungen im Modus der „Naturwahrheit“ zu Darstellungen im Modus der „mechanischen Objektivität“ in den visuellen Repräsentationen der Naturwissenschaften im gleichen Zeitraum. Verlagsprospekt, 15.03.1859, Archiv IfÖG Institutsakten: Monumenta graphica. Wolfgang Ernst vertritt die These, dass mit dem Übergang zur Fotografie ein „Einbruch der Bilder in den Text“ im Sinne eines Abrückens von der Fixierung auf die sprachlichen oder rechtlichen Inhalte des Schriftguts stattfand. Ernst: Im Namen von Geschichte, S. 241–270, bes. 264–268.
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6. Quellen im Bild: Fotografien für ein repräsentatives Tafelwerk
chen Verschreibern, von denen man behaupten konnte, dass sie sinnhaft oder aber „nur“ bildhaft waren.182 Hilfswissenschaftler kannten aber auch die Auseinandersetzung mit den bildhaften Elementen der Gestaltung von Urkunden wie dem Chrismon und setzten sich mit den schwer entzifferbaren tironischen Noten auseinander. Letztere blieben für zeitgenössische Forscher zum Teil unleserlich, so dass sie nur als Bilder erfasst werden konnten. Manchmal waren sie sogar schon lange zuvor durch eine sinnentleerte Tradierung von einer semantischen Zeichenhaftigkeit ins rein Ornamentale übergegangen.183 Gleichwohl waren die Hilfswissenschaften nicht darauf ausgerichtet, die Bildhaftigkeit der Schrift abgelöst von den Inhalten zu verstehen. Die Paläografie war eine dienende Disziplin, die der Erschließung von Inhalten unterworfen war: dem Lesenkönnen des Textes, der Feststellung von Schreiberhänden, der Rekonstruktion von Abhängigkeiten zwischen Schriftstücken, der Unterscheidung zwischen Echtheit oder Fälschung. Die Beibehaltung des Lernziels des Lesenlernens, das heißt, der Texterschließung, lässt auch für die Monumenta graphica nicht einen Bruch mit dieser Tradition, sondern eine Fortführung mit anderen medialen Mitteln erkennen. Ebenso bedeutete die Abbildung der äußeren Umrisse nicht unbedingt, dass die Materialität des Objekts insgesamt systematisch ausgelotet wurde. Die Abbildung mancher äußerer Merkmale funktionierte viel eher als selektives Zeichen von Authentizität. Signalisiert wurde vor allem die Versehrtheit und Einmaligkeit der Originale, dagegen blieben andere materielle Charakteristiken unberücksichtigt.184 Es ging also nicht in erster Linie darum, die Materialität der Objekte für den Unterricht zu erschließen und etwa systematisch in die Diplomatik einzubeziehen. Dazu hätte auch gehört, die lokalen vergangenheitsbezogenen und aktuellen Sinnzusammenhänge der materiellen Objekte zu berücksichtigen. Diese spielten aber für das Projekt keine Rolle. Sowohl im Hinblick auf die Schriftbilder als auch auf das Schriftgut als materielle Einheit stand demnach die Signalisierung von Authentizität und Individualität im Zentrum. Es ging darum, den fotografischen Beweis zu führen, dass die zugrundeliegenden Objekte unmanipuliert aufgenommen worden waren
182 183
184
Georg Waitz, Georg: Wie soll man Urkunden ediren? In: HZ 4/1860, S. 438–448: bes. 441f. Bei den tironischen Noten handelt es sich um Kurznotationssysteme aus römischer und frühmittelalterlicher Zeit. S. z. B. Theodor Sickel: Das Lexicon Tironianum der Göttweiger Stiftsbibliothek, in: Sitzungsber. der phil.-hist. Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 38/1862, S. 3–30; zur Beschäftigung Michael Tangls mit tironischen Noten: Annekatrin Schaller: Michael Tangl (1861–1921) und seine Schule. Forschung und Lehre in den Historischen Hilfswissenschaften, Stuttgart 2002, S. 131– 139. Von Codices wurden grundsätzlich nur Ausschnitte einzelner Seiten abgebildet, und die Siegel der Urkunden blieben weggepackt, ebenso blieben die Rückseiten der Urkunden unabgedruckt, deren Dorsualnotizen von großem Wert für das Verständnis der Überlieferungsgeschichte der Urkunden hätten sein können.
6.7 Entkontextualisierung und Objektivierung durch die Linse
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und die Fotografie deshalb als Garantin der Originalität der Schriftobjekte und ihrer Einzigartigkeit dienen konnte. Die bewusste Inszenierung einer geschichtswissenschaftlichen Objektivität, die als „mechanische Objektivität“185 bezeichnet werden kann, wird besonders im Umgang mit den technischen Restriktionen und der Eigendynamik des benutzten Mediums deutlich. Der Verlagsprospekt kündigte an, bei der Wiedergabe gänzlich auf Retuschen zu verzichten. Die Monumenta graphica sollten nicht nur auf das Nachbessern schwach ausgeprägter Schriftzüge verzichten, sondern auch kleine Fehler und weiße Flecken stehen lassen, die aus einer ungleichmäßigen Entwicklung stammten: „Si ces taches ne coïncident pas avec les traits de l’écriture qu’il s’agit de reproduire, elles ne portent pas atteinte à la valeur du facsimilé même, et dans de pareils cas on a aimé mieux laisser subsister de petits défaults que de vouloir les cacher par la retouche.“186
Obwohl sie eine Bildstörung187 darstellten, sollten die Flecken als Gütezeichen der mechanischen Abbildung stehen bleiben. Diese Überhöhung des Eigenlebens der verwendeten Technik hatte keine Erkenntnisfunktion in Bezug auf die abgebildeten Objekte, sondern bezeugte vielmehr das Abbildungsverfahren und das damit verbundene Objektivitätsverständnis. In diesem Punkt gingen die Monumenta graphica weitaus radikaler als spätere quellenfotografische Projekte vor, die eine stärkere Standardisierung der Fotografie mittels Retuschen verfolgten188 und versuchten, jede Fehlleistung des Mediums auszuschalten. Diese Radikalität verweist darauf, dass die Monumenta graphica die Differenz zu älteren Verfahren akzentuierten und den Anspruch hatten, Sehgewohnheiten zu etablieren, die erst noch eingespielt werden mussten. Hinter diesem Anspruch stand vor allem der Direktor der k. k. Hof- und Staatsdruckerei, der sich später mit Theodor Sickel wegen des Verzichts auf Retuschen zerstritt. Als Sickel durch die österreichische Niederlage 1859 keinen Zugriff auf die Negative und die urkundlichen Originale aus Mailand mehr hatte, die er für die zweite Auflage der ersten Lieferung der Monumenta graphica brauchte, griff er zu einem Verfahren, das gegen das Programm verstieß: Er forderte den Faktor der Druckerei auf, die noch vorhandenen Positive nochmals fotografieren zu lassen, und ließ die neu gewonnen Bilder mit Bleistift retuschieren, weil die Positive zweiter Ordnung von schlechter Qualität waren.189 Alois Auer musste sich schließlich diesem – von Sickel in einem Beizettel deklarierten – Verstoß beugen, hielt aber an 185 186 187 188 189
Daston/Galison: Objektivität, S. 121–200; dies.: The Image of Objectivity, in: Representations 40/1992, S. 81–128: 82–84. Verlagsprospekt, 15.03.1859, Archiv IfÖG Institutsakten: Monumenta graphica. Vgl. Geimer: Was ist kein Bild?; weiterführend: ders.: Bilder aus Versehen. Eine Geschichte fotografischer Erscheinungen (Fundus-Bücher 178), Hamburg 2010. Ernst: Im Namen von Geschichte, S. 249. Theodor Sickel, Bericht, 05.08.1859, ÖStA, AVA MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 12205/1859, fol. 2–6, hier 3r–4r.
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6. Quellen im Bild: Fotografien für ein repräsentatives Tafelwerk
seinen grundsätzlichen Bedenken fest, „der Natur nachhelfen zu wollen“.190 Denn aus seiner Sicht wurde das von keinem anderen graphischen Verfahren erreichte, überlegene Potential der Fotografie, die „grösstmögliche Treue“191 der Abbildung zu erfüllen, nicht durch die Abbildung selbst, sondern durch das Wissen um das Fehlen jeglicher Nachbesserung verbürgt. Bereits im Jahr 1882, als die Monumenta graphica abgeschlossen wurden, konnte man das Unternehmen als vergeblichen Versuch sehen, den österreichischen Kaiserstaat, der sich mittlerweile zu Österreich-Ungarn gehäutet hatte, auf eine lichtempfindliche Platte zu bannen: Das Tafelwerk entstand in einer Zeit, in der der österreichische Staat eine Reihe von dramatischen politischen Veränderungen erfuhr, die Staatsform wechselte und Staatsgebiete verlor – Gebiete, die in den Monumenta graphica repräsentiert worden waren. Auch aus der Sicht der technischen Kenner hatten die Tafeln, die am Institut für Österreichische Geschichtsforschung entstanden, bei ihrem Abschluss nicht mehr jenen Neuheitswert, den sie 1858 gehabt hatten. Die Quellenfotografie machte in jenen Jahren große Fortschritte, und mit Theodor Sickels und Heinrich von Sybels „Kaiserurkunden in Abbildungen“192 wurde nun ein reichsgeschichtliches paläographisches Werk entwickelt, das technisch auf dem neusten Stand war und überdies eine geschichtswissenschaftliche Bezugsgröße aufwies, die weitaus unproblematischer erschien als der österreichische Gesamtstaat. Das Projekt war jedoch trotz allem in mehreren Hinsichten folgenreich. Erstens stellte es das erste größere Quellenforschungsprojekt des noch jungen Instituts für österreichische Geschichtsforschung dar, das dieser Institution zu Ressourcen, zahlreichen Alliierten, Reputation und Medienpräsenz verhalf. Es gelang Theodor Sickel, einen großen Betrag für die Quellenfotografie zu mobilisieren, der sich über das Tafelwerk hinaus in der weiteren Entwicklung des Instituts multiplizierte. Zweitens verlängerte sich mit den Monumenta graphica die staatliche Kontrolle der Quellenbenutzung in die Autopsiesimulation hinein. Diese Weiterführung der staatlichen Lenkung des historischen Blicks war für die Monumenta graphica höchst zweischneidig. Zum einen war das Projekt den zum Teil restriktiven Vorstellungen angemessener Quellenrepräsentation ausgesetzt, die in einzelnen Ministerien und im Haus-, Hof- und Staatsarchiv vorhanden waren und die Arbeit behinderten. Zum anderen machte sich der Projektleiter Theodor Sickel die Herrschaftsinstrumente des Staates zunutze. Den Monumenta graphica gelang es dank der zentralisierten Verwaltung in 190 191 192
Alois Auer an Theodor Sickel, 03.08.1859, AVA MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 12205/1859, fol. 7, hier fol. 7r. Alois Auer an Theodor Sickel, 03.08.1859, AVA MCU 4A, Fasz. 671: Monumenta graphica ab 1856, 12205/1859, fol. 7, hier fol. 7r. Theodor Sickel/Heinrich von Sybel (Hrsg.): Kaiserurkunden in Abbildungen, Berlin 1880–1891.
6.7 Entkontextualisierung und Objektivierung durch die Linse
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den Kronländern, auf Quellen zuzugreifen, die lokal nur ungern freigeben wurden. Dafür richteten sie auch ihre innere Ordnung auf die Gesamtstaatsgeschichte aus. Ihre Initianten konnten überdies den Prioritätsanspruch der technologischen Innovation gegenüber den Fotografen und Archivaren in den italienischen Kronländern, aber auch gegenüber dem Ausland durchsetzen. Das erste große Quellenfotografieunternehmen reiht sich damit in den Zusammenhang einer bei Bedarf auch militärisch durchgesetzten staatlichen Geschichtspolitik der zunächst neoabsolutistischen österreichischen Politik der 1850er und 1860er Jahre ein, die sich den materiellen Zugriff auf historische Objekte besonders auch umstrittener Gebiete sichern wollte. Solche Auftragsarbeiten wurden von den obersten Behörden europäischer Länder im Kampf um die historische Deutungshoheit über Schlüsselereignisse und Gebiete angeordnet und waren oft für aktuelle politische Zwecke bestimmt. Obwohl verschiedene Einzelpersonen die zündende fotografische Idee für sich beanspruchten, waren die Monumenta graphica ein Unternehmen, das von einer Konvergenz verschiedenster zentralstaatlicher, technischer und organisatorischer Ressourcen profitierte. Besonders bedeutsam war die in den Jahren zuvor modernisierte Staatsdruckerei, die in den ersten Jahren des Projekts über äußerst innovative Arbeitsstrukturen und Apparaturen verfügte. Die Durchführung des Quellenfotografieprojekts hing allerdings genauso von den Akteuren an den einzelnen Standorten der Quellen ab, die Sickel bei der Wahl geeigneter Quellen berieten. Diese setzten eigene Fotografien, Reisebegleitungen für ihre Quellen, Archivverbote und die Vorauswahl des Archivguts ein, um ihre geschichtspolitischen Ziele umzusetzen. Ihnen gegenüber verwendete Sickel ein ganzes Arsenal von Überzeugungstechniken, Verpackungsverfahren und administrativem Zwang, um dem Projekt schnell zu einer sozialen Realität in seinem Sinne zu verhelfen. Nicht nur die sozialen und geschichtspolitischen Interessen, sondern auch die Erkenntniszugänge der beteiligten Akteure waren sehr unterschiedlich. Wichtigste Gebrauchsabsicht der Monumenta graphica war die Einübung von Quellenautopsie, um Schriftbilder erkennen und Schriften entziffern zu können. Mit der Autopsie wurde ein Ideal der Geschichtsforschung propagiert, das zum Merkmal der Ausbildung am Institut für Österreichische Geschichtsforschung und ab den 1860er Jahren zu einem wichtigen Qualitätskennzeichen der dort betriebenen Editionsarbeiten wurde. Dafür nahm Sickel die spezifischen Charakteristiken der Fotografie in Anspruch. Als besonders getreue Nachbildung, die ohne menschliche Intervention auszukommen schien, kam die Fotografie dem geschichtsforschenden Blick auf die historische Quelle entgegen, der ebenfalls möglichst klar, unvermittelt und unbestechlich sein sollte. Zudem unterstrich sie durch ihre technische Rüstung die technischen und formalisierten Aspekte der hilfswissenschaftlichen Forschungen, für die Sickel stand. Mit ihrer Inszenierung einer „mechanischen Objektivität“ ästhetisierte und feierte die Quellenfotografie gerade diejenigen Merkmale historischen Schriftguts, die deren Entziffe-
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6. Quellen im Bild: Fotografien für ein repräsentatives Tafelwerk
rung und Bearbeitung für Nichtfachleute erschwerte: die Unleserlichkeit verderbter Stellen, die Unregelmäßigkeit der Schriftgutkonturen und die Gebrauchsspuren. Die Quellenfotografie diente so der Inszenierung des Wissenschaftsanspruchs der Quellenforschung und bediente sich des erhöhten Authentifizierungspotentials der Fotografie. Damit handelte sie sich aber auch die Konflikte ein, die mit einer solchen technischen Mobilisierung lokaler Materialien verbunden war. Die Reaktion des Haus-, Hof- und Staatsarchivs richtete sich gegen das Potential einer Loslösung des fotografischen Bildes von der Quelle, die den Zusammenhang zwischen schriftgutbeglaubigenden Institutionen und Abbild in höherem Maß als andere Abbildungsverfahren bedrohte. Während die Quellen für die Forschenden epistemische Dinge darstellten, die vor allem als Schriftträger interessierten, waren sie für die Träger eines autoritären Archivverständnisses vor allem Garanten monarchischer, kirchlicher und staatlicher Herrschaft, deren Reproduktion durch die Archivare autorisiert werden musste, sowie Träger lokaler und regionaler Geschichte. Die Quellenverwalter vor Ort versuchten deshalb vor allem, ihre lokalen Geschichtsbilder in das Unternehmen hineinzutragen. Ihnen allen setzte die Quellenfotografie eine radikale Entkontextualisierung entgegen, die die fotografierten Objekte durch die technische Reproduktion aus ihren Kontexten entfernte und sie für neue Bedeutungen verfügbar machte.
7. Textualisierte Originale: Editorische Objektkonstituierung Editionen historischer Quellen waren im 19. Jahrhundert schwer zu überblicken. Der Schweizer Urkundenforscher Basilius Hidber berief sich 1869 angesichts der Schwierigkeit, gedruckte Überlieferungsstränge von Urkunden lückenlos zu erfassen, gerne auf den angeblichen Ausspruch Johann Friedrich Böhmers: „Gott allein weiß ob eine Urkunde gedruckt ist oder nicht“.1 Hidber nahm den deutschen Reichshistoriker und Editor in Anspruch, um einem politischen Publikum die großen Anstrengungen zu illustrieren, die der Sammlungsprozess des Schweizerischen Urkundenregisters erforderte. Böhmer aber hatte diese Formulierung seinerseits nur wiederaufgenommen. Er hatte 1831 geschrieben, in den vergangenen neunzig Jahren seien so viele Urkunden gedruckt worden, „dass schon Gercken die Behauptung mit Recht wiederholen konnte, welche Hahn vor Georgisch aufstellte: Die Beantwortung der Frage, ob eine Urkunde gedruckt ist oder nicht, gehört mehr in den Bereich göttlicher Allwissenheit, als menschlicher Kenntniss“2 . Mit dieser Bezugnahme hatte sich Böhmer in eine Reihe gewichtiger deutscher Namen aus der Diplomatik und der Editionsgeschichte3 eingereiht und sein Problembewusstsein gegenüber den bereits geleisteten Vorarbeiten unterstrichen. Die schwer fassbare Verbreitung gedruckter Überlieferungen hatte sich offenbar bereits im frühen 18. Jahrhundert geradezu zu einem Topos unter Editoren verdichtet. Historiker bemühten hier die göttliche Allwissenheit weder für die Natur noch für die Menschheitsgeschichte, ja nicht einmal für die handschriftlichen historischen Quellen selbst, sondern für deren vielfache, abgeleitete Doppelgänger außerhalb der Archive, denen damit eine beinahe kreatürliche Qualität zugeschrieben wurde. Die oft monumentalen Quellenerschließungsprojekte des 19. Jahrhunderts entstanden vor dem Hintergrund dieser weitverzweigten, jedoch bisweilen schwer zugänglichen Editionstradition. Mit Hilfe staatlicher Ressourcen wurde in vielen Ländern Europas seit dem Ende des Ancien Régime eine Vielzahl neuer, großangelegter Editions- und Regestenprojekte lanciert. 1
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Basilius Hidber an den Vorsteher des Eidgenössischen Departements des Innern, 25.11.1867 aus Bern, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 85. Vgl. auch Basilius Hidber an die Vorsteherschaft der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz, 20.04.1873, BAR E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 86. Johann Friedrich Böhmer: Regesta chronologico-diplomatica regum atque Imperatorum Romanorum inde a Conrado I. usque ad Heinricum VII, Frankfurt a. M 1831, S. VI. Philipp Wilhelm Gercken (1717–1791), Historiker und Jurist, war Editor des „Codex diplomaticus Brandenburgensis“ von 1785; Peter Georgisch (1698–1746), gab den „Corpus iuris Germanici antiqui“ von 1738 heraus; Simon Friedrich Hahn (1692–1729), war Historiker, Diplomatiker und Editor von Urkundensammlungen.
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7. Textualisierte Originale: Editorische Objektkonstituierung
Der Boom solcher umfangreicher Druckwerke, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis vor dem Ersten Weltkrieg seinen Höhepunkt fand4 , knüpfte an die frühneuzeitlichen gedruckten Überlieferungen an5 und entwertete diese zugleich. Mit den neuen Editionen wurden gedruckte Quellenkorpora geschaffen, die nicht nur die Originale in den Archiven und Bibliotheken, sondern vor allem auch deren Vorgängereditionen durch ihren Umfang und ihre Systematizität ersetzen wollten. Die Erschließung von Quellen durch integrale Editionen und durch zusammenfassende Regesten bildete im Untersuchungszeitraum einen wichtigen Aufgabenbereich vieler Historiker. Dass historische Quellen dabei in vielen Fällen zum wiederholten Mal ediert wurden, hatte nicht nur mit der begrenzten Zugänglichkeit älterer Druckwerke zu tun. Auch die Ordnungsansätze, nach denen Quellen klassifiziert wurden, wandelten sich. Neben diplomatischen Erfassungskriterien änderten sich auch die politischen und historischen Bezugsgrößen; in vielen Großprojekten wurde Editionen an die Nationalstaatsgeschichte gekoppelt und in den Dienst staatlicher Identitätsbildung gestellt.6 Neben der Aufgabe, handschriftliche Dokumente außerhalb der Archive und Bibliotheken verfügbar zu machen, wiesen Quelleneditionen weitere Zielsetzungen auf: Druckwerke handschriftlicher Quellen lieferten die materielle Grundlage für einen quellenzentrierten Unterricht an den Universitäten. Die Monumenta Germaniae Historica boten deshalb von einigen ihrer Editionen sogenannte „Schulausgaben“ an.7 Hochschullehrer betrachteten Editionen als wichtige Ressourcen, die sie möglichst in den Instituts- und Seminarräumlichkeiten greifbar haben wollten. Während das Institut für Österreichische Geschichtsforschung 1877 ein eigenes „Monumentenzimmer“ einrichtete8 , bemühten sich die Hochschulhistoriker an der 4 5
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Zur internationalen Entwicklung s. Saxer: Monumental Undertakings; Bresslau: Geschichte der Monumenta Germaniae historica, S. 342–348. Vgl. zu Österreich und der Schweiz: Lhotsky: Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung in Österreich, S. 419–422; Fueter: Geschichte der gesamtschweizerischen historischen Organisation; Leo Santifaller: Die Erforschung und die Edition der Geschichtsquellen des Mittelalters in Österreich in den letzten siebzig Jahren (1883– 1953), in: Anzeiger der Österreichischen Akademie der Wissenschaften phil.-hist. Klasse 92/1955, S. 47–75; Hektor Ammann: Die Veröffentlichung mittelalterlicher Quellen in der Schweiz, in: Zeitschrift für schweizerische Geschichte 26/1946, S. 104–115; Anton Largiadèr: Die Sammlung schweizerischer Rechtsquellen, in: Schweizerische Beiträge zur Allgemeinen Geschichte 3/1945, S. 247–274. Für einen Überblick vgl. Saxer: Monumental Undertakings. So empfahl Theodor Sickel das erste Heft des ersten Diplomata-Bandes „zu diplomatischen Uebungen, welche erfreulicher Weise an den deutschen Universitäten mehr und mehr Eingang finden“. Die Urkunden Konrad I., Heinrich I. und Otto I., Hrsg. Theodor Sickel (MGH: Die Urkunden der deutschen Könige und Kaiser, Bd.1), Hannover 1879– 1884, Vorrede, S. II. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 11.11.1877 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 117.
7. Textualisierte Originale: Editorische Objektkonstituierung
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Universität Zürich über lange Jahre hinweg vergeblich um ein Arbeitszimmer mit einem Apparat aus wichtigen Editionen. Erst nach 1897 erhielten sie mit einem Exemplar der Monumenta Germaniae Historica, das ihnen von dem 1897 verstorbenen Mäzen Arnold Nüscheler vermacht worden war, den repräsentativen Grundstock ihrer Seminarbibliothek.9 Die Veröffentlichung von Quellen im Druck, insbesondere von bis dahin ungedruckten Beständen oder Einzelstücken, stellte darüber hinaus einen wichtigen geschichtswissenschaftlichen Leistungsausweis dar. In Historikerkreisen stritt man sich deshalb oft erbittert um das Recht an der Entdeckung und Erstveröffentlichung noch unbekannter Quellen.10 Für die rasche Publikation spielten im Untersuchungszeitraum Einzelveröffentlichungen in Zeitschriften eine wichtige Rolle, mit denen der Entdeckungsanspruch rasch erhoben werden konnte.11 Dagegen dauerte die Arbeit an den eigentlichen Editionsreihen oft sehr lange. Quelleneditionen konnten gerade durch ihren großen, oft mehrere Arbeitsleben in Anspruch nehmenden Umfang zu einem monumentalen Zeichen, einem „Denkmal“ 12 der geschichtswissenschaftli-
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Seminarbibliotheken der Hochschule, Zusammenfassung der Berichte der Vorstände über die Grundsätze für die Anschaffungen, 12.11.1902, StAZ U 94.2:8; Erhebung betr. die Seminarbibliotheken (Auskünfte Gerold Meyers von Knonau), Mai 1902, ebd. Vgl. Bresslau: Geschichte der Monumenta Germaniae Historica, S. 340. 10 Prioritätskonflikte hatten bereits die früheren Jahre der Monumenta Germaniae Historica begleitet. So beanspruchte Pertz die„Entdeckung“ des Bamberger Codex der Historien des Richter und unterdrückte den Namen des ursprünglichen Einsenders. – 1856 trug Pertz mit dem französischen Forscher Huillard-Bréholles einen Konflikt um die Erstveröffentlichung zweier Annalen aus Piacenza aus. Bresslau: Geschichte der Monumenta Germaniae Historica, S. 200, 386f., Fn. 3. In den Korrespondenzen zwischen Sickel, Ficker und Mühlbacher finden sich zahlreiche Hinweise auf Erstveröffentlichungskonflikte. Z. B.: 1865–1867 setzte sich Julius Ficker mit Karl Friedrich Stumpfs eigenmächtigen Veröffentlichungen von Urkunden aus Böhmers Nachlass auseinander. 1878–1879 verständigten sich Ficker und Sickel über das Vorgehen gegen Wilhelm Arndt, einen Monumenta-Mitarbeiter, der eine für die Diplomata-Edition wichtige Quellenentdeckung verschwiegen hatte. Julius Ficker an Theodor Sickel, 10.12.1865 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 3f., hier fol. 3r; und folgende; 22.02.1878 aus Innsbruck, ebd. fol. 77f., hier fol. 77r–78r; und folgende. Theodor Sickel an Julius Ficker, 12.08.1866 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 14f., hier fol. 15r; und folgende; 17.05.1878 aus Wien, fol. 78f., hier fol. 79rv, und folgende. 11 Vgl. z. B. die Editionen und Lithographien einzelner bis dahin unveröffentlichter Urkunden in Sickels wirkungsgeschichtlich bedeutenden „Beiträgen zur Diplomatik“ I–VIII (1861 bis 1882). Archivfunde wurden im untersuchten Kontext oft in den Periodika der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz, der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, der Monumenta Germaniae Historica und des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung publiziert. 12 Johann Friedrich Böhmer schrieb sorgenvoll über seinen Schützling Karl Friedrich Stumpf, dessen Quelleneditionen auf sich warten ließen: „Doch wäre es wahrlich schade, wenn er bei seiner Begabtheit sich fortwährend in Nebendinge verlöre und vorübergienge ohne ein Denkmal seines Lebens zu hinterlassen.“ Johann Friedrich Böhmer an Julius
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7. Textualisierte Originale: Editorische Objektkonstituierung
chen Persona werden und trugen neben darstellenden Abhandlungen zum geschichtswissenschaftlichen Reputationsgewinn bei. Die Geschichte der geschichtswissenschaftlichen Editionspraxis im 19. Jahrhundert ist vereinzelt in Darstellungen einzelner Editionen behandelt worden.13 Besonders die reichhaltige Geschichte der Monumenta Germaniae Historica, die Harry Bresslau 1921 vorlegte,14 thematisiert auch editorische Grundsätze und Innovationen. Aus wissenschaftshistorischer und historiographiehistorischer Sicht wurde der breite Wandel der Konzepte und Techniken der geschichtswissenschaftlichen Edition jedoch noch kaum systematisch untersucht oder in Entwicklungen der Editionspraxis in anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen15 eingebettet. Die Historiographiegeschichte hob vor allem die Rolle der Adaption der philologischen Methoden
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Ficker, 25.01.1858 aus Frankfurt, Archiv IfÖG NL Julius Ficker: Briefwechsel Johann Friedrich Böhmer – Julius Ficker. Lothar Gall (Hrsg.): „...für deutsche Geschichts- und Quellenforschung“. 150 Jahre Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München 2008; Ernst: Im Namen von Geschichte, S. 91–270: 130; Geary: Die europäischen Völker im frühen Mittelalter, S. 37–43; Lothar Gall/Rudolf Schieffer (Hrsg.): Quelleneditionen und kein Ende? Symposium der Monumenta Germaniae Historica und der Historischen Kommission bei der Bayrischen Akademie der Wissenschaften, München, 22./23. Mai 1998, München 1998; Fuhrmann: „Sind eben alles Menschen gewesen“; Rudolf Schieffer: „Die lauteren Quellen des geschichtlichen Lebens“ in Vergangenheit und Zukunft, in: Michael Borgolte (Hrsg.): Mittelalterforschung nach der Wende, München 1995, S. 239–254; David Townsend: Alcuin’s Willibrord, Wilhelm Levinson, and the MGH, in: Roberta Frank (Hrsg.): The Politics of Editing Medieval Texts, New York 1993, S. 107–130; Grafton: Polyhistor into Philolog; Horst Fuhrmann: Die Sorge um den rechten Text, in: Gerhard Schulz (Hrsg.): Geschichte heute. Positionen, Tendenzen und Probleme, Göttingen 1973, S. 9– 23; Karl Obermann: Die Begründung der Monumenta Germaniae Historica und ihre Bedeutung, in: Joachim Streisand (Hrsg.): Die deutsche Geschichtswissenschaft vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Reichseinigung von oben, Berlin, 1963, S. 113–120. – Zu den germanistischen Editionen s. Thomas Bein: Die mediävistische Edition und ihre Methoden, in: Nutt-Kofoth/ Plachta/ van Vliet et al. (Hrsg.): Text und Edition, S. 81–98; Plachta/ van Vliet: Überlieferung, Philologie und Repräsentation. Zum Verhältnis von Editionen und Institutionen, ebd., S. 11–35; Urchueguía: Edition und Faksimile; Hans-Gert Roloff (Hrsg.): Die Funktion von Editionen in Wissenschaft und Gesellschaft. Ringvorlesung des Studiengebiets Editionswissenschaft an der Freien Universität Berlin, Berlin 1998; Walter Jaeschke: Ideenpolitische Funktion von Editionen, ebd., S. 11–26; Frank (Hrsg.): The Politics of Editing Medieval Texts; Wolf Kittler: Literatur, Edition und Reprographie, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 65/1991, S. 205–235; Anton Schwob/Erwin Streitfeld, unter der Mitarb. v. Karin Kranich-Hofbauer (Hrsg.): Quelle – Text – Edition, Tübingen 1997. Bresslau: Geschichte der Monumenta Germaniae historica. Mit ihren editorischen Großprojekten befanden sich die Historiker in der Gesellschaft zahlreicher geisteswissenschaftlicher Disziplinen, allen voran die Altertumswissenschaft, die nationalsprachlichen Philologien und die Orientalistik. Aber auch die sich historisch orientierenden Rechts-, Staats- und die entstehenden Sozialwissenschaften brachten ihre eigenen Editionsvorhaben ein. Vgl. zum Beispiel die Unterstützungsgesuche für die „Monumenta Germaniae Paedagogica“ und die später als „Denkmäler der Tonkunst in Österreich“ entwickelten „Monumenta historiae musices“: Eingabe der 38. deutschen
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für den Wandel der editorischen Quellenerfassung hervor, wobei umstritten blieb, wie stark sich das kritische Instrumentarium der Quellenforschung und der Edition seit dem 18. Jahrhundert wandelte.16 Historische Editionsprojekte nahmen für sich in Anspruch, historisches Material möglichst gut erschlossen und unverfälscht zur Verfügung zu stellen. Gleichzeitig brauchten sie laufend neue epistemische Objekte hervor, die durch die Quellenkonzepte und Gebrauchsvorstellungen der Editoren geprägt waren. Sie schufen durch die sie organisierenden Erkenntnisziele implizit neue Ordnungen vergangener Wirklichkeit. Dieser Prozess soll im vorliegenden Kapitel am Beispiel der Arbeiten an den Herrscherurkunden untersucht werden, die, am Institut für Österreichische Geschichtsforschung für die Monumenta Germaniae Historica und die Regesta Imperii durchgeführt wurden. Beide Projekte gehören zu den infrastrukturell grundlegenden Langzeitvorhaben der deutschsprachigen historischen Forschung, sie können sich seit über 170 Jahren mit grundsätzlich unveränderten Forschungszielen Aufmerksamkeit, Ressourcen und Mitarbeiter sichern. Die Gründungsgeschichte der Monumenta Germaniae Historica und der Herrscherregesten Johann Friedrich Böhmers war bereits Gegenstand von Darstellungen, die die Forschungsorganisationen und vor allem die deutschen Akteure der Gründergeneration ins Zentrum ihrer Untersuchung stellten oder die Projekte als neue Archivierungsformen deutschen Gedächtnisses im Kontext deutscher Nationsbildung betrachteten.17
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Philologen- und Schulmännerversammlung an das MCU, 09.04.1887, ÖStA, AVA MCU 24/25, Fasz. 4788, 7171/1887; ebd., 10168/1892. Vgl. z. B. Bein: Die mediävistische Edition und ihre Methoden, S. 81f.; Muhlack: Von der philologischen zur historischen Methode, bes. S. 156–159; Rüsen: Von der Aufklärung zum Historismus, S. 24. Ernst: Im Namen von Geschichte; Bresslau: Geschichte der Monumenta Germaniae historica. Zu Teilaspekten: Bettina Pferschy-Maleczek: Die Diplomata-Edition der Monumenta Germaniae Historica am Institut für Österreichische Geschichtsforschung (1875–1990), in: MIÖG 112/2004, S. 412–467; Jan P. Niederkorn: Julius von Ficker und die Fortführung der Regesta Imperii vom Tod Johann Friedrich Böhmers (1853) bis zu ihrer Übernahme durch die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften in Wien (1906), in: Hruza/Herold (Hrsg.): Wege zur Urkunde, S. 283–302; Ottner: Joseph Chmel und Johann Friedrich Böhmer; Annekatrin Schaller: Michael Tangl (1861–1921) und seine Schule. Forschung und Lehre in den Historischen Hilfswissenschaften, Stuttgart 2002; Crane: Collecting and Historical Consciousness; Harald Zimmermann (Hrsg.): Die Regesta Imperii im Fortschreiten und Fortschritt Köln/Weimar/Wien 2000; Michèle Schubert: Meister-Schüler. Theodor von Sickel und Paul Fridolin Kehr (nach ihrem Briefwechsel), in: MIÖG 106/1998, S. 149–166. Fuhrmann: „Sind eben alles Menschen gewesen“ (mit weiterführender Bibliographie); Alfred Gawlik (Hrsg.): Zur Geschichte und Arbeit der Monumenta Germaniae Historica. Ausstellung anlässlich des 41. Deutschen Historikertages, München 1996; Hartmut Hoffmann: Die Edition in den Anfängen der Monumenta Germaniae Historica, in: Robert Schieffer (Hrsg.): Mittelalterliche Texte. Überlieferung – Befunde – Deutungen, Hannover 1996, S. 189–232; Townsend: Alcuin’s Willibrord, Wilhelm Levinson, and the MGH; Herbert Grundmann: Monumenta Germaniae Historica, München 1969; Obermann: Die Begründung der Monumenta Germaniae historica.
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7. Textualisierte Originale: Editorische Objektkonstituierung
In diesem Kapitel rücken diese übergeordneten organisatorischen Kontexte hingegen nur insofern ins Blickfeld, als sie für die Praxis der untersuchten Forscher von Bedeutung waren. Diese Perspektivenverschiebung soll es ermöglichen, die Funktionen und den Wandel der großen Editionsagenturen in einem ihrer konkreten Handlungskontexte und die involvierten Quellenkonzepte anhand der Aushandlungs- und Verständigungsprozesse der Arbeitspraxis zu untersuchen. Es bietet sich aus mehreren Gründen an, die Regesta Imperii und die Herrscherurkundeneditionen der Monumenta Germaniae Historica gemeinsam zu analysieren. Die beiden Vorhaben weisen eine in ihren Anfängen miteinander geteilte Geschichte und gemeinsame Untersuchungsobjekte auf und entwickelten sich am Wiener Institut auch personell im Projektverbund weiter; außerdem schuf das Institut ein Arbeitsumfeld, in dem die materiellen Grundlagen und Arbeitskonzepte in großer Dichte greifbar waren und zwischen den Mitarbeitern beider Projekte zirkulierten. Zu Beginn soll danach gefragt werden, welche geschichtswissenschaftliche Zielsetzungen mit den Regesta Imperii und der Diplomata-Abteilung der Monumenta Germaniae Historica während ihrer Bearbeitung am Institut für Österreichische Geschichtsforschung bis 1906 verbunden waren, welche historischen Konzepte diese reichsgeschichtlichen Projekte transportierten und mit welchen aktuellen politischen Bezügen sich diese Zielsetzungen trafen (Kapitel 7.1 bis 7.3). Im Anschluss werden die beiden Arbeitsvorhaben auf die Mobilisierung von Arbeitsmaterial, Ressourcen und Infrastrukturen hin analysiert (Kapitel 7.4 und 7.5). Schließlich kommen die Standardisierungsverläufe, die Quellenkonzepte, die von den beteiligten Akteuren verfolgt wurden, und die epistemischen Effekte der untersuchten Editions- und Regestierverfahren in den Blick (Kapitel 7.6 bis 7.8). Die spezifische Arbeitsorganisation am Wiener Institut in den 1870er und 1880er Jahren, die durch den engen Forschungsverbund mit Julius Ficker in Innsbruck zustande kam, brachte eine außerordentlich dichte Überlieferungssituation hervor, die viele sonst implizit bleibende Arbeitsschritte der Editionspraxis und Regestenmacherei erschließbar macht.
7.1 Herrscherurkunden: Im „Herzen“ der deutschen Geschichte Ab den frühen 1870er Jahren wurden die praktischen Forschungsarbeiten für die wichtigsten Projekte zur Erschließung der deutschen Herrscherurkunden des Mittelalters am Institut für Österreichische Geschichtsforschung betrieben. Zu diesem Zeitpunkt hatten die beiden Projekte bereits eine lange Geschichte hinter sich: Die Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde,
7.1 Herrscherurkunden: Im „Herzen“ der deutschen Geschichte
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die bald vor allem unter dem Namen „Monumenta Germaniae Historica“ auftrat, hatte bereits bei der Aufstellung ihres allgemeinen Editionsplans im Jahr 1824 beschlossen, neben den Scriptores, Leges, Epistolae und Antiquitates die Urkunden des Deutschen Reiches des Mittelalters herauszugeben.18 Während zunächst unterschiedslos alle Urkunden ins Auge gefasst worden waren, verengte sich der Fokus sehr bald auf die Königs- und Kaiserurkunden.19 Die Aufgabe wurde von Johann Friedrich Böhmer, einem aus patrizischer Familie stammenden Frankfurter Juristen, Bibliothekar und Historiker, 1829 übernommen.20 1831 nahm der Editionsplan erstmals konkrete Gestalt an: Böhmer kam mit Georg Heinrich Pertz, der zusammen mit Böhmer die Monumenta Germaniae Historica editorisch führte, überein, zunächst für die Urkunden bis zum Jahr 1137 eine dreibändige Ausgabe in Angriff zu nehmen, für die Böhmer die Merovinger- und Karolingerurkunden, Pertz selbst aber die Zeit von 911 an übernommen hätte. Die beiden Editoren glaubten damals, bereits 1833 mit der Drucklegung des ersten Bandes beginnen zu können.21 Allerdings folgten diesen optimistischen Plänen keine raschen Editionen – das vollständig unterschätzte Material- und Arbeitsvolumen ließ die Herausgabe zunehmend in die Ferne rücken. Böhmer begann vielmehr, den als Vorarbeit zur Edition angelegten Urkundenregesten seine ganze Arbeitskraft zu widmen. Die Regesten sollten gegenüber der zögerlich anlaufenden Edition einen schnellen, chronologisch strukturierten Zugriff auf das bereits gesammelte Material ermöglichen und erschienen tatsächlich bereits seit 1831.22 Mit der Regestedition, die statt integraler Texte lediglich kurze Zusammenfassungen lieferte, schloss Böhmer an eine bereits etablierte geschichtswissenschaftliche Publikationsform an. Seit dem 18. Jahrhundert waren in Ablösung von archivischen Zusammenhängen zunehmend gedruckte Regestensammlungen zu erklärtermaßen geschichtsforscherischen Zwecken im Umlauf. Titelgebend erschien der Begriff „Regesten“ im deutschen Sprachraum erstmals bei dem kursächsischen 18 19 20
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Plan des Unternehmens, in: Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde V/1824, S. 788–806. Bresslau: Geschichte der Monumenta Germaniae historica, S. 137, 140. Über Böhmer s. Ottner: Joseph Chmel und Johann Friedrich Böhmer; Ernst: Im Namen von Geschichte, S. 153–156; Fuhrmann: „Sind eben alles Menschen gewesen“, S. 34–37; Thomas Brechenmacher: Grossdeutsche Geschichtsschreibung im neunzehnten Jahrhundert. Die erste Generation (1830–1848), Berlin 1996, S. 74–86; Erwin Kleinstück: Johann Friedrich Böhmer, Frankfurt a. M. 1959; Bresslau: Geschichte der Monumenta Germaniae historica, S. 121–124, 355–370; Johannes Janssen: Johann Friedrich Böhmers Leben, Briefe und kleinere Schriften, 3 Bde., Freiburg i. Br. 1868; ders.: Joh. Friedrich Böhmer’s Leben und Anschauungen. Zur Weiterführung der „Regesta Imperii“ durch Ficker Niederkorn: Julius von Ficker; Zimmermann: Verschiedene Versuche. Bresslau: Geschichte der Monumenta Germaniae historica, S. 172f. Böhmer: Regesta chronologico-diplomatica [. . . ] inde a Conrado I. usque ad Heinricum VII. Zu Lebzeiten Böhmers erschienen bis 1849 weitere vier weitere Bände sowie verschiedene Nachtragsbände.
