Die Römer an der Elbe: Das Stromgebiet der Elbe im geographischen Weltbild und im politischen Bewusstsein der griechisch-römischen Antike 9783050077390, 9783050034454

Vor 2000 Jahren hatten die Römer ihr den ganzen Mittelmeerraum umfassendes Reich im Norden bis an den Rhein und die Dona

182 104 24MB

German Pages 347 [348] Year 2006

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Die Römer an der Elbe: Das Stromgebiet der Elbe im geographischen Weltbild und im politischen Bewusstsein der griechisch-römischen Antike
 9783050077390, 9783050034454

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Klaus-Peter Johne Die Römer an der Elbe

Klaus-Peter Johne

Die Römer an der Elbe Das Stromgebiet der Elbe im geographischen Weltbild und im politischen Bewusstsein der griechisch-römischen Antike

Akademie Verlag

Coverabbildungen: Porträts des Nero Claudius Drusus Maior und des Tiberius Julius Caesar

ISBN-10: 3-05-003445-9 ISBN-13: 978-3-05-003445-4 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2006 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: Ingo Scheffler, Berlin Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany

Inhalt

I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX. X. XI. XII. XIII. XIV.

Vorwort „Schon ist die Elbe näher als der Rhein ..." Das Stromgebiet der Elbe aus der Sicht der Griechen in vorchristlicher Zeit Furor teutonicus Caesars Suebenland Drusus an der Elbe Immensum bellum Tiberius und Marbod Varus in Germanien „Triumph über alle Völker bis zur Elbe" Von Strabon bis Plinius „Einst war sie ein bekannter und vielgenannter Fluss ..." Die Elbquelle in den Vandalischen Bergen Semnonen am Lech „Ein Fluss im Barbarenland, weit entfernt vom Rhein"

7 13 25 39 57 83 115 133 159 179 199 217 235 255 281

Zeittafel zum Stromgebiet der Elbe im Altertum Siglenverzeichnis Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur Verzeichnis und Erläuterungen der Abbildungen Verzeichnis der Karten Register

311 323 325 330 332 333

Für Renate

Vorwort

Die Elbe ist einer der großen Ströme Europas. Mit 1165 km Länge ist sie nach dem Rhein Deutschlands verkehrsreichster Fluss. Sie entspringt auf den Höhen des Riesengebirges nahe der polnisch-tschechischen Grenze, fließt in weitem Bogen durch das Böhmische Becken und behält ab dem Elbsandsteingebirge ihre nordwestliche Richtung bis zur Mündung in die Nordsee bei. Durch ihre zahlreichen Nebenflüsse, von denen Moldau, Eger, Mulde, Saale und Havel die bedeutendsten sind, umfasst ihr Einzugsgebiet 148 000 km2, es reicht vom äußersten Süden Tschechiens bis nach Niedersachsen, Holstein und Mecklenburg, und vom Thüringer Wald und Harz bis zur Oberlausitz. Wie vergleichbare andere Ströme, der Rhein und die Donau, besaß auch die Elbe durch die Jahrhunderte trennende und verbindende Funktionen. Eine Grenze war sie schon im frühen Mittelalter wie auch in neuester Zeit. Etwa ab dem Jahre 600 bildete der Fluss die Grenzregion des germanischen Siedlungsgebietes und seit der Unterwerfung der Sachsen durch Karl den Großen von der Gegend des heutigen Lauenburg bis zur Mündimg der Saale auch die östliche Begrenzung des Karolingerreiches. In der Mitte des 10. Jahrhunderts, 968, sicherte Kaiser Otto I. mit den Bistumsgründungen in Magdeburg, Merseburg, Zeitz (später Naumburg) und Meißen das Elbe-Saale-Gebiet gegenüber den Slawen. Erst mit dem Beginn der deutschen Ostsiedlung um 1150 wurden die beiden Flüsse in ihrer gesamten Länge überschritten und das Land östlich davon in die deutsche Herrschafts- und Kirchenorganisation einbezogen. Noch jahrhundertelang trennte die Elbe-Saale-Linie jedoch die sozial und kulturell unterschiedlich geprägten alten Stammesgebiete im Westen von dem ostelbischen Kolonialland. Im Zuge der Ausbildung von Territorialstaaten wurde die Elbe in ihrem nördlichen Teil zum Grenzfluss zwischen Holstein und Mecklenburg auf der einen und dem Erzbistum Bremen und Braunschweig-Lüneburg bzw. Hannover auf der anderen Seite. Diese Grenzziehungen sind bis heute an den Bundesländern Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen erkennbar. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges markierte der Flussabschnitt zwischen Schnackenburg und Lauenburg erst die Demarkationslinie zwischen der britischen und der sowjetischen Besatzungszone, dann zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. In den 40 Jahren, in denen an der unteren Elbe die Systeme von NATO und Warschauer Pakt aufeinander trafen, besaß diese Grenze eine Ausprägung, die sie niemals zuvor hatte und die sie hoffentlich auch niemals wieder haben wird. Bedeutsamer als die trennende war jedoch immer die verbindende Funktion der Elbe, sie war im Mittel- und Oberlauf stets das bestimmende Element. Schon in frühgeschichtlicher Zeit läßt sich ein kultureller Austausch entlang des Stromes nachweisen, in der römischen Kaiserzeit siedelten die germanischen Stämme der Langobarden, Hermunduren und Markomannen auf beiden Seiten. Das Diedenhofener Kapitular von 805 bezeichnet Magdeburg

8

als den zentralen Punkt für den elbüberschreitenden Handel des Frankenreiches mit den Slawen. Seit dem 10. Jahrhundert sind Schifffahrt und Handelsverkehr von der Unterelbe bis nach Böhmen bezeugt, ab dem 13. Jahrhundert sogar in bedeutendem Umfang. Hamburg, Magdeburg und Pirna entwickelten sich zu den wichtigsten Handelsplätzen, das „Magdeburger Stadtrecht" fand weite Verbreitung im ostelbischen Raum. Auch im territorialstaatlichen Bereich findet sich Verbindendes neben Trennendem. Das Herzogtum Sachsen-Lauenburg erstreckte sich ebenso an beiden Flussufern wie die Mark Brandenburg zu Zeiten der Askanier. Die Wettiner sahen in ihr den geeigneten Flusslauf für ihre Residenzstädte Meißen, Wittenberg, Torgau und Dresden, die Elbe wurde geradezu zur Lebensader der Wettinischen Lande. Spektakuläre Ereignisse fanden an ihren Ufern zwischen dem 1. und dem 20. Jahrhundert immer wieder statt. In das Licht schriftlicher Überlieferung gelangte der Fluss durch Feldzüge der Römer im Jahre 9 v. Chr. an die Mittelelbe und im Jahre 5 n. Chr. an die Unterelbe. In den Sachsenkriegen Karls des Großen kam 780 erstmals ein fränkisches Heer an den Strom. Die Gründung der Burg von Meißen 929 durch König Heinrich I. bedeutete den Auftakt der deutschen Herrschaft im heutigen Sachsen. Aus der frühen Neuzeit sei nur an den Beginn der Reformation 1517 in Wittenberg, an den Sieg Karls V. über Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen im Schmalkaldischen Krieg 1547 bei Mühlberg und an die Zerstörung Magdeburgs im Dreißigjährigen Krieg 1631 erinnert. Im Siebenjährigen Krieg fanden Auseinandersetzungen Preußens mit Sachsen und Österreichern 1756 bei Pirna und Lobositz, 1757 bei Kolin und 1760 bei Torgau statt. In den Jahren 1813 und 1814 errangen die preußischen Generäle Yorck und Tauentzien bei Wartenburg und Wittenberg militärische Erfolge gegen die Soldaten Napoleons. Die für den weiteren Verlauf der deutschen Geschichte im 19. Jh. so wichtige Auseinandersetzung zwischen Preußen und Österreichern im Jahre 1866 fand ebenfalls an der Elbe statt, in ihrem oberen Verlauf bei Königgrätz (Hradec Kralove). Das Zusammentreffen amerikanischer und sowjetischer Truppenverbände am 25. April 1945 bei Torgau - fast 2000 Jahre nach der ersten Erwähnung des Flusses im Schrifttum - kennzeichnet einen der Endpunkte des Zweiten Weltkrieges in Europa. Die Internationalität des Stromes, der Zentraleuropa mit dem Meer verbindet, wurde erstmals 1815 auf dem Wiener Kongress festgestellt. Mit der Aufnahme Tschechiens in die „Europäische Union" ist die Elbe nun auch politisch endgültig in einen gemeinsamen Rahmen eingebunden worden.1 Das Stromgebiet der Elbe hat durch die große Flut vom August 2002 europaweit für Aufsehen gesorgt. Mitten im Sommer kam es zu einer Hochwasserkatastrophe, die die in der bisherigen Erinnerung schlimmste, die „Sächsische Sintflut" vom März 1845, noch übertraf, weshalb die Bezeichnung „Jahrhundertflut" durchaus gerechtfertigt war. Allein im deut1 Vgl. K. Blaschke, Elbe, in: Das Lexikon des Mittelalters, Band 3, 10. Lieferung, München-Zürich 1986, 1776 f.; Elbe, in: Brockhaus Enzyklopädie in 24 Bänden, 19. Aufl., Band 6, Mannheim 1988, 253-255; H. Glaser, Die Elbe als geschichtlicher Raum, in: Die Elbe - ein Lebenslauf. Labe - zivot feky, hrsg. vom Deutschen Historischen Museum, Berlin 1992, 45-49; zur Grenzproblematik umfassend A. Demandt (Hrsg.), Deutschlands Grenzen in der Geschichte, München 1990, bes. 137-141. 236-241; zur Problematik der Elbe-Grenze zwischen Bundesrepublik und DDR vgl. D. Schröder, Die Elbe-Grenze. Rechtsfragen und Dokumente, Baden-Baden 1986; vgl. ferner J. von Königslöw, Flüsse Mitteleuropas Zehn Biographien, Stuttgart 1995, mit dem Kapitel „Die Elbe - eine begabte Vermittlerin ward zum Grenzstrom wider Willen" (S. 116-135).

9 sehen Teil des Stromgebietes mussten über 200 000 Menschen ihre Häuser verlassen, der entstandene Schaden wird auf 25 Milliarden Euro geschätzt. Diese Schreckensmeldungen standen in einem scharfen Kontrast zu der kurz zuvor verbreiteten guten Nachricht, dass sich die Wasserqualität der Elbe nach Jahrzehnten der Verunreinigung durch umfassende Reinigungsmaßnahmen seit dem Jahre 1997 wieder so verbessert hat, dass im Juli 2002 ein Internationaler Elbe-Badetag gefeiert werden konnte! Eine recht positive und eine äußerst negative Bilanz lagen bei diesem Strom wirklich nur vier Wochen auseinander, beide haben in ihren Auswirkungen für die Menschen historische Dimensionen und sie werden in die Geschichte dieser Flusslandschaft eingehen. In diesem Buch soll es um die Elbe im Altertum gehen. Um den Beginn der christlichen Zeitrechnung hatten die Römer ihr den ganzen Mittelmeerraum umfassendes Reich im Norden bis an den Rhein und die Donau ausgedehnt. Unter der Regierung des Kaisers Augustus entstand der Plan, die Grenze bis an die Elbe vorzuverlegen und einen großen Teil Germaniens unter die römische Herrschaft zu bringen. Der fast dreißigjährige Kampf um dieses Ziel war der Höhepunkt der römisch-germanischen Auseinandersetzung überhaupt. Von der Darstellung dieser Ereignisse ausgehend soll der Frage nachgegangen werden, wie das Stromgebiet der Elbe Griechen und Römern allmählich bekannt geworden ist und welche Rolle der Fluss und das ihn umgebende Territorium im politischen Bewusstsein der Expansionszeit wie auch in den Jahrhunderten danach als Mythos eines einmal erreichten Expansionsziels gespielt hat. Die Vorstellungen der antiken Schriftsteller vom Stromgebiet der Elbe und die Bedeutung, die diesem Raum im politischen Denken zukam, ist bisher systematisch wenig untersucht worden. Von Interesse war vor allem die kurze Zeit der augusteischen Expansion zwischen 12 v. Chr. und 16 n. Chr., die in allen Darstellungen der römischen Kaiserzeit wie in allen Werken zu den Germanen auftaucht, aber stets im Schatten der Ereignisse um die Schlacht im Teutoburger Wald stand und steht. Eine Einbindung dieser Vorgänge in die Geschichte der römisch-germanischen Beziehungen vom 2. Jh. v. Chr. bis zum 5. und 6. Jh. n. Chr. fehlte bisher. Im Unterschied zum Rhein und zur Donau taucht die Elbe in der schriftlichen Überlieferung relativ spät auf und wird in der antiken Literatur auch sehr viel weniger genannt als die beiden anderen großen Ströme. Kann bei einer Darstellung der Geschichte des Rheins auf „fünf römische Jahrhunderte" verwiesen werden, so muss bei einer Betrachtung der Elbe im gleichen Zusammenhang die Feststellung getroffen werden: „Zunächst fehlt das römische Element. Nachdem das Weltreich seine Grenze an Rhein und Donau und dazwischen am Limes befestigt hatte, konnten seine kolonisatorischen und fortifikatorischen Normen an der Elbe nicht mehr wirksam werden".2 So wird die marginale Bedeutung dieses Flusses in den großen Nachschlagewerken der Altertumswissenschaft auch erst einmal nicht überraschen. Pauly-Wissowas Realencyclopädie im Jahre 1893, Der Kleine Pauly 1964 und Der Neue Pauly 1996 widmen dem Lemma „Albis" jeweils nur wenige Zeilen.3 Eine größere Bestandsaufnahme nahm in den fünfziger Jahren des 20. Jh. J. Straub bei der Erörterung des Problems vor, ob mit dem Wort Alba der Gebirgszug der Schwäbischen Alb oder aber die

2 Vgl. H. J. Tümmers, Der Rhein. Ein europäischer Fluß und seine Geschichte, 2. Aufl. München 1999, 117, und Die Elbe - ein Lebenslauf (wie Anm. 1), 45. 3 Ihm, Albis, RE 1, 1 (1893) 1317; H. Cüppers, Albis, Kl. Pauly 1 (1964) 234; K. Dietz, Albis, DNP 1 (1996)441.

10 Elbe gemeint sei.4 Aber erst in den beiden letzten Jahrzehnten wurde durch die Erarbeitung großer Quellensammlungen eine verlässliche Grundlage geschaffen, um sich mit dem Thema „Die Elbe im Altertum" eingehender beschäftigen zu können.5 Aus der Mitarbeit an der von der Berliner Akademie der Wissenschaften unter der Ägide von J. Herrmann erstellten Sammlung aller einschlägigen Zeugnisse von Homer bis Zosimos entstand 1982 ein Überblick zu dem im folgenden zu erörternden Gegenstand vom Verfasser dieser Zeilen.6 Aus dem Jahre 1989 stammt der sehr instruktive Artikel der zweiten Auflage des Reallexikons der Germanischen Altertumskunde. Da in diesem Werk ausführlicher auf die Elbgermanen einzugehen war, hat man sich auch dem Fluss unter geographischem, philologischem, historischem und archäologischem Aspekt zugewandt. Für den Abschnitt „Die Elbe in der Antike" konnte mit D. Timpe ein Altmeister der römisch-germanischen Forschung gewonnen werden.7 Der Quellensammlung von Goetz/Welwei verpflichtet ist der Sammelband „Rom an der Niederelbe" von 1995, bei dem es sich um einen Katalog römischer Importfunde aus Niedersachsen mit längeren Einführungen handelt.8 Am ausführlichsten mit dem Thema hat sich bisher J. Deininger auseinandergesetzt. In einem Sitzungsbericht der Joachim JungiusGesellschaft der Wissenschaften in Hamburg legte er 1997 eine Abhandlung über die Elbe in Politik und Literatur der Antike vor. Auf über 70 Seiten interpretierte er die Nennungen des Flusses von der augusteischen Zeit bis in diejenige Karls des Großen, wobei die an der Berliner Akademie erarbeitete Quellensammlung vorrangig als Grundlage diente.9 Die vorliegende Studie setzt die Akzente anders. Sie fragt nicht nur nach der Kenntnis des Stroms an sich bei Griechen und Römern, sondern nach der Wahrnehmung des gesamten Stromgebietes einschließlich von dort ausgehender Einflüsse und greift dabei weit in die vorchristliche Zeit zurück. Die Behandlung des Elberaumes in der antiken Literatur soll in den Gesamtrahmen der Beziehungen von Römern und Germanen zwischen dem 2. Jh. v. Chr. und dem 6. Jh. n. Chr. eingebettet werden. 4 J. Straub, Alba = Elbe oder Alb?, Bonn. Jbb. 155/156, 1955/56, 136-155 = ders., Regeneratio imperii. Kaisertum und Reich im Spiegel der heidnischen und christlichen Publizistik, Band 1, Darmstadt 1972, 418-442; dazu H. Widmann, Alba, RE Suppl. 10 (1965) 8-12. 5 Griechische und lateinische Quellen zur Frühgeschichte Mitteleuropas bis zur Mitte des 1. Jahrtausends u. Z., hrsg. von J. Henmann, Teile I-IV, Berlin 1988-1992 (Schriften und Quellen der Alten Welt, Band 37, 1-4), und H.-W. Goetz/K.-W. Welwei, Altes Germanien. Auszüge aus den antiken Quellen über die Germanen und ihre Beziehungen zum römischen Reich, Teile 1-2, Darmstadt 1995. Die ältere Sammlung von W. Capelle, Das alte Germanien. Die Nachrichten der griechischen und römischen Schriftsteller, Jena 1929, ist in diesem Zusammenhang nicht sehr ergiebig, da zu einem Text von mehr als 500 Seiten im Register lediglich der Hinweis „Elbe überall" zu lesen ist. 6 K.-P. Johne, Die Elbe als Ziel römischer Expansion, in: Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Gesellschaftswissenschaften, Jahrgang 1982, Nr. 15/G, Berlin 1983, 3 7 ^ 4 . 7 H. Jäger/W. P. Schmid/D. Timpe/G. Mildenberger, Elbe, in: RGA 7 (1989) 94-107; G. Mildenberger/H. Beck, Elbgermanen, ebenda 107-115. 8 Rom an der Niederelbe, hrsg. von R. Busch, Neumünster 1995 (Veröffentlichungen des Hamburger Museums für Archäologie und die Geschichte Harburgs Nr. 74), darin u. a.: R. Busch, Antike Quellen zu Germanien und den Germanen; H. Callies, Römer und Germanen im nördlichen Deutschland; P. Kehne, Geographische und ethnographische Informationen über das nördliche Germanien und die Elberegion; M. Erdrich, Rom und die germanischen Stämme in Niedersachsen. 9 J. Deininger, Flumen Albis. Die Elbe in Politik und Literatur der Antike, Hamburg-Göttingen 1997 (Berichte aus der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften e. V., 15, Hamburg 1997,4).

11 Der Name der Elbe ist natürlich sehr viel älter als alle Zeugnisse aus griechischrömischer Zeit. Er gehört zu einer Gruppe alteuropäischer Gewässernamen, die es bereits vor der Herausbildung der keltischen und germanischen Sprachgruppe gab. Der Ausgangspunkt für die Wortbildung war das indogermanische Farbadjektiv für „weiß", wie es sich etwa in dem lateinischen Wort albus, -a, -um erhalten hat, doch muss sich die ursprüngliche Bedeutung „helles Wasser, Weißwasser" bereits vor der Bildung der Einzelsprachen verloren haben. Wie die vergleichende Flussnamenforschung gezeigt hat, ist aus dem Farbadjektiv ein Wort für „Fluss" und „Flussbett" ohne weitere Beachtung der Farbe des Wassers geworden.10 Das als Einleitung konzipierte erste Kapitel bietet die Texte, die den Ausgangspunkt für die weiteren Ausführungen darstellen, gibt einen Überblick über die Forschungsrichtungen zu einer Elbgrenze des Imperium Romanum, präzisiert die Fragestellung und liefert eine knappe Übersicht zu dem Inhalt der nachfolgenden Kapitel. Die griechischen und lateinischen Texte zum Thema werden unter Bezug auf die Quellensammlung der Berliner Akademie wie auf die Sammlung von Goetz/Welwei präsentiert, jedoch stets paraphrasiert, wenn nicht - wie im Falle von Dichtungen und griechischen Zeugnissen - übersetzt, so dass ein Verständnis des Zusammenhangs auch ohne eine Kenntnis der Quellensprachen möglich ist. Die nach dem letzten Kapitel beigefügte „Zeittafel zum Stromgebiet der Elbe im Altertum" ist als Orientierungshilfe für den Leser gedacht. Allen, die mir beim Zustandekommen dieses Buches hilfreich zur Seite gestanden haben, möchte ich sehr herzlich danken, Herrn Udo Hartmann für wertvolle Hinweise, Frau Dagmar Lissat und Frau Yvonne Walczuk für die Herstellung der nicht einfachen Textfassung, Herrn Veit Vaelske M.A. für die Besorgung der Abbildungen und die Erstellung der Karten, Frau stud. phil. Bernadette Descharmes und Frau Yvonne Walczuk für die Mitarbeit am Register und nicht zuletzt Herrn Manfred Karras vom Akademie Verlag für seine große Geduld und die gute Zusammenarbeit. Berlin, im Januar 2005

10

K.-P. Johne

W. P. Schmid, Elbe. Philologisches, RGA 7 (1989) lOOf.; J. Udolph, Namenkundliche Studien zum Germanenproblem, Berlin - New York 1994 (Ergänzungsband 9 zum RGA) 857-859; Deininger, Flumen Albis 8; D. Berger, Duden. Geographische Namen in Deutschland. Herkunft und Bedeutung der Namen von Ländern, Städten, Bergen und Gewässern, 2. Aufl. Mannheim - Leipzig - Wien - Zürich 1999, 87.

Kapitel I „Schon ist die Elbe näher als der Rhein ..

Im Sommer des Jahres 16 n. Chr. stand der Feldherr Germanicus mit der größten Streitmacht, die jemals vom Imperium Romanum in das Innere Germaniens geschickt worden ist, am Mittellauf der Weser in einem Gebiet, in dem heute etwa die Grenze zwischen den Bundesländern Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen verläuft. Mit acht Legionen und zahlreichen Hilfstruppen sollte Rache für die schwere Niederlage genommen werden, die Rom im Jahre 9 n. Chr. in der Schlacht im Teutoburger Wald erlitten hatte.1 Bestrafung und Unterwerfung vor allem deqenigen germanischen Stämme, durch die Varus und seine drei Legionen vernichtet worden waren, muss als ein Ziel dieser Expedition angesehen werden.2 Der Sieger im Teutoburger Wald, der Cherusker Arminius, befehligte wiederum die Germanen, die sich dem Prinzen aus dem Kaiserhaus an der Weser entgegenstellten, wie er ihm auch in den Feldzügen des Jahres 15 entgegengetreten war.3 Cornelius Tacitus hat in seinem ein Jahrhundert nach diesem Ereignis geschriebenen Geschichtswerk „Annalen" eine Rede überliefert, die Germanicus immittelbar vor dieser neuen Auseinandersetzung mit Arminius gehalten habe. Der Feldherr will seine erschöpften Soldaten anfeuern und erhofft sich von dem bevorstehenden Kampf eine Entscheidung. Der Aufruf schließt mit dem eindringlichen Appell, dass die kommende Schlacht ihren Wunsch nach dem Ende aller Strapazen zu Lande und zur See erfüllen werde, wenn sie ihm nur in dem Land, in dem sein Vater Drusus und sein Onkel Tiberius gekämpft hatten, zum Siege verhelfen würden, - sei doch die Elbe bereits näher als der Rhein - und darüber hinaus sei kein Krieg mehr zu führen: 1 Tac., ann. 2, 12, 1 - 14, 4 und 16, 3 = Quellen III 122-127; vgl. 517f. in der Übersetzung und Kommentierung des Verf.; Goetz/Welwei II 102-107; zur Person des Germanicus vgl. M. Geizer - W. Kroll, Julius 138, RE 10, 1 (1918) 435^64; PIR2 IV 3 (1966) J 221; W. Eck, Germanicus 2, DNP 4 (1998) 963966; P. Kehne, Germanicus, RGA 11 (1998) 438-448; speziell zu seinen Feldzügen vgl. E. Koestermann, Die Feldzüge des Germanicus 14-16 n. Chr., Historia 6, 1957, 429-479; Timpe, Germanicus; K. Telschow, Die Abberufung des Germanicus (16 n. Chr.), in: Monumentum Chiloniense 148-182; Wolters, Herrschaftsorganisation 229-245; Becker, Chatten 187-218 und unten Kap. IX. 2 Zur Schlacht im Teutoburger Wald und zu Varus der ältere Forschungsstand bei W. John, Quinctilius 20, RE 24 (1963) 907-984; zu den drei vernichteten Legionen E. Ritterling, Legio, RE 12, 2 (1925) 1767f.; zusammenfassende neuere Darstellungen nach den Funden von Kalkriese ab 1985 G. A. Lehmann, Zur historisch-literarischen Überlieferung der Varus-Katastrophe 9 n. Chr., Boreas 13, 1990, 143-164; W. Schlüter, Kalkriese - Römer im Osnabrücker Land, Bramsche 1993; Wiegels/Woesler; Schlüter/Wiegels und unten Kap. VIII Seite 170 mit Anm. 30. 3 Tac., ann. 1, 59, 1-6; 60, 1; 63, 1-2; 68, 1.5; 2, 9, 1-11, 3 = Quellen III 104-109; 112f.; 120-123; vgl. 512-514; 517; Goetz/Welwei II 82-89; 92-95; 100-103; zur Person des Arminius vgl. P. v. Rohden, Arminius, RE 2, 1 (1895) 1190-1200; H. v. Petrikovits, Arminius, Bonn. Jbb. 166, 1966, 175-193; Timpe, Arminius; H. Callies/H. Beck/H. Kuhn, Arminius, RGA 1 (1973) 417-421; Wiegels/Woesler; V. Losemann, Arminius, DNP 2 (1997) 14-16.

14 Si taedio viarum ac maris finem cupiant, hac acie parari: propiorem iam Albim quam Rhenum neque bellum ultra, modo se patris patruique vestigia prementem isdem in terris victorem sisterent.4 An keiner anderen Stelle in der griechisch-römischen Literatur hat nun das Streben des römischen Weltreiches nach Expansion in Mitteleuropa, das Streben nach einer Grenze an der Elbe statt am Rhein, einen prägnanteren Ausdruck gefunden als in dieser Passage der „Annalen". Nach der verheerenden Niederlage des Varus schien eine annähernde Wiederherstellung der davor bestehenden Machtverhältnisse - eine provincia Germania bis zur Elbe - das im günstigsten Falle Erreichbare zu sein, worum gekämpft wurde. Sollte jemals an eine Expansion über diesen Fluss hinaus gedacht worden sein, dann stand diese im Jahr 16 nicht mehr zur Debatte. Für Germanicus dürfte die Wiederholung der militärischen Demonstrationen von Vater und Onkel aus den Jahren 9 v. Chr. und 5 n. Chr. das „Traumziel" gewesen sein. Die Versicherung neque bellum ultra steht für die Begrenzung der römischen Interessen an dieser Flußlinie. Dass eine solche Begrenzung auch bereits für die Jahre vor der Schlacht im Teutoburger Wald zutrifft, ist der Mitteilung zu entnehmen, Augustus habe seinen Feldherrn nicht erlaubt, die Elbe zu überschreiten.5 In der konkreten Situation des Jahres 16 war diese Zurückhaltung noch dadurch geboten, dass östlich des Stromes der Machtbereich des Königs Marbod begann, dessen Neutralität die Römer gerade zu diesem Zeitpunkt mit Sicherheit nicht aufs Spiel setzen wollten. Die auf die programmatische Rede des Germanicus folgende Schlacht war die von Idistaviso, ein Ort, der zwischen Minden und Rinteln im Umfeld der Porta Westfalica gesucht werden muss.6 Sie brachte den Römern zwar einen Sieg, jedoch keineswegs den, den sie erhofft hatten und schon gar nicht die Wiedererringung der Herrschaft bis zur Elbe. Trotz der gewaltigen Streitmacht einer Acht-Legionen-Armee gelangte das römische Heer nicht weit über die Weserlinie hinaus nach Osten. Der Gedanke an die Elbe als propagierte Ziellinie und an eine römische Herrschaft zwischen Rhein und Elbe taucht in den beiden ersten Büchern der „Annalen" noch an vier weiteren Stellen auf; er ist Tacitus zweifellos wichtig gewesen. Erstmals begegnet der Strom in der Mitte Germaniens in einer Rede, die dem Arminius in den Mund gelegt wird, nachdem im Frühjahr 15 dessen schwangere Gemahlin Thusnelda den Römern in die Hände gefallen war. In dem Kampfaufruf an die Cherusker heißt es, niemals würden die Germanen verzeihen, dass sie zwischen Elbe und Rhein Symbole römischer Herrschaft wie Ruten, Beile und die Toga sehen mussten: Germanos numquam satis excusaturos, quod inter Albim et Rhenum virgas et secures et togam viderint.7

4 Tac., ann. 2,14,4 = Quellen III 124f.; vgl. 518; Goetz/Welwei II 104f. 5 Strab. 7, 1, 4 p. 291 C = Quellen I 234f.; vgl. 513f. in der Übersetzung und Kommentierung von W. O. Schmitt und G. Chr. Hansen; Goetz/Welwei I 92f.; Timpe, Okkupation, 292; Wolters, Herrschaftsorganisation 195-197 und unten Kap. VII Seite 144f. 6 Rappaport, Idistaviso, RE 9, 1 (1914) 903-905; H. v. Petrikovits, Arminius, Bonn. Jbb. 166, 1966, 181183; R. Wiegels, Idistaviso, DNP 5 (1998) 893; R. Nedoma, Idistaviso, RGA 15 (2000) 323-325. 7 Tac., ann. 1, 59,4 = Quellen III 104f.; vgl. 512; Goetz/Welwei II 84f.

15 Die Rede ist auch als Antwort auf die Ausführungen des Römerfreundes Segestes im vorangegangenen Kapitel konzipiert.8 Nach der Arminius unterstellten Auffassung sollen die Germanen es als Schmach empfunden haben, dass die Römer überhaupt von ihrem Land Besitz ergreifen konnten. Die beiden Flüsse geben durchaus richtig die Begrenzung des römischen Herrschaftsbereichs in den Jahren unmittelbar vor der Schlacht im Teutoburger Wald, zwischen 4/5 und 9, wieder. Nach der Schlacht bei Idistaviso sollen die unterlegenen Germanen Vorbereitungen getroffen haben, um ihre Wohnsitze zu verlassen und sich über die Elbe zurückzuziehen, entschlossen sich dann aber doch rasch wieder zum Kampf: qui modo abire sedibus, trans Albim concedere parabant, pugnam volunt, arma rapiunt.9 Die Schockwirkung der Niederlage wird als dermaßen groß hingestellt, dass erwogen worden sein soll, sich in ein Gebiet zurückzuziehen, auf das seitens der Römer keine Ansprüche erhoben wurden. Laut Tacitus sollen die Germanen demnach die Verwirklichung der Expansionspläne des Germanicus für möglich gehalten haben. Nach einem unmittelbar danach errungenen weiteren römischen Sieg am Angrivarierwall wurde ein Siegesdenkmal errichtet, in dessen Inschrift die vollständige Niederwerfung der Völker zwischen Rhein und Elbe gefeiert wird, obwohl die Kriegsführung höchstens bis zum Steinhuder Meer gereicht hatte: debellatis inter Rhenum Albimque nationibus exercitum Tiberii Caesaris ea monimenta Marti et Iovi et Augusto sacravisse.10 Die Inschrift behauptet übertreibend das Erreichen eines Zieles, um das Germanicus doch kurz zuvor erst seine Soldaten so eindringlich gebeten hatte. Dabei war auch diese Rede vom Zweckoptimismus bestimmt. Idistaviso wie der Angrivarierwall liegen nämlich erst in der Mitte zwischen Rhein und Elbe, sehr viel „näher" war der östliche Strom wirklich nicht gegenüber dem westlichen! Den gleichen Geist wie der Text des Siegesdenkmals atmet die offizielle Begründung für den Triumph des Germanicus am 26. Mai 17 in Rom. Triumphiert wurde über die Cherusker, Chatten und Angrivarier sowie die anderen Stämme, die bis zur Elbe wohnen: C. Caelio L. Pomponio consulibus Germanicus Caesar a. d. VII Kai. Iunias triumphavit de Cheruscis Chattisque et Angrivariis quaeque aliae nationes usque ad Albim colunt.n Mit der pompös begangenen Siegesfeier wurden nicht allein die tatsächlichen Erfolge des Prinzen gewürdigt, die den Raum zwischen Rhein und Weser betrafen und mit dem Gedanken der Rache für die Niederlage des Varus verbunden waren; Cherusker und Chatten hatten ja im Teutoburger Wald mit gekämpft. Außerdem wurde die Fiktion aufrechterhalten, Rom hätte Germanien bis zur Elbe hin unterworfen und damit eine unter Drusus, dem Vater des

8 9 10 11

Vgl. Tac., ann. 1, 58, 1-4 = Quellen III 102f.; vgl. 51 If.; Goetz/Welwei II 82f. Tac., ann. 2 , 1 9 , 1 = Quellen III 128f.; vgl. 519; Goetz/Welwei II 108f. Tac., ann. 2 , 2 2 , 1 = Quellen III 130f.; vgl. 519; Goetz/Welwei II 1 lOf. Tac., ann. 2 , 4 1 , 2 = Quellen III 134f.; vgl. 521; Goetz/Welwei II 116f.

16 Germanicus, im Jahre 12 ν. Chr. begonnene Eroberungspolitik im zentralen Mitteleuropa zu einem seit langem angestrebten Ende geführt. Tatsächlich fand mit diesem Triumph die auf großräumige Veränderungen an der Grenze zu den Germanen bedachte Expansion gerade ihr Ende. Die Auffassung des Tacitus von der Elbe und der Elbgrenze scheint nach diesen Zeugnissen unstrittig zu sein. Sie war eines der Kriegsziele des Germanicus, wobei der kaiserzeitliche Historiker bedauert, dass seinem Helden mit diesem Ziel kein Erfolg beschieden war. Die Großtat des Drusus im Jahre 9 v. Chr. konnte von seinem Sohn trotz aller Anstrengungen im Jahre 16 n. Chr. nicht wiederholt werden. (Abb. 1) Die Zeugnisse des Tacitus spielen in der in den letzten Jahren wieder verstärkt aufgekommenen Diskussion um eine Elbgrenze des Imperium Romanum auch immer eine bedeutsame Rolle. In dieser Diskussion lassen sich heute im Wesentlichen drei Positionen erkennen. Die Elbe wird darin entweder als ein schon frühzeitig feststehendes Grenzziel betrachtet oder aber als eine angestrebte Linie, die sich erst im Verlaufe der Germanenkriege abgezeichnet habe. Schließlich wird die Fixierung einer römischen Grenze an dem mitteleuropäischen Strom überhaupt in Frage gestellt und dieses wiederum unter zwei verschiedenen Aspekten. Die erste Forschungsmeinung geht von der Auffassung aus, die durch Germaneneinfälle nach Gallien und die durch sie verursachte Niederlage des Lollius im Jahre 17 oder 16 v. Chr. veranlaßten und mit dem Jahre 12 v. Chr. vom Niederrhein aus einsetzenden Offensiven hätten von Anfang an auf eine Eroberung Germaniens bis zur Elbe hin abgezielt. Diese Ansicht geht in ihrer prägnanten Ausformung, wie so vieles in unserer Disziplin, auf Th. Mommsen zurück. In seiner „Römischen Geschichte" „war die Elbe wohl die politische Reichsgrenze, aber der Rhein die Linie der Grenzverteidigung", in seiner Vorlesung im Wintersemester 1882/83 hieß es: ,.Anders war es bei der Donau- und Rheinlinie, die sich stets gegenseitig bedingten. Diese beiden Linien sollten nämlich durch die Elblinie ersetzt werden".12 Mommsens Interpretation wurde lange als die einzige vertreten, weite Verbreitung hat sie bis heute. Ihr war der Übersichtsartikel in der Realencyclopädie von Ihm ebenso verpflichtet wie E. Ritterlings grundlegende Studie über die Geschichte des römischen Heeres in Gallien. Im „Pauly-Wissowa" ist zu lesen: „Schon Augustus plante die Unterwerfung der Germanen vom Rhein bis zur Elbe", und bei Ritterling: „Jetzt faßte Augustus die völlige Einverleibung Germaniens bis an die Elbe ins Auge ,.."13 In den sechziger Jahren des 20. Jh. meinte der Tacitus-Kommentator E. Koestermann: „Die Elbe war gemäß den ursprünglichen Plänen des Augustus als endgültige Grenze vorgesehen", in den achtziger Jahren der Augustus-Biograph D. Kienast: „Angesichts der langjährigen Vorbereitungen der germanischen Feldzüge durch Augustus und seine Mitarbeiter wird man wohl daran festhalten dürfen, daß die Okkupation Germaniens bis zur Elbe von Anfang an die Absicht der römischen Operationen war".14 R. Syme brachte schließlich den geopolitischen Aspekt in 12 Th. Mommsen, Römische Geschichte, Band 5, Berlin 1885, 28, vgl. 25, 33, 53; ders., Römische Kaisergeschichte. Nach den Vorlesungsmitschriften von Sebastian und Paul Hensel 1882/86, hrsg. von B. und A. Demandt, München 1992,121, vgl. 124 und 129. 13 Ihm, Albis, RE 1, 1 (1893) 1317; E. Ritterling, Zur Geschichte des römischen Heeres in Gallien unter Augustus, Bonn. Jbb. 114/5,1906,176. 14 Cornelius Tacitus, Annalen, Band 1, erläutert von E. Koestermann, Heidelberg 1963, 280; D. Kienast, Augustus. Prinzeps und Monarch, Darmstadt 1982, 299.

Abb. 1: Germanicus

18 die Diskussion ein mit dem Argument, bei dem Verschieben der Grenze sei die Gewinnung einer leichter zu verteidigenden, weil verkürzten Frontlinie von ausschlaggebender Bedeutung gewesen.15 In den letzten Jahrzehnten ist die traditionelle Vorstellung mehrfach hinterfragt und modifiziert worden. Die zweite Forschungsrichtung steht im Zusammenhang mit einem sich seit den fünfziger Jahren des gerade zu Ende gegangenen Jahrhunderts wieder verstärkenden Interesse an dem Gegenstand. Diese Richtung war lange vor allem mit den Namen von K. Christ und D. Timpe verbunden.16 Beide Autoren haben darauf verwiesen, dass sich der Plan einer Grenze an der Elbe erst in einem längeren Prozess herausgebildet haben könne. Timpe betonte dabei den Schutz des Vorfeldes der Rheingrenze, Christ den Charakter der Vorstöße von Drusus, Domitius Ahenobarbus und Tiberius als bewaffneter Aufklärungszüge.17 Letzterer schreibt: „Die Bereitschaft zum Engagement rückte die Operationsziele immer weiter hinaus. Seit 9 v. Chr. lag die Elbe am militärischen Horizont, doch erst die Vorstöße der Folgezeit klärten die Lage und erst die beabsichtigte Zerschlagung des Marbodreiches hätte überhaupt die Voraussetzungen für eine Elbgrenze schaffen können."18 Die Überlegung, dass der Plan einer Korrektur der bisherigen Reichsgrenze in Richtung Nordosten erst im Verlauf dieser Feldzüge entstanden sein kann, hat schnell Resonanz gefunden.19 Dieser Ansicht neigt auch der Hamburger Althistoriker J. Deininger zu, der im Jahre 1997 die im Vorwort erwähnte verdienstvolle Untersuchung zum Auftreten der Elbe in der schriftlichen Überlieferung bis zu Karl dem Großen vorgelegt hat. Er meint: „Richtig ist zwar, dass die Elbe in der Überlieferung nicht explizit als ,letztes' Ziel der römischen Germanienpolitik erscheint. Aber wenn man alle Zeugnisse zusammennimmt, dürfte dennoch hinreichend deutlich sein, dass die überlieferten Vorstöße zur Elbe nicht nur keine bloßen römischen ,Machtdemonstrationen' im Stil von Caesars Rheinübergängen waren, sondern dass die Elbe vielmehr seit dem Jahre 9 v. Chr. eine sich quasi verfestigende Rolle als strategisches Ziel spielte, neben der es in dem gesamten Gebiet jenseits des Rheins kein anderes vergleichbares Objekt des römischen Interesses gab".20 Noch stärker den Prozesscharakter bei diesen Vorgängen unterstreicht J. Bleicken in seiner großen Augustus-Biographie von 1998, wenn er schreibt: „Die Erkundung des unbekannten Ostens, die Schwächung der über den Rhein drängenden rechtsrheinischen Germanen und die Besetzung wichtiger Punkte zu ihrer Beobachtung und zur eventuellen , Vorwärtsverteidigung' dürften im Jahre 12 die durchaus nicht gering zu achtenden Operations-

15 16 17 18 19

20

R. Syme, The Northern Frontiers under Augustus, in: Cambridge Ancient History, vol. 10, Cambridge 1934, 352-354. Bei Κ. Christ stand die Arbeit über Drusus und Germanicus, Paderborn 1956, am Beginn, bei D. Timpe die in den Anm. 1, 3 und 5 genannten Beiträge. Timpe, Rheingrenze 141-147; Christ, Germanienpolitik. Christ, Germanienpolitik, 236; vgl. dens., Geschichte der römischen Kaiserzeit von Augustus bis Konstantin, 3. Aufl. München 1995,128-131, 193-195 und Christ, Elbe. Vgl. H.-G. Simon, Eroberung und Verzicht. Die römische Politik in Germanien zwischen 12 v. Chr. und 16 n. Chr., in: Römer in Hessen 46f.; K.-P. Johne, Die Elbe als Ziel römischer Expansion, in: Rom und Germanien. Dem Wirken Werner Hartkes gewidmet, Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR 1982, 15 G, 40; Ch.-M. Ternes, Römisches Deutschland. Aspekte seiner Geschichte und Kultur, Stuttgart 1986, 58f., 75f. Deininger, Flumen Albis 28.

