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German Pages 299 [300] Year 2007
Thomas Loer Die Region
Qualitative Soziologie • Band 9 Herausgegeben von Klaus Amann Jörg R. Bergmann Stefan Hirschauer
Die Reihe „Qualitative Soziologie" präsentiert ausgewählte Beiträge aus der qualitativen Sozialforschung, die methodisch anspruchsvolle Untersuchungen mit einem dezidierten Interesse an der Weiterentwicklung soziologischer Theorie verbinden. Ihr Spektrum umfasst ethnographische Feldstudien wie Analysen mündlicher und schriftlicher Kommunikation, Arbeiten zur historischen Sozialforschung wie zur Visuellen Soziologie. Die Reihe versammelt ohne Beschränkung auf bestimmte Gegenstände originelle Beiträge zur Wissenssoziologie, zur Interaktions- und Organisationsanalyse, zur Sprachund Kultursoziologie wie zur Methodologie qualitativer Sozialforschung und sie ist offen für Arbeiten aus den angrenzenden Kulturwissenschaften. Sie bietet ein Forum für Publikationen, in denen sich weltoffenes Forschen, methodologisches Reflektieren und analytisches Arbeiten wechselseitig verschränken. Nicht zuletzt soü die Reihe „Qualitative Soziologie" den Sinn dafür schärfen, wie die Soziologie selbst an sozialer Praxis teilhat.
Die Region Eine Begriffsbestimmung am Fall des Ruhrgebiets
von Thomas Loer
Lucius & Lucius • Stuttgart
Anschrift des Autors PD Dr. Thomas Loer Wacholderweg 27 D-59192 Bergkamen-Overberge Tel.: +49 (0) 2307 / 98 45 64 Fax: +49 (0) 2307 / 98 45 65 [email protected]
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ISBN 978-3-8282-0412-6 © Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH Stuttgart 2007 Gerokstr. 51, D-70184 Stuttgart www.luciusverlag.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung, Verarbeitung und Übermittlung in elektronischen Systemen.
Druck und Einband: Rosch-Buch, Scheßlitz Umschlaggestaltung: I. Devaux, Stuttgart Printed in Germany
Inhalt Kapitel 1: Einleitung Kapitel 2: Historische Konstellationen 1 Was ist die Frage? 2 Bruchwald und Fluss 3 Zwischenraum 4 Unterströmung 5 Zwischenbemerkung zu Gemeinschaftsorientierung und Anerkennung 6 Kolonialisierung 7 Ubergang Kapitel 3: Fälle der Region 1 Methode und Gegenstand 2 Gehaltene Diskrepanz 3 Verhaltene Dissonanz 4 Inszenierte Konformanz 5 Gesuchte Performanz 6 Zwischenbemerkung zur Generalisierung 7 Drei Weiterungen 8 Zusammenfassung Kapitel 4: Einflussstruktur 1 Unbegriffen: Region und Raum 2 Wirtschaft qua Vergemeinschaftung 3 Zum Begriff der Region Anhang Literatur Transkriptionszeichen
Danksagung Für die klärende Kommentierung und weiterführende Diskussion früherer Fassungen der vorliegenden Arbeit durch meine (z. T. ehemals) Dortmunder Kollegen Ute Luise Fischer, Manuel Franzmann, Stefan Heckel, Sascha Liebermann, Hartmut Neuendorff und Christian Pawlytta sei diesen hier nachdrücklich gedankt. Auch Eckart Pankoke, Essen (f), Hartmut Hirsch-Kreinsen, Dortmund, und erneut Hartmut Neuendorff, die sich der Mühe unterzogen, diese Arbeit als Habilitationsschrift zu begutachten und mit ihren Kommentaren zur Verbesserung der vorliegenden Fassung beitrugen, bin ich zu Dank verpflichtet. Schließlich muss und darf ich Hartmut Neuendorff ein weiteres Mal dankend erwähnen, hat er doch nicht nur als Chef seinen Mitarbeitern, so auch mir, wie selbstverständlich den Rücken für die Forschung freigehalten, sondern schließlich auch noch für den erforderlichen Druckkostenzuschuss der Universität Dortmund, der ich für dessen Gewährung ebenfalls danke, Sorge getragen.
Kapitel 1 Einleitung Zwischen Lippe und Ruhr, zwei Flüssen, die unscheinbar von Ost nach West dahinfließen, liegt, von einem dritten, träge in die gleiche Richtung mäandernden: der Emscher, durchflössen, ein Gebiet, das lange Zeit keine eigene Gestalt zu haben schien, jedenfalls der Welt kein markantes Gesicht zuwandte. Das Gebiet zeichnet sich heute nicht nur vom Weltraum aus betrachtet deutlich als geschlossenes Areal ab, vielmehr galt es lange Zeit als industrielles Herz Deutschlands. Dennoch ist es in vielfältiger Weise aufgeteilt und seine Einheit, die uns als Ruhrgebiet bekannt ist, erscheint nur künstlich: es scheint diese Einheit durch die es prägende Montanindustrie erhalten zu haben; das „wirtschaftlich organisch zusammenhängende Gebiet" wird es von Wilhelm Brepohl, dem Erforscher des .Industrievolks', genannt (1939: 4). Und in einem neueren geographischen Beitrag zum Ruhrgebiet heißt es: „Das Ruhrgebiet bildet keine natürliche Einheit mit gleicher Ausstattung seines geographischen Milieus, sondern es ist eine wirtschaftsgeographisch geprägte Landschaft mit einer hohen Bevölkerungsdichte." (Liedtke 1990: 64) 1
Nach natürlichen Kriterien lässt eine „Einheit" im Gegenstandsbereich der sinnstrukturierten Welt sich nicht bestimmen. Erst wenn die natürlichen Bedingungen in den Horizont menschlichen Handelns rücken, können sie Momente einer Einheitsbildung sein. Die Feststellung: „Das Ruhrgebiet verteilt sich auf drei große natürliche Landschaften: Niederrhein, Münsterländische Tieflandsbucht und Süderbergland." (ebd.) kann weder eine Einheit begründen, noch ihr widersprechen. Wenn der Geograph aber fortfahrt: „Es nutzt zugleich die Lagegunst an der Schnittstelle dieser drei Landschaften." (ebd.), so ist der soziologisch relevante Handlungsbezug damit angedeutet. In der Perspektive des Handelns kann die natürliche Disparatheit Grundlage der Einheitsbildung sein. Dies auszubuchstabieren wäre Aufgabe einer Geographie, die nicht lediglich positive Beschreibungen des erdgeschichtlich Entstandenen und seines Entstehungsprozesses liefert, sondern die Bedingungen für das Handeln thematisiert, die die geologisch und geographisch bestimmbaren Gegebenheiten für potenzielle Siedler oder generell Handelnde angesichts der Landschaft bedeuten. Diese grundlegende Dimension wird auch im politikwissenschaftlichen Zugriff auf das Ruhrgebiet nicht berücksichtigt, behauptet doch etwa Karl Rohe, der, wie
1 Im Jahre 2003 hatte das Ruhrgebiet in den Grenzen des Regionalverbandes Ruhrgebiet 5,3 Mio. Einwohner, das entspricht ca. 1.200 Einw./km2 (RVR 2006).
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wir sehen werden, in der Literatur über das Ruhrgebiet eines der differenziertesten Konzepte von Kultur vertritt, „daß das Ruhrgebiet keine historische Landschaft ist, die industriell überformt wurde, sondern eine Region, die überhaupt erst durch den Industrialisierungsprozeß selbst entstanden ist. Ruhrgebietsregionalität ist somit, wenn überhaupt, Regionalität auf ökonomischer Basis." (1986: 72) Und Andreas Schüeper, Sozial- und Wirtschaftshistoriker, vertritt eine weit verbreitete Ansicht, wenn er schreibt: „Das Ruhrgebiet ist auch heute noch eher eine Wirtschaftseinheit, d. h. ein Raum mit ähnlichen ökonomischen Problemen, als eine kulturelle und politische. [...] Und vielleicht sollte man auch erst das Jahr 1838 als das eigentliche Geburtsjahr des Ruhrgebietes annehmen, als es nämlich gelang, die Mergelschicht zu durchstoßen und auch im Ruhrgebiet verkokbare Fettkohle zu fördern und auf diese Weise die schicksalhafte Verbindung von Kohle und Stahl zu ermöglichen." (1986: 17) Erst mit dem Dampf der Feuermaschinen also — so lautet die Behauptung — konnte das Ruhrgebiet aus den vorgeschichtlichen Flözen ans Tageslicht der Geschichte gehoben werden; sollte es dennoch schon eine eigene Gestalt besessen haben, so wurde diese sogleich wieder vom Rauch der Schlote von Kokereien und Stahlwerken eingehüllt und unkenntlich verborgen. Diese Hülle aus Feuer und Rauch wurde in Studien über das Ruhrgebiet immer wieder neu beschrieben, sie prägte das Bild des Reviers nach innen und außen, und was in der konkreten Erfahrung des Alltags sich dieser abstrakten Bestimmung entzog, wurde seinerseits wieder zu Bildern verdichtet, die rasch zu Clichés verkamen: die Menschen des Ruhrgebiets hätten eine rauhe Schale, aber einen weichen Kern, seien unermüdliche Malocher, ehrlich und ungeschminkt. In der wissenschaftlichen Betrachtung hieß das Cliché dann ,Montankultur' und wurde mit der Industrialisierung und den durch sie bedingten Arbeits- und Wohnverhältnissen in einen Kausalzusammenhang gebracht. Auch in dieser Hinsicht gab also vermeintlich erst die Industrialisierung dem amorphen geographischen Raum eine Gestalt. Wenn man allerdings davon ausgeht, dass ,Raum' eine soziale Kategorie ist, wenn man dies dann zudem strukturalistisch, nicht handlungstheoretisch fasst (Loer 2002), so stellt sich die Frage, was die erwähnte Lage zwischen den Flüssen, im Westen durch einen vierten, von Süd nach Nord fließenden: den Rhein, abgeschlossen, bedeutet für die Konstitution des Raumes der dort Siedelnden. Es stellt sich die Frage, ob er nicht Charakteristika aufweist, die nicht reduzierbar sind auf den Einfluss der Industrialisierung, die der Region, wie sie uns heute erscheint, ihr Gesicht gegeben zu haben und trotz aller Veränderungen nach wie vor zu geben scheint. Und es stellt sich die Frage, ob diese Charakteristika nicht zumindest das spezifische Widerlager bilden, auf dem die Industrialisierung sich abgestützt hat, wenn anders sie nicht gar, durch diese auf spezifische Weise transformiert, ihr ihre spezifische Gestalt gaben. Was also rechtfertigt die Rede von der Region, der zudem ein Eigenname, untrügliches Zeichen für das Vorhandensein einer Individualität, Ausdruck verleiht?
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Um zu verstehen, was eine Region ist, um ihren Begriff zu gewinnen, bedarf es einer Rekonstruktion der Beziehung zwischen Raum und Geschichte (vgl. Braudel 1966, 1: 10). Eine Region, was auch immer sie sonst ist, ist auf jeden Fall ein räumliches Gebilde. So ist das Ruhrgebiet des Geologen das Gebiet der „Steinkohlevorkommen, die sich im Karbon in einer Vortiefe des alten Variszischen Gebirges abgelagert haben" (Neef 1974: 60); das des Geographen dasjenige zwischen Lippe und Ruhr, das im Westen seine Grenze im Rhein findet, im Osten an dem Nordabzweig des Hellwegs über Unna und Kamen nach Hamm. Auch für den Wirtschaftshistoriker, der mit der Industrialisierung sich beschäftigt, ist die Abgrenzung, die auf die geologisch definierten Möglichkeiten des Kohleabbaus zurückgeht, relativ klar, und vielleicht sollte der Soziologe doch auch hier ansetzen. - Jedoch: was ist mit der Zeit vor der Industrialisierung? Und: Kann sich die Industrialisierung den Menschen, den sie doch — bei aller Gebundenheit an Rohstoffvorkommen und an Technik - auch benötigt, aus dem Nichts schaffen? Sind nicht vielmehr spezifische habituelle Strukturen — auch wenn sie sich transformieren mögen und auch wenn sie zugleich deren Ergebnis sind — Voraussetzung für soziale Prozesse, von denen eben auch die Industrialisierung einer ist? Wie Marc Bloch in seinem Aufsatz über die Verbreitung der Wassermühle (Bloch 1977), Joseph Ben-David anhand der Entstehung der Wissenschaft in England (Ben-David 1984), Ulrich Oevermann an Delacroix und der Entstehung der Romantik (Oevermann 1986 u. 1990), und schließlich und vor allem Max Weber an der Entstehung des kapitalistischen Geistes (Weber 1920) gezeigt haben, ist die Frage der Nutzung von natürlichen Ressourcen und von technischen Möglichkeiten nicht eine von „Entwicklungsstand" und Kapital, sondern eine nach den Voraussetzungen und Passungsverhältnissen auf der Ebene der Habitusformation. Auch nach dieser Einsicht bleiben die Fragen der Abgrenzung allerdings noch unbeantwortet. „Ces problèmes de l'encadrement, les premiers à se poser, appellent tous les autres: délimiter, c'est définir, analyser, reconstruire et, en l'occurence, choisir, voire adopter une philosophie de l'histoire." (Braudel 1966, 1:11) Die einfache Frage, die aus methodischen Gründen vor der Analyse jeglichen Datenmaterials zu klären ist: ,Was ist der Fall?' Wirft hier zugleich gegenstandstheoretische Probleme auf. Mit anderen Worten: Könnten wir diese Frage, wie es methodisch gefordert ist, vorab beantworten, hätten wir unser Untersuchungsziel: den Begriff der Region zu bestimmen, bereits erreicht.2
Auch wenn etwa ein rekonstruktiv verfahrender Familiensoziologe eine bestimmte Familie untersucht, wird er im Laufe seiner Untersuchung nicht nur die Fallstruktur dieser konkreten Familie rekonstruieren, sondern immer auch dem Begriff der Familie zu einer reichhaltigeren Bestimmung verhelfen. Insofern ist die Rekonstruktion einer Region nicht grundsätzlich unterschieden von jeder anderen Fallrekonstruktion. 2
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Analog zu einer Formulierung Georg Simmeis 3 kann man, so scheint es zunächst, auch „Region" bestimmen: Ein geographischer Umfang von so und so vielen Quadratmeilen bildet nicht eine Region, sondern das tun die sozialen Kräfte, die die Bewohner eines solchen Gebietes durch Eröffnen und Verschließen von Handlungsoptionen bestimmen. 4 Ein genauere Betrachtung aber fördert zutage, was in dieser Formulierung nicht enthalten ist: Die Bewohner eines solchen Gebietes können nicht beliebig in ein anderes Gebiet verpflanzt werden; und: Die Bewohner eines solchen Gebietes hätten eine andere Geschichte, lebten sie in einem anderen Gebiet. Das bedeutet, dass die Geschichte der Bewohner nicht lediglich abstrakt formal an den Raum gebunden, sondern material durch den konkreten Raum mitbestimmt ist. Die Lage des Gebietes zu umliegenden Gebieten und seine konkrete, durch geologische, geographische und klimatische Gegebenheiten bestimmte Gestalt zusammen halten Handlungsbedingungen vor, die spezifische „soziale Kräfte" ermöglichen, erfordern bzw. ausschließen. Sofern also die Primärerfahrung ernstgenommen und vom Charakter des Clichés befreit wird, stellt sich die Frage, was denn nun das Ruhrgebiet auszeichnet und wie es dazu gekommen ist. „Le modèle est ainsi, tour à tour, essai de l'explication de la structure, instrument de contrôle, de comparaison, vérification de la solidité et de la vie même d'une structure donnée. Si je fabriquais un modèle à partir de l'actuel, j'aimerais le replacer aussitôt dans la réalité, puis le faire remonter dans le temps, si possible, jusqu'à sa naissance." (Braudel 1958: 746)
Gemäß dem Begriff des Modells und seines Verhältnisses zur zu bestimmenden Struktur, wie Fernand Braudel es hier anführt, ist auch die vorliegende Untersuchung verfahren. Ihren Ausgang nehmend von Untersuchungen zu Normalitätsvorstellungen bezüglich der Erwerbsarbeit (Neuendorff et al. 2001; vgl. Link/Loer/Neuendorff 2003) wurde zunächst die diesen Vorstellungen zugrundeliegende Struktur der Deutungsmuster und Habitusformationen bestimmt, zu deren Erklärung ein Modell sich aufdrängte: das eines regionenspezifischen Habitus. Dieses fungierte als Instrument der Kontrolle der Strukturrekonstruktion „Ein geographischer Umfang von so und so vielen Quadratmeilen bildet nicht ein großes Reich, sondern das tun die psychologischen Kräfte, die die Bewohner eines solchen Gebietes von einem herrschenden Mittelpunkt her politisch zusammenhalten." (Simmel 1903b: 133) 3
Diesem Realismus widerspricht - u. a. - Edwin Dillmann, wenn er schreibt: „Regionale Grenzziehungen in der historischen Forschung sind konstruiert" (Dillmann 1996: 10), was er folgendermaßen plausibilisiert: „Man denke an das Phänomen der Nichtübereinstimmung und Uberlagerung von Staats- und soziokulturellen Grenzen." (a. a. O.: 11) Hier wird, wie so häufig, aus der Inkongruenz von Wirklichkeitsausschnitten auf verschiedenen Realitätsebenen auf deren reale Unbestimmtheit geschlossen, die allein durch eine Konstruktion scheinhaft beseitigt wird. Allein, bereits um die Aussage von der Inkongruenz treffen zu können, muss die Realität der inkongruenten Gebilde methodologisch unterstellt werden (s. u., S. 13).
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1 Einleitung • 11 durch Vergleich und als Instrument des Belegs, oder besser der Spezifikation der Stichhaltigkeit der Strukturrekonstruktion wie der lebendigen Wirklichkeit der rekonstruierten Struktur. Es wurde passend zum abduktiven Schluss (vgl. Loer 2003a), mittels dessen es gewonnen wurde, dann als Erklärungsmodell in die Wirklichkeit gesetzt, seine Genese wurde in der Zeit zurückverfolgt — wenn auch seine Geburt selbst im Dunkeln bleiben musste. Man sieht hier schon, dass das Modell als rekonstruiertes nicht lediglich eine Konstruktion des Wissenschaftlers darstellt, sondern als in der Geschichte wirkliches Realmodell verstanden werden muss, wenn anders diese Geschichte und mit ihr die gewordene Gegenwart verstanden werden soll. Die Darstellung kehrt nun aber den Untersuchungsweg um und folgt dem realen historischen Verlauf. Das provoziert den naheliegenden Einwand einer Teleologie der Geschichte. Dass retrospektiv gezeigt werden kann, warum etwas so geworden ist, wie es geworden ist, impliziert aber nicht notwendig, dass es so werden musste. Dies deutlich zu machen ist Aufgabe der Darstellung in concreto, die dort, w o sie im realen historischen Verlauf aufgetretene Selektionen v o r der Folie der Optionen abbildet, die Realität der Optionen im Sinne objektiver Möglichkeiten für die Handelnden aufzeigt. 5 Insofern beginnt die Darstellung mit der Explikation der Handlungsprobleme, die die Landschaft als Handlungsraum den ersten hier lebenden Menschen vorhielt, und mit der Frage, welche Form des Umgangs mit diesen Handlungsproblemen, welche Haltungen ihnen gegenüber sich bewährten und somit als Routine sich ausprägten. Diese sich
Anders als bei Max Weber in dem Kapitel „Objektive Möglichkeit und adäquate Verursachung in der historischen Kausalbetrachtung" (Weber 1906: 266-290) ist hier die objektive Realität der Möglichkeiten behauptet. Weber schreibt: „»Möglichkeit« ist eine »formende« Kategorie, d. h. sie tritt in der Art in Funktion, daß sie die A u s l e s e der in die historische Darstellung aufzunehmenden kausalen Glieder bestimmt. Der historisch geformte Stoff enthält dagegen an »Möglichkeiten« wenigstens dem Ideal nach nichts" (a. a. O.: 270; gesperrt i. Orig.). Demgegenüber ist es für die Rekonstruktion des Handelns relevant, nicht nur zu Darstellungszwecken diejenigen Möglichkeiten aufzuweisen, die in einem logischen Gedankenexperiment konstruierbar sind und die die historische Bedeutsamkeit eines Ereignisses aufzeigen, wie dies etwa für den Sturm vor Athos gilt, dem die persische Flotte 492 v. Chr. zum Opfer fiel: Wäre kein Sturm aufgetreten und hätte die Flotte Athos glücklich umschifft, was wäre dann geschehen? (Dass 480 v. Chr. dann Xerxes seine Flotte die Halbinsel Athos mit Hilfe eines Kanals durchqueren ließ, zeigt i. ü., dass der durch den Sturm .verursachte' Untergang der Flotte mit der Kategorie ,Zufall' nicht hinreichend erfasst wäre.) Vielmehr müssen die objektiven Möglichkeiten, die für eine Praxis bedeutsam wurden, die aus ihnen selegieren musste, rekonstruiert werden. (Wenn etwa der Untergang der Flotte das explanandum darstellt, so muss die objektive Möglichkeit des Kanaldurchstichs als Folie herangezogen werden, da erst so die Entscheidung für die Umschiffung der Halbinsel als spezifische Entscheidung kenntlich wird, was dann etwas über Habitus und Deutungsmuster des persischen Feldherrn Mardonios erschließen lässt.) Damit ist nicht gemeint, dass die Praxis diese Möglichkeiten subjektiv realisiert haben musste, sondern dass sie nicht umhin konnte, sich zu ihnen zu verhalten, mit ihnen handelnd umzugehen. Deshalb scheint hier auch weniger .Möglichkeit' oder ,Option' als ,Handlungsproblem' die angemessene Kategorie zu sein. 5
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bewährenden Haltungen werden dann über die Geschichte hin verfolgt und auf ihre Reproduktion und Transformation hin untersucht. (Kap. 2) Dabei kann hier nicht anhand der Analyse der Geschichte der verschiedenen Formen der Inbesitznahme des Raumes von den ersten dort siedelnden oder auch nur auf ihren Wanderungen ihn durchstreifendenden und vorübergehend in ihm lebenden Menschen an bis heute das Ruhrgebiet in seiner Entwicklung en détail vorgestellt werden. 6 Gleichwohl kann dieser Aufgabe auch nicht ausgewichen werden, wenn anders die Gestalt der Region verständlich gemacht und in ihrer Genese erklärt werden soll. Wenn also der Region eine Gestalt zukommt, muss sie dann als „historisches Individuum" verstanden werden? „Endlos wälzt sich der Strom des unermeßlichen Geschehens der Ewigkeit entgegen. Immer neu und anders gefärbt bilden sich die Kulturprobleme, welche die Menschen bewegen, flüssig bleibt damit der Umkreis dessen, was aus jenem stets gleich unendlichen Strome des Individuellen Sinn und Bedeutung für uns erhält, »historisches Individuum« wird." (Weber 1904: 184)
Wieder erscheint hier bei Weber der Begriff lediglich als Instrument des Forschers, geboren aus dem „Licht der großen Kulturprobleme", „welche allein ihrer [sc. der Wissenschaft] Arbeit Sinn und Richtung zu weisen vermögen" (a. a. O.: 214). Dass .Region' unser Thema wurde und dass das Ruhrgebiet der Gegenstand ist, an dem es untersucht werden soll, ist, so kontingent zunächst es als Frage, die aus früherer Forschung sich ergab, erscheint, gewiss abhängig vom „Licht der Kulturprobleme", die die Gegenwart zu lösen hat.7 Ob aber das Ruhrgebiet eine Gestalt hat, ob es als ein historisches Individuum angemessen begriffen ist, ob — in Begriffen der Methodologie gesprochen — in ihm eine Fallstruktur wirklich ist, ist aber nicht abhängig vom Blick des Forschers, der aus dem chaotischen „Strom des unermeßlichen Geschehens" Momentbilder willkürlich mit seinen Instrumenten herauslöste. Diese neukantianische Position, an der Weber sich abarbeitet, hat er, gesättigt mit Erfahrung aus empirischer Forschung, schon überwunden, ohne dies explizit machen zu können. Nimmt man nämlich die Formulierung, dass „Begriffe und Urteile, die nicht die empirische
So beansprucht Serge Courville in seiner großen historisch-geographischen Studie über Québec „de montrer comment s'est constitué, depuis les origines, ce qu'on appelle aujourd'hui le Québec", indem er von den ersten menschlichen Ankömmlingen an den Ufern der Lorenzsee die Entwicklung der Beziehung von Bewohnern und Raum verfolgt, aus welcher „sont nées des formes diverses d'occupation et d'aménagement de l'espace, qui se sont superposées ou emboîtées dans le temps, jusqu'à former cet ensemble complexe qu'on appelle aujourd'hui le Québec" (Courville 2000: 1). 6
7 Wie sehr er solchen Zeitfragen ausgesetzt ist, erfahrt der Forscher ja stets, wenn eine Frage ihm bedeutend wird und er bei der ersten Literaturrecherche erstaunt bemerkt, wie viele seiner Kollegen aus seiner eigenen und den benachbarten Disziplinen sich gerade mit dieser und verwandten Fragen beschäftigen.
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Wirklichkeit sind, auch nicht sie abbilden, aber sie in gültiger Weise denkend ordnen lassen" (a. a. O.: 213; gesperrt i. Orig., Kursivierung hinzugefugt), ernst, so stellt sich gleich die Frage nach dem Maßstab der Gültigkeit. Für Weber ist es „unsere an der Wirklichkeit orientierte und geschulte Phantasie [, die die Begriffe] als adäquat beurteilt." (op cit.: 194; gesperrt i. Orig.) Wenn man sich auszulegen zwingt, was diese an der Wirklichkeit orientierte und geschulte Phantasie methodisch sein kann, so ist hier allein eine abkürzend, aber nach Regeln verfahrende Erkenntnisweise denkbar, die implizit, aber gestaltangemessen die Wirklichkeit begreift (vgl. Loer 1996: 291 ff.; 2004). Demgegenüber ist es Aufgabe der Wissenschaft, dort, wo sie dieses Stadium erreicht hat, die Regeln, nach denen sie verfährt, explizit zu machen, die Schulung und Orientierung an der Wirklichkeit methodisch zu betreiben und offen zu legen, was die gestaltangemessen begreifende Phantasie als Fähigkeit der Wirklichkeitserkenntnis konstituiert. Eine Fallstruktur muss also explizit auf den Begriff gebracht und in den von ihr generierten Phänomenen als wirklich nachgewiesen werden. Dass die Rekonstruktion einer Fallstruktur dabei niemals den Charakter einer Hypothese verliert, dass sie stets falsifiziert werden kann, bleibt davon unbenommen; ja die Möglichkeit der Falsifizierbarkeit setzt die Möglichkeit der Behauptung der Adäquanz gerade voraus; sonst wäre die Negation dieser Behauptung, die die Falsifikation ja darstellt, sinnlos. Die konstruktivistische Reduktion des ,denkend zu Ordnenden' auf die gedankliche Ordnung verkennte den Vorrang des Objekts (vgl. hierzu Loer 2006a). Insofern gehen wir hier von einem „methodologischen Realismus" (Ulrich Oevermann) aus, für den die objektive Wirklichkeit des Rekonstruierten die Bedingung der Möglichkeit der Rekonstruktion und ihrer Falsifikation darstellt. Wenn wir historisches Individuum so begreifen, so stellt sich erneut die Frage, ob und inwiefern die spezifische Region ,Ruhrgebiet' ein historisches Individuum darstellt. Dies setzte voraus, dass der Region nicht lediglich die Rolle einer Ansammlung von einzelnen Einflussfaktoren zukäme — die in einer Fallbeschreibung zu fassen und wobei dann die spezifische Region unter entsprechend viele Kategorien zu subsumieren wäre —, sondern eben tatsächlich eine Strukturierungsmacht. Damit muss es möglich sein und damit ist es notwendig, die Region selbst Fall zu machen, der zu rekonstruieren ist. Die Methode der Fallrekonstruktion in der objektiven Hermeneutik (vgl. Oevermann 2000a, Loer 2007a) begreift als Fälle — also Personen, Familien, politische Vergemeinschaftungen, Unternehmen etc. — Entscheidungsinstanzen mit Handlungsmitte. Methodologisch gesprochen handelt es sich dabei um den Entscheidungs- oder Auswahlparameter. Die Handlungsinstanz wählt aus durch Regeln eröffneten Handlungsoptionen eine aus, was wiederum einen mittels Regeln konstituierten Raum von Anschlussoptionen eröffnet. In der Typik der Entscheidungen, die sie trifft, bringt sich die Handlungsinstanz in ihrer Gesetzlichkeit — methodologisch gesprochen eben: in ihrer Fallstrukturgeset^lichkeit zum Ausdruck. Methodisch erhalten wir Zugang zu dieser Fallstrukturgesetzlichkeit,
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indem wir sequenziell Protokolle des untersuchten Falles analysieren, in denen sich eine Folge v o n Entscheidungen der Handlungsinstanz ausdrückt. Der Gegenstand unserer Untersuchung ist also der Fall einer Handlungsinstanz, das Untersuchungsziel ist die begriffliche Rekonstruktion der in der Realität operierenden und die Handlungsinstanz ausmachenden Fallstrukturgesetzlichkeit. A n den Ausgangsfällen der o. g. Untersuchung erwiesen die rekonstruierten Fallstrukturgesetzlichkeiten sich in bestimmter Hinsicht als homolog. Diese Strukturhomologie, so war die Vermutung, wird auf der Ebene der Region konstituiert. W e n n ,Region' nun ein eigenständiges Gebilde mit strukturierender K r a f t ist, so stellt es, bezogen auf die Personen als Entscheidungsparameter einen E r ö f f nungsparameter, d. h. eine einbettende Struktur, die Optionen eröffnet, dar. 8 Nun kann man die einbettende Struktur selbst zum Fall machen und sehen, dass diese einbettende Struktur aus gegebenen Möglichkeiten eine Selektion trifft. Auch bei dieser Selektion lässt sich eine Typik feststellen. Die Frage ist nun: Gibt es wie bei Personen, Familien usw. eine Handlungsmitte, die diese Selektionen trifft? Und falls nicht: Was ist der Mechanismus, der die Typik der Selektionen generiert? Um dies weiter zu verfolgen, muss es zunächst einmal darum gehen, die Typik genauer zu bestimmen. Wie v o n Personen Protokolle ihres Handelns rekonstruiert werden, um eine Hypothese ihrer Fallstrukturgesetzlichkeit zu gewinnen, so müssen nun in Bezug auf die Region ebenfalls Ausdrucksgestalten gesammelt
Dies sei hier kurz an zwei einfachen Beispielen der Begrüßung erläutert: Wenn zwei Personen A und B sich begegnen, so sind durch die Regeln der Praxiseröffnung zwei Optionen gegeben, nämlich, dass sie sich grüßen und dass sie es nicht tun. - Dies faltet sich noch auf in die Untervarianten, dass A oder B zuerst grüßen kann. Jede der möglichen Handlungen hat spezifische, durch die Regeln festgelegte Folgen und damit eine festgelegte Bedeutung. — So ist ein Reisender, wenn er eine Person, die das Zugabteil betritt, in dem er lesend sitzt, und die ihn grüßt, zurückgrüßt, er es, der begründen muss, wenn er sich einem weiteren Gespräch entziehen und in dem Buch weiterlesen will. Grüßt er aber - auch wenn es um den Preis der Unhöflichkeit ist - nicht zurück, so muss die eintretende Person, wenn sie mit dem Reisenden reden will, einen neuen Versuch der Eröffnung einer gemeinsamen Praxis starten (vgl. ausfuhrlicher: Loer 2007b). — Um nun eine einbettende Instanz hinzuzunehmen: Wenn sich die Personen A und B begegnen, so können sie grundsätzlich entweder grüßen oder eben nicht mit den Folgen, die im ersten Beispiel aufgezeigt wurden. Wenn jetzt nun etwa A ein Gefreiter und B ein Oberst ist, die sich beim Wochenendausgang auf der Straße begegnen, so ist durch die Regeln der einbettenden Struktur ,Militär' für A nur die Möglichkeit des Grüßens eröffnet, die des Nicht-Grüßens verschlossen. Faktisch kann er natürlich gleichwohl den Gruß verweigern - oder versuchen, ihn zu vermeiden (etwa durch angestrengtes Betrachten eines Schaufensters, wenn auf dem Ausgang gerade eines in der Nähe ist). Damit weicht er von den Regeln der einbettenden Struktur ab - unter Inkaufnahme von Folgen der Regelabweichung, von Sanktionen. (So berichtete mir mündlich jemand, dass er genau die Taktik des Schaufensterbetrachtens wählte - und zur Strafe stets bei Manövern die sogenannten ,Pappkameraden' tragen musste.) 8
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und analysiert werden, in denen sich eine typische Auswahl — eben die Fallstrukturgesetzlichkeit der Region niedergeschlagen hat. Bei Regionen kann nun nicht per se von einer Handlungsmitte ausgegangen werden — es gibt nicht unbedingt ein Regionalparlament, das etwa über Siedlungsformen entscheidet —, gleichwohl gehen wir von einem strukturierenden Einfluss der Region auf das Handeln ihrer Bewohner aus. Deshalb soll hier mit Bezug auf Regionen von .Einflussstruktur' 9 gesprochen werden. Wegen ihrer strukturierenden Selektionstypik ist eine Region mehr als eine bloße Ansammlung von Einflussfaktoren, wegen der fehlenden Handlungsinstanz hat sie keine Fallstrukturgesetzlichkeit im ursprünglichen Sinne der Gesetzlichkeit einer autonomen Handlungsmitte. Eine Region ist folglich ein die Handlungen der ihr Angehörenden in spezifischer Weise: durch Eröffnen und Schließen von Handlungsoptionen, beeinflussender Sozialraum. Mit dem Begriff der Einflussstruktur soll also versucht werden, eine Struktur zu bestimmen, die sich weder in einzelne Faktoren auflösen lässt, noch auf einen hemmenden Filter reduziert werden kann. Die Region ,Ruhrgebiet' nun scheint über lange Zeit hin eine Struktur ausgebildet zu haben, die dem gleicht, was Fernand Braudel mit dem Konzept der longue durée (vgl. 1958) meint, mit dem er in seiner großartigen Geschichte eines Sozialraumes: der Méditerranée (1966, 1 u. 2), diesen als historischen zu fassen versucht: „Certaines structures, à vivre longtemps, deviennent des éléments stables d'une infinité de générations: elles encombrent l'histoire, en gênent, donc en commendent l'écoulement. [...] toutes sont à la fois soutiens et obstacles. Obstacles, elles se marquent comme des limites [...] dont l'homme et ses expériences ne peuvent guère s'affranchir. [...] les cadres mentaux, aussi, sont prisons de longue durée." (Braudel 1958: 731; vgl. 1977: 55)
Dabei sind aber zwei Differenzierungen erforderlich. Einerseits bestimmt Braudel zwar die longue durée als „à la fois soutiens et obstacles", andererseits aber führt er nichts über die Strukturen als „soutiens" aus. Ohne Korrektur dieser Vereinseitigung gerieten wir in Gefahr, die Einflussstruktur ,Region' zu reduzieren auf einschränkende Randbedingungen. — Des weiteren enthält Braudels Begriff der longue durée zwei analytisch zu differenzierende Momente. Einmal begreift er longue durée als Kette von Ereignissen, in der ein je spezifisches Ereignis real steht und in die es folglich methodisch gestellt werden muss, um es angemessen zu verstehen. Das andere Verständnis von longue durée als einer konstitutiven Struktur kommt in dem Bild vom Meer zum Ausdruck, wo die Bewegungen in der Tiefe des Meeres die Gestalt der Welle an der Oberfläche mit
Dieser Terminus ist Peter Steinbach entlehnt, der formulierte: „Region erscheint [...] als ein von Zeit zu Zeit sich wandelnder Rahmen komplexer und dennoch vergleichsweise konkret aufzuzeichnender Einflußstrukturen und -faktoren, die Regionalbewußtsein weckten". (1981: 208) Steinbach unterscheidet allerdings nicht systematisch zwischen „Einflußstrukturen und faktoren" und verwendet den Terminus nicht begrifflich. 9
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erzeugen. Wenn man diese beiden Aspekte analytisch auseinanderhält, gewinnt man einen begrifflichen Zugang, mit dem man einerseits versuchen kann, die Frage zu beantworten, warum sich in der Region ,Ruhrgebiet' die genannte Struktur ausgebildet hat,10 und wie sie als spezifische Einflussstruktur, eröffnend und ausschließend, die Region prägt; andererseits kann man der Frage nachgehen, wie sich die konstitutive Struktur der Region reproduziert hat. Mit dem Terminus ,Einflussstruktur' wird eine Unterscheidung gemacht, die es erlaubt, einerseits an der Rede von Fallstruktur im engeren Sinne festzuhalten: als einer Struktur, die im methodologischen Sinne Auswahlparameter sein kann, die also im konstitutionstheoretischen Sinne eine Entscheidungsinstanz darstellt, eine Handlungsmitte hat; andererseits aber historische Individuen wie Regionen (oder auch Generationen) als Struktur erfassen zu können, ohne ihre Handlungsmitte ausweisen zu müssen. ,Einflussstruktur' bezeichnet also historische Individuen, die im methodologischen Sinne zwar Auswahlparamter sein können, d. h. Spielräume für Entscheidungen so strukturieren, dass sie aus gegebenen Optionen selegieren, im konstitutionstheoretischen Sinne aber keine Enscheidungsinstanzen darstellen. Es sind also Fallstrukturen ohne Handlungsmitte.