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7. Textualisierte Originale: Editorische Objektkonstituierung
Archivar Peter Georgisch in dessen „Regesta chronologico-diplomatica“ von 1740–1744.23 Die Böhmerschen Regesten, die der „Regestenmacherei“ im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts einen enormen Popularitätsschub verleihen sollten, bezweckten nicht nur, die Herrscherurkunden zuverlässig nachzuweisen und zusammenzufassen. Die Regesta Imperii sollten in der Konzeption Böhmers das imaginierte Reichsregister einer deutschen „Centralregierung“24 des frühen und hohen Mittelalters rekonstruieren25 , sie bildeten die Nachherstellung einer hypothetischen Metaquelle, die sich aus Belegen einer langen Reihe von Rechtsakten zusammensetzte. Für Böhmer erschlossen die Urkunden als untrügliche „Nachrichten“26 deutscher Geschichte das „Herz“27 der Reichsgeschichte. Die Annahme, dass die Kanzler der deutschen Kaiser über ihre Urkundenausfertigungen methodisch und konstant Buch führten, blieb jedoch eine unbestätigte Hypothese. Später wurde angenommen, dass eine reguläre Registratur erst im Spätmittelalter gebräuchlich wurde.28 Die Idee Böhmers stieß aber als Ordnungsvorstellung auf großes Interesse und erwies sich dadurch als besonders anschlussfähig, dass sie verlangte, die Quellen nach ihren Ausstellern zu gruppieren. Allerdings ließ die praktische Ausführung der Regesten die ausschließliche Orientierung an mutmaßlichen kaiserlichen Kanzleien bald hinter sich. Während in das imaginierte Reichsregister nur Urkunden gehörten, stießen seit dem zweiten Band der Regesten von 1833 nach und nach weitere Quellentypen und Aufnahmekriterien hinzu. Böhmer berücksichtigte nun auch chronikalische Quellen und bezog reichsgeschichtlich wichtige Materialien ein, die nicht aus der unterstellten Registratur stammen konnten, so dass aus den „Regesta imperatorum“ des ersten Bandes die „Regesta Imperii“ wurden.29 Inzwischen entwickelten Böhmer und Pertz divergierende Vorstellungen zur Ausrichtung der Diplomata-Edition, die zu einem allmählichen Rückzug Böhmers aus diesem Projekt führten. Böhmer hatte sich trotz seiner protestantischen Herkunft im Umfeld einer katholisch-romantischen Geschichtskultur zum Amateurhistoriker sozialisiert, in der künstlerische, 23 24 25 26 27
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Zimmermann: Verschiedene Versuche, S. 13f. Böhmer: Regesta chronologica-diplomatica [. . . ] inde a Conrado I. usque ad Heinricum VII, S. VIII. Vgl. Kap. 7.3; Zimmermann: Verschiedene Versuche, S. 4–6. Böhmer: Regesta chronologica-diplomatica [. . . ] inde a Conrado I. usque ad Heinricum VII, S. III. Johann Friedrich Böhmer, Vorrede zu den Karolingerregesten [1833], [Entwurf], in: Böhmer, J. F. Regesta Imperii I. Die Regesten des Kaiserreichs unter den Karolingern 751–918, neu bearb. v. Engelbert Mühlbacher u. vollendet v. Johann Lechner, 2. Aufl., Innsbruck 1908, S. XIII–XIX: XIX. Zimmermann: Verschiedene Versuche, S. 6. Erstmals Johann Friedrich Böhmer: Regesta Imperii inde ab anno MCCCXIIII usque ad annum MCCCXLVII, Frankfurt a. M. 1839. Vgl. Zimmermann: Verschiedene Versuche, S. 8f.
7.1 Herrscherurkunden: Im „Herzen“ der deutschen Geschichte
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religiöse, gesellschaftspolitische und wissenschaftliche Ziele amalgamiert wurden. Die religiöse Malerei der Nazarener und zum Katholizismus konvertierte Literaten prägten seine Ästhetik.30 Böhmer begriff die Geschichtsforschung in erster Linie als einen quasireligiösen Dienst an der Nation, durch den die glanzvolle Vergangenheit des mittelalterlichen Reiches breiten Bevölkerungskreisen zugänglich gemacht werden sollte. Böhmer versuchte deshalb verschiedentlich, Pertz von preisgünstigeren und einfacheren Editionen zu überzeugen, die eine größere Breitenwirkung erreicht hätten. Ende der 1850er Jahre unternahm Böhmer ein letztes Mal einen Vorstoß, um eine nach seinen Vorstellungen eingerichtete Diplomata-Ausgabe einzuleiten. Diese hätte gegenüber den ursprünglichen Plänen deutlich weniger Varianten, in Deutsch abgefasste Kommentare und das gegenüber den schweren Foliobänden handlichere Oktavformat aufgewiesen. Er konnte Pertz jedoch nicht von dieser entschlackten, „patriotischen“31 Ausgabe überzeugen, wodurch die weitere Planung der Diplomata-Edition durch Böhmer zum Erliegen kam.32 Die Arbeit an den Regesten weitete sich im gleichen Zug zunehmend zum Selbstzweck aus. 1845 nahm der Frankfurter Bibliothekar deshalb eine formelle Entflechtung der aus seinem eigenen Vermögen finanzierten Regesta Imperii aus den inzwischen staatlich finanzierten Geschäften der Monumenta Germaniae Historica vor, indem er von der Diplomata-Abteilung zurücktrat. Das ursprünglich als Sammlungsvorleistung gedachte Regestieren verselbständigte sich in dieser Zeit endgültig zu einer eigenen Darstellungsform.33 Nach Böhmers Tod im Jahr 1863 stellten seine Nachlassverwalter die Arbeitskontinuität der Regesta Imperii mit Böhmers Mitteln langfristig sicher. Julius Ficker, einer der drei als Projekterben bestimmten Historiker, führte die Regestenreihe nach einigen Auseinandersetzungen mit seinen Miterben chronologisch weiter.34 Er nahm aber auch eine Neubearbeitung verschiedener von Böhmer bereits behandelter Perioden in Angriff. Gegenüber der rascheren Kadenz der Veröffentlichungen Böhmers verlangsamte sich nun der Arbeitsprozess; die Neuausgaben, die von Engelbert Mühlbacher und Emil von Ottenthal besorgt wurden, wurden erst in den Jahren 1889 und 1892 veröffentlicht.35 Bevor Ficker in Böhmers Fußstapfen trat, hatte er sich Anfang der 1860er 30 31 32 33 34
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Vgl. Janssen: Joh[ann] Friedrich Böhmer’s Leben und Anschauungen, S. 43–64; 89–126. Vgl. Johann Friedrich Böhmer an Oberbergrat Jugler, 08.07.1858, in: Janssen: Johann Friedrich Böhmer’s Leben, Briefe und kleinere Schriften, Bd. III, S. 197. Bresslau: Geschichte der Monumenta Germaniae historica, S. 358–370. Bresslau: Geschichte der Monumenta Germaniae historica, S. 355–357. Jung: Julius Ficker, S. 360–367. Zu Ficker vgl. auch Brechenmacher: Julius Ficker; Oberkofler/Goller: „Also soweit als möglich lebe ich in der Vergangenheit“, bes. S. 20–29, 46– 58; Heinz Gollwitzer: Westfälische Historiker des 19. Jahrhunderts in Österreich, Bayern und der Schweiz, in: Westfälische Zeitschrift 122/1973, S. 9–50: 22–28. Zimmermann: Verschiedene Versuche, S. 9f.
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7. Textualisierte Originale: Editorische Objektkonstituierung
Jahre bereits einen Namen als kontroverser großdeutscher Reichshistoriker gemacht. Er stand seit seinen Studentenzeiten in Bonn mit Böhmer in Verbindung, der ihn bei zahlreichen Gelegenheiten gefördert hatte.36 Wie er Böhmer schrieb, war Ficker ihm aus einem tiefgehenden „Pietätsgefühl“37 heraus verpflichtet; gleichzeitig nahm er das Erbe Böhmers zum Anlass, seine eigenen Forschungsinteressen im Bereich der Rechtsgeschichte voranzutreiben. Fickers Beschäftigung mit einem Nebenprojekt aus Böhmers Erbe38 bildete ab 1865 den Auftakt zur Kontaktaufnahme mit dem Institut für Österreichische Geschichtsforschung in Wien. Der Innsbrucker Rechtshistoriker kannte Theodor Sickel zwar bereits seit den 1850er Jahren durch seine Besuche in Wiener Historikerkreisen, hatte aber seinem gleichaltrigen Wiener Kollegen gegenüber bis dahin eher Distanz gewahrt.39 Für die Neubearbeitung der Regesten Böhmers zur Karolingerzeit war Ficker nun auf Sickel angewiesen. Denn dieser hatte sich inzwischen intensiv mit Urkunden aus der Karolingerzeit beschäftigt und setzte Forschungsmaßstäbe, auf die sich Ficker zwangsläufig beziehen musste. Auch die Diplomata-Ausgabe der Monumenta Germaniae Historica fand sich inzwischen in einer veränderten Forschungslandschaft wieder. Das deutsche Editionsunternehmen wurde bis Anfang der 1870er Jahre praktisch in Eigenregie von dessen langjährigem Direktor Georg Heinrich Pertz geleitet. Die Editionen von Chroniken, die vor allem in den ersten Jahrzehnten vorangetrieben worden waren, lagen inzwischen weitgehend in den Händen von ausgebildeten Historikern und hatten sich entsprechend verfachlicht.40 Für die Diplomata-Abteilung setzte Pertz in dieser Zeit auf eine familieninterne Lösung. Er betraute seit Mitte der 1850er Jahre seinen als Historiker ausgebil36
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Böhmer hatte Ficker Zutritt zu Bibliotheken verschafft, ihn als Lehrstuhlkandidat an die österreichischen Bildungsbehörden empfohlen und Fickers Studenten Unterstützung gewährt. Jung: Julius Ficker, S. 57, 79f., 126, 141f., 201, 141f., 238f. Julius Ficker an Johann Friedrich Böhmer, 18.04.1863 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Julius Ficker: Briefwechsel Johann Friedrich Böhmer – Julius Ficker, unfol. Vgl. auch Johann Friedrich Böhmer an Julius Ficker, 06.01.1859 aus Frankfurt, Archiv IfÖG NL Julius Ficker: Briefwechsel Johann Friedrich Böhmer – Julius Ficker, unfol.; Julius Ficker an Johann Friedrich Böhmer, 01.02.1858 aus Innsbruck, ebd. Wenige Briefe Böhmers an Ficker sind anhand von Konzepten auszugsweise in der Briefsammlung von Janssen ediert. Ficker gab die Briefe nach dem Tod Böhmers aus inhaltlichen Gründen nicht frei. Es wird immer nach den vollständigen ungedruckten Briefen zitiert. Vgl. Jung: Julius Ficker, S. 33. Es handelte sich um die Herausgabe nachgelassener Urkundenabschriften Böhmers. Johann Friedrich Böhmer: Acta Imperii selecta. Urkunden deutscher Könige und Kaiser 928–1398, aus dem Nachl. hrsg. v. Julius Ficker, Innsbruck 1870. Julius Ficker an Theodor Sickel, 11.11.1865 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 1rv. Ficker hatte Theodor Sickel eine Zeitlang verdächtigt, hinter einer vernichtenden Rezension einer Arbeit seines Schülers Alfons Hubers zu stecken. Julius Ficker an Johann Friedrich Böhmer, 01.07.1857 aus Innsbruck; Archiv IfÖG NL Julius Ficker: Briefwechsel Johann Friedrich Böhmer – Julius Ficker, unfol.; 28.08.1860 aus Innsbruck, ebd.; 21.10.1860 aus Innsbruck, ebd. Bresslau: Geschichte der Monumenta Germaniae historica, S. 396f. u. 478–528.
7.2 Ein Institut übernimmt
333
deten Sohn Karl mit Vorarbeiten. Karl Pertz wechselte nach Editionsarbeiten bei den Scriptores zu den Diplomata und brachte 1872 als ersten Band eine Ausgabe der Merowingerurkunden heraus. Die ursprüngliche romantische Zielsetzung einer editorischen Nationswerdung wich seit den 1850er Jahren neuen Anforderungen an die Entwicklung eines editorischen Instrumentariums für die Urkunden. Denn laufend wurden vor allem regional ausgerichtete Urkundenbücher publiziert, die auf dem Feld der Editionspraktiken neue Fakten schufen. In den 1860er Jahren erschienen darüber hinaus von Theodor Sickel und anderen Arbeiten zur Urkundenlehre, die auch für die DiplomataEdition der Monumenta neue Gesichtspunkte der Beurteilung in die Diskussion einbrachten.41
7.2 Ein Institut übernimmt Während Ficker sich an das Institut für Österreichische Geschichtsforschung annäherte, steckte Sickel in einer großen Forschungs- und Veröffentlichungsoffensive in den Jahren 1865–1873 sein Forschungsterrain ab und akquirierte Projekte für sich und seine Mitarbeiter. Sickels erste editorische Arbeiten über die Karolingerurkunden, die „Acta regum et imperatorum Karolinorum digesta et enarrata“, kamen 1867 heraus; sie bestanden nicht nur aus Regesten, sondern lieferten im ersten Teilband grundsätzliche diplomatische Überlegungen sowie eine karolingische Spezialdiplomatik, die neue Maßstäbe der Urkundenlehre setzte. Der Wiener Diplomatiker setzte sich kritisch mit Böhmer auseinander, dessen bahnbrechende Regesten seiner Meinung nach in verschiedener Hinsicht veraltet waren. Neue Urkundenfunde hätten den Wissensbestand mittlerweile vergrößert, zudem seien inzwischen vielfach bessere Editionen herausgekommen. Vor allem aber betonte Sickel die fehlende „kritische Sichtung des Urkundenvorrathes“.42 In seinem Vorwort machte er außerdem auf die unbefriedigende Arbeitssituation aufmerksam, die unter der restriktiven Politik des Leiters der Monumenta Germaniae Historica, Georg Heinrich Pertz, litt. Dieser war nicht bereit, außenstehende Fachkollegen an Urkundenfunden teilhaben zu lassen, die im Apparat
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Sickel veröffentlichte seine „Beiträge zur Diplomatik“ in den Jahren 1861 bis 1882. Vgl. auch: Acta regum et imperatorum Karolinorum digesta et ennarata, Hrsg. Theodor Sickel, 2 Bde., Hannover 1867; Stumpf : Reichskanzler. Acta regum et imperatorum Karolinorum, Hrsg. Sickel, Bd. 1, S. Vf. Zu diesem Zeitpunkt war Sickel noch der Meinung, dass das Autopsiegebot keine substantielle Teamarbeit erlaube, „denn die Autopsie der noch vorhandenen und zu vergleichenden Originale kann nicht durch die Mitwirkung der besten Genossen ersetzt werden“. Ebd., S. VI. Später wurden am Wiener Institut Einsichtnahmen aber soweit koordiniert, dass sie auch in Teamarbeit erfolgen konnten.
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7. Textualisierte Originale: Editorische Objektkonstituierung
des Editionsunternehmens dokumentiert waren.43 Mit dieser Kritik in der Fachöffentlichkeit betrieb Sickel nicht nur eine gezielte Forschungspolitik gegenüber der größten deutschen Quellenforschungsorganisation, sondern auch gegenüber Julius Ficker. Es war in Forschungskreisen allgemein bekannt, dass Ficker mit Böhmers Abschriftensammlungen für die geplante Diplomata-Edition über wichtige Forschungsunterlagen verfügte und so der einzige war, der die forschungsfeindliche Haltung Pertz’ wirksam untergraben konnte.44 Tatsächlich engagierte sich Ficker seit der Kontaktaufnahme im Jahr 1865 in einem dichten Forschungsaustausch mit Sickel, in dessen Verlauf die beiden Urkundenforscher ihre unterschiedlichen Forschungspositionen konsolidierten. Sickel verschrieb sich und seinen Kollegen für die Karolingerurkunden unbedingte Autopsie – er hatte bis im November 1865 bereits neun Zehntel aller noch vorhandenen Originale „eingesehn und überprüft“45 , eine Arbeit, die mit immensem Zeit- und materiellem Aufwand verbunden war.46 Ficker blieb diesen weitgehenden diplomatischen Anforderungen gegenüber den pragmatischeren Zielsetzungen seines Mentors verpflichtet. Er wollte nach wie vor eine möglichst zugängliche und rasche Herausgabe regestenartiger Materialien zur deutschen Reichsgeschichte in der „Manier Böhmers“47 liefern und verfolgte deshalb nicht den Anspruch, umfassende Autopsie zu betreiben oder neue paläographische und diplomatische Forschungsergebnisse zu liefern.48 Nach einer mehrjährigen Verhandlungsphase, in der sie wechselseitig versuchten, einander für ihre eigenen Forschungsprojekte in Dienst zu nehmen49 , gelangten die beiden Hochschulhistoriker schließlich im Jahr 1874 zu einer Absprache, die es beiden Akteuren ermöglichte, in einem ausgewogenen Maß voneinander zu profitieren.50 Ficker leitete 1874 die Neubearbeitung der 43 44 45 46
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Acta regum et imperatorum Karolinorum, Hrsg. Sickel, Bd. 1, S. VII. Jung: Julius Ficker, S. 367f. Theodor Sickel an Julius Ficker, 15.11.1865 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 1–3, hier 1v. Sickel rechnete Ficker vor, dass er „auf die Regesten von 100 Jahren 4 ½ Jahre sehr anstrengende Arbeit verwendet“ habe und ihn die „Vorarbeiten für die erste Partie (einzelne Reisen, Copien und Durchzeichnungen) vielleicht viermal so viel gekostet, als ich vom Buchhändler Honorar erhalte“. Theodor Sickel an Julius Ficker, 15.11.1865 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 1–3, hier 2rv. Julius Ficker an Theodor Sickel, 22.11.1874 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 47–49, hier fol. 47v. Julius Ficker an Theodor Sickel, 22.11.1874 aus Innsbruck, Archiv IfÖG, NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 47–49. Sickel plante zunächst, einen seiner Schüler in die Regesta Imperii einzuschleusen, um über ihn an Forschungsdaten für die Karolingeredition zu gelangen. Ficker hatte genau das umgekehrte Interesse. Theodor Sickel an Julius Ficker, 15.11.1865 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 1–3, hier fol. 2v. Theodor Sickel an Julius Ficker, 02.12.1874 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 42–44; Julius Ficker an Theodor Sickel aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 50f.
7.2 Ein Institut übernimmt
335
Böhmerschen Karolingerregesten ein, als sich immer deutlicher abzeichnete, dass sich für die Zeit der späteren Karolingerperiode auf Jahre hinaus keine bessere Editionssituation einstellen würde.51 Er konnte Sickel dafür gewinnen, seinen Schüler Engelbert Mühlbacher, den er für diese Neubearbeitung vorsah, am Wiener Institut arbeiten zu lassen und fachlich zu unterstützen. Mühlbacher arbeitete in der Folge unter den Augen Sickels an der Revision der Karolingerregesten. Mit der Einquartierung Engelbert Mühlbachers am Wiener Institut erreichte Julius Ficker, dass sich der Wissenstransfer von den diplomatischen und paläographischen Spezialforschungen Sickels zu den Herrscherurkundenregesten beschleunigte52 und er trotzdem die Kontrolle über die Ausführung der Regesten behalten konnte. Theodor Sickel profitierte umgekehrt von den Forschungsunterlagen aus dem Böhmerschen Nachlass, die Ficker zugänglich waren. Unter der Hand wandelten sich damit die Regesta Imperii trotz des gleich bleibenden äußeren Rahmens grundlegend. Während sie die ursprüngliche Form behielten, integrierten sie neue, an den Originalen gewonnene Forschungsergebnisse, die Mühlbacher aus erster Hand erhielt. Gleichzeitig wurden die Regesta Imperii zu einem verberuflichten Forschungsunternehmen, das sich von der personalisierten Arbeitsweise Böhmers und dessen Selbstverständnis als „Liebhaber und Volontair“53 im Dienst der Nation deutlich abhob. Dem Privatunternehmen gelang es, für seine eigenen Zielsetzungen gleichwohl von staatlich geförderten, zunehmend als Großforschungsorganisationen auftretenden Agenturen der Geschichtswissenschaft zu profitieren.54 In der zweiten Hälfte der 1860er Jahre war auch die seit Jahrzehnten angekündigte Herrscherurkundenedition der Monumenta Germaniae Historica zunehmend in die Kritik geraten. Besonders Sickel, der seit langer Zeit die Editionspraxis der Monumenta sehr genau verfolgte, wendete sich 51
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Ficker versuchte über Jahre hinweg ergebnislos, Kollegen – Karl Friedrich Stumpf, Ernst Dümmler – für eine koordinierte Bearbeitung der Regesten zu gewinnen. Julius Ficker an Theodor Sickel, 10.12.1865 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel, fol. 3f., hier 3v; 02.02.1867 aus Innsbruck, ebd., fol. 16f., hier fol. 16v; 09.01.1874 aus Innsbruck, ebd., fol. 47–49, hier fol. 47rv. Julius Ficker an Theodor Sickel, 14.02.1866 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 5, hier 5v; 28./31.01.1869 aus Innsbruck, ebd., fol. 21–23, hier fol. 21r; 08.11.1872 aus Innsbruck, ebd., fol. 29, hier fol. 29r; 20.01.1873 aus Innsbruck, ebd., fol. 30f., hier fol. 30v. Johann Friedrich Böhmer an Julius Ficker, 06.01.1859 aus Frankfurt, Archiv IfÖG NL Julius Ficker: Briefwechsel Johann Friedrich Böhmer – Julius Ficker, unfol. Die Kaiserregesten blieben bis 1906, als sie nach dem Tod Fickers von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften übernommen wurden, in der Verwaltung des Erben Julius Ficker. Niederkorn: Julius von Ficker; Zimmermann: Verschiedene Versuche, S. 7. Die Regesta Imperii wurden ab 1967 von einer deutschen Regesten-Kommission verwaltet und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert; seit 1980 sind sie der Mainzer Akademie der Wissenschaften angegliedert.
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7. Textualisierte Originale: Editorische Objektkonstituierung
entschieden gegen die Pertzschen Veröffentlichungsstrategien. Nachdem er in Forschungsfragen von Georg Heinrich Pertz mangelnde Kooperationsbereitschaft erfahren hatte, hoffte Sickel, mit seinen seit 1861 sukzessiv veröffentlichten „Beiträgen zur Diplomatik“ und mit den 1867 veröffentlichten „Acta Karolinorum“, in denen er Pertz scharf kritisierte, eine Veränderung der Forschungsbedingungen herbeizuführen. Schon zu diesem Zeitpunkt wurde Sickel als Herausforderer der Pertzens gesehen: Pertz senior verdächtigte ihn, anonyme Artikel gegen seine Leitung geschrieben zu haben, und hegte den Verdacht, dass er seinen Sohn aus der Diplomata-Edition verdrängen wollte.55 Sickel versicherte gegenüber Ficker, dass beide Unterstellungen völlig unbegründet seien, fügte aber an: „Allerdings, wenn sich einmal die Dinge besser gestalten, möchte auch ich bei der Herausgabe der Diplomata bethätigt sein, möchte dann aber eine andere Periode übernehmen.“56 Nachdem Sickel 1869 die alleinige Leitung des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung übertragen worden war, verfolgte er dieses Ziel sehr zielstrebig. Als 1872 als erster Band der Diplomata Karl Pertz’ Edition der Merowingerurkunden erschien, orchestrierte Sickel die negativen Reaktionen auf dieses Gesellenstück, das eine der letzten Editionen unter der Gesamtleitung von Pertz senior darstellte.57 Die äußerst negative Kritik, mit der Sickel selbst und der Innsbrucker Urkundenforscher Stumpf-Brentano die neue Edition auf zusammen über 240 Rezensionsseiten bedachten, zeigt, wie sehr die Anforderungen an eine diplomatische Bearbeitung inzwischen gestiegen waren.58 Sickels durch und durch negative Besprechung gipfelte in dem Urteil, Karl Pertz dringe „nicht überall in die Tiefe, in das eigentliche Wesen der Dinge ein,“ er überblicke „auch seinen Stoff nicht“ und beherrsche ihn „noch weniger“.59 Die Chance des Direktors des Wiener Instituts kam aber, als sich nach der deutschen Reichseinigung die institutionellen Rahmenbedingungen änderten. Die Monumenta Germaniae Historica wurden 1875 umgegründet; die Akademien der Wissenschaften Preußens, Bayerns und Österreichs übernahmen die Trägerschaft, setzten eine Zentraldirektion ein, die aus 55
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Theodor Sickel an Julius Ficker, 15.11.1865 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 1–3, hier fol. 3v. 21.04.1866 aus Wien, ebd., fol. 10f., hier fol. 10v. Theodor Sickel an Julius Ficker, 21.04.1866 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 10f., hier fol. 10v. Theodor Sickel an Julius Ficker, 31.10.1872 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 28, hier fol. 28v; 19.12.1872 aus Wien, ebd., fol. 29–31, hier fol. 30rv. Die Rezensenten vermissten vor allem ein stringentes Editionskonzept, ein editorisches Problembewusstsein und einen guten Apparat und kritisierten u. a. die Datierungen. Karl Friedrich Stumpf : Ueber die Merovinger-Diplome, in: HZ XXIX/1872, S. 343–407; Theodor Sickel: Monvmenta Germaniae Historica. Diplomatvm Imperii tomvs I [Hrsg. Karl Pertz], besprochen von Th. Sickel, Berlin 1873, S. 69. Sickel: Monvmenta Germaniae Historica, S. 69.
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Akademiemitgliedern und frei gewählten Fachgelehrten bestand, und verbeamteten den Leiter der Organisation.60 Die drei Urkundenforscher Julius Ficker, Karl Friedrich Stumpf-Brentano und Theodor Sickel wurden 1873 als Vertreter Österreichs zu den Vorverhandlungen eingeladen. Während Ficker sich dieser Aufgabe trotz Sickels Zureden nicht zuletzt aus Misstrauen gegen die von den Reorganisatoren zunächst angestrebte preußische Dominanz entzog61 , setzte sich Sickel als Vertreter Österreichs neben StumpfBrentano in der Zentralkommission in der Folge mit großem Engagement für die österreichischen Interessen und die Neugestaltung der DiplomataAbteilung ein. Bereits in der ersten Plenarversammlung wurde er zum Leiter der Abteilung bestimmt und leitete anschliessend mit der Neukonzeption der Editionspläne zielstrebig das endgültige Ende der Ära Pertz ein. Nachdem die Zentralkommission einige druckfertige Probearbeiten von Karl Pertz, der inzwischen an den karolingischen Diplomen arbeitete, negativ begutachtet hatte, wurde dieser entlassen.62 Die österreichische Diplomata-Abteilung der Monumenta Germaniae Historica63 wurde am Institut für Österreichische Geschichtsforschung angesiedelt, aus dessen Absolventenkreis die festen und freien Mitarbeiter des Projekts stammten, wo ein Arbeitszimmer eingerichtet wurde und die benötigten Hilfsmittel zu finden waren. Die neue, von Sickel geleitete Abteilung begann in den Jahren 1879 bis 1893 mit der Edition der Urkunden aus der Zeit von Konrad I. bis Otto III. und fuhr dann ab 1892 mit der lange aufgeschobenen Edition der Karolingerurkunden fort, die von Engelbert Mühlbacher geleitet wurde und erst nach dessen Tod 1906 erschien. Schließlich wurde in Wien 1904 eine dritte Diplomata-Abteilung zur Herausgabe der staufischen Urkunden gegründet, die von Emil von Ottenthal geleitet wurde, der wie seine Vorgänger Sickel und Mühlbacher gleichzeitig Institutsdirektor war.64 60
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Fuhrmann: „Sind eben alles Menschen gewesen“, S. 50; Grundmann: Monumenta Germaniae Historica, S. 5; Bresslau: Geschichte der Monumenta Germaniae historica, S. 396f. u. 478–528. Julius Ficker an Theodor Sickel, 20.01.1873 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Ficker, fol. 30f., hier fol. 30v–31r; 25.01.1873 aus Innsbruck, ebd., fol. 32f., hier 33r; 06.09.1873 aus Innsbruck, ebd., fol. 36f.; 30.09.1873 aus Innsbruck, ebd., fol. 38–41; 08.10.1873 aus Innsbruck, ebd., fol. 42. Bresslau: Geschichte der Monumenta Germaniae historica, S. 478–521, bes. 499–501, 513, vgl. auch S. 586f. Neben diesem Wiener Zweig der ersten Diplomata-Abteilung wurde 1889 in Berlin ein weiterer Zweig zur Herausgabe der Salierurkunden gegründet, die von Harry Bresslau geleitet wurde. Bresslau: Geschichte der Monumenta Germaniae historica, S. 586–594, 686–691, 716f. Zur dritten Diplomata-Abteilung unter Emil von Ottenthal s. PferschyMaleczek: Die Diplomata-Edition. Die Urkunden Konrad I. Heinrich I. und Otto I., Hrsg. Theodor Sickel (MGH: Die Urkunden der deutschen Könige und Kaiser, Bd. 1), Hannover 1879–1884; Die Urkunden Otto II., Hrsg. ders. (MGH: Die Urkunden der deutschen Könige und Kaiser, Bd. 2.1), Hannover 1888; Die Urkunden Otto III., Hrsg. ders. (MGH: Die Urkunden der deutschen Könige und Kaiser, Bd. 2.2), Hannover 1893; Die Urkunden Lothars III. und der
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7. Textualisierte Originale: Editorische Objektkonstituierung
Durch die geschickte Einbindung der Interessen unterschiedlicher Akteure – wie etwa Vertretern der österreichischen Wissenschaftspolitik, des Rechtshistorikers und Mäzens Julius Ficker und anderen – gelang es der Wiener Forschungsagentur, zahlreiche Ressourcen in den Arbeitszusammenhang des Instituts zu schleusen. Nicht zuletzt wurde so auch ein neues Netzwerk der Forschungszusammenarbeit etabliert, an dem fortan niemand vorbeikam, der sich hilfswissenschaftlich mit den Herrscherurkunden des Mittelalters befasste.
7.3 Edierte Reichsgeschichten Die Etablierung der Diplomata-Abteilung und der Regesta Imperii am Institut für Österreichische Geschichtsforschung belegt die Integrationskraft reichsgeschichtlicher Untersuchungsperspektiven. Die wichtigsten Akteure einer überregionalen Quellenerschließung in den deutschen Ländern bezogen sich damit auf jene historische Größe, die sich als gleichsam selbstverständlicher kleinster gemeinsamer Nenner der historischen Identifikation anbot – auf das Heilige Römische Reich Deutscher Nation aus der Perspektive seiner Herrscher. Diese reichsgeschichtlichen Zielsetzungen stehen einerseits im Kontext der aktuellen „Reichsgeschichten“ – der politischen Entwicklungen, die über den Deutschen Krieg von 1866 zur Gründung des deutschen Kaiserreiches und zur Neukonstituierung Österreichs als Doppelmonarchie führten. Andererseits müssen sie vor dem Hintergrund der konkurrierenden und sich wandelnden Deutungen betrachtet werden, die die mittelalterliche Reichsgeschichte im geschichtswissenschaftlichen Kontext erfuhr. Der Blick auf die geschichtswissenschaftlichen wie politischen Positionen verschiedener an der Herrscherurkundenedition beteiligter Akteure zeigt, wie unterschiedlich der Deutungsrahmen „Reichsgeschichte“ ausgelegt und politisch aktualisiert werden konnte. Die variable Reichweite der Reichsgeschichte wird bereits bei einem kurzen Seitenblick auf die Schweiz deutlich. In der Gründungsphase der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde, die – wie die philologisch-editorischen Unternehmen der Brüder Grimm – von einem romantischen Volkstumsgedanken getragen war, wurden nicht nur Arbeitspartner in den deutschen Ländern, sondern in allen deutschsprachigen Gebieten Europas gesucht. So waren zunächst auch finanzielle Beiträge und lokale zuarbeitende Untergesellschaften aus den deutschsprachigen Kantonen der Schweiz vorgesehen.65 Allerdings schei-
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Kaiserin Richenza, Hrsg. Emil Ottenthal/Hans Hirsch (MGH: Die Urkunden der deutschen Könige und Kaiser, Bd. 8), Berlin 1927; Die Urkunden Pippins, Karlmanns und Karls des Grossen, Hrsg. Engelbert Mühlbacher (MGH: Die Urkunden der Karolinger, Bd. 1), Hannover 1906. Bresslau: Geschichte der Monumenta Germaniae historica, S. 12.
7.3 Edierte Reichsgeschichten
339
terte die organisierte Verankerung des Projekts in der Schweiz, da weder einzelne Kantone noch – nach der Gründung des Bundesstaates im Jahr 1848 – die Bundesbehörden finanzielle Beiträge lieferten. Das offizielle historische Narrativ stellte republikanische Traditionen in den Vordergrund. Dagegen beteiligten sich anfänglich Einzelpersonen aus den katholischen Gebieten der Zentral- und Ostschweiz sowie Angehörige der patrizisch-konservativen Eliten aus protestantischen Deutschweizer Städten an diesem Projekt.66 Nach dem Tod Böhmers im Jahr 1863 wurden diese lockeren Kontakte zusehends unwichtig.67 Diese faktische Distanz der offiziellen Schweiz steht im Gegensatz zur Haltung der österreichischen Politik, die die reichsgeschichtlichen Projekte wechselweise mittrug und ablehnte. Anfänglich konnte die Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde trotz der Unterstützung des Bundestags nicht auf die finanzielle Hilfe Österreichs zählen. Im Österreich der Reaktionszeit stand das Unternehmen unter dem Verdacht, mit seinen reichsgeschichtlichen Vorstellungen die staatliche Souveränität zu untergraben. Außerdem war es Österreichern seit 1818 verboten, ohne kaiserliche Bewilligung an einem ausländischen Verein teilzunehmen, was auch den Austausch unter Forschern erschwerte. Erst nach dem Tod des Unternehmensgründers Freiherr vom Stein begann die österreichische Regierung, sich an dem Projekt finanziell zu beteiligen. Inzwischen waren vielfältige Kontakte mit österreichischen Historikern entstanden. Böhmer arbeitete besonders eng mit dem
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Prominentester Vertreter dieser Historiker war der katholische Luzerner Reichshistoriker Joseph Eutych Kopp, den eine sehr enge Beziehung mit Böhmer verband. Lütolf : Joseph Eutych Kopp, S. 114. – Die Kontakte lassen sich aus dem Korrespondenznetzwerk Böhmers rekonstruieren. Janssen: Johann Friedrich Böhmers Leben, Briefe und kleinere Schriften, Bd. 2 u. 3, bes.: Johann Friedrich Böhmer an die (ältere) Geschichtforschende Gesellschaft der Schweiz, 29.12.1831, ebd., Bd. 2, S. 207–209; Johann Friedrich Böhmer an Friedrich Hurter, 27.10.1841 aus Frankfurt, ebd., Bd. 2, S. 326–328. Böhmer hatte Kontakte unter anderem mit dem Staatsarchivar Gerold Meyer von Knonau (dem Vater des gleichnamigen Geschichtsprofessors), mit Georg von Wyss, Theofil von Arx und Basilius Hidber und lernte um 1841 mehrere Gründungsmitglieder der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft in Bern kennen. Vgl. auch Bresslau: Geschichte der Monumenta Germaniae historica, S. 396, bes. Fn. 1; Georg von Wyss an Louis Vuillemin, 26.12.1870, zit. Werner Koller: Georg von Wyss. Welt- und Geschichtsbild, Diss. Univ. Zürich 1958, S. 11. Zu den früheren reichsgeschichtlichen Editionsplänen Johannes von Müllers für die „Scriptores rerum Germanicarum“ vgl. Bresslau: Geschichte der Monumenta Germaniae historica, S. 4f. Im Untersuchungszeitraum arbeiteten keine Schweizer Historiker an den MonumentaEditionen mit. Erst ab den 1930er Jahren wurden die Verbindungen der Monumenta Germaniae Historica in die Schweiz wieder intensiviert und nach dem 2. Weltkrieg schließlich institutionalisiert. Vgl. die Korrespondenzen in BAR J II.127-/1 23 und BAR J II.127-/1:25.
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7. Textualisierte Originale: Editorische Objektkonstituierung
St. Florianer Stiftsherrn und Direktor des Haus-, Hof- und Staatsarchivs Joseph Chmel zusammen.68 Nachdem Georg Heinrich Pertz seit der zweiten Hälfte der 1850er Jahre zunehmend in die Kritik geraten war, unternahmen verschiedene Politiker 1865 den Versuch, die Monumenta Germaniae Historica zu reformieren. Die Reformversuche wurden jedoch durch den Ausbruch des Deutschen Krieges unterbrochen, der auch dazu führte, dass sich die offizielle Beziehung Österreichs zu den Monumenta verschlechterte und Österreich bis 1871 keine Unterstützung mehr gewährte. Erst nach der deutschen Reichsgründung kam es wieder zu einer Normalisierung, die schließlich zu Beteiligung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften führte.69 Das instabile Verhältnis Österreichs zu den reichsgeschichtlichen Editionsprojekten spiegelt die wechselvolle Geschichte des Verhältnisses des Habsburgerreichs zu den anderen Staaten des Deutschen Bundes wieder. Es verweist auf die komplexe Bedeutung der deutschen Reichsgeschichte für ein offizielles österreichisches Geschichtsbild, das zugleich der Eigenstaatlichkeit Österreichs und dem Anspruch, als führender deutscher Staat Reichserbe zu sein, verpflichtet war. In Österreich hatte sich seit der Länderpolitik im Neoabsolutismus, die in einen Ausbau der Rechte der nichtdeutschsprachigen österreichischen Länder gemündet hatte, unter den deutschsprachigen Liberalen Österreichs, aber auch unter zahlreichen Konservativen eine deutschnationale Haltung verbreitet, die eine großdeutsche Politik befürwortete. Als letzter Versuch einer Umsetzung der deutschen Einheit veranstaltete Kaiser Franz Joseph im August 1863 in Frankfurt den deutschen Fürstentag, der zum Forum der Reformangebote Österreichs an den Deutschen Bund werden sollte, allerdings an der konsequenten Verweigerung Preussens scheiterte.70 Im Kontext dieses misslungenen politischen Vorstoßes zur Rettung des Deutschen Bundes wurde von österreichischer Seite die deutsche Reichsgeschichte nochmals symbolisch aktualisiert. Der zu dieser Zeit bereits sterbenskranke großdeutsche Reichshistoriker Böhmer bekam vom Kaiser einen österreichischen Orden verliehen. Julius Ficker gratulierte seinem Mentor und Lehrer: „Führte unsern Kaiser das redliche Streben nach Frankfurt, die deutsche Reformfrage in geordnete, an die Vergangenheit und das Bestehende anknüpfende Bahnen zu leiten, so 68
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Zu weiteren Kontakten s. das Korrespondenznetzwerk in Janssen: Johann Friedrich Böhmer’s Leben, Briefe und kleinere Schriften, Bd. 2 u. 3. S. auch Ottner: Joseph Chmel und Johann Friedrich Böhmer. Vgl. Bresslau: Geschichte der Monumenta Germaniae historica, S. 50, 55f., 57, 99f., 207. Bresslau: Geschichte der Monumenta Germaniae historica, S. 369–435, 437f., 478–521. Rumpler: Eine Chance für Mitteleuropa, S. 386–404; Michael Derndarsky: Der Fall der gesamtdeutschen Historie. Heinrich von Srbik im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik, in: Péter Hánák/Waltraud Heindl/Stefan Malfèr et al. (Hrsg.): Kultur und Politik in Österreich und Ungarn, Wien 1994, S. 153–176.