19 ziele gebildet haben. Der Erfolg und der dadurch wohl erst entfachte Eroberungsdrang des Drusus veränderte das Ziel,.. ,"21 Eine dritte, bereits bis in die Zeit des Ersten Weltkrieges zurückreichende Forschungsrichtung steht dem Plan einer römischen Grenze an dem mitteleuropäischen Strom überhaupt ablehnend gegenüber. Sie wurde von den amerikanischen Forschern W. A. Oldfather und Η. V. Canter begründet, die sämtliche Feldzüge der augusteisch-tiberischen Zeit lediglich als militärische Demonstrationen betrachteten.22 Dieser Auffassung haben sich in neuerer Zeit K.-W. Welwei und H. Callies angeschlossen.23 Von letzterem stammt die pointierte Ausführung: „Von der Elbe als solcher als Ziel römischer Aktionen kann schwerlich die Rede sein, schon gar nicht durchgängig und auch nicht von einer Elbgrenze". Im darauffolgenden Satz seines Beitrages von 1993 räumte Callies dann jedoch ein: „Zu sprechen ist nur vom Vorhaben, die Stämme bis zur Elbe zu unterwerfen, mit welcher organisatorischen Folgerung auch immer."24 Die hierbei vorgenommene Trennung von Landschaft und der in ihr vorhandenen Bevölkerung, wie sie in dem Satz: „Die römische Macht war an den Stämmen, nicht am Raum interessiert", zum Ausdruck kommt, erscheint etwas konstruiert.25 Einer „Elbgrenze" wäre doch die Herrschaft über die westlich des Flusses unterworfenen Stämme ebenso immanent gewesen wie der Rheingrenze diejenige über die linksrheinischen Stämme. Dass die Römer diesen Zusammenhang auch gesehen haben, beweist wohl am besten die offizielle Begründung für den Triumph des Germanicus, der „über alle Völker bis zur Elbe" gefeiert wurde. Unter anderem Aspekt in Zweifel gezogen wurde der Plan einer Grenze an dem Fluss in Germanien schließlich von einer Gruppe von Forschern, die die Ansicht vertreten, die Weltherrschaftsideologie des Augustus habe zu keiner Zeit die Festlegung einer derartigen Begrenzung zugelassen. So glaubte der britische Gelehrte C. M. Wells 1972, der Kaiser habe an der Elbe nicht haltmachen wollen, sein Landsmann J. J. Wilkes sah 1969 erst in den Karpaten das Expansionsziel, P. Garnsey und R. Salier vermuteten 1989 ebenso wie C. R. Whittaker 1994 ein geplantes Ausgreifen gar bis zum Weltmeer im Osten!26 Ebenfalls 1994 meinte A. Mehl im Rahmen einer Untersuchung über die augusteische Vorstellung von der Grenzenlosigkeit des Römischen Reiches: „Augustus hatte also tatsächlich nicht vor, seine in Errichtung befindliche Provinz Germania im Osten mit der Elbe zu begrenzen; sie sollte viel weiter, bis zum Siedlungsgebiet der Skythen und mit ihnen verwandter Völker reichen, also bis in das heutige Weißrussland / Rußland / Ukraine hinein".27 21 22 23

24 25 26

27

Bleicken, Augustus 588. W. A. Oldfather - Η. V. Canter, The Defeat of Varus and the German Frontier Policy of Augustus, University of Illinois Studies in Social Sciences 4, 2,1915 (Nachdruck New York - London 1967) 82ff. K.-W. Welwei, Römische Weltherrschaftsideologie und augusteische Germanienpolitik, Gymnasium 93 (1986) 118-137, bes. 119 und 136f.; H. Callies, Zur augusteisch-tiberianischen Germanenpolitik, in: Colloquium aus Anlaß des 80. Geburtstages von Alfred Heuß, hrsg. von J. Bleicken, Kallmünz 1993, 135-141; ders., Römer und Germanen im nördlichen Deutschland, in: Rom an der Niederelbe 15-23, bes. 19f. Callies, Germanenpolitik (wie Anm. 23), 141. A. a. O. 139. Wells, Policy 3-13; J. J. Wilkes, Dalmatia, London 1969, 66; P. Garnsey / R. Salier, Das römische Kaiserreich. Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur, Reinbek bei Hamburg 1989, 15f.; C. R. Whittaker, Frontiers of the Roman Empire. Α Social and Economic Study, Baltimore - London 1994, 38. Mehl, Imperium 451.

20 Spekulationen dieser Art steht nun allerdings das bereits erwähnte Verbot des Augustus gegenüber, seine Feldherrn sollten die Elbe nach Osten hin nicht überschreiten.28 Wenn dieses Verbot auch erst nach den realen Erfahrungen entstanden sein dürfte, die sich der Durchsetzung des gerade in augusteischer Zeit mit Nachdruck vertretenen Weltherrschaftsanspruchs in den Weg stellten, so war doch der römischen Oberschicht der Zug Alexanders nach Indien mit all seiner Mühsal und seinen großen Gefahren bekannt. Die bisherigen Versuche, auf den Spuren des großen Makedonen zu wandeln, waren jeweils bereits in den ersten Anfängen stecken geblieben. Pompeius war im Jahre 65 v. Chr. nur fast bis an das Kaspische Meer gekommen, Crassus 53 v. Chr. nur bis in das westliche Mesopotamien, wo er in der Schlacht von Carrhae unterging. Die in Rom postulierte Weltherrschaft stieß in der Realität im Norden wie im Osten immer wieder an unüberwindliche Grenzen! Die hier nur kurz vorgestellten kontroversen Forschungsmeinungen zur Germanienpolitik des Augustus beruhen letztlich auf dem Fehlen eindeutiger Aussagen in den Quellen und der Bandbreite von Interpretationsmöglichkeiten der vorhandenen Zeugnisse.29 Ausgehend von der eingangs zitierten Passage mit der Behauptung, „schon sei die Elbe näher als der Rhein", soll zu dem von Germanicus postulierten und von Tacitus literarisch gestalteten Anspruch in diesem Buch drei Fragenkomplexen nachgegangen werden: 1. Seit wann war und wie wurde Griechen und Römern die Elbe und ihr Stromgebiet überhaupt bekannt? 2. Wann und unter welchen Umständen kann der Plan einer Ausdehnung des Römischen Reiches bis an diesen Fluss entstanden sein? 3. Welche Rolle spielten die Elbe und die sie umgebenden Landschaften nach dem endgültigen Scheitern aller Expansionspläne in der antiken Literatur? In dem ersten Fragenkomplex geht es vorrangig um einen Aspekt des geographischen Weltbildes der Antike. Dabei wird der Blick zuerst weit zurück gelenkt auf die sehr allmähliche Herausbildung genauerer Vorstellungen über den mitteleuropäischen Raum. Das zweite Kapitel befasst sich daher mit den noch äußerst vagen Kenntnissen an geographischen Fragen interessierter griechischer Schriftsteller über das Stromgebiet der Elbe im weiteren Sinne. Für die Autoren vom 7. bis zum 2. Jh. v. Chr. war die Donau die Begrenzungslinie nach Norden, an der alle näheren Kenntnisse ihr Ende fanden. Allenfalls in die schemenhaften Vorstellungen vom „Bernsteinfluß" Eridanos könnte ein Wissen von der Elbe mit eingeflossen sein. Die Küsten Westeuropas wurden im 4. Jh. v. Chr. durch Pytheas von Massalia entdeckt, er gelangte vermutlich bis nach Helgoland und zur Elbmündung. Obwohl durch seine Expedition das bisherige Weltbild beträchtlich erweitert wurde, galt die Erforschung Kontinentaleuropas auch im 2. Jh. v. Chr. für die Griechen noch als eine Aufgabe der Zukunft. Mit den Zügen der Kimbern und Teutonen zwischen 113 und 101 v. Chr. kam die Mittelmeerwelt erstmals mit „nördlichen Barbaren" aus dem weiteren Umfeld der Elbe in Berührung. Die Schlacht von Noreia 113 v. Chr. war der Beginn jahrhundertelanger Auseinandersetzungen zwischen Römern und Germanen, von der römischen Niederlage bei Arausio nahm das Bild vom furor Teutonicus, der „teutonischen Raserei", seinen Ausgang. Das 28 29

Siehe oben Seite 14 mit Anm. 5. Neuere Überblicke zur Forschung bieten Bleicken, Augustus 754—756; Deininger, Strategie 757-771; Hänger, Welt im Kopf 226-230; Kehne, Offensiven 297-305; vgl. unten Kap. V Seiten 109-112.

21 unter diesem Begriff stehende dritte Kapitel behandelt auch die literarische Verarbeitung dieser Vorgänge bei Poseidonios Rhodios. Das vierte Kapitel verfolgt das Geschehen am Rhein von 58 bis 17 v. Chr. Mit der Eroberung Galliens verknüpfte Caesar die Mittelmeerwelt und Mitteleuropa auf Dauer miteinander, mit seinen beiden Rheinübergängen der Jahre 55 und 53 v. Chr. begann die ein halbes Jahrtausend währende Präsenz Roms im Rheinland und sein Feldzugsbericht eröffnete den Römern auch die Welt der Germanen. Seitdem war es nur noch eine Frage der Zeit, wann das rechtsrheinische Germanien im Imperium bekannter wurde. In Caesars Werk tritt mit Ariovist der erste Germane in der Literatur auf, bei seiner Beschreibung des „Suebenlandes" gelangt erstmals Mitteldeutschland in das Blickfeld. Der zweite Fragenkomplex beschäftigt sich mit den Feldzügen der augusteischen Zeit zwischen 12 v. Chr. und 16 n. Chr., jenen drei Jahrzehnten, für die der Titel „Römer an der Elbe" im eigentlichen Sinne zutrifft. Diesem Thema sind die Kapitel V bis IX gewidmet. Die „Entdeckung" der Elbe durch Drusus im Jahre 9 v. Chr. steht im Mittelpunkt des fünften Kapitels. Sein Feldzug an diesen Strom und an die Saale gehört zu einer Reihe von Vorstößen, mit denen das Vorfeld des Rheins römischer Kontrolle unterstellt und Caesars Eroberungen gesichert werden sollten. Erörtert werden verschiedene Aspekte augusteischer Germanienpolitik und die mit den Feldzügen dieser Jahre wahrscheinlich verbundenen Ziele. Das im sechsten Kapitel behandelte immensum bellum, der „ungeheure Krieg" der Jahre 1/2 bis 3/4 n. Chr., hat offenbar eine Wende in der politischen Zielsetzung herbeigeführt. Die Aufgabe der rechtsrheinischen Militärlager 8/7 v. Chr. spricht gegen von Anfang an vorhandene Eroberungspläne. Erst als die seit 12 v. Chr. errichtete indirekte Herrschaft zwischen Rhein und Elbe ins Wanken geriet und mehrere Stämme erneut unterworfen werden mussten, scheint die Schaffung einer provincia Germania ins Auge gefasst worden zu sein. Seit dem Beginn der christlichen Zeitrechnung wurden römische Anlagen in den Tälern von Lippe, Lahn und Main konsequent ausgebaut. In den in diesem Kapitel behandelten Zeitraum 8 v. Chr. bis 3 n. Chr. fallt auch das weiteste römische Vordringen in Germanien bis über die Elbe. Das Geschehen der Jahre 4 bis 6 n. Chr. bildet den Inhalt des siebenten Kapitels „Tiberius und Marbod". Der römische Thronfolger erschien im Sommer 5 mit Heer und Flotte an der Elbe und plante im folgenden Jahr einen groß angelegten Feldzug gegen das Reich des Markomannenkönigs Marbod. Zu keinem Zeitpunkt sind mehr „Römer an der Elbe" gewesen, einer von ihnen, Vellerns Paterculus, lieferte den einzigen erhalten gebliebenen Augenzeugenbericht aus dem Stromgebiet. Die Flottenexpedition an die Nordspitze Jütlands wird in das Jahr 4 datiert und für das Winterlager des Tiberius die Mündung der Ems statt eines der Kastelle an der Lippe in Betracht gezogen. Die drei Jahre vor der Schlacht im Teutoburger Wald bilden den Inhalt des achten Kapitels. Unter dem Aspekt der Provinzialisierung bedeutet die Statthalterschaft des Varus den Höhepunkt römischer Machtentfaltung in Germanien. Während das Vorland des Rheins, die Täler von Lippe und Lahn sowie die Wetterau direkter Kontrolle unterstanden, existierte im größeren Teil des Gebiets östlich des Rhein eine indirekte Herrschaft über verschiedene Stämme. Zwischen Weser und Elbe bestand lediglich der römische Anspruch auf eine Oberhoheit. Eingebettet in die Ausführungen sind Vorgeschichte und unmittelbare Folgen der Varusschlacht.

22 Um die römische Germanienpolitik in den Jahren von 10 bis 20 geht es im neunten Kapitel. Einen Triumph angeblich „über alle Völker bis zur Elbe" feierte Drusus' Sohn Germanicus 17 nach dem aufwendigsten Krieg, den die Römer 14 bis 16 zwischen Rhein und Weser, Nordsee und Main geführt haben. Für Germanicus war die Ausdehnung der Herrschaft bis an die Elbe das angestrebte Kriegsziel. Als dieses trotz aller Anstrengungen nicht erreicht wurde, gab Kaiser Tiberius die seit drei Jahrzehnten verfolgte Offensivpolitik auf. Der dritte Fragenkomplex erörtert den Strom und die ihn umgebenden Landschaften mit ihren Bewohnern im geographischen Weltbild und im politischen Bewusstsein der Römer, wie es sich in ihrer eigenen Literatur nach der Expansionszeit darstellt. Das kurzfristige Eroberungsziel der augusteischen Zeit, ohnehin nie mehr als eine „Anspruchsgrenze", entwickelte sich allmählich zu dem wichtigsten Symbol vergangener römischer Machtentfaltung in Germanien. Die geographischen Erträge der augusteischen Germanienkriege und die damit verbundenen Erkenntnisfortschritte über Mitteleuropa in den Schriften von Strabon, Pomponius Mela und Plinius dem Älteren sind das Thema des zehnten Kapitels. Daneben werden die römisch-germanischen Beziehungen von der Regierung des Tiberius bis zu der Neros verfolgt. „Einst war sie ein bekannter und vielgenannter Fluss" lautet die resignierende Feststellung des Tacitus im Rückblick auf die Elbe. Seine Monographie „Germania" steht im Mittelpunkt des elften Kapitels und dabei vorrangig die Bedeutung der Flüsse und die Darstellung der elbgermanischen Stämme. Dazu kommt ein Überblick zur Rheingrenze zwischen den Jahren 69 und 98, in dem es besonders um Domitians Politik geht. „Die Elbquelle in den Vandalischen Bergen", wie der Titel des zwölften Kapitels lautet, verweist auf die einzig zutreffende Nachricht über die Quelle dieses Stromes im Werk des Cassius Dio. Sie stellt den letzten Erkenntnisfortschritt zur Elbe in der antiken Literatur dar. In diesem Teil geht es um das geographische Wissen der Kaiserzeit, wie es Klaudios Ptolemaios in grundlegender Weise zusammengefasst hat. Eingebettet sind die Ausführungen dazu in die römisch-germanischen Beziehungen von Trajan bis zu Commodus. Die Markomannenkriege der Jahre 166 bis 180 und die Planung einer neuen Provinz Marcomannia gelangen dabei ebenfalls ins Blickfeld. Das dreizehnte Kapitel trägt die Überschrift „Semnonen am Lech" und bezieht sich auf den 1992 entdeckten Augsburger Siegesaltar, der einen römischen Erfolg über eine aus dem Elberaum stammende Gruppe von Germanen, die bis nach Italien vorgestoßen sind, feiert. Das Kapitel verfolgt die Entwicklung von Caracallas Germanenkrieg 213 bis zum Feldzug des Probus 277/278. Thematisiert werden das Auftauchen der Alamannen als neue ethnische Gruppierung elbgermanischer Herkunft, der Feldzug des Maximinus Thrax 235/236, das Ende des obergermanisch-rätischen Limes, archäologisch fassbare Beziehungen aus dem Römischen Reich nach Mitteldeutschland, der angebliche Vorstoß des Kaisers Probus über den Neckar bis zur Elbe und die allgemeine Verschlechterung des Wissens über das Innere Germaniens in den griechisch-römischen Quellen etwa ab dem Jahre 230. Das abschließende Kapitel nimmt seinen Ausgangspunkt von einem Zitat aus dem Geschichtsabriss des Eutrop. Darin meint der Autor, die Elbe für seine Leser als einen Fluss im Barbaricum, weit entfernt vom Rhein, erläutern zu müssen. Die Feststellung ist ganz bezeichnend für die abnehmenden Kenntnisse über dieses Stromgebiet in der Spätantike. Wie eine Durchmusterung der Quellen von den Panegyrici Latini im späten 3. bis zu Sidonius

23 Apollinaris in der Mitte des 5. Jh. ergibt, stehen konkrete und verlässliche Angaben über Alamannen, Franken und Sachsen im Vorfeld der Rheingrenze Nachrichten aus dem inneren Germanien gegenüber, bei denen es sich nur noch um literarische Reflexionen eines älteren Wissensstandes handelt. Der einzige Erkenntniszuwachs über den mitteldeutschen Raum ist das Auftauchen der Thüringer etwa ab 400. Dabei wird der Blick auch auf „Germanen im römischen Dienst" aus dem Thüringerreich gerichtet. Abschließend erfahren die Langobarden als die einzigen Germanen der Völkerwanderungszeit, die von der Elbe bis nach Italien gezogen sind, eine Würdigung. Ihr Zug stellt hinsichtlich der Ausgangssituation der römischen Politik, dem Streben bis zur Elbe, geradezu die Umkehrung dar. Der langobardische Schriftsteller Paulus Diaconus wiederholt im 8. Jh. zwar nochmals Eutrops Erklärung, blickt aber auch als erster Literat bei der Elbe über Zeit und Grenzen des Römischen Reiches hinaus.

Kapitel II Das Stromgebiet der Elbe aus der Sicht der Griechen in vorchristlicher Zeit

Die ältesten Erwähnungen der Elbe in der erhalten gebliebenen Literatur finden sich im ersten und im siebenten Buch der „Geographika" des Strabon von Amaseia. Der aus dem Pontos stammende Schriftsteller, der um 64 v. Chr. geboren wurde und nach 23 n. Chr. gestorben ist, hinterließ die umfassendste Darstellung der Geographie aus dem Altertum. Das erste Buch ist nach dem Jahre 9 n. Chr. und das siebente nach dem Jahre 17 redigiert oder überarbeitet worden, also nach den Jahren der Varusschlacht bzw. des Triumphes des Germanicus. Strabon war somit ein Zeitgenosse der römischen Feldzüge bis an den mitteleuropäischen Strom. Er betont die Bedeutung dieser militärischen Operationen für die Entdeckung des Flusses, wenn er gleich zu Beginn seines Werkes meint, die Machtausbreitung der Römer und der Parther habe seiner Generation einen großen Zuwachs an Kenntnissen in der Geographie gebracht, wie es ähnlich - um Eratosthenes zu zitieren - die Generation nach dem Zug Alexanders des Großen erlebt habe. Denn dieser habe einen großen Teil Asiens und den ganzen Norden Europas bis zur Donau erschlossen, die Römer den gesamten Westen Europas bis zur Elbe, die Germanien in zwei Teile zertrennt, und die Gebiete jenseits der Donau bis zum Dnestr: Και γαρ δή πολύ τι τοις νϋν ή των 'Ρωμαίων έπικράτεια και των Παρθυαίων της τοιαύτης έμπειρίας προσδέδωκε, καθάπερ τοις μετά τήν 'Αλεξάνδρου στράτειαν, ως φησιν Ερατοσθένης" ό μέν γαρ της 'Ασίας πολλήν άνεκάλυψεν ήμΐν και τών βορείων της Εύρώπης απαντα μέχρι τοΰ "Ιστρου, οι δέ 'Ρωμαίοι τά έσπέρια της Εύρώπης άπαντα μέχρι "Αλβιος ποταμού τοΰ τήν Γερμανίαν δίχα διαιρούντος τά τε πέραν "Ιστρου τά μέχρι Τύρα ποταμού. 1 Strabon setzt die Feldzüge des Makedonenkönigs bis zum Syr-Daqa in Zentralasien und über den Indus sowie an die untere Donau mit den Expeditionen der augusteischen Zeit bis an die Elbe und über die Donau in Richtung Dnestr in Parallele. Dabei betrachtet er alle diese Grenzpunkte von seiner Heimat Kleinasien aus, denn nur aus diesem Blickwinkel kann die Donau im Norden Europas und die Elbe im Westen lokalisiert werden. Auch die Erwähnung des Dnestr, dessen Mündungsgebiet am Schwarzen Meer römischem Einfluß unterstand, spricht dafür. Gleich bei dieser zeitlich frühesten Nennung des Elbestroms wird er als eine Trennlinie innerhalb Germaniens verstanden. Für Strabon scheidet er den bekann-

1 Strab. 1, 2, 1 p. 14 C = Quellen I 212f.; vgl. 502 in der Übersetzung und Kommentierung von W. O. Schmitt und G. Chr. Hansen.

26 ten Teil dieses Landes von dem unbekannten, eine andere Begründung für die trennende Funktion des Flusses wird uns bei Tacitus begegnen. Den aus dieser Stelle gewonnenen Eindruck, daß für den griechischen Geographen die augusteischen Feldherrn auch die „Entdecker" der Elbe gewesen sind, bestätigen zwei weitere Feststellungen im siebenten Buch. Nach einer Durchmusterung der zwischen Rhein und Elbe siedelnden Germanenstämme meint Strabon, daß diese erst bekannt geworden sind, als sie mit den Römern Krieg führten, sich dann ergaben und wieder mit ihnen brachen oder auch ihre Siedlungsgebiete verließen. Es wären wohl noch mehr dieser Stämme bekannt geworden, wenn Augustus seinen Feldherrn erlaubt hätte, die Elbe zu überschreiten, um die dorthin abgezogenen zu verfolgen: Γνώριμα δέ ταϋτα κατέστη τά έθνη πολεμοΰντα προς ' Ρωμαίους, ειτ' ένδιδόντα και πάλιν άφιστάμενα η και καταλείποντα τάς κατοικίας' καν πλείω δέ γνώριμα ύπήρξεν, εΐ έπέτρεπε τοις στρατηγοΐς ό Σεβαστός διαβαίνειν τόν "Αλβιν μετιοΰσι τους έκεΐσε άπανισταμένους. 2 Kurz danach folgt die Feststellung, die Gebiete jenseits der Elbe am Ozean seien völlig unbekannt: τά δέ πέραν τοΰ "Αλβιος τά πρός τψ ώκεανφ παντάπασιν άγνωστα ήμΐν έστιν. 3 Tatsächlich gehen die Angaben, die Strabon in sein Geographiebuch aufgenommen hat, an keiner Stelle über die Kenntnisse hinaus, die eben durch die Feldzüge um den Beginn unserer Zeitrechnung gewonnen wurden. Würde man allein seinen Ansichten vertrauen, dann wäre ein großer Teil Mitteleuropas bis auf seine Zeit überhaupt terra incognita gewesen. Das war so aber nicht der Fall. Bereits in früher Zeit scheinen nämlich vage Kenntnisse von der Elbe in Feststellungen über Flüsse im Norden und Westen Europas in das für geraume Zeit noch mythische und spekulative Weltbild der Griechen mit eingeflossen zu sein.4 Schon am Anfang der griechischen Literatur, bei dem ersten als Persönlichkeit faßbaren Dichter, bei Hesiod um 700 v. Chr., taucht das Gliederungsprinzip auf, Flüsse als geographische Ordnungsgrößen zu verwenden. Im Katalog der Flußgötter, der „Söhne des Okeanos und der Tethys", stehen in Hesiods „Theogonie" der Nil für den Süden, der Phasis für den Osten, die Donau für den Norden und der Fluß Eridanos für den Westen der als runde Scheibe gedachten und vom Ozean umflossenen Welt.5 Alle vier Flüsse begegnen an dieser Stelle zum ersten Male in der Überlieferung, selbst der Nil, der in Homers Odyssee noch 2 Strab. 7,1, 4 p. 291f. C = Quellen 1234f.; vgl. 513f.; GoetzAVelwei I 92f. 3 Strab. 7,2,4 p. 294 C = Quellen 1240f.; vgl. 517; GoetzAVelwei I 96f. 4 Grundlegend für die „Entdeckung des Nordens" im Altertum ist die Abhandlung von Timpe, Entdeckungsgeschichte, aus dem Jahre 1989; zum Beginn der Geographie vgl. H.-J. Gehrke, Die Geburt der Erdkunde aus dem Geiste der Geometrie. Überlegungen zur Entstehung und Frühgeschichte der wissenschaftlichen Geographie bei den Griechen, in: W. Kullmann/J. AlthoffTM. Asper (Hrsg.), Gattungen wissenschaftlicher Literatur in der Antike, Tübingen 1998,163-192; zur Geographie in der Antike insgesamt E. Olshausen, Einfuhrung in die historische Geographie der Alten Welt, Darmstadt 1991; R. Talbert, Geographie, DNP 4 (1998) 925-929; W. Hübner (Hrsg.), Geographie und verwandte Wissenschaften, Stuttgart 2000. 5 Hes., theog. 337-345; vgl. Quellen 144f.; vgl. 429 in der Übersetzung und Kommentierung von I. Stark; Müller, Ethnographie 165f.

27

wie das Land „Aigyptos" genannt wird.6 Der Phasis ist der Hauptfluß der Kolchis am südwestlichen Abhang des Kaukasus und galt lange als eine Grenze zwischen Europa und Asien. Die untere Donau, der Istros, bildet für Hesiod eine der nördlichen Begrenzungen der bekannten Welt, sein Blickwinkel ist ebenso der aus dem ägäischen Raum wie Jahrhunderte später noch für Strabon. Nicht identifizierbar ist von diesen vier Strömen allein der Symbolfluß des Westens, 'Ηριδανός βαθυδίνης, „der an Wirbeln reiche Eridanos".7 Von dieser ersten Erwähnung an bis in die augusteische Dichtung bleibt er in die griechische Mythologie eingebunden. An seinen Ufern wohnen die Töchter des Zeus und der Themis, die Nymphen, die Herakles bei der Suche nach den Äpfeln der Hesperiden den Weg weisen. In den Fluß stürzte Phaeton aus dem Sonnenwagen, beweint von seinen Schwestern, den Heliaden, die an den Ufern in Schwarzpappeln verwandelt wurden. Die von den Heliaden vergossenen Tränen wurden zu Bernstein, was ein recht frühes Wissen um dessen Entstehung aus Baumharz verrät. Seit Hesiod ist der Eridanos für die Griechen mit der Bernsteingewinnung verbunden. Immer wieder wurde versucht, ihn mit bekannt werdenden „westlichen" Flüssen zu identifizieren, zuerst mit dem Po in Italien, dann aber auch mit der Rhone in Gallien. Die Mündungen beider Flüsse mit den Häfen Massalia und Atria waren Stationen des Bernsteinhandels.8 Interessant ist die Äußerung Herodots (um 484 - um 425 v. Chr.) über die Mündung des ,3ernsteinflusses" Eridanos in das nördliche Meer, allerdings zieht er die Existenz des Flusses in Zweifel und hält ihn für die Erfindung eines Dichters; dahinter steckt wohl Polemik gegen seinen Vorgänger Hekataios von Milet (um 500 v. Chr.).9 Die höchst merkwürdige Nachricht, der im späten 5. Jh. v. Chr. wirkende Epiker Choirilos von Samos habe den Eridanos in Germanien lokalisiert, hat inzwischen eine plausible Erklärung dadurch gefunden, daß es sich in dem Text des Fragments gar nicht um den Begriff Germania handelt, sondern um Gerania, einen skythischen Ort in der Dobrudscha, an dem der von Homer geschilderte Kampf zwischen Pygmäen und Kranichen später lokalisiert worden ist.10 Die völlig anachronistische Verwendung von Germania in der griechischen Literatur der klassischen Zeit hat jedoch erstaunlicherweise als Möglichkeit Eingang in verschiedene Überblicksdarstellungen, auch neuerer Zeit, gefunden.11 Einen Fluss Eridanos hat es in der Realität ganz offensichtlich nicht gegeben, in die Vorstellung von ihm sind Nachrichten von verschiedenen Strömen eingegangen, die mit dem Bernsteinhandel in Verbindung gebracht worden sind. Dies trifft sicher für den Po und die Rhöne zu, könnte aber auch Rhein und Elbe mit einbeziehen, wenn man Herodots Nachricht über eine Mündung des Eridanos in das Nordmeer bedenkt. Für die Bronzezeit des 2. vorchristlichen Jahrtausends scheint sich eine „Bernsteinstraße" entlang der Elbe abzuzeichnen, 6 7 8

Horn., Od. 4,477. 581. Hes., theog. 338 = Quellen 144f.; vgl. 429. Alle Belege bei Escher, Eridanos 4, RE 6, 1 (1907) 446-448; vgl. H. von Geisau, Kl. Pauly 2 (1967) 357; G. Neumann, RGA 7 (1989) 497-499; Timpe, Entdeckungsgeschichte 315f.; R. Block, DNP 4 (1998) 67. 9 Hdt. 3, 115, 1-2 = Quellen 146-49; vgl. 431 in der Übersetzung und Kommentierung von I. Stark. 10 Poetarum Epicorum Graecorum testimonia et fragment» pars I, ed. A. Bernabd, Leipzig 1987, 193: Choerilus frg. 4; vgl. Plin. nat. hist. 4, 44; Kissling, Gerania, RE 7,1 (1910) 1239; M. Fantuzzi, Choirilos 1, DNP 2 (1997) 1137f. 11 Escher, Eridanos 4, RE 6, 1 (1907) 447; G. Neumann, Eridanos, RGA 7 (1989) 497; Timpe, Entdeckungsgeschichte 316.

28 auf der der begehrte Stoff von Jütland den Strom aufwärts, teils über die Saale oder über die Moldau bis zur Donau und über diese in den Mittelmeerraum gebracht wurde.12 Für die Elbe als Route dieses frühgeschichtlichen Fernhandels spricht auch die „Bernsteininsel" Abalus, die mit einiger Wahrscheinlichkeit an Helgoland als Markt- und Stapelplatz denken läßt.13 Somit kann die Vermutung, in die Vorstellung vom Eridanos seien neben vagen Kenntnissen von anderen „Bernsteinflüssen des Westens" auch solche von der Elbe mit eingeflossen, nicht ganz von der Hand gewiesen werden. Bernstein hat als ein aus einem anderen Kulturkreis stammender Stoff die Menschen am Mittelmeer immer wieder von neuem fasziniert. Jahrhundertelang war er der einzige Importartikel aus dem fernen Norden. Das war er schon für den Dichter der „Odyssee".14 Die Donau war für die Autoren des archaischen und des klassischen Griechenlands die entscheidende Begrenzungslinie im Norden; an der alle näheren Kenntnisse ihr Ende fanden. Erstmals bei Hesiod genannt, wurde sie von Herodot in seinem Geschichtswerk relativ ausführlich beschrieben. Der Historiker aus Halikarnassos hält sie für „den größten aller Ströme, die wir kennen". Ihren Ursprung sucht er im fernen Westen, „im Keltenlande bei der Stadt Pyrene". Von hier aus fließe sie durch ganz Europa - von den Kelten zu den Skythen und münde bei der milesischen Kolonie Istria ins Schwarze Meer. Dieser Hinweis auf das „rumänische Pompeji" in der Dobrudscha nördlich Constanza läßt deutlich werden, dass wirklich bekannt im 5. Jh. nur der Unterlauf des Stromes gewesen ist. Hinter der „Stadt" Pyrene dürfte sich das Pyrenäengebirge verbergen, man hielt die Donau also fast für doppelt so lang wie sie tatsächlich ist.15 Bei der Aufzählung von Nebenflüssen der Donau erwähnt Herodot Karpis und Alpis - Κάρπις ποταμός καΐ άλλος "Αλπις - , aller Wahrscheinlichkeit nach die ersten Erwähnungen der Alpen und der Karpaten, wenn man annimmt, daß im Laufe der Informationsweitergabe der Name eines Gebirges auf den aus ihm entspringenden Zufluß der Donau übertragen worden ist.16 Den Mangel an Kenntnissen über den Mittelund Oberlauf der Donau hat der Geschichtsschreiber selbst empfunden. Freimütig bekennt er, über die in Europa am weitesten westlich gelegenen Länder nichts Genaues berichten zu können.17 Ein Jahrhundert später liegen Informationen vor, die über Herodots Wissen hinausgehen. Bei Aristoteles (384-322 v. Chr.) ist aus der „Stadt" Pyrene ein Gebirge im Keltenland geworden, in dem die Donauquelle gesucht wird. Der Philosoph aus Stageira weiß auch etwas Näheres aus dem Gebiet nördlich der Donau, womit die geographischen Kenntnisse 12 J. M. Navarro, Prehistoric routes between Northern Europe and Italy defined by the amber trade, Geographical Journal 66, 1925, 481-507; D. Bohnsack/A.-B. Follmann, Bernstein und Bernsteinhandel, RGA 2 (1976) 288-298; J. Gurba, Bernstein während des Äneolithikums, in: I. Stezka, Peregrinatio Gothica. Supplementum ad Acta Musei Moraviae 82, 1997, 9-15; bes. Abb. 6 unter Berufung auf Μ. Gimbutas, Bronze Age Cultures in central and eastern Europe, den Haag 1965; dtv-Atlas zur Weltgeschichte, Band 1, 33. Aufl. München 1999, 18f. 13 R. Wenskus/K. Ranke, Abalus, RGA 1 (1973) 5f.;Wenskus, Bernsteinhandel 53f.; Cary/Warmington 62; Dobesch, Barbaricum 87; vgl. unten Seite 32f. 14 Horn., Od. 15,459-460 = Quellen 142f.; vgl. 429 in der Übersetzung und Kommentierung von I. Stark. 15 Hdt. 2, 33, 3-34, 1; 4, 48, 1; 49, 2-3; 50, l ^ t = Quellen I 46-^9; vgl. 431f.; Cary/Warmington 223225. 16 Hdt. 4, 49,2 = Quellen 148f.; vgl. 432. 17 Hdt. 3, 115, 1 = Quellen I 46f.; vgl. 431; ähnlich freimütig äußert er sich hinsichtlich der geringen Kenntnisse über die Skythen 4, 16, 1.

29 erstmals in die Nähe des Stromgebietes der Elbe gelangen. Während nämlich die Donau zum Schwarzen Meer fließe, sei die Richtung anderer Flüsse der Norden. Sie kämen aus dem Arkynischen Gebirge - δρη ' Αρκύνια - , dem an Höhe und Ausdehnung größten dieser Gegend.18 Hierbei handelt es sich um die älteste Erwähnung des Mittelgebirgssystems, das sich vom Schwarzwald über die böhmischen Randgebirge bis zu den Karpaten hinzieht und in den späteren Quellen unter dem Namen „Herkynischer Wald" begegnet. Man wird mit Sicherheit davon ausgehen können, daß die meisten anderen Flüsse - των δ ' άλλων ποταμών oi πλείστον - , die nach Norden fließen, damals in Griechenland namentlich nicht bekannt gewesen sind. Bei der großen Ausdehnung des Begriffs „Arkynisches Gebirge" sind darunter alle großen Ströme Mitteleuropas zu verstehen, Rhein, Weser und Elbe ebenso wie Oder und Weichsel. Insgesamt blieben die Kenntnisse über Mitteleuropa bei allen Autoren der klassischen Epoche gering. Man gewinnt den Eindruck, das binnenländische Europa liege für die Griechen des 5. und 4. Jh. im Nebel, der sich nur ganz allmählich etwas zu lichten beginne. Bestätigt wird dieser Eindruck durch eine interessante Parallele aus einem anderen geographischen Bereich. Ein Zeitgenosse des Aristoteles war der Philosoph Herakleides Pontikos (um 390 - nach 322 v. Chr.), ein Schüler Piatons.19 In seiner Abhandlung „Über die Seele" bemerkt er beiläufig, aus dem fernen Westen sei die Nachricht gekommen, ein Heer aus dem Norden, aus dem Lande der Hyperboreer, habe eine griechische Stadt namens Rhome erobert, die irgendwo am Großen Meer liege.20 Die Information vermittelt in ihrer Unschärfe den Eindruck, der Autor habe ein Gerücht vom Rande der bekannten Welt vernommen, mit dem er nichts Richtiges anzufangen weiß, vergleichbar dem mitteleuropäischen Raum. Der „Westen" in der Ausdrucksweise des kleinasiatischen Griechen ist jedoch Italien und das an den Rand der Sage gerückte Nordvolk sind nicht etwa die Germanen, sondern die im 4. Jh. in Norditalien siedelnden Kelten, die in den Jahren um 387 v. Chr. bis nach Mittelitalien vorgestoßen waren und das damals noch kleine Rom erobert und bis auf die Festung auf dem Capitol zerstört hatten. Die Lage dieser Stadt war dem Philosophen ganz offensichtlich nicht bekannt, er hielt sie für eine der vielen hellenischen Poleis an den Südküsten der Apenninenhalbinsel, wobei ihm auch nicht klar war, welcher Küste sie zuzuordnen war, der westlichen am Tyrrhenischen Meer oder der östlichen am Adriatischen bzw. Ionischen Meer. Die für das Weltbild des 4. vorchristlichen Jh. interessante Stelle wird sehr viel später von Plutarch überliefert, dem es geradezu peinlich ist, daß ein bekannter Philosoph hinsichtlich seiner Kenntnisse über Rom in einer solchen Weise im Dunkeln tappt. (Mestrius) Plutarchus (um 50 - um 120 n. Chr.) besaß selbst das römische Bürgerrecht, Griechenland und Kleinasien waren zu seiner Zeit Provinzen des Imperium Romanum.21 Er tadelt Herakleides Pontikos hart als Fabulierer und Geschichtenerfinder und führt zur Ehrenrettung der Philosophenzunft an, Aristoteles besitze zuverlässige Kenntnisse über die Eroberung dieser Stadt

18 19 20 21

Arist., meteor. 1, 13 p. 350 a 36-350 b 10 = Quellen I 54-57; vgl. 436 in der Übersetzung und Kommentierung von I. Stark. K.-H. Stanzel, Herakleides 16, DNP 5 (1998) 373-375. Herakl. Pont., frg. 102 Wehrli = Plut., Cam. 22, 2-3, vgl. Η. H. Schmitt, Rom und die griechische Welt von der Frühzeit bis 133 v. Chr. Antike Quellen in Übersetzung, München 1992, 15. PIR2 VI (1998) Ρ 526.

30 durch die Kelten, wenn er auch den Namen des M. Furius Camillus, Roms Retter nach der Gallierkatastrophe, nicht korrekt überliefere.22 Die Passage macht die Begrenztheit des geographischen Horizonts am Ausgang der klassischen Epoche Griechenlands deutlich. Auch wenn dieser Schüler Piatons nicht zu den Bestinformiertesten seiner Zeit gehört haben dürfte, ging er doch davon aus, dass den Lesern seiner Schriften das westliche Mittelmeer ebenfalls weithin unbekannt gewesen ist. Unter diesem Aspekt brauchen die fehlenden Kenntnisse über Mitteleuropa überhaupt nicht zu verwundern. Besonders über die Hyperboreer in diesem Zusammenhang macht sich Plutarch lustig. Mit diesem Begriff wird ein mythisches Volk bezeichnet, das man sich am Rande der Welt, jenseits des Boreas, des Nordwindes, wohnend dachte. In enger Verbindung mit den Hyperboreern stand die Vorstellung von einem riesigen Nordgebirge, den Rhipäen, einem Ort ewigen Eises, Quellgebiet für alle in das Schwarze Meer mündenden Ströme. Ursprünglich könnten Kenntnisse vom Ural die Vorstellung von den Rhipäen mitgeformt haben. Wie der Fluß Eridanos oder das Volk der Hyperboreer verblieb auch dieses Gebirge im mythologischen oder spekulativen Bereich. So versuchte die ionische Naturphilosophie das Phänomen von Tag und Nacht dadurch zu erklären, dass die Sonne in der Nacht hinter den Rhipäen verschwinde. Die Hyperboreer trugen utopische Züge und wurden die Grundlage für die Idealisierung von Nordvölkern in späterer Zeit. Wie man den Eridanos mit dem Po oder der Rhone gleichsetzen wollte, so suchte man auch für die Rhipäen passende Identifizierungen, ζ. B. mit den Alpen.23 Mit dem Rhipäischen Gebirge als geographischer Größe unsicherer Identität operiert auch Plutarch bei seiner Beschreibung der Keltenwanderung nur wenige Kapitel vor der Stelle, an der er die Unkenntnis des Herakleides Pontikos tadelt.24 Der historische Vorgang, von dem so unsichere Kunde zu dem griechischen Philosophen gelangte, war für die römische Geschichte ein höchst bedeutsamer. Die Besiegung und Plünderung der aufstrebenden Stadt Rom um 387 v. Chr. durch die Kelten unter Brennus begründeten ein anhaltendes Mißtrauen und eine Angst vor möglichen künftigen „Gefahren aus dem Norden", wenn auch im 4. Jh. v. Chr. die Kenntnis „des Nordens" nur bis zu den Alpen gereicht haben kann. Die Vorstellungen vom „Norden" waren in der Mittelmeerwelt vor der Zeit Alexanders des Großen von einigen wenigen Komponenten bestimmt, von der bereits Homer bekannten Polarnacht,25 vom Bernstein, dem Eridanos und der Donau, den Rhipäen und den Hyperboreern sowie den großen Völkergruppen der Kelten und der Skythen, die einen von Hekataios von Milet, die anderen von Hesiod erstmals genannt.26 Die Perspektive war von Homer bis Aristoteles stets und ausschließlich die des ägäischen Raumes, Griechenlands und Kleinasiens. Dies änderte sich erstmals unter Alexander dem Großen. Die Entdeckung Westeuropas auf dem Seeweg ist mit der Person des Astronomen, Geographen und Ethnographen Pytheas von Massalia verbunden. Etwa zur gleichen Zeit, da der 22 23

24 25 26

Plut., Cam. 22, 3. Vgl. Pind., Ol. 3, 13-16 = Quellen I 46f.; vgl. 430 in der Übersetzung und Kommentierung von I. Stark; Arist., meteor. 1, 13 p. 350 a 36-350 b 10 = Quellen I 54-57; vgl. 436; Timpe, Entdeckungsgeschichte 312-314; J. Stenger, Rhipaia ore, DNP 10 (2001) 992f.; A. Ambühl, Hyperboreioi, DNP 5 (1998) 802f.; T. P. Bridgman, Hyperboreans. Myth and History in Celtic-Hellenic Contacts, New York - London 2005. Plut., Cam. 15, 1-3 = Quellen I 388-391; vgl. 598 in der Übersetzung und Kommentierung von Η. Labuske und G. Bockisch. Horn., Od. 11,12-19 = Quellen 142f.; vgl. 428. Hecat., frg. 53-56; Hes. frg. 55 = Strab. 7, 3, 7 p. 300 C = Quellen 144f.; vgl. 429f.