Die Ebene des Gegenstands Region ,Ruhrgebiet', auf der die Fallstruktur liegt, lässt sich an den Unterscheidungen, die Karl Rohe in Bezug auf die politische Kultur des Ruhrgebiets macht, nochmals verdeutlicht werden. Rohe unterscheidet zunächst einmal zwischen „Soziokultur" und „Deutungskultur" (1986: 62f.) Erstere wird dabei verstanden „als ein konstitutives Element lebensweltlicher Realität", bei deren Analyse es „stets um die Erfassung der (politischen) Lebensweise einer Gruppe, um die Entschlüsselung und Entzifferung jener Programmsprache [geht], die die Art und Weise ihres Zusammenlebens im politischen Alltag reguliert." (a. a. O.: 62) Das .eigentliche Geschäft' der Deutungskultur besteht demgegenüber darin, „tatsächliche oder mögliche politische Lebensweisen zu thematisieren und somit Soziokultur zum Gegenstand und Bezugspunkt ihrer kulturellen Aktivitäten zu machen. Anders als Soziokultur ist sie also ,Überbau', nicht unmittelbarer Bestandteil der Lebenswirklichkeit" (a. a. O.: 63). Bezogen auf die Region entfaltet Rohe diese Bedeutungen folgendermaßen: „Von Regionalkultur soll dann gesprochen werden, wenn sich verhaltensmäßig verfestigte Orientierungen des Denkens, Fühlens und Handelns im geschichtlichen Prozeß regionalspezifisch so verdichtet haben, daß zwischen einer Region und ihrer Umwelt eindeutig kulturelle Unterschiede existieren, wie schwierig es auch immer sein mag, sie empirisch exakt zu erfassen." (a. a. O.: 64)
10 Es geht dabei nicht darum, einen ersten Anfang zu bestimmen: „mit Bezug auf anfangslose Prozesse dient die Rekonstruktion eines Prozesses in der Form eines theoretischen Modells als Erklärungsmittel." (Elias 1983: 40)
1 Einleitung • 17
Hiervon unterscheidet Rohe „regionales Identitätsbewusstsein" und „politischen Regionalismus" (ebd.) und führt aus: „Damit regionales Identitätsbewußtsein entsteht, bedarf es jedoch stets einer politischen Deutungskultur, die sich zumindest ansatzweise auf Regionalität überhaupt und darüber hinaus auf eine konkrete Region einläßt." (a. a. O.: 65)
„Regionalkultur" liegt für Rohe auf der Ebene der „Soziokultur", die sich begreifen lässt „als ein Rahmen, innerhalb dessen sich die Lebenspraxis handelnder, fühlender und denkender Menschen bewegt und durch den ihr Denken, Fühlen und Handeln konditioniert, freilich nicht determiniert wird." (a. a. O.: 61) Damit ist die Ebene des Habitus und der Deutungsmuster visiert, die allerdings nicht als ,konditonierend' begriffen werden kann und als Rahmen unterbestimmt ist. Rohes Bemerkung, „daß jede Kultur [...] eine spezifische Selektivität besitzt", weist die Regionalkultur als Einflussstruktur im oben explizierten Sinne aus, die im Habitus und in den Deutungsmustern der von ihr ,beeinflussten' Handelnden in dem Sinne wirkt, dass diese bestimmte Handlungsoptionen (deutend und/oder handelnd) realisieren und andere nicht. „Regionales Identitätsbewusstsein" stellt demgegenüber eine artikulierte Selbstdeutung als einer spezifischen Region zugehörig dar und kann in einem „Regionalismus" politisch aktiv werden. Insofern verweist „ein sichtbar werdender Regionalismus und ein artikuliertes regionales Sonderbewußtsein in aller Regel auf die Existenz einer Regionalkultur zurück" (a. a. O.: 64f.), wobei umgekehrt aber gilt, „daß eine (politische) Regionalkultur auch dann vorliegen kann, wenn ein regionales Identitätsgefühl nicht existiert." (a. a. O.: 64) Die Frage also, ob die objektiv vorliegende regionale Soziokultur oder eben Einflussstruktur als artikulierte Selbstdeutung, als „artikuliertes regionales Sonderbewusstsein", subjektiv realisiert wurde, ist für unsere Untersuchung nachrangig. Die objektiv praktisch wirkliche Einflussstruktur ist allerdings — anders als konstruktivistische Konzepte von regionalen Identifikationsprozessen unterstellen11 - Voraussetzung für die Selbstdeutung einer Region und für die politische Wendung dieser Selbstdeutung im Regionalismus. Es geht hier also um „die an der Ruhr entstandenen, die Lebenspraxis handelnder, denkender und fühlender Menschen in den meisten Lebensbereichen bestimmenden soziokulturellen Selbstverständlichkeiten" (a. a. O.: 69).12
Vgl. Wollersheim/Tzaschel/Middell 1998. — Die Frage, inwiefern „regionale Identitäten [...] bis zu einem gewissen Grade stets auch ,gemacht' werden und .gemacht' werden müssen" (Rohe 1986: 66) wird hier nicht mit Bezug auf politische Identitäten behandelt. Dass auf der Ebene von Soziokultur oder eben Einflussstruktur eine rekonstruierbare Identität emergieren kann, ohne dass ein politischer Regionalismus, ja ohne, dass eine Selbstdeutung als regionalspezifisch vorliegen muss, wird gezeigt werden. 11
Rohe hält gegenüber den Deutungen des östlichen Teils des Ruhrgebiets als ,westfälisch' und seinem westlichen Teil als .rheinisch' fest, dass die genannten „Selbstverständlichkeiten" „einerseits den rheinischen und westfälischen Teil des Ruhrgebiets überspannten und sich andererseits immer weiter von den sozialkulturellen Realitäten der historische Provinzen 12
18
1 Einleitung
Es geht hier nicht darum, die Einflussstruktur Region als eine Ursache, gar als einzige Ursache für bestimmte, in der Region auftauchende Phänomene zu behaupten. Wenn also spezifische Erscheinungen der Region verstanden und erklärt werden sollen, so sind durchaus andere Momente als das hier visierte der Einflussstruktur relevant. Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Kirchenhistoriker, die sich in Münster in einem Arbeitskreis für kirchliche Zeitgeschichte zusammengefunden haben, versuchen das Entstehen sogenannter katholischer Milieus u. a. mit Rückgriff auf Seymour Lipsets Konzept der Cleavages zu erklären. Ihre entsprechende Untersuchung (AKKZG 2000) ist regionenvergleichend angelegt und tatsächlich können sie Momente isolieren, die für die Milieubildung eine Rolle zu spielen scheinen. Die Autoren stellen aber auch klar, dass Regionalspezifika die generellen Annahmen erheblich modifizieren. So zeigt sich, dass bei dem Cleavage Arbeit/Kapital im Ruhrgebiet die Arbeitervereine sehr bedeutsam waren, auf die Klerus und bürgerliche Zentrumsführer rasch reagierten (a. a. O.: 382). Hier wirft der Ansatz, der regionenübergreifende Erklärungen generieren will, gerade durch den Vergleich ein Erklärungsproblem auf: die Spezifik der Region. 13 An solchen Erklärungsstellen — ein weiteres, im Verlauf der Arbeit noch näher zu behandelndes Beispiel hierfür ist der auf Granovetter zurückgreifende Ansatz Gernot Grabhers, die Ruhrgebietsspezifik im wirtschaftlichen Handeln zu bestimmen (vgl.Loer 2006d) — erweist sich das Modell der Einflussstruktur als erklärungskräftig.
Für die ausführliche konstitutionstheoretisch-methodologische Begründung, in der die allgemeine sozialwissenschaftliche Methode der objektiven Hermeneutik, mit der die hier vorliegende Untersuchung durchgeführt wurde, verankert ist, sei hier ebenso wie für die Kunstlehre für die Forschungspraxis, die die je konkret angemessene Umsetzung der methodischen Postulate sichert, da sie nicht schlicht im Sinne einer deduktiv-nomologischen Messtheorie operationalisiert werden kann, auf die einschlägige Literatur verwiesen: Oevermann 1988, 1991, 1993 (insbes.: 248-269), 2000a u. 2002, vgl. Loer 2006a; Wernet 2000. Eine wichtige methodologische Differenz zu den gängigen anderen Verfahren der sinnverstehenden Wissenschaften sei in unserem Zusammenhang jedoch Rheinland und Westfalen entfernten." (ebd.) Inwiefern die Gemeinsamkeiten von heute auf diesen historischen Provinzen auch schon historisch Vorausgehendem aufruhen, wird zu thematisieren sein. Zugleich wird damit aber auch die Begrenztheit eines Ansatzes deutlich, der letztlich funktionalistisch die Frage nach der Handlungsrelevanz der Cleavages: Was wird den Handelnden zum Handlungsproblem und warum? ausblendet. Wenn es aufgrund regionaler Abweichungen der statistischen Daten heißt, „daß regionale Sonderidentitäten in jedem Fall ein starkes Eigengewicht behielten" (a. a. O.: 385), dann wird damit unterstellt, dass im Falle der NichtAbweichung diese Gestalt nicht positiv durch „regionale Sonderidentitäten" konstituiert wird; das ist aber an keiner Stelle begründet. 13
1 Einleitung • 19
erwähnt: Die objektive Hermeneutik begründet ihren Namen ja unter anderem darin, dass sie nicht von subjektiv gemeintem Sinn ihren Ausgang nimmt, sondern ihren Gegenstand in den Bedeutungsstrukturen von Handlungen findet, Bedeutungsstrukturen, die objektiv durch Regeln hervorgebracht werden. Dieser Punkt soll hier in Bezug auf den Gegenstand der Region erläutert werden. Alles Handeln ist sequenziell strukturiert und die sequenziellen Abläufe sind wie folgt zu verstehen: Auf der einen Seite stehen die Regeln als Eröffnungsparameter, die mögliche Handlungsanschlüsse und deren Bedeutung objektiv festlegen, auf der anderen Seite steht die Handlungsinstanz, die aus den durch Regeln eröffneten eine Möglichkeit - und somit zugleich ihre Folgen — auswählt und damit zugleich die anderen mit ihren Folgen ausschließt: methodologisch gesprochen, handelt es sich hier um den Auswahlparameter. Wenn nun eine Region als Einflussstruktur und damit als Fallstruktur ohne Handlungsmitte konzeptualisiert werden muss, so stellt sich die Frage, wie diese Struktur methodisch rekonstruiert werden kann, wenn es den Auswahlparameter im eigentlichen Sinne nicht gibt. Auf der Ebene der Soziokultur (Rohde) werden durch die Handelnden Auswahlen getroffen, die als sich bewährende in die Soziokultur als Handeln bestimmende eingehen. Die Sequenzanalyse, der die verschrifteten Interviews unterzogen werden (vgl. Kap. 3), macht das Kernstück der Verfahren der objektiven Hermeneutik aus. Wie sie in der Analyse der Handlungsprobleme und deren Lösung, die die Bildungsgeschichte der Region ausmachen, genau der Folge von Eröffnungen und mit Ausschlüssen verbundenen Auswahlen folgt, wird sich in dem ersten materialen Kapitel dieser Arbeit selbst (Kap. 2) erweisen müssen. In Exkursen werden die methodologischen und konstitutionstheoretischen Fragen gebündelt erörtert werden. Die Typik der aufeinanderfolgenden verschiedenen Auswahlen charakterisiert den Fall und lässt sich als dessen Gesetzlichkeit bestimmen. Dies ist erst möglich, wenn das Wissen über den Fall, über das man aus anderen Quellen schon verfügt, nicht zur Gewinnung vor allem aber nicht zum Ausschluss von Lesarten, d. h. zur Entfaltung der Folie der möglichen Anschlüsse benutzt wird. Diese Maxime ist für die Rekonstruktion der Bildungsgeschichte einer Region umzusetzen in der Kenntnisnahme der — besonders für das Ruhrgebiet ja in Legion vorliegenden — Darstellungen und Einordnungen des Falles bei deren gleichzeitiger Suspendierung als gültigen Rekonstruktionen der Fallstrukturgesetzlichkeit.
Kapitel 2 Historische Konstellationen 1
Was ist die Frage
Stellt eine Region tatsächlich ein historisches Gebilde mit Fallstruktur dar, so muss seine Bildungsgeschichte ernstgenommen werden. Bereits bei der Rekonstruktion einer biographischen Fallstruktur kann die Bestimmung des Beginns ihrer Bildungsgeschichte nicht auf eine natürlich gegebene Tatsache: die Geburt, zurückgreifen. Die familiale Konstellation (vgl. Oevermann 1990; s. auch Adler 1929: 25) hält die Handlungsprobleme vor, die Gegenstand, Widerlager und Born der sich bildenden Lebenspraxis darstellen. Das, was in Bezug auf die Fallstruktur einer besonderen Person ,familiale Konstellation' zu nennen ist, ist seinerseits Ausdruck der Fallstruktur der Familie, in deren Bildung u. a. die ganze Geschichte der früheren Generationen eingeht. Der Anfang der Rekonstruktion einer personalen Fallstruktur ist also stets eine pragmatische Setzung, die zu verschieben wir im Laufe der Analyse gezwungen sein können. Sich dafür offenzuhalten ist eine Forderung der Kunstlehre der objektiven Hermeneutik. Wo ist nach dieser Vorüberlegung bei der Analyse einer Region der Beginn zu setzen? Da eine Region geographisch lokalisiert ist, liegt es nahe, selbst wenn Migrationsereignisse darauf schließen ließen, dass die Annahme einer autochthonen Bevölkerung 1 völlig fiktiv wäre, auf die frühesten Zeugnisse einer Konstitution der geographischen Gegebenheiten als Handlungsraum, d. h. auf die frühesten Zeugnisse des handelnden Umgangs zurückzugehen — ohne der Fiktion zu verfallen, hier einen punkthaften Ursprung erfassen zu können. Dieses Kapitel legt den Schwerpunkt nicht auf eine detaillierte und vollständige Darstellung der historischen Ereignisse und Verläufe. 2 Seine Zielrichtung ist eine Hier stellt sich generell die Frage, was denn eine Bevölkerung als autochthone konstituieren sollte. Da das Erdreich nicht seine Bewohner hervorgebracht hat, sind sie wohl fast überall auf der Erde irgendwann zugewandert. Um gehaltvoll von einer autochthonen Bevölkerung reden zu können, bedarf es der Bestimmung der raumbezogenen Handlungsprobleme, die konstitutiv in die Soziokultur dieser Bewohner des Raumes eingehen. 1
Das wäre auch schon für einen Historiker ein schwieriges Geschäft: „Die ältere Geschichte des heutigen Ruhrgebiets kann man nur aus nicht gerade paßgerechten Teilen der Landesund der Lokalgeschichte zusammenzusetzen versuchen." (Scheler 1990: 111) Selbst der Historiker, der immer auch erzählt, wie die Geschichte abgelaufen ist, „muß [...] Lücken in Rechnung stellen": „Große Teile der menschlichen Vergangenheit sind [...] entweder für immer versunken oder aber in einen Nebel getaucht, den nur wenige Lichtstrahlen durchbrechen." (Bloch 1939: 230) Den Soziologen, der nicht Geschichten erzählt — es sei denn, mit dem Ziel, Protokolle zu erstellen sondern Strukturen rekonstruiert, der - methodologisch ausgewiesen - unterstellten darf, dass die zu rekonstruierende Struktur sich nicht nur in ein2
2 2 • 2 Historische Konstellationen
systematische, die die Konstellation, der das Ruhrgebiet als Region in seiner rekonstruierbaren Gestalt entsprang, zu bestimmen sucht. Dazu werden Daten ausgedeutet, die die Emergenz dieser Gestalt plausibel machen, sowie solche, die dieser Ausdeutung, die im Zuge der Darstellung an Prägnanz gewinnen soll, möglichst kraftvoll entgegenstehen und somit Kandidaten für aussichtsreiche Falsifikatoren darstellen.
Exkurs zur Kategorie .Handlungsproblem' Die Kategorie .Handlungsproblem' als Bezeichnung für die dem Handelnden entgegentretenden Bedingungen seines Handelns, seien dies solche der Geographie, des Klimas oder der Kultur, scheint nur die negative Seite des Gemeinten zu betonen; um ihre Angemessenheit zu prüfen, sollen hier die verschiedenen anderen möglichen Termini geprüft werden. Es sind dies: .Chance', ,Option', Opportunität',,Möglichkeit' und ,Risiko'. Die Bedeutung von ,Chance' wird bei Kluge (1995) mit: ,glückliche Gelegenheit' angegeben, zurückgehend auf einen französischen Ausdruck beim Würfelspiel, das den (guten) Fall der Würfel bezeichnet; das ältere ,Schanze' weist Kluge aus als ,Glückswurf, entlehnt aus altfranzösisch cheance,Glückswurf, Einsatz', übertragen ,Wechselfall', was einem mittellateinisch *cadentia .Fallen der Würfel' (zu lateinisch cadere .fallen") entspricht. Dieser Terminus ist für die Bezeichnung der positiven wie negativen Möglichkeiten, die dem Handelnden geboten sind und ihn herausfordern, nicht geeignet, da er zum einen nur die positiven auszeichnet, zum anderen den Handelnden nicht als solchen, sondern nur als vom Ergebnis des Ereignisses (positiv) Betroffenen mit bedenkt. Der für den hier thematischen Gegenstand vielfach - auch in der vorliegenden Studie — verwendete Terminus ,Option1 setzt den zu ,Chance' entgegengesetzten Akzent: von optare, also wünschen herstammend, betont er wörtlich genommen (Wahl, Willkür, Wunsch) den Handelnden als die Entscheidungsinstanz; mit ,Option' dürfte strenggenommen nur die bereits gewählte Möglichkeit bezeichnet werden. Von opportunitas ,günstige Lage', ,gute Gelegenheit' (zu opportunus, das aus der Seemannssprache kommt, in der es den [ventus] ob portum [veniens] — Menge 1963 —, den günstigen Wind bezeichnet) stammend, hat der Terminus ,Opportunität zwar den Handelnden mit im Blick: dieser muss die Gelegenheit ergreifen; es ist
zelnen Ereignissen - deren Protokolle möglicherweise verschollenen sind - ausdrückt, sondern eine durchgängige Prägekraft entfaltete, stören diese Lücken nicht. Allerdings gilt für ihn selbstverständlich, was Bloch für den Historiker wie für alle „Gelehrten, die sich mit Tatsachen beschäftigen, die zeitlich genau lokalisierbar sind" (a. a. O.: 229), festhält: Sie werden nie von Phänomenen erfahren, sollten „die Spuren, die sie hinterlassen haben [...] aus irgendeinem Grunde verloren gehen." (a. a. O.: 229)
2.1 Vorbemerkung • 23
aber diese stets die günstige, der Handelnde muss sich nicht unbedingt mit ihr auseinandersetzen. Im Ausdruck ,Möglichkeif sind nun nach dem Grimmschen Wörterbuch (Grimm/Grimm 1885: Sp. 2468f.) vier Bedeutungen festzuhalten, die der Terminus eingrenzt: 1) „von personen, zustand der kraft"; 2) „das können in einem einzelnen, auf eine bestimmte sache bezogenen falle" (verwandt mit ,möglich' i. S. v. „was einer bestimmten menschlichen kraft gemäsz ist"); 3) „das geschehen oder vorkommen können" (verwandt mit ,möglich' i. S. v. „was geschehen kann; ohne dasz an die leistung einer bestimmten kraft mehr gedacht wird"); 4) „der plural möglichkeiten in die bedeutung mögliche fälle überschlagend". Die beiden letzten Bedeutungen, davon wiederum vor allem die letzte kommen dem von uns visierten Gegenstand schon recht nahe. Aber entweder wird der Bezug auf das Handeln ausgeblendet („er ist so von sich eingenommen, dasz er sich die möglichkeit eines nebenbuhlers nicht träumen läszt" — 3) oder die etymologische Verwandtschaft lässt aber doch die Möglichkeit (3) des Scheiterns unterbelichtet („sein witz durchstreift sogar die geisterweit,/das dunkle land entlegner möglichkeiten" - 4). Der Terminus ,Risiko' betont wiederum die negative Seite der Möglichkeit (3) jedenfalls, wenn Kluges Herleitung stimmt: „Wahrscheinlicher ist [...] eine Ableitung vor-rom. *rixicare zu 1. rixari ,streiten, widerstreben'; das Wort hätte also den unkalkulierbaren Widerstand im Kampf bezeichnet und wäre von dort aus verallgemeinert worden." (Kluge 1995: 688) Diese Bedeutung trifft sich weitgehend mit dem Alltagssprachgebrauch heute. Dennoch kann man auch sagen: Jedes Risiko birgt eine Chance' (i. S. v.: ,wer wagt, gewinnt'). Für Problem' nun gibt Gemoll (1954) folgende Bedeutungen an: 1) Vorsprung, Vorgebirge, Klippe; 2) das Vorgehaltene, Schutzwerk; 3) das Vorgelegte, Aufgabe, Streitfrage. Zudem verweist er auf die Herkunft von J t p o ß X r ) n a aus JtpoßaX.X.00, wofür wiederum folgende Bedeutungen angeben sind: A. I. act. tr. 1. vorwerfen, hinwerfen; im bes. a. vorhalten, entgegenstellen b. vorlegen (eine Frage, Aufgabe); 2. wegwerfen; II. intr. vordrängen, (v. Pflanzen) treiben, ausschlagen. B. med. 1. sich etw. vorhalten, schützen; 2. vor sich hinwerfen a. hinstreuen, b. verabscheuen; 3. jem. vorschlagen zu einem Amt; 4. jem. übertreffen. - Dieser Terminus umgrenzt also am ehesten das Gemeinte mit allen relevanten Momenten: Es übt einen Widerstand auf ein Handeln aus;3 es hat einen Bezug auf das Handeln als zu lösendes Problem; der Ausgang ist offen, weder durch Bezug auf die Fähigkeit des Handelnden (Möglichkeit), noch durch spezifische Bedeutung auf der Seite der Möglichkeit (Chance/Risiko) vorentschieden. Wenn man nun den Ausdruck ,Problem' durch .Handeln' ergänzt, so liegt mit ,Handlungsproblem' ein Terminus vor, der auf den Begriff bringt, was dem
3
„Wo kein Widerstand ist, ist auch kein Weg." (Andrea Köhler)
24 • 2 Historische Konstellationen
Handelnden in seinem Handeln begegnet. — Dabei sei noch einmal betont, dass, was dem Handelnden begegnet, vom Handelnden selbst nicht unabhängig ist.4 — Ende des Exkurses.
4
„Wär nicht das Auge sonnenhaft, / Die Sonne könnt es nie erblicken; / Läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft, / Wie könnt uns Göttliches entzücken?" (Goethe: 1982: 367)
2
Bruchwald und Fluss Ausgang von den geologischen, klimatischen und geographischen Handlungsproblemen
2.1
Geologie, Klima, Geographie und die erste Besiedlung
Die Analyse einer Region als eine soziologisch-historische Strukturanalyse m u s s mit der Analyse der geographischen Gegebenheiten 1 beginnen. Diese setzen f ü r die H a n d l u n g s p r o b l e m e (s. o.) Bedingungen, d e n e n eine die Region besiedelnde Lebenspraxis sich stellen muss. Hierbei ist folglich unterstellt, dass eine Region sich z u n ä c h s t d u r c h geologische u n d g e o g r a p h i s c h e F o r m a t i o n e n a b g r e n z e n lässt: „Die Geographie untersucht die einzelnen Erscheinungen an der Erdoberfläche in ihrer mannigfaltigen wechselseitigen Verflechtung. Der natürliche Charakter der einzelnen Regionen wird durch die Gestaltung des Reliefs, das infolge der geologischen und morphologischen Entwicklung entsteht, durch die klimatischen Erscheinungen, durch die Wasserverhältnisse und die Erscheinungen des Lebens, d.h. der Pflanzen- und Tierwelt, bestimmt. Dabei stehen diese Erscheinungen nicht isoliert nebeneinander, sondern ergeben eben durch die vielfältige und wechselseitige Verflechtung Einheiten höherer Ordnung, die natürlichen geographischen Einheiten. Der Mensch, [...] greift in mannigfaltiger Weise in diesen natürlichen Zusammenhang ein. Er ist aber immer, wenn auch nicht in direkter und primitiver Abhängigkeit, an die geographischen Tatsachen gebunden, denn die Erde ist sein allgemeinstes Arbeitsmittel, und alle Substanzen, die er zur Befriedigung seiner Bedürfnisse benötigt, entstammen letzten Endes den im geographischen Rahmen der Erdoberfläche verfügbaren Stoffen, der geographischen Substanz." (Neef 1974: 31)2 Z u r B e s t i m m u n g einer Region als einer geographischen Einheit ist es sinnvoll, v o n außen n a c h innen vorzugehen, also die großräumige E i n b e t t u n g u n d die mit ihr gesetzten Bedingungen zu b e s t i m m e n , u m d a n n nach u n d nach deren Spezifizierung im Hinblick auf die Handlungsoptionen in der Region v o r z u n e h m e n . 3
1 Die „geographischen Erscheinungen" unterliegen einer „gesetzmäßigen Ordnung" in die zentral die „geographische Substanz", die „weitgehend durch die geologische Entwicklung der Erdkruste bestimmt" ist, und die wesentlich durch die astronomischen Gegebenheiten bedingten Klima- und Vegetationszonen eingehen (Neef 1974: llf.). 2
Dieser realistische Begriff von einer Region als abgrenzbarer Einheit ist methodologisch abgesichert. Demgegenüber ist das letztlich konstruktivistische Verständnis von Region etwa in der Umfrageforschung (vgl. etwa Hoffmeyer-Zlotnik 2000: 39) für eine soziologische Analyse, die immer ihren Ausgang von dem Handlungsproblem nehmen muss, als mit dem konfrontiert die zu untersuchende Lebenspraxis in ihrem Handeln sich erfährt, unbrauchbar. 3
Für das Ruhrgebiet bedeutet dies: a) gemäßigte Zone, also deutliche Temperaturunterschiede zwischen den einzelnen Jahreszeiten und recht verschiedene Tageslängen (Neef 1974: 12); b) Westwindgürtel, also wechselhaftes Wetter, in dem die Zyklonentätigkeit bei vorherrschenden Westwinden das Wettergeschehen bestimmt (a. a. O.: 14); c) Gürtel gemäßigten Klimas, deutliche Unterschiede zwischen den Jahreszeiten, wechselhafte, nur schwer auf
26 • 2 Historische Konstellationen
Es seien hier — unter Berücksichtigung dieser diversen Aspekte - zunächst einmal die geologischen, klimatischen und geographischen Bedingungen im Ausgang von verschiedenen Darstellungen und im Hinblick darauf betrachtet, als mit welchen Handlungsproblemen konfrontiert die potenziell in dem betreffenden Raum lebenden Menschen sich überhaupt erfahren mussten.4 „Nachdem die Eiszeit mit der Erreichung des Kammes des Ardeygebirges den Höhepunkt ihrer Wirksamkeit erreicht hatte, schmolz in der darauffolgenden Zeit infolge allmählicher Erwärmung die Eiswand ab, und die Grenze des Inlandeises zog sich weit nach Norden zurück. [...] Nach dem Rückzug des Eises bedeckte der Geschiebemergel die pflanzenlose Landschaft, über die der Wind mit ungehemmter Kraft dahinbrauste. Dabei führte er die feinen Staubteilchen mit sich fort und lagerte sie im Windschatten von Erhebungen wieder ab. Diese tonig kalkigen Ablagerungen nennt man Löß. [...] Der Löß bedeckt die Gehänge und Täler und kann oft erhebliche Mächtigkeit besitzen. Durch Niederschläge und eindringendes Wasser wurde der Löß fast überall entkalkt und durch das Wasser oft von seiner ursprünglichen Lagerstätte an den Berghängen in das Tal verfrachtet. Wir finden daher vom K a m m des Ardeygebirges bis in das Hellwegtal hinab in Tälern und an den Hängen den entkalkten Löß, Lößlehm genannt, der für die
längere Zeit vorauszusehende Witterung für alle Jahreszeiten (a. a. O.: 18); d) matritim beeinflusstes Klima, also starke Niederschläge, keine extrem warmen Sommer und extrem kalten Winter (a. a. O.: 20/22); e) Zone sommergrüner Laubwälder, also keine extremen Winterfröste (a. a. O.: 25); wirkliche Temperatur im Januar im langjährigen Mittel: +1,6° C; keine Frostgefährdung der Flüsse; wirkliche Temperatur im Juli im langjährigen Mittel: 17° C; Dauer der kalten Periode: 60 bis 80 Tage, kaum Eistage; Dauer der warmen Tage: 20 bis 30 Tage; jährliche Niederschläge: 750 bis 1000 mm; Frühlingseinzug (Beginn der Apfelblüte): 20. bis 29. April; Hochsommeranfang (Beginn der Roggenernte): 17. bis 23. Juli - all diese Angaben zeigen im Vergleich sowohl mit dem nördlich der Lippe benachbarten Münsterland (hier besonders beim Frühlingseinzug) als auch mit dem südlich der Ruhr benachbarten Sauerland sehr günstige klimatische Bedingungen (Diercke 1971: 22); f) humides Gebiet, also für Vegetation günstiger Wasserhaushalt, abwärts gerichtete Bewegung des Bodenwassers, Verkarstungsgefahr; aber: „Unter sommergrünen Laubwäldern mit ihren milderen Humusformen (Mull, Moder) sind die Auslaugungsvorgänge wesentlich geringer. Hier entstehen [...] die fruchtbarsten Braunerden (braune Waldböden)." (Neef 1974: 29); g) Lößbildung am Rande der Mittelgebirge in den Eiszeiten des Pleistozäns (wegen der Vegetationslosigkeit sind die Abtragungen, die sich als Löß ablagern, möglich). In der Siedlungsgeschichte wird dies unter dem Terminus der landschaftsgestaltenden Faktoren bzw. der Einflussfaktoren für die materielle Produktion dargestellt (Lange 1971: 5). Rafael von Uslar spricht im Rückgriff auf Lange von „Siedlungsfaktoren" (1980: 12) und differenziert: „Die natürlichen [...] Verhältnisse wirken sich zweifellos auf Art, Intensität und Gang der Besiedlung aus; sie bestimmen diese aber ebenso gewiß nicht allein." (a. a. O.: 16) — Diese Bezeichnungen gehen aber von einem unabhängig vom Siedlungshandeln vorhandenen ,physiogeographischen Milieu' aus und blenden damit aus, dass dieses als physiogeographisches Milieu-, als Handlungsproblem, erst durch das Siedlungshandeln konstituiert wird. - Der Ausgang von Handlungsproblemen als im Handeln konstituiertem Widerlager desselben ist nicht mit dem Verfahren des Analogieschlusses zu verwechseln, das Martin Kuckenburg als gängiges Verfahren der Prähistoriker herausstellt und — wenngleich er es für unvermeidlich h ä l t - z u Recht problematisiert (2000: 9).