7.3 Edierte Reichsgeschichten
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war es doppelt schön, wenn er gerade bei dieser Gelegenheit Ihrer gedachte, der ja vor Allen so vieles gethan, um die Erinnerung aufzufrischen an das Reich, das einst gewesen, sie festzuhalten gegenüber den Zerrbildern des deutschen Reichs, wie sie die liberalen Tagesmeinungen sich gestalteten.“71
In der symbolischen Geste Österreichs wurde – für ein politisches Publikum allgemein verständlich – der Anspruch des österreichischen Staates auf die reichsgeschichtliche Legitimierung seines Führungsanspruchs untermauert. Dieser legitimatorische Rahmen musste erst 1866 mit der Niederlage gegen Preußen endgültig verabschiedet werden. Fickers Gratulation macht den großdeutschen historischen Deutungsrahmen deutlich, in dem die Regesta Imperii noch in den 1860er Jahren standen. Dieser war im Rahmen einer romantischen Geschichtskultur entstanden, in der „Geschichte“ ein persönliches Erlebnis, die emphatische „Auffrischung der Erinnerung“, bedeutete. Böhmer deutete die Herrschaft mittelalterlicher Kaiser bis zu Friedrich II. als Verwirklichung einer allgemeinen deutschen Geschichte, die später durch das Aufkommen herrschaftlicher Partikularismen immer mehr zerfallen sei. Das mittelalterliche, religiös legitimierte Reich wurde so zur Präfiguration des anzustrebenden neuen deutschen Nationalstaates des 19. Jahrhunderts. Das Habsburgerreich erschien Böhmer nicht nur als Bollwerk gegen die von der französischen Revolution ausgehenden liberalen Entwicklungen in Europa, sondern stellte auch die Verkörperung des alten Reichsprinzips dar72 , die Ansiedelung der Regesta Imperii in Wien demnach als forschungspolitisch logischer Schritt. Reichsgeschichtliche Konzeptionen hatten bereits im Vormärz während des ersten Schubs der Auseinandersetzung zwischen Groß- und Kleindeutschen zu heftigen Diskussionen unter Historikern und zu scharfen medialen Stellungnahmen geführt. Böhmers Regesta Imperii wurden in diesem Zusammenhang als Propagandaunternehmen der großdeutschen Partei rezensiert.73 Diese Kontroversen um die Deutung der Reichsgeschichte hatten nach 1848 mit einer Serie von historiographischen Positionsbezügen und im bekannten Sybel–Ficker-Streit in den Jahren 1858–1862 einen neuen Höhepunkt erreicht. Während Ficker im Kaiserstaat des Hochmittelalters die ideale Verkörperung eines universalen Prinzips, des „germanischen Staatsgedankens“, sah, beurteilte der kleindeutsche „politische Professor“ Sybel die gleichen Erscheinungen als Zeichen eines schwachen Staates, der zu wenig nationale Einheit aufgewiesen habe. Die aktualitätsbezogene Debatte wurde in den
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Julius Ficker an Johann Friedrich Böhmer, 06.09.1866 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Ficker: Briefwechsel Julius Ficker – Johann Friedrich Böhmer. Vgl. Brechenmacher: Großdeutsche Geschichtsschreibung, S. 148–150, 196–198, 346– 349. Brechenmacher: Großdeutsche Geschichtsschreibung, S. 457–460.
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7. Textualisierte Originale: Editorische Objektkonstituierung
Literaturblättern und historischen Zeitschriften weitergetragen und führte zu einer steigenden Polarisierung in den Deutungen der Reichsgeschichte.74 Paradoxerweise wurden nun aber das Regestenunternehmen wie auch die Diplomata-Abteilung zu einem Zeitpunkt an das Institut für Österreichische Geschichtsforschung gebracht, als die deutsche Reichsgeschichte für Österreich einen Teil ihrer politischen Valenz verloren hatte. Vor dem Hintergrund der geschaffenen staatlichen Fakten und der politischen Niederlage der Großdeutschen konnte es kaum mehr attraktiv sein, die Reichsgeschichte auf eine emphatische Weise für aktuelle politische Ziele in Anspruch zu nehmen. Außerdem wurde die deutsche Reichsgeschichte als österreichische Geschichte zumindest auf der politischen Ebene entselbstverständlicht. Der Ausbau des traditionellen Faches „österreichische Reichsgeschichte“ durch Gesamtdarstellungen und durch die Einrichtung eines entsprechenden obligatorischen Faches für Juristen und Historiker an den österreichischen Universitäten im Jahr 1893 antwortete auf diese neue Situation.75 Entsprechend wurde die gefühlsbetonte geschichtskulturelle Rahmung, die die Böhmerschen Regesten und die Monumenta Germaniae Historica in den ersten Jahrzehnten gehabt hatten, am Wiener Institut nicht weitergeführt. Die Vorworte zu den Editionen, die bis zum Ende des Untersuchungszeitraums erschienen, lassen keine direkte geschichtskulturelle Aktualisierung der Reichsgeschichte erkennen, wie sie noch für Johann Friedrich Böhmer charakteristisch gewesen war. Sie nahmen vielmehr einen betont hilfswissenschaftlichen, spezialisierten Charakter an, indem sie sich ausschließlich den Erfassungskriterien und -problemen der Editions- und Regestenarbeit widmeten. Einzig formal übernahmen die revidierten Regesta Imperii einige Kennzeichen der reichsromantischen Ästhetik Böhmers: Durch die an Grimm anschließende Kleinschreibung und einige medievalistische Schreibungsbesonderheiten der Anmerkungen und Vorworte bauten die Regesten sprachlich eine mimetische Affinität zu der bearbeiteten Epoche auf. Im Kontext des Instituts entstanden kaum größere historiographische Arbeiten zum mittelalterlichen Deutschen Reich. Als einzige umfassendere Darstellung beleuchtete Engelbert Mühlbachers „Deutsche Geschichte unter den Karolingern“ die Entstehungszeit des Reiches. Dass er der Monographie eine Einführung unter dem Titel „Einleitung: Die Quellen“ voranstellte, verdeutlicht, dass die Abstinenz von weiter gefassten Kontextualisierungen Programm sein sollte und durch eine methodische Reflexion der Quellen
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Vgl. Thomas Brechenmacher: Wie viel Gegenwart verträgt historisches Urteilen? Die Kontroverse zwischen Heinrich von Sybel und Julius Ficker über die Bewertung der Kaiserpolitik des Mittelalters (1859–1862), in: Jürgen Elvert/Susanne Krauß (Hrsg.): Historische Debatten und Kontroversen im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2003, S. 34– 54. ders.: Julius Ficker; Jung: Julius Ficker, S. 307–354. Heiss: Im „Reich der Unbegreiflichkeiten“, S. 456–458. Vgl. Lhotsky: Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung, S. 428.
7.3 Edierte Reichsgeschichten
343
ersetzt wurde.76 Dieser Übergang von einer offen gegenwartsbezogenen Inanspruchnahme des großdeutschen Deutungsrahmens zu einer Betonung der aus den Quellen gewonnenen Fakten kann auch an der Geschichte der Institutszeitschrift, den Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, abgelesen werden. In den späten 1850er Jahren hatte Ficker die Absicht gehegt, in Zusammenarbeit mit Johann Friedrich Böhmer und als Antwort auf die Gründung der Historischen Zeitschrift Heinrich von Sybels eine reichsgeschichtliche, großdeutsch ausgerichtete historische Zeitschrift zu gründen. Das ins Auge gefasste „Organ für Reichsgeschichte, welches Gleichdenkende und Gleichstrebende verbände und nöthigenfalls Gelegenheit zu Vertheidigung böte“77 , kam aber nicht zustande.78 Das Institutsperiodikum, das stattdessen 20 Jahre später am Wiener Institut entstand und an dem sich auch Ficker beteiligte, entwickelte sich dagegen zu einem hilfswissenschaftlich ausgerichteten Forum, das sich vor allem forschungstechnisch profilierte. Das politische Klima am Institut für Österreichische Geschichtsforschung nach 1870 war nicht durch den älteren Gegensatz zwischen Kleindeutschen und Großdeutschen geprägt, sondern kann als weitgehend deutschnationalösterreichtreu beschrieben werden.79 Auch die romantische Begeisterung Böhmers für eine katholische Erneuerung hatte sich nach 1870 überlebt, wie der ehemalige Geistliche Mühlbacher in den 1880er Jahren im Rückblick ironisch feststellte.80 Sowohl Mühlbacher als auch der großdeutsche Ficker hatten altkatholische Sympathien und positionierten sich in Absetzung von den „Ultramontanen“.81 Die Frontstellung verlief am Institut wie auch in den Innsbrucker Kreisen, in denen Ficker und die Institutshistoriker aus Tirol verkehrten, nun vor allem gegen die „klerikale Partei“ der Katholisch-Konser76 77 78
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Engelbert Mühlbacher: Deutsche Geschichte unter den Karolingern, Stuttgart 1896, S. 1– 20. Julius Ficker an Johann Friedrich Böhmer, 10.01.1860, Archiv IfÖG NL Ficker: Briefwechsel Johann Friedrich Böhmer – Julius Ficker. Julius Ficker an Johann Friedrich Böhmer, 11.11.1858 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Ficker: Briefwechsel Johann Friedrich Böhmer – Julius Ficker, unfol.; 08.02.1859, ebd.; 29.07.1859, ebd.; 10.01.1860, ebd.; Johann Friedrich Böhmer an Julius Ficker, 28.02.1859 aus Frankfurt, ebd.; 30.03.1860 aus Frankfurt, ebd.; 20.07.1860, ebd. Zur deutschnationalen Tendenz im deutschösterreichischen Bürgertum s. Rumpler: Eine Chance für Mitteleuropa, S. 409. Mühlbacher setzte sich bei der Drucklegung seiner Karolingerregesten mit dem Vorwort Böhmers zu der ersten Ausgabe von 1833 auseinander: „Ein köstliches Spiel des Zufalls ist es, dass Böhmer gerade in der Vorrede der Reg[esta] Kar[olorum] dem Stifte St. Florian eine grosse Lobrede hält. Damals waren allerdings andere Zeiten als jetzt, wo es in die politisch-klerikale Agitation aufgegangen ist.“ Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 22.08.1888 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 66. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 21.11.1870 aus St. Florian, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 2+a, hier Bogen 2; Jung: Julius Ficker, S. 427–430.
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7. Textualisierte Originale: Editorische Objektkonstituierung
vativen.82 Theodor Sickel wiederum ließ sich nicht in mittelaltergeschichtlich unterfütterte politische Auseinandersetzungen verwickeln und zeigte wenig Interesse an ausgreifenden historischen Deutungen. Als er sich in Österreich niedergelassen hatte, stellte er sich ganz in den Dienst der österreichischen Wissenschaftspolitik und verzichtete mit der Zeit auf seine journalistischen Tätigkeiten. Sein preußisch-protestantischer Hintergrund positionierte ihn aber im Nachmärz in einem Lager, das mit der romantisch-katholischen Deutungstradition eines Böhmers und der kritischen Distanz Fickers zum Bismarckschen Machtstaat wenig anfangen konnte.83 Der Diplomatiker arbeitete enger als Ficker mit seinen deutschen Kollegen zusammen und publizierte mit Fickers altem Gegner Heinrich von Sybel sogar die „Kaiserurkunden in Abbildungen“.84 In seiner deutschnationalen Haltung hingegen traf sich Sickel mit dem Großdeutschen Ficker, der mit der finanziellen Beteiligung Böhmers deutschkulturelle Unternehmungen wie den deutschen Alpenverein und das Deutschtiroler Schützenwesen unterstützte und sich um das Deutschtum in Tirol sorgte.85 Auch Engelbert Mühlbacher und die jüngeren Historiker Oswald Redlich, Michael Tangl und Alfons Dopsch waren ausgesprochen deutschnational eingestellt; ihre Briefe aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts lassen eine oft pejorativ gefasste Abgrenzung gegen die nichtdeutschsprachigen Bevölkerungsgruppen Österreichs und teilweise auch antisemitische Ressentiments erkennen.86 Der sprachnationalistische Grundton verstärkte sich vor dem Hintergrund der Konflikte um die Vorherrschaft im österreichischen Staat und um sogenannte „nationale“ Sonderrechte.87 Ein selbstbewusst zur Schau getragenes Deutschtum erlaubte 82
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Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 11.06.1886 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 32; 01.08.1888 aus Wien, ebd., Bogen 66; Julius Ficker an Theodor Sickel, 1888 (ohne genauere Datierung), Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 199f., hier fol. 120r. Sickel hatte im Vormärz mit den Liberalen sympathisiert und deshalb Preußen verlassen müssen. Er hatte später trotz seiner dienstlichen Loyalität zum österreichischen Staat entschieden kleindeutsche Sympathien. Mayr: Die Anfänge Theodor Sickels, S. 556. Sybel/Sickel (Hrsg.): Kaiserurkunden in Abbildungen. Ficker zog eine explizite Parallele zwischen seiner politischen Haltung gegenüber dem deutschen Alpenverein und gegenüber den Monumenta Germaniae Historica: Julius Ficker an Theodor Sickel, 30.09.1873 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 38–41, hier fol. 38r. Zur Schützenfestthematik und zu Tirol: Julius Ficker an Johann Friedrich Böhmer, 27.09.1862 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Ficker: Briefwechsel Johann Friedrich Böhmer – Julius Ficker, unfol.; Theodor Sickel (1869), Reisebericht, Archiv IfÖG NL Sickel. Julius Ficker an Theodor Sickel, 1888 (nicht näher dat.), Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 119f., hier fol. 120r. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 17.03.1876 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 42+a, hier Bogen 42a; 03.12.1876 aus Wien, ebd., Bogen 214; Oswald Redlich an Engelbert Mühlbacher, 24.03.1888 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Mühlbacher: Oswald Redlich an Engelbert Mühlbacher. Dopsch: [Selbstdarstellung], S. 5. Besonders aussagekräftig ist hier eine Äußerung Alfons Dopschs von 1925. Seine Wach-
7.3 Edierte Reichsgeschichten
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es den österreichischen Historikern am Wiener Institut weiterhin, sich über die politischen Brüche hinweg als Teil der deutschen Geschichtswissenschaft zu verstehen. Die Regesta Imperii und die Diplomata-Edition bildeten einen wichtigen Bestandteil dieser deutschnationalistischen wissenschaftlichen Vernetzung. Über die politischen Brüche und unterschiedlichen historischen Deutungen hinweg wiesen die reichsgeschichtlichen Konzeptionen der Geschichtswissenschaft aber untergründige konzeptuelle Kontinuitäten auf, die über alle Verwerfungen hinweg von großer Bedeutung blieben: Erstens teilten die groß- und kleindeutschen Positionen vor der Reichsgründung wie auch der spätere offensive Deutschnationalismus der deutschösterreichischen Historiker die Vorstellung einer einheitlichen deutschen Nationalität, einer volksmäßigen Grundlage des Reiches. Sowohl Sybels Nationsbegriff als auch Fickers Beschäftigung mit dem germanischen Staatsgedanken waren in einer geteilten Vorstellung kulturell-ethnischer Identitäten verankert, die den staatlichen Gebilden vorausgingen. Eine sich am germanischen „Stamm“ orientierende Deutschtumsrhetorik lässt sich auch bei dem Großdeutschen Böhmer finden, der ein eifriger Leser des antirevolutionären Nationstheoretikers Joseph de Maistre war.88 Sie verband sich bereits bei Böhmer mit einer Polemik gegen „Fremde“ und „Fremdgesinnte“89 , die weit über die konkreten Bedeutungen hinaus ging, die diese Abgrenzung noch im Kontext der Antinapoleonischen Kriege gehabt haben konnte. Wie die Theoretiker der historischen Rechtsschule ging der Frankfurter Historiker von einem natürlichen, angeborenen deutschen Recht aus, dass stammesgebunden war.90 Solche organizistischen Vorstellungen ließen sich aber ähnlich wirkungsmächtig auch bei jüngeren Kleindeutschen finden. Die Prämisse eines organisch verfassten, überlegenen und sich aktiv abgrenzenden Deutsch-
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samkeit gegenüber der „slawischen Falschheit und Hinterhältigkeit“, die er in seiner Heimat in Böhmen gelernt habe, habe ihm bereits viel „kritischen Sinn“ eingeimpft, der ihm dann am Institut für die genauen quellenkritischen Methoden, die dort gelehrt wurden, zugute gekommen sei. Dopsch: [Selbstdarstellung], S. 5. Vgl. zum verstärkten Deutschnationalismus unter Historikern seit den 1870er Jahren: Oberkofler/Goller: „Also so weit als möglich lebe ich in der Vergangenheit“, S. 33–42; Fellner: Ludo Moritz Hartmann, S. 80–86. Janssen: Johann Friedrich Böhmers Leben, Briefe und kleinere Schriften, Bd. 1, S. 457. Johann Friedrich Böhmer: Regesta Imperii inde ab anno MCXCVIII usque ad annum MCCLIV. Die Regesten des Kaiserreichs unter Philipp, Otto IV, Friedrich II, Heinrich (VII) und Conrad IV, 1198–1254, Stuttgart 1849, Einleitung, S. III–LXXXXVIII: LXVIa– c; ders.: Vorrede [in der ersten Ausg. 1833 nicht vollst. abgedr. Entwurf], in: J. F. Böhmer Regesta Imperii I. Die Regesten des Kaiserreichs unter den Karolingern, 751–918, neu bearb. v. Engelbert Mühlbacher, Innsbruck 1889, S. X–XIV: XII. Johann Friedrich Böhmer: Vorrede zu den Karolingerregesten [Entwurf], in: J. F. Böhmer Regesta Imperii. Die Regesten des Kaiserreichs unter den Karolingern, 751–918, neu bearb. v. Engelbert Mühlbacher u. vollendet v. Johann Lechner, 2. Aufl., Innsbruck 1908, S. XIII–XIX: XVIIIf.; Janssen: Johann Friedrich Böhmers Leben, Briefe und kleinere Schriften, Bd. 1, S. 457.
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tums verband sich demnach bereits seit längerem mit vielen Ausprägungen von Reichsgeschichte.91 Diese Traditionslinie sollte in Österreich nach dem Ersten Weltkrieg zu einer zentralen Argumentationshilfe für die sogenannte „gesamtdeutsche Geschichtsauffassung“ werden.92 Zweitens teilten die reichsgeschichtlichen Arbeiten als wichtige strukturierende Kategorie das Konzept der historischen Individualität, das sich sowohl in der herausragenden deutschen Herrscherpersönlichkeit als auch in der kollektiven Identität des deutschen Volkes äußerte. Auch diese Vorstellung war politisch nicht gebunden, wie ein Rückblick auf Böhmer zeigt. Dieser reiste 1857 seit 20 Jahren erstmals wieder in die von ihm verabscheute preußische Hauptstadt und wurde dort von dem gleichaltrigen Leopold von Ranke
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Damit soll nicht eine zwangsläufige Koppelung von organischem Nationalismus und Reichsgeschichte unterstellt werden: „Reich“ und „Nation“ waren gerade dehnbare Konzepte, was ihre hohe Wirksamkeit miterklärt. Vgl. die überzeugenden Ausführungen bei Gramley: Propheten des deutschen Nationalismus, S. 166–187, bes. 169. Auf die unterschiedlichen Ausformungen von Staatskonzepten beschränkt dagegen Brechenmacher: Wie viel Gegenwart verträgt historisches Urteilen?; ders.: Großdeutsche Geschichtsschreibung. – Zum Geschichtsbild einer transhistorischen organischen Einheit des deutschen Volkes, das bereits früh starke Züge einer aggressiven Selbstvergewisserung annehmen konnte, vgl. z. B. Gustav Freytags erfolgreichen Roman „Die verlorene Handschrift“ von 1864 (s. Kap. 5, Einl.), der den jungen Gerold Meyer von Knonau begeisterte. Die am Institut für Österreichische Geschichtsforschung sozialisierten Historiker Heinrich Ritter von Srbik und Otto Brunner trugen vor und während der nationalsozialistischen Herrschaft zur Weiterentwicklung dieser Denkrichtung bei, die den Reichsgedanken für den Nationalsozialismus so leicht adaptierbar machte. Vgl. Heiss: Im „Reich der Unbegreiflichkeiten“, S. 459; Dendarsky: Der Fall der gesamtdeutschen Historie. Zur praktischen und ideellen Rolle der „Wiener Schule der Geschichtswissenschaft“ in der Verbreitung einer völkischen Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert vgl. Gernot Heiss: Von Österreichs deutscher Vergangenheit und Aufgabe. Die Wiener Schule der Geschichtswissenschaft und der Nationalsozialismus, in: ders./Siegfried Mattl/Sebastian Meissl et al. (Hrsg.): Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938–1945, Wien 1989, S. 39–76; Gadi Algazi: Otto Brunner – „Konkrete Ordnung“ und Sprache der Zeit, in: Peter Schöttler (Hrsg.): Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918– 1945, Frankfurt a. M.1997, S. 166–203; James Van Horn Melton: From Folk History to Structural History. Otto Brunner (1889–1982) and the Radical-Conservative Roots of German Social History, in: Hartmut Lehmann/ders. (Hrsg.): Paths of Continuity. Central European Historiography from the 1930s to the 1950s, Cambridge, MA 1994, S. 263–292; Willi Oberkrome: Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918–1945, Göttingen 1993. Zur Popularisierung: Gangolf Hübinger: Geschichtsmythen in „völkischer Bewegung“ und „konservativer Revolution“. Nationalistische Wirkungen historischer Sinnbildung, In: Horst-Walter Blanke/Friedrich Jaeger/Thomas Sandkühler (Hrsg.): Dimensionen der Historik. Geschichtstheorie, Wissenschaftsgeschichte und Geschichtskultur heute, Köln 1998, S. 93–104. Zu der Ideengeschichte der Gesamtstaatsidee s. Fritz Fellner: Reichsgeschichte und Reichsidee als Problem der österreichischen Historiographie, in: Wilhelm Brauneder/Lothar Höbelt (Hrsg.): Sacrum Imperium. Das Reich und Österreich 996– 1806, Wien/München/Berlin 1996, S. 361–374.
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freundlich empfangen. Böhmer gab das Gespräch, das sich um mittelalterliche Quellen drehte, gegenüber Ficker folgendermaßen wieder: „Er [Ranke, D.S.] sagte, dass der eigentliche Inhalt auch der älteren Reichsgeschichte vielfach erst noch aufzufinden sei, jedes Koenigs u[nd] Kaisers Regierung sei von der anderen wesentlich verschieden gewesen, aber man müsse erst noch in das Specielle eindringen. Ein grosser Fürst könne ganz ausserordentliches leisten, wie man das an dem jetzigen König von Preussen sehe, dessen Wiederherstellung er aufs innigste wünsche. Es sei gar nicht auszusprechen was er alles in der Gegenwart gewirkt habe und zwar einzig durch seine Persönlichkeit. Von ihm könne man sagen: ,Er hat uns frei gemacht!’ ... Da ging ich fort.“93
Böhmers Widerspruch gegen Ranke, den er zur demonstrativen Opposition stilisierte, richtete sich gerade nicht gegen das Konzept der Individualität der großen Herrscher, sondern gegen Rankes Begeisterung für die kleindeutsche Position. Die deutsche Herrscherpersönlichkeit verkörperte auch bei Böhmer (im besten Fall) deutsche Qualitäten.94 Beide Konzepte – das Konzept einer persönlichen oder kollektiven, im Volk verankerten historischen Individualität wie auch die Vorstellung einer transhistorischen, organischen Einheit des deutschen Volkes – bildeten zentrale Strukturprinzipien der editorischen Arbeiten an der Reichsgeschichte. Das Konzept der Herrscherpersönlichkeit bestimmte nicht nur die Abfolge der Datenaufnahme, sondern auch die Interpretation der Urkunden in den Paratexten der Regesten- und Diplomata-Ausgaben. In Vorworten etwa blieben psychologisierende Charakterisierungen der deutschen Herrscher ein wichtiges Gestaltungselement.95 Die Vorstellung einer vorpolitischen, wesenhaften deutschen Identität bestimmte die Abgrenzung der Untersuchungsgebiete und -epochen sowie terminologische Setzungen mit. Mit der Neubearbeitung der älteren Böhmerschen Regesten und der Vorbereitung der Diplomata-Bände stellte sich das Problem der materiellen Abgrenzung der Editionsbereiche neu. Es wurde von Sickel, Ficker und Mühlbacher gemeinsam erörtert, weil von den Entscheidungen der Diplomata-Edition auch abhing, wie sich die Regesta Imperii im Verhältnis dazu positionieren konnten. Sickel hatte sich zunächst mit der Idee getragen, die Urkunden der frühen Karolinger zu edieren und damit zu einer Epoche zu arbeiten, die nach damaligen Maßstäben96 zur unmittelbaren Vorgeschichte des deutschen Reiches gehörte.97 Sickel musste jedoch wegen des deutsch-französischen 93
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Johann Friedrich Böhmer an Julius Ficker, 25.01.1858 aus Frankfurt, Archiv IfÖG NL Ficker, Briefwechsel Johann Friedrich Böhmer – Julius Ficker, unfol.; Auslassungspunkte im Original. Böhmer: Vorrede zu den Karolingerregesten [Entwurf], S. XIII–XIX. Vgl. z. B. Engelbert Mühlbacher: Geschichtliche übersicht, in: J. F. Böhmer Regesta Imperii I, neu bearb. v. dems., S. XXVII–LXXXIII. Vgl. zur älteren und jüngeren Forschungsdiskussion um die Reichsentstehung Hans-Werner Goetz: Europa im frühen Mittelalter. 500–1050, Stuttgart 2002,, S. 73, 292–297. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 18.06.1875 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker, Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 79+a.
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7. Textualisierte Originale: Editorische Objektkonstituierung
Krieges seine Pläne ändern.98 Er schwenkte Ende 1875 darauf ein, seine Arbeit mit den ostfränkischen Ottonen zu beginnen. Die Abstandnahme von den westfränkischen frühen Karolingern macht deutlich, durch welche arbeitspraktischen Konsequenzen der deutsch-französische Krieg die Nationalisierung von Forschungsbereichen förderte, auch wenn Sickel seine alten Verbindungen zu den französischen Diplomatikern bald wieder aktivieren sollte.99 Die Verschiebung des gewählten Untersuchungsgebietes zu den Ottonen brachte es darüber hinaus mit sich, dass der erste anerkannte Diplomata-Band einen Gegenstandsbereich editorisch erschloss, der als unzweifelhaft „deutsch“ verstanden werden konnte; die Ottonen regierten im Nationsverständnis des 19. Jahrhunderts bereits ein unzweifelhaft „deutsches Reich“.100 Ähnliche Abgrenzungen dessen, was „deutsch“ war, unternahm Mühlbacher, dessen Karolingerregesten sich auf verschiedene Herrschaftsgebiete bezogen, die später nicht zum Deutschen Reich gehörten. Julius Ficker hatte schon 1865 geplant, für die weitere Bearbeitung des Böhmerschen Nachlasses die italienischen und burgundischen von den deutschen „Reichssachen“ zu trennen.101 Mühlbacher fixierte sich für die Zeit nach 840, als das Frankenreich geteilt worden war, sehr rasch auf die „deutschen“ Karolinger und auf die Urkunden, die von den als nicht-deutsche Herrscher betrachteten westfränkischen Karolingern in Bezug auf „deutsches“ Gebiet ausgestellt worden waren. Für den westfränkischen Herrscher Karl den Einfältigen beispielsweise wollte Mühlbacher nur diejenigen Urkunden erschließen, die jener in Bezug auf Lothringen ausgestellt hatte. Allerdings war dieser Vorgang zumindest für die Zeit, bevor Karl der Einfältige Lothringen in Besitz genommen hatte, nicht zweifelsfrei als „deutsch“ zu bezeichnen, und Mühlbacher bereitete „die Frage, was bestimmt deutsches Gebiet war“, „Schwierigkeiten“.102 Weil ihm seine Quellen keine Angaben dazu lieferten, griff Mühlbacher schließlich auf Karl von Spruners „Historisch-geographischen Handatlas“ zurück103 , der auf älteren Forschungsergebnissen beruhte. Auch forschungspraktisch zog sich Mühlbacher auf einen deutschnationalen Raum zurück. Er reagierte zwei 98
99 100 101 102 103
„Ich rechnete dabei auf vielfache Unterstützung in Frankreich. Der Krieg von 1870 machte mir aber einen Strich durch die Rechnung.“ Theodor Sickel an Julius Ficker, 02.12.1874 aus Wien, Archiv IfÖG, NL Ficker Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 42– 44, hier fol. 42r. Vgl. unten Fn. 104. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 23.10.1875 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker, Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 49. Julius Ficker an Theodor Sickel, 10.12.1865 aus Wien, Archiv IfÖG NL Sickel, Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 3f., hier fol. 4v. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 18.06.1875 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker, Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, fol. 79+a, hier 79a. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 18.06.1875 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker, Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, fol. 79+a, hier 79a.
7.3 Edierte Reichsgeschichten
349
Jahre später sehr zurückhaltend, als Sickel ihm von Paris schrieb, er könne ihm einen jungen Gelehrten vermitteln, der für Mühlbacher Bibliotheken aufsuchen könnte. Sickel hatte ihm bereits früher angedeutet, dass es hilfreich sein könne, „mit einem Franzosen in literarischen Kontakt“104 zu treten. Mühlbacher verwies nun nicht nur auf die hohen Kosten solcher Kontakte, sondern bekräftigte, dass „Böhmers Regesten vor allem ein deutsches Werk sein wollen, dass namentlich für meine Periode der Schwerpunkt in Deutschland u[nd] in dem deutschen Reichsgebiet bliebe. [...] Für die westfränkischen Karolinger wird sich allerdings noch manches finden, doch scheint es mir Sache der Franzosen dies selbst zugänglich und verwertbar zu machen“.105
Doch Mühlbacher hatte einen Untersuchungsbereich erhalten, der unter nationalen Gesichtspunkten schwer einzugrenzen war. Denn bei der Feststellung des „deutschen Reichsgebiets“ oder „Deutschlands“ der karolingischen Zeit führten die von den Editoren verfolgten Kriterien – Volksidentität, genealogische Herrscherabfolge und Reichskontinuität – zu keiner konsistenten Abgrenzung. So diskutierte Mühlbacher noch vor dem Druck der ersten Bögen von 1880, welchen Titel er für die Publikation wählen sollte: „Die Regesten des Kaiserreichs unter den Karolingern“ oder „Regesten der Karolinger“.106 Die Privilegierung der „deutschen Karolinger“, auf die seine Arbeit schließlich hinauslief, war nicht in den politischen Verhältnissen angelegt, für die Mühlbacher streckenweise kein „deutsches Reich“ ausmachen konnte, sondern stellte eine Vorentscheidung dar, die auf der Annahme einer vorpolitisch-organischen Identität der Deutschen beruhte. Das abstrakte Konzept des Deutschen107 , das hier zur Anwendung kam, strukturierte die Erfassung der Urkunden maßgeblich vor. Die deutschnationale Akzentuierung der reichsgeschichtlichen Projekte wurde im Kontext des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung von dem Gestus begleitet, eine bewusst „deutsche Wissenschaft“ zu betreiben, die sich deutscher Begrifflicheiten bediente.108 Im Zuge der zunehmenden Ausdifferenzierung der diplomatischen Untersuchungskriterien entstand für die Herrscherurkundeneditionen ab den 1860er Jahren ein Bedarf an einer differenzierteren Begriffsbildung, die die Urkundenbeschreibung und -klassifizierung verfeinern konnte. Mühlbacher bemühte sich dabei insbesondere um systematisch deutsche Formulierungen diplomatischer Ausdrücke, die die ältere lateinische Begrifflichkeit ablösen sollten.109 Dies lag zum einen 104 105 106 107 108 109
Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 04.05.1877 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker, Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 99+a, hier 99. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 04.05.1877 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker, Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 99+a, hier 99. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 21.03.1880 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker, Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 41. Vgl. Mühlbacher: Deutsche Geschichte unter den Karolingern, S. 657–672. Vgl. dazu auch Kap. 3.4. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 07.03.1875 aus Wien, IfÖG NL Ficker: Engelbert
350
7. Textualisierte Originale: Editorische Objektkonstituierung
durchaus in der Logik des Erbes Böhmers, dem Quellenausgaben in deutscher Sprache immer ein Anliegen gewesen waren, um die Geschichtsforschung zu popularisieren. Mühlbacher begründete sein Vorhaben aber nicht mit diesem naheliegenden Argument. Gegenüber seinem Kollegen Viktor Bayer, der eine „internationale“ Terminologie befürwortete, die auch den Franzosen und Italienern nützlich sein könnte, führte er das Ziel nationaler Selbstbehauptung an: „Ich opponirte dieser Anschauung [Viktor Bayers, D.S.], weil diese Nationen mehr oder weniger ihren Stolz darin sähen national zu sein u[nd] die Internationalität des Deutschen in der Regel darin bestände sich der fremden Nationalität zu accomodiren. Speciell würde ich es mit Freuden begrüssen, wenn die ,deutsche Wissenschaft’ sich auch möglichst eine deutsche Terminologie zu schaffen versuchen würde.“110
Damit handelte sich der Regestenmacher eine Reihe von Schwierigkeiten ein, die ihn über längere Zeit beschäftigten. Die ältere diplomatische Terminologie hatte sich an die lateinische Quellenbegrifflichkeit angelehnt, für die es für die Karolingerzeit keine deutschsprachige Parallele gab. Mühlbacher nahm sich trotzdem vor, „deutsche Urkunden“111 genau auf eine mögliche Quellensprache hin zu durchforsten. Als besonders schwierig zu übersetzen erwies sich die juristische Terminologie, für deren Eindeutschung er rechtshistorische Werke konsultierte.112 Mühlbacher verfolgte die Vorstellung, dass sich die Regesten in der Formulierung dem Urkundentext möglichst anschmiegen sollten, wie dies auch Ficker etwa für die Terminologie der verschiedenen Beurkundungsstufen forderte. Unter Berufung auf dieses Individualitätspostulat verzichtete Mühlbacher häufig auf die Bildung zusammenfassender, abstrahierender Oberbegriffe, sondern setzte vielmehr auf eine begriffliche Ausfächerung. Aus der terminologisch-konzeptuellen Arbeit wurde so in vielen Fällen eine Übersetzung der heterogenen lateinischen Ausdrücke ins Deutsche, wobei Mühlbacher die deutschen Ausdrücke aus anderen volkssprachlichen Texten bezog.113 Mit diesem nachbildenden, individualisierenden Vorgehen wurde
110 111
112 113
Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 73+a-e, hier 73c; Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 31.01.1876 aus Wien, ebd., fol. 45+a, hier fol. 45; Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 03.03.1876 aus Wien, ebd., Bogen 43+a, hier 43; Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 05.08.1877 aus Wien, ebd., Bogen 108; Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 31.12.1877 aus Wien, ebd., Bogen 122. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 31.01.1876 aus Wien, IfÖG, NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 45+a, hier 45. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 03.03.1876 aus Wien, IfÖG, NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 43+a, hier 43. Ob Mühlbacher damit deutschsprachige Urkunden meinte, von denen die ersten aus dem 13. Jh. überliefert sind, oder Urkunden etwa aus dem ostfränkischen Reich, wird nicht klar. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 05.08.1877 aus Wien, IfÖG, NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 108. „Die regesten waren bestrebt auch in einzelnen, namentlich den technischen ausdrücken dem wortlaut der urkunde sich möglichst enge anzuschliessen; daher auch verschieden
7.4 Die „Instituts-Genossenschaft“
351
daher weniger eine Verdeutschung der fachwissenschaftlichen Terminologie als vielmehr eine eigentliche indirekte Eindeutschung des Quellentextes selbst betrieben. Deutlich stärker als im urkundlichen Original konnte die Quelle deshalb im Regest als „deutsch“ erfahren werden.
7.4 Die „Instituts-Genossenschaft“ Die Erschließung von Herrscherurkunden am Institut für Österreichische Geschichtsforschung bildete die Grundlage der Reputation des Instituts als Zentrum hilfswissenschaftlicher, darstellungsabstinenter Geschichtswissenschaft. Historiographiegeschichtlich ist die Arbeit am Institut unter dem Namen „Wiener Schule“ in Absetzung von der deutschen Geschichtswissenschaft auf der einen, der so genannten „Innsbrucker Schule“ Julius Fickers auf der anderen Seite bekannt.114 Ein näherer Blick auf die Forschungspraxis relativiert jedoch die Autarkie des Wiener Standortes. Denn sowohl die Arbeitsorganisation als auch die Ressourcen, die für diese Unternehmungen mobilisiert werden konnten, waren in entscheidenden Aspekten überlokal. Die staatliche Finanzierung der Monumenta Germaniae Historica ermöglichte es Sickel und seinen Wiener Kollegen, die Forschung in einem gegenüber anderen Standorten höheren Grad zu verberuflichen. Zwar waren diese Arbeitsmöglichkeiten von der Laufbahnsicherheit her nicht mit regulären österreichischen Beamtenstellen zu vergleichen115 , sie ermöglichten es aber jungen Historikern, in der Forschung zu bleiben und erhöhten so deren Chancen auf eine Professur. Die Ressourcen und Akteure des Instituts erfuhren darüber hinaus von nichtstaatlicher Seite einen wesentlichen Zuwachs, der kaum in die Selbstdarstellung der Institution Eingang gefunden hat. Julius Ficker hatte in Innsbruck im Dialog mit seinem Lehrer Böhmer seit langem darauf hingearbeitet, Beschäftigungsmöglichkeiten für angehende Forscher zu finden. Er sah in der Förderung der Regesta Imperii durch Böhmer eine Chance, die Forschung durch die Verberuflichung der Regestenarbeit voranzutreiben: „Nichts steht meiner Ansicht nach einer Weiterführung der Wissenschaft zumal in der den Schlagworten des Tages nicht fröhnenden Richtung so sehr im Wege, als die Schwierigkeit für junge befähigte, aber unbemittelte Historiker bis zur Erlangung einer festen wissen-
114 115
bezeichnungen derselben sache, wie ,fiskalgut‘ (ex fisco nostro) no 1469, ,pfalzgut‘ (ad palatium, nur in urkunden für Italien) no 167, ,eigengut‘ (res proprietatis nostrae oder iuris nostri) no 1424, ,krongut‘ (ad partem dominicam no 1640, ad nostrum dominium no 1790) oder die übersetzungen ,herren (fron)-hörigen-mansus, vollhufe‘ etc.“. Engelbert Mühlbacher, Vorbemerkungen, in: J. F. Böhmer Regesta Imperii I, neu bearb. v. dems., S. XV–XXX: XXVIII. Hervorhebung im Original. Oberkofler/Goller: „Also soweit als möglich lebe ich in der Vergangenheit“, S. 76. Vgl. Oberkofler/Goller: „Also soweit als möglich lebe ich in der Vergangenheit“.