31 Makedonenkönig auf seinen Feldzügen bis nach Zentralasien und an den Indus vorstieß und mit seinen Eroberungen das Weltbild der Griechen nach Osten hin in kurzer Zeit sehr erweiterte, tat ein Kolonialgrieche den ersten, entscheidenden Schritt zur Erforschung des Nordwestens der bisher bekannten Oikumene. Mit seiner Schiffsreise zur Erkundung des Nordens wurde erstmals der Blick auf Mitteleuropa vom Westen aus gerichtet und nicht, wie bisher immer, vom Südosten. Seine Expedition verfolgte in erster Linie naturwissenschaftlich-geographische und astronomische Ziele, die von ethnographischen Beobachtungen ergänzt wurden. Daneben wird man wirtschaftliche Interessen nicht ausschließen können, die für seine Heimatstadt Massalia von lebenswichtigem Interesse sein mußten. Die um 600 v. Chr. gründete Kolonie war jahrhundertelang ein wirtschaftlicher Machtfaktor im westlichen Mittelmeer. Sie beherrschte das Rhöne-Delta und kontrollierte damit den wichtigsten Zugangsweg von Süden aus zu den Kelten Galliens. Als Stadt „in der Gegend des Keltenlandes" hatte Hekataios von Milet Massalia schon bei der ältesten Erwähnung in der Literatur bezeichnet.27 Man wird mit Sicherheit nicht fehlgehen in der Annahme, daß ein großer Teil der Nachrichten über die Kelten, die im 5. und 4. Jh. in Griechenland kursierten, von Massalia aus dorthin gelangt waren. Die ausgedehnten Handelsbeziehungen der Stadt sprechen dafür, daß bei dem Unternehmen des Pytheas der ökonomische Aspekt zumindest eine Rolle gespielt hat. Leider sind die Person des Forschers und seine Ziele weithin unbekannt.28 Aus den Fragmenten seines Werkes „Über das Weltmeer", überliefert vor allem von Strabon, Diodor und Plinius dem Älteren, spricht ausschließlich der geographische Entdecker und astronomische Forscher. Schon Polybios zweifelte daran, daß ein unbemittelter Privatmann eine derartige Expedition habe ausrüsten können, was jedoch nur zeigt, daß die näheren Umstände des Unternehmens bereits zwei Jahrhunderte später nicht mehr bekannt gewesen sind.29 Als wohlhabender Bürger, der sein Vermögen für das große Projekt verwandte, ist Pytheas ebenso denkbar wie als Kaufmann mit wissenschaftlichen Interessen oder als Leiter einer von seiner Polis veranstalteten Erkundungsfahrt. Völlig im Bereich der Spekulation verbleibt die These von R. Dion, die Fahrt des Massalioten sei im Auftrag Alexanders des Großen erfolgt und habe der Vorbereitung eines möglichen Feldzuges nach Europa gedient. Dazu hätte Pytheas die Küsten des westlichen Europa erforschen sollen, um einen „nördlichen Seeweg" zum Schwarzen Meer zu erkunden.30 Der französische Gelehrte muß bei dieser Ansicht allerdings gleich mit mehreren unbekannten Größen operieren. Weder über die Pläne des Makedonenkönigs hinsichtlich des westlichen Mittelmeerraumes oder gar der nördlichen Gebiete sind wir näher unterrichtet noch über irgendeine Verbindung zum Stadtstaat Massalia. Zudem steht der Zeitpunkt der Reise des Pytheas keineswegs fest, die Angabe um 325 v. Chr. kann nur als ein Näherungswert betrachtet werden. Aus der Tatsache, daß der Forscher aus Massalia noch nicht bei Aristoteles, sondern erst bei dessen Schü-

27 28

29 30

Hecat., frg. 55 = Quellen I 44f. vgl. 430 in der Übersetzung und Kommentierung von I. Stark; Y. Lafond, Massalia, DNP 7 (1999) 983-986. Zu Pytheas und seinen Reisen vgl. F. Gisinger, Pytheas von Massalia, RE 24 (1963) 314-366; Cary/Warmington 68-82; Müller, Ethnographie I 253-256; Timpe, Entdeckungsgeschichte 323-332; H G. Nesselrath, Pytheas, RGA 23 (2003) 617-620. Polybios bei Strab. 2 , 4 , 2 p. 104 C = Quellen 1214f.; vgl. 503f. R. Dion, Aspects politiques de la geographie antique, Paris 1977, 175-222; zum Problem des nördlichen Seewegs vgl. J. Herrmann, Volksstämme und „nördlicher Seeweg" in der älteren Eisenzeit, Zeitschrift für Archäologie 19,1985, 147-153.

32 ler Dikaiarchos von Messene erwähnt wird, hat man auch auf ein Datum seiner Reise nach dem Tode des großen Philosophen, 322, geschlossen, was dann auch ein Datum nach dem Tode Alexanders wäre.31 Die Reiseroute kann zu einem großen Teil rekonstruiert werden. Sie führte entlang der Küsten des südlichen Galliens und des östlichen Iberiens zur Straße von Gibraltar, den „Säulen des Herakles", und dann die Westküste des europäischen Festlands hinauf bis zur Bretagne und von dort aus nach Cornwall im Südwesten Britanniens, der Landschaft, aus der das Zinn in den Mittelmeerraum kam. Mit der Umsegelung Britanniens und der Entdeckung Irlands endet der verifizierbare Teil des Unternehmens. Keine befriedigende Erklärung ist bis heute dafür gefunden worden, was unter der Insel Thüle, sechs Tagesfahrten nach Norden von Britannien entfernt, zu verstehen ist.32 Die Shetland-Inseln, Island, Norwegen und die Faröer-Inseln sind für Thüle in Anspruch genommen worden.33 In unserem Zusammenhang von Interesse ist nun der letzte Teil der Expedition des Pytheas. An die Umsegelung Britanniens schloß sich eine Fahrt entlang der kontinentaleuropäischen Nordseeküste nach Osten an. Wie in Britannien das Zinn und sein Vorkommen eine Rolle gespielt haben dürften, wird man für die Festlandküste ein Interesse am Bernstein und dessen Gewinnung unterstellen können. Nach dem Referat Strabons ging die Reise .jenseits des Rheins bis zu den Skythen" und insgesamt entlang „der gesamten europäischen Ozeanküste von Cadiz bis zum Don".34 Diese Schiffahrtsroute unterstellt die Annahme einer äußeren Küste Europas, die nahe der Straße von Gibraltar beginnt und sich von der Iberischen Halbinsel über Gallien bis zum Skythenland hinzieht, wo der Tana'is, der Don, die Grenze der Erdteile Europa und Asien bildet. Dieser Fluß mündet bekanntlich in die Maiotis, das Asowsche Meer, das man sich im Altertum sehr viel größer in die heutige Ukraine ausgedehnt vorstellte; Herodot hält dieses Asowsche für nicht viel kleiner als das Schwarze Meer!35 Pytheas muß davon ausgegangen sein, daß die Maiotis relativ nahe an das Nordmeer heranreiche und der Tana'is einen nordwestlichen Ausfluß in dieses habe, man also auf einem „nördlichen Seeweg" um Europa herum ins Schwarze Meer gelangen könne. Was er unter der Mündung des Tanai's verstand, dürfte aller Wahrscheinlichkeit nach die Mündung der Elbe gewesen sein! Für eine auf den ersten Blick so abwegig erscheinende Gleichsetzung der Flüsse Don und Elbe im Weltbild des Pytheas sprechen auf den Forscher aus Massalia zurückgehende Angaben über die Beschaffenheit der Flußmündung und deren Bewohner bei Plinius dem Älteren. Der frühkaiserzeitliche Autor berichtet, Pytheas glaubte, die Guionen, ein Stamm Germaniens, wohnten an einer ein Wattenmeer bildenden Bucht des Ozeans namens Metuonis in einer räumlichen Ausdehnung von 6000 Stadien (1110 km). Eine Schiffstagereise von dieser Bucht entfernt liege die Insel Abalus, wo der Bernstein jeweils im Frühjahr von den

31 32 33

34 35

Vgl. Polyb. 34, 5, 10; Cary/Warmington 68 und Timpe Entdeckungsgeschichte 325. Pyth., frg. 9b und 14 = Quellen I 50-53; vgl. 432-434 in der Übersetzung und Kommentierung von I. Stark; Strab., 1,4, 2 p. 62 C = Quellen 1212f.; vgl. 502f. Eine zusammenfassende Würdigung der Argumente für und gegen die verschiedenen Örtlichkeiten gibt Timpe, Entdeckungsgeschichte 326-328, vgl. auch Gisinger (wie Anm. 28) 332-344; H. Ditten, Quellen I 550f.; Nesselrath, RGA 23 (2003) 618f. Strab. 1, 4, 3 p. 62f. C und 2,4, 1 p. 104 C = Quellen 1212-215; vgl. 503f. Hdt. 4, 86.

33 Meeresfluten angespült werde, den die Einwohner an ihre nächsten Nachbarn, die Teutonen verkauften. Ihm glaubte auch Timaios, nannte die Insel aber Basileia: ... credidit... Pytheas Guionibus, Germaniae genti, accoli aestuarium oceani Metuonidis nomine spatio stadiorum sex milium; ab hoc diei navigatione abesse insulam Abalum; illo per ver fluctibus advehi ... incolas ... proximisque Teutonis vendere. huic et Timaeus credidit, sed insulam Basiliam vocavit.36 Wieder ist es der Bernstein, der als Produkt des Nordens eine faszinierende Wirkung auf die Menschen im Mittelmeerraum ausübt, im ersten nachchristlichen Jh. beim älteren Plinius noch ebenso wie im vierten vorchristlichen bei Pytheas oder im siebenten vorchristlichen in der Odyssee. Die Nachricht verrät den Aufenthalt des Reisenden aus Massalia an einer nördlichen Küstenlandschaft. Das aestuarium, „Bucht" oder „Flußmündung", scheint hier die Bedeutung des Wattenmeeres zu haben und soll von riesiger Ausdehnung sein, da die Guionen an ihm auf einer Strecke von über 1100 km siedeln sollen. Diese Beschreibung paßt auf die Helgoländer Bucht vor der Elbmündung, wobei mit Übertreibungen in den Streckenangaben gerechnet werden muß, selbst wenn bei dem Siedlungsgebiet ein Küstenstreifen von Friesland bis nach Jütland in Betracht gezogen worden sein soll. Der Eigenname Metuonis wird als gräzisierte Form einer germanischen Bezeichnung mit althochdeutsch *matta, deutsch „Matte", in Verbindung gebracht und als „Marschland" gedeutet. Wichtig für die Annahme, bei der Meeresbucht handele es sich um die Helgoländer, ist die Erwähnung der „Bernsteininsel" Abalus eine Tagesreise weit vom Festland entfernt, die von Timaios von Tauromenion (um 350 - um 260 v. Chr.) Basileia genannt wurde. Ein dritter Name für diese Insel, an deren Küste zur Frühlingszeit Bernstein angespült wurde, war Baunonia, wie Plinius ebenfalls unter Berufung auf Timaios schreibt. Baunonia wird als „Skythien" vorgelagert und von dort eine Tagesreise entfernt beschrieben.37 Daß mit „Skythien" hier nur das spätere Germanien gemeint sein kann, geht aus einem Zitat Diodors hervor, das sich auf dieselbe Insel bezieht und auch über Timaios auf Pytheas zurückgehen dürfte. Diodor nennt sie wie Timaios Basileia und lokalisiert sie „gegenüber dem Skythenland, das über Gallien hinaus liegt", της Σκυθίας της ύπέρ την Γαλατίαν, also das an Gallien angrenzende „Skythien".38 Mit diesem Begriff bezeichneten die griechischen Schriftsteller bis ins 1. vorchristliche Jh. alle Gebiete östlich der Kelten. Die Kombination der von Plinius dem Älteren und Diodor überlieferten Nachrichten dürfte die Gleichsetzung von Abalus/Basileia/Baunonia mit Helgoland doch wahrscheinlich machen.39 Für einen Besuch im Elbemündungsgebiet spricht schließlich die Erwähnung der Teutonen, an die die Bewohner von Abalus den Bernstein verkauften. Es ist die früheste Überlieferung eines germanischen Stammesnamens, die später so berühmt gewordenen Teutonen werden in Schleswig-Holstein und Jütland vermutet. Die von Plinius erwähnte andere Völkerschaft, die in der ältesten Handschrift der „Naturalis historia" Guiones genannt wird, kann mit keinem anderen Germanenstamm identifiziert werden. Angenommen wurde eine 36 37 38 39

Plin., nat. hist. 37, 35f. = Quellen I 352f.; vgl. 581 in der Übersetzung und Kommentierung von H. Ditten; Goetz/Welwei 1122f. Plin., nat. hist. 4, 94 = Quellen I 328f.; vgl. 565; Wenskus (wie Anm. 13) 5; Wenskus, Bemsteinhandel 55-59. Diod. 5,23, 1 = Quellen 1170f.; vgl. 481 in der Übersetzung und Kommentierung von G. Perl. Vgl. Barrington Atlas Map 10 und Vol. 1137 und 140; Goetz/Welwei 1122f.

34 Verschreibung aus Inguiones oder Inguaeones, die Plinius an anderer Stelle als eine germanische Gruppe bezeichnet, zu denen Kimbern, Teutonen und Chauken zählen.40 Alle gehören zu der archäologisch herausgearbeiteten Gruppierung der Nordseegermanen. Die durchweg bruchstückhafte Überlieferung der Schrift des Pytheas, die sich in meist nur kurzen Auszügen sehr viel später schreibender Autoren erhalten hat, leistete Irrtümern, Mißverständnissen und auch Zusätzen Vorschub. Erst von Plinius oder einer Zwischenquelle kann die Erläuterung stammen, die Guionen seien ein Stamm Germaniens, denn für Pytheas wäre diese Bemerkung völlig anachronistisch. Erörtert wurde in der Forschung auch eine Identifizierung der Guiones mit Gutones, einer Namensform, die spätmittelalterliche Plinius-Handschriften an dieser Stelle bieten. Folgt man ihnen, dann könnte darin die Ersterwähnung der Goten gesehen werden.41 Für diese Interpretation müßte man die Umsegelung Jütlands und die Fortsetzung der Reise bis in die Ostsee annehmen, wofür es aber sonst keine Anhaltspunkte gibt. Nichtsdestoweniger ist diese Meinung des Öfteren vertreten worden.42 Die mit dem Tana'is verwechselte Flussmündung müsste dann in den Mündungen der Oder oder der Weichsel vermutet werden, mit der Bernsteininsel könnte Bornholm gemeint sein. Doch für die riesige Bucht des Ozeans, für das Wattenmeer und vor allem für die Teutonen würde es dann weniger einleuchtende Erklärungen geben. So hat sich in der Forschung die Ansicht als die wahrscheinlichere durchgesetzt, Pytheas sei von Britannien aus bis zur Elbmündung und nach Helgoland gekommen.43 Die Expedition des Massalioten veränderte das bisherige Weltbild der Griechen im Westen ebenso gründlich wie die Feldzüge Alexanders des Großen dies für den Osten taten. Als um die Mitte des 3. Jh. Eratosthenes von Kyrene (um 285 - um 205 v. Chr.), ab dem Jahre 246 Leiter der berühmten Bibliothek von Alexandria, in seinem Werk „Geographika" das Wissen seiner Zeit über die Erde zusammenfaßte, wurden die Erkenntnisfortschritte seit den Tagen des Makedonenkönigs überaus deutlich. Die Erdkarte, die sich aus den Fragmenten seiner Schrift rekonstruieren läßt, bedeutet einen qualitativen Fortschritt gegenüber allen seinen Vorgängern. Im vorderen und südlichen Asien bot er annähernd richtige Vorstellungen bis nach Vorderindien einschließlich der Existenz der Insel Taprobane (Ceylon / Sri Lanka) und des Ganges, im westlichen Europa ungefähr zutreffende Kenntnisse von der Iberischen Halbinsel, von Gallien, Britannien und Irland. Das rätselhafte Thüle beschließt nun die Welt im Norden. Amorph bleibt weiterhin die kontinentale Landmasse zwischen Ärmelkanal und Schwarzem Meer. Die Küstenlinie gegenüber Britannien verläuft vom Lande der Kelten nach Nordosten ohne eine Kenntnis der Halbinsel Jütland, geschweige denn Skandinaviens, bis ins Skythenland, wo der Tana'is von der Maiotis aus weit nach Norden reicht, und bis zum Kaspischen Meer, das als eine Ausbuchtung des Weltmeeres betrachtet wird, vergleichbar dem Roten Meer oder dem Persischen Golf. Wiederum ist die Donau von Süden her die Begrenzung gegenüber allen nördlichen Barbaren in Europa. Ihre Quelle wird zwar nicht mehr in den Pyrenäen gesucht, aber immer noch sehr weit im Wes40

Plin., nat. hist. 4, 99 = Quellen I 330f.; vgl. 569; Goetz/Welwei I 108f.; Wenskus, Bernsteinhandel 5659. 41 H. Reichert/D. Timpe, Guiones, RGA 13 (1999) 182-184. 42 Vgl. u. a. J. Herrmann (wie Anm. 30) 150-152; Quellen I lOf. und den Kommentar 432-434. 43 Vgl. A. Franke, Nordsee, RE 17, 1 (1936) 941; Gisinger (wie Anm.. 28) 344-351; Cary/Warmington 78f.; Müller, Ethnographie I 253f.; Timpe, Entdeckungsgeschichte 328-330; Kehne, Informationen 25; Timpe (wie Anm. 41) 183; Wolters, Germanien 12; Nesselrath, RGA 23 (2003) 619.

35 ten, in Gallien nahe der Rhönemündung. Nördlich der Donau ist in Kontinentaleuropa allein das Arkynische oder Orkynische Gebirge bekannt.44 Obwohl die Erdkarte des Eratosthenes ohne die Entdeckungen des Pytheas gar nicht vorstellbar ist, war die Rezeption seines Werkes sehr unterschiedlich. Uneingeschränkt geschätzt wurden an dem Massalioten seine astronomischen Leistungen, weshalb ihm die meiste Anerkennung bei den Vertretern der mehr naturwissenschaftlich orientierten Geographie, wie eben Erathostenes und später Poseidonios Rhodios und Klaudios Ptolemaios, zuteil wurde. Von den Anhängern der beschreibenden Länderkunde wie Polybios und Strabon wurden seine geographischen Berichte dagegen angezweifelt oder überhaupt für erfunden gehalten. Strabon ζ. B. lobt an derselben Stelle seine Forschungen über die Himmelserscheinungen und die Formulierung seiner mathematischen Theorien, an der er ihn bezüglich Thüle als unglaubwürdigen Phantasten bezeichnet.45 Das vor allem auf Polybios zurückgehende Verdikt ließ ab dem 2. Jh. v. Chr. die Leistungen des Pytheas sogar zum Teil in Vergessenheit geraten. Als Caesar sich im Jahre 55 v. Chr. zu seinem ersten Angriff auf Britannien rüstete, klagte er darüber, so gar nichts über die Größe der Insel, ihre Beschaffenheit und Bevölkerung zu wissen und sah sich gezwungen, Erkundigungen bei Kaufleuten einzuholen; das Werk des Pytheas scheint er nicht gekannt zu haben.46 Polybios von Megalopolis (um 200 - um 120 v. Chr.), der bedeutendste Historiker im Zeitalter des Hellenismus, hat in seinem monumentalen Geschichtswerk vor allem die Kelten seinen Lesern näher gebracht.47 Vom Anliegen seines Werkes her, den Aufstieg Roms zur beherrschenden Macht am Mittelmeer zu erklären, interessierte ihn eine Erweiterung des Kenntnisstandes über die nördlicheren Teile Europas nicht weiter. In seiner „pragmatischen Geschichtsschreibung" war für theoretische Überlegungen und Spekulationen in der Geographie kein Platz. Von dieser Position aus kritisierte er Pytheas und die an ihn anknüpfenden Autoren wie Timaios und Eratosthenes. Besonders Timaios von Tauromenion ist von Polybios als ,/einer Buchgelehrter", dessen Werke für den Leser ohne praktischen Wert seien, abqualifiziert worden 48 Da dieser sich aber besonders eng an die Berichte des Pytheas angeschlossen hatte, hat die Polemik gegen ihn auch dem Nachleben des Massalioten geschadet.49 Das Weltbild des Polybios entsprach demjenigen des Eratosthenes. Danach besteht die bekannte Erde aus den drei Kontinenten Europa, Asien und Libyen. Die entscheidenden Orientierungspunkte sind die „Säulen des Herakles", die Straße von Gibraltar, im Westen, der Tanais, der Don, im Osten und der Nil im Süden. Europa reicht von den „Säulen des Herakles" bis an den Tanais, Asien von dort bis zum Nil, Libyen vom Hauptstrom Ägyptens 44

Zu Eratosthenes vgl. Müller, Ethnographie I 277-281; Timpe, Entdeckungsgeschichte 333-335; R. Tosi, Eratosthenes 2, DNP 4 (1998) 44-47 und die umfangreiche Gesamtdarstellung von K. Geus, Eratosthenes von Kyrene. Studien zur hellenistischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte, München 2002, bes. 260-288. 45 Strab. 4, 5, 5 p. 201 C = Quellen 1226f.; vgl. 508. 46 Caes., b. G. 4, 20,4. 47 Vgl. Quellen 160-67 und 437-440 in der Übersetzung und Kommentierung von H. Labuske. 48 Polyb. 12, 25 g; vgl. dazu auch Th. Fögen, Zur Kritik des Polybios an Timaios von Tauromenion, Listy filologick6 122,1999, 1-31. 49 Vgl. Plin., nat. hist. 4, 94. 104; 37, 36 = Quellen I 328f.; 332f.; 352f.; vgl. 565, 572, 581; zu Timaios ausführlich R. Laqueur, RE 6 A 1 (1936) 1076-1203; Τ. S. Brown, Timaios of Tauromenium, Berkeley 1958 und Müller, Ethnographie 1256-260; K. Meister, Timaios 2, DNP 12/1 (2002) 575-577.

OOS it

ΛψΛΐ&ΟΜ

ipAfijoipiMH J4ifitH>MJ»A t6tiO)UinpJ3 f*P β untiew jnr

oCOitiJOX pun ujotf

ttMMH Sip ueings

fSjsSfip

suoipuaw

uapDjuoii

Η

Λ****,

37 bis an die Meerenge von Gibraltar.50 Über Kontinentaleuropa weiß Polybios nicht viel mehr zu sagen als Herodot 300 Jahre früher.51 Das zwischen Tanai's und Narbo nach Norden sich erstreckende Land sei unbekannt und harre künftiger Erforschung: ... τό μεταξύ Τανάιδος και Νάρβωνος εις τάς άρκτους άνήκον αγνωστον ήμΐν έως τοΰ νΰν έστιν, έάν μή τι μετά ταύτα πολυπραγμονοΰντες ίστορήσωμεν.52 Das westliche Pendant zum inzwischen legendären Tanai's ist bei Polybios der Narbo-Fluß an der Südwestküste Galliens geworden. Gemeint ist damit zweifellos der Küstenfluß Atox (Aude), der bei Narbo Martius (Narbonne) ins Mittelmeer mündet.53 Die seit den römischen Eroberungen im Zweiten Punischen Krieg verbesserten Kenntnisse über die Iberische Halbinsel werden den griechischen Historiker veranlaßt haben, nicht mehr die als Kontinentbegrenzung weiterhin gebrauchten „Säulen des Herakles" als Endpunkt des „unbekannten Europa" zu verwenden, sondern das Keltenland am Rande der Pyrenäen. Bald nach Polybios scheint die Ostsee den Griechen etwas näher bekannt geworden zu sein. Nachrichten über sie dürften über die Küstenschiffahrt und den Handel zur Bernsteinküste in den Süden gelangt sein. Der um 100 v. Chr. schreibende Xenophon von Lampsakos berichtet, eine Schiffsreise von drei Tagen vor der Küste der Skythen liege eine Insel von ungeheurer Größe namens Baicia oder Baltia, die von Pytheas Basileia genannt worden sei.54 Damit ist unstrittig Skandinavien gemeint, das ja im Altertum durchweg als eine Insel betrachtet wurde.55 Speziell dürfte es sich hier um das südliche Schweden handeln und bei der „Küste der Skythen" um die südliche Ostseeküste. Pytheas ist immer noch die große Autorität für alle Fragen des Nordens, doch scheint Xenophon von Lampsakos die auf ihn zurückgehende Kunde von Skandinavien etwas präzisiert zu haben. Jütland ist aber auch ihm noch nicht bekannt und damit die entscheidende Kenntnis der Trennung zwischen Nord- und Ostsee.56 Die ganze Unsicherheit, die die Autoren mit der Verifizierung geographischer Angaben hatten, wird an der Nennung der Skythenküste und der Insel Basileia deutlich. Als „Skythenküste" wird sowohl die Küste der Nordsee wie die der Ostsee verstanden und der Name einer „königlichen Insel" offenbar auf verschiedene Gegebenheiten übertragen. Denn die eine Tagesreise von der Skythenküste entfernte „Bernsteininsel", die auch Basileia genannt wurde, dürfte Helgoland meinen, die drei Tagesreisen vor der Skythenküste liegende riesige Insel gleichen Namens dagegen Skandinavien.57 Die allmähliche Entdeckung und Erschließung Mittel- und Nordeuropas wäre vermutlich auch in der Folgezeit nicht viel schneller als in den vorangegangenen Jahrhunderten weiter gegangen, wenn nicht äußere Anlässe bald nach dem Tode des Polybios zu einer Änderung

50 51 52 53 54 55 56 57

Polyb. 3, 37, 1-11. Vgl.Anm. 17. Polyb. 3, 38, 2 Polyb. 3, 37, 8; vgl. Y. Lafond/E. Olshausen, Narbo, DNP 8 (2000) 708f. Plin., nat. hist. 4, 95 = Quellen I 328f; vgl. 566. Vgl. Plin., nat. hist. 4, 96 = Quellen I 328f.; vgl. 566f.; Goetz/Welwei 1106f. Vgl. F. Gisinger, Xenophon 10, RE 9 A 2 (1967) 2051-2055; Timpe, Entdeckungsgeschichte 337-339; Η. A. Gärtner, Xenophon 8, DNP 12/2 (2002) 643f. Vgl. Plin., nat. hist. 37, 35f.; 4, 94 und Diod. 5, 23, 1 mit Plin., nat. hist. 4, 95; zusammenfassend Wenskus, Abalus (wie Anm. 13); Wenskus, Bernsteinhandel 56f.

38

der entdeckungsgeschichtlichen Situation geführt hätten. Zum einen tauchten gegen Ende des 2. Jh. v. Chr. Stämme aus dem „barbarischen" Kontinentaleuropa an der Peripherie der mittelmeerischen Staatenwelt auf, die nicht mehr die seit dem 4. Jh. v. Chr. bekannten Kelten waren, sondern aus den von Pytheas besuchten Gegenden stammten. Zum anderen begannen sich die Römer etwa seit derselben Zeit immer stärker in Gallien zu engagieren. Die Unterwerfung des südlichen Galliens und die Gründung der Provinz Gallia Narbonensis 121 v. Chr. hatte zur Folge, daß römische Kaufleute den Handel in jedem Fall mit den innergallischen Stämmen und vielleicht sogar mit Britannien aufnahmen. Im Laufe der Zeit mußte ihnen das gallische Fluß- und Wegenetz bis zum Rhein bekannt werden. So lenkten die Vorstöße nördlicher Völker nach Süden und die römische Expansion in Gallien das allgemeine Interesse griechischer und römischer Autoren verstärkt in einen Raum, dessen Erforschung Polybios noch als ein Desiderat empfunden hatte.

Kapitel III Furor teutonicus

Aus der Regierungszeit des Kaisers Nero stammt das historische Epos „Pharsalia" des M. Annaeus Lucanus (39-65 n. Chr.) über den Bürgerkrieg zwischen Caesar und Pompeius in den Jahren 49 und 48 v. Chr. Darin vergleicht der Dichter Caesars raschen Vormarsch in Italien zu Beginn seines Kampfes gegen die Senatspartei mit den Einfallen feindlicher Heere in den vergangenen Jahrhunderten. Die Einwohner der latinischen Kolonie Ariminum an der Adria, dem heutigen Rimini, das ein strategischer Vorposten gegenüber der Provinz Gallia cisalpina war und am 11. Januar 49 v. Chr. von Caesar besetzt wurde, läßt Lucanus darüber klagen, daß gerade ihre Stadt unter allen Einfallen aus dem Norden auf die Apenninenhalbinsel stets zu leiden hatte. Immer wenn das Schicksal Rom herausfordere, wälze sich der Kriegszug an ihnen vorbei. Dies sei beim Sturm der gallischen Senonen um 390 v. Chr. ebenso gewesen wie bei den Feldzügen Hannibals mit seinem Heer aus Libyen im Zweiten Punischen Krieg 218 v. Chr. und bei den Einfallen der Kimbern und Teutonen im späten 2. Jh. v. Chr.: Nos primi Senonum motus Cimbrumque ruentem vidimus et Martern Libyes cursumque fiiroris Teutonici: quotiens Romam fortuna lacessit, hac iter est bellis.1 Obwohl Kimbern und Teutonen niemals bis nach Ariminum gekommen sind und ihre Einordnung in die Reihe der Heereszüge der Kelten, Hannibals und Caesars der dichterischen Freiheit des M. Annaeus Lucanus verdankt wird, ist es gerade diese Stelle in der Literatur, von der die sprichwörtliche Formulierung vom furor Teutonicus, der „teutonischen Raserei", ihren Ausgang genommen hat. Zwischen den Jahren 113 und 101 hatte die römische Republik die heftigsten Kämpfe mit bisher völlig unbekannten Barbaren aus dem Norden, von jenseits der Alpen, zu fuhren, in Noricum, im südlichen Gallien und im nördlichen Italien. Erst nach vier Niederlagen, darunter einer von katastrophalem Ausmaß, gelang die Abwehr der Gefahr. Der Ansturm dieser Stämme hinterließ nicht nur bei den Zeitgenossen einen sehr nachhaltigen Schrecken, sondern auch bei späteren Generationen. Als Lucanus sein Epos verfasste und den prägnanten Ausdruck vom furor Teutonicus formulierte, waren immerhin schon über 160 Jahre seit dem Geschehen vergangen, aus der realen Gefahr war ein Mythos geworden, an den in der kaiserzeitlichen Literatur immer wieder angeknüpft wurde. Vor Lucanus beschwört der Elegiendichter Sex. Propertius „der Kimbern Drohun1 Lucan. 1, 254-257 = Quellen I 314-317; vgl. 557 in der Übersetzung und Kommentierung von H. Berthold.

40 gen" und die „teutonische Kraft" - Cimbrorumque minas und Teutonicas opes —, ein halbes Jahrhundert nach der Abfassung der „Pharsalia" spricht der Satirendichter D. Iunius Iuvenalis von den „schrecklichen Kimbern", terribiles Cimbri.2 In der Spätantike wurde der Mythos schließlich in der Situation einer neuen, vergleichbaren Bedrohung aus dem Norden aktualisiert. Am Ende des 4. Jh. vergleicht Ammianus Marcellinus den Einfall der Westgoten in die römischen Balkanprovinzen im Jahre 378 mit den Vorgängen um Kimbern und Teutonen, an anderer Stelle hält er die Kämpfe mit diesen Nordvölkern für die denkwürdigsten neben den Punischen Kriegen, die von den Römern je geführt worden sind.3 An der Wende vom 4. zum 5. Jh., 402, greift der Dichter Claudius Claudianus wörtlich auf die Wendung des Lucanus zurück. Im Kampf gegen die Westgoten unter Alarich will er die Moral des römischen Heeres dadurch heben, daß er auf den letztendlich doch errungenen Sieg über die damaligen Eindringlinge hinweist. Zwar habe Italien sich erst einmal dem furor Teutonicus beugen müssen, dann jedoch habe es auch den gebeugten Nacken des gefesselten Kimbern sehen können: haec et Teutonico quondam patefacta furori colla catenati vidit squalentia Cimbri.4 Lukans Formulierung hat den Untergang Roms überlebt. Im 14. Jh. wurde sie von Francesco Petrarca als tedesco furor mit gewandelter Bedeutung wieder aufgenommen und hat sprichwörtliche Bedeutung erlangt.5 Die Gleichsetzung von Teutonen und Deutschen ist erst eine Konstruktion des Mittelalters. Noch im Ersten Weltkrieg hat sich Italien der mit diesem Ausdruck verbundenen Vorstellung in propagandistischer Weise bedient.6 Bei dieser Angst und Schrecken verbreitenden Wanderbewegung zwischen 113 und 101 v. Chr. kam die Mittelmeerwelt erstmals mit Menschen in Berührung, die aus dem weiteren Umfeld des Stromgebietes der Elbe stammten, also genau aus dem Gebiet, das kurz zuvor für Polybios noch ein weißer Fleck auf der Landkarte gewesen ist. Die Herkunft der Kimbern und Teutonen und ihre mehtj ährige Wanderung von den Küstenlandschaften Mitteleuropas bis zu den Alpen machen sie auch in diesem Zusammenhang interessant. An der Peripherie des römischen Machtbereiches tauchten die Stämme aus dem Norden im Jahre 113 v. Chr. auf, im Königreich Noricum in den Ostalpen. Dieses Keltenreich war bereits 186 v. Chr. in das Blickfeld der Römer gerückt, unterhielt seit 170 v. Chr. Handelsbeziehungen zu dem mächtigen Nachbarn im Süden und war zu diesem Zeitpunkt mit ihm

2 Prop. 2,1, 24; 3, 3,44 = Quellen 1192f. in der Übersetzung von M. Simon; luv. 15,124. 3 Amm. Marc. 31, 5, 12; 17, 1, 14 = Quellen IV 124f.; 54f. in der Übersetzung von L. Jacob und I. Ulmann. 4 Claud., bell. Poll. 292f. = Quellen IV 180f.; vgl. 485 in der Übersetzung und Kommentierung von K. Treu und H. Labuske; generell H. Callies, Die Vorstellung der Römer von den Cimbern und Teutonen seit dem Ausgang der Republik, Chiron 1 (1971) 341-350 und Timpe, Kimbern; ders., Furor Teutonicus, RGA 10 (1998) 254-258. 5 Lucanus, Bellum civile. Der Bürgerkrieg, hrsg. und übers, von W. Ehlers, München 1973, 581. 6 Das Deutsche Historische Museum in Berlin stellt ein italienisches Plakat aus dem Jahre 1916 aus, auf dem zur Zeichnung von Kriegsanleihe aufgefordert wird. Die personifizierte Italia in antiker Gewandung mit Mauerkrone hält ihr Schwert einem über die Alpen steigenden bärtigen Germanen mit Morgenstern und Brandfackel entgegen, wohl eine der letzten bildlichen Umsetzungen des furor Teutonicus (DHM 1987/184.2).

41 verbündet und wohl auch bereits in einer gewissen Abhängigkeit.7 Als daher Scharen der nördlichen Barbaren plündernd in das Gebiet der Noriker einfielen, wandten sich diese an den römischen Konsul Cn. Papirius Carbo, der sich mit einem Heer im ostalpinen Bereich aufhielt, wo es seit 119 v. Chr. mit verschiedenen Stämmen zu Kampfhandlungen gekommen war. Der Konsul ließ die Alpenpässe zum Schutz Italiens sperren und forderte die Eindringlinge zum unverzüglichen Rückzug auf, was diese auch akzeptierten. Dann überfiel er sie jedoch hinterlistig, bezahlte aber diese Verhaltensweise mit einer schweren Niederlage. Als Schlachtfeld wird Noreia genannt, das in Kärnten oder in der Steiermark gesucht wird, der Magdalensberg bei Klagenfurt oder Neumarkt in der Steiermark werden dahinter vermutet.8 Den ausfuhrlichsten Bericht über das erste Zusammentreffen dieser Stämme mit den Römern liefert erst Appianos von Alexandria (um 95 bis um 160 n. Chr.), der jedoch nur von den Teutonen als Gegnern spricht.9 Dagegen nennen die Inhaltsangaben zu den Büchern des Titus Livius (59 v. Chr.-17 n. Chr.) und Strabon allein die Kimbern als Sieger von Noreia; die Ortsangabe findet sich nur bei diesem griechischen Geographen.10 Der im 4. nachchristlichen Jh. schreibende Julius Obsequens bringt die Niederlage des Cn. Papirius Carbo schließlich mit den Kimbern wie den Teutonen in Verbindung, was die wahrscheinlichste Lesart sein dürfte. Der Verfasser der Prodigiensammlung hat sich weithin auf das monumentale Werk des Livius, d. h. auch auf dessen heute verlorene Teile, gestützt.11 Ch. Trzaska-Richter hat in ihren Untersuchungen zum römischen Germanenbild gezeigt, dass der Konsul Papirius Carbo wahrscheinlich noch keine Furcht vor diesen Stämmen hatte; der furor Teutonicus existierte im Jahre 113 v. Chr. noch nicht. Den Kampf hatte er selbst offenbar in der Hoffnung gesucht, einen leichten Sieg zu erringen und damit den Ruhm eines Triumphes zu ernten. Seine Niederlage läßt sich aus einem allgemeinen Überlegenheitsgefühl gegenüber Barbaren und einem Mangel an Informationen im speziellen Fall erklären.12 Die Schlacht von Noreia im Jahre 113 war von weitreichender historischer Bedeutung, markiert sie doch den Beginn jahrhundertelanger militärischer Auseinandersetzungen zwischen Römern und Germanen. Diese Bedeutung hat Tacitus in ihrer vollen Tragweite erkannt, als er im Jahre 98 n. Chr. schrieb, Rom habe schon 640 Jahre Bestand gehabt, als man zum ersten Mal von den Waffentaten der Kimbern unter den Konsuln Caecilius Metellus und Papirius Carbo hörte. Zu den 210 Jahren, die seither vergangen seien, bemerkt er im Hinblick auf die wenigen, wirklich erreichten Erfolge der Römer mit bitterer Ironie „schon so lange wird Germanien besiegt":

7 8 9 10

11 12

Vgl. G. Winkler, Noricum, ANRW II 6 (1977) 183-192; K. Dietz, Noricum, DNP 8 (2000) 1003-1007; H. Ubl, Noricum, RGA 21 (2002) 324f. Vgl. K. Dietz, Noreia, DNP 8 (2000) 1002f. App., Celt. 13 = Quellen III 244f.; vgl. 591f. in der Übersetzung und Kommentierung von W. O. Schmitt und H. Labuske; Goetz/Welwei I 222-225. Liv. per. 63 = Quellen I 206f.; vgl. 499 in der Übersetzung und Kommentierung von R. Johne und H. Labuske; Strab. 5, 1, 8 p. 214 C = Quellen I 228f.; vgl. 510 in der Übersetzung und Kommentierung von W. O. Schmitt und G. Chr. Hansen. Iul. Obs. 38 = Quellen IV 162f.; vgl. 479f. in der Übersetzung und Kommentierung von R. Johne. Vgl. Trzaska-Richter 52-58; vgl. ferner Günnewig, Germanenbild 29-42.

42 Sescentesimum et quadragesimum annum urbs nostra agebat, cum primum Cimbrorum audita sunt arma, Caecilio Metello ac Papirio Carbone consulibus... tarn diu Germania vincitur.n Für Tacitus war Noreia unstrittig der Auftakt der vielen später folgenden Germanenkriege und die daran beteiligten Stämme gehörten dieser Völkergruppe an. Dies war jedoch erst die Sichtweise der Kaiserzeit. Im 2. Jh. v. Chr. wusste man diese Barbarenstämme erst einmal noch nicht einzuordnen, auf die diesbezüglichen Vermutungen wird gleich eingegangen werden. Auch Tacitus sah in den Gegnern des Konsuls Papirius Carbo nur die Kimbern wie Livius, Strabon und die meisten anderen Autoren. Offenbar stellten sie die größte Gruppe in dem germanischen Wanderzug, so daß alle Teilnehmer unter diesem Namen subsumiert werden konnten. So spricht Eutropius in seinem um 370 verfassten „Breviarium" einmal vom „Krieg gegen Kimbern und Teutonen" - bellum contra Cimbros et Teutones - und unmittelbar darauf nur vom „Kimbernkrieg" - bellum Cimbricum.14 Die Teutonen werden vor dem Jahre 105 v. Chr. immer nur an zweiter Stelle genannt, selbst bei Lukan steht der „Einbruch der Kimbern" vor der „teutonischen Raserei". Allein Appianos stellt die Teutonen bei Noreia in den Vordergrund.15 Der nach der Niederlage bei Noreia befürchtete Einfall nach Italien blieb aus, die Germanen verzichteten auf eine Ausnutzung ihres Sieges und zogen im nördlichen Voralpenland nach Westen. Teile der keltischen Helvetier, die Tiguriner und Tougener, schlossen sich dem Zug an. Wie dieser im Einzelnen verlief, ist unbekannt. In dem Maße, wie er sich aus dem Vorfeld der römischen Interessenzone entfernte, verschwindet er in den literarischen Quellen. Schon hier ist das im weiteren Verlauf der römisch-germanischen Beziehungen immer wieder zu beobachtende Prinzip zu erkennen, daß das Geschehen bei den Germanen gar nicht um seiner selbst willen von Interesse ist, sondern nur dann, wenn es für die Geschichte des Mittelmeerraumes, d. h. im wesentlichen für die römische Geschichte, von Belang ist. Nur aus dem Umstand, daß Kimbern und Teutonen im Jahre 109 v. Chr. an der oberen Rhöne auftauchen, muß man schließen, daß der von Vellerns Paterculus (um 20 v. Chr. nach 30 n. Chr.) überlieferte Rheinübergang in die Jahre 111 oder 110 v. Chr. fällt.16 Die Ankunft der wandernden Völkerschaften in diesem Gebiet war für die Römer nicht weniger besorgniserregend als in Noricum. Seit dem Jahre 121 v. Chr. bestand im südlichen Gallien eine römische Provinz, die Gallia Narbonensis, zu deren Verteidigung der Konsul M. Iunius Silanus mit einem Heer erschien. Die neue Provinz stellte eine Landverbindung zwischen Italien und den bereits seit 197 v. Chr. bestehenden beiden spanischen Provinzen her. Wie bei der Schlacht von Noreia gingen auch der zweiten militärischen Auseinandersetzung zwischen Römern und Germanen Verhandlungen voraus. Aus Appians Bericht zum Jahre 13 Tac., Germ. 37, 2 = Quellen II 114f.; vgl. 225f. in der Übersetzung und Kommentierung von G. Perl; vgl. unten Kap. XI Seite 225f. 14 Eutr. 5, 1 , 3 = Quellen III 466f.; vgl. 666 in der Übersetzung und Kommentierung von G. Audring; Goetz/Welwei 1216f. 15 Trzaska-Richter 53 vermutet gerade deshalb, dass die von Appian gebotene Überlieferung in diesem Fall die richtige ist. 16 Veil. Pat. 2, 8, 3 = Quellen I 264f.; vgl. 527 in der Übersetzung und Kommentierung von G. Audring und H. Labuske; Goetz/Welwei 1224f.