4
2.2 Bruchwald und Fluss • 27 zahlreichen Ziegeleien einen guten Rohstoff bildet. Auch die gesamten Ablagerungen der Kreidezeit nördlich des Emschertales sind von einer dicken Decke von Lößlehm überlagert, die nur selten bei Ausschachtungen von Baugruben und an Wegeböschungen bis auf die Kreide durchstoßen wird. An den tiefsten Stellen der eingeschnittenen Täler des Nordhanges des Ardeygebirges wird die Lößdecke von den Bächen durchschnitten, an deren Rändern dann die älteren Schichten des Karbons zu sehen sind. Der Lößlehm ist für die Landwirtschaft gut geeignet, da er mittelschwer und daher gut zu bearbeiten ist. Leider ist er namentlich in seinen oberen Schichten sehr kalkarm, weshalb man diesen Mangel früher dadurch zu beseitigen suchte, daß man den kalkhaltigen Kreidemergel, den man in zahlreichen Mergelgruben abbaute, auf den Acker brachte." (Halberstadt 1928: 29f.) Schon die geologischen Formationen gehen — das zeigt sich hier am Beispiel des Lößlehms — in dem Moment, w o Handeln ins Spiel kommt und somit ein bestimmbarer Naturausschnitt 5 qua Landschaft wird, in dieses Handeln als Probleme, als mit denen konfrontiert die Handelnden sich erfahren, ein. Raum konsitutiert sich primordial qua Handlungsraum. Die Besiedlung findet nicht auf der tabula rasa eines geodätisch bestimmbaren Ausschnitts der Oberfläche des Planeten Erde statt, sondern in einem Handlungsraum, der dadurch bestimmt ist, dass die Siedler sich in ihm als mit bestimmten Problemen konfrontiert erfahren. So eröffnet der Raum Chancen und hält Widrigkeiten entgegen. 6 Hier bietet der Lößlehm die Chance des Gewinns v o n Baumaterial und der Beackerung, somit zwei wesentliche Momente des Siedeins. Eine Widrigkeit ist mit dem Kalkmangel gesetzt, der als Mangel ja wiederum erst in einer spezifischen Handlungsper-
5 Diese - geodätische — Bestimmung setzt konstitutionslogisch eine Abstraktion vom Handeln voraus. Vgl. für die Bestimmung von Landschaft die Arbeiten von Ellen Churchill Semple (1903, 1911, 1932) - etwa in ihrem Werk über das Mittelmeer: „The line of the .¿Egean, Marmara, Black Sea and Azof divides Asia and Europe in a physical sense, but unités them in an historical sense." (1932: 4) - und Fernand Braudels Méditerranée - etwa seine Bestimmung der Berge: „Qu'est-ce au juste qu'une montagne? [...] Car la montagne est un refuge contre les soldats ou les pirates, tous les documents le dise, et déjà la Bible. Parfois, le refuge devient définitif." (1966, 1: 27); „La montagne, c'est de n'en point avoir, de rester en marge, assez régulièrement, des grand courants civilisateurs qui passent avec lenteur cependant." (a. a. O.: 30); „En montagne, la civilisation reste donc une valeur peu sûre." (a. a. O.: 31)
Auch so scheinbar sinnneutrale Formulierungen wie diejenige von Ludger Tewes, die unserer Argumentation ansonsten sehr entgegenkommt: „Auffällig ist [...] der Ost-West[-]Verlauf aller drei Flüsse [sc. Ruhr, Emscher und Lippe], die den von Süden nach Norden hinziehenden Rhein treffen und damit ein natürliches Raster landschaftlicher Geschlossenheit markieren" (1988: 11), setzen den Bezug auf das Handeln der - potenziellen - Bewohner voraus, den Bezug auf die Bedingungen, die die „geographisch geschlossene Zone" (ebd.), die „naturräumliche Einheit" (a. a. O.: 13) ihnen vorhält. Die Abstraktion vom Handeln, die solche Begriffe bedeuten, wird sofort deutlich — und zurückgenommen - wenn es etwa in Bezug auf letztere, mit der eine Untereinheit zwischen Emscher und Lippe gemeint ist, heißt, ihre „Isolation [sei] durch wenige Straßen, etwa von Dorsten nach Essen und von Recklinghausen nach Bochum über die Talaue der Emscher hin, durchbrochen" worden (ebd.). 6
28 • 2 Historische Konstellationen spektive: der des auf (spezifischen) Pflanzenanbau, damit auf periodischen Pflanzenwuchs ausgerichteten Ackerbauern, erscheint. „Eine erhebliche Unterbrechung erfährt die Lößlehmdecke durch das Hellwegtal, das sich in großer Breite von der Soester Gegend bis zum Rhein erstreckt." Es „bildete sich gerade hier ein breites Tal, [...] es enthält außer auf einigen Inseln (Hostedde, Grevel, Lanstrop und Kirchderne, Brechten, Eving) keinen Lößlehm, ist vielmehr in diesen noch seitlich eingeschnitten. Heute durchfließen nur noch kleine Bäche dieses breite Tal, und erst von Dorstfeld an nimmt die Emscher ihren Weg durch das Hellwegtal, nachdem sie vorher ihr eigenes Tal von Sölde her ungefähr gleichlautend zum Hellweg durchflössen hat. Auch die Entstehung des Emschertales bis Dorstfeld führt man auf die Eiszeit zurück. [...] Die Talsohle ist hauptsächlich aus tonigen und sandigen Ablagerungen gebildet. Das Tal selbst ist in früherer Zeit schwer begehbar gewesen, da es immer sumpfig war. Die Nähe des Wassers und der trockene Talrand waren die Ursache, daß sich hier bald Menschen ansiedelten. Unter den Talsiedelungen erhielten diejenigen die größte Bedeutung, die einen bequemen Übergang über das Tal hatten. Vielleicht erklärt sich so die Siedlungslage der Hörder Altstadt, da gerade in ihrer Nähe das Emschertal ziemlich schmal und daher leicht zu überschreiten ist." (Halberstadt 1928: 30f.) Auch hier wird durch den Bezug auf das Handeln der siedelnden Menschen der Raum als Handlungraum konstituiert. Die Rede von der „Ursache, daß sich hier bald Menschen ansiedelten", verdeckt dies — allerdings auf eine leicht einsichtige Weise, wird doch schlicht die Perspektivität der Praxis und die spezifische Perspektive der Siedler als gegeben unterstellt. Die vorfindlichen Bedingungen sind aber nicht wörtlich „Ursache" des Handelns, sie werden vielmehr erst als vorhandene, d. h. als Handlungsprobleme zu Momenten desselben wie des durch es konstituierten Raumes. 7 Die müßige Betrachtung, die v o n der Handlungsperspektive abstrahieren kann, ist eine späte historische Errungenschaft, die den
In der Perspektive seiner „dynamischen Länderkunde" (Spethmann 1928) formuliert Hans Spethmann: „Für landschaftliche Zusammenhänge kommt es [...] nicht auf die geologischen und morphologischen Beobachtungen als solche an, sondern es gilt, sie mit andern Dingen in Beziehung zu setzen, hierbei ihre Bedeutung richtig abzugrenzen und sie dann zutreffend einzufügen." (1933: 604) Das Kriterium des in Beziehung Setzens und der Bestimmung der Bedeutung weist Spethmann hier nicht aus; einer soziologischen Analyse ist es das objektive Handlungsproblem, das die in den „geologischen und morphologischen Beobachtungen" festgehaltenen Phänomene vorhalten und in das die ,andern Dinge' eingebunden sind. Allerdings ist festzuhalten, dass Spethmann diese Auslegung seines Vorgehens nicht stets stützt. Wenn er etwa formuliert: „Es ist das menschliche Nützlichkeitsmotiv, das sich auswirkt [sc. bei der Gestaltung der Landschaft]. Der Mensch bedient sich dessen, was ihm der irdische Boden mit seinen Naturgaben darbietet. Er sucht es entsprechend der jeweiligen Zeidage und den Fortschritten der Kenntnisse und Erkenntnisse höchstwertig auszunutzen." (Spethmann 1938: 693) Hier verkennt Spethmann, der unmittelbar im Anschluss gleichwohl aber eben nicht konkret spezifiziert - vom „Wechselspiel" spricht, dass erst die „Kenntnisse und Erkenntnisse" überhaupt die „MzÄtfgaben" als „Naturgaben" konstituiert. 7
2.2 Bruchwald und Fluss • 29 Raum „als solchen" durch diese Abstraktion: das Absehen v o n der praktischen Konstitution, theoretisch (im Wortsinne: schauend) konstituiert. „Die oft mehrere Kilometer breiten Hauptterrassen des Altpleistozäns waren einst Spielräume von Flußsystemen, die ständig mäandrierend ihr Hauptbett verlagerten und mit Nebenrinnen und verlandenden Totarmen eine naturgemäß offene und für Jäger siedlungsgünstige Landschaft formten. Wasser und Wild waren reichlich vorhanden, Steinmaterial zum Anfertigen von Werkzeugen gab es im Überfluß, und angeschwemmtes Treibholz erleichterte den Bau von Unterschlüpfen und Behausungen. Lagerplätze in einer solchen Umgebung wurden zwar durch erneute Überspülung immer wieder zerstört, aber die relativ stabilen Steingeräte blieben trotz der Umlagerungen und Abrieb erhalten." (Fiedler 1997b: 54) Es ist davon auszugehen, dass die geologischen Bedingungen, die Fiedler hier schildert, im Wesentlichen — bis auf das dort keineswegs „im Überfluß"" vorhandene Steinmaterial — auch im Emschergebiet vorlagen. 8 Über das Paläolithikum wie auch über das Mesolithikum in der Gegend des heutigen Ruhrgebiets wissen wir wenig. Nur allgemein kann die Archälogie über die Zeit der Jäger und Sammler berichten. V o n den wenigen dauerhaften Spuren, die sie auf ihren Wanderschaften hinterließen, finden sich allerdings nicht nur in dem bekannten, in der Nähe befindlichen Neandertal wichtige; auch zwischen Ruhr und Lippe selbst muss nicht nur aufgrund der geschilderten Lebensbedingungen v o n einer regen Nutzung des Gebietes ausgegangen werden, das aufgrund seiner Geologie und aufgrund des günstigen gemäßigten Klimas 9 eine reiche Flora und Fauna geboten haben wird 1 0 und zugleich wegen der sumpfigen Auenlandschaft Rückzugsmöglichkeiten als Schutzraum bereithielt; vielmehr sind auch eindeutige Spuren dieser Nutzung archäologisch nachgewiesen. 11 Es gibt „viele Hinweise und Funde, die belegen können, daß gerade die Nähe zur Emscher an vielen Stellen in vorgeschichtlicher Zeit ein bevorzugter Siedlungsplatz gewesen
„Der Fluß in der Mitte, die Emscher," pendelte „ehemals in sumpfigem Bruchland hin und her" (Spethmann 1933: 9; vgl. Kurowski 1993: 9f.) 8
Der Wald „gedieh so gut, weil ihm gewisse Komponenten des Klimas und des Erdbodens Möglichkeiten zu üppiger Entfaltung boten. Reichliche Niederschläge mit jährlich 600 bis 900 mm waren so verteilt, daß die Bäume sich stets genügender Feuchtigkeit erfreuen konnten [...]. Die Temperaturen begünstigten gleichfalls ein gesundes Wachstum. Die Wärmeperiode währte alljährlich lange genug, daß die Samen voll ausreifen und überreichlich für Nachwuchs sorgen konnten. Die Winter waren nicht so strenge und wurden deshalb nicht gefahrlich, namentlich nicht durch den schädlichen Rauhfrost" (Spethmann 1933: 11). 9
10 „Bei Baggerarbeiten am Rhein-Herne-Kanal wurde 1963 eine Fundschicht mit reichlich Faunenresten sowie Flintartefakten angeschnitten. [...] Die Fauna enthält einerseits Höhlenhyäne, Höhlenbär, Höhlenlöwe, Wolf, Wollnashorn, Mammut, Steppenelefant, Pferd, Wisent, Moschusochse, Saiga-Antilope, Riesenhirsch, Rothirsch, Rentier und Schermaus, andererseits Rotfuchs, Dachs, Ur und Biber." (Schmude 1997b: 312) 11
Vgl. die im Museum Quadrat in Bottrop aufgezeigten Funde von Neandertalern.
30 • 2 Historische Konstellationen
sein muß. Der Fischreichtum des Flusses und die hervorragenden Jagdmöglichkeiten in einer artenreichen Tierwelt, die in den Wäldern an der Emscher lebte, waren die entscheidenden Gründe dafür." (Kurowski 1993: 13) „Nomadisierende Sippen haben die Emscherregion durchstreift. Von diesem Zeitpunkt an [sc. um 80 000 v. Chr. 12 ] sind auch durchgängig Reste und Nachweise über das Leben und Treiben der Menschen an der Emscher zu finden. Die bevorzugten Siedlungsplätze lagen hochwasserfrei auf den nur zwei bis drei Meter erhöhten Kanten der Mittelterrasse der Emscher" (a. a. O.: 16). O b w o h l davon auszugehen ist, dass das Siedeln v o n Jägern, w e n n man denn schon v o n Siedeln sprechen kann, Flora und Fauna kaum veränderte, 1 3 so konstituieren doch erst die dort lebenden Homines den Raum als einen solchen: als eine einerseits mit zu jagenden und zu erlegenden Tieren und andererseits mit ihrerseits jagenden und tötenden Raubtieren belebte Landschaft, die als sumpfiger Bruchwald einerseits gemeinsam jagenden G r u p p e n G r o ß t i e r e zu einer leichten Beute werden ließ und andererseits v o r den tierischen Räubern Schutz und zudem mit ihrem mäanderndernden Flusssystem weitere Bedingungen des Überlebens bot.
2.2 Zu Entfaltung und Form der Sässigkeit in der neolithischen, bronze- und eisenzeitlichen Besiedlung Die Zeugnisse aus der Jungsteinzeit im Ruhrgebiet lassen v o m O r t der Siedlung her auf eine Landnahme v o n den festeren Terrassen der Fluss- und Bachufer aus schließen. Hier fanden sich Sicherheit und lebensnotwendiges Wasser, die ersten Rodungen konnten hier ihren Ausgang nehmen. Jungsteinzeitliche Siedlungen sind Ausdruck der sogenannten neolithischen Revolution, die sich durch Sässigkeit 14 und Landwirtschaft auszeichnet.
12 Für die frühere Zeit hält Klaus Schmude fest: „Im Emscher-Lippe-Gebiet fand sich seit Beginn unseres Jahrhunderts [sc. des 20. Jh.s] in einer Reihe von Fundstellen ein umfangreiches, aus Flint geschlagenes und gut erhaltenes Jungacheuleen. Die Fundschichten, die sogenannten Knochenkiese, dürften zumindest teilweise ein Alter zwischen 127 000 und 189 000 Jahren aufweisen" (1997a: 296). 13 „Der Wald war hier noch ein beredter Ausdruck dafür, daß Menschenhand das Antlitz der Landschaft kaum gestaltet hatte." (Spethmann 1933: 11) „Im Banne dieses Urwaldes, in dem Bären und Wölfe noch zahlreich hausten, betätigten sich die Bewohner. Sie nahmen die Gaben fort, die er ihnen zum Lebensunterhalt bot, sie gestalteten ihn aber nicht um" (a. a. O.: 12). - „The Paleolithic and Mesolithic hunters made no more impression on their surroundings than did the wild beasts on which they preyed. Only with the arrival of the primitive Neolithic herders and agriculturalists did man become an active agent of change and, even then, his puny efforts had but slight impact upon the enormous expanses of forest, bog, and heath which clothed north-western Europe." (Lambert 1971: 18)
Eine Differenzierung zwischen Sässigkeit und Sesshaftigkeit ist hier noch keineswegs thematisch; wo es noch schlicht die Uberwindung des Nomadentums durch Sesshaftwerden 14
2.2 Bruchwald und Fluss • 31 „Die Landwirtschaft erforderte Seßhaftigkeit und ermöglichte sie zugleich. Die Seßhaftigkeit gab ihrerseits Anlaß zu einer solideren Architektur mit massiv gebauten, festen Wohnstätten. Für die mit der Seßhaftigkeit notwendig gewordene Vorratswirtschaft wurden Speicher gebraucht, zum Bau von Speichern und Häusern waren umfangreiche Holzarbeiten nötig, die zur Entwicklung verbesserter Geräte führten, nämlich den geschliffenen Beilen und Äxten. Und auch die Keramik konnte nur in ortsfesten Siedlungen in großen Mengen hergestellt, benutzt und aufbewahrt werden." (Brink-Kloke/Heinrich 1995: 11) Diese Zeugnisse einer Konstitution v o n Raum als O r t der Sesshaftigkeit resp. der Sässigkeit, als O r t der physisch dauerhaften Verankerung der Lebensmitte finden sich auch im späteren Ruhrgebiet. Diese Raumkonstitution ist nicht zu redu2ieren auf eine Ä n d e r u n g der F o r m der materiellen Reproduktion der Gattung (in Gestalt eines sippenähnlichen Verbandes). Schon die biologische Spezifität der Gattung H o m o 1 5 e r ö f f n e t die Möglichkeit und die Notwendigkeit v o n Kultur als sinnstrukturierter A n t w o r t auf Funktionserfordernisse qua Handlungsprobleme. D e r aufrechte Gang, mit dem durch die veränderte A u f h ä n g u n g des K o p f e s eine enorme Zunahme an Hirnmasse und damit die neuronale Voraussetzung für Sprache 1 6 ebenso einherging wie die Freisetzung der Hand und damit der Gebrauch v o n Werkzeugen, mag daher eher für die e r ö f f n e t e n Möglichkeiten, die Entsaisonalisierung der Paarungbereitschaft 1 7 und die Instinktreduktion generell (vgl. Gehlen 1 9 8 6 : 26; Lorenz 1 9 5 4 : 2 3 1 - 2 4 7 ) eher f ü r die damit entspringende Notwendigkeit neuen Typs: die Notwendigkeit zur Entscheidung, stehen. D a m i t ist biologisch ein Gegensatz zur Biologie gesetzt. 18 Die sinnstrukturierte Welt ist emergiert.
geht, kann man sagen, dass Sässigkeit und Sesshaftigkeit noch nicht geschieden sind (vgl. S. 118ff.). 15 Es ist hier nicht möglich auch nur in groben Zügen die Differenzen, die in den archäologischen Fachdebatten eine Rolle spielen, zu berücksichtigen. Ob etwa der vor 2 Millionen Jahren auftauchende Homo habilis schon zur Gattung Homo gehört, wie Martin Kuckenburg den Stand der Forschung bewertet (2001: 23f., passim), oder ob er als Australopithecus habilis bezeichnet werden muss, als der er bei Edward O. Wilson noch erscheint (1975: 548), ist hier nicht zu entscheiden. 16 In Abgrenzung von der Betonung der Bedeutung der Kieferanatomie formuliert André Leroi-Gourhan: „le problème du langage est dans le cerveau et non dans la mandibule". (1964: 161; vgl. 1984: 148)
„The estrus, or period of female ,heat', has been replaced by virtually continuous sexual activity. Copulation is initiated not by response to the conventional primate signals of estrus, such as changes in color of the skin around the female sexual organs and the release of pheromones, but by extended foreplay entailing mutual stimulation by the partners." (Wilson 1975: 547f.) 17
18 Auf den entscheidenden Punkt, dass hier eine Diskontinuität besteht, verweisen sowohl Arnold Gehlen als auch André Leroi-Gourhan: „Für die uns jetzt beschäftigende Frage steht schon fest, daß zwischen intelligentem und instinktivem Verhalten keineswegs ein Stufenver-
32 • 2 Historische Konstellationen
Exkurs zu Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung19 Die Lebenspraxis als Handlungsinstanz mit Entscheidungsmitte, wie sie in der Konstitutionstheorie der objektiven Hermeneutik konzipiert wird (vgl. Oevermann 2000a: 68-83), ist Grundlage für ein angemessenes Verständnis des Handelns und der Emergenz sozialer Strukturen und methodologische Grundlage für die rekonstruktive Methode der Sequenzanalyse. Oevermann hat als ein entscheidendes Kennzeichen dieser Lebenspraxis die Dialektik von Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung hervorgehoben (Oevermann 1993: 178ff.; 2000a: 131 ff.). Diese Dialektik muss der Sache nach angenommen werden, wenn anders Handeln angemessen verstanden und erklärt werden soll. Allein, die Termini, in denen diese Dialektik gefasst werden soll, erscheinen unzureichend. Warum hier - unter Beibehaltung der konstitutionstheoretischen Annahme der Sache nach — von der Terminologie der objektiven Hermeneutik abgewichen wird, soll kurz begründet werden. Mit der Instinktreduktion (Gehlen 1986: 26, passim), die Nietzsche zu der Bestimmung führte, der Mensch sei „das noch nicht festgestellte Tier" (Nietzsche 1886: 69; vgl. 1887: 308), als einer evolutionsbiologischen Ursache der Menschwerdung und der damit verbundenen abstrakten Notwendigkeit der Konstruktion hypothetischer Welten einerseits, mit der Evolution der Sprache und der damit in die Natur eintretenden Möglichkeit der Konstruktion hypothetischer Welten 20 als positivem Komplement hierzu andererseits, ist eine kulturbildende Kraft in der Welt, eben jene, die in der objektiven Hermeneutik bisher als die Dialektik von Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung (Oevermann 2000a: 131 ff.) diskutiert wurde. Die Notwendigkeit der Entscheidung 21 stellt nun aber
hältnis besteht, sondern, wie schon Bergson sah, geradezu eine Tendenz zur gegenseitigen Ausschließung." (Gehlen 1986: 26). „Les faits montrent que l'homme n'est pas, comme on s'était accoutumé à le penser, une sorte de singe qui s'améliore, couronnement majestueux de l'édifice paléontologique, mais dès qu'on le saisit, autre chose qu'un singe. Au moment où il nous apparaît, il lui reste encore un chemin très long à parcourir, mais ce chemin, il l'aura moins à faire dans le sens de l'évolution biologique que vers la libération du cadre zoologique, dans une organisation absolument neuve où la société va progressivement se substituer au courant phylétique." (Leroi-Gourhan 1964: 166; vgl. 1984: 152) - Wegen dieser Einsicht bezeichnet wohl auch Max Weber die Kategorie eines „Urmenschen" als „höchst bedenklichen Begriff' (1972: 188). 19 Die hier ausgeführten Überlegungen wurden durch eine Diskussion mit Sascha Liebermann angestoßen.
Schrift steigert dieses Moment von Sprache noch: „Schrift und Seele gehören in die soziale Konstruktion eines neuen Zeitraums, der die Grenzen des diesseitigen Lebens übersteigt" (Assmann/Assmann 1990: 20, Fn. 34). 20
Von dem Aspekt her, dass „der Mensch lange in dem Zwang der Hilfsbedürftigkeit, unter dem Schutz der Mutter [bleibt], in einem Stadium, das auf keine bestimmte Umwelt eingestellt 21
2.2 Bruchwald und Fluss • 33
nur aus der Perspektive der — sich ihrer selbst krisenhaft bewusst werdenden Praxis einen Zwang dar; analytisch betrachtet entscheidet der Handelnde schlicht. Oevermann selbst begründet seine Rede vom Zwang damit, dass es keine Möglichkeit gebe, sich nicht zu entscheiden. Zu einem erzwungenen wird aber ein Handeln ja erst dadurch, dass man sich im Prinzip für eine Alternative entscheiden könnte, die man wegen des Zwangs nicht wählt. Das Wasser ist nicht gezwungen, bergab zu fließen; es folgt gemäß naturgesetzlichen Zusammenhängen schlicht dem Gefalle. Das in die Welt Treten der Entscheidungsmöglichkeit per se geht mit dem in die Welt Treten der Unmöglichkeit, sich nicht zu entscheiden, einher. Die Rede von ,Entscheidungszwang' suggeriert damit die Alternative einer glücklicheren Welt, in der man sich nicht entscheiden muss. Da wir diese Welt nicht wählen können, stellt sie eine Utopie im Wortsinn dar, wie das Paradies, in das zurückzukehren bedeuten würde, die Freiheit aufzugeben. Da Entscheidung konstitutiv ist für die Gattung Homo, sei hier vorgeschlagen, sie in dem Begriff ,animal decernens' zu fassen. Der Terminus eignet sich für diesen Begriff deswegen so gut, weil ,decerno' sowohl die Seite des Entscheidens22 trifft als auch in gewissem Maße die Seite des Begründens23 mit umfasst. Als ,Begründungsverpflichtung' wird nun das Komplement des .Entscheidungszwangs' in der objektiven Hermeneutik bezeichnet. Was hat es damit auf sich? Keineswegs kann damit eine normative Verpflichtung gemeint sein; falls eine solche auftritt, ist sie immer die normative Kodifizierung von etwas ihr Zugrun-
ist", thematisiert Helmuth Plessner dieses Moment: „Was aber bedeutet diese Unspezialisiertheit und Hilfsbedürftigkeit in langer Jugend für den Menschen? Schon Herder hat darauf hingewiesen, daß die biologische Hilfsbedürftigkeit, das Unvermögen, sich durch äußere Organe zu verteidigen, das Angewiesensein auf langen elterlichen Schutz, biologisch gesehen, Schwäche, zweifellos zweckdienlich ist, wenn man den Menschen von seinen geistigen Möglichkeiten her begreift. Ein Wesen, das in einer ihm unbekannten Welt lebt, kann nicht anders als durch Wahl und Entschluß seinen Weg finden. Unbekanntheit verlangt Handelnkönnen. Unergründbarkeit als Strukturprinzip der Welt, die alle Umweltlichkeit überschreitet, verlangt Freiheit der Entscheidung, produktive Unsicherheit, sachliche Einsicht auf Grund von Erfahrung und begriffliches Denken." (Plessner 1946: 61) Dass allerdings erst das mit Sprache emergierende hypothetische Denken die „Welt" für den Menschen, dem die „Umwelt" verloren ist, schafft: als Raum objektiver Handlungsmöglichkeiten, wäre dieser Argumentation hinzuzufügen. Decerno: ,,l.a) entscheiden", ,,2.a) als Schiedsrichter entscheiden; b) (v. öffentlichen Körperschaften u. Magistraten) bestimmen; anordnen, beschließen, stimmen für; zuerkennen, bewilligen", „3. sich entscheiden für, sich entschließen" (Menge 1978: 152); ,,I) 1) gütlich entscheiden, ausmachen, entscheidend bestimmen, beschließen, für etw. stimmen" (Georges 1913/1918: 16243). 22
,,l.b) der Meinung sein", (Menge 1978: 152), „sich dafür entscheiden od. erklären, dafür stimmen, die feste Ansicht gewinnen od. aussprechen, als Grundsatz aufstellen, daß usw., Perf. decrevi oft = ich habe die feste Ansicht gewonnen, ich bin od. lebe der festen Meinung" (Georges 1913/1918: 16243); ,,4.b) mit Worten kämpfen" (Menge 1978: 152; vgl. Georges 1913/1918: 16248ff.).
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34 • 2 Historische Konstellationen
deliegendem. Oben wurde angedeutet, dass der Charakter des Menschen als animal decernens mit der durch die Sprache gegebenen Möglichkeit, hypothetische Welten zu konstruieren, verbunden ist. Erst wenn ich im Prinzip für mein Handeln hypothetische Alternativen entwerfen kann, bin ich in der Lage, mich zu entscheiden. Dies ist nur eine andere Formulierung dafür, dass ich im Prinzip bei jeder Entscheidung mich hätte auch anders entscheiden können — auch wenn die Entscheidung nicht eine freie war, sondern ich in ihr einem Zwang, ja vielleicht roher Gewalt mich beugte.24 Was bedeutet das für das grundlegend auf Reziprozität aufruhende, immer schon soziale Handeln? Wenn - sprachlich konstituiert — hypothetische Welten konstruierbar sind, stellt sich sofort die Frage: Warum hat der Handelnde so und nicht anders gehandelt? Wer ist er, der er ja auch ein Anderer hätte sein können? Und damit in einem: Wer bin ich, der ich ja auch hätte ein Anderer sein können? — Diese Fragen stellen sich mit jeder Handlung, mit jeder Entscheidung. Damit kann ich nicht umhin, mir Rechenschaft abzugeben über mein Tun — unabhängig davon, wie diese Rechenschaft inhaltlich gefüllt ist25 - , wenn nämlich hypothetisch entworfen werden kann, dass ich auch anders hätte entscheiden können, so ist, was mir durch die Antworten der anderen entgegentritt: dass ich mich so und nicht anders entschieden habe, Ausdruck meiner selbst, in dem ich als dieser bestimmte Handelnde praktisch begriffen werde und in dem ich mich als dieser, als der ich mich dann ebenfalls begreife, bewährt habe - oder eben nicht. - Max Weber erfasst dieses Moment, wenn er von dem „allgemeinen Tabestand des Bedürfnisses [...] jeder Lebenschance überhauptf..] nach Selbstrechtfertigung" spricht (1972: 549). Allerdings ist das ,Bedürfnis' der psychologisch beschriebene Ausdruck des konstitutiven Moments der Begründung. „Selbstrechtfertigung" hingegen trifft dieses Moment sehr genau, da es zum einen (qua genitivus subiectivus) deutlich werden lässt, dass derjenige, dessen Entscheidung zu rechtfertigen ist, selbst diese Rechtfertigung vollzieht; zum anderen, ist (qua genitivus obiectivus) zum Ausdruck gebracht, dass mit der Entscheidung die Entscheidungsinstanz als ganze selbst gerechtfertigt wird: jede Entscheidung begründet letztlich die Identität des Handelnden und gründet in ihr. Dieses Moment der Begründung alles Tuns ist ebenso konstitutiv für die Gattung Homo wie das Moment des Entscheidens. Der Terminus ,Begründungszwpflichtung' ist aber erst dann angemessen und unmissverständlich, wenn dieses konstitutive Moment in einer spezifischen Kultur eine spezifische normative 24 Die Bedingung der Möglichkeit von Zwang ist, das wurde oben ausgeführt, das prinzipielle Vorliegen einer Alternative. Zwang setzt also das bereits konstituierte animal decernens voraus, ist von daher ungeeignet, dieses konstitutive Moment zu bezeichnen.
Im Extremfall - der historisch zumindest in nicht wenigen Gesellschaften den Normalfall bildete - kann ich mich begreifen als jemanden, der nicht entscheidet, sondern Stimmen folgt, Verkörperung eines Totems oder Griffel Gottes ist; strukturell bleibt dies eine Begründung für mein Tun. 25
2.2 Bruchwald und Fluss • 35
Form angenommen hat. Dabei ist natürlich dieses „erst" nicht zeitlich, sondern im Sinne eines Konstitutionsverhätnisses zu verstehen. Das Moment der Begründung als Konstituens des animal decernens tritt empirisch nur auf in einer je spezifischen Form einer je spezifischen Kultur. Analytisch sind diese beiden Ebenen aber zu trennen. Um dem auch terminologisch Rechnung zu tragen, sei auf die Termini ,Entscheidungszwang' und .Begründungsverpflichtung' verzichtet und statt dessen der Begriff des animal decernens mit seinen Konstituentien ,Entscheidung' und ,Selbstrechtfertigung' in Anschlag gebracht. 26 — Ende des Exkurses.
Es muss also die mit der Sässigkeit einhergehende neue Form der Konstitution des Raumes von einem Lebensmittelpunkt aus begriffen werden als eine neue Lösung von Handlungsproblemen, die sich nicht auf eine andere Form der Erfüllung von funktionalen Erfordernissen, etwa solchen der materiellen — individuellen und kollektiven - Reproduktion, reduzieren lässt, sondern auch eine neue Antwort auf die Fragen „Wer bin ich? Wer sind wir?" darstellt. Da hierin nicht die Sesshaftigkeit abstrakt eingeht, sondern die je konkrete Sesshaftigkeit qua Sässigkeit in dem durch sie konstituierten Raum, ist zu fragen, als mit welchen konkreten Handlungsproblemen konfrontiert die Siedelnden sich erfahren. - Dies sei an dem Beispiel der steinzeitlichen Siedlung in Oespel/Marten (Dortmund) zu verdeutlicht: „Die Landschaft mußte von den Bauern grundlegend verändert werden, damit die Pflanzen, die ihnen als Kulturpflanzen zur Verfügung standen, überhaupt wachsen und reifen konnten. Im 7. und 6. Jahrtausend v. Chr. war das Klima im Durchschnitt 1 bis 2° C wärmer als heute. Ausgedehnte Eichen-[,] Ulmen- und Lindenwälder mußten zum Teil gerodet werden, um Freiflächen für den Ackerbau zu schaffen, ein anderer Teil wurde sicherlich als Viehweide genutzt. Dabei suchten die steinzeitlichen Siedler gezielt nach einem bestimmten fruchtbaren Boden, den sie an der oberirdischen Vegetation erkannten; solchen Boden fanden sie im Bereich des Dorfes am Hellweg vor. Der Lößlehm ist von guter Qualität, die Wasserversorgung durch den Oespeler Bach gesichert, der in nördlicher Richtung zur Emscher hin fließt." (Brink-Kloke/Heinrich 1995: 17) „Mit der veränderten Lebensweise und Nutzung von Feldfrüchten änderte sich auch die Ernährung grundlegend; Hülsenfrüchte und Getreide als Hauptnahrung bedeuten den Übergang zum Verzehr gekochter Speisen. Zum Kochen bedurfte es geeigneter Gefäße; die Erfindung der Töpferei, also die handwerkliche Fertigung von Gefäßen aus geRichard Thurnwald macht in seiner Darlegung der Bedeutung von Gegenseitigkeit auf die Frage der Legitimation bei Institutionen aufmerksam, die genau dieser konstitutiven Notwendigkeit der (Selbst-) Rechtfertigung entspricht: „Institutionen, die uns heute unsympathisch oder fremdartig erscheinen, haben ihre Wurzel nicht in der Niederträchtigkeit ihrer Urheber', sondern darin, daß sie zur Zeit ihrer Entstehung den Ausdruck eines gerechten' Ausgleichs von Leistung und Gegenleistung auf Grund der sozialen Wertungen einer Zeit und Kultur darstellten." (Thurnwald 1936: 286) Vgl. hierzu auch die Analysen von Gerhard Lenski (1966), etwa seine Erklärung der „Political Cycles" (a. a. O.: 59-62). 26
36 • 2 Historische Konstellationen branntem Ton vermochte diesen Bedarf zu befriedigen. Für die Herstellung von Tongefäßen mußte der Rohstoff beschafft werden; geeignetes Tonmaterial steht in geringer Entfernung nördlich des Hellwegs z. B. in der Gegend um Mengede, an; es wurde bis ins Mittelalter für die Töpferei genutzt." (ebd.) „Andererseits benötigte bereits die steinzeitliche Siedlung in Oespel/Marten Handelsbeziehungen für notwendige Rohstoffe, in diesem Fall Steinmaterial für Werkzeuge, das [...] z. T. sogar regelrecht bergmännisch gewonnen wurde. So ist es nicht nur und nicht erst die industrielle Revolution, die dem Ruhrgebiet sein unverwechselbares Gepräge verlieh; seine Wurzeln reichen viel tiefer, bis in die Steinzeit zurück; sie liegen schon hier in der Kombination von bäuerlicher Besiedlung und technischem Know-how." (a. a. O.: 18) A u c h w e n n diese letzte A u s d e u t u n g der hier vertretenen T h e s e v o n der longue durée einer regionalspezifischen soziokulturellen Struktur sehr e n t g e g e n k o m m t , sind d o c h zunächst die A u s g r a b u n g s b e f u n d e f ü r sich zu analysieren auf die Frage nach der in ihnen sich ausdrückenden Lebenspraxis u n d v o n deren G e m e i n s a m keit u n d D i f f e r e n z mit solchen späterer Zeiten hin. Die R o d u n g v o n s u m p f i g e m G e b i e t f ü r den A n b a u v o n K u l t u r p f l a n z e n u n d f ü r das W e i d e n v o n Vieh einerseits, die N u t z u n g des Baches andererseits e r f o r d e r t e n eine gemeinschaftliche Tätigkeit, die sich auch in d e n gemeinschaftlich g e n u t z t e n G e b ä u d e n zeigte. 27 D i e V e r b ä n d e w a r e n also sippenförmig 2 8 organisiert, was f ü r das N e o l i t h i k u m nicht ungewöhnlich war. Hier k a n n m a n aber sagen, dass die Sippenförmigkeit, die in einem Passungsverhältnis zu Jäger- u n d Sammlerkulturen steht, sich d a n n bei Bauernkulturen im Prinzip auflösen kann, da kleinteilige Wirtschaftseinheiten d u r c h a u s überlebensfähig sind. 29 M a n sieht, dass bereits hier eine f u n k t i o n a l e E r k l ä r u n g nicht weit reicht; vielmehr ist das — aus kultureller Ü b e r l i e f e r u n g s t a m m e n d e - Selbstverständnis, die „Selbstrechtfertigung" des H a n d e l n s ent27
Auch Rafael von Uslar weist darauf hin, „daß in Haus und Siedlung das Ineinanderwirken von menschlichem Willen und natürlichen Gegebenheiten und Zwängen sich besonders mannigfach verknüpft." (1980: 72) 28
Hier ist zwar durchaus ein Vorläufer der Sippe, wie es sie in der germanischen Kultur als „Friedens- und Schutzgemeinschaft, auch Rechtsverband und Kultgemeinschaft" (Fuchs/ Raab 1998: 749) gab, gemeint; ob aber eine eher agnatische oder kognatische Form angenommen werden muss, lässt sich nicht sagen — erst recht natürlich nicht, ob man von einer quasi rechtlichen Form ausgehen kann. Auf die Diskussion um den Begriff der Sippe in den Geschichtswissenschaften kann hier nicht eingegangen werden (vgl. Kroeschell 1995); dies ist in unserem Zusammenhang auch nicht erforderlich, da nicht ein auf die mittelalterliche Geschichte spezifisch eingeschränkter Terminus gemeint ist, sondern ,Sippe' hier soziologisch begriffen wird als unilineare Verwandschaftsgruppe, deren Aszendenz von alltagspraktischer Relevanz für ihre Mitglieder ist. 29
„Die unterschiedliche Größe und Bauweise der Häuser besteht nach den Grabungsergebnissen nicht nur gebietsweise [...]. Die Wirtschaftseinheit ist das Gehöft. Es kann allein liegen oder zu weilerartigen Gruppen bis dorfartigen Ansiedlungen sich in lockerer oder engerer Andordnung zusammenfinden" (von Uslar 1980: 93). - Hieran zeigt sich die Notwendigkeit kultureller Erklärungen für die spezifische Form der Ansiedlung in einer Region.