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7. Textualisierte Originale: Editorische Objektkonstituierung
schaftlichen Stellung Arbeit zu finden, welche nicht blos ihrem wissenschaftlichen Interesse entspricht, sondern auch zur Sicherung ihrer materiellen Existenz beiträgt.“116
Ficker schlug deshalb vor, mit dem Vermögen junge Historiker anzustellen. Er hatte schon seinen Lieblingsschüler und späteren Professor an der Universität Wien, Alfons Huber, der als Kleinbauernsohn auf keine finanziellen Ressourcen zurückgreifen konnte, intensiv materiell unterstützt, indem er Stipendien Böhmers an ihn vermittelte.117 Nachdem wesentliche Teile des Böhmerschen Nachlasses in seine Verwaltung übergegangen waren, benutzte er den sogenannten „Regestenfonds“ konsequent als Nachwuchsförderungsinstrument, das mit der Ansiedlung der Regestenarbeit Engelbert Mühlbachers in Wien auch dem Wiener Institut in verschiedener Hinsicht zugute kam. Die in der Forschung betonte118 wissenschaftspolitische Isolation des unterlegenen Großdeutschen Ficker muss deshalb stark relativiert werden. Aus der Warte des Innsbrucker Historikers war die Kooperation mit dem Wiener Institut mit sehr großen Gestaltungsmöglichkeiten verbunden, die durch die Vermittlung seiner Schüler unkomplizierter umgesetzt werden konnten als in der Gremienarbeit großer Forschungsorganisationen119 . Mit Engelbert Mühlbacher und seinen jüngeren Kollegen aus Innsbruck, Emil von Ottenthal und Oswald Redlich, kamen Schüler Fickers nach Wien, die sich an Fickers propädeutischen und reichsgeschichtlichen Vorlesungen geschult hatten und sich von Sickel rasch sehr vielseitig einsetzen ließen. Sie vermittelten nicht nur sozial zwischen den beiden Hochschullehrern, wie in Kapitel 3 untersucht wurde, sondern importierten auch Forschungswissen. Dies wird besonders deutlich an den intensiven konzeptuellen Diskussionen zur Editionstechnik und zur Urkundenlehre, die in den 1870er und 1880er Jahren zwischen Wien und Innsbruck hin und her gingen.120 Die strategische Allianz mit Ficker erlaubte es Sickel, eine gezielte Fachpolitik im weiteren Rahmen der Geschichtswissenschaft zu betreiben. Damit konnte er nicht nur den eigenen Zugriff auf Archivquellen erweitern, sondern auch seine Expertise bei Berufungsverfahren, Publikationsstrategien und Projekte der Historischen Kommission der Österreichischen Akademie der Wissenschaften mit Ficker koordinieren, der dort ebenfalls Einsitz hatte.121 116
117 118 119
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Julius Ficker an Johann Friedrich Böhmer, 18.04.1863 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Ficker: Briefwechsel Johann Friedrich Böhmer – Julius Ficker, unfol.; Hervorhebung im Original. Vgl. Barth-Scalmani: Familiäre Selbstzeugnisse, S. 49. Oberkofler/Goller: „Also so weit als möglich lebe ich in der Vergangenheit“, bes. S. 23. Ficker lehnte die ihm angetragenen Mitgliedschaften in der Historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München und der Zentralkommission der Monumenta Germaniae Historica ab. Zu den wissenschaftlichen Inhalten dieser Praxis vgl. Kap. 7.6–7.8. Theodor Sickel an Julius Ficker, 15.11.1865 (Unterbringung von Schülern), Archiv IfÖG NL Ficker: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 1–3, hier 2v; 21.06.1869 (Ficker hat sich in einer Institutsangelegenheit für Sickel verwendet), ebd., fol. 23, hier 23r; 08.07.1869
7.4 Die „Instituts-Genossenschaft“
353
Diese – keineswegs immer auf gleichen Ansichten und Zielen beruhende – Koordination ermöglichte es beiden Historikern, ihre strategischen Optionen zu vervielfachen. Die finanziellen Mittel, die mit Fickers Regestenprojekt nach Wien flossen, kamen nicht nur den Regesta Imperii, sondern auch der DiplomataAbteilung und dem ganzen Institut zugute. 1879 gründete das Institut die Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, die nach dem plötzlichen Tod ihres ersten Redaktors Adolf Fanta von Engelbert Mühlbacher redigiert wurden.122 Trotz der Subvention durch das Ministerium für Cultus und Unterricht litt die Zeitschrift wegen des tiefer als erwartet ausgefallenen Absatzes von Beginn an unter Geldproblemen. Julius Ficker intervenierte 1882 mit dem Angebot, für eine Erweiterung der Zeitschrift durch Ergänzungsbände, die speziell Arbeiten aus dem Umfeld der Regesta Imperii dokumentieren sollten, in loser Folge einen großen Betrag aus dem Böhmerschen Regestenfonds aufzuwenden und diesen aus privaten Mitteln auf das Doppelte zu erhöhen. Die Mobilisierung dieser Drittmittel überzeugte das Ministerium, das Unternehmen weiter zu subventionieren. Nach dem Willen Sickels sollte die Zeitschrift „Mustereditionen“123 liefern und die wissenschaftlichen Positionen des Instituts verbreiten. Sie diente in der Folge als wichtiges Forum der Behauptung des Standortes gegenüber der diplo-
122 123
(Nachfolgeangelegenheit IfÖG), ebd., fol. 24f., hier 25rf.; 19.12./15.01.1872/73 (Reorganisation Monumenta Germaniae historica), ebd., fol. 29–31, hier 30r, 31v; Theodor Sickel an Julius Ficker, 7. November 1873 (Wiederbesetzung einer Bibliothekarstelle in Wien), ebd., fol. 40f., hier 41r; 13.10.1875 (Institutskandidaten, Empfehlung eines Bekannten), ebd., fol. 47f., hier 47rf.; 24.01.1877 (Unterstützungsschreiben Fickers an das Ministerium), ebd., fol. 60f., hier 60r; 18.10.1877 (Unterstützung bei Publikationsangelegenheiten der Akademie), ebd., fol. 64f., hier 65v; 18.12.1880 (Beförderung Engelbert Mühlbacher), ebd., fol. 90f., hier 90rf.; Theodor Sickel an Julius Ficker, 21. Januar 1881 (Beförderung Engelbert Mühlbacher), ebd., fol. 92f., hier 92rf.; 18.06.1882 (Istituto storico Austriaco), ebd., fol. 102f., hier 102rf.; 23.07.1882 (Istituto storico Austriaco), ebd. fol. 106f., hier 107r; Theodor Sickel an Julius Ficker, 18.09.1882 (Editionsprojekte; Akademiepolitik), ebd., 108f., hier 108rf.; Theodor Sickel an Julius Ficker, 24.02.1884 (Publikationen, Personelles, Akademie- und Universitätspolitik), ebd., fol. 116f.; Theodor Sickel an Julius Ficker 20.04.1899 (Akademiepolitik), ebd., fol. 126f. – Julius Ficker an Theodor Sickel, 14.06.1869 (Nachfolgeangelegenheit IfÖG), Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 25f., hier 25vf..; 20.01.1873 (Monumenta Germaniae historica), ebd., fol. 30f., hier 30vf.; 10.11.1873 (Wiederbesetzung einer Bibliothekarstelle in Wien), ebd., fol. 44f.; 26.01.1877 (Unterstützungsschreiben Fickers an das MCU), ebd., fol. 68, hier fol. 68r; 21.06.1882 (Istituto storico Austriaco), ebd., fol. 114, hier 114r; 26.10.1882 (Veröffentlichungsprojekte; Berufungsangelegenheit), ebd., fol. 115f., hier 115rf.; undat. [Antwort auf Sickels Brief vom 24.02.1882] (Akademie-, Publikationspolitik), ebd., fol. 119f.; 24.04.1883 (Förderung Engelbert Mühlbacher), ebd., fol. 127, hier fol. 127r; 23.04.1899 (Akademiepolitik), ebd., fol. 128, hier 128r. Lhotsky: Geschichte des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, S. 153–158. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 11.11.1879, Archiv IfÖG,NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker; Bogen 158.
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7. Textualisierte Originale: Editorische Objektkonstituierung
matischen Konkurrenz, wie spätere literarische Fehden zeigen.124 Mit der Unterstützung des „Goldonkels“125 Ficker war die Forschungskooperation auch auf der Ebene der Periodika-Publikationen auf Dauer gestellt. Diese Annäherung erlaubte es, eine große Zahl von Mitarbeitern zu verpflichten, die ausschließlich durch Ficker und Sickel ausgebildet worden waren und durch ihre vielseitige Abhängigkeit einen hohen Grad an Loyalität aufwiesen. Im Forschungsverbund zwischen Innsbruck und Wien entfaltete sich eine Arbeitsweise, die eine hohe Dichte an Interaktionen und geteilten Wissensbeständen aufwies126 und ihre Professionalität gegen außen hin in Szene setzte. Sickel setzte sich von Forschern ab, die wie der von seinem angeheirateten Vermögen lebende Innsbrucker Kollege Karl Friedrich StumpfBrentano die Urkundenforschung in seinen Augen „nur mehr als noble Passion“127 betrieben. Damit etablierte sich spätestens in den 1870er Jahren ein Arbeitskollektiv, das durch eine gleichartige wissenschaftliche Sozialisation, gemeinsame Arbeitsroutinen und einen einigenden Denkstil gekennzeichnet war. Engelbert Mühlbacher merkte in einem Brief an seinen Mentor an, dass viele seiner Ergebnisse auf Archivrecherchen von Institutskollegen beruhten, und kommentierte diese für ihn neuartige Arbeitssituation ironisch: „Doch auf dem Gebiete der Wissenschaft bin ich Sozialdemokrat u[nd] bin froh, 124
125 126
127
Vgl. z. B.: „Das nächste Heft der ’Mittheil[ungen]’ beginnt ja den offenen Krieg mit Berlin.“ Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 07.03.1885, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker; Bogen 170+a, hier 170a. Im Briefwechsel zwischen Mühlbacher und Ficker sind verschiedene wissenschaftliche Kontroversen dokumentiert, die in der Institutszeitschrift ausgetragen wurden. Vgl. dazu auch Ottner: Zwischen Referat und Recension. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 10.05.1882, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 245+a, hier 245. Nur im Ausnahmefall stießen anderswo sozialisierte Mitarbeiter zu der Gruppe. An den Arbeiten der „Regesta Imperii“ beteiligten sich bis 1906, als das Unternehmen an die Österreichische Akademie der Wissenschaften überging: Paul Scheffer-Boichorst, Engelbert Mühlbacher, Alfons Huber, Emil von Ottenthal, Oswald Redlich und – als einziger Außenstehender ab 1896 – der Greifswalder Archivar Wilhelm Altmann. An den Arbeiten des Wiener Zweiges der ersten Diplomata-Abteilung beteiligten sich offiziell: Karl Folz, Simon Laschitzer, Karl Uhlirz, Emil von Ottenthal, Adolf Fanta, Paul Kehr, Wilhelm ; als locker involvierte Hilfsarbeiter: Viktor Bayer, Wilhelm Diekamp, Lothar von Heinemann, Sigmund Herzberg-Fränkel, Ferdinand Kaltenbrunner, Engelbert Mühlbacher, Johann Paukert, Karl Rieger, Viktor Skodlar, Heinrich Zimmermann. An den Arbeiten zur zweiten Diplomata-Abteilung unter der Leitung Engelbert Mühlbachers arbeiteten: Alfons Dopsch, Michael Tangl, Max Schedy, Johann Lechner und Hans Hirsch. Emil von Ottenthal leitete die Arbeiten der dritten Diplomata-Abteilung bis 1914. Außerhalb des Instituts sozialisiert waren neben Altmann lediglich Diekamp, der als Privatdozent nach Wien kam, um am Institut zu studieren, und von Heinemann. Lhotsky: Geschichte des Instituts, S. 184, Fn. 90; Bresslau: Geschichte der Monumenta Germaniae Historica, S. 546. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 22.01.1875, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 70.
7.5 Apparatekombination, Autopsiekoordination
355
wenn nur die Sache gewinnt.“128 Diese kollektive Arbeitssituation wurde durch Theodor Sickel geradezu zum besonderen Kennzeichen des Instituts erhoben; er betonte das gemeinschaftliche Arbeiten in der „Instituts-Genossenschaft“.129 Diese Geschlossenheit war allerdings das Resultat eines sehr straffen und hierarchischen Führungsstils; der Direktor war dafür bekannt, dass er auf der unbedingten Gefolgschaft seiner Schüler bestand.130 Die enge Interaktion zwischen Innsbruck und Wien wurde seit dem Ende der 1880er Jahre zwar weniger wichtig, weil alle Schüler Fickers – Huber, Mühlbacher, Ottenthal und Redlich – sich schließlich sukzessive in Wien niederließen und dort auf Lehrstühle kamen. Bis dahin hatten die Übernahme der DiplomataEdition sowie die Forschungsallianz mit Ficker jedoch dem Institut bereits einen wichtigen Ressourcenzuwachs gewährt, welcher entscheidend zu der herausragenden Stellung des Instituts im editorischen und hilfswissenschaftlichen Bereich beitrug.
7.5 Apparatekombination, Autopsiekoordination Die reichsgeschichtliche Editions- und Regestenarbeit wies durch die Ausbildungshintergründe der rekrutierten Hauptakteure einen hohen Grad an Geschlossenheit auf, der es ermöglichte, eine neuartige Qualität des Quellenzugriffs zu entwickeln und die Infrastrukturen der Forschung stärker unter Kontrolle zu bringen, als dies vorher möglich gewesen wäre. Dies galt auch für die materiellen Arbeitsgrundlagen. Wie das Schweizerische Urkundenregister und die Monumenta graphica mussten auch die Herrscherurkundenprojekte eine große Anzahl von Arbeitselementen mobilisieren. Die Mobilisierung der reichsgeschichtlich relevanten Urkunden verlief gegenüber diesen nur wenig älteren Projekten in verrechtlichter und systematischerer Weise. Die langjährige Vorgeschichte der beiden Projekte fand ihren materiellen Niederschlag in umfangreichen Vorarbeiten, die nun an das Institut für Österreichische 128 129
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Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 22.03.1877 aus Wien, Archiv IfÖG, NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 98+a+b+c, hier 98. Theodor Sickel an Julius Ficker, 18.09.1882 aus Aussee, ebd., fol. 108f., hier 108r. Vgl. auch Sickels Arbeitsbericht an Ficker: „Diesen Winter habe ich in Gemeinschaft mit jenen dreien [den Mitarbeitern Bayer, Rieger und Foltz, D. S.] und noch weiteren drei alten Institutsmitgliedern besonders freudig gearbeitet.“ Theodor Sickel an Julius Ficker, 01.03.1877, ebd., fol. 62f., hier 63r. Vgl. die in Lhotskys Institutsgeschichte auszugsweise dokumentierte Persiflage Oswald Redlichs auf den im Institut herrschenden Autoritarismus: Oswald Redlich, Scene eines verlorenen Dramas, undat. [inzwischen nicht mehr auffindbar], zit. Lhotsky: Geschichte des Instituts, S. 136, Fn. 22. Mühlbacher beschrieb gegenüber Ficker Sickels „strammes Wesen und Auftreten“, das keine persönliche Annäherung erlaube. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 22.01.1875, Archiv IfÖG, NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 70. Vgl. auch Kap. 3.
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7. Textualisierte Originale: Editorische Objektkonstituierung
Geschichtsforschung gelangten. Dieser Materialtransfer war das Resultat zäher Aushandlungsprozesse. Ficker setzte sich gegenüber seinen Miterben dafür ein, dass Böhmers Forschungsmaterial nach 1863 integral in die Weiterführung der Regesta Imperii einfließen konnte. Allerdings konnte er nicht verhindern, dass der Miterbe Johannes Janssen einen großen Teil der Bibliothek, darunter Böhmers Exemplare der Editionsreihen der Monumenta Germaniae Historica, die Ficker für die Regestenarbeit nach Innsbruck transportiert haben wollte, zum Eigengebrauch beanspruchte.131 In Bezug auf die Abschriftensammlungen Böhmers wurden außerdem Absprachen mit den Monumenta Germaniae Historica erforderlich, da sie Rechte an diesen Materialien hielten. 1866 schloss Ficker deshalb mit Georg Heinrich Pertz einen Vertrag, der das Verhältnis der Regesta Imperii zu den Arbeitsunterlagen der geplanten Herrscherurkundenedition regelte. Die Übereinkunft besagte, dass die Sammlungen Böhmers ins Eigentum der Gesellschaft übergehen würden, sobald die Acta imperii und die Kaiserregesten abgeschlossen seien. Im Gegenzug durfte Ficker die Urkundenabschriften der Monumenta Germaniae Historica für das Regestenwerk benutzen.132 Auf diese Weise erhielt Ficker grundsätzlich Zugang zu Böhmers Apparat. Auch der berühmte Apparat der Monumenta Germaniae Historica, der bis jetzt der Öffentlichkeit vorenthalten worden war, wurde ihm nun teilweise zugänglich.133 Allerdings enthielt der Vertrag entscheidende Ausnahmeklauseln; so durfte Ficker die Transkriptionen von Karolingerurkunden – wohl wegen des Anspruchs von Karl Pertz auf diese Periode – nicht verwenden und allgemein weder Zeugenreihen noch Fundorte von Urkunden veröffentlichen.134 Im Gegensatz zu Georg Heinrich Pertz ging es Ficker mit seinen vertraglichen Vereinbarungen darum, möglichst vielseitige Tausch- und Kooperationsbeziehungen mit Urkundenforschern einzugehen, die am gleichen Quellenmaterial interessiert waren. Die durch Pertz auferlegten Restriktionen führten allerdings dazu, dass Ficker gerade Sickel, der in dieser Zeit an den Karolingerregesten arbeitete, nur wenige neue Hinweise liefern konnte. Er übermittelte diesem aber die wenigen vorhandenen Inedita, gab detaillierte Auskünfte über die von Böhmer angelegten Konzeptbücher und vermittelte
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Jung: Julius Ficker, S. 364. Jung: Julius Ficker, S. 367f. Die Monumenta Germaniae Historica hatten ihre Abschriftensammlungen bis dahin nur in Ausnahmefällen für andere Forscher zugänglich gemacht. Bresslau: Geschichte der Monumenta Germaniae Historica, S. 368, 399f. Vertrag zwischen der Centraldirection der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde und Julius Ficker, 05.04.1866, Archiv IfÖG, Regesta Imperii. Julius Ficker verhandelte dabei hartnäckig und konnte sich wenigstens ausbedingen, die Zeugenreihen abschreiben zu dürfen. Julius Ficker an Theodor Sickel, 14.04.1866, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 7–9, hier 7v–8r.
7.5 Apparatekombination, Autopsiekoordination
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Böhmers Handexemplar der bereits erschienenen Regesta Imperii an ihn, das dessen eigenhändige Nachträge enthielt.135 Theodor Sickel leitete als neuer Direktor der Diplomata-Abteilung sogleich die Aneignung des Arbeitsapparats der Diplomata-Abteilung ein: Als er im Frühling 1875 aus Berlin zurückkehrte, brachte er eine Kiste mit „Monumentamaterial“136 mit. Und noch im Herbst desselben Jahres ließ Sickel eine Aufforderung an Karl Pertz ergehen, eine vollständige Liste der ausstehenden Abschriften zu erstellen, die nach Wien in den Apparat zurückgebracht werden mussten.137 Mit dieser materiellen Integration des Apparates in die Ressourcen des Instituts konnte erst die umfassende Planung der Editionen beginnen, die von der Qualität und Zusammensetzung des gesammelten urkundlichen Materials abhing. Sickel nahm einen Teil der ersten Ordnungsarbeiten selbst vor und stellte für die weitere Registrierung des Materials Engelbert Mühlbacher an, der seine Einschätzungen direkt an den Kooperationspartner Julius Ficker weitergab. 138 Auch das Verhältnis der Regestenmitarbeiter zu den Monumenta Germaniae Historica war weiterhin vertraglich geregelt; der neue Leiter Georg Waitz erkannte den früher zwischen Pertz und Ficker geschlossenen Vertrag an.139 Die vertragliche Absicherung von Zugriffsrechten auf Materialsammlungen der Quellenforschung, die bereits für die frühere Phase der Monumenta Germaniae Historica eine gewisse Rolle gespielt hatte140 , bildete einen wichtigen Schritt auf dem Weg der Formalisierung von Forschungsinteraktionen. Sie führte zu einer stärkeren Berechenbarkeit und Übersichtlichkeit von Arbeitsbeziehungen. Die komplizierte Mobilisierung der Arbeitselemente war aber auch Ausdruck einer Arbeitssituation, die nach wie vor durch hindernisrei135
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Julius Ficker an Theodor Sickel, 11.11.1865 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 1rv; 23.11.1865 aus Innsbruck, ebd., fol. 2rv; 10.12.1865 aus Innsbruck, ebd., fol. 3f., hier 4rv; 14.04.1866 aus Innsbruck, ebd., fol. 7–9, hier 7v; Theodor Sickel an Julius Ficker, 31.03.1866 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 8f., hier 8v. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 24.04.1875 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 83. Schon bevor Sickel einen umfassenden Vertrag mit dem Leiter der Monumenta, Georg Waitz, ausgehandelt hatte, erhielten seine Mitarbeiter Einsicht in das Material. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 24.04.1875 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 83; 28.03.1875, ebd., Bogen 81; 18.06.1875 aus Wien, ebd., Bogen 79+a, hier 79; 01.11.1875 aus Wien, ebd., Bogen 51. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker aus Wien, 18.06.1875, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 79+a, hier 79. Engelbert Mühlbacher: Die Datirung der Urkunden Lothar I., in: Sitzungsberichte der historisch-philosophischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 85/1877, S. 463–544: S. 465, Fn. 3. Vgl. die Auseinandersetzungen um Quellenverwendungen durch die Monumenta-Mitarbeiter Alfred Boretius in seiner Habilitationsschrift von 1864 und durch Philipp Jaffé im Konkurrenzprojekt der „Biblioteca rerum Germanicarum“. Bresslau: Geschichte der Monumenta Germaniae Historica, S. 442–444 u. 462f.
358
7. Textualisierte Originale: Editorische Objektkonstituierung
che und mangelhafte Archivzugänge und nur teilweise bekannte Bestände gekennzeichnet war. Auch der Monumenta-Apparat war bisher nur in Ansätzen bekannt gewesen und war – wie ein noch unbekanntes Quellenkorpus – mit großen Erwartungen der Forscher besetzt, wie die große Kritik an seiner Geheimhaltung in den 1850er und 1860er Jahren belegt.141 Mit der Überführung der beiden Apparate an das Wiener Institut konnten die Editoren und Regestenmacher nun endlich auf die wichtigsten bereits vorhandenen Infrastrukturen der reichsgeschichtlichen diplomatischen Forschung zugreifen, die eine Vielzahl noch unveröffentlichter Erschließungsarbeiten in den über Europa verstreuten Archiven und Bibliotheken dokumentierten. Die Apparate bildeten indessen nur den Ausgangspunkt für die angestrebte Konsolidierung der Forschungsabläufe. Sickel schätzte die brauchbaren Anteile des Materials nach erster Sichtung auf etwa ein Fünftel ein.142 Als Engelbert Mühlbacher sich an die Ordnung der Abschriftensammlungen machte, traf er auf eine „greuliche Unordnung u[nd] vielerlei überflüssiges Papier“.143 Der Monumenta-Apparat war offenkundig so lückenhaft und uneinheitlich, dass Mühlbacher bereits nach der ersten Sichtung an seinen Lehrer schrieb: „Ich zweifle sehr, ob S[ickel] in 5 Jahren einen Band Diplomata ediren kann; will er der Strenge seiner Principien treu bleiben, so muss er jede Urkunde nochmal bearbeiten lassen.“144
Die alten Transkriptionen waren nach den gestiegenen Ansprüchen der Diplomatiker kaum noch etwas wert. Für die Karolingerzeit war der Apparat in den Augen Mühlbachers seit Sickels „Acta Karolinorum“ sogar gänzlich überholt. Dagegen bildeten die Materialien für alle noch nicht neu bearbeiteten Perioden unersetzliche Ressourcen, um die bisherigen Forschungspfade der beteiligten Historiker zu rekonstruieren und Drucknachweise und Archivfundorte zu erfahren. Das wissenschaftliche Kapital, das mit ihnen nach Wien transferiert wurde, bestand demnach nicht mehr in erster Linie in den Abschriften selbst, sondern hauptsächlich in den Begleitinformationen ihrer Herstellung, die ihnen anhafteten.145 In Fällen, in denen das Original nicht
141 142 143 144 145
Bresslau: Geschichte der Monumenta Germaniae Historica, S. 399f. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker aus Wien, 28.04.1875, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 81. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker aus Wien, 18.06.1875, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 79+a, hier 79. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker aus Wien, 18.06.1875, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 79+a, hier 79. Mühlbacher unternahm beispielsweise eine minutiöse Rekonstruktion der Arbeitsschritte Karl Pertz’ nach dem Erscheinen von Sickels „Acta regum et imperatorum Karolinorum“. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 17.03.1876 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 42+a.
7.5 Apparatekombination, Autopsiekoordination
359
greifbar war, diente der Apparat dank seines berühmten Namens allerdings weiterhin als sekundäre „Quelle“146 . Die Beschäftigung mit den „alten“ Apparaten ermöglichte es den Diplomata-Mitarbeitern und dem Regestenmacher Mühlbacher nun, einen „neuen Apparat“147 aufzubauen, der die Informationen aus dem alten Kontext nach neuen Kriterien auswertete, hauptsächlich aber durch neue Arbeitselemente gespeist wurde. Der neue Apparat stellte eine Wissensgrundlage zur Verfügung, die in ihrer Dichte und kritischen Absicherung weit über die Arbeitselemente der früheren Projektstadien hinausging. Die Zusammenarbeit am Wiener Institut war dabei von einer neuartigen Aufmerksamkeit für Forschungspfade geprägt. Dies verlangte ein Ausmaß an Arbeitskoordination zwischen den Mitarbeitern, das zumindest für den deutschsprachigen Raum im Kontext der Geschichtswissenschaft wahrscheinlich erstmalig war148 . Die verdichtete Abstimmung der Arbeitspraxis galt nicht nur dem älteren Apparat, sondern für alle Vorarbeiten, die greifbar waren: Die Mitarbeiter Sickels arbeiteten systematisch frühere Editionen durch, legten Konkordanzen der einzelnen Ausgaben an und stellten systematische Verzeichnisse von Urkundengruppen her.149 Dabei ging es zum einen um die regelgeleitete Aufarbeitung der neueren Überlieferung, also um die Feststellung von Abhängigkeitsverhältnissen von Editionen. Zum anderen wurden Urkundenserien nach verschiedenen diplomatischen Kriterien gebildet.150 In seinem ersten Brief aus Wien schilderte der Institutshospitant Mühlbacher, wie sehr sich die Institutsstudierenden und Mitarbeiter gegenseitig in der kritischen Durchleuchtung älterer Editionen überboten. Aus der Konsultation von Ernst Dümmlers Edition der Briefe Alkuins in der ScriptoresReihe der Monumenta Germania Historica schloss er, dass sich Dümmler „eine sehr bedenkliche Blösse“ gegeben habe, und fuhr fort: „Das Instituts146
147 148
149 150
Mühlbacher schrieb, viele Angaben seien zweifelhaft. „Freilich ist dann Vorsicht geboten; doch bin ich gedeckt, wenn ich mich auf diese Quellen berufe.“ Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 17.03.1876 aus Wien, Archiv IfÖG, NL Ficker Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker Bogen 42+a, hier 42a. Vgl. auch Mühlbacher: Die Datirung der Urkunden Lothar I, S. 465, Fn. 3. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker aus Wien, 21.07.1876, Archiv IfÖG, NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 57+a+b, hier 57. Bresslau fällt dieses Urteil jedenfalls für den institutionellen Kontext der Monumenta Germaniae Historica. Bresslau: Geschichte der Monumenta Germaniae historica, S. 592–594. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 27.11.1875 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 47+a, hier 47a. Zu den Standardisierungsverläufen vgl. Kap. 7.6–7.8. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 05.08.1877 aus Wien (Bearbeitung der Urkunden nach Empfängergruppen), Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 108; Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 08.02.1878 aus Wien (Bearbeitung der Urkunden nach Empfängergruppen), Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 120.
360
7. Textualisierte Originale: Editorische Objektkonstituierung
exemplar wimmelt förmlich von Korrekturen“.151 Geteilte Arbeitsunterlagen, -orte und -kanäle waren für die Koordination der kritischen Sichtung von großer Bedeutung. Nur dadurch war es überhaupt möglich, in Vorbereitung auf die eigentliche Edition die zirkulierenden, abgeleiteten Arbeitselemente – die Abschriften in älteren Apparaten, die frühneuzeitlichen und die neuen Editionen, die Kollationen von Kollegen –, unter kritische Kontrolle zu bringen. „Fremde“ Arbeitselemente wurden analysiert und für die Organisation einer geregelten, möglichst weitgehenden Autopsie der Urkunden eingesetzt, die in einem nächsten Arbeitsschritt neue, institutseigene Arbeitselemente hervorbrachte. Mitarbeiter erhielten nur noch vereinzelt Zusendungen von Abschriften unbekannter Urkunden von Auswärtigen, und auf die Gelegenheitskäufe von Abschriften teilweise unbekannter Herkunft, die noch den alten Monumenta-Apparat geprägt hatten, wurde verzichtet.152 Vielmehr wurde die konsequente „demonstratio ad oculos“153 zu einem Kennzeichen der Sickelschen Schule: Die Mitarbeiter der neuen Diplomata-Edition mussten wenn möglich die Originale selbst oder zumindest im Rahmen der Institutsgemeinschaft hergestellte Faksimiles einsehen.154 Auch wenn das Projekt der Regesta Imperii diesen Imperativ nicht übernehmen konnte, son151 152
153
154
Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 11.11.1874 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 86. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 04.05.1877 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 99+a, hier 99. Ein Beispiel für die inzwischen seltenen Zusendungen: Der Luzerner Archivar Theodor von Liebenau schickte Mühlbacher eine Abschrift einer Urkunde Ludwigs des II. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 09.02.1876 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 44. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 01.07.1876 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 56; 21.07.1876 aus Wien, ebd., Bogen 57+a+b, hier 57. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 16.02.1877 aus Wien (Einsicht Mühlbacher in das liber aureus Pruviensis, Kritik an Waitz’ Kollation), Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 204; 04.05.1877 aus Wien (Problematisierung von Archivabschriften aus zweiter Hand), ebd., Bogen 99+a, hier 99a; 08.02.1878 aus Wien (Mühlbacher gibt eine Abschrift bei einem Institutsabsolventen in Auftrag), ebd., Bogen 120; Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 19.09.1878 aus Wien (Die Abschrift von Urkunden kann nicht einem Archivbeamten überlassen werden, und die Institutsmitglieder sind mit Arbeit überlastet), ebd. Bogen 101; 08.08.1879 aus Wien (Ankunft einer noch unedierten Urkunde aus ottonischer Zeit im Institut), ebd., Bogen 141; 04.11.1879 aus Wien (Handschrift aus Kärnten gelangt in der Albertina, wo sie von Institutsmitgliedern kollationiert wird), ebd., Bogen 151; 27.04.1882 aus Wien (verspricht Nachsendung einer Abschrift eines Ineditums), Bogen 129. Faksimiles von Institutsmitgliedern: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 27.11.1875, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 47+a, hier 47a; 21.07.1876 aus Wien, ebd., Bogen 57+a+b, hier 57; 09.06.1877 aus Wien, ebd., Bogen 205; 15.07.1877 aus Wien, ebd., Bogen 106+a, hier 106; 30.08.1880 aus Wien, ebd., 29+a, hier 29; 01.10.1883 aus Wien, ebd., Bogen 189; 01.02.1884 aus Wien, ebd., Bogen 168+a, hier 168; 22.06.1888 aus Wien, ebd., Bogen 69.
7.6 Serialisierung und textualisierte Autopsie
361
dern sich auf die bereits geleistete Arbeit abstützen musste, konnte Engelbert Mühlbacher selbst vielfach von dieser ausgedehnten Einsicht in Originale profitieren. Damit wurde für beide Projekte eine erhöhte Einheitlichkeit des Arbeitszugangs erreicht. Zwar ließ die Autopsie immer noch Raum für subjektive Interpretationen, aber in ihren Grundzügen wurde sie am Institut unter der Leitung Sickels vergleichsweise gleichförmig eingeübt. Damit wurden Doppelspurigkeiten und langwierige Verhandlungen mit unberechenbaren Akteuren von außerhalb minimiert. Solche Konfrontationen beschränkten sich nun im Wesentlichen auf die Quellenhüter vor Ort: In den Archiven und Bibliotheken stieß das Kontrollvermögen der Institutsforscher nach wie vor an seine Grenzen.155 Das Arbeitstempo wurde überdies durch eine rasche Publikation diplomatischer Forschungsberichte weiter angetrieben, die sich oft mit den Minutia einzelner Urkunden beschäftigten und wieder direkt in die Forschung einfließen konnten. Die Aushängebögen der laufenden Editionen und Publikationen, die zwischen Wien und Innsbruck zirkulierten, wurden so wie die Briefe zu einem wichtigen Medium der Forschung.156
7.6 Serialisierung und textualisierte Autopsie „Gut, daß wir keine Weibsen sind; das Geheimnis, das über der Urk[unde] schwebt, hätte uns am Ende eine schlaflose Nacht bereitet.“157
So kommentierte Mühlbacher 1879 eine noch unbekannte Urkunde aus ottonischer Zeit, die eben von Ficker ans Institut für Österreichische Ge155
156
157
Zur Konfrontation mit Archivaren vgl. bes. Kap. 3.3–3.5 u. 6. Im 19. Jahrhundert hatten die Benutzer österreichischer Bibliotheken keinen direkten Einblick in Kataloge und schon gar nicht Zugang zu den Bücherregalen. Mühlbacher beklagte sich zudem über die Lesesäle, die keinen Platz für die gleichzeitige Benutzung von mehreren Folianten boten und damit serielles Arbeiten erschwerten. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 18.06.1875 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 79+a, hier 79a; 04.04.1878 aus Wien, ebd., Bogen 123; 05.08.1878 aus Wien, ebd., Bogen 102; 30.07.1879 aus Wien, ebd., Bogen 140. Als Ficker z. B. die Aushängebögen eines Teils seiner „Beiträge zur Urkundenlehre“ 1877 nach Wien schickte, wurde Mühlbacher von drei Kollegen bedrängt: Karl Rieger wollte die Bogen auf Forschungsreise mitnehmen, Karl Uhlirz brauchte für seine Arbeiten dringend neue Informationen über Urkundenkonzepte und Emil von Ottenthal die neuesten Details für seine Prüfungsarbeit. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 12.03.1877 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 95. Vgl. auch 03.02.1877 aus Wien (Mitteilung von Inhalten eines Aushängebogens von Sickels „Reisebericht aus der Schweiz“), ebd., Bogen 93; 22.11.1882 aus Wien (Bitte um Aushängebögen zu einer Editionsarbeit Fickers), ebd., Bogen 133. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 08.08.1879 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 141.
362
7. Textualisierte Originale: Editorische Objektkonstituierung
schichtsforschung geschickt worden war. Die scherzhafte Äußerung verweist nicht nur auf das homosoziale Abgrenzungspotential verberuflichter Quellenforschung, sondern auch auf die starke Anziehungskraft der historischen Objekte, die die Imagination der Historiker besetzten. Das Mysterium der Urkunde bezog sich zunächst auf die unklare Herkunft der Quelle, die Ficker unter der Bedingung ans Institut geschickt hatte, dass nicht nach ihrem Besitzer geforscht würde. Rätselhaft erschien die Urkunde aber vor allem auch in ihrer historischen Bedeutung, deren Erschließung die Institutsmitarbeiter eine große Zahl von Arbeitsstunden widmeten.158 Die Kultivierung eines spezialisierten Quellenblicks reicherte die historischen Objekte mit immer detaillierteren Problemdimensionen an. Die Arbeit an den Regesta Imperii und an der Diplomata-Edition der Monumenta Germaniae Historica vertiefte einen ausgeprägt hilfswissenschaftlichen Spezialisierungsprozess, der sich durch einen besonders „mikrologischen“159 – so die kritische Umschreibung Böhmers – detailversessenen Erkenntniszugang auszeichnete. Bereits die materielle Mobilisierung des Quellenmaterials wurde im professionellen Kontext des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung wesentlich stärker standardisiert als dies noch bei Böhmer oder beim Schweizerischen Urkundenregister mit seinen heterogenen Akteuren und Praktiken der Fall war. Aber auch die inhaltliche Erfassung des Materials lässt eine solche weitergehende Standardisierung erkennen, die sich in beiden Projekte unterschiedlich ausgestaltete, aber im Verbund diskutiert wurde.160 Die 158
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„Es kostete Mühe, die Benutzung zu erwirken, da aus Gründen, deren Berechtigung Sie selbst zugeben würden, die Provenienz jetzt unbedingt unbekannt bleiben muß.“ Julius Ficker an Theodor Sickel, 20.08.1879 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 99, hier 99r. Vgl. Theodor Sickel an Julius Ficker, 11.08.1879 aus Bad Ischl, Archiv IfÖG NL Ficker: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 87f., hier 87r; Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 08.08.1879 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 141. Böhmer: Regesta chronologico-diplomatica [. . . ] inde a Conrado I. usque ad Heinricum VII, Vorrede, S. IV. Regest und Edition liegen Vorgehensweisen zugrunde, die oft im Verbund ausgeübt und diskutiert wurden. Vgl. Johann Friedrich Böhmer: Ansichten über die Wiedergabe handschriftlicher Geschichtsquellen im Druck, in: Zeitschrift für die Archive Deutschlands 2/1851, S. 131–137; ders.: Regesta chronologico-diplomatica [. . . ] inde a Conrado I. usque ad Heinricum VII Vorrede, S. III–XIV; ders.: Plan des Unternehmens, in: Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde V/1824, S. 788–806; Georg Waitz: Über die Herausgabe und Bearbeitung von Regesten, in: HZ 40 (NF 4)/1878, S. 280–295; ders.: Urkundenbuch der Abtei St. Gallen, Schweizerisches Urkundenregister [Rezension], in: Göttinger gelehrte Anzeigen 47/1863, S. 1852–1864. ; ders.: Wie soll man Urkunden ediren?; Carl H. L. E. Freiherr Roth von Schreckenstein: Wie soll man Urkunden ediren? Ein Versuch, Tübingen 1864; Theodor Sickel: Programm und Instructionen der Diplomata-Abtheilung, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 1/1876, S. 427–505; ders.: Monvmenta Germaniae Historica; Acta Karolinorum, Hrsg. Sickel, Bd. 1, S. 419–439; ders.: Beiträge zur Diplomatik I, Die Urkunden Ludwig’s des Deutschen bis zum Jahre 859, in: Sitzungsberichte der historisch-philosophischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 36/1861, S. 329–402; Theodor
7.6 Serialisierung und textualisierte Autopsie
363
Mitarbeiter der Diplomata-Edition wurden am Institut intensiv nach den Richtlinien Sickels geschult, der in seinen Publikationen seit 1861 systematisch neue diplomatische und editorische Richtlinien entwickelt hatte. Der Diplomatiker legte in seinen Publikationen großen Wert auf die didaktische Verdeutlichung seiner Standardisierungsbemühungen: Er wollte seine Leser „Urkunden lesen, verstehen, beurtheilen, benutzen“161 lehren. Als Sickel im Jahr 1876 schließlich die Instruktionen für seine Mitarbeiter in der Zeitschrift der Monumenta Germaniae Historica publizierte, eröffnete er seine Ausführungen mit einer Geste der Bescheidenheit: „Das höchste, was ich – dem doch zunächst obliegt, die Arbeit für Herbeischaffung des Materials anzuordnen und zu leiten, dann die kritische Sichtung des Materials bis zur Herstellung eines druckfertigen Manuskripts vorzunehmen – das höchste, was ich mir zutraue, ist den Urkundenstoff von etwa einem Jahrhundert nach allen Seiten zu beherrschen. Weiter reichen auch nicht, wenn ein erster Band in einigen Jahren erscheinen soll, die mir zu Gebote stehenden Arbeitskräfte und Geldmittel.“162
Rhetorisch erhob Sickel hier gerade die Beschränkung auf eng umgrenzte Materialbestände zum Maßstab sinnvoller Forschung.163 Während der zeitliche Umfang der Erfassung schrumpfte, erhöhte sich die Anzahl der Erfassungskriterien, die die Arbeit anleiteten, und der neuen Arbeitselemente, die dabei produziert wurden. Als Vorbereitung für die Archivbesuche sah die Anleitung in einer ersten Phase die Arbeit an verschiedenen Verzeichnissen vor. Zusätzlich zum vertrauten chronologischen Repertorium ließ Sickel ein Verzeichnis der Urkunden nach gegenwärtigen Aufbewahrungsorten und eine Auflistung nach „ursprünglichen Fundorten“ anfertigen,164 – eine Kategorisierung nach „Ursprungsgruppen“165 , das heißt Urkundenempfängern, die für Sickels Wei-
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Lindner: Über die Herausgabe von geschichtlichen Quellen, in: MIÖG 16/1895, S. 501– 507; Aloys Meister: Grundzüge der historischen Methode, in: ders. (Hrsg.): Grundriß der Geschichtswissenschaft. Zur Einführung in das Studium der deutschen Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit, Leipzig 1906, S. 1–20: 14f. Theodor Sickel: Ueber Kaiserurkunden in der Schweiz. Ein Reisebericht, Zürich 1877, S. 96f. Besonders mit der Edition der Königsurkunden aus dem 10. Jahrhundert, die er als ersten Abschnitt der Diplomata-Ausgabe in Angriff nahm, setzte sich Sickel das Ziel, neue, unhintergehbare Standards zu setzen. Sickel vertiefte diesen Anspruch mit einer Reihe weiterer Publikationen. Vgl. Sickel: Ueber Kaiserurkunden in der Schweiz; ders.: Monvmenta Germaniae Historica; ders.: Beiträge zur Diplomatik I–VIII; Acta regum et imperatorum Karolinorum, Bd. 1–2, Hrsg. ders.; vgl. auch die programmatischen Ausführungen gegenüber Ficker: Theodor Sickel an Julius Ficker, 15.11.1865 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 1–3. Sickel: Programm und Instructionen, S. 430. Ebd., S. 432. Vgl. auch Sickels Kritik an Karl Friedrich Stumpf: Theodor Sickel: Beiträge zur Diplomatik VI. Mit 4 photographischen Tafeln, in: Sitzungsberichte der historischphilosophischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 85/1877, S. 351–457: 357, Fn. 1. Sickel: Programm und Instructionen, S. 432f. Sickel: Programm und Instructionen, S. 433f.