43 113 ν. Chr. geht eindeutig hervor, daß die Teutonen angesichts des Heeres des Papirius Carbo zum Rückzug aus Noricum bereit gewesen wären.17 Im Jahre 109 v. Chr. forderten die Ankömmlinge in Gallien erst einmal Siedlungsland von den Römern. Da der Konsul nicht allein über Landzuweisungen verfügen konnte, schickte er die Gesandtschaft zum Senat nach Rom. Erst als dieser das Gesuch rundweg ablehnte, obwohl von germanischer Seite Söldnerdienste als Gegenleistung angeboten wurden, kam es zum Kampf. An unbekannter Stelle im südlichen Gallien erlitt auch der Konsul M. Iunius Silanus eine empfindliche Niederlage.18 Interessant in dem Zusammenhang ist, daß in diesem Jahre 109 v. Chr. erstmals eine germanische Gesandtschaft nach Rom gekommen ist. Nach den Inhaltsangaben des Livius wurden legati Cimbrorum zum Senat geschickt, nach den Ausführungen im Abriss der römischen Geschichte des L. Annaeus Florus (um 70 n. Chr. - um 140 n. Chr.) legati der Cimbri, Teutoni atque Tigurini und laut der „Naturgeschichte" des älteren Plinius (23/24-79 n. Chr.) ein legatus Teutonorum.19 Nie zuvor waren nach heutiger Kenntnis Menschen aus dem unbekannten Mitteleuropa in einem Zentrum der Mittelmeerwelt gewesen. Die Verhandlungen über Landzuweisungen und eventuelle Stellung von Söldnern hätten die Römer erkennen lassen können, daß mit diesen Barbaren auch ein anderer Umgang möglich gewesen wäre als nur der des Abwehrkampfes. Auch wenn diese Gesandtschaft keine erkennbaren Folgen hatte, so war doch erstmals kurzfristig eine unkriegerische Beziehung zu Auswanderern aus dem Norden geknüpft worden. Eine tatsächliche Söldnertätigkeit der Kimbern in diesen Jahren vermutet D. Timpe. Was sie den Römern vergeblich anboten, hätten sie für gallische Stämme wirklich geleistet. Der Zug über den Rhein müsste als die Folge eines Hilfeersuchens der Sequaner und Arverner gegen die romtreuen Häduer verstanden werden. Die Kimbern wären dann nicht als landfremde Eroberer in Gallien eingebrochen, sondern als Bundesgenossen dortiger Stämme. Die Vorgänge um Ariovist in den Jahren 72 bis 58 v. Chr. hätten sich dann ein halbes Jahrhundert vorher schon einmal in ähnlicher Weise abgespielt.20 Der Sieg über Iunius Silanus wurde von den Kimbern und Teutonen wiederum nicht in irgendeiner Weise ausgenutzt. Wie nach Noreia verschwanden sie wieder für mehrere Jahre aus dem römischen Blickfeld und durchstreiften das Innere Galliens. Im Jahre 105 wandten sie sich erneut nach Süden und fielen jetzt erstmals in eine römische Provinz ein. Bei Arausio an der Rhone, dem heutigen Orange, errangen die Germanen von der Nordsee ihren größten Sieg. Am 6. Oktober 105 konnten sie die Heere der Konsuln Cn. Mallius Maximus und Q. Servilius Caepio, die sich nicht auf ein gemeinsames Vorgehen hatten einigen können, vernichtend schlagen. 80 000 Römer sollen bei Arausio gefallen sein, es war ihre schwerste Niederlage im ganzen 2. Jh. v. Chr., seit der Katastrophe von Cannae 216 ν. Chr.

17 Vgl. Anm. 9. 18 Liv. per. 65 = Quellen I 206f.; vgl. 499; Flor. 1, 38, 2-3 = Quellen III 172f.; vgl. 538f. in der Übersetzung und Kommentierung von G. Audring; Goetz/Welwei I 226f. und 210-213; Trzaska-Richter 59 ist zuzustimmen, dass hier der von Florus gebotenen Reihenfolge der Gesandtschaft vor der Schlacht der Vorzug vor der umgekehrten Abfolge in den Periochae des Livius zu geben ist. 19 Plin., nat. hist. 35, 25 = Quellen I 352f.; vgl. 581 in der Übersetzung und Kommentierung von H. Ditten. 20 Timpe, Kimbern 40-43 und 46-55; kritisch dazu G. Dobesch, Einige zusätzliche Bemerkungen zum Kimbernzug, in: P. Anreiter - E. Jerem (Hrsg.), Studia Celtica et Indogermanica. Festschrift Wolfgang Meid, Budapest 1999, 79-99.

44 gegen Hannibal war der Republik nichts Vergleichbares passiert.21 Der christliche Historiker Paulus Orosius hat in seiner um 417 n. Chr. verfassten „Historia adversum paganos", aus der Tradition des Livius schöpfend und damit wahrscheinlich bis auf Poseidonios zurückgehend, ein grausiges Szenario überliefert, das sich nach dem Sieg der Germanen abgespielt haben soll. Nach einem den Römern unverständlichen Verwünschungsritus wurde in Erfüllung eines Gelübdes alle Beute vernichtet, Kleidung zerrissen und weggeworfen, Gold und Silber in den Fluß geschleudert, die Panzer der Männer und der Brustschmuck der Pferde zerstört, Menschen und Pferde getötet.22 Aus der Überlieferung dieses Wütens der Barbaren nach ihrem Erfolg bei Arausio hat sich wohl das Bild vom furor Teutonicus geformt.23 Die Schlacht von Arausio bedeutete eine Zäsur im Verhältnis der Römer zu den Germanen. Waren sie zwischen 113 und 105 immer unterschätzt worden, so trat nun das Gegenteil ein. Allgemein wurde jetzt der Einfall der Barbaren nach Italien befürchtet, man sah Kimbern und Teutonen schon wie die Gallier oder Hannibal vor den Toren Roms stehen. Unter diesem Eindruck wurde C. Marius in den Jahren 104 bis 101 v. Chr. viermal hintereinander gegen alle Regeln zum Konsul gewählt und die bekannte Heeresreform durchgeführt.24 Die Germanen verfolgten jedoch auch dieses Mal den geschlagenen Gegner nicht, sondern setzten ihre Plünderungszüge in Gallien, die Kimbern auch für kurze Zeit in Spanien, fort. Dieses merkwürdige Verhalten läßt darauf schließen, daß es sowohl zwischen den Stämmen wie auch innerhalb der Führungsgruppen der einzelnen Stämme erhebliche Differenzen gegeben hat. So wurde die Wandergemeinschaft 105 aufgegeben und erst 103 wiederhergestellt, um dann aber wiederum nach Stämmen getrennt gegen Italien vorzurücken. Die verschiedenen Verhandlungen und Verhandlungsangebote sowie die unterlassene Ausnutzung von Siegen einerseits sind mit dem zweifellos vorhandenen Drang, das Römerreich mehrmals anzugreifen und die Kräfte mit ihm zu messen, schwer vereinbar. Eine Erklärung dafür wäre, daß zwei einflussreiche Gruppierungen zu verschiedenen Zeiten die Oberhand gewonnen haben. Während die eine die direkte Konfrontation mit Rom gesucht haben dürfte, scheint die andere bestrebt gewesen zu sein, diese Auseinandersetzung möglichst zu begrenzen. Auch über die angestrebten Ziele, Plünderung besetzter Gebiete oder Ansiedlung auf keltischem oder römischem Territorium, scheinen verschiedene Ansichten geherrscht zu 21

22 23 24

Vgl. vor allem Liv. per. 67 = Quellen 1206f.; vgl. 499; Gran. Lie. 33, 6-17 = Quellen III 170f.; vgl. 537 in der Übersetzung und Kommentierung von R. Johne und H. Labuske und Oros. 5, 16, 1-7 = Quellen IV 268f.; vgl. 523 in der Übersetzung und Kommentierung von H. Labuske. Die Zusammenstellung aller Zeugnisse zu den Germanenkriegen der Jahre 113-101 v. Chr. bieten GoetzAVelwei I 202-271, zu Arausio 228-231. Oros. 5, 16, 5-6 = Quellen IV 268f.; vgl. 523; Goetz/Welwei I 218f. Die römischen Vorstellungen von den Kimbern und Teutonen vor und nach dieser Schlacht behandelt ausführlich Trzaska-Richter 62-67. Zusammenfassende Behandlung von Kimbernzug und Heeresreform u. a. bei H. Bengtson, Grundriß der römischen Geschichte mit Quellenkunde, Band 1: Republik und Kaiserzeit bis 284 n. Chr., München 1967, 168-171; K. Christ, Krise und Untergang der römischen Republik, 3. Aufl. Darmstadt 1993, 154-164, und H. Bellen, Grundzüge der römischen Geschichte, Teil I: Von der Königszeit bis zum Übergang der Republik in den Prinzipat, Darmstadt 1994, 99-102; femer Ihm, Cimbri, RE 3, 2 (1899) 2547-2553; A. Franke, Teutoni/Teutones, RE 5 A 1 (1934) 1172-1176; Timpe, Kimbern; K. Dietz, Cimbri, DNP 2 (1997) 1203-1205; G. Neumann/Th. Grünewald/J. Martens, Kimbern, RGA 16 (2000) 493-504; R. Wiegels, Teutoni, DNP 12/1 (2002) 209-211; zur Problematik Pohl, Germanen llf. und 89f.

45 haben. Im Jahre 102 hatte man sich dann jedoch erneut zu einem Einfall in den Römerstaat entschlossen. Jetzt trafen die Germanen aber auf einen wohlgerüsteten Gegner, der die ihm nach Arausio vergönnte Atempause optimal genutzt hatte. Im Herbst 102 wurden die Teutonen und die mit ihnen verbündeten Ambronen in zwei kurz aufeinanderfolgenden Schlachten bei Aquae Sextiae (Aix-en-Provence) von C. Marius vollständig besiegt. Am 30. Juli 101 bereiteten die Konsuln C. Marius und Q. Lutatius Catulus auf den Raudischen Feldern bei Vercellae in der Po-Ebene den Kimbern eine vernichtende Niederlage.25 Damit war die von den Germanen ausgehende Gefahr für Rom auf lange Zeit beendet. Es sollten mehr als 250 Jahre vergehen, ehe Germanenscharen wieder den Boden Italiens betraten. C. Marius wurde im Jahre 101 v. Chr. als neuer Gründer Roms gefeiert! In Verbindung mit den beiden letzten Schlachten der Germaneninvasion tauchen auch erstmals die Namen germanischer Anführer aus dem Norden in der griechisch-römischen Literatur auf. Die erste fassbare Einzelperson der Germanen ist der Teutonenkönig Teutoboduus, der nach der Niederlage von Aquae Sextiae gefangen genommen und Gesandten der Kimbern gefesselt vorgestellt wurde. Marius ließ ihn später im Triumph aufführen und hinrichten.26 Der Kimbernkönig Boiorix verhandelte 101 mit C. Marius und forderte ihn dabei auf, Tag und Ort der Entscheidungsschlacht zu bestimmen, der Schlacht bei Vercellae, in der er dann gefallen ist.27 Mit ihm werden in diesem Zusammenhang drei andere Stammesführer mit keltisierten oder latinisierten Namen genannt, Lugius, der ebenfalls auf den Raudischen Feldern fiel, sowie Claodicus und Caesorix, die gefangengenommen wurden.28 Vellerns Paterculus überliefert eine Episode, in der es um eine Einzelperson aus der sehr großen Zahl von Gefangenen geht, die nach den römischen Siegen versklavt wurden, angeblich sollen es 140 000 Menschen gewesen sein.29 Deren Schicksal ist ja in der antiken Historiographie im Allgemeinen nicht fur überliefernswert befunden worden. Im Bürgerkrieg des Jahres 88 v. Chr. wurde Marius von Soldaten seines Gegners Sulla ergriffen und in Minturnae in Latium eingesperrt. Ein Staatssklave sollte ihn töten. Dieser war ein Germane, der von Marius im Kimbernkrieg gefangengenommen worden war. Als er den Feldherrn erkannte, entrüstete er sich über das Schicksal eines so bedeutenden Mannes und weigerte sich den Auftrag auszuführen.30 25

Das Geschehen der Jahre 102 und 101 v. Chr. ist am ausführlichsten in der Biographie des Marius von Plutarch behandelt, Plut., Mar. 11-27 = Quellen 1400-423; vgl. 600-610 in der Übersetzung und Kommentierung von H. Labuske und G. Bockisch sowie Goetz/Welwei I 236-261 und Tizaska-Richter 6776. 26 Plut., Mar. 24, 7 = Quellen 1416f.; Flor. 1, 38, 10 = Quellen III 174f.; vgl. 539; Eutr. 5, 1, 4 = Quellen III 468f.; vgl. H. G. Gundel, Teutoboduus, Kl. Pauly 5 (1975) 639; W. Spickermann, Teutoboduus, DNP 12/1 (2002) 209. 27 Plut., Mar. 25, 4f. = Quellen 1416-419; Liv. per. 67 = Quellen I 206f.; vgl. 499; Flor. 1,38, 18 = Quellen III 176f.; Oros. 5, 16, 20 = Quellen IV 272f.; vgl. 524; W. Spickermann, Boiorix 2, DNP 2 (1997) 731. 28 Oros. 5, 16, 20 = Quellen IV 272f.; vgl. 524 und zu den Namen J. de Vries, Kimbern und Teutonen, in; Erbe der Vergangenheit. Festgabe Karl Helm, Tübingen 1951, 7-24 = Schwarz, Stammeskunde 104122, speziell 105-109; B. Melin, Die Heimat der Kimbern, Lund 1960, 65-68; Quellen I 609f.; Th. Grünewald, Kimbern, RGA 16 (2000) 496. 29 Oros. 5, 16, 21 = Quellen IV 272f.; vgl. 524; Goetz/Welwei 1220f. 30 Veil. Pat. 2, 19, 3 = Quellen I 266f.; vgl. Val. Max. 2, 10, 6 = Quellen I 288f.; vgl. 540 in der Übersetzung und Kommentierung von W. O. Schmitt.

Karte 2: Die Züge der Kimbern, Teutonen und Ambronen um 120-101 v. Chr.

47 Unter den germanischen Sklaven im Heere des Spartacus könnten sich auch noch Kimbern und Teutonen befunden haben, die als Kinder oder im jugendlichen Alter 102 und 101 in die römische Gefangenschaft geraten sind. Ein beträchtlicher Teil der Aufständischen der Jahre 73 bis 71 v. Chr. scheinen Germanen gewesen zu sein, ein Bezug zu den 30 Jahre zurückliegenden Ereignissen wird allerdings an keiner Stelle der Überlieferung hergestellt.31 Beachtet werden muß zudem, daß alle Nachrichten über die Bewegung des Spartacus einer Zeit entstammen, in der die Germanen durch Caesar bereits bekannt gemacht worden waren. Daher muß es offen bleiben, welche ethnische Zugehörigkeit die Zeitgenossen der siebziger Jahre des 1. Jh. v. Chr. diesen Sklaven gegeben haben. Wahrscheinlich bestand dabei noch dieselbe Unsicherheit wie in den Kimbernkriegen. Die Kämpfe mit den lange unterschätzten und dann so gefurchteten Barbaren waren in ihrer Schlussphase zwischen 105 und 101 v. Chr. mit der allergrößten Erbitterung geführt worden. Spätestens in diesen Jahren dürfte in der Mittelmeerwelt die Frage aufgeworfen worden sein, woher denn diese Stämme überhaupt gekommen sind, warum sie ihre frühere Heimat verlassen haben und welchen der bisher bekannten Barbarengruppierungen sie zuzuordnen wären. Alle einschlägigen Quellen betrachten Kimbern und Teutonen als Küstenbewohner des nördlichen Ozeans. Unter Berufung auf Poseidonios überliefert Strabon, „daß die Vertreibung der Kimbern und ihrer Stammverwandten aus ihrer Heimat durch einen Angriff des Meeres zustande kam, der nicht auf einmal erfolgte".32 An anderer Stelle spricht Strabon direkt von einer verheerenden Sturmflut, die die Bewohner einer Halbinsel vertrieben habe.33 Die Halbinsel ist unstrittig die im geographischen Sprachgebrauch bis heute nach diesem Germanenstamm benannte „Kimbrische Halbinsel", Jütland und SchleswigHolstein. Strabon verweist darauf, daß zu seinen Lebzeiten immer noch Kimbern dort wohnen und eine Gesandtschaft an Kaiser Augustus geschickt haben; der Kaiser gedenkt dieser Gesandtschaft auch in seinem Tatenbericht.34 Allerdings begeht Strabon den Irrtum, die Kimbern westlich der Elbe zu lokalisieren, ist sich also der Lage der von ihnen bewohnten Halbinsel nicht bewußt.35 In der geographischen Literatur der Kaiserzeit wird dann mehrmals von der kimbrischen Halbinsel und vom Kap Skagen als Kimbernkap, dem promunturium Cimbrorum, gesprochen.36 Als ursprüngliches Siedlungsgebiet wird seit dem 17. Jh. der Westen Jütlands vermutet. Dort scheint der seit dem 12. Jh. bezeugte Name „Himmerland" bzw. „Himbersyssael" für eine Landschaft südlich des Limfjordes den alten Stammesnamen bewahrt zu haben.37 Für die Kimbern als den größten Stamm der Auswanderer spricht, daß allein von ihm ein offenbar recht beträchtlicher Teil in der Heimat verblieben ist, und er in den Schriftquellen stets an erster Stelle genannt wird.

31 Vgl. Sali., hist. 3, 96 D, 15-21 = Quellen I 166f.; 477 in der Übersetzung und Kommentierung von G. Perl; Liv. per. 97 = Quellen I 208f.; 500; Plut., Crass. 9, 8-9 = Quellen I 390f.; 599; GoetzAVelwei I 270f. 32 Strab. 2, 3, 6 p. 102 C = Quellen 1214f.; vgl. 503. 33 Strab. 7, 2, 1 p. 292f. C = Quellen 1236f.; vgl. 515f. und 609; GoetzAVelwei 1204-207. 34 Strab. a. a. O. (Anm. 33); Mon. Anc. 26 = Quellen IV 414f.; vgl. 584f. in der Übersetzung und Kommentierung von W. O. Schmitt und H. Labuske; Barrington Atlas Map 10. 35 Strab. 7,2,4 p. 294 C = Quellen 1240f.; vgl. 517; GoetzAVelwei 196f. 36 Plin., nat. hist. 4, 96f. = Quellen I 328f.; vgl. 567f.; Ptol. 2, 11,2 = Quellen III 214f.; vgl. 561 in der Übersetzung und Kommentierung von H. Ditten, W. O. Schmitt und G. Chr. Hansen. 37 R. Seyer, in: Die Germanen 141; Quellen I 516; B. Melin, Die Heimat der Kimbern, Lund 1960, 70-76.

48 Die Teutonen waren in Jütland wohl die Nachbarn der Kimbern. Ein Nachbarbezirk Himmerlands, Thyland bzw. Thytesyssel im Nordwesten der Halbinsel, könnte noch auf diesen Stamm hinweisen, dessen Ersterwähnung aller Wahrscheinlichkeit 200 Jahre früher bei Pytheas von Massalia vorliegt.38 In der Wanderbewegung der Nordseegermanen erscheinen sie an zweiter Stelle, ihr Stamm dürfte kleiner gewesen sein, denn von Teutonen gibt es später auf dem Territorium Dänemarks keine Spuren mehr. Kleinster Bestandteil der Gruppierung, die sich in Richtung Süden auf den Weg machte, waren die Ambronen. Eine mögliche Deutung ihres Namens verbindet diesen mit der nordfiiesischen Insel Amrum, deren mittelalterlicher Name „Ambrun" gewesen ist.39 Letzte Sicherheit läßt sich jedoch in der Frage der Wohnsitze dieser Stämme generell nicht erzielen.40 Interessant für die mittelmeerische Vorstellungswelt von der Heimat der Kimbern und Teutonen ist eine Passage in der Mariusbiographie des Plutarch. Danach bewohnten sie „ein schattiges und waldreiches Land, auf das ganz wenig Sonnenschein falle wegen der Tiefe und Dichte der Eichenwälder, die sich vom äußersten Ozean landeinwärts bis zum Herkynischen Gebirge erstreckten..."41 Das Zitat bestätigt einmal mehr Polybios' Feststellung über die weitgehende Unerforschtheit Mitteleuropas. Bekannt sind das Nordmeer und das Herkynische Gebirge, dazwischen gibt es nur undurchdringliche Wälder, aus denen sich die ,3arbarenflut" in den Süden ergossen habe. So unklar wie die geographische war den antiken Schriftstellern auch lange die ethnische Herkunft dieser Stämme. Bis zu Caesars Gallischem Krieg wurden Kimbern und Teutonen den Kelten zugeordnet und als „Gallier" bezeichnet. Diese Auffassung findet sich bei Cicero und Sallust noch zu einer Zeit, in der Caesar sie bereits als Germanen identifiziert hatte.42 Da man jedoch seit den Kämpfen zwischen 113 und 101 v. Chr. die Unterschiede zu anderen Kelten durchaus kannte, kam die Vorstellung auf, diese nordischen Stämme kämen aus dem Grenzgebiet zwischen den Kelten im Nordwesten und den Skythen im Nordosten Europas. In der für diese Fragen ergiebigen Mariusbiographie Plutarchs findet sich eine Überlieferung, wonach es sich bei ihnen um eine Mischung aus Kelten und Skythen handele, für die der Begriff „Keltoskythen" gebraucht wird 43 Die richtige Erkenntnis in der ethnischen Zuordnung wird Caesar verdankt, der, von politisch-propagandistischen Motiven geleitet, im Jahre 58 v. Chr. die Verbindung zwischen ihnen und den Germanen Ariovists hergestellt

38 39 40 41 42

43

Vgl. oben Kap. II Seite 33 mit Anm. 36.1. H. F. Bloemers, Barrington Atlas Map 10 siedelt die Teutonen im westlichen Schleswig an, was mit der Nennung bei Pytheas in Übereinstimmung stehen würde. Vgl. Plut., Mar. 19, 3f. = Quellen 1408-411; 606; Goetz/Welwei 1246f.; H. Kühn/R. Wenskus, Ambronen, RGA 1 (1973) 252; K. Dietz, Ambrones, DNP 1 (1996) 581. Vgl. die unterschiedlichen Nuancierungen von G. Neumann und Th. Grünewald in demselben Kimbern-Artikel im RGA 16 (2000) 495 und 496. Plut., Mar. 11, 9 = Quellen I 402f.; vgl. 602f.; Goetz/Welwei I 238f.; Timpe, Entdeckungsgeschichte 342. Cie., prov. 19; 32 = Quellen I 78f.; vgl. 446f.; de or. 2, 266 = Quellen I 80f.; vgl. 447f. in der Übersetzung und Kommentierung von G. Perl; Sali., lug. 114, 1 = Quellen 1164f.; vgl. 475f.; Dobesch, Barbaricum 53 rechnet bei Sallust mit einer bewußt archaisierenden Ausdrucksweise. Plut., Mar. 11, 6-7 = Quellen I 400-403; vgl. 602f.; Goetz/Welwei I 238f.; Timpe, Entdeckungsgeschichte 342f.; Dobesch, Barbaricum 53-58.

49 hat.44 Bei der Südwanderung der nordseegermanischen Stämme in den Jahren nach 120 v. Chr. wird das Stromgebiet der Elbe aller Wahrscheinlichkeit nach erstmals in einem historisch faßbaren Vorgang berührt, wenn auch der Name des Flusses in diesem Zusammenhang nicht fällt. Wiederum unter Berufung auf Poseidonios berichtet Strabon, daß die Kimbern nach Süden zu den Boiern gezogen seien, die den Herkynischen Wald besiedelten, und daß sie bei ihrem Vorrücken gegen dieses Gebiet zurückgeschlagen worden seien, worauf sie zur Donau weiterzogen 45 Die Boier waren ein keltischer Stamm, von dem ein Teil im Zuge der großen Wanderbewegungen des 4. Jh. v. Chr. in den Norden Italiens gezogen war, ein Teil jedoch etwa bis zum Jahre 60 v. Chr. in der „Bojerheimat", in Boiohaemum, dem späteren Böhmen, verblieben ist.46 Der so anhaltend namengebende Begriff wird erstmals um das Jahr 30 n. Chr. von Vellerns Paterculus überliefert.47 Um von den Küstenlandschaften Jütlands und Schleswig-Holsteins ins Bojerland zu gelangen, dürften die wandernden Stämme das Stromgebiet der Elbe berührt haben. Namhafte Vertreter der älteren Forschung wie K. Müllenhoff und L. Schmidt nahmen einen Wanderweg von der Unterelbe stromaufwärts bis nach Böhmen an.48 In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen kam die These vom Wanderweg an der Oder auf. Begründet wurde sie von W. Schulz 1929, der eine Route über die dänischen Inseln und die Ostsee bis zur Odermündung annahm und dann diesen Fluß aufwärts.49 Modifiziert hat M. Jahn diese Ansicht 1932 übernommen. Auch er glaubte an eine Auswanderung aus Jütland über den Seeweg und anschließend durch das unbesiedelte Oderland nach Südosten. Da er jedoch das Siedlungsgebiet der Boier bis nach Schlesien ausdehnen wollte, wird Böhmen bei ihm von dem Kimbernzug gar nicht mehr berührt; dessen von der Elbe durchflossener Nordteil gilt allgemein als der Kern des „Bojerlandes". Jahn konstruierte als Zusammenstoß zwischen Kimbern/Teutonen und Boiern sogar eine „Schlacht bei Breslau".50 Spekulationen dieser Art sind vor dem Hintergrund des Fehlens eindeutiger Nachweise archäologischer Art für diese Wanderbewegung zu sehen. Zu keinen Ergebnissen hinsichtlich der Anfangsphase des Zuges kam auch die Berliner Dissertation von R. Hesse, in der 1938 alle Bodenfunde, die mit den Kimbern und Teutonen im Zusammenhang stehen könnten, zusammengetragen worden sind.51 Darin wird die Oderroute von Schulz und Jahn übernommen, wenn auch eingestanden wird, daß es keine kimbrische Hinterlassenschaft in Schlesien gibt.52

44 45 46 47 48 49 50 51 52

Caes., b. G. 1, 33, 3-4; 40, 5-7 = Quellen I 94f.; lOOf.; vgl. 456. 458 in der Übersetzung und Kommentierung von H. Labuske und K.-P. Johne; GoetzAVelwei 1282f.; 288f.; Günnewig, Germanenbild 25. Strab. 7, 2, 2 p. 293f. C = Quellen 1238f.; vgl. 516. G. Brizzi, Boii, DNP 2 (1997) 730f.; K. Dietz, Boiohaemum, a. a. O. Veil. Pat. 2,109, 5 = Quellen 1272f.; vgl. 531f. K. Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde, Band 2, Berlin 1887, 290; L. Schmidt, Geschichte der deutschen Stämme. Die Westgermanen, Teil I, 2. Aufl. München 1938, 7. W. Schulz, Der Wanderzug der Kimbern zum Gebiet der Boier, Germania 13, 1929, 139-143 = Schwarz, Stammeskunde 17-24. M. Jahn, Die Wanderung der Kimbern, Teutonen und Wandalen, Mannus 24, 1932, 150-157 = Schwarz, Stammeskunde 41-53. R. Hesse, Der Kimbemzug. Versuch seiner Festlegung auf Grund der vorgeschichtlichen Bodenfunde, Phil. Diss. Berlin, Würzburg 1938. Hesse (wie Anm. 51) 4f. und 51-53.

50 Die Hypothese eines Oderweges der ausgewanderten Nordseegermanen bleibt aber problematisch. Zum einen unterstellt sie die Annahme, daß den Stämmen auf der jütischen Halbinsel die Besiedlungsverhältnisse im Elbe- und Odergebiet so bekannt gewesen seien, daß sie sie bei der Wahl ihrer Wanderroute bewußt hätten berücksichtigen können. Zum anderen muß man sich fragen, warum diese Stämme, falls sie im Odergebiet wirklich auf unbesiedeltes Land größeren Ausmaßes gestoßen sein sollten, sich nicht dort angesiedelt haben, sondern in den dichter besiedelten Süden gezogen sind. Das Hauptargument von Schulz, Jahn und Hesse für den Oderweg ist ja die Vermeidung des Durchzugs durch das dichter besiedelte Elbegebiet.53 Auf ihrem weiteren Zug spielte für Kimbern und Teutonen die Überlegung, siedlungsarme oder siedlungsleere Gebiete aufzusuchen, dann aber offenbar keine Rolle mehr. Die Zusammenstöße mit Boiern, Skordiskern, Norikern, Galliern, Keltiberern und Römern zeigen gerade ein gegenteiliges Verhalten. Schließlich muß bei einer konsequenten Verfechtung des Oderweges das Stammesgebiet der Boier unbedingt bis nach Schlesien ausgedehnt werden, was wiederum mit der Lokalisierung in und um den Herkynischen Wald in Widerspruch steht. Für die Anfangsphase des Kimbernzuges bleiben somit keine anderen Anhaltspunkte als ihr Heimatgebiet an der nördlichen Küste und das Siedlungsgebiet der Boier im Mittelgebirgsraum. E. Koestermann kehrte daher 1969 auch zum „Elbeweg" zurück, für den die größere Wahrscheinlichkeit spreche.54 Mehr als eine wahrscheinliche Annahme wird sich angesichts der Quellenlage ohnehin nicht erreichen lassen. Die neuere Forschung äußert sich daher auch sehr vorsichtig zur möglichen Route, schließt jedoch den Elbeweg zumindest nicht aus. Dabei ist auch zu bedenken, dass die Wasserstraße zwischen dem 5. und 1. Jh. v. Chr. eine regelmäßig genutzte Handelsroute war.55 Nach dem Zusammenstoß mit den Boiern zogen die Stämme weiter nach Süden und die Donau abwärts bis ins heutige Ungarn und Serbien. Dort trafen sie mit einem anderen Keltenstamm, den Skordiskern, zusammen und wurden in das Ostalpengebiet abgedrängt, wo sie dann im Jahre 113 v. Chr. bei Noreia erstmals in das Blickfeld griechischer und römischer Berichterstatter gerieten. Es liegt im Bereich des Wahrscheinlichen, daß sich auf dem langen Zug von der Nordsee über das Donau- und Alpengebiet Teile der wandernden Stämme abgesondert und niedergelassen haben. Einige Angaben, die darauf schließen lassen, sind vorhanden, besitzen jedoch keine wirklich zwingende Beweiskraft. An der Stelle der mittleren Donau, an der Kimbern und Teutonen ihre Nord-Süd-Richtung in eine ost-westliche geändert haben könnten, befindet sich ein Ort namens Teutoburgium, der auf eine teutonische Niederlassung hinweisen könnte. Der Ort an der Donauuferstraße der römischen Provinz Pannonia inferior wird jedoch erst im 2. nachchristlichen Jh., also über 200 Jahre später, so genannt und könnte ebenso eine von den historischen Vorgängen um den Stamm der Teutonen losgelöste keltische oder germanische Bezeichnung für „Volksburg" sein.56 Ebenso hat man Inschriften im 53 Vgl. Schwarz, Stammeskunde 20f. und 42-44; Hesse (wie Anm. 51) 4f. 54 E. Koestermann, Der Zug der Cimbern, Gymnasium 76,1969, 310-329, speziell 315. 55 Vgl. H. Seyer, in: Die Germanen I 196 mit Anm. 84 und Abb. 51; J. Filip, Böhmen und Mähren, RGA 3 (1978) 144; Quellen I 516; Timpe, Kimbern 34; Goetz/Welwei I 207; Th. Grünewald/J. Martens, Kimbern, RGA 16 (2000) 497 und 501 sowie zum Handelsweg V. Sala£, Die Bedeutung der Elbe fur die böhmisch-sächsischen Kontakte in der Latenezeit, Germania 76,1998, 573-617. 56 Vgl. M. Fluss, Teutoburgion, RE 5 A 1 (1934) 1171f.; A. Franke, Teutoni/Teutones, a. a. Ο. 1173.

51 Raum Miltenberg und im Raum Heidelberg mit dem Durchzug der Stämme auf dem Wege zum Rheinübergang 111/110 v. Chr. in Zusammenhang bringen wollen. In beiden Gebieten finden sich inschriftliche Weihungen an Mercurius Cimbrius und Mercurius Cimbrianus und bei Miltenberg eine Erwähnung von Teutones auf einem Stein.57 Da auch diese Zeugnisse erst der mittleren Kaiserzeit entstammen, wird man sie nur mit größter Vorsicht mit dem Geschehen am Ende des 2. Jh. v. Chr. in irgendeine Verbindung bringen wollen. Die einzige aus dem Altertum bezeugte Abspaltung auf dem Wanderzuge der Nordseegermanen ist die der Aduatuker. Kimbern und Teutonen sollen nach der Überschreitung des Rheins und vor ihrem Einfall in die Gallia Narbonensis und nach Italien, also wohl 103 v. Chr., einen Teil ihres Trosses in Gallien unter Zurücklassung einer Wachmannschaft von 6000 Mann belassen haben. Aus diesen sei nach Caesar der belgische Stamm der Aduatuker hervorgegangen, der beiderseits der Maas zwischen dem heutigen Lüttich-Namur und Limburg siedelte.58 Allerdings ist auch diese Feststellung in Zweifel gezogen worden, da die Abstammung die besondere Tapferkeit dieses belgischen Stammes belegen soll, wie alle Belger von Caesar wegen ihrer germanischen Abstammung als herausragend tapfer geschildert werden.59 So bleiben letztlich alle Nachrichten über weitere Schicksale von Teilen der ausgewanderten Nordseegermanen im Bereiche des Ungewissen. Die wissenschaftliche Verarbeitung des historischen Geschehens zwischen Noreia und Vercellae leistete Poseidonios von Apameia (um 135-51 v. Chr.), als Universalgelehrter gleich bedeutend als Philosoph, Historiker, Geograph und Ethnograph. Wie niemand vor ihm interessierte er sich auch für die terra incognita Mitteleuropas. Auf seinen Werken basiert ein großer Teil der von Diodor, Strabon und Plutarch überlieferten Nachrichten zu den Kimbern und Teutonen. Caesar und Tacitus sind bei ihren Betrachtungen Mitteleuropas stets von den Forschungen dieses griechischen Gelehrten ausgegangen. Poseidonios war der Schüler des stoischen Philosophen Panaitios (um 185 - um 110 v. Chr.) und wurde zum Hauptvertreter der sog. mittleren Stoa, die die Lehren dieser philosophischen Richtung mit platonischen und aristotelischen Vorstellungen zu verbinden suchte. Etwa ab dem Jahre 97 v. Chr. wirkte er in der Inselrepublik Rhodos, wo er zeitweilig das Prytanenamt bekleidete. Nach seiner Wahlheimat wird er auch Poseidonios Rhodios genannt. Auf ausgedehnten Reisen lernte er vor allem den westlichen Mittelmeerraum kennen, Italien, Sizilien, die iberische Halbinsel, das südliche Gallien und Nordafrika. Mindestens einmal suchte er in den Jahren 87/86 als Gesandter seiner Wahlheimat in diplomatischer Mission Rom auf. Seine Schule, die die Philosophie mit den verschiedensten Fachwissenschaften verband, war im ganzen Mittelmeerraum berühmt und vielbesucht. Cicero im Jahre 77 und Pompeius in den Jahren 66 und 62 kamen zu ihm. Wie kein anderer Forscher des 1. Jh. v. Chr. vereinigte er das gesamte Wissen seiner Zeit in sich.60 (Abb. 2)

57 58 59 60

CIL XIII6402. 6604. 6605. 6610; vgl. Goetz/Welwei 1203. Caes., b. G. 2, 29, +-5 = Quellen I 114f.; vgl. 461f.; Goetz/Welwei I 316f.; K. Dietz, Aduatuci, DNP 1 (1996) 134. Vgl. Trzaska-Richter 109; Goetz/Welwei I 5. 203. 315. Zu Person und Werk vgl. K. Reinhaidt, Poseidonios, München 1921; ders., Kosmos und Sympathie, München 1926; ders., Poseidonios, RE 22,1 (1953) 558-826; G. Pfligersdorffer, Studien zu Poseidonios, Wien 1959; Müller, Ethnographie 1310-347; K. Schmidt, Kosmologische Aspekte im Geschichtswerk des Poseidonios, Göttingen 1980; Malitz, Historien; Dobesch, Barbaiicum 59-110; Engels, Strabon 166-201; B. Inwood, Poseidonios 3, DNP 10 (2001) 211-215; J. Malitz/H. Reichert, Poseidonios, RGA 23 (2003) 301-303.

Abb. 2: Poseidonios Rhodios

53 Von dem sehr umfangreichen Gesamtwerk des Poseidonios, das mindestens 25 Schriften zu den verschiedensten Sachgebieten umfaßte, hat sich nichts direkt erhalten; alle Nachrichten müssen aus Zitaten und anderen Spuren in den Werken seiner zahlreichen Benutzer rekonstruiert werden. Im Zusammenhang mit dem Stromgebiet der Elbe sind zwei poseidonische Werke von Wichtigkeit. Zu den naturwissenschaftlichen Schriften gehören die Fragmente „Über den Ozean", die vermutlich das Ergebnis einer Reise bis an die Atlantikküste gewesen ist. Darin unternahm er den Versuch, von einer Erdbeschreibung zu einer Erdgeschichte zu gelangen. Im Einklang mit der Auffassung vom Kosmos als einem einheitlichen, lebendigen Organismus erklärte er die Gezeiten des Meeres richtig durch die Einwirkung des Mondes. Auf die Gezeiten hatte Pytheas ja erstmals hingewiesen, auf dessen Spuren sich Poseidonios allenthalben befand. Er vertrat die Auffassung von der Kugelgestalt der Erde und hat aus seinen Messungen des Erdumfangs den Schluß gezogen, daß Indien Gallien „gegenüber" liegen müsse.61 Damit schloss er sich Aristoteles an, der in seinem Werk „Über den Himmel", von der Kugelgestalt der Erde ausgehend, bereits die Ansicht vertreten hatte, „die Gegend um die Säulen des Herakles mit derjenigen um Indien in Verbindung zu bringen und dazwischen nur ein einziges Meer anzunehmen".62 Eratosthenes hatte es dann ausgesprochen, daß allein die Größe des Atlantischen Meeres es verhindere, auf demselben Breitengrad von der Iberischen Halbinsel bis nach Indien zu segeln!63 Poseidonios kam bei seinen Forschungen nur zu einem geringfügig anderen Ergebnis. Damit gehört er zu denjenigen griechischen Gelehrten, die die theoretische Grundlage schufen, auf der zu Beginn der Neuzeit Amerika für die Alte Welt entdeckt worden ist. Kolumbus ist ja bekanntlich 1492 von Spanien in Richtung Westen aufgebrochen, um den Seeweg nach Indien zu erkunden.64 Aus Poseidonios' Werk „Über den Ozean" stammt die von Strabon überlieferte Passage über die Vertreibung der Kimbern aus ihrer angestammten Heimat durch Überflutungen. Der Gelehrte beschäftigte sich mit den Veränderungen der Erdoberfläche durch Hebungen und Senkungen und brachte diese Vorgänge mit der Mobilität dieser Stämme in Verbindung.65 Eine andere Großleistung des Poseidonios war ein monumentales Geschichtswerk in 52 Büchern, mit dem er die Weltgeschichte des Polybios für die Zeit von 145/144 bis mindestens 88 v. Chr. fortgesetzt hat. Wie sein Vorgänger bewunderte er die Größe und Entwicklung Roms, zu dessen Weltherrschaft er keine Alternative sah. Nach seiner Ansicht hatte jedoch der sittliche Verfall, den er in den hellenistischen Staaten bereits für weit fortgeschritten hielt, seit der Zerstörung Karthagos auch Rom ergriffen. Die Weltgeschichte deute61 62 63 64 65

FGr Hist II A 87 Nr. 100 = Poseidonius, edd. L. Edelstein/I. G. Kidd, 2. Aufl. Cambridge 1989, vol. 1, 190; vol. 2, 2, 756-759. Arist., de caelo 298 a 15; vgl. Aristoteles, Vom Himmel. Von der Seele. Von der Dichtkunst, übers, von O. Gigon, Zürich 1950, 137. Strab. 1, 4, 6; vgl. Strabon, Geographie, tome 1, ed. G. Aujac, Paris 1969, 171 und 218; K. Geus, Eratosthenes von Kyrene, München 2002, 270f. Vgl. F. Jürß (Hrsg.), Geschichte des wissenschaftlichen Denkens im Altertum, Berlin 1982, 397 mit Anm. 61. FGr Hist II A 87 Nr. 28 § 18f.; Nr. 31 = Poseidonius, edd. L. Edelstein/I. G. Kidd, vol. 1, 2. Aufl. Cambridge 1989, 74-75; vol. 2, 1, Cambridge 1988, 258-262; vol. 1, 236f.; vol. 2, 2, 922-932; vgl. Strab. 2, 3, 6 p. 102 c = Quellen 1214f.; vgl. 503; Timpe, Entdeckungsgeschichte 344; Malitz, Historien 206-208.

54

te Poseidonios als einen fortschreitenden Niedergang, als eine zunehmende Abkehr der Menschheit vom Logos, der als göttliche Weltordnung ursprünglich den Kosmos durchwaltet hatte. Mit seiner kulturkritischen Tendenz wurde der Gelehrte von Rhodos der erste Historiker des Verfalls; das Krisenbewußtsein, das Polybios erst hatte anklingen lassen, wurde von ihm zu einer Theorie der Dekadenz verfestigt. Das Geschichtswerk des Poseidonios ist 1983 von J. Malitz in einer Freiburger Habilitationsschrift in höchst verdienstvoller Weise rekonstruiert worden.66 In diesen „Historien" widmete er sich auch der Erforschung von Leben und Kultur wenig bekannter Völker auf der iberischen Halbinsel und in Mitteleuropa. Wie die Geographen vor ihm unterschied er den Raum nördlich der Alpen in das Keltenland im Westen und das Skythenland im Osten. Als besonders notwendig empfand er die nähere Beschäftigung mit den Kelten, deren bisherige Kenntnis in der Mittelmeerwelt er zu Recht für ungenügend hielt. Poseidonios wird die umfangreichste Keltenethnographie verdankt, die im Altertum geschrieben wurde. Der historische Anknüpfungspunkt hierfür war die römische Eroberung des südlichen Galliens und die Errichtung der Provinz Gallia Narbonensis 121 v. Chr. Der Gelehrte weilte selbst in Massalia, der Heimatstadt des Pytheas, und besuchte das Schlachtfeld von Aquae Sextiae, den Ort der Niederlage von Teutonen und Ambronen. Dass er außer der römischen Provinz auch das „freie" Gallien besuchte, ist darüberhinaus wahrscheinlich.67 All das waren gute Voraussetzungen für Ausführungen über geographische und klimatische Bedingungen des Keltenlandes und die dort existierenden sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Zustände.68 Im Rahmen der Keltenethnographie begegnet wohl zum ersten Mal in der antiken Literatur der Begriff der Germanen in der gräzisierten Form Γερμανοί. Die über sie gemachten Aussagen sind ein verbreiteter Topos über nördliche Barbaren. Allerdings überliefert erst der kaiserzeitliche Sophist Athenaios von Naukratis (um 190 n. Chr.) die Nachricht: „Die Germanen essen zum Frühstück gliederweise gebratenes Fleisch und trinken dazu Milch und ungemischten Wein, wie Poseidonios im 30. Buch erzählt".69 Es lässt sich daher nicht völlig ausschließen, dass bei Poseidonios noch ein anderer Name stand und die Bezeichnung Germani erst von Athenaios eingesetzt worden ist.70 Vor allem die Sitte, den Wein ohne Beimischung von Wasser zu trinken, galt als ein Zeichen fehlender Zivilisation und typisch für Barbaren. Dieselbe Untugend aus der Sicht der Südländer herrschte bei den Kelten. In einem anderen Fragment des Poseidonios ist davon die Rede, daß die Kelten viel Fleisch essen, wovon sie mit beiden Händen ganze Glieder ergreifen und davon abbeißen, und dazu unvermischten Wein trinken.71 Zwischen Kelten und Germanen sah Poseidonios noch keinen grundsätzlichen Unterschied, er betrachtete die Germanen, so er sie denn unter diesem Namen gekannt hat, offenbar als einen besonders wilden ostkeltischen Stamm, der

66 67 68 69 70 71

Malitz, Historien. Dobesch, Barbaricum 59. Malitz, Historien 169-198; Quellen I 66-71; vgl. 440-442 in der Übersetzung und Kommentierung von I. Stark; Müller, Ethnographie 1323-331. Poseid., fr. 22 = Ath. 4, 39 p. 153 e = Quellen 170f.; vgl. 442; GoetzAVelwei I 70f. Alle Argumente gegen die Authentizität zusammengestellt bei Reichert, RGA 23 (2003) 302f. Poseid., fr. 15 = Ath. 4, 36 p. 151 e-152 d = Quellen 166-69; vgl. 441.