2.2 Bruchwald und Fluss • 37
scheidend. Gibt es einen praktischen Willen, so zu sein, wie die Vorväter, so werden emergierte objektive Möglichkeiten nicht realisiert, d. h. nicht gesehen, geschweige denn ergriffen. Nun kann man ein Passungsverhältnis der spezifischen agronomischen Bedingungen in der Emscherregion zu der sippenhaften Organisation der Arbeit erkennen, das der Beharrung entgegenkam. - Henriette Brink-Kloke schreibt über „eisenzeitliche Siedlungen" im Ruhrgebiet: „Im Gegensatz zur erwarteten Siedlungsstruktur mit Gehöftplätzen, die jeweils ein großes Wohnhaus und kleine Speicherbauten umfaßten, schien diese Siedlung nur aus kleinen Sechs- bis Neunpfostenbauten zu bestehen. Inzwischen ist dieser Befund keine Ausnahme, sondern wohl zumindest in Dortmund ein Regelfall. An zahlreichen Plätzen im Stadtgebiet konnten Siedlungsspuren der Eisenzeit nachgewiesen werden, deren Uberreste aus kleinen Sechs- bis Neunpfostenbauten, einzelnen Siedlungsgruben sowie fast kreisrunden Gruben von ca. 1 m Durchmesser mit deutlichen Zeichen von Feuer (Holzkohle und z. T. gerötete Wände bzw. Böden) nachgewiesen werden. Typisch scheint auch zu sein, daß die Siedlungsreste jeweils auf einer großen Fläche (5-10 ha) streuen und keine dichte Struktur erkennen lassen." (2000: 191 f.)
Das Antlitz der Landschaft des späteren Ruhrgebiets, des Bruchwalds zwischen Ruhr, Emscher und Lippe, seine Gestalt als spezifischer Handlungsraum soll, bevor die Betrachtung der vorgeschichtlichen Zeit verlassen wird, durch Kontrastierung mit dem angrenzenden Fluss: dem Rhein, nochmals beleuchtet werden. „Ainsi nous apparaît depuis l'aurore de l'histoire humaine jusqu'à l'épanouissement de la civilisation moderne la grande originalité du Rhin [...]: sa vertu de liaison et de rapprochement. Aujourd'hui le Rhin, voie fluviale incomparable, domine la vie économique des pays qu'il traverse. Il offre un appareil de circulation qui n'a pas son égal en Europe et qui a fait sur ses rives éclore une puissante vie urbaine, commerciale et industrielle. Sans tenir compte des frontières, il distribue d'un État à l'autre les grands produits de l'économie universelle." (Febvre 1997: 236)
Die Eloge, die Lucien Febvre — hier übrigens in politischer Absicht, in einer „mission de l'unir les hommes" (ebd.) - auf den Rhein hält, trifft durchaus das Handlungsproblem, als mit dem angesichts eines solchen Flusses konfrontiert die an ihm Siedelnden sich erfahren: die Notwendigkeit und die Möglichkeit des Austauschs zwischen den Menschen, den Völkern und Kulturen - und zwar nicht nur desjenigen von Handelsgütern, sondern damit verbunden natürlich auch des generellen kulturellen Austauschs. Dies wird auch deutlich, wenn wir die Deutung eines anderen großen Flusses heranziehen, etwa diejenige des Ohio, die Kim Gruenwald vorgelegt hat: „In addition to the abundance of flora and fauna, the Ohio Valley nurtured Native American cultures, peoples tight together by the mighty river into far-reaching networks of trade that lasted more than a millenium" (2002: 4).
Dabei ist von vornherein ein intensiver Kontakt zwischen verschiedenen Kulturen anzunehmen, der eine kulturelle Bereitschaft hierzu ebenso voraussetzte wie förderte und die Vergesellschaftung der Beziehungen vorantrieb. — Für das spä-
38 • 2 Historische Konstellationen tere Ruhrgebiet könnte man nun annehmen, dass der Hellweg 30 eine vergleichbare Bedeutung hatte; diese ist allerdings einerseits wegen seiner sekundären „Mittlerfunktion", andererseits wegen seiner Randständigkeit zumindest zunächst nicht für das Gebiet prägend geworden: „Die Entstehung und Bedeutung des westf. H.es resultiert seit frühgeschichd. Zeit aus der Mittlerfunktion im transkontinentalen Fernstraßensystem, das den großen Flußtälern folgte und damit die geogr. Voraussetzungen der Landesnatur nutzte. Der H. stellt daher keinen Primärfaktor, aber als W-O-Achse zw. den Flußtälern ein wichtiges Zwischenstück dar: Er verband die vom S und W Europas ausgehenden Handelsströme, die sich am Niederrhein (Duisburg) bündelten und von dort durch Westfalen zu den Küstenorten im N und nach O sowie nach Mitteleuropa führten. Hierbei verläuft der H. an der n. Schwelle des Mittelgebirges; gegenüber dem feuchten norddt. Tiefland war er ganzjährig begeh- und befahrbar." ( Schilp 1999: 315f.) Im Ruhrgebiet blieb die Kultur der verstreut siedelnden Bauern, die gemeinschaftlich Landbau praktizierten, dominant.
„Sein Verlauf orientiert sich nördlich unterhalb der Erhebungen des Stockumer und Dortmunder Rückens an der Höhenlinie von 80 m." (Brink-Kloke 1995: 97) 30
3
Zwischenraum
3.1
Prägermanische und germanische Besiedlung
In der vorrömischen alten Zeit war das heute sogenannte Ruhrgebiet — das eigentlich eher das Gebiet zwischen Ruhr und Lippe, den beiden parallel in Ost/WestRichtung fließenden Flüssen ist — wohl nicht von vornherein von Germanen besiedelt (vgl. Hachmann/Kossack/Kuhn 1962). 1 „Des Arminius Sieg und später die Abberufung der Legionen verhindern, wie man weiß, daß das Land ostwärts des Rheins zur römischen Provinz wird. Aber ebenso bedeutungsvoll scheint es doch auch zu sein, daß diese Ereignisse es überhaupt erst .germanisch' machen, nachdem Rom durch die Zerstörung [...] der im Lande heimischen Bevölkerung^.] selber den Weg dazu bereitet hat." (Kossack 1962: 104) Statt von einer .Zerstörung der Bevölkerung' kann man wohl nur von einer Entmachtung ihrer Herren sprechen, was der Germanisierung Raum schuf. Der Name ,Ruhr' ist keltischen Ursprungs (Raura) (Moreau 1965: 14), das Gebiet selbst liegt am Südrand des germanisch geprägten Norddeutschlands. 2 Das angrenzende Rheinland war in dieser Hinsicht: prägermanische Kultur und Randlage, vergleichbar; dennoch führt Hans Spethmann - der von einer eindeutigen germanischen Besiedlung3 ausgeht — zu Recht eine wesentliche Differenz an: „Es hoben sich die Germanen am Rhein, die sich infolge ständigen Menschenzuflusses mehrfach fast vollständig erneuerten, stets scharf von solchen weiter östlich ab, bei denen ein größeres Beharrungsvermögen zu verzeichnen ist. In der Aufteilung der Stämme, in der Besiedlung und im Wirtschaftsleben kehrt dieser Zug unverkennbar immer wieder. Er deckt sich mit dem landschaftlichen Gegensatz zwischen der Talflucht des Rheins und dem anschließenden Waldland, wobei jedoch die Talflucht mit einem Saum, den wir den rheinischen nennen möchten, kräftig auf die östlichen Höhen übergriff. Der Rheinsaum und das anstoßende Waldland waren in vielem getrennte Welten. Es zerfiel dadurch die Landschaft, die heute vom Ruhrgebiet verkörpert wird, nach Ost und West in zwei verschiedene Teile mit verschiedenem Ausdruck, mit verschiedenen Bewohnern
1 De Vries hält demgegenüber daran fest, „daß die Religionsformen der Bronzezeit mit den germanischen in Zusammenhang stehen" und lässt folglich seine Ausführungen zur altgermanischen Religionsgeschichte mit der Jungsteinzeit beginnen (1970, I: 12). Diese Auseinandersetzung kann und muss hier nicht verfolgt werden.
„Im rechtsrheinischen Germanien aber kann man um Christi Geburt deutlich zwischen einem eher germanischen Norden und einem eher keltischen Süden unterscheiden, wobei die Grenzzone der Mittelgebirge von einer Mischkultur geprägt war." (Goetz/Welwei 1995: 5f.) „Die Unterschiede zwischen einer norddeutsch-skandinavischen Kultur im Norden und der Hallstattkultur bzw. (seit ca. 500 v. Chr.) der als keltisch-illyrisch einzustufenden, hochentwickelten Latenekultur im Süden Europas sind archäologisch gut erkennbar, wobei die Übergangszone der Mittelgebirge eine Mischkultur aufweist" (a. a. O.: 7). 2
Für die Einschätzung des Autors Spethmann ist seine Verortung in der Zeit der von Klaus von See (vgl. S. 43, Fn. 14) charakterisierten spezifisch deutschen Germanenforschung zu sehen; die Substanz seiner Darstellung ist gleichwohl nicht auf Ideologie zu reduzieren. 3
40 • 2 Historische Konstellationen und verschiedenen Kulturen, sie war keine Einheit. S o f i n d e n w i r s c h o n i m e r s t e n J a h r h u n d e r t v. C h r . d a s v o r , w a s j e t z t die P r o v i n z g r e n z e z w i s c h e n Rheinland und W e s t f a l e n ausdrückt, die heutigentags u n s e r R e v i e r z e r s c h n e i d e t , wenn ihr Verlauf im einzelnen auch nicht genau mit jenen alten Grenzen übereinstimmt". (Spethmann 1933: 19; gesperrt i. Orig.)
Wenn man sich die Frage stellt, wodurch das „größere Beharrungsvermögen" bedingt war, so kann man gedankenexperimentell konstruieren, dass der Strom Rhein natürlich den Handel beförderte, der eine stärkere Vergesellschaftung der Beziehungen mit sich bringt (s. o., S. 37f.). Das bäuerliche Leben im Waldland 4 bedarf solcher gesellschaftlichen Entwicklung weniger. So kann nicht allein von seiner Randlage oder gar dem Charakter als „Mischkultur" per se auf eine größere Offenheit gegenüber anderen Kulturen und gegenüber Veränderungen geschlossen werden. Handel als dominante Wirtschaftstätigkeit 5 hingegen setzt eine solche Kultur der Offenheit bei Transponierung der Verbindlichkeiten auf eine unpersönliche Ebene voraus und verstärkt sie. Die Beharrung aber muss mit einer gewissen Indifferenz gegenüber der jeweiligen politischen Dominanz einhergehen. Gedankenexperimentell lassen sich für vorstaatliche Kulturen in Grenzgebieten drei Entwicklungsvarianten entwerfen. Es kann einerseits (a) die eine Kultur von der angrenzenden assimiliert werden; 6 es kann sich des weiteren (b) eine eigenständige Mittlerkultur herausbilden;7 schließlich (c) kann eine Kultur die wechselnden Herrschaften, die mit der Lage im Zwischenraum einhergehen, über sich ergehen lassen und unterhalb der Ebene der politischen Herrschaft im alltäglichen Handeln ihre Eigenart strukturell bewahren — bei aller mit den formalen Wechseln eintreffenden inhaltlichen Änderungen. 8 Dabei müssen
„Die germanischen Volksgemeinschaften, die rechts des Rheins außerhalb der römischen Herrschaftsgebiete leben, ernähren sich von Viehzucht, Ackerbau und der Jagd in den ausgedehnten Wäldern der Region. Sie bewohnen Gehöfte in kleinen, weit im Land verstreuten Siedlungen, die meist an Flußläufen oder Bächen liegen." (Chronik 1997: 11) Damit knüpfen sie nahdos an die frühesten Besiedlungen des Neolithikums und der Bronzezeit an. 4
Dass auch mit den rechtsrheinischen Germanen Handel getrieben wurde (vgl. Chronik 1997: 11, 13) bedeutet nicht, dass diese selbst Händler hervorbrachten.
5
„Die politische Integration von Gebieten in eine grössere politische Struktur konnte auch in einem langsameren (im Vergleich mit dem Wandel anderer soziostruktureller Merkmale aber immer noch schnellen) Prozess verlaufen, beginnend z. B. mit Handelsbeziehungen mit einer strategisch überlegenen Gruppe, welche über eine Zwischenstufe intensivierten Kontaktes schliesslich zur politischen Einverleibung eines vormals eigenständigen Gebietes und seiner Bewohner führten." (Seiler Schiedt 1999: 49) 6
Hier können, mit gewissen Vorbehalten, die Phönizier als ein Beispiel genannt werden (vgl. Mommsen 1923: 483f£). 7
Für die Brukterer im Gebiet der späteren Stadt Essen stellt Dieter Weis für die Zeit nach Christi Geburt fest: „Es wechseln zwar die Herren des Landes, die [...] Bevölkerung aber bleibt dieselbe." und fahrt fort: „So haben wir in den bäuerlichen Siedlungen die primäre 8
2.3 Zwischenraum • 41
bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Zum einen gilt für die Fälle a und b, dass die Ebene der wirtschaftlichen und politischen Vergesellschaftung für sie bedeutsam sein muss, dass sie also von sich aus Handel nicht nur im Rahmen von subsistenzwirtschaftlich fundiertem Tausch, sondern als eigenständige Wirtschaftsform betreiben (vgl. Semple 1932: 660-688) 9 - im Gegensatz zu Fall c, der auf dem Boden einer Subsistenzwirtschaft seine Eigenheit aufrechterhält. Zum anderen müssen die Kulturen des Falls a entweder allochthon sein oder aber zu einer der beiden Grenzkulturen gehören (oder beides) wohingegen die Kulturen der Fälle b und c autochthon sein müssen und nicht zu den Grenzkulturen gehören können. Die Indifferenz gegenüber der jeweiligen politischen Herrschaft, die die Persistenz der Kultur bei wechselnder Herrschaft erlaubt, scheint nun im späteren Ruhrgebiet, das ja Handelsgüter weder besaß noch kaum produzierte, 10 in einer subsistenzwirtschaftlichen, bei gleichzeitig verstreuter Siedlung durch die Bruchlandschaft auf gemeinschaftliches Wirtschaften angewiesenen, so unauffällig in sich ruhenden Kultur fundiert gewesen zu sein. Das spätere Ruhrgebiet hat zwar an seiner Nordgrenze in Haltern nördlich und in Oberaden südlich der Lippe kurzzeitig römische Kastelle aufzuweisen, ist aber sonst von römischer Kultur weitgehend unbeeinflusst geblieben. Die Römer sind ja bekanntlich mit ihrem Versuch, auch das rechtsrheinische Germanien zu erobern, letztlich gescheitert (vgl. Todd 2000: 48-55) und haben sich nach der Varusschlacht im Jahre 9 n. Chr. auf das Rheintal zurückgezogen und rechtsrheinisch nur zu ihrer Sicherheit einen Streifen Ödland unter Kontrolle behalten (vgl. Chronik 1997: 11):» „ S o i s t d i e H a u p t w e h r [die Grenze der Germanen nach Westen, also etwa die Linie A n h o l t - Isselbruch - Schermbeck - Hünxe - Buschhauser Heide - W e h o f e r Bruch - Osterfeld - Fulerum bei Essen — Mintard - Heiligenhaus (34) 12 ] i n d i e s e r
Siedlungsart dieser Gegend zu sehen." (1951: 14) - Für das Mittelalter spricht Hans-Werner Goetz dann vom Ruhrgebiet als einer „Randlandschaft" (1990a; s. u.). Dass dies durch das natürliche Vorhandensein von Tauschgütem wie etwa Salz oder auch durch die Produktion solcher Güter wie Tonwaren etc. begünstigt werden kann, zeigt Ellen Semple am Beispiel des Mittelmeeres (ebd.). 9
Die Cranger Kirmes, die aus einem Pferdemarkt hervorging, verweist noch auf das einzige Handelsgut, das in größerem Umfang aus den Bruchwäldern gewonnen wurde: Wildpferde. 10
Im Jahre 4 n. Chr. hatte zunächst Tiberius das Gebiet zwischen Lippe, Weser und Rheinmündung erobert (Chronik 1997: 11); seine Unterwerfung der Brukterer kann aufgrund der kurzen Herrschaft nicht durchgreifend gewesen sein. Auch des Germanicus Expedition war mit der Zerstörung des Heiligtums der Tanfana - brutal und nicht von Dauer (vgl. Mommsen 1927: 46). „Die römische Expansion jenseits des Rheins hat [...] nur sehr kurz gedauert, zu kurz, um auf die dort ansässigen Stämme einen bedeutenden Einfluß zu ermöglichen." (de Vries 1970,1: 158) 11
12 Die Kontinuität dieser Grenze zeigt sich auch im Mittelalter: „Die Landesgrenze, die das Ruhrgebiet von Brünen im Norden bis Essen im Süden durchschneidt, war die Territorial-
42 • 2 Historische Konstellationen Z e i t e i n w i c h t i g e r T r e n n u n g s s t r i c h , s i e i s t e i n n e u e s S t a d i u m in der E n t w i c k l u n g der h e u t i g e n P r o v i n z g r e n z e , w o b e i sich der Rheinsaum wiederum durch besondere Gestaltung abhebt. Noch gegenwärtig prägt sich die Aufteilung in einer Dialektgrenze aus, obschon inzwischen die Zusammensetzung der Anwohner mannigfache Wandlungen durchlaufen hat, zugleich ein Hinweis dafür, wieviel eine jeweilige Neubesiedelung von den Vorgängern übernahm. Im Rheinsaum ist der romanische Einschlag in dem klangvollen Organ deutlich vernehmbar, das nach Osten hin fehlt, wo uns die härtere germanische Sprechweise entgegenschallt." (Spethmann 1933: 35; gesperrt i. Orig.)
Was zeichnet die beharrende Kultur der Germanen sollen hier genügen:
weiter aus? Einige Hinweise
De Vries betont die „übermächtige Bedeutung der Sippenbande" bei den Germanen (de Vries 1970, I: 176) 13 und führt aus, „daß Geburt und Tod nicht die Grenzpunkte des individuellen Lebens sind, sondern vielmehr wichtige Ereignisse im Leben der Sippe." (a. a. O.: 178) „Die Sippe umschließt also Tote und Lebende in einer unverbrüchlichen Gemeinschaft. Ihre Glieder sind wesensverbunden; man soll nicht sagen, daß sie zu gegenseitiger Hilfe verpflichtet sind, denn das setzt schon ein gewisses rechtliches Verhältnis voraus; sie können einfach nichts anderes als einander in vollkommener Treue beistehen. Das ist der F r i e d e (fridr), der in der Sippe waltet [...]. Diese rücksichtslose, durchaus instinktive Pflicht zur Hilfeleistung an jeden, der in irgendwelcher Gefahr sich befindet, weil die Sippe als ganzes keine Beeinträchtigung ihrer Ehre dulden kann, beweist deutlich die religiöse Grundlage, auf der die germanische Familie ruht. Deshalb ist auch ein Kampf zwischen Sippengenossen das größte Unglück, das eine Familie befallen
grenze des Herzogtums Kleve gegen das kölnische Vest Recklinghausen und die Grafschaft Mark." (Schleidgen 1990: 51) „Die durch diesen Spruch [des Pfalzgrafen bei Rhein, den Erzbischof Dietrich von Moers 1426 durchsetzte,] festgesetzte Hoheitsgrenze zwischen dem klevischen Land Dinslaken und dem kölnischen Vest Recklinghausen ist nicht mehr verändert worden; zusammen mit der südlich anschließenden Grenze des Reichsstifts Essen, über das Kleve 1398 bzw. 1461 die Vogtei erhielt, verläuft sie noch heute als rheinisch-westfälische Landesgrenze quer durch das Ruhrgebiet." (a. a. O.: 53) Darauf, dass in die politische Grenzbildung naturräumliche Momente aufgehoben wurden, weisen die Ausführungen Werner Burghardts hin: „Im Westen haben die sumpfigen Niederungen der breiten Waldstreifen des Kölnischen Waldes und der Kirchhellener Heide gegen die Grafschaft Kleve von jeher ein natürliches Hindernis gezogen." (1990: 57) De Vries Ausdeutung der Megalithgräber (a. a. O.: 90) als Bauten „für viele kommende Generationen" (ebd.) ist trotz aller Kritik, in die die Betonung der Sippe für die alten germanischen oder prägermanischen Völker geraten ist (vgl. Kroeschell 1995, Guichard/Cuvillier 1997: 41-45), ein plausibler Hinweis auf die Bedeutung der zusammenlebenden Verwandschaftsgruppe für den Einzelnen. Die Ablösung der Megalithgräber durch die „Steinkisten" (a. a. O.: 92f.) als Wechsel der sozialen Einbettung der Einzelnen von der Sippe „zu einem kleineren Kreis von Angehörigen" (a. a. O.: 92), was de Vries nicht weiter ausdeutet, ist ein interessanter Ansatz zur Bestimmung der soziokulturellen Veränderungen (vgl. Todd 2000: 35f.). Der Übergang zum Einzelgrab (a. a. O.: 93f.) kann in soziokultureller Hinsicht dann vorsichtig als ein Schub der Personalisierung begriffen werden. 13
2.3 Zwischenraum • 43
kann; die höchste Steigerung des Tragischen bildet in der Heldensage gerade der Verwandtenstreit." (a. a. O.: 197f.; gesperrt u. kursiv i. Orig.)
Malcolm Todd relativiert die Relevanz der Sippe zugunsten der Familie, deren Stellenwert er betont (2000: 35f.; vgl. Goetz/Welwei 1995: 23). Beides geht einher mit den Ergebnissen der neueren Germanenforschung, die den wenig formellen Charakter der germanischen Gesellschaftsstruktur mit ihrem ,lockeren Ordnungsgefüge' (Goetz/Welwei 1995: 22; vgl. Todd 2000: 33-39) hervorhebt. Dies ist nicht spezifisch für das Gebiet zwischen Ruhr und Lippe, muss aber als in einem Passungsverhältnis zu der bisher rekonstruierten Struktur der Traditionalität stehend gesehen werden, diese verstärkend.14
14 Eine lohnende, m. W. bisher nicht in Angriff genommene Aufgabe wäre es, einmal die kulturelle Konstellation des keltischen Siedlungsraumes herauszuarbeiten, die der Romanisierung entgegenkam — in Abgrenzung zur germanischen Kultur, die ihr entgegengestanden zu haben scheint. Braudels Idee der longue durée ist - zumindest in einem strukturellen Verständnis von Geschichte - in der historischen Forschung noch lange nicht ausgeschöpft. De Vries stellt zwar die Frage „Weshalb hat sich die keltische Expansion nicht in nördlicher Richtung bewegt?" (1970,1: 135) und weist daraufhin, dass, obwohl das deutsche Mittelgebirge „nicht als eine unübersteigbare Schranke in Betracht kommt", „es fast vier Jahrhunderte gedauert [hat], ehe das neue Metall [sc.: Eisen] die verhältnismäßig kurze Strecke vom deutschen Mittelgebirge bis zur Ostsee durchquert hat." (ebd.) Eine Erklärung bietet er aber dafür nicht. (Man ist versucht, dem die - immerhin nur etwa 30jährige — Verzögerung an die Seite zu stellen, mit der die Kenntnis vom Kohleneisenstein ins Ruhrgebiet gelangte, bis sie zu seiner ersten nennenswerten Förderung im Jahre 1848 führte. Auch dass dies dann entscheidend durch ,rheinschen Unternehmungsgeist' geschah, spricht für sich. - Vgl. Spethmann 1933: 259f.) Darüber hinaus wäre einmal auszubuchstabieren was solche Beobachtungen wie etwa die Differenz zwischen dem keltischen Weinkonsum und dem germanischen Bierkonsum (vgl. Todd 2000: 75) - zumindest deskriptiv nun wahrlich eine kulturelle Differenz von langer Dauer - bedeuten. Auch Georges Duby beschreibt zwar die Differenz - etwa dass die „Verbindung von Ackerbau und Viehzucht, diese Verschmelzung von Feld und Wald, Weideund Grasland [...] das ,barbarische' Agrarsystem [...] vom romanischen, das ager und saltus trennte", unterscheidet (1984: 35) - , deutet sie aber nicht aus und erklärt sie nicht. - Es muss kaum betont werden, dass mit solchen Überlegungen nicht die Uberdehnung und politische Indienstnahme aufzuklärender Differenzen angestrebt ist, wie sie in der deuschen Germanenforschung der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts vorlag: „Mit der stabreimenden Formel ,Händler und Helden', dem Titel einer 1914 erscheinenden Streitschrift, aktiviert der Nationalökonom Werner Sombart sogleich auf einprägsamste Weise eine alte, schon in der humanistischen Tacitus-Rezeption begründete Germanen-Ideologie, die den Germanen und Deutschen dadurch charakterisiert, daß sie ihn zum Antityp des Römers, des Galloromanen und schließlich des Westeuropäers macht: Heldisch, treu, gemütsvoll und gemeinschaftsgebunden ist der eine, weil der andere juristisch und ökonomisch begabt, intellektualistisch und individualistisch ist." (von See 1987: 345) Es geht auch nicht um eine Umdeutung von „Erscheinungsformen, die eigentlich nur charakteristisch sind für einen frühzeitlichen, primitiven Gesellschaftszustand" „zu dauerhaften, wesensmäßigen Eigenschaften" (ebd.). Allerdings ist das einfache Fortschrittsmodell, das von See hier zugrundelegt, wie wir noch sehen werden, fragwürdig. Die Annahme, dass ein .primitiver Gesellschaftszustand' im Laufe des historischen Prozesses von einem modernen abgelöst würde, übernimmt, sie verzeitlichend, lediglich die dichotome Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft (Tönnies), gegen
44 - 2 Historische Konstellationen
3.2
Franken, Sachsen und die Christianisierung
Bei der Herausbildung der fränkischen Germanen sind die Stämme, die auch zwischen Ruhr und Lippe siedeln: Chamaven, Chattuaren und Brukterer, vermutlich beteiligt, so dass sich auch im Ruhrgebiet zunächst fränkische Niederlassungen — so ein Königshof und eine Begräbnisstätte im Gebiet des heutigen Duisburgs, eine merowingische Siedlung bei Unna (Chronik 1997: 14) - finden. Gleichwohl steht dies dem Vordringen der Sachsen nicht entgegen, die erst in den Sachsenkriegen durch Karl den Großen schließlich unterworfen werden können. Auch hier müssen wir also, ohne dass wir weitere Daten hätten als die Tatsache, dass es Franken im Ruhrgebiet gegeben hat, dass sie sich haben von den Sachen vertreiben lassen und dass dies linksrheinisch nicht der Fall war, schließen, dass die politische Herrschaft der Franken in der ansässigen Bevölkerung keine einem Widerstand Halt gebende Wurzeln hatte. Die Christianisierung der (sächsischen) Germanen (vgl. hierzu auch Petri o.J.) im Ruhrgebiet folgt, dies lässt sich u. a. an dem Tod der Missionare Schwarzer und Weißer Ewald um 695 im Gebiet des heutigen Aplerbeck (Chronik 1997: 14) festmachen, dem von Franz Höllinger beschriebenen angelsächischen Muster der „Missionierung von oben" (1996: 138). Bei der Missionierung der Franken durch irische Missionare kann von einer individuellen Christianisierung gesprochen werden, hier hatte die Taufe jeweils am Ende eines Bekehrungsprozesses gestanden; sie mündete schließlich in der römisch-katholischen Taufe Chlodwigs, der so „die soziale Integration der germanischen und der römischen-keltischen Bevölkerungselemenete im Frankenreich" erheblich beförderte (a. a. O.: 135). Demgegenüber folgte die Missionierung der Sachsen durch angelsächsische Missionare, die zusammen mit der Eroberung durch Karl den Großen erfolgte (a. a. O.: 139), dem Muster der Unterwerfung. „Die Taufe stand nunmehr am Beginn der Christianisierung." (a. a. O.: 140) Dass diese Form der Christianisierung „von der politischen Spitze ausgehend", „durch die Struktur der germanischen Religion gefördert" wurde und ihr entgegenkam (a. a. O.: 136),15 heißt
die - als .Wesensmerkmale' - sie sich richtet. - Auch dass - v. a. durch den durch Eusebios getauften westgotischen Bischof Wulfila, der die Bibel ins Gotische übersetzte (vgl. Todd 2000: 112ff.), und die durch ihn beeinflussten gotischen Missionare (de Vries 1970, II: 409ff.) — „der Arianismus die fast allgemein herrschende Form des Christentums bei den Germanen" wurde (a. a. O.: 409), ist angesichts des Passungsverhältnis von germanischer Kultur mit ihrem Patriarchalismus und der Vorstellung von Jesus als den „durch seinen völligen Gehorsam [...] gegenüber" dem Vater, der ihn geschaffen hat, in seinen göttlich Zustand gelangten Sohn (Bowker 1999: 78) nicht verwunderlich. („In seinem Glaubensbekenntnis hat Wulfila [...] gerade die Unterordnung des Sohnes unter dem [sie] Vater deutlich ausgesprochen (et filium et subditum et oboedientiem suo in omnibus deo patri eique similem secundum scribturas)". - de Vries 1970, II: 408) 15 „Im Unterschied zu den antiken Hochkulturen [...], aber auch im Unterschied zu den Kelten, war es bei den Germanen noch kaum zur Ausdifferenzierung einer eigenen Priesterklasse gekommen. Der religiöse Alltagskult wurde unter der Leitung des Familienältesten
2.3 Zwischenraum • 45
nicht, dass sie, obwohl sie „in kurzer Zeit auf die gesamte Bevölkerung überg r i f f (ebd.), das Individuierungspotential, das die christliche Religion gegenüber der germanischen barg, zur Geltung kommen ließ - im Gegenteil: Die Übernahme der christlichen Religion kann hier zunächst nur eine Übernahme der Rituale gewesen sein: 16 „Christliche Vorstellungen wurden im Sinne magischnaturreligiöser Vorstellungen umgedeutet. Die germanischen Funktionsgötter lebten in den christlichen Schutzheiligen fort, heidnische Kulte wurden in christliche Feiertage umgewandelt." (Höllinger 1996: 143) Man könnte hier von einer interpretatio germanica sprechen. „Die Menschen blieben mit der alten Welt durch tausend Fäden verbunden; die Vorzeit hatte nicht mit einem Male aufgehört." (de Vries 1970, II: 447) Diese nicht bis auf die Ebene der Habitusformation durchdringende Form der Christianisierung bedeutete, so muss geschlossen werden, dass die Orientierung an Sippe und Familie: an Gemeinschaft, ihren Inhalt wechseln mochte, ihrer Struktur nach aber erhalten blieb: die „rituelle Gemeinschaftsreligiosität" wurde zwar „nunmehr im Rahmen der Kirche und unter der Leitung ihrer Priester ausgeübt" (Höllinger 1996: 143), blieb aber eben habituell gemeinschaftsbestimmt und ritualorientiert. Damit scheint zunächst eine Affinität zu der katholischen Religiosität vorzuliegen, wie sie später in Kontrast zur wortbetonten lutherschen Reformation und erst recht zum die Verantwortlichkeit des Individuums praktisch wirklich werden lassenden calvinistischen Protestantismus besonders deutlich hervortritt. 17 - Allerdings ist die katholische Form der Vergemeinschaftung
ausgeübt; kultische Feiern, an denen die gesamte Dorf- oder Stammesgemeinschaft teilnahm, wurden von Mitgliedern der angesehensten Sippen im Stamm geleitet." (ebd.) 16 „Hier [sc.: bei der „Bekehrungsgeschichte der S a c h s e n " ] wurde der Sieg des Christentums durch die eiserne Faust des fränkischen Königs erzwungen [...]. Wiederholt mußte Karl der Große mit seinem Heer das Land der Sachsen ,zur Ruhe bringen' und es ist ein deutliches Zeichen für den Charakter dieser Kriegszüge, daß sie in Massenbekehrungen ihren Abschluß fanden. Das war der Fall 776 an der Lippe [...]. Mehr als eine äußerliche Bekehrung konnte es natürlich nicht sein." (de Vries 1970, II: 418; gesperrt i. Orig.) Die tiefe Kluft, „die Heidentum und Christentum trennte [...,] wurde nicht überbrückt, wenn man anstatt zu Odin jetzt zu Christus betete." In „der Übergangszeit [bemerkte man] die Tiefe dieser Kluft nicht [...] und [gab] sich mit dem Wechsel der äußeren Kultformen zufrieden" (a. a. O.: 448). „Kein Wunder, daß die Germanen dem Glaubensinhalt der neuen Religion weniger Interesse entgegenbrachten, als der sich in den Kulthandlungen zeigenden Form. Ganz folgerichtig reden die Quellen immer von der neuen ,Sitte' (sidr), die mit dem Christentum Eingang gefunden hat." (a. a. O.: 439) 17 Wenn Höllinger hingegen meint, „daß sich die spätere Religionsgrenze zwischen den norddeutsch-protestantischen und den süd- und südwestdeutsch-katholischen Gebieten Deutschlands weitgehend mit der Kulturgrenze zwischen den germanisch-keltischen Mischgebieten innerhalb des Römischen Imperiums, deren Bevölkerung in einem schrittweisen und friedlichen Prozeß in den römisch-christlichen Kulturkreis integriert wurde[..], und den rein germanischen Gebieten, deren Bevölkerung ,von oben' und vielfach auf gewaltsame Weise christianisiert wurde, deckt" (1996: 140), so ist dies, wie etwa ein Blick auf eine entsprechende Land-
46 • 2 Historische Konstellationen zwar verankert in der Vergemeinschaftung auf der Ebene v o n Familie und Verwandtschaft, letztlich aber zu verstehen als universell orientierte Vergemeinschaftung der römischen Kirche als Weltkirche. D e m steht die partikulare Form der Vergemeinschaftung mit einer Distanz zur Obrigkeit gegenüber, die zu dem oben benannten Beharren (s. o., S. 42) ebenso passt wie zu der lutherisch geprägten Obrigkeitsstaatlichkeit. 18 Wie schon für die urgeschichtliche Zeit lassen sich auch für die Frühgeschichte im Ruhrgebiet bereits Konturen des Modells (vgl. S. lOf.) bestimmen, die mit Orientierung an partikularer Vergemeinschaftung einerseits und Distanz zu Formen der Vergesellschaftung andererseits umschrieben werden können.