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7. Textualisierte Originale: Editorische Objektkonstituierung
terentwicklung der Urkundenkritik bedeutsam war. Eine vierte Kartei sollte für jede Urkunde die Druckorte nachweisen.166 Sickel beschrieb genau, auf welche Weise in der zweiten Phase Autopsie betrieben und durch Transkriptionen und Faksimiles dokumentiert werden sollte.167 In der Urkundenautopsie lag ein zentrales Charakteristikum der gestiegenen Ansprüche Sickels: Das diplomatische Instrumentarium der Echtheitsfeststellung sollte durch systematische Vergleiche unterschiedlicher Schreiberhände, die zum differenziellen Merkmal der vergleichenden Forschung wurden, verfeinert werden.168 Der geschichtswissenschaftliche Augenschein, der hier entworfen wurde, bestand aber nicht in einer unvermittelten Auseinandersetzung mit den materiellen Objekten. Vielmehr war er von neuen Beschreibungen und Abschriften sowie von der Kollation älterer Transkriptionen begleitet und durch die schematische Anlage der Verzeichnung und die praktische Erfahrung der am Institut ausgebildeten Mitarbeiter vorstrukturiert. Die mimetische Arbeit der Faksimilierung, die nun ebenfalls stärker vereinheitlicht wurde, ergänzte diese textualisierende Übernahme. Ihr kam nun eine zentrale Rolle bei der Identifikation der Schreiberhände zu. Faksimiliert werden sollte nicht die ganze Urkunde als bildhafte Einheit, sondern vielmehr einzelne charakteristische Elemente, die im seriellen Verbund des Zettelapparats miteinander vergleichbar wurden. Auch sie wurden durch Beschreibungen ergänzt.169 Die Autopsie war wertlos, wenn sie nicht von der Person des Historikers vor Ort ablösbar wurde. Gegenüber den langwierigen Vor- und Nachbereitungen waren die eigentlichen Einsichtnahmen im Archiv eher von kurzer Dauer. Die hier angeordnete Kombination aus unterschiedlichen Verzeichnissen, Transkriptionen, Kollationen und Faksimiles bildete die Grundstruktur des „neuen“ Monumenta-Apparates, der in den folgenden Jahrzehnten stetig wuchs und auch für die Arbeiten an den Karolingerdiplomen, die um die Wende zum 20. Jahrhundert von Michael Tangl und Alfons Dopsch unter Mühlbacher durchgeführt wurden, grundlegend blieb. Für die privat finanzierten, durch Fickers individualistischeren Arbeitsstil geprägten Regesta Imperii verlief der Standardisierungsprozess informeller. Als Ficker Mühlbacher mit der Regestierung beauftragte, hob er die Ausdauer und den kritischen Blick des Schülers hervor170 , die in seinen Augen wich166 167 168
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Sickel: Programm und Instructionen, S. 435. Sickel: Programm und Instructionen, S. 471–482. Erstmals ausführlich formuliert in: Sickel: Beiträge zur Diplomatik VI, bes. S. 353–388. Vgl. die zusammenfassende Darstellung bei Bresslau: Handbuch der Urkundenlehre, Bd. 1, S. 41–45. Sickel: Programm und Instructionen, S. 473f. „Er ist ein ausserordentlich ausdauernder Arbeiter, dem es zugleich an kritischem Scharfblick in keiner Weise gebricht, so daß ich überzeugt bin, daß er den Forderungen, auf welche ich mich für die Arbeit glaube beschränken zu müssen, durchaus entsprechen wird, auch wenn ihm jetzt noch manche nöthigen oder wünschenswerthen Kenntnis-
7.6 Serialisierung und textualisierte Autopsie
365
tiger waren als das lediglich rudimentäre Ausbildungsprogramm, das er für Mühlbacher am Institut für Österreichische Geschichtsforschung vorsah: „Ich denke, dass man gerade hier [in der Regestenarbeit, D.S.] durch die Arbeit selbst am besten lernt, was man für die Arbeit braucht.“171 Auch Fickers Vorgänger Böhmer hatte nur sehr allgemeine Empfehlungen darüber formuliert, wie Regestenauszüge zu erstellen seien: „Urkundenregesten sollen den wesentlichen Inhalt der Urkunden wiedergeben, aber doch auch nicht allzu weitläuftig sein, weil dadurch einerseits die Uebersicht erschwert würde, welche den eigenthümlichen Vorzug der Regesten bildet, und weil es andrerseits zweckmässiger wäre, noch einen Schritt weiter zu gehen, und die Urkunden vollständig abzudrucken. [...] Es ist einleuchtend, daß ein solches Regest für Manches, was in den Urkunden enthalten ist, zugleich erläuternd sein kann, z. B. durch Substituirung der neueren Namen für die alten.“172
Böhmer ließ diesen allgemeinen Richtlinien nur wenige Spezifizierungen zu solchen erläuternden Substitutionen folgen, die die Auflösung der Daten und die Ortsnamen betrafen, ließ aber die übrigen Darstellungsoperationen der Zusammenfassung praktisch unberührt. Er thematisierte sie lediglich als Problem des quantitativen Verhältnisses des Regestentexts zum Quellentext. Ein nicht näher erläutertes „Wesentliches“ sollte Mittelpunkt des Regests sein. Ebenso ließen seine Empfehlungen für Edition und Regest offen, wie ausführlich die Rekonstruktion der Überlieferungswege des handschriftlichen Materials erfolgen sollte. Obwohl Sickel Ficker empfohlen hatte, Mühlbacher ein halbes Jahr ausschließlich an der Institutsausbildung teilhaben zu lassen173 , hielt sich Mühlbacher an Fickers Vorgabe des learning by doing, indem er sich sogleich in das Regestieren stürzte, das ihn während der folgenden fünfzehn Jahre beschäftigen sollte.174 Die Nachbarschaft zu den Mitarbeitern Sickels, die gleichzeitig mit den Vorarbeiten für die Diplomata-Abteilung begannen, eröffnete Mühlbacher viele Lernmöglichkeiten und nötigte ihn gleichzeitig, sein Verzettelungssystem auf die Standards von Sickel abzustimmen.175
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se abgehen sollten.“ Julius Ficker an Theodor Sickel, 22.11.1874 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 47–49, hier 47r. Julius Ficker an Theodor Sickel, 22.11.1874 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 47–49, hier 47r. Böhmer: Ansichten über die Wiedergabe handschriflicher Geschichtsquellen, S. 135. Böhmer selbst bezog sich in seiner Arbeit auf die von Pertz formulierten allgemeinen Richtlinien der Monumenta Germaniae Historia. Böhmer: Regesta chronologicodiplomatica [. . . ] inde a Conrado I. usque ad Heinricum VII, S. VII; ders.: Plan des Unternehmens, S. 788–806. Theodor Sickel an Julius Ficker, 02.12.1874 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 42–44, hier 44v. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 24.11.1874 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 88+a; 08.08.1874, ebd., Bogen 89+a, hier 89. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 24.11.1874 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker:
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7. Textualisierte Originale: Editorische Objektkonstituierung
Wie wohl niemand zuvor verschaffte sich Mühlbacher in ausufernder Arbeit einen Überblick über bereits erschienene Editionen und Regesten seines Materials176 . Die langwierige Durcharbeitung von schwer erhältlichen Druckwerken, die Mühlbacher in einer bibliographischen Kartei, den sogenannten „Bücherzetteln“ dokumentierte177 , hatte eine ungleichmäßige Erfassungstiefe mit sich gebracht, die Mühlbacher ausbessern wollte, indem er „auf Regesten Jagd“178 machte, weil diese in der Regel in größerem Umfang als Editionen ältere Druckwerke verzeichneten.179 Nach drei Jahren häuften sich bereits Nachweise aus 800 Regestenwerken und Editionen, hinzu kamen Periodika und weitere Sekundärliteratur, die durchgearbeitet werden mussten, sowie Urkundenerwähnungen und -zitate in erzählenden Quellen.180 Die Standardisierungsverfahren der Wiener Diplomata-Abteilung und der von Mühlbacher bearbeiteten Regesta Imperii wiesen einige zentrale Gemeinsamkeiten auf. Erstens lernten die Mitarbeiter am Institut eine Vielzahl differenzierter Arbeitselemente herzustellen, die die eigentliche Edition oder Regestierung auf systematische Weise181 umgaben. Diese Arbeitselemente entstanden im Wesentlichen aus textuellen Operationen, die nicht nur die einzelnen Quellen, sondern auch Empfängergruppen und editorische Überlieferungszusammenhänge ausloteten. Gegenüber den heterogenen Arbeitselementen, die beispielsweise an das Schweizerische Urkundenregister gesandt worden waren oder die in den 1850er Jahren aus der Provinz zu den Monumenta graphica gelangten, zeichneten sich diese Schriftgutbeschreibungen durch eine stärkere Systematizität und einen signifikant höheren Grad der textuellen Organisation auf. Wie Sickels Instruktionen, aber auch die Beiträge zur Urkundenlehre zeigen, die er und Ficker in den
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178 179
180 181
Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 88+a; Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 08.12.1874 aus Wien, ebd., Bogen 89+a, hier 89; Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 08.01.1875 aus Wien, ebd., Bogen 71+a, hier 72; Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 27.11.1875 aus Wien, ebd., Bogen 47+a, hier 47a. Während sich das Institut nur am Rand mit erzählenden Quellen befasste, hatte es Mühlbacher als Regestenmacher der Regesta Imperii mit unterschiedlichsten Quellensorten zu tun. Sein wissenschaftlicher Austausch mit den Kollegen am Institut bezog sich aber vor allem auf die Urkunden. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 28.12.1874 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker, Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 92+a, hier 92; 07.03.1975 aus Wien, ebd., Bogen 73+a–e, hier 73d. 01.11.1875 aus Wien, ebd., Bogen 51; 11.11.1877 aus Wien, ebd., Bogen 115. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 18.06.1875 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 79+a, hier 79a. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 18.06.1875 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 79+a, hier 79a; 22.03.1877 aus Wien, ebd., Bogen 98+a+b; 04.05.1877 aus Wien, ebd., Bogen 99+a, hier 13.09.1877, ebd., Bogen 110; 11.11.1877, ebd., Bogen 115. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 11.11.1877 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 115. Vgl. Sickel: Programm und Instructionen, S. 447f.
7.6 Serialisierung und textualisierte Autopsie
367
1860er bis 1880er Jahren veröffentlichten, entstand hier ein Textgenre, das die schließlich in die Editionen eingebrachten Informationen in seinem Umfang bei weitem überstieg.182 Diese ergänzendenden Texte, die in ihrer Detailliertheit für Urkunden erstmalig waren, erforderten ein Auge für kleinste Differenzen und eine große Vertrautheit mit dem historischen Wandel der Urkundenformen. Die neuen Textformen stellten die Schriftgutproduktion und -überlieferung in den Mittelpunkt und erzählten eine Geschichte der „Archivkörper“183 . Die diplomatische Untersuchung machte so nur noch im seriellen Zusammenhang – etwa nach Empfängergruppen, Ausstellern oder Urkundenformen – Sinn.184 Textualisiert wurden aber auch die äußeren Merkmale von Urkunden wie etwa die Beschaffenheit der Beschreibstoffe oder die Befestigungsweisen von Siegeln. Selbst die Transkriptionen und Faksimiles mussten durch Erläuterungen ergänzt werden185 . Verzeichnisse, Register und Tabellen erschlossen die Einzelbeschreibungen außerdem einer systematisch vergleichenden diplomatischen Kritik. Auch sie mussten gelernt werden: So konnte Mühlbacher unter der Anleitung Sickels „Register machen lernen“186 , als er von diesem für umfangreiche Ordnungsarbeiten für die Diplomata herangezogen wurde. Das Registermachen wuchs sich in hilfswissenschaftlichen Zusammenhängen zu einem Expertisegebiet von eigener Berechtigung aus187 und erhöhte ebenfalls in großem Maß die Aufmerksamkeit für Verweisverläufe. Dem autoptischen Blick auf die Quelle wurden so vielfache Schichten begleitender Arbeitselemente vor- und nachgelagert, die ihn erst zu einem Instrument spezialisierter Forschung machten. Sickel orientierte sich mit seiner konsequenten Forderung nach der Rekonstruktion der Überlieferungs- und Abhängigkeitsverhältnisse der Urkunden möglicherweise am stemmatischen Vorgehen, das mit dem Namen des Philologen Karl Lachmann verbunden ist. Lachmann hatte Sickel persönlich betreut, weil er aus Studien- und Kriegszeiten mit Sickels Vater befreundet war.188 Sickel hatte von ihm, wie er in einem autobiographischen Fragment schrieb, ganz allgemein „Methode“189 gelernt. Damit hätte Sickel die Rekonstruktion von Überlieferungsstammbäumen von den narrativen auf 182
183 184 185 186 187 188 189
„[D]enn für den Herausgeber der Diplome ist es leichter, von allzu grosser Genauigkeit seiner Gehülfen abzusehen und überflüssiges zu streichen, als erst neue Erkundigungen einzuziehen, wenn sich ihm Fragen oder Zweifel aufdrängen.“ Sickel: Programm und Instructionen, S. 482. Sickel: Programm und Instructionen, S. 434. Beispielhaft durchgeführt in Sickel: Ueber Kaiserurkunden in der Schweiz. Sickel: Programm und Instructionen, S. 473–480. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 01.11.1875 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 51; 04.07.1875, ebd., Bogen 77. Sickel: Programm und Instructionen, S. 436–439. Sickel: Entwurf zu dem Anfang einer Selbstbiographie, in: Erben: Theodor Sickel, S. 161– 166: 163f. Sickel: Entwurf zu dem Anfang einer Selbstbiographie, in: Erben: Theodor Sickel, S. 161– 166: 163f.
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7. Textualisierte Originale: Editorische Objektkonstituierung
urkundliche Quellen übertragen, noch bevor die konsequente Anwendung der mit diesem Vorgehen verbundenen Prinzipien in die Scriptores-Edition der Monumenta Germaniae Historica Eingang gefunden hatte.190 In seinen diplomatischen Schriften bezog sich Sickel allerdings nicht explizit auf seinen Universitätslehrer Lachmann, sondern schloss vielmehr explizit an vielfältige diplomatische – nicht philologische –Wissensbestände an. Zweitens setzte sich die Aufmerksamkeit für mittelalterliche Tradierungen in einem Interesse für die neuzeitlichen Überlieferungen der älteren Urkunden fort. Die Mitarbeiter lernten, ältere Urkundenabschriften und Druckwerke unter zahlreichen Gesichtspunkten zu zerlegen und damit deren Geschlossenheit als unhinterfragte Arbeitsinstrumente aufzubrechen. Die Erschließung dieser älteren Arbeitselemente wurde nun soweit systematisiert, dass die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den verschiedenen Druckwerken regelmäßig in einer Weise aufgenommen wurden, die – auch hier – den stemmatischen Aufarbeitungen mittelalterlicher Handschriften ähnlich war.191 Die umfassende Demontage der älteren Bearbeitungen äußerte sich in einer weitreichenden Problematisierung der überlieferten Angaben von Datum, Echtheit oder äußeren Merkmalen. Sie verstärkte und legitimierte im gleichen Zug das nun umfassende Autopsiepostulat. Diese Beschäftigung mit der jüngeren Überlieferung mündete drittens in eine eingehende Kritik der Forschungspfade der jüngsten Forschung. Sie richtete sich vor allem auf die Monumenta Germaniae Historica, aber auch auf die Materialien von Kollegen wie Karl Friedrich Stumpf-Brentano, die ihr Material teilweise zur Verfügung stellten.192 Die Wachsamkeit gegenüber den gewachsenen Infrastrukturen der Forschung führte viertens zu einer Reflexion und Historisierung der eigenen Forschungswege. Die Forschungsunterlagen, die die Mitarbeiter untereinander austauschten, waren immer von präzisen Informationen über ihr Zustandekommen begleitet.193 So überließ Sickel Mühlbacher im Jahr 1875 eine Anzahl eigener Arbeitsnotizen, versah sie aber mit dem Hinweis, „dass seine Notaten von sehr verschiedenem Werte seien, da er sie zu verschiedenen Zeiten u[nd] von verschiedenen Gesichtspunkten gemacht“.194 190
191
192 193
194
Sickel äußerte sich ambivalent über die „strengsten Anforderungen“ Lachmanns, denen er nicht genügt habe. Sickel: Entwurf zu dem Anfang einer Selbstbiographie, in: Erben: Theodor Sickel, S. 161–166: 163. Sickel verlangte nicht eine vollständige Aufzählung von Drucken in Regesten, aber die „Werthbestimmung der einzelnen Drucke“ in ihrem Verhältnis zueinander. Acta regum et imperatorum Karolinorum, Hrsg. Sickel, S. 420f. Vgl. zum Einbezug von Arbeitsunterlagen (Empfänger- und Druckverzeichnissen) Stumpfs: Sickel: Programm und Instructionen, S. 435. Am dichtesten dokumentiert im Briefwechsel Mühlbacher – Ficker. Vgl. die Einzelnachweise in den folgenden Fußnoten. Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker; Archiv IfÖG NL Mühlbacher: Julius Ficker an Engelbert Mühlbacher. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker aus Wien, 17.04.1875, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 82. Vgl. auch Julius Ficker an Theodor Si-
7.6 Serialisierung und textualisierte Autopsie
369
Die einzelne Quelle und ihre Verbünde in Gruppen und Serien kamen durch diese Verfahren als „mikrologisch“ erforschbare kleine Universen in den Blick. Der insgesamt höhere Grad an Standardisierung, der damit erreicht wurde, führte aber nicht dazu, dass die Forschungskontingenzen zum Verschwinden gebracht worden wären. Die Beschäftigung mit kleinsten Unterschieden zwischen Quellen – für die Datierung und Beurteilung von Urkunden und Manuskriptversionen von größter Bedeutung – erhöhte im Gegenteil potentiell die Bedeutung des personengebundenen, impliziten Erfahrungswissens. Als Julius Ficker 1878 an Kaiserregesten des 12. und 13. Jahrhunderts arbeitete, trug ihm Sickel eine Arbeit zu einer bis dahin unbekannten „Art Kanzleiordnung“195 Friedrichs II. an, die sie beide gemeinsam durchführen könnten, für die aber Fickers Spezialkenntnisse der Ära Friedrichs II. nötig wären: „Soweit es sich um allgemeine Kenntniß des Urkundenwesens handelt, hat sich uns das Verständniß wohl vielfach erschlossen. Aber man muß in der Atmosphäre Friedrichs leben, um den Sinn aller Stellen zu erfassen und diese zu curiren. Da wären Sie der rechte Mann dazu.“196
Ficker schrieb zurück, er habe keine Zeit, weil er seine Regestenarbeit im Moment auf keinen Fall unterbrechen dürfe, denn „[...] für das mühevolle Einreihen der undatirten Briefe ist unbedingt nöthig, das alles Vorhergehende im Gedächtnisse ist“.197 Er insistierte aber trotzdem darauf, dass Sickel ihm sofort einer Abschrift der Kanzleiordnung zusandte, damit er die Quelle vor dem Hintergrund seiner gegenwärtigen Arbeit zumindest zu datieren versuchen konnte. „Nach einiger Zeit, wenn ich mit ganz anderen Partien der Regg. [Regesten, D.S.] beschäftigt bin, werde ich schwerlich selbst noch im Stande sein, solche Fragen mit derselben Sicherheit zu beurtheilen wie jetzt.“198 Das „Atmosphärische“, das Sickel ansprach, entstand aus einer temporären Verdichtung des Wissens, die nicht formalisiert werden konnte und umso wichtiger wurde, wenn es bei der historischen Kritik um die Wahrnehmung kleinster Unterschiede unterhalb der Ebene historischer Sinnbildung ging. Hier kamen Wissensformen ins Spiel, die als „Gefühl“ aufgrund von Erfahrung angesprochen werden konnten.199 So führte Sickel für eine umstrittene Urkunde an, dass sich die Echtheit am „stilistischen Gepräge“ festmachen
195 196 197 198 199
ckel, 22.02.1878 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel, Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 77f. Theodor Sickel an Julius Ficker, 19.02.1878 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 71–73, hier 73v. Theodor Sickel an Julius Ficker, 19.02.1878 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 71–73, hier 73v. Julius Ficker an Theodor Sickel, 22.02.1878 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 77f., hier 77r. Julius Ficker an Theodor Sickel, 22.02.1878 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 77f., hier 77v. Vgl. Saxer: Geschichte im Gefühl.
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7. Textualisierte Originale: Editorische Objektkonstituierung
ließe, das sich „leichter herausfühlen als darlegen“ lasse. Er fügte an: „Aber hoffentlich genügt Ihnen, wenn ich mich hier auf mein Gefühl berufe.“200 Diese Effekte impliziten Wissens waren auch für die Transkriptionspraxis der Mitarbeiter bedeutsam. Diese war zwar von Sickel in den Grundzügen festgelegt worden, war aber immer noch auf das Urteil der Mitarbeiter vor Ort angewiesen, die Emendationen und Vereinheitlichungen vornahmen, ohne diese immer im Einzelnen zu dokumentieren.201 Auch die Auswahl von Arbeitsmaterialien vor Ort, die die Mitarbeiter aufgrund situativer Umstände trafen, wies Ermessensspielräume auf. Für die Auswahl und Behandlung von Urkunden, älteren Katalogen und älteren Druckwerken spielten überdies die lokalen Quellenverwalter weiterhin eine große Rolle, die Einfluss auf die Arbeitspraxis nahmen und die Vorauswahl und Bearbeitung historischen Materials prägten, ohne dass dies ausgewiesen wurde.202
7.7 „Revisilust“: Problematisierungs- und Schließungsprozesse Der begeisterte Institutsneuling Engelbert Mühlbacher beschrieb 1874 die Arbeitsstimmung an seinem neuen Arbeitsort mit der Wortschöpfung „Revisilust“.203 Mit dem Ausbau der Verzeichnungskriterien und -regeln, wie er am Institut für Österreichische Geschichtsforschung betrieben wurde, wurden die entsprechenden Arbeitselemente – die Verzeichnungszettel, Transkriptionen und Faksimiles – beweglicher und vielseitiger einsetzbar. Sie führten zu einer neuen Kombinatorik des Quellenmaterials, die es vereinfachte, verschiedene Forschungshypothesen gleichzeitig zu verfolgen. Die mobilisierten und standardisierten Arbeitselemente wurden von einem Publikationsstil begleitet, der diese Beweglichkeit und Detailliertheit nachahmte: Die hilfswissenschaftlichen Publikationen Fickers und Sickels zeichneten sich durch 200
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202
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Theodor Sickel an Julius Ficker, 26.01.1869 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 19–21, hier 20r. Vgl. auch Mühlbacher, der davon sprach, dass das „für den einzelnen Fall specielle herauszufinden, fast möchte ich sagen, herauszufühlen“ sehr schwierig sei. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 07.03.1875 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 73+a–e, hier 73a. Vgl. Emil Ottenthal an Theodor Sickel, 16.11.1877 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Emil Ottenthal an Theodor Sickel, fol. 14; Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 02.06.1875, Archiv IfÖG, NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 78. Vgl. die Briefe von Emil von Ottenthal an Theodor Sickel und von Alfons Dopsch, Michael Tangl und Hans Hirsch an Engelbert Mühlbacher, einzelne Beispiele auch in Kap. 3. Archiv IfÖG NL Sickel: Emil von Ottenthal an Theodor Sickel; Archiv IfÖG, NL Mühlbacher: Alfons Dopsch an Engelbert Mühlbacher; Michael Tangl an Engelbert Mühlbacher; Hans Hirsch an Engelbert Mühlbacher. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 08.12.1874, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 89+a, hier 89.
7.7 „Revisilust“: Problematisierungs- und Schließungsprozesse
371
eine große Genauigkeit der Durchführung und durch eine Schreibweise aus, die minutiös argumentierte und die Leser auf den verschlungenen Forschungspfaden von Teilergebnis zu Teilergebnis lotste und oft im Gestus einer ostentativen Vorläufigkeit daherkam.204 Beteiligte Akteure empfanden diese Vervielfachung von Problemen und Forschungsfragen als eigentlichen Forschungssprung, der eine zuweilen als problematisch empfundene Spezialisierung mit sich brachte.205 Besonders die terminologische Erfassung der urkundlichen Quellen war zu Beginn der 1870er Jahre sehr uneinheitlich und gestaltete sich noch schwieriger, als durch neuere Forschungen weitere Differenzierungskriterien hinzukamen. An diese umfassende Quellenproblematisierung schlossen sich neue Schließungsansprüche an: Der Wiener Forschungsverbund arbeitete mit seinen Regesten und Editionen auf Arbeitsergebnisse hin, die neue Forschungsgrundlagen bieten sollten. In diesem Prozess galt es, Resultate zu schaffen, die als Akkumulation neuer Forschungsfakten für die Forschungsgemeinschaft unhintergehbar wurden. Ficker und Sickel arbeiteten deshalb intensiv daran, durch eine gültige Terminologie ihre Erfassungsarbeiten zu vereinfachen und die Ergebnisse zu vereinheitlichen.206 Diese Neuerungen waren nicht von übergeordneten historiographischen Fragestellungen bestimmt, sondern entstanden aus praktischen Problemen der Quellenbearbeitung, wie der Umgang mit der Fälschungsproblematik besonders deutlich zeigt. Fälschungen bildeten zunächst Störungen der Editions- und Regestentätigkeit; sie durchkreuzten die historische Tatsachenfeststellung, der sich die Regesta Imperii und die Diplomata-Edition mit ihrer chronologischen Ordnung verschrieben hatten. Mühlbacher befürchtete sogar, dass die Darlegung der diplomatischen Einzelheiten von Fälschungen in den Anmerkungen seinen Regesten einen zu großen Teil seines Honorars in Anspruch nehmen würde.207 Unechte Quellen drohten in dieser Perspektive 204
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Vgl. Sickel: Beiträge zur Diplomatik I–VIII; Ficker: Beiträge zur Urkundenlehre. Vgl. dazu Julius Ficker an Theodor Sickel, 08.01.1877 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 66f., hier 66rv. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 2402.1877 aus Wien, IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 203; Julius Ficker an Theodor Sickel, 25.10.1877, IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 71f. Die diplomatischen Diskussionspunkte zu den Terminologien und Vorgehensweisen der Edition finden sich in besonderer Dichte zwischen 1875 und 1882 im Briefwechsel zwischen Julius Ficker und Theodor Sickel und in den Briefen von Mühlbacher an Sickel. Vgl. z. B. zu „Protokoll“, „Formular“ und „Akt“: Julius Ficker an Theodor Sickel, 05.04.1875 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 52f., hier 52rv.; Theodor Sickel an Julius Ficker, 19.04.1875 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker, Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 45f., hier 45r–46r. Zur Vereinheitlichungsproblematik: Julius Ficker an Theodor Sickel, 05.04.1875, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 52f., hier 52r; Theodor Sickel an Julius Ficker, Archiv IfÖG NL Ficker: Theodor Sickel an Julius Ficker, 19.04.1875, fol. 45f., hier 45r. Mühlbacher bot sogar an, die eingehende Diskussion einiger Fälschungsprobleme aus
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7. Textualisierte Originale: Editorische Objektkonstituierung
die eigentlichen Regesten, die tatsächlich Geschehenes belegen wollten, zu überwuchern und Ressourcen an sich zu binden, die ihnen als falsche Spuren der Geschichte nicht zukamen. Gleichzeitig wurden Fälschungen aber auch zum Ausgangspunkt einer ganzen Reihe von Versuchen, das Verständnis der Produktionsbedingungen von Urkunden zu vertiefen. Als Julius Ficker und Theodor Sickel 1865 zueinander Kontakt aufnahmen, zeichnete sich bald ein Problembereich ab, der beide Historiker gleichermaßen beschäftigte: die Beurteilung der sogenannten „Kanzleimäßigkeit“ von Urkunden, ihrer formalen Regelmäßigkeit, gegenüber den Rechtsinhalten, die sie dokumentierten. Johann Friedrich Böhmer hatte angenommen, dass die Reichskanzlei bereits im Früh- und Hochmittelalter ein konsistentes Register geführt hatte. Auch sein Schüler Karl Friedrich Stumpf-Brentano ging davon aus, dass der persönliche Stil der Kanzler deshalb ein Echtheitskriterium sei. Maßstab aller Beurteilung war das chronologisch-geographische „Gerippe“208 des urkundlich belegten Herrscheritinerars, in das sich die Datierungen neu entdeckter Urkunden einfügen mussten. Aufgrund dieser Hypothese beurteilte Stumpf-Brentano in seinen „Reichskanzlern“ eine große Anzahl von Urkunden als unecht, die früher als echt gegolten hatten.209 Ficker hingegen entdeckte in seinen rechtsgeschichtlichen Arbeiten210 immer mehr Widersprüche zwischen Inhalten und Formen von Urkunden. Insbesondere machte er aufgrund einer eingehenden Beschäftigung mit den Zeugen der Beurkundung auf sich nicht in das Itinerar einfügende Datierungen von Urkunden aufmerksam, die er trotzdem für echt hielt.211 Deshalb beschäftigte er sich ab 1875 intensiv mit den Beurkundungsvorgängen, für die er immer stärker zwei unterschiedliche Zeitpunkte als relevant erachtete: das Actum, die rechtliche Transaktion, und das Datum, die Urkundenausfertigung.212 Mit der Unterscheidung ergab sich eine ganze Reihe von Differenzierungen für unterschiedliche Formen und Stadien der Beurkundung, die er in seinen „Beiträgen zur Urkundenlehre“ 1877–1878 vorlegte. Dagegen wurden frühere Indizien für Fälschungen entwertet und
208 209
210
211 212
der Regestentätigkeit auszugliedern, um dem Regestenfonds Geld zu sparen. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 01.03.1875 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker, Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 75. Böhmer: Regesta chronologico-diplomatica [. . . ] inde a Conrado I. usque ad Heinricum VII, , S. XIV. Böhmer: Regesta chronologico-diplomatica [. . . ] inde a Conrado I. usque ad Heinricum VII, S. VIII; Stumpf : Reichskanzler, Bd. I, bes. S. 9–11, 18; vgl. Rosenmund: Die Fortschritte der Diplomatik, S. 48–57. Zu Fickers Selbstverständnis als Rechts- und Reichshistoriker: Julius Ficker an Theodor Sickel, 14.02.1866 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 5; 28./21. Januar 1869 aus Innsbruck, ebd. fol. 21–23, hier 21r, 23r; 25.01.1873 aus Innsbruck, ebd., fol. 30f., hier 30r; 03.03.1877 aus Innsbruck, ebd. fol. 69f., hier 69rf. Ficker: Abhandlung über einige Urkunden Friedrichs II, S. 296–298; vgl. zur Itinerarproblematik Ficker: Beiträge zur Urkundenlehre, Bd. 1, bes. S. 1–5. Ficker: Beiträge zur Urkundenlehre, Bd. 1, S. 60–266.
7.7 „Revisilust“: Problematisierungs- und Schließungsprozesse
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die „Unregelmässigkeiten unter kaiserlichem Siegel“213 herausgearbeitet. Sickel kam in seinen „Acta Karolinorum“ zu ähnlichen Ergebnissen. Er steuerte vor allem seine Kenntnisse der äußeren Merkmale, besonders aber der Schreiberhände, zur Diskussion verdächtiger Urkunden bei.214 Während der ersten Diskussionen um die Fälschungsproblematik beschränkte sich die Zusammenarbeit zwischen den beiden Forschern, die aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln auf ähnliche Probleme gestoßen waren, auf einen lockeren Austausch im Hinblick auf einzelne Publikationen.215 Für den – in den Grundzügen vertraglich festgelegten – Austausch der Arbeitsmaterialien zu den Editionen und Regesten stellten divergierende Echtheitseinschätzungen aber bald ein Problem dar, da Fälschungen und Kopialüberlieferungen enttarnt und in ein Ableitungsverhältnis zur Originalurkunde gestellt werden mussten. Am schwierigsten zu bewältigen war die Beurteilung der einzelnen Urkunden im Kontext komplexer Überlieferungssituationen, in denen Nachherstellungen aller Art ein schwer durchschaubares Gefüge bildeten. Ficker, Sickel und Mühlbacher diskutierten deshalb in der zweiten Hälfte der 1870er Jahre und in den 1880er Jahren in engem Austausch mit den anderen Mitarbeitern am Institut zahlreiche derartige Probleme. Diese Diskussionen erreichten in den Jahren 1875 bis 1880 ihre größte Dichte, als die editorischen Projekte noch in vielen Aspekten ergebnisoffen waren. Durch den Abstimmungsbedarf der Editionsprojekte waren die Historiker gezwungen, ihre Kontroversen wieder zu schließen. Anhand der diplomatischen Bestimmung einer Notitia Otto I. aus dem Jahr 972, deren Abschrift Sickel Ficker zukommen ließ, lässt sich ein solcher Problematisierungs- und Schließungsverlauf im Einzelnen nachvollziehen. Es handelte sich um eine Variante einer bereits von Karl Friedrich Stumpf-Brentano verzeichneten Urkunde aus Chur, deren Verhältnis zum bekannten Original näher beschrieben werden musste. Bei der Bestimmung arbeiteten sich die beiden Forscher gegenseitig zu: Sickel brachte in die Bewertung des Stücks, das 1875 unter komplizierten Umständen aufgetaucht war216 , die genaue Kennt213 214 215
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Julius Ficker an Theodor Sickel, 03.01.1876 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 60–62, hier 62r. Sickel: Acta regum et imperatorum Karolinorum, Bd. I, S. 235–237. Julius Ficker an Theodor Sickel, 05.01.1869 (verschrieben in 1868) aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 18f.; 28./31.01.1869 aus Innsbruck, ebd., fol. 21–23; Theodor Sickel an Julius Ficker, 26.02.1869, Archiv IfÖG, NL Ficker: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 19–21. Vgl. Ficker: Ueber das Eigentum des Reichs am Reichskirchengute. Die Überlieferung dieser Urkunde ist beispielhaft für den überaus verbreiteten antiquarischen Handel mit Urkunden und anderen historischen Objekten im 19. Jahrhundert: Die Quelle kam nach der Versteigerung des gräflich Wolkensteinischen Archivs in Rodenegg in Tirol zunächst zu einem Antiquitätenhändler, der sie anschließend dem Germanischen Museum in Nürnberg verkaufte, welches Sickel die Urkunde 1875 zur Einsicht überließ. Sickel: Ueber Kaiserurkunden in der Schweiz, S. 41f.
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7. Textualisierte Originale: Editorische Objektkonstituierung
nis der unterschiedlichen Schreiberhände und anderer äußerer Merkmale ein und schloss auf dieser Grundlage aus, dass das Schriftstück gänzlich von der Kanzlei Otto I. ausgefertigt worden sei.217 Dagegen konzentrierte sich Ficker auf die inneren Merkmale; er deutete das Stück aufgrund des Vergleichs mit ähnlichen Quellen als „Protokoll“218 , das heißt in seiner damaligen Terminologie als schriftliches Festhalten einer Rechtshandlung. In seiner Abhandlung „Ueber Kaiserurkunden aus der Schweiz“, die er wenige Monate später veröffentlichte, legte sich Sickel bei der Umschreibung der fraglichen Quelle noch nicht fest.219 Er fragte sich zu diesem Zeitpunkt noch ratlos in einem Brief: „[W]as ist nun die neue aufgefundene Urkunde“?220 Aber bereits in seinem nächsten Beitrag nahm Sickel die Anregung seines Kollegen auf, die unterschiedlichen Phasen der Beurkundung stärker zu berücksichtigen. Er kam nun auf der Grundlage einer mit Ficker gemeinsam entwickelten These zu dem Schluss, dass die Urkunde eine mit dem Original „gleichzeitige und auch amtliche Aufzeichnung in Urkundenform“ sei, die er eine „notitia inquisitionis“ nannte.221 Wie dieses Beispiel zeigt, trugen die Abstimmungsbemühungen zu einer Erweiterung der Beurteilungskriterien und zu Begriffsbildungsprozessen bei. In der Edition schließlich erschien die Quelle der Auffassung Sickels folgend eingedeutscht als „Aufzeichnung“222 , womit die Diskussion wieder geschlossen wurde. Ein wichtiger Zielpunkt von Schließungsprozessen war häufig die Datierung, die in vielen Fällen umstritten war. Als Mühlbacher an einer Arbeit zur Datierung der Urkunden Lothars I. schrieb, wurde er auch nachts von Da217 218
219 220
221
222
Theodor Sickel an Julius Ficker, 07.01.1876 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker, Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 56f., hier fol. 56r–57r. Julius Ficker an Theodor Sickel, 03.01.1876 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 60–62, hier 60rf. u. 62rf. Später wechselte Ficker nach eingehender Diskussion mit Sickel auf den Begriff des „Akts“. Vgl. Ficker: Beiträge zur Urkundenlehre Bd. I, S. 340–360. Sickel hielt lediglich fest, dass sie früher als identisch mit dem bereits bekannten Original betrachtet worden sei. Sickel: Ueber Kaiserurkunden in der Schweiz, S. 29. Theodor Sickel an Julius Ficker, 24.01.1877 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 60f., hier 60v. Vgl. Theodor Sickel an Julius Ficker, 29.12.1876 aus Wien, ebd., fol. 58f., hier 58rf. Sickel kam auf Grundlage einer mit Ficker gemeinsam entwickelten Hypothese über einen dem Schriftstück zugrunde liegenden, nicht erhaltenen Vorakt zu dieser Bezeichnung. Sickel: Beiträge zur Diplomatik VI, S. 400–427, hier S. 422. Vgl. Theodor Sickel an Julius Ficker, 29.12.1876 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 58f., hier 58rf. Sickel näherte sich grundsätzlich der Annahme Fickers an, es seien in vielen Fällen vor der Urkundenausfertigung Konzepte verfasst worden. Theodor Sickel an Julius Ficker, 19.02.1878 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 71–73, hier 73r. Vgl. Ficker: Beiträge zur Urkundenlehre, Bd. 1, S. 340– 360 (Akte), Bd. 2, S. 23–58 (Konzepte). Sickel: Beiträge zur Diplomatik VI, S. 419f. Die Aufzeichnung wurde von Sickel als Variante unter der gleichen Nummer wie die bereits bekannte Urkunde in die Diplomata-Edition aufgenommen: MGH DD 1, 419a, S. 571.
7.7 „Revisilust“: Problematisierungs- und Schließungsprozesse
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ten verfolgt: „Bei der Ausarbeitung träumte ich wie ein gekrachter Börsianer immer von gespensterhaften Ziffern und Zahlen.“223 Die Datierung verortete die Quelle auf einem chronologischen Vektor und bestätigte gleichzeitig ihren Wert als Zeugnis vergangener Wirklichkeit. Irrtümliche Einreihungen von Urkunden in eine Zeitreihe – etwa weil eine Fälschung nicht als solche erkannt worden war – waren deshalb der Albtraum der Urkundenforscher. An die zeitliche Einordnung schlossen sich die Schließungsprozesse der eigentlichen Textualisierung durch Edition und Regest an, die verschiedene Operationen von abgestufter Formalisierung enthielten und zu einer Festigung kontroverser Interpretationen zwangen. Dass die Erstellung des Regestentexts aus einer Darstellungsoperation bestand, war Mühlbacher sehr bewusst. Er übte diese Fertigkeit sorgfältig ein; zu Beginn nahm er sich vor, den „Text, soweit er wesentlich ist, sowie jede Eigentümlichkeit desselben ganz ab[zu]schreiben“224 , um keine vorschnelle Festlegung zu begehen. Aber auch hier blieb mit dem „Wesentlichen“ ein wichtiges Regulativ im Spiel, das weder ausgeschaltet noch ganz rationalisiert werden konnte. Ähnlich verhielt es sich mit den Schließungen in Editionen, in die vielfache forscherische Vorentscheidungen eingingen, die nicht durchwegs kenntlich gemacht wurden. Sickel begann 1878, ein erstes Heft der Diplomata-Edition für einen Probedruck vorzubereiten, und stand „unentschlossen vor einer Cardinalfrage“: “Soll ich die Originale Stück für Stück so eingehend beschreiben, dass jedes Merkmal hervorgehoben wird [...]? Das schlimme dabei ist, daß doch z. B. bei Vollziehungsstrich so selten die eine oder die Aussage mit aller Bestimmtheit gemacht werden kann. Ja auch bei der Bestimmung der Dictate u[nd] Schreiber lässt sich nicht in jedem Falle ein sicherer Ausspruch tun. Also neige ich dahin, nur die Besonderheiten der einzelnen Stücke hervorzuheben. Scheint Ihnen das genügend?“225
Ficker riet zu einer Mischform, in der die Schreiber der Originale im Gegensatz zu den „Dictatoren“, den Schreibern der Konzepte, in jedem Fall genannt und bestimmte klare Auffälligkeiten vermerkt werden sollten, während unauffällige und unbestimmbare Varianten unerwähnt bleiben sollten.226 Auf diese Weise wurden in der Edition offene Fragen eingeebnet, so dass weitere Forschungen nur dort selektiv Anschlussmöglichkeiten vorfanden, wo unzweifelhafte Forschungsergebnisse vorzuliegen schienen. Die Forschungspfade, die die Editoren und Regestenmacher einschlugen, standen zwar im Zusammenhang übergeordneter historischer Fragestel223 224 225 226
Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 15.07.1877 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 106+a, hier 106a. Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 24.11.1874 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker, Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 88+a, hier 88a. Theodor Sickel an Julius Ficker, 19.02.1878 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker: Theodor Sickel an Julius Ficker, fol. 71–73, hier 71v. Julius Ficker an Theodor Sickel, 22.02.1878 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 77f., hier 78r.