55 am Rhein siedelte.72 Ein großes und selbständiges Ethnos zwischen den Kelten und den Skythen hat der rhodische Gelehrte in den Germanen zweifellos noch nicht erkannt. Die Kimbern und Teutonen sind für ihn Kelten oder Keltoskythen gewesen.73 Von weitreichenderer Bedeutung als die ethnischen Ausführungen des Poseidonios waren seine grundsätzlichen zu den „Nordvölkern", insbesondere die von ihm auf die Vorgänge der Jahre 113 bis 101 v. Chr. angewandte „Klimalehre". Dabei griff der Gelehrte auf Theorien der klassischen Zeit zurück, wonach das Klima sowohl das Äußere der Völker als auch den Charakter der Länder bestimme. Im Schrifttum ist diese Auffassung erstmals im 5. Jh. v. Chr. von Hippokrates von Kos vertreten worden.74 Sie wurde dann von Aristoteles in der „Politik" aufgenommen in der apologetischen Absicht, den Griechen die besten Qualitäten zuzuschreiben, da sie zwischen den tapferen, aber nicht sehr intelligenten Völkern des kalten Nordens und den intelligenten, aber feigen Völkern des Südens lebten.75 Darauf stützte sich wiederum Poseidonios bei seinen Überlegungen zu Charakter, geistigen Fähigkeiten und körperlichen Erscheinungen der Menschen in den verschiedenen Weltgegenden. In der mittleren Klimazone, in der die Sonne gemäßigt scheine, hätten die Körper der Menschen das richtige Maß an Feuchtigkeit, was sich in jeder Hinsicht als positiv erweise. Im Norden, wo durch die fehlende Sonneneinstrahlung die Feuchtigkeit des menschlichen Körpers nicht verdunste, vielmehr die tauhaltige Luft zusätzlich für Feuchtigkeit sorge, würden die Menschen größer, ihre Stimme tiefer und ihr Geist träger. Die Angehörigen der Nordvölker seien daher groß, hätten helle Haut, glattes, rötliches Haar, blaue Augen und viel Blut. Wegen des Überflusses an Blut seien sie zwar tapferer als die Völker des Südens, könnten aber weniger Hitze und Fieber ertragen. Die geistige Trägheit erklärt Poseidonios mit der durch die Feuchtigkeit abgekühlten Luft, während die Menschen des Südens wegen der trockenen Hitze einen scharfen Verstand besäßen. Auf Grund ihres trägen Geistes stürmten die nördlichen Barbaren ohne weitere Überlegung in die Schlacht und brächten so all ihre Pläne trotz größter Tapferkeit immer wieder zum Scheitern.76 Hatte sich also der rhodische Gelehrte um eine wissenschaftliche Erklärung bemüht, warum die Römer erst einmal für längere Zeit den wilden Barbaren unterlegen sein mußten, so gab es auch eine solche für den späteren Sieg. Die Abhängigkeit des Menschen von der Umwelt und dem Klima gestattet nämlich den Umkehrschluß, dass ein radikaler Wechsel der bisherigen Bedingungen zu einer Veränderung des bisherigen Volkscharakters führen könne. Nordlandbarbaren müßten dann in einer mittelmeerischen Umwelt ihre wilde Wesensart einbüßen und sich zivilisieren, d. h. einem Wandel durch Akkulturation erliegen.77 Richtige Beobachtungen zur Rolle geophysikalischer Einflüsse sowie zur Bedeutung des geographischen Milieus für ethnische Eigenheiten sind hier mit ethischen Wertungskriterien verbunden worden. Poseidonios Rhodios hat die

72 Malitz, Historien 204f.; Walser, Germanen 40-46; Timpe, Entdeckungsgeschichte 345; Goetz/Welwei I 70f.; Hänger, Welt im Kopf242f.; Dobesch, Barbaricum 61-63 möchte sie mit Caesars Germani cisrhenani in Belgien gleichsetzen. 73 Vgl. Anm. 43. 74 Vgl. Müller, Ethnographie 1 137-144. 75 Arist., pol. 7, 7 p. 1327 b 23-27 = Quellen I 52-55; vgl. 435 in der Übersetzung und Kommentierung von I. Stark. 76 Vgl. Vitr. 6, 1, 6-7. 9-11 ( = Poseid., fr. 121) = Quellen I 196-199; vgl. 496 in der Übersetzung und Kommentierung von I. Stark; Müller Ethnographie 1316-318. 77 Vgl. Müller, Ethnographie 1331 f.

56

Erfahrungen mit Kimbern und Teutonen in den Kontext hellenistischer Völker- und Länderkunde eingefügt und längst bekannte Modelle zur Erklärung des Geschehens in seiner Zeit herangezogen. Es ist ihm gelungen, das Phänomen dieser Wanderbewegung zu erklären und in ein historisches System zu bringen.78 Für seine Wirkung spricht, daß sich der Exkurs zur Klimalehre, der aller Wahrscheinlichkeit nach aus dem Werk „Über den Ozean" stammt, in der Schrift des Vitruvius „Über die Baukunst" aus augusteischer Zeit wiederfindet; aus den Griechen sind hier die Römer das „beste" Volk geworden.79 Die Einfalle der nordseegermanischen Stämme in die Provence und nach Italien hatte den Römern die Erkenntnis gebracht, daß die Alpen nicht mehr länger der natürliche Schutzwall für ihr Staatswesen waren und dass es außer den ihnen längst bekannten Kelten noch andere Stämme gab, die ihnen gefährlich werden konnten. Nach den Kimbernkriegen musste sich die römische Politik notwendigerweise auch für die Verhältnisse nördlich der Alpen interessieren und sich auf Dauer auf einen Feind aus dem Norden einstellen.80 Der furor Teutonicus behielt seine Wirkung.

78 79

80

Dobesch, Barbaricum 75f.; vgl. Günnewig, Germanenbild 34-42. Den Nachweis der direkten Übernahme durch Vitruv hat K. Reinhardt, Poseidonios, München 1921, 79-87, geliefert; vgl. Malitz, Historien 82f.; R. Müller, Das Barbarenbild des Poseidonios und seine Stellung in der philosophischen Tradition, Emerita 61,1993, 50. Vgl. Timpe, Entdeckungsgeschichte 338; U. Fellmeth, Von der Grenze zum Siedlungsgebiet. Die Alpen im Bewusstsein der Römer, in: E. Olshausen/H. Sonnabend (Hrsg.), Stuttgarter Kolloquium zur historischen Geographie des Altertums 5,1993, Amsterdam 1996, 79-86; Nenninger, Wald 87.

Kapitel IV Caesars Suebenland

In den Sommer des Jahres 55 v. Chr. fällt Caesars erster Rheinübergang, nachdem er die über diesen Strom vorgedrungenen Usipeter und Tenkterer besiegt hatte. (Abb. 3) Begründet wird der Rheinübergang damit, dass sich die Germanen so leicht verleiten ließen, nach Gallien einzufallen. Deshalb solle ihnen gezeigt werden, dass ein römisches Heer die Fähigkeit und den Mut besäße, den Rhein zu überqueren, damit sie auch einmal um ihre eigene Sicherheit fürchten müssten: Germanico bello confecto multis de causis Caesar statuit sibi Rhenum esse transeundum. quarum ilia fuit iustissima, quod, cum videret Germanos tarn facile impelli, ut in Galliam venirent, suis quoque rebus eos timere voluit, cum intellegerent et posse et audere populi Romani exercitum Rhenum transire.1 Neben diesem recht allgemeinen Grund gab es auch einen konkreten. Ein Teil der geschlagenen Usipeter und Tenkterer war über den Rhein geflohen und hatte sich in den Schutz des Stammes der Sugambrer begeben. Als Caesar deren Auslieferung verlangte, sollen die Sugambrer dieses Ansinnen mit dem Hinweis verweigert haben, jenseits des Rheines habe er nichts zu fordern und zu befehlen. Dabei legt er nun den Germanen die Worte in den Mund, das Herrschaftsgebiet des römischen Volkes begrenze der Rhein: populi Romani Imperium Rhenum finire.2 Was hier als ein Faktum unterstellt wird, sollte erst Jahrzehnte später Wirklichkeit geworden sein, der Anspruch auf eine römische Rheingrenze datiert allerdings seit diesem Jahre 55 v. Chr. und wurde durch den recht ausführlich beschriebenen Flussübergang in aller Deutlichkeit unterstrichen. Im Rahmen der commentarii de bello Gallico bleibt der erste Rheinübergang trotz des spektakulären Brückenbaus in der Gegend zwischen Andernach und Neuwied nur eine Episode.3 Im Rückblick begann jedoch in dem Sommer 55 v. Chr. die intensive Phase der römisch-germanischen Auseinandersetzungen. Wenn auch die erste Expedition in rechtsrheinisches Gebiet lediglich ein Unternehmen von drei Wochen Dauer war und das römische Heer den Rhein wieder verließ, die Folgen dieses Vorgangs waren unübersehbar. Caesar hatte mit dem ersten Brückenschlag über den Rhein in seinem Mittellauf bisher ganz 1 Caes., b. G. 4, 16, 1 = Quellen I 126f.; vgl. 464 in der Übersetzung und Kommentierung von H. Labuske und K.-P. Johne; Goetz/Welwei I 326f.; R. Wiegels, Usipetes, DNP 12/1 (2002) 1059; ders., Tencteri, a. a. O. 134. 2 Caes., b. G. 4, 16, 4 = Quellen I 126f.; vgl. 464; Goetz/Welwei I 326f.; R. Wiegels, Sugambri, DNP 11 (2001) 1091. 3 Caes., b. G. 4,16-19 = Quellen 1126-131; vgl. 464f.; Goetz/Welwei I 326-331.

Abb. 3: Caesar

59

unbekannte Perspektiven eröffnet. Mit der ältesten Rheinbrücke war gleichsam ein Tor vom Westen in das zentrale Mitteleuropa aufgestoßen worden! Damit begann ein neues Verhältnis der griechisch-römischen Welt zum mitteleuropäischen Raum. Als erster bezog dieser Feldherr das europäische Barbaricum im großen Maßstab in seine Planungen mit ein. Bisher hatte man sich in Rom wie in den hellenistischen Staaten mit der Abwehr der von Zeit zu Zeit auftretenden barbarischen Plünderungswellen begnügt. Caesar begann mit der Eroberung Kontinentaleuropas jenseits der mediterranen Zone. Mit der Eingliederung ganz Galliens bis an Nordsee und Rhein in den römischen Staatsverband verknüpfte er Mittelmeerwelt und Mitteleuropa auf Dauer miteinander! Der Rhein spielt auch in dem berühmten Eingangskapitel des Bellum Gallicum eine wesentliche Rolle. Nachdem die Grenzen zwischen Galliern, Aquitaniern und Belgern beschrieben worden sind, werden letztere als die tapfersten charakterisiert. Eine der Ursachen für ihre Tapferkeit sei die Nachbarschaft zu den Germanen, mit denen sie ständig Krieg führen. Die Germanen aber wohnen jenseits des Rheins: ... proximique sunt Germanis, qui trans Rhenum incolunt, quibuscum continenter bellum gerunt.4 Hier wird der Rhein erstmals als die östliche Grenze Galliens bezeichnet und damit auch als das angestrebte Ziel caesarischer Eroberung. Flussgrenzen gelten Caesar im gallischen Raum für selbstverständlich, die Garonne trenne die Gallier von den Aquitaniern, Marne und Seine die Gallier von den Belgern. Zugleich wird deutlich, dass die Germanen keine Kelten sind und von den übrigen ethnischen Gruppierungen in Gallien unterschieden werden müssen. Damit widersprach Caesar gleich zu Beginn seiner commentarii der Autorität des Poseidonios, dessen Auffassung von den Germanen er korrigierte. Aber nicht nur die Germanen hat Caesar in der römischen Welt bekannt gemacht, sondern den Rhein selbst, den er als außerordentlich breiten und tiefen Fluss, der auch Helvetier und Germanen trenne, schildert: una ex parte flumine Rheno latissimo atque altissimo, qui agrum Helvetium a Germanis dividit.5 Auch dieser große Strom taucht nämlich erst in der Mitte des 1. Jh. v. Chr. in den Quellen auf, bei Caesars älterem Zeitgenossen M. Terentius Varro (116-27 v. Chr.). In dem im Jahre 37 v. Chr. abgeschlossenen Werk über die Landwirtschaft Rerum rusticarum libri tres lässt dieser den Cn. Tremelius Scrofa auftreten, der von einem Heereszug in der Gallia Transalpina „in Richtung Rhein" aus den siebziger Jahren berichtet.6 Wenn man die persönliche Aussage, die Varro ihn machen lässt, für das Jahr seiner Statthalterschaft, das zwischen 76 und 71 v. Chr. schwankt, als gültig in Anspruch nimmt, dann wäre zu dieser Zeit der Rhein bekannt gewesen. Tremelius Scrofa verblieb jedoch in den Grenzen der Provinz Gallia Nar-

4 Caes., b. G. 1, 1, 3 = Quellen I 86f.; vgl. 452f.; Goetz/Welwei I 276f.; Walser, Germanen 37-51; Hänger, Welt im Kopf 245-248. 5 Caes., b. G. 1, 2, 3 = Quellen I 86f.; vgl. 453f.; Goetz/Welwei I 276f.; R. Wiegels, Rhenus, DNP 10 (2001) 953-955; St. Zimmer/R. Wolters/H. Ament, Rhein, RGA 24 (2003) 524-532. 6 Varro, r. r. 1, 7, 8 = Quellen 1168f.; vgl. 479 in der Übersetzung und Kommentierung von G. Perl.

60 bonensis, der Flussname soll nur die Richtung seines Zuges von Narbo Martius aus nach Nordosten bezeichnen.7 Die anderen Nennungen des Rheins in der Jahrhundertmitte lassen sich ausnahmslos auf Caesars Berichte, wenn auch noch nicht auf die abgeschlossenen commentarii, zurückführen. Der im Jahre 54 v. Chr. verstorbene C. Valerius Catullus (87/84-54 ν. Chr.) verbindet „Galliens Rhein" und die am Rande der Welt lebenden Britannier mit Caesar, was eine Kenntnis der Ereignisse des Jahres 55 v. Chr. verrät.8 Dasselbe trifft für die Erwähnung des Rheins in Ciceros Rede gegen L. Calpurnius Piso aus der Jahresmitte 55 zu.9 Auch bei ihm liegen Nachrichten aus dem „Gallischen Krieg" vor, sei es vom ersten Rheinübergang oder von den Auseinandersetzungen mit Ariovist in der Nähe des Oberrheins im Jahre 58 v. Chr. Als Senatsmitglied dürften Cicero die von Caesar jährlich verfassten Kriegsberichte bekannt gewesen sein, das erhaltene Werk stammt ja erst aus den Jahren 52 und 51 v. Chr. Unsicher bleibt eine Kenntnis des Rheins im Werk des Poseidonios und damit noch etwa zwei Jahrzehnte vor Tremelius Scrofa. Der neuplatonische Philosoph Priskianos Lydos erörterte in seinen im persischen Exil zwischen 532 und 533 verfassten, nur in der lateinischen Übersetzung überlieferten Solutiones ad Chosrem auch die Wirkung der Gezeiten auf ins Meer mündende Flüsse. Als Beispiele dafür, dass Flüsse durch die Flut ihre Laufrichtung ändern können, führt er den Rhein im Keltenland, die Themse in Britannien und Flüsse in Spanien an. Priskianos fügt hinzu, der Stoiker Poseidonios habe die Ursachen für diese Vorgänge erforscht und den Mond als die entscheidende erkannt, dafür habe er persönliche Nachforschungen angestellt. Nun war Poseidonios zwar in Spanien, aber mit Sicherheit weder am Rhein noch in Britannien. So ist es schwierig, mit dem in dem Fragment aus dem 6. Jh. n. Chr. bezeugten naturwissenschaftlichen Interesse des Gelehrten den Nachweis einer Kenntnis des Rheins in seinem Werk zu führen, der dann auch für die Themse gelten müsste. Ins allgemeine Bewusstsein der Mittelmeerwelt traten beide Flüsse erst mit dem Gallischen Krieg.10 Was für den Rhein gilt, trifft in gewisser Weise auch für die Germanen zu, bekannt gemacht hat beide erst Caesar. Das Bekanntwerden der Germanen in Rom ist untrennbar mit der Person des Heerkönigs Ariovistus verbunden, dessen Auftreten im östlichen Gallien die zweite Hälfte des ersten Buches des „Gallischen Krieges" gewidmet ist.11 In einer langen Passage von 25 Kapiteln stehen erstmals in der Literatur Germanen unter diesem Namen im Mittelpunkt des Geschehens. Zugleich ist Ariovist in der Überlieferung der erste als Person fassbare Angehörige der 7 8 9 10 11

G. Perl, Cn. Tremelius Scrofa in Gallia Transalpina, American Journal of Ancient History 5, 1980, 97109; J. Fündling, Tremelius 3, DNP 12/1 (2002) 780. Catull. 11,10-12 = Quellen I 70f.; vgl. 442f. in der Übersetzung und Kommentierung von S. Fischer. Cie., Pis. 8 If. = Quellen I 80f.; vgl. 447 in der Übersetzung und Kommentierung von G. Perl; ders. Cicero, In Pisonem 81, Philologus 125, 1981, 303-305. Poseidonios, edd. L. Edelstein/J. G. Kidd, vol. 1, 2. Aufl. Cambridge 1989, 198; vol. 2, 2, Cambridge 1988, 786f.; Hänger, Welt im Kopf 243f.; vgl. L. Brisson, Priskianos Lydos, DNP 10 (2001) 344. Caes., b. G. 1, 30-54 = Quellen I 90-113; vgl. 454-461; Goetz/Welwei I 278-303; zur Person des Ariovist vgl. E. Koestermann, Caesar und Ariovist, Klio 33, 1940, 308-334; Walser, Germanen 8-36; K. Christ, Caesar und Ariovist, Chiron 4, 1974, 251-292 = ders., Römische Geschichte und Wissenschaftsgeschichte, Band 1: Römische Republik und Augusteischer Prinzipat, Darmstadt 1982, 92-133; H. Callies, Ariovistus, RGA 1 (1973) 407f.; Trzaska-Richter 90-101; W. Will, Ariovistus, DNP 1 (1996) 1084f.

61 bisher unbekannten Völkerschaft, denn der Teutonenkönig Teutoboduus und der Kimbernkönig Boiorix waren ja kaum als solche erkennbar. Der als rex Germanorum titulierte Ariovist ist zudem im ganzen Bellum Gallicum der einzige Gegner, der einer langen persönlichen Unterredung mit dem römischen Feldherrn und Autor gewürdigt wird. Die Verhandlungen beider gelten als das klassische Beispiel der indirekten Rede für die Epoche der „Goldenen Latinität". Natürlich ist es ein literarisch gestalteter Ariovist, der dem Leser in Caesars Werk entgegentritt, gestaltet sowohl nach den Regeln der Barbarentopik wie nach den politischen Erfordernissen in den fünfziger Jahren des ersten vorchristlichen Jahrhunderts, was Übertreibungen in verschiedener Hinsicht mit einschließt. Aber auch unter diesem Vorbehalt, dass der historische Ariovist in den commentarii nur in Umrissen zu erkennen ist, erfahren wir viel Interessantes, gemessen an der Überlieferung davor. Der germanische Heerkönig war von den Keltenstämmen der Arverner und Sequaner als Söldnerführer nach Gallien gerufen worden. Da er in der Unterredung mit Caesar darauf verweist, dass er mit seinen Germanen seit 14 Jahren in Gallien lebe, lässt sich sein Rheinübergang auf die Jahre 72 oder 71 v. Chr. datieren.12 Damals sollen 15 000 Germanen nach Gallien gekommen sein, bis zum Jahre 58 habe sich diese Zahl auf 120 000 erhöht, Angaben, die sicher zu hoch gegriffen sind.13 Aber einen Machtfaktor hat Ariovist im Gallien der sechziger Jahre zweifelsohne gespielt. Sein Eingreifen beendete die bisherige Machtstellung der Häduer und ihrer Verbündeten, ohne dass die Sequaner, die ihn gerufen hatten, daraus einen Nutzen ziehen konnten. Die Germanen hatten sich nämlich in deren Stammesgebiet festgesetzt und kontrollierten ein Drittel davon. Um das Jahr 61 v. Chr. muss diese Entwicklung einen gewissen Höhepunkt erreicht haben, nachdem Ariovist wohl in diesem Jahr bei Magetobriga, einem Ort unbekannter Lage, den Häduern die entscheidende Niederlage beigebracht hatte. Noch in diesem Jahre reiste Diviciacus, das Haupt der romfreundlichen Partei bei den Häduern nach Rom, um die Republik zum Eingreifen zu bewegen. Diviciacus trug seine Angelegenheit im Senat vor, doch dieser konnte sich zu keiner eindeutigen Maßnahme entschließen. Er einigte sich auf die unverbindliche Formel, dem Statthalter der Provinz Gallia Narbonensis, also Caesars Vorgänger, aufzutragen, die Häduer und die anderen Freunde des römischen Volkes zu schützen, soweit dies ohne Nachteil für den römischen Staat möglich sei: ... quoniam M. Messala M. Pisone consulibus senatus censuisset, uti, quicumque Galliam provinciatn obtineret, quod commodo rei publicae facere posset, Haeduos ceterosque amicospopuli Romani defenderet, ...14 Mit diesem Bescheid konnte der Statthalter der Narbonensis alles oder nichts machen und er tat nichts. Diviciacus, der gallische Aristokrat und Druide, war mit seinem Auftrag gescheitert und musste unverrichteter Dinge in seine Heimat zurückkehren.15 Ariovist interpretierte dies durchaus richtig dahingehend, dass Rom ihm in Gallien freie Hand gewährte. Nunmehr schien es dem Senat geraten, sich mit dem Germanenkönig noch weiter zu arrangieren. 12 13 14

15

Caes., b. G. 1, 31, 5; 36, 7 = Quellen I 90-93. 96f.; vgl. 455^57; Goetz/Welwei 1280f., 286f. Caes., b. G. 1, 31, 5f. = Quellen I 90-93; vgl. 455; Goetz/Welwei 1278-281. Caes., b. G. 1, 35, 4 = Quellen I 96f.; vgl. 456; Goetz/Welwei I 284f.; B. Kremer, Das Bild der Kelten bis in augusteische Zeit, Stuttgart 1994 (Historia, Einzelschriften 88) 219-257; W. Spickermann, Diviciacus, DNP 3 (1997) 702; Y. Lafond, Haedui, DNP 5 (1998) 65. Caes., b. G. 6, 12, 5 = Quellen 1140f.; vgl. 466f.

62 Während Caesars Konsulat 59 wurde ihm auf dessen Empfehlung hin der Titel rex et amicus populi Romani verliehen. Die Bezeichnung Ariovists als „König und Freund des römischen Volkes" war der älteste völkerrechtliche Akt zwischen Römern und Germanen.16 Er bedeutete zweifellos einen Affront gegen die bisher verbündeten Häduer und ein Entgegenkommen gegenüber dem Heerkönig. Zugleich wurde auch signalisiert, dass von dem Germanen erwartet wurde, sich nicht in römische Interessen einzumischen. So war der Stand der Dinge vor Caesars Ankunft in Gallien. Die erfolglose Mission des Diviciacus besaß jedoch noch einen anderen Aspekt. Der gallische Aristokrat wird vor dem Senat in Rom im Jahre 61 die Entwicklung im vorangegangenen Jahrzehnt in Gallien ausführlich dargestellt und natürlich auch auf die von Ariovist und seinem Heer ausgehenden Gefahren hingewiesen haben. Er wird dies in recht eindringlicher Weise getan haben, da er sich ja Hilfe erhoffte. Dem ganzen Senat muss in diesem Jahre schon klar geworden sein, dass seit 10 Jahren in Gallien sich ein kampfstarker Verband nichtgallischer Herkunft aus Gegenden östlich des Rheins aufhielt. Im Interesse des Diviciacus musste es liegen, Ariovist und seine Germanen als gefährlich darzustellen und näher zu charakterisieren. Ob die Bezeichnung „Germanen" dabei eine Rolle gespielt hat, ist nicht bekannt, aber durchaus denkbar. Es fallt auf, dass Caesar den Namen an keiner Stelle erläutert, sondern bereits am Anfang des Bellum Gallicum als bekannt voraussetzt. Noch wichtiger in diesem Zusammenhang ist jedoch, dass auch Cicero dasselbe tut. In seiner Rede über die konsularischen Provinzen vom Mai 56 v. Chr. rühmt er Caesars siegreiche Schlachten gegen die „sehr kriegerischen und mächtigen Stämme der Germanen und Helvetier": itaque cum acerrimis nationibus et maximis Germanorum et Helvetiorum proeliis felicissime decertavit.17 Auch er meint, die Germanen nicht näher vorstellen zu müssen und behandelt sie nicht anders als die Helvetier, die spätestens seit ihrer Beteiligung am Kimbernzug und der clades Cassiana im Jahre 107 v. Chr. bekannt gewesen sind.18 Cicero hat die Rede vor dem Erscheinen der commentarii de hello Gallico gehalten, die Stelle ist somit nach dem Zitat des Poseidonios Rhodios der Zweitälteste Beleg für den Germanennamen. Natürlich bezieht sich der Redner dabei auf das Geschehen des Jahres 58. Doch als Caesars Rechenschaftsbericht für dieses Jahr im Senat verlesen wurde, befand sich Cicero im Exil in Thessalonike, weshalb er ihn persönlich nicht gehört haben kann, was aber eine Kenntnis davon selbstverständlich nicht ausschließt. Cicero saß auch 61 v. Chr. im Senat, als Diviciacus die Römer zur Unterstützung der Häduer bewegen wollte, und im Jahre 59, als Ariovist mit dem Freundestitel ausgezeichnet wurde. Beide Male ist sicher ausführlich über die Eindringlinge nach Gallien gesprochen worden. Die Möglichkeit, dass dabei auch schon von Germanen die Rede war, ist so nahe liegend, dass man nicht glauben mag, dass dieser Name erst durch die Ereignisse um Ariovist bekannt geworden ist. Diese Ansicht vertritt mit Nachdruck neuerdings der dänische Gelehrte A. A. Lund, der meint, Caesar habe im Verlaufe des Krieges 16 17

18

Caes., b. G. 1, 31, 12; 33, 1; 35, 2 = Quellen I 92-95; vgl. 455f.; Goetz/Welwei I 280-285; Walser, Germanen 21 und Anm. 2. Cie., prov. 33 = Quellen I 78f.; vgl. 446f.; H. Botermann, Die Eroberung Galliens und der „gerechte Krieg", in: J. Spielvogel (Hrsg.), Res publica reperta. Festschrift für Jochen Bleicken zum 75. Geburtstag, Stuttgart 2002,279-296, bes. 279-284. Caes., b. G. 1, 7,4; 1, 12,4-7 = Quellen I 88f.; vgl. 454.

63 zwischen den Jahren 55 und 53 „die Germanen als Oberbegriff erfunden, um sie dem Oberbegriff Gallier gegenüberstellen zu können".19 Dass Caesars Feldzüge und sein Werk für die Ausbreitung und Einbürgerung des Namens in der römischen Welt ganz Wesentliches geleistet haben, steht außer Frage. Ebenso unstrittig ist, dass Germani als Sammelbegriff für alle rechtsrheinischen Stämme keine Selbstbezeichnung gewesen ist, sondern eine „Kategorisierung von außen".20 Diese dürfte tatsächlich Caesar verdankt werden, der wohl der Bezeichnung für einige kleinere Gruppen im belgischen Raum, den von ihm so genannten Germani cisrhenani, eine riesige Ausdehnung verschaffte.21 Den Namen selbst hat es jedoch, wie die Erwähnung bei Poseidonios zeigt, früher gegeben. Hinter Lunds Feststellung „Cäsar kann im Jahre 59 v. Chr. noch nichts von Germanen gehört haben. Zu dieser Annahme, daß der Germanenname damals noch nicht bekannt gewesen sei, weil es ihn noch nicht gab, ..." wird wohl ein Fragezeichen gesetzt werden müssen.22 Weit eher wird man der Ansicht von H. Wolfram folgen können, der meint „Caesar hat zwar den Namen der Germanen nicht erfunden noch sie aus eigener Anschauung als erster Römer gefunden, aber seine im gallischen Krieg gemachten Erfahrungen haben bei den Römern einer germanischen Ethnographie zum Durchbruch verholfen."23 Etwas anders sieht es mit der geographischen Bezeichnung Germania aus. Dabei wird man Lund Recht geben können, dass diese Wortprägung Caesar verdankt wird. In den ersten drei Büchern seiner commentarii gibt es nämlich noch keinen Begriff für das Land, in dem die Germanen leben und er behilft sich mit Ausdrücken wie „die Germanen, die jenseits des Rheins wohnen." Erst im vierten Buch, zu Ereignissen des Jahres 55 v. Chr., taucht das Wort für die rechtsrheinischen Gebiete dann auf. Caesar benötigte die Bezeichnung offenbar als das Gegenstück zum Begriff Gallia omnis.24 Das gute Einvernehmen mit Ariovist, das von Seiten Roms seit dem Jahre 61 bestand, änderte sich im Sommer 58, als der Heerkönig nach Caesars Sieg über die Helvetier der weiteren Ausdehnung der römischen Macht im Wege stand.25 Dem Prokonsul kam daher ein Hilferuf gallischer Stämme sehr gelegen. Konkreter Anlass war, dass Ariovist von den Sequanern neue Ländereien verlangte, weil 24 000 Haruden zu ihm gestoßen seien.26 Die ent19 20 21

22

23 24 25 26

Lund, Germanen 45. A. a. O. 48. Caes., b. G. 2, 3,4; 2,4, 1-3. 10 = Quellen 1112-115; vgl. 461; Goetz/Welwei 14-6 und 314f.; Walser, Germanen 39f.; H. von Petrikovits, Germani Cisrhenani, in: H. Beck (Hrsg.), Germanenprobleme in heutiger Sicht, Berlin-New York 1986 (Ergänzungsband zum RGA 1) 88-106; G. Neumann, Germani cisrhenani - die Aussage der Namen, ebend. 107-129; Pohl, Germanen 52-56.; H. Reichert, Linksrheinische Germanen, RGA 18 (2001) 483-494. Lund, Germanen 48; vgl. die Besprechungen von Lunds Buch vom Verfasser dieser Zeilen EAZ 40, 1999, 295-297; M. Springer, Namenkundliche Informationen 75/76, 1999, 178f.; W. Pohl, HZ 269, 1999, 462f.; H. Ament, Germania 78, 2000, 530-532; G. Dobesch, Anzeiger für Altertumswissenschaft 54,2001, 194-210. Wolfram, Germanen 53, vgl. 24-26; Walser, Germanen 86-94; zur Herkunft der Germanen GoetzAVelwei 16-11; Timpe, Germanen 2-17; H. Steuer, ebend. 138-147; Pohl, Germanen 45-59. Vgl. Caes., b. G. 4, 4, 1 = Quellen I 118f.; 463 mit 1 , 1 , 3 = Quellen I 87f.; 452f. und Lund, Germanen 42-45. Vgl. zum Helvetierkrieg Walser, Germanen 1-7 und G. Walser, Bellum Helveticum. Studien zum Beginn der caesarischen Eroberung von Gallien, Stuttgart 1998 (Historia, Einzelschriften 118). Caes., b. G. 1, 31, 10 = Quellen I 92f.; vgl. 455; Goetz/Welwei I 280f.; zu Ariovist und den Galliern Walser, Germanen 8-23.

64

scheidende Begründung für sein Eingreifen zugunsten der Gallier verbindet Caesar mit einem Rückgriff in die Vergangenheit. Er sieht in der Tatsache, dass die Germanen sich allmählich daran gewöhnten, den Rhein zu überschreiten und nach Gallien zu kommen, eine Gefahr für Rom, die er nicht hinnehmen könne. Es sei zu befürchten, dass sie nach der Besetzung Galliens wie einst die Kimbern und Teutonen die Provinz Narbonensis überschwemmen und von dort geradewegs nach Italien ziehen würden: paulatim autem Germanos consuescere Rhenum transire et in Galliam magnam eorum multitudinem venire populo Romano periculosum videbat, neque sibi homines feros ac barbaros temperaturos existimabat, quin, cum omnem Galliam occupavissent, ut ante Cimbri Teutonique fecissent, in provinciam exirent atque inde in Italiam contenderent, ...21 Mit dieser Beschwörung des furor Teutonicus vollzieht Caesar den Bruch mit dem bisherigen amicus populi Romani und stellt Ariovist in eine Reihe mit Teutobod und Boiorix; sich selbst empfiehlt er als den Retter aus dieser Gefahr, vergleichbar seinem Onkel Marius.28 Der Bezug zu Kimbern und Teutonen wird noch dadurch unterstrichen, dass in Ariovists Heer Angehörige von Stämmen aus dem nordseegermanischen Bereich kämpften. Dazu gehören die genannten Haruden, die bei der Aufzählung der Bestandteile des germanischen Heeres vor der Entscheidungsschlacht in der Oberrheinischen Tiefebene an erster Stelle genannt werden: tum demum necessario Germani suas copias castris eduxerunt generatimque constituerunt paribus intervallis - Harudes, Marcomannos, Tribocos, Vangiones, Nemetes, Sedusios, Suebos -, ,..29 Diese Haruden, die offenbar als letzte zu Ariovist gestoßen waren und im Jahre 58 das Häduerland verwüsteten,30 kamen aus dem nordelbischen Raum und sind als Teil eines allgemeinen Zuges von Germanen aus Nord- und Mitteldeutschland in Richtung Rhein zu sehen. Von Augustus werden sie als die Nachbarn der Kimbern bezeichnet und von Ptolemaios im 2. Jh. n. Chr. als Bewohner des östlichen Jütland aufgeführt. Möglicherweise ist der Landschaftsname Hardsyssel im westlichen Jütland südlich des Limfjords mit ihnen in Verbindung zu bringen, doch gilt hierbei natürlich die gleiche Unsicherheit wie bei dem Bezug zwischen Himbersyssel und den Kimbern.31 Nachbarn der Haruden waren die Angehörigen eines Stammes, der bei Caesar den Namen Sedusii trägt, in der sonstigen Überlieferung jedoch als Eudusii bezeichnet wird und wohl mit den Eudoses bei Tacitus und den Fundusii bei Ptolemaios zu verbinden ist.32 Auf welchen Wegen die Haruden und Eudusier von ihren

27 28 29 30 31

32

Caes., b. G. 1, 33, 3-4 = Quellen 194f.; vgl. 456; Goetz/Welwei 1282f. Vgl. die ausdrückliche Identifikation b. G. 1,40, 5 = Quellen 1100f.; vgl. 458; Goetz/Welwei 1288f. Caes., b. G. 1, 51, 2 = Quellen 1110f.; vgl. 460; Goetz/Welwei I 300f. Caes., b. G. 1, 37, 2 = Quellen 196f.; vgl. 457; Goetz/Welwei 1286f. Mon. Anc. 26 = Quellen IV 414f.; vgl. 584f. in der Übersetzung und Kommentierung von W. O. Schmitt und H. Labuske; Ptol. 2, 11,7 = Quellen III 218f.; vgl. 568 in der Übersetzung und Kommentierung von H. Ditten/W. O. Schmitt/G. Chr. Hansen; H. Castritius, Haruden, RGA 14 (1999) 20f. Tac., Germ. 40, 2 = Quellen II 116f.; vgl. 238f. in der Übersetzung und Kommentierung von G. Perl; Ptol. 2, 11, 7 = Quellen III 218f.; vgl. 568; G. Neumann, RGA 7 (1989) 617-620.

65 ursprünglichen Stammessitzen an den Oberrhein gelangt sind, ist unbekannt, auf jeden Fall müssen sie bei ihrer Wanderung das Stromgebiet der Elbe berührt haben. Bedeutsam bei Caesars Aufzählung ist die Nennung der Markomannen, die hier zum ersten Mal begegnen. Der später so mächtige elbgermanische Stamm siedelte damals noch zwischen Neckar, Main und Donau. Es wird vermutet, dass er aber vorher an der mittleren Elbe ansässig war und durch die von den Kimbern und Teutonen hervorgerufene Stammesbewegung in Mitteleuropa in den süddeutschen Raum abgewandert ist.33 Dort verblieb er auch noch für das folgende halbe Jahrhundert und dorthin haben sich nach Ariovists Niederlage mit Sicherheit die zu ihm gestoßenen markomannischen Kontingente auch wieder zurückgezogen. Nach den im Oberrheingebiet siedelnden Stämmen der Triboker, Vangionen und Nemeter werden als letzte die Sueben genannt, für Caesar der größte und gefährlichste Stamm der Germanen.34 Aus ihm stammte Ariovist nach dem Hinweis, seine Frau sei der Herkunft nach eine Suebin, die er aus der Heimat mitgebracht hatte.35 Dabei dürfte es sich um die MainSueben handeln, deren Stammesgebiet im Westen von den Ubiern, im Norden von den Chatten und im Süden von den Markomannen umgeben war, und gegen die einige Jahre später die beiden Expeditionen über den Rhein gerichtet waren. Als rex Sueborum wird Ariovist allerdings erst vom älteren Plinius bezeichnet, bei Caesar ist er nur allgemein ein rex Germanorum,36 Aus dem bei Pomponius Mela überlieferten rex Botorum hat schon L. Schmidt einen rex Tribocorum konjiziert und damit Ariovist als Fürst der im Elsaß bzw. in der Pfalz siedelnden Triboker, die in seinem Heer mitgekämpft haben, verstanden, was vor allem G. Walser übernommen hat.37 Nach der bei diesem Überlieferungsbefund gebotenen Vorsicht wird man Ariovist gar nicht einmal als König eines bestimmten Volkes, sei es der Sueben oder der Triboker, ansehen müssen, sondern nur als „Heerkönig von Germanen", der in verschiedenen Zeitabschnitten Angehörige ganz unterschiedlicher Stämme unter seinem Oberbefehl vereinigte.38 Zu den interessanten Nachrichten, die Caesar im Zusammenhang mit der Schlacht in der Oberrheinischen Tiefebene überliefert, gehört diejenige über Ariovists Sprachkenntnisse. Kurz vor der entscheidenden Auseinandersetzung schickt der Prokonsul als Unterhändler einen romanisierten Kelten zu dem Heerkönig mit der Bemerkung, dass sich Ariovist jetzt infolge langjähriger Gewohnheit oft der gallischen Sprache bediene:

33 A. Franke, Marcomanni, RE 14, 2 (1930) 1609-1613; K. Dietz, Marcomanni, DNP 7 (1999) 866-869; P. Kehne/J. Tejral, Markomannen, RGA 19 (2001) 290-308, bes. 291. 34 Caes., b. G. 1, 37, 3; 1, 54, 1; 4, 1, 3-3, 4 = Quellen I 96f.; 112f.; 116-119; vgl. 457; 461-463; Goetz/Welwei 1286f.; 302f.; 70-73. 35 Caes., b. G. 1, 53,4 = Quellen 1112f.; vgl. 460f.; Goetz/Welwei I 302f. 36 Plin., nat. hist. 2, 170 = Quellen I 322f.; vgl. 561 in der Übersetzung und Kommentierung von H. Ditten; Caes., b. G. 1, 31,10 = Quellen I 92f.; vgl. 455; Goetz/Welwei 1104f.; 280f. 37 Pomp. Mela 3, 45 = Quellen I 300f.; vgl. 547f. in der Übersetzung und Kommentierung von H. Ditten; Goetz/Welwei 1102f.; L. Schmidt, Ariovistus, Hermes 42, 1907, 509f.; Walser, Germanen 22f. 38 Vgl. W. Will, Ariovistus, DNP 1 (1996) 1084f.; Goetz/Welwei I 278; zum frühgermanischen Heerkönigtum A. Demandt, Antike Staatsformen. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte der Alten Welt, Berlin 1995,473-500, bes. 491^96.

66 ... propter linguae Gallicae scientiam, qua multa iam Ariovistus longinqua consuetudine utebatur, ,..39 Diese ganz beiläufig gegebene Erläuterung zeigt, dass für den Heerkönig das Keltische eine Fremdsprache war, die er erst nach seinem Einfall in die gallischen Gebiete fließend zu sprechen erlernt hatte, und sie ist ein klarer Hinweis darauf, dass Caesar und die ihn begleitenden Römer die Germanen an ihrer nichtkeltischen Sprache erkannt haben müssen! Im September 58 v. Chr. besiegte Caesars Heer das aus Angehörigen von sieben Stämmen bestehende Heer des Ariovist. Nach der Darstellung am Ende des ersten Buches der commentarii de hello Gallico sei der größere Teil der Germanen gefallen, einem kleineren sei die Flucht über den Rhein gelungen, darunter auch Ariovist.40 Mit seiner Flucht verschwindet der Heerkönig aus der Überlieferung. Er muss in den folgenden Jahren gestorben sein, denn zum Jahre 54 v. Chr. wird von der Trauer der Germanen über seinen Tod berichtet.41 Nach dem römischen Sieg kehrten die Germanen, die sich im Anmarsch auf Gallien befanden, wieder um, womit die seit etwa 14 Jahren anhaltende Infiltration über den Rhein erst einmal ihr Ende gefunden hatte. Bei der Verfolgung Ariovists und seiner fliehenden Truppen im September 58 kamen römische Soldaten an den Rhein, der damit als römische Grenze im Norden erstmals abgesteckt wurde.42 Dass Caesar sein Heer nach dem Abschluss des Feldzuges nicht wieder in die römische Provinz zurückführte, sondern das Winterlager im Gebiet der Sequaner im bisher „freien" Gallien errichten ließ, weist auf das dauerhaft geplante Engagement im östlichen Gallien bis zum Rhein hin. Im weiteren Verlauf des Gallischen Krieges sind es dann immer wieder die Sueben, die als Gegner der Römer auftreten. Caesar schätzt sie als den bei weitem größten und kriegerischsten Stamm aller Germanen ein: Sueborum gens est longe maxima et bellicosissima Germanorum omnium.43 Das Verständnis der Sueben bei den römischen Autoren bereitet Schwierigkeiten und ist in der Forschung weiterhin ein Gegenstand ausgiebiger Diskussion. Hinter diesem Namen kann sich einmal die Bezeichnung für einen Stammes- oder Kultverband verbergen, als dessen Kernstamm Tacitus später die Semnonen im Havel-Spreegebiet herausstellt. Eine andere Deutung ist ein von den Römern gebrauchter ethnographischer Sammelbegriff für ihnen unbekannte Stämme. Eine weitere Möglichkeit wäre, unter den Sueben Gefolgschaftsverbände zu verstehen, die unter der Führung von Heerkönigen aus den östlichen Teilen Germaniens bis zum Rhein vorgedrungen sind. Neuere archäologische Befunde sprechen für Wanderbewegungen im 2. und 1. Jh. v. Chr. aus den Gebieten zwischen Oder, Warthe und Weichsel

39 Caes., b. G. 1, 47, 4 = Quellen 1108f.; vgl. 459 und Walser, Germanen 31. 40 Caes., b. G. 1, 52, 1-54, 3 = Quellen I 110-113; vgl. 460f.; Goetz/Welwei I 300-303; den ganzen Feldzug untersucht von neuem F. Fischer, Caesar und Ariovist. Studien zum Verständnis des Feldzugsberichts, Bonner Jbb. 199, 1999, 31-68. 41 Caes., b. G. 5, 29, 3 = Quellen 1132f.; vgl. 466; Goetz/Welwei 1336f. 42 Caes., b. G. 1, 53,1-3 = Quellen 1112f.; vgl. 461; Goetz/Welwei I 302f. 43 Caes., b. G. 4, 1, 3 = Quellen 1116f.; vgl. 462f. und Anm. 34 in diesem Text; Schönfeld, Suebi, RE 4 A 1 (1931)564-567.

