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German Pages 324 [323] Year 1976
DIE ROLLE DER VOLKSMASSEN IN DER GESCHICHTE DER VORKAPITALISTISCHEN GESELLSCHAFTSFORMATIONEN
BAND
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VERÖFFENTLICHUNGEN des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie der Wissenschaften der DDR HERAUSGEGEBEN VON
JOACHIM H E R R M A N N
DIE ROLLE DER VOLKSMASSEN IN DER GESCHICHTE DER VORKAPITALISTISCHEN GESELLSCHAFTSFORMATIONEN
Zum XIV. Internationalen Historiker-Kongreß in San Francisco 1975 HERAUSGEGEBEN VON
JOACHIM HERRMANN UND
IRMGARD SELLNOW
AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1975
Redaktion: Eva Bitsehl (Leiterin), Teja Erb, Dieter Warnke, Dankwart Rahnenführer
Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 © 1975 by Akademie-Verlag Lizenznummer: 202 • 100/224/75 • P 24/75 Einband und Schutzumschlag: Nina Striewski Herstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 445 Gräfenhainichen • 4452 Bestellnummer: 752 777 4 (2153/7) • LSV 0225 Printed in GDR EVP28-M
Inhalt
Vorwort W e r n e r Kaiweit, Vizepräsident der Akademie der Wissenschaften der D D R Eröffnungsansprache
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Volksbewegungen und Klassenkämpfe in der Erdwicklung der Gesellschaft J o a c h i m H e r r m a n n (Berlin) Die Rolle der Volkemassen f ü r den historischen F o r t s c h r i t t in den vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen. Probleme der Forschung
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I r m g a r d Sellnow (Berlin) Die Ü b e r w i n d u n g u r g e m e i n s c h a f t l i c h e r Traditionen im Prozeß der S t a a t s e n t s t e h u n g . D a r g e s t e l l t a m Beispiel südafrikanischer B a n t u stämme
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Stefan Grunert (Berlin) Einige B e m e r k u n g e n zu den sozialen U n r u h e n in Ägypten am E n d e des Alten Reiches (Pap. Leiden I 344 rc.)
39
P e t e r Zieme (Berlin) Z u m Verhältnis S t a m m — Herrscher in der Zeit der osttürkischen Reiche ( 6 . - 8 . J h . )
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H e l m u t F r e y d a n k (Berlin) Die Rolle der Deportierten im mittelassyrischen S t a a t
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Karl-Heinz B e r n h a r d t (Berlin) Revolutionäre Volksbewegungen im vorhellenistischen Syrien und Palästina
65
F r a n z Altheim u n d R u t h Stiehl (Münster) Die Lage der B a u e r n u n t e r den s p ä t e n S&s&niden
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Gabriele Bockisch (Berlin) Die Rolle der Volksmassen bei der E n t s t e h u n g der f r ü h e n Polis (12.— 8. J h . v. u. Z.)
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Inhalt
Gert Audring (Berlin) Historische Leistungen der attischen B a u e r n s c h a f t
103
Pavel Oliva (Prag) Die Helotenfrage in der Geschichte S p a r t a s
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B a r b a r a Zuchold (Jena) Die römischen kleinen B a u e r n 200 bis 133 v. u . Z
117
I s t v ä n H a h n (Budapest) Der Klassenkampf der plebs urbana in den letzten J a h r z e h n t e n der römischen R e p u b l i k
121
Liselotte J a c o b (Berlin) Aufstände u n d Volksbewegungen in der Darstellung A m m i a n s . . . Bruno K r ü g e r (Berlin) Der Freiheitskampf germanischer S t ä m m e während der römischen Offensive in den J a h r e n 12 v. u. Z. bis 16 u. Z Rigobert G ü n t h e r (Leipzig) Die Volksbewegungen in der S p ä t a n t i k e u n d ihre B e d e u t u n g f ü r den gesellschaftlichen F o r t s c h r i t t im Feudalismus
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167
P e t e r D o n a t (Berlin) Z u m P r o b l e m der sozialökonomischen Differenzierung der bäuerlichen P r o d u z e n t e n im ostfränkischen Reich (Nach archäologischen Quellen)
175
Helga K ö p s t e i n (Berlin) Zur Rolle der Agrarbevölkerung in Byzanz im ausgehenden 6. u n d 7. J h
187
A. R . K o r s u n s k i j (Moskau) Über einige charakteristische Züge des sozialen K a m p f e s der Volksmassen in der Periode des Übergangs von der Urgesellschaft zur Feudalgesellschaft in E u r o p a
195
Siegfried Epperlein (Berlin) Volksbewegungen im frühmittelalterlichen E u r o p a — eine Skizze . . V. J . Dovzenok (Kiew) Über die grundlegenden Voraussetzungen der E n t s t e h u n g von Klassen bei d e n Ostslawen E c k h a r d Müller-Mertens (Berlin) Der Sachsenkrieg von 1073 bis 1075 u n d die F r a g e n a c h dem Verbleib freier B a u e r n in der Feudalgeaellschaft Die Rolle der Volksmassen in Ideologie und
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Kultur
Walter R ü b e n (Berlin) Die B e d e u t u n g der Volksmassen f ü r die E n t d e c k u n g des K r i t e r i u m s der P r a x i s im alten Indien
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Inhalt
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Heinrich K u c h (Berlin) Polisdemokratie u n d Tragödie
263
R e i m a r Müller (Berlin) Zur sozialen U t o p i e im Hellenismus
277
J ö r g Milbradt (Berlin) D a s P u b l i k u m der römischen Komödie
287
Heinz Berthold (Halle/S.) Die Bolle der Massen in Lucans Epos vom Bürgerkrieg
293
J o h a n n e s Irmscher (Berlin) Die Widerspiegelung der Rolle der Volksmassen in der historischen L i t e r a t u r der Justinianischen Zeit
301
Friedrich Schlette (Halle/S.) Dialektische Beziehungen zwischen Persönlichkeit u n d Volksmassen in der Urgesellschaft
309
Zdzislaw R a j e w s k i (Warschau) Zur Rolle des heidnischen Zauberer- u n d P r i e s t e r t u m s bei den Slawen in der Periode der Herausbildung u n d Festigung des F e u d a l systems
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Vorwort
Der vorliegende Band „Die Rolle der Volksmassen in der Geschichte der vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen" ist als Ergebnis und in Auswertung einer Arbeitstagung im November 1973 in Berlin entstanden, zu der das Zentralinstitut für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie der Wissenschaften der D D R eingeladen hatte. Die Referate und Diskussionsbeiträge sind von den Autoren für den Druck z. T. erheblich überarbeitet, weiter ausgeführt und mit Anmerkungen versehen worden. Die Ergebnisse der zeitweise sehr lebhaften Diskussion in den Plenarsitzungen und in zwei Sektionen finden in den Druckmanuskripten ihre Berücksichtigung. Die Tagung setzte sich zum Ziel — wie der Vizepräsident der Akademie der Wissenschaften der DDR, Werner Kaiweit, in seiner Begrüßungs- und Eröffnungsadresse bemerkte —, ein Grundproblem der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft stärker in das Forschungsfeld zu rücken. Die Forderung danach leitet sich aus der Praxis unserer Zeit und der generellen Bedeutung des Problems für das Geschichts- und Weltbild her. Der nun vorliegende Sammelband stellt einen ersten Ansatz dar. Es galt, die Vielfalt und Vielseitigkeit der Fragestellung ebenso zu beleuchten wie ihre Kompliziertheit und Widersprüchlichkeit. Daher ist bewußt der Breite und Mannigfaltigkeit Raum gegeben worden. Die Spezialisten verschiedener Disziplinen, der Archäologie, Ur- und Frühgeschichte, Ägyptologie, Turkologie, Indologie, Byzantinistik, Altphilologie, griechischen und römischen Kulturgeschichte, Ethnologie, Judaistik, Althistorie und Mediävistik, legen ihre Gedanken und Arbeitsergebnisse zum Problem der Rolle der Volksmassen vor und stellen sie zur Diskussion. Der vorliegende Band greift eine Thematik auf, die bereits während einer Arbeitstagung über die Entstehung des Staates im Jahre 1970 sichtbar geworden war. 1 Inzwischen ist diese Fragestellung in einer Anzahl von Forschungsarbeiten weiter verfolgt worden. Sie erwies sich als ein Kernproblem bei der Ausarbeitung 1
Vgl. die daraus hervorgegangene Veröffentlichung „Beiträge zur Entstehung des Staates", hrsg. von Joachim Herrmann und Irmgard Sellnow (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie der Wissenschaften der D D R , Bd. 1), Berlin 1973; 2. Auflage Berlin 1974.
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Vorwort
von Geschichts- und Kulturgeschichtsdarstellungen, die anstreben, den Wesenszusammenhang und die Triebkräfte der Geschichte aufzudecken. Insbesondere verlangte die Rolle der Volksmassen eine gründliche Untersuchung im Zusammenhang mit der Ausarbeitung der Geschichte des deutschen Volkes von den Anfängen bis zur Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der Deutschen Demokratischen Republik 2 , bei der Vorbereitung eines Abrisses „Weltgeschichte bis zur Herausbildung des Feudalismus" 3 sowie für die Ausarbeitung eines zweibändigen Werkes „Kulturgeschichte der griechisch-römischen Antike".4 Während der Vorbereitung der Manuskripte und der Diskussion der genannten Werke stellte sich die Frage der Volksmassen nicht nur als Problem, sondern auch als ein Gegenstand, über dessen Bedeutung die einzelnen Autoren zum Teil unterschiedliche Auffassungen vertraten und vertreten. Insbesondere geht es um den Stellenwert der Volksbewegungen und Klassenkämpfe bei der Entstehung und Herausbildung der Grundlagen der einzelnen Gesellschaftsformationen, ihrer ökonomischen Strukturen, ihrer Klassenstrukturen, ihrer juristischen und politischen Institutionen und ihrer Kultur. Der Leser wird auch im vorliegenden Band unterschiedliche Auffassungen zu diesen Fragen widergespiegelt finden, insbesondere auch im Hinblick auf die Rolle der Volksbewegungen bei der Überwindung der antiken Sklavenhalterordnung und der Herausbildung der Feudalgesellschaft. Es konnte nicht Ziel der Tagung und kann nicht Ziel der vorliegenden Veröffentlichung sein, das Thema vollständig zu behandeln. Weder Kraft noch Zeit reichten aus, um auch nur alle großen und wichtigen Volkskämpfe erneut zu analysieren, zumal die einseitige Quellenüberlieferung der herrschenden Klasse diese Analyse in der Regel zu einem aufwendigen Unternehmen werden läßt. So sind bedauerlicherweise den großen Klassenauseinandersetzungen und Volkskämpfen in China am Ende des 3. Jh. v. u. Z., am Ende der Han-Zeit und in der TangZeit usw. keine Beiträge gewidmet. Ebenso hätten sich Veranstalter der Tagung und Herausgeber auch eine Untersuchung der Bedeutung und Wirkung des Mazdak-Aufstandes für den Übergang zur Feudalgesellschaft gewünscht. Aber auch die Rolle der großen Skiavenaufstände vor allem im 2. und 1. Jh. v. u. Z. für die Entwicklung der römischen Gesellschaft ist bei weitem noch nicht zureichend behandelt worden. Wenn auf solche Untersuchungen und Beiträge 2
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Klassenkampf, Tradition, Sozialismus. Von den Anfängen der Geschichte des deutschen Volkes bis zur Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der Deutschen Demokratischen Republik. Grundriß, Berlin 1974. Weltgeschichte bis zur Herausbildung des Feudalismus. Abriß. Ausgearbeitet von einem Autorenkollektiv unter der Leitung von I. Sellnow (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie der AdW der D D R , Bd. 5, 1 und 2), Berlin 1976 (im Druck). Kulturgeschichte der griechisch-römischen Antike. Ausgearbeitet von einem Autorenkollektiv unter Leitung von R. Müller (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie der AdW der D D R , Bd. 6, 1 und 2), Berlin 1976 (im Druck).
Vorwort
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verzichtet werden mußte, dann geschah und geschieht das nur unter Bedauern über diese Lücken in der Entwicklung der marxistisch-leninistischen Geschichtsforschung vor allem in der DDR. Der vorliegende Band läßt diese Lücken sichtbar werden, und es wäre ein Gewinn, wenn er zu ihrer allmählichen Beseitigung anregen könnte. Joachim Herrmann
Eröffnungsansprache des Vizepräsidenten der Akademie der Wissenschaften der Deutschen Demokratischen Republik Prof. Dr. Werner Kaiweit
Meine sehr verehrten Damen und Herrn, liebe Genossen und Freunde! Ich eröffne die vom Zentralinstitut für Alte Geschichte und Archäologie einberufene Arbeitstagung zur „Rolle der Volksmassen in der Geschichte bis zur Herausbildung des Feudalismus". Neben Fachkollegen aus verschiedenen Instituten der Deutschen Demokratischen Republik darf ich Akademiemitglieder und hervorragende Fachvertreter aus der Sowjetunion, der ÖSSR, der V R Polen und der Ungarischen Volksrepublik begrüßen. Ich freue mich, unter den Teilnehmern der Tagung den Vizepräsidenten der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften, Akademiemitglied Josef Poulik, begrüßen zu können. Ihre Tagung beschäftigt sich mit der Rolle der Volksmassen in den frühen ökonomischen Gesellschaftsformationen. In unserer Zeit, die gekennzeichnet ist durch den gesetzmäßigen Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus, haben die Klassenkämpfe der Volksmassen, mit ihrem Kern in der Arbeiterklasse, ein in der bisherigen Geschichte nie gekanntes Ausmaß erreicht. Zu allen Zeiten waren die Volksmassen Schöpfer und Hauptkraft der Geschichte, bestimmten sie letztlich den Geschichtsverlauf, auch wenn ihrer Rolle unter den Bedingungen der Ausbeuterherrschaft prinzipielle Schranken gesetzt waren. Die sozialistische Revolution fällt diese Schranken und verändert grundlegend die Rolle der Volksmassen im gesellschaftlichen Leben. Heute ist die Rolle der Volksmassen als geschichtsbestimmende Kraft Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen sozialistischen und bürgerlichen Positionen, zwischen revolutionären und reaktionären Kräften. Immer größere Teile der Menschheit werden in den Kampf für gesellschaftlichen Fortschritt und für die Durchsetzung der Politik der friedlichen Koexistenz einbezogen. Die anwachsende Macht und Ausstrahlungskraft des Sozialismus gibt dieser bewußten und organisierten Volksbewegung die reale Basis für ihre weitere weltweite Entfaltung. Der Moskauer Weltfriedenskongreß hat diesen Zusammenhang zwischen der wachsenden Stärke der sozialistischen Staatengemeinschaft und den Kämpfen der Volksmassen unter der Führung der Arbeiterklasse und ihrer kommunistischen und Arbeiterparteien um ökonomischen und sozialen Fortschritt, um nationale Befreiung und die Durschsetzung der Politik der friedlichen Koexistenz deutlich herausgearbeitet. Mit dem Thema der heutigen Tagung rücken Sie eine der wichtigsten Fragen der Geschichte in den Vordergrund der wissenschaftlichen Arbeit. Können wir
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WEBNEB
KAI,WEIT
doch nicht übersehen, daß Strukturen und Reste früherer, vorkapitalistischer Gesellschaftsformationen in großen Teilen der Welt unmittelbar in den Geschichtsprozeß unserer Zeit hineinreichen. Unter diesen Bedingungen kommt der Untersuchung der Rolle der Volksmassen in vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen unmittelbare Bedeutung für die weitere Entwicklung ihrer Aktivität in der Gegenwart zu. Nur äußerst selten stellte die bürgerliche Geschichtsschreibung die Frage nach der Rolle der Volksmassen in der Geschichte. Selbst in wirtschaftshistorischen Betrachtungen, die den Anspruch erheben, grundlegend für bestimmte Perioden zu sein — denken wir nur an Brentano, Rostovtzeff oder Heichelheim —, stehen die Menschen als Produzenten der materiellen Kultur und Zivilisation hinter Technik und Austausch der Produktion weit zurück. Aber auch in der marxistischen Geschichtsforschung sind nicht alle Fragen geklärt und bestehen infolge ihrer Kompliziertheit zum Teil unterschiedliche Auffassungen. Gestatten Sie daher, daß ich zu Beginn Ihrer Tagung aus der Rede W. I. Lenins zur Rolle der Volksmassen in der Periode der proletarischen Revolution auf dem III. Kongreß der Kommunistischen Internationale im Juli 1921 zitiere: „Der Begriff 'Masse' ändert sich, je nachdem sich der Charakter des Kampfes ändert. Zu Beginn des Kampfes genügten schon tausend wirklich revolutionäre Arbeiter, damit man von der Masse sprechen konnte . . . Wir haben in unseren Revolutionen Fälle erlebt, wo einige tausend Arbeiter schon die Masse vertraten . . . Wenn einige tausend parteilose Arbeiter . . . revolutionär zu handeln beginnen, so ist das die Masse . . . Ist die Revolution schon genügend vorbereitet, so ändert sich der Begriff der 'Masse': einige tausend Arbeiter stellen keine Masse mehr dar. Der Begriff der Masse ändert sich in dem Sinne, daß man darunter die Mehrheit zu verstehen hat, und zwar nicht nur die einfache Mehrheit der Arbeiter, sondern die Mehrheit aller Ausgebeuteten . . . " Nichts wäre falscher, unmarxistischer, als diese aus den Erfahrungen der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution gewonnene Definition schematisch auf vorkapitalistische Gesellschaften anzuwenden. Doch scheint mir der Hinweis auf die Veränderlichkeit des Begriffsinhalts in Abhängigkeit von der historischen Situation eine Erkenntnis zu sein, die auch bei der Erforschung der Rolle der Volksmassen in früheren ökonomischen Gesellschaftsformationen Beachtung verdient. Ist diese Schwierigkeit schon bei der ausgeprägten und für uns besser durchschaubaren Klassensituation des Kapitalismus vorhanden, wie erst in den komplizierteren der vorkapitalistischen Zeit. Sie haben sich mit Ihrer Tagung die Aufgabe gestellt, tiefer in das Verständnis der Rolle der Volksmassen in der Menschheitsgeschichte einzudringen. Das Programm Ihrer Tagung weist eine große Vielfalt von Themen und Diskussionsfragen aus. Ich bin sicher, daß Sie dieses umfangreiche Programm in den nächsten Tagen erfolgreich durchführen und mit Ihrer Arbeit zur weiteren Vertiefung der marxistisch-leninistischen Geschichtsauffassung beitragen werden. Ich wünsche Ihrer Tagung einen guten und erfolgreichen Verlauf.
Die Rolle der Yolksmassen für den historischen Fortschritt in den vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen. Probleme der Forschung1 Von
JOACHIM HERBMANN
(Berlin)
Die Geschichte unserer Zeit ist die Geschichte der weltweiten Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Kapitalismus um die revolutionäre, sozialistische Umgestaltung der Welt. Die Klassenkämpfe haben Ausmaße erreicht, wie sie in der bisherigen Weltgeschichte unbekannt gewesen sind, und die Rolle der Volksmassen als geschichtsbestimmende Kraft ist alltägliche Wirklichkeit. Das Geschichtsbild spielt in diesen Auseinandersetzungen keine geringe Rolle. Eine der Hauptfragen, an denen sich die marxistische Geschichts- und Kulturgeschichtsforschung von der bürgerlichen Geschichtsschreibung scheidet, ist, wie A. W. Fadejew in einem Beitrag in der Zeitschrift Voprosy Istorii formulierte, „die Frage nach der Rolle der Volksmassen".2 Diese Frage ist engstens mit der Frage nach den Grundlagen der Geschichte, ihren Triebkräften und der Höherentwicklung der Gesellschaft verbunden. Richten wir unseren Blick auf die neuere bürgerliche Geschichts- und Kulturgeschichtsschreibung, so finden wir dort die Volksmassen als gestaltende historische Kraft in der Regel aus der Geschichte eliminiert, die Triebkraft der Geschichte wird Eliten wie von Toynbee, dem Energiezuwachs wie von der Schule Varagnacs oder selbst genetischen Programmierungen wie von Ardrey, Lorenz u. a. Verfassern historischer Theorien und Darstellungen zugeschrieben. Für die Zeit der Klassengesellschaft ist die Rolle der Volksmassen nicht anders zu erfassen und zu untersuchen als in engstem Zusammenhang mit der 1
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2
Der vorliegende Beitrag gibt im wesentlichen das Referat der Tagung wieder, ergänzt durch einige Anmerkungen und Einfügungen, in denen Ergebnisse, die an anderer Stelle ausgearbeitet wurden, resümiert werden. So sind einige aufgeworfene Fragen zuletzt in zwei Untersuchungen weiter verfolgt worden: In der Klasse Gesellschaftswissenschaften I I der Akademie der Wissenschaften der D D R konnte Verf. über die Rolle der Volksmassen im Zusammenhang mit revolutionären U m wälzungen eine lebhafte Diskussion einleiten. Vgl. J . Herrmann, Das Problem der revolutionären Veränderungen in den vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen und die Rolle der Volksmassen (Sitzungsberichte des Plenums und der Klassen der A d W der D D R 1974, Heft 116, Berlin 1975). Weiterhin sind einige Probleme behandelt in der Studie: Knotenpunkte der Geschichte und revolutionäre Volksbewegungen vor der Herausbildung des Kapitalismus, in: Evolution und Revolution in der Weltgeschichte, Ernst Engelberg zum 65. Geburtstag, Berlin 1976. Zitiert nach der Übersetzung: A. W . Fadejew, Probleme der Kulturgeschichte, in: Sowjetwissenschaft, Gesellschaftswissenschaft!. Beiträge 1964, 857. Gesellschaftsformationen
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Joachim Herbmann
Klassengliederung der Gesellschaft, dem Klassenkampf und seiner Entwicklung. Friedrich Engels wies in der Vorrede zum Kommunistischen Manifest der englischen Ausgabe von 1888 auf einen Grundgedanken des „Manifestes" hin: Er hob hervor, daß die Geschichte der „Klassenkämpfe eine E n t w i c k l u n g s r e i h e darstellt, in der gegenwärtig eine Stufe erreicht ist, wo die ausgebeutete und unterdrückte Klasse — das Proletariat — ihre Befreiung vom Joch der ausbeutenden und herrschenden Klasse — der Bourgeoisie — nicht erreichen kann, ohne zugleich die ganze Gesellschaft ein für allemal von aller Ausbeutung und Unterdrückung, von allen Klassenunterschieden und Klassenkämpfen zu befreien". 3 Die Untersuchung der Rolle der Volksmassen in der Geschichte wird daher von der durch Klassengliederung und Klassenkampf bestimmten objektiven Stellung der Volksmassen in der Gesellschaft ausgehen müssen. Dabei werden wir unter „Volksmassen" in der Klassengesellschaft die arbeitenden, ausgebeuteten, den gesellschaftlichen Reichtum schaffenden Menschen der jeweiligen Geschichtsperiode in ihren klassenbedingten gesellschaftlichen Beziehungen und Kämpfen verstehen. Grundsätzlich und theoretisch scheint in der marxistischen Geschichtswissenschaft die Frage der Volksmassen und ihre Rolle in der Geschichte gelöst. Bei näherer Untersuchung und in der konkreten historischen Forschung ergeben sich jedoch nicht nur Detailprobleme, sondern auch erhebliche Unterschiede in der Auffassung von der historischen Wirksamkeit der Volksmassen. Jürgen Kuczynski stellte ganz kategorisch fest: „Mit der Schaffung des Klassenstaates hören die Massen der Unterdrückten auf, in der Geschichte eine schöpferische Rolle zu spielen. Alles, was die Urgemeinschaft geschaffen, war das Werk der Gemeinschaft. Jetzt übernimmt die herrschende Klasse die schöpferische Rolle in der Geschichte. Sie schafft in der Sklavenhaltergesellschaft das, was wir Kultur nennen, sie formt die Gesellschaft in ihren Interessen entsprechender Organisation. Die Sklaven sind die notwendige Grundlage, ohne die die Gesellschaft nicht funktionieren kann. Wie sie aber funktioniert, wie sie fortschreitet, das bestimmt schöpferisch die herrschende Klasse".4 Gewiß haben Marx, Engels und Lenin keinen Zweifel daran gelassen, daß die Aktivität der Volksmassen und die historische Wirksamkeit dieser Aktivität verschiedene Etappen durchlief, eine „Entwicklungsreihe" — wie Engels unter Bezug auf den Klassenkampf sagte —, in die mit der proletarischen Revolution eine gänzlich neue Qualität, die des bewußten, aktiven, politischen Gestaltens der Gesellschaft durch den Kampf der Arbeiterklasse unter Führung ihrer marxistisch-leninistischen Partei trat. Daraus ergibt sich jedoch m. E. durchaus nicht die Schlußfolgerung, daß in der Vergangenheit „schöpferisch die herrschende Klasse" schlechthin fungierte und allein das Fortschreiten der Gesellschaft bestimmte. 3
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Friedrich Engels, Vorrede zum „Manifest der Kommunistischen Partei", engl. Ausgabe von 1888, in: Marx-Engels, Werke Bd. 21, Berlin 1962, 357; vgl. auch Friedrich Engels, Anti-Dühring, in: Marx-Engels, Werke Bd. 20, Berlin 1962, 25. J. Kuczynski, Grundzüge der vorkapitalistischen Produktionsweisen, Berlin 1968, 20.
Eolie der Volksmassen für den historischen Fortschritt
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Die Gesellschaft war stets — um nochmals Lenin zu zitieren — „ein lebendiger Organismus in seinem Funktionieren und seiner Entwicklung" 5 , und für die Bewegung dieses Organismus kam den Volksmassen eine ganz wesentliche Bolle zu. Läßt sich diese mit der Feststellung, daß die Volksmassen vor allem in dieser unmittelbaren Produktion eine Rolle spielten, wie es häufig formuliert wird, tatsächlich in der wissenschaftlichen Analyse ausreichend umschreiben? Erschöpfte sich die Rolle der Volksmassen in der tagtäglichen Produktion und lag in dieser Tätigkeit ihre eigentliche Geschichtswirksamkeit ? Eine solche Auffassung übersieht, daß es eine von der Gesellschaft losgelöste Produktion nicht gegeben hat, sondern daß diese seit der Klassengesellschaft eben Bestandteil jenes auf Ausbeutung und Klassenherrschaft beruhenden Gesamtorganismus der Gesellschaft gewesen ist. Wir treffen bei der Untersuchung der historischen Zusammenhänge zu dieser Frage daher sogleich auf die in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung durchgesetzte Form der Produktionsverhältnisse. Einen schöpferischen Produzenten an sich hat es nicht gegeben, er konnte nur innerhalb seiner Klasse und in den Auseinandersetzungen im Klassenkampf existieren. Nun wird sogleich von verschiedenen Seiten der Einwand erhoben, daß die Klassenstruktur in den frühen Gesellschaftsformationen wenig ausgebildet war, daß vielmehr Ständegliederung, Kastenwesen usw. die Produzenten erfaßte und daß unter diesen Bedingungen der Klassenkampf sich nicht entfalten konnte oder ihm mindestens keine Bedeutung zugekommen sei. 6 Die Volksbewegungen werden als „isolierte Aufstände" charakterisiert, die für den Fortschritt der Gesellschaft eher hemmend als förderlich gewesen seien, die Zielstellungen solcher Aufstände werden oft als reaktionär oder wenigstens als nach rückwärts gerichtete Bewegungen dargestellt. In der Tat zeigt eine Analyse der subjektiv verfolgten Ziele der großen Volkskämpfe und Volkskriege der frühen Klassengesellschaften, daß diese zumeist unklar und konfus gewesen sind. In der Regel standen — unter Berufung auf die Zeit der Urgesellschaft — die Herstellung sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit, die Gütergemeinschaft, die gleiche Verteilung der Produktionsmittel, die Abschaffung von Herrschaft und Unterdrückung im Mittelpunkt; Aristonikos proklamierte um 130 v. u. Z. die Utopie vom Sonnenstaat, die attischen Kleinbauern fochten um Gleichheit der Rechte und Schuldenfreiheit ihrer Wirtschaften. Im ersten uns bekannten Großen Chinesischen Bauernaufstand am Ende des 3. Jh. v. u. Z. setzten sich die Führer der Bewegung mit ähnlichen Reformlosungen an die Spitze der Bauern — und gründeten eine neue Herrscherdynastie, die der Han. Am Ende des 5. Jh. führte der große Mazdak gleichfalls unter religiösen Losungen die iranischen Massen zur Abschaffung der sozialen Unterschiede und zur Herstellung gleicher Rechte am Boden. Vergessen wir jedoch nicht, daß selbst die bürgerliche Revolution unter reli5
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2*
W. I. Lenin, Was sind die „Volksfreunde" und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokratie? in: Lenin, Werke Bd. 1, Berlin 1968, 184. Z. B. J. Klima in einer Rezension in der Deutschen Literaturzeitung 93, 1972, 360.
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JOACHIM H E R R M A N N
giösen Losungen eingeleitet wurde, unter religiösen Utopien, die ihre Begründung aus der Vergangenheit herleiteten, wie z. B. auch Thomas Müntzer es unternahm. Es wäre also gänzlich verfehlt, wollten wir die historische Stellung und Wirksamkeit derartiger großer Volksaufstände an den subjektiv unklaren, zumeist utopischen und religiös verkleideten Zielstellungen messen. Diese zeigen doch nur zweierlei: erstens, daß vorproletarische Volksbewegungen keine andere ideologische Basis zu finden vermögen als die der vorwissenschaftlichen, zumeist religiösen Vorstellungen und Lehren, und zweitens, daß diese Zielvorstellungen an den Verhältnissen der urkommunistischen Vergangenheit entwickelt wurden oder besser an den Vorstellungen, die unter den jeweiligen Gesellschaftsverhältnissen über diese urkommunistische Vergangenheit tradiert worden sind. Derartige subjektiv unklare Ziele dürfen uns nicht daran hindern, die objektive Bedeutung der großen Volksbewegungen für den gesellschaftlichen Fortschritt zu bestimmen. Die Analyse dieser Ziele kann nicht in erster Linie unter formalvergleichenden Gesichtspunkten geschehen, sondern in bezug auf den vielfach überdeckten realen sozialen Inhalt. W. I. Lenin machte u. a. auf eine wesentliche Aufgabe aufmerksam, die den Volksmassen in der bürgerlichen Revolution zufiel: den Weg für die neue Gesellschaft durch Zerstörung der Strukturen und Machtorgane der alten Gesellschaft freizukämpfen.7 Im Grunde bestimmte Lenin damit einen wesentlichen Inhalt der Dialektik der vorproletarischen revolutionären Bewegungen. Wenn wir die Bedeutung solcher Kämpfe gründlich erfassen wollen, gilt es zu beachten, daß innerhalb der Ausbeutergesellschaft eine bedeutende Klassenkontinuität auch über revolutionäre Umwälzungen hinweg bestehen kann und daß solche revolutionären Umwälzungen sich in größeren Zeitdimensionen vollzogen als in den Revolutionen zum Kapitalismus. Beachtet werden sollte auch, daß politische und soziale Umwälzung zwar eine Einheit bilden, aber daß es Phasenverschiebungen geben kann, beide Seiten des revolutionären Prozesses sich also nicht gleichzeitig vollziehen müssen. Nicht jedem großen Volksaufstand fiel eine revolutionäre Aufgabe, d. h. die Umwälzung der Gesellschaft, zu. Vielfach ging es darum, den Prozeß der evolutionären Umgestaltung der Gesellschaft, über deren Richtung Fraktionen der herrschenden Klasse im Streit oder Kampf lagen, zu beschleunigen. Eine solche Rolle spielten offensichtlich die Volksaufstände in den ersten Jahrhunderten der Klassengesellschaft. Grundsätzlich jedoch stellt sich das Problem der revolutionären, von den Volksmassen durchgekämpften Umwälzungen auch in älteren Perioden der Menschheitsgeschichte. Vor der proletarischen Revolution hatten die arbeitenden Klassen der Gesellschaft, hatten die Volksmassen, historisch keine objektive Möglichkeit, ihre Herrschaft zu errichten und die Gesellschaft nach ihrem Bilde zu gestalten. Darüber gibt es keinen Zweifel. Auch dort, wo Volksaufstände zeitweilig sieg7
W . I. Lenin, D i e nächsten A u f g a b e n der S o w j e t m a c h t , Werke B d . 27, B e r l i n 1960, 230.
Rolle der Volksmassen für den historischen Fortschritt
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reich verliefen, brachten sie neue Herrscher, neue Ausbeuter zur Macht wie in dem bereits erwähnten Bauernaufstand, der zur Gründung der Han-Dynastie führte. Aber es war letztlich doch eine andere Gesellschaftsstruktur, die auf diesem Wege durchgesetzt wurde und die in Dekreten über größere Rechte der Bauern, über die Stimulierung wirtschaftlicher Landerschließung, über die Senkung der Abgabe u. a. ihren Ausdruck fand. Vielleicht ging in dieser Zeit der chinesische Bauer den Schritt vom handgezogenen Spatenpflug zum ochsengezogenen Pflug und zur Entwicklung individueller, effektiver Wirtschaft, die Städte jedenfalls kamen nunmehr zur Warenproduktion auf der Grundlage des privaten Eigentums. Das Münzwesen dehnte sich aus, kurz das Land erlebte nach der Stagnation der vorhergehenden Qin-Zeit eine Blüte — eine Blüte als antagonistische Ausbeutergesellschaft. Sie wurde hervorgebracht durch das infolge des umwälzenden Bauernaufstandes veränderte Verhältnis zwischen den Klassen, durch die sichere Stellung der Bauern und die von den Massen erkämpfte größere Bewegungsfreiheit der Produzenten insgesamt. Es versteht sich von selbst, daß eine Aussage zur historischen Stellung derartiger umfassender Volksbewegungen nur getroffen werden kann, wenn die Veränderung der Klassenverhältnisse, die sie bewirkt haben, analysiert wird. Für die Perioden der alten Geschichte ist das bisher in seltenen Fällen geschehen. So gibt es wohl keinen Zweifel, daß die Kämpfe der attischen Bauern und Bürger im 7. und 6. Jh. v. u. Z. revolutionären Charakter hatten. Solon eröffnete auf dieser Grundlage „die Reihe der sogenannten politischen Revolutionen, und zwar mit einem Eingriff in das Eigentum". 8 Mit gewissen Analogien und Ergebnissen verlief auch der Kampf der Patrizier und Plebejer in Rom, der in den revolutionierenden Dekreten des Servius Tullius seinen Ausdruck fand. Auf diese Weise wurde im Mittelmeergebiet — entsprechend den in den Produktivkräften inzwischen herangereiften Möglichkeiten — die antike Form des Privateigentums an den Produktionsmitteln durchgesetzt. Die konsequente Folge dieser Eigentumsstruktur mußte die absolute Sklaverei, d. h. die ebenfalls als Ware, als Sachgut vorgenommene Aneignung des Produzenten durch den Eigentümer der Produktionsmittel sein. Die Herausbildung der Klasse der Sklaven wird sich nicht begreifen lassen, ohne daß die gesellschaftliche Umwelt, in der sich dieser Prozeß vollzog, gründlich berücksichtigt wird. Diese Umwelt wurde nicht nur durch die Auseinandersetzung mit der orientalischen Klassengesellschaft, vor allem vertreten durch das Perserreich, geprägt, sondern auch in bedeutendem Maße in Auseinandersetzung mit den noch in ganz Südost- und Ost-, Mittel- und Westeuropa und Nordafrika dominierenden gentilgesellschaftlichen Gruppen, Stämmen und Stammesverbänden. Diese Konfrontation erschwerte einerseits der entstehenden Sklavenhaltergesellschaft den Aufbau der Ausbeuterorganisation. Selbst das Römische Reich wurde auf der Höhe seiner Macht damit nicht fertig. Anderer8
F . Engels, Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, in: MarxEngels, Werke B d . 21, Berlin 1962, 112.
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HERRMANN
seits jedoch bildeten diese Verhältnisse eine wesentliche Voraussetzung für die Überführung von immer neuen Menschenmassen in die Sklaverei und ihre Verbindung mit den Produktionsmitteln in den Zentren der Entwicklung der antiken Sklavenhaltergesellschaft. Es ist verständlich, daß die Sklaven, da sie weitgehend in privater Produktionssphäre eingesetzt waren, also isoliert oder in kleinen Gruppen produzierten, unterschiedlicher ethnischer Herkunft waren, verschiedene Sprachen und Vorstellungswelten hatten, oftmals unterschiedliche Positionen im Wirtschaftsleben einnahmen und größtenteils in harter Knechtung und Isolierung gehalten wurden, natürlich kaum zur Klasse für sich, d. h. zu einer Klasse mit spezifischem Klassenbewußtsein, mit eigener Interessenartikulation und Interessenvertretung gelangen konnten. Daher blieben die Kämpfe der Sklaven und die Zielstellungen dieser Kämpfe im wesentlichen isoliert — bis auf wenige große Aufstände, unter denen der Spartakusaufstand im Jahre 73 und 71 v. u. Z. ohne Zweifel den ersten Platz einnimmt. Daß jedoch selbst unter diesen Bedingungen die Kämpfe der Sklaven nicht ohne Wirksamkeit auf die Entwicklung der antiken Produktionsweise und staatlichen Organisationen gewesen sind, ist offenkundig und bedarf hier nicht der näheren Erörterung.9 Innerhalb der antiken Sklaverei machte sich jedoch ein weiterer Widerspruch geltend: der zwischen der herrschenden Klasse des führenden, den Staat beherrschenden Populus Romanus und den unterworfenen Volksstämmen. Dieser Widerspruch ergab sich notwendigerweise aus der unterschiedlichen Durchsetzung der Klassengesellschaften gegenüber der Gentilgesellschaft, letztlich also aus der historisch-gesetzmäßigen Ungleichmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung in den verschiedenen Teilen der Ökumene. In die antike Sklavenhaltergesellschaft waren in deren Aufstiegsphase weite Gebiete Europas sowie solche Asiens und Afrikas einbezogen worden, die bisher keine klassengesellschaftlichen Verhältnisse kannten. Nicht nur, daß sich in diesen Gebieten die klassische Sklavenhalterordnung nur zum Teil durchsetzte, sondern in der Ausprägung der Widersprüche der krisenerschütterten Sklavenhalterordnung erlangten sie einen spezifischen Platz. Zwar waren die verschiedenen Volksstämme dieser Gebiete bereits beachtlich gesellschaftlich differenziert, und diese Differenzierung schritt vielfach bis zur vollen Klassenausbildung voran. Jedoch vermochte die herrschende Schicht dieser Volksstämme vielfach noch als Führerin der weniger von ihr als von der römischen herrschenden Klasse und ihrem Staat ausgebeuteten und unterdrückten Volksmassen aufzutreten. Einerseits mit der herrschenden Klasse Roms vielfältig verbunden, stellten diese herrschenden Schichten der Volksstämme eigenständige Fraktionen dar, die in den Provinzen in ihren Volksstämmen jeweils über eine relativ breite Massenbasis verfügten. Es handelte sich vor allem um keltische und germanische Stammesverbände, die seit dem 3. Jh. Teile der beiden germanischen Provinzen, Galliens, Raetiens und seit dem 4. Jh. 9
Vgl. z. B . KT. A. Maschkin, Zwischen Republik und Kaiserreich. Ursprung und sozialer Charakter des Augusteischen Prinzipats, Leipzig 1954.
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auch Pannoniens, Dakiens, Moesiens u. a. Provinzen besiedelten. Im Süden nahmen arabische Stämme eine vergleichbare Rolle sowohl im Verhältnis zum Säsänidenreich als auch zum Römerreich ein. Es bildete sich ein kompliziertes Wechselverhältnis zum Gesamtorganismus der bereits stagnierenden und z. T. von heftigen Krisen erschütterten Sklavenhalterordnung heraus, das bisher m. E. nicht zureichend untersucht und durchleuchtet worden ist. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Diskussion zu dieser Frage auf dem letzten Welthistoriker-Kongreß in Moskau im Jahre 1970. Dieses Wechselverhältnis — wollten wir es nach dem heutigen Stand unseres Wissens thesenartig und in Form von Fragen charakterisieren — scheint durch folgende Züge bestimmt gewesen zu sein: 1. Die herrschenden Schichten der genannten Volksstämme traten in mehr oder weniger enge Beziehungen zur herrschenden Sklavenhalterklasse und deren Staat. Fraglich erscheint mir, ob die Annäherung so weit ging, daß wir sie als Fraktion, als Teil der herrschenden Sklavenhalterklasse ansehen können, oder ob wir sie nicht richtiger als Elemente einer neu entstehenden herrschenden Klasse innerhalb der antiken Sklavenhalterordnung bestimmen müßten. Die althistorische Forschung hat diese Gruppen weitgehend aus ihrer Struktur- und Klassenanalyse ausgeschlossen und sich in erster Linie auf Fraktionen der alten herrschenden Sklavenhalterklasse orientiert und in diesen Ansätze einer neuen revolutionären, progressiven Klasse gesucht. Die Mediävistik behandelt sie als Präludium kommender Jahrhunderte, oftmals ohne ihre enge Verflechtung zur Sklavenhalterordnung genauer zu untersuchen. 2. Die sozialökonomische Grundlage der Oberschicht der Volksstämme bildete die Verfügungsgewalt über Provinzialland, über Tribute oder Steuerteile des Sklavenhalterstaates, über eigene Hofwirtschaften oder Hofverbände, auf denen teilweise Sklaven oder sklavenähnlich gedrückte Knechte und Mägde ausgebeutet wurden, zu denen jedoch auch halbfreie Eigenwirtschaften gehörten. 3. Ein wesentliches Merkmal bestand darin, daß diese Oberschicht noch, anknüpfend an gentilgesellschaftlich-demokratische Organisationsformen, verhältnismäßig eng mit den selbstwirtschaftenden Stammesangehörigen verbunden war, daß beachtliche Interessenübereinstimmungen zwischen der Oberschicht der Volksstämme und den Massen dieser Stämme gegenüber der Sklavenhaltergesellschaft, deren herrschender Klasse und deren Staat vorhanden waren. 4. Infolge der von den Volksmassen dieser Stämme gentilgesellschaftlich-traditionell geprägten Heeresorganisation und der zunehmenden Verbindung dieser Organisation mit der römischen Heeresorganisation stellten diese Volksstämme mehr und mehr schlagkräftige militärische und politische Größen innerhalb der zerfallenden römischen Sklavenhaltergesellschaft dar. 5. Die Beziehungen zwischen den gesellschaftlichen Hauptkräften wurden in der spätantiken Gesellschaft durch diese Verhältnisse erheblich kompliziert. Die Tendenzen, die im 3. Jh. verstärkt eingesetzt hatten und die an der Basis zur Herausbildung anderer Formen der Ausbeutung, vor allem in Form des Kolonats, führten, setzten sich unter den Schlägen dieser gesellschaftlichen Kräfte, die
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zumeist als „Barbaren" bezeichnet werden, durch. Gleichzeitig damit zeigten sich Tendenzen zur Umschichtung der herrschenden Klasse, die bis zur Bildung von kleineren staatlichen Einheiten führten. Der römische Sklavenhalterstaat ging im 5. Jh. in großen Gebieten unter, an seiner Statt bildeten sich Teilstaaten, in deren Rahmen sich der Klassenkampf abzuspielen begann und zur Ausbildung neuer Produktionsverhältnisse beitrug. 6. Die feste Eingliederung der Volksstämme in den römischen Staat und damit in die römische Sklavenhaltergesellschaft führte dazu, daß sich die unmittelbaren Produzenten dieser Volksstämme, die Bauern und handwerklichen Spezialisten, in breitem Umfang die Fortschritte der in der antiken Gesellschaft erreichten Produktivkräfte aneigneten, natürlich begrenzt durch den eigenen unentwickelten Stand der Arbeitsteilung und der Gesellschaftsstruktur. Die Nachweise dieses für die Entwicklung der Produktivkräfte von der Antike zum Mittelalter bedeutsamen Vorganges haben in den vergangenen beiden Jahrzehnten infolge der ausgedehnten und auch auf Fragen der Ökonomie und der Sozialgeschichte orientierten archäologischen Forschungen beachtlich zugenommen. Unter der Decke spektakulärer Kriegsereignisse und politischer Katastrophen knüpften die arbeitenden Massen des Römerreiches die gesellschaftsgeschichtlich entscheidenden Fäden der Kontinuität in der Entwicklung der Produktivkräfte. In den z. T. sehr ausgedehnten, über ein Jahrhundert sich hinziehenden Untersuchungen zur Frage von Kontinuität und Diskontinuität zwischen Antike und Mittelalter hat eine solche Fragestellung keinen oder höchst selten am Rande Raum gefunden. Weder der weltgeschichtliche Fortschritt, der mit der Herausbildung der Feudalordnung verbunden war, noch die Rolle der Volksmassen in diesem Prozeß sind jedoch erkennbar, wenn diese Frage nicht stärker in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit gerückt wird. Es versteht sich von der Quellenlage her, daß nur interdisziplinäre Arbeit hier ausgewogene Ergebnisse erbringen kann. Immerhin sei gegenüber Argumentationen, die sich um absolute Gegenüberstellung von Römern und Barbaren bemühen, darauf hingewiesen, daß eine solche für die zeitgenössischen Schriftsteller und Historiker im späten Römerreich natürlich keineswegs mehr bestanden hat (z. B. bei Augustin und Orosius). 7. Es wurde in der Vergangenheit hin und wieder die These aufgestellt, die römische Sklavenhalterordnung sei durch den revolutionären Kampf der Sklaven und Kolonen überwunden worden. Untersuchungen haben ergeben, daß diese Auffassung nicht begründet ist. Hingegen ist es sicher, daß gebietsweise Sklaven und Kolonen im Zusammenwirken mit jener gesellschaftlichen Kraft der Volksstämme einen nicht unbedeutenden Anteil an der Zerschlagung der alten Gesellschaftsverhältnisse hatten und daß sie in diesen Kämpfen ihre sozialen Positionen gebietsweise verändern konnten. Große Teile der ehemaligen Ausbeuterklassen gingen infolge dieser Kämpfe in der sich bildenden Feudalklasse auf und nahmen natürlich teilweise ganz erheblichen Einfluß auf die Struktur, die politische Organisation, die Ausbildung des staatlichen juristischen Überbaus und die Ideologie der neuen Gesellschaft, angefangen bei der Ausbildung des
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Christentums, der Abfassung der sogenannten Volksrechte, den kirchlichen Rechtsvorstellungen, im Urkundenwesen usw. 8. Die antike Sklavenhaltergesellschaft ging — wie wir den Anteil der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen auch immer einschätzen werden — in ausgedehnten Kämpfen großer Volksmassen zugrunde, Kämpfen, die hinsichtlich zeitlicher und räumlicher Ausdehnung und im Hinblick auf den quantitativen Umfang in der vorhergehenden Geschichte keine Vorläufer hatten. Diese harten Kämpfe um die Herstellung neuer Machtverhältnisse durch die herrschenden Schichten der Volksstämme hatten zur Folge, daß die an ihnen beteiligten Volksmassen ebenfalls ihre Positionen zunächst festigen konnten. In großen Gebieten begann sich, bestimmend für die sozialökonomischen Verhältnisse, das bäuerliche Eigentum an den wichtigsten Produktionsmitteln, organisiert in den Wirtschaften der Massen von freien Bauern oder halbfreien Produzenten, durchzusetzen. Breite Volksmassen schufen sich damit eine ökonomische Basis, von der aus sie gegenüber dem Adel, der neue Ausbeutungsverhältnisse durchzusetzen versuchte, den Kampf führten. Im Verlauf von fast vierhundertjährigen Anstrengungen gelang es dem Adel, solche Ausbeutungsverhältnisse herzustellen, jedoch nur um den Preis eines neuen Klassenverhältnisses zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten. Sklaverei und Kolonat waren nicht mehr strukturbestimmend, der hörige Bauer mit Verfügungsrechten über die Hauptproduktionsmittel und damit auch über einen Anteil am Mehrprodukt hatte sich durchgesetzt; die Produktivkraftentwicklung erhielt auf Grund dieser neuen Verhältnisse eine größere Dynamik. Innerhalb von einigen Jahrhunderten wurden die Rückschläge der Entwicklung der Produktivkräfte, die im 3. Jh. eingesetzt hatten, auf der neuen Grundlage überwunden. Gesellschaftliche Arbeitsteilung, die Ausbildung von Handwerk und Handel, deren Zerfall im 3. Jh. begonnen hatte, stellten sich seit dem 8./9. Jh. auf der neuen Grundlage aufstrebend wieder her und gipfelten seit dem 11. Jh. in den großen Volkskämpfen um die Losung „Stadtluft macht frei" — um die Konstituierung der neuen Stadtgemeinden des Bürgertums. Wie immer man die Volkskämpfe und Klassenauseinandersetzungen im frühen Mittelalter im Einzelfall auch beurteilen mag, eine Einschätzung scheint mir sicher nicht gerechtfertigt: nämlich die, daß sie im Grunde rückschrittlich, den Feudalisierungsprozeß hemmend, im Wesen zivilisationszerstörend gewesen seien. Eine solche Auffassung geht m. E. von einem statisch-abstrakten Feudalismus-Bild aus und beachtet nicht, daß die neue Gesellschaft, die Feudalordnung, erst im Ergebnis, als Resultante im Klassenkampf entstand. 10 Nicht zufällig scheint mir folgendes Bild zu sein. Unterziehen wir uns der Mühe und tragen die großen Volksaufstände und Klassenkämpfe, die die Macht der Herrschenden und den Bestand der Staaten erschütterten und mehrfach 10 Eine weitere Ausführung der oben dargestellten Themen mit Diskussionen, unterschiedlichen Auffassungen und bibliographischen Nachweisen vgl. in der in Anm. 1 zit. Akademieschrift. Dort auch der Nachweis von Einzelarbeiten des Verfassers zum Problem.
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deren Zusammenbruch herbeiführten, in eine Raum-Zeit-Grafik ein! Zugrunde gelegt werden nur die umfassenden, aus den inneren Widersprüchen der jeweiligen Gesellschaft erwachsenen Volksaufstände und Klassenkämpfe, nicht die äußeren Zusammenstöße zwischen unterschiedlich entwickelten Gesellschaften oder verschiedenen Staaten. Das Bild läßt deutlich Perioden ausgedehnter bewaffneter Kämpfe der Volksmassen hervortreten. Sehen wir diese Perioden in Verbindung mit der Entwicklung der Produktivkräfte und den bekannten sozialen und politischen Veränderungen, so ist der Zusammenhang der Perioden großer Volkskämpfe mit diesen Veränderungen offenkundig. Die Übersicht drückt damit gewissermaßen die revolutionären Knoten- oder Wendepunkte in der Geschichte der frühen Gesellschaftsformationen aus. 11 Es ist bekannt, daß die Analysen dieser Perioden sozialer und politischer Umwälzungen, ihrer inneren Zusammenhänge, z. T. noch ausstehen oder vielfach — z. B. was die Geschichte Südostasiens, des Orients im 1. Jt. v. u. Z. oder der Spätantike betrifft — zu sehr unterschiedlichen Meinungen geführt haben. Die bändefüllenden internationalen marxistischen Diskussionen der vergangenen Jahre über die Entwicklung der frühen Gesellschaftsformationen, ihre Entstehung, Veränderung und Ablösung hat nicht selten die Tendenz zu einer Einebnung dieser Umwälzungsperioden und der Kämpfe dieser Perioden enthalten, und zwar zugunsten einer evolutionistischen Auffassung von der Geschichte im Rahmen der Auffassung von der Geschichte der Klassengesellschaft vor dem Kapitalismus als Geschichte einer e i n z i g e n ökonomischen Gesellschaftsformation. 12 Der hier vorgelegten Zusammenstellung kommt sicherlich nicht das Gewicht eines Gegenbeweises zu, jedoch sollte sie dazu anregen, die großen Umwälzungsperioden grundsätzlich unter dem Gesichtspunkt der Volkskämpfe zu analysieren. Die weitere Untersuchung des Problems revolutionärer Volksbewegungen in der Geschichte und als Triebkraft der Geschichte führt zur Unterscheidung mehrerer Typen von Volksbewegungen hinsichtlich ihrer Einordnung in den Klassenkampf und ihrer Kampfesziele: 1. Volksbewegungen, die bloßes „Piedestal" für den Kampf zwischen den Fraktionen der herrschenden Klasse oder, wie Lenin sagte, „Schachfiguren" in den Händen der einen oder anderen Gruppe der Ausbeuter waren. Jedoch selbst in den turbulentesten Perioden des Fraktionskampfes wie etwa am Ende der römischen Republik, in der ohne Zweifel Volksbewegungen dieser Art von den beiden Hauptparteien um Caesar und Pompejus initiiert oder gelenkt wurden, waren Konzessionen an die für Interessen der jeweiligen Fraktionen der Ausbeuterklasse genutzten Massen nötig. 2. Volksbewegungen, die progressiven Schichten der herrschenden Klasse die Massenbasis zur Durchsetzung ihrer dem Wesen nach historisch fortschrittlichen Zielstellungen gaben, wie die Aufstände in China am Ende des 3. Jh. v. u. Z., die Kämpfe der attischen Bauern zur Zeit von Solon und Kleisthenes für die 11 12
D a z u der in A n m . 1 g e n a n n t e A u f s a t z „ K n o t e n p u n k t e . . . " Diskussion dieser Fragen in d e m A u f s a t z : „ K n o t e n p u n k t e . . ."; D r u c k der Grafik in der in A n m . 1 zitierten Akademieschrift.