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7. Textualisierte Originale: Editorische Objektkonstituierung
lungen, wie die Untersuchung der reichsgeschichtlichen Hintergründe der Projekte gezeigt hat. Trotzdem waren sie nicht ausschließlich durch solche übergeordnete Erkenntnisinteressen vorgezeichnet, sondern entwickelten eine ausgeprägte Eigendynamik, die nicht zuletzt in den vielfältigen Anforderungen an praktische und terminologische Anschlussmöglichkeiten in einer arbeitsteiligen, verdichteten Forschungssituation begründet lag. Sie führten laufend zu Schließungsprozessen, in denen terminologische Quellenbestimmungen, Interpretationen und Datierungen wieder vereindeutigt wurden, um den Geltungsanspruch und die Unhintergehbarkeit der Arbeitsresultate zu festigen.
7.8 Mikrologie und Transparenz der Quelle Die Quellenverständnisse, die mit den reichsgeschichtlichen Arbeiten am Institut für Österreichische Geschichtsforschung verbunden waren, bildeten einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung geschichtswissenschaftlichen Arbeitens in der zweiten Hälfte des Untersuchungszeitraums. waren die Projekte am Institut doch editorisch innovativ. Die Scriptores-Editionen der Monumenta Germaniae Historica unter der Leitung Georg Heinrich Pertz’ hatten die textkritischen Prinzipien der vollständigen Handschriftensichtung und der konsequenten Ordnung der Überlieferung nach Abhängigkeiten vom Original oft nicht berücksichtigt und durch die nur teilweise erfolgende Autopsie auch die äußeren Merkmale von Codices vernachlässigt.227 Gerade auf die konsequente Sichtung aller Überlieferungsspuren wurde aber nun großer Wert gelegt, ein Arbeitsschritt, der für spätere Quellenerfassungsarbeiten prägend wurde. Die Arbeiten am Institut bildeten das Vorbild für weitere ähnliche Projekte228 und stellten der Mittelalterhistoriographie neue Forschungsinfrastrukturen zur Verfügung. Entsprechend griff die staats- und politikgeschichtlich ausgerichtete mediävistische Geschichtsschreibung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts in großem Ausmaß auf diese Quellensammlungen zurück; die Annalistik der Jahrbücher des deutschen Reiches beispielsweise konnte von ihnen profitieren. Die beteiligten Akteure verzichteten geradezu programmatisch auf ausgreifende historiographische und allgemeine methodologische Stellungnahmen. Trotzdem erlauben es die Paratexte der Editionen sowie die gegenstandsbezogenen methodischen Überlegungen der Urkundenforscher, deren 227
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Hoffmann: Die Edition, S. 199f., 207, 217. Leider fehlen Vergleiche zwischen den Editionspraktiken anderer großer Editionsreihen und den Editionen der unterschiedlichen Abteilungen der Monumenta Germaniae Historica. Für die Regesta Imperii vgl. Zimmermann: Verschiedene Versuche, S. 10–13; für die Diplomata vgl. Bresslau: Geschichte der Monumenta Germaniae historica, S. 592–594.
7.8 Mikrologie und Transparenz der Quelle
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Herangehensweisen an die Quellenobjekte genauer zu betrachten. Mit der hypothetischen Rekonstruktion des vorgestellten Reichsregisters der deutschen Herrscher nahm der Regestenmacher nach der anfänglichen Ansicht Böhmers gleichsam als Fortsetzer der Kanzler am Bau des als Organismus gedachten Reichs teil. Das Regestieren war in dieser Konzeption Teil einer national aufgeladenen Erinnerungskultur, die sich „das aus den Urquellen hervortretende treue Bild dessen, was unser Vaterland gewesen ist, nun zur Belehrung – oder zum Andenken“229 aneignen sollte. Die organizistische Metaphorik Böhmers fand ihre Entsprechung in der Konzeption des deutschen Rechts als „Lebensprinzip“ der deutschen Geschichte, das den Deutschen „angeboren“230 war. In dieser romantischen Konzeption fielen die Quellen als Rechtszeugnisse und als historische Zeugnisse der res gestae in eins, denn die Rechtszustände erzählten von einer höheren Geschichte des deutschen Lebens. Dagegen standen für Böhmer die Quellen als materielle Objekte und als Schriftträger – als Objekte paläographischer Erforschung – nicht im Zentrum, auch wenn er im Lauf seines Lebens zunehmend Inedita sammelte.231 Der juristischen Tradition folgend ging es ihm bei der Aneignung der Urkunden vor allem um den Quellentext, nicht um das Sachobjekt. Der Rechtscharakter der Urkunden blieb auch für die Urkundeneditoren am Institut für Österreichische Geschichtsforschung zentral. Allerdings spielte die organizistische Quellenmetaphorik, die Böhmers Geschichtsverständnis geprägt hatte, vordergründig keine Rolle mehr. Sowohl für die Diplomata-Edition als auch für die Regesta Imperii unter Ficker stand vielmehr der traditionell im Zentrum der Diplomatik stehende Nachweis der Echtheit des Schriftguts im Vordergrund.232 Hier kamen nun verschiedene Verfahren zum Einsatz, die immer stärker zwischen unterschiedlichen Beurkundungsarten und -phasen, Schreibweisen und Formelverwendungen unterschieden. Die Zahl der urkundlichen Merkmale, die forschungsrelevant wurden, vermehrte sich ständig.233 Alle diese Innovationen waren nur vor dem Hintergrund der verdichteten Arbeitspraxis am Institut denkbar: So war die Herausarbeitung von Formularregularitäten in Empfängergruppen, die für die spätere Entwicklung der Diplomatik wegweisend war, nur als Resultat der neuartigen Ordnung des Untersuchungsmaterials möglich, die Sickel vornahm. Der erfolgreiche Vergleich der Schreibungen wiederum war das Resultat der weitgehenden Autopsie und der Standardisierung der Tran229 230 231
232 233
Böhmer: Vorrede zu den Karolingerregesten, S. XIX. Böhmer: Vorrede zu den Karolingerregesten, S. XVII. Alfred Hessel: Zur Geschichte der Regesten, in: Archiv für Urkundenforschung 10/1928, S. 217–225. Wiederabgedr. in: Zimmermann (Hrsg.): Die Regesta Imperii im Fortschreiten und Fortschritt, S. 63–72: 68. Vgl. von Brandt: Werkzeug des Historikers, S. 101. Im Vordergrund standen die von Ficker erstmals systematisch berücksichtigte Unterscheidung von Actum und Datum, der auf systematisierter Autopsie beruhende, ausgebaute Diktatvergleich und die neuartige Gruppierung nach Empfängergruppen.
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7. Textualisierte Originale: Editorische Objektkonstituierung
skriptionsverfahren im homogenen Verbund der Institutsmitglieder. Solche Neuerungen trugen maßgeblich zur Konjunktur der historischen Hilfswissenschaften als akademische Disziplin im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bei. Parallel zu der zunehmenden Übersicht über Urkundengruppen führte die wachsende terminologische Differenzierung dazu, dass die Forschung „mikrologischer“ wurde und einzelne Quellen über lange Zeit hinweg zu epistemischen Objekten werden konnten. Diese Entwicklung drohte die Quellenarbeit von übergeordneten geschichtswissenschaftlichen Fragestellungen abzukoppeln, wie Julius Ficker in den 1870er Jahren besorgt erkannte. Obwohl er selbst maßgeblich für diese gleichsam mikroskopische Vergrößerung von Forschungsdetails eingetreten war, sah er darin auch einen drohenden Gestaltungsverlust geschichtswissenschaftlicher Arbeit.234 Die ausgesprochen kleinteilige Forschungspraxis des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung wurde seit der Übernahme des Instituts durch Sickel vielfach kritisiert.235 In ihrer Beschäftigung mit Quellendetails, die in ihrem Differenzierungsüberschuss nicht mehr in eine übergeordnete historische Sinngebung eingebunden werden konnten, drängte sie darstellende Synthesen in den Hintergrund.. Andererseits führte die diplomatisch verengte Arbeitsweise geradewegs in eine Bestärkung und Verallgemeinerung eines Quellenblicks hinein, der die Untersuchungsgrundlagen der Geschichtswissenschaft stärker objektivierte und damit grundlegend zum methodischen Gepräge der Geschichtswissenschaft beitrug. Die als einseitig empfundene Beschäftigung mit Urkunden wies nämlich besonders durch die umfassende Historisierung der Überlieferungswege, die sie leistete, über ihre diplomatische Beschränkung hinaus. Als Zeugnisse der res gestae erschlossen die Urkunden vor allem die innere Geschichte, die „inneren Zustände, Verfassung, und Verwaltung, Recht und Sitte, Thun und Lassen des Volkes“236 , wie Mühlbacher schrieb. Diese Perspektive auf eine „innere Geschichte“ lässt sich beispielsweise an der Thematisierung der Reichsverwaltung ablesen, die für die weitere Reichsgeschichte bedeutsam wurde. Die ausgedehnte Untersuchung von Quellengruppen nach Schreibern 234
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Fickers Haltung gegenüber hilfswissenschaftlicher Perfektion war ambivalent. Zum einen erkannte er das Eingehen auf die Formalia der Urkunden als herausragende Innovation der Forschung seit den 1860er Jahren. Julius Ficker an Theodor Sickel, 08.02.1877 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 66f., hier 66rf. Im gleichen Zusammenhang lobte er die „Acta regum et imperatorum Karolinorum“ Sickels. Ficker merkte aber an: „Dagegen wirken die neueren, ins Einzelnste eingehenden, nicht zusammenhängenden und eine umfassendere Beherrschung des Gesammtgebietes voraussetzenden Arbeiten auf Jemanden, der diesen Dingen ferner steht, verwirrend und abschreckend ein.“ Julius Ficker an Theodor Sickel, 25.10.1877, ebd., fol. 71f., hier 71r. S. auch Herman Paul: The Heroic Study of Records. The Contested Persona of the Archival Historian, in: History of the Human Sciences 26(3)/2013: S. 67–83. Mühlbacher: Deutsche Geschichte unter den Karolingern, S. 17.
7.8 Mikrologie und Transparenz der Quelle
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oder Empfängern, die Ficker über die stärkere Problematisierung der Beurkundungsstadien, Sickel aber über die Identifikation von Schreiberhänden betrieb, führte zu einer – zwangsläufig narrativ werdenden – Hypothesenbildung über das Zustandekommen der analysierten Quellen. Die Geschichte der Reichsverwaltung bezog nun mehr Akteure und Handlungsgründe ein als zuvor. So schrieb Sickel über den unter den Initialen W. B. bekannten Schreiber der ersten Zeilen der oben behandelten mysteriösen Churer Urkunde aus dem 10. Jahrhundert, dieser habe eine Urkundenausfertigung begonnen, ohne sie auszuführen: „Es mangelte W. B. an Zeit oder Neigung, die Absicht durchzuführen. Da liess der Bischof das von W. B. begonnene Schriftstück von einem seiner Schreiber [...] weiter concipiren und schreiben. So mangelhaft auch das Elaborat ausgefallen war, so erwirkte doch der Bischof, dass es mit dem kaiserlichen Siegel geschmückt wurde. Konnten doch unter Umständen selbst Privaturkunden in dieser Weise beglaubigt werden.“237
Solche Rekonstruktionsversuche von Verwaltungsabläufen führte zu einer Weiterentwicklung der Reichsgeschichte, die nun viel intrikater als zuvor mit den Quellen selbst verwoben war. Denn die vertiefte Problematisierung der Quellen brachte eine detaillierter aus den Quellen selbst erklärte Umgrenzung dessen mit sich, was als „historisch“238 verstanden werden konnte. So scheint im obigen Zitat die Handlungsbeschreibung direkt aus der festgestellten Beschaffenheit der Urkunden herauszuwachsen. Besonders die Fälschungsdiskussionen, in denen es darum ging, Urkunden für die Geschichte zu retten239 , sind beispielhaft für diese Entwicklung. Indem die formalen Charakteristiken vertieft erfasst und Urkunden auf ihre Echtheit überprüft wurfen, wurde auch der geschichtswissenschaftliche Horizont des historisch „Wesentlichen“schärfer herausgearbeitet und die Quelle als wichtigste Instanz der historischen Aussage aufgewertet. Aus der Bestimmung des „Unwesentlichen“ – im Fall der Urkunde alles Formelhaften und Verfälschten – schälte sich das eigentlich „Historische“ heraus. Diese objektivierende Aufwertung der Quelle lässt sich an der textuellen Gestaltung der Kaiserregesten nachvollziehen, die Mühlbacher anfertigte. Die Ausrichtung am „Wesentlichen“ war für die Regesten unmittelbar gestaltungsbestimmend. Sie hatten sich „auf das sachliche zu beschränken und alles for-
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Sickel: Beiträge zur Diplomatik VI, S. 425. Sickel betonte dies eigens im Zusammenhang der weiter oben erörterten Erforschung der unbekannten Churer Urkunde Otto I. Das Stück sei „ein vollwerthiges historisches Zeugniss für die in ihm berichteten Thatsachen und Handlungen“. Sickel: Beiträge zur Diplomatik VI, S. 426. Diese Rhetorik prägte die zeitgenössische Fälschungsdebatte. So schrieb Ficker, er hoffe, dass eine fragwürdige Urkunde sich als „haltbar“ erweisen werde, „weil dann der Geschichte einige wichtige Quellen wiedergewonnen wären“. Julius Ficker an Theodor Sickel, 28./31.01.1869, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 21– 23, hier 21v.
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7. Textualisierte Originale: Editorische Objektkonstituierung
melhafte bei seite zu lassen“.240 Die Formeln wiederum mussten ebenfalls auf etwaige Komponenten von Nichtformelhaftem hin durchgemustert werden: „Doch hie und da ist in dieselben [die Formeln, D. S.], sobald sie individualisirend dem einzelfall sich anpassen, die eine und andere beachtenswerte notiz eingesprengt wie eine erzader ins gestein.“241 Die Textsorte Regest erlaubte es auf eingängige Weise, auch sprachlich das kostbare Erz des „Individuellen“, „Einzigartigen“ abzulösen vom Trägerstoff der Formeln, womit die Quellen, aus denen diese Informationen stammten, gleichsam transparent wurden. Die Regestierung, die eigentlich aus der Verwaltungspraxis stammte, vermerkte hier nur noch das wesentlich Historische. Auch wenn bereits bei Böhmer diese Selbsterzählung des Historischen aus der Quelle angelegt gewesen war, wurde sie bei seinen Nachfolgern durch die vorangetriebene technische Ausstattung der Quellenkritik viel effektvoller gegenüber dem uneigentlichen Ballast des rein Formalen herausgeschält. Die Objektivierung der historischen Quelle als wichtigste Instanz der historischen Aussage und die damit verbundene Verallgemeinerung des Quellenblicks, der sich auf jedes beliebige Objekt der Vergangenheit richten konnte, wurde hier weit vorangetrieben. Durch die Vertiefung der Quellenkritik mit den technischen Mitteln einer ausgereiften Diplomatik wurde den Quellen in verallgemeinerter Form auch die Gestaltungsmacht zugestanden, den Fortgang der Forschung und Darstellung zu bestimmen. Sie gaben jede Art der Methode vor: „Kenne ich doch überhaupt nur eine Methode, nämlich die, welche mir der Stoff selbst an die Hand giebt. Insoweit der Stoff des 10. Jahrhunderts dem des 9. gleichartig ist, wird er auch in gleicher Weise zu behandeln sein; insoweit er ein anderer geworden ist, wird auch die Art der Behandlung zu modificiren sein.“242
Dieser durch die Quellen vorgegebene methodische Objektivismus, den Sickel an anderer Stelle als streng induktiv243 charakterisierte, wurde mit den Editionsprojekten stoffreich durchexerziert; er gab aber auch die Darstellungsweise in den hilfswissenschaftlichen Publikationen vor, die sich als Stoffbeschreibung darstellte. Dieser Position entsprach auch Fickers Methodologie, die über seine einführende Vorlesung in die Methodik der Forschung, die von Fickers Schülern nicht nur rezipiert, sondern auch in ihre Lehre in Wien übernommen wurde, am Institut für Österreichische Geschichtsforschung von großem Einfluss war. 244 Dieser Objektivismus war 240 241 242 243 244
J. F. Böhmer Regesta Imperii I. Die Regesten des Kaiserreichs unter den Karolingern, Hrsg. Mühlbacher, Vorbemerkungen, S. XXII. Hervorhebung im Original. J. F. Böhmer Regesta Imperii I. Die Regesten des Kaiserreichs unter den Karolingern, Hrsg. Mühlbacher, Vorbemerkungen, S. XXII. Hervorhebung im Original. Sickel: Programm und Instructionen, S. 450f. Sickel sprach von einer Bearbeitung von Diplomen „nach streng inductiver Methode“. Sickel: Beiträge zur Diplomatik VII, S. 644. „Es ist mir selbst oft eingefallen, daß mein Buch mindestens dadurch nützen wird, daß es zeigt, wie wir hier sichere Erkenntniß des Allgemeinen nur durch sorgsamste Beachtung
7.8 Mikrologie und Transparenz der Quelle
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zwar keineswegs eine Erfindung dieses spezifischen Arbeitszusammenhangs. Die erstmals so weit getriebene, mit Mitteln der stark juridisch gefärbten Diplomatik geübte und systematisierte Kritik urkundlicher Quellen trug aber maßgeblich zu seiner Weiterentwicklung bei. Mit der Perfektionierung des Quellenblicks ging eine Veränderung der Subjektposition der Forscher einher. In den Redeweisen von Akteuren im ersten Drittel des Untersuchungszeitraums kann teilweise eine begriffliche Kontinuität zwischen erfassendem Vorgang und durch ein Regest oder eine Edition Erfasstem ausgemacht werden. Böhmers Motto zu seinen berühmten, Schule machenden Kaiserregesten lautete: „Möchte man doch erst die acten vervollständigen, ehe man daraus neu zu referiren oder gar das urtheil zu fällen unternimmt!“245 In dieser Formulierung fällt die fehlende kategoriale Unterscheidung zwischen den zu untersuchenden Objekten – den „Akten“ der Vergangenheit – und dem auf, was der Historiker selber hervorbrachte, nämlich den Regesten. Die regestierende und editorische Arbeit von Historikern erscheint geradezu als Fortsetzung der älteren Schriftgutproduktion, als eine Art Aktenbildung. In diesem inneren Zusammenhang zwischen der quellenordnenden Arbeit der Historiker und ihren Objekten, den Quellen, konnte ein einschneidender Unterschied zur naturwissenschaftlichen Arbeit gesehen werden. Die Quellen waren immer schon fabriziert, ihre Bearbeitung musste damit nicht als absoluter Bruch, sondern konnte als Fortsetzung der älteren Schriftgutproduktion gesehen werden. Damit war auch die Grenze zwischen der wissenschaftlichen Aufnahme der Quellen in Editionen und einem Weiterschreiben der historischen Überlieferung nicht klar gezogen. Diese aus der Sicht späterer Historiker als terminologische Vagheit erscheinende begriffliche Kontinuität war auch an den unscharfen Objektbezeichnungen erkennbar, die von vielen Akteuren des „Schweizerischen Urkundenregisters“ eingesetzt wurden, um die Arbeitselemente zu benennen, mit denen sie umgingen.246 Sie zeigt sich noch an Namensgebungen für neue Editionen des 19. und 20. Jahrhunderts wie „Chartular“ oder „Codex diplomaticus“, die an die mittelalterliche und frühneuzeitliche Schriftgutterminologie anknüpfen und damit die Differenz zwischen der neuen Edition und ihren Objekten zumindest rhetorisch minimal halten. Mit der Verwissenschaftlichung der Editionstätigkeit, wie sie am
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der geringfügigsten Erscheinungen werden gewinnen können und damit auch das von Ihnen eingeschlagene Vorgehen rechtfertigt“. Julius Ficker an Theodor Sickel, 03.03.1877 aus Innsbruck, Archiv IfÖG NL Sickel: Julius Ficker an Theodor Sickel, fol. 69f., hier 69v. Vgl. auch Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, 24.02.1875 aus Wien, Archiv IfÖG NL Ficker, Engelbert Mühlbacher an Julius Ficker, Bogen 68+a+b, hier 68b. Zur Methodologie Fickers vgl. auch Kap. 2. Johann Friedrich Böhmer: Addidamentum primum ad Regesta Imperii inde ab anno MCCCXIIII usque ad annum MCCCXLVII. 1. Erg.heft zu den Regesten Kaiser Ludwigs des Baiern und seiner Zeit, 1314–1347, Frankfurt a. M. 1841, S. VII. Vgl. Kap. 5.5–5.7.
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7. Textualisierte Originale: Editorische Objektkonstituierung
Wiener Institut ab den 1860er Jahren stattfand und ab der Mitte der 1870er Jahren in den großen reichsgeschichtlichen Projekten verwirklicht wurde, stellte sich hingegen eine stärkere kategoriale Unterscheidung zwischen den Quellen und den Produktionen der Historiker ein. Je mehr die Entstehung der Urkunden und deren frühneuzeitliche Überlieferung herausgearbeitet wurden, desto weniger wurde die eigene Tätigkeit in einem Kontinuum mit der früheren Produktion von Schriftlichkeit in Verwaltungszusammenhängen gesehen. Die Radikalisierung der Analyse der Quellenüberlieferung führte zu einer Stärkung des Objektivitätsanspruchs des Forschungssubjekts. Die aus den Urkunden gespeiste Objektivitätsnorm setzte sich in einer neuartig weit gehenden Entkontextualisierung der verwendeten historischen Objekte fort. Die Diplomata-Edition und die Regesta Imperii brachten die Quellen in einen reichsgeschichtlichen Zusammenhang, der erst durch die editorische Abstraktion von anderen, synchronen Quellenbezügen so klar hervortrat. Wie im ersten Unterkapitel deutlich wurde, waren dabei immer auch Vorverständigungen darüber im Spiel, welche Grenzen dem deutschen Reich wesentlich zukamen. Die urkundlichen Quellen wurden dazu lokalen und regionalen archivischen und editorischen Kontexten entnommen. Die partikularen, früheren Kontexte konnten sich infrastrukturell nur noch begrenzt in die neue Umgebung hinüberretten, weil kaum noch Arbeitselemente einbezogen wurden, die man nicht selbst produziert hatte. Außerdem verlangte das Editionskonzept nun, dass die Spuren älterer Überlieferungen nun nicht einfach unterdrückt, sondern als Teil der Quellenkritik in die Forschung einbezogen wurden. In dieser umfassenden Historisierung der Überlieferungswege wurden diese älteren Kontexte aber auch radikal entwertet. Die Forschungspraxis am Institut für Österreichische Geschichtsforschung trug, so lässt sich zusammenfassen, zum methodischen Gepräge der Geschichtswissenschaft des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts bei, indem sie die Quellen, zahlreichen, neuartig systematischen Prozeduren der Objektivierung unterzog. Die vertiefte Problematisierung der Quellen in der „mikrologischen“ Perspektive führte auf den ersten Blick zu einer Verselbständigung der hilfswissenschaftlichen Probleme. Sie brachte auf den zweiten Blick aber auch eine schärfere Abgrenzung dessen mit sich, was als „wesentlich historisch“ verstanden werden konnte und führte damit auch zu einer Transparentwerdung der Quelle. Gerade die anhand der überrestlichen Quellen vorangetriebene Kritik konnte so zu einer stark faktizistischen Spielart des Quellenblicks beitragen. Möglich wurde diese Entwicklung durch die neuartigen Forschungsinfrastrukturen am Wiener Institut, die sich in zirkulierenden Arbeitselementen wie Briefen und Aushängebögen, in gemeinschaftlich annotierten Editionen sowie in einem Apparat materialisierten, der nun aus stärker standardisierten Arbeitselementen bestand und durch eine gleichartige wissenschaftliche Sozialisation verbürgt wurde. Die strukturierte Prüfung der Originale, die nun an die Stelle abschriftlichen Arbeitens trat, kultivierte
7.8 Mikrologie und Transparenz der Quelle
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einen spezialisierten Quellenblick, der einzelne Quellen dauerhaft zu epistemischen Objekten machen konnte. Sie brachte außerdem Analyseraster wie etwa die Ordnung nach sogenannten „Ursprungsgruppen“ oder „Archivkörpern“ hervor, die neue Hypothesen über die sogenannte „innere“ Geschichte des Reiches, insbesondere über die Verwaltungsgeschichte, ermöglichten. Die Arbeit am Original entwickelte sich so als umfassende Textualisierung der Inhalte, formalen Merkmale und Überlieferungswege des Schriftguts. Mit der erhöhten Differenzierung der Erfassung wurden ältere Forschungspfade zunehmend systematisch zurückverfolgt und kritisch zerlegt, aber auch die eigenen Forschungen stärker historisch geordnet. Doch auch hier blieben „verkörpertes Geschick“247 und implizit bleibende Wissensbestände am Werk, die zur geteilten Identität der „Instituts-Genossenschaft“ beitrugen. Allerdings konnten die Akteure vor einem bedeutend homogeneren Wissens- und Erfahrungshintergrund als etwa die Amateurhistoriker des Schweizerischen Urkundenregisters arbeiten und damit ihre Schließungsprozesse umfassender koordinieren. Diese machten aus den rätselhaften urkundlichen Schriftstücken, die am Anfang ihrer Untersuchung standen, ebenso stabile wie bewegliche wissenschaftliche Objekte, auf die die Geschichtswissenschaft fortan Bezug nehmen musste, wenn sie sich mit der Geschichte des mittelalterlichen Reiches befasste. Mit den beiden Projekten erbten die Akteure auch deren reichsgeschichtliche Konzeptionen. Böhmers romantische großdeutsche Reichsvorstellung verband die Hoffnung auf eine katholische Erneuerung und die Zurückweisung liberalen Gedankenguts mit dem Gedanken der Wiederauferstehung des deutschen Reiches. Durch die realpolitische Niederlage der Großdeutschen wurde jedoch dieses politische Aktualisierungspotenzial der Reichsgeschichte vordergründig stillgelegt. Zentral wurde nun für viele Historiker am Institut die deutschnationale Selbstdefinition als Deutsche auf der einen und die Abgrenzung von den katholisch-konservativen Ultramontanen auf der anderen Seite. Der Akzent des Umgangs mit der Reichsgeschichte verschob sich gleichzeitig zu einer Wissenschaftsrhetorik, die augenfällige Aktualisierungen vermied, wie die Paratexte der Editionen und Regesten sowie die ab 1879 veröffentlichte Zeitschrift des Instituts zeigen. Die Prämisse eines kulturell oder ethnisch – organisch verfassten – und oft auch überlegen und abgrenzungsbedürftigen Deutschtums, die sich seit längerem mit verschiedenen Auffassungen von Reichsgeschichte verband, wie auch die Leitkategorie der großen deutschen Herrscherpersönlichkeit wirkten jedoch über die politischen Brüche hinweg weiter. Sie bestimmten die Editionstätigkeit als Deutungshintergrund mit, etwa indem sie an der Neuabsteckung der Untersuchungsbereiche der Editionen nach 1875 beteiligt waren und eine deutschnationalistisch aufgeladene Begriffspolitik begünstigten. 247
Rheinberger: Experimentalsysteme, S. 80.
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7. Textualisierte Originale: Editorische Objektkonstituierung
Diese Konzepte trugen damit zu der großen Kontinuität reichsgeschichtlicher Deutungshorizonte über den Untersuchungszeitraum hinaus bei, die später von „gesamtdeutschen“ Geschichtskonzeptionen der Zwischenkriegszeit aufgenommen und völkisch vereinnahmt wurden. Gegenüber Böhmer, der zur geschichtskulturellen Aktualisierung des Reichsgedankens – zum emphatischen Gedenken – aufrief, verliefen diese Deutungen in den späteren Arbeiten verdeckter. Im technischen Gerüst der Edition verborgen erschienen sie als Bestandteil diplomatischer Überlegungen entpolitisiert und verwissenschaftlicht.
Schluss „Tatsachen scheinen ,auf der Hand zu liegen‘, in Wirklichkeit sind sie das am schwersten zu Erreichende, das letzte Erreichbare überhaupt und neue Methoden finden, heißt eben neue Wege zu den Tatsachen finden. Dem Hunger nach Tatsachen dienen Mikroskop, Experiment und urkundliche Forschung. Je mehr heutzutage die Tatsachen in den Dienst von Theoremen gestellt werden, desto wichtiger ist schlichter Dienst um die Tatsachen.“1
Als der Dekan der philosophischen Fakultät der Universität Wien seinem Kollegen Theodor Sickel 1907 zum achtzigsten Geburtstag gratulierte, pries er zugleich eine geschichtswissenschaftliche Fachrichtung, die ihren Beitrag zur Geschichte in einer immer ausgefeilteren Detailarbeit am historischen Material sah. Die urkundenzentrierte Mittelalterforschung, wie sie am Institut für Österreichische Geschichtsforschung unter der langjährigen Direktion von Sickel betrieben worden war, stellte zu diesem Zeitpunkt einen zunehmend spezialisierten Teilbereich der historischen Forschung dar. Die universitäre Geschichtswissenschaft hatte sich am Ende des 19. Jahrhunderts bis dahin marginale und neue Forschungsbereiche erschlossen und dadurch eine größere Vielfalt an Subdisziplinen zu entfalten begonnen. Dennoch steht die gefeierte Arbeitsweise für eine Forschungshaltung, die weit über den Bereich der Urkundenforschung hinaus die Ethik und Ästhetik der Disziplin nachhaltig prägte und maßgeblich zur epistemischen Schließung des Faches beitrug: „Schlichter Dienst um die Tatsachen“ umschrieb nicht nur die geschichtswissenschaftliche Werthaltung, auf theoretische Ambitionen zu verzichten, sondern beeinflusste auch nachhaltig historiographische Darstellungsformen, die die Ausrichtung an der Tatsache oft in einen lapidaren Schreibstil übertrugen. Während Wissenschaftstheorien am Ende des 19. Jahrhunderts fundamental unterschiedliche Erkenntnisformen der Natur- und der Geisteswissenschaften postulierten und den Geisteswissenschaften damit einen ureigenen Rahmen der Wissensproduktion zuschrieben, sahen sich viele Historiker durchaus im Gleichklang mit den empirischen Zugängen der Naturwissenschaften. Wie die naturwissenschaftlichen Instrumente erlaubte es das Vergrößerungsglas einer spezialisierten Quellenanalyse, historischem Material immer wieder neue Erkenntnisse über historische Tatsachen abzugewinnen. Mit den Naturwissenschaften teilten faktenfokussierte geschichtswissenschaftliche Zugänge auch die Vorstellung einer strengen 1
Die Feier des achtzigsten Geburtstages von Theodor von Sickel (als Manuskr. gedr.),Wien 1906, S. 10.
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Schluss
Empirie, die die Grenzen des Wissbaren, des „letzten Erreichbaren“, immer weiter verschob. Im Gratulationsreigen für den achtzigjährigen Sickel wurde ein wirkungsreiches geschichtswissenschaftliches Selbstverständnis in traditionsbildender Absicht expliziert.2 Sickel, dem sinnigerweise bereits 1886 eine Medaille mit der Inschrift „rerum gestarum investigatori subtilissimo“ zugeeignet worden war,3 mochte als Urkundenforscher eine besonders weitgehende Ausprägung einer spezialisierten Quellenforschung vertreten. Als Zugriffsobjekt und Herzstück faktenzentrierter Zugänge bildete die historische Quelle jedoch weit über dieses Beispiel hinaus die bestimmende Grundlage geschichtswissenschaftlicher Aussagen; sie wurde als höchste Garantin von Authentizität in Szene gesetzt und – wie das zu Beginn des Buches diskutierte Quellengeschenk der Zürcher Antiquarischen Gesellschaft zeigt – zum begehrten Gegenstand bürgerlicher Geschichtskultur und ihres Gabentauschs. Die Studie untersuchte anhand geschichtswissenschaftlicher Arbeitszusammenhänge in der Schweiz und in Österreich, wie die Forschungspraxis zur Etablierung der Geschichte als Disziplin von beträchtlicher gesellschaftlicher Wirkungsmacht beitrug. Damit analysierte sie zugleich den Wandel des geschichtswissenschaftlichen Quellenblicks – derjenigen Ordnungsverfahren, Redeweisen und Arbeitstechniken, die auf die historische Quelle als zentrales epistemisches Ding der Geschichtswissenschaft abzielen. Im Untersuchungszeitraum verfestigte sich die Geschichtswissenschaft sowohl institutionell wie epistemisch als moderne wissenschaftliche Disziplin. Wie wurden damals die Verfahren der Arbeit mit historischen Quellen im Hochschulunterricht vermittelt? Wie wurden sie in Sozialisationsprozessen angeeignet und in Forschungsprojekten praktiziert? Und mit welchen Ordnungsverfahren und Quellenverständnissen ging die Entwicklung dieser Praxis einher? „Die Schärfung des Quellenblicks“ erschloss die Entwicklung und den Wandel von technischen und epistemischen Verfahren der Quellenarbeit für mehrere Ebenen der geschichtswissenschaftlichen Praxis. Dabei kamen nicht nur die staatlichen und wissenschaftlichen Protagonisten der offiziellen Wissenschaftspolitik ins Blickfeld, sondern zahlreiche Akteure aus vielen geographischen Regionen und mit unterschiedlichen sozialen Hintergründen. Sie alle waren in Aushandlungsprozesse, politische wie soziale Konflikte involviert, mit denen sich die professionelle Geschichtswissenschaft bei ihrem Zugriff auf die historischen Quellen auseinandersetzen musste. Die praxishistorische Untersuchung erlaubte es, die bereits vorhandenen Infrastrukturen, mit denen die professionellen Historiker zwangsläufig arbeiten 2
3
Vgl. die Festadressen in: Die Feier des achtzigsten Geburtstages; Harold Steinacker: Theodor von Sickel. Festworte gesprochen am 11. Dezember 1906 bei d. im hist. Seminar d. Univ. Wien abgehaltenen Sickel-Feier d. akad. Vereines dt. Historiker in Wien, Mit e. bibliogr. Anhang, Wien 1907. Die Feier des achzigsten Geburtstages von Theodor Sickel, S. 16.
Mobilisieren und schließen: Forschungsprozeduren
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mussten, als Speicher älterer Praxisformen zu verstehen. Die untersuchten Historiker eigneten sich solche Elemente an, wenn sie etwa bereits bekannte Erschließungswege kritisch nachvollzogen. Damit ging aber zugleich eine Entwertung älterer Arbeiten und ihrer Zielsetzungen einher: Quellen zugänglich zu machen hieß auch, ältere Sinnzusammenhänge zu löschen. Die Analyse solcher Prozesse der Aneignung, Umschreibung und Neuordnung trug dazu bei, zu verstehen, wie die Geschichtswissenschaft mit ihrer eigenen historiographischen und forscherischen Tradition umging, als sie zu einer autonomen geisteswissenschaftlichen Disziplin aufstieg. Die praxishistorische Perspektive machte zudem auch sichtbar, dass die Neuordnung des Vergangenen durch die Historiker in großem Ausmaß vom Umgang mit materiellen Objekten und den verschiedensten lokalen und sozialen Bedeutungen geprägt war, die sich an diese Materialität hefteten. Schließlich kamen auch Objektivitätseffekte und Subjektpositionen in den Blick, die sich in dieser vielfältigen Forschungspraxis entwickelten – und die zur Stärkung der gesellschaftlichen Aussagemacht der Disziplin beitrugen. Mit der abschließenden Diskussion von Forschungsprozeduren, Bemächtigungsstrategien, Standardisierungsprozessen, Objektivitätseffekten und disziplinären Subjektivierungen, die zur Verfestigung und zum Wandel der geschichtswissenschaftlichen Praxis beitrugen, sollen einige wichtige Etappen der „Schärfung des Quellenblicks“ nochmals unter mehreren Problemperspektiven resümiert werden.
Mobilisieren und schließen: Forschungsprozeduren Die Erschließung historischer Tatsachen wurde im Untersuchungszeitraum als Kernbereich historischer Forschung im Hochschulunterricht gelehrt. Die Vermittlung von Forschungswissen erstreckte sich allerdings üblicherweise nur auf einen Ausschnitt der in der Forschung praktizierten Arbeitsweisen. Besonders in „kritischen Übungen“ und ähnlichen dialogischen Veranstaltungsformen, wie sie spätestens nach 1870 zu einem Merkmal der Fachlichkeit von Hochschullehrern wurden, konnten Geschichtsstudenten im mündlichen Austausch mit ihren akademischen Lehrern Grundlagen der Quellenforschung einüben. Vermittelt wurden anhand eines eng umgrenzten Bestandes an narrativen Quellen vorab die Verfahren der „inneren” und „äußeren” Kritik, die der Feststellung der Glaubwürdigkeit und des Tatsachengehalts der Quelle dienten. Manche andere „kleine Werkzeuge des Wissens“4 , die es ermöglichten, auf gelehrte Literatur zuzugreifen, Wissen nach verschiedenen Sinnkriterien zu ordnen und zu interpretieren, wurden dagegen nicht explizit 4
Becker/Clark: Little Tools of Knowledge.
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gelehrt, sondern in der praktischen Arbeit weitergegeben. Solche Operationen schlossen an eine Tradition des hermeneutischen Umgangs mit autoritativem Schriftgut an, wie sie das frühneuzeitliche Lernen geprägt hatte. Insgesamt eignete sich das bis in die 1880er Jahre weitergegebene Forschungsinstrumentarium vor allem dazu, historiographische und chronikalische Quellen kritisch zu erschließen. Ab den 1880er Jahren wird an beiden untersuchten Universitäten ein Ausbau der Forschungsvermittlung sichtbar, der sich durch die Zunahme quellenkundlicher und methodologischer Unterrichtseinheiten und eine Ausweitung der in den Übungen bearbeiteten historischen Quellensorten auszeichnete. Wie die einflussreichen Vorlesungen Alfons Hubers und anderer Hochschullehrer an der Universität Wien, aber auch ähnliche Veranstaltungen in Zürich zeigen, wurden die Verfahren der Quellenkritik nun auf eine breitere Basis gestellt, indem ganze Quellenspektren und die auf ihnen beruhende geschichtswissenschaftliche Tatsachenfeststellung in den Mittelpunkt methodologischer Unterrichtseinheiten gerückt wurden. Dazu trugen auch die Rekonfiguration und der Ausbau der historischen Hilfswissenschaften an den Universitäten bei. In Wien war diese Ausweitung und Verallgemeinerung des Quellenblicks im Hochschulunterricht eng mit der erfolgreichen Etablierung des Instituts für österreichische Geschichtsforschung verbunden, wo besonders die mit der Bearbeitung von Urkunden verbundenen Prozeduren unterrichtet wurden. Die kunstgerechte Arbeit mit Quellen als „Selbstzweck“ – die Fixierung auf die Quelle als zunehmend abstraktes Grundelement historischer Forschung – wurde zum zentralen Merkmal der Fachlichkeit. Dies wird auch daran deutlich, dass die Quellenorientierung in der zweiten Hälfte des Untersuchungszeitraums zu einem wichtigen Argument in universitären Konflikten um die Kultur-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte wurde, in denen die Grenzen der Disziplin verhandelt wurden. Historische Forschungspraktiken wurden gleichzeitig in unzähligen Forschungsprojekten praktiziert und weiterentwickelt, wie etwa in der Edition von Urkunden deutscher Könige und Kaiser für die Monumenta Germaniae Historica, die an Sickels rundem Geburtstag ebenfalls gefeiert wurde. Neben der Weiterbearbeitung der traditionsreichen narrativen Kernbestände des geschichtswissenschaftlichen Quellenrepertoires machten nun zahlreiche Forschungsorganisationen in größerem Ausmaß auch bisher weniger systematisch untersuchte Bestände – vor allem Urkunden, aber auch andere zeitgenössisch als „überrestlich“ bezeichnete Quellen wie Urbare oder Rechtsquellen – der Forschung zugänglich. Diese Quellengruppen wurden durch Sammlungsunternehmen als Register, Editionen und Regesten einer breiten geschichtskulturellen Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt und in Darstellungen weiterverarbeitet. Die Herrscherurkundeneditionen der Monumenta Germaniae Historica, die hier untersucht wurden, sind lediglich besonders groß angelegte Beispiele für die umfangreichen nun entstehenden Bibliotheken von Editionen, die nach nationalen Räumen, Bistümern, Städten
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oder andern Entitäten geordnet waren. Thematisch angelegte Erschließungsprojekte wie die Regesta Imperii vereinigten darüber hinaus unterschiedliche Quellensorten in Regestenchronologien und Registern oder visualisierten sie wie die Monumenta graphica als Kompendien authentischer Schriftbilder. Die dabei eingesetzten Forschungsverfahren wurden in Zirkularen, Vorworten und Forschungsprogrammen verbreitet und erklärt. Dort wurden Darstellungsstandards erwähnt und Zielgrößen wie die zeitliche Rahmung und der übergeordnete sachliche Bezugsrahmen bestimmt. Gleichzeitig aber entwickelten sich die Vorgehensweisen aus der lokalen Praxis heraus; sie wurden durch die situativen Kontingenzen der Forschung modifiziert und blieben auf das implizite Wissen der Akteure vor Ort angewiesen. Die Analyse der Forschungspraktiken zeigte auf, dass die Kernbereiche der Forschungspraxis allesamt von dieser Spannung zwischen formalen Standards und vielfältiger, unordentlicher Praxis durchzogen waren. Anhand des Schweizerischen Urkundenregisters (1854–1877) ließ sich analysieren, welche Erkenntnisoperationen und praktische Vorgehensweisen eingesetzt wurden, um lokale historische Objekte zu sammeln. Kopien, bereits emendierte Transkripte und Übersetzungen machten die Objekte vor Ort durch die textuelle Übertragung von Sinn beweglich; Zusammenfassungen und Exzerpte leisteten dasselbe durch textuelle Verdichtung und Auszug; Faksimiles bildeten die Originale mimetisch in Handarbeit nach oder entstanden auf dem neuen physikalisch-chemischen Weg der Fotografie; Register wie andere Listen leisteten eine Neuordnung von Einzelobjekten aufgrund spezifischer Kriterien. All diese Arbeitselemente verfügten über eine eigene Materialität und zugleich über spezifische epistemische Voraussetzungen. Sie führten zunächst zur massiven Vervielfältigung von geschichtswissenschaftlichen Materialien, mit denen hantiert werden musste. Die nun im wörtlichen wie kognitiven Sinn mobilen Einzelelemente wurden im Rahmen der Projekte zu Arbeitsapparaten zusammengefügt, die als Werkzeuge auf Reisen mitgenommen, vererbt oder auch verschickt werden konnten. Apparate bildeten denn auch wichtige geschichtswissenschaftliche Infrastrukturen, deren Benutzung im Lauf des Untersuchungszeitraums zum Teil verrechtlicht wurde, weil sie durch die aufwendigen Forschungen, die in sie eingingen, zunehmend als geistiges Eigentum verstanden wurden. Wenn diese beweglichen Arbeitselemente in einem nächsten Schritt neu organisiert und in abgeschlossene Texte oder Bildtafeln überführt wurden, fanden Schließungsprozesse statt. Die jeweilige Auswahl und endgültige Datierung von Quellen war nur das sichtbarste Resultat solcher Prozesse. Auch die inhaltliche Ausrichtung und formale Gestaltung der neuen Quellensammlungen bestimmten die weitere Wahrnehmung der in ihnen erfassten Quellen. So wurden durch die textuelle Reihung nun beispielsweise nach nationalen Kriterien geordnete Quellengruppen geschaffen, die als neuartige Quellenkörper im Anschluss an die Archivkörper der Archivinstitutionen funktionierten. Zwischen zuvor unverbundenen Quellen etablierten sich un-
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erwartete Nachbarschaften, und die chronologische Reihung der Editionen und Regestenwerke veränderte die Wahrnehmung zeitlicher Verläufe. Die beweglichen Substitute der Quellen vor Ort sollten nach dem Willen ihrer Herausgeber eine möglichst weit reichende Anschlussfähigkeit aufweisen. Gleichzeitig verlieh ihnen die geschlossene Form der wissenschaftlichen Publikation nun eine beträchtliche Stabilität und Nachhaltigkeit. Die Untersuchung solcher Erschließungsarbeiten trägt deshalb dazu bei, zu verstehen, wie historisches Wissen auch über die historiographischen Erzählungen hinaus verfügbar gemacht und auf Dauer gestellt wurde.