67 über das Elb-Saale-Gebiet bis in die Wetterau, wo sich Zeugnisse der Przeworsk-Kultur in caesarischer Zeit nachweisen lassen.44 In der Kaiserzeit ist der Suebenname dann eng mit den elbgermanischen Stämmen verbunden, für den Eroberer Galliens waren die Sueben jedoch noch der größte rechtsrheinische Stamm. Unter ihrem Druck wichen im Winter 56 auf 55 v. Chr. die Usipeter und Tenkterer aus ihren bisherigen Wohnsitzen östlich des Niederrheins über diesen Strom in den belgischen Teil Galliens aus, um sich neues Siedlungsgebiet zu suchen, was dann von Caesar im Laufe des Jahres 55 v. Chr. jedoch verhindert wurde.45 Im Anschluss an die Besiegung dieser beiden Stämme erfolgte im Sommer 55 der zu Beginn dieses Kapitels skizzierte erste Rheinübergang. Neben der Bestrafung der Sugambrer, die flüchtige Usipeter und Tenkterer aufgenommen hatten, war ein Hilferuf der Ubier für Caesar ein weiterer konkreter Anlass für den Bau der ersten Rheinbrücke. Dieser germanische Stamm siedelte zwischen Neuwieder Becken, der unteren Lahn und dem Taunus und hatte sich seit dem Auftauchen der Römer in Gallien als einzige rechtsrheinische Völkerschaft entgegenkommend verhalten. Sie hatten Gesandte an den Prokonsul geschickt, Freundschaft geschlossen und Geiseln gestellt, jetzt baten sie um Unterstützung gegen die sie bedrängenden Sueben: Ubii autem, qui uni ex Transrhenanis ad Caesarem legatos miserant, amicitiam fecerant, obsides dederant, magnopere orabant, ut sibi auxilium ferret, quod graviter a Suebis premerentur, ...46 Während eines dreiwöchigen Aufenthaltes im rechtsrheinischen Gebiet ließ Caesar von seinen Truppen das Gebiet der Sugambrer zwischen Sieg und Ruhr verwüsten, diese selbst hatten sich in der Einsamkeit ihrer Wälder verborgen: ... seque in solitudinem ac silvas abdiderant,47 Danach hielt er sich auch bei den Ubiern auf. Dort erfuhr er, die Sueben hätten ihre Stammesangehörigen aufgefordert, alle freien Plätze zu verlassen, Kinder, Frauen und alles Hab und Gut ebenfalls in den Wäldern zu verbergen. Die Waffenfähigen sollten sich etwa in der Mitte der Gebiete, die die Sueben besäßen, an einer bestimmten Stelle versammeln, um dort die Ankunft der Römer zu erwarten und eine Entscheidungsschlacht zu schlagen: ... uti de oppidis demigrarent, liberos uxores suaque omnia in silvis deponerent atque omnes, qui arma ferre possunt, unum in locum convenirent; hunc

44

45 46

47

Zu dem schwierigen Problem des Suebenbegriffs vgl. K. Peschel, Die Sueben in Ethnographie und Archäologie, Klio 60, 1978, 259-309; Timpe, Entdeckungsgeschichte 351-353; Timpe, Germanen 17-20; M. Seidel, Frühe Germanen am unteren Main. Bemerkungen zu neuen Zeugnissen der PrzeworskKultur aus Oberhessen, Germania 74, 1996, 238-247; ders., Die jüngere Latenezeit und ältere Römische Kaiserzeit in der Wetterau, Fundberichte aus Hessen 34/35 (1994/95), Wiesbaden 2000, 94-101; O. Schlegel, Germanen im Quadrat. Die Neckarsweben im Gebiet um Mannheim, Ladenburg und Heidelberg während der frühen römischen Kaiserzeit, Rahden/Westfalen 2000, 13f.; Pohl, Germanen 9092; R. Scharf, Sweben, RGA 30 (2005) 188-193. Caes., b. G. 4 , 4 , 1 - 15, 5 = Quellen 1118-127; vgl. 463f.; Goetz/Welwei I 316-327. Caes., b. G. 4, 16, 5 = Quellen I 126f.; vgl. 4, 3, 3-4 = Quellen I 118f.; vgl. 463; Goetz/Welwei I 326f.; H. Schmitz, Ubii, RE 8 A 1 (1955) 532-535; R. Wiegels, Ubii, DNP 12/1 (2002) 961f.; Eck, Köln 3141, vgl. 10-30. Caes., b. G. 4, 18, 4 = Quellen I 128f.; vgl. 463; Goetz/Welwei I 328f. und zur Rolle des Waldes bei Caesar Nenninger, Wald 126-133.

68 esse defectum medium fere regionum earum, quas Suebi obtinerent. hie Romanorum adventum exspectare atque ibi decertare constituisse,48 An dieser Stelle wird erstmals der Blick aus der Umgebung des Rheins in Richtung Mitteldeutschland gelenkt. Caesars „Suebenland" soll den Eindruck beachtlicher Größe hervorrufen und natürlich den eines undurchdringlichen Waldgebietes, in dem man sich gut verstecken könne. Bereits am Beginn des vierten Buches war in der „Suebenskizze" darauf hingewiesen worden, dass der Stamm auf der einen Seite von den Ubiern, auf der anderen von einem breiten Brachlandstreifen, einer Ödlandgrenze, umgeben sei: itaque una ex parte ab Suebis circiter milia passuum sescenta agri vacare dicuntur. ad alteram partem succedunt Ubii, ... ,49 Konkret muss es sich um Gebiete im heutigen Hessen handeln. Caesar verzichtete auf eine Verfolgung der Sueben „in die Wildnis" und kehrte nach 18 Tagen rechtsrheinischen Aufenthalts nach Gallien zurück. Die erste Rheinbrücke wurde nach dieser militärischen Demonstration abgebrochen, da der Feldherr glaubte, erreicht zu haben, was beabsichtigt war, den Germanen Furcht einzujagen, an den Sugambrern Rache zu nehmen und die Ubier vom Druck zu befreien: ... ut Germanis metum iniceret, ut Sugambros ulcisceretur, ut Ubios obsidione Uberaret, ...50 Zwei Jahre später, im Sommer 53 v. Chr., wiederholte Caesar den Brückenbau in derselben Gegend und unter ähnlichen Begleitumständen. Dieses Mal war das Unternehmen allein gegen die Sueben gerichtet, weil sie aufständische Gallier unterstützt hatten. Wiederum zeigten die Ubier ihr Wohlverhalten und unterrichteten die Römer über alle Vorgänge bei den Sueben, die wie zwei Jahre vorher die Flucht ergriffen und Caesar ins Leere stoßen ließen. Erneut wird der Eindruck erweckt, bei den Sueben handele es sich um eine höchst gefährliche Macht. Sie erteilen Weisungen an die Stämme, die unter ihrer Herrschaft stehen - iis nationibus, quae sub eorum sint imperio, denuntiare, - sie verfugen über eigene Truppen und die von Bundesgenossen - cum omnibus suis sociorumque copiis, - und sie können sich in einem - von Caesar unterstellten - sehr großen Territorium in ihr äußerstes Grenzland zurückziehen -penitus ad extremes fines se reeepisse. An dieser Stelle werden nun zwei nähere Angaben zu diesem „Suebenland" gemacht. Im äußersten Grenzgebiet gebe es einen Wald von unermesslicher Größe, der Bacenis genannt wird. Dieser erstrecke sich weit ins Landesinnere und sei ein natürlicher Wall zwischen Sueben und Cheruskern. Am Anfang des Bacenis-Waldes wollten die Sueben die Ankunft der Römer erwarten: silvam ibi esse infinita magnitudine, quae apellatur Bacenis; hanc longe introrsus pertinere et pro nativo muro obiectam Cheruscos ab Suebis Suebos-

48 49 50

Caes., b. G. 4, 19, 2-3 = Quellen 1130f.; vgl. 465; Goetz/Welwei I 328-331. Caes., b. G. 4, 3, 2-3 = Quellen I 118f.; vgl. 463; 6, 23, 1-3 = Quellen I 146f.; 470; Goetz/Welwei I 72-75. Caes., b. G. 4, 19,4 = Quellen 1130f.; vgl. 465; Goetz/Welwei I 330f.

69 que a Cheruscis iniuriis incursionibusque prohibere. ad eius silvae initium Suebos adventum Romanorum exspectare constituisse.51 Mit der Erwähnung des Bacenis-Waldes liegt erstmals eine geographische Angabe aus dem Innern Germaniens vor, die sich wenigstens etwas eingrenzen lässt, mit der Nennung der Cherusker taucht der berühmte Stamm des Arminius zuerst in der Überlieferung auf. Der Bacenis-Wald kann nur eines der deutschen Mittelgebirge gewesen sein. Als Scheidegrenze zwischen den Sueben in Hessen und den zwischen Weser und Elbe siedelnden Cheruskern würde der Harz am besten passen, was in der Forschung auch des öfteren vermutet worden ist. Der Name Bacenis dürfte etymologisch mit dem Namen der Buche zu verbinden sein, ahd. Buohha, und die Bedeutung „Buchenwald" besitzen. Sachlich träfe dies für den ursprünglichen Baumbestand des Harzes, außer in seinen höchsten Lagen, auch zu. Als eine zweite Möglichkeit der Lokalisierung wird weiter südlich das Rhön-Vogelsberggebiet bis hin zum westlichen Thüringer Wald diskutiert, wofür es im frühen Mittelalter die Landschaftsbezeichnung „Buchonia" = „Buchenwald" gab.52 Schließlich wird man bei den äußerst vagen Vorstellungen, die Caesar vom Inneren Germaniens vermittelt, nicht ausschließen können, dass in dem Begriff vom Bacenis-Wald die Kenntnisse mehrerer Waldgebirge mit einem großen Buchenbestand zusammengeflossen sind. Immerhin wird an dieser Stelle der commentarii eine Eingrenzung vorgenommen, die den tatsächlichen Gegebenheiten näher kommt als alle vorangegangenen Äußerungen. Zweifellos hatte Caesar bessere Kenntnisse über das rechtsrheinische Mitteleuropa als alle vor ihm schreibenden Autoren. Er war nicht nur selbst über den Rhein gekommen, er hatte auch im Verlaufe seiner militärischen Operationen alle Möglichkeiten der Information genutzt, um Nachrichten über ihm unbekannte Verhältnisse zu sammeln. So weist er des öfteren auf die Bedeutung von Kaufleuten und Händlern als Informanten hin. Bei ihnen holte er sich Auskünfte über Britannien, bevor er im Jahre 55 v. Chr. zu der ersten Expedition auf die Insel aufbrach; im heutigen Besan?on konnte man von römischen Händlern allerlei über die Germanen erfahren, bevor ein römisches Heer an den Rhein gekommen war; ebenfalls vor dieser Zeit wurden die Ubier schon häufig von Kaufleuten aus dem Imperium aufgesucht.53 Zu dieser ständigen Suche nach Informationen gehört auch der im Jahre 53 v. Chr. den Ubiern erteilte Auftrag, zahlreiche Späher zu den Sueben zu schicken und zu erkunden, was bei diesen vor sich gehe: mandat, ut crebros exploratores in Suebos mittant, quaeque apud eos gerantur, cognoscant.5A Bei diesem durchgängig erkennbaren Informationsbedürfnis ist nicht auszuschließen, dass Caesars Kenntnisse und Erkenntnisse über die Verhältnisse im rechtsrheinischen Raum doch weiter gegangen sind, als es aus seinen commentarii deutlich wird. Vielleicht waren seine eigenen Vorstellungen von dem Land und seinen Bewohnern nicht ganz so diffus, wie er sie 51 52

53 54

Caes., b. G. 6, 9, 1-10, 5 = Quellen 1 136-139; vgl. 466; Goetz/Welwei I 338-341. Vgl. Ihm, Bacenis silva, RE 2, 2 (1896) 2722f.; Schönfeld, Suebi, RE 4 A 1 (1931) 565; Η. Cüppers, Bacenis silva, Kl. Pauly 1 (1964) 799f.; G. Neumann/R. Wenskus, Bacenis, RGA 1 (1973) 572f.; G. Neumann/R. Wenskus/R. von Uslar, Cherusker, RGA 4 (1981) 431; Goetz/Welwei I 340f.; Nenninger, Wald 96. Caes., b. G. 4, 20, 3—4; 1, 39, 1; 4, 3, 3 = Quellen I 98f.; 118f.; vgl. 458. 463; Goetz/Welwei I 286f.; 72f. Caes., b. G. 6,10, 3 = Quellen 1138f.; Goetz/Welwei I 340f.

70 darstellt und wie er sie auch darstellen konnte, weil sein Lesepublikum mit Gewissheit überhaupt kein Detailwissen aus diesen Gebieten besaß. Wie bei Ariovist ist auch bei den Rheinübergängen die caesarische Darstellung stets den übergeordneten Zielen des Werkes angepasst. Nach dem Geschehen des ersten Rheinübergangs konnte der Leser auch im sechsten Buch die Schilderung von Kampfhandlungen erwarten. Jegliche militärische Unternehmung fiel jedoch aus, weil sich die Sueben bis zum Bacenis-Wald zurückgezogen hatten und Caesars Vorstoß mithin ins Leere stieß. Mit der Begründung, er fürchte den Mangel an Getreide, weil es bei den Germanen keinen intensiven Ackerbau gäbe, gab er die Verfolgung der Sueben auf und kehrte zum Rhein zurück. Nach dem nunmehr vierten Heereszug über den Fluss ließ er einen Teil der zweiten Brücke stehen, einen vierstöckigen Turm errichten und eine Wachmannschaft von 12 Kohorten am Rheinufer zurück, um die römischen Herrschaftsansprüche zu demonstrieren und zu unterstreichen, dass ein neuer Rheinübergang jederzeit möglich sei.55 Um den Gedanken, bei diesem zweiten Rheinübergang handele es sich militärisch um einen Misserfolg, gar nicht aufkommen zu lassen bzw. zu überspielen, baut Caesar an der Stelle eines Feldzugsberichts, der einer unter vielen gewesen wäre, einen Exkurs ein, von dem er sicher sein konnte, dass er das Interesse seiner Leser wecken würde. Die vergleichende Ethnographie der Gallier und Germanen ist mit 17 Kapiteln der umfangreichste und interessanteste Exkurs der commentarii.56 Der Autor, der sich damit als erster Römer einem bisher ausschließlich von Griechen behandelten Sachgebiet zuwendet, betont darin immer wieder die Unterschiede zwischen Galliern und Germanen und korrigiert die bisherigen Auffassungen der ethnographischen Verhältnisse in Mitteleuropa, insbesondere diejenigen des Poseidonios von Apameia. Das durchgängige Streben, seine „Entdeckung" der Germanen als ein den Galliern vergleichbares Ethnos herauszustellen, führt zu Überspitzungen und offenkundigen Unrichtigkeiten. Die unterschwellige Tendenz dieser Partie ist, dass eine Unterwerfung Germaniens für Rom gar nicht lohnend sei, weshalb ein Haltmachen am Rhein einem verantwortungsbewussten Feldherrn zukomme. Zu einer solchen Auffassung würden nun aber ins Detail gehende Ausführungen über die rechtsrheinischen Gebiete gar nicht passen, selbst wenn Caesar über solche verfügt haben sollte. Dem Tenor seiner Germanendarstellung entsprachen viel besser die Bilder von einer „Ödlandgrenze" bei den Sueben, von der „Einsamkeit der Wälder", in die sich die Sugambrer im Jahre 55 v. Chr. zurückzogen, oder der Bacenis-Wald „von unermesslicher Größe" als Rückzugsgebiet für die Sueben zwei Jahre danach. So müssen die in den commentarii enthaltenen Nachrichten nicht unbedingt mit dem tatsächlichen Wissensstand ihres Verfassers übereinstimmen. Am Ende der Germanendarstellung in dem Exkurs des sechsten Buches knüpft Caesar an die geographischen Vorstellungen der hellenistischen Wissenschaft an. Als fruchtbarste Gegend Germaniens bezeichnet er die Landgebiete um den Herkynischen Wald, den Eratosthenes und andere den Orkynischen genannt hätten:

55 56

Caes., b. G. 6, 29,1-3 = Quellen 1150f.; vgl. 473; Goetz/Welwei I 340f. Caes., b. G. 6, 11, 1-28, 6 = Quellen 1138-151; vgl. 466-^73; Goetz/Welwei I 72-79; Walser, Germanen 52-77; Trzaska-Richter 82-90; Günnewig, Germanenbild 42-61; B. Kremer, Das Bild der Kelten bis in augusteische Zeit, Stuttgart 1994 (Historia, Einzelschriften 88) 202-218.

71 ea, quae fertilissima Germaniae sunt loca - circum Hercyniam silvam, quam Eratostheni et quibusdam Graecis fama notam esse video, quam illi Orcyniam appellant-, ...57 Der zentraleuropäische Mittelgebirgsraum nördlich der Donau war erstmals von Aristoteles im 4. vorchristlichen Jh. zur Kenntnis genommen und als Arkynisches Gebirge bezeichnet worden.58 Die Namensform „orkynisch", die Caesar an dieser Stelle für Eratosthenes von Kyrene im 3. Jh. v. Chr. und für „andere Griechen" bezeugt, findet sich noch bei Ptolemaios im 2. nachchristlichen Jh.59 Der Begriff Hercynia silva begegnet erstmals an dieser Stelle im „Gallischen Krieg" und bleibt von da an in der lateinischen Tradition die verbindliche Namensform. Ihr kommt von den griechischen Namensvarianten der ' Ερκύνιος δρυμός bzw. Έρκύνιος όρος von Caesars Zeitgenossen Diodorus Siculus am nächsten. Der Ursprung des Namens wird im Keltischen gesucht und als „Eichenwald(gebirge)" gedeutet.60 Der unverdächtige Teil des caesarischen Textes macht über den Herkynischen Wald keine näheren Angaben. Diese finden sich dann in den vier folgenden Kapiteln, die wegen ihrer Diktion, ihres erklärenden Charakters und zahlreicher Unrichtigkeiten allgemein als eine spätere Interpolation des Caesar-Textes angesehen werden.61 In unserem Zusammenhang ist allein das Kapitel 25 des sechsten Buches von Bedeutung. Darin heißt es, dass dieses Waldgebirge von einem rüstigen Wanderer der Breite nach in neun Tagen durchwandert werden könne. Da Abmessungen der Wege nicht bekannt seien, könne man allein so die Entfernung bestimmen: Huius Hercyniae silvae, quae supra demonstrata est, latitudo novem dierum iter expedito patet: non enim aliter finiri potest neque mensuras itinerum noverunt. Als westlicher Anfang wird das Gebiet der Helvetier, Nemeter und Rauraker genannt, um den Rhein siedelnder Stämme, als östliches Ende das Dakerreich im heutigen Rumänien. So weit ziehe sich parallel zur Donau dieses Gebirgssystem hin, das man selbst in 60 Tagen nicht durchwandern könne und von dem niemand wisse, wo es genau ende: oritur ab Helvetiorum et Nemetum et Rauracorum finibus rectaque fluminis Danubii regione pertinet ad fines Dacorum ... neque quisquam est huius Germaniae, qui se aut adisse ad initium eius silvae dicat, cum dierum iter LX processerit, aut quo ex loco oriatur acceperit.62

57 58 59 60 61

62

Caes., b. G. 6, 24, 2 = Quellen 1148f.; vgl. 471; GoetzAVelwei I 76f. Vgl. oben Kapitel II Seite 29 mit Anm. 18. Ptol. 2 , 1 1 , 5 = Quellen III 218f.; vgl. 565f. Vgl. H. Krahe, Sprache und Vorzeit, Heidelberg 1954, 42f. und Quellen I 545; Diod. 5, 21, 1; 32, 1 = Quellen 1170f., 178f.; vgl. 481 und 487f. in der Übersetzung und Kommentierung von G. Perl. So schon E. Norden, Die germanische Urgeschichte in Tacitus Germania, Leipzig-Berlin 1923, 97; vgl. ferner G. Götte, Die Frage der geographischen Interpolationen in Caesars Bellum Gallicum, Phil. Diss. Marburg 1964, 197-205. 215-222. 270-303. 337-361; Th. Berres, Die geographischen Interpolationen in Caesars Bellum Gallicum, Hermes 98, 1970, 170-172; E. Mensching, Caesars Bellum Gallicum. Eine Einführung, Frankfurt am Main 1988, 27 und 41; Trzaska-Richter 85; zum Problem der Interpolationen allgemein H. Gesche, Caesar, Darmstadt 1976 (Erträge der Forschung 51) 83-87. Caes., b. G. 6,25, 1-2. 4 = Quellen 1148f.; vgl. 471f.; Goetz/Welwei I 76f.

72

Die Bezeichnung Herkynischer Wald ist somit ein gemeinsamer Name für alle Gebirge in Germanien nördlich der Donau vom Schwarzwald und der Schwäbischen Alb bis hin zu den Ost- und Südkarpaten.63 Nach Norden ist eine Ausdehnung bis zum Nordrand der Mittelgebirge, bis zum Weserbergland und zum Harz anzunehmen, da man wohl den Bacenis-Wald als einen Teil des Herkynischen Waldes im Verständnis Caesars ansehen muss. Die in den commentarii vermittelte Vorstellung ist die eines riesigen, ausgedehnten Urwaldes. Dazu trägt vor allem die Beschreibung der Tierwelt in den Kapiteln 26 bis 28 bei. Die Schilderungen von Rentier, Elch und Auerochsen tragen solche Ausschmückungen märchenhafter Art, dass man sie Caesar selbst als Autor nicht zutrauen möchte.64 Auch bei dem noch ganz undifferenzierten Gebrauch vom Begriff „Herkynischer Wald" liegen die böhmischen Randgebirge in seinem Zentrum, Bayerischer Wald, Böhmerwald, Oberpfälzer Wald, Erzgebirge und Riesengebirge. Dem letzteren entspringt die Elbe, die in ihrem Oberlauf den nördlichen Teil Böhmens durchströmt. Als der Herkynische Wald etwa ein halbes Jahrhundert nach Caesar bei Strabon wieder erwähnt wird, ist der Zusammenhang mit den Böhmen umgebenden Gebirgszügen deutlicher zu erkennen. Vielleicht hat der griechische Geograph seine Quellen, darunter mit Sicherheit die Schriften des Poseidonios, gründlicher ausgeschöpft als Caesar oder dessen Nachahmer, wahrscheinlicher ist jedoch, dass er schon die Erkenntnisfortschritte verarbeiten konnte, die die Feldzüge der augusteischen Zeit hinsichtlich der Landschaftsbeschaffenheit nördlich der Donau gebracht haben. Vor allem das Reich Marbods in Böhmen ab dem Jahre 8 v. Chr. dürfte für nähere Kenntnisse gesorgt haben. Die Interpolation am Ende der vergleichenden Ethnographie von Galliern und Germanen im sechsten Buch wird allgemein in die augusteische Zeit datiert. Man wird sie am ehesten bis in die Jahre um den Beginn der christlichen Zeitrechnimg ansetzen müssen, bevor mehr ins Detail gehende Nachrichten über die Vorstöße bis zur Elbe nach Rom gelangt waren. Zu den Interpolationen im caesarischen Text ist auch die Beschreibung der Flussläufe von Maas und Rhein zu rechnen. Sie ist im vierten Buch in die Auseinandersetzungen mit den Usipetern und Tenkterern eingeschoben.65 Ein weiteres Mal auf den böhmischen Raum und zugleich auch auf den Kimbernzug nimmt Caesar mit der Erwähnung der Boier Bezug. Diese werden im ersten Buch der commentarii als Bundesgenossen der Helvetier genannt. Erläuternd wird dazu bemerkt, sie hätten jenseits des Rheins gewohnt, wären nach Noricum gezogen und hätten Noreia belagert: ... Boiosque, qui trans Rhenum incoluerant et in agrum Noricum transierant Noreiamque oppugnabant, receptos ad se socios sibi adsciscunt.66 Hinter der knappen Notiz verbirgt sich ein weitreichendes Geschehen. Der keltische Stamm der Boier, der durch die Abwehr der Kimbern und Teutonen sich einen Namen gemacht hat63

Haug, Hercynia silva, RE 8, 1 (1912) 614f.; H. Cüppers, Hercynia silva, Kl. Pauly 2 (1967) 1057; K. Dietz, Hercynia silva, DNP 5 (1998) 406; St. Zimmer/P. Kehne, Hercynia silva, RGA 14 (1999) 396400 mit allen bei griechischen wie lateinischen Autoren vorkommenden Namensvarianten; Nenninger, Wald 88-94. 64 Caes., b. G. 6, 26, 1-28, 6 = Quellen 1148-151; vgl. 472f.; Goetz/Welwei I 76-79. 65 Caes., b. G. 4, 10, 1-5 = Quellen I 122f.; vgl. 464; Goetz/Welwei I 320-323; Ch. B. Rüger, Germania inferior, Köln-Graz 1968, 34; Th. Berres, Die geographischen Interpolationen in Caesars Bellum Gallicum, Hermes 98, 1970, 154-163; Wolters, Herrschaftsorganisation 144. 66 Caes., b. G. 1, 5,4 = Quellen I 86-89; vgl. 454.

73 te, geriet seit dem beginnenden 1. Jh. v. Chr. unter den Druck von Norden eindringender Germanen und hat zwischen 80 und 60 v. Chr. seine bisherige Heimat, die seit der frühen Kaiserzeit unter dem Namen Boiohaemum bekannt ist, verlassen. Mit dem Land trans Rhenum meint Caesar also das spätere Böhmen. Ob die Boier, die ins keltische Noricum gezogen sind und dort Noreia, den Ort der Kimbernschlacht von 113 v. Chr. belagerten, mit denjenigen identisch sind, die sich den Helvetiern anschlossen und nach Gallien zogen, ist nicht sicher.67 Die Zahl der mit den Helvetiern Ziehenden gibt Caesar mit 32 000 an, sie wurden nach ihrer Niederlage 58 v. Chr. im Gebiet der Haeduer angesiedelt.68 Wie beim Bacenis-Wald im „Suebenland" und beim Herkynischen Wald sind auch bei den Boiern Caesars Angaben sehr vage und rufen - vielleicht sogar gewollt - den Eindruck ungeheurer Ferne hervor. Dass mit dem Ausdruck trans Rhenum Gebiete nördlich der Donau gemeint sein könnten, ließe sich nur aus der Wanderbewegung nach Noricum und der Erwähnung Noreias erahnen, wenn keine andere Überlieferung zu dem an dieser Stelle gebotenen Sachverhalt existieren würde. Gerade an diese Erwähnung der Boier bei den Helvetiern knüpft sich nun jedoch eine interessante Überlegung. Nach deren Niederlage hatte sich Caesar ja der Boier in besonderer Weise angenommen und für ihre Ansiedlung um das oppidum Gorgobina als Klienten der Haeduer gesorgt; bei den Kämpfen des Jahres 52 v. Chr. wird darauf verwiesen: ... Gorgobinam, Boiorum oppidum quos ibi Helvetico proelio victos Caesar conlocaverat Haeduisque attribuerat, ...69 Bei diesem Kontakt zu den Angehörigen des keltischen Stammes liegt es nahe, dass Caesar sich bei ihnen auch Informationen über ihre frühere Heimat eingeholt hat. Sein Verhalten vor dem Ariovist-Feldzug und der ersten Britannien-Expedition lässt eine solche Vermutung durchaus zu. So meinte auch E. Koestermann im Hinblick auf die Boier: „Damit rückte die Elbe, über die man schon von den Cimbem einige Auskünfte erhalten haben mochte, stärker in den Gesichtskreis der Römer. Und wenn Augustus eine Vorverlegung der römischen Grenze bis an die Elbe ins Auge faßte,... so wäre denkbar, daß sich der erste Princeps auf Angaben stützte, die schon Caesar in Erfahrung gebracht hatte."70 Wenn auch die Wahrscheinlichkeit, dass von gefangenen Kimbern geographische Informationen gewonnen werden konnten, als äußerst gering eingestuft werden muss, so ist doch Koestermanns Vermutung hinsichtlich Caesars nicht von der Hand zu weisen. Der „Entdecker des Rheins" hat vielleicht doch einiges mehr über das Innere Germaniens gewusst als in seinen commentarii deutlich wird, weil er eine Ausbreitung dieses Wissens aus den genannten Gründen nicht für angebracht hielt. Dass der drittgrößte Strom Mitteleuropas Caesar bekannt gewesen ist, wird man mithin nicht ausschließen können. Vermuten lässt sich dieselbe Kenntnis auch für einige wenige an Geographie und Ethnographie Interessierte in der Mitte des ersten vorchristlichen Jahrhunderts. Der Universalgelehrte Poseidonios Rhodios hat im hohen Alter noch die Eroberung Galliens erlebt, er ist gegen Ende dieses Krieges, um das Jahr 51 v. Chr. gestorben.71 Ein 67 68 69 70 71

Vgl. Ihm, Boii, RE 3, 1 (1897) 630-633; J. Fitz, Boi, Kl. Pauly 1 (1964) 918f.; H. Birkhan/H. Callies/P. Berghaus, Boier, RGA 3 (1978) 205-207; G. Brizzi, Boii, DNP 2 (1997) 730f. Caes., b. G. 1, 28, 5; 29, 2; vgl. G. Dobesch, Anmerkungen zur Wanderung der mitteleuropäischen Boier, Tyche 8, 1993, 9-17. Caes., b. G. 7, 9, 6. E. Koestermann, Der Zug der Cimbern, Gymnasium 76,1969, 329. Walser, Germanen 55-57 nimmt für Poseidonios eine Kenntnis der Elbe an.

74 weiterer Zeitgenosse war Timagenes von Alexandria, der sich mit Geschichte und Geographie des Keltenlands befasst hat und später Strabon und noch Ammianus Marcellinus als Quelle gedient hat.72 Und schließlich ist in diesem Zusammenhang der gelehrteste Römer dieses Jahrhunderts zu nennen, M. Terentius Varro (116-27 v. Chr.), der in seinem enzyklopädischen Handbuch Antiquitates rerum humanarum et divinorum einen Überblick über die gesamte bekannte Erde gegeben hat und in der frühen Kaiserzeit Pomponius Mela und dem älteren Plinius als Vorlage diente. In seiner Schrift De ora maritima, die nur aus spätantiken Fragmenten bekannt ist, befasste sich Varro neben Schifffahrtskunde und Windverhältnissen auch mit dem Verlauf der Meeresküsten und könnte dabei die Elbmündung erwähnt haben.73 Sein Interesse an Flussläufen im „Barbaricum" zeigt sich an der Nennung des Rheins in dem erhalten gebliebenen Werk über die Landwirtschaft. Alle Überlegungen dieser Art bleiben jedoch im Bereiche der Vermutung, ein unumstößlicher Nachweis für eine Kenntnis der Elbe vor der Regierungszeit des Kaisers Augustus lässt sich nicht erbringen.74 Caesar hat in den Jahren des Gallischen Krieges Germanen erstmals auf ihrem eigenen Territorium bekämpft und besiegt, er hat das für die Römer fortan verbindliche Bild von den Germanen entwickelt und wahrscheinlich den geographischen Begriff „Germania" geprägt, und er hat den Rhein sowohl zur Trennlinie zwischen Kelten und Germanen als auch zur Grenze des Imperium Romanum erklärt. Gegen Ende dieses Krieges tauchen bei ihm auch die ersten Germanen im römischen Dienst auf. Während des großen gallischen Aufstandes unter der Führung des Vercingetorix im Jahre 52 v. Chr. hat der römische Feldherr in einem Reitergefecht bei Noviodunum seiner bedrängten Truppe 400 germanische Reiter zu Hilfe geschickt, die er von Anfang an bei sich zu haben beschlossen hatte: laborantibus iam suis Germanos equites circiter CCCC submittit, quos ab initio secum habere instituerat,75 Diese 400 equites Germani sind die allererste germanische Truppe überhaupt, die im römischen Dienst begegnet. Sie eröffnet die von nun an ein halbes Jahrtausend währende Gepflogenheit, dass sich Germanen in das Heer des Römischen Reiches einreihen lassen. Von Jahrhundert zu Jahrhundert gewinnt diese freiwillige Indienststellung an Bedeutung, bis schließlich in der Spätantike die Germanen im römischen Dienst, die „Reichsgermanen", zu einem entscheidenden Faktor in der römischen Innenpolitik werden. Im gleichen Jahr 52 warb Caesar Reiter und Leichtbewaffhete bei den rechtsrheinischen Stämmen an, die er in den Jahren zuvor „befriedet" hatte: Caesar ... trans Rhenum in Germaniam mittit ad eas civitates, quas superioribus annis pacaverat, equitesque ab his arcessit et levis armaturae pedites, qui inter eos proeliari consuerant.16

72 R. Laqueur, Timagenes 2, RE 6 A 1 (1936) 1063-1071, bes. 1069f.; Müller, Ethnographie I 292-294; Engels, Strabon 229-242; K. Meister, Timagenes 1, DNP 12/1 (2002) 573. 73 H. Dahlmann, M. Terentius Varro, RE Suppl. 6 (1935) 1229-1237 und 1251; Müller, Ethnographie II 26-42, bes. 32-37; K. Sallmann, Varro 2, DNP 12/1 (2002) 1130-1144, bes. 1131f. und 1139. 74 Vgl. Deininger, Flumen Albis 9. 75 Caes., b. G. 7,13, 1 = Quellen 1158-161; vgl. 473; Goetz/Welwei I 348f. 76 Caes., b. G. 7, 65,4 = Quellen I 160f.; vgl. 474; Goetz/Welwei 1350f.

75 Handelte es sich bei der ersten Reitertruppe um Germanen, die entweder aus Ariovists Heer gewesen sein könnten oder aber Germani cisrhenani, mit denen Caesar im Jahre 57 in Berührung gekommen sein muss, - der Hinweis, er habe sie von Anfang an bei sich gehabt, weist doch wohl auf die Jahre 58 oder 57, - so handelt es sich nunmehr eindeutig um eine Anwerbung im rechtsrheinischen Gebiet bei ehemaligen Gegnern, evtl. bei Usipetem, Tenkterern und Sugambrern oder aber bei den Chatten,77 nicht jedoch bei den befreundeten Ubiern. Offenbar schätzte Caesar die Germanen als Reiter so hoch ein, dass er seinen Römern die Pferde wegnahm, selbst den Offizieren, und sie den angeworbenen Söldnern anvertraute. Im Suebenexkurs hatte er daraufhingewiesen, dass die germanischen Pferde kleiner als die in Gallien und Italien gezüchteten Rassen waren.78 Die Erfahrungen, die der Feldherr mit den angeworbenen Germanen gemacht hat, müssen gut gewesen sein. Noch während des Krieges gelangte durch seine Vermittlung eine Reitertruppe dieser Herkunft nach Ägypten zur Unterstützung des von den Römern wieder eingesetzten Königs Ptolemaios XII. Auletes. Dieses Kontingent oder Teile davon kamen in den nächsten Jahren in das Heer des Pompeius. Da auch Caesar germanische Krieger in seine Bürgerkriegsarmee einreihte, ergab sich die Konstellation, dass in der Schlacht von Pharsalos in Makedonien am 9. August 48 n. Chr. germanische Soldaten auf beiden Seiten standen und sich - in römischen Diensten - bekämpften.79 Diese Konfrontation hat sich durch die Jahrhunderte immer wieder ergeben und bezog auch Elbgermanen mit ein. Sie lässt sich bis in die Zeit der Völkerwanderung verfolgen. In der berühmten Schlacht auf den Katalaunischen Feldern 451 verteidigten Germanen das bereits im Auflösungsprozess befindliche Römerreich gegen Germanen im Dienste des Hunnenkönigs Attila; die Konstellation von Pharsalos wiederholte sich in Dimensionen, die die Römer zu Caesars Zeiten für völlig unmöglich gehalten hätten. C. Iulius Caesar hat die Rechenschaftsberichte über seine Kriegsführung in Gallien jährlich abgefasst und an den Senat in Rom geschickt. Diese Berichte und die Aufzeichnungen seiner Offiziere waren die Vorlage für die commentarii de bello Gallico in der vorliegenden Form, die nach heute vorherrschender Auffassung im Winter des Jahres 52 auf 51 in einem Zuge niedergeschrieben worden sind. Die Verteilung des Stoffs und das Verhältnis der Bücher untereinander verraten eine Gesamtkonzeption des Werkes, die durch eine bloße Aneinanderreihung sieben verschiedener Berichte nicht erklärt werden kann. Dem ersten Buch zum Jahre 58 wie dem siebenten zum Jahre 52 kommt jeweils eine besondere Stellung zu, die die Entstehung der Schrift erst in der Zeit nach der Niederwerfung des großen Aufstandes unter Vercingetorix höchstwahrscheinlich macht. Die leichte und schnelle Abfassung facile atque celeriter - bezeugt sein Begleiter und Fortsetzer Aulus Hirtius.80 Mit dem Ausbruch des Bürgerkrieges im Januar 49 v. Chr. traten Gallien und die Germanen für Caesar wie für die römische Öffentlichkeit verständlicherweise in den Hintergrund. In den Propagandareden dieser Zeit spielten aber natürlich die Erfolge im Gallischen Krieg eine große Rolle. In einer Rede Caesars an seine Soldaten unmittelbar vor dem Aus77 78 79 80

K. Tausend, Caesars germanische Reiter, Historia 37, 1988,491-497. Vgl. Caes., b. G. 4, 2, 2 = Quellen 1116f.; vgl. 463; anders Goetz/Welwei I 72f. Caes., b. civ. 3 , 4 , 4 ; 1, 83, 5; 3, 52,2; vgl. Goetz/Welwei I 358-361. Caes., b. G. 8 praef. 6; vgl. E. Mensching, Caesars Bellum Gallicum. Eine Einführung, Frankfurt a. M. 1988, 29; M. von Albrecht, Geschichte der römischen Literatur von Andronicus bis Boethius, 2. Aufl. München u. a. 1994, 329f.; F. Fischer, Caesar und Ariovist, Bonner Jbb. 199, 1999, 33f.

76 bruch der Kämpfe am 11. Januar 49 werden die Erfolge der vergangenen Jahre beschworen. Er fordert sie auf, seine Ehre und Würde vor seinen Widersachern zu schützen und erinnert sie daran, dass er neun Jahre lang die Geschicke des Staates gelenkt, zahlreiche Siege erfochten und - ganz Gallien und Germanien befriedet habe: Hortatur, cuius imperatoris ductu Villi annis rem publicam felicissime gesserint plurimaque proelia secunda fecerint, omnem Galliam Germaniamque pacaverint, ut eius existimationem dignitatemque ab inimicis defendant,81 Dass Caesar die Eroberung Galliens als eine große Tat für den Staat herausstellt, eine Tat, die ihn dem Pompeius als dem Eroberer des Ostens gleichwertig werden ließ, braucht nicht zu überraschen.82 Nicht so selbstverständlich ist, dass die Ausdehnung der römischen Herrschaft bis an den Rhein und die beiden kurzen Vorstöße über ihn hinaus nicht nur als die Unterwerfung Galliens, sondern in maßloser Übertreibimg auch schon als die ganz Germaniens bezeichnet wird - omnem Galliam Germaniamque pacaverint, .... Dieselbe Übertreibung legt Caesar seinem früheren Mitstreiter und nunmehrigen Gegner Titus Labienus in den Mund, der am Vorabend der Schlacht von Pharsalos am 9. August 48 v. Chr. dem Pompeius gegenüber die caesarische Armee mit den Worten verächtlich gemacht habe, dieser solle doch nicht glauben, ihm stehe noch dasselbe Heer gegenüber, das Gallien und Germanien völlig besiegt habe: ... ,noli\ inquit, ,existimare, Pompei, hunc esse exercitum, qui Galliam Germaniamque devicerit'P Sicher geht man zu weit, aus diesen Ausführungen auf weitergehende Pläne Caesars östlich des Rheins zu schließen. Dafür sind diese Reden zu sehr der Propaganda verpflichtet. Aber als ein wünschenswerter Gedanke war die „Befriedung" „ganz Germaniens" damit doch erstmals in der Literatur aufgetaucht. Eine spätere Generation konnte sich bei der Begründung einer Expansionspolitik gegenüber den Germanen ohne weiteres auf dieses caesarische Dictum stützen, in dem die tatsächlich ja überhaupt nicht „befriedete" omnis Germania neben die tatsächlich gerade unterworfene omnis Gallia gestellt worden ist. Zu Caesars Lebzeiten und in den darauf folgenden drei Jahrzehnten konnte es jedoch nur um die Sicherung Galliens und der von ihm vorerst nur beanspruchten Rheingrenze gehen. Diese Grenze war bei seinem Tode 44 v. Chr. in Rom als Tatsache akzeptiert. Cicero vermerkt in einem Brief vom 17. April 44 mit Genugtuung, dass die Ermordung des Diktators den Frieden in Gallien nicht gestört habe und auch die Germanen ruhig blieben.84 Einige Jahre später beschreibt Sallust in seinem zeitgeschichtlichen Werk das unterworfene Gallien in den Grenzen von Mittelmeer, Atlantischem Ozean und Rhein.85 Caesar hat zwar die von ihm eroberte Provinz nach dem Ausbruch des Bürgerkrieges nicht wieder betreten, sie jedoch auch nicht aus den Augen verloren und sich um den Auf81 82 83 84 85

Caes., b. civ. 1, 7, 7 = Quellen I 162f.; vgl. 474 in der Übersetzung und Kommentierung von H. Labuske. Vgl. K. Raaflaub, Dignitatis contentio. Studien zur Motivation und politischen Taktik im Bürgerkrieg zwischen Caesar und Pompeius, München 1974,149f. Caes., b. civ. 3, 87,1 = Quellen 1164f.; vgl. 474. Cie., Att. 14, 9, 3 = Quellen I 82f.; vgl. 449. Sail., hist. 1,11= Quellen I 166f.; vgl. 476f. in der Übersetzung und Kommentierung von G. Perl.