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Ausbildung des Polisbürgers; wahrscheinlich gehören dazu auch bereits die Erhebungen in Ägypten am Ende des Alten Reiches. Derartige Bewegungen im Zusammenhang mit den Anstrengungen von historisch fortschrittlichen Teilen der herrschenden Klasse konnten sich nur vollziehen, wenn die Interessenlage der Volksmassen und ihre Zielstellungen von den betreffenden Fraktionen der herrschenden Klasse berücksichtigt oder bewußt ausgenutzt wurden. 3. Volksbewegungen, die sich selbst Ziele stellten und versuchten, diese Ziele im Interesse der Ausgebeuteten im Kampf gegen die herrschenden Klassen zu verwirklichen. Solche Ziele wurden vielfach in religiösen und utopischen Programmen formuliert. Ein Wesenszug dieser Programme scheint auf die Aufhebungen von Klassengegensätzen gerichtet gewesen zu sein, u. a. durch die Herstellung von Gemeineigentum. Die objektiv notwendige gesellschaftliche Arbeitsteilung drückte sich in Vorstellungen von harmonisch sich ergänzenden, durch ihre Produktions- oder Leitungsstellung in der Gesellschaft gegeneinander abgegrenzten Ständen aus. Die Gesellschaft sollte harmonisch werden. 4. Volksbewegungen schließlich, die im Zusammenhang mit der unterschiedlichen Art und Weise entstanden, in der sich die Klassengesellschaften gegenüber der Gentilgesellschaft oder gegenüber einer älteren Gesellschaftsstruktur durchsetzten. Bewegungen dieser Art wurzeln also in der historisch-gesetzmäßigen Ungleichmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung in den verschiedenen Teilen der Ökumene. Volksbewegungen, die daraus hervorgingen, wurden mehrfach in der Geschichte bedeutsam für revolutionäre Umwälzungen der Gesellschaft; sowohl für die Entwicklung der orientalischen Gesellschaften als auch für den Übergang zur antiken Gesellschaftsordnung und zur Feudalordnung. Im Hinblick auf den Charakter bewaffneter Volkskämpfe als historische Triebkraft und damit auf ihre Geschichtswirksamkeit lassen sich zwei hauptsächliche Qualitäten unterscheiden: 1. Revolutionäre Volkskämpfe im Wechsel der Gesellschaftsformationen zur Überwindung älterer Verhältnisse und als Geburtshelfer und gestaltende Kraft in der Herausbildung und Durchsetzung der neuen Gesellschaftsformation. In diesen Zusammenhang gehören die Auseinandersetzungen an der Basis der antiken Formation, im Wechsel von der antiken zur feudalen Formation und natürlich die Kämpfe in der Spätzeit des Feudalismus, die zur Heranbildung der kapitalistischen Gesellschaft führten. 2. Volkskämpfe, die zur Entwicklung und Ausgestaltung einer Gesellschaftsformation führten. Unter solchem Gesichtspunkt sind die Kämpfe am Ende des 3. Jt. im vorderen Orient und Ägypten, in den Jahrhunderten um den Beginn u. Z. in China und im Mittelmeergebiet, die Bauernkriege am Übergang vom frühen zum entwickelten oder vollentfalteten Feudalismus und die Kommunebewegung in Teilen Europas zu sehen. Eine Untersuchung des Zusammenhanges dieser Kämpfe mit der Entwicklung der Produktivkräfte oder deren Entwicklungstendenzen läßt erkennen, daß sie in den Gebieten der Erde und in den Gesellschaftsverhältnissen größeren Umfang einnehmen, in denen sich die Widersprüche in dem Gesellschaftsverhält-
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nis durch die rasche Entfaltung der Produktivkräfte, z. T. durch Übernahme aus entwickelten Klassengesellschaften, besonders akkumulierten. Die revolutionären Knotenpunkte der Entwicklung bildeten sich auf diese Weise mehrfach in weniger entwickelten Randgebieten der am weitesten entwickelten Klassengesellschaften heraus.13 Der Volkskampf erreichte dort seine größte und durchschlagende Entfaltung; die in diesen Kämpfen durchgesetzten Gesellschaftsverhältnisse waren — oftmals infolge der Schwäche der alten Gesellschaftsstruktur — in diesen Gebieten den Möglichkeiten der Produktivkraftentwicklung gegenüber adäquater. Die Gesellschaftsentwicklung ging dort rasch voran. Die Folge war eine Verschiebung von Zentren der geschichtlichen Entwicklung. Diese Zentrenverschiebung ist historische Tatsache auch in den frühen Klassengesellschaften, und grundsätzlich erfolgte sie nach den gleichen Gesetzmäßigkeiten, die in der Geschichte der kapitalistischen Epoche zu beobachten sind.14 Bekanntlich war es Lenin, der im Zusammenhang mit der Verlagerung de» revolutionären Zentrums von West- und Mitteleuropa nach Rußland mit Beginn des imperialistischen Zeitalters diese gesetzmäßigen Zusammenhänge herausgearbeitet und der Weiterentwicklung der marxistisch-leninistischen Revolutionstheorie zugrunde gelegt hat. Behauptungen von der grundsätzlich verschiedenen Gesetzmäßigkeit, nach der sich die vorkapitalistischen und die kapitalistischen Gesellschaftsordnungen entwickelten, finden in der Art und Weise der Durchsetzung des dialektischen Verhältnisses zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen über gesellschaftliche Widersprüche und deren Austragung in Klassenkämpfen und bewaffneten revolutionären Volkskämpfen keine wirkliche Grundlage. Die Erscheinungsformen der Volkskämpfe, ihrer Organisation und Führung, selbstverständlich auch ihre Bedingungen, waren in den verschiedenen Epochen andere, besondere. Ihre Stellung in der allgemeinen Gesetzmäßigkeit der Geschichte, ihr Wesen in bezug auf den geschichtlichen Fortschritt, blieb sich jedoch offensichtlich gleich. Aber eben in diesem komplizierten Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem in der Geschichte liegt das Spannungsfeld, aus dem die Forschungsaufgaben des Historikers erwachsen. 13
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Die Diskussion und Begründung dieser Einteilung — soweit nach dem heutigen Forschungsstand möglich — vgl. in der in Anm. 1 zit. Akademie veröffentlichungi n der Diskussion in der K l a s s e Gesellschaftswissenschaften I I , an der die Herren Hartke, Hintze, Irmscher, Knepler, Markov, Buben, Schröter und Werner teilnahmen, wurden wesentliche Gedanken zur Frage der Klassifikation der Volksaufstände, zur Bestimmung ihrer Ziele und Beurteilung ihrer Bedeutung vorgetragen. Besonders Herr Markov betonte die Dringlichkeit einer vergleichenden Revolutionsgeschichtsforschung für die Zeit der vorkapitalistischen Klassengesellschaften. Die Anregungen der Diskussion haben in der Druckfassung des Vortrages ihre Berücksichtigung gefunden. Andere Zusammenhänge, besonders im Hinblick auf die Dialektik von Produktivkraft, Widerspruchsakkumulation und revolutionärem K a m p f , sind in dem Beitrag „Knotenpunkte . . ." (vgl. Anm. 1) weiter verfolgt worden. Dazu die Grafik und die nähere Untersuchung in den oben in Anm. 1 zitierten Arbeiten.
Die Überwindung urgemeinschaftlicher Traditionen im Prozeß der Staatsentstehung. Dargestellt am Beispiel südafrikanischer Bantustämme Von
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(Berlin)
Eine Analyse der Rolle der Volksmassen wird sich auf die großen Wendepunkte der Universalgeschichte konzentrieren, um zu fundierten Ergebnissen zu kommen. Einer dieser entscheidenden Wendepunkte in der Geschichte der Menschheit war der Übergang von der Urgemeinschaftsordnung zum Staat. Gerade für diese Periode ist oftmals bezweifelt worden, daß die Volksmassen einen Anteil an der Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse gehabt haben könnten, endete doch dieser Prozeß mit ihrer Unterwerfung und Knechtung. Auch die Version von der rückwärts orientierten Volksbewegung bezieht sich gern auf diese Periode, da sich zu dieser Zeit jeder Versuch zur Erhaltung bzw. Wiederherstellung von ökonomischer und politischer Gleichheit lediglich auf die Traditionen der Urgemeinschaftsordnung beziehen konnte. Hinzu kommt, daß im schriftlichen Quellenmaterial entweder gar keine oder nur sehr unzureichende Informationen über Vorgänge aus dieser Zeit zu finden sind. Um diese zuletzt genannte Schwierigkeit zu umgehen, sei hier auf ethnographisches Material zurückgegriffen, und zwar auf südafrikanische Bantustämme vor ihrer kolonialen Unterwerfung. Die Besiedlung Südafrikas durch Bantustämme hing unmittelbar mit der Ausbreitung des Eisens zusammen. Um die Zeitenwende hatte sich westüch des Tanganyika-Sees ein Zentrum einer eisenzeitlichen Kultur gebildet, in dem es — gestützt auf das Vorhandensein besserer und dauerhafterer Werkzeuge — zu einer raschen Entwicklung der Produktion und einem starken Anwaohsen der Bevölkerung gekommen war. Als das Land die Menschen nicht mehr ernähren konnte, wanderten überzählige Bevölkerungsteile in mehreren Wellen nach Süden aus, wo ihnen die Inbesitznahme von neuem Acker- und Weideland unter den hier ansässigen Sammler- und Jägerstämmen keine Schwierigkeiten bereitete. Seit dem 4. Jh. u. Z. wurde daher das Gebiet südlich des Zambesi in stets größerem Maße von Bevölkerungsgruppen in Besitz genommen, die die Kenntnis der Eisengewinnung und -bearbeitung besaßen. 1 Diese Bevölkerungsbewegungen führten zu einer Umgestaltung der ethnischen Karte Südafrikas. Im Laufe der Zeit konsolidierten sich die Verhältnisse, und im 17. Jh. war es zur Herausbildung jener Stammesgruppen gekommen, über 1
Vgl. B. M. Fagan, Zambia and Rhodesia, in: The African Iron Age, ed. by P. L. Shinnie, Oxford 1971, 225; R. Inskeep, South Africa, ebenda 258.
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die die frühen Entdeckungsreisenden berichten. Das Entwicklungsniveau unter diesen Stämmen war weitgehend einheitlich. Bei allen beruhte die Produktion auf Bodenbau (der in Form des Brandrodungsfeldbaus betrieben wurde) und Viehzucht; Unterschiede gab es lediglich im Übergewicht des einen gegenüber dem anderen Wirtschaftszweig. Während bei der Nguni-Gruppe im allgemeinen die Viehzucht überwog, war es bei den Sotho-Tswana, Tonga und Ambo der Bodenbau. Dies waren aber lediglich graduelle und keine prinzipiellen Unterschiede. Überall war die Produktivität der Arbeit hoch genug, um relativ konstant die Erzeugung eines gewissen Mehrprodukts zuzulassen, wobei in jedem Falle Vieh die weitaus wichtigste Quelle des gesellschaftlichen Reichtums darstellte. Dieser weitgehenden Gleichartigkeit des ökonomischen entsprach eine weitgehende Gleichheit des gesellschaftlichen Lebens. Überall war die Urgemeinschaftsordnung im Prozeß der Auflösung begriffen. Der Krieg war allgemein zur Erwerbsquelle geworden, wobei es vor allem um die Aneignung des Viehes als der wichtigsten Grundlage der Reichtumsakkumulation ging. Die urgemeinschaftlichen Traditionen wurden sowohl von der ökonomischen als auch von der politischen Seite her unterhöhlt. Auf beiden Gebieten bildeten sich innerhalb der ehemals gleichgestellten Gentil- bzw. Stammesgenossen im Laufe der Zeit Interessen heraus, die mehr und mehr voneinander differierten und schließlich aufeinanderstießen. Wichtigste Grundlage für die Untergrabung der ökonomischen Gleichheit war — wie bereits angedeutet — die ungleiche Verteilung des Viehbesitzes. Dafür gab es eine ganze Reihe von Ursachen. Die wichtigste bestand in der ungleichmäßigen Verteilung des Beuteanteils unter die Kriegsanführer und die übrigen Kriegsteilnehmer. Raubzüge zur Eroberung von Vieh waren bei südafrikanischen Bantustämmen eine allgemeine Erscheinung, und da sich alle mit Viehzucht befaßten, gab es dafür genügend Gelegenheiten. Nach der allgemeinen Verbreitung des Eisens im Süden Afrikas war jedoch die Bewaffnung der verschiedenen Stämme gleichartig und gleichwertig. In erster Linie entschieden daher neben der Masse der Teilnehmer gute Organisation und geschickte Taktik über den Erfolg der Kriegszüge. Kein Wunder also, wenn die Kriegsführer eine hohe gesellschaftliche Anerkennung genossen und wenn besonders tüchtige Krieger ebenfalls in diese Anerkennung eingeschlossen wurden. Die Konsequenz ihrer hohen gesellschaftlichen Bewertung war eine Bevorzugung dieser Gruppe bei der Verteilung der Kriegsbeute, wobei die Kriegsanführer den weitaus größten Teil beanspruchten. Solange aber noch jeder Krieger einen Anteil an der Beute erwarten konnte, lagen die Raubzüge im Interesse aller Beteiligten. Niemand konnte und wollte daher etwas an diesen Verhältnissen ändern. Die zweite wesentliche Ursache für die ungleichmäßige Verteilung des Viehs ergab sich aus den Ansprüchen der Häuptlinge auf bestimmte Anteile von Bußzahlungen, die diejenigen, die sich gegen die geltenden Normen vergangen hatten, entrichten mußten. So z. B. erhielten die Häuptlinge der Xhosa 2 und der 2
G. Fritsch, Die Eingeborenen Südafrikas, Breslau 1872 (im folgenden: Fritsch, D i e Eingeborenen), 9 6 f . ; H . Lichtenstein, Reisen im südlichen A f r i k a in den Jah-
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Sotho-Tswana 3 immer einen solchen Anteil, und die Xhosa-Häuptlinge konfiszierten bei bestimmten Vergehen, wie vor allem bei Zauberei, sogar das gesamte Eigentum des angebliehen Übeltäters. 4 E s ist leicht vorstellbar, wie insbesondere die zuletzt angeführte Regelung zur Quelle ständiger persönlicher Bereicherung der Häuptlinge werden konnte und bestehende Ungleichheiten ständig weiter vertiefte. Der Anspruch der Häuptlinge auf einen Anteil an den Bußzahlungen entsprach zunächst einer objektiven Notwendigkeit. Die Regelung der gesellschaftlichen Angelegenheiten war immer komplizierter geworden, und es bedurfte regelrechter Gerichtshöfe, um auftretende Streitigkeiten zu schlichten. Der Anteil an den Bußzahlungen war anfangs nichts weiter als eine notwendige Maßnahme, um die mit der Rechtsprechung Beauftragten von der Produktion des unmittelbaren Lebensunterhalts freizustellen. Erst mit wachsender Macht konnten diese Versorgungsansprüche in Quellen der persönlichen Bereicherung umgewandelt werden. Schließlich spielte noch ein dritter Faktor bei der Ausbildung von Ungleichheiten in der Verteilung des Viehbesitzes eine wesentliche Rolle: die frühzeitige Auflösung des Gemeineigentums an den Viehherden. Zwar gab es verschiedentlich noch das alte Gemeineigentum der Großfamilien oder sogar der Sippen an den Viehherden, wie z. B . bei den Herero 5 , den Xhosa f r und den Sotho-Tswana 7 , daneben aber existierte überall das individuelle Eigentum der einzelnen Sippen- bzw. Familienangehörigen. Damit war in jedem Falle die Ausbildung von Reichtumsunterschieden verbunden, die noch durch das Senioritätsprinzip weiter verstärkt wurden. Dieses zuletzt genannte Prinzip durchdrang eine Reihe von Lebensbereichen, auf die Reichtumsunterschiede aber wirkte es über die Erbregeln, die bei der Aufteilung des Nachlasses die jeweils älteren Linien stark bevorzugten. Dieses Senioritätsprinzip war eine durch Tradition fest im gesellschaftlichen Leben verankerte Einrichtung; es war nur aufhebbar mit einer allgemeinen Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Möglichkeit zur Erwerbung individuellen Eigentums aber lag sicher im Interesse der jüngeren Linien in Sippen und Großfamilien, war dies doch für sie die einzige Möglichkeit, zumindest eine gewisse Selbständigkeit gegenüber den älteren Linien zu gewinnen. War also die Ausbildung von Individualrechten ein Vorgang, hinter dem die Interessen der Mehrheit der Stammesmitglieder ren 1803, 1804, 1805 und 1806, 6 Bde., Berlin 1811-1812, Bd. 1, 436, 481; J . H . Soga, The Ama-Xosa: Life and Customs, London o. J . , 46. 3 J . Schapera, A Handbook of Tswana Law and Customs, London 1938, 242. 4 J . L. Dohne, Das Kafferland und seine Bewohner, Berlin 1843, 19; A Kropf, Das Volk der Xosa Kaffern im östlichen Südafrika nach seiner Geschichte, Eigenart,. Verfassung und Religion, Berlin 1889, 171; Lichtenstein, Reisen Bd. 1, 415f. 5 H. Vedder, The Herero, in: The Native Tribes of South West Africa, Cape Town 1928, 187, 195. 6 Kropf, Xosa 124. 7 Schapera, Handbook 153.
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stand 8 , so bewirkte aber das weiterhin geltende Senioritätsprinzip, daß der akkumulierte Sippen- bzw. Familienreichtum zum überwiegenden Teil in der Hand der jeweils älteren Linie verblieb. Im Endergebnis führte das Wirken beider Prinzipien zu einer ständigen Vertiefung der Ungleichheiten. Alle angeführten Momente bewirkten eine sehr ungleiche Verteilung des Viehbesitzes. Während ein Teil der Großfamilien weitaus größere Herden als zum eigenen Unterhalt notwendig sein eigen nannte, besaßen andere zuwenig oder überhaupt kein Vieh. Aus dieser Sachlage heraus hatte sich die Institution der Viehleihe entwickelt. Dabei übergab der Verleiher einen Teil seiner Herde einem verarmten Sippen- bzw. Stammengenossen zur Betreuung, und dieser durfte als Entgelt für seine Dienste den Milchertrag selbst nutzen. Dies war jedenfalls die allgemeine Regel. Sie zeigt ein noch mildes Ausbeutungsverhältnis, durch das der Verleiher des Viehes billige Arbeitskräfte zur Betreuung seiner Herden gewann und der Entleiher ohne Aufgabe seiner persönlichen Freiheit durch Dienstleistungen einem reichen Stammesgenossen gegenüber seine ökonomische Lage verbessern konnte. E s wurde jedoch von beiden Seiten versucht, diese Grundregelung der Viehleihe zum eigenen Nutzen zu verändern. So z. B . begann sich bei einigen SothoTswana-Stämmen die Gepflogenheit durchzusetzen, den Viehentleiher auch zur Arbeit auf den Feldern des Vieheigentümers heranzuziehen9, womit eine nicht unerhebliche Verschärfung des Ausbeutungsverhältnisses verbunden war. Andererseits jedoch vermochten es auch verschiedentlich die Viehentleiher, ihre soziale Lage zu verbessern. Bei den Xhosa 1 0 und Tonga 11 beispielsweise war es üblich, ihnen einen Anteil am Nachwuchs der entliehenen Tiere als Entgelt für ihre Arbeit zu überlassen. Auch in einigen Tswana-Stämmen 12 und bei den Swazi 13 verfuhr man gelegentlich auf diese Weise. Wenn wir auch nicht im einzelnen wissen, welche Form die Auseinandersetzungen um die Milderung des Ausbeutungsverhältnisses angenommen haben, so ist aber am Ergebnis klar zu erkennen, daß beim Aufeinanderstoßen verschiedener Interessen manchmal die Ausbeuter, in anderen Fällen aber die Ausgebeuteten sich durchsetzen konnten. Die Ziele der letzteren bestanden nicht in der Abschaffung der Institution der Viehleihe. Das wäre nur über die Rückkehr zum Gemeineigentum an den Wie wirksam die aus patriarchalischen Verhältnissen resultierenden Widersprüche waren, hat unlängst Ernst in einer detaillierten soziologischen Studie aufgrund von Untersuchungen in Mali nachweisen können (K. Ernst, Tradition und Fortschritt im afrikanischen Dorf. Soziologische Probleme der nichtkapitalistischen Umgestaltung der Dorfgemeinde in Mali, Berlin 1973, vgl. insbesondere Kapitel 2, 63-82). 9 Schapera, Handbook 32, 214, 247. 10 J . Ch. L . Alberti, Die K a f f e m auf der Südküste von Afrika, Gotha 1815, 125. " H. A. J u n o d , The Life of a South African Tribe, 2. Aufl., London 1927, B d . 1, 127. '2 p . - L . Breutz, Die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse der Sotho-Tswana in Transvaal undBechuanaland, H a m b u r g 1941, 6; Schapera, H a n d b o o k 2 1 7 , 247. 13 H . Kuper, An African Aristocracy. B a n k among the Swazi, London 1947, 155. 8
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Viehherden möglich gewesen. Wie aber bereits oben ausgeführt, standen einem solchen Bestreben die Interessen der Mehrzahl der Stammesmitglieder entgegen. Daher kam es den Entleihern von Vieh darauf an, sich einen möglichst hohen Anteil am Ergebnis ihrer Arbeit zu sichern. Die differierenden Interessen der verschiedenen sozialen Gruppen in der Periode der sich auflösenden Urgemeinschaftsordnung kamen jedoch noch in einem weiteren Punkte, der mit der ungleichmäßigen Verteilung des Viehbesitzes zusammenhing, zum Ausdruck. Hoher Anteil an den erbeuteten Viehherden und Anteile an den Bußzahlungen bei Vergehen gegen die öffentliche Ordnung hatten dazu geführt, daß die Häuptlinge überall die größten Herdenbesitzer geworden waren. Es war jedoch ein langwieriger Prozeß, ehe es die Häuptlinge vermochten, aus diesem Besitz ein Eigentum zu machen. Zunächst galten sie lediglich als Verwalter des gesellschaftlichen Reichtums. Allen Bestrebungen ihres Oberhauptes, den ihm anvertrauten gesellschaftlichen Reichtum möglicherweise in ein Privateigentum umzuwandeln, hatten z. B. die Swazi insofern einen Riegel vorgeschoben, als sie die in seiner Hand befindlichen Herden einer Zweckgebundenheit unterwarfen. Jeder Viehkraal eines Swazi-Königs hatte einen eigenen Namen und festgelegte Verwendungszwecke, die strikt eingehalten werden mußten. Der eine diente zum Frauenkauf, der andere enthielt nur Opfertiere für die großen Zeremonien, ein dritter durfte nur zur Ausrichtung von Festmahlen anläßlich allgemeiner Volksversammlungen verwendet werden, und aus einem vierten durften nur Schlachttiere für die Krieger entnommen werden.14 Bei den Swazi war es also offensichtlich dem König noch nicht gelungen, eine solche Machtposition zu erringen, um sich über die Interessen der Allgemeinheit hinwegzusetzen und aus dem Besitzverhältnis ein Eigentumsverhältnis zu machen. Auch bei den Tswana-Stämmen war der Prozeß der Umwandlung eines Besitzverhältnisses in ein Eigentumsverhältnis im vollen Gange. Hier verfügten die Stammeshäuptlinge bereits weitgehend nach eigenem Ermessen über die Nutzung der in ihren Händen befindlichen Herden. Sie versorgten damit ihren eigenen Haushalt und darüberhinaus auch ihre Günstlinge. Verschiedentlich hatte sich bei der breiten Masse der Stammesmitglieder bereits die Auffassung durchsetzen lassen, diese Herden seien alleiniges Eigentum des Häuptlings, und der Stamm habe darüber keinerlei Rechte. 15 Es gab jedoch auch noch die zweifellos ältere Auffassung, wonach der Häuptling diesen Herdenreichtum nur für den ganzen Stamm verwaltete und ihn deshalb nicht willkürlich verwenden dürfte. 16 Es gibt einige Hinweise, daß dieser zuletzt angeführten Auffassung eine gesellschaftliche Realität entsprach. So z. B. konnte bei einigen der SothoTswana-Stämme der Stammeshäuptling diese Viehherden nicht zur Viehleihe und damit zur Ausbeutung seiner Stammesgenossen verwenden.17 Im Gegenteil, 14
Kuper, Aristocraoy 127, 151. Schapera, Handbook 64. 16 Schapera, Handbook 64. 17 E. Casalis, Les Bassoutos, Paris 1860, 163. 15
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die Betreuung dieser Herden war hier immer nur besonders angesehenen Familien übertragen. Außerdem mußte der Stammeshäuptling aus dem Bestand dieser Herden Fremde bewirten, Opferzeremonien ausgestalten und vor Beginn eines jeden Feldzuges die Krieger reichlich bewirten 18 , d. h. er hatte der Allgemeinheit gegenüber eine Reihe von Verpflichtungen. Ein Teil dieser Verpflichtungen erhielt sich auch noch in jenen Fällen, in denen die Allgemeinheit die Verfügung über diesen gesellschaftlichen Reichtum verloren hatte, wie z. B . bei den Zulu. Hier eignete sich der König alle eroberten Viehherden restlos selbst an und verfügte darüber völlig nach eigenem Ermessen.19 Trotzdem mußte er aus seinem Herdenreichtum Zeremonien bestreiten, Fremde und Krieger bewirten und unter Umständen auch in N o t geratenen Stammesgenossen helfen. 20 Angesichts der politischen Macht, die die ZuluKönige in ihren Händen konzentriert hatten, bedeutete insbesondere der zuletzt angeführte Punkt jedoch nicht mehr als eine moralische Verpflichtung. Es gab keine Institution und keine Möglichkeit, einen solchen Anspruch durchzusetzen, wenn sich der König nicht daran halten wollte. Wenn man die angeführten Beispiele miteinander vergleicht, dann läßt sich als Tendenz folgendes feststellen: je größer die politische Macht eines Oberhauptes war, um so weiter ging seine Verfügungsgewalt über den in seiner Hand befindlichen gesellschaftlichen Reichtum. So lange jedoch noch Institutionen der Urgemeinschaftsordnung ganz oder teilweise erhalten waren, wurden sie genutzt, um allen Tendenzen zur Umwandlung des gesellschaftlichen Reichtums in P r i v a t eigentum der sich konstituierenden herrschenden Klasse entgegen zu wirken. Obgleich in den meisten Fällen bei den südafrikanischen Bantu die ungleiche Verteilung der Viehherden Grundlage der Klassendifferenzierung war, so gab es aber vereinzelt dafür noch eine zweite Komponente: die ungleiche Verteilung des Grund und Bodens. Fast überall war in vorkolonialer Zeit in Südafrika Boden im Überfluß vorhanden. Bei den Swazi jedoch, die in einem gebirgigen Terrain wohnten, machte sich schon früh eine gewisse Verknappung bemerkbar. Sie sind daher ein instruktives Beispiel für das Studium der aus einer solchen Situation resultierenden Konsequenzen. Zunächst einmal hatten sich die Häuptlinge weitaus größere Anteile an Ackerund Weideland gesichert als sie ihren Untertanen zubilligten. 21 Verschiedentlich reservierten sie sich auch ausschließlich zum eigenen Nutzen Jagdgründe, in die niemand einzudringen wagte. 22 Die einzelnen Sippen und Großfamilien wurden D. Livingstone, Afrika, Bern-Stuttgart 1939, 205; G.Thompson, Travels and Adventures in Southern Africa, 2 vols., London 1827, vol. 1, 234. 19 Vgl. N . Isaacs, Travels and Adventures in Eastern Africa, 2 vols., London 1836, vol. 1, 219, 311, 346; J. Shooter, The Kafirs of Natal and the Zulu Country, London 1857, 268; E. J. Krige, The Social Systems of the Zulus, London 1937, 264. 20 Krige, Zulus 193, 241, 247; A . F. Gardiner, Narrative of a Journey of the Zoolu Country in South Africa, London 1826, 30. 21 Kuper, Aristocracy 149, 150. 22 Kuper, Aristocracy 150. 18
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von ihren Häuptlingen aus den ihnen jeweils zur Verfügung stehenden Bodenanteilen versorgt. Angesichts der zunehmenden Verknappung des Grund und Bodens war aber jede Großfamilie daran interessiert, den ihr zustehenden Bodenanteil genau zu fixieren. Es war daher bei den Swazi zu Regelungen gekommen, die den einzelnen Familien ein Dauernutzungsrecht an feststehenden Bodenanteilen zusicherten. 23 Das bedeutete aber, daß jede Großfamilie aus ihrem Fundus alle ihre Mitglieder mit Acker- und Weideland versorgen mußte. Mit zunehmender Bevölkerung aber mußte einmal ein Punkt erreicht werden, an dem eine weitere Aufteilung der Bodenparzellen nicht mehr möglich war. I n einem solchen Fall mußten sich diejenigen, die nicht mehr versorgt werden konnten, an einen Häuptling wenden, in dessen Herrschaftsbereich noch Landreserven vorhanden waren. 24 So kam es, daß die Verknappung des Bodens bei den Swazi entscheidend zu einer Untergrabung der Sippenorganisation beitrug. Lediglich etwas mehr als ein Viertel der Swazi-Sippen siedelten noch geschlossen, die übrigen lebten im ganzen Lande verstreut. 25 Während aber die geschlossen siedelnden Sippen noch einen beträchtlichen Machtfaktor darstellten, hatten die Mitglieder der zerstreut lebenden weitgehend ihren Einfluß eingebüßte Die Bodenverknappung hatte also unter den Swazi den sozialen Differenzierungsprozeß erheblich beschleunigt. Sie hatte zunächst einmal zur Ausbildung von Dauernutzungsrechten geführt, und dies war ein Vorgang, der den Bestrebungen aller freien Mitglieder des Gemeinwesens entsprach. Allerdings führte dies von vornherein zur Ausbildung von Ungleichheiten im Zugang zum Grund und Boden, geschah dies doch zu einer Zeit, als sich bereits eine soziale Oberschicht herauskristallisiert hatte, die sich auf Grund ihrer gesellschaftlichen Bedeutung Sonderrechte aneignen konnte. Wenn auch noch jedes freie Mitglied der Swazi-Gesellschaft mit Grund und Boden versorgt werden mußte, so waren aber die Anteile nach Größe und Güte ungleich verteilt, und der Tendenz nach wurden diese Ungleichmäßigkeiten ständig größer. Außerdem bewirkte der gleiche Prozeß bei einem immer größer werdenden Bevölkerungsteil die Lösung aus dem Sippenverband. Insbesondere das zuletzt angeführte Beispiel zeigt die enge Verflechtung, die zwischen dem Abbau der ökonomischen und dem Verlust der politischen Gleichheit bestand. Diese alte urgemeinschaftliche Gleichheit mußte durchbrochen werden, wenn der Übergang in die Klassengesellschaft vollzogen werden sollte. Ein wichtiger Bestandteil war die Unterhöhlung bzw. Außerkraftsetzung der Sippenorganisation. Sie war die sicherste Gewähr gegen Ausbeutung und politische Entrechtung. Dennoch war ihre Aufrechterhaltung im Falle der Swazi
Vgl. V. Lebzelter, Eingeborenenkulturen in Südwest- und Südafrika, Leipzig 1934, 263. 24 Kuper, Aristocracy 49. 23 Kuper, Aristocracy 114. 26 Vgl. Kuper, Aristocracy 112f.
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z. B. nicht mehr überall möglich und auch gar nicht wünschenswert, hätte doch ihre Beibehaltung eine frühere Lösung eines Teils der Produzenten von ihrem Grund und Boden bedeutet als die oben geschilderte andere Regelung. Ein weiteres wichtiges Element urgemeinschaftlicher Demokratie war die allgemeine Volksversammlung. Ursprünglich war sie das oberste Organ, durch das alle wichtigen und allgemein interessierenden Fragen beraten und beschlossen wurden. Alle Änderungen geltender Normen z. B. konnten nur durch dieses Gremium verfügt werden. Sie war daher ein ernsthaftes Hindernis für alle Bestrebungen zur Aneignung von Sonderrechten. Es war daher kein Wunder, wenn die Bestrebungen der sich herausbildenden herrschenden Klasse darauf gerichtet waren, diese Institution entweder gänzlich aufzuheben oder zur Bedeutungslosigkeit herabzudrücken. Da diesen Bestrebungen oftmals objektive Bedingungen entsprachen, wie z. B. Ausdehnung des bewohnten Territoriums, zahlenmäßige Stärke des Stammes, Notwendigkeiten der Produktion, konnte ein Kampf um die Erhaltung dieser Institution nicht einsetzen. Es war daher leicht möglich und meist auch zweckmäßig, dieses Gremium durch ein kleineres und beweglicheres zu ersetzen. In der Regel war dies ein Häuptlingsrat, in dem jedoch die Mitglieder im fortgeschritteneren Stadium der Auflösung der Urgemeinschaftsordnung vom Stammeshäuptling ernannt und im Interesse der Erweiterung seiner politischen Macht den Reihen seiner eigenen Familienangehörigen entnommen wurden. Angesichts dieser Entwicklung mußten die Stammesmitglieder nach neuen Möglichkeiten suchen, um den Machtansprüchen der sich konstituierenden Oberschicht entgegentreten zu können. Die radikalste Reaktion war die Tötung jener Oberhäupter, die in ihren Ansprüchen zu weit gegangen waren. Die Kwena, ein Stamm der Sotho-Gruppe, töteten ihren Häuptling, weil er die Rechte seiner Untertanen mißachtet hatte. 2 7 Auch die Vertreibung bzw. Absetzung von Häuptlingen war ein Mittel, um sich gegen Übergriffe zur Wehr zu setzen. Von den Ngwato, ebenfalls einem Stamm der Sotho-Gruppe, wird berichtet, sie hätten gleich zweimal hintereinander ihre Häuptlinge vertrieben, weil deren Verhalten allgemeine Unzufriedenheit ausgelöst hatte. 2 8 Auch von einem anderen Stamm der Sotho-Gruppe, den Rolong, ist eine solche Vertreibung überliefert und hier in ihrem konkret-historischen Zusammenhang. Es handelte sich dabei um einen Häuptling namens Matsheng, der im frühen 19. J h . den Versuch unternahm, nach dem Vorbild der Ndebele ein Kriegerkönigtum mit despotischer Machtfülle einzuführen. Dafür bestanden jedoch gerade hier die ungünstigsten Voraussetzungen, denn die Rolong hatten noch weitgehend die Grundzüge urgemeinschaftlicher Demokratie bewahrt. Bei ihnen war es sogar möglich, den Stammeshäuptling vor Gericht zur Verantwortung zu ziehen. 29 Als Matsheng in Verkennung seiner Möglichkeiten begann, die seinen
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G. W. Stow, The Native Races of South Africa, London 1905, 556; E. Holub, Sieben Jahre in Südafrika, 2 Bde., Wien 1881, Bd. 1, 404. Schapera, Handbook 85. Schapera, Handbook 84.
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Zielen entgegenstehenden Traditionen abzubauen, wurde er des Häuptlingsamtes enthoben. 30 Schließlich gab es noch eine dritte Form der Gegenwehr gegen den Raub der politischen Gleichheit: die massenweise Abwanderung von Stammesmitgliedern. Eine solche Abwanderung bedeutete immer eine erhebliche Machteinbuße für den davon betroffenen Stammeshäuptling, und auf der anderen Seite willkommenen Zuwachs an militärischem und politischem Einfluß bei demjenigen, der diese Zuwanderer aufnahm. Eine solche massenweise Abwanderung setzte aber voraus, daß einerseits genügend Landreserven vorhanden waren, um zusätzlich Menschen versorgen zu können, und andererseits die Sippenorganisation weit genug aufgelöst war, um Sippen- bzw. Stammesfremde integrieren zu können. Beides traf für die südafrikanischen Verhältnisse zu. Diese drohende und jederzeit mögliche Abwanderung von Stammesteilen war lange- Zeit ein starkes Regulativ gegen alle Versuche zur Ausbildung einer starken politischen Gewalt bzw. die Aufhebung der urgemeinschaftlichen Demokratie. Berichtet wird ein solcher Fall z. B. von den Kgatla, von denen ein Teil abwanderte, als ein Häuptling — übrigens im Bruch mit allen bis dahin geltenden Traditionen eine Frau — eingesetzt wurde, was sie nicht akzeptieren wollten. 31 Von den Herero ist bekannt, daß generell ein unbeliebter Stammeshäuptling verlassen wurde. 32 Von den Xhosa schließlich ist ein interessanter Vorfall bekannt, der die Wirkungsweise dieser Maßnahme verdeutlicht. Bei ihnen hatte der Häuptling Gaika versucht, sich einige Sonderrechte anzueignen. Die Stammesmitglieder, die dies nicht akzeptieren wollten, zogen daraufhin demonstrativ an die Grenze ihres Wohngebietes. Gaika verstand diese Warnung und verzichtete auf die Durchführung seiner Absichten. 33 Der Prozeß der Auflösung der Urgemeinschaftsordnung brachte also eine Reihe von Widersprüchen hervor, auf die die breite Masse der Stammesmitglieder mit verschiedenartigen Aktionen reagierte. Es hat sich gezeigt, daß es dabei durchaus nicht nur um die Verteidigung von Traditionen ging. Im Gegenteil, diese Traditionen wurden dort durchbrochen, wo es die Interessen der Stammesmitglieder verlangten. Neue Formen der Arbeitsteilung, neue Produktionstechniken, aber auch neue Eigentumsverhältnisse wurden unter aktiver Mitwirkung der Volksmassen geschaffen, da dies ihrem Bedürfnis nach Arbeitserleichterung, Verbesserung der Lebenslage und Verfügungsgewalt über die erzeugten Produkte entsprach. Es lag jedoch in der Dialektik des Geschichtsverlaufes begründet, wenn die Herausbildung bzw. Verstärkung der politischen Unterdrückung ihre Gegenwehr hervorrufen mußte. I n ihren subjektiven Zielsetzungen aber konnten sich die Volks30
J. T. Brown, Among the Bantu Nomads, London 1926, 243. 31 Ebenda 266f. 32 Vedder, Herero 18f.; C. J. Andersson, Lake Ngami, or Explorations and Discoveries during Four Years' Wanderings in the Wilds of Western Africa, 2. Aufl., London 1856, 231; Fritsch, Die Eingeborenen 228. 33 Lichtenstein, Reisen Bd. 1, 476.
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massen älterer Gesehichtsperioden immer nur an ihren eigenen Erfahrungen orientieren. Der Kampf um die Erhaltung gentildemokratischer Rechte kann daher nicht gleichgesetzt werden mit einem retrograden Charakter dieser Volksbewegungen und -aktionen. Es hieße den dialektischen Charakter der Geschichte zu negieren, wenn man aus dieser Situation die Schlußfolgerung ableiten wollte, der historische Fortschritt sei einzig und allein bzw. zumindest primär von der herrschenden^Klasse durchgesetzt worden. Historisch notwendig war im Übergang zur Klassengesellschaft die Spaltung der Interessen zwischen der sich konstituierenden herrschenden Klasse und der breiten Masse des Volkes, und notwendig war auch die Auseinandersetzung um die Durchsetzung der divergierenden Interessen. Das Ergebnis aber resultierte aus den Handlungen beider Seiten. Nach der Konstituierung als unterdrückte Klasse nahmen die Aktionen des Volkes einen neuen Charakter an. Befreit von gentilen Bindungen erwuchsen daraus politische Bewegungen, die in Form des Klassenkampfes den weiteren Geschichtsverlauf bestimmen sollten.
Einige Bemerkungen zu den sozialen Unruhen in Ägypten am Ende des Alten Reiches (Pap. Leiden I 344 rc.) Von
STEFAN GKUNERT
(Berlin)
Die am Ende des Alten Reiches um 2150 v. u. Z. festzustellende Machtlosigkeit des Pharaos hatte ihre Ursachen in einer Neugestaltung der Herrschaftsstruktur. Diese wurde notwendig, um den im Vergleich zum Beginn des Alten Reiches entwickelteren wirtschaftlichen Bedingungen gerecht zu werden. Die Machtlosigkeit des Pharaos wird dokumentiert durch die Herausbildung eines verstärkten Persönlichkeitsbewußtseins und durch den Wandel der religiösen Vorstellungen seit der 4. Dynastie: Der ehemalige Weltgott 'Pharao' gilt nur noch als Sohn des Weltgottes. Die Verwaltungen der einzelnen Gaue Ägyptens erhielten im Verlauf der zweiten Hälfte des Alten Reiches immer mehr Machtbefugnisse von der Zentralgewalt zugeteilt, was de facto einer Dezentralisierung entsprach. Ziel dieser Maßnahme war es, die Leitung der Produktion und das komplizierte System der Einbeziehung des Mehrproduktes so effektiv wie möglich zu gestalten. Die Gaufürsten, die dank der Machtbefugnisse ihres Amtes Verfügungsgewalt über das Mehrprodukt ihres Gaues erhalten hatten, konnten sich dadurch jedoch während der Regierungszeit Phiops II. auf der Basis ihrer wirtschaftlichen Stärke weitgehend selbständig machen. So haben sie im Verlauf der weiteren Entwicklung anfangs um den Einfluß auf die Nachfolger Phiops II., dann jedoch um den Königsthron selber, untereinander gerungen. Diese innenpolitische Fehde führte dazu, daß die für die Wirtschaft notwendige staatliche zentrale Leitung vollständig zerstört wurde und die Ernteerträge erheblich zurückgingen. Dadurch entstand am Ende des dritten Jahrtausends v. u. Z. in Ägypten ein nachweislich chaotischer Zustand, denn nur der mehr oder minder zentralisierte Staat war zu jener Zeit Organisator der Produktion und verfügte als einzige Institution über die Möglichkeit zur Durchführung der erweiterten Reproduktion. Seitdem im Jahre 1909 Alan Gardiner den aus der 19. Dynastie stammenden hieratischen Papyrus Leiden I 344 rc. unter dem Titel „The Admonitions of an Egyptian Sage" (im folgenden: „Admonitions") publiziert hatte 1 , wurde dieser im allgemeinen als wichtigster Beleg für jene Zeit der Wirren angesehen. Die Schilderungen der Verhältnisse in Ägypten scheinen sich nämlich auf diese Krisensituation zu beziehen: Die Bevölkerung ist in Unruhe, greift zu den Waffen 1
A. H. Gardiner, The Admonitions of an Egyptian Sage from a Hieratic Papyrus in Leiden (Pap. Leiden 344 recto), Leipzig 1909.
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und verweigert die Arbeit. Neben einer großen Hungersnot herrscht ein Zustand der allgemeinen Rechtlosigkeit. Räubereien, Plündereien und Mord stehen auf der Tagesordnung. Fremdvölker dringen nach Ägypten ein. Ackerland liegt brach ; zur Bestreitung des Lebensunterhaltes werden staatliche Speicher und Gräber geplündert. Arme, Diebe und Diener werden zu Herren von Reichtümern, während der ehemals Reiche aus Mangel verhungert. Kurz, wie es der Papyrus selber sagt (2, 8): „Das Land kehrt sich um wie eine Töpferscheibe." 2 Die Interpretation des Textes durch Gardiner als „Mahnworte eines Weisen" annehmend, wurde der Papyrus in der Folgezeit immer nur unter dem Gesichtspunkt der Datierung des Inhaltes bearbeitet, da im Text der „Admonitions" 3 auch Bezüge zu der Situation in Ägypten während der zweiten Zwischenzeit nachweisbar sind. Die Frage nach der Verwertbarkeit der „Admonitions" wurde nicht erörtert. 4 So war es möglich, daß im Jahre 1950 der bürgerliche Historiker J . Spiegel erklären konnte, daß der Leidener Papyrus ein „Tatsachenbericht" der „Ägyptischen Revolution" sei.5 Auf dieser von der Ägyptologie weitgehend abgelehnten Interpretation aufbauend, wurde in einem unlängst in der D D R erschienenen Buch folgende Einschätzung der Zustände am Ende des Alten Reichs gegeben: „Es erhoben sich die Bauern, Sklaven, Hirten und Handwerker Unterägyptens. Sie stürzten den Pharao, zerschlugen den Staatsapparat und erbrachen die Gräber der verhaßten Zwingherren . . . Auf einem Papyrus des 2. Jahrtausends v. u. Z. ist uns ein Bericht über diesen Aufstand erhalten. E r stammt von einem Feind der Revolution namens Ipu, der in beredter Sprache die Huru, das aufständische Volk, geißelt. . . Ipu schildert, wie Grundbesitzer, 2
Zur Deutung des Satzes: H. Grapow, Die bildlichen Ausdrücke des Aegyptischen, Leipzig 1924, 160; W. Federn, „. . . As does a potter's wheel.", in: Zeitschrift für ägyptische Sprache und Altertumskunde ( = ZÄS) 93, 1966, 5 5 - 5 6 . 3 Bin ägyptischer Titel des Papyrus Leiden I 344 rc. ist nicht überliefert. 4 Daß die „Admonitions" ein Literaturwerk sind, das dem Genre der 'Politischen Tendenzschrift' zuzuordnen ist, ist seit langem bekannt. Vgl. hierzu: E . O t t o , Weltanschauliche und politische Tendenzschriften, in: Hdb. f. Orientalistik, Bd. 1, Abschn. 2, Leiden 1952, 1 1 2 - 1 1 3 ; G. Posener, Littérature et politique dans l'Egypte de la X l l e dynastie, Paris 1956. Den Wert der „Admonitions" als äußerst gering schätzt ein : H. Goedicke, Zur Chronologie der sogenannten „Ersten Zwischenzeit", in: Zeitschr. der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 112/2, 1962, N F 37, 239f., 247. Grundsätzliche Erkenntnisse zu diesem Problem sind, obwohl ein anderes Ziel verfolgt wird, verarbeitet in: G. Fecht, Der Vorwurf an Gott in den „Mahnworten des Ipu-wer", Heidelberg 1972 ( = AbhHeid 1972, 1). 5 J. Spiegel, Soziale und weltanschauliche Reformbewegungen im Alten Ägypten, Heidelberg 1950, 7 - 4 7 ; Vgl. auch ders. unter dem Stichwort 'Admonitions' im Lexikon der Ägyptologie, Wiesbaden 1972.
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Beamte, Schiffseigentümer und alle Reiohen vor der Wut des Volkes flohen. Die Führer des Aufstandes haben wohl für eine Welt der Gerechtigkeit und der Gleichheit gerungen. Sie erscheinen in den traditionellen Berichten als die Herrscher der 7. Dynastie." 6 Diese fehlerhafte 7 und weit über den ägyptischen Text der „Admonitions" 8 hinausgehende Interpretation macht deutlich, wie wichtig es ist, literarische Zeugnisse einer genauen philologischen und textkritischen Analyse zu unterziehen, um sich dadurch Klarheit zu den Fragen ihrer Datierung und ihrer Verwertbarkeit als Geschichtsquelle zu verschaffen. Nachdem A. Gardiner und später auch andere Ägyptologen den Inhalt der „Admonitions" in die erste Zwischenzeit datiert hatten 9 , sprach als erster im Jahre 1935 der sowjetische Ägyptologe W. W. Struwe den „Admonitions" jegliche Bezüge zu den Ereignissen am Ende des Alten Reiches ab und sah in ihnen stattdessen ein literarisches Zeugnis des sozialen Umschwungs am Ende des Mittleren Reiches. 10 Diese Einordnung des Textes in die zweite Zwischenzeit wurde später dann auch von einer Reihe anderer Ägyptologen vorgenommen 11 , jedoch prinzipiell unabhängig von Struwe, da dessen Arbeit unbekannt blieb. 12 Als bisher letzter vertrat J . van Seters in seiner Dissertation, „The Hyksos — A New Investigation" 1 3 diese Theorie einer Datierung in die zweite Zwischenzeit. Seine Beweisführung basiert auf einer Untersuchung der im Text verwendeten Termini für ethnische Begriffe, der dort dargestellten Beziehungen zum Ausland, der sozialen und staatlichen Entwicklung und der politischen Situation. Naohdem 6 7
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B. Brentjes, Die orientalische Welt, Berlin o. J. (1970), 89. Weder Bauern noch Sklaven usw. „stürzen den Pharao", vgl.: Fecht, Vorwurf 21—23. Ebenfalls flohen nicht „alle Reichen vor der Wut des Volkes", sondern es erfolgt im ägyptischen Text nur eine Gegenüberstellung des sozialen Status der ehemals Reichen und Armen. Zu den „Führern des Aufstandes", die „in den traditionellen Berichten als die Herrscher des 7. Dynastie" erscheinen; vgl. die Bemerkungen zu der 7. Dynastie bei Goedicke, Chronol. 247—254. Letzte zusammenhängende Übersetzung: R. O. Faulkner, The Admonitions of an Egyptian Sage, in: Journal of Egyptian Archaeology ( = JEA) 51, 1965, 5 3 - 6 2 . Wesentliche Neuübersetzungen einzelner Passagen bei Fecht, Vorwurf, und G. Fecht, Ägyptische Zweifel am Sinn des Opfers, ZÄS 100, 1973, 6 - 1 6 . So u. a. A. Erman, Die Literatur der Aegypter, Leipzig 1923, 92ff. ; H. Stock, Die erste Zwischenzeit Ägyptens, Rom 1949, 22ff.; C. Aldred, The Egyptians, London o. J. (1961), 102. PeneHHe M n y B e p a JleitReHCKHtt
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So u. a. W. Czermak, in: Mélanges Maspero 1, 1935—1938, 72; J. Vandier, in: Bibliotheca Orientalis 7, 1950, 101 f.; A. Volten, in: Analecta Aegyptiaca 4, 1945, 83ff.; Z. Zaba, in: Archiv Orientälni 19, 1951, 615. Einzig mir bekannte Einarbeitung der Ansichten von Struwe erfolgte bei: W. I. Awdijew, Geschichte des Alten Orients, Berlin 1953, 179, 512. J. van Seters, The Hykos — A New Investigation, New Häven—London o. J. (2. Aufl. 1967), 1 0 3 - 1 2 0 ( = A Date for the 'Admonition' in the Second Intermediate Period, J E A 50, 1964, 13-23).
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bereits J. von Beckerath in seiner Besprechung dieser Arbeit grundlegende gewichtige Einwände gegen eine Spätdatierung (Zweite Zwischenzeit) vorgebracht hatte14, sollen hier noch kurz einige von J. van Seters zur Beweisführung herangezogene Indizien untersucht werden, die teilweise eine Datierung in die 13. Dynastie völlig sicher erscheinen lassen. Ausgangspunkt einer textkritischen Untersuchung der „Admonitions" muß heute die Berücksichtigung der Tatsache sein, daß der vorliegende Text im Neuen Reich, in der 19. Dynastie, geschrieben worden ist, und damit, da er von einem oder mehreren älteren Texten kopiert wurde, Veränderungen unterworfen gewesen sein muß bzw. kann. Dabei würde es sich vor allem um eine Modernisierung der Wortwahl, der Schreibung und einer Entstellung des Textes durch blumige Erweiterungen und Verschreibungen handeln.15 J. van Seters verweist in dem Abschnitt 'Ethnic Terms' darauf, daß in Adm. 14, 11—14 ein wichtiger Schlüssel zur Datierungsfrage gegeben wird.16 In diesen Zeilen sind Menschengruppen erwähnt, die den Ägyptern teils feindlich, teils freundlich gegenüberstehen. Unter ihnen die rnd)j. w, eine eigentlich allgemeine Bezeichnung für Leute aus dem nubischen Land md', (Wb I I , 186, 4). Aus dem Kontext heraus ergibt sich aber, wie auch J. van Seters feststellte17, daß es sich hier um die spezielle Bedeutung „Polizist", „Söldner" handelt, die jedoch anhand der Belege des Wörterbuches (WBZ = Wörterbuch-Zettel-Berlin) weder für das Alte Reich noch für das Mittlere Reich, wie J. van Seters behauptet18, belegbar ist. Die erwähnte spezielle Bedeutung erlangte der Begriff erst im Neuen Reich, womit jedoch nicht jene grundsätzlichen Überlegungen Gardiners zur Etymologie das speziellen Begriffes unberücksichtigt bleiben sollen.19,20 Im gleichen Abschnitt der „Admonitions" werden die Mtj.w (Asiaten) erwähnt. Die von J. van Seters getroffene Feststellung, daß sich in der Schreibung der Gebrauch des Wortes während der Zeit der 12. und 13. Dynastie widerspiegeln würde21, entspricht nicht den Tatsachen. Die in dieser Zeit vorherrschende Schreibung verwendet nach W B Z die seit dem Alten Reich bis in die Spätzeit gebräuchliche Hieroglyphe (Gardiner, Signlist 22 : 23 S22 bzw. Möller, Paläographie I, Nr. 536 ). Lediglich die Sinuhe-Handschrift J. von Beckerath, in: Journal of the American Oriental Society 90, 1970, 309ff. U . Luft, Das Verhältnis zur Tradition in der frühen Ramessidenzeit, in: Forschungen und Berichte 14, 1972, 59-71. 16 Seters, Hyksos 105. 17 Seters, Hyksos 106. 18 Seters, Hyksos 106. 19 A . H . Gardiner, Ancient Egyptian Onomastica, Text, Volume 1, Oxford 1947, 83. 20 Früheste Belege nach W B Z : Amama, Grab desMahu; Abbott 1, 116; 4, 5; 5, 10; Anastasi I V , 10, 4 - 5 ; V , 27, 1 - 3 ; P Leiden 370, 13; P Louvre 3169; Merneptah 23 ( Z Ä S 34, 1896, 8); Lepsius, Denkmäler I I I , 219 e. 21 Seters, Hyksos 107. 22 A . H . Gardiner, Egyptian Grammar, 2. Aufl. London 1950, 438-548. 23 G. Möller, Hieratische Paläographie, Bd. 1, Leipzig 1909. 14
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Soziale Unruhen in Ägypten a m E n d e des Alten Reiches
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B (Pap. Bln. 3022) aus dem Mittleren Reich verwendet in B 265 statt S 22 die Hieroglyphe (Gardiner, Signlist: F 29 bzw. Möller, Paläographie I, Nr. 167); eine Schreibung, für die es sonst frühestens aus der Zeit des Neuen Reiches mehrere Belege (nach WBZ) gibt. 24 Zu der Feststellung J . van Seters', daß der in Adm. 3, 6 erwähnte Handel mit Kreta und damit verbundene kulturelle Kontakte gegen eine Datierung außerhalb der zweiten Zwischenzeit sprechen 25 , sei auf die Neuübersetzung und Neuinterpretierung der entsprechenden Passage bei G. Fecht verwiesen. 26 Das Auftauchen des erst seit der 18. Dynastie belegten Wortes kftjw für Kreta mag wenig verwundern, wenn man daran denkt, daß der Text zur Zeit der 19. Dynastie geschrieben wurde. Das gilt auch für den Gebrauch des Wortes wr im Sinne von „ausländischer Herrscher", wenn die verderbte Stelle (Anfang 3, 8) in diesem Sinne zu emendieren ist. Für die mehr oder minder abhängige Dienerschaft werden in den „ Admonitions" unterschiedliche Termini verwendet. Einerseits das seit dem Alten Reich belegte hm, das entsprechend der Schreibung des Neuen Reiches prinzipiell mit Personendeterminativ versehen ist, andererseits das ebenfalls seit dem Alten Reich belegte b'k. E s heißt bei J . van Seters, daß im Alten Reich ein für Sklaven gebräuchlicher Terminus das Wort jsww gewesen sei und aus dem Fehlen dieses Wortes in den „Admonitions" könne u. a. auf eine soziale Entwicklung geschlossen werden, die in das späte Mittlere Reich zu datieren ist. 27 Abgesehen davon, daß es für dieses jsww aus der Zeit des Alten Reiches nur zwei Belege gibt, ist es offensichtlich, daß es sich bei diesem Wort nicht um eine Bezeichnung für Sklaven im herkömmlichen Sinne handeln kann. 28 E s ist festgestellt worden, „dass die genannten Leute vornehmlich, wenn nicht ausschließlich, mit dem Stiftungsgut verbunden sind . . . Da isw nicht 'Entgelt' im Rahmen eines Kaufes, sondern eine spezifische Art der 'Entlohnung' bedeutet, sind die isww entsprechend als 'Lohndiener' zu verstehen." 29 Aber auch sonst ist wohl mit 24 p Mag. H a r r i s I, 22, 8 ; I I , 11; Alabasterstele Sethos I . ( K a i r o W b . Nr. 219), Zeile 9; Medinet H a b u , Tempel R a m s e s I I I . , N - W a n d , 5. Szene v o m W-Ende, Z. 2. F ü r die Schreibung des N a m e n s der Göttin Satia mit der Hieroglyphe (Gardiner, Signlist: F 29) a u s d e m M R sechs Belege, a u s d e m N R zwanzig B e l e g e ; m i t der Hieroglyphe (Gardiner, Signlist: S 22) aus dem M R keine Belege, a u s dem N R vier Belege. F ü r stt (Asien) existiert kein Beleg a u s M R (Angaben nach W B Z ) . Vgl. Seters, H y k s o s 107. 2 5 Seters, H y k s o s 109. 26 Fecht, Vorwurf 1 7 - 2 0 . 27 Seters, H y k s o s 111. 28 Vgl. A b d el-Mohsen B a k i r , Slavery in Pharaonic E g y p t ( = Suppl. A S A E 18), K a i r o 1952, 14. 2 9 H . Goedicke, Die privaten Rechtsinschriften aus dem Alten Reich (Beihefte zur Wiener Zeitschrift f ü r die K u n d e des Morgenlandes, B d . 5), Wien 1970, 184.