karte (vgl. etwa Henkel 2001) zeigt, nicht ohne weiteres zutreffend. Gerade das uns hier interessierende Gebiet zwischen Ruhr und Lippe hat dabei 1925 einen Anteil von 40-60% (a. a. O.: 41) und 1996 z. T. gar einen Anteil von 60-80% (a. a. O.: 48) Katholiken an der Gesamtbevölkerung. Gleichwohl spricht einiges für Höllingers Kongruenzvermutung; allerdings ist seine Vermutung, „daß sich die ursprünglichen Erfahrungen mit der christlichen Religion im kollektiven Gedächtnis der jeweiligen Völker niederschlugen und langfristig deren Haltung zur Römischen Kirche prägten" (1996: 140), selbst für eine Erklärung unzureichend. Ein „kollektives Gedächtnis" kann, wie sich an Maurice Halbwachs' entsprechenden Ausfuhrungen zum „Kollektivgedächtnis der religiösen Gruppen" (1985: 243-296) zeigen lässt, allenfalls überdeckte Inhalte auf ihre vergangenen Quellen zurückführen; die Frage, was dazu führt, dass bestimmte Strukturen von Religiosität sich erhalten (oder eben auf spezifische Weise verändern, vgl. a. a. O.: 248), kann so nicht beantwortet werden. Unbenommen dessen würfe aber die Vermutung Höllingers durch den Fall des Ruhrgebiets (aber auch des Münsterlands etwa), statt eine Erklärung zu bieten, schon für sich genommen ihrerseits im Gegenteil ein gesteigertes Erklärungsproblem auf. Diese Überlegungen zeigen vor allem eines: einen Bedarf an kultursoziologischer Religionsforschung, die das Verhältnis von Habitusformationen (als Voraussetzung und Folge) und religiösen Transformationsprozessen konkret untersucht. 18
4
Unterströmung
4.1
Grundherrschaft, Kirche und Territorium
Um 800 finden wir im späteren Ruhrgebiet aufgereiht am Hellweg, der zur Königsstraße wird, Königshöfe und Burgen, die „die Tagesstationen der Soldaten" „in den Eroberungszügen der Franken" sichern und „Residenzen für die königlichen Aufenthalte" bilden (Chronik 1997: 17). Karl der Große nutzte damit eine „seit vorgeschichtlicher Zeit bereits vorgeformte Wegesituation" für „die fränkische Eroberung des heidnischen Sachsenlandes [...], die bereits Karl Martell begonnen hatte." (Leidinger 1990: 72) Die großen Stützpunkte: Duisburg, Dortmund, Soest und Paderborn „lagen fast exakt 50 km jeweils voneinander entfernt und waren durch jeweils zwei Zwischenstationen miteinander verbunden, die den Streckenabschnitt drittelten und sicherten" (ebd.); im Ruhrgebiet waren dies Essen, Bochum und, an seinem Ostrand, Unna. Diese Etappenstationen „verloren mit der Pazifizierung Sachsens [...] schnell ihren militärischstrategischen Ausgangscharakter und bildeten in der Regel kirchliche und marktliche Funktionen aus." (a. a. O.: 73) Obwohl gleichzeitig ein Großteil des Gebietes zum ersten Mal eine formelle Einheit erhielt: es wurde zum „Borochtragau", der „im Osten bis in das Gebiet des späteren Unna und im Westen bis zur Borbecke [...] nordwestlich von Essen" reichte (Chronik 1997: 16), zeigt sich deutlich, dass das Gebiet zwischen Lippe und Ruhr zunächst nicht als eigenständiges eine Rolle spielte. Das Leben konnte unbenommen von den durchströmenden Truppen auf gewohnte und bewährte Weise weitergehen. Erst die in Kloster- und Stiftsgründung sich objektivierende Christianisierung (Kloster Werden bei Essen, Stift Essen, ein Stift Herdecke) begann vom Hellweg aus in das umliegende Gebiet und darüber hinaus 1 auszustrahlen. 2 Dabei folgten die weltliche und die kirchliche Herrschaft, die sich über das Ruhrgebiet ausbreiteten offensichtlich unterschiedlichen Prinzipien. Pfarrsprengel 3 und Gerichtsbezirk etwa umfassten unterschiedliche Gebiete, die sich überschnitten. „Damit wurden
1 Die „von Liudger um 799 gegründete Abtei Werden an der Ruhr" war „in der Karolingerzeit Ausgangspunkt der christlichen Mission in das Münsterland und bis in das östliche Sachsen" (Leidinger 1990: 74).
Der Hellweg selbst verlor nach dem Investiturstreit unter den Saliern und Staufern auch „seine Bedeutung als eine der wichtigsten Königsstraßen des mittelalterlichen Reiches, wenn auch nicht seine wichtige Funktion als Handelsstraße, die erst [...] mit dem Aufkommen der Städte, dem Wachstum der Bevölkerung, der Ausbreitung und Intensivierung des Handels und des Gewerbes im 12. Jahrhundert recht begann." (Leidinger 1990: 76f.) 2
Hier ist noch hinzuzufügen, „daß wir uns die mittelalterliche Pfarrorganisation zwischen Ruhr und Lippe nicht als eine System gegeneinander abgegrenzter, gleichgeordneter und gleichberechtigter Kirchen und Kirchspiele vorstellen dürfen, sondern als das durch mannigfache gegenseitige Abhängigkeiten und Rangunterschiede gekennzeichnete Zusammenspiel einer Vielzahl von Kirchen mit unterschiedlichen Seelsorgerechten und -funktionen begreifen müssen." (Janssen 1990: 144) 3
48 • 2 Historische Konstellationen die Siedlungen zwei v e r s c h i e d e n e n O r d n u n g s g r ö ß e n zugewiesen, die sich nach ihren G r e n z e n nicht deckten." (Tewes 1 9 9 0 : 9 8 ) 4 Diese i n k o m p a t i b l e n E b e n e n d e r V e r g e s e l l s c h a f t u n g h a b e n z w a r ihre A u s w i r k u n g e n auf d e n Alltag, k ö n n e n aber w e g e n ihrer I n k o n g r u e n z f ü r diesen nicht organisierend b e s t i m m e n d w e r den. D e s h a l b v e r w u n d e r t es nicht, w e n n , w i e ebenfalls T e w e s zeigt, 5 die „Heirats"- u n d „ V e r w a n d t e n k r e i s e " ü b e r die G r e n z e n der G r u n d h e r r s c h a f t hinausg r i f f e n u n d f ü r das alltägliche L e b e n entschieden bedeutsamer w a r e n als die gesellschaftlichen O r d n u n g s g r ö ß e n . 6 W i e d e r s t o ß e n w i r auf die Struktur, dass die F o r m e n d e r partikularen V e r g e m e i n s c h a f t u n g das L e b e n b e s t i m m e n u n d dass die E b e n e d e r V e r g e s e l l s c h a f t u n g keine organisierende K r a f t e n t f a l t e n kann. 7
So gehörten etwa Siedlungen im Gebiet des heutigen Castrop-Rauxel einerseits „zur Pfarrei Castrop im kölnischen Kirchendekanat Dortmund" und andererseits zu einem „Gerichtssprengel der Grafen von Kleve" (ebd.) - Wie wenig die „verschiedenen Ordnungsgrößen" eine Rolle spielten, zeigt sich auch daran, „daß es sowohl räumliche Deckungsgleichheiten als auch inkongruente Pfarr- und Gerichtssprengel gab." (ebd.)
4
Tewes weist nach, „daß örtliche und überörtliche Heiraten durchaus gegen die grundherrschaftliche Zugehörigkeit möglich waren" und „daß diese Heiraten nicht die Ausnahme, sondern eher die Alltäglichkeit geprägt haben dürften." „In der schnellen Generationenfolge, bedingt durch das meist kurze Lebensalter bildeten sich über die Heiratskreise einer Siedelzone in einem zweiten Schritt Verwandtenkreise als Folge der permanenten Familienverbindungen." Es wurde darüber hinaus versucht, „den ja nur zeitweise - meist lebenslang - übernommenen Hof in der Familie weiterzugeben. Es war damit der Wunsch verbunden, innerhalb des oben durch Heirat und Verwandtschaft gekennzeichneten, sozialen Beziehungsgeflechts weiterzuwirtschaften und in der Familienfolge Bestandteil dieser Gemeinschaft zu bleiben, die wir Landgemeinde nennen." (1997: 474) 5
Man muss dies nur mit den Ausführungen von Marc Bloch kontrastieren, der für die Feudalgesellschaft u. a. folgendes festhält: „De plus en plus, en un mot, sa place [sc. derjenige des auf seine Scholle verpflichteten freien „Kolonen"] dans la société se définit par sa sujétion envers un autre homme: sujétion si étroite, en vérité, qu'on estime naturel de limiter son statut familial en lui interdisant de se marier en dehors de la seigneurie" (1989: 359; vgl. 1999: 340f.), um die hier vorliegende Besonderheit sogleich zu erkennen. - Dass die Alltagspraxis sich manchmal mit der gesellschaftlichen Ordnung stieß und dass dies dann im Sinne der Alltagspraxis bereinigt wurde, muss man der interessanten Tatsache des Hörigentauschs (Tewes 1988: 102-106) entnehmen, bei dem „in ihrer Arbeitsleistung gleichwertige Personen ausgetauscht" wurden, weshalb man davon ausgehen muss, dass die Initiative „bei den beiden betroffenen Personen" lag: „Vermutlich war es schon ihr eigener Wunsch" (a. a. O.: 104), der seinerseits in persönlichen Beziehungen fundiert zu sehen ist. — Inge Litschke verweist in ihrer Arbeit über die Bergarbeiterkonlonie Lohberg auf „die vielen über Konfessionen und politische Ideologien hinweg entstandene Freundschaften und Ehen" (1994: 152): „Die Folge war, daß sich ein dichtes Netz freundschaftlicher und verwandtschaftlicher Beziehungen in der Kolonie bildete, das in individuellen Nodagen trug, ein Gefühl von Geborgenheit vermittelte, Basis für unterschiedliche Formen sozialer Interaktion wurde und soziale Identität stiftete." (a. a. O.: 150) Die Kontinuität dieses Beziehungsmusters, zumindest die Kongruenz zeitlich distanter Beziehungsmuster, liegt hier offen zutage. 6
Hier zeigt sich an der Tatasche, dass die sächsischen Bauern „libres de leur terre, libres de leur personne" waren (Bloch 1989: 371; vgl. 1999: 353), dass „en Saxe, les alleux paysans 7
2.4 Unterströmung • 49
Dies kommt der zu vermutenden Habitusformation entgegen, die von sich aus nicht auf Vergesellschaftung drängt und so eine unklare Zuordnung nicht als Problem deutet. Dies ist, wie Stefan Goch in einem Vortrag (2001) eindrucksvoll gezeigt hat, auch für alle Versuche einer vereinheitlichenden Verwaltungsreform im Ruhrgebiet nach wie vor ein Problem. Wir haben hier die Negativform der sich herausbildenden regionalspezifischen Einflussstruktur: die mangelnde Einheitsbildung. Das führt dazu, die Region immer noch lediglich über die wirtschaftliche Einheit, die die Montanindustrie darstellte, allenfalls über so etwas wie die mit dieser Industrie über das Gebiet gekommenen ,Montankultur' bestimmen zu wollen. Andere historisch sich herausbildende Regionen haben ja von sich aus historisch nach einer Einheit auf der Ebene politischer Herrschaft gestrebt und sie irgendwann auch erreicht; beim Ruhrgebiet ist dies notorisch nicht so.8 Hier zeigt sich aber, dass nicht nur dort, wo aus der in ihrer Soziokultur wirklichen Region eine Region auf der Ebene der politischen Einheit geworden ist, aus letzterer auf erstere geschlossen werden kann, sondern dass eben auch dort, wo eine Region sich gerade durch die Schwierigkeit auszeichnet, zu einer politischen Einheit zu finden, genau dies ein Ausdruck der objektiv wirklichen Fallstruktur der Region, ihrer Einflussstruktur sein kann.9 De Vries' zitierte Bemerkung über die gegenseitige Hilfe bei den Germanen, die „instinktiv" erfolgte und keine rechtliche Verpflichtung war (vgl. S. 42), muss, wie bereits oben gedeutet, soziologisch übersetzt werden. So muss man hier davon ausgehen, dass weniger vergesellschaftlichte Beziehungen als vielmehr eine Orientierung an der Gemeinschaft mit Primärgruppen und erweiterter Verwandtschaft der führende Integrationsmechanismus war. Dies genau, so können wir nun sehen, setzt sich im Mittelalter fort. Wenn etwa die „Fülle von Hofstellen", die sich „zwischen Lippe und Ruhr verteilte" (Tewes 1990: 98) mit ihren Äckern so angesiedelt waren, dass sie zwar „eng beieinander [lagen] mit angrenzenden Gärten oder im Umkreis von ein bis zwei Kilometern gestreut" (a. a. O.: étaient nombreux" (a. a. O.: 373; vgl. 1999: 355), die Bedeutung der späten Frankisierung des Ruhrgebiets. Wie es aufgrund von dynastischem Erbrecht im späten Mittelalter einmal fast zu einer Herrschaftseinheit unter den Grafen von der Mark gekommen wäre - und diese dann genau gemäß demselben Erbrecht verhindert wurde und in welche Kleinteiligkeit dies mündete zeigt Wolf-Rüdiger Schleidgen auf (1990: 53). Und die Einheit, die der Gewinn auch der politischen Herrschaft der Erzbischöfe von Köln über das Vest Recklinghausen, das schon zu ihrer kirchlichen Herrschaft gehörte, „im Laufe eines im 13. Jahrhunderts beginnenden Territorialisierungsprozesses" (Burghardt 1990: 56) hätte bedeuten können, wurde gleich konterkarriert dadurch, dass „die Landesherrschaft des Erzbischofs [...] im Vest von den Herrschaftsrechten der Landstände überlagert und durchlöchert [war], die [...] ein respektables politisches Gewicht besaßen." (a. a. O.: 57) 8
Eine einheitliche, einheitsstiftende „Soziokultur" bedingt eben nicht notwendig, worauf Karl Rohe zu Recht verwiesen hat, „regionales Identitätsbewusstsein" oder gar „politischen Regionalismus" (1986: 64; vgl. S. 17).
9
50 • 2 Historische Konstellationen
1 0 1 ; vgl. Weis 1 9 5 1 : 26), aber gleichzeitig „die Einzelhöfe in den Ortschaften fast stets unterschiedliche Besitzer hatten" (Tewes 1990: 99), 10 so stellt sich die Frage, wie die Wirtschaft konkret im Alltag betrieben wurde. Es muss v o n einer über die Besitzverhältnisse hinwegreichenden genossenschaftlichen Organisation 11 der Landwirtschaft auf der Basis v o n Flurzwang und Nachbarschaft ausgegangen werden: „Die Zugehörigkeit des Bauern zur Landgemeinde bezog sich auf seinen Wohnsitz und seinen Besitzstand am Ort, dem augenfälligen Ausweis seiner zur Mitsprache berechtigten Teilhabe an der Gemeinschaft im Dorfbezirk. Sein grundwirtschaftlicher Status eines Hörigen, Wachszinsigen oder eines Pächters spielte dabei keine Rolle. Das Zusammensiedeln der Güter verschiedener Grundherrschaften an einem Ort prägte aber in seiner jeweils einzigartigen Mischung den besonderen historischen Fingerabdruck, der hier erstmals Stück für Stück entschlüsselt wurde. Der Bauer lebte in einer Familie mit durchschnittlich fünf bis sieben Personen. Zur Hoffamilie im engeren Sinn zählten nicht nur Verwandte in absteigender Linie, sondern auch unter Umständen Onkel, Tanten und Geschwister. Zur Bewirtschaftungsfamilie gehörten häufig noch Knechte und Mägde. [...] Eine Siedlung bildeten etwa zwölf bis 18 Familien." (Tewes 1997: 472; Kursivierung hinzugefügt) Die erforderliche Zusammenarbeit 1 2 hatte zwar je nach Bodenqualität unterschiedliche Inhalte, aber aufgrund ihrer Organisation die gleiche, im Zusammensiedeln über die verschiedenen Grundherrschaften hinweg begründete, Form des 10 Thomas Schilp macht dabei - am Beispiel des Stifts Essen - deutlich, dass die Grundherrschaftsverbände dazu beitrugen, „die abhängige bäuerliche Bevölkerung zunächst zu erfassen und durch Hofverbände im Raum zu organisieren." „Der Grundbesitz des Stifts Essen wurde im Raum zwischen Lippe und Ruhr [...] zur Grundherrschaft größeren Stils formiert. Sie wurden zu erschließenden Zentren der dünnbesiedelten, agrarisch ausgerichteten Region. Dies dürfen wir uns allerdings nicht als die Erschließung eines einheitlichen Raumes vorstellen. Das nahegelegene Kloster Werden, aber auch die Königshöfe Duisburg und Dortmund sind analog wirkende, konkurrierende Körperschaften." (1990: 92; vgl. Goetz 1990b, Kraus 1990, Schleidgen 1990) 11 „Zwischen Emscher und Ruhr war die Genossenschaft die regelrechte Verbindung Ort für Ort. Das weitgehende Fehlen einer autonomen Rechtsgemeinde offenbart die gegenüber anderen Teilen des Reiches weniger profilierte Gemeindestruktur." (Tewes 1997: 464) 12 „Erfolgreiches Wirtschaften war nach der Position der Felder nicht ohne gelungene Agrarkooperation der Einzelhöfe auf der Basis der im Naturraum vorgegebenen Bedingungen möglich." (a. a. O.: 477) Wesentlich ist hierfür auch die gemeinsame Bewirtschaftung der Marken, also derjenigen Gebiete, die eine Einzelbewirtschaftung aufgrund von Bodenqualität oder Geomorphologie nicht zuließen und folglich für genossenschaftlichen Holzgewinn oder als Viehweide genutzt wurden. Auf die Kontinuität dieses Moments weist Kurt Pfläging für Sprockhövel hin: „Seit Urzeiten lebten die Sprockhöveler in einer Marken-Genossenschaft zusammen. [...] In Sprockhövel traten am 1. Donnerstag nach Pfingsten alle Markengenossen unter der Dinglinde am Schulzenhof (Leveringhaus) und später abwechselnd ,An der Gehte' zusammen, um das Holzgericht abzuhalten. Diese jährliche Versammlung hieß Hölting, der höchste gewählte Markengenosse - quasi Obmann - war der Schere. Diese Einrichtung bestand noch bis ins 19. Jahrhundert, obwohl offiziell die Marken 1780 geteilt bzw. aufgeteilt wurden." (1979: 199f.)
2.4 Unterströmung • 51
gemeinschaftlichen Handelns, dessen Grundlage eben eher „Verwandtenkreise" als gesellschaftliche Zugehörigkeiten waren. 13 Dass diese Organisation des Alltags als Grundlage und Ausdruck der für das Mittelalter generell feststellbaren ,partizipativen Identität' 14 verstanden werden muss,, entbehrt aber nicht einer Spezifität. Was ergibt sich für die konkrete Form dieser ,partizipativen Identität' aus dem, was Ludger Tewes als „den besonderen historischen Fingerabdruck" der Region bezeichnet: aus dem Zusammensiedeln über die verschiedenen Grundherrschaften hinweg? Bevor wir uns dieser Frage zuwenden, ist festzuhalten, dass nicht die Inkompatibilitäten allein, sondern dieses Zusammensiedeln wie die alltagspraktische Relevanz der Verwandtschaftskreise als Antwort darauf das Spezifische des Ruhrgebiets auszeichnet.15 Gert Melville hat die die Dialektik der Individuierung im Mittelalter bestimmende Aporie am Beispiel der Religiösen herausgearbeitet, die in einem Widerspruch bestand: demjenigen zwischen der Tatsache, dass „für die Legitimität des individuellen' in der vita religiosa des Mittelalters kein Raum vorgesehen gewesen sein" dürfte, einerseits und der Tatsache, dass die „vita perfectionis" des Religiösen „sich letztlich immer als eine selbst geführte sehen" ließ (Melville 2002: XII), andererseits. Für diesen zweiten Aspekt, der mit dem ersten dadurch zusammenhing, dass die Perfektion dann erreicht war, wenn sie je individuelle Realisierung der Werte der Gemeinschaft war, was eben jene unaufhebbare Dialektik der Individuierung ausmachte und den ,Herbst' des Mittelalters zu einem ,vorfrühneuzeitlichen' Frühling werden ließ (vgl. Hahn/Bohn 2002: 6), gibt es im Ruhrgebiet des Mittelalters keinen Beleg. Wir müssen es aber nicht bei einem Argument ex silentio belassen. Wenn es für den Stachel der Individuierung empfängliche Kandidaten gibt, so sind dies die Adeligen und die Geistlichen der Region.
13 Die Daten, die Ludolf Kuchenbuch zum Thema .Arbeit' im mittelalterlichen Ruhrgebiet untersucht hat (1990), lassen „den Schluß zu, daß die Hufe [, die von in den Frondienstordnungen genannter uxor und ihrem maritus bewirtschaftet wird,] ein beziehungsreiches Verbundhandeln ermöglicht: Getreidebau (Winter- und Sommersaat), Groß- und Kleinviehhaltung (vom Pferd bis zum Huhn), Gartenbau, dazu Wald-, Wiese- bzw. Weidenutzung und Fischerei an Bach und Teich - dies in variiierenden Kombinationen von Eigenbetrieb und Allmende/Gemeine." (a. a. O.: 107) 14 „Die manifeste Verschiedenheit zwischen den Einzelnen wird als Oberflächenphänomen gedeutet, das eine tieferliegende Wahrheit gerade verdeckt. [...] Status oder Familienzugehörigkeit [gelten] als [...] Kern der Wesenheit der individuellen Erscheinung" (Hahn/Bohn 2002: 3; vgl. Hahn 2000: 13-79). 15 „Bis zu den mit der französischen Revolution einsetzenden großen Flurbereinigungen war die politische Landkarte in Westfalen und am Rhein von einer Vielzahl mitderer und kleinerer Territorien geprägt." (Behr 1990: 211) Auch wenn der Autor sich dann „den später als Ruhrgebiet bezeichneten Landstrichen" zuwendet (ebd.), ist doch der beschriebene Zustand selbst nicht allein auf das spätere Ruhrgebiet begrenzt.
52 - 2 Historische Konstellationen
Dem steht aber die enge Verbindung von Ritterschaft und Ministerialen mit der Gemeinde entgegen, die Tewes ausmacht: „»Vom persönlichen Substrat her (...) ist das Dorf ein gleichartiger' genossenschaftlicher Verband und auf das Prinzip der Nebenordnung abgestellt.« [Bader 1974: 270] Für den Raum um Dortmund muß dieser Satz mit einem zusätzlichen Akzent versehen werden, weil Ministeriale und Ritter in vielerlei Funktionen in der Gemeinde auftraten und nicht von ihr ausgegrenzt waren. Sie fungierten selbst als bäuerliche Schulten, wie etwa in Brackel, und waren so mit der bäuerlichen Agrarorganisation völlig verbunden. Freilich gab es daneben Ministeriale und Ritter, die aus ihrem Sitz heraus, der mit Mauer und Wassergraben markant vom Dorfbezirk abgesetzt war, bis in die Ebene des landesherrlichen Dienstes wirkten. Aber auch sie standen über Zehnt- und Hofbesitz — was geschäftlichen Umgang verschiedener Formen einschloß - mit den Landgemeinden in Kontakt. Die besonders vornehmen Adligen distanzierten sich zwar zu Lebzeiten deutlich durch ihren Rittersitz von den Bauern, doch ließen sie sich oft bei ihrem Ableben mitten in der Landgemeide, nämlich in der Kirche, beisetzen." (Tewes 1997: 202)
Und auch für die Geistlichen stellt er eine auffällige familiäre Verflechtung fest: „Interessanterweise verdingten sich in der Zone zwischen den Städten Essen und Dortmund zahlreiche Kanoniker von Stift Essen als Gemeindepriester, die zugleich meist aus örtlichen Ministerialfamilien — hin und wieder aus Bürger- oder Bauernfamilien — stammten. Um Dortmund handelte es sich um Angehörige der Häuser von Lünen, von Methler, von Aplerbeck und von Derne. D a ß Prälaten hier mitunter ihre Pfründen suchten, ist gegenüber den familiären Verflechtungen dieser Priester mit dem politisch und wirtschaftlich handelnden Ministerialentum der Region vergleichsweise von nachrangigem Interesse." (Tewes 1997: 206)
Es lassen sich also viele Befunde anführen, die zeigen, dass auch im Mittelalter im Ruhrgebiet partikulare Vergemeinschaftung sowohl über Vergesellschaftungstendenzen dominierte, als dass auch damit verbundene Individuierungspotenziale nicht ausgeschöpft wurden. 16
16
Dies gilt in Bereichen und in einer Weise, die das spätere Ruhrgebiet von anderen Gebieten im Deutschen Reich unterscheidet. Neben den bereits genannten Belegen verweist Tewes etwa auch auf die in den Siedlungsnamen sich ausdrückende Orientierung auf das „Zusammenhausen" (1997: 26f.). — Auch das Anerbenrecht (,Altes Herkommen und Erbrecht hatten zu einer nahezu allgemeinen Unteilbarkeit der Bauerngüter in Westfalen geführt." - Meister 1932: 41), und zwar in seiner Form als Ältestenrecht, ist Ausdruck dieser Orientierung und prämiert sie zugleich: weder ist - wie im Erbteilungsrecht - der wegen der immer kleiner werdenden Scholle kaum noch subsistenzfähige Bauer auf Intensivierung und Qualitätssteigerung oder Nebenerwerb zwingend angewiesen und so in seiner individuellen Leistung gefordert, noch wird die individuelle Leistung auf dem zu erbenden Familienhof besonders prämiert — wie dies im Anerbenrecht ohne Bindung desselben an den Ältesten oder Jüngsten, wo die „Bewegung des Bodens zum besten Wirt" erfolgt, der Fall ist (vgl. Bohler 1988: 52-62; Zitat: 59).
2.4 Unterströmung • 53
4.2
Wandlungen
„Die evangelischen und katholischen Parochien haben eine entscheidende Rolle in der Entwicklung dieses Raumes gespielt. Mit ihren Kirchen, Gemeinde- und Pfarrhäusern, ihren Schulen und Kindergärten, ihren Krankenhäusern und anderen diakonischen Einrichtungen, ihren Vereinshäusern und ihren Friedhöfen habe sie das äußere Bild jedes Ortes mitgeprägt. Generationen von Familien haben im Umfeld dieser kirchlichen Bauten Orientierungspunkte für ihr einzelnes und gemeinsames Leben gehabt. ,Von der Wiege bis zur Bahre' wurde man von der Kirche begleitet, betreut und versorgt. In .Freud und Leid' war Verlass auf die Kirchen und ihr Personal. Der Pfarrer, die Gemeindeschwester, die Kindergärtnerin, der Küster, der Friedhofsgärtner - sie alle waren Personen, die man mit ihren Stärken und Schwächen kannte. Auch der distanzierteste Kirchenchrist bekam es irgendwann mit diesem .Bodenpersonal' zu tun. Die Kirche gehörte zur Alltagswelt, lange Jahrhunderte ganz selbstverständlich ohne große Probleme." (Brakelmann 2002: 21; 1998: 9f.) Diese generelle Beschreibung und Einschätzung Günter Brakelmanns wird von vielen Einzelstudien zwar in differenzierter Weise konkretisiert, in ihrer Generallinie aber bestätigt. Die „Erziehung zu einem verantwortlichen Patriarchalismus, zu einer Arbeits- und Berufspraxis auf den Fundamenten von Sachkenntnis und Pflichtbewußtsein, zu persönlicher Moralität und zur praktischen Nächstenliebe", die verbunden war mit der „Entwicklung eines Pathos und eines Ethos religiös fundierter Hochschätzung der Arbeit und des Familienlebens", die Brakelmann an dem „traditionalen Gemeindetyp" herausstellt (2002: 23; 1998: 11), trifft in stärker auf die Vereine orientierter Form auch auf den „sozialkonservativen Gemeindetyp" (2002: 24f.; 1998: 12ff.) zu." Dieser so beschriebenen Alltagswirklichkeit des kirchlichen Lebens entsprechen die organisatorischen Strukturen ebenso wie die Bestrebungen der Zusammenfuhrung von reformierter und lutherischer Kirche im späteren Ruhrgebiet: „Die reformierten Gemeinden besitzen nach der kleve-märkischen reformierten Kirchenordnung von 1662 Presbyterien, die die Abgeordneten für die Synoden bestellen. Die lutherischen Gemeinden in Mark besitzen — eine damals einzigartige Erscheinung innerhalb des sonst überall vom landesherrlichen Kirchenregiment bestimmten Luthertums — ebenfalls eine presbyterial-synodale Kirchenordnung (märkische Kirchenordnung von 1687: Aufbau der Kirche von den Gemeinden her, ausschließliche Leitung der Gemeinden bzw. Kirche durch Presbyterien und Synoden und Mitwirkung von Laien, den sog. .Ältesten*)." (Wisplinghoff et al. 1973: 132) Die Frage, warum die reformierte Kirchenordnung und die — vom „sonst überall" herrschenden „landesherrlichen Kirchenregiment" abweichende — lutherische Kirchenordnung ihre je besondere Gestalt haben, wird in den historischen
17 Für den dritten Typus, die „Personalgemeinde" (2002: 25f.; 1998: 13), führt Brakelmann nur ein Beispiel — zudem eines aus programmatischen Schriften, nicht aus einer gemeindlichpraktischen Realität — an, das aber ebenfalls von der erstgenannten Charakterisierung nicht grundsätzlich abweicht.
54 • 2 Historische Konstellationen
Darstellungen nicht gestellt. Durch die Abweichung wird ja offenkundig, was generell gilt und ein Erklärungsproblem konstituiert: dass der Entwicklung eine Entscheidung zugrundeliegt. Wir können hier davon ausgehen, dass die in der Region bereits seit langem, ja seit den Anfangen vorherrschende soziokulturelle Unterströmung der Gemeinschaftsorientierung hier eine entscheidende Rolle sowohl im Alltag der Gemeinden wie in der dazu passenden Organisation der Kirchen gespielt hat. Auch was die katholischen Gemeinden angeht, finden wir eine bemerkenswerte Abweichung. Wilhelm Damberg führt zum katholischen Milieu im Ruhrgebiet aus, dass es „in einer Region [entstand], dessen [sie!] konfessionelle Struktur von der Normalität in Deutschland abwich. Anders als in den Flächenstaaten des ,Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation' war hier von einer durchgreifenden Konfessionalisierung nur begrenzt die Rede gewesen. [...] Unbeschadet der lokalen Dominanz einer Konfession lebten zumeist andersgläubige Minderheiten entweder am Ort oder doch in unmittelbarer Nachbarschaft." (2002: 16) Hier zeigt sich erneut, dass — auch nach der Reformation - die Selbstrechtfertigung im Glauben gegenüber der Selbstrechtfertigung als Mitglied einer die Konfessionen - wie früher die Grund- und Territorialherrschaften - überspannenden Gemeinschaft nachrangig war. Den wiederkehrenden Grundzug als longue durée zu erkennen, ist nun schon ein déjà vu in der Betrachtung der Geschichte des späteren Stahl- und Kohlereviers an der Ruhr. Hierzu passt dann, wie oben bereits angedeutet, dass der „Unionsgedanke, zu dessen Verwirklichung der König durch Kabinettsorder vom 27. September 1817 anläßlich der Jubelfeier der Reformation aufruft, [...] vor allem in der Mark großen Widerhall" findet (WispHnghoff et al. 1973: 132) und „vor allem in Mark" „das Unionsverhältnis [...] das einer konsensus-unierten Gemeinde" ist, „die das Gemeinsame beider Bekenntnisse in den Vordergrund stellt" (ebd.). Für die spätere Integration der protestantischen Zuwanderer aus Masuren ist diese Weichenstellung und die Orientierung auf die praktische Gemeindetätigkeit eine wichtige Voraussetzung. Dominant ist der strukturelle Zug zur alltagspraktischen Orientierung an der Gemeinschaft, der inhaltlich durchaus unterschiedlich — katholisch, reformatorisch, lutherisch - gefüllt sein kann.