77 bau einer Infrastruktur nach römischem Verständnis bemüht. Dies bedeutete vor allem den Bau befestigter Straßen und die Anlage von Kolonien. Dabei wurde ein Schwerpunkt von Anfang an auf die Ausdehnung des neuen Provinzialgebietes bis an den Rhein gelegt. Älteste Kolonie in dem neu gewonnenen Teil Galliens wurde im Jahre 45 v. Chr. die colonia Iulia Equestris am Nordwestufer des Genfer Sees, das heutige Nyon. Das keltische oppidum Noviodunum wurde durch die Ansiedlung von Veteranen aus gallischen oder germanischen Reitereinheiten, die mit dem Bürgerrecht beschenkt worden waren, zu einer Stadtgemeinde römischen Rechts.86 Von Nyon aus erfolgte der erste Straßenbau bis an den Rhein in der Nähe des Rheinknies bei Basel. Dort entstand kurz danach die spätere colonia Augusta Raurica. Sie wurde nach Caesars Ermordung von dessen Gefolgsmann L. Munatius Plancus in den Jahren 44/43 v. Chr. angelegt und geht zweifellos noch auf eine Anordnung des Diktators zurück. Mit Augusta Raurica, beim heutigen Kaiseraugst, entstand die erste Römerstadt am Rhein, mit deren Aufbau der Anspruch auf die neue Grenze mit aller Deutlichkeit unterstrichen wurde.87 Bald nach Caesars Tod ließen alle Aktivitäten in Gallien erst einmal nach. Der Kampf um sein Erbe beanspruchte alle Kräfte des Staates in einem solchen Maße, dass der weitere Ausbau der neuen Provinz zurückgestellt werden musste. Den Schutz der Grenze am Rhein in dessen mittlerem Abschnitt überließ man den verbündeten Ubiern. Sie wurden weiterhin von den Sueben bedrängt und begannen möglicherweise bald nach dem Ende des Gallischen Krieges mit einer Übersiedlung in das linksrheinische Gebiet, wo das fruchtbare Land der von Caesar 53 v. Chr. weitgehend vernichteten Eburonen gelockt haben dürfte.88 Die Überlieferung hat diese Abwanderung auf die römische Rheinseite mit der Statthalterschaft des M. Vipsanius Agrippa in Gallien verbunden. Er war der wichtigste Mitstreiter des späteren Kaisers Augustus bei der Schaffung der neuen Staatsordnung und der bedeutendste Feldherr in der ersten Hälfte von dessen Regierung.89 (Abb. 4) 17 Jahre nach dem Bau der ersten Rheinbrücke überschritt er im Jahre 38 v. Chr. als zweiter römischer Feldherr den Rhein und bewog nach der Meinung der früheren Forschung die restlichen Ubier zum Übertritt auf römisches Provinzialgebiet. Sehr viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass diese Umsiedlungsaktion erst mit der zweiten Statthalterschaft Agrippas verbunden werden muss, da erst danach ubische Münzen auftauchen.90 In der Folgezeit entstand auf dem linken Rheinufer die civitas Ubiorum zwischen Krefeld und Bonn.91 Seit der ersten Statthalterschaft des Agrippa, vor allem aber nach der Erringung der alleinigen Macht durch Augustus im Jahre 30 v. Chr. wurde der Ausbau der Infrastruktur zur Konsolidierung der römischen Herrschaft in Gallien forciert. Im Mittelpunkt stand dabei die 86 87 88 89

G. Walser, Noviodunum 5, DNP 8 (2000) 1031f. G. Walser, Augusta Raurica, DNP 2 (1997) 282-285. H. Schmitz, Ubii, RE 8 A 1 (1955) 533-535. R. Hanslik, M. Vipsanius Agrippa, RE 9 A 1 (1967) 1226-1275; D. Kienast, Agrippa, DNP 1 (1996) 294-296. 90 Strab. 4, 3, 4 p. 193f. C = Quellen I 220f.; vgl. 505 in der Übersetzung und Kommentierung von W. O. Schmitt und G. Chr. Hansen; Cass. Dio 48, 49, 3 = Quellen III 288f.; vgl. 605 in der Übersetzung und Kommentierung von R. und K.-P. Johne sowie Tac., Germ. 28,4 = Quellen II 106f.; vgl. 208; Tac., ann. 12, 27, 1 = Quellen III 150f.; vgl. 528f. in der Übersetzung und Kommentierung des Verf.; Goetz/Welwei II 8-11 ;W. Eck, Augustus und seine Zeit, München 1998, 92f.; Eck, Köln 46-55. 91 Schmitz wie Anm. 88, 535-543; Ch. B. Rüger, Germania inferior, Köln-Graz 1968, 3-10; Eck, Köln 55-62.

Abb. 4: Agrippa

79 Errichtung von Fernstraßen. Die im Aufbau befindliche Hauptstadt der gallischen Provinzen, Lugdunum, das heutige Lyon, wurde zum Ausgangspunkt eines ausgedehnten Straßennetzes. Von dem Ort am Oberlauf der Rhone wurden Verbindungen nach Westen zur Atlantikküste, nach Norden zur Seine und an die Kanalküste sowie nach Nordosten an den Rhein angelegt. Die Straße von Lyon über Metz und Trier nach Köln - in moderner Terminologie - entstand etwa zwischen 30 und 17 v. Chr. und sorgte für einen jederzeit gangbaren Weg an die neue Grenze. Fassbar wird er im Bereich des späteren Stadtgebietes von Trier. Für die Zeit um das Jahr 30 ist dort eine Militäreinheit und für das Jahr 17 der Bau einer Holzbrücke über die Mosel bezeugt.92 Der zweite Aufenthalt des Agrippa in Gallien in den Jahren 20-19 v. Chr. stand nach Strabons Zeugnis vorrangig mit dem weiteren Ausbau des Straßennetzes in Verbindung.93 Die Verkehrsanbindung des Rheins an die zentral gelegenen Teile Galliens war auf Dauer unerlässlich, wenn diese Flussgrenze für Rom mehr als nur einen Anspruch bedeuten sollte. Dass germanische Stämme sich von dieser Grenzziehung jedoch überhaupt nicht beeindrucken ließen, zeigen drei Vorfälle zwischen 29 und 16 v. Chr., mit denen sich Vorgänge wie die Einfalle der Usipeter und Tenkterer zu Caesars Zeiten wiederholten. Im Jahre 28 v. Chr. feierte der gallische Statthalter C. Carrinas in Rom einen Triumph, weil er aufrührerische Stämme in der neuen Provinz niedergeworfen und die mit kriegerischer Absicht über den Rhein vorgedrungenen Sueben zurückgetrieben hatte.94 Drei Jahre später zog M. Vinicius als dritter römischer Feldherr über den Rhein. Dabei handelte es sich um eine Strafexpedition, weil römische Kaufleute im Germanenland gefangen genommen und getötet worden waren. Über den Feldzug ist nichts Näheres bekannt. Dass es ein solcher war, geht aus der Annahme des Imperatorentitels durch Augustus und aus der Bewilligung eines Triumphes hervor.95 Zu dem schwerwiegendsten Konflikt an der Rheingrenze seit Caesar kam es in den Jahren 17 oder 16 v. Chr. Die Kontrahenten waren wiederum die Sugambrer, Usipeter und Tenkterer an der Niederrheingrenze. Sie hatten Römer aufgegriffen und gekreuzigt, waren dann über den Rhein gegangen und hatten Provinzgebiet geplündert. Eine gegen sie geschickte Reitereinheit wurde in einen Hinterhalt gelockt und in die Flucht gejagt. Als der Statthalter M. Lollius den Eindringlingen entgegentrat, erlitt er mit seiner V. Legion eine schmachvolle Niederlage und verlor sogar das Feldzeichen, den Legionsadler.96 Diese clades Lolliana verursachte einen nachhaltigen Schock, war man doch seit Caesars Tagen nur an Siege über die Barbaren von jenseits des Rheins gewöhnt. Die Dichter Horaz, Properz und Krinagoras haben diesem Gefühl in ihren Werken einen mehr oder weniger deutlichen Ausdruck verliehen.97 Die beanspruchte Grenze und die ganze im Aufbau befindliche Herr92 F. Schön, Augusta Treverorum, DNP 2 (1997) 285-290. 93 Strab. 4, 6,11 p. 208 C; vgl. Hanslik, wie Anm. 89,1254f. und Kienast ebend. 295. 94 Cass. Dio 51, 21, 6 = Quellen III 292f.; vgl. 606; W. Will, Carrinas 12, DNP 2 (1997) 996. 95 Cass. Dio 53, 26, 4f. = Quellen III 292f.; vgl. 606; R. Hanslik, Vinicius 6, RE 9 A 1 (1967) 112-116; Goetz/Welwei II 12f.; W. Eck, Vinicius II 2, DNP 12/2 (2002) 236. 96 Cass. Dio 54, 20, 4-6 = Quellen III 294f.; vgl. 607; Veil. Pat. 2, 97, 1 = Quellen I 266-269; vgl. 528 in der Übersetzung und Kommentierung von G. Audring und H. Labuske; Iul. Obs. 71 = Quellen IV 162f.; vgl. 480 in der Übersetzung und Kommentierung von R. Johne; PIR2 V 1 (1970) L 311; Goetz/Welwei II 12-17; W. Eck, Lollius II 1, DNP 7 (1999) 430f. 97 Hör., carm. 4, 2, 33-36 = Quellen I 186f.; vgl. 492; Prop. 4, 1, 93-96 = Quellen 1 192-195; vgl. 494 in der Übersetzung und Kommentierung von M. Simon; Krinagoras, in: Anthologie Graeca 7, 741 = Quellen 1194f.; vgl. 495 in der Übersetzung und Kommentierung von J. Irmscher.

80 schaft über das östliche Gallien war in Frage gestellt. Der Verlust des Legionsadlers wog deshalb besonders schwer, weil erst wenige Jahre zuvor - 20 v. Chr. - die von M. Licinius Crassus 53 v. Chr. bei Carrhae an die Parther verlorenen Feldzeichen wiedergewonnen worden waren und dieser Vorgang im Reich als ein großer Erfolg über die Parther gefeiert wurde.98 Nunmehr schien endgültig ein dauerhafter Schutz der Rheingrenze durch das römische Heer erforderlich zu sein, sie konnte nicht länger allein befreundeten und abhängigen Stämmen anvertraut werden. Die clades Lolliana rief den Kaiser selbst in das Grenzgebiet, und erst seine Ankunft bewog die Germanen zum Rückzug über den Rhein. Bis zum Jahre 13 v. Chr. weilte Augustus in Gallien, einmal um die Neuordnung von Caesars Eroberungen zu einem vorläufigen Abschluss zu bringen, und zweitens um die Politik gegenüber den Germanen neu zu konzipieren. (Abb. 8) Spätestens in diesen Jahren endete auch die von Caesar eingeleitete Politik einer, Anspruchsgrenze" am Rhein. D. Timpe hat vor mehr als einem Vierteljahrhundert in scharfsinniger Kombination eine „Agrippa-Phase" in der Geschichte der römischen Rheingrenze zu erschließen versucht. Er verband diese Phase mit dem zweiten Aufenthalt des Feldherrn in Gallien 20-19 v. Chr. Erst diesen Jahren wies er die lange Zeit mit der ersten Statthalterschaft verknüpfte Umsiedlung der Ubier zu, ferner ein Bündnis mit den Chatten und die Anfänge einer römischen Militäraufsicht im rechtsrheinischen Gebiet. Für eine derartige Einflussnahme spreche ein Scholion zu einem Horaz-Gedicht aus dem Jahre 16 v. Chr., wonach es sich bei den von den Sugambrern vor der clades Lolliana gekreuzigten Römern um centuriones, qui ad stipendia missi erant, um Zenturionen, die Tribute erheben sollten, gehandelt habe." Timpe sah darin Anzeichen für eine „eigenständige und neue Grenzpolitik am Rhein, die weder der caesarischen Konzeption der Rheingrenze noch der drusianischen Eroberungsplanung zuzurechnen ist." Grundsätzlich habe Agrippa noch an der Defensive festgehalten, sich jedoch für eine energischere und direktere Sicherung eingesetzt.100 Der Versuch, eine Reihe verstreuter Nachrichten zu einem bisher nicht erkannten Konzept römischer Grenzpolitik zusammenzufügen, hat sowohl Zustimmung als auch Kritik gefunden.101 Wohl mit Recht hat jedoch R. Wolters darauf hingewiesen, dass sich keine Ursache erkennen lasse, die Agrippa zu einer Änderung der Politik am Rhein bewogen haben soll. Er konstatierte für den gesamten Zeitraum von Caesar bis zur clades Lolliana schon durch den offenkundigen Mangel an militärischer Präsenz eine Politik der Defensive, die mehr reagierte als agierte. Seit dem Aufenthalt des Augustus in Gallien 16-13 v. Chr. begnügte sich Rom am Rhein dann aber endgültig nicht mehr nur mit Reaktionen. Vier Jahrzehnte nach den diffusen Beschreibungen des „Suebenlandes" durch Caesar machten sich Römer daran, in dieses Land einzudringen.102 98 99 100 101 102

Vgl. Wolters, Herrschaftsorganisation 153-155; Wolters, Germanien 26f.; Bleicken, Augustus 356362. 729f. Vgl. Hör., carm. 4, 2, 33-36 = Quellen I 186f.; 492; GoetzAVelwei II 14f.; Timpe, Rheingrenze 124147, bes. 134-141. Timpe, Rheingrenze 139. Christ, Germanienpolitik 222 und 235f.; Wolters, Herrschaftsorganisation 142-153. Zur Problematik der Flussgrenzen des Römischen Reiches vgl. jetzt G. Dobesch, Wassergrenzen und Wasserwege aus urgeschichtlicher und römischer Sicht, in: C. von Carnap-Bornheim/H. Friesinger, Wasserwege: Lebensadern - Trennungslinien, Neumünster 2005, 11-71.

Karte 3: Die Rheingrenze zwischen Caesar und Augustus

Kapitel V Drusus an der Elbe

Im Spätsommer des Jahres 9 v. Chr. stand der Stiefsohn des Kaisers Augustus, Nero Claudius Drusus, mit einem Heer im Innern Germaniens am Ufer eines breiten Stromes, den vor ihm kein römischer Feldherr und keine Legion, vielleicht nicht einmal ein römischer Kaufmann zu Gesicht bekommen hatte, - am Ufer der Elbe. Vom Rhein aus war er durch das Gebiet der Chatten ins Suebenland und von dort zu den Cheruskern gezogen, durch Teile Hessens, Westfalens und Niedersachsens. Nachdem er die Weser überschritten hatte, rückte er, dem Zeugnis des Cassius Dio zufolge alles verwüstend, bis zur Elbe vor: και τον

Ούίσουργον

διαβάς fjXaoe μέχρι τοϋ ' Αλβίου, πάντα ττορθών.1

Der Prinz ließ am Ufer ein Denkmal errichten und dokumentierte damit die endgültige Entdeckung dieses Flusses für die griechisch-römische Welt. Sein Feldzug hatte eben auch den Charakter einer fremde Territorien erkundenden Expedition. Seit diesem Vorgang war die Elbe ein geographischer wie ein politischer Faktor in Mitteleuropa. Die vagen Kenntnisse der vergangenen Jahrhunderte, angefangen vom „Bernsteinfluß" Eridanos über die aus dem Arkynischen Gebirge nach Norden fließenden Ströme bei Aristoteles, die mögliche Entdeckung der Elbmündung bei Pytheas bis hin zu dem doch mit einiger Wahrscheinlichkeit zu vermutenden Wissen Caesars, wurden nun durch die Gewissheit ersetzt, dass im zentralen Germanien ein dem Rhein vergleichbarer großer Fluss parallel zu ihm in den nördlichen Ozean verläuft. Die Feldzüge, die mit dem Jahre 12 v. Chr. ihren Anfang nahmen, haben das Weltbild der Römer über den Norden in ganz kurzer Zeit wesentlich erweitert. Noch zur Zeit der Niederlage des Lollius scheinen die Kenntnisse nicht viel über die am östlichen Rheinufer siedelnden Germanen, die Caesar beschrieben hatte, hinaus gereicht zu haben. Mit dem Beginn der Kriegszüge des Drusus dehnten sich dann aber von Jahr zu Jahr nicht nur der Einflussbereich Roms, sondern auch die Kenntnisse über Germanien in geradezu rasanter Weise aus. Es waren die Jahre, von denen Strabon sagte, die Römer hätten den gesamten Westen Europas nunmehr bis zur Elbe erschlossen.2 Die Voraussetzung für alle militärischen Unternehmungen der Jahre 12 bis 9 v. Chr. vom Rhein aus in Richtung Osten war die Verlegung der bisher im Inneren Galliens statio-

1 Cass. Dio 55, 1, 2-3 = Quellen III 300f.; vgl. 609 in der Übersetzung und Kommentierung von R. und K.-P. Johne; Goetz/Welwei II 22f. 2 Strab. 1, 2, 1 p. 14 C = Quellen I 212f.; vgl. 502 in der Übersetzung und Kommentierung von W. O. Schmitt und G. Chr. Hansen sowie oben Kapitel II, Seiten 25-26.

84 nierten Legionen an das Westufer dieses Flusses. Erst damit haben die Römer den Rhein tatsächlich in Besitz genommen und zur wirklichen Grenze ihres Reiches gemacht. Die ersten Truppeneinheiten am Niederrhein wurden um 16 v. Chr. in Novaesium (Neuß) und Bonna (Bonn) stationiert. Bis zum Jahre 12 v. Chr. entstanden weiterhin - von Norden nach Süden - die Militärlager von Noviomagus (Nijmegen/Nimwegen), Vetera I bei Xanten, Asciburgium (Moers-Asberg) und Mogontiacum (Mainz). Mit der Ausnahme von MoersAsberg haben sich aus allen Standorten Legionslager entwickelt. Ihnen gemeinsam war die strategisch günstige Lage nicht nur am Rhein, sondern auch gegenüber der Mündung eines Flusses, dessen Lauf als „Einfallstraße" in rechtsrheinisches Gebiet genutzt werden konnte. Xanten gegenüber mündet die Lippe, Moers-Asberg gegenüber die Ruhr, Bonn gegenüber die Sieg und Mainz gegenüber der Main. Im Falle von Neuß, dem Endpunkt der von Trier kommenden Straße, war die mögliche „Einfallstraße" kein Fluss, sondern eine Landverbindung, der etwas weiter nördlich beginnende parallel zu Ruhr und Lippe verlaufende Hellweg.3 Mit diesem eindrucksvollen Truppenaufgebot war der Rhein von der Mitte bis zur Mündung römischer Kontrolle unterstellt. Erstmals hatte das Imperium eine Flussgrenze militärisch gesichert, die Garnisonen am Rhein wurden das Vorbild für die spätere Grenzsicherung an Donau und Euphrat. Mit den Maßnahmen der Jahre 16-12 v. Chr. waren zum einen weiteren germanischen Flussüberschreitungen ein Riegel vorgeschoben worden, zum anderen auch alle Vorbereitungen getroffen, um jenseits des Rheins aktiv werden zu können. Parallel mit der Sicherung der Rheingrenze erfolgte auch diejenige des Alpenraumes, dessen Kontrolle eine Voraussetzung fur alle Unternehmungen im rechtsrheinischen Gebiet war. Keineswegs sicher ist dagegen, dass es sich hierbei nur um eine vorbereitende Maßnahme für die mit dem Jahre 12 v. Chr. einsetzenden Operationen gegen die Germanen gehandelt habe. Bei der Beherrschung der Alpen ging es in erster Linie um einen dauerhaften Schutz Italiens und um die Sicherung der Straßenverbindungen nach Gallien, um die sich schon Caesar bemüht hatte.4 Die Gewinnung neuer Verkehrsverbindungen nach Norden in Richtung Rhein und Donau dürfte erst an dritter Stelle rangiert haben. Nach Auseinandersetzungen in den Jahren 35/34 und 25 sowie 16 v. Chr. fand der entscheidende Feldzug im Jahre 15 statt. Augustus übertrug ihn seinen beiden Stiefsöhnen, Tiberius Claudius Nero und Drusus Claudius Nero, den Söhnen der Kaiserin Livia aus ihrer ersten Ehe mit einem Senator aus der gens Claudia. Tiberius und Drusus rückten gleichzeitig vom östlichen Gallien und von Oberitalien aus gegen die Keltenstämme vor.5 Die von Drusus befehligte Heeresgruppe drang durch das Tal der Etsch über den Brennerpass zum Inn in das nördliche Alpenvorland. 3 Vgl. Römer in Nordrhein-Westfalen 34-37; Wolters, Herrschaftsorganisation 153; Wolters, Germanien 27f.; der Problematik in umfassender Weise widmet sich der Sammelband von B. Trier (Hrsg.), Die römische Okkupation nördlich der Alpen zur Zeit des Augustus, Kolloquium Bergkamen 1989, Münster 1991; weitere Literatur bei Kehne, Offensiven 305f. mit Anm. 61; zu den beiden wichtigsten Lagern in der Zeit des Drusus vgl. R. Wiegels, Vetera, DNP 12/2 (2002) 137-141; ders., Mogontiacum, DNP 8 (2000) 334-337; J. Oldenstein/H. Steuer, Mogontiacum, RGA 20 (2002) 144-154. 4 Caes., b. G. 3, 1, 2 mit dem interessanten Hinweis, dass römische Kaufleute nur unter großer Gefahr und der Entrichtung hoher Zölle die Alpenstraßen passieren durften. 5 Vgl. Timpe, Entdeckungsgeschichte 353-355; Becker, Chatten 109-124; Fischer, Römer 21; W. Zanier, Der Alpenfeldzug 15 v. Chr. und die Eroberung Vindelikiens, Bayerische Vorgeschichtsblätter 64, 1999, 99-132; ders., Der Alpenfeldzug 15 v. Chr. und die augusteische Okkupation in Süddeutschland, in: Römer zwischen Alpen und Nordmeer 11-17.

85 Hier vereinigte sie sich mit dem Truppenverband unter dem Kommando des Tiberius, der von Westen her durch die nördliche Schweiz bis zum Bodensee vorgestoßen war. Eine erfolgreiche Schlacht am 1. August 15 v. Chr. beendete diesen Feldzug und sicherte Roms Herrschaft bis zur Donau hin. Das in den Jahren 7/6 v. Chr. errichtete großartige Denkmal Tropaeum Alpium bei La Turbie oberhalb von Monaco feiert den Sieg über fast 50 Alpenstämme.6 Entdeckungsgeschichtlich ist dieser Feldzug durch die Feststellung der Donauquellen bedeutsam. Strabon berichtet, Tiberius habe einen Tagesmarsch vom Bodensee entfernt, die Quellen dieses Flusses im Schwarzwald entdeckt: ήμερήσιον δ ' άπό της λίμνης προελθών όδόν Τιβέριος είδε τάς τοΰ "Ιστρου ττηγάς.7 Der an dieser Stelle ohne Namen genannte Bodensee wird als zwischen Donau- und Rheinquelle gelegen beschrieben. Die Lokalisierung südlich der Donauquellen und südlich des Herkynischen Waldes ist ebenso richtig wie die Mitteilung, dass er vom Rhein durchflossen wird. Was diese Entdeckung bedeutet, wird erst verständlich, wenn man sie mit anderen Nachrichten aus diesen Jahrzehnten vergleicht. Etwa 20 Jahre vor der Expedition des Tiberius weiß Sallust von der Donau nur zu berichten, dass sie in ihrem Unterlauf Ister und ihrem Oberlauf Danuvius heißt. Der Oberlauf wird von ihm lediglich ganz allgemein als die Grenze zu den Germanen charakterisiert; eine Abgrenzung nach Norden hin war diesem Fluss ja seit seinem Bekanntwerden im Mittelmeerraum eigen.8 Der in augusteischer Zeit in der Hauptstadt wirkende Dionysios von Halikarnassos war zwar ein Zeitgenosse des Alpenfeldzuges, hat jedoch von dessen Erkenntnissen in geographischer Hinsicht keine Kenntnis genommen und lässt in seiner „Römischen Altertumskunde" die Donau in der Tradition seiner literarischen Quellen weiterhin in den Alpen entspringen.9 Im Zusammenhang mit den Ereignissen des Jahres 15 v. Chr. steht das älteste Militärlager der Oberrheingrenze. In diesem Jahre wurde als Stützpunkt die Anlage von Dangstetten nördlich des Hochrheins errichtet. Das 1967 entdeckte Truppenlager umfasste ein Areal von 13 ha, war von einer Holz-Erde-Mauer mit Holztürmen umgeben und besaß Holzbauten im Innern. Es bot Platz für etwa eine halbe Legion. Zur Besatzung gehörten Soldaten der XIX. Legion, einer der drei Legionen, die in der Schlacht im Teutoburger Wald vernichtet wurden. Soldaten dieser Einheit waren zwischen 15 und 9 v. Chr. an Kämpfen im Ammertal bei Oberammergau beteiligt, wie Funde seit dem Anfang der neunziger Jahre des 20. Jh. erkennen lassen. Das Lager von Dangstetten ist um das Jahr 9/8 v. Chr. geräumt und die XIX. Legion an den Niederrhein verlegt worden.10 Der Grenzabschnitt zwischen Rheinknie und Bodensee galt den Römern ganz offenbar als ein neuralgischer Punkt. Zuerst war dort die

6 7 8 9 10

Plin., nat. hist. 3, 136f. = Quellen I 324-327; vgl. 562f. in der Übersetzung und Kommentierung von H. Ditten. Strab. 7,1, 5 p. 292 C = Quellen 1236f.; vgl. 515. Sali., hist. 3, 80.79 = Quellen 1166f.; vgl. 477f. in der Übersetzung und Kommentierung von G. Perl. Dionys. Hai. 14, 1, 1 = Quellen I 200f.; vgl. 497 in der Übersetzung und Kommentierung von W. O. Schmitt. Vgl. Wells, Policy 57f.; Römer in Baden-Württemberg 376-380; Fischer, Römer 21f.; W. Zanier, wie Anm. 5, 11-14; G. Fingerlin, Römische und keltische Reiter im Lager der XIX. Legion von Dangstetten am Hochrhein, Archäologische Nachrichten aus Baden 60,1999, 3-18.

86 colonia Raurica angelegt worden, dann das Lager von Dangstetten und 16/17 n. Chr. entstand im gleichen Raum das Legionslager von Vindonissa (Windisch an der Aare). Im März des Jahres 12 v. Chr., unmittelbar vor dem Beginn der vom Niederrhein ausgehenden Feldzüge gegen Germanien, starb mit 51 Jahren M. Vipsanius Agippa, der enge Freund, erprobte Feldherr und zuletzt auch Schwiegersohn des Augustus. Er hinterließ das Werk commentarii geographici, in dem er die auf seinen Feldzügen und Reisen sowie während seiner Tätigkeit als Statthalter in Gallien und am Rhein gewonnenen Kenntnisse mit den bereits vorhandenen Itinerarien und der Weltkarte des Eratosthenes samt deren Ergänzungen verarbeitet hat. Nach dem Vorbild der Landkarte Sardiniens am Tempel der Mater Matuta und der Karte Italiens am Tempel der Tellus in Rom sollte eine neue Weltkarte, die der Erweiterung des geographischen Horizontes Rechnung trug, öffentlich aufgestellt werden. Zu Lebzeiten des Agrippa ist es dazu nicht mehr gekommen. Augustus hat sie später auf der Grundlage von Agrippas Schrift an der Porticus Vipsaniae anbringen lassen. In einer neueren Untersuchung zur Raumerfassung bei den Römern hat K. Brodersen die These aufgestellt, dass es sich bei dem, was von Agrippas Werk für eine breite Öffentlichkeit sichtbar gemacht wurde, gar nicht um eine Kartendarstellung, sondern um eine Inschrift gehandelt habe, vergleichbar dem Tropaeum Alpium und dem Monumentum Ancyranum.11 Wie auch immer die Ergebnisse, zu denen Agrippa in seinen commentarii geographici gelangt war, in monumentaler Form veröffentlicht wurden, sie müssen den Kenntnisstand vor dem Beginn der großen Expansion wiedergegeben haben. Leider sind auch Werk und Karte bzw. Inschrift des Augustusfreundes verloren und nur aus kaiserzeitlicher Literatur, vor allem der „Naturgeschichte" des älteren Plinius, rekonstruierbar.12 Dieser Schriftsteller bezeichnet nun unter ausdrücklicher Berufung auf Agrippa die Weichsel als die Grenze zwischen Germanien und Sarmatien! Er schreibt, die Entfernung von der Donau bis zum nördlichen Ozean betrage 200 bis 1000 Meilen (296-1480 km) und von den Einöden Sarmatiens bis zur Weichsel 396 Meilen (586 km): Agrippa totum eum tractum ab Histro ad oceanum bis ad decies centenum milium passuum in longitudinem, quattuor milibus minus CCCC in latitudinem adflumen Vistlam a desertis Sarmatiae prodidit.13 Die Weichsel als östliche Grenze des Germanenlandes findet sich noch vor Plinius bei dem unter Kaiser Claudius (41-54) schreibenden Pomponius Mela und dann wieder in den spätantiken Schriften „Dimensuratio provinciarum" und „Divisio orbis terrarum", die beide zweifellos auf Agrippas Werk beruhen; der Flussname lautet hier Vistula.™ Die Erwähnung des Stromes bei Agrippa darf mithin als gesichert gelten, was eine Kenntnis Germaniens zumindest in Umrissen in seiner gesamten Ausdehnung bedeutet. 11

12 13 14

K. Brodersen, Terra Cognita. Studien zur römischen Raumerfassung, Hildesheim - Zürich - New York 1995, 268-287; Hänger, Welt im Kopf 148-156 geht weiterhin von der Form und Größe einer Karte aus. Plin., nat. hist. 3, 3, 17; vgl. R. Hanslik, M. Vipsanius Agrippa, RE 9 A 1 (1967) 1270f.; D. Kienast, Agrippa, DNP 1 (1996) 294-296; Timpe, Entdeckungsgeschichte 356f.; Engels, Strabon 369-377. Plin., nat. hist. 4, 81 = Quellen I 326f.; vgl. 564. Pomp. Mela 3, 33 = Quellen I 300f.; vgl. 547; Dim. prov. 19 = Quellen IV 232f.; vgl. 507f.; Div. orb. terr. 11 = Quellen IV 304f.; vgl. 537 alles in der Übersetzung und Kommentierung von H. Ditten; S. Gutenbrunner, Vistula, RE 9 A 1 (1967) 364f.; G. Η. Waldherr, Vistula, DNP 12/2 (2002) 254f.

87 Die Kenntnis der Weichsel vor dem Beginn der Feldzüge des Drusus wirft natürlich die Frage nach einer Kenntnis der Elbe zur gleichen Zeit auf. Mindestens drei Möglichkeiten dürfte es bei der Beantwortung geben. Zum einen braucht unsere Überlieferung in diesem Detail nicht repräsentativ zu sein und der Eindruck weitgehender Unkenntnis vom inneren Germanien, den die erhaltenen Quellen vermitteln, ist so nicht richtig. Die Vermutung wurde bereits geäußert, dass Poseidonios, Timagenes von Alexandria und Varro Kenntnisse besaßen, die nicht überliefert sind. Bei Caesar könnte vorhandenes Wissen bewusst keinen Niederschlag in seinen Schriften gefunden haben. Eine weitere Möglichkeit wäre, dass der Ausbau des gallischen Straßennetzes, die Lollius-Niederlage und der Aufenthalt des Augustus in Gallien sowie die Verlegung der Legionen an die Grenze dem Rhein spätestens seit dem beginnenden zweiten Jahrzehnt vor der Zeitenwende eine verstärkte Aufmerksamkeit zuteil werden ließ, die mit einer intensiveren Erkundung Germaniens einherging. Die bis dahin womöglich wirklich unbekannten Ströme im zentralen Mitteleuropa wären dann erst im Vorfeld eines sich abzeichnenden stärkeren Engagements Roms an seiner Nordgrenze bekannt geworden. Die commentarii geographici hätten dann auch neueste, vor allem der politischen Situation geschuldete Erkundungen enthalten, wozu mit Sicherheit die Elbe gehört haben dürfte. Von dieser Annahme oder der vorangehenden von einer bereits seit längerer Zeit existierenden Kenntnis wichtiger Ströme Germaniens muss ausgehen, wer römische Expansionsabsichten bis zur Elbe ab dem Jahre 12 v. Chr. unterstellt. Die dritte mögliche Variante wäre, dass die Kenntnisse der Römer vor dem Beginn der Feldzüge vom Niederrhein aus wirklich nicht weit ins Innere Germaniens gereicht hätten, wie aus der erhalten gebliebenen Überlieferung hervorgeht. Die Elbe wäre tatsächlich erst von Drusus „entdeckt" worden, was ja Strabon in dem mehrfach erwähnten Zitat suggeriert, und zwar nicht nur im allgemeinen Bewusstsein der griechisch-römischen Welt, sondern auch für geographisch interessierte Gelehrte. Dann wäre die weit im Osten fließende Weichsel, zu der niemals ein römisches Heer vorgedrungen ist, noch vor der Elbe bekannt geworden. Möglich gewesen sein könnte dies nur durch den Handelsweg der „Bernsteinstraße" von der Ostsee zur Donau. Handelsrouten waren ja generell für Nachrichten aus dem „Barbaricum" von wesentlicher Bedeutung. Auch eine Elbekenntnis vor den Drususfeldzügen ist nur durch Handelskontakte vorstellbar. Bei der Annahme dieser Variante hätte es eine Zeit lang zwar die Kenntnis der Germanien begrenzenden Flüsse, Rhein und Weichsel, gegeben, während der Raum dazwischen noch weitgehend als terra incognita betrachtet worden wäre. Etwa 20 Paragraphen nach der Ersterwähnung der Weichsel unter Berufung auf Agrippa zählt Plinius berühmte, in den Ozean mündende Ströme auf, neben der Weichsel die Elbe, die Weser, die Ems, den Rhein und die Maas: amnes clari in oceanum defluunt Guthalus, Visculus sive Vistla, Albis, Visurgis, Amisis, Rhenus, Mosa.15 Leider fehlt an dieser Stelle eine Quellenangabe. Wäre sie nämlich auf Agrippa zurückzuführen, läge damit die Ersterwähnung der Elbe in der Literatur vor. So verbleibt eine Kenntnis dieses Flusses bei Agrippa nur im Bereiche des Wahrscheinlichen. 15

Plin., nat. hist. 4, 100 = Quellen I 330f.; vgl. 570f.; der hier genannte Guthalus ist nicht eindeutig zu bestimmen, vermutet wurden Pregel oder Memel; weiteres dazu unten Kapitel X Seiten 207-208.

88

Das Jahr 12 ν. Chr. bedeutet im Rückblick einen Markstein sowohl in der Germanienpolitik des Imperiums als auch für die Erweiterung des geographischen Weltbildes der Griechen und Römer. In diesem Jahre begann das fast dreißigjährige Ringen um die Herrschaft in dem Gebiet zwischen Rhein und Elbe, das auf diesen Feldzügen nun auch näher erforscht wurde. In den ersten vier Jahren dieses Zeitabschnitts war der ältere Drusus die entscheidende Persönlichkeit auf der römischen Seite. Nero Claudius Drusus war der Sohn des Senators Ti. Claudius Nero und der Livia Drusilla, durch deren zweite Ehe mit Augustus er dessen Stiefsohn wurde. Geboren im Jahre 38 v. Chr., wuchs er zuerst bei seinem leiblichen Vater und erst nach dessen Tod im Hause des Augustus auf. Dieser erwirkte im Senat, dass Drusus den cursus honorum fünf Jahre vor dem üblichen Lebensalter beginnen konnte. Im Jahre 18 v. Chr. bekleidete er die Quästur und übernahm zwei Jahre später die prätorischen Amtsgeschäfte seines um vier Jahre älteren Bruders Tiberius, als dieser Augustus nach Gallien begleitete. Seine ersten Kriegserfahrungen sammelte Drusus zusammen mit seinem Bruder bei der Unterwerfung der Alpenvölker im Jahre 15, für seine Erfolge erhielt er die ornamenta praetoria. Im selben Jahr wurde sein ältester Sohn geboren, der später unter dem Namen Germanicus bekannt geworden ist. 16 v. Chr. hatte Augustus im Zuge seiner dynastischen Politik seinen Stiefsohn mit seiner Nichte Antonia minor, der jüngeren Tochter des Triumvirn M. Antonius und der Octavia, verheiratet. (Abb. 5) Zwei Jahre nach dem Alpenfeldzug wurde Drusus die Statthalterschaft der neu organisierten Tres Galliae übertragen, d. h. die Verwaltung des ganzen von Caesar eroberten Gebietes zwischen Pyrenäen, Atlantik, Ärmelkanal und Rhein, nunmehr eingeteilt in die drei Provinzen Aquitania, Gallia Lugdunensis und Belgica. Sein Titel als Vertreter des Kaisers war legatus Augustipro praetore, seine Residenz Lugdunum, das heutige Lyon, wo im Jahre 10 sein drittes Kind, der spätere Kaiser Claudius, geboren wurde. Die wichtigste Aufgabe zu Beginn seiner Statthalterschaft war der Abschluss der administrativen Neuordnung der gallischen Provinzen und die Durchführung eines umfassenden Census, der Volkszählung und Vermögensschätzung verband und zu Unruhen bei der Bevölkerung führte. Zur Besänftigung der einheimischen Aristokratie wurde diese am 1. August 12 v. Chr. zur Weihe der ara Romae et Augusti, des künftigen Zentralheiligtums der drei Provinzen, nach Lugdunum eingeladen. Die Weihe erfolgte am Jahrestag der Eroberung Alexandrias im Jahre 30 v. Chr., womit die Ära der Bürgerkriege ihren Abschluss gefunden hatte und am dritten Jahrestag der Entscheidungsschlacht gegen die Alpenvölker.16 Der 1. August dieses Jahres ist als terminus post quem wichtig, da sich an die Weihe des Altars Drusus' erster Germanenfeldzug anschloss.17 Die durch den Census und die Steuerpolitik verursachten Unruhen in Gallien und im linksrheinischen Gebiet nutzten die Sugambrer, Usipeter und Tenkterer zu einem neuen Einfall in die römische Provinz. Es sollte der letzte derartige Vorstoß werden, der in einer Reihe vergleichbarer Vorgänge seit dem Jahre 55 v. Chr. stand. Denn jetzt ermöglichten die an den Niederrhein vorverlegten Legionen einen Akt sofortiger Vergeltung. Drusus brachte den Sugambrern und ihren Bundesgenossen am Strom selbst eine schwere

16 Zu Drusus vgl. Stein, Claudius 139, RE 3, 2 (1899) 2703-2719; PIR2 II (1936) C 857; P. Moeller, Drusus (maior), RGA 6 (1986) 204-215; D. Kienast, Nero Claudius Drusus, DNP 3 (1997) 15f. 17 Zur Diskussion dieses Datums, das bei Suet., Claud. 2, 1 erst auf das Jahr 10 v. Chr. bezogen wird, vgl. Stein, RE 3, 2 (1899) 2709; Moeller, RGA 6 (1986) 206 und Becker, Chatten 126.

Abb. 5: Drusus der Ältere

90 Niederlage bei und stieß mit seinen Truppen anschließend in rechtsrheinisches Gebiet vor. Der erste Schlag richtete sich gegen die Usipeter jenseits der Bataverinsel, der zweite gegen die zwischen Lippe und Ruhr siedelnden Sugambrer, deren Land verwüstet wurde. Im Anschluss daran segelte der Statthalter mit einer Flotte rheinabwärts, brachte die Friesen in Abhängigkeit und gelangte durch das Seengebiet des heutigen Ijssel-Meeres zu den Chauken an die Nordseeküste. Auf der Rückfahrt geriet die Flotte durch die den Römern bisher unbekannte Ebbe in große Gefahr, sie strandete durch den Gezeitenwechsel und wurde nur durch die zu Lande mitgezogenen Friesen gerettet. Das Unternehmen wurde zu Einbruch des Winters mit dem Rückzug in die linksrheinischen Militärlager beendet.18 Wie grundlegend sich die Verhältnisse im Grenzbereich in den Jahren seit der LolliusNiederlage geändert hatten, zeigen die Existenz einer Flotte und des Kanals fossa Drusiana. Wenn Drusus im Herbst 12 v. Chr. mit einer Flotte eine Expedition bis zu den Chauken unternehmen konnte, dann muss diese zumindest zum Teil bereits vor dem Einfall der Sugambrer vorhanden gewesen sein. Die Annahme liegt nahe, dass mit dem Schiffbau begonnen wurde, seitdem Legionen am Rhein stationiert waren. Mit einer Flotte ließ sich der Strom als Wasserweg zu den verschiedenen Truppenlagern nutzen, die Flussgrenze noch besser überwachen und schließlich die Nordseeküste erkunden. Für die Fahrt des Jahres 12 dürften dann vor allem seetüchtige Schiffe gebaut und requiriert worden sein; Caesar hatte für seine zweite Britannienfahrt eine Flotte den ganzen Winter 55/54 über von seinen Soldaten und von gallischen Stämmen bauen lassen.19 Der Aufbau einer Rheinflotte wird zu den Maßnahmen gehört haben, die wie der Straßenbau der Verbesserung des Verkehrssystems dienten. Vor dem Feldzug des Jahres 12 ist wohl auch die Anlage der fossa Drusiana, eines Kanals, der den Alten Rhein von Vechten aus mit dem Ijsselmeer verband, anzusetzen. Der Kanal verkürzte die Strecke vom Rhein zur Nordsee unter Umgehung des Rheindeltas. Nach Drusus ist er im Jahre 5 n. Chr. von Tiberius, 15 und 16 von Germanicus genutzt worden.20 Zu der Flottenexpedition des Drusus im Jahre 12 gehören wohl auch die Eroberung der Insel Byrchanis und die Entdeckung der Ems, auf der ein Seegefecht gegen die Brukterer stattfand. Beide Ereignisse werden bei Strabon unter direkter Bezugnahme auf den Prinzen aus dem Kaiserhaus, jedoch ohne genaue Datierung überliefert. Der Geograph schreibt, Drusus habe die Inseln, an denen er vorbeifuhr, unterworfen, darunter die Insel Βυρχανίς, die er nach einer Belagerung einnahm. Beim älteren Plinius begegnet sie unter dem Namen Burcana, der sich in „Borkum" bis heute erhalten hat. Im Altertum war die Insel offenbar sehr viel größer. Man vermutet, dass sie neben Borkum auch Juist und Norderney umfasste sowie eine im Jahre 1690 untergegangene Insel. Die großen Küstenverlagerungen der letzten 2000 Jahre im Bereich der West- wie Ostfriesischen Inseln machen jegliche Einschät-

18

19 20

Cass. Dio 54, 32,1-3 = Quellen 296-299; vgl. 608; Goetz/Welwei II 16-19; Tac., ami. 4, 72,1 = Quellen III 142f.; 525f. in der Übersetzung und Kommentierung des Verf.; zu diesem Feldzug des Jahres 12 vgl. Stein, RE 3, 2 (1899) 2710f.; Timpe, Rheingrenze 141-144; Moeller, RGA 6 (1986) 205-207; Wolters, Herrschaftsorganisation 158-161; Becker, Chatten 131-137; Bleicken, Augustus 576-578; Kehne, Offensiven 305-310. Caes., b. G. 5, 1,1^1; 5, 5,2. Tac., ann. 2, 8,1 = Quellen III 118f.; vgl. 516; Wells, Policy 101-116.