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GRUNEBT
Recht anzunehmen, daß sowohl ein Schreiber der 13. Dynastie, als auch einer des Neuen Reiches dieses Wort nicht verstanden und es daher in seinem Sinne modernisiert hätte. Unter diesen Umständen muß der Versuch, das erhaltene js. . in Adm. 8, 9 in jsww „Sklave" zu ergänzen30, zurückgewiesen werden. Vielmehr könnte hier der Begriff jsw „Entlohnung, Entgeld" angenommen werden und der Text wäre dann sinngemäß zu lesen: sehet, die Kinder der knb.¿-Beamten sind (zu) Entgelt (geworden), so wie sie (die Beamten) auch die Kälber ihrer Kühe an die Plünderer (verkaufen). 31 Es kann schwerlich überzeugen, „daß das Wort jsww hier einer Modernisierung entgangen ist, weil der Kontext eine Uminterpretation zu 'Lumpen' erlaubte". 32 Jedem Schreiber, egal welcher Zeit er angehörte, mußte es unverständlich sein, daß Kinder, die bis zur Geschlechtsreife unbekleidet blieben, gerade während solcher Wirreperioden mit Lumpen angezogen gewesen sein sollten.33 Durch eine gezielte Untersuchung des Textes und des Inhaltes der „Admonitions" ließen sich bestimmt noch weitere wichtige Argumente finden, die eindeutig gegen die von J. van Seters vorgenommene Fixierung des Inhalts in die 13. Dynastie sprechen, die mitteilen, daß der T e x t des Leidener Papyrus, und zwar nur dieser Text, nicht das Produkt e i n e r Zeit darstellt. 34 Neben Passagen, die in ihren Schilderungen augenscheinlich auf die Zustände des zerfallenden Alten Reiches verweisen 35 , gibt es solche, die sich auf die Periode der 12./13. Dynastie beziehen können.36 Anhand des Textes, vor allem der Wortwahl, muß aber außerdem noch eine Redaktion der „Admonitions" am Ende der 18. bzw. zu Beginn der 19. Dynastie angenommen werden. 37 Zur Ubersetzung inj r isw „kaufen" wie sie im W b I , 91, 5 vorgeschlagen wird, vgl. S. 152-157. 30 Feoht, Vorwurf 158 ff. (Nachtrag zu p. 16). 31 Der Beginn von Adm. 8, 10 ist ebenfalls zerstört, so daß nicht klar ersichtlich ist, welches Verbum dort gestanden hat. Wahrscheinlich ist rdj anzunehmen, was durch die enge Verbindung zum in Adm. 8,9 angenommenen jsw einen Ausdruck zur Übertragung von Sachwerten darstellt. Vgl. hierzu auch Wb I I , 465, 9. 32 Fecht, Vorwurf 160 (Nachtrag zu p. 16). 33 Vgl. Fecht, Vorwurf 159. 34 Die gleiche Meinung wird von Fecht, Vorwurf 25 vertreten. 35 Vgl. Fecht, Vorwurf 178. Danach stammt die „Vorwurfs-Passage" aus den Jahren zwischen 2180 und 2130 v. u. Z. Große Teile der Seiten 1—9,8 sind auf eine Rechtfertigungsschrift Htj I. (um 2130 v. u. Z.) zurückzuführen. Vgl. hierzu auch S. Herrmann, Untersuchungen zur Überlieferungsgestalt mittelägyptischer Literaturwerke, Berlin 1957. 3Ü Exakt gilt dies nur für den sogenannten „kriegerischen Abschnitt" Admonitions 14, 10—15, 5. Bis auf die Tatsache, daß der Gesamttext der „Admonitions" in MRMetrik abgefaßt sein soll (vgl. Fecht, ZÄS 100, 1973, 7), lassen sich sonst keine weiteren Bezüge zum M R feststellen. Die von Seters, Hyksos 110—114 geäußerten Ansichten vermögen nicht zu überzeugen, da ihre Basis wiederum einzelne Worte sind, die für das A R nicht zu belegen sind. 37 So erstmals Fecht, Vorwurf 152, 156f., 204; ders. ZÄS 100, 1973, 6f.
Soziale U n r u h e n in Ä g y p t e n a m E n d e des A l t e n Reiches
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Will man trotz schon geäußerter Warnung 3 8 die „Admonitions" als Geschichtsquelle für die erste Zwischenzeit nutzen, so muß nicht nur Klarheit in dem wichtigen Problem der Datierung einzelner Passagen erlangt werden, sondern es gilt auch, sich vor allem nach den Gründen zu fragen, die in späterer Zeit zu einer Neubearbeitung des Textes führten 3 9 , da diese möglicherweise starke Einflüsse auf den eigentlichen Text haben konnten. Gerhard Fecht hat in seiner Abhandlung über den 'Vorwurf an Gott' in den „Admonitions" festgestellt, daß nicht die im allgemeinen immer zitierten, sich ständig wiederholenden litaneiartigen Schilderungen sozialer Unruhen Hauptinhalt des Papyrus sind, sondern der stilistisch ausgefeilte, in straffer Gliederung und Gedankenführung vorgetragene 'Vorwurf an Gott'. 4 0 Da aber beide Teile im Prinzip der Zeit am Ende des Alten Reiches zuzuordnen sind 41 , jedoch der zweite Teil des Textes mit dem 'Vorwurf' die Dominante der Aussage darstellen will42, heißt ein Verstehen des 'Vorwurfs' auch gleichzeitig das Erkennen der Problemstellung des alten Werkes, die zu seiner Redaktion in späterer Zeit führte/' 3 Der'Vorwurf'hat die Fragestellung nach der Schuld und der Verantwortung des Gottes und der Menschen an den auf Erden herrschenden Zuständen als zentrales Thema. 44 Daher darf der Wert des Informationsgehaltes der Schilderungen von Mißständen (die sowohl im 'Vorwurf' selber, als auch relativ losgelöst von diesem in „Admonitions" 1—9, 8 enthalten sind), die ähnlich wie in den „Admonitions" als Topoi auch in anderen Literaturwerken auftreten, nicht überschätzt werden, da sie sich dem zentralen Thema unterordnen. Sowohl der Ägypter Ipu-Wer, der die Mißstände schildert und die Vorwürfe an Gott richtet, als auch die Schreiber späterer Zeit wollten nicht exakte Fakten, historische Informationen vermitteln, sondern Emotionen erwecken. Ziel ist es, durch die Mahnworte in dem Gott, „der selbst gut ist (guter Hirte) und der deshalb Böses weder kennt noch erkennt" 4 5 , Empfindungen zu wecken, so daß er über das Leid der Menschen nachdenkt und sich befehlend gegen das Böse wendet. 46 Dieses Ziel, durch welches die beiden großen stilistisch sich voneinander abhebenden Teile der „Admonitions" verbunden sind, entspricht der Ursache, die zur Abfassung des Textes in späterer Zeit führte. Während die wirtschaftlichen Schwächen des ausgehenden Mittleren Reiches eine der ersten Zwischenzeit ähnliche ökonomische Situation verursachten, waren durch religiöse Auseinandersetzungen am Ende der 18. Dynastie Umstände entstanden, die m. E. 38 Goedicke, Chronol. 239 f. D i e „Admonitions" stellen m. E . keine Schullektüre dar, da der T e x t keinen 'staatserhaltenden' Charakter hat und für Schüler damit wohl ungeeignet war. io F e c h t , Vorwurf 3 9 f . 41 F e c h t , Vorwurf 178. 4 2 F e c h t , Vorwurf 177. « F e c h t , Vorwurf 38. 44 F e c h t , Vorwurf 151. 45 F e c h t , Vorwurf 116. 4 ß F e c h t , Vorwurf 119. 39
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noch stärker als die wirtschaftlichen Parallelen des Mittleren Reiches zu einer Bearbeitung des Materials reizten. Sowohl dem Schreiber des Alten Reiches, als auch einem Schreiber des Mittleren oder des Neuen Reiches kam es jedoch darauf an, eine möglichst emotional stark wirksame Schilderung des Chaos zu geben. Dieses Ziel kann bei mehrmaligen Redaktionen durch Einarbeitung von neuen Erkenntnissen den eigentlichen Text stark verändert haben. Aufgrund dieser Tatsache müssen die im Text aufgeführten scheinbar exakten „historischen" Fakten generell mit einem Fragezeichen versehen werden. Solange nicht verwertbares historisches Material über diese Zeit vorliegt, kann daher eine tendenziöse Schilderung sozialer Unruhen in Ägypten, wie sie durch den Leidener Papyrus gegeben wird, nicht als sogenannte „absolute Wirklichkeit" angesehen und dementsprechend nur als ein mittelbares Zeugnis der sozialen Unruhen am Ende des Alten Reiches gewertet werden. Im Gegensatz zu den Schilderungen in den „Admonitions", die also sicherlich eine nicht bestreitbare reale Basis haben, ist uns u. a. in der Biographie des Nomarchen von Hierakonpolis, Anchtifi, ein unmittelbares Zeugnis aus jener Zeit zwischen 2170—2155 v. u. Z. erhalten geblieben.47 In dieser Biographie wird in ausführlicher Weise eine Oberägypten umfassende Hungersnot geschildert, die lediglich im Machtbereich des Anchtifi durch eine geschickte Politik verhindert werden konnte ; das zumindest will die Biographie glaubhaft machen. Außerdem aber werden auch Informationen über die eingangs erwähnte innenpolitische Fehde gegeben, wie auch geringe Hinweise auf soziale Unruhen. Diese sozialen Unruhen am Ende des Alten Reiches waren eine Reaktion der Armen auf die erste, alle gesellschaftlichen Bereiche umfassende Krise Ägyptens. Eine Krise, die durch das Streben der herrschenden Klasse nach Privateigentum an Boden und nach höherer Effektivität des Systems der Einbeziehung des Mehrproduktes und dem dadurch verursachten Machtkampf innerhalb dieser Klasse ausgelöst wurde. Eine Krise, die durch die weltanschauliche Tendenzschrift 48 des Ipu-Wer gebrochen widergespiegelt wird. 47
J. Vandier, Mo'alla — La tombe d'Ankhtifi et la tombe de Sébekhotep, Kairo 1950 (Bibliothèque d'Etude, t. 18), 1 - 2 6 4 . W. Schenkel, Memphis-Herakleopolis-Theben — Die epigraphischen Zeugnisse der 7.—11. Dynastie Ägyptens, Ägyptologische Abhandlungen 12, Wiesbaden 1965, 45-57. « Vgl. Anm. 4.
Zum Verhältnis Stamm — Herrscher in der Zeit der osttürkischen Reiche (6.-8. Jh.) Von
PETER ZIEME
(Berlin)
In der zweiten Hälfte des 1. Jahrtausends waren in der Geschichte Zentralasiens, man kann sogar sagen ganz Asiens, die von türkischen Stämmen getragenen Reiche wichtige Faktoren, nicht nur im Verhältnis dieser Reiche zu China als dem mächtigsten der auf Ackerbau basierenden Staaten mit ausgeprägter Klassenstruktur in dieser Zeit, sondern auch in den Beziehungen zum Westen, zu Byzanz und Iran und nicht zuletzt für die Gestaltung der Kontakte jeglichen Charakters zwischen diesen Großmächten. Ähnlich anderen Nomadenreichen in früheren wie auch in späteren Zeiten — zu erinnern wäre einerseits an die Xiong-nu und andererseits an die Mongolen — waren es politische Vereinigungen von zahlreichen Stämmen, deren Zugehörigkeit zu Sprache, Ethnos und Rasse nicht gleich sein mußte, unter einem führenden Stamm. Diese Vereinigung erfolgte in einem langwierigen Prozeß von Kämpfen gegen die Nachbarstämme, solange diese Widerstand leisteten und noch nicht die Oberherrschaft des die Führung beanspruchenden Stammes anerkannten. Diese Art von Kämpfen stand vorwiegend in der Anfangsphase auf der Tagesordnung. Wie aus dem Gang der Ereignisse ersichtlich wird, sind diese Rebellionen nicht als Aufstände von Stammesmitgliedern gegen ihre Oberschicht zu betrachten. Infolge der noch bestehenden Verwandtschaftsbindungen, deren Aufrechterhaltung wegen des Fehlens enger territorialer Bindungen geradezu notwendig war, kämpften die Reitertruppen des aufrührerischen Stammes mit ihrem Beg, ihrem Lokalherrscher, zusammen, solange die Begs im Interesse des ganzen Stammes handelten. Wie H. Ecsedy zeigen konnte, war die türkische Gesellschaft durch drei Faktoren charakterisiert. 1 Die Grundlage bilden die Clans, d. h. die exogamen patrilinearen Verwandtschaftsgruppen; eine größere Einheit in wirtschaftlicher Hinsicht, die auch territorial determiniert war, ist der Stamm. Neben der territorialen Determiniertheit waren die Stammesarmee, die aus den Reiternomaden bestand und den größten Teil der Bevölkerung umfaßte, und der Viehbestand wichtige Kennzeichen des Stammes. Es ist bekannt, daß die wichtigsten Quellen für die Geschichte der alttürkischen Zeit die chinesischen Historiker sind. Es ist hier kaum zu betonen, daß 1
H . Ecsedy, Tribe and Tribal Society in the 6th Century Türk Empire, in: Acta. Orientalia Academiae Scientiarum Hungaricae ( = AOH) 25, 1972, 245—262.
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auf Grund der unterschiedlichen Gesellschaftsstrukturen die Anwendung der betreffenden chinesischen Termini eingehend und präzise untersucht werden muß, um aus ihnen Rückschlüsse auf die Verhältnisse in den Nomadenreichen ziehen zu können. Dieser Aufgabe hat sich zum ersten Mal H. Ecsedy in der genannten Arbeit unterzogen. Vor kurzem hat S. M. Abramzon einen interessanten Beitrag über die Entwicklung der Familie beigesteuert.2 Danach muß man in der alttürkischen Zeit mit dem Zerfall der patrilinearen Großfamilie rechnen. Als eine zweite wesentliche Quellengruppe kommen für die alttürkische Zeit die wenigen und meist nicht sehr umfangreichen Inschriften in Betracht. Stelen mit Runeninschriften wurden an zentralen Punkten der ehemaligen Reiche gefunden. Die meisten stammen aber leider erst aus den letzten Jahrzehnten der hier behandelten Periode. Sie schildern die Anfänge der Herausbildung des Türkenreiches nur sehr kurz und in glorifizierender Weise, um dann sogleich die Taten der Kagane bzw. Würdenträger zu preisen, zu deren Verherrlichung die Inschriftstelen errichtet wurden. Trotz der großen Schwierigkeiten sollte man versuchen, die von den chinesischen Historikern gebrauchten Termini mit den alttürkischen Begriffen der Inschriften zu konfrontieren. So kann es beispielsweise als sicher gelten, daß dem chinesischen buluo als Bezeichnung des „Stammes" oder „Stammesverbandes" das alttürkische bodun entspricht. In den Inschriften wird außer vom eigenen bodun immer dann bodun verwendet, wenn von den Kämpfen gegen die feindlichen Stämme die Rede ist. Daß die Chinesen in den alttürkischen Inschriften ebenfalls mit bodun bezeichnet werden, mag vom türkischen Standpunkt durchaus folgerichtig gewesen sein. Nach G. Doerfer 3 weist der Begriff bodun einen an die Sicht der Oberschicht gebundenen Gebrauch auf, was besagen soll, daß unter bodun der Stamm im Sinne der Untertanen des Kagan zu verstehen ist. Auf der anderen Seite finden wir dagegen den Begriff el „die Gemeinschaft, die zu einem Stamm Gehörenden", wozu auch die Oberschicht des Stammes zu rechnen ist. Diese Tatsache wird aus mehreren kleinen Grabinschriften für Stammes- und Clanherrscher ersichtlich, in welchen sie ihre Trennung von Familie, Pferden, Hab und Gut und vom el beklagen. Diese im wesentlichen richtige Unterscheidung kann allerdings nicht für alle Fälle gelten. So lesen wir z. B., daß auch China als el bezeichnet wird. Hier sehen wir eine Übertragung von türkischen Begriffen auf andersartige Verhältnisse, die in umgekehrter Richtung ebenso zu belegen ist: manchmal finden wir bei den chinesischen Historikern auch guo „Staat" zur Bezeichnung des türkischen Reiches. Außerdem gibt es in den türkischen Quellen den Begriff bay, der wohl am ehesten mit „Clan" wiederzugeben ist, denn wir haben Beispiele wie alt'i bay 2
C . M . A6paM30H, (DopMM ceMbii y «OTIOPKCKHX H TIOPKCKHX rraeMeu IOJKHOÖ C n G j i p j i , CEMHPEQBH
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B RPEBHOCTH H CPEAHEBENOBBE, i n :
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cßopHHK 1972, MoCKBa 1973, 287-305. 3
G. D o e r f e r , Türkische und mongolische E l e m e n t e im Neupersischen 1, 175 und 2, 358ff.
Zum Verhältnis Stamm — Herrscher in der Zeit der osttürkischen Reiche
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bodun „der Stamm der sechs Clans" 4 oder bes bay bodun „der Stamm der fünf Clans" 5. Andere Begriffe wie oq (bzw. uq), uyuS, oyuz sind noch schwieriger zu definieren 6 , auf eine ausführliche Analyse müssen wir hier verzichten. Als eine weitere, allerdings auch mit besonderen Schwierigkeiten verbundene Quellengruppe kann der reiche Schatz von Epen der türkischen Völker dienen. Man vermutet zu Recht, daß viele Ereignisse dieser Heldendichtungen auf historische Begebenheiten zurückgehen. Jedoch erst seit dem vorigen Jahrhundert gibt es schriftliche Aufzeichnungen der Epen. Daraus ergeben sich natürlich spezielle Probleme. Obwohl man im allgemeinen annimmt, daß die Epen in der der Zeit vom 14.—17. J h . entstanden sind 7 , ist es nicht ausgeschlossen, daß die ältesten Schichten auch in frühere Zeiten zu verlegen sind, wie u. a. A. N. Bernstam 8 , L. N. Gumilev 9 und M. A. Ungvickaja 1 0 zu zeigen versuchten. Schließlich müßten auch die Ergebnisse der archäologischen Forschungen berücksichtigt werden. I n einigen Gebieten der Mongolei, Tuvas und des Altai wurden bereits erfolgreiche Grabungen durchgeführt. Dennoch bleibt noch viel zu tun. Nur in wenigen Arbeiten ist bisher versucht worden, die archäologischen Zeugnisse historisch auszuwerten. 11 Die nomadisierenden Stämme der Türken waren vorwiegend mit der Pferdezucht beschäftigt. Aber im Unterschied zu anderen Nomaden war für die Türken (wie auch für die Mongolen) kennzeichnend, daß sie auf den Pferden auch ritten. Die Stammesarmeen waren berittene Trupps, deren Waffen in erster Linie Pfeil und Bogen waren. 12 K. Marx schrieb über die Bedeutung des Pferdes: „Bei nomadischen Bevölkerungen ist das Roß das, was mich zum Freien, zum Teilnehmer am Gemeinwesen macht." 1 3 4
Vgl. G. Clauson, An Etymological Dictionary of Pre-Thirteenth Century Turkish, Oxford 1972, 310. 5 P. Zieme, Manichäisch-türkische Texte, Berliner Turfantexte V (im Druck). 6 Vgl. A. Inan, Makaleler ve incelemeler, Ankara 1968, Türk Etnolojisi Ilgilendiren Birka§ Terim Kelime Üzerine, 628—644; JI. II. JlauiyK, McTopiwecKaH CTpyKTypa coiwajitHbix 0praHH3M0B cpeAHeBeKOBbix KoieBHHKOB, in: CoBeTCKan 9THorpatj)HH 1967, 4. — Onur THaonoriiH aTHHiecKuxoßmHocTeil cpejmeBeKOBHx TiopoK H MOHroJioB, in: C3 1968, 1, 95—106 sowie verschiedene andere Aufsätze desselben Autors. 7 L. Lorincz, Parallelen in der mongolischen und altaitürkischen Epik, in: Studia Turcica, Budapest 1971, 321-330. 8 A. H. BepmirraM, 3noxa B03HHKH0Beinin KitpnracKoro anoca «MaHac», in: MaHac— repoH^ecKHii anoc KHprH3CKoro Hapo«a, OpyHae 1968, 148—176. 9 JI. H. TyMHJieB, JlpeBHiie TiopKH, MocKBa 1967, 346—348. 10 M. A. YHrBHiiKaH, XaKaccraie repomecKHe cKa3aHHH—«ceMeöHue XPOHHKH»H naMHTHHKH emiceitcKoü imcbMeHHOCTH, in: CoBeTCKan TiopKonorHH 1973, 2,71—83. 11 JI. P. KtrajiacoB, HCTOPHH T Y B H B cpeRKne Beita, MocKBa 1969. 12 K. Uray Köhalmi, A steppök nomddja löhäton, fegyverben (Der Steppennomade auf dem Pferd, in Waffenausrüstung), Budapest 1972. 13 K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: Marx-Engels, Werke, Ergbd. 1, 1. Teil, Berlin 1968, 554. 4
Gesellschaftsformationen
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Nach der Einigung der Stämme unter dem Herrscherclan Aäi'na konnten auch außenpolitische Aktivitäten begonnen werden. Diese waren vor allem Raubzüge gegen China. Man geht wohl nicht fehl, wenn man diese Aktionen als eine besondere Form des „Handels" ansieht. Wie eng zu jener Zeit Krieg und Handel verwoben waren, hat H. Ecsedy in einer grundlegenden Studie gezeigt. 14 Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an die Feststellungen von Marx in den „Formen", wo er eine allgemeine Charakteristik der Nomadengesellschaft gibt: „Bei wandernden Hirtenstämmen — und alle Hirtenvölker sind ursprünglich wandernd — erscheint die Erde gleich den anderen Naturbedingungen in elementarischer Unbegrenztheit, z. B. in den asiatischen Steppen und der asiatischen Hochebene. Sie wird abgeweidet etc., konsumiert durch die Herden, an denen wieder die Herdenvölker existieren. Sie verhalten sich zu ihr als ihrem Eigentum, obgleich sie dies Eigentum nie fixieren . . . Bei den wandernden Hirtenstämmen ist die Gemeinde in der Tat stets vereinigt, Reisegesellschaft, Karawane, Horde, und die Formen der Über- und Unterordnung entwickeln sich aus den Bedingungen dieser Lebensweise. Angeeignet und reproduziert wird in der T a t hier nur die Herde, nicht die Erde; die aber stets temporär gemeinschaftlich benutzt wird an dem jedesmaligen Aufenthaltsplatz. Die einzige Schranke, die das Gemeinwesen finden kann in seinem Verhalten zu den natürlichen Produktionsbedingungen — der Erde — als den seinen, ist ein anderes Gemeinwesen, das sie schon als seinen anorganischen Leib in Anspruch nimmt. Der Krieg ist daher eine der ursprünglichen Arbeiten jedes dieser naturwüchsigen Gemeinwesen, sowohl zur Behauptung des Eigentums als zum Neuerwerb desselben." 15 Es kann festgestellt werden, daß, wenn Nomadenstämme zu einem großen Reich, zu einer Stammeskonföderation, zusammengeschlossen werden, wie im Falle der Osttürken, die außenpolitischen Aktionen vom führenden Clan bzw. Stamm wahrgenommen werden, wobei die anderen Stämme verpflichtet waren, ihre Armeen zur Verfügung zu stellen. Dieses System funktionierte natürlich nur so lange, wie die Oberherrschaft eines Kagan anerkannt wurde. Die „Raubzüge" waren in erster Linie von wirtschaftlichen Interessen diktiert. In ihrem Ergebnis wurden notwendige Produkte erbeutet und Möglichkeiten für den weiteren Austausch von „Geschenken" geschaffen, außerdem aber auch Arbeitskräfte auf türkisches Gebiet verschleppt, wo sie als Sklaven vor allem handwerkliche Tätigkeiten ausführen mußten. 1 6 Daneben nennt Liu Mau-tsai 17 als einen zweiten wichtigen Beweggrund, daß der Kagan Raubzüge durchführte 14
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H. Ecsedy, Trade-and-War Relations Between the Türks and China in the Second Half of the 6th Century, in: A O H 21, 1968, 131-180. K. Marx, Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehn, Berlin 1972, 24-25. C.
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Hoit A3HH, in: TropKOHoraiecKHü cßopHHK 1972, Mocraa 1973, 256—257. 17 Liu Mau-tsai, Die chinesischen Nachrichten zur Geschichte der Osttürken (T'uküe), 2 Bde., Wiesbaden 1958, Bd. 1, 426.
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bzw. durchführen mußte, um seinen und vor allem den unterworfenen Stämmen Ehrfurcht und Respekt einzuflößen. Damit ist das Problem der Rolle der Persönlichkeit angeschnitten, auf das hier aber nicht weiter einzugehen ist. Obgleich die verschiedenen Reiche des eurasiatischen Steppenlandes viele gemeinsame Züge aufweisen, müssen auch die besonderen Merkmale eines jeden dieser Staatswesen herausgearbeitet werden. Um die Besonderheit der türkischen Entwicklung zu unterstreichen, sei hier nur darauf hingewiesen, daß einige Stämme oder Stammesgruppen mit der Gewinnung und/oder Verarbeitung von Eisen beschäftigt waren, das von ihnen natürlich vorwiegend zur Ausrüstung der Krieger verwendet wurde. Außer archäologischen Nachweisen gibt es dafür auch mehrere schriftliche Zeugnisse. Bezeichnend ist u. a. die Antwort des RuanRuan-Herrschers auf die Bitte des türkischen Kagan Bumïn um eine Prinzessin : „Du bist doch unser gemeiner Schmied. Wie kannst Du wagen, solche Worte auszusprechen !" 18 Diese Replik zeigt im übrigen, daß die Ruan-Ruan noch nicht die neue Lage, die mit der Erhebung des AsJna-Clans entstanden war, einschätzen konnten oder wollten. Des weiteren gibt es auch Hinweise auf einige andere von den Türken ausgeübte Tätigkeiten 19 , die bereits Seßhaftigkeit verlangten, wie den Feldbau. Vermutlich wurden aber auch diese Zweige nur von einigen Gruppen betrieben. Die Stämme hatten außer der Bereitstellung von Kriegern auch Abgaben, die wohl in erster Linie aus Vieh bestanden, an den Herrscher und dessen Clan zu entrichten. Es ist zu beachten, daß diese Abgaben vom Stamm insgesamt und nicht von Individuen gefordert wurden. So heißt es z. B. im Tangshu: „Als die Ausgaben des Hie-li [Xie-li] nicht gedeckt werden konnten, verlangte er erhöhte Steuern von den Stämmen." 2 0 Ob die Stammesmitglieder auch an den Herrn ihres eigenen Stammes, an den Beg, Abgaben zu entrichten hatten, wissen wir nicht. Es ist jedoch zu vermuten, daß der für die Abgabenerhebung verantwortliche Beg diese auch zur Bereicherung seiner eigenen Taschen ausnutzte. 2 1 Gumi18
Liu Mau-tsai 1, 7. Als ein Beispiel, das zur Vorsicht gemahnt, sei hier eine problematische Stelle der Bilgä Kagan-Inschrift erwähnt. Kyzlasov bezieht sich in seiner Istorija Tuvy (45) auf die von S. E. Malov gegebene Deutung von äkinlig als 'Backwaren' bzw. 'Bäckerei'. Das entsprechende Wort ist aber ein Adjektiv zu äsgiti 'Seide', und T. Tekin übersetzt (A Grammar of Orkhon Turkic, Bloomington-Den Haag 1968, 281) den Ausdruck durch „hem-stitched (?) silk fabric". Jedoch noch klarer ist Clausons Interpretation als kinlig „musk-scented" (Clauson 111)! 20 Liu Mau-tsai 1, 143. 21 R. Giraud, L'empire des turcs célestes, Paris 1960, 86 schreibt dazu: „Cependant, si on les prend à la lettre, les monuments de K. T. montrent le peuple animé de deux sentiments qui ne sont contradictoires qu'en apparence : l'attachement à la personne du qaghan, et une sourde hostilité à l'égard des begs. Ces derniers, s'ils sont bien les chefs de tribus et de clans que nous croyons, étaient en même temps les collecteurs d'impôts. Comme en cette matière il n'y a guère de limites à l'arbitraire, comme les begs étaient insatiables, on peut avoir là une des sources des réactions populaires. Il y en avait sans doute d'autres. La conséquence immédiate 19
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lev unterstreicht, daß die Begs als Anführer der Stämme dem Vorbild des Herrschers zu folgen bestrebt waren.22 Sie drängten nach Unabhängigkeit, um die Reichtümer aus den Raubzügen allein für sich selbst zu erlangen. Es zeigt sich, daß Widersprüche eben vor allem zwischen der Oberherrschaft des Kagan und den Herrschaftsansprüchen der Begs bestanden. Ein anderes Problem ist mit der mehrmals vorkommenden Beteuerung der türkischen Inschriften verbunden, daß die Kagane stets um das Wohl des Bodun, des Volkes, bemüht waren. Hier seien nur zwei Beispiele zitiert : „Kagan geworden, habe ich das ganze elende Volk gesammelt, das arme Volk habe ich reich gemacht, daß (an Zahl) geringe Volk habe ich zahlreich gemacht." 2 3 Übrigens wendet sich der Kagan immer an Beg und Bodun ! Oder : „Nach dem Willen des Himmels und weil ich die hohe Würde und das Schicksalslos hatte, habe ich das sterbende Volk zum Leben zurückgeführt, dem nackten Volk habe ich Kleider verschafft, das arme Volk habe ich reich gemacht, das (an Zahl) geringe Volk habe ich zahlreich gemacht." 2 '* Wenn man diesen Aussagen (ein gewisser Toposcharakter scheint ihnen eigen zu sein) Glauben schenken darf, müßte man sie wohl im Zusammenhang mit dem Bemühen um Stabilität sehen, denn das Auseinanderfallen der Stämme war stets eine drohende Gefahr ; und Ansehen, daß der Kagan durch „Wohltaten" für das Volk erlangte, konnte solche Pozesse wenigstens aufhalten. Mit dem Beginn der Tangdynastie und der zunehmenden Erstarkung Chinas trat eine ernste Schwächung des osttürkischen Reiches ein ; einige Stämme erhoben sich gegen die Oberherrschaft des Kagan, und am Ende sah sich der Kagan gezwungen, die Oberhoheit des chinesischen Reiches anzuerkennen und sich zu unterwerfen. Nach ca. 50 Jahren vollzog sich aber wieder eine Entwicklung, die dank der ausführlichen Schilderung in den türkischen Inschriften einige Einzelheiten über den Zusammenschluß von Stämmen zu einer machtvollen Konföderation erkennen läßt. Zunächst heißt es über die Zeit des ersten osttürkischen Reiches: „In so weiter Ausdehnung zwischen (diesen) beiden Endpunkten herrschten sie, indem sie die blauen Türken, die ohne Herrn und ohne Stammesorganisation waren, ordneten. Es waren weise Kagane, es waren tapfere Kagane, auch ihre Beamten sind weise gewesen, sind tapfer gewesen. Sowohl Bäge wie Volk waren einträchtig. Deswegen haben sie ein so großes Reich beherrschen und, indem sie das Reich beherrschten, die Verfassung ordnen können" 25 usw. Dann sprechen die Inschriften davon, daß die darauffolgenden Kagane immer schlechter wurden. Die Zerfallsperiode endlich wird folgenderde cette dualité est que, tournant ses regards vers le qaghan, la masse des tribus reste patriote et attaché à l'Empire, tandis que les begs se montrent assez disposés à l'émigration." 22
rysiHjieB 56.
V. Thomsen, Alttürkische Inschriften aus der Mongolei, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 78, 1924, 142. 24 Thomsen 150. 25 Thomsen 145. 23
Zum Verhältnis Stamm — Herrscher in der Zeit der osttürkischen Reiche
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maßen charakterisiert: „Wegen der Zwietracht zwischen den Bägen und dem Volk und wegen der List und Verschlagenheit des chinesischen Volkes und seiner Ränkesucht, und weil es die jüngeren und die älteren Brüder veranlaßte, gegeneinander zu komplottieren, und zwischen Bägen und Volk Zwietracht säte, brachte es das angestammte Reich des türkischen Volkes zur Auflösung und brachte über seine rechtmäßigen Kagane Untergang." 2 6 Hieraus können wir zunächst ersehen, daß in der Blütezeit — wie bereits einleitend erwähnt — Aufstände von Stammesmitgliedern gegen ihre Oberschicht nicht vorkamen. Wie der Bericht zeigt, muß man für Zerfallsperioden jedoch mit Disharmonien zwischen Stamm und Beg rechnen. D a aber in den Quellen nicht mehr über diese Rebellionen gesagt wird, können wir den Charakter nicht genauer bestimmen. Hinzuweisen wäre zweitens auf den von den Chinesen erdachten und praktizierten Grundsatz „Barbaren gegen Barbaren", auf den hier deutlich angespielt wird. E s ist schließlich hervorzuheben, daß der Verfasser der Inschrift diese beiden Ursachen in direkte Verbindung bringt. Im weiteren führt der Inschriftenbericht Klagen über die Unterwerfung unter die Herrschaft der Chinesen. Dann folgt ein interessanter Abschnitt über die „Reichssammlung", die um 680 zur Errichtung des neuen osttürkischen Reiches führte: „Aber der türkische Himmel droben und die türkische heilige Erde handelten so: damit das Türkenvolk nicht zugrunde ginge, sondern damit es (wieder) ein Volk würde, erhöhten sie meinen Vater ElteriS K a g a n und meine Mutter Elbilgä Qatun, indem sie sie vom Gipfel des Himmels aus unterstützten. Mein Vater, der Kagan, zog aus mit 17 Mann; als sie das Gerücht hörten, daß er draußen ( = außerhalb von China) vorwärts ziehe, zogen die in den Städten Befindlichen hinauf in die Berge und die auf den Bergen Befindlichen stiegen herab, und als sie sich sammelten, wurden es siebzig Mann. D a der Himmel ihnen Stärke gab, war meines Vaters, des Kagans Heer gleich Wölfen und waren seine Feinde gleich Schafen. Indem er nach Osten und nach Westen zog, sammelte er Leute und schloß sie zusammen, und es wurden im ganzen 700 Mann. Nachdem es 700 Mann geworden waren, ordnete er in Übereinstimmung mit den Einrichtungen meiner Ahnen das Volk, das sein Reich und seinen K a g a n verloren hatte, das Volk, das zu Sklaven und Sklavinnen geworden war, das Volk, dessen türkische Einrichtungen aufgelöst worden waren, und er flößte ihnen Mut ein." 2 7 In der Inschrift des Tonyukuk, der, in China aufgewachsen, ein Kenner der chinesischen Lebensweise und Politik war und als Ratgeber und Armeekommandant mehrere Jahrzehnte hindurch den ersten Kaganen des neuen türkischen Reiches diente, werden diese Ereignisse ebenfalls dargestellt. Daraus sei hier ergänzend nur erwähnt, daß der K a g a n zusammen mit Tonyukuk zum ötükän, der Hochburg von Zentralasien 28 , wie dieses Gebiet treffend genannt worden ist, zog. Als sich diese Nachricht verbreitete, kamen zahlreiche Stämme von 26 Thomsen 145-146. 2? Thomsen 146-147. 2 8 A. v. Rosthorn, Die Hochburg von Zentralasien, in: Hirth-Festschrift (Hirth Anniversary Volume) 1922, 286-297 ( = Ostasiatische Zeitschrift 8, 1919-1920).
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PETER
ZIEME
selbst und erkannten die Oberhoheit des neuen Kagan an. 2 9 Dies zeigt, daß das Ötükän-Gebirge nicht nur ein Refugium für Notzeiten war, sondern auch einen besonderen Symbolwert als Herrschaftszentrum hatte. Dem Stamm, dem Bodun, stand eine Oberschicht gegenüber, die bereits stark differenziert war. An der Spitze der Stammeskonföderation stand der Kagan — ein Titel, an den eine große Machtfülle, gewöhnlich die oberste Herrschaft im zentralasiatischen Nomadenland, geknüpft war. (Selbst in der osmanischen Zeit gab es Sultane, die diesen Titel in Anspruch nahmen, um sich mehr Ansehen zu verschaffen und als mächtiger zu gelten. 30 ). Unter diesem standen der Tegin, der Thronanwärter, der Yabyu, der Sad und viele andere. Oft ist es leider unmöglich, den genauen Status eines Titelträgers zu ermitteln. I n den chinesischen Quellen wird im Anschluß an den Bericht über die Wahl des Kagan, die an eine schamanistisch anmutende Zeremonie erinnert und sicherlich ein Relikt aus längst vergangener Zeit war, festgestellt: „Als hohe Beamte hatten die Türken Yabyu, Sad, danach Tegin, danach Sse-li-fa [die Identität dieses Titels mit eltäbär der Inschriften wurde vor kurzem von A. Bombaci bewiesen 31 ], danach T'u-t'un-fa und andere kleine Beamte. Insgesamt waren es 28 Klassen. Alle (Ämter) waren erblich." 32 Weitere Titel führt Liu Mau-tsai aus dem Tongdian an. 33 Trotz dieser Fakten ist es fraglich, ob wir es schon mit einem voll ausgebildeten Staatsapparat zu tun haben. F ü r die hier behandelte Periode kann man feststellen, daß ähnlich den Verhältnissen in anderen zentralasiatischen Nomadenreichen ein erreichtes Stadium nicht überschritten wurde. Ein Hauptgrund für die Beharrung liegt sicher in der weiter bestehenden vorherrschenden Produktionsform der Viehzucht, die zwar schon sehr frühzeitig eine soziale Differenzierung bedingte, dann aber auf Grund der geringen Weiterentwicklung der Produktivkräfte keinen raschen Fortschritt hervorbrachte. 34 Erst unter den Uiguren zeichnet sich eine neue Entwicklung ab, die dann zur Seßhaftigkeit im Turfangebiet führt. 29 Thomsen 164. ^ E . Werner, Die Geburt einer Großmacht — Die Osmanen, Berlin 1972, 151. 31 A. Bombaci, On the Ancient Turkic Title Eltäbär, in: Proceedings of the I X t h Meeting of the Permanent International Altaistic Conference, Neapel 1970, 1—66. 32 Liu Mau-tsai 1, 41. 33 Liu Mau-tsai 2, 498-499. 34 I. Sellnow, Einleitung zu „Das Verhältnis von Bodenbauern und Viehzüchtern in historischer Sicht", Berlin 1968, 14.
Die Rolle der Deportierten im mittelassyrischen Staat Von
HELMUT FBEYDANK
(Berlin)
Eines der politischen Mittel des neuassyrischen Staates, den Widerstand der Bevölkerung unterworfener Gebiete zu brechen, war die Umsiedlung großer Teile dieser Bevölkerung. Jedenfalls hat man die Berichte über Deportationen bisher vor allem in dieser Weise gedeutet. So schreibt z. B. H. Schmökel, der die besondere Belastung für den neuassyrischen Staat darin sieht, daß dieser gezwungen war, ständig einen Zweifrontenkrieg gegen die Aramäer in Obermesopotamien und Syrien und gegen Urartu zu führen: „Aus dieser Tatsache resultiert einmal der Terror als Herrschaftsprinzip, zum anderen die Praxis der Massendeportationen als Ausweg: Aufsässige Volksteile von der Peripherie des Reiches — insbesondere die Vornehmen und die Handwerker — wurden nach Innerassyrien verpflanzt, und an ihren Platz rückten Umsiedler aus assyrischen oder aber so weit entfernten Gebieten, daß eine Gemeinschaft mit den Resten der autochthonen Bevölkerung unmöglich war. Könige und Beamtenschaft haben diese Methoden bis zur Virtuosität ausgebildet. . A. Moortgat wertet die Umsiedlung der Bevölkerung Babyloniens — übrigens in einer terminologisch interessanten Formulierung — folgendermaßen: „. . . der Grad und die Konsequenz, mit denen Tiglatpilesar I I I . sie angewandt hat, lassen in ihr eine seiner grundlegenden Methoden zur Neugestaltung der vorderasiatischen Welt erkennen." 2 Schließlich sei noch R. Labat in der Fischer Weltgeschichte angeführt: „. . . erst Tiglatpilesar I I I . benutzte die Deportation systematisch als Mittel, den nationalen Zusammenhalt aufzusprengen, und zwar sowohl in der Heimat der Deportierten als auch dort, wo man sie unter Einheimischen ansiedelte. Umsiedler stellten vor allem die Einwohnerschaft neugegründeter Grenzfestungen; . . . Umsiedlungen mußten, wenn sie ihre Wirkung nicht einbüßen sollten, häufig und in großer Zahl vor sich gehen." 3 1
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H. Schmökel, Geschichte des alten Vorderasien, Leiden 1957, 260 (Handbuch der Orientalistik, 2. Bd., Keilschriftforschung und alte Geschichte Vorderasiens, 3. Abschnitt). A. Scharff, A. Moortgat, Ägypten und Vorderasien im Altertum, München 1950, 409. R. Labat, in: Die Altorientalischen Reiche 3. Die erste Hälfte des 1. Jahrtausends, Frankfurt am Main 1967, 57 (Fischer Weltgeschichte, Bd. 4).
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HELMUT FREYDANK
Unter einem grundsätzlich anderen Aspekt hat J. Zablocka diese Umsiedlungen betrachtet. 4 Ihrer Ansicht zufolge ist in der Unterdrückungsfunktion nicht der Hauptgrund für die massenweisen Deportationen seit Assurnasirpal II. (883—859 v. u. Z.) zu sehen. Vielmehr war seit dieser Zeit eine neue Agrarpolitik erforderlich geworden, deren Ziel die intensivere landwirtschaftliche Nutzung des assyrischen Kernlandes war. — Assyriens Lage im Schnittpunkt der Handelswege zwischen Anatolien, Obermesopotamien, Syrien, Babylonien und dem iranischen Hochland hatte es schon früh zu einem Zentrum des Transithandels werden lassen. Andererseits entwickelten sich Ackerbau und Handwerk nicht so stark und nicht ausreichend, um über die produzierende Bevölkerung hinaus den Palast und eine Armee zu unterhalten. Trotz eines relativ günstigen Klimas war ohne künstliche Bewässerung keine Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion möglich. Zu Beginn der mittelassyrischen Zeit hatte der Sieg Salmanassars I. über Sattuara I. von Hanigalbat die Einverleibung dieses obermesopotamischen Gebietes in den assyrischen Staat und neben einer neuerlichen Kontrolle der Handelswege nach Syrien und Anatolien einen beträchtlichen Zuwachs an landwirtschaftlicher Nutzfläche wie auch an prosperierenden Städten und einer in der Landwirtschaft, Pferdezucht und Kriegstechnik erfahrenen Bevölkerung gebracht. Man hat folglich in der Eroberung von Hanigalbat die unerläßliche ökonomische Voraussetzung für die weitere Expansion des mittelassyrischen Staates im 13. Jahrhundert wie auch im 11. Jahrhundert zu sehen. Das Haupthindernis für eine Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktion im assyrischen Kerngebiet war damit noch immer der Mangel an Arbeitskräften. Die nach Aussage der Königsinschriften unter Salmanassar I. deportierten 14400 Gefangenen aus Hanigalbat wurden angeblich geblendet und möglicherweise nicht unmittelbar in der Landwirtschaft, sondern im Palast eingesetzt. I. M. Diakonoff hält ihre Beschäftigung mit Bodenbau oder Viehzucht für wenig wahrscheinlich, denn ein Verwaltungstext sagt über eine Reihe dieser Personen aus, daß sie Handwerker und im übrigen geblendete Kreigsgefangene seien. Diese konnten also nur bei den einfachsten Arbeiten, wie sie wohl nur die königliche Wirtschaft in größerem Umfang bot, Verwendung finden, keinesfalls aber bei der Bearbeitung des Bodens. Daraus wird gefolgert, daß nur eine geringe Anzahl von Arbeitskräften für die königliche Landwirtschaft erforderlich war. I. M. Diakonoff stellt zwei mögliche Formen der Bearbeitung des Bodens gegenüber: 1. Das Königsland wurde von freien oder abhängigen Bauern bearbeitet — ein Sachverhalt, der sich durch die Quellen bisher nicht bestätigen ließ. Hierzu wird die Tafel, die für eine Ansiedlung von abhängigen Bauern auf Königsland zu sprechen scheint, noch zu behandeln sein. 4
J. Zablocka, Stosunki agrarne w parietwie Sargonidöw, P o z n a n 1971, deutsches R e s ü m e e 154—158.
Die Rolle der Deportierten im mittelassyrischen Staat
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2. Der König verfügte über kein umfangreiches Grundeigentum, sondern erhielt Zuwendungen in Form von Naturalsteuern. Das nun scheint von den Urkunden bestätigt zu werden. 5 Die Massendeportationen seit dem 9. Jahrhundert zielten demgegenüber eindeutig auf eine dichtere Besiedlung Assyriens bei gleichzeitiger Entvölkerung der Randgebiete ab. Wie J . Zablocka errechnet hat, wurden von 881—815 etwa 193000 Bewohner eroberter Länder nach Assyrien umgesiedelt. In der Sargonidenzeit, d. h. seit dem Ende des 8. Jahrhunderts, erhöhte sich diese Zahl auf etwa das Zehnfache. Unter Berücksichtigung der gewiß gleichgroßen Anzahl der Ermordeten und Gefallenen kommt J . Zablocka so zu einer doppelten Verminderung der Bevölkerung an der Peripherie des assyrischen Staates, der die Erhöhung der Bevölkerungszahl in Assyrien selbst gegenübersteht. 6 Diese Deportierten, die als Beute Eigentum des assyrischen Königs waren, wurden auf Kronland angesiedelt und bildeten eine Gruppe von Abhängigen, deren Rechtsfähigkeit allerdings auch bezeugt ist. Die von ihnen bewirtschafteten Ländereien versorgten den Palast, das Heer und die umfangreiche Beamtenschaft. Dabei bestand die Möglichkeit, daß den Beamten seitens der Krone zugewiesenes Land schließlich in ihr privates Eigentum überging. 7 Dem geschilderten Ausmaß der Deportationen in neuasyrischer Zeit gegenüber nehmen sich die Angaben der mittelassyrischen Quellen unbedeutend aus. Erste Bezeugungen für Deportationen bzw. Umsiedlungen im Gefolge militärischer Unternehmungen stammen im übrigen aus der Ur Iii-Zeit. 8 I. J . Gelb, der sehr ausführlich über die Kriegsgefangenen im Mesopotamien der Frühzeit gehandelt hat, konnte bestätigen, daß eine Verwendung von Kriegsgefangenen, insbesondere auch ihre Wiederansiedlung, seit der Ur HI-Zeit anzutreffen ist. Noch zur Zeit des altakkadischen Herrschers Rimus wurden wahrscheinlich alle männlichen Gefangenen getötet. Es zeigt sich, daß die Erlangung von Kriegsgefangenen zu einer Hauptquelle für den Zuwachs an Arbeitskräften wurde. Wie I. J . Gelb feststellt, wurden jedoch die Bevölkerungen besiegter Länder nicht versklavt, sondern wiederangesiedelt. Nach den Texten zu urteilen, änderte sich jeweils sehr bald auch der Status der Kriegsgefangenen, und man bezog sich auf sie als auf „Arbeiter" bzw. „Soldaten" oder etwa „Mannschaften". 9 3
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I. M. D i a k o n o f f , Agrarian Conditions in Middle Assyria, in: A n c i e n t M e s o p o t a m i a . G Socio-economic H i s t o r y , Moscow 1969, 2 2 2 f . Zablocka, Stosunki 155. Zablocka, Stosunki 156; dies., Landarbeiter i m R e i c h der Sargoniden, in: Gesellschaftsklassen i m A l t e n Zweistromland und in den angrenzenden Gebieten, 18. R e n c o n t r e assyriologique internationale, München, 29. J u n i bis 3. Juli 1970, München 1972, 212 (Bayerische A k a d e m i e der Wissenschaften, Philos.-hist. Klasse, A b h a n d l u n g e n , N . F. H . 75, Veröffentlichungen der K o m m i s s i o n zur Erschließung v o n K e i l s c h r i f t t e x t e n , Serie A, 6. Stück). A. L. Oppenheim, A n c i e n t Mesopotamia. Portrait of a D e a d Civilization, Chicago 1964, 363. I. J . Gelb, Prisoners of War in Early Mesopotamia, in: Journal of Near E a s t e r n Studies 32, 1973, 7 0 - 9 8 ; s. besonders 73 u. 96.
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Für den hethitischen Bereich ist auf die NAM.RA, die „Zivilgefangenen", zu verweisen. Sie waren von den Kriegsgefangenen offenbar deutlich unterschieden, wurden aber als Teil der Kriegsbeute umgesiedelt und eingesetzt, brachliegende Landstriche wieder unter Kultur zu nehmen. Man wies sie Hausgemeinschaften ohne männliche Arbeitskräfte zu, und sie konnten unter die Handwerker des Königs aufgenommen werden. Wie sich zeigt, sind die NAM.RA nicht als soziale Schicht zu betrachten, sondern waren im allgemeinen Sinne „deportierte Bevölkerung", innerhalb derer beispielsweise ein Sklave seine soziale Stellung beibehielt.« Aus der mittelassyrischen Zeit stehen einige wenige Belege für Deportierte zur Verfügung. Sie sind enthalten in den Königsinschriften und in Rechts- bzw. Verwaltungsurkunden, die auf die Verpflegung der betreffenden Personengruppen in Assyrien Bezug nehmen. Der Terminus technicus für den Vorgang lautet akkad. nasähuA1 Das Verb hat die Grundbedeutung „(her)ausreißen" und ist dann als „evakuieren, menschenleer machen" und noch spezieller als „anderswohin zum Dienst versetzen" und „deportieren" übersetzt worden. Die Belegstellen lassen vermuten, daß dieses „anderswohin zum Dienst versetzen", also der unmittelbare praktische Einsatz einer unterworfenen bzw. in Abhängigkeit gebrachten Bevölkerung, eine entscheidende Rolle gespielt hat. J . Zablocka vermerkt in einer Tabelle insgesamt fünf Erwähnungen von Umsiedlungen unter Salmanassar I., Tukulti-Ninurta I. und Tiglatpilesar I. Es handelt sich neben den schon erwähnten 14400 Gefangenen aus Hanigalbat um 6000 Krieger der Muski, die zu Bewohnern Assyriens gemacht wurden. Ähnlich liegt ein weiterer Fall, den die Inschriften Tiglatpilesars I. berichten: „4000 Leute von Urume und Abeslu, hethitische Krieger, die sich nicht unterwerfen wollten, nahm ich, riß ich heraus, den Bewohnern meines Landes rechnete ich sie zu." 12 — Deportiert und nach Assyrien gebracht wurde anscheinend auch die Bevölkerung der Stadt Enzate im Lande Iäua, doch sind Einzelheiten dieser Aktion nicht überliefert. 13 — Es verbliebe die Nachricht von den 28800 Hethitern vom jenseitigen Ufer des Euphrat, die Tukulti-Ninurta I. in den ersten Jahren seiner Regierung in sein Land deportiert haben will. Mit Sicherheit erfüllt die Erwähnung dieser, wie E. Weidner annimmt, „maßlos übertriebenen" Zahl lediglich einen propagandistischen Zweck gegenüber Hatti, zu dem später nicht die besten Beziehungen bestanden. 14 10
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A. Goetze, Kleinasien, München 1957, 106 (Handbuch der Altertumswissenschaft, Kulturgeschichte des Alten Orients, 3. Abschn., 1. Unterabschn.); vgl. H . Otten, V. Soucek, Das Gelübde der Königin Pudühepa an die Göttin Lelwani, Wiesbaden 1965, 46 (Studien zu den Bogazköy-Texten 1). W. v. Soden, Akkadisches Handwörterbuch (im folgenden: AHw), Lieferung 8, Wiesbaden 1967, 749 b -752 a . E. Weidner, Die Feldzüge und Bauten Tiglatpilesers I., in: Archiv für Orientforschung 18, 1957-1958, 350, Z. 20f. « Weidner, ebenda 350, Z. 32f. E. Weidner, Die Inschriften Tukulti-Ninurtas I. und seiner Nachfolger, Graz 1959, 26 u. 40 (Archiv für Orientforschung, Beih. 12).