5
Zwischenbemerkung zu Gemeinschaftsorientierung und Anerkennung in den historischen Konstellationen des Ruhrgebiets vor der Industrialisierung
George Herbert Mead hat in seiner Grundlegung einer soziologischen Identitätstheorie deutlich herausgearbeitet, dass das Individuum seine Identität durch die Anerkennung, die es von relevanten Anderen erfährt, ausbildet und aufrechterhält. W e n n wir die Meadschen Überlegungen auf die Frage nach Entscheidung und Selbstrechtfertigung übertragen, so zeigt sich, dass eine Selbstrechtfertigung, um tragfähig zu sein, v o n den relevanten Anderen - und seien diese im „generzalized other" (vgl. Mead 1934: 152-164), der das Gesamt der Gemeinschaft ist (a. a. O.: 154), aufgehoben — anerkannt werden muss. 1 „The individual experiences himself as such, not directly, but only indirectly, from the particular standpoints of other individual members of the same social group, or from the generalized Standpoint of the social group as a whole to which he belongs." (Mead 1934: 138) Wenn die Gruppe, der der Einzelne zugehört und auf die er sich in seiner Selbstrechtfertigung bezieht, die Gemeinschaft der ,Zusammenhausenden' (Ludger Tewes für das Mittelalter im Ruhrgebiet) ist, was kann dann der Gegenstand der Anerkennung sein, die ein Angehöriger dieser Gemeinschaft 2 erfahrt und auf die er zur Ausbildung und Aufrechterhaltung seine Identität angewiesen ist? Diese Frage soll hier in Bezug auf unsere Untersuchungsregion und die historischen Konstellationen, die wir bisher angeführt haben, betrachtet werden. Die Anerkennung durch die Gemeinschaft muss in einer der Dimensionen der Bewährung (vgl. Oevermann 1995) verankert sein. Es handelt sich hierbei um diejenigen Anerkennungsdimensionen, in denen die Sozialität und damit auch
1 Dies ist die individuelle Form der „suggestiven Evidenz", deren der Bewährungsmythos als Antwort auf die Bewährungsfrage, die jedem Leben sich stellt, bedarf, damit er die „Kraft der glaubwürdigen .Beruhigung' des Lebens in der Bewährungsdynamik, somit auch die Kraft der hinreichenden Selbst-Charismarisierung für die Bewältigung von Krisen ausüben kann"; die Evidenz muss ihrerseits verbürgt sein „durch eine vergemeinschaftende Gefolgschaft" (Oevermann 1995: 65).
Es muss sich dabei um die Anerkennung durch eine für den Bezugnehmenden wirkliche Gemeinschaft, nicht lediglich durch irgendeine - als Gemeinschaft möglicherweise gedachte soziale Gruppe handeln. Die rein formale Erweiterung der möglichen „reference groups" von der ,in-group' auf die ,out-group', die Robert K. Merton gegenüber der Bestimmung Meads vornimmt (1968: 293), übersieht die materiale Abhängigkeit der Bezugnahme auf bloße „social categories" von der Bezugnahme auf eine praktisch wirkliche Gemeinschaft. In denjenigen Gruppen, denen eine Person angehört und mit denen sie in einer gemeinsame Praxis steht, erfährt sie praktisch Anerkennung — oder eben nicht. Dies ist aber konstitutiv dafür, sich auf eine Gruppe zu beziehen, mit der sie in keiner solchen Relation steht. Die imaginierte Anerkennung, die sie dort erfährt, setzt das konstituierte „ s e i f , um das es Mead geht, schon voraus. 2
56 • 2 Historische Konstellationen
Individualität konstituierende Reziprozität sich ausdrückt. Sie spannen diejenigen Bereiche auf, die in den Sozialwissenschaften v o n jeher — sei es explizit oder implizit - als die für eine Gesellschaft funktional unverzichtbaren angesehen wurden. Die Bewährung muss dabei, um es zu wiederholen, durch eine Gemeinschaft lizenziert sein, in Anerkennung durch eine Gemeinschaft münden, wenn anders sie Bestand haben soll. Ulrich Oevermann rekonstruiert diese Dimensionen der Bewährung in der Gestalt, wie sie für die moderne Gesellschaft gelten (2001a: 112); sie ruhen aber auf universellen Strukturen auf. Die erste Dimension, „Berufs- und Erwerbstätigkeit", bringt den Funktionskreis der kollektiven und individuellen materiellen Reproduktion zum Ausdruck, die zweite, „Beteiligung an der sexuellen Reproduktion", führt den Funktionskreis noch im Namen, die dritte schließlich, die .staatsbürgerliche Bewährung', ist die nationalstaatliche Realisierung des Funktionskreises der kulturellen Reproduktion der Gemeinschaft. 3 Welche Realisierungen der Bewährungsdimensionen lassen sich nun v o r dem Hintergrund der skizzierten historischen Konstellationen v o m Beginn der Besiedlung bis zur ersten Industrialisierung bestimmen? Die materielle Reproduktion, die nicht mehr bloße Reaktion auf einen Naturtrieb ist, ist vermittelt durch die gesellschaftliche Reziprozität. Diese nimmt historisch stets eine bestimmte Form an. Bereits unter den Jägern und Sammlern erfährt also nicht lediglich derjenige Anerkennung, der in der Lage ist, viel Beute zu machen, sondern derjenige, der in der Lage ist, viel Beute auf die Weise zu machen, die in der bestimmten Gemeinschaft als gelungen gilt. 4 So können wir nur In den subhumanen Gattungen ist dieser Funktionskreis gegenüber den ersten beiden noch nicht ausdifferenziert, da mit der materiellen und sexuellen Reproduktion die biogrammatischen Gesetzlichkeiten der Gattung reproduziert werden, von denen erst und nur die humane Gattung in die eigenlogische Ebene von Kultur hinein sich löst (vgl. S. 32-35). Die auf der Ebene des Herrschaftsverbandes explizit in Regie genommene kulturelle Reproduktion ist dabei nochmals zu unterscheiden von der Ebene der Kultur als einer allen drei Dimensionen zugrundeliegenden Strukturgesetzlichkeit der Gemeinschaft. 3
Das bringt Marx etwa mit folgender Bemerkung zum Ausdruck: „Hunger ist Hunger, aber Hunger, der sich durch gekochtes, mit Gabel und Messer gegeßnes Fleisch befriedigt, ist ein andrer Hunger, als der rohes Fleisch mit Hilfe von Hand, Nagel und Zahn verschlingt." (Marx 1903: 807) Dass er das ,Anderssein', den Vermittlungsprozess nicht in concreto ausführt, tut der Angemessenheit der Bemerkung keinen Abbruch. Allerdings ist hier der in seinem Werk ja immer wieder zu findende funktionalistisch-ökonomische Reduktionismus schon angelegt, wenn er fortfahrt: „Nicht nur der Gegenstand der Konsumtion, sondern auch die Weise der Konsumtion wird daher durch die Produktion produziert, nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv. Die Produktion schafft also den Konsumenten." (ebd.) Richtig ist daran, dass die Produktion gemäß den geltenden Regeln diese Regeln stabilisiert und so der Konsumtion gemäß diesen Regeln Vorgaben liefert. Aber schon das Gedankenexperiment der Transformation zeigt, dass auf beiden Seiten dieser Relation eine Veränderung ansetzen könnte, sowohl auf Seiten der Produktion wie auf Seiten der Konsumtion; das Entscheidende ist also die in den Regeln objektivierte kulturelle Form. 4
2.5 Gemeinschaftsorientierung und Anerkennung • 57
einerseits spekulativ Weisen des Beute Machens bzw. der materiellen Reproduktion generell gedankenexperimentell konstruieren, die zu den von uns bestimmbaren Lebensumständen passen, andererseits nur aus den Spuren, die die bestimmte Weise der materiellen Reproduktion hinterlassen hat, rekonstruieren, welche in dem uns interessierenden Gebiet wirklich war und als historische Konstellation in die Konstitution dieses Gebiets als Region eingegangen ist.5 Das gleiche gilt für die sexuelle und natürlich erst recht für die kulturelle Reproduktion. Welche Momente für die bestimmte Form von materieller, sexueller und kultureller Reproduktion im Ruhrgebiet können wir aus unserer bisherigen Betrachtung der Geschichte des Gebiets nun festhalten? Zunächst kennzeichneten wir die Kultur der verstreut siedelnden Bauern als durch gemeinschaftlich praktizierten Landbau geprägt. Hier wird nicht derjenige Bauer, der auf eigene Faust und Rechnung Neuland gewinnt oder neue Anbauweisen entwickelt, ein Höchstmaß an Anerkennung erfahren, sondern derjenige, der durch Tatkraft in der und für die Gemeinschaft deren gemeinschaftliches Leben unterstützt. Hierzu passen in dem Bereich der sexuellen Reproduktion Beziehungen, die der Festigung der Sippe dienen, und im Bereich der kulturellen Reproduktion eine Tradierung der bewährten Muster. Das nachfolgende Schema soll die Möglichkeiten der verschiedenen Haltungen zu bewährten oder neuen Mustern der Problemlösung, des Umgangs mit Welt überhaupt darstellen. Dabei ist davon auszugehen, dass in der Dimension von Subsumtion und Autonomie verschiedene Habitus 6 anzusiedeln sind. Einerseits
5 Generell gilt, dass wir zwar die geologischen, klimatischen, geographischen etc. Verhältnisse als Siedlungsbedingung bestimmen und so sich ergebende Handlungsprobleme mit verschiedenen Bewältigungsmöglichkeiten entwerfen, aber, da dies handlungsendastete Konstruktionen sind, niemals sicher sein konnten, ob die reale Praxis nicht Lösungen realisiert hat, die der gedankenexperimentellen Konstruktion entgehen. Deshalb kann die Analyse von Protokollen der realisierten Lösungen, die der Rekonstruktion der spezifischen Strukturgesetzlichkeit der Praxis dient, stets dazu führen, dass wir Lösungen vorfinden, die in unseren Konstruktionen nicht enthalten waren. Das Beiziehen von Fachliteratur kann zudem weder die spezifische Gestalt der konkret realisierten Lösung aufdecken, noch die Gewähr für eine Exhaustion der Möglichkeiten geben; allerdings kann die Wahrscheinlichkeit dazu erhöht werden.
Unter Habitus sind - durchaus in Anlehnung an Pierre Bourdieu (1967), wenngleich dieser den generativen Charakter des Habitus entgegen seiner Absicht nicht bestimmen kann Maximen der Lebensführung zu verstehen, denen im Zweifel gefolgt wird, und die der Typik des Handelns zugrunde liegen und sich in ihr ohne Willen und Bewußtsein ausdrücken (vgl. Loer 1996: 311). Dabei ist davon auszugehen, dass „Habitusformationen [...] in kriterialen Phasen der Ontogenese [entstehen], [...] ähnlich wie Deutungsmuster Ausdruck von Krisenlösungen und Krisenbewältigungen und als solche tief ins — nicht unbedingt dynamische Unbewußte hinabgesunken" sind (Oevermann 2001b: 45f.). 6
58 • 2 Historische Konstellationen
bewährte Muster
^
neue Muster
Skiage 1
sind dies solche (obere Hälfte), die die Handelnden sich den Mustern der Problemlösung, seien dies bewährte oder neue,7 geschult an der eigenen Erfahrung Wenn Arthur Spiethoff sich zu Recht gegen den falschen Gegensatz von traditional und rational wendet: „Der Gegensatz zu gewohnheits- und überlieferungsgemäß ist nicht rational, sondern neuernd." (1932: 81, Fn. 4), so gehörte in die Abhandlung dazu („Ohne eine Abhandlung über diese Frage zu schreiben, kann hier nicht mehr darüber ausgeführt werden." — ebd.) genau die Differenz von Inhalt und Habitus: ein Habitus kann sich gerade dadurch als „neuernd" erweisen, dass er sich überlieferter Inhalte bedient. (Die Innovation in der zeitgenössischen Kunst und Musik lässt anders sich begrifflich gar nicht konzeptualisieren, da alle Inhalte und Materialien bereits verwendet wurden; neue Welten erschließen allein neue Konstellationen. — Vgl. Loer 1997) — Edward Shils führt eine wichtige Unterscheidung ein, die es ermöglicht, Tradition und Traditionalität zu unterscheiden: „Tradition means many things. In its barest, most elementary sense, it means simply a traditunr, it is anything which is transmitted or handed down from the past to the present. It makes no statement about what is handed down or in what particular combination or whether it is a physical object or a cultural construction; it says nothing about how long it has been handed down or in what manner, whether orally or in written form. The degree of rational deliberation which has entered into its creation, presentation, and reception likewise has nothing to do with whether there is acceptable evidence for the truth of the tradition or whether the tradition is accepted without its validity having been established; the anonymity of its authors or creators or its attribution to named and identified persons likewise makes no difference as to whether it is a tradition. The decisive criterion is that, having been created through human actions, through thought and imagination, it is handed down from one generation to the next. / Being handed down does not logically entail any normative, mandatory proposition. The presence of something from the past does not entail any explicit expectation that it should be accepted, appreciated, reenacted, or otherwise assimilated." (Shils 1981: 12) In allen - eben auch in nicht traditionalen - Gesellschaften gibt es Traditionen. Traditionale Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass diese Tradtionen ungeprüft, in gewissem Grade unprüfbar und gerade weil sie überkommen sind, fortgeführt werden (zu sagen: .akzeptiert werden' würde - ist doch die Bedeutung unter aktiver Beteiligung des Subjekts dominant - schon jene praktisch krisenhafte Überlegung ins Spiel bringen, die Moment der Enttraditionalisierung ist). Wird allerdings die „quality of pastness" (a. a. O.: 13) zum Argument für die Fortführung der Tradition gemacht, so handelt es sich nicht mehr um eine traditionale Gesellschaft - und die explizit normative 7
2.5 Gemeinschaftsorientierung und Anerkennung • 59
öffnen lassen, sie gegeneinander abgleichend; andererseits solche (untere Hälfte), die die Handelnden entweder im Sinne dessen, was Max Weber unter dem Begriff der Sitte fasste und in „dumpfer ,Gewöhnung'" gegründet sah (1972: 187ff.), den bewährten Mustern folgen lassen, traditionalistisch handelnd (links), oder aber im Sinne von Halbgebildeten sich an der lizenzierten Geltung von neuen Mustern orientieren lassen, unabhängig davon, ob diese sachlich gegründet ist (rechts).8 Im Rahmen des Schemas wären die Angehörigen der bäuerlichen Gemeinschaften im Ruhrgebiet im linken unteren Quadranten angesiedelt; dies bedeutet ein hohes Maß an Traditionaütät. Dies nimmt, wie wir es in der Frühgeschichte im Ruhrgebiet bereits in Konturen fanden, den Inhalt einer starken Orientierung an Vergemeinschaftung einerseits und einer Distanz zu Formen der Vergesellschaftung andererseits an. Die Stärkung der Sippe und die Geringschätzung der wechselnden politischen Herrschaften lässt Anerkennung wiederum und weiterhin denjenigen finden, der der Reproduktion der Gemeinschaft dient — was in allen drei Hinsichten gilt. Da dies mit der Stabilisierung in der Randlage verknüpft ist, wird wiederum nicht vom Austausch profitierende Innovativität das führende Merkmal eines zu kultureller Anerkennung führenden Handelns gewesen sein, sondern Orientierung am Bewährten. In einer bäuerlichen Kultur, die nicht auf systematische Entwicklung technischer Erleichterungen setzt, ist dies wiederum und weiterhin eher Tatkraft und Findigkeit im erfolgreichen und d. h. effektiven Bewältigen des vertrauten Lebens auf bewährte Weise als das Entwerfen neuer Lösungsmuster. 9
Präferenz von etwas Überkommenem wegen seines Überkommenseins ist reaktionär. Diese Haltung benutzt die moderne Form der explizit rechtfertigenden Wahl, gegen die sie gerade inhaltlich sich wendet. 8 Zur Halbbildung als subsumtionslogischem Habitus und Komplement zur Kulturindustrie vgl. Loer 1996: 312-322.
Untersuchungen zu „Beharrung und Wandel in ländlich-agraren Siedlungen und Siedlungsräumen", wie sie Wilhelm Müller-Wille und Elisabeth Bertelsmeier für diverse Räume Westfalens angestellt haben (1977) sind mir für das Ruhrgebiet leider nicht bekannt geworden; sie würden in einer zusätzlichen Dimension: der der Siedlungsprotokolle, Möglichkeiten der Überprüfung und Differenzierung unserer Hypothese eröffnen. 9
60 - 2 Historische Konstellationen
6
Kolonialisierung1
6.1
Kulturelle Form der Industrialisierung
W o haben nun die Montanindustrie und damit die Montankultur, die in der Regel für die Konstitution der Region verantwortlich gemacht werden, ihre Wurzeln? Dieter Scheler zeigt sie im Mittelalter auf: Die „Verbindung von Kohle und Stahl, die beide schon im Mittelalter eingingen, [gehört] zu der weit zurückliegenden Weichenstellung, die zum modernen Revier führte." (1990: 111) - „Die Lage des heutigen Ruhrgebiets an der Hellwegschiene erwies sich schon im Mittelalter als wirtschaftlich außerordentlich günstig. Fruchtbare Lößböden und die Verkehrsverbindungen auf dem Hellweg und der Lippe zum Rhein — die Ruhr hatte bis zum 18. Jahrhundert nur eine untergeordnete Bedeutung — boten gleichermaßen gute Bedingungen für die Landwirtschaft wie für den Handel. " (ebd.) Die Spezifik der fruchtbaren Böden und die Gestalt der Besiedlung, mit der sie sich verbanden, haben wir schon gesehen. Was aber bedeutet der Verweis auf den Handel? Die guten Bedingungen für den Handel konnten doch von der Region selbst mangels entsprechender Handelsgüter kaum genutzt werden. Und so war es auch zunächst allein die Stadt Dortmund an der Wegkreuzung von Ost-West- (Hellweg) und Nord-Süd-Verbindung, die mit dem Handel als Hansestadt2 groß wurde. Der Rest des Gebietes blieb rein agrarisch. „Entscheidend für die langfristige wirtschaftliche Ausrichtung der Region wurde das Mittelgebirge im Süden. Das feuchte und milde ozeanische Klima bot dort mit den günstigen Bedingungen für Wald und dem Wasserreichtum zusammen mit den Erzvorkommen gute Voraussetzungen für eine gewerbliche Entwicklung." (ebd.) Die weiteren Ausführungen Schelers zeigen denn auch, dass das spätere Ruhrgebiet zunächst reines Durchgangsgebiet war, wie wir schon in den Ausführungen im Abschnitt 4 dieses Kapitels gesehen haben. Die Gewerbeentwicklung fand im Süderland, im Sauerland3 statt. „Holz und Eisensteinvorkommen ermöglichten die Besiedlung für eine bald schon zahlreiche gewerbetreibende Bevölkerung, die allerdings bei den ungünstigen Bedingungen
Eckart Pankoke spricht in einem neueren Aufsatz von „industrieller Kolonialisierung" (2002: 5) und meint damit augenscheinlich mehr, als das einschränkende Epitheton verrät; was Kolonialisierung - ein Begriff, der sich offensichtlich aufdrängt - jedenfalls mehr umfasst, soll in diesem Abschnitt deutlich werden. 1
„Den Handel [von Eisen und v. a. Eisenwaren] innerhalb der Hanse und darüberhinaus vermittelten zwei große Exportstädte: Köln im Westen und Dortmund im Norden. Dortmund [...] beherrschte dabei zunächst den Handel mit dem Sauerland, Köln den mit dem Siegerland." (a. a. O.: 112) 2
„Die Gewinnung von Eisenstein reichte vom Lahn-Dillgebiet über das Siegerland, das [Ober-] Bergische Land und das Sauerland bis in das niederbergisch-märkische Hügelland im Süden des Ruhrgebietes." (a. a. O.: 112)
3
62 • 2 Historische Konstellationen für den Ackerbau auf den Hochflächen auf das Getreide und Salz der Hellwegregion angewiesen war. Dieser Austausch und die Nutzung der Verkehrswege des Hellwegs und der Lippe schufen eine dauerhafte Verbindung des Gebirges mit seinem Vorland, die — wenn auch auf veränderten Grundlagen - bis heute anhält." (a. a. O.: l l l f . ) D a s spätere R u h r g e b i e t w a r also „ V o r l a n d " , d a s selbst die E n t w i c k l u n g nicht strukturierte, es w a r kein Gebiet der „Proto-Industrialisierung". „Proto-Industrialisierung als »Industrialisierung vor der Industrialisierung« [...] läßt sich kennzeichnen als Herausbildung von ländlichen Regionen, in denen ein großer Teil der Bevölkerung ganz oder in beträchtlichem Maße von gewerblicher Massenproduktion für überregionale und internationale Märkte lebte. Die Relevanz dieses Phänomens erschließt sich, versucht man es in den sozio-ökonomischen Prozeß einzuordnen. In der epochalen Perspektive gehört es in den großen Transformationsprozeß hinein, der die feudal verfaßten europäischen Agrargesellschaften ergriff und sie in den industriellen Kapitalismus hinüberführte. Näher betrachtet konnte Proto-Industrialisierung jedoch nur dort Platz greifen, wo sich das Feudalsystem entweder gelockert hatte oder sich bereits in der Auflösung befand." (Kriedte/Medick/Schlumbohm 1977: 26; vgl. Tilly/Tilly 1971, Mendels 1972) Erst später hatte es teil an der v o n W e r n e r S o m b a r t so g e n a n n t e n „ R u s t i k a l i s i e rung der Industrie, also ihre V e r l e g u n g aufs L a n d " (1928, 2/2: 803), f ü r die folg e n d e „rationale G r ü n d e " sprachen: „hier allein f a n d m a n die n o t w e n d i g e n Prod u k t i o n s f a k t o r e n in h i n r e i c h e n d e r M e n g e : R o h s t o f f e , H i l f s s t o f f e , T r i e b k r ä f t e , Arbeitskräfte." (a. a. O.: 904) Z w a r w i r d in d e n e n t s p r e c h e n d e n D i s k u s s i o n e n u m die s o g e n a n n t e P r o t o I n d u s t r i a l i s i e r u n g (vgl. E b e l i n g / M a g e r 1 9 9 7 a ) n a c h n o t w e n d i g e n u n d h i n r e i c h e n d e n B e d i n g u n g e n für die T r a n s f o r m a t i o n der L a n d w i r t s c h a f t g e f r a g t (Ebel i n g / M a g e r 1997b: 27f.). Als n o t w e n d i g e B e d i n g u n g e n w e r d e n dabei in der Regel , m a k r o ö k o n o m i s c h e D e t e r m i n a n t e n ' (vgl. a. a. O.: 2 2 - 2 7 ) w i e die E n t w i c k l u n g der f r ü h n e u z e i t l i c h e n V e r b r a u c h e r g e s e l l s c h a f t , der P r o d u k t i o n s m i t t e l in M a n u faktur u n d H a u s i n d u s t r i e etc. g e n a n n t ; aber a u c h die A n t w o r t e n , die für die Frag e n a c h h i n r e i c h e n d e n B e d i n g u n g e n g e g e b e n w e r d e n , b e w e g e n sich e n t w e d e r i m B e r e i c h der Ö k o n o m i e mit der Unterstellung eines h o m o o e c o n o m i c u s (a. a. O.: 28; vgl. Pfister 1997) oder i m B e r e i c h der Institutionen. D i e Soziokultur der ents p r e c h e n d e n R e g i o n e n k o m m t nicht in d e n Blick. 4
Dies gilt, obwohl Stefan Gorißen sogar von einer „demographie- und kulturgeschichtlichen Verengung der Protoindustriediskussion", die es zu überwinden gelte, meint sprechen zu müssen (1997: 382). Das .Kulturgeschichtliche' erreicht die Ebene dessen, was hier .Soziokultur' genannt wird und sich in das Handeln bestimmenden Habitusformationen und Deutungsmustern realisiert, nicht. Auch in Gorißens Beitrag zum „protoindustriellen Eisengewerbe des Bergischen Landes und der Grafschaft Mark", der mit „Korporation und Konkurrenz" betitelt ist, werden diese nicht als Handlungsformen, die als spezifische Antworten auf Handlungsprobleme, die im Handeln selbst ebenso konstiuiert werden — und also nur kulturell versteh- und erklärbar sind - , begriffen, sondern als Lösungen für funktionale Erfordernisse, die sich aus Produktionsbedingungen für einen unterstellten homo oeconomicus erge4
2.6 Kolonialisierung • 63 D i e Industrialisierung des Ruhrgebiets, d e n A u s b a u d e r K o h l e f ö r d e r u n g zunächst, beschreibt auch Hans S p e t h m a n n funktional als Folge des durch Raubbau stark dezimierten Holzbestandes, der den B e d a r f der E i s e n h ä m m e r im Sauerland u n d i m O b e r b e r g i s c h e n Land nicht m e h r befriedigen k o n n t e ( 1 9 3 3 : 1 2 8 132). D a b e i w a r die D u r c h s e t z u n g des Direktionsprinzips durch den Bergmeister A u g u s t Heinrich D e c k e r 1 7 3 7 ein erster Schritt, d e m K o h l e a b b a u F o r m zu geben. A u c h u m die T r a n s p o r t w e g e ( S c h i f f b a r m a c h u n g v o n R u h r u n d Lippe; G a h l e n e r K o h l e n w e g , der v o n der R u h r ü b e r Crange zur L i p p e führte) k ü m merte sich der Preußische Staat (a. a. O.: 1 3 7 - 1 5 6 ) . 5
W o h e r kamen aber, so muss angesichts der dargestellten historischen Konstellation des Ruhrgebiets gefragt werden, die A k t e u r e ? Friedrich Zunkel hält fest: „Nur wenige alte Unternehmergeschlechter lassen sich [ . . . ] in den i m späten Mittelalter b l ü h e n d e n H a n d e l s - u n d G e w e r b e s t ä d t e n des eigentlichen R u h r g e b i e t s feststellen." (1962: 14) D a s hat sich bis heute gehalten: I n n o v a t i o n e n i m Revier k o m m e n v o n außen: 6 „ W o h l nicht zufällig w a r e n die g r o ß e n G e s t a l t e r des Ruhrgebiets A r c h i t e k t e n
ben. In der Perspektive eines kultursoziologischen Verständnisses erklärungsbedürftige Phänomene werden - wie etwa die „Exportorientierung der Gewerbe" (a. a. O.: 402) - unter der Hand als .entscheidende Faktoren' zu einem explanans stilisiert. 5 Dabei ist nicht zu übersehen, dass in der späteren Entwicklung die Initiative von Einzelnen, insbesondere Friedrich Harkorts, des Sprosses einer seit mindestens dem 16. Jahrhundert südlich der Ruhr auf einem Freigut ansässigen Familie, der auch mit seinem unrastigen Erfindergeist ins Ruhrgebiet hineinwirkte, eine bedeutende Rolle spielte (vgl. Meister 1932: 42-46). 6 Toni Pierenkemper, der das westfälische Ruhrgebiet untersuchte, stellt fest, dass nur 27% der Schwerindustriellen im westfälischen Revier aus dem (gesamten) Revier selbst stammen (1979: 41). (Demgegenüber stammen 40% der Berliner Unternehmer und 59% der britischen Stahlindustriellen „direkt aus der Gegend". - ebd.) Berücksichtigt man nun noch, dass Pierenkemper nur eine Herkunftsgeneration betrachtet, so dürfte die Quote der Zugereisten noch höher liegen. - Walther Däbritz weist - 1937 mitten im nationalsozialistischen Deutschland - anlässlich seiner Schrift über Friedrich Grillo, dessen Familie aus dem Veltlin stammt, von w o sie wegen ihres reformierten Glaubens fliehen musste, darauf hin, „daß neben den Einheimischen, den aus Rheinland und Westfalen Stammenden, zu allen Zeiten auch solche gestanden haben, die von außen herkamen; und ganz besonders gilt das für die Anfange, als das westliche Ausland dem Revier an technischen und wirtschaftlichen Erfahrungen sowie an Kapitalkraft erheblich voraus war. Es gilt indessen auch von den späteren Zeiten, als die reichen Gewinnchancen und Betätigungsmöglichkeiten des hiesigen Bezirks bereits voll zutage lagen und nun von sich aus eine Anziehungskraft auf unternehmende, wagemutige, die Gunst dieser Situation erkennende Persönlichkeiten weithin ausübten." (1937: 68) Er schlägt vor „selbst für die Gruppe der Einheimischen zu untersuchen, inwieweit" in ihnen nicht „Begabung und Veranlagung anderer Stämme, Länder und Völker eingeflossen und nachmals wieder lebendig geworden sind." (ebd.) — „Die bürgerlichen Führungsschichten Bochums, die auch in den politischen Gremien den Ton angaben, waren ausnahmslos Zugezogene und primär an dem Wohlergehen der Werke interessiert." (Krumma-
64 • 2 Historische Konstellationen
und Planer, Ingenieure und Konstrukteure, die ,von außen kamen'" (Pankoke 2002: 3).7 — Schon früh war angelegt, worauf Friedrich Landwehrmann hinweist: „Die industrielle Entwicklung förderte vor allem die verständnisvoll, aber notfalls auch hart durchgreifende preußische Verwaltung." (1980: 19): „ N a c h d e m Arbeitsrhythmus in der Landwirtschaft richtete sich die Arbeit i m Bergbau. D i e ersten Berleute blieben in erster Linie Bauern. D i e zutage tretenden Steinkohlen w u r d e n als w i l l k o m m e n e E r g ä n z u n g der L a n d w i r t s c h a f t m i t g e n o m m e n . Viel Energie und Ideenreichtum verwendeten die Einheimischen in den Bergen rechts und links der R u h r auf ihre G e w i n n u n g nicht. Die Bergbautätigkeit blieb Nebentätigkeit, Kohlenkratzerei. I m 18. Jahrhundert versuchte deshalb die Obrigkeit einen fachgerechten A b b a u zu erreichen, i n d e m sie Bergknappen mit langer Tradition aus den Erzrevieren ansiedelte." (a. a. O.: 61) 8
Auch die Entwicklung nach der Aufhebung des Direktionsprinzips durch „das Preußische Allgemeine Bergrecht von 1865", was im Prinzip ,Unternehmerinitiative begünstigte' (Wisplinghoff et al. 1973: 55), beflügelte keine Innovationen:9 „Freie Unternehmerbetätigung hat es nur selten i m Ruhrbergbau gegeben. [ . . . ] 1893 wird schließlich das Rheinisch-Westfälische Steinkohlensyndikat gegründet. Dieses Syndikat, das bis nach d e m Zweiten Weltkrieg fortbestand, 1 0 ermöglichte auch die relativ h o h e n
cher/Schrooten/Wupper 1986: 40) - Als symptomatisch kann der Beginn der Kohleneisenstein-Förderung gelten, die, nachdem „selbst 1847 noch", über fünfzehn Jahre nach der Entdeckung des Erzes auch im Ruhrgebiet, der „zuständige Bergrevierbeamte Huyssen" „nicht den Besitzer von [der Bochumer Zeche] Friederica auf Grund günstiger Analysen zur Aufnahme eines Bergbaues auf Eisenstein zu bewegen" vermochte (Spethmann 1933: 259), erst durch den im Hoerder Bergbau- und Hütten-Verein versammelten .rheinischen Unternehmungsgeist' in Gang kam. So trafen, wie so oft in der Geschichte des Ruhrgebiets, rheinisches Kapital (vgl. Croon 1955: 303) und saarländisches Unternehmertum — die oft noch durch bergische Technik ergänzt wurden - zusammen, um die ökonomische Entwicklung voranzutreiben. (Bekannt sind auch die französischen, belgischen, englischen und irischen Bemühungen im Ruhrgebiet - sei es als Kapitalgeber und Aktionäre, sei es als leitende Techniker - vgl. Spethmann 1933: 273-298.) Die technischen Probleme, die die Pioniere, „Fremdlinge, wie man sie nannte" (a. a. O.: 276), lösen mussten - etwa beim Erlangen größerer Tiefen für die Kohleförderung - , waren groß. Bezeichnend aber ist die Reaktion der Einheimischen: „An Mißerfolgen fehlte es nicht, zu denen sich Spott und Hohn seitens der Heimischen gesellten, die sich nicht genug über die Wagemutigen lustig machen konnten." (ebd.) Wenn Pankoke dann allerdings fortfährt: „und, fasziniert von der sozialen und kulturellen Dynamik dieses Raumes[J sich hier konstruktiv einbrachten" (ebd.), so fragt sich doch, ob nicht die (Selbst-) Mythisierung des Reviers sich hier Bahn bricht. 7
Vgl. auch folgende Bemerkung: „Selbst technische Fortschritte wie die Einführung von eisernen Schienen statt der hölzernen oder die Verbesserung der Kokskohle für die Verhüttung mußten die staatlichen Bergämter den Eigentümern aufdrängen." (a. a. O.: 67) 8
Zu dem Versuch des Staates, sich dann 1907 durch Wiederaufhebung der Bergbaufreiheit „selber ein Bergbaumonompol" zu sichern vgl. Spethmann 1933: 481 ff. 9
10 Unter der nationalsozialistischen Kohlepolitik wurde die Monopolstellung durch Vereinbarungen mit dem Aachener und dem Saarrevier nocht gesteigert (vgl. Spethmann 1938: 803).
2.6 Kolonialisierung • 65 Löhne für die Bergleute und erzwang damit das hohe Lohnniveau in der Region." (Landwehrmann 1980: 66) „Es war für andere Branchen sehr schwierig, in der Region Fuß zu fassen. Allein die hohen Lohn- und Gehaltszahlungen sowie die umfangreichen Sozialleistungen bildeten eine kaum überwindbare Schranke. Bei einem solchen Arbeitsmarkt konnte ein im Wettbewerb stehendes Unternehmen nicht mithalten. Diese relativ gute materielle Stellung der Bergarbeiter war aber nur möglich unter dem Schutz des Staates bzw. des Syndikates." (a. a. O.: 67) „Die Interessensolidarität im Ruhrgebiet beschränkt sich nicht auf den Steinkohlebergbau. Vor der Entflechtung nach dem Zweiten Weltkrieg gehörten zu den großen Kohleund Stahlunternehmen auch noch Unternehmen anderer Branchen, z. B. des Maschinenbaus. Auch nach der Entflechtung bleiben enge Beziehungen zwischen den Eigentümern. Der technische Verbund blieb ebenfalls unangetastet." (a. a. O.: 73)
Diesen Beschreibungen Friedrich Landwehrmanns, die auf seinen umfangreichen empirischen Studien (vgl. Landwehrmann 1970; Landwehrmann et al. 1974/75) beruhen, ist kaum etwas hinzuzufügen 11 — außer der Frage, worin diese Entwicklung, die ja keineswegs eine zwangsläufige war,12 sondern eben — wie alle gesellschaftliche Entwicklung - auf Entscheidungen beruht, gründet: Was sind die soziokulturellen Voraussetzungen, die die entsprechenden Entscheidungen generierten und tolerierten?