91 zung von Lage und Umfang Burcanas schwer.21 In jedem Fall handelt es sich dabei um ein Gebiet vor der Emsmündung, weshalb deren Erwähnung bei Strabon kurz vor der Nennung von Byrchanis mit den Vorgängen um die Insel verbunden sein muss. Als einen Fluss zwischen Rhein und Elbe, der gleichfalls von Süden nach Norden in den Ozean fließt, nennt der griechische Schriftsteller die Ems, auf der Drusus mit seiner Flotte die Brukterer besiegt habe: έν τω 'Αμασΐςϊ Δροΰσος Βρουκτέρους κατεναυμάχησε ... Der Fluss Amisia und der germanische Stamm tauchen in diesem Zusammenhang erstmals in der Überlieferung auf.22 Die Erwähnung der Chauken bei Cassius Dio hat zu der Vermutimg geführt, dass die Expedition des Jahres 12 v. Chr. schon bis zur Wesermündung gegangen sei, was jedoch nicht beweisbar ist. Die Weser sollte jedoch der nächste Fluss sein, der den Römern in diesen Jahren bekannt geworden ist. Für die wenigen Monate von August bis zum Wintereinbruch sind die militärischen Unternehmungen gegen Usipeter, Sugambrer und Brukterer sowie die Besuche bei Friesen und Chauken fast zuviel, weshalb verschiedentlich in der Forschung auch erwogen wurde, ob Strabons Angaben sich nicht auf eine zweite Flottenfahrt im Jahre 11 beziehen könnten. Dieser Ansicht steht wiederum entgegen, dass Drusus' Anwesenheit bei zwei Flottenoperationen nirgends belegt ist.23 Was man auch immer für das Geschehen des Jahres 12 annimmt, es war in jedem Fall sehr bewegt. Zum Jahresende reiste Drusus nach Rom, wo er für das folgende zum praetor urbanus gewählt wurde, nachdem er die ornamenta praetoria schon mehrere Jahre zuvor erhalten hatte. Der Aufenthalt in der Hauptstadt dürfte sich auf wenige Wochen beschränkt haben, denn bereits im Frühjahr 11 v. Chr. wurde der Krieg am Niederrhein erneut aufgenommen, wie es scheint, ohne dass es einen konkreten Anlass von germanischer Seite dafür gegeben hat. Der Kriegsschauplatz weitete sich jetzt beträchtlich in das Innere Germaniens aus. Drusus zog vermutlich von Vetera aus mit seinem Heer erneut gegen die Usipeter, die nun vollständig unterworfen wurden, ließ eine Brücke über die Lippe errichten und fiel in das Land der Sugambrer ein. Diese waren mit ihrem Aufgebot nach Süden gegen die Chatten gezogen, die sich als einziger Germanenstamm dieses Raumes einem antirömischen Bündnis verweigert hatten. Die Abwesenheit der Sugambrer erleichterte den Römern den Weitermarsch in östlichere Gebiete, womit auch an den Konflikten der vorangegangenen Jahre unbeteiligte Stämme in das Geschehen mit hineingezogen wurden. Offenbar ohne größere Kampfhandlungen zog Drusus durch das Gebiet der Cherusker bis an die Weser:

21

22

23

Strab. 7, 1, 3 p. 291 C = Quellen I 232f.; vgl. 513; Plin., nat. hist. 4, 97 = Quellen I 328f.; vgl. 568; G. Neumann/R. Wenskus/W. Haarnagel, Burcana, RGA 4 (1981) 113-117; Moeller, RGA 6 (1986) 205f.; Wolters, Herrschaftsorganisation 159; Becker, Chatten 133f. Strab. 7, 1, 3 p. 290 C = Quellen I 232f.; vgl. 511; Ihm, Amisius, RE 1, 2 (1894) 1838; W. Sontheimer, Amisia, Kl. Pauly 1 (1964) 300; R. Wenskus, Amisia, RGA 1 (1973) 253; K. Dietz, Amisia, DNP 1 (1996) 591 f. Für das Jahr 11 v. Chr. als Datum einer zweiten Flottenfahrt sprechen sich u. a. Timpe, Rheingrenze 143f. und Wolters, Herrschaftsorganisation 165 aus; dazu Becker, Chatten 133f.; zu den chronologischen Schwierigkeiten des Jahres 12 v. Chr. Moeller, RGA 6 (1986) 205f. und Kehne, Offensiven 308310.

92 και ές τήν Χερουσκίδα ττροεχώρησε μέχρι τοϋ Ούισούργου.24 Die Nennung dieses Stammes lässt vermuten, dass der Fluss in seinem mittleren Abschnitt zwischen Hameln und Höxter/Corvey erreicht wurde. Wie durchweg in unseren Quellen für die Römerzüge der augusteischen Zeit sind die Routen der Heereszüge nur sehr allgemein charakterisiert, durch die Nennung von Territorien einzelner Stämme oder durch Flussläufe, in diesem Fall der Lippe. Das Lippetal ist in der Folgezeit zur wichtigsten „Einfallstraße" in das nördliche Germanien ausgebaut worden, doch im Frühjahr 11 v. Chr. war dies noch nicht der Fall. Da Drusus zudem den Fluss in Richtung Süden überquert hat, bietet sich der Hellweg als seine mögliche Route zur Weser an. Diese alte Überlandverbindung vom Rhein an die Weser ist den Römern mit Sicherheit spätestens bei der Verlegung ihrer Legionen an den Rhein und der Auswahl der Standorte für Militärlager bekannt geworden. Der Hellweg führte entlang der nördlichen Schwelle des Mittelgebirgsraumes parallel zu den Flussläufen von Ruhr und Lippe und war im Unterschied zu Landwegen im feuchten norddeutschen Tiefland ganzjährig begeh- und befahrbar. Er begann am Rhein beim heutigen Duisburg und ist in einem langen Abschnitt von Essen über Dortmund und Soest nach Paderborn als Bundesstraße 1 noch heute erkennbar. Es wäre sehr erstaunlich, wenn Drusus bei der Unerschlossenheit des von ihm durchzogenen Gebietes, in dem Flussläufe und Handelswege die wichtigsten Orientierungshilfen waren, nicht eine der häufig begangenen Routen in Erfahrung gebracht und auch genutzt hätte. In diesem Fall wäre die Gegend um Höxter und Corvey der wahrscheinlichste Punkt, an dem die Römer erstmals die Weser erreicht hätten.25 Die Weser wird in der „Römischen Geschichte" des Cassius Dio zu den Ereignissen des Jahres 11 v. Chr. erstmals erwähnt unter dem bei anderen Autoren nur noch einmal als Variante bei Ptolemaios vorkommenden Namen Ούίσουργος. Die älteste Nennung liegt bei Strabon vor bei einer Aufzählung verschiedener germanischer Stämme, wobei auch Ems und Lippe genannt werden; der Geograph verwendet die Namensform Βίσουργις.26 Die dem entsprechende lateinische Version Visurgis taucht erstmals bei Vellerns Paterculus im Zusammenhang mit Ereignissen des Jahres 4 n. Chr. auf.27 Mit Truppenverbänden sind die Römer nach dem Jahre 11 v. Chr. mit Sicherheit noch 9 v. Chr. unter Drusus, 4 und 5 n. Chr. unter Tiberius, 9 n. Chr. unter Varus und im Jahre 16 unter Germanicus an die Weser gekommen. Der Fluss hätte als eine dem Niederrhein vorgelagerte Grenzlinie größere Bedeutung erlangen können, wenn Drusus nicht zwei Jahre später bis zur Elbe gelangt wäre. Seitdem richtete sich die Aufmerksamkeit der römischen Öffentlichkeit auf den größeren Strom in der Mitte Germaniens und ließ die Weser im Verlauf der weiteren Feldzüge der augusteischen Zeit etwas in den Hintergrund treten. Größere Aufmerksamkeit wurde ihr erst wieder in den Feldzügen des Germanicus zuteil, fand doch an ihren Ufern die große Auseinandersetzung von Idistaviso statt. Nach dem endgültigen Rückzug der römischen Truppen 24 25 26

27

Cass. Dio 54, 33, 1-2 = Quellen III 298f.; vgl. 608; GoetzAVelwei II 18-21. P. Leidinger, Hellweg, Lexikon des Mittelalters 4 (1989) 2122f.; E. Meineke/Th. Schilp, Hellweg, RGA 14(1999)313-317. Strab. 7, 1, 3 p. 291 = Quellen I 232f.; vgl. 513; bei Ptolemaios 2, 11, 1 und 7 = Quellen III 214f. und 218f.; vgl. 559-561 und 567-569 in der Übersetzung und Kommentierung von H. Ditten, W. O. Schmitt und G. Chr. Hansen findet sich sowohl die von Dio wie die von Strabon verwendete Namensform. Veil. Pat. 2, 105, 1 = Quellen I 268f.; vgl. 528f. in der Übersetzung und Kommentierung von G. Audring und H. Labuske.

93 auf die Rheinlinie schwindet dann das Interesse an dem Strom, der zwischen 9 v. Chr. und 9 n. Chr. mitten durch römisches Einflussgebiet floss. Genannt wird er danach fast nur noch von geographischen Autoren, während der Elbe ein bedeutsameres literarisches „Nachleben" beschieden war.28 Von Cassius Dio wird das Erreichen der Weser als ein wichtiges Ereignis angesehen. Zu einem unbekannten Fluss am Rande der Oikumene mit Heeresmacht vorzustoßen, war eine Demonstration römischer Macht und eine Ruhmestat für den betreffenden Feldherrn, der damit zugleich auch ein Entdecker war. Noch größeren Ruhm hätte sich Drusus nach der Meinung des senatorischen Historikers verdient, wenn er die Weser nicht nur erreicht, sondern auch überschritten hätte. Deshalb glaubt er, drei Gründe anführen zu müssen, warum die Flussüberschreitung unterblieb. Was zwei Jahre später am Ufer der Elbe zu einer ganzen Legende ausgesponnen wird, findet sich im Ansatz bereits hier. Dio schreibt, Drusus hätte auch die Weser überschritten, wenn er genügend Lebensmittel gehabt und nicht der Winter bevorgestanden hätte; außerdem wäre in seinem Lager ein Bienenschwarm - ein Unheil verkündendes Vorzeichen - erschienen: και διέβη αν και τόν Ούίσουργον, ει μή των τε έπιτηδείων έσπάνισε και ό χεμών ένέστη καί τι και σμήνος έν τφ στρατοττέδω αΰτοΰ ώφθη.29 Versorgungsschwierigkeiten und Nachschubprobleme sind beim Vorstoß eines großen Truppenverbandes in unbekanntes Territorium natürlich ohne weiteres anzunehmen, einbrechender Winter und das Omen des Bienenschwarms schließen einander jedoch aus. Zwei Befunde sprechen dafür, dass der „Wintereinbruch" an dieser Stelle nur ein Topos zur Erklärung der Umkehr ist.30 Der Bienenschwarm im Lager des Drusus wird auch vom älteren Plinius und vom spätantiken, den Livius ausschreibenden Julius Obsequens erwähnt und jeweils mit Kämpfen gegen die Germanen verbunden.31 An der ersten Stelle steht er im Zusammenhang mit einem Kampf bei einem unbekannten Ort namens Arbalo, an der zweiten mit einem für die Römer verderbenbringenden Hinterhalt. Beide Angaben lassen sich nun mit den Nachrichten verbinden, die Cassius Dio über den Rückmarsch von der Weser an den Rhein überliefert. Das Heer des Drusus wurde von Germanen, in denen man vor allem die von den Chatten zurückgekehrten Sugambrer vermuten kann, mehrfach angegriffen und schließlich in einem engen Tal eingeschlossen. Nur mit größter Mühe entgingen die Römer einer katastrophalen Niederlage.32 Der gefährliche Rückzug zeigt, dass der Vorstoß ins Landesinnere bis zur Weser ein hohes Risiko in sich barg, weil mit den Sugambrern ein beachtliches militärisches Potential im Rücken der Römer verblieben war. Nach geglückter Überwindung der Gefahr ließ der Prinz noch vor der Rückkehr an den Rhein zwei Kastelle im Germanenland errichten, eines am Zusammenfluss von Lippe und Elison und eines im

28

Vgl. S. Gutenbrunner/W. John, Visurgis, RE 9 Al (1967) 366-371; H. Cüppers, Visurgis, Kl. Pauly 5 (1975) 1302; R. Wiegels, Visurgis, DNP 12/2 (2002) 255. 29 Cass. Dio 54, 33,2 = Quellen III 298f.; vgl. 608. 30 So schon K. Christ, Nero Claudius Drusus, Phil. Diss. Tübingen 1953, 49, worauf Becker, Chatten 140 verweist. 31 Plin. nat. hist. 11, 55 = Quellen I 338f.; vgl. 575; Iul. Obs. 72 = Quellen IV 164f.; vgl. 480 in der Übersetzung und Kommentierung von R. Johne; B. Manuwald, Cassius Dio und Augustus, Wiesbaden 1979, 248f. 32 Cass. Dio 54, 33, = Quellen III 298f.; vgl. 608.

94 Gebiet der Chatten. Schon aus der sich allein aus den literarischen Quellen ergebenden Chronologie kann somit der Aufbruch von der Weser unmöglich erst bei Wintereinbruch erfolgt sein und das „Vorzeichen" des Bienenschwarms muss in den Sommer oder Frühherbst des Jahres 11 v. Chr. angesetzt werden. Durch neuere Ergebnisse der archäologischen Forschung lässt sich dieser Befund noch weiter präzisieren. Das Kastell an der Stelle, wo Lippe und Elison sich vereinigen - δ τε Λουπίας και ό Έλίσων - lässt sich jetzt relativ sicher mit dem Legionslager von Oberaden am Zusammenfluss von Lippe und Seseke identifizieren. Oberaden gehört heute zu Bergkamen zwischen Dortmund und Hamm. Das Legionslager wird durch zahlreiche gut erhaltene Holzreste mit Hilfe der Dendrochronologie in den Spätsommer bzw. den Herbst des Jahres 11 datiert. Da man für den Bau je nach der Zahl der daran beteiligten Legionäre eine Arbeit von mindestens einigen Wochen, wenn nicht von mehreren Monaten veranschlagen muss, kann sich das Heer des Drusus nur für kurze Zeit im späten Frühjahr oder im zeitigen Sommer an der Weser aufgehalten haben. Von dem „bevorstehenden Winter" als Grund für den Rückweg wird man sich wohl endgültig zu verabschieden haben. Das Lager von Oberaden war etwa 56 ha groß, umgeben von einer 2,7 km langen und 3 m breiten Holz-Erde-Mauer, der ein 4-5 m breiter und 2-3 m tiefer Spitzgraben vorgelagert war. Die Anlage konnte zwei bis drei Legionen des römischen Heeres als Unterkunft dienen und war die erste starke Militärbastion im Innern Germaniens.33 Die Lage an der Lippe im Grenzraum der Stammesgebiete von Usipetern und Sugambrern ermöglichte die Kontrolle beider Stämme, hauptsächlich dürfte die Anlage jedoch gegen die Sugambrer gerichtet gewesen sein, die sich in den Jahren der Drususfeldzüge immer wieder als die gefährlichsten Gegner erwiesen hatten. Der Bau von Oberaden unterstrich ein über den einzelnen Feldzug hinausgehendes römisches Engagement im rechtsrheinischen Germanien. Das Lager war für eine Überwinterung geeignet und dürfte 11 auf 10 v. Chr. erstmals dafür genutzt worden sein. Die Lage an der Lippe ermöglichte eine Schiffsverbindung an den Rhein und damit eine kontinuierliche Versorgung der dort stationierten Truppen von Vetera aus. Dass die Lippe in dieser Zeit in ihrem unteren und vielleicht auch in ihrem mittleren Verlauf sogar für Dreiruderer befahrbar gewesen ist, beweist ein Ereignis aus dem Bataveraufstand im Jahre 70 n. Chr.34 Erst nach dem Bau der beiden Militärlager kehrten die Truppen oder doch deren größerer Teil in die Winterquartiere zurück. Drusus selbst reiste nach Rom. Die Ereignisse des Jahres wurden als Erfolge bewertet, wenn auch die Sugambrer nicht besiegt worden waren und die Kämpfe sich nunmehr auf weitere Stämme ausgeweitet hatten. Livius berichtet für dieses Jahr noch von der Unterwerfung der Cherusker, Tenkterer und Chauken.35 Während die beiden ersten Stämme auf dem Wege zur Weser unterworfen worden sein können, dürfte die Unterwerfung der Chauken einem Legaten anvertraut worden sein. Die Soldaten und der 33

S. von Schnurbein, Untersuchungen zur Geschichte der römischen Militärlager an der Lippe, BRGK 62, 1981, 5-101, bes. 79-86 und 92-97; Römer in Nordrhein-Westfalen 355-360; Kühlborn, Germaniam pacavi 103-124; Fischer, Römer 24f.; Eggenstein, Siedlungswesen 13-39. 34 Tac., hist. 5, 22, 3 = Quellen III 90f.; vgl. 505 in der Übersetzung und Kommentierung von H. Labuske/A. Roggisch/G. Bockisch; vgl. E. Bremer, Die Nutzung des Wasserweges zur Versorgung der römischen Militärlager an der Lippe, Münster 2001. 35 Liv. per. 140 = Quellen I 210f.; vgl. 500 in der Übersetzung und Kommentierung von R. Johne und H. Labuske.

95 Senat feierten Drusus als Sieger, Augustus relativierte jedoch die ihm zugedachten Ehrungen. Zwar erhielt er das Recht, zu Pferde in Rom einzuziehen, jedoch an Stelle des ihm vom Senat zuerkannten Triumphes musste er sich mit den Triumphalinsignien, den ornamenta triumphalia, begnügen, wie es für die Feldherren des Prinzipats gängige Praxis wurde. Dasselbe trifft für den Imperatorentitel zu, den Augustus deshalb verweigerte, weil er als eine Designation für die Nachfolge verstanden werden konnte. Die Imperatorenakklamation für Drusus übertrug der Kaiser vielmehr auf sich selbst, ab diesem Jahr erscheint imperator XII in seiner Titulatur. Zum Jahresende 11 v. Chr. lief die Zeit der Prätur des Prinzen ab und er erhielt mit Beginn des neuen Jahres das imperium proconsulare und damit die statthalterliche Befehlsgewalt, mit der er dann bis zu seinem frühen Tod ausgestattet war.36 Die Ehrungen des Drusus lassen vermuten, dass man in Rom am Ende dieses ereignisreichen Jahres die Rheingrenze in ihrem Vorfeld durch verschiedene Machtdemonstrationen und die Anlage von zwei Stützpunkten für gesichert hielt und nicht an eine baldige Fortsetzung der Kämpfe dachte. Dafür spricht vor allem die Tatsache, dass in dieser Zeit vom Senat für das Jahr 10 v. Chr. die Schließung des Janus-Tempels angeordnet worden ist mit der Begründung, im ganzen Reich herrsche Frieden.37 Anzeichen für eine planmäßig und gezielt vorangetriebene Eroberung im rechtsrheinischen Land sind zu dieser Zeit noch nicht zu erkennen, wenn auch der Feldzug von 11 v. Chr. in verschiedener Hinsicht einen bemerkenswerten Einschnitt bedeutet. Erstmals hatten die Römer offenbar nicht mehr nur auf Einfälle von germanischer Seite reagiert, wie stets zwischen 55 und 12 v. Chr., sondern waren von sich aus und ohne akuten Anlass über die Niederrheingrenze weit in das Landesinnere vorgestoßen, über die Territorien der von ihnen als Störenfriede ihres Herrschaftsbereiches empfundenen Stämme hinaus. Ebenfalls zum ersten Male wurde mit der Weser eine im zentralen Germanien verlaufende Flusslinie erreicht, die als Begrenzung eines erweiterten Einfluss- oder Herrschaftsgebietes in Betracht kam. Wie die Flottenexpedition des Vorjahres diente wohl auch der Zug an die Weser der geographischen Erkundung des Vorfelds der neuen Reichsgrenze im Norden, die ja trotz des seit Caesar bestehenden Anspruchs tatsächlich erst vor wenigen Jahren richtig ausgestaltet worden war. Und schließlich wurde mit Oberaden der erste große Militärstützpunkt doch schon in beträchtlicher Entfernung vom Rhein angelegt. Dies lässt zwar noch nicht auf einen groß angelegten Eroberungsplan schließen, wohl aber auf ein dauerhaftes Engagement in diesem Gebiet.38 Zu der in Rom beabsichtigten Schließung des Janus-Tempels ist es nicht gekommen. Im Winter 11 auf 10 fielen Daker über die zugefrorene Donau in das vor wenigen Jahren erst dem Reich angegliederte Pannonien ein und plünderten es, und die Dalmater in Illyricum lehnten sich gegen die Eintreibung der Tribute auf. Etwa gleichzeitig oder bald danach brach auch in Germanien der Krieg wieder aus. Augustus war mit seinen Stiefsöhnen wohl noch im Winter von Rom nach Lugdunum gereist. Es liegt nahe, dass der Kaiser mit seinen beiden Feldherren hier ausführlich die Germanienpolitik erörterte, die sich aus den Ergebnissen der Feldzüge der beiden letzten Jahre ableiten ließ. Dios Bemerkung, Augustus habe von der Provinz (Gallia) Lugdunensis aus das Verhalten der Germanen beobachtet, spricht 36 Cass. Dio 54, 33, 5 = Quellen III 298f. 37 Cass. Dio 54, 36,2. 38 Zum Feldzug des Jahres 11 vgl. Stein, RE 3, 2 (1899) 271 lf.; Timpe, Rheingrenze 144; Moeller, RGA 6 (1986) 207-209; Wolters, Herrschaftsorganisation 162-165; Trzaska-Richter 136-138; Becker, Chatten 137-147; Becker, Logistik 46; Bleicken, Augustus 579; Kehne, Offensiven 310-312.

96 dafür.39 Vielleicht ist zu diesem Zeitpunkt der Plan weiterer Eroberungen im Gebiet zwischen Rhein und Weser, Nordseeküste und Main gefasst worden. Die Ereignisse im Donauraum riefen Tiberius dorthin, während Drusus nunmehr zu einem dritten Germanienfeldzug aufbrach, bei dem sich das Kampfgebiet in Richtung Süden bis an den Main ausdehnte. Der eindeutige Anlass dafür war das Verhalten der Chatten, die ihr Bündnis mit den Römern aufgekündigt hatten. Nach der Übersiedlung der Ubier in die Kölner Bucht hatten die Chatten deren bisheriges Siedlungsgebiet mit römischer Genehmigung in Besitz genommen und sich bis zum Jahre 11 v. Chr. der von den Sugambrern angeführten antirömischen Koalition fern gehalten. Bis zum Eintreffen der Legionen dürften sie für einen Teil der Rheingrenze den Schutz im römischen Auftrag übernommen haben. Das ihnen angewiesene Siedlungsgebiet wird zwischen Sieg und Lahn, vor allem im Neuwieder Becken, vermutet. Die Errichtung eines Kastells in ihrem Siedlungsraum während des Feldzuges im Voijahr dürfte den politischen Umschwung bei den Chatten bewirkt und eine antirömische Gruppierung an die Macht gebracht haben. Ende des Jahres 11 oder Anfang 10 fiel der Stamm von den Römern ab, verließ das bisherige Siedlungsgebiet und schloss sich den Sugambrern an. Der im Frühjahr 10 v. Chr. begonnene Feldzug des Drusus setzt den erfolgten Abfall voraus. Über den Unterwerfungs- und Verwüstungsfeldzug gegen die Chatten und die Sugambrer in diesem Jahr sind keine näheren Angaben bekannt.40 Geführt wurde er nun nicht mehr allein von den Legionslagern Vetera und Mogontiacum aus, sondern auch von den rechtsrheinischen Kastellen Oberaden und dem nicht lokalisierbaren im Chattenland. Trotz einer Siegesfeier am Jahresende hatten die Unternehmungen von 10 keinen durchschlagenden Erfolg gebracht, denn der Krieg gegen die Chatten musste im folgenden Jahr fortgesetzt werden. Wohl in dieses Jahr fallt auch noch ein Sieg des Drusus über die damals noch im Maingebiet siedelnden Markomannen.41 Im Herbst reiste der Feldherr nach Gallien zu Augustus und mit ihm und seinem Bruder Tiberius nach Rom. Am 1. Januar 9 v. Chr. trat Nero Claudius Drusus sein Konsulat an, sein Kollege im Amt war der Senator T. Quinctius Crispinus Sulpicianus. Das Konsulatsjahr, es war das 745. der Varronischen Ära in der Zählung ab urbe condita, sollte Drusus seinen größten Erfolg - und den Tod bringen; mit diesem Jahr trat die Elbe als bedeutender Strom in das allgemeine Bewusstsein der griechisch-römischen Welt. Der Prinz reiste wiederum durch Gallien an den Rhein, wobei er im Gebiet des Stammes der Lingonen an der Seine einen Tempel des Augustus weihte. Ausgangspunkt dieses vierten Feldzuges im Frühjahr 9 v. Chr. war mit größter Wahrscheinlichkeit Mainz, das südliche der beiden großen Legionslager am Rhein, das sicher auch im Voijahr schon eine Rolle gespielt hatte. Der erste Stoß war wiederum gegen die Chatten gerichtet und dürfte durch die Wetterau geführt worden sein. Von dort zog er in das östlich der Chatten gelegene Suebenland - μέχρι της Σουηβίας - , und weiter in das Gebiet der Cherusker - πρός τε τήν Χερουσκίδα - an der Weser. Damit war der bereits zwei Jahre zuvor berührte östlichste Punkt der bisherigen Feldzüge wieder erreicht. Die Kämpfe bis dorthin müssen erbittert gefuhrt worden sein. Nach Cassius Dio „unterwarf er nur unter Mühen, was ihm in den Weg

39 40 41

Cass. Dio 54, 36,2-4 = Quellen III 300f.; vgl. 608f. und Bleicken, Augustus 579f. Cass. Dio a. a. O.; vgl. Stein, RE 3, 2 (1899) 2712; Timpe, Rheingrenze 144f.; Moeller, RGA 6 (1986) 209; Wolters, Herrschaftsorganisation 165-167; Becker, Chatten 147-151; Bleicken, Augustus 580. Flor. 2, 30, 23 = Quellen III 178f.; vgl. 540 in der Übersetzung und Kommentierung von G. Audring.

97 kam, und jeden Sieg über seine Gegner musste er mit Blut erkaufen".42 Die hohen Verluste des römischen Heeres zeigen, dass die germanischen Stämme im nordwestlichen Deutschland auch noch im vierten Kriegsjahr nicht zu unterschätzende Gegner gewesen sind. Mit dem Feldzug 9 v. Chr. wird die Zerstörung des oppidum auf dem Dünsberg bei Gießen in Verbindung gebracht, wo römische Waffen und militärische Ausrüstungsgegenstände gefunden worden sind.43 Die Kämpfe hier an der Lahn dürften gegen die Chatten geführt worden sein. In deren Lande war wohl im Jahre zuvor das Nachschublager Rödgen angelegt worden bei Bad Nauheim in der Wetterau. Das 3,3 ha große von Graben und Holz-ErdeMauer gesicherte Lager war ein Versorgungsstützpunkt mit drei großen Speichergebäuden und vom Main aus mit Frachtkähnen erreichbar. Vielleicht schon auf dem Feldzug des Jahres 10, mit Sicherheit aber auf dem des Jahres 9 v. Chr. fiel der Anlage in Rödgen eine wichtige Aufgabe zu.44 Dieses Mal machte Drusus aber an der Weser nicht Halt, sondern überquerte den Fluss, wovon ihn im Sommer 11 v. Chr. Versorgungsprobleme, der „Wintereinbruch" und ein Bienenschwarm abgehalten hatten. Eine plausible Erklärung für sein Verhalten wäre, dass sich die Cherusker beim Nahen des römischen Heeres über die Weser zurückgezogen haben und der Prinz im Zuge der weiteren Verfolgung dieses Stammes bis zur Elbe vorstieß - wie zu Beginn des Kapitels ausgeführt. Für seine Marschroute gibt es leider nur die sehr allgemeinen Fixpunkte „Cherusker", „Weser" und „Elbe". Wenn man an der Weser den Abschnitt zwischen Hameln und Höxter/Corvey als den wahrscheinlichsten, an dem die Römer 11 v. Chr. den Fluss erreichten, in Betracht zieht, dann ist ein weiterer Vormarsch nördlich des Harzes anzunehmen. Er würde an die Elbe im Raum des späteren Magdeburg führen, wo der große Strom Innergermaniens in seinem Mittellauf am weitesten nach Westen reicht. Für die einst von L. Schmidt vorgeschlagene Wegstrecke: „vom unteren Main auf der so genannten Weinstraße nach der Lippequelle, von da über Horn nach Hameln (Weserübergang) und weiter ostwärts über Elze, Hildesheim gegen Magdeburg" haben sich in neuerer Zeit auch K. Christ, D. Timpe und J. Deininger ausgesprochen.45 Nach der kürzlich erfolgten Auffindung des Lagers Hedemünden ist allerdings der Weserübergang eine ganze Strecke weiter südlich an der unteren Werra, die als „obere Weser" verstanden wurde, wahrscheinlicher. Von dort führte der Zug entweder weserabwärts oder gleich zur Leine und von dort nördlich am Harz vorbei.46 Die Nennung der Saale für Ereignisse desselben Sommers hat zu der Vermutung geführt, dass das Heer des Drusus die Elbe in der Nähe der Saalemündung erreichte, also eine Strecke elbaufwärts beim heutigen Barby.47 42 43

44 45

46 47

Cass. Dio 5 5 , 1 , 1 - 2 = Quellen III 300f.; vgl. 609; Goetz/Welwei II 20-23. Becker, Chatten 151f.; vgl. 60f.; S. von Schnurbein, Die augusteischen Stützpunkte in Mainfranken und Hessen, in: Römer zwischen Alpen und Nordmeer 34; ausfuhrlich Ch. Schlott, Zum Ende des spätlatenezeitlichen Oppidums auf dem Dünsberg. Forschungen zum Dünsberg 2, Montagnac 1999, 63-66. Becker, Chatten 144f.; Becker, Logistik 45; S. von Schnurbein, a. a. O.; ausführlich H. Schönberger/H.G. Simon, Römerlager Rödgen, Limesforschungen 15, Berlin 1976. L. Schmidt, Geschichte der deutschen Stämme bis zum Ausgang der Völkerwanderung. Die Westgermanen, Band 1, München 1938 (Nachdruck 1970), 95; vgl. Becker, Chatten 152f.; K. Christ, Drusus und Germanicus, Paderborn 1956 , 52f.; ders., Geschichte der römischen Kaiserzeit von Augustus bis Konstantin, München 1988, 128; D. Timpe, Drusus' Umkehr an der Elbe, Rh. Mus. 110, 1967, 289; 301; Deininger, Flumen Albis 11. Vgl. zu Hedemünden unten Kap. VI Seiten 130-131. Deininger, Flumen Albis 14; Bleicken, Augustus 580.

98 Nach dem Bericht des Cassius Dio wiederholte sich an der Elbe derselbe Vorgang wie zwei Jahre zuvor an der Weser, ein beabsichtigter Flussübergang kam nicht zustande. Zwar habe Drusus versucht, die Elbe zu überqueren, es jedoch nicht vermocht, sondern nur Siegeszeichen errichten lassen und danach den Rückzug angetreten: έκεΐνον (ττοταμόν) γάρ ... επεχείρησε μέν περαιωθήναι ούκ ήδυνηθη δέ, άλλα τρόπαια στήσας άνεχώρησε.48 Eine sachliche Begründung für diesen Entschluss gibt Dio nicht. Weder von Versorgungsproblemen noch von naturbedingten Schwierigkeiten wie an der Weser ist bei ihm die Rede, obwohl sich beide recht gut vorstellen lassen. Die Nachschubprobleme, die im Sommer 11 v. Chr. relevant waren, müssen an der Elbe noch viel gravierender gewesen sein. Den Ausgangsbasen um Xanten und Mainz waren zwar inzwischen die Lager von Oberaden und Rödgen vorgelagert, doch beide hatten höchstens für den Zwischenraum bis zur Weser wirkliche Bedeutung. Eine andere Frage ist die des Zustandes der Elbe. Wenn Drusus seinen Feldzug in diesem Jahr zeitig begonnen hat und rasch vorwärts gekommen ist, könnte er die Elbe noch im späteren Frühjahr erreicht haben, als sie ihr Umland überschwemmt hatte. Dieser Faktor spielte hier eine ganz andere Rolle als bei der Weser im Bereich des nach ihr genannten Berglandes. Das Überschwemmungsgebiet der Elbe im Norddeutschen Tiefland besaß im Altertum vielfach eine Breite zwischen 10 und 20 km. Erst die im hohen Mittelalter vorgenommene Eindeichung hat diese Breite dann auf 1,5 bis 3 km eingeschränkt.49 Dass es die noch Hochwasser führende Elbe gewesen ist, die Drusus zum Rückzug bewogen hat, lässt sich zumindest nicht ausschließen. Etwa im August war der Prinz auf dem Rückweg zur Ausgangsbasis Mainz in einem Gebiet „zwischen Saale und Rhein", so dass für den Zug an die Elbe und die auf diesem Wege stattfindenden Kämpfe die Monate März, April und Mai in Frage kommen könnten. Die zweifellos vorhandenen realen Schwierigkeiten für das römische Heer an der Elbe haben in der Überlieferung keinen Niederschlag gefunden. Dafür schildert Dio recht ausführlich eine Prophezeiung, die Drusus zuteil geworden sei und ihn zum Rückzug bewogen habe, an der Weser war in dieser Hinsicht der Bienenschwarm bemüht worden. Eine Frau von übermenschlicher Größe sei ihm am Ufer der Elbe entgegengetreten mit den Worten: „Wohin treibt es dich, unersättlicher Drusus? Nicht alles hier ist dir vom Schicksal zu sehen vergönnt. Kehre um! Denn schon sehr nahe ist das Ende deiner Taten und deines Lebens": γυνή γάρ τις μείζων η κατά άνθρώπου φύσιν άπαντησασα αύτφ £φη· 'ποΐ δήτα έπείγη, Δρούσε άκόρεστε; ού πάντα σοι ταύτα ΐδεΐν πέπρωται. άλλ' απιθν και γάρ σοι και των έργων και τοΰ βίου τελευτή ήδη πάρεση.' 50 Der nur wenige Monate nach dem Erreichen der Elbe eingetretene Tod des Prinzen in einem fernen und unbekannten Land muss als Ursache für die Bildung dieser Legende angesehen werden. So deutlich die Anekdote den Stempel nachträglicher Erfindung trägt, so lässt sie

48 49 50

Cass. Dio 55, 1, 3 = Quellen III 300f.; vgl. 609; Goetz/Welwei II 22f. H. Jäger, Elbe, RGA 7 (1989) 96; ders., Die naturgeographischen Verhältnisse im Gebiet der Germania, in: Neumann/Seemann 140-144. Cass. Dio 55, 1, 3 = Quellen III 300f.; vgl. 609.

99 unzweifelhaft erkennen, dass die Elbe in augusteischer Zeit wirklich erst am Horizont der in Rom bekannten Welt lag und ihre „Entdeckung" als Großtat angesehen wurde. Die Prophezeiung wird in ausfuhrlicher Form erst von Dio im frühen 3. Jh. überliefert, entstanden ist sie aber sehr viel früher. Fast ein Jahrhundert vor Dio nimmt nämlich schon Sueton auf sie Bezug. Seine Schilderung steht in einem summarischen Rückblick dieser Jahre am Anfang der Claudiusvita, wo Drusus als der Vater des späteren Kaisers gewürdigt wird. Das gesamte Geschehen der Jahre 12 bis 9 v. Chr. fasst Sueton als ein einziges bellum Germanicum zusammen, das er in Parallele zu dem einjährigen bellum Raeticum des Jahres 15 v. Chr. setzt. Als denkwürdig erscheinen ihm dabei die Nordseefahrt, der Bau des Drusus-Kanals und die Erscheinung der Frau im inneren Germanien, die Ereignisse von 12 und 9 v. Chr. sind also unmittelbar miteinander verbunden. Die Parallelstelle zu Dio lautet bei Sueton: „Den Feind, den er vielfach geschlagen und tief in die hintersten Winkel der Wildnis geworfen hatte, hörte er nicht eher auf zu verfolgen, als bis die Erscheinung einer Barbarin von übermenschlicher Größe in lateinischer Sprache dem Sieger das weitere Vordringen verboten hatte." hostem etiam frequenter caesum ac penitus in intimas solitudines actum non prius destitit insequi, quam species barbarae mulieris humana amplior victorem tendere ultra sermone Latino prohibuisset.51 Die Prophezeiung des nahen Todes fehlt bei dem Biographen, der zudem den Eindruck erweckt, zwischen der Erscheinung und dem Unfall des Drusus liege eine längere Zeit. An die Nachricht vom Abbruch des weiteren Vormarsches schließt Sueton die Ehrungen an, das Recht auf die ovatio, den „kleinen Triumph" und die Verleihung der ornamenta triumphalia, die chronologisch ins Jahr 11 v. Chr. gehören. Nicht mehr korrekt ist die Darstellung mit der Angabe, Drusus habe nach der Prätur sofort das Konsulat angetreten und dann den Feldzug wieder aufgenommen, die Bekleidung des ersten Amts fällt in das Jahr 11, die des zweiten in das Jahr 9. Vor allem die Formulierung expeditione repetita trennt fälschlicherweise den Zug, bei dem die Barbarin erscheint, von dem letzten des Prinzen.52 Bei so vielen Unstimmigkeiten in dem pauschalen Rückblick der Claudiusbiographie wird man auch der Behauptung, der Feldherr sei bei der Verfolgung geschlagener Feinde auf die übermenschliche Gestalt gestoßen, leider keine große Beweiskraft zubilligen können, obwohl sie zu dem Geschehen passen würde. Das Überschreiten der Weser und der Vormarsch bis zur Elbe könnten sehr gut im Zusammenhang mit einem Rückzug der Cherusker in östliche Richtung und deren Verfolgung durch die Römer stehen. Von einer Lokalisierung des Vorfalls an der Elbe weiß Sueton nichts, obwohl er den Fluss kennt und in der Augustusbiographie geschrieben hatte, die Germanen seien unter ihm über den Strom zurückgedrängt worden.53 Für den Biographen geschah das Ereignis bei einem Marsch „tief in die innersten Einöden", penitus in intimas solitudines. Das Verbot des Weiterzugs bei Sueton und dasselbe, erweitert um die Prophezeiung des baldigen Endes, bei

51 52 53

Suet., Claud. 1,2 = Quellen III 204f.; vgl. 550 in der Übersetzung und Kommentierung von W. Rrenkel und H. Labuske; Goetz/Welwei II 22-25. Suet., Claud. 1,3 = Quellen III 204f.; vgl. 550; Goetz/Welwei II 22-25. Suet., Aug. 21, 1 = Quellen III 188f.; vgl. 544; Goetz/Welwei II 34f.

100 Cassius Dio durch eine legendenhaft ausgeschmückte Germanin, deren Lateinkenntnisse der Biograph ausdrücklich betont, haben in der Forschung zu verschiedenen Deutungen geführt. Unstrittig ist, dass hinter der Frauengestalt das Wissen um germanische Seherinnen steht. Tacitus hatte in der „Germania" nachdrücklich daraufhingewiesen, dass den Frauen in diesem Lande etwas Heiliges und Prophetisches innewohne und ihre Ratschläge und Aussprüche Beachtung finden. Als die bekannteste Seherin nennt der Historiker die Brukterin Veleda aus der Zeit des Bataveraufstandes der Jahre 69-70 n. Chr.54 Aus der frühen Kaiserzeit sind noch eine chattische Wahrsagerin am Hof des Vitellius, die Semnonin Ganna am Hof Domitians und die Seherin Walburg ebenfalls von den Semnonen auf einem ägyptischen Ostrakon des 2. Jh. n. Chr. bekannt.55 Solche Frauen dürften als historische Vorbilder für die „weise Frau von der Elbe" gedient haben. Strittig ist hingegen, ob sich hinter der Geschichte mehr verberge als eine legendenhafte Ausschmückung der Tatsache, dass Drusus an der Elbe an die Grenze des ihm und seinem Heer Möglichen gestoßen war und kurz danach auch noch tödlich verunglückte. Strabon hat die Feldzüge ins Innere Germaniens mit denen Alexanders des Großen nach Asien verglichen.56 Der äußerste Punkt, den der Makedonenkönig im Spätsommer 326 v. Chr. im Osten erreichte, war der Fluss Hyphasis im Pandschab, der heutige Beas. Dort weigerte sich seine Armee, den Strom zu überqueren und weiter nach Indien hinein zu marschieren. Alexander musste nach erfolglosen Versuchen, sein Heer umzustimmen, schließlich nachgeben. Ein ungünstiger Ausfall der Opfer hinsichtlich des Flussübergangs war der letzte Anlass für die Umkehr. Zuvor ließ der König am Ufer zwölf Altäre - der Zahl der Olympischen Götter entsprechend - errichten „zum Dank an die Götter, die ihn auf seinem Siegeszug so weit geführt hatten und zugleich auch als Erinnerungszeichen seiner Taten".57 Damit war das Bild des Makedonen als des rastlosen Feldherrn, der seine Feinde bis ans Ende der Welt verfolgen will und schwer davon abgehalten werden kann, für alle Zeit geprägt. Bei der von Strabon vorgenommenen Parallelisierung der Feldzüge nach Indien und Germanien überrascht es nicht, dass in dieser Zeit auch die Person des Drusus in die Nachfolge des großen Alexander gestellt wurde. Ausdrücklich hat diesen Zusammenhang D. Timpe betont, wenn er schreibt: „... der hemmende Fluß, der eigentlich überschritten werden soll, aber dennoch unbezwungen bleibt, das ebenso widerwillig wie feierlich durch Tropaia bezeichnete Ende zeigen, daß Alexander am Hyphasis das Vorbild solcher Gestaltung war."58 Dem wird man zustimmen können. Der unbekannte Fluss am Rande der Oikoumene als die Stelle der Umkehr, der jugendliche Held als Eroberer im fremden Land und der frühe Tod - bei Alexander allerdings erst drei Jahre später - sind tatsächlich Parallelen. Daneben gibt es jedoch auch deutliche Unterschiede.

54 Tac., Germ. 8, 2 = Quellen II 88f.; vgl. 158 in der Übersetzung und Kommentierung von G. Perl; vgl. unten Kap. XI Seite 221 f. 55 Suet., Vit. 14, 5 = Quellen III 206f.; vgl. 551; Cass. Dio 67, 5, 3 = Quellen III 320f.; vgl. 616; Goetz/Welwei II 272f.; E. Schröder, Walburg, die Sybille, Archiv für Religionswissenschaft 19, 1916— 1919, 196-200. 56 Strab. 1,2, 1 p. 14 C = Quellen 1212f.; vgl. 502; oben Kapitel II Seiten 25f. 57 Arr., an. 5, 25-29, bes. 28, 4 - 29, 1 = Aman. Der Alexanderzug, griech.-dt. von G. Wirth und O. von Hinüber, Berlin 1985, Teil I, 435^49, bes. 44