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Tatsächlich bieten die erwähnten Rechts- bzw. Verwaltungsurkunden einen bedeutend festeren Boden, wenn man etwas über die Lage der umgesiedelten Bevölkerung erfahren will. Die bisher publizierten Texte betreffen in einigen Fällen die Verpflegung von Deportierten mit Getreide. L a u t einer Tafel diente das Getreide auch als F u t t e r f ü r die Rinder im Besitz dieser Personen. Letztere waren also mitsamt ihrer beweglichen H a b e und infolge der Unterwerfung Hanigalbats durch das assyrische Heer unter Salmanassar I. nach Assyrien bzw. Assur gebracht worden. Während ihre Verpflegung offensichtlich dem Palast oblag, bleibt ihr Einsatz, wenigstens in diesen Texten, unerwähnt. 1 5 Über das Ausmaß dieses Einsatzes und die Aufgaben der Deportierten geben im einzelnen erstmals die unpublizierten Urkunden aus der Zeit Tukulti-Ninurt a s I. Auskunft. 1 6 Hier sei n u n kurz auf den erwähnten Verwaltungstext eingegangen, der, soweit er erhalten ist, in jedem Abschnitt eine Familie mit ihrer beweglichen Habe auff ü h r t und jeweils ein Saatfeld in bestimmter Größe nennt. D a die Personenn a m e n zum Teil hurritischen Ursprungs sind und es sich bei den erwachsenen männlichen Familienmitgliedern um „Maurer" bzw. „Baumeister" handelt, scheinen diese Handwerker wohl auf Königsland angesiedelt worden zu sein, und zwar im Hinblick auf die umfangreichen Bauvorhaben des Königs. Der Terminus f ü r ihre Umsiedlung nach Kär-Tukulti-Ninurta, der als Residenz ausersehenen Neugründung a m Ostufer des Tigris, ist wieder das Verb nasähu, so daß die Familien wahrscheinlich aus Obermesopotamien deportiert worden sind, möglicherweise noch zu Zeiten Salmanassars I., spätestens aber in den ersten J a h r e n der Regierung Tukulti-Ninurtas I. 1 7 Über die Gründe f ü r die Errichtung der Stadt sind Vermutungen geäußert worden, u. a. die bisher unbestätigt gebliebene, der ja schließlich ermordete König habe sich in der S t a d t Assur infolge innerer Auseinandersetzungen nicht mehr sicher gefühlt. 1 8 Eher überzeugt demgegenüber die Erwägung, der sein F l u ß b e t t oft wechselnde Tigris, der z. B. unter Assur-nadin-apli, dem Nachfolger Tukulti-Ninurtas I., fast 250 ha bebauter Felder im Umkreis der Stadt Assur weggespült hatte, habe den Bau der neuen Stadt an einem Ort mit unbedingt gesicherter Wasserzufuhr notwendig gemacht. 1 9 Das wirft am R a n d e die Frage 15
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Zablocka, Stosunki 67, Tabelle 1; vgl. J. M. Munn-Rankin, Assyrian Military Power, 1300-1200 B. C., Cambridge 1967, 10 (The Cambridge Ancient History, H. 49). Diese Texte sollen später in einer Gesamtbearbeitung vorgelegt werden. VAT ( = Vorderasiatische Tontafel) 18136; vgl. R. Borger, Einleitung in die assyrischen Königsinschriften. Das zweite Jahrtausend vor Chr., Leiden—Köln 1961, 79f. (Handbuch der Orientalistik, 1. Abt., Ergänzungsbd. 5, 1. Abschn., I. Teil). W. v. Soden, Herrscher im Alten Orient, Berlin-Göttingen-Heidelberg 1954, 72 (Verständliche Wissenschaft, Bd. 34). D. J. Wiseman, Assyria and Babylonia, c. 1200-1000 B. C., Cambridge 1965, 10 (The Cambridge Ancient History, H. 41).
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auf, ob es in jeder Hinsicht gerechtfertigt ist, im Zusammenhang mit der Stadtgründung nur von einem übersteigerten Repräsentationsbedürfnis der herrschenden Schicht des mittelassyrischen Staates und ihres Exponenten, des Königs, zu sprechen. Als den Baubeginn in Kär-Tukulti-Ninurta hat man einen Zeitpunkt nach der Niederlage des babylonischen Heeres unter Kastilia§ IV., aber vor der Unterwerfung der Randgebiete Babyloniens angenommen. 20 Etwa in diese Zeit führen einige Verpflegungslisten. Unter diesen nennt die eine der beiden größten und die möglicherweise ältere Tafel nur die Getreidemengen, die andere führt auch die Zahlen der zu versorgenden Personen auf. 21 Dieser Text geht von einer R a tion von 1 qa Getreide, d. h. Gerste je Person und Tag aus. Das Hohlmaß entspricht in mittelassyrischer Zeit wahrscheinlich 0,842 l. 22 — In der erstgenannten Verpflegungsliste 23 erscheinen zunächst kassitische Mannschaften, die als Beute bzw. in diesem Fall wohl als ehemalige Kriegsgefangene aus Babylonien in K ä r Tukulti-Ninurta wohnen. Sie erhalten für 30 Tage etwa 220 Eselslasten Getreide. Das entspräche bei der Tagesration von 1 qa der Verpflegung von etwa 7300 Personen. Über ihren Einsatz sagt der Text nichts aus. Eine im Vergleich dazu geringe Getreidemenge wird an subaräische Mannschaften, welche die Mauer der Stadt bauen, und an Mannschaften aus dem Lande Nairi gegeben, die in K ä r Tukulti-Ninurta Arbeit verrichten. Als kriegsgefangene oder aber deportierte Personen werden im weiteren nochmals Kassiten und u. a. kassitische Sänger aufgeführt. Die Gesamtmenge des Getreides ließe sich in 818887 V2 Tagesrationen aufteilen, doch bleibt 1. das Prinzip unbekannt, nach dem ein großer und oft namentlich genannter Personenkreis Zuteilungen in unterschiedlicher Höhe erhielt, und 2. meist auch die Zeitspanne ungenannt, für die eine Lieferung als Verpflegung bemessen war. Der zweite umfangreiche Text 2 ' 1 , der genaue Personenzahlen nennt, bezeichnet die Arbeitskräfte teils auf Grund ihrer arbeitsorganisatorischen Einteilung, wobei noch nicht alle Bezeichnungen völlig geklärt sind, teils nach ihrer Herkunft. 2262 Personen sind im unteren Palast von Kär-Tukulti-Ninurta beschäftigt. Darunter befinden sich 247 aus Arrapha, 7 Sutäer und 98 Deportierte aus der Stadt Arbailu. Da jedoch Arbailu zum assyrischen Kerngebiet gehört, kann man hier eben wohl nur von „anderswohin zum Dienst versetzten" Personen sprechen, und ein „(Her)ausreißen" hätte sich vielleicht generell auf eine Lösung aus der bisherigen geographischen, vor allem aber auch sozialen Umgebung zu beziehen. Im übrigen handelt es sich bei den erwähnten Personen in der Hauptsache um Arbeitskommandos, militärisches Personal, d. h. Dienstpflichtige, u. a. aber auch um Sänger, Zimmerleute, Instrukteure( ?) und Hirten. Weitere ° Munn-Rankin 29. V A T 17999; Bearbeitung in: Altorientalische Forschungen ferner V A T 18007. 22 Vgl. W . v. Soden, AHw, Lieferung 10, Wiesbaden 1971, 925. 23 V A T 17999. 24 V A T 18007. 2
21
1,
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55-89;
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Getreidelieferungen gehen an Bootsleute, die Getreide herbeigeschafft haben. — Eine andere Gruppe von 1604 Personen setzt sich aus Arbeitskommandos, Dienstpflichtigen, Beschwörern, Sehern, Schreibern, Pförtnern, Vogelfängern und subaräischen, d. h. hurritischen Dolmetschern zusammen. Sie ist im neuen Palast der Stadt Assur eingesetzt. — Die nächste Gruppe, die aus mehr als 200 Mann besteht, arbeitet u. a. im unteren Palast, also wohl von Kär-TukultiNinurta. Auch zu ihr gehören zwei subaräische Dolmetscher. Soweit der Erhaltungszustand des Textes eine Aussage gestattet, sind auch alle im weiteren aufgeführten Personen im Palast von Kär-Tukulti-Ninurta bei verschiedenen Arbeiten beschäftigt. Zum anscheinend überwiegenden Teil — assyrische Arbeitskräfte werden kaum besonders gekennzeichnet — handelt es sich wohl um eine fremdländische Bevölkerung, die hier im großen Stil aufgeboten wurde. Sie leistete die Arbeiten, für die einheimische assyrische Arbeitskräfte, die wahrscheinlich in der Landwirtschaft, vor allem aber im Heer gebunden waren, nicht zur Verfügung stehen konnten, ja unter keinen Umständen ausgereicht hätten. Neben diesen Verwaltungstexten ist es ein bereits teilweise veröffentlichter Brief, der die Lage deportierter Kassiten in der Stadt Kalah in besonderer Weise erhellt. Zwar gibt er keine Auskunft über den Einsatz der 350 Personen in der Verfügung eines Balti-libür, handelt aber ausführlich von der bedenklichen Lage der Kassiten. Während es an Getreide anscheinend nicht mangelt, fehlen Fleisch und Salz. Es ist die Rede von kranken Kassiten und davon, daß 19 von ihnen, Männer, Frauen und Kinder verstorben sind.'-5 Die Deportierten aus den kulturell hochentwickelten Gebieten wie dem hurritischen Obermesopotamien, Babylonien und dem armenischen Bergland hatten den Schatz ihrer Produktionserfahrungen nach Assyrien mitgebracht. Das bestätigt z. B. ein kleinerer Text, der eine Zuwendung von Wolle an deportierte Subaräer, Leute aus Katmuhi und Nairi aufführt. 2 6 Ferner werden in dem Text fünf Maurer bzw. Baumeister namentlich genannt, die ein Mehrfaches der den übrigen Arbeitskräften zugeteilten Wollmenge erhielten. Empfingen die deportierten Subaräer je 10 Minen Wolle, also etwa 4800 g, so waren für die Leute aus Katmuhi und Nairi je 20 Minen vorgesehen, während die „Baumeister" zwischen ein und drei Talent, d. h. 60 bis 180 Minen Wolle erhielten. In einem Fall erweist das theophore Element des betreffenden Namens seinen Träger als einen Marin aus Nairi. Auf Grund seiner Qualifikation nahm er hier offenbar eine bevorzugte Stellung ein. — Es bleibt zu erwähnen, daß diese wohl einmalige Zuwendung von Wolle anscheinend durch das aus Babylonien verschleppte Kleinvieh möglich geworden war. Damit wäre einmal mehr bestätigt, daß eine das Existenzminimum der großen Masse der Deportierten gewährleistende Versorgung nur durch immer neue militärische Raubzüge sichergestellt werden konnte und die Arbeits25
E. Weidner, Studien zur Zeitgeschichte Tukulti-Ninurtas I., in: Archiv für Orientforschung 13, 1939-1941, 122.
26 VAT 18002.
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kräfte nicht oder gegebenenfalls noch nicht zielstrebig für die Reproduktion, geschweige denn bewußt für eine erweiterte Reproduktion eingesetzt wurden. Andererseits darf nicht verkannt werden, daß die schöpferischen Energien der deportierten Arbeitskräfte in einem wahrscheinlich entscheidenden Ausmaß in die Werke der Architektur und bildenden Kunst eingeflossen sind. Was manche Kunsthistoriker einzig als Ausdruck der eigenwilligen Persönlichkeit TukultiNinurtas I. gewertet haben, mag sich objektiv aus den handwerklich-künstlerischen Fähigkeiten der in einer anderen, nichtassyrischen Tradition stehenden Deportierten erklären. Zu den Leistungen im Kultbau in dieser Zeit sagt A. Moortgat: „In Kar-Tukulti-Ninurta hat der König wohl mit Absicht babyionisiert, wenn er an die Nordostseite der Zikkurat des Hauptgottes des Reiches, des Assur, einen echt babylonischen Tempel anbaute, im klassischen Grundriß eines Hofhauses und mit echt babylonischer Breitcella. So t a t er es auch in seinen Texten, die in einer stark babyionisierenden Sprache abgefaßt sind." und „Auch bei der Erneuerung des IStar-Tempels in Assur, des ältesten Kultbaus der Stadt, wollte oder konnte Tukulti-Ninurta I. den assyrischen Grundriß nicht durchsetzen." 27 Ganz unbestritten hat Tukulti-Ninurta I. den Einfluß der babylonischen Kultur, dabei vorrangig den der Religion, und den der Sprache in Assyrien bewußt und mit Sicherheit auch unbewußt gefördert. Das konnte aber doch wohl nur in der beschriebenen Form geschehen, indem nämlich Deportierte aus Babylonien — hier werden sie Kassiten genannt — in Assyrien praktisch tätig wurden. Für den Einfluß deportierter Handwerker aus anderen Gebieten könnten zwei Beobachtungen A. Moortgats sprechen. So stellt er Ähnlichkeiten der FreskoMalereien in Kär-Tukulti-Ninurta mit denen in Nuzi und Alalah fest und erkennt, daß auch die Bildgliederung in den Feldern an Hurritisches gemahnt. 2 8 Allerdings ist in diesem Fall nicht zu entscheiden, ob die assyrische künstlerische Tradition unter langjährigem hurritischen Einfluß diese Formen hervorbringen konnte oder hurritische Künstler ihrer Tradition gemäß gewirkt haben. Soweit nun die Texte ein Urteil erlauben, haben die Deportierten in Assyrien keine aktive politische Rolle gespielt. Eine wie immer geartete Mitwirkung dieses Teils der Bevölkerung an den Entwicklungen, die zur Ermordung Tukulti-Ninurtas I. geführt haben, kann nicht nachgewiesen werden. Sieht man von ihrer anscheinend hervorragenden Bedeutung bei der Schaffung von Werten der materiellen Kultur ab, so schließt diese Passivität nicht aus, daß die Deportierten allein durch ihre Existenz und die Zuständigkeit des Staates für ihren Unterhalt einen Faktor darstellten, der die assyrische Politik unter TukultiNinurta I. maßgeblich mitbestimmt hat. — Man könnte versuchen, eine Beziehung zwischen dem Abfall Babyloniens nach siebenjähriger assyrischer Vorherrschaft und den zahlreichen deportierten Kassiten in Assyrien herzustellen, hatte doch Tukulti-Ninurta I. eine abermalige Unterwerfung Babyloniens nicht 27 28
A . Moortgat, D i e K u n s t des A l t e n Mesopotamien, K ö l n 1967, 120f. A . Moorgat, ebenda 122.
Die Rolle der Deportierten im mittelassyrischen Staat
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mehr in Angriff genommen und einen Kastilias, also wohl den besiegten babylonischen König zum hmw-Beamten eines bisher nicht zu fixierenden Regierungsjahres gemacht. Nur eine angesehene Stellung am assyrischen Hof und keinesfalls die eines Gefangenen konnte Kastilias dieses Amt, das nur vom assyrischen König und seinen höchsten Beamten bekleidet wurde, für ein J a h r eingetragen haben. 29 Obwohl sich also bisher keine Anzeichen für eine aktive politische Rolle der Deportierten im mittelassyrischen Staat feststellen lassen, sei doch betont, daß die in mittelassyrischer Zeit einsetzenden Massendeportationen am Beginn einer Entwicklung stehen, die in der neuassyrischen Zeit zu einer langanhaltenden Aufstandsbewegung in allen Teilen des Reiches geführt hat. Ihrer wurde der neuassyrische Staat trotz grausamer Kriegführung und trotz der mit Perfektion gehandhabten Umsiedlungen nicht Herr. 29
Weidner, Inschriften 41 f.; dazu noch ders., Archiv für Orientforschung 13, 123; vgl. H. Klengel, Tukulti-Ninurta I., König von Assyrien, in: Das Altertum 7, 1961, 74.
Revolutionäre Volksbewegungen im vorhellenistischen Syrien und Palästina Von
KARL-HEINZ BERNHARDT
(Berlin)
Die alte Geschichte Syriens und Palästinas ist erstaunlich reich an Vorgängen, die üblicherweise als 'Revolutionen' oder 'Volksaufstände' gekennzeichnet werden. Wenn man den Vermutungen L. Woolley's Glauben schenkt, dann hätte die Geschichte des alten Alalah schon um 1600 v. u. Z. einen Volksaufstand zu verzeichnen, an den sich in den folgenden Jahrhunderten ähnliche Vorgänge angeschlossen haben sollen. 1 Ziemlich breiter Anerkennung erfreut sich die Sozialrevolutionäre Deutung der Habiru, deren Existenz im vorderasiatischen Kulturland für einen sehr langen Zeitraum bezeugt ist. Hinzu kommen, wie es scheint, verschiedene revolutionäre Aktionen in den syrisch-palästinischen Stadtstaaten während der Amarna-Zeit. Aus dem ersten Jahrtausend v. u. Z. berichtet vor allem das Alte Testament über zahlreiche Ereignisse, die in der Regel als 'Revolutionen' interpretiert werden. A. Alt hat das Königreich Israel als „Reich der gottgewollten Revolutionen" bezeichnet 2 , gewiß nicht ohne gewichtige Anhaltspunkte für diese Auffassung. Bei näherem Zusehen reduziert sich freilich dieser Reichtum an 'revolutionären' Ereignissen rasch. L. Woolley's Annahme eines Volksaufstandes in Alalah am Ende der Zeit von Schicht VII stützt sich auf die archäologische Beobachtung, daß nur Palast, Zitadelle, Tempel und Teile der Befestigung, aber keine Wohnviertel zerstört worden sind. Es fragt sich sehr, ob es nicht viel wahrscheinlicher ist, in der teilweisen Verwüstung eine Folge der Eroberung der Stadt durch den Hethiterkönig Hattuschili I. zu sehen. 3 Entsprechendes gilt wohl auch für die Zerstörung des Palastes während der Zeit von Schicht IV. Immerhin könnte hier an einen Zusammenhang mit der Revolte gegen Ilimilimma, den Vater Idrimis, in Halap gedacht werden, die Idrimi in seiner autobiographischen Inschrift kurz erwähnt (Z. 3f.). Das würde freilich bedeuten, daß der Aufstand, über dessen Charakter und Ziel wir nichts wissen, der aber letztlich den Interessen Mitannis diente, nicht auf die Hauptstadt Halap beschränkt geblieben ist. Besonders phantasievoll ist Woolley's Deutung der Zerstörung des Tempels von Schicht III. Dieses Bauwerk sei wegen seines hethitischen Stils von den 1 2
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Vgl. L. Woolley, E i n vergessenes Königreich, W i e s b a d e n 1954, 8 2 f f . , 123, 139f. A. Alt, D a s K ö n i g t u m in den Reichen Israel und J u d a , in: V e t u s T e s t a m e n t u m 1, 1951, 8. Vgl. H . Klengel, Geschichte Syriens im 2. Jahrtausend v. u. Z., 3 B d e . , Berlin 1 9 6 5 - 1 9 7 0 (im folgenden: Klengel, Syrien 1 - 3 ) , 1, 211f. Gesellschaftsformationen
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Bürgern der Stadt als „Denkmal der Fremdherrschaft" gehaßt und in Brand gesteckt worden, nachdem sie schon vorher ihre Abneigung gegen die hethitische Herrschaft durch Verschmähen hethitischer Import-Keramikmodelle und den „Weitergebrauch" des altväterlichen „Nusu-Geschirrs ausgedrückt" hatten. Dieser „Freiheitskampf" der Alalaher mißglückte allerdings. Dennoch ist alles gut gegangen und die Wohnviertel blieben unzerstört. „Nach dem Zustand von Schicht II zu urteilen, war die Regierung großmütig und mischte sich wenig in das Leben der Bürgerschaft" ( !).4 Dieses Beispiel zeigt, wie schwierig es ist, aus archäologischen Befunden geschichtliche Vorgänge zu rekonstruieren, wenn schriftliche Überlieferungen keine hinreichenden Anhaltspunkte bieten. Die Sozialrevolutionäre Deutung der Habiru befindet sich demgegenüber in einer viel günstigeren Ausgangssituation ; denn an Texten, die von ihrem Auftreten berichten, fehlt es nicht.5 Die Vermutung, daß die Habiru eine bestimmte Schicht oder Klasse der Mittel- und Spätbronzezeit Altvorderasiens gewesen sind, ist schon alt. 6 Hinsichtlich der genaueren Definierung dieser Schicht oder Klasse bestehen jedoch immer noch Meinungsverschiedenheiten. A. Alt z. B. sah in ihnen die „Klasse der wirtschaftlich Gescheiterten und Entrechteten, die nach neuen Daseinsmöglichkeiten suchen, nachdem sie ihren Platz in der alten Lebensordnung verloren haben". 7 M. Noth dachte an Nomaden, die nach dem Eindringen in das Kulturland ohne Möglichkeit zur Seßhaftwerdung geblieben waren.8 Der zweifellos interessanteste unter den neueren Deutungsversuchen stammt von G. E. Mendenhall9, der gleichsam Noths Auffassung umkehrt. Auch nach Mendenhall handelt es sich um Wanderhirten; aber sie stammen nicht aus den Steppen am Rande des Kulturlandes, 4 5
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Woolley, Königreich 140. Die Zahl der von Bottéro zusammengestellten Texte beträgt 180. Vgl. J . Bottéro, L e problème des Habiru à la 4 e Rencontre Assyriologique Internationale (Cahiers de la Société Asiatique 12, Paris 1954). Zuerst wohl J . Lewy, Orientalistische Literaturzeitung ( = OLZ) 30, 1927, Sp. 738-746, 825-833. Zur Forschungsgeschichte vgl. J . Bottéro, ebenda, V f f . ; M. Weippert, Die Landnahme der israelitischen Stämme in der neueren wissenschaftlichen Diskussion, Göttingen 1967, 66 ff. A. Alt, Erwägungen über die Landnahme der Isrealiten in Palästina, PalästinaJahrbuch 35, 1939, S. 59 ( = Kleine Schriften 1, 126-175), im Anschluß an B . Landsberger, Habiru und Lulahhu, in: Kleinasiatische Forschungen 1, 1929, 321—334. Diese Auffassung vertritt auch R . Borger, der die Zusammenscharung der Immigranten und Schutzbefohlenen zu größeren Grupen mit nomadischer Lebensform für wahrscheinlich hält (R. Borger, Das Problem der "apirü („Habiru"), in: Zeitschrift des Deutschen Palästina-Vereins 74, 1958, 121—132). M. Noth, Erwägungen zur Hebräerfrage, Festschrift Otto Procksch zum 60. Geburtstag, Leipzig 1934, 111 ; ähnlich der Auffassung von A. Alt dagegen in : M. Noth, Geschichte Israels, Berlin 1953, 38f. Zur forschungsgeschichtlichen Einordnung von Mendenhall's „soziologischer Lösung" (G. E . Mendenhall, The Hebrew Conquest of Palestine, in : Biblical Archaeologist 25, 1962, 66-87) vgl. Weippert, Landnahme 59-66.
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sondern aus dem Kulturland selbst. Sie sind Bauern, die aus Mangel an Land genötigt waren, aus der Klassengesellschaft der Stadtkönigtümer auszuscheiden und umherschweifende Viehzüchter zu werden. Von dieser Voraussetzung aus erscheint die Seßhaftwerdung der später unter dem Namen Israel zusammengefaßten Habiru-Gruppen als eine mächtige Erhebung landloser Bauern gegen die feudalen Stadtstaaten, eine Erhebung, die ihre ersten Vorläufer bereits in der Amarna-Zeit hat. Der große und erfolgreiche Bauernkrieg beginnt im Ostjordanland. Sichon von Heschbon und Og von Basan werden besiegt und ihre Ländereien aufgeteilt.10 Die Bewegung springt über ins Westjordanland und gewinnt immer mehr Zulauf und Stoßkraft. Koalitionen der Stadtkönige stellen sich ihr entgegen; aber sie können sich und ihr Herrschaftssystem nicht retten. Schließlich sieht die ägyptische Regierung den Bestand ihrer Asienbesitzungen bedroht und entschließt sich zu militärischen Gegenmaßnahmen. Der nicht ganz sicher bezeugte Palästinafeldzug Pharao Merenptahs, bald nach 1220 v. u. Z., wird von Mendenhall entsprechend interpretiert. Später folgt die Ansiedlung der Philister als ägyptische Militärkolonisten in der südlichen Küstenebene mit dem Auftrag, die vom Gebirge herabdrängenden Habiru in Schranken zu halten und die Kontrolle über das Bergland wiederzuerlangen, was aber nur zeitweilig gelingt. Über die Identität der sich selbst Israel nennenden Bevölkerungselemente mit den Habiru kann kein Zweifel bestehen; denn die Philister bezeichnen auch in der alttestamentlichen Geschichtsdarstellung ihre Gegner ausdrücklich als ibrim = Habiru (1. Sam. 4, 6 . 9 ; 13, 3 . 1 9 ; 14,11.21; 29, 3).
Man ist versucht, dieses eindrucksvolle Bild von dem erfolgreichen Aufstand der landlosen Habiru weiter auszumalen. So erscheint das lange Zögern der Israel-Hebräer, sich in einem Territorialkönigtum staatlich zu organisieren, das von Alts und Noths Ansatz aus nur mit dem Haften an alten nomadischen Lebensformen erklärt werden kann, im Lichte von Mendenhalls Hypothese als Folge des antifeudalen revolutionären Bewußtseins der Nachkommen des Bauernheeres. Man könnte aufzeigen, wie dieses Bewußtsein in den Propheten noch Jahrhunderte hindurch lebendig bleibt. Die ständig wiederholte Mahnung dieser Männer, zu der ursprünglichen idealen Sozialordnung zurückzukehren, fände eine treffliche Erklärung, ebenso wie manche eigentümliche Züge im alttestamentlichen Bodenrecht. Leider läßt sich Mendenhalls Konzeption, so einleuchtend sie auch zunächst erscheinen mag, nicht halten. Von den verschiedenen Pakten, die ihr widersprechen11, interessieren in unserem Zusammenhang vor allem zwei: 1. Es ist schwer einsichtig zu machen, warum gerade in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrtausends v. u. Z. in Südsyrien/Palästina in größerem Umfange 10
Die üblicherweise allenfalls nur z. T. als zuverlässig angesehenen Schilderungen von gewaltsamen Aktionen in Num. 21, 21 ff. und Jos. 1—12 werden bei Mendenhall zu den Hauptzeugnissen des Habiru-Aufstandes. Es mag dieser Umstand sehr zur Anziehungskraft seiner Hypothese beitragen.
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Vgl. im übrigen die ausführliche Diskussion in: Weippert, Landnahme 67—102.
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aus Mangel an Land Bauern zu Wanderhirten werden mußten. Für die Stadtkönige war es lebenswichtig, die ländliche Bevölkerung ihrer Territorien zu halten, nicht zuletzt im Interesse der Erfüllung ihrer Tributleistungen an die Verwaltung der ägyptischen Provinzen in Vorderasien. Auch gab es genügend anbauwürdiges unbesiedeltes Land außerhalb der Stadtherrs chatten. Überhaupt ist gerade der umgekehrte Prozeß zu beobachten: Das Bemühen um die Seßhaftmachung von Nomaden und um die Wiederbesiedlung von Gegenden, die durch Kriegsereignisse entvölkert worden waren. 12 Allerdings gibt es in der Amarnazeit Anzeichen für eine Fluchtbewegung von Stadt- und Dorfbewohnern in vorübergehendes Nomadentum, sei es um Plünderungen oder Hungersnöten zu "entgehen, sei es wegen Verwüstung ihrer Heimstätten. 13 Solche Leute waren aber bestrebt, bald wieder zu ihren angestammten Wohnsitze n zurückzukehren.14 2. Die Habiru sind nach allen Zeugnissen, die eine nähere Vorstellung von ihrer sozialen Position vermitteln, Leute von nicht genauer zu bestimmender ethnischer Herkunft, die sich in größeren oder kleineren Gruppen für militärische Dienste zur Verfügung stellen. Als eine Art von Elite- oder Spezialtruppe begegnen sie uns zwischen 2000 und 1050 v. u. Z. in verschiedenen Gegenden Vorderasiens. Während der Amarnazeit wurden sie speziell von Amurru und dem Hethiterreich als Hilfstruppen gegen die ägyptischen Besitzungen in Syrien und Palästina eingesetzt. 15 Wir treffen sie aber auch im Dienste der Ägypter und unter 12
Bereits I d r i m i von Alalah h a t sich in dieser H i n s i c h t b e m ü h t , wobei es sich wohl eher u m wohnungslose E l e m e n t e des K u l t u r l a n d e s h a n d e l t e als u m echte N o m a den (Z. 48f. der autobiographischen I n s c h r i f t ) . Vgl. M. Dietrich u n d O. Loretz, OLZ 61, 1966, Sp. 556. — E n t s p r e c h e n d r ü h m t sich in viel s p ä t e r e r Z e i t N e b u k a d nezar I I . in seiner Felsinschrift im nordlibanesischen W a d i Brisa (heute: W a d i esch-Scharbine), d a ß er die Bewohner des L a n d e s , die vor der assyrischen U n t e r d r ü c k u n g geflohen waren, wieder zu ihren Siedlungen z u r ü c k g e f ü h r t h a t . „ I c h ließ die E i n w o h n e r des Libanon in Sicherheit z u s a m m e n w o h n e n u n d von niem a n d e m belästigen." 13 Verschiedentlich wird dergleichen v o n den Äwpiw-Leuten berichtet (J. A. K n u d t z o n , Die El-Amarna-Tafeln, 1. u. 2. Teil, Leipzig 1915, Vorderasiatische Bibliothek (im folgenden: EA), 112, 12; 114, 21 f. u. ö.), in d e n e n wir wohl die freien Lohnarbeiter (einschließlich der in der L a n d w i r t s c h a f t beschäftigten) zu sehen h a b e n . E n t s p r e c h e n d ziehen sich die L e u t e von N u h a s s e b e i m N a h e n der H e e r e Murschilis I I . in die Steppe z u r ü c k ; vgl. Klengel, Syrien 2, 54. 14 Der Übergang in das V o l l n o m a d e n t u m w a r n u r in b e s c h r ä n k t e m U m f a n g e u n d schwerlich auf längere Zeit möglich. Günstig w a r e n die Rückzugsmöglichkeiten in der u n m i t t e l b a r e n N ä h e der Waldgebirge. Hier g a b es bis in neuere Zeit Gegenden, die Vertriebene in größerer Anzahl auch d a u e r n d a u f n e h m e n k o n n t e n . Die Besiedlung der Waldtäler im nördlichen L i b a n o n ist z. B. weithin durch solche Elemente erfolgt. 15 I n dieser Auffassung u n d ü b e r h a u p t in der E r k e n n t n i s der militärischen F u n k t i o n der H a b i r u s t ü t z t sich der Vf. auf die Ergebnisse einer noch u n g e d r u c k t e n gründlichen U n t e r s u c h u n g der F r a g e durch H . Margulies. Zu ä h n l i c h e n Schlußfolgerungen k o m m t auch schon Weippert, L a n d n a h m e 70 ff. I n älterer Zeit sind H a b i r u im militärischen Einsatz durch Nachrichten aus Larsa, Mari, H a t t u s a u n d Alalah
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den Truppenkontingenten der kanaanäischen Stadtherrscher. 16 öfters verbinden sich auch ungetreue Regenten mit den Habiru zu Aktionen gegen die ägyptische Militärverwaltung. 17 Gerade in der Verbindung mit den Stadtkönigen zeigt sich deutlich, daß sich die Habiru nicht im Aufstand gegen die herrschenden Schichten in den Stadtstaaten befanden. Übrigens suchte und fand bereits Idrimi von Alalah im Lager einer Habiru-Gruppe Zuflucht und Unterstützung. 18 Ganz entsprechend werden die Habiru im Alten Testament geschildert. Bezeichnenderweise begegnen sie uns auch auf Seiten der Philister (1. Sam. 14, 21) und nicht nur als deren Gegner. Ein anschauliches Beispiel für das Leben des Anführers einer Habiru-Streifschar bietet die Geschichte Davids (1. Sam. 21—27; 29f.). I m Zusammenhang mit der Entwicklung größerer Territorialstaaten im südlichen Syrien und in Palästina haben die Habiru im ausgehenden 11. Jh. v. u. Z. ihre militärische Funktion verloren und sind als selbständige Größen aus der Geschichte verschwunden. Vermutlich sind sie in den stehenden Heeren dieser Staaten aufgegangen, soweit sie nicht von der ansässigen Bevölkerung aufgesogen wurden oder gemeinsam mit anderen halbnomadischen Elementen siedelten. Scheiden die Habiru aus der Reihe der Träger sozialrevolutionärer Bewegungen aus, dann kommen für das 2. Jahrtausend v. u. Z. nur noch lokale Aufstände in den Stadtstaaten in Betracht, über die einige Nachrichten in den Amarnabriefen vorliegen. 19 Was wir erfahren, reicht allerdings nicht aus, um über den Charakter dieser Revolten Zuverlässiges aussagen zu können. Ursachen waren örtliche Mißstände, durch ein Übermaß an Ausbeutung, durch militärische Vorgänge oder durch Naturkatastrophen hervorgerufene Versorgungskrisen.20 Es gibt Anzeichen dafür, daß solche Aufstände auch von außen geschürt bezeugt. Vgl. bei J. Bott&o die Texte Nr. 16, 18, 21f., 24, 38, 40-43, 46 und 72. Für die Verbindung zwischen Amurru und den Habiru ist besonders E A 85, 69 ff. aufschlußreich. Vgl. auch Klengel, Syrien 2, 247ff. — Es ist kein Widerspruch zu dieser Auffassung, wenn die Habiru in 'Ruhezeiten' gelegentlich auf eigene Faust Krieg führten oder sich in einzelnen Fällen zu anderen Arbeiten — auch bei Privatleuten — verdingten. 16 Im Aufgebot des Regenten Birijawaza von Übe stehen u. a. neben ägyptischen Expeditionstruppen auch Habiru-Leute (EA 195, 24ff.). Ribaddi von Byblos wirbt für ein besonders schwieriges Unternehmen einen Habiru-Mann an (EA 112, 45 ff.). « Vgl. E A 73, 25ff.; 148, 41ff.; 185, 9ff.; 186, 12ff. u. ö. 18 Vgl. Z. 27 f. der autobiographischen Inschrift. 19 So z. B. in Byblos, Amnija, Ardata und Irqata. — Der Regent Zimrida von Lachisch wird nach E A 288, 43f. durch „Knechte" verwundet. Leider ist nicht klar, was der Anlaß zu dieser Unbotmäßigkeit war. Der Zusammenhang legt nahe, daß es sich um gedungene Mörder handelt. Vermutet werden kann auch ein Raubüberfall, wie Abdihepa von Jerusalem durch marodierende nubische Bogenschützen in Lebensgefahr geriet (EA 287, 71 ff.). 20 Besonders im Falle von Byblos wird erkennbar, daß ökonomische Nöte verschiedener Ursache die Bevölkerung zum Aufstand und zur Vertreibung Ribaddis
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worden sind.21 In keinem der Fälle handelt es sich um eine Erhebung mit dem Ziel einer grundsätzlichen Veränderung der Machtverhältnisse. Es geht lediglich um eine Neuverteilung der Macht innerhalb der herrschenden Klasse, also um einen Wechsel der Dynastie. 22 Nicht anders verhält es sich bei den 'revolutionären' Vorgängen in den Territorialstaaten während des ersten Jahrtausends v. u. Z. Im Endergebnis kann immer nur eine personelle Veränderung in der Staatsführung festgestellt werden. Unterschiedlich ist der Umfang der Bewegungen, die jeweils zu solchen Veränderungen führten. Größtenteils handelt es sich um Auseinandersetzungen innerhalb der Dynastien oder um Usurpation der Herrschaft durch militärische Anführer. Hin und wieder gelangten jedoch auch Männer auf den Thron, die nicht der herrschenden Schicht entstammten. Dies trifft auf Hazael von Damaskus zu, der um 845 v. u. Z. seinen Vorgänger ermordete und den Thron bestieg. Salmanassar III. bezeichnete ihn ausdrücklich als „Niemandssohn". 23 Aus bescheidenen Verhältnissen kam Jerobeam I. von Israel. Als Sohn einer Witwe arbeitete er sich selbst in seiner Jugend allmählich vom Fronarbeiter zum Aufseher und Beamten empor (1. Kön. 11, 26ff.). Unteren Schichten entstammt offenbar auch Baesa von Israel, der um 884 v. u. Z. eine erfolgreiche Verschwörung gegen Nadab von Israel anzettelte (1. Kön. 15, 27ff.; bes. 16, 2). Im einzelnen mag es sich bei diesen Männern um Abenteurer gehandelt haben, die — wie Hazael — eine politisch günstige Situation nutzten, um zur Macht zu gelangen. Eine Beteiligung der Volksmassen an ihrem überraschenden Aufstieg ist jedoch keineswegs ausgeschlossen. Dies zeigt sich am Beispiel des Weges Jerobeams I. zum Königsthron, den wir ziemlich genau verfolgen können. Was ihn emporträgt, ist der alte Gegensatz zwischen den nördlichen Israelstämmen und dem davidischen Königtum von Jerusalem, ein Gegensatz, der sich angesichts der von Salomo geforderten Frondienstleistungen immer mehr verschärft hat. Es ist also zweifellos in gewissem Umfange eine revolutionäre Situation gegeben. Ein erster Aufstandsversuch Jerobeams, über den wir nicht weiter unterrichtet werden, mißlingt und nötigt den Anführer, in Ägypten Zuflucht zu suchen. Nach dem Tode Salomos wird von den Ältesten der Nordstämme eine gütliche Lösung versucht (1. Kön. 12, 1 ff.). Man macht die Huldi-
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veranlaßten (EA 112; 130f. u. ö.). Entscheidend dürfte vielleicht der Abfall der Hupsu-Leute zu den Söhnen Abdiasirtas gewesen sein (EA 118, 38ff.). So wird Aziru von Amurru beschuldigt, die Tötung der Stadtfürsten von Amnija, Ardata und Irqata veranlaßt zu haben (EA 73f.; 139f.). Im wesentlichen wurden solche gewaltsamen Veränderungen von der Schicht der Dynasten bewirkt. Die großen Eroberer unter den syrisch-palästinischen Kleinkönigen — wie Labaja, Abdiasirta und Aziru — haben sich dabei eben lediglich öfters der Mitwirkung von Bevölkerungselementen aus unterschiedlichen Schichten bedient, die mit der Herrschaft ihres Regenten unzufrieden waren (vgl. oben Anm. 20). Vgl. E. Michel, Die Assur-Liste Salmanassars III., in: Welt des Orients 2, 1947, 57f.
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gung des Sohnes und Nachfolgers Rehabeam in Sichern, dem alten Zentrum dieser Stämme, von der Erleichterung der Fronverpflichtungen abhängig. Dieser Beilegungsversuch scheitert an der unnachgiebigen Haltung des schlecht beratenen Rehabeam. Es kommt zum Bruch. Der Oberaufseher der Fronarbeiten wird von der Volksmenge gesteinigt; Rehabeam muß schleunigst seinen Streitwagen besteigen und nach Jerusalem fliehen. Ein Versuch zur Unterwerfung mit Waffengewalt unterbleibt, nachdem in Sichern der aus Ägypten zurückgekehrte Jerobeam von den Repräsentanten der Israelstämme zum König gemacht worden ist. Offenbar war er gegebenenfalls ägyptischer Unterstützung sicher, da die Pharaonen der 22. Dynastie von einer Teilung des davidisch-salomonischen Reiches in zwei rivalisierende Staatswesen nur profitieren konnten. Der Ausgang der Ereignisse zeigt, daß die Volkserhebung der nördlichen Israelstämme ein begrenztes Ziel hatte. Es ging um die Befreiung von den als unerträglich empfundenen Lasten der territorialstaatlichen Monarchie, verbunden mit der Tendenz zur Wiedererlangung der Unabhängigkeit, zu deren Aufgabe die Nordstämme äußerer Druck zwei Generationen vorher genötigt hatte. Im Grunde handelt es sich um eine Auseinandersetzung zwischen der alten Gentilverfassung und der neuen fortgeschritteneren Form der monarchischen Territorialherrschaft, wie auch schon bei zeitlich etwas früher liegenden ähnlichen Volkserhebungen.24 Es ist der Versuch, eine im Gang befindliche sozialökonomische Entwicklung rückgängig zu machen. Dieser Versuch konnte nur durch den Kompromiß eines in seiner Machtstellung begrenzten Königtums verwirklicht werden. Wir wissen im einzelnen nicht, unter welchen Bedingungen Jerobeam zum König gewählt wurde. Die aus späterer Zeit überlieferten Königsrechte (1. Sam. 8; Deut. 17), deren Herkunft aus dem Nordreich Israel unverkennbar ist, lassen aber sichere Rückschlüsse zu. Danach widersetzt sich die alte Stämmeorganisation der Bildung eines dynastischen Königtums und einer Hausmacht, die ein solches Königtum ökonomisch weithin unabhängig machen würde. Erstaunlich ist, daß es gelingt, eine derartige Verfassung zwei Jahrhunderte hindurch einzuhalten. Allerdings wird Israel in diesem Zeitraum immer wieder von Auseinandersetzungen erschüttert, die der nur notdürftig verdeckte Gegensatz zwischen den Vertretern alter patriarchaler Gesellschaftsvorstellungen und der auf Ausweitung ihrer Macht bedachten Monarchie unvermeidlich hervorruft. Charakteristisch für diesen Gegensatz und seine Auswirkungen ist die sogenannte 'Revolution Jehus' (843 v. u. Z.), über die 2. Kön. 9f. ausführlich berichtet wird. Den äußeren Umständen nach handelt es sich um einen geschickt geplanten und konsequent durchgeführten Militärputsch. Der Zeitpunkt ist günstig gewählt. Joram von Israel befindet sich nicht in seiner Residenz Samaria, sondern auf seinem Landsitz Jesreel, um seine im Krieg mit Hazael von Damaskus erlittenen Verwundungen zu heilen. Sein Bundesgenosse Ahasja von Juda leistet ihm Gesellschaft. Der Aufruhr nimmt in Ramoth Gilead, dem Haupt24
Bereits Absalom versteht es, diesen Gegensatz seinen Plänen dienlich zu machen. Der Aufstand Absaloms ist im übrigen nur eine Episode in der langwierigen Auseinandersetzung zwischen Stammesverfassung und dynastischem Königtum.
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quartier des im Ostjordanland stehenden Feldheeres, seinen Ausgang. Jehu, Kommandeur einer Streitwageneinheit, läßt sich von seinen Kameraden zum König ausrufen. Damit ist der Akt der Thronusurpation vollzogen, und es gibt kein Zurück mehr. Die weiteren Maßnahmen folgen mit äußerster Präzision in großer Geschwindigkeit. Eine Nachrichtensperre wird verhängt. Jehu jagt mit seiner Streitwagentruppe nach Jesreel, lockt die beiden Könige aus der Burg und tötet Joram. Ahasja von Juda flieht, wird eingeholt und ebenfalls getötet. Weitere Opfer sind die Königsmutter Isebel, die königlichen Prinzen sowie alle weiteren Angehörigen der Dynastie, Höflinge, Würdenträger und Priester. Auch die Brüder Ahasjas von Juda, die sich auf dem Weg nach Samaria befinden, werden auf israelitischem Gebiet ergriffen und erschlagen.25 Damit sind innerhalb kurzer Zeit alle einflußreichen Anhänger Jorams und überhaupt der Dynastie Omri beseitigt. Als unnötig mag vielleicht die Ermordung Ahasjas von Juda und seiner Brüder erscheinen. Wenn man aber bedenkt, daß Ahasja und Joram von Israel als Enkel Omris von Israel Vettern waren, dann war die Beseitigung der Mitglieder auch der judäischen Dynastie, soweit sie Jehu und seinen Leuten in die Hände fielen, nicht zu umgehen. Offensichtlich war gerade die erfolgreiche Heiratspolitik der Dynastie Omri den gesellschaftlichen Kräften, die hinter Jehu standen, verdächtig und gefährlich.26 Ahab, der zweite Herrscher dieser ebenfalls durch einen Militärputsch an die Macht gelangten Dynastie, hatte nicht nur nach dem Friedensschluß mit Juda seine Schwester mit dem König von Juda verheiratet, sondern war auch selbst eine internationale Eheverbindung mit einer Tochter des Königs von Tyros eingegangen. Das Haus Omri verfügte also über enge verwandtschaftliche Beziehungen zu den mächtigsten Dynastien in den Nachbarstaaten und brauchte deshalb innenpolitisch immer weniger Rücksicht auf herkömmliche Vorstellungen über das Verhältnis zwischen Volk und Herrscher zu nehmen. Diesem Ziel dienten auch verschiedene andere Maßnahmen. So erwarb bereits Omri von einem Privateigentümer Grund und Boden für die Errichtung einer neuen Hauptstadt, die er Samaria nannte. Damit lagen Residenz und Regierungssitz auf einem Terrain, das Privatbesitz der Dynastie war. Omris Sohn und Nachfolger Ahab konnte sodann ein Kultzentrum in der dynastieeigenen Hauptstadt errichten, ohne irgendwelchen Einspruch der Repräsentanten der Stämme befürchten zu müssen. Diese Kultstätte war nicht dem Gott der Israelstämme, sondern einem Baal und seiner weiblichen Entsprechung geweiht, der offenbar aus dem verwandtschaftlich verbundenen Tyros importiert war. Nach der alt25 Nach 2. Kön. 10, 13 handelt es sich um einen Verwandtenbesuch. Merkwürdig ist nur, daß die judäischen Prinzen die ,, Söhne des Königs" und die „Söhne der Königin-Mutter" besuchen wollen. Warum nicht den König und die KöniginMutter selbst ? Vielleicht ist dieser Besuch doch erst etwas später erfolgt, als es der gegenwärtige Zusammenhang der Überlieferung glauben machen will, und den Prinzen ist bereits bekannt, daß Joram und Isebel nicht mehr am Leben sind. 26
Das spiegelt sich u. a. auch in der Polemik gegen die salomonische Heiratspolitik und im deuteronomischen Königsgesetz (Deut. 17, 17) wider.
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testamentlichen Überlieferung hat Jehu nicht nur die Anhänger des königlichen Privatkultes restlos beseitigt, sondern auch die Kultanlagen selbst überaus gründlich zerstört und durch Errichtung von Bedürfnisanstalten auf ihrer Stätte eine Wiederbelebung des Kultes „bis auf diesen Tag" unmöglich gemacht (2. Kön. 10, 27). Besonders an der zuletzt genannten Maßnahme wird deutlich, daß Jehus Aufruhr mehr gewesen ist als nur ein Militärputsch mit dem Ziele des Machtwechsels. Es geht zumindest auch um die Reduzierung der bedrohlich angewachsenen Hausmacht der Dynastie und um die Beseitigung der im Gefolge dieser Entwicklung aufgetretenen politischen und sozialen Mißstände. Bezeichnenderweise wird von der Überlieferung ungesetzliches Vorgehen beim Erwerb von Grundbesitz für das königliche Haus in den Vordergrund der Anklagen gegen die Dynastie Omri gestellt (1. Kön. 21; 2. Kön. 9, 25f.). Wenn man also nach den Kräften fragt, die hinter Jehu stehen und sein Vorgehen entweder stillschweigend billigen oder unterstützen, dann wird in erster Linie an die Klasse der mittleren und kleinen Landbesitzer zu denken sein. Die Überlieferung macht darüber noch genauere Angaben. Danach war der Prophet Elias der eigentliche Leiter des Aufstandes. E r hat die Fäden in seiner Hand, bestimmt den geeigneten Zeitpunkt für den Beginn der Aktionen gegen das Haus Omri und gibt durch Salbung Jehus zum König den Auftakt (2. Kön. 9, lff.). Die Rolle Elias entspricht durchaus dem, was wir sonst von den 'freien' Propheten im Nordreich Israel wissen. Sie treten stets für altes Recht und alte Ordnung ein, sind mit der zurückgedrängten Landpriesterschaft verbunden und stehen auf der Seite der Klasse der kleinen Landbesitzer, deren Existenz durch die ökonomische Entwicklung zu einer Kapitalwirtschaft zunehmend gefährdet wird. Es kann deshalb nicht überraschen, daß bei allen gewaltsamen Thronwechseln im Reich Israel, über die wir ausführlicher unterrichtet sind, Propheten eine entscheidende Rolle spielen. 27 Speziell bei dem Aufstand Jehus scheint noch eine andere Gruppe in Vorbereitung und Durchführung aktiv zu sein, die etwas geheimnisvoll im Hintergrund bleibt. Als nämlich Jehu sein blutiges Werk in Jesreel vollbracht hat, begegnet ihm auf dem Wege nach Samaria Jonadab ben Rechab (2. Kön. 10, 15f.). Nachdem ihn Jonadab seines Einverständnisses mit seinem Vorgehen versichert hat, nimmt Jehu ihn auf seinem Streitwagen mit nach Samaria. Dort werden sogleich die restlichen Angehörigen des Königshauses beseitigt. Einige Zeit später folgt die Vernichtung der Anhänger des phönikischen Baalkultes. Auffällig ist, daß dabei Jehu in Begleitung Jonadabs auftritt (2. Kön. 10, 23). Gewiß wird von der Überlieferung dieser Umstand nicht zufällig festgehalten, denn Jonadab gilt als Haupt der rigorosen Jahweverehrer. Seine Nachkommen finden noch fast drei Jahrhunderte später das Lob des Propheten Jeremia (Jer. 35), 27
Die in dieser Hinsicht über die Königsbücher hinausführenden Angaben der Chronik seheinen allerdings z. T. auf einem gewissen Systemzwang zu beruhen und historisch ungewiß zu sein.
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insbesondere weil sie sich der kanaanäischen Lebensweise enthalten. Wenn dieser Jonadab gerade zum richtigen Zeitpunkt aus Juda nach Samaria zieht, so dürfte dies kein Zufall sein. Von daher wird die Annahme wahrscheinlich, daß rigoristische, noch im Nomadentum verharrende Kreise unter den Verehrern Jahwes an der Vorbereitung der 'Revolution' Jehus beteiligt gewesen sind. Es gibt also verschiedene soziale Schichten und Gruppen, die hinter Jehu stehen. Von einer aktiven Beteiligung breiter Volksmassen weiß jedoch die Überlieferung nichts. Erwähnt werden zwar die Bewohner der beiden Residenzen; aber sie scheinen verständlicherweise eher eine der Dynastie freundliche Haltung einzunehmen (2. Kön. 10, 9. 18). Die Ältesten der Landeshauptstadt und die für die Fortführung der Regierungsgeschäfte wichtigen Beamten gewinnt Jehu nur, indem er sie zur Beteiligung am Blutvergießen zwingt. Er schüchtert sie so ein, daß sie seinem Ansinnen Folge leisten und die jugendlichen Prinzen des Königshauses ermorden (2. Kön. 10, 1 ff.). Ähnlich mag Angst die Kämmerer des Palastes bewogen haben, die Königinmutter Isebel auf Jehus Befehl sofort aus dem Fenster zu stürzen (2. Kön. 10, 32). Im übrigen bleibt alles Jehu und den Männern seiner St reit wagentruppe überlassen.28 Ob die 'Revolution' Jehus nennenswerte soziale Veränderungen zur Folge hatte, ist äußerst fraglich. Zwar verliefen die Aktionen, nach allem was wir wissen, sämtlich erfolgreich; aber ihr Ziel war eben doch von vornherein auf die Abstellung bestimmter im Vergleich zu noch bestehenden patriarchalischen Lebensgewohnheiten und Rechtsauffassungen als arge Mißbräuche empfundener Erscheinungen des dynastischen Königtums beschränkt. An die Beseitigung der Institution der Monarchie war offenbar von allen Beteiligten nicht gedacht, zumal man kein anderes Regierungssystem an ihre Stelle hätte setzen können. Die möglicherweise weitere Kreise der Bevölkerung betreffenden ökonomischen Erleichterungen, die der Machtwechsel mit sich bringen konnte und sollte, sind schwerlich wirksam geworden. Jehu wird alsbald nach der Regierungsübernahme in sehr verlustreiche Kriege mit seinen Nachbarn im Ostjordanland verwickelt, so daß sich die sozialen Probleme nationalen unterordnen. Das ist überhaupt charakteristisch für die Geschichte Palästinas ab 850 v. u. Z. Die Herausbildung einer großbürgerlichen Oberschicht im Zusammenhang mit der Entstehung von Latifundien und Kapitalwirtschaft in einigen Jahrzehnten äußerer Ruhe hatte im achten Jahrhundert v. u. Z. sowohl in Israel als auch in Juda zu schroffen sozialen Gegensätzen geführt, deren Lösung die Propheten jener Zeit nur in der Vernichtung dieser Oberschicht sahen. Das ist auch tatsächlich geschehen, aber nicht durch revolutionäre Volkserhebungen, sondern durch äußere kriegerische Ereignisse. Gewiß hatten diese außenpolitischen Vorgänge ihre Ursache letztlich in den Veränderungen der Situation im vorderasiatischen Raum durch die assyrische Welteroberungspolitik. Es ist aber nicht zu verkennen, daß die Krie28
Sie wurden wohl auch von Jehu mit der Vernichtung der Anhänger des tyrischen Baal beauftragt. Die nähere Erläuterung im Text von 2. Kön. 10, 25, wonach es sich um Trabanten bzw. Fußsoldaten und „Drittmänner" (der Streitwagenbesatzungen?) gehandelt haben soll, ist wahrscheinlich späterer Zusatz.
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ge, die Damaskus, Moab, Israel, Juda und die phönikischen Stadtstaaten in jener Zeit führten, nur zum geringen Teil Verteidigungskriege gegen die vordringenden assyrischen Heere waren. Es ging um die Verwirklichung territorialer Ansprüche oder schlechthin nur um Beute. 29 Ein charakteristisches Beispiel dafür ist der sogenannte 'syrisch-ephraimitische Krieg' um 734 v. u. Z., den angesichts ihres sich schon deutlich abzeichnenden Untergangs Damaskus und Israel gegen Juda entfesseln. Die übliche Deutung, nach der dieses Unternehmen lediglich dazu dienen sollte, Ahas von •Juda zu entthronen und durch einen zur Teilnahme an der antiassyrischen Koalition willigen aramäischen Prinzen zu ersetzen, hat in den alttestamentlichen Nachrichten keinen Rückhalt. 30 Jes. 7, l f f . und besonders 2. Chr. 28, 5ff. machen deutlich, daß territoriale Eroberungen und der Gewinn reicher Beute das Ziel waren. Wenn die etwas erbaulich gestaltete Geschichte 2. Chr. 28, 9ff. einen historischen Hintergrund hat — und es spricht viel dafür — dann dürfte die Rekrukrutierung von Sklaven aus den judäischen Kriegsgefangenen ein wichtiger Nebenerfolg des Feldzuges gewesen sein. Die sozialen Hintergründe dieses Raubkrieges werden im Kontext der Stellungnahmen von Hosea (5, lff.) und Jesaja (9, 9ff.) deutlich erkennbar. So ist die Annahme, daß dem 'syrisch•ephraimitischen Krieg' wie anderen ähnlichen Unternehmungen in dieser Zeit das Motiv zugrunde lag, eine schwere sozialökonomische Krise durch eine erfolgreiche Eroberungspolitik zu überwinden, gründlicher Erwägung wert. Die Errichtung der assyrischen Oberherrschaft über Syrien und Palästina bewirkte eine nicht unwesentliche Veränderung in der Klassenstruktur. Vor allem ist dergleichen dort zu beobachten, wo die Unterwerfung mit der Auswechslung der einheimischen Oberschicht verknüpft wurde. Die ökonomisch herrschende Klasse war entweder vernichtet oder zumindest gegenüber der Fremdherrschaft und ihren Organen in eine untergeordnete Position geraten. Deshalb tragen auch die sozial motivierten Aufstände der assyrischen, neubabylonischen und persischen Zeit mehr oder weniger den Charakter von Befreiungskämpfen gegen fremde Unterdrückung, sofern es sich nicht überhaupt um Auflehnungen gegen die Fremdherrschaft handelt, in denen sich Elemente verschiedener Klassen und Schichten vereinten. Wohl das interessanteste Beispiel für die Verquickung von nationalem Befreiungskampf und sozialrevolutionärer Massenerhebung ist für die vorhellenistische Zeit der große phönikische Aufstand in der Mitte des vierten Jahrhunderts v. u. Z. Die Krise, die den Boden für den Aufruhr bereitete, war die Krise des persischen Weltreiches. Das Perserreich hatte in langen verlustreichen Kriegen und innerdynastischen Auseinandersetzungen erheblich an Macht eingebüßt. Zu29
30
Ein bis in Einzelheiten bekanntes Beispiel sind die militärischen Auseinandersetzungen zwischen Moab und Israel. Vgl. K.-H. Bernhardt, Der Feldzug der drei Könige, in: Schalom, Berlin 1971, l l f f . Das wäre auch ein ganz untaugliches Mittel gewesen. Man hätte dann schon einen angesehenen Vertreter der an sich starken antiassyrischen Partei in Juda, möglichst ein Mitglied des Königshauses, gewinnen müssen.