Umstrittene Deutungshoheiten: Bemächtigungsstrategien Die Mobilisierungen und Veröffentlichungen historischen Materials waren von zugleich sozialen wie symbolischen Prozessen begleitet, in denen die Verfügungsmacht über die historischen Quellen vor Ort und die Art ihrer Weiterverwendung in historischen Projekten auf dem Spiel stand. Die verstreuten Infrastrukturen historischer Forschung brachten die zunehmend verfachlichten, akademischen Geschichtsforscher zwangsläufig mit lokalen Geschichtsverwaltern und -freunden in Berührung. Administrative Herrschaftsausübung, finanzielle Anreize, wissenschaftlicher Austausch und Partizipationsangebote auf Seite der Hochschulhistoriker, materielle Ressourcen, erschließungsrelevantes implizites Wissen und lokale Autorität auf Seite der Akteure vor Ort stellten einige der Einsätze dar, die in diesen Aushandlungsprozess eingebracht werden konnten. Lokale Akteure wiederum hatten je eigene Vorstellungen von der angemessenen Verwendung und Zugänglichkeit „ihrer“ Bestände, die sie oft gegenüber zentralstaatlich und akademisch legitimierten Historikern verteidigten. Sie initiierten manchmal selbst eigene Editionen, die mit den groß angelegten nationalen Projekten konkurrierten. Wenn solche lokale Akteure eigene Arbeitselemente beisteuerten, gingen ihre divergierenden Quellenverständnisse und Forschungsinteressen in die Forschungsverfahren der professionellen Historiker ein. Auch bezahlte Zuarbeiter, technische Experten, Staatsbeamte und Akteurinnen aus der Sphäre der Verwandtschaft trugen so zur Forschung bei. Die vielfältige Einbettung der historischen Forschung in heterogene gesellschaftliche Handlungszusammenhänge zeigt eine Facette der Wirkungsmacht der Geschichtswissenschaft im Untersuchungszeitraum auf, die nicht in ihren historiographischen Wirkungen aufgeht. Gerade die Quellenforschung machte eine Unzahl von Interaktionen an den zahlreichen Orten der Quellenüberlieferung nötig; die Untersuchung ihrer Praktiken kann deshalb miterklären, auf welche Weise Geschichtsbilder im 19. Jahrhundert ihre
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Wirksamkeit entfalten konnten. Die Forschungsverfahren und Quellenverständnisse der Vereinsmitglieder, Angehörigen geistlicher Institutionen und anderer Akteure im Feld speisten sich aus unterschiedlichen Wissensfeldern und verfügten über ihre eigenen praktischen Regeln, die oft aus der Administrationskultur, aus dem Recht und aus der kirchlichen und schulischen Tradition historischer Gelehrsamkeit stammten. So richteten sich etwa die Abschreibetechniken mancher juristisch geschulter Beiträger des Schweizerischen Urkundenregisters an Regestierweisen aus, die sie aus der Rechtspraxis kannten. Die federführenden Hochschulhistoriker wiederum arbeiteten darauf hin, sich lokale Ressourcen anzueignen und die praktische Reichweite und Deutungen der Akteure vor Ort einzuschränken. Mit der Disziplinbildung an den Hochschulen hatte sich das Fach Geschichte seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Selbstverständnis wissenschaftlicher Autonomie angeeignet. Allerdings stellte sich die Geschichtswissenschaft auch in ihrer disziplinierten Form in vielen Aspekten in den Dienst des Staates. Diese Dienstbarkeit wurde nicht als Zwang von oben, sondern als weitgehend selbstverständliche Staatsnähe der Hochschulhistoriker implementiert. Der geschichtswissenschaftliche Beitrag zu staatspolitischen Zielen legitimierte sich nun machtvoll durch die innerwissenschaftliche Betonung methodischer Strenge und forschungsgeleiteter Erkenntnisse. Hier kam den von Hochschullehrern geleiteten Quellenforschungen, die in vielen Fällen staatslegitimatorische Konzepte von Nation, Herrschaft und Staat vertraten, im 19. Jahrhundert eine zentrale Rolle zu. Mit der Implementierung neuer methodischer Zugänge kam es zu Rekontextualisierungen der in Frage stehenden Quellenbestände, die durch den Zugriff der wissenschaftlichen Akteure in ganz neue Problemzusammenhänge gestellt wurden. Dies zeigen exemplarisch die Projekte des Schweizerischen Urkundenregisters und der Monumenta graphica, die mit ihrer gesamtstaatlich ausgerichteten Mobilisierung historischer Quellen im Dienst nationaler Geschichtsbilder standen. Wie das Schweizerische Urkundenregister ebenfalls deutlich macht, ließ sich die Quellenforschung als Politik einer „Geschichte ohne Darstellung“ betreiben, die den Konfliktpotentialen sich widerstreitender Geschichtsbilder aus dem Weg gehen wollte. Die Orientierung am Staatsganzen blieb allerdings im Untersuchungszeitraum nur einer der Vektoren, der für die Quellenforschung bedeutsam war. Neben gesamtstaatlichen Unternehmen wurden zahlreiche Erschließungsprojekte verfolgt, die sich an andern politischen Größen orientierten. Vor allem in der Schweiz stellten die regionalen historischen Vereine mit ihrem großen Mobilisierungspotential eine starke Konkurrenz zur Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft dar. Sie entfalteten eine umfangreiche editorische Tätigkeit, die ihre Dachgesellschaft oft in den Schatten stellte. Wenn Hochschulhistoriker Expertisen für Fragen der Quellenerschließung im Rahmen staatlicher Aufgaben oder der facettenreichen bürgerlichen
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Geschichtskultur lieferten, stießen sie bei weitem nicht immer auf Akzeptanz. Konflikte um Bearbeitungs- und Deutungshoheiten wiesen in vielen Fällen einen politischen Subtext auf. Wie die Projektverläufe des Schweizerischen Urkundenregisters und der Monumenta graphica aufzeigen, handelte sich die Geschichtsforschung mit der Ausrichtung am Gesamtstaat vielfältige Konflikte um die gesamtstaatliche Deutungshoheit und einander widersprechende, ältere Traditionsbildungen ein. Denn den prekären gesamtstaatlichen Geschichtsbildern standen zahlreiche, nicht in ihnen aufgehende Größen historischer Sinnbildung und Identifikation gegenüber. Während die Wissenschafter die Arbeitselemente in neuen Quellenkorpora höherer Ordnung rekonfigurierten, versuchten Akteure vor Ort ihre partikularen Sichtweisen in Form entsprechend präparierter Arbeitselemente in das neue Projekt einzuspeisen. Auf der Gegenseite setzte die akademische Geschichtsforschung ihre Nähe zum Staat strategisch ein, um in Form von Expertisen oder sogar mit militärisch-administrativer Macht ihre Forschungskonzepte durchzusetzen und Ressourcen zu mobilisieren. Hier entfaltete die Geschichtsforschung eine ihr eigene Form politischer Herrschaft. Die neuen, dem gesamtstaatlichen Ziel entsprechenden Forschungsobjekte, die nun generiert werden mussten – die schweizerische Urkunde, die österreichische Quelle – führten vielfältige Definitionsprobleme mit sich. So richtete sich der Schweizbegriff des Schweizerischen Urkundenregisters ganz bewusst nicht an historischen Größen wie der Alten Eidgenossenschaft, sondern am 1848 gegründeten Bundesstaat aus und schuf so erstmals ein Korpus „schweizerischer Urkunden“, das zahlreiche neuartige Abgrenzungsschwierigkeiten barg. Die neuen Forschungsobjekte wurden mitunter, wie das Beispiel der Monumenta graphica zeigt, sogar durch aktuelle politische Entwicklungen in ihrer Ausdehnung in Frage gestellt. Besonders aufschlussreich ist auch das Zusammenspiel von konzeptuellen Kontinuitäten und politischen Aktualisierungen in den editorischen Erfassungen der deutschen Reichsgeschichte: In den reichsgeschichtlichen Forschungsprojekten, die am Institut für österreichische Geschichtsforschung ab den 1870er Jahren durchgeführt wurden, bildete die deutsche Reichsgeschichte für viele österreichische Hochschulhistoriker eine bedeutende Alternative zu gesamtstaatlichen Ausrichtungen. Sie hatte nach dem Scheitern großdeutscher Pläne im Jahr 1866 allerdings nicht mehr dieselbe politische Wertigkeit wie zuvor. Die Editionsprojekte boten den Institutshistorikern eine Möglichkeit, die zuvor von Großdeutschen wie Johann Friedrich Böhmer emphatisch verfolgte Reichsgeschichte unter hilfswissenschaftlichen Vorzeichen zu bearbeiten und sich damit weiterhin eng an die deutsche Mediävistik anzuschließen, ohne sich geschichtspolitisch zu exponieren. All diesen politischen Aktualisierungen und Indienstnahmen war gemeinsam, dass sie kaum narrativ entfaltet, sondern editorisch reifiziert wurden. Die staatspolitischen Ziele und ausgewählten Ordnungskategorien wurden in den neuen, großen Editions- und Regestenprojekten auf Dauer gestellt: So erhiel-
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ten die reichsgeschichtlichen Forschungsprojekte nach 1875 am Institut für österreichische Geschichtsforschung durch die „Nationalisierung“ der bearbeiteten Untersuchungsbereiche oder etwa durch die Eindeutschung diplomatischer Ausdrücke eine betont deutschnationale Note, die der dominierenden politischen Ausrichtung der Historiker und einer Ideologie „deutscher Wissenschaft“ am Institut entsprach. Editionen, Regesten und Faksimiles stellten keine Instrumente geschichtswissenschaftlicher Tagespolitik dar, sondern verstetigten die im Kontext aktueller politischer Entwicklungen realisierten Geschichtskonzepte. Sie verliehen diesen durch die editorischen Auswahlverfahren und Ordnungsstrukturen eine geschlossene Form, die äußerst langlebig war, denn solche Quellenpublikationen blieben meist über lange Zeit in Gebrauch. Die so implementierten, politischen und gesellschaftlichen Kategorien fanden in die allgemeinen Arbeitsgrundlagen der Geschichtswissenschaft Eingang und erlangten ihre Wirkungsmacht gerade dadurch, dass sie abseits historiographischer Darstellungskontroversen naturalisiert wurden. Dass viele Leitkategorien und Konzepte der Geschichtswissenschaft ein großes Beharrungsvermögen aufwiesen, erklärt sich nicht zuletzt aus ihrer infrastrukturellen Verankerung in Quellenpublikationen.
Zwischen Autopsie und Apparat: Standardisierungsprozesse Die unmittelbare Auseinandersetzung mit historischen Quellen gehörte im Untersuchungszeitraum zum Kern geschichtswissenschaftlichen Selbstverständnisses. In Selbstzeugnissen wurde die Sichtung historischen Materials als eine Verlebendigung der Vergangenheit beschrieben und als Moment der Unverstelltheit, der historischen Authentizität gefeiert, in dem die Quellen „sprudeln“ und „Stimmen der Vergangenheit“ „klingen“5 . Es sei ihm vorgekommen, „als hörte“ er “die Geschichte selbst sprechen“6 – so beschrieb der Innsbrucker Historiker Ludwig von Pastor in seinem Tagebuch seine Stimmung bei der intensiven Lektüre von Gesandtschaftsberichten. Die geschichtswissenschaftliche Arbeit am quellenkritischen Detail stützte sich auf die Vorstellung, dass sich die Geschichte in ihren Quellen selbst unvermittelt verlautbare. Unzählige Editionen und andere Quellenerfassungsunternehmen sollten diesen unverfälschten Zugriff auf die historischen Quellen umfassend und zuverlässig ermöglichen. Allerdings stellte die Vorstellung eines geradlinigen Arbeitsvorgangs, der bei der Quelle im Archiv seinen Anfang nahm und über verschiedene Ar5 6
von Pastor: Tagebücher, Briefe, Erinnerungen, S. 224. von Pastor: Tagebücher, Briefe, Erinnerungen, S. 224.
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beitsschritte zu der solchermaßen direkt auf das Original zurückgehenden Edition führte, eine Idealisierung dar. Zum einen erschien die Orientierung am Original vielen Beteiligten älterer Editionsprojekte nicht zwingend; zahlreiche urkundliche Quellen waren überdies nur abschriftlich bekannt. Zum andern handelte es sich bei den einzelnen Etappen der untersuchten Forschungspraktiken um komplexe, nichtlineare Produktionsverläufe. Die dabei produzierten Arbeitselemente wuchsen sich zu einer Flut von – meist textuell hervorgebrachten – Doppelgängern der historischen Quellen, zu Zettelbergen aus, die über eine eigene Materialität verfügten. Dabei handelte es sich oft um Mehrfachbearbeitungen – um komplexe Kombinationen aus Kollationen, Abschriften, Auszügen und Regesten, die Übersetzungsvorgänge zwischen verschiedenen Kontexten der Forschung speicherten. In ihnen verknäuelten sich zahlreiche Arbeitsgänge und strukturelle Entscheidungen, so dass ihnen oft nicht mehr anzusehen war, wie sie entstanden waren. In allen untersuchten Forschungsprojekten, insbesondere aber in den reichsgeschichtlichen Unternehmen, wie sie ab 1875 am Institut für österreichische Geschichtsforschung betrieben wurden, wurden Verfahren entwickelt, um solche heterogene Forschungsweisen zu standardisieren. Die Redaktion des Schweizerischen Urkundenregisters war in den 1850er Jahren zunächst davon ausgegangen, dass der Sammlungsprozess einen unproblematischen Verfahrensschritt darstellte. Sie hatte die Aufnahme der Urkunden vor Ort als eine „black box“ behandelt und die Regesteneinträge lediglich sehr zurückhaltend standardisiert. Bereits bevor das Unternehmen unter öffentlichen Druck geriet, verabschiedete sich die Redaktion langsam von der verstreuten Zusammenarbeit mit lokalen Geschichtsfreunden und ging stattdessen seit den frühen 1860er Jahren zunehmend zu den Originalen zurück. Damit wurde die Bedeutung der umfangreichen Teamarbeit eingeschränkt, die über den ganzen Projektzeitraum mehr als 120 Akteure umfasste. Die Arbeit wurde nun im Modus der einfacher standardisierbaren Einzelforschung geleistet. Gegenüber dieser Arbeitskonstellation lassen sich im Kontext des Instituts für österreichische Geschichtsforschung verschiedene Weiterentwicklungen verfolgen. Eine zentrale Neuerung betraf die Ausweitung des Autopsiepostulats. Autopsie war traditionell ein Kriterium der Quellenkritik gewesen, um die Glaubwürdigkeit historiographischer und chronikalischer Autoren anhand ihrer Nähe zum historischen Geschehen zu beurteilen. Mit der zunehmenden Fixierung auf die Quelle als einmaligen, materiell verorteten Gegenstand – als Original – hatte sich die Autopsie in der Frühneuzeit auf die Tätigkeit von Geschichtsforschern als „Beaugenscheinigung“ des historischen Materials übertragen und war dadurch zu einem Gütezeichen historischer Forschung geworden. Während die Rhetorik der Autopsie die Geschichtsforschung also schon lange begleitet hatte, wurde sie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nun durch die seriellen urkundlichen Erschließungsprojekte in weiterem Umfang eingelöst, als dies selbst bei den Scriptores-Editionen
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der Monumenta Germaniae Historica bis anhin erfolgt war. In der Arbeitspraxis der Herrscherurkundeneditionen der Monumenta Germaniae Historica und der Regesta Imperii wurde die konsequente Autopsie durch die Standardisierung der mit ihr verbundenen Arbeitsschritte und der aus ihr entstehenden Arbeitselemente systematisiert. Diese Standardisierung war durch Forschungen in den 1860er Jahren vorbereitet worden, wurde durch die Ausbildung der späteren Monumenta-Mitarbeiter am Wiener Institut implementiert und durch Anleitungen und Forschungsbeiträge vertieft. Durch eine weitgehende Untersuchung der jeweils ältesten Überlieferungsformen ganzer Urkundengruppen und durch den systematischen Schriftvergleich wurde es unter anderem möglich, das diplomatische Instrumentarium der Echtheitsfeststellung zu verfeinern. Erst aber die gezielte Einführung der Bearbeiter, die dem Blick auf die Quelle eine bestimmte Struktur gab, sowie Faksimilierungs- und Beschreibungsvorgaben ermöglichten die Koordination der Autopsien einzelner Beiträger im Forschungsverbund. Das Schweizerische Urkundenregister dagegen, das sich dieses Postulat nach einigen Forschungsjahren ebenfalls aneignete, konnte das Arbeitsprinzip der Autopsie nicht konsistent implementieren. Weiter trug der Ausbau der textuellen Arbeitsinstrumente zu einer weit höheren Beweglichkeit und Stabilität der am Institut für österreichische Geschichtsforschung produzierten Arbeitselemente bei. Es wurden nun umfangreiche Zettelapparate, Konkordanzen und Tabellen hergestellt, die unterschiedliche Dimensionen des erfassten Materials abdecken sollten. Diese Verzettelungen und Verzeichnisbildungen wiesen einen höheren Grad an Systematizität und textueller Organisation auf als ihre Vorgänger. Sie machten es insbesondere möglich, neue Gruppen von Urkunden zu bilden. Für die Weiterentwicklung der diplomatischen Forschung und in der Konsequenz auch für die Mittelaltergeschichte war die Rekonstruktion der „Archivkörper”, der Überlieferungszusammenhänge nach Urkundenempfängern, von großer Bedeutung. Die höhere Standardisierung der Praxis ermöglichte es überdies, Bearbeitungsaspekte besser zu vergleichen und Differenzierungskriterien auszubauen. Gleichzeitig drängte sich mit dieser intensiven Bearbeitung auch eine Weiterentwicklung der diplomatischen Terminologie auf, die eine weitergehende Abgleichung individueller Resultate herbeiführen sollte. Quellen waren auch im 19. Jahrhundert anhaltenden Umschichtungs-, Zerstörungs-, Veräußerungs- und Erbeutungsprozessen ausgesetzt. Die verdichteten Forschungsverfahren zeichneten sich dadurch aus, dass sie die älteren Überlieferungszusammenhänge wie auch die jüngere Forschung weitergehend reflektierten und problematisierten. Mit dem Aufbrechen ihres Charakters als „black boxes“ wurden ältere Arbeitselemente demontiert und historisiert, was eine umfassendere Aneignung und Neufassung der untersuchten Quellen ermöglichte. Von diesem Prozess war auch der Umgang mit den eigenen Forschungen betroffen, die nun stärker in ihrer Zeitlichkeit reflektiert und dokumentiert wurden. Insgesamt lässt sich eine
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erhöhte Aufmerksamkeit für die Dynamiken der Forschung erkennen, die nun einen eigenen Gegenstandsbereich der geschichtswissenschaftlichen Arbeit bildeten. All diese Erweiterungen des Forschungsinstrumentariums wurden möglich, weil die Forschersozialisation homogenisiert wurde, Kommunikationsmuster verdichtet und umfangreiche Ressourcen mobilisiert werden konnten. Denn nur weil die Projekte am Institut für österreichische Geschichtsforschung die Arbeitsapparate ihrer Vorgänger erbten, konnten sie Quellenfundstellen und ältere Forschungswege so detailliert rekonstruieren. Die umfangreichen Editionen und Regestenwerke, die aus ihnen hervorgingen, wurden zu wichtigen Infrastrukturen der Mittelalterforschung, generierten neue Problemstellungen und beeinflussten die weitere Forschungspraxis im Feld der Urkundenforschung. Während sich die Forschungsverfahren also von den 1870er Jahren an vielfältig weiterentwickelten, blieben manche der Merkmale, die bereits die ersten Jahrzehnte nach 1840 geprägt hatten, auch für die zweite Phase des Untersuchungszeitraums wichtig. Noch immer zeichneten sich die praktizierten Forschungsverfahren durch eine größere Heterogenität aus, als die Berufung auf die „historische Methode“ vermuten ließe. Zudem gingen in sie dauerhaft Bestandteile impliziten Wissens und praktisch erworbenen Geschicks ein, die nicht expliziert werden konnten. Und schließlich blieben manche ihrer leitenden Forschungskonzepte lose: Die wahrnehmungslenkende Vorstellung des in Regesten und Auszügen zu erfassenden historisch „Wesentlichen”, die Rede von der „historischen Methode” im Singular wie auch die generellen Relevanzkriterien, die die Anlage von historische Untersuchungen bestimmten, wurden nicht näher expliziert. Gerade die grundsätzliche Vagheit und Interpretationsoffenheit dieser Konzepte machte sie aber auch zu so soliden wie anpassungsfähigen Bestandteilen fachlicher Identität.
Entliterarisierung und Transparentwerdung: Objektivitätseffekte des Quellenblicks Die historische Quelle als Gegenstand und Ergebnis geteilter Arbeitstechniken, Ordnungsverfahren und Redeweisen erfuhr im Untersuchungszeitraum bedeutende Veränderungen. Der Wandel des Blicks auf die Quelle lässt sich zunächst im historischen Hochschulunterricht verfolgen, dessen Schwerpunkte Rückschlüsse auf die fachliche Konturierung der Geschichtswissenschaft und deren Wandel zulassen. Die universitäre Lehre zeigt, dass die Etablierung fachlicher Grenzen nicht nur diskursiv, sondern vor allem auch über die Auswahl der zugelassenen und anerkannten historischen Untersuchungsobjekte erfolgte. Dies galt bereits für die Abgrenzung gegenüber Nachbardisziplinen: Während der Verfestigung der Disziplin als universitäres
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Fach wurde eine bestimmte Auswahl von Hinterlassenschaften der Vergangenheit formal dem eigenen Fach zugewiesen, während andere Bestände von benachbarten geisteswissenschaftlichen Fächern bearbeitet wurden. So wurden der Geschichte vor allem schriftliche Quellen zugeschlagen, während bildliche Darstellungen und Sachobjekte lange zum großen Teil andern Fächern wie der Archäologie und Kunstgeschichte zufielen. Dies führte zu einer generell abgestuften Formalisierung des Umgangs mit historischen Quellen. Der stark quellenbezogen-hilfswissenschaftliche Umgang mit historischem Material wurde an den Universitäten in Zürich und Wien sowie am Institut für österreichische Geschichtsforschung nur für gewisse Quellensorten und ganz überwiegend für die Mittelaltergeschichte verwirklicht, die auch die Rekonfiguration der historischen Hilfswissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dominierte. Damit entfaltete sich innerhalb der Disziplin eine selektive Relevanztopographie: Geschichtsstudenten lernten die Forschungsverfahren der historischen Arbeit vorab anhand eines begrenzten Bestands an historiographischen Quellen des Altertums und Chroniken des Mittelalters. In diesem historiographischen Modus des Quellenblicks bildeten die Quellenproduzenten – in philologischer Tradition als Schriftsteller oder Autoren bezeichnet – die zentralen Ordnungseinheiten. Studierende lernten an ihnen vor allem kritische Prozeduren, die sich auf die Glaubwürdigkeit der Autoren, deren Nähe zum Geschehen und den Tatsachengehalt ihrer Überlieferung bezogen. Die Fokussierung auf einen geradezu kanonischen Schriftgutbestand wurde durch das Angebot gebietsspezifischer Quellenübersichten ergänzt, die als vaterländische Quellenkunden zum festen Bestand der Professuren für österreichische beziehungsweise schweizerische Geschichte gehörten und den Blick für nahegelegene Quellen schärften. Diese Grundkonstellation des historiographischen Modus veränderte sich entscheidend, als in den 1880er Jahren Nichtordinarien das Übungsangebot ausbauten und Dozenten aller Stufen methodologische und propädeutische Veranstaltungen abzuhalten begannen. Diese Entwicklung verlief an beiden Hochschulstandorten etwa zeitgleich und führte dazu, dass sich der Stellenwert der narrativen Quellen verminderte und Forschungswissen auch über die Kritik in philologischer Tradition hinaus stärker vermittelt und expliziert wurde. Methodologische Veranstaltungen und allgemeine Quellenkunden wurden nun zu einem festen Bestandteil des Unterrichts. Vorweggenommen wurde diese Entwicklung zumindest in Wien im hilfswissenschaftlichen Unterricht am Institut für österreichische Geschichtsforschung, der in seiner Fokussierung auf Überlieferungsdetails ausschließlich nicht-narrative Quellen in den Blick nahm. Diese Veränderungen im Lehrangebot lassen insgesamt eine beträchtliche Erweiterung der Forschungsvermittlung erkennen. Sie führten zu einer Verallgemeinerung des Blicks auf die Überreste der Vergangenheit; verankert wurde nun ein abstrakterer, technischer gewordener Quellenbegriff. Aus den systematischen Einführungen in unterschiedliche Quellensorten
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schälte sich die „historische Quelle“ als allgemeinstes Erkenntnisobjekt von Historikern heraus. Nachdem die historiographischen Quellen im historiographischen Modus bevorzugt behandelt worden waren, erschienen sie nun als eine Überlieferungsform unter anderen – wie Urkunden, Urbare und Briefe. Damit wurde die Quelle zugleich ubiquitär und diskret: Während die früheren Übungen im historiographischen Modus die Quellenbezeichnungen und Autorennamen im Titel geführt hatten, verschwanden solche Spezifikationen nun zunehmend aus den Veranstaltungsbeschreibungen, die nun stattdessen historische Ereignisse bezeichneten. Der Abstraktionsgrad des Quellenblicks hatte sich soweit erhöht, dass nun alle möglichen Hinterlassenschaften der Vergangenheit als strukturell gleichartig vermittelt werden konnten. Außerdem organisierte nun nicht mehr die Stimme eines Autors die historische Wirklichkeitsbeschreibung und die Aneinanderreihung der Fakten, sondern der Blick des Historikers, der die Fakten aus heterogensten Quellen herausschälte. Diese Entliterarisierung und Verallgemeinerung des Quellenblicks stellte eine zentrale Entwicklung der geschichtswissenschaftlichen Objektivitätsbildung dar: Sie förderte die normative Konzeption eines historischen Wissens, das direkt aus den Quellen herausgearbeitet werden sollte, ohne von vorgefassten Urteilen, von den „Spuren des Wissenden“7 , gezeichnet zu sein. Dieser geschärfte Quellenblick wird in den hier untersuchten Forschungs- und Vermittlungszusammenhängen erst für die 1880er Jahre in neuartiger Geschlossenheit erkennbar. Wichtige Anstöße zur geschichtswissenschaftlichen Objektivitätsbildung kamen aus der Quellenforschung an nicht-historiographischen Beständen, die in Editions- und ähnlichen Projekten entwickelt wurde. Solche Forschungen schrieben sich nicht in erster Linie aus dem gelehrten Umgang mit autoritativen Textüberlieferungen her, sondern aus Traditionen des Umgangs mit rechtlichem und administrativem Schriftgut. Solche Prozeduren waren zwar schon früher als Teil der Hilfswissenschaften systematisiert worden, wurden nun aber auf eine neue Weise in die Geschichtswissenschaft integriert und wieder in den Hochschulunterricht eingespeist. In der hilfswissenschaftlichen Spezialisierung am Institut für österreichische Geschichtsforschung wurden einzelne Urkunden und andere zeitgenössisch als überrestlich bezeichnete Quellen sogar dauerhaft zu epistemischen Dingen, an denen man immer wieder neue Problemdimensionen erkannte und die geradezu „mikrologisch“ (Johann Friedrich Böhmer) untersucht und wiederholt neu geordnet wurden. In dieser extremen Form war die Fixierung auf die Quelle für die Geschichtswissenschaft des späten 19. Jahrhunderts allerdings nicht repräsentativ. Die Objektivierungseffekte, die diese hilfswissenschaftliche Forschungspraxis zeitigte, waren hingegen für die Verallgemeinerung des Quellenblicks 7
Daston/Galison: Objektivität, S. 17.
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von großer Bedeutung. Die zunehmende Differenzierung beim Studium urkundlicher Quellen führte zu einer verstärkt aus den Quellen selbst erklärten Bestimmung dessen, was als „historisch“ verstanden werden konnte. Dank vorangehender „mikrologisch“ ausgerichteter Forschungen zum Entstehungszusammenhang einer Urkunde beispielsweise konnten viel weiterreichende Hypothesen über historische Vorgänge formuliert werden, die nun gleichsam aus der Quelle selbst herauswuchsen. Das „Wesentliche“, „Einzigartige“ und „Individuelle“, das den historiographischen Diskurs prägte, konnte gerade durch die eingehende Beschäftigung mit formalen Aspekten der Überlieferung – etwa den Urkundenformeln – trennschärfer aus dem Trägerstoff der Quellen herauspräpariert werden. Überdies wurden nun die Quellen noch stärker als zuvor methodisch allmächtig: In der Auffassung der nach eigenen Aussagen streng induktiv verfahrenden Diplomatiker gab der Quellenstoff direkt die Vorgehensweisen der Forschung vor. Der „mikrologische“ Blick auf die Quelle als epistemisches Ding förderte in der Konsequenz – zumindest in der Idealvorstellung – dessen Transparentwerdung: die ungetrübte Erkenntnis des Historischen. Das verallgemeinerte Quellenkonzept wurde nicht nur durch diplomatische Studien, sondern auch durch die Produkte der Quellenerfassung selbst – die Regestenwerke, Editionen, paläographischen Tafelwerke etwa – weitergeführt und sozial implementiert. Diese materialreichen Quellensammlungen, die zugleich Forschungsergebnisse in geschlossener Form auf Dauer stellten, förderten mit der Mobilisierung der lokalisierten Quellen auch deren Entkontextualisierung. Dies lässt sich etwa an den Arbeiten zu den Monumenta graphica erkennen. Für dieses Quellenfotografieprojekt war Theodor Sickel in der zweiten Hälfte der 1850er Jahre in großem Ausmaß auf lokale Akteure angewiesen, die hofften, ihre eigene, an lokalen Interessen orientierte Quellenauswahl wie auch Begleitkommentare mit eigenen Deutungen in das renommierte Vorhaben einzubringen. Sickel machte sich die umfangreichen Kenntnisse solcher Akteure aber für die Identifizierung geeigneter Quellen zunutze, ohne deren weitere Vorleistungen zu übernehmen. Indem er konsequent auf eine Einbettung und Erklärung der fotografierten Quellen verzichtete, wählte er eine weitgehende Entkontextualisierung des Schriftguts. Dazu trug auch die Fotografie bei, die Quellenforscher bereits seit den 1850er Jahren in Anspruch nahmen und die sich die Leiter der Monumenta graphica für eine Rhetorik einer „mechanischen Objektivität“8 zunutze machten. Die fotografische Abbildungstechnik signalisierte die Authentizität der abgelichteten Objekte und förderte eine Wahrnehmung der Quelle als epistemisches Ding. Darüber hinaus unterstrich sie auch Individualität: Es wurde nun Wert darauf gelegt, keine idealisierten, typischen Schriftbilder, sondern einzigartige, sogar versehrte und schwer leserliche Schriftrealisationen zu 8
Daston/Galison: Objektivität, S. 121–200.
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zeigen. Die Fotografie sollte eine exakte Reproduktion garantieren, die keiner weiteren Rahmung mehr bedurfte und wurde so zu einem Instrument, um die Schriftstücke radikal aus ihren Kontexten herauszuheben und alle Spuren eines Aufbewahrungs- und Gebrauchszusammenhangs zu löschen. Zugleich strich die Fotografie auch die Parallele zwischen der unvermittelten und unbestechlichen Selbstabbildung der Natur, als die die Fotografie imaginiert wurde, und dem in der Idealvorstellung ebenso klaren Blick des Quellenforschers hervor. So trug auch die Fotografie zum Wissenschaftsanspruch der Quellenforschung bei. Ganz ähnlich verfuhren die reichsgeschichtlichen Projekte und das Schweizerische Urkundenregister mit seinen Registereinträgen, die die Gleichartigkeit aller aufgefundenen Urkunden in ihrer chronologischen Reihung hervorhoben. Mit den mehrfachen Übersetzungen, die aus den Quellen vor Ort Einträge in umfangreichen Quellenserien machten, gingen zahlreiche örtliche und gebrauchsabhängige Sinndimensionen der erfassten Quellen verloren. Die Vereindeutigung der Resultate im Schließungsprozess der Veröffentlichung machte zahlreiche Kontingenzen und Deutungsoffenheiten wieder unsichtbar. Mit dieser Entkontextualisierung eigneten sich die akademischen Historiker die Quellen nicht nur sozial an. Sie übernahmen auch neue Interpretationshoheiten und förderten durch die Herstellung neuer Gleichartigkeiten, Gruppen und chronologischer Serien die Abstraktheit des Quellenblicks und die Transparenz der Quellen. Während die Historiographiegeschichte die Bedeutung der Historik für die Entwicklung der Geschichtswissenschaft im Untersuchungszeitraum hervorhebt, macht die Untersuchung zentraler Praktiken der Quellenforschung deutlich, dass zahlreiche Veränderungen des Quellenverständnisses in der Forschungspraxis generiert wurden und aus den Anforderungen der praktischen Abstimmung von Forschungshandlungen heraus entstanden. Bei den „mikrologischen“ Spezialisierungen, wie sie am Institut für österreichische Geschichtsforschung gepflegt wurden, handelte es sich nicht nur um hilfswissenschaftliche Reduktionen, sondern um Beiträge zur Weiterentwicklung einer der Geschichtswissenschaft eigenen Behauptung wissenschaftlicher Unvoreingenommenheit. Die praxishistorische Analyse der „Schärfung des Quellenblicks“ – der Objektivitätseffekte, die mit der Verallgemeinerung und technischen Erweiterung des quellenfokussierten Zugangs einhergingen – stellt einen Beitrag zum Verständnis der Geschichte der Objektivität dar. Wenn die historiographischen Texte, die von den untersuchten Historikern produziert wurden, dabei eher im Hintergrund blieben, war damit aber nicht die – von vielen der untersuchten Historiker vertretene – Vorannahme verbunden, dass sich Forschung und Geschichtsschreibung unabhängig voneinander entwickelten und betreiben ließen. Es ging vielmehr darum, eine unterbewertete Dimension historischer Arbeit in den Blick zu bekommen, deren Wirkungsweisen aus den Erklärungskategorien der Historiographiegeschichte herausfallen. Zahlreiche Verarbeitungstechniken und
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Übersetzungsprozesse ermöglichten es, die materiell wie sozial heterogenen Arbeitselemente der Forschungspraxis in die historiographische Produktion zu integrieren, die durch die narrative Konstituierung von Sinn Geschlossenheit anstrebte. Umgekehrt strukturierten historiographische Narrative die Erforschung von Quellen vor, wie hier mehrfach gezeigt wurde, und fanden auch in Quellenwerke Eingang – beispielsweise als Kontextualisierungen in den Paratexten. Die untersuchten Objektivierungseffekte gälte es demnach in ihrer Zirkulation zwischen historiographischer Produktion und Quellenforschungspraxis weiterzuverfolgen und mit längerfristigen Veränderungen des geschichtswissenschaftlichen Diskurses in Verbindung zu bringen. Die untersuchten Schließungsprozesse, die in den 1880er Jahren einen bedeutenden Schub erhielten, verhalfen der Geschichtswissenschaft zu größerer Aussagemacht. Dem Quellenblick eignete dabei eine spezifische Dialektik: Das immer häufiger eingelöste Autopsiepostulat brachte eine zunehmende Fixierung auf das „Original“ mit sich, auf die einmalige, verortete und gegenüber späteren Doppelgängern ursprünglichste Quelle, die nun mit ausgefeilteren Methoden, unter anderem auch der Fotografie, authentifiziert werden konnte. Diese Fixierung war indessen nur möglich durch eine gesteigerte textuelle Produktion der Historiker: Um das Original erfassen und identifizieren zu können, produzierte man zunehmend differenzierte Schriftgutbeschreibungen, Explikationen von Forschungsverläufen, Kommentare von Transkripten, Kollationen und weitere Textsorten, die das im Zentrum stehende epistemische Ding in zahlreichen Schichten umgaben. Diese supplementierende Produktion trieb die Forschung voran, denn sie generierte ihrerseits immer wieder neue Fragen und nötigte zu terminologischen Abstimmungen. Wie die Diskussionen um Fragen der Echtheit und der ursprünglichen Überlieferung zeigen, wurde mit diesen Forschungen aber auch die Umgrenzung des Originals dauernd in Frage gestellt: Im Zuge seiner Erforschung wurde das Original zunehmend flüchtig, es blieb oft eine Fiktion der Geschichtswissenschaft – allerdings eine produktive Fiktion.