6.2 Kulturelle Aspekte der Zuwanderung Die „Rolle, die die Masseneinwanderung für die Ausprägung des Reviers gespielt hat," sei „nur zu verstehen, wenn man den Strom der Zuwanderer zeitlich untergliedert", behauptet Heinz Günter Steinberg (1967: 258) wohl zu Recht. Gleichwohl ist in unserem Zusammenhang eine solche differenzierte Darstellung nicht erforderlich. Wir können hier dem falsifikatorischen Prinzip folgend, versuchen, Einflüsse von Zuwanderern ausfindig zu machen, die der bisher rekonstruierten Struktur der Dominanz der Orientierung an Gemeinschaft über derjenigen an Gesellschaft widersprechen. Die stärksten Einflüsse, die in diese Richtung zielten, könnten — wo nicht von den zahlenmäßig wenig bedeutsamen, wahrscheinlich reformierten holländischen Zuwanderern — von den protestantischen Masuren ausgegangen sein. Mit der von Krystyna Murzynowska konstatierten Familienorientierung und Sesshaftigkeit gilt dies für sie jedoch nicht:
11
Vgl. die Auseinandersetzung mit den Analysen Grabhers (Kapitel 4, Abschn. 2.2; s. auch Loer 2006d). 12 Dies gilt auch, wenn man, wie Dieter Läpple es zu Recht tut, auf die ökonomische Funktion der Syndikate und Kartelle hinweist, die eine Antwort auf das Problem der „Widersprüchlichkeit der Massenproduktion [...], Angebot und Nachfrage auf den einzelnen Märkten zu regulieren und die komplexen Beziehungen der massenhaften Produktion von Gütern möglichst zentral zu beherrschen." (1995: 46; vgl. Wengenroth 1986: 136-146)
66 • 2 Historische Konstellationen „Man sieht, daß die Zuwanderer aus Ostpreußen den höchsten Prozentsatz an Frauen aufzuweisen hatten. Wie schon erwähnt, kamen aus Ostpreußen in der Hauptsache Masuren. Sie waren die älteste im Ruhrgebiet ansässig gewordene Gruppe und in ihren Reihen zeigten sich auch am frühesten Tendenzen zur Seßhaftigkeit. Daher gab es wohl in dieser Gruppe die meisten Frauen; in den Jahren 1900-1905 überstieg ihre Zahl sogar die der Männer." (Murzynowska 1979: 35) - „Die Masuren kamen, wie schon erwähnt, meist mit ihrer vollständigen Familie ins Ruhrgebiet und waren rascher als andere Osteinwandere'r geneigt, sich dort auf Dauer niederzulassen." (a. a. O.: 54)
Wie sieht das nun bei den katholischen Polen aus? Die vielfach geschilderten Spannungen zwischen ihnen und Deutschen drückten sich u. a. auch in der Abgrenzung zwischen Einheimischen und Koloniebewohnern aus (vgl. Croon 1955: 307f., Schäfer 1992: 209-214). Gleichwohl blieb in den Dörfern und in den Kolonien die Gemeinschaftsorientierung dominant und das Streben nach Anerkennung der Zugezogenen richtete sich eher auf die Gemeinschaft aller als auf gesellschaftliche Rollen. Dies sei hier an einem unscheinbaren Detail, das es — eher als programmatische Äußerungen der Vereine und politische Statements der ernannten Vertreter der polnischen Arbeiterschaft - erlaubt, die alltägliche, den Alltag bestimmende Orientierung zu rekonstruieren, verdeutlicht. [Am 4. Oktober 1890 erschien in der Dortmunder Tageszeitung „Tremonia"folgende, breites Ornamentband hervorgehobene, 4 cm x 7,8 cm große Anzeige]13
durch 3 mm
Eine Anzeige in einer Tageszeitung richtet sich an die Leser dieser Zeitung, d. h. an einen vage bestimmten Kreis von Personen, der je nach Art der Zeitung unterschiedlich ist. Eine Regional- bzw. Stadtzeitung, um die es sich hier handelt, hat einen Leserkreis, der auf die Gemeinde(n) bezogen ist, an den also Anzeigen, die diese Gemeinde(n) betreffen, sich richten. Dies können gewerbliche Anzeigen sein, die Leser ansprechen (Arbeitssuchende, Kunden, Mieter etc.), mit denen der Anzeigende in eine spezifische Sozialbeziehung eintreten möchte. Es können private Anzeigen sein, mit denen der Anzeigende eine bestehende diffuse Sozialbeziehung aktiviert (z. B. bei Todesanzeigen) oder festigt (z. B. bei Heirats- oder Geburtsanzeigen), indem er vor der Gemeinschaft der Leser ein persönlich relevantes Ereignis bekannt gibt und damit sich als Mitglied der Gemeinschaft bekennt. Vivat Fran%! Hier wird ein Hochruf auf eine mit Vornamen angesprochene Person ausgesprochen, was impliziert, dass der Genannte allen Lesern, zumindest allen angesprochenen Lesern unter diesem Vornamen bekannt ist, was etwa bei einem Herrscher der Fall wäre, den allerdings ohne Titelnennung mit Vornamen anzusprechen aufgrund der sich darin ausdrückenden Vertraulichkeit unangemessen wäre.
Brandt 1987: 72. Hier ist die typographische Gestaltung nur insofern wiedergegeben als die Zeilenumbrüche erhalten bleiben; die angegebene Größe entspricht der bei Brandt wiedergegebenen Anzeige, von der nicht angegeben ist, ob es sich um die Originalgröße handelt. 13
2.6 Kolonialisierung • 67
Es muss sich also um eine als Privatperson bekannte Figur handeln, was bei dem Allerweltsnahmen ,Franz' ausgeschlossen ist. Folglich muss eine Spezifizierung, die dann auch erst die Spezifizierung des angesprochenen Leserkreises erlaubte, noch folgen. Kontrastieren wir den Beginn mit einer neutralen Überschrift etwa: „Für Franz Husenbrock. Vivat Franz!" — so zeigt sich, dass die personale Beziehung in den Vordergrund gerückt und damit betont wird und also dem Verfasser es höchst wichtig ist, diese Beziehung zu bekunden. Unserm hochiv. Herrn Der Verfasser gibt sich durch die Verwendung der ersten Person Plural als Mitglied einer Gemeinschaft zu erkennen, die entweder die Gemeinschaft der Verfasser - als deren Sprecher er auftritt — oder die Gemeinschaft der Adressaten sein kann, zu der der Sprecher sich (und ggf. die Gruppe, für die er spricht) zurechnet. Es handelt sich bei „Franz" um eine Person mit geistlichem Amt; dass sie zugleich mit höchster Vertrautheit und Ehrerbietung angesprochen wird, lässt auf eine Vermengung von spezifischer (Amtsinhaber) und diffuser Sozialbeziehung (Freund, Verwandter etc.) schließen, was besonders auffällig ist, da doch die Bezeichnung ,hochw. Herr' Ergebenheit zum Ausdruck bringt. Diese kann dem Verfasser unterlaufen und also Ausdruck seines Deutungsmusters oder aber vom Verfasser als Deutungsmuster dem Leserkreis unterstellt worden sein. Auch in letzterem Falle gibt sich der Verfasser aber als jemand zu erkennen, der das Deutungsmuster teilt: das Deutungsmuster der Nichtdifferenz von diffusen und spezifischen Sozialbeziehungen. Kaplan Dr. Fran% Uss Als Kaplan gehört der Angesprochene zu einer Gemeinde, die durch die öffentliche Gratulation einerseits sich zu ihm bekennt und somit die Beziehung durch dieses Bekenntnis festigt, die andererseits durch das Bekenntnis in einer Tageszeitung, also vor einer größeren Öffentlichkeit sich als Gemeinde darstellt und als diese Anerkennung in der umfassenden Gemeinschaft der Leser beansprucht. Der Anlass der Gratulation ist noch unbekannt, allerdings kann u. U. das Erscheinungsdatum, eine Information, die ja dem Leser der Tageszeitung bekannt war, von Relevanz sein, ist doch der 4. Oktober der Feiertag des Heiligen Franz von Assisi und also Namenstag für Katholiken mit Namen ,Franz'. Da es sich bei dem Gratulaten um einen katholischen Geistlichen handelt, liegt eine Gratulation zu seinem Namenstag nahe. Dies relativiert die vertrauliche Anrede etwas, ist doch mit dem Vornamen an diesem Tag quasi eine Kategorie aufgerufen: die aller Katholiken mit dem Vornamen ,Franz', die an diesem Tag ihren Namenspatron feiern. Allerdings setzt dies einerseits eine Kultur voraus, in der Namenstagsfeiern alltäglich sind - was für 1890 in einem nicht rein protestantischen Gebiet sicher unterstellt werden kann —, und andererseits wird die Vertraulichkeitslesart durch die Lesart des Namens als Kategorie gleichwohl nicht aufgehoben. — Dass das „Herrn" aus der vorhergehenden Zeile nun als durch eine Zeilensprung abgetrennter Bestandteil der ,Anrede' des Gratulaten deutlich wird,
68 • 2 Historische Konstellationen
relativiert die obige Deutung von „hochw. Herrn", ohne sie jedoch aufzuheben, da ja der Zeilenumbruch anders hätte erfolgen können und so „Unserem hochw. Herrn" als eigene Einheit hervorgehoben wird. — Da es sich bei „Franz Liss" um einen Eigennamen handelt, ziehen wir das entsprechende Kontextwissen heran: Franz Liss war „1890-1894 Seelsorger der Polen im rheinisch-westfälischen Industriegebiet mit Sitz im Redemptoristenkloster in Bochum" (Brandt: 1987: 72).14 %u seinem heutigen Namensfeste die herzlichsten Glück= und Segenswünsche!
Da der Beglückwünschte nicht angeredet wird - zu diesem Zweck könnte man ihm ja auch sinnvoller eine Glückwunschkarte zukommen lassen (zumindest wenn man, wie hier unterstellt werden kann, seine Adresse kennte) - , wird deutlich, dass es — wie oben bereits rekonstruiert — um die Bezeugung der Gratulation vor einer Gemeinschaft geht. Gewidmet vom Polen—Verein „Einigkeit",
Dortmund.
Jemandem Glückwünsche zu ,widmen' statt sie ihm auszusprechen, bringt wiederum treffend den Charakter der Bezeugung zum Ausdruck. Dass nun sowohl der Gratulant: der Polen-Verein, als auch der Beglückwünschte: der im westpreußischen Briesen (heute Wabrzezno) geborenen Liss, des Polnischen mächtig sind, wirft die Frage auf, warum die Anzeige nicht in Polnisch verfasst wurde. Die Antwort liegt auf der Hand: die Gemeinschaft, an die sie gerichtet war, war die überwiegend nicht polnischsprachige Gemeinschaft der Bewohner Dortmunds. Es ging also hier darum, als Gemeinschaft von Polen die Zugehörigkeit zur umfassenden Gemeinschaft der zur Gemeinde Dortmund Gehörenden auszudrücken und — durchaus in der Besonderheit des Polentums, also nicht durch Anbiederung — deren Anerkennung zu erfahren. (Dies letzere gilt i. ü. auch von einer Gratulationsanzeige zum Namenstag für den Vorgänger von Liss, den Kaplan Joseph Szotowski, die allerdings die Ambiguität von Diffusität und Spezifität vermeidet.) 15 — So verwundert es nicht, wenn Helmuth Croon - auf der Basis von Standesamtregistern - feststellt: „In der dritten Generation begann auch die Verschmelzung mit der einheimischen Bevölkerung." (1955: 310)
Für nähere Angaben zu seiner Person vgl. ebd. Franziskus Liss war auch Begründer des ersten im Ruhrgebiet erscheinenden polnischsprachigen Blattes ,Wiarus Polski' (vgl. Murzynowska 1979: 94-109) 14
Sie findet sich ebenfalls bei Brandt abgeduckt (a. a. O.: 66); ihr Text lautet: Unserm hochverehrten Kaplan, Herrn/Joseph S^otowski/ dem treuen Hirten seiner Heerde, %um heutigen Namenstage die/herzlichsten Glückwünsche!! Gewidmet von dem/Polen=Verein „Einigkeit', Dortmund. 15
2.6 Kolonialisierung • 69
Nun gab es zwar Zuwanderet aus vielen Gebieten, aber offensichtlich hat die Kultur der Zuwanderer, die sich aus den ostelbischen Landarbeitern rekrutierten, eine gewisse Dominanz gewonnen. Wenn man, anders als in der Migrationsforschung üblich, nicht ausschließlich die Integrationsproblematik untersuchte, sondern die Forderung und das Vorgehen von Thomas und Znaniecki (1918-21; vgl. Zaretsky 1996) ernstnehmen würde, so müsste man nach einem Passungsverhältnis zwischen Herkunfts- und Zielkultur fragen. 16 Dies sei hier an einigen kulturellen Details zumindest schlaglichtartig beleuchtet: Die Insthäuser, in denen die zuvor häufig als Landarbeiter tätigen Migranten lebten, hatten die gleiche Struktur wie die Siedlungen, die ihnen an der Ruhr gebaut wurden — bis dahin, dass sie sich mit Hilfe eines eigenen Gartens und der Kuh des Bergmanns, der Ziege, selbst versorgten, wie sie es als Inster getan hatten; dass zunächst vor allem junge, unverheiratete Männer kamen, die quasi ein Peergroup-Leben führten, weist in die gleiche Richtung; ebenso passt die patriarchale Struktur der Verhältnisse in der Montanindustrie zu der quasi-feudalen Abhängigkeit der Inster; die auf großer körperlicher Anstrengung aber geringer Ausbildung beruhende Tätigkeit im Bergbau ermöglichte zudem den unverfeinerten Einsatz der zur Verfugung stehenden Körperkraft. Des weiteren wäre mit Thomas und Znaniecki zu fragen, warum die Auswanderer fortgingen. Wie Krystyna Murzynowska zu Recht schon im Titel ihrer Studie formuliert, handelt es sich um „Erwerbsauswanderer", die sicher nicht von einer innovationsorientierten „Wanderlust" getrieben waren: „If wanderlust and what might be called sitzlust are not useful as psychological universal, they do suggest a criterion for a significant distinction. Some persons migrate as a means of achieving the new. Let us term such migration innovating. Others migrate in response to a change in conditions in order to retain what they have had; they move geographically in order to remain where they are in all other respects. Let us term such migration conservative." (Peterson 1958: 258; Kursivierung i. Orig.)
Damit ist charakterisiert, dass das Streben nach Anerkennung nicht auf der innovativen Durchsetzung eigener Werte basierte, sondern sich insofern an der Zielkultur orientierte, als sie, wie in der Analyse der Zeitungsanzeige gesehen, nach dem überkommenen Muster der Herkunftskultur gedeutet wurde (vgl. Skizze S. 58). Die Erwerbsmigranten wollten in ihrer Kultur bleiben, was ihnen umso leichter fiel, als sie in eine kongruente Kultur hineinwanderten.
6.3 Aspekte der politischen Kultur „Das katholische Milieu des Ruhrgebiets entstand in einer Region, dessen [sie] konfessionelle Struktur von der Normalität in Deutschland abwich. Anders als in den Flächen-
Eberhard Nölke spricht in Bezug auf Hessen und Vorpommern von einer „territorialen Strukturanalogie" (2001: 321). 16
70 • 2 Historische Konstellationen Staaten des ,Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation' war hier von einer durchgreifenden Konfessionalisierung nur begrenzt die Rede gewesen. [...] Unbeschadet der lokalen Dominanz einer Konfession lebten zumeist andersgläubige Minderheiten entweder am Ort oder doch in unmittelbarer Nachbarschaft. So hatte sich in der Region im 18. Jahrhundert ein konfessioneller Status Quo herausgebildet, der unter Umständen die gemeinsame Nutzung von Kirchhof, Turm und Glocken, ja der Kirche selbst durch beide Konfessionen vorsehen konnte. Die Aufklärung tat das ihre dazu, und so galt es zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Empfehlung, wenn ein Kleriker als ,tolerant' bezeichnet wurde. Ebenso redeten sich die Amtsträger in Bochum als ,Herr Bruder' an. Mischehen zwischen den Konfessionen waren keine Seltenheit." (Damberg 2002: 16) Für die Phase der Industrialisierung mit ihren Zuwanderungen ist festzustellen, dass der „regionale Katholizismus in den Jahrzehnten nach der Jahrhundertmitte [sc. des 19. Jahrhunderts] eine religiöse Erneuerung erlebte und ein reichhaltiges Pfarr- und Vereinsleben entwickelte, das die Neueinwanderer religiös, sozial und kulturell zu integrieren vermochte. Die katholische Kirche bot den zumeist aus ländlichen Gegenden Zugewanderten so etwas wie eine ,neue alte Heimat' und erleichterte es ihnen dadurch, sich an die neuen Gegebenheiten eines industriellen Daseins anzupassen." (Rohe/Jäger/Dorow 1990: 446) Es ist hier die Frage, ob nicht auch umgekehrt dadurch „die neuen Gegebenheiten eines industriellen Daseins" eine spezifische Form annahmen. „Dadurch wurden nicht nur Mentalitäten geprägt, sondern auch [...] an Lebenswelten und Vergemeinschaftungen gebundene ideelle Interessen grundgelegt." (a. a. O.: 447) Der „Ruhrgebietskatholizismus [...] verfügte über einen volkstümlichen Klerus zumeist bäuerlicher Herkunft, der die Sprache der Einwanderer sprach und schon deshalb ihr Vertrauen fand und sich überdies vielfach sozial und politisch engagierte. Verbunden mit einem Vereins- und Organisationswesen, das immer wieder den Respekt und den Neid der sozialdemokratischen Konkurrenz hervorrief, verbunden aber auch mit einer in Person, Wort und Tat übermittelten ,Botschaft', die gerade wegen ihrer religiösen Einbettung und ihrer Orientierung an herkömmlichen Ordnungsvorstellungen den Mentalitäten und Aspirationen der Arbeiterbevölkerung an der Ruhr zum damaligen Zeitpunkt vermutlich eher entsprach als eine rein säkularisierte Botschaft, machten den politischen Katholizismus im Kampf um die Stimmen der Arbeiterschaft zu einem wahrhaft formidablen Gegner, dem der Sozialismus lange Zeit nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen hatten." (Rohe/Jäger/Dorow 1990: 447) Dass es ein ,sozialer Katholizismus' war (a. a. O.: 448), der an die Gemeischaftsorientierung mit der Solidariätsverpflichtung anknüpfen konnte, war bedeutsam. „Die darin zum Ausdruck kommende Anpassungs- und Integrationsleistung des Ruhrgebietskatholizismus gehört zu den bemerkenswertesten Erscheinungen der deutschen Sozialgeschichte im 19. Jahrhundert". (Rohe/Jäger/Dorow 1990: 448) Dass das Ruhrgebiet sich „ v o m sozialdemokratischen Armenhaus zur Wagenburg der S P D " entwickelte (Rohe 1987), ist v o r diesem Hintergrund als ein Wechsel der Inhalte bei gleichbleibender Struktur zu verstehen. Sorgte zunächst der Pfarrer und der religiös-solidarische Vertreter wie der patriarchalische Unternehmer für den Arbeiter, so nun der sozialdemokratische Gewerkschaftler und
2.6 Kolonialisierung • 71
Parteigenosse. Bei anderer ideologisch-inhaltlicher Ausrichtung kann man mit Recht „in der Gestalt des basisnahen so2ialdemokratischen Multifunktionärs, der in seiner Person die Ebenen des Betriebs, der Gewerkschaften und der K o m m u ne verknüpft und sich nach dem Motte: ,Ich mach dat schon für Dich' hautnah, konkret und umfassend um die kleinen Dinge des Alltags kümmert, das eigentliche Geheimnis der Ruhrgebietssozialdemokratie" sehen (a. a. O.: 530). 17 Dieser Erklärung entspricht das in der neueren Literatur rekonstruierte PolitikMuster' des Ruhrgebiets: „Politisches Handeln wird [...] im heute vorherrschenden Politik-Modell des Ruhrgebiets als die Durchsetzung sehr konkreter sozialer Interessen verstanden. Es geht um Fragen sozialer Absicherung, des Wohnens, infrastruktureller Versorgung usw., der Verteilung von materiellen Leistungen, von Wohlstand usw., Politik im Revier hat einen sozialen Grundzug. Diesefm] Politik-Verständnis [...] liegt eine Auseinandersetzung mit Fragen der .großen' Politik — mit Ausnahme der Sozialpolitik — eher fern, das gleiche gilt für die Entwicklung langfristiger politischer Perspektiven." (Faulenbach 1987: 414) Die Frage, auf welchen habituellen Voraussetzungen eine solche „politische Kultur", 18 mit welchem Begriff ja durchaus gefasst werden soll, was Bourdieu
17 Vgl. Michael Zimmermann, der unter dem Zitat-Titel „Geh zu Hermann, der macht dat schon" schreibt, dass für die Ruhrgebiets-SPD eine „Erfolgsursache [...] in der Person des Ortsvereinsvorsitzenden der SPD [liegt], der zugleich freigestellter Betriebsrat, Knappschaftsältester, Ratsherr sowie Mitglied im Turn- und Kleintierzüchterverein sei. Sein Motto laute: ,Zu jeder Zeit, bei jeder Gelegenheit, aus jedem Anlaß bereit, mit den Kollegen zu sprechen.'" (1983: 277) Dass diese Entlastung durch Kumpelvertreter, in der die Dominanz der Vergemeinschaftung über die Vergesellschaftung zum Ausdruck kommt, politisch nicht demokratieförderlich ist, arbeiten Jürgen Aring et al. heraus: „Überdies scheint es, als habe das in Großbetriebes- und Parteihierarchien bewährte Prinzip der ,basisnahen Stellvertretung' mit seiner Verantwortungsverlagerung und Entpflichtung der Betroffenen die Chance zur Bürgerbeteiligung nochmals verringert" (1989: 359£). Auch die strukturelle Kontinuität scheint bei Zimmermann auf, ohne dass er sie als solche analysierte und benennte: „In der Tat nimmt ein angesehener Knappschaftsältester Funktionen wahr, die in dörflichen Strukturen vom Pfarrer und in den Neubauvierteln von Sozialarbeitern gewährleistet werden" (1987: 48). U. E. ist diese Deutung des Erfolgs der ,großen Organisationen' im Revier erklärungskräftiger als die Behauptung „einer festen Solidität des Systemvertrauens" (Pankoke 2002: 4), diese ist ihrerseits explanandum, nicht explanans. Theodor Adorno weist denn auch implizit auf ein Problem des „Systemvertrauens" hin, wenn er im — erst später publizierten - Nachwort zur Mannesmannstudie schreibt: „Selbst die Institution der Betriebsräte ist in Betrieben oberhalb einer gewissen Größenordnung, ähnlich wie längst schon die Gewerkschaften, dem Erfahrungsumkreis weithin entrückt, und man klammert sich mit Vertrauen und Mißtrauen an jene, die buchstäblich den Namen .Vertrauensleute' tragen." (1955: 680) Ohne diese, die Hermanns', wären die .großen Organisationen' wohl ohne Wirkungsmöglichkeiten.
Lutz Niethammer meinte - allerdings eher begriffsstrategisch, denn substanziell argumentierend - , dass dieser Begriff „den subjektiven Faktor in der Politik zugleich betont und entindividualisiert" (1984: 363). 18
72 • 2 Historische Konstellationen
mit dem Begriff des Habitus als erstes visierte,19 beruht, wird in der gängigen Literatur dazu nicht thematisiert. In der Regel werden die Verhältnisse beschrieben und mit institutionellen Formen in Verbindung gesetzt; warum man aber zu „Hermann" geht, statt seine Sache gemäß den gesellschaftlichen Regeln und der Rolle, die man darin einzunehmen hat, selbst in die Hand zu nehmen, wird nicht gefragt. Offensichtlich liegt hier eine — ruhrgebietsspezifische — Habitusformation vor, die die beschriebenen Entscheidungen generiert. Diese folgt in Orientierung an Vergemeinschaftung im Zweifel ohne Willen und Bewusstsein der Maxime: ,Wenn zu wählen ist zwischen der Befolgung von und dem Beharren auf gesellschaftlichen Regeln einerseits und dem Verlass auf bekannte, vertraute Personen andererseits, so wähle letzteres'. Die damit zusammenhängenden Mängel in der Struktur der politischen Führung charakterisiert und deutet Friedrich Landwehrmann wie folgt: „Früher wurde die Region, etwa als preußische Provinz durch einzelne führende Unternehmer auch politisch vertreten, und zwar nicht nur gegenüber den Interessen der östlichen Provinzen. O b es diese Art von Wirtschaftsführern heute noch geben kann, mag offenbleiben. Es fehlte eine ausgewogene politische Führung, die in anderen Regionen aus Adel, Bürgertum, Handwerkern und Arbeiterführern hervorgegangen ist. Diese Führungsschichten gingen dort auch als Führungsschichten in die demokratischen Strukturen ein, nahmen maßgeblich Einfluß. Im Ruhrgebiet ist der Adel nur sporadisch — sind Bürgertum und Handwerker relativ schwach vorhanden. [...] Die Führungskräfte aus den großen Unternehmen, der neue, der nichtselbständige Mittelstand, hätten dieses Vakuum mit ausfüllen können. Sie gestalteten aber nicht in ähnlicher Weise das Gemeinwesen mit wie der selbständige Mittelstand. Der Arbeitnehmer-Mittelstand ist durch die großen Wirtschaftsunternehmen im Ruhrgebiet stark vertreten, der selbständige Mittelstand dagegen relativ schwach, so daß die mittelständische Führungsgruppe wegen des weitgehenden Ausfalls des mittleren Managements und der leitenden Angestellten verhältnismäßig klein ist." (1980: 51 f.)
Allerdings liegt hier auf der Hand, dass die Momente, die als explanans angeboten werden, ihrerseits explananda sind, deren explanans seinerseits mit der rekonstruierten ruhrgebietsspezifischen Soziokultur gegeben ist: Desinteresse an der gesellschaftlich-politischen Ebene des Gemeinwesens wegen traditionalistischer Orientierung an Vergemeinschaftung und überkommenen Mustern.
6.4
Anurbanität
„I had only to look at any midwestern map to see the same reassuringly sharp boundaries between city and country I had experienced so strongly as a child. And yet the moment I
19
Es geht Bourdieu in dem in der deutschen Fassung (1974) mit „Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis" betitelten Nachwort zu einer Schrift Erwin Panofskys bei dem Begriff des Habitus darum, „de découvrir la collectivité au cœur même de l'individualité sous la forme de culture" (1967: 142).
2.6 Kolonialisierurig • 73
tried to trace those boundaries backward into history, they began to dissolve. City and country might be separate places, but they were hardly isolated. Chicago had become ,urban', spawning belching smokestacks and crowded streets, at the same time that the lands around it became .rural', yielding not grass and red-winged blackbirds but wheat, corn, and hogs." (Cronon 1992: 7) Wenn man diese Beobachtung William Cronons über die Metropole Chicago auf das Ruhrgebiet übertragen wollte, so müsste man feststellen, dass jeweils gerade das Gegenteil zutrifft: keine scharfen Grenzen auf den Landkarten zwischen Stadt und Land, folglich keine Auflösung derselben, da man nicht versuchen kann, sie in die Vergangenheit zurückzuverfolgen; die Siedlungen des Ruhrgebiets sind vom Land nicht einmal räumlich geschieden, geschweige denn von ihm isoliert;20 die — um ein möglichst nicht vorgeprägtes Wort zu verwenden Gegend hat sich in anurbane Kolonien verwandelt: keine Metropolen 21 der Natur, sondern unmittelbar aus der noch prärural bebauten Natur hervorgetretene Kolonien — ohne Zentrum. 22 „le groupement traditionnel propre à la vie paysanne, à savoir le village, se transforme; des unités plus vastes l'absorbent ou le recouvrent [...]. L« tissue urbain prolifère, s'étend, corrode les résidus de vie agraire. Ces mots: ,1e tissu urbain', ne désignent pas de façon étroite le domaine bâti dans les villes, mais l'ensemble des manifestations de la prédominance de la ville sur la campagne. (Lefebvre 1970: 10, vgl. Lefèbvre 1990: 9f.) Henri Lefèbvre meint mit dem hier angedeuteten Prozess der „révolution urbaine" eine nachindustrielle Entwicklung zu fassen. Im Ruhrgebiet, dem „Revier der großen Dörfer" (Vonde 1989) kann eine solche Revolution nicht stattfinden, weil es keine geeigneten Städte gibt.23 Die beginnende Industrialisierung des Ruhrgebiets hat von vornherein „le groupement traditionnel propre à la vie 1931 beschreibt Erik Reger in seinem Roman „Union der festen Hand" dieses Verhältnis: „Achtzig Kilometer fuhr das Auto. Die Stadt zog sich auseinander, aber sie nahm kein Ende. Schon befanden Sie sich mitten auf dem Land, aber dieses Land war kein Gegensatz zur Stadt" (1946: 147). 20
21
fierpoiioha
= Mutterstadt; KoXawia von
KOXÜJV
= Hügel
Lutz Niethammer zeigt für die Gemeinde Borbeck, 1915 nach Essen eingemeindet, exemplarisch auf, wie es „zwar zu einer Vermehrung der Bevölkerung und Verdichtung ihrer meist selbsterbauten Katen" kam („Der Bau von Bergmannskaten zog sich an allen Feldwegen ungeregelt endang, besonders natürlich in der Nähe der Betriebe, von denen einige auch Zechenkolonien errichteten".), „Urbanisierung und Bürokratisierung aber fanden nicht statt." (1976: 436f.) Es entstanden „in wenigen Jahren riesige Industriesiedlungen, die keinen Ortskern aufweisen" (Wisplinghoff et al. 1973: 141). „Insgesamt fehlte es an Tradition und Gewicht urbaner bürgerlicher Zwischenschichten und an einer politischen Einflußnahme der Arbeiter als der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung." (Niethammer 1976: 442) 22
Dass Vonde „die großen Industriedörfer" dann als eine „Urbanisierungsvariante" bezeichnet (a. a. O.: 203), zeigt, dass der Begriff der Urbanisierung häufig vom Vorliegen äußerlicher - meist quantitativer - Merkmale abgeleitet, nicht aber in seiner inneren Struktur bestimmt wird. 23
74 • 2 Historische Konstellationen
paysanne, ä savoir le village" betroffen. So waren es zunächst die ansässigen Bauern und ihre Familien, die die Arbeitskräfte in dem beginnenden Bergbau stellten - was u. a. dazu führte, dass die „Fluktuation in den Erntemonaten [...] sehr groß war" (Pfläging 1979: 141). Aber es war kein Übergreifen einer urbanen Struktur, zu der wesentlich die Vergesellschaftung der Beziehungen, ablesbar am Auftauchen der Kategorie des neutralen Fremden, 24 gehört, auf die Dörfer. 25 Kulturelle Dominanz erlangte vielmehr die traditionale Vergemeinschaftung der Dörfer, die aber nicht unverwandelt aus dem Prozess der Kolonialisierung: der Koloniebildung, hervorging. So schreibt der Geograph Dieter Weis in seiner Schrift über die „Großstadt Essen" zu Recht, „daß wir es hier nicht mit einer Stadt im üblichen Sinne, also einer von innen nach außen harmonisch gewachsenen Siedlungseinheit, sondern mit dem aus wirtschaftlichen Gründen erfolgten Zusammenschluß einzelner Siedlungsindividuen zu tun haben." (1951: 7) Dieser Zusammenschluss „aus wirtschaftlichen Gründen" war nicht selbst identitätsbildend: Ökonomie kann Funktionen erfüllen, keine Identität stiften. 26 Welche Identität aber kam den „Siedlungsindividuen" zu? Wie veränderte sie sich durch den Zusammenschluss? Diese Frage lässt sich anhand des in der Untersuchung einer im nördlichen Ruhrgebiet gelegenen Gemeinde von Helmuth Croon und Kurt Utermann anIn der „Gebrauchsanweisung für das Ruhrgebiet" heißt es über immer noch aktuelle Umgangsformen: „Wie dem auch sei, dieser Typus steht in einer beliebigen Stadt am Tresen, kommt schnell ins Gespräch und duzt sich grundsätzlich. [...] Siezen tun nur Kinder (auch nur meistens) und suspekte Anzugträger der Generation Golf. Und Fremde natürlich. Wer aber dreimal an der gleichen Bude kauft, wird geduzt." (Hillenbach 2005: 59) Fremdsein ist also auch heute im Ruhrgebiet eine Kategorie für einen höchst transitorischen Zustand. 24
Urbanisierung — sei es das Übergreifen einer Urbanen Struktur der Städte auf ihr Umland, sei es eine Ausbildung einer Urbanen Struktur in den Städten selbst - wird damit als auf der Ebene der Soziokultur verankert bestimmt. Dies ist u. E. die entscheidende Ebene von Urbanität. Siedlungseinheiten, die nach rechtlichen, ökonomischen oder generell funktionalen Kriterien Städte sind, müssen damit noch nicht urban sein; ebenso geht „Deagrarisierung" u. ä. (vgl. Heller 1973) nicht notwendig mit Urbanisierung einher. Die Keimform der Urbanität ist die bürgerliche Öffentlichkeit (vgl. Habermas 1983), weshalb die Massenmedialisierung der öffentlichen Kommunikation (vgl. Oevermann 1996a) durchaus als De-Urbanisierung begriffen werden kann. — Eine „statistisch-demographische Definition": „Prozeß der Bevölkerungskonzentration, bei dem der Anteil der städtischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung eines Territoriums zunimmt" (Kaufmann 1972: 275) kann allenfalls ein deutungsbedürftiges Phänomen erfassen und muss letztlich, wenn anders nicht bloße Klassifikation betrieben werden soll, einen soziokulturellen Begriff zugrundelegen, um zu bestimmen, was denn ,städtische Bevölkerung' ist. 25
„Jenseits seiner wirtschaftlichen Bedeutung konnte das Revier [„dieses Gemenge aus Zechen und Verkehrsanlagen, Gehöften und Halden, Brachen und Kolonien, zusammenhanglos aufs Feld gesetzten Häusern und Kanälen" (Niethammer 1976: 471)] zu keiner Zeit Metropolencharakter gewinnen, urbane Qualität entwickeln, blieb - politisch zerrissen - dem Provinziellen verhaftet" (Vonde 1989: 203). 26
2.6 Kolonialisierung • 75
schaulich dargebotenen Materials beantworten (1958). Es wird dort deutlich, dass die einzelnen „Siedlungsindividuen": die Ortsteile, gerade durch ihre Abgrenzung gegeneinander (vgl. a. a. O.: 40-51; 146-162) innerlich eine ähnliche Struktur des Zusammenhalts ausbildeten. Familiale Beziehungen spielten — schon traditionaler Weise - sowohl unter den Alteingesessenen eine große Rolle, als auch unter den Zugezogenen, wo sie durch die Abgrenzung der Alteingesessenen von ihnen noch verstärkt wurden (vgl. a. a. O.: 78ff.).27 Als Honoratioren der Gemeinde galten folglich über die Grenzen der gesellschaftlichen Gruppen hinweg nicht Personen, die auf der Ebene der gesellschaftlichen Beziehungen für die politischen Vergemeinschaftung besondere Bedeutung hatten, sondern diejenigen, die es nach Maßgabe äußerer Statusmerkmale zu etwas gebracht hatten.28 Der Weg ,vom Dorf zur Industriegemeinde' (a. a. O.: 9-39) ist also, trotz des enormen Bevölkerungswachstums, des Wohnungsbaus, der Verkehrsanbindungen durch Straßen, Straßen- und Eisenbahn, kein Weg zu einer Urbanen Gemeinde, zu einer Stadt (vgl. Aring et al. 1989: 86) .29 Das Bürgertum in den wenigen Städten, wo es vorhandene war, konnte hier keinen Gegenpol der Urbanität ausbilden: „In der sozialen Gemengelage" kam es zu einer „nervösen Überreizung, die gleichsam die Standeskrankheit dieses unsicheren Bürgertums gewesen zu sein scheint" (Niethammer 1976: 460). Diese konstatierte Unsicherheit beleuchtet folgende Mitteilung Jörg Lesczenskis (gesprächsweise): August Thyssen teilte seinen Gästen, die er zu einem Empfang ludt, auf der Einladungskarte mit, welche Garderobe angebracht sei. „Stellen Sie sich einmal vor", so Lesczenski, „dies würde ein Moritz von Metzler in Frankfurt machen." (Vgl. Lesczenski/Wörner 2001) — In seiner Bemühtheit kann dies nur anurban genannt werden, wenn anders urban heißen soll, dass die dem Einzelnen als Person wie als Träger einer Rolle, dem „Charakter des kleinen Kreises" wie der .reinen Sachlichkeit' (Simmel 1903a: 118) gerecht werdende Regelung von Nähe und Distanz selbstverständlich ist.30
Ein Kontrast zum Saarland ist hier erhellend, arbeiten doch Otto Neuloh und Jenö Kurucz deutlich heraus, dass im Gegensatz zum Bergmann aus dem Saarland, für den ,Arbeit' den „Zentralwert" darstellt (1967: 106), für den Bergmann aus dem Ruhrgebiet in den Bereichen der Arbeit und der Freizeit,Familie' den „Zentralwert" darstellt (a. a. O.: 102f£). 27
Croon und Utermann führen als exemplarisch die Äußerung eines Jugendlichen an: „Es gibt oben und unten. Wer ein Auto hat, ist oben; wer keins hat, ist unten. Einerlei, ob es ein Bergmann, ein Geschäftsmann, ein Angestellter oder der Amtsdirektor ist." (a. a. O. 127) 28
Ludger Claßen spricht von „verdichteter Provinz" (1986: 8). - Bei Thomas Sieverts (1997: 55) findet sich ein anschaulicher Vergleich von Metropolen und dem Ruhrgebiet („Die Siedlungsflächen von 55 Ballungsräumen").