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gleich waren die ökonomischen Anforderungen an die unterworfenen Völker rasch gewachsen. Zugenommen hatten nicht nur die Steuerlasten und die Lieferungen für das persische Heer, sondern auch Hochmut und Willkür der persischen Satrapen, die ihrerseits selber bestrebt waren, aus dem Stande der Provinzstatthalter zu selbständigen Herrschern aufzusteigen. Der große Satrapenaufstand der sechziger Jahre, dessen Nachwirkungen Artaxerxes I I I . noch geraume Zeit beschäftigten, hat zweifellos sehr nachteilige Auswirkungen auf die wirtschaftliche Situation in den Westprovinzen des Perserreiches gehabt. Das gilt auch von dem aus inneren Gründen gescheiterten Versuch Ägyptens, im Jahre 360 v. u. Z. die alten Asienbesitzungen des Pharaonenreiches wiederzugewinnen und damit zugleich Persien eine entscheidende Niederlage zu versetzen. Immerhin hatte die kurze Zeit der Besetzung durch ägyptische Truppen die Hoffnungen auf Wiedererlangung der Unabhängigkeit in den phönikischen Städten belebt. Die Aussichten waren dafür bis Mitte der fünfziger Jahre nicht ungünstig. Es scheint jedoch, als habe Abd-Aschtart, der König von Sidon, des in jener Zeit führenden Stadtstaates an der phönikischen Küste, die Gelegenheit nicht zu nutzen verstanden oder im Grunde andere eigennützige Pläne verfolgt. Jedenfalls liegt ab 359 v. u. Z. die Vorbereitung des Kampfes um Unabhängigkeit hauptsächlich in der Hand der ökonomisch wichtigsten Klasse, in der H a n d der Kaufleute und Handwerker. In diesem J a h r kommt es zur Bildung einer Föderation der wichtigsten phönikischen Stadtstaaten in Tripoli. Durch den Zusammenschluß der drei traditionellen Quartiere der Sidonier, Arader und Tyrer erhält Tripoli den Charakter einer Hauptstadt der Föderation. Ihre Organisation folgte offenbar griechischem Vorbild. Das zeigt sich insbesondere in der Einrichtung eines alljährlich zusammentretenden 'Parlaments', auf dem jede der beteiligten Städte mit hundert Delegierten vertreten war. Welche Befugnisse diese Zusammenkunft hatte, wissen wir nicht. Sie können aber nicht gering gewesen sein; denn auf der Versammlung des Jahres 350 v. u. Z. wurde der Beschluß gefaßt, die Unabhängigkeit Phönikiens zu proklamieren. Tatsächlich waren zu diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen für eine Verwirklichung des Beschlusses sehr günstig. Artaxerxes I I I . war im Jahre 351 v. u. Z. mit einem gewaltigen Heer zur Wiedereroberung Ägyptens aufgebrochen, hatte aber eine vernichtende Niederlage erlitten. Die Einbuße der persischen Herrschaft an Macht und Prestige war erheblich. Nicht nur in Phönikien, sondern auch auf Cypern, vielleicht in Kilikien und wohl auch in anderen Provinzen kam es zu Aufständen. Wenn wir dem ausführlichen Bericht Diodors (16, 40—51), auf den wir leider ausschließlich angewiesen sind, vertrauen dürfen, dann waren mit dem Aufstand der phönikischen Städte Erscheinungen verbunden, die auf eine Beteiligung breiter Volksmassen schließen lassen. Bereits Diodors Schilderung der Vorgänge deutet an, daß die Volksbewegung sich in mehr oder weniger spontanen, zwar als Zeichen des Volkszornes verständlichen, aber schließlich doch nicht sehr sinnvollen Maßnahmen äußerte. Folgt man diesem Ansatz, dann gelangt man zu einer sehr unterschiedlichen Beurteilung der Aktionen, die von der Unabhängigkeitserklärung der phönikischen Städteversammlung ausgelöst wurden.
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„In voller Wut wurde der schöne persische Park bei der Stadt (d. i. Sidon) zertrampelt, die Bäume umgehackt, das von den Persern für ihre Kavallerie aufgestapelte Futter verbrannt und die persischen Beamten, die den Empörern in die Hände fielen, umgebracht. Aber man traf auch vernünftige Maßnahmen..." Zu Maßnahmen dieser Art zählen dann die Anwerbung von Söldnern, der Bau von Kriegsschiffen, das Anlegen von Getreidevorräten und das Ersuchen um ägyptische Unterstützung. Es fragt sich sehr, ob eine solche Beurteilung und Deutung der Vorgänge richtig ist. Alles weist darauf hin, daß der Aufruhr nicht in Sidon, sondern im sidonischen Viertel von Tripoli ausgebrochen ist. 32 Vermutlich handelt es sich um eine erste spontane Reaktion der Bevölkerung unmittelbar auf den Beschluß der Städteversammlung. Diese Reaktion ist aber keineswegs unvernünftig. Der Einbruch in das 'Paradies' des Perserkönigs hat nichts mit der Verwüstung eines königlichen 'Schloßparks' zu tun. Gemeint ist vielmehr das Forstreservat der persischen Krone im nördlichen Zederngebiet des Libanon. 33 Diese Waldungen waren eine wichtige natürliche Grundlage für die Wirtschaft im nördlichen phönikischen Küstengebiet. Ihre Beschlagnahme für Zwecke der persischen Verwaltung, insbesondere für den Flottenausbau, kam deshalb einer Enteignung der wirtschaftlichen Ressourcen erheblicher Teile der Bevölkerung dieses Gebietes gleich. Der Einbruch in die sorgfältig geschützten Wälder und das Fällen von Bäumen war also eine den Kern der persischen Ausbeutung treffende Demonstration. Zugleich war es mehr als eine Demonstration. Wenn es nur auf eine Verwüstung des Forstreservates angekommen wäre, dann hätte man die Waldbestände einfach in Brand stecken können. Da man aber die Bäume fällte, eine im Gebirge ziemlich harte Arbeit, verband man mit dem Eingriff in das persische Reservat offensichtlich einen durchaus vernünftigen und praktischen Zweck. Wollte man sich den zu erwartenden persischen Gegenmaßnahmen wirksam widersetzen, dann brauchte man Holz zur Verstärkung der Befestigungen, vor allem aber zum Aufbau einer Flotte. Dieses Vorhaben hat dann auch die Phöniker in den folgenden Jahren intensiv beschäftigt. Entsprechend verhält es sich wohl auch hinsichtlich der Vernichtung der Futterdepots für die persische Kavallerie. Zweifellos wurden diese Vorräte zur Versorgung der aus Ägypten zurückflutenden Verbände dringend gebraucht und standen vielleicht schon zum Abtransport bereit. Ihre Vernichtung mußte die Beweglichkeit der persischen Truppen beeinträchtigen und war deshalb dem Gelingen des Aufstandes förderlich. 31
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F . K . Kienitz, Die politische Geschichte Ägyptens v o m 7. bis zum 4. J a h r h u n d e r t vor der Zeitwende, Berlin 1953, 101. — Übrigens berichtet Diodor nicht von der Tötung der persischen B e a m t e n in blindem Volkszorn, sondern von der Verhaftung und Bestrafung derjenigen unter ihnen, „die A k t e der Gewalttätigkeit begangen h a t t e n " (16, 41, 5). Vgl. dazu K . Galling, Geschichte Israels im persischen Zeitalter, Tübingen 1964, 204-209. Zu dieser Bedeutung von paradeisos vgl. Nehem. 2, 1.
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Trotz aller dieser und anderer Vorbereitungen mußte die Unabhängigkeitsbewegung scheitern, da das Potential der Phönikerstädte zu gering war und die erwartete ägyptische Unterstützung weit unter den Möglichkeiten blieb. Dennoch ist die außerordentlich schnelle und auf persischer Seite fast verlustlose Niederwerfung des Aufstandes im Jahre 346 v. u. Z. merkwürdig, zumal zwei Jahre vorher ein zweifellos sehr stattliches Heer der Satrapen von Kilikien und Syrien zurückgeschlagen worden war. Diodor dürfte zuverlässig berichten, wenn er speziell den raschen Fall von Sidon, der wichtigsten der Phönikerstädte, dem Verrat ihres Königs Tennes zuschreibt. Die Vorgänge im einzelnen zeigen, daß von einer ernstlichen Bedrohung Sidons durch die persischen Truppen noch keine Rede sein konnte. Sonst wären die hundert Ältesten von Sidon kaum bereit und in der Lage gewesen, sich zu einer Zusammenkunft der phönikischen Föderation auf den Weg nach Tripoli zu begeben. Die Vorgänge lassen aber auch einen tiefen Gegensatz zwischen dem König der Stadt und der Bürgerschaft erkennen. Im Grunde gleicht die Position des sidonischen Monarchen der jener aufständigen Satrapen der sechziger und fünfziger Jahre. Ebenso wie sie will er offenbar nur die eigene Stellung innerhalb des persischen Reiches verbessern. Bedenkenlos verrät er die phönikische Sache und opfert die Einwohner seiner Stadt, die den Tod in den Trümmern Sidons dem Verkauf in die Sklaverei vorziehen. Gerade diese Konsequenz im Kampf darf als echter Zug einer Volksbewegung angesehen werden. Es liegt eine gewisse Tragik darin, daß nur zehn Jahre nach der Vernichtung Sidons das persische Weltreich zusammenbricht. Der siegreiche Alexander von Makedonien soll die Königsherrschaft über Sidon zwei angesehenen Bürgern der unglücklichen Stadt angeboten haben. Auch hierin mag eine Anerkennung der Schichten zum Ausdruck kommen, die den Kampf gegen die Perser getragen hatten. Die beiden Männer verzichteten jedoch zugunsten eines Nachkommens der alten Dynastie, der nach der Zerstörung der Stadt sein Brot als Gartenarbeiter erworben hatte.
Die Lage der Bauern unter den späten Säsäniden Von
FRANZ ALTHEIM
und
R U T H STIEHL
(Münster)
1.
Vom parthischen Heer, das Antonius bekämpfte, wird überliefert, daß unter der Zahl von insgesamt 50 000 nur 400 Freie waren (lustin. 41, 2, 6). Den wenigen liberi stand eine an Zahl gewaltige Klasse von servi gegenüber, die unter dem Befehl ihrer Herren ins Feld zogen. Eine Mittelklasse bestand nicht, vielmehr muß das gesamte Bauerntum mit den servi zusammengefallen sein. Das Bild bestätigt sich an der Nachricht Plutarchs, wonach Surenas, der Sieger von Karrhai, mit 10 000 Berittenen zu Felde zog, die sich sämtlich aus seinen neXarai rs xal dovXoi rekrutierten (Crass. 21, 7).1 Daß dieses Verhältnis unter den Säsäniden zunächst forbestand2, davon gibt es immerhin zwei Zeugnisse. Einmal hatte der Wezir Yazdgard's I. (399—420), Mihr Narse Tabari (1, 849, 2 f.) zufolge den Beinamen Hazärbanda. 3 Der zweite Bestandteil dieses Beinamens, mittelpers. bandak, kann ebenso den „Ritter" wie den „Sklaven" bedeuten. Die erste Inschrift von Tang-i Sarvak, aramäisch abgefaßt, übersetzt den Plural bandakän mit 'syry' „Gebundene" (zu aram. 'sr „binden"), insofern zutreffend, als auch bandak zu mittelpers. bastan, altpers. band — gehört. 4 Aber Tabari's Quelle, Ibn al-Mukaffa', kann nicht den Herrn über 1000 Ritter gemeint haben: dann müßte hazärapat, -¿didoxriq an der Stelle von hazärbanda gestanden haben. Nöldeke hat mit Recht £ov(g)^vrjv %Ma)v oixerä>v deOTiörrjv bei Theodoret (hist. eccl. 5, 39) verglichen.5 Wieder stößt man auf dasselbe Bild: ein Herr über der Masse seiner Sklaven. Und noch unter KaväKeroAHHK 1974.
Volksbewegungen im frühmittelalterlichen Europa — eine Skizze Von
Siegfried
Epperlein
(Berlin)
Dem Thema dieses Kongresses entsprechend, der mit seinen Beiträgen die Rolle der Volksmassen in den frühen Gesellschaftsformationen ganz allgemein verdeutlichen möchte, sollen im folgenden einige Aufstände kurz analysiert werden, die im Zusammenhang mit der Entstehung der Feudalgesellschaft in verschiedenen Gebieten Europas zu verschiedenen Zeiten ausbrachen. Darüber hinaus soll generell der Frage nachgegangen werden, welche Formen des bäuerlichen Klassenkampfes in den verschiedenen Entwicklungsstadien der Feudalordnung in Europa dominierten. Zunächst wollen wir uns mit Erhebungen beschäftigen, die in Sachsen, im Gebiet der zwischen Elbe und Oder ansässigen Slawen, bei den baltischen Völkerschaften, in Polen, Ungarn und in der Kiever Rus ausbrachen. Im Anschluß an diese Ausführungen sollen sowohl einige gemeinsame Merkmale dieser Aufstände herausgearbeitet als auch Besonderheiten aufgezeigt werden, die bei einigen Erhebungen festgestellt werden können.
1. Sachsen Bekanntlich kam es im Zusammenhang mit den Eroberungszügen Karls des Großen in Sachsen zu Empörungen der von dieser Expansionspolitik betroffenen Bevölkerungsschichten, die bereits vor Beginn dieser Feldzüge deutliche Merkmale einer sozialen Differenzierung aufweisen. Von der Masse der noch vorwiegend freien Bauern sonderte sich eine Schicht von nobiles ab, die im zunehmenden Maße in Gegensatz zur ländlichen Bevölkerung geriet. Die daraus resultierenden sozialen Spannungen traten jedoch zunächst in der gemeinsamen Abwehr der einfallenden fränkischen Heere zurück, die 782 von den Aufständischen sogar in einer offenen Feldschlacht besiegt werden konnten. 1 Die Lage änderte sich, als die sächsischen nobiles angesichts der überlegenen Kampfkraft der Eroberer mit diesen zu paktieren begannen und damit auch ihre offenbar noch wenig gefestigte Stellung gegenüber der eigenen Bevölkerung zu stabilisieren suchten. Der Umschwung trat ein, als 785 Widukind, der bis dahin 1
Vgl. S. Epperlein, Herrschaft und Volk im karolingischen Imperium, Berlin 1969, 50ff. ( = Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte 14).
14*
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mehrere Erhebungen sächsischer Bauern geführt hatte, zu den Eroberern überging und sich taufen ließ. Damit war der Freiheitskampf der Sachsen entschieden. I n den folgenden Jahren gelang es Karl dem Großen, im Bunde mit den nobiles die fränkische Herrsohaft in Sachsen zu stärken, die durch Einführung der Grafschaftsverfassung eine wesentliche Stütze erhielt. Bezeichnenderweise wurden neben fränkischen Großen vielfach die mächtigsten sächsischen Edelinge zu Grafen bestellt. Auf diese Weise verschmolzen die nobiles und die eingedrungenen Eroberer allmählich zu einer einheitlichen, sich von der ländlichen Bevölkerung abhebenden Oberschicht, die die weitere, in feudaler Richtung verlaufende gesellschaftliche Entwicklung in Sachsen maßgeblich bestimmte. Die Frage, wer künftig in Sachsen die politische Macht ausüben sollte, war nun eindeutig entschieden. Später noch ausbrechende Aufstände konnten die entstandene Situation nicht mehr ändern. Zwar kam es 841/42 noch einmal zu einer machtvollen Erhebung, dem Stellingaauf stand. 2 Er brach aus, als im Laufe der Bruderkriege zwischen Karl I I . , dem Kahlen, Lothar I . und Ludwig dem Deutschen eine gewisse Unsicherheit der politischen Verhältnisse eintrat und der eine der Kontrahenten, Lothar I., aus taktischen Gründen die sächsische Bevölkerung zum Aufstand ermunterte. 3 Doch konnte damit die bereits mit den Feldzügen Karls des Großen eingeleitete Entwicklung in Sachsen nicht mehr rückgängig gemacht werden. Trotz erbitterten Widerstandes waren die Gegner der zweifellos umfassenden und heftigen Erhebung — dem Zeugnis Nithards entsprechend wären die domini von den Empörern beinahe aus dem Lande vertrieben worden 4 — bald wieder Herr der Lage.
2. Gebiete der baltischen Völkerschaften Aufstandsbewegungen gegen eine feudale Eroberungspolitik lassen sich auch im Bereich der baltischen Völkerschaften beobachten, die sich gegen die 1231 beginnenden Feldzüge der deutschen Ordensritter zur Wehr setzten. 5 Ähnlich wie in Sachsen war auch hier im Verlaufe einer späturgesellschaftlichen Entwicklungsphase bereits vor Beginn der Expansion die soziale Differenzierung schon fortgeschritten. Von der noch überwiegend freien Bevölkerung setzte sich immer mehr eine Oberschicht ab. Die sich damit abzeichnenden sozialen Gegensätze traten jedoch im Anfangsstadium der Eroberungszüge hinter dem 2
3 4
5
E. Müller-Mertens, Der Stellingaaufstand. Seine Träger und die Frage der politischen Macht, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 20, 1972, 818ff. Epperlein, Herrschaft 64. Nithardi historiae, ed. E. Müller, in: MG. SS. in usum scholarum, Hannover, Leipzig 1907, liber 4, c. 2. Historia Pomorza, t. 1. (do roku 1466), pod. red. G. Labudy, Teil 1, Poznan 1969, 346ff. ; B. T. IlauiyTO, BoptSa npyccKoro Hapo^a sa HeaaBHCHMOCTh (a;o KOHua X I I I . B.), i n : ücropHH GGGP 6, 1958, 54f.; derselbe, OpaHbi npaSajiTHöCKoro perHOHa, i n : IlyTH pa3BHTHH eoAajiif3Ma, Moskau 1972, 252f.
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zunächst noch gemeinsam verfochtenen Ziel zurück, den Gegner abzuwehren. Als am 5. 4.1242 ein Ordensheer in der Schlacht auf dem Eise des Peipussees durch Alexander Newski entscheidend geschlagen wurde, kam es in dieser für eine Erhebung günstigen Situation zu einer umfassenden Empörung, bei der die beteiligten Stämme, vor allem die Pruzzen, noch relativ einheitlich auftraten und die feudalen Eroberer in eine äußerst schwierige Lage brachten. Der heftige und weit ausgreifende Aufstand, der das weitere Vordringen der Ritter nach Osten verhinderte, konnte erst nach sieben Jahren niedergeworfen werden. Dabei nutzten die Ordensritter die sich bei den baltischen Völkerschaften abzeichnende soziale Gliederung bewußt aus und suchten die sich von der Masse der Bevölkerung abspaltenden Edelinge durch Zugeständnisse zu gewinnen. Diese seit etwa 1246 urkundlich faßbare Politik 6 führte schließlich zum Erfolg: die zunächst noch ziemlich geschlossene Kampffront der von den Feldzügen der Ordensritter erfaßten baltischen Völkerschaften zerbröckelte. Die nobiles, die in den Angeboten der Ritter eine Möglichkeit sahen, ihre Position gegenüber der eigenen Bevölkerung zu festigen, unterwarfen sich schließlich am 7. Februar 1249 im Vertrag zu Christburg, der einen wichtigen Markstein auf dem W e g e zur Errichtung der Ordensherrschaft bildete. 7 Die schon vorher in Gang gekommene soziale Differenzierung innerhalb der noch in späturgesellschaftlich geprägten Verhältnissen lebenden Bevölkerung wurde anerkannt und gleichzeitig weiter vorangetrieben. Die Position der nobiles wurde durch Landvergebungen gefestigt. Das bereits vor 1249 bestehende, allerdings nur auf die männlichen Nachkommen beschränkte Erbrecht wurde erweitert und nun auch auf die Töchter der Verstorbenen ausgedehnt. I n welchem Maße die „Politik der Zugeständnisse", die der Orden gegenüber den nobiles betrieb, auf fruchtbaren Boden fiel, zeigen die im Verlauf der nächsten Jahrzehnte bis 1295 ausbrechenden Aufstände. Als die Ordensritter bei dem Versuch, eine sichere Landverbindung zwischen ihren preußischen und ihren livländischen Besitzungen herzustellen, 1260 bei Durben gegen die Litauer eine schwere Niederlage hinnehmen mußten, benutzten die Einwohner von Kurland, Semgallen, Preußen und Sudauen die günstige politische Konstellation zu einem breit angelegten Aufstand. Unmittelbar nach Ausbruch der Erhebung suchten die Bischöfe von Samland und Ermland durch Belehnungen vor allem die nobiles auf ihre Seite zu ziehen mit dem Erfolg, daß beispielsweise in Samland einige Edelinge die Aufständischen im Stiche ließen und nach Königsberg flohen. 8 Nobiles aus anderen Gebieten fanden sich in Elbing ein.9 Auf diese Weise 6 Preußisches TJrkundenbuch, Bd. 1, 1. Teil, Königsberg 1882, Nr. 189 (14. 10. 1246). Vgl. auch R . Wenskus, Über die Bedeutung des Christburger Vertrages für die Rechts- und Verfaesungsgeschichte des Preußenlandes, in: Studien zur Geschichte des Preußenlandes, Marburg 1963, 102f. 8 TJrkundenbuch des Bistums Samland, Leipzig 1891, Nr. 71 (7. 1. 1261); Petrus von Dusberg, Cronica terrae Prussiae, in: Scriptores rerum prussicarum, t. 1, Leipzig 1861, 104. 9 Petrus von Dusberg 129. 7
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wurde die Widerstandskraft der Empörer geschwächt, und der Aufstand konnte schließlich unterdrückt werden. Diese auch weiterhin von den Ordensrittern systematisch fortgesetzte Politik der Begünstigung der Edelinge 10 führte schließlich bei der letzten großen, von Semgallen ausgehenden Empörung zu einem durchschlagenden Erfolg. Im Gegensatz zu den Aufständen von 1242 und 1260 nahm die Masse der nobiles an dieser Erhebung nicht mehr teil, die nur von der ländlichen Bevölkerung getragen wurde. Bezeichnenderweise konnten die allein auf sich gestellten Bauern nur durch Androhung von Gewalt einen nobilis dazu bewegen, sich an die Spitze des Aufstandes zu stellen. In welchem Maße sich die sozialen Gegensätze zwischen Bauern und Oberschichten verschärft hatten, die nunmehr offen für die Ordensritter optierten, geht daraus hervor, daß der erwähnte Edeling sehr bald die Aufständischen verließ, zu dem Ordensmeister in Königsberg floh und die Namen der Verschwörer verriet. 11 Der 1299 niedergeschlagene Aufstand richtete sich im Gegensatz zu den Erhebungen von 1242 und 1260 in erster Linie gegen die eigenen nobiles, die von den Empörern als unmittelbare Feinde angesehen und zuerst bekämpft wurden. Erst nachdem sie getötet worden waren, so wird berichtet, ging man gegen die Ordensritter vor. 12 Mit dem Friedensschluß von 1299, in dem der Orden die „treugebliebenen" Edelinge belohnte und sie in ihrer politischen Position bestätigte, fand der Abwehrkampf der baltischen Völkerschaften sein Ende. Damit war auch hier die Machtfrage zugunsten der Träger einer Entwicklung entschieden, die schließlich zur Herausbildung feudaler Verhältnisse führte. 3. Gebiete zwischen Elbe und Oder Vergleichbar mit der sozialökonomischen Entwicklung in Sachsen im 8. und 9. Jh. und im Bereich der baltischen Völkerschaften im 12. und 13. Jh. sind die gesellschaftlichen Verhältnisse, wie sie sich bei den zwischen Elbe und Oder ansässigen Slawen namentlich im 10. und 11. Jh. herausbildeten. 13 Im Zusammenhang mit einem späturgesellschaftlich geprägten Entwicklungsstadium dieser Stämme und Stammesgruppen vollzog sich ein sozialer Differenzierungsprozeß, in dessen Verlauf bereits im 9. Jh. eine in sich wieder gegliederte Oberschicht sichtbar wird. Sie trat bereits in den Auseinandersetzungen mit dem ostfränkischen Reich neben der ländlichen Bevölkerung als aktiv handelnder Faktor deutlich hervor und suchte teilweise ihre Position gegen konkurrierende Rivalen sowie gegen die eigene Stammesbevölkerung durch Anlehnung an die eindringenden fränkischen Eroberer zu festigen. «> Preußisches Urkundenbuch, Bd. 1, Teil 2, Königsberg 1909, Nr. 204 (6. 6. 1263), Nr. 215 (1262/63). 11 Petrus von Dusberg 161. 12 Ebenda. 13 Vgl. allgemein: Die Slawen in Deutschland. Ein Handbuch, hrsg. v o n J. Herrmann, 3. Aufl. Berlin 1974, 210f., 265f.
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Als es jedoch im 10. Jh. seit Heinrich I. im Laufe der ersten Etappe der feudalen deutschen Ostexpansion zu besonders massiven militärischen Aktionen in die Gebiete östlich der Elbe kam, wurden die sich z. B. bei den Obodriten und Wilzen seit dem 9. Jh. verstärkenden sozialen Gegensätze zugunsten einer mit vereinten Kräften geführten Abwehr des Gegners überbrückt. Auch die zwischen den einzelnen Stämmen und Stammesgruppen bestehenden, zum Teil erheblichen Spannungen traten zunächst hinter diesem gemeinsam verfochtenen Ziel zurück. Das zeigte sich bei dem ersten, von Wilzen und Obodriten zusammen geführten Aufstand von 955 und kam dann besonders klar in der umfassenden Erhebung von 983 zum Ausdruck. Sie brach aus, als im Juni 982 Otto II. im Kampf gegen die Sarazenen bei Cotrone besiegt wurde. Die durch Abzug beträchtlicher deutscher Streitkräfte nach Italien und die Niederlage des Herrschers entstandene Situation benutzten die wilzischen Kernstämme, vor allem die Kessiner, Zirzipanen, Tollenser und Redarier, die sich bereits vorher gegen die eindringenden feudalen Eroberer im sog. Lutizenbund zusammengeschlossen hatten, zu einem umfassenden Aufstand im Juni 983. Auch die Obodriten nahmen an dieser Erhebung teil. Es gelang mit einem Schlage, die sich durch Errichtung von Marken und die Gründung von Bistümern östlich der Elbe festigende feudale deutsche Herrschaft zu beseitigen. In der Zeit von 990 bis 995 nutzten die Obodriten die schwierige Lage, in die Otto III. durch Einfälle der Normannen in Sachsen geraten war, zu einer weiteren machtvollen, von starken heidnischen Reaktionen begleiteten Empörung aus. Mit der Zerstörung des Erzbistums Hamburg brach die mit der Ausbreitung feudaler Herrschaftsformen eng verbundene Christianisierung völlig zusammen. Eine von Otto III. aufgebotene Streitmacht konnte keinen durchschlagenden Erfolg erzielen. Mit den Aufständen von 983 und 990/95 erreichte der gegen die feudalen Eroberer geführte Unabhängigkeitskampf der Lutizen und Obodriten seinen Höhepunkt. In der folgenden Zeit suchten die seit dem 10. Jh. deutlich in Erscheinung tretenden Fürsten der Obodriten ihre Position weiter auszubauen. Sie verfügten über Tribute sowie Abgaben der eigenen Stammesmitglieder und unterworfenen Stämme — einige Stammesgruppen des durch innere Kriege geschwächten, im 11. Jh. immer mehr zerfallenden Lutizenbundes gerieten unter obodritische Herrschaft — und gründeten ihre politische Macht, die sie durch Förderung der Christianisierung zu stabilisieren suchten, vor allem auf ein Netz von Burganlagen. Im Zusammenhang mit den fürstlichen Machtbestrebungen kam es im 11. Jh. zu einer weiteren Ausdehnung von Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnissen. Eine Klassenstruktur bildete sich allmählich heraus. Auf dem Hintergrund dieser gesellschaftlichen Entwicklung brachen im 11. Jh. mehrere Aufstände aus, die sich in erster Linie gegen die von den Fürsten betriebene Politik richteten und zeigen, wie unsicher und gefährdet die fürstliche Position noch war. So wurde 1018 Mstislaw, der die Christianisierung begünstigte und bei sächsischen Feudalherren Rückhalt suchte, durch einen Aufstand vertrieben. Einiger-
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maßen festen Fuß faßte erst wieder Gottschalk, der 1043 mit dänischer und sächsischer Hilfe ein obodritisches Großreich begründete, in das außer obodritischen Stämmen nach und nach auch Teile der Lutizen einbezogen wurden. Gegen Versuche, seine Stellung zu festigen und die Christianisierung voranzutreiben, brach 1066 ein unter heidnischen Losungen geführter Aufstand aus, der vor allem von opponierenden Adelsschichten ausging. Dabei traten die bei den Obodriten in der zweiten Hälfte des 11. Jh. vorhandenen sozialen Gegensätze zwischen Adelsschichten und ländlicher Bevölkerung weitgehend zurück. Es kam vorübergehend zu einem Zusammenwirken gegen die feudalorientierten politischen Bestrebungen des Fürsten. Im Verlauf der Kämpfe wurde Gottschalk erschlagen. 1075 kam der heidnische Fürst Kruto an die Macht, und erst 1090 konnte der Sohn Gottschalks, Heinrich, mit dänischer Hilfe nach der Ermordung Krutos die Herrschaft bei den Obodriten wiedererlangen. Trotz energischer Versuche, eine zentrale Fürsten- und Königsgewalt auszubauen (Förderung des Heer- und Gefolgschaftswesens sowie Vervollkommnung des Burgbezirkssystems und Begünstigung der Christianisierung), scheiterte auch diese am weitesten fortgeschrittene slawische Staatsgründung zwischen Elbe und Oder. Es gelang auf die Dauer nicht, die sozialökonomisch unterschiedlich entwickelten Teilgebiete zu vereinen und den Widerstand des Adels sowie der heidnischen Priesterschaft als ideologischem Wortführer der Opposition auszuschalten. Vor den immer wieder von Adel und Priestern geführten Aufständen der Bevölkerung, die sich gegen die Einführung des Zehnten sowie gegen die Forderung von Tributen auflehnte, mußten die Fürsten fliehen und konnten nur mit Hilfe dänischer und sächsischer Heere wieder zur Macht kommen. Im Vergleich zu den Aufständen im 10. Jh., in denen sich die ländliche Bevölkerung, adlige Schichten und Fürsten slawischer Stämme und Stammesgruppen relativ geschlossen gegen feudale Eroberer wehrten, hatte sich die Situation im 11. Jh. geändert. Die weitere gesellschaftliche Entwicklung führte bei den Obodriten zur Vereinigung mehrerer Stämme in einem Großreich mit einem König an der Spitze. Dieser suchte seine politische Stellung vor allem durch Anlehnung an äußere Mächte gegen den im Bunde mit der ländlichen Bevölkekerung opponierenden Stammesadel zu festigen. Gegen diese politischen Bestrebungen und nicht so sehr gegen von außen drohende Gefahren, wie im 10. Jh., richteten sich im 11. Jh. die bei den Obodriten ausbrechenden Aufstände. Naoh dem Tod des Obodritenkönig Heinrich 1127 kam es zu Machtkämpfen in deren Verlauf das Obodritenreich aufgeteilt wird und schließlich zerfällt. Diese politisch labile Situation bot deutschen und dänischen Feudalgewalten die Möglichkeit, einzugreifen. Im Zusammenhang mit der zweiten Etappe der feudalen deutschen Ostexpansion wurden die Obodriten von Heinrich dem Löwen 1158—1160 unterworfen. Damit war die Machtfrage endgültig zugunsten einer feudalen Entwicklung entschieden.
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4. Polen Auch in Osteuropa, etwa in Polen, in Ungarn und in der Kiever Rus kam es im Zusammenhang mit dem Übergang zu frühfeudalen Verhältnissen zu Aufständen. Sie richteten sich jedoch nicht, wie namentlich in Sachsen (8. Jh.), bei den baltischen Völkerschaften (1240, 1262) und bei den Elbslawen (983, 990/95), die im Expansionsfeld von Staaten mit fortgeschrittener feudaler Entwicklung lagen, vor allem gegen eindringende Eroberer, sondern wurden gegen eine im wesentlichen mit eigenen Kräften betriebene, von außen einwirkenden Faktoren nicht entscheidend beeinflußte, eigenständige Entstehung und Ausbildung von Formen staatlicher Herrschaft geführt. In Polen machte dieser Prozeß der Staatsbildung unter Mieszko I. (gest. 992), der 966 den christlichen Glauben annahm und die Christianisierung des Landes entschieden förderte, und Boleslaw Chrobry (gest. 1025), der eine weit ausgreifende imperiale Politik durchführte, wichtige Fortschritte. Die nach dem Tode Boleslaws unter seinen Söhnen Mieszko II., Bezprym und Otto geführten verheerenden Auseinandersetzungen um die Nachfolge stürzten Polen in eine schwere innenpolitische Krise. Im Verlauf dieser erbitterten Machtkämpfe suchten die opponierenden Gruppen in der Rus, in Deutschland und in Skandinavien Unterstützung, was wiederum zu Interventionen der jeweiligen ausländischen Herrscher zugunsten ihres „Schützlings" in Polen führte. Dabei konnte sich weder Bezprym (ermordet 1032), Otto (gest. 1033) noch Mieszko II. (gest. 1034) für längere Zeit gegenüber dem wachsenden Widerstand der polnischen Magnaten und Fürsten behaupten. Sie benutzten den Bruderzwist dazu, um ihre politische Stellung zu festigen und ihre Macht auf Kosten der ländlichen Bevölkerung weiter auszudehnen, die die Hauptlast dieser Kriege tragen mußte. In dieser politischen Konstellation, die von einer allgemeinen Unsicherheit der Verhältnisse gekennzeichnet war, brach 1037/38 ein außerordentlich heftiger und umfassender Aufstand aus. Dieser zwang den Sohn und Nachfolger Mieszkos II., Kazimierz, 1037 das Land zu verlassen. Diese Erhebung wird von mehreren Chronisten bezeugt. Sowohl polnische, böhmische, deutsche und russische Quellen berichten darüber.14 Ihre Aussagen gestatten es, vor allem zweierlei festzustellen : 1. An der Erhebung nahmen breiteste Bevölkerungsschichten teil. Gallus Anonymus, der uns am ausführlichsten mit dem Aufstand bekannt macht, spricht von servi und liherati, die gegen domini und nobiles vorgehen. Dabei 14
Die Quellenzeugnisse stellte zusammen: T. Grudzinski, Uwagi o genezie rewolucji w Polsce za Kazimierza Odnowiciela, in: Zapiski Towarzystwa naukowego w Toruniu, t. 18, 1953, 14ff.; dazu die Rezension von J. Bardach, in: Kwartalnik Historyczny 60, 1953, 207f.; zu der Erhebung von 1037-1038 vgl. generell B. Zientara, A. Mqczak, u. a., Dzieje gospodarcze Polski do 1939 r., Warschau 1965, 49f.: Historia chlopöw polskich, t. 1., pod red. St. Inglot, Warschau 1970, 8ff., 130ff. mit umfassendem Literaturnachweis.
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verwendet Gallus die Gegensatzpaare dominus — servus, nobilis — liberatus in sehr weitläufiger Bedeutung. So ist beispielsweise die eindeutige Zuordnung des Begriffes servus zu einer bestimmten sozialen Schicht nicht möglich. Servus kann bei Gallus einen Abhängigen ganz allgemein bezeichnen, sich auf einen abhängigen Feudalherrn beziehen, einen fürstlichen Gefolgsmann oder einen Unfreien schlechthin meinen. Die Bedeutungsskala von dominus ist bei Gallus ebenfalls sehr breit angelegt. Man wird das Wort kaum genauer als mit „Oberschicht" wiedergeben können. 15 Die in „Povest vremennych let" gebotene Bezeichnung „ljudi" läßt eine genauere Kennzeichnung der an der Erhebung beteiligten Schichten der ländlichen Bevölkerung ebenfalls nicht zu. Es waren danach „Leute", die sich erhoben. 46 2. Die übrigen Quellenbelege, Cosmas in seiner Chronik der Böhmen und die Hildesheimer Annalen schweigen sich über die Teilnehmer an dem Aufstand gänzlich aus.17 Die aus geistlichen Kreisen stammenden Chronisten beschränken sich darauf, von dem „antikirchlichen" Akzent der Erhebung zu sprechen: die Christianisierung habe durch den Aufstand einen schweren Rückschlag erlitten; die Christen seien verfolgt worden. Die politischen Konsequenzen des Aufstandes waren beträchtlich. Kazimierz mußte, wie erwähnt, fliehen. Bretislaw I. von Böhmen (gest. 1055) nutzte die innenpolitischen Wirren in Polen dazu aus, 1038 Krakau und Gnesen zu erobern. Mit ihm paktierten Adelskreise inMasowien, die seit dem Todjs Mieszkos II. 1034 gegen Versuche der polnischen Fürsten opponierten, sie abhängig zu machen. Diese Adelsschichten suchten für ihre Ziele auch die ländliche Bevölkerung zu gewinnen, die sie in ihrem heidnischen Glauben bestärkten und ihren Widerstand gegen die von den polnischen Fürsten begünstigte Christianisierung förderten. 1038 kam es schließlich unter Maslaw zur Bildung eines von Polen unabhängigen Staatswesens in Masowien. Die sehr labile Situation in ganz Polen konnte erst von dem zurückkehrenden Kazimierz I. wieder stabilisiert werden. 1038 wurde der Aufstand niedergeschlagen. 1047 wurde Maslaw unterworfen und Masowien eingegliedert.
5. Ungarn Ähnliche, ja noch stärker ausgeprägte Aktionen gegen die im Zusammenhang mit dem Feudalisierungsprozeß forcierte Christianisierung lassen sich, ebenfalls 15
16
17
Galli Anonymi cronicae et gestae ducum sive principum Polonorum, ed. C. Maleczynski, in: Monumenta Poloniae Histórica, N S Bd. 2, Krakau 1952, c. 19, sowie S. L X X X I I I f . Ü O B e c T b B p e M e H H i i x j i e T , I, n. p . fl- C. J l a x a n e B a n B. A. P0MaH0Ba, Moskau-Leningrad 1950, 101. Cosmae Pragensis Chronica Boemorum, ed. B. Bretholz, in: MG. Scriptores rerum germanicarum, N S , Bd. 2, Berlin 1923, liber 1, c. 40; Annales Hildesheimenses, ed. G. Waitz, in: MG. SS. in usum scholarum, Hannover 1878, zum Jahr 1034.
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im 11. Jh., in Ungarn beobachten. 18 Wenige Jahre nach dem Tode Stephans I. im J a h r e 1038, unter dem sich im Zusammenhang mit der Einführung des Christentums und der Grafschaftsverfassung (Komitate) der Übergang zu staatlichen Organisationsformen vollzog, empörten sich ungarische principes gegen dessen Nachfolger König Peter I. Wortführer der Opposition wurde der Schwager Stephans I., Samuel Aba, der Peter verjagte und sich zum König krönen ließ. Peter floh zu dem deutschen König Heinrich I I I . , der die Machtkämpfe in Ungarn für sich ausnutzte und schließlich direkt eingriff. Angesichts der drohenden Intervention rückten die ungarischen Großen von Aba ab, der sich mit allen Mitteln zu behaupten suchte. So stützte er sich u. a. auf rustici ignobiles19 und wiegelte diese gegen die Fürsten auf. Von der Gefahr eines Aufstandes bedroht, ließen die Fürsten Aba endgültig im Stich, der 1044 von Heinrich I I I . bei Menfö a. d. Raab besiegt wurde. Der nun als König wiedereingesetzte Peter leistete Heinrich I I I . den Lehnseid. Die in den folgenden Jahren wieder zunehmende ungarische Adelsopposition versuchte nun auf ähnliche Weise gegen König Peter vorzugehen, wie einst Aba die Fürsten bekämpft hatte. Sie ließen „dem Wüten der Heiden und Ehrlosen freien Lauf" 2 0 , machten sich also gegen den Christianisierungsprozeß gerichtete heidnische Strömungen in der ländlichen Bevölkerung zu Nutze, die in ihrem Widerstandswillen ja schon vorher von Aba ermutigt worden war. An die Spitze des im Jahre 1046 in den noch kaum christianisierten östlichen Gebieten Ungarns ausbrechenden sog. ersten Heidenaufstandes trat Vata. 2 1 Im Verlauf der offenbar umfassenden Erhebung wurden zahlreiche Bischöfe getötet und viele Kirchen zerstört. I n dieser Situation riefen die ungarischen Fürsten den in Kiev weilenden Arpaden Andreas herbei, boten ihm die Krone an und erreichten da18 Vgl. z u m folgenden: Geschichte Ungarns, hrsg. v o n E . P a m l é n y i , B u d a p e s t 1971, 3 5 f . m i t weiteren Literaturhinweisen; vgl. weiter G. Székely, E v o l u t i o n de la structure et de la culture de la classe dominante laïque dans la Hongrie des Arpad, in: A c t a Historica A c a d e m i a e Scientiarum Hungaricae, B d . 15, H . 3—4, 1969, 228f. 19
20
21
Chronici hungarici compositio saeculi X I V , in: Scriptores rerum hungaricarum, B u d a p e s t 1937, 3 2 9 f . (im folgenden: Chronicon hungaricum); G. G y ö r f f y , Format i o n d'états au I X e siècle s u i v a n t les 'Gesta Hungarorum' d u notaire a n o n y m e , in : N o u v e l l e s é t u d e s historiques publiées à l'occasion d u X I I e congrès international des sciences historiques par la commission nationale des historiens hongrois, B d . 1, B u d a p e s t 1965, 2 7 f . ; C. A . Macartney, The médiéval hungarian historians, Cambridge 1953, 5 9 f . , besonders 61; W . W a t t e n b a c h und R . H o l t z m a n n , Deutschlands Geschichtsquellen i m Mittelalter, N e u a u s g a b e v o n F . J. Schmale, B d . 2, W e i m a r 1967, 819, A n m . 58; B d . 3 (Kommentarband), W e i m a r 1971, 232. Annales Altahenses maiores, in: MG. SS. in usum scholarum, H a n n o v e r 1890, z u m J a h r 1046. Chronicon hungaricum 3 3 7 f . I n diesen i m 13. und 14. Jahrhundert verfaßten ungarischen Chroniken sind auch die E n d e des 11. Jahrhunderts entstandenen, nicht erhaltenen, in F o r t s e t z u n g e n bis 1167 reichenden 'Gesta Hungarorum' in mehr oder weniger zuverlässiger F o r m überliefert.
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mit zweierlei: die Ausschaltung König Peters, der vertrieben wurde, und die Niederschlagung des Aufstandes, der bedrohliche Ausmaße anzunehmen begann und von Vata, einem Sippenadligen, dazu ausgenutzt wurde, seine Position gegenüber den Fürsten zu stärken. Es kommt noch einmal zu einem „Heidenaufstand", als Ungarn infolge der K ä m p f e um die Nachfolge des 1060 verstorbenen Königs Andreas I. von schweren innerpolitischen Wirren erschüttert wurde. Bela, der Bruder Andreas' I . , konnte sich schließlich durchsetzen. Bei seiner Krönung, so wird berichtet, ließen rustici et servi durch gewählte Vertreter ihre Wünsche vortragen. Sie forderten, nach Art der Väter auf heidnische Weise leben zu können. Priester und Bischöfe sollten gesteinigt werden, die Kirchen sollten niedergerissen, die Glocken zerschlagen und die Zehnteintreiber gehängt werden. 22 Es waren also in Ungarn in der zweiten Hälfte des 11. Jh. noch direkte Kontakte zwischen der ländlichen Bevölkerung und der Zentralgewalt möglich. Die Grundherrschaften weltlicher und geistlicher Oberschichten hatten sich offenbar noch nicht trennend zwischen den König und die unteren Volksschichten geschoben. Eine schließlich 1061 ausbrechende, von Janös, dem Sohne Vatas, geführte Erhebung wird von Bela niedergeschlagen. Zusammenfassend kann gesagt werden, daß die Aufstände von 1046 und 1061 hinsichtlich der führenden Kräfte, der Teilnehmer und der verfochtenen Ziele deutlich übereinstimmende Züge aufweisen, wobei der gegen die Christianisierung und ihre Träger, Kirche und Bischöfe, gerichtete Akzent 1061 besonder» klar hervortritt.
6. Kiever
Rus
In der Kiever Rus brechen im Zusammenhang mit der Machtausdehnung der ersten russischen Fürsten verschiedene Aufstände aus. Sie reichen bis in jene Zeit zurück, als Fürst Igor mehrere ostslawische Stämme zur Botmäßigkeit zwang. 23 Als er von den unterworfenen Drevljanen hohe Tribute forderte, wurde Igor von der noch durchweg im Verband freier Gemeinden (obslina) lebenden Bevölkerung kurzerhand erschlagen. Die Nachfolger Igors, seine Gemahlin, die Fürstin Olga (gest. 967), und ihr Sohn Swjatoslaw (gest. 972), reagierten auf den immer wieder aufflackernden Widerstand gegen Tributzahlungen damit, daß sie die Verpflichtung dazu nachdrücklich einschärften. Nach der Etablierung eines umfassenden Staatswesens unter Wladimir dem Heiligen (gest. 1015) und nach der um 988 einsetzenden Christianisierungswelle 22
Chronicon hungaricum 359 f.
23
Z u m f o l g e n d e n : JlpeBHepyccKoe rocy«apcTBO H e r o
MeiKayHapo^Hoe
n. p . A . P . HoBocejibijeBa, B . T . IlamyTO H np., M o s k a u
3HaieHHe,
1965, besonders
146ff.;
vgl. zu den einzelnen Erhebungen auch B. D . Grekow, D i e Bauern in der Rus von den ältesten Zeiten bis zum 17. Jahrhundert, B d . 1, deutsche Ausgabe, Berlin 1958,
234ff.
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sowie im Zusammenhang mit dem weiteren Ausbau des Großreiches unter Jaroslaw dem Weisen (gest. 1054) verschärften sich die sozialen Spannungen weiter. Der fortschreitende Feudalisierungsprozeß führte dazu, daß breitere Volksschichten gegen die mit diesen Vorgängen verbundenen bzw. gegen die in dieser Entwicklung sich ausdrückenden wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen angingen. 1024/26 kam es in Susdal zu einem Aufstand, der von Jaroslaw niedergeworfen wurde. Der Fürst reagierte nach diesem Aufstand auch in seiner Gesetzgebung auf diese Erhebung. Die bis 1024 oft nicht fixierten Abgaben wurden verschiedentlich normiert. Gleichzeitig wurde die Entrichtung dieser Leistungen eingeschärft. Der Schutz der vom Fürsten mit der Eintreibung der Abgaben beauftragten Personen wurde garantiert. Es wurde ausdrücklich festgelegt, daß diese von der Bevölkerung mit Getreide versorgt werden müssen. 1071 erhoben sieh die Smerden im Gebiet von Rostow und Belosero — ein Aufstand, welcher in der im Jahre 1072 von Jaroslaw erlassenen „Russkaja Prawda" Spuren hinterlassen zu haben scheint. So finden sich harte Strafen für Vergehen gegen Verwalter fürstlicher Besitzungen sowie für Beraubungen der Güter des Fürsten. Gerade das, was hier schwer bestraft wurde, hatte sich während der Erhebung von 1071 mehrfach ereignet. Die historische Einordnung der oft von sog. Wolchwen, also heidnischen Priestern, angeführten, unter der Losung „Rückkehr zu den alten Zuständen der Väter" ausgefochtenen Erhebungen begegnet in der Kiever Rus bei der bekannten prekären Quellenlage gewissen Schwierigkeiten. So konnte die Diskussion darüber, wie die gesellschaftliche Stellung der Smerden, die an den Aufständen vor allem beteiligt waren, zu beurteilen ist, bis heute noch nicht beendet werden. Die Mehrheit der sowjetischen Mediävisten neigt jetzt dazu, diese Smerden als freie Bauern aufzufassen. 24 Auch der in der Kiever Rus im 11. Jh. feststellbare relativ hohe Anteil von Sklaven bzw. sklavenähnlichen Schichten (cholop, rab, tscheljadin) innerhalb der ländlichen Bevölkerung ist in seinem geschichtlichen Stellenwert in der werdenden Feudalgesellschaft der Rus weiterhin umstritten. 25 Insgesamt gesehen läßt der schriftliche Überlieferungsbefund dreierlei deutlich erkennen: 1. Der Anteil der Smerden an allen Erhebungen ist beträchtlich, zum Teil vorherrschend. 2. Die Aufstände werden durchweg von heidnischen Priestern geführt, gegen die nach der Niederschlagung der Aufstände äußerst scharf vorgegangen wird. 24
Zu den einzelnen Schichten der ländlichen Bevölkerung in der Kiever Rus vgl. grundsätzlich A. P. HoBocenbueB, B. T. üaiiiyTO h JI. B. HeperiHHH, IlyTH pa3BHTHH
25
Ebenda vgl. auch Slownik starozytnosci slowianskich, Bd. 2, Teil 1, 1964, 188ff.; Bd. 3, Teil 2, Wroclaw-Warszawa-Kraköw 1968, 392f., wo in mehreren Artikeln die Bedeutung der Sklaven im slawischen Bereich im frühen Mittelalter mit reichen Literaturhinweisen behandelt wird.
EOÄAJIH3MA (3AKABKA3BE, CpejjHHH ASHH, P y c t , IlpHSajiTHKa), Moskau 1972, 229ff.
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3. Die Reichweite, die Intensität und die Auswirkung dieser Erhebungen waren bedeutend und führten in einigen Fällen dazu, daß in der Gesetzgebung der jeweiligen Herrscher Veränderungen vorgenommen bzw. neue Bestimmungen eingeführt wurden, die als Reaktion auf vorhergegangene Empörungen aufgefaßt werden können.
7. Zur
Charakterisierung
der
Aufstände
Zunächst soll auf einige für die Mehrzahl der Erhebungen typischen Merkmale hingewiesen werden: 1. Alle hier kurz analysierten Aufstände brechen in einer Phase des Übergangs zur feudalen Klassengesellschaft aus. 2. I n nahezu allen Erhebungen wurde unter Anknüpfung an urgesellschaftliche Traditionen die Wiederherstellung der von der entstehenden Klassengesellschaft bedrohten Gleichheit und Freiheit gefordert. Bei der Einschätzung einer solchen Zielsetzung stimme ich mit J. Herrmann überein, der jüngst feststellte, daß es „kein Maßstab für die Beurteilung einer Volksbewegung sein" kann, „ o b und wie sie an ältere Ideologien anknüpfte oder sich die Wiederherstellung älterer Zustände zum Ziele setzte, die in der Regel zudem — durch die Ideologie der Zeit selbst — idealisiert und den Bedürfnissen der Gegenwart 'angepaßt' wurden. Für die Beurteilung der historischen Stellung solcher Volksbewegungen kann nur gelten, in welchem Maße durch die Aufnahme solcher Zielstellungen weiterführende gesellschaftliche Verhältnisse im Klassenkampf objektiv durchgesetzt wurden." 26 Diese spezifisch gearteten Forderungen der ländlichen Bevölkerung dürften nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, daß, wie auch A . R.Korsunskij ausführte, in jener Zeit, als die untersuchten Aufstände ausbrachen, ein ausgeprägter Klassengegensatz, wie er für den entfalteten Feudalismus typisch ist, noch weitgehend fehlte. 27 3. Fast alle Erhebungen brachen in politischen „Krisensituationen" aus, etwa dann, wenn die herrschenden politischen Mächte infolge von Niederlagen, Kämpfen um die Thronfolge u. a. geschwächt waren. Innerhalb dieser Erhebungen lassen sich gewisse Besonderheiten erkennen, die es gestatten, eine grobe Gruppierung vorzunehmen: Zu einer ersten Gruppe würde ich die gegen die Eroberungskriege Karls des Großen gerichteten Empörungen sächsischer Edelinge und vor allem freier Bauern vor dem Stellingaaufstand rechnen. Vergleichbar damit wäre die Situation bei den zwischen Elbe und Oder, also im Expansionsfeld des ostfränkischen Reiches bzw. des frühfeudalen deutschen Staates ansässigen slawischen Völkerschaften, die sich 983 26
27
J. Herrmann, Allod und Feudum als Grundlagen des west- und mitteleuropäischen Feudalismus und der feudalen Staatsbildung, in: Beiträge zur Entstehung des Staates, hrsg. von J. Herrmann und I. Sellnow, Berlin 1973, 195, Anm. 3. Vgl. die Ausführungen von A. R. Korsunskij in diesem Band.