Disziplinäre Subjektivierungen: Die geschichtswissenschaftliche Persona Ob als Mitglieder der „Genossenschaft“ des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, als Studenten im historischen Seminar oder als sich habilitierende Forscher auf Archivreise: Die untersuchten Hochschulhistoriker eigneten sich in vielfältigen Sozialisationskontexten disziplinspezifische Techniken, Arbeitshaltungen und Kommunikationsstrategien an. In Forschungsgruppen und Seminarien wurden geschichtswissenschaftliche Fertigkeiten interaktiv eingeübt. Daneben kamen zahlreiche Techniken
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und Routinen der Selbsterziehung und Selbstdarstellung zum Zug, mit denen angehende Forscher disziplinspezifische Arbeitshaltungen übernahmen und sich ein geschichtswissenschaftliches Selbst zu Eigen machten. Bei der Einübung der Praxis der Quellenforschung spielten persönliche Beziehungen zu geschichtswissenschaftlichen Lehrern eine große Rolle. Bereits im Studium wurde die Orientierung an der Persönlichkeit des Hochschullehrers in der dialogischen Form der Forschungsvermittlung zum pädagogischen Prinzip erhoben und förderte bei jenen, denen die Integration in diese Beziehungsform gelang, ein disziplinäres Zugehörigkeitsverständnis. Überdies bildeten die so angeknüpften Beziehungen das Startkapital für eine weitere akademische Laufbahn, denn der Aufbau wissenschaftlicher Reputation und die Erschließung von Publikationsmöglichkeiten hingen von der Patronage akademischen Lehrer ab. Diese hatten überdies oft den Schlüssel zu zentralen Forschungsressourcen in der Hand: Der Zugang zu Arbeitsapparaten und historischen Quellen in den Archiven und Bibliotheken war Nachwuchsforschern in der Regel nur dank dem regelgerechten sozialen Einsatz von Empfehlungsschreiben akkreditierter, bekannter Historiker möglich. In diesen hochpersonalisierten Förderungsbeziehungen galt es immer wieder, auf sozialem Status, persönlichen Beziehungen und Vertrauen basierende Förderungsentscheidungen in die Sprache wissenschaftlicher Leistung zu übersetzen. Die Lehrgänge und großen Editionsprojekte des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung boten eine spezifische Dichte an Lernmöglichkeiten, Forschungskommunikationen und Mentoratsbeziehungen, die privilegierte Ressourcenzugänge und Förderungsmöglichkeiten sowie eine äußerst starke Identifikation mit der „Instituts-Genossenschaft“9 hervorbrachten. Dort eröffneten sich seit den 1870er Jahren auch erste Erwerbsmöglichkeiten in Forschungsorganisationen. In Zürich hingegen, wo sich Forschungsprojekte in der Regel auf Einzelpersonen beschränkten, blieb die Sozialisation von Quellenforschern viel stärker auf persönliche Beziehungen zu akademischen Lehrern, eine individuelle Aneignung von Arbeitshaltungen sowie die Eigeninitiative von Studierenden etwa in studentischen Clubs verwiesen. Vor dem Hintergrund dieser beruflichen Sozialisation wurden die Ressourcen verwandtschaftlicher Unterstützung und geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung, auf die sich viele der untersuchten Historiker stützen konnten, oft unsichtbar. Während die Beziehungen zu den wissenschaftlichen „Vätern“ in Selbstdarstellungen eingingen, blieben der privaten Sphäre zugeordnete Sozialisationsinstanzen und Faktoren der Forschungspraxis in den Selbstbeschreibungen des Faches weitgehend ausgeklammert. Dies darf nicht darüber hinweg täuschen, dass verwandtschaftliche Ressourcen für 9
Theodor Sickel an Julius Ficker, 18.09.1882 aus Aussee, Archiv IfÖG, fol. 108f., hier 108r.
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angehende Hochschulhistoriker nicht nur als mitgebrachtes soziales Kapital in Form von Status, sondern auch in Gestalt konkreter ökonomischer Unterstützungsleistungen und Vererbungsvorgänge von Bedeutung waren. Über finanzielle Hilfestellungen hinaus leisteten Verwandte wie Ehepartnerinnen auch konkrete, unausgewiesene Beiträge zur Quellenforschung. Eltern spielten überdies bei der Wahl der Berufslaufbahn und bei der emotionalen und intellektuellen Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Zielen eine große Rolle. Umgekehrt bedeutete dies auch, dass das Fehlen solcher verwandtschaftlicher Hilfeleistungen für Forscher zu einem ernsthaften Problem werden konnte. Insbesondere die informelle weibliche Mitarbeit in Haushalten bildete einen wichtigen Bestandteil der geschichtswissenschaftlichen Praxis, denn Ehefrauen und andere häusliche Mitarbeiterinnen trugen auf vielfältige Weise zu Recherchen, Schreib- und Ordnungsarbeiten bei, die die materialreichen Forschungen der untersuchten Historiker charakterisierten. Diese Beiträge waren stark vergeschlechtlicht. Obwohl sich die Arbeiten der im Hintergrund wirkenden Frauen in manchen Fällen nicht von denjenigen unterschieden, die die Historiker selbst verrichteten, wurden sie im Rahmen des bürgerlichen Ehe- und Geschlechterkonzepts nicht als schöpferisch wahrgenommen. Wie sich an Auseinandersetzungen über die Vererbung von Forschungsmaterial aufzeigen lässt, wurde auch gleichzeitig immer wieder weibliches Kapital in wissenschaftliche Ressourcen verwandelt. Diese Indienstnahme wurde von praktischen wie symbolischen Grenzziehungen begleitet: Die Zuarbeit von Frauen wurde als mechanisch abgewertet und als Beziehungsarbeit vom Fachbeitrag abgegrenzt – als Liebesdienst, der Bertha Meyer von Knonau sogar ein scherzhaftes „summa cum laude“ im „Ehestandsexamen“10 eintrug. Geschichtswissenschaft und Quellenforschung bildeten im Untersuchungszeitraum einen hochgradig männlich konnotierten Raum, der immer wieder sinnbildlich aktualisiert wurde – nicht zuletzt durch die Inszenierung männlicher Genealogien der Geschichtswissenschaft, wie sie sich in der akademischen Denkmal- und Festkultur äußerten. Diese geschichtswissenschaftliche Geschlechterpolitik hielt auch über das Ende des formalen Ausschlusses von Frauen aus den Universitäten und aus Forschungsorganisationen hinaus an. Die Sozialisation im professionellen Rahmen der geschichtswissenschaftlichen Lehr- und Forschungspraxis führte zu der Etablierung eines spezifisch geschichtswissenschaftlichen Selbstverständnisses, in dessen Zentrum die Auseinandersetzung mit den historischen Quellen stand. Eigenschaften wie die hingebungsvolle Versenkung in die Sprache der Quellen, strengste Genauigkeit bei der Quellenregistrierung und das aufmerksame Ausharren im – unter Umständen schwer zu ertragenden – Archiv stellten wichtige His10
Hugo Blümner, Gratulationsgedicht zum 70. Geburtstag von Gerold Meyer von Knonau, August 1913, ZBZ FA Meyer v. Knonau 34d.7. Hervorhebung im Original.
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torikertugenden dar, die die Schärfung des Quellenblicks spiegelten. Damit verband sich eine deutliche Verschiebung der geschichtswissenschaftlichen Erkenntnispositionen: Im historiographischen Modus des quellenfokussierten Unterrichts, wie er bis in die 1880er Jahre dominierte, wurde der Unterschied zwischen den Erkenntnisweisen zeitgenössischer Historiker und denjenigen der mittelalterlichen oder antiken Autoren älterer narrativer Quellen nicht als prinzipieller Unterschied, sondern eher in einer Kontinuität oder graduellen Abstufung gesehen. Daraus ergab sich für die Forschungssubjekte die Möglichkeit, sich in eine historiographische Kontinuität zu stellen, die sie mit ihren Untersuchungsobjekten verband. Dies wird beispielsweise daran ersichtlich, dass vereinzelt alte historiographische Texte noch als stilistische Vorbilder historiographischer Darstellung betrachtet wurden. Ähnlich konnten sich die Juristen, Archivare und Geistlichen, die zum Schweizerischen Urkundenregister beitrugen, mit ihrer Registrierungstätigkeit in einer praktischen Kontinuität zu ihren Vorgängern der kirchlichen und staatlichen Administration sehen, die selbst Schriftgut hervorgebracht hatten, das nun als historische Quelle verwertet wurde. Diese Erkenntnisposition verlor ab den 1880er Jahren graduell an Repräsentativität. Mit der zunehmenden Verallgemeinerung des Blicks auf die Quelle, der methodologischen Aufrüstung des Unterrichts und der Ausweitung einer disziplinären Rhetorik der „historischen Methode“ wurde diese Kontinuitätsvorstellung zunehmend vom Konzept einer grundlegenden Differenz zwischen den – wie und von wem auch immer produzierten – Quellen und den Hervorbringungen ihrer Betrachter, der Historiker, abgelöst. Wie aus den fachlichen Sozialisationsprozessen, die eine zunehmende Verberuflichung der Tätigkeit von Hochschulhistorikern erkennen lassen, ging aus dieser Differenzierung ein gestärktes epistemisches Subjekt der Geschichtswissenschaft hervor. Damit wurde auch eine Grundlage für die Annahme geschaffen, zwischen der Gegenwart der Historiker und den von ihnen untersuchten Vergangenheiten bestehe eine weitgehende, unüberwindliche Differenz – eine Annahme, wie sie in der Wahrnehmung der Moderne zum Ausdruck kam.
Bibliographie Abkürzungsverzeichnis AdG GG GWU HA HZ MIÖG NA ÖZG SZG ZfG ZHF
Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde Geschichte und Gesellschaft Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Historische Anthropologie Historische Zeitschrift Mitteilungen des österreichischen Instituts für Geschichtsforschung Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften Schweizerische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zeitschrift für Historische Forschung
Untersuchungsmaterial Ungedruckt Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv (ÖStA AVA) Ministerium für Cultus und Unterricht Institut für österreichische Geschichtsforschung: MCU 4A, Fasc. 668, 669, 670 Monumenta graphica: MCU 4A, Fasc. 671 Seminare : MCU 4A, Fasc. 689, 693, 698 Lehrkanzeln: MCU 4, Fasc. 628, 629 Monumenta Germaniae Historica: MCU 24/25, Fasc. 4788 Professoren: MCU 4, 634–643 Privatdozenten: MCU 4, 651 Historisches Seminar, Philologisch-historisches Seminar: MCU 4A, Fasc. 693 Archiv der Universität Wien (UA Wien) Personalakte: Bauer, Bittner, Büdinger, Dopsch, Fournier, Hirsch, Hirn, Huber, Kaser, Kretschmayr, Lorenz, Mühlbacher, Nistor, Ottenthal, Pribram, Redlich, Schlitter, Sickel, Srbik, Zeissberg Sonderreihe DA Ph/S 16 Photographie Selekt DA, Ph 34.20 Nachfolge Mühlbacher Akten des Historischen Instituts der Universität Wien Archiv des Instituts für österreichische Geschichtsforschung (Archiv IfÖG) Prüfungsakten Institutsakten
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Bibliographie
Institutsakten: Akten zu den Monumenta graphica NL Julius Ficker NL Engelbert Mühlbacher NL Hans Hirsch NL Alfons Huber NL Emil v. Ottenthal NL Oswald Redlich NL Theodor Sickel NL Johann Friedrich Böhmer Regesta Imperii Schweizerisches Bundesarchiv Bern (BAR) Eidgenössisches Departement des Innern: E 88 -/--, Bd. 9, Doss. 85, 86, 87, E 88 -/--, Bd. 10, Doss. 91 Allgemeine geschichtforschende Gesellschaft der Schweiz: J II. 127 -/1:1 Burgerbibliothek Bern (BB Bern) N: Mss.h.h.XX: VI.103 Nachlass Basilius Hidber Zentralbibliothek Zürich, Handschriftenabteilung (ZBZ) FA Meyer v. Knonau: 32ba, 32bd–be, 34 FA v. Wyss: IX 301–364 NL Karl Dändliker NL Paul Schweizer NL Ernst Gagliardi Ms T 160, (Friedrich) Salomon Vögelin Ms T 316, (Friedrich) Salomon Vögelin Staatsarchiv des Kantons Zürich (StAZH) Unterricht: Preisaufgaben allgemein: U 94.1b:10; 94.1b:18; U 94.2:13; U 94.3: 3; U 94.4:3 Preisaufgaben Philosophische Fakultät: U 108d.1 Semesterarbeiten allgemein: U 98.1:3; U 98.2:1;U 98.3:6 Seminarien Kollektivakten: U 94.2:8; U 94.3:2; Historisches Seminar: U 109g.1:3; U 109g.2:3; U 109g.3:3 Errichtung neuer Lehrstellen 1870–1878: U 94.1b:11 Projekt einer schweizerischen Akademie der Wissenschaften: U 94.2:2 Subventionierung der kantonalen Hochschulen: U 94.2:6 Leitung und Lehrerschaft im allgemeinen: Professoren überhaupt: U 97.1:9 Leitung und Lehrerschaft im allgemeinen: Privatdozenten überhaupt: U 97.2:10 Phil. Fak. I: Professoren allgemein: U 109a.1 Phil. Fak. I: Einzelne Professoren: U 109b.1b Phil. Fak I: Einzelne Privatdozenten: U 109d.1 Protokolle der Philosophischen Fakultät I, 1833–1916: Z 70.2896–Z 70.2899 Dozentenalbum 1879–1912: Z 70.3082 Dozentenalbum 1812–1946: Z 70.3083 Wissenschaftshistorische Sammlungen der ETH (WHS ETH) Schulratsarchiv: Schulratsprotokolle 1855–1914
Untersuchungsmaterial
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Archiv der Universität Zürich (UAZ) Dozentendossier Sieveking, Heinrich Johann, 1871–1946, Nationalökonomie, AB.1.0927
Gedruckt Ausgewertete Periodika Anzeiger für schweizerische Geschichte und Alterthumskunde. Hrsg. Allgemeine Geschichtforschende Gesellschaft der Schweiz, 14 Jg. in 2 [bzw. 3] Bänden, 1855–1869. Anzeiger für schweizerische Geschichte. Hrsg. Allgemeine Geschichtforschende Gesellschaft der Schweiz, NF, 18 Bde., 1870–1920. Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde, 1820–1874. Archiv für Schweizerische Geschichte, Hrsg. Allgemeine Geschichtforschende Gesellschaft der Schweiz, 20 Bde., 1843–1875. Bundesblatt der schweizerischen Eidgenossenschaft, Bern 1849–. Historische Zeitung, Hrsg. Allgemeine Geschichtforschende Gesellschaft der Schweiz, 1853–1854. Jahrbuch für die Litteratur der Schweizergeschichte, 1. Jg./1867, Zürich 1867. Jahrbuch für die Litteratur der Schweizergeschichte, 2. Jg./1868, Zürich 1869. Jahrbuch für schweizerische Geschichte, Bde. 1–45 Hrsg. auf Veranst. der Allgemeinen Geschichtforschenden Gesellschaft der Schweiz, 1876–1920. Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung (1880–). Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde, 1876–1935. Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsbände (1885–). Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Klasse der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, 1848–.
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Bibliographie
durch das Original selbst auf einfache und schnelle Weise Druckformen herzustellen, Wien 1854. Auer von Welsbach, Alois: Der polygraphische Apparat oder die verschiedenen Kunstfächer der k. k. Hof- und Staatsdruckerei zu Wien, Wien 1853. [Auer von Welsbach, Alois:] Die Buchschriften des Mittelalters mit besonderer Berücksichtigung der deutschen, und zwar vom sechsten Jahrhundert bis zur Erfindung der Buchdruckerkunst. Historisch-technisch begründet von einem Mitgliede der k.-k. Hof- und Staatsdruckerei zu Wien bei Gelegenheit der Hrsg. des Urkundenbuches für das Benediktiner-Stift Kremsmünster, Wien 1852. [Auer von Welsbach, Alois]: Geschichte der k.k. Hof- und Staatsdruckerei in Wien. Von einem Typographen dieser Anstalt, mit Anhang, Uebersicht der von der Wiener k.k. Hof- und Staatsdruckerei in London aufgestellten Gegenstände aller graphischen Kunstzweige, Wien 1851. Auer von Welsbach, Alois: Sprachenhalle, oder das Vater-Unser in 206 Sprachen und Mundarten. Mit allen den Völkern eigenthümlichen Typen, in 8 Tafeln, Wien 1847. Auer von Welsbach, Alois: Sprachenhalle, oder das Vater-Unser in 608 Sprachen und Mundarten. Mit lateinischen Typen, in 9 Tafeln, Wien 1844. Bechstein, A.: Ueber plastische Siegel-Nachbildungen, namentlich in Metall, in: Zeitschrift für die Archive Deutschlands 2/1850, S. 55–57. Beck von Mannagetta, Leo/Kelle, Carl von (Hrsg.): Die österreichischen Universitätsgesetze. Sammlung der für die österreichischen Universitäten gültigen Gesetze, Verordnungen, Erlässe, Studien- und Prüfungsordnungen usw. im Auftrage des k. k. Ministeriums für Kultus und Unterricht mit Benützung der amtlichen Akten [...], Wien 1906. Berner Chronik [Kurznekrolog Basilius Hidber], in: Berner Taschenbuch 7/1901, S. 311– 324. Bernheim, Ernst: Lehrbuch der Historischen Methode und der Geschichtsphilosophie, 5. u. 6., neu bearb. u. verm. Aufl., Leipzig 1908. Bibliothèque de l’École des Chartes I/1839–40, S. 408 [Ohne Titel; über das Fotografieren von historischen Quellen]. Böhmer, Johann Friedrich: Acta Imperii selecta. Urkunden deutscher Könige und Kaiser 928–1398, Mit einem Anhang von Reichssachen, Aus dem Nachl. hrsg. v. Julius Ficker, Innsbruck 1870. Böhmer, Johann Friedrich: Additamentum tertium ad Regesta imperii inde ab anno MCCCXIIII usque ad annum MCCCXLVII. 3. Erg.heft zu den Regesten Kaiser Ludwigs des Baiern und seiner Zeit, Hrsg. Julius Ficker, Frankfurt a. M./Innsbruck 1865. Böhmer, Johann Friedrich: Additamentum secundum ad Regesta Imperii inde ab anno MCCXLVI usque ad annum MCCCXIII. 2. Erg.heft zu den Regesten des Kaiserreichs von 1246 bis 1313, Stuttgart 1857. Böhmer, Johann Friedrich: Regesta Imperii inde ab anno MCXCVIII usque ad annum MCCLIV. Die Regesten des Kaiserreichs unter Philipp, Otto IV, Friedrich II, Heinrich (VII) und Conrad IV, 1198–1254, Stuttgart 1849. Böhmer, Johann Friedrich: Additamentum primum ad Regesta Imperii inde ab anno MCCXLVI usque ad annum MCCCXIII. 1. Erg.heft zu den Regesten des Kaiserreichs von 1246 bis 1313, Stuttgart 1849. Böhmer, Johann Friedrich: Additamentum secundum ad Regesta Imperii inde ab anno MCCCXIIII usque ad annum MCCCXLVII. 2. Erg.heft zu den Regesten Kaiser Ludwigs des Baiern und seiner Zeit, 1314–1347, Leipzig 1849.
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Böhmer, Johann Friedrich: Regesta Imperii inde ab anno MCCXLVI usque ad annum MCCCXIII. Die Regesten des Kaiserreichs unter Heinrich Raspe, Wilhelm, Richard, Rudolf, Adolf, Albrecht und Heinrich VII, 1246–1313, Stuttgart 1844. Böhmer, Johann Friedrich: Addidamentum primum ad Regesta Imperii inde ab anno MCCCXIIII usque ad annum MCCCXLVII. 1. Erg.heft zu den Regesten Kaiser Ludwigs des Baiern und seiner Zeit, 1314–1347, Frankfurt a. M. 1841. Böhmer, Johann Friedrich: Regesta Imperii inde ab anno MCCCXIIII usque ad annum MCCCXLVII. Die Urkunden Kaiser Ludwigs des Baiern, König Friedrichs des Schönen und König Johanns von Böhmen nebst einer Auswahl der Briefe und Bullen der Päbste und anderer Urkunden, welche für die Geschichte Deutschlands von 1314 bis 1347 vorzüglich wichtig sind, Frankfurt a. M. 1839. Böhmer, Johann Friedrich: Regesta chronologico-diplomatica Karolorum. Die Urkunden sämmtlicher Karolinger in kurzen Auszügen, Frankfurt a. M. 1833. Böhmer, Johann Friedrich: Regesta chronologico-diplomatica regum atque Imperatorum Romanorum inde a Conrado I. usque ad Heinricum VII. Die Urkunden der Römischen Könige und Kaiser von Conrad I. bis Heinrich VII. 911–1313, in kurzen Auszügen, Frankfurt a. M 1831. Böhmer, Johann Friedrich: Ansichten über die Wiedergabe handschriftlicher Geschichtsquellen im Druck, in: Zeitschrift für die Archive Deutschlands 2/1851, S. 131–137. Böhmer, Johann Friedrich: Plan des Unternehmens, in: AdG V/1824, S. 788–806. Böhmer, J. F. Regesta Imperii I. Die Regesten des Kaiserreichs unter den Karolingern, 751– 918, neu bearb. v. Engelbert Mühlbacher u. vollendet v. Johann Lechner, 2. Aufl., Innsbruck 1908. Böhmer, J. F. Regesta Imperii I. Die Regesten des Kaiserreichs unter den Karolingern, 751– 918, neu bearb. v. Engelbert Mühlbacher, Innsbruck 1889. Boguth, Walther: Die Gründung des akademischen Vereins deutscher Historiker in Wien vor 25 Jahren, in: Festschr. des akademischen Vereines deutscher Historiker in Wien, Hrsg. anläßlich der des 25jährigen Bestandes, Wien 1914, S. 3–6. Bresslau, Harry: [Selbstdarstellung], in: Steinberg, Sigfrid H. (Hrsg.): Die Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. 1, Leipzig 1926, S. 28–55. Bresslau, Harry: Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien, Berlin/Leipzig 1889–1960. Bretholz, Berthold: Theodor v[on] Sickel, in: Zeitschrift des Deutschen Vereins für die Geschichte Mährens und Schlesiens 13/1909, S. 1–28. Chladenius, Johann Martin: Allgemeine Geschichtswissenschaft, worinnen der Grund zu einer neuen Einsicht in alle Arten der Gelahrtheit geleget wird, Leipzig 1752. D[ändliker], C[arl]: Professor Johann Jakob Müller. Biographische Skizze, in: Pädagogischer Beobachter. Wochenblatt für Erziehung und Unterricht NF 4/1878, S. 1f. Diplomata Helvetica Varia. Vermischte Schweizerische Urkunden, als Beilage zum Schweizerischen Urkundenregister hrsg. v. Basilius Hidber, Bern 1873. Dopsch, Alfons: [Selbstdarstellung], in: Steinberg, Sigfrid H. (Hrsg.): Die Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Leipzig 1925, S. 51–90. Dopsch, Alfons: Unedirte Karolinger-Diplome aus französischen Handschriften, in: MIÖG 16/1895, S. 193–221. Dopsch, Alfons: Wirtschaftliche und soziale Grundlagen der europäischen Kulturentwicklung aus der Zeit von Cäser bis auf Karl den Großen, 2 Bde., Wien 1918–20. Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik, Leipzig 1868.
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Personenregister Amiet, Josef Ignaz 241, 250 Arneth, Alfred von 275, 296 Arnim, Bettina von 179, 212 Aschbach, Joseph 104 Auer, Alois 285, 287, 291, 295, 304f., 307, 316, 319 Bayer, Viktor 350 Bernheim, Ernst 16, 115 Bessel, Gottfried 90, 290 Birkenstock, Johann Melchior von 90 Bittner, Hertha 201 Blümner, Hugo 207, 215 Blumenberg, Hans 17 Boccard, François 251 Böhmer, Johann Friedrich 51, 120, 145, 148, 150, 197, 226, 256, 323, 327, 329– 331, 339, 341–343, 345, 347, 350f., 356, 365, 372, 377, 380f., 383f. Bormann, Eugen 85 Bourdieu, Pierre 174 Bresslau, Harry 155, 326 Büdinger, Mathilde 217 Büdinger, Max 75, 78, 85, 104–106, 111, 113–115, 117, 125, 160, 185, 217 Burckhardt, Jacob 127 Caro, Georg 79, 100f., 132–135 Chladenius, Johann Martin 15 Chmel, Joseph 51, 54, 340 Dändliker, Karl 116, 131, 144f., 188–190, 203 Dändliker-Bosshart, Susanna 207 Daguerre, Louis Jacques Mandé 286 Delisle, Léopold 162f. Derrida, Jacques 31 Dewey, John 33 Dopsch, Alfons 101, 107, 135, 151, 155, 160–163, 167–169, 171, 200, 344, 364 Droysen, Johann Gustav 16, 115 Dudík, Beda 283–285, 307 Dümmler, Ernst 359 Dufresne, Antoine-François 161f. Einhard 114 Engel, Josef 91 Erb, Franz von 308–310
Erben, Wilhelm 208 Ernst, Wolfgang 32, 272 Fallöcher, Sigismund 292 Fanta, Adolf 353 Fehr-Oechsli, Elwine Berta 208 Feil, Joseph 274, 285, 302 Fellner, Günter 135 Ferstel, Heinrich von 179 Ficker, Julius 101, 120, 122, 148–152, 156–160, 171, 183, 191, 193, 196–199, 204, 209, 284, 328–384 Fleck, Ludwik 33 Forel, François 246, 264 Foucard, Cesare 280 Foucault, Michel 31 Fournier, August 76f. Franz Joseph I. 340 Freytag, Gustav 221 Friedrich II. 341, 369 Fueter, Eduard 147 Fueter, Rudolf 218 Furrer, Sigismund 251 Gagliardi, Ernst 141–143, 208, 217 Gallati, Frieda 202 Gatterer, Johann Christoph 88, 90 Georgisch, Peter 330 Gingins, Frédéric de 61 Giry, Arthur 162f. Gitlbauer, Michael 201 Gloria, Andrea 281, 290 Graf, Emma 208 Grauert, Wilhelm 103 Harder, Hans Wilhelm 261 Hartmann, Annie 185 Hartmann, Ludo Moritz 101, 135 Hartmann, Otto 130f., 151 Hausen, Karin 216 Hederich, Benjamin 88 Heer, Johann Christoph 221, 224 Held, Bertha 210–212, siehe auch Meyer von Knonau, Bertha Helfert, Josef Alexander von 51f. Hellmer, Edmund 181 Henne-Am Rhyn, Otto 130f. Herkner, Heinrich 133
458
Personenregister
Herodot 114 Heuberger, Richard 208, 210, 213 Heusler, Andreas 61 Hidber, Basilius 39, 224–270, 301, 323 Hirn, Josef 77 Hirsch, Hans 300 Hirschfeld, Otto 85 Honegger, Johann Jakob 84, 129 Hottinger, Johann Jakob 61, 100, 111– 113, 115 Hotz, Johann Heinrich 261, 268f. Huber, Alfons 77, 101, 120–122, 180, 193, 352, 355, 388 Huch, Ricarda 202
Mommsen, Theodor 141, 169 Morel, Gall 251, 265 Mühlbacher, Engelbert 101, 122, 151– 153, 160–162, 169, 180, 183, 191–195, 199, 201, 204, 209, 219, 331–384 Müller, Johann Jakob 78, 144, 190 Müller, Johannes von 111, 145 Nüscheler, Arnold
325
Jäger, Albert 95, 98, 104, 274–276, 285, 287f., 302
Oechsli, Wilhelm 100, 208, 217 Omont, Henri Auguste 162f. Ottenthal, Emil von 123, 149f., 157f., 163, 168, 170, 179, 183, 193, 198, 205, 213, 331, 337, 352, 355 Otto I. 373f. Otto III. 337
Kaiser, Jakob 231, 237f., 268 Kaiser, Johann Nepomuk 92, 275 Kaltenbrunner, Ferdinand 198 Karl der Große 309 Kehr, Paul 169 Konrad I. 337 Kopp, Joseph Eutych 226 Krütli, Josef Karl 231, 234, 254 Kuchenbuch, Ludolf 18 Kurz, Josef 296
Pastor, Ludwig von 393, 399 Patzelt, Erna 200 Pertz, Georg Heinrich 183, 329–334, 336, 340, 356, 376 Pertz, Karl 183, 333, 336, 356f. Pez, Bernhard 90 Pez, Hieronymus 90 Pick, Behrendt 79, 100, 147 Pioda, Giovanni Battista 233f. Polanyi, Michael 33
Lachmann, Karl 367f. Ladner, Gerhard 169 Lamprecht, Karl 134 Latour, Bruno 35 Leigh Star, Susan 241 Liebenau, Theodor von 239 Lorenz, Ottokar 95, 98, 104, 116, 137, 176 Lothar I. 374 Lotze, Moritz 293
Radkau, Joachim 17 Radkau, Orlinde 17 Rahn, Johann Rudolf 186, 211 Ranke, Leopold von 108, 177, 179, 346 Redlich, Oswald 125, 151, 155, 170f., 193, 344, 352, 355 Redtenbacher, Joseph 285, 291, 307 Rheinberger, Hans-Jörg 36 Rovida, Gaetano 251 Rüsen, Jörn 26 Ruhleder, Karen 241
Maistre, Joseph de 345 Maximilian I. 277 Merkel, Johannes 110 Meyer von Knonau, Bertha 207, 210f. Meyer von Knonau, Emerentiana 185– 187, 212–214 Meyer von Knonau, Gerold 78, 85, 118, 131, 143–147, 151, 155, 160, 171, 185– 188, 196, 202f., 207–210, 212–214, 217f., 221, 237f., 246 Mohr, Theodor von 226, 261, 265 Mommertz, Monika 214
Salis, Meta von 202 Schneller, Josef 250 Schönherr, David 204 Schweizer, Paul 79, 100, 211, 218 Semper, Gottfried 179 Sickel, Theodor 52f., 75, 77, 98, 119, 122, 148–152, 155–160, 170f., 180, 183f., 192f., 198f., 205, 208f., 252, 271–322, 332–385, 388 Sickel, Wilhelm 184 Sickel-Semper, Anna 208
Personenregister Sieber, Johann Kaspar 67, 79, 105f., 128 Sieveking, Heinrich 133 Spruner, Karl von 348 Stern, Alfred 108, 177–179, 202, 218 Stumpf-Brentano, Karl Friedrich 157, 196–199, 336, 354, 368, 372f. Stumpf-Brentano, Magdalena 197–199 Sulzberger, Johann Ludwig 234 Sybel, Heinrich von 106, 145, 320, 343– 345 Talbot, William Henry Fox 286 Tangl, Michael 158, 166, 201, 344, 364 Thommen, Rudolf 158 Tortual, Florenz 183 Tschaffeler, Marie 193 Tschudi, Aegidius 112 Übersberger, Hans 75 Uhlirz, Karl 208 Uhlirz, Mathilde 208 Varnhagen, Rahel
179
Vischer, Wilhelm 238 Vögelin, Friedrich Salomon 130, 221 von Wyss, Georg 160 Vulliemin, Louis 61
459
79, 84, 127–
Waitz, Georg 108, 145, 177, 179, 239, 246, 251, 357 Wartmann, Hermann 237f., 246 Welti, Emil 233 White, Hayden 26 Winistörfer, Urban 241f., 247, 253, 265 Winkler, Melitta 201 Wobbe, Theresa 216 Wyss, Georg von 61, 100, 131, 196, 199, 224, 233f., 243, 251f., 263–265 Wyss, Nancy von 253 Zeissberg, Heinrich von 75, 180 Zellweger, Johann Caspar 61 Zimmermann, Michael 17 Zwingli, Huldrych 72
Ordnungssysteme Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit Herausgegeben von Jörg Baberowski, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael
Die Reihe Ordnungssysteme nimmt Impulse auf, die sich seit zwei Jahrzehnten aus der Revision politik- und sozialgeschichtlicher Forschungsansätze entwickelt haben. Als Forum einer methodisch erneuerten Ideengeschichte trägt sie der Wirksamkeit politischkultureller Traditionen Europas seit dem Zeitalter der Aufklärung Rechnung. Die besondere Aufmerksamkeit gilt dem konkreten Wechselspiel ideeller, politischer und sozialer Prozesse. Die Reihe Ordnungssysteme hat insbesondere das Ziel: – vergleichende Studien zu den nationalen Eigenarten und unterschiedlichen Traditionen in der europäischen Ideengeschichte zu fördern, – gemeineuropäische Dimensionen seit der Aufklärung zu untersuchen, – den Weg von neuen Ideen zu ihrer breitenwirksamen Durchsetzung zu erforschen. Die Reihe Ordnungssysteme verfolgt einige Themen mit besonderem Interesse: – den Ideenverkehr zwischen Europa und Nordamerika, – die Beziehungen zwischen politischen und religiösen Weltbildern, – die Umformung der politischen Leitideen von Liberalismus, Nationalismus und Sozialismus im 20. Jahrhundert, – die Herausbildung traditionsstiftender, regionenbezogener Gegensatzpaare in der europäischen Ideenwelt, wie zum Beispiel den Ost-West-Gegensatz. Die Reihe Ordnungssysteme bemüht sich um eine methodische Erneuerung der Ideengeschichte: – Sie verknüpft die Analyse von Werken und Ideen mit ihren sozialen, kulturellen und politischen Kontexten. – Sie untersucht die Bedeutung von Wissenssystemen in der Entwicklung der europäischen Gesellschaften. – Sie ersetzt die traditionelle Ideengeschichte der großen Werke und großen Autoren durch eine Ideengeschichte, die Soziabilität und Kommunikation als tragende Gestaltungskräfte kultureller Produktion besonders beachtet. – Sie bezieht Institutionen und Medien der Kulturproduktion systematisch in die Untersuchung ein.
Band 1:
Band 2:
Michael Hochgeschwender Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen 1998. 677 S. ISBN 978-3-486-56341-2
Thomas Sauer Westorientierung im deutschen Protestantismus? Vorstellungen und Tätigkeit des Kronberger Kreises 1999. VII, 326 S. ISBN 978-3-486-56342-9
Band 3:
Band 10:
Gudrun Kruip Das „Welt“-„Bild“ des Axel Springer Verlags Journalismus zwischen westlichen Werten und deutschen Denktraditionen 1999. 311 S. ISBN 978-3-486-56343-6
Martina Winkler Karel Kramář (1860–1937) Selbstbild, Fremdwahrnehmungen und Modernisierungsverständnis eines tschechischen Politikers 2002. 414 S. ISBN 978-3-486-56620-8
Band 4:
Band 11:
Axel Schildt Zwischen Abendland und Amerika Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre 1999. VIII, 242 S. ISBN 978-3-486-56344-3
Susanne Schattenberg Stalins Ingenieure Lebenswelten zwischen Technik und Terror in den 1930er Jahren 2002. 457 S. ISBN 978-3-486-56678-9
Band 5:
Rainer Lindner Historiker und Herrschaft Nationsbildung und Geschichtspolitik in Weißrußland im 19. und 20. Jahrhundert 1999. 536 S. ISBN 978-3-486-56455-6
Band 12:
Torsten Rüting Pavlov und der Neue Mensch Diskurse über Disziplinierung in Sowjetrussland 2002. 337 S. ISBN 978-3-486-56679-6
Band 6:
Jin-Sung Chun Das Bild der Moderne in der Nachkriegszeit Die westdeutsche „Strukturgeschichte“ im Spannungsfeld von Modernitätskritik und wissenschaftlicher Innovation 1948–1962 2000. 277 S. ISBN 978-3-486-56484-6
Band 13:
Julia Angster Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie Die Westernisierung von SPD und DGB 2003. 538 S. ISBN 978-3-486-56676-5 Band 14:
Band 7:
Frank Becker Bilder von Krieg und Nation Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit Deutschlands 1864–1913 2001. 601 S. und 32 S. Bildteil ISBN 978-3-486-56545-4
Christoph Weischer Das Unternehmen ‚Empirische Sozialforschung‘ Strukturen, Praktiken und Leitbilder der Sozialforschung in der Bundesrepublik Deutschland 2004. X, 508 S. ISBN 978-3-486-56814-1
Band 8:
Band 15:
Martin Sabrow Das Diktat des Konsenses Geschichtswissenschaft in der DDR 1949–1969 2001. 488 S. ISBN 978-3-486-56559-1
Frieder Günther Denken vom Staat her Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949–1970 2004. 364 S. ISBN 978-3-486-56818-9
Band 9:
Thomas Etzemüller Sozialgeschichte als politische Geschichte Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 2001. VIII, 445 S. ISBN 978-3-486-56581-2
Band 16:
Ewald Grothe Zwischen Geschichte und Recht Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung 1900–1970 2005. 486 S. ISBN 978-3-486-57784-6
Band 17:
Band 24:
Anuschka Albertz Exemplarisches Heldentum Die Rezeptionsgeschichte der Schlacht an den Thermopylen von der Antike bis zur Gegenwart 2006. 424 S., zahlreiche Abb. ISBN 978-3-486-57985-7
Rüdiger Graf Die Zukunft der Weimarer Republik Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918–1933 2008. 460 S. ISBN 978-3-486-58583-4 Band 25:
Volker Depkat Lebenswenden und Zeitenwenden Deutsche Politiker und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts 2007. 573 S. ISBN 978-3-486-57970-3
Jörn Leonhard Bellizismus und Nation Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in Europa und den Vereinigten Staaten 1750– 1914 2008. XIX, 1019 S. ISBN 978-3-486-58516-2
Band 19:
Band 26:
Lorenz Erren „Selbstkritik“ und Schuldbekenntnis Kommunikation und Herrschaft unter Stalin (1917–1953) 2008. 405 S. ISBN 978-3-486-57971-1
Ruth Rosenberger Experten für Humankapital Die Entdeckung des Personalmanagements in der Bundesrepublik Deutschland 2008. 482 S. ISBN 978-3-486-58620-6
Band 18:
Band 20:
Lutz Raphael, Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.) Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte 2006. 536 S. ISBN 978-3-486-57786-0
Band 27:
Désirée Schauz Strafen als moralische Besserung Eine Geschichte der Straffälligenfürsorge 1777–1933 2008. 432 S. ISBN 978-3-486-58704-3 Band 28:
Band 21:
Thomas Großbölting „Im Reich der Arbeit“ Die Repräsentation gesellschaftlicher Ordnung in den deutschen Industrie- und Gewerbeausstellungen 1790–1914 2007. 518 S., zahlreiche Abb. ISBN 978-3-486-58128-7 Band 22:
Wolfgang Hardtwig (Hrsg.) Ordnungen in der Krise Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933 2007. 566 S. ISBN 978-3-486-58177-5
Morten Reitmayer Elite Sozialgeschichte einer politischgesellschaftlichen Idee in der frühen Bundesrepublik 2009. 628 S. ISBN 978-3-486-58828-6 Band 29:
Sandra Dahlke Individiuum und Herrschaft im Stalinismus Emel’jan Jaroslavskij (1878–1943) 2010. 484 S., 9 Abb. ISBN 978-3-486-58955-9 Band 30:
Band 23:
Marcus M. Payk Der Geist der Demokratie Intellektuelle Orientierungsversuche im Feuilleton der frühen Bundesrepublik: Karl Korn und Peter de Mendelssohn 2008. 415 S. ISBN 978-3-486-58580-3
Klaus Gestwa Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus Sowjetische Technik- und Umweltgeschichte, 1948–1967 2010. 660 S., 18 Abb. ISBN 978-3-486-58963-4
Band 31:
Band 37:
Susanne Stein Von der Konsumenten- zur Produktionsstadt Aufbauvisionen und Städtebau im Neuen China, 1949–1957 2010. VIII, 425 Seiten, 107 Abb. ISBN 978-3-486-59809-4
Daniela Saxer Die Schärfung des Quellenblicks Forschungspraktiken in der Geschichtswissenschaft 1840–1914 2014. 459 S., 1 Abb. ISBN 978-3-486-70485-3 Band 38:
Band 32:
Fernando Esposito Mythische Moderne Aviatik, Faschismus und die Sehnsucht nach Ordnung in Deutschland und Italien 2011. 476 Seiten, 17 Abb. ISBN 978-3-486-59810-0 Band 33:
Silke Mende „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“ Eine Geschichte der Gründungsgrünen 2011. XII, 541 Seiten, 6 Abb. ISBN 978-3-486-59811-7
Johannes Grützmacher Die Baikal-Amur-Magistrale Vom stalinistischen Lager zum Mobilisierungsprojekt unter Brežnev 2012. IX, 503 S., 9 Abb. ISBN 978-3-486-70494-5 Band 39:
Stephanie Kleiner Staatsaktion im Wunderland Oper und Festspiel als Medien politischer Repräsentation (1890–1930) 2013. 588 S., 38 Abb. ISBN 978-3-486-70648-2 Band 40:
Band 34:
Wiebke Wiede Rasse im Buch Antisemitische und rassistische Publikationen in Verlagsprogrammen der Weimarer Republik 2011. VIII, 328 S., 7 Abb. ISBN 978-3-486-59828-5 Band 35:
Rüdiger Bergien Die bellizistische Republik Wehrkonsens und „Wehrhaftmachung“ in Deutschland 1918–1933 2011. 448 S. ISBN 978-3-486-59181-1
Patricia Hertel Der erinnerte Halbmond Islam und Nationalismus auf der Iberischen Halbinsel im 19. und 20. Jahrhundert 2012. 256 S., 22 Abb. ISBN 978-3-486-71661-0 Band 41:
Till Kössler Kinder der Demokratie Religiöse Erziehung und urbane Moderne in Spanien, 1890–1936 2013. 544 S., 19 Abb. ISBN 978-3-486-71891-1 Band 42:
Band 36:
Claudia Kemper Das „Gewissen“ 1919–1925 Kommunikation und Vernetzung der Jungkonservativen 2011. 517 S. ISBN 978-3-486-70496-9
Daniel Menning Standesgemäße Ordnung in der Moderne Adlige Familienstrategien und Gesellschaftsentwürfe in Deutschland 1840–1945 2014. 470 S., 8 Abb. ISBN 978-3-486-78143-4