Volksbewegungen im frühmittelalterlichen Europa
223
und in den folgenden Jahren erhoben. Dazu könnten noch die baltischen Ostseegebiete herangezogen werden, wo sich 1242 und 1260 vor allem die Pruzzen gegen die Eroberungszüge der deutschen Ordensritter wehrten. I n allen drei Fällen stellen wir im Rahmen einer späturgesellschaftlichen Zerfallsperiode mit weitgehend ungebrochenen heidnischen Traditionen eine soziale Differenzierung fest. Die Masse der Bevölkerung besteht noch nahezu völlig oder doch vorwiegend aus freien Bauern, die sich gegen die feudalen Eroberer und die von diesen angestrebte Unterwerfung mit großer Heftigkeit wehren. I n Sachsen, im Bereich der Elbslawen und im baltischen Raum kommt es zu einer ziemlich abrupten Überlagerung von schon fortgeschrittenen feudalen Gesellschafts- und Staatsstrukturen über Gebiete, die einen solchen Entwicklungsstand noch nicht erreicht hatten. Auf diese Weise trat eine besondere Verschärfung der Situation ein, die zu besonders entschiedenen Abwehrreaktionen der dabei noch relativ geschlossen auftretenden Stämme und Stammesgruppen führte. Es kam zu mehreren machtvollen Aufständen, die zeitweise zu erheblichen politischen Konsequenzen führten. So gelingt es dem Lutizenbund 983 und den Obodriten 990, die Herrschaft deutscher Feudalherren in diesem Raum weitgehend zu beseitigen. Die Erhebungen baltischer Völkerschaften 1242 und 1260 konnten nur mit großer Mühe niedergeschlagen werden. I n Sachsen und im Ordensgebiet gerieten die feudalen Eroberer durch die Aufstände der einheimischen Bevölkerung in eine äußerst schwierige Situation. Sowohl gegenüber den Sachsen, als auch gegen die Elbslawen und die baltischen Völkerschaften gehen die feudalen Eroberer mit weitgehend gleichen Methoden vor: Neben der A n wendung massiver Gewalt wird auch versucht, innere Auseinandersetzungen und Rivalitäten zwischen Stämmen und Stammesgruppen auszunutzen, um dadurch die Widerstandskraft der Gegner zu schwächen. Eine sehr wichtige Rolle spielte in allen drei Fällen die Begünstigung sich herausbildender Oberschichten, die durch Zugeständnisse, wie Verleihung von Grund und Boden, gewonnen werden sollten. Auf diese Weise sollte die Abwehrfront, die ländliche Bevölkerung und nobiles anfangs noch gemeinsam bildeten, aufgelöst werden. Dieses Vorgehen hatte, auf die Dauer gesehen, Erfog, weil diese Oberschichten ihre vielfach noch recht schwache Position gegenüber der eigenen Bevölkerung durch Anlehnung an die einbrechenden Eroberer zu festigen suchten. So verhielten sich die sächsischen nobiles gegenüber den fränkischen Eroberern, so handelten die preußischen Edelinge gegenüber den Ordensrittern und so taktierten adlige Schichten bei den zwischen Elbe und Oder siedelnden slawischen Völkerschaften gegenüber den Trägern der feudalen Ostexpansion. Während die Resultate der Eroberungszüge im elbslawischen Bereich durch die umfassende Erhebung des Lutizenbundes 983 wieder rückgängig gemacht bzw. völlig beseitigt werden können, gelingt es in Sachsen ebenso wie im Ordensgebiet den feudalen Eroberern, im Bunde mit den adligen Schichten des jeweils unterworfenen Landes ihre Herrschaft zu erhalten und zu stabilisieren. Von diesen Aufständen, die in Sachsen, im baltischen Raum und in den Gebieten zwischen Elbe und Oder ausbrachen, als hier die kriegerischen Auseinander-
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Setzungen noch im Gange waren und die Abwehrreaktionen der von den Eroberungszügen betroffenen, vorwiegend freien Bevölkerungsschichten das weitere Vordringen feudaler Kräfte bremsten bzw. diese für längere Zeit zurückwarfen, möchte ich jene Erhebungen absetzen, zu denen es in diesen Landschaften kam, als hier die gesellschaftliche Entwicklung schon weiter fortgeschritten war. Hier sind die letzten umfassenden Aufstände zu nennen, die bei den Obodriten (1093), im preußischen Ordensgebiet (1295) und in Sachsen (841/42) ausbrachen. Mit der Erhebung von 1295 und dem Stellingaauf stand von 841/42 kam es in Sachsen wie im Bereich der Ordensherrsohaft noch einmal zu einer letzten Empörung gegen die feudalen Eroberer, als diese ihre Position in den unterworfenen Gebieten bereits stabilisiert hatten. In beiden Fällen richtete sich der Widerstand sowohl gegen die einheimischen nobiles wie gegen die eingedrungenen Eroberer, die in Sachsen wie im baltischen Ostseeraum sich gegenseitig unterstützten, allmählich zu einer einheitlichen Oberschicht verschmolzen und die weitere gesellschaftliche Entwicklung in feudaler Richtung vorantrieben. Bei den Obodriten, wo es noch 1066 einer vor allem von opponierenden Adelsgruppen und der heidnischen Priesterschaft getragenen Erhebung gelang, den Obodritenfürsten Gottschalk zu stürzen, konnte sich 1093 dessen Sohn Heinrich — allerdings mit dänischer und sächsischer Hilfe — gegenüber den Empörern behaupten und in den folgenden Jahren seine Macht zunächst weiter festigen. Im Unterschied zu den Sachsen, den Elbslawen und den baltischen Völkerschaften, wo diese Prozesse durch eine feudale Eroberungspolitik bzw. durch von außen einwirkende Faktoren bei allen teilweise erheblichen, etwa durch Kriegszüge verursachten Störungen letztlich gefördert wurden, vollzog sich in Polen, Ungarn und der Kiever Rus die Herausbildung eigenständiger Herrschafts- und Staatsstrukturen im Laufe einer von äußeren Einflüssen weitgehend ungestörten Entwicklung, die dann, mehr oder weniger kontinuierlich, in das feudale Stadium mündete. Auf dem Hintergrund dieser Entwicklung brachen im 11. J h . in Polen, Ungarn und in der Rus Aufstände aus. Dabei fällt auf, daß in der Kiever Rus im Leben der ländlichen Bevölkerung relativ lange die Gemeinde freier Bauern (obS6ina) eine wichtige Rolle spielte. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß in der Rus zwischen zerfallender Urgesellschaft und einer feudalen Klassengesellschaft offenbar mit einem sehr langen Übergangsstadium zu rechnen ist, währenddem die in ihrer Mehrzahl noch freien, in Gemeinden lebenden Bauern 28 von den jeweiligen Großfürsten direkt in Form von Tributerhebungen oder anderen kollektiven Abgabenzahlungen ausgebeutet wurden.29 Hier deutet sich eine Besonderheit gegenüber der frühfeudalen Entwicklung in Westeuropa an, wo beispielsweise im politischen Rahmen des fränkischen 28
29
Dazu B . Widera, Der Ackerbau in der Rus bis zum Einfall der Mongolen, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1969, Teil 1, 241ff.; derselbe, Beginn und Umfang der deutschen Getreideausfuhr in die vormongolische Rus, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1963, Teil 2, 79ff. W . Küttler, Die Genesis des Feudalismus bei den Ostslawen als Problem der allge-
Volksbewegungen im frühmittelalterlichen Europa
225
Großreiches immer mehr die Grundherrschaft (Villikationsverfassung) zum Zentrum der Produktion und der Ausbeutung feudalabhängiger Bauern wurde. Vor allem geistliche und weltliche Oberschichten dehnten ihre Herrschaft über Land und Leute mit allen Mitteln aus — ein Prozeß, in dessen Verlauf eine ständig wachsende Zahl von Grundherrschaften entstand, die freien Bauern aus dem politischen Leben schon relativ früh weitgehend ausscheiden und zum größeren Teil allmählich zu Hörigen wurden. Demgegenüber gelang es in der Rus den freien Bauern, die die Masse der Bevölkerung ausmachten, sich für längere Zeit zu behaupten und in ausgedehnten Aufstandsbewegungen Widerstand zu leisten. Diese Erhebungen wurden unter heidnischen Losungen — offenbar unter Bezugnahme auf noch stark wirksame späturgesellschaftliche Traditionen — geführt, was ebenfalls auf den noch schwachen Entwicklungsgrad feudaler Verhältnisse hindeutet. In die gleiche Richtung weist die Tatsache, daß bis weit ins 11. Jh. hinein in der Rus, wie übrigens auch in Polen 30 , privater Grundbesitz fehlte bzw. noch nioht in nennenswerter Weise ausgebildet war. Infolgedessen konnte auch die Kirche noch nioht über eigenen Grundbesitz verfügen und mußte deshalb von den Fürsten aus den ihnen meist in Form von Tributen zufließenden Einkünften versorgt werden. 31 Noch im 12. Jh. bildeten, wie jüngst festgestellt wurde, in der Rus die Grundherrschaften „Inseln, die sich im Meer der freien Bauernwirtschaften verloren".32 Eine Zäsur im Prozeß der Herausbildung feudaler Grundherrschaften war in der Rus, in Polen und auch in Ungarn das 12. Jh. Erst jetzt lassen die für die Konstatierung feudaler Abhängigkeitsverhältnisse ja unerläßlichen schriftlichen Quellen einen gewissen Reifegrad in der Ausbildung der feudalen Klassengesellschaft in diesen Ländern erkennen.33 Feudaler Grundbesitz ist in jenen Gebieten nun verschiedentlich nachweisbar.
8.
Schlußbetrachtung
Generell wird man sagen können, daß Aufstände, wie wir sie bei der Entstehung feudaler Verhältnisse, also auf dem Wege zur Feudalordnung, beobachten konnten, zweifellos eine wichtige, ja unter den genannten Bedingungen vorherrschende Form des bäuerlichen Widerstandes darstellen. Ein wesentlicher Wandel
30
31 32
33
15
meinen Feudalismusforschung, in: Jahrbuch für Geschichte, 6, 1972, besonders 31f., 45. B. Zientara, A. M%czak, u. a., Dzieje gospodarcze Polski do 1939 r., Warschau 1965, besonders 48 f. flpeBHepyccKoe rocy^apcTBO 297ff. H. «DpoHHOB, K H H M E C K O E 3EMNEBJIAHEHHE H XO3HÄCTBO Ha Pycn X—XII B e n o B , in: ü p O Ö J i e M H HCTOpHH $EOAAJIBHOÖ PoCCHH, CßopHHK CTaTfeett K 60-JieTHfO npoiji. B. B. MaBpoAHHa, Leningrad 1971, 52. Zientara, M%czak, u. a., Dzieje gospodarcze 49; Historia chlopöw polskich 105; Szekely, Evolution 228 ff. Gesellschaftsformationen
226
SIEGFRIED EPPERLEIN
trat in dieser Beziehung ein, als sich der Feudalismus voll durchgesetzt hatte, sich weiter entfaltete und seine Blütezeit durchlief. Jetzt dominierten in der ausgebildeten Feudalgesellschaft eindeutig die sog. niederen Formen des Klassenkampfes (nachlässige Leistung von Abgaben und Diensten, Verweigerung feudaler Lasten, Flucht), die für Abwehrreaktionen feudalabhängiger Bauern typisch sind.34 Aufstände stellen nun eine ausgesprochene Ausnahme dar. Nur dort, wo auf Grund besonderer „Umweltbedingungen" eine Feudalisierung der ländlichen Bevölkerung nicht gelang, wie etwa im Küstengebiet, im Hochgebirge u. a., kam es in einigen wenigen Fällen noch zu Erhebungen vorwiegend freier Bauern ( 1 2 2 9 — 1 2 3 4 Aufstand der Stedinger, Ende des 1 5 . Jh. Erhebung der Dithmarscher). Erst in der Abstiegsphase der Feudalordnung brachen infolge der sich nun zuspitzenden Klassengegensätze massive und umfassende Aufstände aus und kündigten den Verfall der Feudalgesellschaft an (Erhebungen am Vorabend des Bauernkrieges, Aufstände während des Bauernkrieges u. a.). Abschließend wird man sagen können, daß sowohl Aufstände als auch die sog. niederen Formen des bäuerlichen Klassenkampfes die Aktivität der ländlichen Bevölkerung bei der Entstehung, in der Blütezeit und während der Auflösung der Feudalordnung eindrucksvoll beweisen. Sie zeigen zugleich, wie haltlos in der bürgerlichen Historiographie vertretene elitäre Konzeptionen sind, wonach angeblich vor allem die „Führungsschichten" den geschichtlichen Prozeß entscheidend bestimmen und gestalten.35 34
Vgl. die Nachweise f ü r das f r ü h e u n d hohe Mittelalter bei Epperlein, H e r r s c h a f t 20 f f . ; derselbe, B a u e r n b e d r ü c k u n g u n d Bauernwiderstand im hohen Mittelalter, i n : Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte, B d . 6, Berlin 1960, passim. 35 So ist in der K o n z e p t i o n K . Bosls v o n der mittelalterlichen Geschichte f ü r d a s Wirken der Volksmassen wenig R a u m . Wie in der A n t i k e b e s t i m m t n a c h Bosl in bruchloser K o n t i n u i t ä t auch im Mittelalter die adlige F ü h r u n g s g r u p p e , die E l i t e , den Gang der Geschichte. „ N u r von ihrem T u n berichten die Quellen, d a a n d e r e Schichten noch nicht geschichtsbedeutend u n d s t a a t s m ä c h t i g sind", m e i n t e Bosl in der 1970 in S t u t t g a r t erschienenen 9. Aufl. von G e b h a r d t s H a n d b u c h der d e u t schen Geschichte (706) in f a s t wörtlicher Ü b e r e i n s t i m m u n g m i t Ä u ß e r u n g e n v o n H . D a n n e n b a u e r aus dem J a h r e 1941 in seinem A u f s a t z : Adel, B u r g u n d H e r r s c h a f t bei den Germanen (Neuausgabe in: H . D a n n e n b a u e r , Grundlage der m i t t e l alterlichen W e l t , S t u t t g a r t 1958, 121). Dementsprechend erblickt Bosl in der G r u n d h e r r s c h a f t ein von sozialen Auseinandersetzungen weitgehend freies Gebilde, in dem der Schutz u n d Schirm gewährende H e r r m i t den d a f ü r R a t u n d Hilfe leistenden 'Grundholden' harmonisch z u s a m m e n w i r k t e . Zwar h a b e n sich in den Ansichten Bosls, vielleicht auch u n t e r dem E i n f l u ß der Ergebnisse der marxistischen Mediävistik, im L a u f e der Zeit einige W a n d l u n g e n vollzogen, die wir n i c h t u n b e a c h t e t lassen wollen. So schreibt er in d e m 1971 ebenfalls in S t u t t g a r t erschienenen H a n d b u c h der deutschen W i r t s c h a f t s - u n d Sozialgeschichte (160), „Doch selbst w e n n die servi wie die differenzierten liberi im W i n d s c h a t t e n der Gesellschaft s t a n d e n u n d noch keine eigene Geschichte h a t t e n , w e n n n u r U r b a r e u n d Traditionsbücher sie registrieren u n d ihren Arbeitsertrag aufzeichnen, sind sie n i c h t n u r eine indirekte u n d passive K r a f t gewesen, wie der Stellingaaufstand (841/842)
Volksbewegungen im frühmittelalterlichen Europa
227
zeigt. Als schweigende und verschwiegene Werkzeuge einer fast allein aktiven und geschichtsbildenden herrschenden Oberschicht in Waffen, die ihnen Leben, Sicherheit und ein bescheidenes Maß an Ordnung garantierte, hatten sie doch eine gewichtige wirtschaftliche und gesellschaftliche Funktion im Geschichtsprozeß, da die Führungsschicht von ihrer Arbeit und ihrem Arbeitsertrag völlig abhängig war." Die sicherlich beachtenswerten Nuancen haben jedoch an der elitären Konzeption Bosls nichts Grundsätzliches verändert. Entscheidend bleibt für Bosl weiterhin, daß Gesellschaft, Staat und Kultur von Beginn an einen aristokratischen Charakter aufweisen. Hauptakteure in diesem Geschichtsbild sind nach wie vor die Eliten und Führungsgruppen, die mit patriarchalischer Fürsorge die Unterschichten schützen. Vgl. dazu jetzt grundsätzlich E . Müller-Mertens, Fragen der geschichtlichen Triebkräfte an die strukturorientierte Sozialgeschichte; gerichtet an: Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, 9. Aufl., hrsg. von H. Grundmann, Bd. 1, Stuttgart 1970, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1973, Teil 3, 243f.; M. Erbstößer und K . P. Matschke, Von Bayern nach Europa. Geschichtsbild und politischer Standort des Historikers Karl Bosl, in: Jahrbuch für Geschichte 9, 1973, 467ff.
15*
Über die grundlegenden Voraussetzungen der Entstehung von Klassen bei den Ostslawen Von V.
J . DOVZENOK
(Kiew)
Die Herausbildung der Klassen und des Staates war bei den Ostslawen ein langwieriger Prozeß. Dabei denken wir sowohl an die sozialökonomische Entwicklung der ostslawischen Gesellschaft, die zur Besitz- und Sozialdifferenzierung führte, als auch an die ethnische Konsolidierung der Gesellschaft der Ostslawen, die die altrussische Völkerschaft als Subjekt der Klassengesellschaft hervorbrachte. Beide Voraussetzungen sind ihrer Bedeutung nach grundlegend. Dem Prozeß der sozialökonomischen Entwicklung der ostslawischen Stämme kommt bei der Herausbildung der Klassenverhältnisse aber die führende Rolle zu. Das Heranreifen dieser Voraussetzungen vollzog sich unter konkreten historischen Bedingungen, die in Osteuropa sehr verwickelt waren. Das Territorium der Ostslawen ist in natürlicher und geographischer Hinsicht stark differenziert, und die Voraussetzungen der Klassengesellschaft waren bei seinen Bewohnern nicht gleichzeitig herangereift. Es gliedert sich in zwei Hauptgebiete: in die Waldsteppe, die den mittleren Dnepr, das Bug- und das Dnestrgebiet einschließt, und in den Waldteil, der den nördlichen, nordwestlichen und nordöstlichen Teil des ostslawischen Territoriums umfaßt. Das erste geographische Gebiet besitzt ein mildes Klima, Schwarzerdeböden, Wälder und Gewässer. Das begünstigte die Entwicklung von Ackerbau, Handwerk und Gewerbe. Die Bedingungen im zweiten geographischen Gebiet waren für die wirtschaftliche Betätigung der Bevölkerung weniger geeignet. Auch die konkreten historischen Bedingungen waren für das Gebiet der südlichen Waldsteppe des ostslawischen Territoriums günstig, wenn auch im widersprüchlichen Sinn. Die relative Nähe zur Peripherie des Römischen Reiches, dann des Byzantinischen Reiches wirkte einmal dahin, daß die Errungenschaften der fortgeschrittenen Zivilisationen Einfluß erlangten und damit zur ökonomischen Entwicklung beitrugen. Andererseits beeinträchtigte die Nähe der südlichen Steppen, in denen im 1. Jt. u. Z. Nomaden lebten, erklärlicherweise die Konstanz der ökonomischen Entwicklung. Deshalb verlief die sozialökonomische und ethnische Entwicklung in diesem Gebiet nicht geradlinig. Sie wurde durch militärische Zusammenstöße, Überfälle und Wanderungen der Bevölkerung, die unter solchen Bedingungen zwangsläufig eintreten mußten, gestört. Trotzdem ist in der sozialökonomischen und ethnischen Entwicklung der ostslawischen Gesellschaft eine bestimmte Kontinuität vorhanden.
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V. J.
DOVZENOK
Die Hauptquelle zur Erforschung der Voraussetzungen der Klassenentstehung bei den Ostslawen stellt das archäologische Material dar. Es ermöglicht uns, drei Hauptstufen im Prozeß des Keimens dieser Voraussetzungen zu erkennen. Jeder Stufe entsprechen bestimmte archäologische Materialien. Im 1. J t . u. Z. haben im Waldsteppengebiet der Ostslawen drei archäologische Kulturen einander abgelöst: die Zarubincykultur, die Öernjaohovkultur sowie die frühslawische Kultur der zweiten Hälfte des 1. Jahrtausends. Das Verhältnis dieser Kulturen zueinander ist noch nioht völlig geklärt. Der Meinungsstreit und die unterschiedlichen Auffassungen der Archäologen werfen viele Fragen auf. Die Hauptfrage besteht darin, inwieweit die genannten Kulturen einen einheitlichen historischen Prozeß der slawischen Bevölkerung widerspiegeln, der in der Bildung des altrussischen Staates und der altrussischen Völkerschaft seinen Abschluß fand. Diese Frage wird von den Forsohern unterschiedlich beantwortet. E s gibt auch solche Stimmen, die die Folgerichtigkeit und Kontinuität der historischen Entwicklung in Osteuropa bis zur zweiten Hälfte des 1. J t . u. Z. bestreiten und die slawische Provenienz der Bodenfunde der vorangehenden Zeit ablehnen.1 Besonders beharrlich bestreiten einige Forscher die slawische Zugehörigkeit der öernjaohovkultur, obwohl sie ihrerseits kein anderes Volk nennen können, das diese Kultur unzweideutig hervorgebracht haben könnte, und andererseits keine andere Kultur anführen können, die in die Zeit der Öernjaohovkultur zu datieren wäre und ohne Zweifel den Ostslawen angehören würde.2 Diese Forscher sehen für die Slawen bis zur Mitte des 1. J t . u. Z. eigentlich keinen Platz in Europa. Der Grund für diese Ansicht liegt in der Tatsache, daß verschiedene Kulturen einander ablösen und die Bindeglieder zwischen ihnen fehlen. Nach Meinung dieser Forscher steht hinter jeder archäologischen Kultur ein besonderes Volk, Kulturwechsel bedeutet ihnen Bevölkerungswechsel. Eine solche Auffassung ist weder wahrscheinlich noch bewiesen. Eine archäologische Kultur ist eine historische Kategorie; sie spiegelt nicht nur verschiedene Züge unterschiedlicher Völker, sondern auch die Merkmale ein und desselben Volkes in verschiedenen Entwicklungsstufen wider. Was die verbindenden Elemente zwischen aufeinanderfolgenden Kulturen betrifft, so sind sie von vielen Faktoren direkt abhängig, vor allem vom Tempo der historischen Entwicklung eines Volkes. Die Bindeelemente zwischen aufeinanderfolgenden Kulturen eines Volkes können dann deutlich ausgeprägt sein, wenn die Entwicklung dieses Volkes langsam, evolutionär vor sich geht, wobei neue Erscheinungen in der Kultur lange Zeit neben 1
2
M. H. APTAMOHOB, B o n p o c u paccejieHHH BOCTOIHHX cJiaBHH H coBeTCKaH a p x e o j i o r i m , i n : üpoöneMH Bceoßmeö HCTOPHH, HCTopnorpaijiHiecKHit cßopHHK JleroiHrpaHCKoro yHHBepcHTeTa, 1967, 2 9 ; B . B . CeaoB, CjiaBHHe B e p x H e r o IIo«HenpoBi.H H rioRBHHbH (HO XTV.B.), ABTope$epaT HHccepTaiiHH Ha coHcitaHHe yieHOtt CTeneHH noKTopa HcropHHecKHX Hayn, Moskau 1966. H. H. JlanymKHH, CnaBHHe B O C T O I H O Ü E ß p o n u HaKaHyHe oöpaaoBamtH «peBHepyccKoro r o c y s a p c T B a , in: MaTepwajiH a HccneflOBaHHH no apxeoJiorHH CCCP 152, Moskau 1968, 6f.; II. H. TpeTbHKOB, OHHO-yrpu, ßaJiTU w cnaBHHe Ha ^ H e n p e H
Bonre, Moskau 1966, 234.
Voraussetzungen der Entstehung von Klassen bei den Ostslawen
231
den alten einhergehen. Die gesellschaftliche Entwicklung vollzieht sich aber nicht immer folgerichtig und evolutionär, sondern auch in plötzlichen und jähen Veränderungen, die durch besonders wichtige innere oder äußere Umstände hervorgerufen werden. In solchen Fällen fällt es schwer, Übergangsformen in der Entwicklung der Kultur zu verfolgen, obwohl dabei die Tradition in den bestimmenden Seiten des Lebens nicht abreißt. Dadurch fällt es schwer, Übergangsformen der Kultur in den verschiedenen Entwicklungsstufen ein und desselben Volkes aufzuspüren, so z. B. auch bei den Ostslawen zwischen den Kulturen der zweiten Hälfte des 1. Jt. und der Kiewer Rus oder zwischen dieser und der nachmongolischen Periode. Die Frage nach dem Ursprung der Zarubincykultur und ihren Beziehungen zur nachfolgenden Öernjachovkultur ist noch nicht befriedigend beantwortet. Unter den sowjetischen Archäologen setzt sich immer mehr die Auffassung von den einheimischen Wurzeln dieser Kultur durch. Sie werden in der Zeit der Skythen gesucht. Was das weitere Schicksal der Zarubincykultur anbetrifft, so können viele ihrer Merkmale in der Bestattungssitte, im Hausbau, in der Typologie der handgeformten Keramik sowie anderer Gegenstände ganz deutlich mit entsprechenden Zügen der öernjachovkultur verknüpft werden. Auch die Aufeinanderfolge und Kontinuität zwischen der Öernjachovkultur und der nachfolgenden ostslawischen Kultur der zweiten Hälfte des 1. Jt. u. Z. läßt sich verfolgen. In letzter Zeit wurden mehrere slawische Siedlungen aus der zweiten Hälfte dieses Jahrtausends entdeckt, die Merkmale der Öernjachovkultur aufweisen. Viele Denkmäler der öernjachovkultur wiederum besitzen Merkmale, die mit der nachfolgende Kultur zu verbinden sind. Das wird besonders bei der handgeformten Keramik beider Kulturen deutlich. In der Kultur der zweiten Hälfte des 1. Jt. u. Z. ist nicht nur vieles aus der vorangehenden Öernjachovkultur erhalten geblieben, sondern vieles hat auch eine weitere Entwicklung erfahren. Und was besonders wichtig ist, eine Weiterentwicklung fanden vor allem solche Bereiche der Kultur, die in der gesellschaftlichen Entwicklung bestimmend waren. Die Ackerbaugeräte vervollkommneten sich. Die meisten der in slawischen Siedlungen der zweiten Hälfte des 1. Jt. gefundenen Pflugscharen gehören zum breiten Typ, während die Mehrzahl derjenigen der öernjachovkultur den schmalen Typ vertritt. In Siedlungen der zweiten Hälfte des 1. Jahrtausends treten Erntegräte — Sicheln und Sensen — häufiger auf.3 Die Konzentration der Handwerksproduktion nahm zu; größere Handwerkszentren als Ausdruck der Entwicklung der 2. gesellschaftlichen Arbeitsteilung entstanden.4 Eine Ausnahme bildete die Töpferei; hier ist im Vergleich mit der vorangehenden Zeit ein Rückschritt zu verzeichnen. Das erklärt sich aber durch den besonderen Einfluß der römischen Kultur auf diese Produktion 3
B . H . flOBJKeHOK, H e p T U X03HftCTBa H 06meCTBeHH0ft 0praHH3aiiHH y
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B. H. BiA3inH, 3ani3onjiaBHJibHi ropHH cepe«HHH HOMy Ey3i, i n : Apxeonori« 15, Kiew 1963, 123.
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H.
e. Ha I Ü B R E H -
232
V . J . DOV2ENOK
und damit, daß deren Einfluß in der zweiten Hälfte dieses Jahrtausends nachließ. Es war ein wichtiges Ereignis für die ostslawische Welt der zweiten Hälfte des 1. Jt., daß sich die wirtschaftlichen Errungenschaften des Waldsteppenstreifens auf die Waldregionen ausdehnten und daß diese Gebiete durch die ostslawische Bevölkerung in Besitz genommen wurden. Der Prozeß des Vorrückens der Slawen nach dem Norden und Nordosten und die Landnahme sind noch wenig erforscht. Die vorliegenden Quellen lassen aber keine Zweifel daran, daß die Slawen bereits in der Mitte des 1. Jt. u. Z. am oberen Dnepr, im Düna- und Ilmengebiet, an der oberen Oka und an der Wolga anwesend sind. Mit der Landnahme des Waldgebietes durch die Slawen treten hier der Pflugackerbau sowie andere Merkmale der Wirtschaft auf, die für die slawische Bevölkerung der weiter im Süden gelegenen Bereiche charakteristisch waren. Die Angleichung verschiedener Teile Osteuropas in wirtschaftlicher Hinsicht hat ganz eindeutig zur Konsolidierung der ostslawischen Stämme zur Völkerschaft beigetragen. Eine notwendige Bedingung für die Entstehung der Klassengesellschaft ist ein Niveau der Arbeitsproduktivität der bestimmenden Wirtschaftszweige, das die ständige Erzeugung eines beträchtlichen Mehrproduktes gewährleistet, und da bei den Ostslawen der Ackerbau den grundlegenden Wirtschaftszweig darstellte, handelt es sich um den Umfang des Mehrprodukts in der Ackerbauproduktion. Hierfür haben wir keine direkten Angaben. Es gibt aber indirekte Hinweise, die es gestatten, einen Einblick in die Arbeitsproduktivität der zweiten Hälfte des 1. Jt. u. Z. zu gewinnen. Die Bodenbaugeräte dienen hierfür als Basis. Das Mehrprodukt betrug beim Ackerbau schätzungsweise ein Viertel der Bruttoernten. Ein Viertel der Ernte einer jeden Wirtschaft konnte also zur erweiterten Reproduktion verwendet oder durch die herrschenden Gruppen der Gesellschaft angeeignet werden. Unter Berücksichtigung des Aufwandes für eine erweiterte Reproduktion (Vervollkommnung der Geräte, Vergrößerung der Viehherden, Erweiterung der Ackerflächen usf.), ohne die kein gesellschaftlicher Fortschritt denkbar ist, stand den herrschenden Gruppen der Gesellschaft noch etwa ein Fünftel der Ernte zur Aneignung zur Verfügung. Der fünfte Teil der Bruttoernte an landwirtschaftlichen Produkten ist demnach die materielle Basis, auf die sich die soziale Differenzierung der Gesellschaft gründete. Davon ausgehend läßt sich eine Vorstellung von dem Niveau der sozialen Differenzierung gewinnen, d. h. von dem Ausmaß, das die nichtproduzierende Bevölkerung in dieser Gesellschaft annehmen konnte. Wenn die Bedürfnisse dieses Teiles der Gesellschaft denen der einfachen Bevölkerung gleich gewesen wären, so hätten jeweils fünf Bauernwirtschaften eine Familie, ein nichtproduzierendes Glied der Gesellschaft, unterhalten können. Die nichtproduzierende Bevölkerung bestand hauptsächlich aus der herrschenden Oberschicht oder aus solchen gesellschaftlichen Gruppen, die diese Herrschaft gewährleisteten. Zunächst waren das führende Vertreter der Sippen und Stämme, die die Einrich-
Voraussetzungen der Entstehung von Klassen bei den Ostslawen
233
tungen der Sippen- und Stammesmacht auch persönlichen Zielen nutzbar machten. Sie wurden zu einer gesellschaftlichen Schicht, die über das Volk herrschte. Die Bedürfnisse der gesellschaftlichen Oberschicht konnten die Ansprüche der einfachen Bevölkerung vielfach übersteigen; das betraf sowohl die bessere Ernährung und die kostspieligere Kleidung als auch die Vielzahl der Luxusgegenstände, ferner ihre besonderen Häuser, Befestigungen usf. Diese Bedürfnisse erforderten deshalb einen großen Arbeitsaufwand. Für jede Familie der gesellschaftlichen Oberschicht der Ostslawen haben am Vorabend der Kiewer R u s etwa 50 Bauernfamilien arbeiten müssen; das heißt, daß die ostslawische Gesellschaft am Vorabend der Kiewer R u s imstande war, eine große Anzahl nichtproduzierender Menschen zu versorgen. So stellt sich uns die ökonomische Basis dar, auf der sich die feudale Gesellschaft herausbildete. Die historischen Quellen ermöglichen es, die Prozesse der Konsolidierung der Ostlsawen zu einer Völkerschaft in der Grundrichtung zu verfolgen, was, wie bereits betont, die zweite wichtige Voraussetzung für die Entstehung von Klassen bei den Ostslawen war. In der Stufe der Zarubincykultur kannten die Ostslawen wahrscheinlich die Territorialgemeinde, bei der die Sippen- und Stammesbeziehungen hinter den territorialen Beziehungen zurücktraten. Der Beginn der Konsolidierung der ostslawischen Stämme zur Völkerschaft fällt in die erste Hälfte des 1. J t . u. Z., die in der Waldsteppe durch die Cernjachovkultur repräsentiert wird. Hier ist es notwendig, ihre zwei Merkmale zu betonen, die das Ausmaß der ethnischen Zusammenhänge der Bevölkerung der Cernjachovkultur widerspiegeln: die erstaunliche Einförmigkeit des Fundgutes und die engen ökonomischen Beziehungen, die sich in einem entwickelten Geldumlauf erkennen lassen. Die Archäologen suchen bereits seit Jahren erfolglos nach Lokalgruppen der Cernjachovkultur. Sie erscheint uns in ihrem Gesamtverbreitungsgebiet vom Donez bis zum Dnestr und von den Dneprstromschnellen bis zur Desna einheitlich, mit nur geringfügigen Unterschieden im Hausbau und in der handgeformten Keramik. Eine Einheit der materiellen Kultur hätte sich unter den Bedingungen voneinander abgeschlossener kleiner ethnischer Gruppen, von denen jede ein selbstgenügsames Ganzes darstellt, nicht herausbilden können. Sie hätten nicht ohne enge Kontakte zwischen der Bevölkerung verschiedener Gebiete und für die ganze Bevölkerung einheitliche Bräuche, Glaubensvorstellungen und, was am wichtigsten ist, Sprache entstehen können. Ohne die ethnische Einheit war auch eine gewisse politische Einheitlichkeit nicht möglich, die durch byzantinische Autoren für die Anten bezeugt ist. Hier sei noch angeführt, daß es außer der Cernjachovkultur keine andere Kultur gibt, die in dem Maße der Charakteristik der Anten durch die byzantinischen Autoren entspricht. Die zweite Stufe der Konsolidierung der. Ostlsawen zu einer Völkerschaft fällt in die zweite Hälfte des 1. J t . Dabei treten folgende Merkmale auf: Die ethnische Konsolidierung umfaßte in den Grundzügen das Gesamtterritorium der Ostslawen, nicht nur dessen Waldsteppenbereich. Eine Anzahl von kleineren und beständigeren ethnischen Gebilden, die als Poljanen, Severjanen, Vjatiöen,
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V. J . DOVZENOK
Dregoviöen, Slowenen usw. bezeichnet werden, entstanden außerdem in dieser Zeit. In der Literatur werden sie häufig als die Stämme, die in der Nestorchronik genannt werden, angesehen, doch ist das nicht zu beweisen. Diese Bezeichnungen dienen nicht zur Bestimmung der sozialen Verhältnisse bei den Slawen dieser Periode, sondern zur territorialen Gliederung der Gesellschaft. Die Stämme waren ihrem sozialen Inhalt nach territoriale politische Verbände, die im Rahmen der ehemaligen Stammesverbände entstanden. Der Chronist bezeichnet sie niemals als Stämme. Dort aber, wo er sich bemüht, sie in sozialer Hinsicht zu charakterisieren, spricht er von Fürstentümern. Bei der Schilderung der Zeit nach dem Tod der beiden Brüder, die Kiew gegründet haben, schreibt der Chronist : „Und nach dem Tode dieser Brüder begann ihre Sippe unter den Poljanen als Fürsten zu herrschen; doch die Derevljanen hatten eigene Fürsten und die Dregovicen eigene und die Slovenen eigene inNovgorod, und noch andere hatten an der Polcta die Polocanen". 5 Die archäologischen Funde aus der zweiten Hälfte des 1. J t . zeigen uns die ethnische Einheit der Ostslawen im gesamten von ihnen eingenommenen Gebiet und lassen zugleich Lokalgruppen erkennen, die auf die genannten politischen Vereinigungen zurückgehen. Die dritte und letzte Stufe der ethnischen Konsolidierung der Ostslawen wird durch die Vereinigung der Fürstentümer im altrussischen Staat gekennzeichnet. Die Entstehung des Staates vollzog sich unter den Bedingungen eines verschärften Kampfes der Slawen mit äußeren Feinden. Das wirkte sich auf den Entstehungsprozeß anscheinend beschleunigend aus. Die Wanderungszeit der Völker dauerte an, wobei die Nomadenwellen von Osten nach Westen vordrangen und das Leben der Ostslawen bedrohten. In der Mitte des 6. J h . u. Z. wurde das südwestliche Gebiet der Ostslawen von den Awaren überfallen. Erinnerungen daran lebten in der Rus noch bis ins 11. J h . u. Z. In der zweiten Hälfte des 7. J h . u. Z. erreichten die Bulgaren unter Asparuch das Donaugebiet, und ihr Weg nach dem Westen führte durch slawisches Land. Der Durchzug der Bulgaren ging allem Anschein nach nicht ohne Kriege und Zerstörungen vor sich. So verhielt es sich auch bei dem zweimaligen Aufenthalt der Ugrer auf ostslawischem Boden während ihrer Wanderungen an die Donau in der Mitte des 6. und zu Beginn des 9. J h . Im 8. J h . traten die Chasaren an der unteren Wolga und am Don auf. Sie gründeten hier ein Reich mit dem Zentrum in Itil an der Wolgamündung. Als Folge der Expansion des Kaganats war ein Teil der Slawen — die Poljanen, Severjanen und die Vjaticen — gezwungen, Tribut zu zahlen. Im Norden wurden die Slawen durch die Waräger bedroht. Sie überfielen die Slawen von jenseits des Meeres und plünderten die Bevölkerung aus. Die Nestorchronik weiß zu berichten, daß die Waräger einige Zeit lang bei den Slawen Tribute erhoben. Die Beziehungen zwischen Slawen und Warägern waren kompliziert. Überfälle und Raubzüge trübten oft die friedlichen Verhältnisse. Die 5
Ü O B e c T b Bp6M6HHMX jieT,
Teil 1, Moskau-Leningrad 1950, 13.
Voraussetzungen der Entstehung von Klassen bei den Ostslawen
235
slawischen Fürsten haben in der Entstehungsperiode des altrussischen Staates anscheinend Kriegsgefolge der Waräger als Militärkontingente angeworben, •so wie diese noch von Vladimir Svjatoslavic und Jaroslav Vladimirovic angeworben wurden, worüber die Chronik berichtet. In der Rus lassen sich skandinavische Söldner auch archäologisch nachweisen. Wir denken hier an die Warägerbestattungen in Sestovicy bei Cernigov, in Gnezdovo bei Smolensk, in Kiew und in Staraja Ladoga. Wir wollen auch die Äußerungen von F . Engels über das Verhältnis der Bevölkerung zur bewaffneten Macht des Staates in seiner Anfangsperiode anführen, die sich auf den jungen athenischen Staat beziehen: „Der Staat konnte ohne die Polizei nicht bestehn, aber er war noch jung und hatte noch nicht moralischen Respekt genug, um ein Handwerk achtungswert zu machen, das den alten Gentilgenossen notwendig infam erschien". 6 Die Söldnertrupps der Waräger, die in der Rus eine Militärmacht bildeten, konnten sich in den politischen Kampf der herrschenden Gruppen der slawischen Gesellschaft einmischen und vorübergehend die Macht erobern, wie das wahrscheinlich auch in Novgorod in der Mitte des 9. J h . geschehen ist. Darauf gründete sich im Laufe der Zeit die Legende von der freiwilligen Anerkennung der Warägerfürsten in der Rus, die bekanntlich zum Hauptargument der Normannentheorie wurde. Danach seien die Waräger die Schöpfer des altrussischen Staates, seiner Kultur und sogar des Namens der Rus gewesen. Diese Theorie wurde längere Zeit von einigen russischen Historikern anerkannt. Die archäologischen Quellen, die in letzter Zeit beträchtlich zunahmen, zeigen aber ein relativ hohes Niveau der gesellschaftlichen Entwicklung der Ostslawen in der Periode vor dem Auftreten der Normannen in ihrem Gebiet, so daß die Normannentheorie jede wissenschaftliche Basis eingebüßt hat. Die älteste Rus ist durch schriftliche Quellen dokumentiert. So bezeichnet die älteste Chronik die südlichen Gebiete, genauer das mittlere Dneprgebiet, zum Unterschied von den Ländern im Norden als ostslawisches Territorium. E s sei hervorgehoben, daß eine solche Lage des ältesten Territoriums der Rus keineswegs mit den Vorstellungen der Normannisten über den skandinavischen Ursprung dieses Namens in Ubereinstimmung zu bringen ist. Die älteste Rus oder die Rus im engeren Sinne, wie sie die schriftlichen Quellen umreißen, wird durch eine besondere archäologische Fundkategorie vertreten. Auf diesem Gebiet findet man die sogenannten Altertümer der Anten, die aus Horten und einzelnen Gegenständen bestimmter Fundkategorien bestehen (Bügelfibeln, zoomorphe und anthropomorphe Fibeln, Medaillons, Schläfenringe, Gürtelzubehör usf.). Die chronologische und räumliche Entsprechung zwischen diesen Funden und der Rus der schriftlichen Quellen ermöglichte es B. A. Rybakov, sie als die Altertümer der Rus zu bezeichnen.7 P. N. Tret'jakov hat 6
7
F . Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, in: Marx-Engels, Werke B d . 21, Berlin 1962, 116. B. A. PtißaKOB, flpeBHHe pyccu, in: CoBeTCKan apxeojiorHH 17, Moskau 1953, 23ff.
236
V. J . DovSenok
auf die Übereinstimmung der Bodenfunde vom Typ Penkovka mit diesen Altertümern aufmerksam gemacht.8 Die schriftlichen und archäologischen Quellen verknüpfen die älteste Rus mit dem mittleren Dneprgebiet. Diese entstand aus den hier bestehenden Fürstentümern der Poljanen, Ulicen und Severjanen; sie nahm die Errungenschaften der älteren, weiter fortgeschrittenen Kultur dieser Gebiete auf. Auf die Kultur der ältesten Rus haben auch ihre engeren Kontakte mit den fortgeschrittenen Ländern der damaligen Welt in nicht geringem Maße Einfluß ausgeübt. Somit führte die erste Voraussetzung der Klassenentstehung bei den Ostslawen zu einer Besitzdifferenzierung und zu einer Differenzierung der Gesellschaft, zur Absonderung einer herrschenden gesellschaftlichen Schicht. Durch die zweite Voraussetzung wurden die Bedingungen für die Umwandlung dieser Schicht in eine Klasse geschaffen, die über die ganze Gesellschaft herrschte, mit staatlichen Institutionen, die diese Herrschaft gewährleisteten. 8
II. H. T p e T h H K O B , O H p e B H e i t u i H x pyccax h hx 3eMJie, in: C n a B H H e h P y c t , Moskau 1968, 179.
Der Sachsenkrieg von 1073 bis 1075 und die Frage nach dem Verbleib freier Bauern in der Feudalgesellschaft V o n EOKHABD MÜLLER-MERTENS (Berlin)
I n der Diskussion marxistischer Historiker über die Ausbildung der Feudalgesellschaft war eine ständige Frage, bis zu welcher Zeit freie Bauern bei der Gestaltung des historischen Prozesses eine gesellschaftlich erhebliche Rolle gespielt haben. 1 Sie b e s t i m m t e auch den zuletzt geführten Meinungsstreit über den P l a t z des Stellingaaufstandes in der Geschichte des deutschen Volkes. 2 D i e Weiterverfolgung des Problems führt zwangsläufig auch in eine jüngere Zeit, nämlich hin z u m Sachsenkrieg, wie die zeitgenössische Geschichtsschreibung den A u f s t a n d der sächsischen Fürsten gegen die neue Königspolitik der salischen Herrscher in d e n Jahren 1073 bis 1075 bezeichnet. Der Verlauf des A u f s t a n d e s wurde nach der herrschenden Meinung wesentlich dadurch bestimmt, daß die F ü r s t e n zunächst das sächsische Volksaufgebot auf ihre Seite ziehen konnten, später jedoch zurückschreckten, als die b e w a f f n e t e n Bauern mit eigenen Forderungen auftraten. 3 1 A. L a u b e , E . Müller-Mertens u n d B. Töpfer, Forschungen zur Geschichte des Mittelalters, in: Zeitschrift f ü r Geschichtswissenschaft 13, 1970, S o n d e r b d . : Historische Forschungen in der D D R 1960-1970, 310ff.; J . H e r r m a n n , Sozialökonomische Grundlagen u n d gesellschaftliche T r i e b k r ä f t e f ü r die H e r a u s b i l d u n g des deutschen Feudalstaates, i n : Zeitschrift f ü r Geschichtswissenschaft 19, 1971, 752—789; J . H e r r m a n n , Allod u n d F e u d u m als Grundlagen des west- u n d mitteleuropäischen Feudalismus u n d der feudalen Staatsbildung, in: Beiträge zur E n t s t e h u n g des Staates, Berlin 1973, 164—201 ( = Veröffentlichungen des Zentrali n s t i t u t s f ü r Alte Geschichte u n d Archäologie der Akademie der Wissenschaften der D D R , B d . 1); W . Bleiber, Politische Macht u n d sozialökonomische Grundlagen bei der Ausbildung feudaler Verhältnisse in West- u n d Mitteleuropa, i n : Zeitschrift f ü r Geschichtswissenschaft 21, 1973, 810-829. 2 E . Müller-Mertens, Der Stellingaaufstand. Seine Träger und die F r a g e der politischen Macht, in: Zeitschrift f ü r Geschichtswissenschaft 20, 1972, 818—842. 3 Ü b e r die Gründe des A u f s t a n d e s f ü r die weitere L i t e r a t u r maßgeblich G. Waitz, D e u t s c h e Verfassungsgeschichte, Bd. 8, Kiel 1878, 428—431. Ausführlichste, aus den Quellen gearbeitete Darstellung der älteren bürgerlichen Forschung G. Meyer von K n o n a u , J a h r b ü c h e r des deutschen Reiches u n t e r Heinrich IV. u n d Heinrich V., B d . 2, Leipzig 1894 ( N e u d r u c k : Berlin 1964), m i t E x k u r s e n I I I bis V. L e t z t e eingehende bürgerliche Arbeit G. Baaken, K ö n i g t u m , Burgen u n d Königsfreie, i n : Vorträge u n d Forschungen, B d . 6, Konstanz, S t u t t g a r t 1961, 75—95; siehe a u c h B. G e b h a r d t , H a n d b u c h der deutschen Geschichte, 9. Aufl., B d . 1, S t u t t g a r t 1970,
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Der sächsische Aufstand der Jahre 1 0 7 3 — 1 0 7 5 , die gleichzeitige Erhebung der Bürger von Worms und Köln gegen die bischöfliche Stadtherrschaft sowie der Bannstrahl, den Gregor VII. 1076 auf Heinrich IV. schleuderte, signalisierten in den siebziger Jahren des 11. Jahrhunderts auch für Deutschland, daß ein neues Zeitalter der europäischen Feudalgesellschaft anbrach. Die Entfaltung des Feudalismus hatte eingesetzt. Ware-Geld-Beziehungen, einfache Warenproduktion und Kaufmannskapital, ein entwickeltes Städtewesen wurden in neuer Qualität und in zunehmendem Maß für die Feudalstruktur wesentlich. In den säkularen Klassenkämpfen und den Fraktionskämpfen innerhalb der herrschenden Klasse sollte die Frage nach der Stellung der Städtebürger in der Feudalgesellschaft, nach der Form des Feudalstaates und nach dem Verhältnis von Kirche und Staat grundsätzlich neu gestellt werden. Wenn es zutrifft, daß ein Volks- oder Bauernaufgebot, daß freie Bauern in diesen Kämpfen noch eine erhebliche Rolle spielten, dann ergeben sich daraus weitreichende Folgerungen für die Betrachtung der deutschen Feudalentwicklung. Diese Frage wurde bis heute auch von mir nicht in ihren Konsequenzen beachtet. Wenn sie hier am Beispiel des Sachsenkrieges aufgeworfen wird, so ist für diesen zunächst das Fehlen einer marxistischen Untersuchung festzustellen. Die einzige ausführlichere marxistische Darstellung gibt Horst Gericke im Lehrbuch der Deutschen Geschichte. Er fußt im wesentlichen auf Gerold Meyer von Knonau 4 und spricht als Teilnehmer am Aufstand neben den sächsischen Fürsten einfach die sächsischen Bauern und das Volksaufgebot bzw. das Bauernaufgebot mit seinem militärischen Potential an. 5 Eine genauere soziale Bestimmung der so begriffenen Akteure bietet Gericke nicht. Daß jene nicht zufällig unterbleibt, erweist ein Blick in die Quellen.6 Zu ergründen, wie die am sächsischen Aufstand teilnehmenden Volkskräfte sozial einzuordnen sind, wie sich ihre Teilnahme und ihr Verhältnis zu den Fürsten und zum König, wie sich überhaupt das wechselseitige Verhältnis der Volkskräfte und der Fürstengewalt im Verlauf des Aufstandes gestaltete, erfordert eine tiefgreifende Quellenanalyse. Sie selbst zu vollbringen, war für diesen Vortrag nicht möglich. Er kann darum nicht mehr als erste Ergebnisse verarbeiten. Die meisten Quellen stellen den Sachsenkrieg schlechthin als Kampf König Heinrichs IV. mit den Sachsen dar, so auch die beiden Kronzeugen im Lager 331 f. Einzige eingehendere marxistische Darstellung: L. Stern und H. Gericke, Deutschland in der Feudalepoche von der Mitte des 11. Jahrhunderts bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts, Berlin 1964, 97—101 ( = Lehrbuch der deutschen Geschichte, Beiträge). Siehe auch J. A. Kosminski und S. D. Skaskin, Geschichte des Mittelalters, Bd. 1, Berlin 1958, 137; Deutsche Geschichte in drei Bänden, Bd. 1, Berlin 1965, 271 f.; Kleine Enzyklopädie. Deutsche Geschichte von den Anfängen bis 1945, Leipzig 1965, 778. 4 Meyer von Knonau, Jahrbücher Bd. 2. 5 Stern, Gericke, Deutschland. 6 Verzeichnet und kritisch behandelt finden sich die Quellen bei Meyer von Knonau, Jahrbücher, Bd. 2, Exkurs III.
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des K ö n i g s : Der Verfasser des Liedes v o m Sachsenkrieg sieht jenen auf der e i n e n , die gens Saxonum auf der anderen Seite stehen 7 ; oder der Schreiber der V i t a Heinrici, welcher die Vorgänge in Sachsen als Waffenerhebung der Saxones wie des S a c h s e n s t a m m e s gegen den K ö n i g begreift. 8 E s sind die Gegner Heinrichs I V . u n d die Geschichtsschreiber in ihrem Lager, welche die Aufständischen differenzieren. Erzbischof Werner v o n Magdeburg in seinen Briefen, dessen wahrscheinlicher Briefdiktator, der Sachse Bruno, der ein eigenes Werk über d e n Sachsenkrieg verfaßte 9 , sowie Lampert v o n Hersfeld. 1 0 Der Bericht Brunos l ä ß t keineswegs v o n vornherein auf eine Teilnahme v o n Bauern schließen. W e s e n t liche Vorgänge werden v o n ihm folgendermaßen gefaßt!*: D i e sächsischen F ü r sten rufen eine Versammlung aller Sachsen nach Hoetensleben ein, u m über die gemeinsame Freiheit zu beraten. D i e Fürsten sprechen die dort Versammelten als milites sowie als liberi et ingenui an. Sie halten diesen vor, daß sie bedroht wären, ihre Freiheit wie ihr Erbe u n d E i g e n t u m zu verlieren, und gewinnen sie zur Verschwörung u n d z u m K a m p f . Bei der weiteren Schilderung werden die also Verbündeten der Fürsten als populus u n d plebs gefaßt. Bruno grenzt d i e s e n bzw. diese v o n d e n principes ab u n d sieht zwischen populus und principes einen Gegensatz auch hinsichtlich der Kampfziele. D o c h spricht er den populus n i c h t 7
Carmen de bello Saxonico, ed. O. Holder-Egger, in: MG. SS. in u s u m scholarum, H a n n o v e r 1889. Mit deutscher Übersetzung auch in: Ausgewählte Quellen z u r deutschen Geschichte des Mittelalters, Freiherr v o m Stein-Gedächtnisausgabe, B d . 12, Berlin 1963. Zu der Quelle W . W a t t e n b a c h u n d R . H o l t z m a n n , Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter, 4 H . in 2 Bde., W e i m a r 1967 (unveränderter N a c h d r u c k ) , 372—377; E . Müller-Mertens, R e g n u m Teutonicum. A u f k o m m e n u n d Verbreitung der deutschen Reichs- u n d Königsauffassung im f r ü h e n Mittelalter, Berlin 1970, 288ff. ( = Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte, B d . 15). 8 V i t a Heinrici IV. imperatoris, 3. Aufl., ed. W . W a t t e n b a c h u n d W . E b e r h a r d , i n : MG. SS. in u s u m scholarum, H a n n o v e r 1899. Mit deutscher Übersetzung a u c h i n : Ausgewählte Quellen, B d . 12, Berlin 1963. Zu der Quelle W a t t e n b a c h / H o l t z m a n n , Deutschlands Geschichtsquellen 378—385; E . Müller-Mertens, R e g n u m 288ff. 9 B r u n o s B u c h v o m Sachsenkrieg, neu bearbeitet von H . E . L o h m a n n , Leipzig 1937 ( = MG. Deutsches Mittelalter, B d . 2). Mit deutscher Übersetzung a u c h i n : Ausgewählte Quellen, B d . 12, Berlin 1963. Zu der Quelle W a t t e n b a c h / H o l t z m a n n , Deutschlands Geschichtsquellen 592—594; Müller-Mertens, R e g n u m 212ff. 10 L a m p e r t i Hersfeldensis annales, in: L a m p e r t i monachi Hersfeldensis opera, ed. O. Holder-Egger, i n : MG. SS. in u s u m scholarum, H a n n o v e r , Leipzig 1894. Mit deutscher Ü b e r s e t z u n g auch in: Ausgewählte Quellen, B d . 13, Berlin 1957. Zu der Quelle W a t t e n b a c h / H o l t z m a n n , Deutschlands Geschichtsquellen 456—471; Müller-Mertens, R e g n u m 225 ff. Zitiert wird L a m p e r t — u n d ebenso wird m i t B r u n o verfahren — n a c h der Ausgabe in den MG. Deren Seitenzahlen sind in der F r e i h e r r vom Stein-Gedächtnisausgabe vermerkt, so d a ß auch d o r t die entsprechenden Stellen ohne weiteres a u f g e f u n d e n werden k ö n n e n . 11 Auf einen seitenmäßigen Nachweis der Einzelbelege im W e r k von B r u n o u n d L a m p e r t wird hier verzichtet. Die Belege durchziehen die gesamten, den Sachsenkrieg betreffenden P a r t i e n u n d sind aus diesen ohne Schwierigkeit zu e n t n e h m e n , zumal es darauf a n k o m m t , die angezogenen Begriffe im K o n t e x t zu sehen.
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als Zerstörer der Harzburg an. Bruno behauptet vielmehr, die Dienstleute Heinrichs IV. hätten, um ihre eigenen Hände zu schonen, den Bauern der Umgebung befohlen, den Mauerrand abzutragen, diese wären eigenwillig weitergegangen und hätten die Burg bis auf den Grund zerstört. Meyer von Knonau hat diese Darstellung als tendenziöse Entstellung zurückgewiesen.12 Bruno wollte die kriegführende Sachsenpartei vom Vorwurf der Kirchenschändung freigesprochen wissen. Anders Lampert, der vom benachbarten Hersfeld aus diese Rücksicht nicht nahm. Sein konservativer Reichsstandpunkt ließ ihn objektiv zwar die Sache der Fürstenopposition vertreten, doch auf das Reich orientiert, mißbilligte er das Vorgehen der sächsischen Fürsten in wesentlichen Punkten. Wie den Kölner Bürgeraufstand 13 dürfte er auch die Bewegung der sächsischen Volkskräfte wirklichkeitsnah beschrieben haben. 14 Diese erscheinen als populäres, als populus und plebs, als vulgaris plebs und multitudo plebeia wie als vulgus Qaxoniae. Sie waren waffenfähig, zum Heeresaufgebot verpflichtet und führten den Kampf zu Fuß. In den Schmähreden, die Lampert die Anhänger Heinrichs IV. halten läßt, wird vollends ihre bäuerliche Lebensweise deutlich, wenn es heißt „sie waren an Ackerbau, nicht an Kriegsdienst gewöhnt". 15 Lampert faßt sie als Verbündete der Fürsten gegen den König ins Auge, als eine mit und neben den Fürsten selbständig handelnde und eigene Interessen vertretende Partei. Sie zerstören im Frühjahr 1074 nicht nur „ohne Wissen und ohne Befragung" 16 und im Gegensatz zu den Fürsten die Harzburg. Bereits vorher sieht Lampert die plebs in Empörung, als die Fürsten Anfang 1074 im sächsischen Heerlager zu Vacha mit königlichen Gesandten über einen Frieden verhandelten. Lampert läßt die plebs Otto von Northeim auffordern, als ihr Führer die königliche Gewalt über sie anzunehmen. Nach der Niederlage bei Homburg (Unstrut) im Juni 1075 ergibt sich in Hinsicht auf die jeweilige Beteiligung an der Schlacht und die Fortsetzung des Kampfes eine Spannung, die Lampert auf die Formel plebs contra principes, principes contra plebern17 bringt. Jetzt wollen die als plebs bezeichneten Kräfte den Frieden, die Fürsten befürchten gar, von ihnen als Gefangene an den König ausgeliefert zu werden. Es besteht kein Grund, die Aussagen Brunos und Lamperts über das Neben12 13
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Meyer von Knonau, Jahrbücher 333f., Anm. 36; 825. Lampert zum Jahr 1074, 185—193. Auch die aufständischen Kölner Bürger werden von Lampert insbesondere als populus begriffen. Bei Lampert wie bei Bruno und den anderen Geschichtsschreibern der Zeit ist natürlich das Problem der Imitation antiker Autoren zu beachten, die auch dazu führte, daß über die angesprochenen Personenkreise und Personen in antiker Terminologie gehandelt wurde. Siehe dazu J. Schneider, Die Vita Heinrici IV. und Sallust. Studien zu Stil und Imitatio in der mittellateinischen Prosa, Berlin 1965 (Deutsche Akademie der Wissenschaften. Schriften der Sektion für Altertumswissenschaften, Bd. 49); Müller-Mertens, Regnum 226f. Lampert zum Jahr 1075, 216. Lampert zum Jahr 1074, 184. Lampert zum Jahr 1075, 228.
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einander von Fürsten und Volkskräften und deren selbständiges Handeln im Sachsenkrieg nicht für zutreffend zu halten. Und es kann kein Zweifel bestehen, daß die insbesondere als popvlus und plebs begriffenen K r ä f t e nicht aus Hintersassen adliger, kirchlicher oder königlicher Grundherrschaften bestanden, also weder aus feudalabhängigen Bauern der Fürsten noch aus Fiskalinen. Dem ganzen Sachverhalt nach handelte es sich um Angehörige freier Bevölkerungsschichten, die zwar unterhalb der principes im frühmittelalterlichen Sinne standen 18 , nämlich den mächtigen und ämtertragenden Grundherren, jedoch nicht ihrer Herrschaft unterworfen waren, um Menschen, die frei von Grundherrschaft waren, ohne in einer Vielzahl aber selbst Grundherren zu sein, die in ihrer Masse dem Ackerbau nachgingen und Kriegsdienst nur als Fußkämpfer leisten konnten, die auf ihr Erbe und Eigen wie ihre Freiheit angesprochen wurden und insgesamt als stammes- bzw. landrechtlich Freie in einem Verhältnis zur Zentralgewalt des Feudalstaates und ihren lokalen Einrichtungen standen. Damit aber sind die als populus und plebs begriffenen Volkskräfte in ihrem maßgebenden Teil als freie Bauern charakterisiert, die außerhalb der Grundherrschaft entweder mit Eigengut wirtschafteten oder auf Siedelland saßen, welches dem königlichen Bodenregal unterlag. Wenn nach dem Zeugnis des Bruno von Magdeburg und Lamperts von Hersfeld dem aber so ist, so waren freie Bauern in Sachsen in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts nicht nur in beachtlicher Zahl vorhanden, sie traten auch als erhebliche historisch-politische K r a f t in Erscheinung. Dabei darf nicht übersehen werden, daß eben dieser Kreis freier Bauern vor Ausbruch des Sachsenkrieges eine wesentliche Grundlage für die königliche Burgenpolitik in Sachsen war, denn er erbrachte notwendige Bauund Versorgungsleistungen. Es darf auch nicht übersehen werden, daß Heinrich I V . kurz darauf fränkische Bauernaufgebote in den Kampf wider das Gegenkönigtum führen konnte. 19 Die Feststellung freier Bauern in zahlenmäßiger Stärke und mit erheblichem Anteil am politischen Geschehen in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts wirft gebieterisch die Frage nach dem Verbleib, dem Vorhandensein sowie der Rolle freier Bauern in der Feudalgesellsohaft auf. I n der T a t lassen sich in den meisten deutschen Landschaften während des ganzen Mittelalters sowohl freie Bauern wie bäuerliche Eigentümer wie auch freie Bauern mit Eigentum an ihrem Land quellenmäßig nachweisen.20 Die ältere, insbesondere von Georg Ludwig von Maurer 21 repräsentierte Forschung sah in ihnen Reste von Gemeinfreien Zum frühmittelalterlichen principes-Begriff siehe die Ausführungen bei H . Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, 2. Aufl., Bd. 1, Karlsruhe 1962, 299; die entsprechende Literatur ist auf 306 f. verzeichnet. 19 Meyer von Knonau, Jahrbücher, Bd. 3, Leipzig 1900, 135ff.; Stern, G-ericke, Deutschland 107. 20 Zu den Belegen wird auf die in den folgenden Fußnoten angegebene Literatur verwiesen. 21 G. L. Maurer, Einleitung zur Geschichte der Mark-, Hof-, Dorf- und Stadtverfassung und der öffentlichen Gewalt, München 1854. Dieses Werk enthält alle 18
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Gesellschaftsformationen
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b z w . N a c h f a h r e n altfreier Bauern. N a c h d e m ersten Weltkrieg wurden die freien B a u e r n d e s h o h e n u n d späten Mittelalters dann mit dem Landesausbau i n Z u s a m m e n h a n g gebracht, es waren Karl Weller 2 2 u n d Karl Siegfried B a d e r 2 3 , welche der Lehre v o n der Rodungsfreiheit, v o n der bäuerlichen Neufreiheit auf A u s b a u l a n d B a h n brachen bzw. sie grundsätzlich weiterführten. Endgültig in d e n dreißiger u n d vierziger Jahren trat die Interpretation freier Bauern als ursprünglicher Staatssiedler, Militärkolonisten u n d Königsfreier dazu, eine Lehre, die i m A n s a t z bereits Friedrich Philippi 2 4 u n d Fedor Schneider 2 5 boten, die ausschlaggebend aber v o n Heinrich D a n n e n b a u e r 2 6 , Theodor Mayer 2 7 , Walter Schlesinger 2 8 u n d Karl B o s l 2 9 entwickelt u n d verallgemeinert wurde. 3 0 Grundideen M a u r e r s ; seine späteren W e r k e bieten ihre breite A u s f ü h r u n g . Siehe dazu d a s einleitende Vorwort zur 2. Aufl., Wien 1896, von H . Cunow (Neudruck Aalen 1966). D o r t a u c h Angabe der weiteren Schriften. 22 K . Weller, Die freien B a u e r n in Schwaben, in: Zeitschrift der S a v i g n y - S t i f t u n g f ü r Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 54, 1934, 178—226. 23 K . S. Bader, D a s F r e i e n a m t im Breisgau u n d die freien B a u e r n a m Oberrhein, F r e i b u r g 1936 ( = Beiträge zur oberrheinischen Rechts- u n d Verfassungsgeschichte, B d . 2); K . S. B a d e r , B a u e r n r e c h t u n d Bauernfreiheit im späteren Mittelalter, i n : Historisches J a h r b u c h 61, 1941, 51—87. 24 Philippi, Zur Gerichtsverfassung Sachsens im hohen Mittelalter, i n : Mitteilungen des I n s t i t u t s f ü r Österreichische Geschichtsforschung 35, 1914, 209—259. 25 F . Schneider, Die E n t s t e h u n g von B u r g u n d Landgemeinde in Italien, Berlin 1924; derselbe, Staatliche Siedlung im f r ü h e n Mittelalter, in: Aus Sozial- u n d Rechtsgeschichte. Gedächtnisschrift G. v. Below, S t u t t g a r t 1928, 16. 26 H . D a n n e n b a u e r , Grundlagen der mittelalterlichen Welt. Skizzen u n d Studien, S t u t t g a r t 1958. E n t h ä l t alle einschlägigen, seit 1941 in verschiedenen Zeitschriften veröffentlichten Aufsätze des Verfassers. 27 Die wichtigsten der seit 1937 erschienenen Arbeiten sind z u s a m m e n n a c h g e d r u c k t : Th. Mayer, Mittelalterliche Studien. Gesammelte Aufsätze, 3. Aufl. L i n d a u - K o n stanz 1972 ( = Vorträge u n d Forschungen, B d . 5); ferner: Die Königsfreien u n d der S t a a t des f r ü h e n Mittelalters, i n : D a s P r o b l e m der Freiheit in der deutschen u n d schweizerischen Geschichte, L i n d a u - K o n s t a n z 1955, 7—56 ( = Vorträge u n d F o r schungen, B d . 2). 28 W . Schlesinger, Die E n t s t e h u n g der L a n d e s h e r r s c h a f t . U n t e r s u c h u n g e n vorwiegend n a c h m i t t e l d e u t s c h e n Quellen, Dresden 1941 ( = Sächsische Forschungen z u r Geschichte, B d . 1), N a c h d r u c k D a r m s t a d t 1973. 29 K . Bosl, F r ü h f o r m e n der Gesellschaft im mittelalterlichen E u r o p a . Ausgewählte Beiträge zu einer S t r u k t u r a n a l y s e der mittelalterlichen Welt, München-Wien 1964; K . Bosl, Gesellschaftsentwicklung 500—1350, i n : H a n d b u c h der deutschen W i r t s c h a f t s - u n d Sozialgeschichte, hrsg. von H . Aubin u n d W . Zorn, S t u t t g a r t 1971; K . Bosl, Die Grundlagen der modernen Gesellschaft im Mittelalter. E i n e deutsche Gesellschaftsgeschichte des Mittelalters, S t u t t g a r t 1972 ( = Monographien zur Geschichte des Mittelalters, B d . 4, 1 u n d 2). 30 Die a n g e f ü h r t e n Arbeiten stellen n u r eine Auswahl dar. Sie bieten den Schlüssel zu der weiteren L i t e r a t u r , die sich insbesondere in verschiedenen A u f s ä t z e n Th. Mayers forschungsgeschichtlich b e h a n d e l t findet. E i n e n historiographischen Abriß in Hinsicht auf das F r ü h m i t t e l a l t e r auf historisch-materialistischer Grundlage
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Die marxistische Mediävistik der D D R hat der Rodungsfreiheit unter dem Gesichtspunkt der bäuerlichen Aktivität, wie in ihrer Bedeutung für die E n t wicklung der Feudalgesellschaft in den Gesamtdarstellungen und Lehrbüchern der deutschen Geschichte volle Aufmerksamkeit gewidmet. 31 Sie hat sich mit der Königsfreienlehre als Bestandteil herrschender imperialistischer Geschichtskonzeptionen im besonderen auseinandergesetzt. 32 Die Frage nach dem Verbleib gemeinfreier Bauern in der Feudalgesellschaft wurde indes nicht weiter verfolgt, kam es für die Entwicklung eines marxistischen Geschichtsbildes zunächst doch darauf an, die Bildung der feudalen Hauptklassen als entscheidenden Vorgang bei der feudalen Formierung der Gesellschaft, den Klassenkampf zwischen Feudalherren und Feudalbauern als Haupttriebkraft der Feudalgesellschaft zu erfassen und zu erforschen. Darin wurde ein Stand erreicht, der es nunmehr erlaubt und fordert, komplexere und differenziertere Fragen des Feudalisierungsprozesses, der Feudalstruktur und der Gestaltung der Feudalgesellschaft zu untersuchen. Dazu dürfte auch die Frage nach dem Verbleib freier Bauern wie nach dem Gewinn von Grundeigentum durch Bauern im Rahmen feudaler Verhältnisse, nach der Rolle freier Bauern für die besondere Gestaltung einer Feudalgesellschaft gehören. E s mag sein, daß sie für die deutsche Geschichte im früheren Mittelalter sogar wesentliche Bedeutung hatte. Mein Vortrag zielt darauf, diese Frage aufzuwerfen, ohne daß hier eine Antwort gegeben werden könnte. Doch sollen einige Gedanken unterbreitet werden. Nach meiner Sicht lassen sich die freien Bauern, so wie sie von den Quellen innerhalb der Feudalgesellschaft bezeugt werden, insgesamt weder auf Nachfahren gemeinfreier Allodbauern noch auf Militärkolonisten und andere Staatssiedler, noch auf Rodungsfreie der Ausbauperioden reduzieren. Zudem wären noch freie bäuerliche Pächter zu sehen. Um die Nachfahren altfreier Bauern erkennen und in ihrer Bedeutung beurteilen zu können, müßte geklärt werden, daß im Prozeß der Formierung der Feudalgesellschaft ein Verhältnis zur Zentralgewalt des Feudalstaates und ihren Einrichtungen, insbesondere der Grafschaft, hergestellt wurde, daß die Nachfahren der Gemeinfreien dann nicht als Reste von Gemeinfreien neben der Feudalstruktur stehen, sondern in eine von der Feudalstruktur beherrschte Feudalgesellschaft integriert sind, auf die sie ihrerseits jedoch eine
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bietet E . Müller-Mertens, Karl der Große, Ludwig der Fromme und die Freien. Wer waren die Liberi homines der karolingisehen Kapitularien (742/743—832)? Ein Beitrag zur Sozialgeschichte und Sozialpolitik des Frankenreiches, Berlin 1963, 10—39 ( = Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte, Bd. 10). Nachgetragen seien insbesondere F . Lütge, Das Problem der Freiheit in der früheren deutschen Agrarverfassung, in: derselbe, Studien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Gesammelte Abhandlungen, Stuttgart 1963, 1—36; G. Tabacco, I liberi del re nell'Italia carolingia e postcarolingia, Spoleto 1966 ( = Biblioteca degli „Studi medievali", Bd. 2). Siehe dazu die in Anm. 3 verzeichneten Arbeiten. Müller-Mertens, Karl der Große.
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bestimmte gestalterische Wirkung zu nehmen vermögen. Die gestaltende Rolle ist ebenso bei den Militärkolonisten und anderen Staatssiedlern wie den Rodungsbauern auf Ausbauland zu erforschen. Diese Gruppen persönlich freier unmittelbarer Produzenten dürften zeitweise in mitentscheidender Weise auf die Ausformung der deutschen Feudalgesellschaft gewirkt haben. Die bürgerliche Forschung behauptet für sie eine Entstehung in einseitiger Abhängigkeit vom Herrschaftswillen des Königtums und der großen Feudalgewalten. Bosl preßt die Wehr- und Rodungsbauern gar in das Paradoxon der freien Unfreiheit. 33 Demgegenüber gilt es, die aktive und zum Teil initiatorische und konstitutive Rolle der Militärkolonisten und Rodungsbauern bei der Begründung ihrer gesellschaftlichen Stellung, bei der Landnahme und Rodung aufzudecken. Altfreie, Militärkolonisten und Staatssiedler, Rodungsfreie und Pachtbauern waren allesamt Bauern, vielfach mit gleich großen Wirtschaftseinheiten. Sie stellten in Hinsicht auf die bäuerliche Lebensweise und Wirtschaftspraxis durchaus eine Einheit dar. Darüber hinaus unterschieden sie sich, und zwar nicht nur hinsichtlich der Rechtsstellung, des Geburtsstandes, sondern auch hinsichtlich der Eigentums- und Besitzverhältnisse. Bauern auf freiem Eigengut hoben sich ab von Bauern auf Land, welches dem königlichen Bodenregal unterlag, für deren Leistung der Wehrdienst kennzeichnend war bzw. deren Leistung eine militärische oder politische Funktion im Dienste der Zentralgewalt zukam. Wieder grundsätzlich unterschieden waren die Rodungs- und Pachtbauern, deren Land unter das feudale Grundeigentum fiel. Dazu kamen die Standesunterschiede, welche das gesellschaftliche Verhältnis dieser Freien auch ihrerseits verschieden bestimmten und unter Umständen wesentlich berührten. Das zeigen unter anderem zum Beispiel die Freienstände des Sachsenspiegels, was ein Vergleich der auch in sächsischen Urkunden faßbaren Schöffenbarfreien, Pfleghaften oder Biergelden und freien Landsassen sinnfällig macht. 34 Im Saohsenkrieg dürften die Aktionen der als populus begriffenen Kräfte Aktionen vor allem von freien Bauern mit Erbe und Eigen wie freien Staatsund Militärkolonisten gewesen sein. Die einseitige Deutung der älteren bürgerlichen Forschung, die nur das alte Volksaufgebot gemeinfreier Bauern sah, erscheint ebensowenig haltbar wie die Interpretation der am sächsischen Aufstand teilnehmenden milites, liberi homines oder populäres als Königsfreie im Sinne der Königsfreienlehre spätbürgerlicher Konzeption, die jüngst Gerhard Baaken versucht hat. 35 Beide Gruppen, sowohl freie bäuerliche Landeigentümer wie freie Siedler auf Land, welches unter das königliche Bodenregal fiel, treten später an der Wende des 12. zum 13. Jahrhundert im Sachsenspiegel auf. Während jene im Stand der Schöffenbarfreien erscheinen, bilden diese den Stand der Pfleghaften und 33 34
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Siehe die in A n m . 29 a n g e b e n e n Arbeiten. Sachsenspiegel, hrsg. v o n K . A. Eckhardt, 2. Bearbeitung, B d . 1: L a n d r e c h t , Göttingen-Berlin-Frankfurt 1955, B d . 3: Quedlinburger H a n d s c h r i f t , H a n n o v e r 1966 ( = Germanenrechte, N F : Land- und Lehnrechtsbücher). Baaken, K ö n i g t u m 75 ff.
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Biergelden, sofern die Ergebnisse von Erich Molitor 36 richtig sind. Unabhängig davon sind freie Bauern mit Grandeigentum im Stand der sächsischen Schöffenbarfreien von der Forschung nachgewiesen. Andererseits erscheinen in ihm auch rittermäßig lebende Edelfreie, also Angehörige der Ritterschaft. 37 Die hier sichtbare soziale Abstufung prinzipieller Art innerhalb eines Freienstandes—sie könnte im übrigen für andere Landschaften und Zeiten auch für die freien Militärkolonisten dargestellt werden38 — war kein Ausdruck einer Übergangssituation im Entwicklungsprozeß des späteren Mittelalters. Tatsächlich erscheinen auch die im Sachsenkrieg aufständischen liberi homines sozial differenziert. Lampert von Hersfeld weist ausdrücklich auf die Vermögensunterschiede der provinciales hin. 39 Die von Bruno namentlich genannten liberi homines, Wilhelm, mit dem Beinamen der König von Lodersleben, und Fridericus de Monte gingen gewiß nicht der Bauernarbeit nach, dieser galt unter den Freien und dem Adel für sehr vornehm, jener besaß zahlreiche Güter. 40 Daß Bauern und Angehörige des niederen Adels in Hinsicht auf ihre Standesrechte als Freie, daß also Freie verschiedener sozialökonomischer Stellung in 36
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E . Molitor, Die P f l e g h a f t e n des Sachsenspiegels u n d d a s Siedlungsrecht i m sächsischen S t a m m e s g e b i e t , W e i m a r 1941 ( = F o r s c h u n g e n z u m d e u t s c h e n R e c h t , B d . 4, 2); derselbe, U b e r F r e i b a u e r n in N o r d d e u t s c h l a n d , i n : Adel u n d B a u e r n i m d e u t s c h e n S t a a t des M i t t e l a l t e r s , hrsg. von T h . M a y e r , Leipzig 1943, 312—330. Ü b e r die F r e i e n s t ä n d e des Sachsenspiegels u n d ihren N a c h w e i s in d e n U r k u n d e n g i b t es eine g a n z e L i t e r a t u r , w a r e n jene doch G e g e n s t a n d einer ü b e r J a h r z e h n t e g e f ü h r t e n K o n t r o v e r s e . D a s S c h r i f t t u m k a n n hier n i c h t v e r z e i c h n e t w e r d e n . D a r u m sei auf die A u s f ü h r u n g e n u n d L i t e r a t u r n a c h w e i s e der l e t z t e n m o n o g r a p h i s c h e n U n t e r s u c h u n g e n v e r w i e s e n : Molitor, P f l e g h a f t e ; A. H o m b e r g , Die E n t s t e h u n g der westfälischen F r e i g r a f s c h a f t e n als P r o b l e m der m i t t e l a l t e r l i c h e n d e u t schen V e r f a s s u n g s g e s c h i c h t e , M ü n s t e r 1953; H . S k e r h u t t , D e r Ständebegriff „ F r e i " . S t ä n d e g e s c h i c h t l i c h e U n t e r s u c h u n g e n auf G r u n d der l ä n d l i c h e n Quellen W e s t f a l e n s bis z u m 13. J a h r h u n d e r t , P h i l . Diss. H a m b u r g 1954 (Maschinens c h r i f t ) ; w e i t e r f ü h r e n d a u c h W . Schlesinger, B e m e r k u n g e n z u m P r o b l e m der w e s t f ä l i s c h e n G r a f s c h a f t e n u n d F r e i g r a f s c h a f t e n , i n : Hessisches J a h r b u c h f ü r L a n d e s g e s c h i c h t e 4, 1954, 262—272, N a c h d r u c k i n : W . Schlesinger, B e i t r ä g e z u r d e u t s c h e n V e r f a s s u n g s g e s c h i c h t e , B d . 2, G ö t t i n g e n 1963, 213—232, m i t N a c h t r a g 2 6 8 f . Schlesinger stellt völlig zu R e c h t h e r a u s : „ D a s V e r h ä l t n i s v o n germanischer, f r ä n k i s c h e r u n d hoch- u n d s p ä t m i t t e l a l t e r l i c h e r F r e i h e i t ist ein noch d u r c h a u s n i c h t gelöstes F o r s c h u n g s p r o b l e m " (269 b z w . 221 f.). D e r j ü n g s t e V e r s u c h v o n A . H a g e m a n n , D i e S t ä n d e der Sachsen, i n : Z e i t s c h r i f t der S a v i g n y - S t i f t u n g f ü r R e c h t s g e s c h i c h t e , G e r m a n i s t i s c h e A b t e i l u n g 76, 1959, 111—152, N a c h d r u c k i n : E n t s t e h u n g u n d V e r f a s s u n g des S a c h s e n s t a m m e s , hrsg. v o n W . L a m m e r s , D a r m s t a d t 1967, 4 0 2 - 4 4 5 ( = W e g e der F o r s c h u n g , B d . 50), die S c h ö f f e n b a r f r e i e n als F r a n k e n u n d als adligen S t a n d e s zu d e u t e n u n d z w a r als F r a n k e n , welche die S a c h s e n bei ihrer L a n d n a h m e , insbesondere a u c h in der Zeit u m 531, u n t e r s t ü t z t e n , ist so wenig b e g r ü n d e t , d a ß er n i c h t zu ü b e r z e u g e n v e r m a g . Müller-Mertens, K a r l d e r Große 61 ff. L a m p e r t z u m J a h r 1073, 146. B r u n o c. 16, S. 23.
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ECKHARD
MÜLLER-MERTENS
einem Stand dauerhaft vereint sein konnten, daß andererseits Bauern mit gleicher oder ähnlicher Wirtschaftsausstattung von der Standeszugehörigkeit her über lange Folgen von Generationen in sozial und politisch verschiedenen Verhältnissen standen, wirft noch einmal das Standesproblem auf. Auch die Ständefrage ist ein Desideratum der marxistischen Mediävistik. Sie bedarf der gründlichen Untersuchung. Es ist nach ihrer Bedeutung für das Handeln der Klassen und für das Verhältnis der Klassen zueinander, für deren Selbstverständnis, für den Klassenkampf, für die besondere Ausprägung und Entwicklung der Feudalgesellschaft zu fragen. Es gilt, die gesellschaftlichen Konsequenzen der mittelalterlichen Ständeordnung und der Ständeideologie ebenso zu erfassen wie die mittelalterliche Ständeordnung und Ständeideologie als eine Bedingung der europäischen Feudalgesellschaft. Das Problem wird von Karl Marx und Friedrich Engels im Kommunistischen Manifest in seiner weltgeschichtlichen Bedeutung angesprochen, wenn diese feststellen: „In den früheren Epochen der Geschichte finden wir fast überall eine vollständige Gliederung der Gesellschaft in verschiedene Stände, eine mannigfaltige Abstufung der gesellschaftlichen Stellungen. Im alten Rom haben wir Patrizier, Ritter, Plebejer, Sklaven; im Mittelalter Feudalherren, Vasallen, Zunftbürger, Gesellen, Leibeigene, und noch dazu in fast jeder dieser Klassen wieder besondere Abstufungen. Die aus dem Untergange der feudalen Gesellschaft hervorgegangene moderne bürgerliche Gesellschaft hat die Klassengegensätze nioht aufgehoben. Sie hat nur neue Klassen, neue Bedingungen der Unterdrückung, neue Gestaltungen des Kampfes an die Stelle der alten gesetzt. Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich jedoch dadurch aus, daß sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganz Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat." 41 Mit diesem Hinweis möchte ich schließen. Er unterstreicht, was hier betont werden sollte, die Kompliziertheit der Klassenverhältnisse, die mannigfaltige Abstufung der gesellschaftlichen Stellungen, die besonderen Abstufungen der verschiedenen Klassen, die Gliederung in Stände waren ein wesentlicher Entwicklungs- und Gestaltungsfaktor der Feudalgesellschaft. In ihr waren — zumindest was die deutschen Verhältnisse betrifft — freie Bauern auf eigenem Grund und Boden und in stammes- bzw. landrechtlicher Stellung nicht vollends verschwunden. Sie konnten unter bestimmten Bedingungen noch in der entwickelten und entfalteten Feudalgesellschaft eine gesellschaftlich erhebliche Rolle spielen. Diese Überlegung anzustellen, war das besondere Anliegen des Vortrags. Als Beispiel hätten unschwer auch die freien Bauern der Schweiz und Tirols, Dithmarschens und Ostfrieslands angeführt werden können. Ausgewählt wurde der Sachsenkrieg von 1073 bis 1075, der einen gestaltenden Anteil freier Bauern an den politischen Verhältnissen noch unter denBedingungen der Entfaltung des Feudalismus erhellt. 41
K . Marx, F . Engels, Manifest der Kommunistischen Werke Bd. 4, Berlin 1959, 4 6 2 f .
P a r t e i , in:
Marx-Engels,
Die Rolle der Volksmassen in Ideologie und Kultur
Die Bedeutung der Volksmassen für die Entdeckung des Kriteriums der Praxis im alten Indien Von
Walter Rüben
(Berlin)
Paksilasvämin Vätsyäyana formulierte m. W. als erster indischer Philosoph die indische Form des Kriteriums der Praxis als des Kriteriums der Wahrheit 1 in dem Sinne, daß der Erfolg der Handlung die Richtigkeit der die Handlung auslösenden Erkenntnis beweist. Damit begann Vätsyäyana seine Erkenntnistheorie, den ersten Teil seiner Philosophie, die die der Nyäyaschule war, um 400 u. Z. auf dem Höhepunkt der Gangesgesellschaft. Seine Entdeckung des Kriteriums der Praxis war kein zufälliger Akt subjektiver Genialität, sondern stand folgerichtig in der Entwicklung der altindischen Philosophie. Die Gangesgesellschaft hatte kurz nach der Einwanderung der Ärya in das Gangesgebiet etwa um 900 v. u. Z. angefangen, sich zu entwickeln und begann erst im 19. Jh. u. Z., sich unter dem Einfluß des ausländischen Kapitalismus aufzulösen. 2 Um 600 v. u. Z. entstanden Städte, von denen einige die Stätten der Warenwirtschaft reicher Handelsherren waren, die das städtische Handwerk organisierten und langsam bis um die Zeitwende in den damaligen Welthandel bis Rom und China hineinwuchsen. Aber die herrschende Produktionsweise der Gangesgesellschaft blieb durch fast drei Jahrtausende die agrarische „asiatische" oder altorientalische. In solchen Städten entwickelte sich von 600 v. u. Z. an Medizin als erste Wissenschaft, und diese führte schnell zu Hylozoismus und dann zu mechanischem Materialismus. Andererseits führte die barbarische, geradezu rassistische Ausbeutung der vorarischen Südras, der indischen, rechtlosen Variante der altorientalischen Bauern, zum Opium der Erlösungsreligion, die den Idealismus als philosophische Fundierung gegen Wissenschaft und Materialismus brauchte. Idealismus und Materialismus schlössen dann Kompromisse in den Formen verschiedener Philosophenschulen, entwickelten sich aber auch selbständig weiter bis zum Lokäyata-Materialismus und zum agnostizistischen Idealismus 3 , dem Sünyaväda und Yogäcära des Mahäyänabuddhismus im 2. Jh. u. Z. 1
2
3
W . R ü b e n , D i e gesellschaftliche E n t w i c k l u n g i m a l t e n I n d i e n , B d . I V : D i e E n t w i c k l u n g der P h i l o s o p h i e , Berlin 1971 (im f o l g e n d e n : B u b e n IV), 1 9 9 f . ; B d . V I : D i e E n t w i c k l u n g der Gangesgesellschaft, B e r l i n 1973 (im f o l g e n d e n : R ü b e n V I ) , 266. W . R ü b e n , B e m e r k u n g e n zur Periodisierung der G e s c h i c h t e I n d i e n s i m R a h m e n der U n i v e r s a l g e s c h i c h t e , i n : Asien, Afrika, L a t e i n a m e r i k a ( = A A L ) 1, 1973, 117 ff. A g n o s t i z i s t i s c h e I d e e n s c h o n bei Y ä j n a v a l k y a , R ü b e n I V , 90.
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Als diese beiden Extreme entwickelt waren, unternahm die Nyäyaphilosophie einen neuen Versuch des Kompromisses oder der Synthese von Materialismus und Idealismus. Damals, kurz nach der Zeitwende, hatten die reichen Städter bzw. ihre Ideologen neben allen Künsten eine Reihe neuer Wissenschaften für ihre luxuriöse Kultur wie Grammatik, Metrik, Lexikographie, Dramatik und Poetik zu entwickeln begonnen. Sie förderten aber auch in ihren Gesellschaften, u. a. in den Häusern der großen, gebildeten Hetären, das Diskutieren der verschiednen Spezialisten, wie z. B. der Mediziner, die damit um reiche Kundschaft warben, das Diskutieren von Dichtern und das Wettdichten von Dilettanten. Leidenschaftliches Diskutieren um theologische und philosophische, vor allem moralische Fragen war eine alte Sitte der Gebildeten. Sie wurde von orthodoxen Kritikern als Räsonieren diffamiert, von deren Gegnern aber verherrlicht. Von den indischen typologischen Analoga der etwas älteren griechischen Sophisten schulmäßig geübt und untersucht, wurde diese Diskussionslehre schließlich eine Keimzelle, aus der während und nach dem 2. Jh. u. Z. die Philosophie des Nyäya erwuohs, insbesondere seine Erkenntnistheorie. Diese verband der Nyäya als erstes indisches Philosophiesystem mit einer Naturphilosophie (dem Atomismus) und einer pessimistischen Ethik, die die der Erlösungsreligion war. Der Grundtext des Nyäya war das „Nyäyasütra" des Aksapäda Gautama aus dem 3. Jh. u. Z.4 Der uns erhaltene älteste Kommentar dieses Werkes war der jenes Vätsyäyana, der um 400 u. Z. seinen Kommentar mit dem Kriterium der Praxis begann, so wichtig war es ihm. Der Nyäya lehrte die Realität und Erkennbarkeit von Erkennen, Natur und Moral. Der eben erwähnte agnostizistische Idealismus des Mahäyänabuddhismus dagegen hatte um 200 u. Z., kurz nach der Herausbildung des Nyäya, bestritten, daß ein Erkenntnismittel zu einer Erkenntnis führen könne, da es keine Kausalität und also auoh nicht die von Objekt, Erkenntnismittel und Erkenntnis gebe. Ehe ein Erkenntnismittel ein Objekt erkenne, müsse ein anderes Erkenntnismittel dieses Erkenntnismittel erkannt haben und so weiter in infinitum.5 Darauf antwortete Gautama im Grundtext des Nyäya, daß eine Lampe zum Beispiel als Erkenntnismittel ein Objekt erleuchte und zugleich Objekt einer anderen Erkenntnis sei, da sie zu sehen sei; man käme also beim Erkennen des Erkennens nicht notwendigerweise zu einem regressus in infinitum.6 Mit dieser Diskussion war das Suchen nach einem Kriterium der Wahrheit nahegelegt. Insbesondere Materialisten griffen die religiösen Dogmen des Veda an, die den Theologen als Erkenntnismittel des Wahren dienten. Der Nyäya aber suchte diese Dogmen als richtige Erkenntnismittel dadurch zu erweisen, daß er sie mit Medizin und Magie verglich.7 Dies erläuterte der Kommentator Vätsyäyana « Rüben I V , 170ff. 5 R u ben I V , 175, 194 nach Vigrahavyävartini X X X I . 6 Ruben I V , 175 nach Nyäyasütra 2, 1, 16—18. Vgl. Maitryupanishad V I , 14 und den Gegner Präbhäkaras in: G. Jha, The Präbhäkara School of Pürva Mimämsä, Allahabad 1911, 26. 7 Nyäyasütra 2 a 66. — Nilakantha zu Mahäbhärata X I I , 218, 30 (vulgata): Auch ein Materialist (lokäyata) betet zu einer durch ein mantra (magisch) zu bewegenden
Volksmassen u n d E n t d e c k u n g des K r i t e r i u m s der P r a x i s in I n d i e n
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wie folgt. Der Arzt weist d e n Kranken zu heilenden H a n d l u n g e n an, sagt ihm, w a s er t u n und lassen soll; der Erfolg zeigt die Glaubwürdigkeit des Arztes, die Richtigkeit der Medizin u n d der Unterweisung durch d e n Arzt. — Solche Überlegungen m ö g e n V ä t s y ä y a n a geholfen haben, das Kriterium der Praxis in seiner allgemeinen, grundlegenden B e d e u t u n g zu erkennen. 8 E r w e n d e t e sich wohl vor allem gegen die eben erwähnten buddhistischen Agnostiker, als er u m 400 u. Z. sein Kriterium der Praxis a n d e n Anfang seiner Philosophie stellte u n d lehrte: Mit d e m Erfolg der H a n d l u n g wird die Wahrheit der Erkenntnis bewiesen, werden Objekt, Subjekt, Erkenntnismittel u n d Erkenntn i s 9 als Wirklichkeit erwiesen. 1 0 Wirklichkeit war ihm alles, d. h. Subjektives u n d Objektives, alles, was Gegenstand der Philosophie ist, die, wie er in Anlehnung a n den großen Staatslehrer K a u talya sagte, alle Wissenschaften erleuchtet
Gottheit, u m (Schüttel-)frost oder Fieber a u f h ö r e n zu lassen. Sollte der N y ä y a tatsächlich einen magiegläubigen Materialisten im Auge g e h a b t h a b e n ? 8 Vgl. A n m . 42. 9 Die R e a l i t ä t dieser vier leugnet die VigrahavyävartinI X I V . 10 „ W e n n ein Gegenstand m i t einem E r k e n n t n i s m i t t e l e r k a n n t ist u n d die d a r a u s sieh ergebende H a n d l u n g erfolgreich ist, ist das E r k e n n t n i s m i t t e l mit dem Gegens t a n d v e r b u n d e n (d. h. richtig). Ohne E r k e n n t n i s m i t t e l gibt es j a keine E r k e n n t n i s des Gegenstandes. O h n e Gegenstandserkenntnis ist kein Handlungserfolg. D u r c h d a s E r k e n n t n i s m i t t e l n i m m t wahrlich dies S u b j e k t den Gegenstand wahr, wünscht, ihn zu erlangen oder zu vermeiden. H a n d l u n g n e n n t m a n seine m i t dem W u n s c h des H a b e n - oder Vermeidenwollens verbundene Betätigung. Erfolgreiehsein wied e r u m ist die V e r b i n d u n g dieser (Handlung) m i t der F r u c h t (Erfolg). Der Sichbemühende, den Gegenstand zu erlangen oder zu vermeiden Wünschende, erlangt ihn oder erlangt ihn nicht. Der Gegenstand (oder das Ziel) ist F r e u d e oder G r u n d z u Freude, Leid oder Grund f ü r Leid. Dieser Gegenstand der E r k e n n t n i s m i t t e l ist unzählig, d a die Unterschiede der Lebewesen unzählige sind. I s t aber das E r k e n n t n i s m i t t e l (1) erfolgreich (mit dem Gegenstand verbunden), ist es auch der E r k e n n e n d e (2), der Gegenstand (3) (d. h., er ist tatsächlich der Gegenstand, den d a s S u b j e k t e r k a n n t h a t ) u n d die E r k e n n t n i s (4). W a r u m ? Weil, wenn eines (dieser vier) fehlt, der Gegenstand nicht erreicht wird. Dabei ist der E r k e n n e n d e der, der sich gemäß seinem W u n s c h zu h a b e n oder zu vermeiden b e t ä t i g t . E r k e n n t n i s m i t t e l ist das, durch das er den Gegenstand erkennt. Der e r k a n n t werdende Gegenstand ist der E r k e n n t n i s g e g e n s t a n d . Das E r k e n n e n des Gegenstandes ist die E r k e n n t n i s . Mit diesen vier derartigen ist die Wirklichkeit des Gegenstandes umrissen. W a s aber ist Wirklichkeit (hier nicht unterschieden v o n Wahrheit) ? D a s Sein des Seienden und das Nichtsein des Nichtseienden. Seiendes als seiend e r k a n n t , so, wie es ist, nicht verkehrt, das ist Wirklichkeit, u n d (auch) Nichtseiendes als nichtseiend e r k a n n t , so, wie es ist, nicht verkehrt, ist Wirklichkeit." — Der Begriff tattva = Wirklichkeit bezieht sich hier auf „ E r k e n n e n der Wirklichkeit" (tattvajnäna) als Ziel des N y ä y a in N y ä y a s ü t r a 1 , 1 , 1 u n d 4, 2, 38ff. A u c h das Nichtsein ist n a c h dem Nyäya-Vaisesika real. Sachlich entspricht die Ü b e r s e t z u n g von M. P h a n i b h u s a n a Tarkavagisa, N y ä y a Philosophy, P a r t 1, i n : I n d i a n Studies, P a s t a n d Present, Calcutta 1967, 3 und 5. Vgl. auch R ä n d l e in A n m . 50.
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und damit erst richtige Handlungen auf allen Gebieten des Lebens möglich macht. 1 1 Hundertfünfzig J a h r e später, um 550 u. Z. hat d a n n der nächste große Kommentator des Nyäya, Uddyotakara 1 2 , zu dieser Stelle angemerkt, daß sein Vorläufer Vätsyäyana sich beim Erläutern des Kriteriums der Praxis auf die „in der Welt", d. h. auf die im philosophisch ungebildeten Volk 1 3 allgemein anerkannte Tatsache beruft, daß der Mensch auf Grund von Erkenntnis handelt. 1 4 Diese Tatsache war indischen Philosophen schon lange bekannt gewesen 15 , u n d Uddyotakara sagte im wesentlichen richtig, daß sein Vorläufer mit dem, was wir seit Karl Marx das Kriterium der Praxis nennen, nur das praktische Verhalten der „Welt" in Worte gekleidet habe. 1 6 Dies bezieht sich aber nur auf die volkstümliche Begründung, daß der Mensch nach Erkenntnis handelt, nicht auf das Kriterium der Praxis selber, das philosophisch und als solches nicht volkstümlich ist, denn die Volksmassen philosophieren nicht. Uddyotakara hat weiter nicht gesehen, daß es sich um eine bedeutende Entdeckung seines Vorgängers handelte. Indische Philosophen u n d Theologen hegten und pflegten nämlich allgemein die Illusion, daß alle ihre Gedanken ewig seien. Auch der E n t decker des Kriteriums der Praxis t r a t nicht als dessen Entdecker auf u n d n a n n t e seinen Gegner nicht. E r ahnte nichts von der Bedeutung seiner Leistung u n d davon, daß er nur eine Volkserfahrung, etwas, was dem produzierenden Volk selbstverständlich war, in Philosophie umsetzte. H u n d e r t J a h r e später, um 650 u. Z. etwa, hat dann der Buddhist, und als solcher Idealist, Dharmakirti 1 7 seine formale Logik mit der Konzession an die von Uddyotakara beobachtete Volksmeinung 1 8 begonnen, daß die Erlangung 11
V ä t s y ä y a n a zu N y ä y a s ü t r a 1 , 1 , 1 zitiert den Vers aus dem K a u t a l i y a Arthasästra 1, 2, 12; vgl. R ü b e n VI, 187ff. über K a u t a l y a s Vorstellung v o n Philosophie. •2 R ü b e n I V , 2 4 6 f . 13 W e l t = lolca i m Gegensatz zu Vedenkennern, d. h. Leute, Volk. E i n e „Volksstrophe" über H e d o n i s m u s zitiert M ä d h a v a im „Sarvadarsanasamgraha" i , 19 als die der Materialisten (lokäyata). Buddhistische Idealisten unterschieden zwischen vier A r t e n des Wissens, zwischen der ungeprüften Meinung der „Welt", d e m v e r n ü n f t i g e n (wissenschaftlich-philosophischen), d e m reinen (moralisch unbefleckten) u n d dem höchsten W i s s e n (der Erlösten). Vgl. E . Frauwallner, D i e Philosophie des B u d d h i s m u s , Berlin 1956, 266, 271 f., 281. v ' N y ä y a v ä r t t i k a m 1 , 6 ; 3, 2 4 f f . ; N y ä y a v ä r t t i k a t i k ä 15, 14f., 11, 1 8 f . : svatah—
paratah. 15
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Patanjalis Mahäbhäsya zu Pänini 1, 4, 32: Der Mensch handelt nach E r k e n n t n i s (prekßä); er sieht m i t d e m Verstand irgendein Ding, hat Verlangen nach d e m Gesehenen, entschließt sich g e m ä ß d e m Verlangen, unternimmt e t w a s nach seinem E n t s c h l u ß , sein U n t e r n e h m e n h a t Erfolg, m i t d e m Erfolg erlangt er die F r u c h t (das Ziel). - U m 150 v. u. Z. L o k a v r t t ä n u v ä d a : N y ä y a v ä r t t i k a m S. 4, Z. 3 und 5. W . R ü b e n , Geschichte der indischen Philosophie, Berlin 1954 (im f o l g e n d e n : R ü b e n , Philosophie) 269f. N y ä y a b i n d u t i k ä (hrsg. v o n Th. Stcherbatsky) S. 3, Z. 5: „Richtige Erkenntnis-
V o l k s m a s s e n u n d E n t d e c k u n g des K r i t e r i u m s d e r P r a x i s in I n d i e n
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jedes menschlichen Zieles bzw. Objektes dessen richtige Erkenntnis voraussetzt. 19 Er schloß wohl das religiöse Ziel der durch Mystik zu erreichenden Erlösung ein. Insbesondere habe die sinnliche Wahrnehmung das Wirkliche zum Objekt, und dieses sei wirklich, weil es zweckerfüllende Handlung hervorzurufen fähig sei. 20 Er sagte freilich nicht ausdrücklich, daß die Erkenntnis richtig ist, weil sie die zweckerfüllende Handlung 21 hervorruft. Er definierte nur die Erkenntnis in entsprechender Weise. Wieder ein Jahrhundert später hat Dharmottara diese Stelle kommentiert und entsprechendes auch für die Schlußfolgerung ausgesagt. 22 Schon der junge agnostizistische Idealismus der Buddhisten hatte dem Alltagsbewußtsein der unphilosophischen Massen und deren Welt eine gewisse Realität zuerkannt23, so ähnlich wie schon der älteste Idealismus der „Upanishads"24 ; es handelt sich eben um Formen des objektiven Idealismus. 25 Der buddhistische Agnostizismus hatte keinen Sinnesgegenstand der Sinneswahrnehmung anerkannt. Dharmakïrti war um 650 u. Z. offenbar unter dem Eindruck des Kriteriums der Praxis zu seiner neuen Erkenntnistheorie gekommen. Vermutlich gilt dies schon für Dignäga, den Vorläufer Dharmakïrtis, und dessen „Sauträntikayogäcära". Ganz anders reagierte die Mimämsä, eine uralte Theologie des von der milif ü h r t n i c h t irre, u n d in d e r ' W e l t ' w i r d d a s j e n i g e , d a s ( j e m a n d e n ) ein (ihm) f r ü h e r gezeigtes O b j e k t e r r e i c h e n m a c h t , als n i c h t - i r r e - f ü h r e n d b e z e i c h n e t . " 19 N y ä y a b i n d u 1 , 1 : „ J e d e s E r l a n g e n eines O b j e k t e s (Zieles) d u r c h e i n e n M e n s c h e n s e t z t r i c h t i g e E r k e n n t n i s v o r a u s . Dies w i r d in d i e s e m B u c h b e h a n d e l t . " I n : T h . S t c h e r b a t s k y , B u d d h i s t Logic, B d . 2, L e n i n g r a d 1932 (im f o l g e n d e n : S t c h e r b a t s k y , B u d d h i s t L o g i c 2), 1. 20 S t c h e r b a t s k y , B u d d h i s t Logic 2, 36 ist die U b e r s e t z u n g v o n N y ä y a b i n d u 1, 15 s e h r f r e i . — T h . S t c h e r b a t s k y , B u d d h i s t Logic, B d . 1, L e n i n g r a d 1930 (im f o l g e n d e n : S t c h e r b a t s k y , B u d d h i s t Logic 1), 181: „. . . t h e r e a l is t h e e f f i c i e n t " , vgl. 182 N r . 11; 124, A n m . 6 ; T h . S t c h e r b a t s k y , T h e C e n t r a l C o n c e p t i o n of B u d d h i s t N i r v a n a , L e n i n g r a d 1927, 114: C a n d r a k i r t i l e g t d e m S a u t r ä n t i k a ( D h a r m a k i r t i ) diesen Begriff d e r R e a l i t ä t in d e n M u n d . Vgl. A n m . 48. 21 A b e r S t c h e r b a t s k y , B u d d h i s t L o g i c 1, 6 6 : „ T h e t e s t of r i g h t k n o w l e d g e is i t s e f f i c i e n c y . " Vgl. W . R ü b e n , B e s p r e c h u n g des g e n a n n t e n W e r k e s i n : O r i e n t a l i s t i s c h e L i t e r a t u r z e i t u n g ( = OLZ) 1934, 333, A n m . : „ e f f i c i e n t ist n i c h t d y n a m i s c h , wie S t c h e r b a t s k y m e i n t . " Vgl. A n m . 48. 22 D h a r m o t t a r a S. 3, Z. 15: „Die S c h l u ß f o l g e r u n g l ä ß t ein M e r k m a l (des Gegens t a n d e s ) s e h e n u n d d a r a u f h i n z u einer E n t s c h e i d u n g k o m m e n , sie zeigt ( d a m i t ) d e n G e g e n s t a n d einer B e t ä t i g u n g . " Vgl. S t c h e r b a t s k y , B u d d h i s t L o g i c 2, 5 f . ; vgl. D h a r m o t t a r a S. 3, Z. 2 3 f . ; S. 4, Z. 14ff. n o c h r e c h t u n v e r s t ä n d l i c h . 23 S a m v r t t i s a t y a : S t c h e r b a t s k y , B u d d h i s t Logic 1, 7 0 ; F r a u w a l l n e r , P h i l o s o p h i e d e s B u d d h i s m u s 173, 189, 230. 24 R ü b e n I V , 90 ü b e r vidyä. 25 D h a r m o t t a r a S. 3, Z. 7 : Die E r k e n n t n i s l ä ß t j a n i c h t (den E r k e n n e r ) d e n Gegens t a n d erreichen, i n d e m sie diesen e r z e u g t , s o n d e r n i n d e m sie d e n M e n s c h e n in T ä t i g k e i t s e t z t . Vgl. S t c h e r b a t s k y , B u d d h i s t L o g i c 2, 4, A n m . 3 : g e g e n V i n ï t a d e v a g e r i c h t e t . Vgl. A n m . 36.
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tärischen Demokratie her konservierten vedischen Ritualismus. 26 Aus der Zeit kurz nach Vätsyäyanas Entdeckung des Kriteriums der Praxis ist uns ein etwa 20 Druckseiten langes Zitat aus dem Werk eines anonymen Kommentators 2 7 der Mimämsä bei dem nächsten Kommentator, Sabarasvämin, erhalten. Dieser Anonymus (genannt der Vrttikära) legte das eben entdeckte Kriterium der Praxis am Anfang seines kurzen Textstückes in naiver Form einem Gegner, vielleicht einem Nyäyaphilosophen, in den Mund: Wer, ohne zu prüfen, ob z. B . ein Stück Silber, das man sehe, wirklich Silber oder nur wertloses Perlmutter sei, vorgehe, verfehle sein Objekt (Silber) und komme zu Schaden. Diesem Gegner hielt der Anonymus entgegen: Die Erkenntnis ist als solche, also auch in diesem Falle die Wahrnehmung, richtig, selbst wenn der Irrende sie durch einen Fehler (dosa), etwa der Sinnesorgane mit der Erinnerung an etwas anderes (Silber) verbindet. Er definiert eben Erkenntnis als richtige Erkenntnis, wie es auch die älteren Erkenntnistheoretiker des VaiSesika und Nyäya, der Buddhisten und Jainas taten. Er übernahm auch die Vorstellung des irreführenden Fehlers von jenen und kam damit zu der von ihm noch nicht scharf formulierten Lehre, daß Erkenntnis „aus sich" richtig sei, Nichterkenntnis aber „durch etwas anderes" als die Erkenntnis falsch sei, und dieses Falschsein müsse besonders erkannt werden; er sagte nicht: durch das Kriterium der Praxis. Ihn interessierte als Theologen im Grunde wohl nur, daß sein spezifisches Erkenntnismittel für die Riten, der „ V e d a " (wörtlich: Wissen, statt Glauben!), das Dogma der Religion, seinem Wesen nach richtig sei. Er dachte wohl, daß es, wenn ein Priester es irrtümlich auslege und anwende, keinen Erfolg habe. Für ihn als Ritualisten, der die W e l t in naiver Weise für real hielt, kam es auf kein Kriterium der Praxis im Kampf gegen idealistische Illusionisten an. Immerhin begann hier diese Theologie zur Philosophie zu werden, und der Anonymus schloß eine Widerlegung der buddhistischen Illusionisten an, sodann eine Lehre der Erkenntnismittel, eine Widerlegung der materialistischen und buddhistischen Leugnung der ewigen Seele und eine Diskussion über die Beziehung des Wortes (des Dogmas) zu seinem Sinn. Der den Anonymus zitierende Sabarasvämin erwähnte das Kriterium der Praxis kurz bei der Prüfung der autoritativen Aussage als Mittel der Erkenntnis: Wenn jemand sagt, am Fluß gebe es Früchte, so kann nur die Handlung erweisen, ob diese Mitteilung autoritativ, d. h. richtig, maßgeblich ist. 28 I m 6.-7. Jh. u. Z. haben dann drei Mlmämsälehrer, Kumärila, Prabhäkara und Mandanamiära 29 das Kriterium der Praxis im Sinne jenes Anonymus, aber 26 Rüben IV, 187f. und V I , 218f. 27 Rüben IV, 225ff. und V I , 269f.; L. Schmitthausen, Mandanamiäras Vibhramavivekah, Wien 1965, 157ff. (positivistisch, vgl. Anm. 52). 28 Schmitthausen, Vibhramavivekah 157; vgl. Anm. 38. 29 Über Kumärila: S. A. Dasgupta, History of Indian Philosophy 1, Cambridge 1951, 372ff.; über Prabhäkara: G. Jha, Präbhäkara School 20ff.; über Mandanamisra: Sehmitthausen, Vibhramavivekah 221 ff.
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so systematisch behandelt, wie es von da an üblich blieb. Kumärila schrieb, daß es vier Standpunkte zu diesem Problem gebe: 1. Die Erkenntnis sei „aus sich" richtig, die Nichterkenntnis sei „aus sich" falsch, 2. beides sei „einem anderen" zu verdanken, und dies werde durch Handlung erwiesen, 3. Richtigkeit komme „aus anderem", Unrichtigkeit „aus sich", 4. Richtigkeit komme „aus sich", Unrichtigkeit „aus anderem". 30 Dabei ist Richtigkeit von Als-richtigerkennbar-sein nicht unterschieden. Diese Vierersystematik macht einen künstlichen Eindruck, als wäre sie nicht der historischen Wirklichkeit abgelesen. So ist es fraglich, ob die erste Möglichkeit vom Sämkhya vertreten wurde; dies gab Mädhava später an, als er im 12. Jh. u. Z. diese Vierergruppe in einem Vers des Mimämsäkapitels in seiner „Zusammenfassung aller Philosophien" anführte und erläuterte. 31 Richtig dürfte sein, daß die 2. Lehre die des Nyäya, die 3. die der Buddhisten und die 4. die der Mimämsä gewesen ist.32 Bei der 4. Lehre gibt Mädhava an, daß sie den „Vedakennern" gehöre. A l s ein solcher kommt außer der Mimämsä der Vedänta in Frage, d. h. der objektive Idealismus des Advaita, des idealistischen Monismus des Samkara (8. Jh. u. Z.). 33 Dieser erkennt zwar die zielerreichende Handlung u. a. als Prüfstein richtiger empirischer Erkenntnis an, aber ihm ist der kosmische und indviduelle Geist an sich viel wichtiger als die W e l t der Empirie, und der Geist ist ihm gleich selbstevidenter Erkenntnis 34 , die nicht in Empirie, sondern in Intuition erleb bar ist. Der Geist, diese einzige eigentliche Realität, erscheint nach ihm dreifach als Subjekt, Erkenntnismittel und Objekt eines empirischen Erkenntnisvorganges 35 , aber solche Empirie reicht für die mystische Intuition des Idealisten nicht aus, gilt ihm nur als Erkenntnis niederer Art. Dieser objektive Idealismus wendet sich aber auch gegen den subjektiven Idealismus, dem diese drei Phänomene nur Illusionen des Geistes sind.36. Die Theorie der empirischen Erkenntnis ist im Vedänta nicht besonders ausgebildet.37 Die beiden Theologien, die des vedischen Ritualismus und die der hinduistischen pantheistischen Mystik, die zu den idealistischen Philosophien der Mimämsä und des Vedänta entwickelt wurden, hatten also insofern zu unserem Problem dieselbe Einstellung, als sie beide lehrten, daß Erkennen selbstevident sei. Der mechanische Materialismus (lokäyata) konnte sich im Mittelalter im indischen Despotismus nicht entwickeln, zumal auch die Wissenschaften keine Schmitthausen, Vibhramavivekah 190ff. — Etwas abweichend: Stcherbatsky, Buddhist Logic 1, 66f. 31 Sarvadar^anasarngraha 3, 218ff.; vgl. Anm. 45. 32 Schmitthausen, Vibhramavivekah 190 ff. 33 Rüben IV, 244 und V I , 293. 34 S. Radhakrishnan, Indian Philosophy, Bd. 2, London 1927, 500: „empirical tests . . . like practical efficiency. . ." 35 Ebenda 486. Vgl. Anm. 10: Subjekt, Objekt, Erkenntnismittel und Erkenntnia sind real und erkennbar. 36 Ebenda 497 f. 3? Ebenda 488, 492. 30
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wesentlichen Fortschritte machen konnten. Materialisten durften ihre Philosophie nicht in Schulen ausbauen oder in Büchern niederlegen und verbreiten. Ihre Gegner stellten sie als platten Sensualismus und Hedonismus hin, wie es den Materialisten auch außerhalb Indiens immer wieder erging. Ein solcher Idealist, der oben erwähnte Mädhava, behauptete im 12. Jahrhundert, der Materialismus habe das Kriterium der Praxis abgelehnt. Sein Materialist läßt zunächst einen Gegner (wohl einen Nyäyaanhänger) behaupten, sowohl die Schlußfolgerung von gesehenem Rauch auf ungesehenes Feuer wie auch die autoritative Mitteilung, daß es am Ufer Früchte gebe 38 , veranlaßten zu zweckerreichenden Handlungen, beide seien also Mittel richtiger Erkenntnis, beide erwiesen aber den Materialismus als falsch. 39 Der Materialist lehnt dann diese beiden Erkenntnismittel ab, erkennt nur die Sinneswahrnehmung an, und kommt schließlich zu der Behauptung, man habe jenes Feuer (in Wirklichkeit irgendwie unbewußt) gesehen oder erreiche das (erschlossene) Feuer durch Zufall. Manchmal gebe es zufällige Erfolge ja auch bei Magie, ganz wie in der Medizin.40 Dieser Materialist glaubte an beide, an Magie und Medizin, offenbar ebensowenig wie der wohlhabende, gebildete Städter, dessen Ansicht das Lehrbuch der Liebe, das „Kämasütra", I, 2, 31 wiedergibt: Man sieht hier und da Erfolge der Medizin und Magie. 41 Gautama aber hatte beide gerade als Beweis für die Richtigkeit autoritativer Worte angeführt, und Vätsyäyana hatte sein Kriterium der Praxis auf sie angewendet. 42 Wie aber nicht alle indischen Materialisten Sensualisten waren, wie sich zeigen läßt 4 3 , so könnten einige auch das Kriterium der Praxis anerkannt haben. Niemand hat ja alle erhaltenen Texte durchgearbeitet, schon gar nicht in Bezug auf das Kriterium der Praxis. Nach der Entdeckung dieses Kriteriums hatte um 500 u. Z. etwa das indische Mittelalter als die 3. Hauptperiode der Gangesgesellschaft begonnen, und zwar als ihre Verfallsperiode mit einer 1400jährigen Stagnation, die indessen Verfeinerung im einzelnen nicht ausschloß. So stagnierte auch die Entwicklung des Kriteriums der Praxis. Es wurde in scholastischer Weise in endlosen Diskussionen insbesondere zwischen Nyäya und Mimämsä lebendig erhalten bzw. am Sterben gehindert. In dieser Weise wurde es um 1700 von Annambhatta relativ kurz behandelt. 44 In der ersten Periode des indischen, noch kolonialen Kapitalismus 38 Vgl. Anm. 28. 39 Sarvadaräanasamgraha 1, 66ff. «• Ebenda 1, 1 0 1 - 1 0 3 . 41 W . Rüben, Die gesellschaftliche Entwicklung im alten Indien, Bd. V : Die E n t wicklung der Dichtung, Berlin 1973, 2 1 0 f . ; vgl. W . Rüben, Das Pancatantra und seine Morallehre, Berlin 1959, 261. « Vgl. Anm. 8. 43 D. Chattopadhyaya, Indian Philosophy, New Delhi 1964 (im folgenden: Chattopadhyaya, Philosophy), 188ff. 44 Rüben, Philosophie 312, Anm. 8; vgl. Visvanätha Pancftnana, Bhäsäpariccheda, Benares, samvat 1980, Vers 136 gegen Mlmäinsä.
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(1885—1947) hat d a n n M a h ä d e v R ä j a r ä m B o d a s im Jahre 1896, an A n n a m b h a t t a u n d M ä d h a v a 4 5 anschließend, diese 1400jährige Tradition kurz z u s a m m e n gefaßt noch einmal dargestellt. 4 6 A u s seinem Buch, das damals für die H e b u n g des Nationalbewußtseins der gebildeten Inder, für das W e c k e n d e s Stolzes auf das altindische Kulturerbe i m antikolonialen Befreiungskampf wichtig war, ist diese Tradition i n die bürgerliche positivistische indische u n d außerindische Geschichtsschreibung eingegangen. 1909 z. B . h a t S. Ch. V i d y ä b h ü s a n a das Kriterium der Praxis bei Dharmaklrti wiedergefunden 4 7 , u n d auf i h m f u ß t e vermutlich 1930 Th. S t c h e r b a t s k y 4 8 in Leningrad, der selber K a n t i a n e r 4 9 war u n d deswegen die materialistische B e d e u t u n g des Kriteriums der P r a x i s nicht würd i g e n konnte. D i e s geschah erst 1954 in der D D R i n B e z u g auf V a t s y ä y a n a s E n t d e c k u n g dieses Kriteriums im N y ä y a 5 0 u n d unabhängig d a v o n 1964 i n K a l k u t t a in B e z u g auf J a y a n t a b h a t t a , einen Nyäyascholastiker d e s 9. Jahrhunderts. 5 1 V o n der Indologie der imperialistischen S t a a t e n wird diese bedeut e n d e Leistung d e s alten I n d i e n noch heute nicht richtig gewürdigt. 5 2 « Vgl. A n m . 31. 46 T a r k a s a m g r a h a of A n n a m b h a t t a , ed. b y Y. V. A t h a l y a together with introduction a n d critical a n d e x p l a n a t o r y notes b y M. R . Bodas, B o m b a y 1918 (ursprünglich 1896, s. S. I X , A n m . 1), 184f. 47 S. Ch. V i d y a b h u s a n a , H i s t o r y of t h e Mediaeval School of I n d i a n Logic, C a l c u t t a 1909, 109f.: practical efficiency des in der W a h r n e h m u n g e r k a n n t e n Realen. 48 Vgl. A n m . 20 u n d 21. — Stcherbatsky, B u d d h i s t Logic 1, 60: D h a r m a k l r t i s Definition ist „not very f a r f r o m t h e one accepted in m o d e r n psychology . . . m e n t a l p h e n o m e n a are charakterised b y 'pursuance of f u t u r e e n d s ' " . 49 E r ü b e r n a h m dies von H . J a c o b i , als er in der ersten H ä l f t e der 20er J a h r e in B o n n m i t ihm D h a r m a k l r t i durchsprach u n d ich dabei sein d u r f t e . Dies f e h l t leider in: D. C h a t t o p a d h y a y a , P a p e r s of T h . Stcherbatsky, I n d i a n Studies P a s t a n d Present, Calcutta 1969, I f f . E b e n d a Aufsatz 3, S. 1, A n m . 3: S t c h e r b a t s k y b e n u t z t e Vidhäbhü§ana. — Gerade weil er K a n t nahe s t a n d , begeisterte er sich f ü r D h a r m a klrti bzw. Dignäga u n d stellte deren Agnostizismus sogar noch höher als den von K a n t , Berkley u n d Mach (Buddhist Logic 1, 536ff.: I n d o - E u r o p e a n S y m p o s i u m on t h e Reality of t h e E x t e r n a l World). Über H . J a c o b i vgl. R u b e n IV, 309, A n m . 93. E s war fortschrittlich, d a m a l s im katholischen B o n n K a n t i a n e r zu sein. so R u b e n , Philosophie 243f. - O. Strauß, Indische Philosophie, M ü n c h e n 1925, 175 ohne K r i t e r i u m der Praxis. — H . N . Rändle, I n d i a n Logic in t h e E a r l y Schools, London 1930, 49—53 über V ä t s y ä y a n a (aber dessen erster Satz ist falsch übersetzt) u n d K u m ä r i l a ; R ä n d l e h a t die B e d e u t u n g des K r i t e r i u m s der P r a x i s nicht erkannt. 51 C h a t t a p o d h y a y a , Philosophy 167, 178; vgl. D a s g u p t a , Philosophy 1, 373, A n m . 1 nach J a y a n t a b h a t t a . — K . D a m o d a r a n , I n d i a n T h o u g h t , a Critical S t u d y , B o m b a y 1967, 162 e r w ä h n t n u r : „Valid knowledge led t o successful a c t i v i t y " . 52 D. Riepe, The Naturalistic Tradition in I n d i a n T h o u g h t , Seattle 1961, b e h a n d e l t leider den N y ä y a nicht, u n d beim Vaise§ika in dessen E r k e n n t n i s t h e o r i e nicht unser Problem (231 ff.), obgleich er dem Marxismus n a h e s t e h t . — U b e r Schmitthausen, V i b h r a m a v i v e k a h vgl. R u b e n in: OLZ 1969, 189. — A. K . W a r d e n , Outline of I n d i a n Philosophy, Delhi-Varanasi-Patna 1971, l ä ß t Dignägas Schule 17
Gesellschaftsformationen
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WALTER HUBEN
Die Entdeckung des Kriteriums der Praxis war in Indien ein Ergebnis des Klassenkampfes, wie es alle Erscheinungen der Kultur der Klassengesellschaften sind. Wir können uns das in folgender Weise ausmalen. Die Ideologie der staatlichen Ausbeuter lehrte die Volksmassen den Glauben an Erlösung und den Verzicht auf alles Handeln, insbesondere auf die körperliche Arbeit. Sie lehrte weiter den Glauben an die unfehlbare Intuition gewisser Autoritäten als Quelle des Glaubens, damit an Agnostizismus und Idealismus zur scheinbaren Erkenntnis der Nichtigkeit des irdischen Jammertals. Andere Idealisten bzw. Theologen lehrten Glauben an den „Veda" als unfehlbare Autorität gewisser Kulte. Glaube verschiedener Art war die Antwort der Ausbeuter, war der Inhalt ihres ideologischen Druckes von oben auf den sozialen und moralischen Druck der Volksmassen von unten. Die Massen aber brauchten Anerkennung ihrer Arbeit und der Realität und Erkennbarkeit der Welt. Sie brauchten Kritik am eingeimpften Glauben, sie brauchten Wissen, das richtiges Handeln ermöglichte und durch praktischen Erfolg als richtig erweisbar wurde. Sie konnten in ihrer aufgezwungenen Unbildung solche Bedürfnisse nicht formulieren, nicht philosophieren. Sie brauchten dafür die Intelligenz einer Schicht der Ausbeuter, die unter der Ausbeutung moralisch litt und sich einerseits auf das Verhalten und die Weisheit des Volkes zu berufen bereit war, andererseits hier und da dachte und lehrte, was die Massen brauchten u. a. eine dem Materialismus möglichst nahe kommende Philosophie. So gehört das Kriterium der Praxis in den Kampf des Wissens gegen den Glauben, diese wichtige Seite des Klassenkampfes. Aber es gab in Indien keine revolutionären Volksmassen, sondern nur verelendete, durch Ausbeutung zu Pessimismus getriebene Dorfgemeinden, dazu Handwerker und Dienstleistende in Städten. Diese Massen wollten nicht Wissen und Anerkennung ihrer Arbeit, sondern brauchten sie objektiv, u. a. auch das Kriterium der Praxis. Ähnlich und zugleich anders war die Lage in Europa. Dort war etwa um 1830 die Arbeiterklasse so weit herausgebildet und so revolutionär geworden, daß sie gewissen Kreisen der bürgerlichen Intelligenz erkennbar wurde. Damals ergriff bürgerliche revolutionäre Intelligenz die Partei des sich formierenden Industrieproletariats, und 1845 definierte Karl Marx in der 2. These gegen Feuerbach das Kriterium der Praxis.53 Er widerlegte damit den idealistischen Agnostizismus,
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(ohne Dharmaklrti oder V ä t s y ä y a n a zu nennen), a pragmatic criterion of truth' aufstellen (10) und erwähnt bei der Mimäipsä deren Lehre der selbstevidenten (inherently correct) Erkenntnis (173), ohne beide Stellen zu verbinden. Marx-Engels, Werke Bd. 3, Berlin 1959, 5: „Die Frage, ob dem menschlichen D e n k e n gegenständliche Wahrheit zukommt, ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, i. e. die Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder NichtWirklichkeit des Denkens — das von der Praxis isoliert ist — ist eine rein scholastische Frage." — Vgl. Philosophisches Wörterbuch, Leipzig 1969 (im folgenden Phil. Wb.), 2, 626f.; Grundlagen der marxistisch-leninistischen Philosophie, Berlin 1971 (im folgenden: Grundlagen), 199ff. Marxistische Philosophie, Lehrbuch, Berlin 1967 (im folgenden: Lehrbuch), 595f.
Volkemassen und E n t d e c k u n g des Kriteriums der Praxis in Indien
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der von Berkeley über Hume bis Kant nur die Sinnesempfindungen für real und erkennbar hielt, nicht die ihnen zugrundeliegenden Sinnesgegenstände, wie Lenin 1908 in „Materialismus und Empiriokritizismus" Kap. II, 6 dargelegt hat. Dieser Agnostizismus ähnelte dem altindischen, buddhistischen (nirälambanaväda). Der wesentlich entwickelteren gesellschaftlichen Lage entsprechend, hat das Marxsche Kriterium der Praxis eine wesentlich höhere Qualität als das altindische. K. Marx hatte die kapitalistisch-technische Praxis der industriellen Produktion als Revolutionär vor Augen, nicht aber das bloße Handeln der „Welt". Für Marx handelt es sich nicht mehr nur darum, die Welt zu erkennen, sondern sie handelnd zu verändern, wie er in der 11. These betonte. Den dem Materialismus nahestehenden indischen Philosophen aber ging es nicht um die Frage einer gesellschaftlichen Revolution und nicht einmal um die Revolutionierung der Philosophie, denn Nyäya und Buddhismus behielten trotz ihres Kriteriums der Praxis den scholastischen Charakter ihres Philosophierens wie die anderen Systeme bei, den sie alle — außer den Materialisten — als „Mägde der Theologie" in der 3. Hauptperiode der Gangesgesellschaft annahmen, soweit sie ihn nicht schon vorher hatten. 54 Es ging dem Nyäya und diesen Buddhisten, die das Kriterium der Praxis vom Nyäya übernahmen, nur darum, die von ihnen sowieso für ihr System jeweils als richtig anerkannten Erkenntnismittel theoretisch, abstrakt als richtig erweisen zu können. Sie behandelten keine konkreten Fälle des Erkennens, sie suchten nicht, eine Hypothese durch die Praxis des Experiments zur wissenschaftlichen Theorie auszugestalten, sie verlangten nicht, daß die Philosophie mit den Erkenntnissen der Wissenschaften übereinstimmen müsse. Im späteren kapitalistischen Europa stellten Idealisten wie ihre indischen typologischen Analoga gegen dieses Kriterium der Praxis die idealistische Lehre, daß das Erkennen selbstevident sei und keines Kriteriums der Praxis bedürfe.55 Im einzelnen taten sie dies wiederum in anderer Weise als die altindischen Idealisten ; und manche Europäer gingen wie manche Inder von der Vorstellung aus, daß man beim Prüfen der Wahrheit einer Erkenntnis durch eine andere zum regressus in infinitum gelange. 56 Jedenfalls lebte idealistischer Agnostizismus in Indien und Europa trotz der Entdeckung des Kriteriums der Praxis weiter; nicht allein Erkenntnis, sondern Klassenkampf bedingte und bedingt den Kampf der Philosophen. Der Kampf des Wissens gegen den Glauben wird auch auf diesem Teilgebiet weitergehen, wird sogar in der klassenlosen Gesellschaft der Zukunft zumindest in der heute schon wichtigen Form des Kampfes neuer Erkenntnis gegen überholte, überkommene, geglaubte Erkenntnis weiterleben. Es handelt sich offenbar um eine Gesetzmäßigkeit, daß auf gewisser Höhe der gesellschaftlichen Entwicklung unter entsprechendem Druck von unten und 54 55
E t w a seit dem buddhistischen Abhidhamma im 3. Jh. v. u. Z. (Rüben IV, 148ff.). Epikur (vgl. Anm. 57), Descartes, Spinoza, Neopositivismus: Phil. W b . 626; Lehrbuch 596.
56 Grundlagen 199; Lehrbuch 596.
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WALTER R U B E N
oben daa Kriterium der Praxis gesellschaftlich gebraucht wird. Dieses Kriterium der Wahrheit ist anscheinend von den alten Griechen nicht entdeckt worden 57 ; bei diesen waren die agnostizistischen Elemente einiger Sophisten dafür nicht ausreichend ausgeprägt, nur im altorientalischen Indien und im kapitalistischen Europa in zwei typologischen Analogien. Deren Untersuchung ist auch für das Verständnis eines allgemeinen Problems der Gesetzmäßigkeit 5 8 nützlich. Das Kriterium der Praxis gehört nämlich, wie oben erwähnt, als ein Teilgebiet in den Kampf des Wissens gegen den Glauben, der zu den allgemeinsten Gesetzmäßigkeiten aller Klassengesellschaften gehört. Eine der Formen dieses Kampfes ist der Kampf der materialistischen gegen die idealistischen Philosophen, der nur in einigen Klassengesellschaften geführt wurde, einerseits in Indien und in Ost-, Süd- und Innerasien, soweit Buddhismus dorthin Philosophie brachte, andererseits in Griechenland 59 und Rom, weiter im Feudalismus und Kapitalismus, also schließlich weltweit, aber nicht in den alten nicht-indischen orientalischen Gesellschaften, ehe der Hellenismus, das römische Imperium oder der Islam dorthin Philosophie brachten. Hier handelt es sich daher nur noch um allgemeine Gesetzmäßigkeit. Es ist weiter eine besondere Gesetzmäßigkeit, daß der Kampf des Materialismus gegen den Idealismus nur in zwei Klassengesellschaften zur Entdeckung des Kriteriums der Praxis geführt hat. Und schließlich sind Inhalt und Form dieses Kriteriums in beiden Gesellschaften einzigartig und entsprangen einzigartigen Gesetzmäßigkeiten der beiden gesellschaftlichen, insbesondere der philosophischen Entwicklungen. Der Kampf der Materialisten und Idealisten mußte, ehe es zum Aufstellen des Kriteriums der Praxis kam, bis zum konsequenten Agnostizismus, zur Negation allen Wissens über die realen Gegenstände in Alltagsbewußtsein, Wissenschaft und Philosophie geführt und damit die Negation der Negation des Wissens im Kriterium der Praxis hervorgerufen haben. Der konsequente Agnostizismus aber wurde in Indien in Buddhismus und Vedänta, aber nicht in Griechenland, vertreten, weil der Druck von unten die Demagogie der Mitleidsreligion für die Ausbeuter notwendig machte, als utopische Gläubige davon schwärmten, daß märchenhafte Despoten ihr Leben für das Wohl leidender Untertanen geopfert hätten. Damals waren die Volksmassen dank ihrem Druck von unten in einem gewissen sozialen und ideologischen Aufstieg begriffen, der um 400 u. Z. etwa, also gleichzeitig mit dem Kriterium der Praxis, den Humanismus eines Kälidäsa 57
Epikur z. B . w u ß t e , e t w a s weitergehend als der u m 200 Jahre jüngere P a t a n j a l i (vgl. A n m . 15), daß alles Erkennen d e m H a n d e l n dient (Griechische A t o m i s t e n , R e c l a m 1973, 91), d e m W ä h l e n v o n Lust und d e m Meiden v o n Leid (301). U m richtig zu handeln, braucht m a n richtige Erfahrung (301 f.), aber die R i c h t i g k e i t des Erkennens ergibt sich ihm aus seinem Sensualismus, daraus, daß die Sinne ihre Objekte richtig widerspiegeln und W a h r n e h m u n g e n und A b s t r a k t i o n e n selbstverständlich sind (92ff.), nicht aus d e m Kriterium der Praxis. Er unterschied nebenbei 'wahr' und 'richtig' nicht (95), s o w e n i g wie V ä t s y ä y a n a (vgl. A n m . 10). 58 Phil. W b . 447; Grundlagen 263; Lehrbuch 3 1 0 f f . ; 301. 59 R ü b e n IV, 13ff., 9 7 f f . u s w . ; R ü b e n V I , 120f., 162f. usw.
Volksm assen und Entdeckung des Kriteriums der Praxis in Indien
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ermöglichte, als die Gangesgesellschaft ihren Höhepunkt erreichte. Die Entdeckung des Kriteriums der Praxis hing offenbar mit dem Aufblühen dieses Humanismus zusammen. In Europa aber stellte K. Marx das Kriterium der Praxis gegen die Agnostiker auf, als utopischer Sozialismus nicht mehr ausreichte, die revolutionären Elemente der sich ihrer selbst bewußt werdenden Arbeiterklasse zu führen, als wissenschaftlicher Sozialismus notwendig und möglich wurde. Dieser utopische Sozialismus war ein typologisches Analogen zur utopisch-religiösen Tröstung im alten Indien. Aber warum idealistischer Agnostizismus in europäischer Aufklärung des 18. Jahrhunderts, also beim Übergang von Feudalismus zu Kapitalismus, in Indien aber kurz vor dem Höhepunkt der Gangesgesellschaft in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung gesellschaftlich notwendig wurde, bedarf noch der Klärung. Warum erfolgte ein analoger Vorgang in gänzlich verschiedenen Phasen der beiden Gesellschaften? So lassen sich schon einige Bedingungen andeuten, die in den beiden ganz verschiedenen Völkern, Zeiten, Räumen und Gesellschaftsformationen bei Verschiedenheit der Volksmassen und der ihnen dienenden Intellektuellen das Aufstellen der beiden Formen des Kriteriums der Wahrheit bewirkten, ja in verschiedenen Perioden dieser beiden Gesellschaftsformationen, handelt es sich doch in Indien um die 2. Hauptperiode der Gangesgesellschaft von 325 v. u. Z. bis 500 u. Z., in Europa aber um die 1. Periode des Kapitalismus von 1789—1871. Immerhin gehören beide Perioden zum Aufstieg der beiden Gesellschaftsformationen zu ihrem Höhepunkt. Selbst wenn die alten Inder um 400 das Kriterium der Praxis nur mit einer niederen Qualität aufstellen konnten, als es K. Marx 1845 möglich war, so ist es doch eine ihrer großen Leistungen und gehört zum kulturellen Erbe des alten Indien, das in den heutigen schweren ideologischen Kämpfen in Indien eine Rolle zu spielen hat, auf das aber auch wir als wissenschaftliche Sozialisten, als sozialistische Internationalisten und Freunde Indiens stolz sind.
Polisdemokratie und Tragödie Von
H E I N B I C H KTTCH
(Berlin)
Wer die griechische Polisdemokratie untersuchen will, sieht sich sogleich der Frage nach den Volksmassen gegenüber. Daher erscheint zunächst eine theoretische Klärung notwendig, welche Klassen und Schichten in der Polis Athen des 5., aber auch schon des 6. Jahrhunderts v. u. Z. unter den Begriff Volksmassen fallen. Zwei Kriterien, die in der vorausliegenden wissenschaftlichen Diskussion bereits eine Rolle spielten, können hier produktiv gemacht werden. Da ist einmal das Kriterium der Arbeit und zweitens das Kriterium des objektiv progressiven Handelns.1 Nach diesen Merkmalen sind die Volksmassen die Produzenten der materiellen und ideellen Werte sowie die Klassen und Schichten, deren Handeln objektiv den historischen Fortschritt durchsetzt.2 Im Bewußtsein, daß sich die schöpferischen Aktivitäten der Volksmassen nicht auf die Produktion von materiellen Gütern reduzieren lassen, soll dennoch — zum Zweck der Analyse — ein kurzer Blick einmal ausschließlich auf die materiell produktive Tätigkeit im Athen des 6. und 5. Jahrhunderts geworfen werden. Dabei werden folgende gesellschaftliche Kräfte als Volksmassen deutlich : erstens der attische Demos, und zwar im engeren Sinne des Begriffs Demos die kleinen und mittleren Bauern, Handwerker und Kaufleute unter Ausschluß der oberen Schichten des Demos. Zweitens kommen die Sklaven ins Blickfeld, wobei zu bemerken ist, daß gerade durch die Sklaven, wenn nicht sohon gegen Ende des 6., so doch in jedem Fall im 5. Jahrhundert die Produktion der materiellen Güter erheblich gesteigert wird.3 Und drittens können die Metöken, die 1
Vgl. Philosophisches Wörterbuch, herausgegeben von G. Klaus und M. Buhr, 2, 10. A u f l . Leipzig 1974,1270. M. Kagan, Vorlesungen zur marxistisch-leninistischen Ästhetik, 3. Aufl. Berlin 1974, 624. — Zur Auseinandersetzung mit bürgerlichen Auffassungen des Terminus „Masse" vgl. I. S. Kon, Soziologie der Persönlichkeit, Berlin 1971, 360-367.
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W i e das Theorem, daß die Menschen die Geschichte machen, keineswegs ihrer Eigenschaft als Produkte der Geschichte widerspricht, erläutert L . Sève, Marxismus und Theorie der Persönlichkeit, 2. Aufl. Berlin 1973, 121-127. Ü b e r die Massen von Barbarensklaven im Griechenland der Pentekontaetie vgl. bereits B . Büchsenschütz, Besitz und Erwerb im griechischen Alterthume, Halle 1869, 117—122, wo sich die einschlägigen Quellen zusammengestellt finden. W . L . Westermann, The slave systems of Greek and R o m a n antiquity, Philadelphia 1955, 6f. M. I. Finley, W a s Greek civilization based on slave labour?, in: Slavery
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ansässigen Freien ohne Bürgerrecht, nicht übersehen werden, soweit sie in den unmittelbaren Arbeitsprozeß mit einbezogen sind. E s muß aber sogleich daran erinnert werden, daß mit Rücksicht auf methodische Gründe die geistige und künstlerische Produktion ausgeklammert wurde, die jedoch integrierender B e standteil im Schaffen der Volksmassen ist. Bei der Untersuchung größerer Zusammenhänge schlußfolgert M. Kagan mit R e c h t : „Homer und Phidias . . . gehören zum Volk und repräsentieren das Volk in nicht geringerem Maße als die Sklaven und die Handwerker." 4 Wenn jetzt nach der Anwendung des Kriteriums der Arbeit das zweite Kriterium für die Zugehörigkeit zu den Volksmassen herangezogen wird, nämlich das objektiv progressive Handeln, so ist zu den Volksmassen vor allem wieder der Demos zu zählen, hier indessen unter Einschluß der oberen Schichten des Demos. E s war der Demos, der in den Klassenkämpfen mit den grundbesitzenden Aristokraten die Polisdemokratie als progressive politische Form durchsetzte. D a ß der Demos im 6. Jahrhundert vom athenischen Tyrannen Peisistratos maßgeblich gefördert wurde, darf ebensowenig außer acht gelassen werden wie die Verbindung, die die an Produktion und Handel interessierten aristokratischen Geschlechter, wie etwa die Alkmeoniden, bereits vor dem Sturz der athenischen Tyrannenherrschaft (510 Vertreibung des Hippias) mit dem Demos eingingen. Angehörige jener Aristokratie wie der Alkmeonide Kleisthenes, Themistokles aus dem Hause der Lykomiden und besonders Perikles, mütterlicherseits den Alkmeoniden zugehörig, standen bis in das letzte Drittel des 5. Jahrhunderts hinein an der Spitze des Demos. Bei der Herausbildung der attischen Demokratie spielten dagegen weder die Sklaven noch die Metöken eine unmittelbar politisch progressive Rolle. Schon aus diesen Überlegungen wird ersichtlich, wie kompliziert die Frage nach den Volksmassen im Athen des 6. und 5. Jahrhunderts ist. E s erscheint indessen bemerkenswert, daß bei der Analyse sowohl das Kriterium der Arbeit wie auch das Kriterium der objektiven historischen Progressivität auf die mittleren und unteren Schichten des Demos zutrafen. Daher ist es legitim, diese Schichten des attischen Demos als Kern der Volksmassen zu verstehen. I n welchem Maße der Demos aber gerade in seinem Verhältnis zur Arbeit und zum historischen Fortschritt durch Widersprüche geprägt ist, kann hier, so reizvoll es wäre, nicht im einzelnen ausgeführt werden. Deshalb müssen kurze Hinweise genügen. Zunächst zur Arbeit! Seit der Perikleischen Zeit wurden für die Ausübung bestimmter staatlicher Funktionen Diäten gezahlt, so daß sich auch die unteren Schichten in die Lage versetzt sahen, am politischen Leben teilzunehmen. in classical antiquity. Views and controversies, edited by M. I. Finley, Cambridge u. New York 1968 (Nachdruck der Ausgabe von i960 mit Supplement zur Bibliographie), 53-72, besonders 60 ( = Historia 8, 1959, 145-164). Vgl. schließlich I. A. Sisova, IIopaSomeHHe BoeHHonneHHHX B TpeijHH V-IV BB. HO H. a., in: D. P. Kallistov, A. A. Nejchardt, I. S. Sifman, I. A. Sisova, PaßcTBo Ha nepmJiepHH aHTHHHoro MHpa, Leningrad 1968, 49—92, besonders 62. 4 Kagan, Vorlesungen 624.
Polisdemokratie und Tragödie
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Die finanziellen Zuwendungen, als Ausgleich für den Verdienstausfall gedacht, ermöglichten bis zu einem gewissen Grade eine Freistellung von der materiellen Produktion. Einen wichtigen Aspekt bietet ferner, bei aller auf diesem Problemfeld gebotenen Differenzierung, die Ausnutzung von Sklavenarbeit. Daß auch einfache Athener nicht selten Sklaven hatten, wenn auch nur einen oder vielleicht zwei, legt die Aristophanische Komödie nahe wie später die attischen Redner. Die partielle Befreiung von der materiellen Produktion und die Verwendung von Sklaven lassen die Widersprüchlichkeit erkennen, von der das Verhältnis des attischen Demos zur Arbeit gekennzeichnet ist. Eine ähnliche Widersprüchlichkeit liegt über der Relation des attischen Demos zum progressiven Handeln. Die finanziellen Mittel zur Aufrechterhaltung und Entwicklung der Polisdemokratie flössen in besonderem Maße aus den Tributen der athenischen Bundesgenossen, die seit der Mitte der 50er Jahre auf die Stufe von Untertanen herabsanken. Die Polisdemokratie für die Athener implizierte die Unterdrückung der unterprivilegierten Bundesgenossen, und um so schärfer wurden in der Bürgerrechtsfrage die Fronten gezogen. 451/50 kam ein Gesetz durch, nach dem athenischer Bürger nur sein konnte, wer sowohl väterlicherseits als auch mütterlicherseits von athenischen Bürgern stammte. Durch die Einschränkung des Bürgerrechts ebenso wie durch ein zähes Festhalten am Polisstatus stemmte sich der attische Demos gegen eine qualitative Weiterentwicklung der politischen Verhältnisse, so daß grundlegende Voraussetzungen für die Poliskrise entstanden. Für die hier interessierenden Zusammenhänge bleibt in jedem Fall die Dialektik von Progressivität und Konservativität des attischen Demos zu beachten. Wenigstens erwähnt werden muß noch eine historische Grundvoraussetzung der Polisdemokratie Athen. Dem attischen Demos war nicht nur gegenüber den Bundesgenossen eine elitäre Stellung gesichert — er hatte auch gegenüber den anderen Klassen innerhalb der athenischen Volksmassen einen exklusiven Charakter; denn durch den Besitz des Bürgerrechts sowie der daraus resultierenden politischen Privilegien grenzte er sich scharf von den Metöken ab — auch die eigenen Frauen waren politisch unterprivilegiert —, während der Demos, zusammen mit den freien Frauen und den Metöken, durch den rechtlichen Status der Freiheit von der Klasse der Sklaven getrennt war. Das bedeutet, daß die athenischen Volksmassen keineswegs eine geschlossene Einheit bildeten. Unter den Bedingungen der antiken Gesellschaftsformation standen die Freien und Sklaven innerhalb der Volksmassen zueinander in einem antagonistischen Verhältnis. Doch nicht nur die Volksmassen im ganzen sind durch erhebliche Unterschiede gekennzeichnet, auch der Demos selbst ist von einer prononcierten sozialen Ungleichheit geprägt — trotz aller Versuche der offiziellen Ideologie, ein verklärtes Bild von der Geschlossenheit der Polisbürger zu zeichnen, wie es beispielsweise in der Gefallenenrede des Perikles bei Thukydides begegnet. Die Ungleichheit der Eigentumsverhältnisse kommt in der auf dem verschiedenen jährlichen Einkommen beruhenden Struktur der vier Solonischen Klassen unmißverständlich zum Ausdruck, und von diesen sozialökonomischen Unter-
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HEINRICH K U C H
schieden innerhalb des Demos leiteten sich ungleiche politische Rechte ab. Erst 487/86 erhielt die 2. Solonische Klasse Zutritt zum Archontat, während die Zeugiten, d. h. die 3. Solonische Klasse, fast eine Generation später (458/57) zur höchsten staatlichen Funktion zugelassen wurden. Dagegen vermochten die Theten, die 4. Klasse, als solche niemals das passive Wahlrecht zu erlangen.5 Ein Differenzierungsprozeß, der in der Phase der beginnenden Poliskrise einsetzte, verschärfte die bestehenden gesellschaftlichen Unterschiede, bis gegen Ende des 5., Anfang des 4. Jh. die unteren Schichten des Demos durch eine nahezu unüberbrückbare Kluft von der Oberschicht getrennt waren — obwohl die attische Demokratie seit den Reformen des Kleisthenes (ca. 508/7) in zunehmendem Maße auf eine breitere Grundlage gestellt worden war. Wenn im Vorhergehenden immer wieder von den Volksmassen in Athen die Rede war, so erscheint spätestens an dieser Stelle die Warnung vor zu hoch angesetzten numerischen Vorstellungen angebracht. Die Zahlen, um die es sich hier handelt, sind vergleichsweise niedrig, jedenfalls gemessen an modernen Verhältnissen. Für das Jahr 431, d. h. für die Blütezeit Athens vor dem Ausbruch des Peloponnesisehen Krieges (431—404), wurde die Gesamtbevölkerung Attikas von A. W. Gomme auf 315500 geschätzt. Davon waren 172000 Bürger (43000 [?] Männer im Alter von 18 bis 59), 28500 Metöken (9500 [?] Männer im eben genannten Alter) und 115000 Sklaven.6 Die attische Gesamtbevölkerung von 315500 aus dem Jahr 431 fiel in den ersten sechs Kriegsjahren, in denen zweimal die Pest ausbrach, nach Gommes Angaben um fast 100000, so daß sie im Jahr 425 218000 betrug.7 Etwa 100 Jahre später (323) war die Gesamtbevölkerung Attikas auf 258000 gestiegen, ohne daß die Höhe aus dem Jahr 431 wieder hätte erreicht werden können.8 Erst nachdem die komplizierten historischen Voraussetzungen, wenigstens in groben Umrissen, skizziert sind, kann die Aufmerksamkeit nunmehr dem Verhältnis der Polisdemokratie zur Tragödie zugewandt werden, und was hierzu 5
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H . Bengtson, Griechische Geschichte von den Anfängen bis in die römische Kaiserzeit, 4. Auflage München 1969, 200. A. W . Gomme, The population of Athens in the fifth and fourth centuries B . C., Oxford 1933 (Glasgow University publications 28), 26. Gommes Berechnungen wurden aufgenommen von J . Vogt, Sklaverei und Humanität im klassischen Griechentum, Sklaverei und Humanität. Studien zur antiken Sklaverei und ihrer Erforschung, 2. Auflage Wiesbaden 1972 (Historia, Einzelschriften 8), 3. Vgl. ebd. Anm. 3 weitere Literatur. Gomme, The population of Athens 26. Dort auch die Aufschlüsselung auf die einzelnen Klassen für 4 2 5 : 116000 Bürger ( 2 9 0 0 0 [?] Männer im Alter von 18 bis 59), 2 1 0 0 0 Metöken ( 7 0 0 0 Männer im eben angegebenen Alter), 8 1 0 0 0 Sklaven. Nach Gomme ebd. hat sich 323 gegenüber dem Stand von 4 2 5 die Zahl der Metöken verdoppelt und die der Sklaven auf 104000 erhöht, während bei den Bürgern trotz des Anwachsens der Gesamtbevölkerung eine rückläufige Tendenz zu beobachten ist: 112000 Bürger ( 2 8 0 0 0 Männer im Alter von 18 bis 59) — insofern die Berechnungsgrundlagen dieser Zahlen den letzteren Schluß zulassen.
Polisdemokratie und Tragödie
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ausgeführt wird, muß bei der Komplexität der Thematik in diesem Rahmen ebenfalls skizzenhaft bleiben. Die Polisdemokratie Athen des 5. Jahrhunderts war trotz aller Widersprüche die fortgeschrittenste Form gesellschaftlicher und politischer Organisation in der alten Welt, denn sie erschhloß dem Demos neue, bis zu dieser Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung nicht erreichte Wirkungsmöglichkeiten im politischen und kulturellen Leben. Auf dem Boden der Polisdemokratie blühte in Athen eine Kultur auf, deren realistische und humanistische Ausprägungen — in Kunst, Literatur, Philosophie und Wissenschaft — den progressiven politischen Leistungen entsprachen. Unter den kulturellen Errungenschaften der attischen Kultur nimmt die Tragödie einen hervorragenden Platz ein. Bereits bei der Entstehung der Tragödie im 6. Jahrhundert spielte der Demos eine bedeutsame Rolle. So tief die Anfänge des tragischen Spiels auch im Dunkeln liegen9, berechtigt doch Aristoteles, Poetik 1449 a 9—31, im Dithyrambos, dem Kultlied des Dionysos, eine Wurzel der Tragödie zu sehen. Ein weiteres dionysisches Element, das „Satyrhafte" (ro oarvQixöv) — die ursprünglich selbständigen Satyrn wurden zu Begleitern des Dionysos —, darf ebenfalls nach Aristoteles als eine Wurzel der Tragödie gelten. Dionysos, den Gott der Fruchtbarkeit und des Weins, verehrten naturgemäß besonders die bäuerlichen Schichten des Demos. Daß der Dionysos-Kult von den Tyrannen gefördert wurde, und zwar nicht nur in Athen, sondern nachweislich auch in Korinth und Sikyon, läßt sich aus ihrer Kulturpolitik erklären10, die darauf gerichtet war, den Demos gegen die Aristokratie zu unterstützen. Reichen die Anfänge der Tragödie auch in das 6. Jahrhundert zurück, so vermochte sie sich doch erst unter den Bedingungen und Anforderungen der Polisdemokratie des 5. Jahrhunderts zur höchsten Blüte zu entfalten. Die Tragödie war wie die Komödie eine in starkem Maße volksverbundene Kunstgattung, insofern sich hier „Volk" mit dem Demos gleichsetzen läßt. Ja, sie war so fest in die Polisdemokratie integriert, daß sie sich schon im frühen 5. Jahrhundert zu einer spezifischen Form des gesellschaftlichen Bewußtseins entwickelte. Dabei blieb die Tragödie — wieder ebenso wie die Komödie — keineswegs auf die Widerspiegelung der historischen Realität beschränkt, sondern wirkte als ein aktiver Faktor der Ideologiebildung nachhaltig auf die gesellschaftliche Praxis der Polis ein. In dieser Funktion diente die attische Tragödie dem Selbstverständnis der Polisbürger. Die Aufführung von Tragödien wie auch von Komödien war in mehrfacher Hinsicht eine politische Angelegenheit. Da ist zuerst die staatliche Organisation der dramatischen Aufführungen zu nennen. Sie fanden in der Form öffentlicher musischer Wettkämpfe statt. Mit der Leitung des Agons an den Städtischen oder Großen Dionysien im Elaphebolion (März/April), an denen drei Tage, der Souveräne Behandlung der Ursprungsprobleme der attischen Tragödie und Diskussion neuerer Lösungsversuche bei A. Lesky, Die tragische Dichtung der Hellenen, 3. Auflage Göttingen 1972, 17-48; vgl. Gnomon 44, 1972, 199-202. 10 Vgl. Lesky, Die tragische Dichtung 42f., 41, 38f. mit Belegen. 9
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11. bis 13. dieses Monats, für die Tragödie zur Verfügung standen 11 , war der Archon Eponymos betraut 1 2 , der, offiziell an der Spitze des Staates, dem Jahr, in dem er amtierte, seinen Namen gab. I n die Jahre 536/35 bis 534/33 fällt die erste überlieferte staatliche Tragödienaufführung, die des Thespis. 13 Das Prinzip der staatlichen Organisation galt seit etwa 440 auch für die Lenäen im Gamelion (Januar/Februar), eigentlich das Fest der Komödie, das dann aber bald — in jedem Fall einige Zeit vor 420/19 1 4 — ebenfalls die Inszenierung tragischer Dichtungen im Programm hatte, was mit Recht auf die wachsende Produktion von Tragödien zurückgeführt worden ist. Für den Agon an den Lenäen war der (Archon) Basileus verantwortlich 15 , in dem die alte königliche Macht, jedoch auf sakrale Funktionen beschränkt, fortlebte. Wer sich an einem dramatischen Agon beteiligen wollte, hatte bei dem zuständigen Archon wegen Gewährung eines Chors einzukommen, XOQOV alz EI V, wie es im Griechischen heißt. 16 Aus der Zahl der Bewerber wurden — während des 5. Jahrhunderts und wahrscheinlich, mit Ausnahme weniger Jahre, auch den früheren Teil des 4. Jahrhunderts hindurch 17 — an den Großen Dionysien drei Dichter ausgewählt, wobei jeder drei Tragödien und ein Stück mit glücklichem Ausgang, im allgemeinen ein Satyrspiel, vorzulegen hatte. Es ist nicht überliefert, in welcher Weise und nach welchen Kriterien die Auswahl der Dichter getroffen wurde. H. C. Baldry 18 vermutete, der Archon Eponymos sei zu beschäftigt gewesen, um Stücke zu lesen und danach seine Entscheidung zu treffen, sondern habe wahrscheinlich eher Autoren als Stücke ausgewählt, und das weitgehend nach Reputation. Gegen diese originelle Ansicht spricht jedoch Piaton, Gesetze 817 cd, wo offenbar vorausgesetzt wird, daß der Archon die vorgelegten Stücke, in welchem Maße auch immer, durchgesehen hat, bevor er sie zur Aufführung zuließ. Bei Piaton —die Bezüge zur Tragödie sind im Zusammenhang eindeutig 19 — ist ausdrücklich die Rede von der Beurteilung der Behörden, ob das Vorliegende „sagbar und für die Öffentlichkeit geeignet" 20 sei oder nicht. Vgl. aber A. Pickard-Cambridge, The dramatic festivals of Athens, 2. Auflage von J . Gould u. D. M. Lewis, Oxford 1968, 66. 1 2 Aristoteles, 'A&rjvaicov noXneia 56, 5. 1 3 Vgl. Lesky, Die tragische Dichtung 41 und 49f. u Vgl. die Überlegungen bei Pickard-Cambridge, The dramatic festivals of Athens 108 in Verbindung mit dem ebd. 109 abgedruckten inschriftlichen Zeugnis (IG I I 2 2319, Kol. I I ) . Bei Pickard-Cambridge 125 wird als Beginn der Wettbewerbe tragischer Dichter an den Lenäen die Zeit um 440—430 angegeben. 13 Aristoteles, 'A&tjvaiwv nohreia 57, 1. Pollux 8, 90. 16 Vgl. beispielsweise Aristophanes, R i t t e r 513. 17 Pickard-Cambridge 79. 18 H. C. Baldry, The Greek tragic theatre, London 1971, 23. 19 Vgl. Piaton, Gesetze 817 a b. 2 0 Piaton, Gesetze 817 d : ngiv xqlvai rag do/ctg ehe örjTö. xai ¿niT^deia nenoLr/xare Xeyeiv elg TO fiiaov ehe /irj. Vgl. ebenda den nächsten Satz: vvv ovv, d> naiöeg, . . . imöei¡¡avTEQ TOIQ AQXOVAI TIQÖJTOV jag v/J,ereoag naoä rag rjftETEQag d>ddg, äv fiev rä avrd ys RJ 11
Polisdemokratie und Tragödie
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Hier scheint ein bedeutsamer Aspekt der athenischen Wirklichkeit durchzuschimmern. W i e der Rede des Demosthenes gegen Meidias (8f.) von 349/48 zu entnehmen ist, bestand übrigens die Möglichkeit, den Archon zur Verantwortung zu ziehen, wenn nach den Dionysien, und zwar einen Tag nach den Pandia, die Volksversammlung im Dionysos-Theater tagte, die die Prytanen einberiefen, um u. a. die Leitung des Agons an den Großen Dionysien durch den verantwortlichen Archon zu diskutieren. Für den Archon scheint daher auch bei der Auswahl, die er für den tragischen Agon zu treffen hatte, gewissenhaftes Vorgehen am Platze gewesen zu sein. Durch jene Auswahl sicherte sich jedenfalls die Polis die Gestaltung des Theaterprogramms. Der Glanz der Großen Dionysien, die allen Hellenen 21 offenstanden und um so zahlreichere auswärtige Gäste anzogen, als nach dem Ende des Winters das Meer wieder schiffbar geworden war — dieser Glanz der Städtischen Dionysien überstrahlte die auf Kommunalebene befindlichen Dionysos-Feste, die Ländlichen Dionysien, die jedoch wegen ihres ebenfalls stark volksverbundenen Charakters in der Betrachtung nicht fehlen dürfen. Die Ländlichen Dionysien im Poseideon (Dezember/Januar), von den jeweiligen Demen organisiert, unterstanden dem betreffenden Gemeindevorsteher (Demarchos). 22 Nach dem Zeugnis Plutarchs 23 hatten offenbar auch die Sklaven Zugang zu den Lustbarkeiten der Festivität; er berichtet, mit welcher Lautstärke sie sich dabei hervortaten. Dramatische Aufführungen im Poseideon sind im 4. Jahrhundert für zwei Demen (Myrrhinus und Peiraieus) inschriftlich bezeugt. 24 Daß aber in Piräus schon im 5. Jahrhundert Euripides gespielt wurde, scheint aus Älian, Varia historia 2, 13 hervorzugehen. Neben der staatlichen Organisation wird der politische Charakter von Tragödienaufführungen ferner an der Einrichtung der Choregie deutlich. Dem Choregen fiel die Aufgabe zu, die Inszenierung mit zu finanzieren, d. h. im einzelnen die Kosten für die Honorierung, Ausstattung und Einstudierung des Chors und möglicherweise eines Nebenchors zu übernehmen, für Sonderaufwendungen, etwa stumme Personen, aufzukommen, ferner wahrscheinlich den Flötenspieler zu bezahlen und ein Abschlußbankett zu geben, während aber die Honorierung der Schauspieler — für den Protagonisten unmittelbar, für den zweiten und dritten Schauspieler vielleicht mittelbar, nämlich auf dem Wege über den Protagonisten — durch die Polis erfolgte. 25 Wäre es nicht überliefert 26 , ließe sich aus den
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ex rov äjiooaöoxrjrov eveneaev). Daß er in seiner historischen Gestalt möglich war, wird auf das Demenwesen zurückgeführt, dessen Auswirkungen Prokop nicht mit geschichtlicher Beweisführung, sondern lediglich metaphysisch als Erkrankung der Seele (voar\(ia ywX^?)11 zu begründen vermag. Dessenungeachtet begnügt er sich nicht mit der unreflektierten Verzeichnung der Fakten, sondern nimmt eindeutig Partei, indem er die am Aufstand Unbeteiligten als den reinen Teil der Bürger bezeichnet 12 ; für die Insurgenten verwendet er kaum zufällig den Begriff öfiiXog, der zunächst einmal neutral jede Menschenansammlung bezeichnet und nur gelegentlich eindeutig pejorativ verwendet wird 13 — es hätten jedenfalls stärkere Ausdrücke zur Verfügung gestanden. Jene Parteinahme präzisiert Prokop in den 'Avexöora, der postumen „Geheimgeschichte" der Enthüllungen über das Kaiserpaar. Die Kritik an Justinian, die in den Büchern „Über die K r i e g e " gerade auch im Zusammenhang mit dem Aufstand in verklausulierter Form geübt wurde 14 , schlägt hier in Haß um 1 5 ; der Repräsentant der alten Senatsaristokratie steht dem Homo novus, der um der großen Restauration willen den Forderungen des Tages gewisse Konzessionen schuldig zu sein glaubte, in unerbittlicher Feindschaft gegenüber. 16 So werden denn gerade im Zusammenhang mit der Volkserhebung, die zu zahlreichen Vermögenskonfiskationen bei den Senatoren geführt habe, Justinian und seine Gemahlin Theodora als mörderische und menschenfressende Dämonen 17 (dalHoves naXa/ivaloi . . . xal . . . ßgoroloiym) bezeichnet. 18 Die insurgierten Massen erschienen als manipuliert durch den bösen Geist Justinian; nicht sie, sondern die Senatsaristokratie stellen in der Sicht des Autors die — in der konkreten Situation freilich leidenden — Akteure der Weltgeschichte dar. Prokop gehörte der Oberklasse zu und hat für seinesgleichen geschrieben in einer Form, die an den Historikern der griechischen Antike geschult war. Sein literarischer Antipode ist Johannes M a l a l a s , der mit seinem historischen Volksbuch das Genre der byzantinischen Mönchschronik einleitete; selbst wenn es zutreffen sollte, daß er später bis zum hauptstädtischen Patriarchen aufstieg, so ist doch sein Bildungsstand nicht zu hoch einzuschätzen. Der Aufstand (raoaX>l — Unruhe) wird in seinem Geschichtsbuch ausführlich berücksichtigt, die Darstellung ist von mancherlei anekdotischem Stoff umrankt. U m die GeschehAusgabe von Haury 124. Ausgabe von Haury 124. 13 H. G. Liddell and R. Scott, A Greek-English Lexicon, A new Edition by Sir H. St. Jones, 2, Reprint Oxford 1951, 1222. 14 Rubin 105f. 15 So auch J. Haury in: Byzantinische Zeitschrift 27, 1937, 2, ohne daß dessen Begründungen als hinreichend angesehen werden könnten. 16 Wichtig S. Winkler in: Studii clasice 3, 1961, 429ff. 17 Übersetzung nach: Prokop, Anekdota, griechisch-deutsch von Otto Veh, München 1961, 109. 18 Anecdota 12,14 (Ausgabe von Haury, 3, Ed. ster. corr. [G. Wirth], Leipzig 1963, 79). 11
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Volksmassen in der historischen Literatur der Justinianischen Zeit
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nisse zu begründen, erfolgt wie in Prokops Werk „Über die Kriege" ein Rückgriff ins Metaphysische, auf „gewisse verderbenbringende Dämonen" {anO TIVWV äXaazoQcjv dai/iövwv).19 Justinian ist damit a priori von jeder Verantwortung oder gar Schuld freigesprochen, sondern kann als der eigentliche Held und Sieger des Aufstandes herausgestellt werden. Die Volksmassen (ro TiXrj&og, rä nXri&rj) erscheinen in einer Passage sogar als erfolgreich Handelnde, weil Justinian ihrem berechtigten Ersuchen auf Abberufung unbeliebter Beamter, darunter des Johannes von Kappadokien, sogleich stattgibt, ansonsten aber wird ihr Vorgehen als ärdxTOjg, „ordnungswidrig", gekennzeichnet 20 ; erst mit ihrer Unterwerfung unter den Willen des Kaisers ist die Ordnung wiederhergestellt, und die Beseitigung der Usurpatoren, die wie in den lateinischen Chroniken als rvqavvoi bezeichnt werden 21 , folgt als logische Maßregel. Die Monarchie erscheint als die gottgegebene Ordnung, welche Erhebungen der Masse, gleichgültig, wodurch ausgelöst, stören können; sie zu unterdrücken, wird daher zur Pflicht des Monarchen. Die Verbreitung dieser Theorie durch volkstümliche, wirksame Darstellung bedeutete im vollen Sinne Manipulierung. Das gleiche Geschichtsbild wurde jedoch nicht nur durch die Chronographie, sondern womöglich noch eindrücklicher durch die kirchliche Hymnendichtung propagiert, die gerade im 6. Jahrhundert in dem Meloden R o m a n o s einen niemals wieder erreichten Gipfelpunkt gefunden hatte. I n seinem 62. Hymnus spielt der Dichter ebenso eindeutig wie vielleicht unerwartet auf den Aufstand an. 22 Nach allgemeinen Betrachtungen über Gottes Güte wie über Gottes Strafen erwähnt er unter letzteren Erdbeben- und Dürrekatastrophen, von denen auch die Malalas-Chronik berichtet; da aber bei den Menschen all das nichts fruchtete, mußten sie die weitere Strafe erleiden, daß Gott es zuließ, daß die Hagia Sophia niedergebrannt wurde 23 — eben als Folge des Aufstandes. Verzweiflung griff allenthalben Platz, die Frommen aber vereinigten sich im Gebet (ich fahre mit der Paraphrase der Gedankenführung des Hymnus fort) und mit ihnen das Kaiserpaar. Ihr Flehen wurde erhört, die Hagia Sophia neu errichtet; „das Kaiserpaar wetteifert im Aufwand, und der Herrgott gewährt das ewige Leben. "2/1 Indem er die Schuld an dem metaphysisch gedeuteten Ereignis den sündigen Menschen, d. h. aber letztlich den Volksmassen, zuschob, dem Kaiserpaar dagegen das Verdienst der Rettung attribuierte und das Blutbad im Hippodrom mit loyalem Stillschweigen überging, bedeutete der Hymnus dank seiner volkstümlichen Sprachform und Metrik eine nachhaltige Unterstützung der Justinianischen Restaurationspolitik. 25 Ioannes Malalas, Chronographia, rec. L. Dindorfius, Bonn 1831, 473. 2» Malalas 475. 21 Malalas 477; vgl. auch 475: ervQavvei. 22 P. Maas in: Byzantinische Zeitschrift 15, 1906, 2. 23 Maas 3. 24 Maas 5. 25 J. Irinscher in: F. Altheim und R. Stiehl, Die Araber in der alten Welt 4, Berlin 1967, 343. 19
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JOHANNESIRMSCHER
Es gab jedoch auch kritische Stimmen, wie sie zum Beispiel in der fälschlich als Kirchengeschichte bezeichneten syrischen Weltchronik des Z a c h a r i a s R h e t o r hörbar werden, die ein anonymer Mönch aus Amida in Armenien bis in die zweite Hälfte des 6. Jahrhunderts fortführte. 2 6 I n diesem Opus, das freilich eine sehr viel weniger zahlreiche Leserschaft fand als der oft benutzte und mehrfach übersetzte Malalas, wird die Veranlassung des Aufstandes (aräaig) unmißverständlich ausgesprochen: es ist das Justinianische Regierungssystem, repräsentiert durch den vnaQ'/o