29
Dass ein hier angedeuteter, eine spezifische Habitusformation umfassender Begriff von Urbanität noch zu explizieren wäre (vgl. Fn. 25), liegt auf der Hand; ebenso, dass dies hier nicht geleistet werden kann (vgl. S. 265, Fn. 34).
30
7 6 • 2 Historische Konstellationen
6.5
Arbeiten, Wohnen, Leben
Für den Bergbau war es entscheidend, dass Bergrechte von vornherein als Regalien, also königliche resp. kaiserliche Rechte eingerichtet wurden (vgl. Pfläging 1979: 15). Damit war nicht nur hoheitlich die Ausbeutung der Bodenschätze beansprucht, sondern zugleich die Regelung derselben und die Sorge für sie gesetzt. Diese Aufgabe übernahmen die Bergordnungen und ihre Ausführungen in den Bergwerken — z. T. durch die in diesen eingesetzten Beamten.31 Eine unternehmerische Haltung oder eine Profitorientierung, so sie denn vorlagen, hatten unter den Regularien keine Chance sich zu betätigen oder, so sie nicht vorlagen, sich auszubilden.32 „Die Monopolstellung des Staates, der Ausschluß der Konkurrenz durch die Errichtung der Eisen- und Stahlstapel (Lager, an welche alle Fabrikanten ihre Waren zu festen Preisen abgeben mußten, die von der Stapelgesellschaft verkauft wurden), die vielen Visitationen und Erhebungen der Accise (Steuer) durch Beamte ließen die eigentlichen Kräfte des Landes nicht frei werden." (Pfläging 1979: 60) Viele kleine Gruben wurden gemäß der „dirigistischen Wirtschaftspolitik" stillgelegt (a. a. O.: 62) Auf der anderen Seite brachte die preußische Verwaltung etwa den Bergleuten Vorteile wie die Befreiung vom Heeresdienst, die eigenständige bergamtliche Rechtsprechung, die Einrichtung der Knappschaftskassen als Fürsorgeinstrument (Pfläging 1979: 68f.), die Sorge für „einen gerechten Lohn" (a. a. O.: 78)33
„Der staatlichen Behörde stand [...] auch die gesamte Disziplinar- und Befehlsgewalt über die Bergknappen zu, ebenso wie sie die Höhe des Gewinns und der Zuschüsse für die Eigentümer der Bergwerke festlegte. [...] Durch die staatliche Direktion nahm der preußische Staat einen so weitgehenden Einfluß auf die Geschäftsführung und die Vertragsverhältnisse der Gruben, daß den Eigentümern der Bergwerke nur noch das Eigentum und das Betriebsrisiko [vgl. aber Fn. 33] verblieben. Genommen wurde ihnen die freie Verfügungsgewalt über ihr Eigentum. Der Staat richtete eine Bergbaubehörde ein, die in Bergämter gegliedert war. 1738 wurde als erstes das Märkische Bergamt eingerichtet. Die Betriebs- und Haushaltsführung der Bergwerke oblag der staatlichen Bergverwaltung ebenso wie der Verkauf, die Materialwirtschaft und die Beziehung zu den Arbeitern. Geschworene, Obersteiger und Schichtmeister waren Beamte. Steiger standen im Dienst der Eigentümer und sollten deren Interessen wahrnehmen, wurden aber vom Bergamt nach dessen Urteil angestellt und endassen. [...] Die Bergämter legten die Ausbeute (den Gewinn) für die Eigentümer fest. Sie setzten die Löhne für Knappen fest und wiesen ihnen einen Arbeitsplatz zu." (Landwehrmann 1980: 61 f.) 31
Friedrich Landwehrmann schließt richtig: „Diese Situation trug nicht dazu bei, Eigeninitiative und unternehmerisches Verhalten zu entwickeln. Im Gegenteil! Auch Konflikte zwischen Unternehmen und Arbeitnehmern wurden nicht in Arbeitskämpfen ausgetragen, sondern die Kompromisse wurden vom Staat diktiert." (a. a. O.: 62f.) 32
33 Vgl. Jürgen Reulecke: „Eine neue Bergordnung wurde erlassen und den Bergleuten, es waren zunächst nur wenige hundert, eine höchst vorteilhafte soziale Absicherung in Form der Knappschaft gegeben. Sie sollte von nun an Grundlage eines ganz besonderen Selbstbewußtseins der Bergleute sein" (1990: 10). - „Bereits 1767 brauchten die Bergknappen keine Arzt-
2.6 Kolonialisierung • 77
Die Gefahr und somit die Fürsorge füreinander, die mit der Arbeit unter Tage notwendig und selbstverständlich verbunden war, 34 fand über Tage zum Beispiel ihren Ausdruck darin, dass „die Bergleute vor der Einfahrt in die Gruben ihr tägliches Schichtgebet abhielten]" (Pfläging 1979: 101). Das im Muttental bei Witten zu besichtigende Bethaus ist ein eindrucksvolles Zeugnis dieser Praxis, die — so könnte man sagen — in säkularisierter Form sich in den Kauen, wo die Bergleute sich vor und nach der Schicht umkleiden und waschen, erhalten hat. Auch diese sind Orte der Vergemeinschaftung, die eine Scham, die sich wegen der körperlichen Entblößung einstellen könnte, nicht aufkommen lassen und die der Initiation nicht nur der Novizen, sondern auch der gestandenen Bergleute vor jeder neuen Einfahrt unter Tage dienen. Auch dies hängt mit der staatlichen Fürsorge zusammen, verfügte doch „das Kollegium des Königlichen Oberbergamtes in seiner Sitzung vom 16. Mai 1891, wohl als Folge des großen Bergarbeiterstreik von 1889 [...]: ,Die Zechenverwaltungen evtl. durch polizeilichen Zwang anzuhalten, auf jeden Ein- oder Ausfahrungspunkt eines Bergwerks eine heizbare Kaue, und auf jeder selbständig für sich betriebenen Anlage eines Bergwerkes eine heizbare, der Belegschaft des Werkes entsprechende große Zechenstube alsbald zu beschaffen'." (Pfläging 1979: 178) Die Bedeutung solcher Fürsorge wie der Einrichtung der Kaue überhaupt für die spezifische Kultur der Bergleute im Ruhrgebiet - oder in diesem Falle: der deutschen Bergleute springt ins Auge, wenn man es mit der Tatsache konfrontiert, dass gemäß Pfläging noch bis mindestens Ende der 70er Jahre in den Bergwerken Amerikas „die
und Medikamentenkosten zu bezahlen, erhielten sie im Krankheitsfall für vier bis acht Wochen den vollen Lohn. Die Knappschaftskasse übernahm ab 1764 die Versorgung der invaliden Bergleute, der Bergmannswitwen und -waisen. Die Befreiung vom Wehrdienst gehörte ebenso zu den Vorrechten wie die Befreiung von Soldaten-Einquartierungen." (Landwehrmann 1980: 61) „Die Löhne der Bergknappen richteten sich nach den Lebenshaltungskosten, sie erhielten eine Zeche zugewiesen, auf der sie zu arbeiten hatten, die Verlegung auf eine andere Zeche war jederzeit möglich. Für pünktliche und gesicherte Lohnauszahlungen wurde [...] gesorgt [...]. Sowohl für Eigentümer wie für Arbeitnehmer wurde ein umfassender Schutzzaun errichtet. Das Risiko wurde ihnen zwar weitgehend abgenommen, aber auch die Chance zur Maximierung von Löhnen oder Gewinnen." (a. a. O.: 62) Dies trug dazu bei, dass auch nach „der Aufhebung des Direktionsprinzips und damit der staatlichen Bevormundung im Jahre 1865" (Landwehrmann 1980: 64) die Fürsorge und die wechselseitige Verantwortungsübernahme aufrechterhalten blieben: Die „Fürsorgepflicht, den einen oder anderen Kranken und Alten oder sogar Fuhlen (Faulen) mit durchzufüttern, das gab es sogar 1954 noch. Auch hatte jeder - im Sinne dieser Fürsorgepflicht - einen Blick für Gefahren. Ob beim Warten auf den Zug, vor Ort oder im Streb, wie oft hörte man, daß ein Kumpel den anderen auf einen hängenden Lösen (loser, noch eben festhängender Stein) aufmerksam machte oder ihm sogar den Kopf sicherte, indem er ihm den .Lösen' abklopfte. Diese Fürsorgepflicht gehörte eben zum bergmännischen Geschäft und stak im Unterbewußtsein." (Pfläging 1979: 238) 34
78 • 2 Historische Konstellationen
Kumpels sich zu Hause waschen müssen, von heizbaren Kauen gar überhaupt nicht zu träumen wagen" (a. a. O.: 180).35 Die „Entwicklung des Berufs des Bergmanns zum Massenberuf', die mit dem „Abbau der bevorzugten Stellung des Knappen" zusammenfiel (Landwehrmann 1980: 63), führte zu einem Verlust der beruflichen Identifikation mittels einer anerkannten beruflichen Stellung, die den Knappen mit ihrer ehrwürdigen Tradition zukam. Wie alle Betriebe bedürfen aber auch die Großzechen wie die Großbetriebe des Montanbereichs generell der Identifikation ihrer Mitarbeiter. Das Medium dieser Identifikation unter kapitalistischen Bedingungen ist die geteilte Leistungsethik, in der Bewährung im Beruf durch Abarbeiten an einer Sache: den berufsspezifischen Aufgaben erlangt wird. In den körperlich schweren, aber von der Tätigkeitsform her einfachen Arbeiten, die in den Montanbetrieben zu verrichten waren, reduzierte sich nun die Bewährung an einer Sache aber auf das, was im Ruhrgebiet ,Maloche' 36 heißt, die — zumal eben unter den Bedingungen der Massenbelegschaft — gerade nicht in einer auf einen Beruf bezogenen Kollegenschaft als berufliche Leistung ihre Anerkennung erfuhr. Vielmehr bedurfte es zur Herstellung der erforderlich Betriebsidentifikation einer nicht über eine objektivierende Sache vermittelten Stabilisierung der Sozialbeziehungen, eben einer Gemeinschaft von Kumpeln. 37 Die Quelle von deren Verbundenheit liegt nicht in einer beruflichen Kollegenschaft, sie wird vielmehr —,Kumpel' ist aus ,Kumpan' entstanden — in der ursprünglichen Wortbedeutung von ,Kumpane': ,diejenigen, die das Brot miteinander teilen', deutlich. Offensichtlich lagen die habituellen Voraussetzungen für diese Lösung im Ruhrgebiet vor.38 Die Entsprechung der horizontalen Kumpelschaft in der Montanindustrie
Auch dies wäre ein interessanter Ansatzpunkt für einen Kulturvergleich, hier mit der angelsächisch-walisischen Kultur der Bergarbeiter in Pennsylvania: im Ruhrgebiet eine peergroupähnliche Gemeinschaft von Kumpeln, in Pennsylvania die individuierte Kollegenschaft.
35
Aus hebr. m'luchu 1988: LXXVIf., 161)
36
— ,Handwerk', jidd. oft allgemein: .Arbeit' -
vgl. Bernstein
Das „Bedürfnis des modernen Menschen nach Versachlichung seiner Arbeitsbedingungen und die Ablehnung allzu starker persönlicher Bindungen in diesem Lebensraum", welche Helmut Schelksy, ohne nach der Konstitution dieses Phänomens zu fragen, unterstellt (1956: 308), ist das Gegenteil dessen, was wir hier finden; das Ruhrgebiet wäre damit als nicht modern gekennzeichnet. Ob nicht aber hier eine Konstellation zu finden ist, die eine spezifische Variante der Moderne ermöglicht, wird noch zu fragen sein. 37
Auch hier wäre ein Vergleich mit Pennsylvanischen Zechen aufschlussreich, standen diese doch vor demselben Problem, das aber offensichtlich anders gelöst wurde. 38
2.6 Kolonialisierung • 79 des Ruhrgebiets 39 ist die nach wie v o r patriarchalische Struktur der vertikalen Beziehungen dort. 40
Inge Litschke fasst ihre Beschreibung des Wohnens in einer typischen Weise des Reviers am Beispiel der Bergarbeiterkolonie Lohberg (heute zu Dinslaken gehörig) wie folgt zusammen: „Die Bauform der Kolonie besaß aufgrund ihres halbagrarischen Charakters besondere Attraktivität für die aus agrarischen Regionen zugewanderten Arbeiter; denn sie gab ihnen die Möglichkeit, Traditionen der jeweiligen Herkunftsgebiete fortzusetzen. Weitere Der Vergleich zur spezifischen Form der Vergemeinschaftung im Silicon Valley kann dies erhellen (vgl. S. 254£, Fn. 23).
39
Als ein frühes Beispiel mag Alfred Krupp gelten: Als er 1848 „eingetragener Eigentümer der Essener Fabrik" wurde, stand er, wegen Bankrotts seiner Bank und wegen aufgrund der Revolution fehlenden Aufträge „unversehens ohne Mittel da. Aufträge gingen nicht mehr ein. Es hätte nahegelegen, das Werk vorübergehend stillzulegen. Er ließ es nicht dazu kommen. Seine Arbeiterzahl war auf siebzig abgesunken, und für diese siebzig hatte er kaum Arbeit. Doch er entließ keinen, der in den revolutionären Wochen seiner Weisung, Ruhe sei die erste Bürgerpflicht, folgte und der Straße fernblieb. Er ließ auf Vorrat arbeiten oder beschäftigte seine Arbeiter unproduktiv, aber zahlte ihnen ihre Löhne. Sein patriarchalisches Verhältnis zu ihnen war so echt, daß er seine letzte Gelder opferte, ja das Familiensilber einschmolz und in die Münze gab, um sie zu halten und zu löhnen." (Schröder 1953: 60) „1853 formte er die Werkskrankenkasse in die Kranken-, Pensions- und Sterbekasse um. Fünf Jahre später, in geschäftsstiller Zeit, erhöhte er die Zuschüsse der Firma auf die Hälfte der Mitgliedsbeiträge." (a. a. O.: 63) Vgl. — auch zur Kehrseite der Medaille: „strenge Aufsicht und Kontrolle" - Gall 2000: 97-132 (Zitat: 100). - Dieser Patriarchalismus setzte sich fort: „Als während des Bergarbeiterstreiks von 1889 die Stahlproduktion wegen Kohlemangels gedrosselt werden mußte, teilte der Bochumer Verein seinen Arbeitern mit, sie würden nicht entlassen, sondern sollten Kurzarbeit leisten oder notwendige Reparaturen unternehmen. Und während des Bergarbeiterstreiks von 1905 gewährten die Westfälischen Stahlwerke ihren Arbeitern Ausgleichszahlungen für jede ausgefallene Schicht (zwei Mark für Verheiratete, eine Mark für Ledige), die später von ihrem Lohn einbehalten werden sollten. Als Kohle aus dem Saargebiet ankam, wurden sie auf Kurzarbeit gesetzt." (Crew 1980: 158) - Und auch zeitgenössische Betriebspolitik im Ruhrgebiet unterscheidet sich vom Kruppschen Patriarchalismus nicht, wie folgendes Beispiel zeigt: „»Ich muß auch noch sagen, daß wir auch noch innerbetrieblich ausschreiben, einfach weil wir der Meinung sind, daß wir den Kindern unserer Beschäftigten doch die Chance bieten sollten, hier bei uns. Wir haben also von den 23 Auszubis 15 Kinder von Betriebsangehörigen und irgendwie sind die ja auch schon ein bißchen vorbelastet. Die kennen den Betrieb hier von den Eltern her und wachsen schnell in die Familie ABACAB [sc. Deckname eines Betriebs (!) des ÖPNVs im Ruhrgebiet] hinein, will ich mal so sagen« (Expertengespräch Personalleiter, 1987, 12)" (Becke 2000: 172). Auch die Firma ,Bau', die Eckart Pankoke mit seinen Mitarbeitern untersucht hat, mag als Beispiel gelten (vgl. 1993b: 144). Instruktiv ist hier der Vergleich zu dem ja ebenfalls zu Recht als sehr sozial gelteden Unternehmers Robert Bosch, der bei all den sozialen Absicherungsmaßnahmen der Maxime folgte: „Bloß kein »Abhängigkeits«-Gefühl!" (Heuss 1975: 307), und der darauf achtete, dass niemand bloß aufgrund seiner Verwandtschaft mit einem Mitarbeiter eingestellt wurde (a. a. O.: passim). 40
80 • 2 Historische Konstellationen
Vorteile waren relativ niedrige Mieten der Koloniewohnungen, die Möglichkeit der Untervermietung an Kostgänger, die sich herausbildenden informellen Solidaritätsstrukturen und die gesündere Umgebung und größere Bewegungsfreiheit, die das Leben in der Kolonie im Vergleich zum Wohnen in Mietskasernen vor allem Kindern und Jugendlichen bot. Kam zunächst in der Kolonie eine sehr heterogene Bevölkerung zusammen, so setzte bald - bedingt durch gemeinsame berufliche Interessen und durch das enge Zusammenleben und das Aufeinanderangewiesensein in der Kolonie — eine Entwicklung von der Heterogenität zur Homogenität der Lebensformen ein, die soziale Identität stiftete." (1994: 161) Die Homogenisierung der Lebensformen hat aber auch eine Voraussetzung in der Soziokultur der zusammenströmenden Zuwanderer; dass sie alle „aus agrarischen Regionen" kamen, war eben keine zufällige Randbedingung, sondern für die Ausbildung der von Litschke beschriebenen Homogenität konstitutiv.41 Was Max Weber als ein Charakteristikum der Moderne herausstellte, trifft, dies wird u. a. an Litschkes Ausfuhrungen deutlich, im Ruhrgebiet nicht zu. „Der Einzelne empfängt ferner seine gesamte Schulung für das Leben, auch das rein persönliche, zunehmend von außerhalb des Hauses und durch Mittel, welche nicht das Haus, sondern »Betriebe« aller Art: Schule, Buchhandel, Theater, Konzertsaal, Vereine, Versammlungen, ihm liefern. Er kann die Hausgemeinschaft nicht mehr als die Trägerin derjenigen objektiven Kulturgüter anerkennen, in deren Dienst er sich stellt" (Weber 1985: 226).42 Die Schulung für das Leben erfolgte „im Schatten der Fördertürme" in hohem Maße durch die Nachbarschaft. Dieses sozialisatorische Moment, das für Kinder
Vgl. die instruktive Untersuchung über die Wohnwünsche der Bergarbeiter von Elisabeth Pfeil (1954), von denen Gunther Ipsen meint, dass sich in ihnen „die innere Form des bergmännischen Wohnstils [...], das heißt, der Zweckzusammenhang einer sinnvollen Lebensführung bergmännischer Familien" ausdrückt (1954: VIII). Sie zeigen deutlich eine Tendenz zu agrarähnlichen Lebensformen (v. a. in den Aspekten „Kleinhaus", „Nutzgarten", „Tierhaltung" und dort speziell „Schweinehaltung"). - „Siedlungen vermitteln zwischen zwei Kulturen: dem bäuerlichen Leben und dem Leben in der Industrie. Die Zuwanderer möchten wenigstens Teile ihrer herkömmlichen ländlichen Lebensform weiterführen, die sie nun in miniaturisierter Weise erhalten: mit dem Gemüsegarten und dem Stall für Tiere." (Günter 2001: 40) - Vgl. auch Schanetzky 2001: 15f. 41
Zwar ist es richtig, wenn Wilhelm Brepohl für den Übergang von der agrarischen zur industriellen Arbeit eine „Zweiteilung" konstatiert zwischen der „Industriearbeit, die sich schroff vom privaten und öffentlichen Leben abgesondert hinter der Fabrikmauer abspielt" und dem, „das wir Familien- und Privadeben nennen" (1957: 107), aber zum einen ist dieser Ubergang fließend, wie uns etwa die Fotografien der Essen bringenden Kinder und der Mittagspause vor den Fabriktoren von Anton Meinholz (Block 1928: 84f., 148f.) zeigen, wo Familien fast wie zum Picknick versammelt sind; zum anderen bleibt die Frage, ob die Veränderung auch eine der Habitusformation bedeutete oder ob sie nicht im Passungsverhältnis zu den veränderten Verhältnissen stand, diese auch ihr gemäß formend.
42
2.6 Kolonialisierung • 81
im Alter v o n ein bis f ü n f Jahren in Wohngebieten v o n Städten als N o r m a l f o r m gelten kann (vgl. Harloff/Lehnert/Eybisch 1 9 9 8 : 63), ist hier verlängert. 43
Dass die Gestaltung der freien Zeit dem bisher Dargelegten nicht entgegensteht, ist vielfach dargestellt worden 4 4 und sei hier nur angedeutet: „Daß die Arbeiterschaft an der Kirmes teilnahm, zeugt nicht nur von einem Bedürfnis, die Sitten und Gebräuche jener ländlichen Gesellschaft aufrecht zu erhalten, aus der sie zum großen Teil ausgewandert war. Die Mehrzahl der Zuwanderer kannte dieses dreitägige Erntedankfest mit Sicherheit aus ihren Herkunftsdörfern. Dieses wurde in der ganzen Region begangen und es verband Gottesdienste und Prozessionen mit dem Besuch von Familie und Freunden, mit Vergnügungen, Spielen und Tanz, Glücksspiel und Heiratsvermitdung. All das wurde üppig begleitet von Speis' und Trank. [...] Da die Industriearbeiterschaft praktisch noch keinen Urlaub kannte, war der Kirmesbesuch häufig mit unerlaubtem Fernbleiben von der Arbeit verbunden." (Abrams 1992: 35f.) Bei ihrer Darstellung der Rolle des Fußballs im Ruhrgebiet haben Rolf Lindner und Heinrich Breuer ( 1 9 7 9 ) insbesondere die Bedeutung der Straßenmannschaften hervorgehoben (a. a. O.: 1 4 6 - 1 5 9 ) ; dabei gehen sie auf deren Funkdon als Peergroups ein, was zu der Orientierung an Vergemeinschaftung, die wir bereits vielfach wirkend sahen, passt.
Dass dies auch für die großstädtischen Siedlungsgebiete gilt, wurde an der Sozialforschungsstelle Dortmund für die industrielle Großstadt' (Mackensen et al. 1959) herausgearbeitet: „Obwohl aufs Ganze gesehen loser gefügt als in der vorindustriellen Welt, ist das Nachbarverhältnis doch auch in Großstadtbevölkerungen und sonstigen Industriebevölkerungen durch Anstand, Verhaltensmuster, Sitte, Gebräuche bestimmt, wenn auch nicht so eindeutig festgelegt und verpflichtend, wie in der vorgroßstädtischen Gesellschaft. Auch hier sucht und findet der Mensch den Nachbarn, auch hier gewährt man sich ,die kleinen und großen Lebensbeistände' (G. Ipsen). Bei rund vier Fünfteln der Nordstadtbewohner ist das Familienleben nachbarlich eingebunden. Sie warten, neuzugezogen, ab, was üblich ist und sind bereit, sich dem hier Geltenden zu fügen, sich anzuformen." (a. a. O.: 197) - Über eine Zechensiedlung heißt es bei Aring et al.: „Die Ambivalenz der offenen Nachbarschaft ist im Hinblick auf das Zusammenleben in der Siedlung offensichtlich. Sie ermöglichte ebenso eine unkomplizierte gegenseitige Hüfe wie eine starke soziale Kontrolle. [...] Trotz unterschiedlichster Herkunft der Menschen war die Ausgangslage für ihre Zukunft weitgehend gleich: Sie ,hatten nichts, außer der Arbeitskraft', aber sie hatten auch das einheitliche Ziel der Verbesserung ihrer Lebensbedingungen. Eine derartige Ausgangs- und Zielhomogenität scheint im Zusammenhang mit der [...] zeiträumlichen und sozialen Persistenz die Identitätsfindung innerhalb der Gruppe wesentlich gefördert zu haben. Über die enge Nachbarschaft und die soziale Kontrolle konnte aber auch der übliche Verhaltenskodex sehr schnell an die Neuankömmlinge herangetragen werden. Es wurde .Anpassung' an die kollektiven Muster des Handelns gefordert" (1989: 214). 43
Vgl. Lindner/Breuer 1979, Brüggemeier/Niethammer 1978, Tenfelde 1978, Schmidtchen 1978, Gehrmann 1978, Reulecke 1986 (152f.), Ueberhorst 1986, Kosok 1988, Framke 1992, Kift 1992, Kosok/Jamin 1992.
44
82 • 2 Historische Konstellationen
In die gleiche Richtung wirkt eine speziell im Ruhrgebiet nach wie vor verbreitete Form des Jahres- und Wochenendurlaubs: das Camping. Auf dem Campingplatz, auf dem man einen festen Standplatz für den Wohnwagen mit Vorzelt, Garten etc. und folglich feste Nachbarn hat,45 stellt sich eine Vergemeinschaftungspraxis mit allabendlichen Festen etc. her, die die der heimatlichen Nachbarschaft noch übersteigt, da man hier ja nicht tagsüber in die — andere — Gemeinschaft der Arbeitskollegen eintaucht.46
6.6 Kurzes Fazit „Die Schnelligkeit des Wachstums des Reviers an Rhein und Ruhr zu einem industriellen Ballungsgebiet im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts brachte es mit sich, daß vorindustrielle Verhaltens- und Denkweisen sowohl bei Einheimischen wie bei Zuwanderern sich nicht in ähnlichem Tempo ändern konnten." (Schäfer 1992: 224)
Solche und ähnlich Einschätzungen finden sich allenthalben; der Sache nach sind sie auch zutreffend, die Formulierungen aber lassen, auch wenn sie nicht, wie hier, offensichtlich unzureichend sind,47 an analytischer Klarheit zu wünschen übrig. So wird sowohl selten auseinandergehalten, ob sich das — beobachtbare — Handeln ändert oder die zugrundeliegende generative Struktur des Habitus, als auch, ob die abfragbaren Meinungen und Deutungen konstant bleiben oder die ihnen zugrundeliegenden generativen Deutungsmuster. Beachtet man diese analytische Differenz aber, so zeigt sich, dass die beharrenden Habitus und Deutungsmuster sich als Lösungen für Handlungs- und Deutungsproblem herausgebildet und bewährt haben, weshalb sie, mittlerweile verquickt mit der Selbstrechtfertigung (vgl. S. 32-35), persistieren, auch wenn die Probleme, deren Lösung sie darstellten, sich änderten. Da die Probleme aber selbst immer als Handlungs- und Deutungsprobleme im Handeln konstitutiert werden, die Habitus und Deutungsmuster also in ihre Konstitution eingehen, haben diese Muster auch beste Voraussetzungen für das, was Bourdieu — wenn auch lediglich deskriptiv, so doch teffend - „l'hysteresis des habitus" (1979: 158, vgl. 231) nennt.
Mitderweile sind einige Campingplätze im Sauerland und im Emsland in der Hand weniger Familien aus dem Ruhrgebiet, weil sie von diesen seit ein bis zwei Generationen angefahren und nunmehr von Großeltern, Eltern und Enkeln benutzt werden. 45
46 Auch Arbeitskollegen fahren häufig zu den gleichen Campingplätzen — was auch der Praxis entspricht, bei Auslandsurlaub am immer selben Strand die immer gleichen Bekannten alljährlich wieder zu erwarten.
Warum sollte das Tempo der Veränderung von A (industrielles Wirtschaftswachstum) ,es mit sich bringen', dass B („Verhaltens- und Denkweisen") sich nicht so schnell ändern kann? Um zu einer Erklärung zu gelangen, muss man in Betracht ziehen, dass Habitus und Deutungsmuster, um analytisch prägnante Begriffe in Anschlag zu bringen, sich nicht so schnell ändern, da sie ja bewährte Lösungsmuster für Handlungs- und Deutungsprobleme darstellen. 47
7
Übergang
Es konnte hier, wo die historischen Konstellationen in Eile durchlaufen und folglich äußerst knapp dargelegt wurden, nicht darum gehen, die Herausbildung einer spezifischen Habitusformation, einer regionalspezifischen Soziokultur als in sich „entwicklungsgeschichtlich notwendig" oder als „entwicklungsgeschichtlich notwendig" für die Herausbildung der spezifischen Gestalt des heutigen Ruhrgebiets zu behaupten. Es „kann [...] angesichts des ungeheuren Gewirrs gegenseitiger Beeinflussungen zwischen den materiellen Unterlagen, den sozialen und politischen Organisationsformen und dem geistigen Gehalte" wie v. a. dem habituellen Muster der regionalen Entwicklung „nur so verfahren werden, daß zunächst untersucht wird, ob und in welchen Punkten bestimmte Wahlverwandtschaften' zwischen gewissen Formen" der Selbstrechtfertigung, die sich in der Region historisch herausgebildet und reproduziert haben, und gegenwärtigen Formen des wirtschaftlichen Handelns und der Lebensgestaltung generell „erkennbar sind. Damit wird zugleich die Art und allgemeine Richtung, in welcher infolge solcher Wahlverwandtschaften" die Soziokultur „auf die Entwicklung der materiellen Kultur einwirkte, nach Möglichkeit verdeutlicht." 1 Zu prüfen und darzustellen wie und wieweit jene Einflussstruktur heute wirksam ist, wird Aufgabe des folgenden Kapitels sein. Dabei sei noch zur Verdeutlichung auf eine in Teilen gleichgerichtete, in Teilen aber widersprechende These verwiesen. Wenn in einem Buch über „Chancen innovativer Industriekultur im Ruhrgebiet" gefordert wird, „zu berücksichtigen, daß über den lebensweltlichen Horizont der Mitarbeiter auch vorindustrielle kulturelle Prägungen in die Betriebe eingebracht wurden, wie sie sich funktionalistischer Vereinnahmung sperren." (Bußkamp et al. 1993b: 12)
so ist damit die Konstellation visiert, die wir im vorigen Abschnitt dargestellt haben. Allerdings heißt es dann weiter: „Dies war in der Kolonisationsphase des Ruhrgebiets ein Problem. Nur langsam wurden die Rückhalte der Herkunftswelt durchlagert durch die ganz anderen Prägungen der industriellen Arbeitswelt und der organisationsgesellschaftlichen Formation ihrer Interessenlagen." (ebd.)
Somit wird ein Gegensatz zwischen der - nach den Darlegungen dieses Kapitels weitzurückreichenden — vorindustriellen Soziokultur der Region und den Erfordernissen und Formen der Industrialisierung behauptet, wo, wie wir sahen, eher von einem Passungsverhältnis und von Kontinuität auszugehen ist. Die „kulturellen Aldasten", die die Autoren konstatieren, 2 sind habituell tief verankert und
1
Vgl. Weber 1920: 82£, wo sich auch die zitierten Formulierungen finden.
„Auch im Blick auf Arbeitsmotivation und Führungsmentalität könnten wir von «Altlasten» sprechen, von «kulturellen Altlasten», welche die geforderte strukturelle Entwicklung durch kulturelle Prägungen (also durch innovationshemmende mentale Trägheiten und Ängste)
2
84 - 2 Historische Konstellationen
haben die historische Qualität einer longue durée, zwar sind sie mit der Montankultur amalgamiert, aber diese hat sie nicht hervorgebracht. — Für die Selbstrechtfertigungen der Menschen kann Richard Serras Stahlbramme auf der Kohlehalde Schurenbach nur ein vergängliches Symbol sein.
aufhalten könnten." (Bußkamp et al. 1993c: 7) - In der Modifizierung durch den Konjunktiv, und v. a. in den Formulierungen, mit denen die „kulturellen Prägungen" bezeichnet werden, kommt ein vage psychologisierender Beschreibungs- und Erklärungsversuch zum Ausdruck. Das wird auch deutlich, wenn - zunächst als ,schnell formulierte Unterstellung' qualifiziert — „die zur «kulturellen Altlast» werdenden Prägungen durch ,schwere Arbeit' und ,große Organisation'" als Grund für die Blockade für „den riskanten Aufbruch zu neuen Ufern technischer Neuerung und wirtschaftlicher Eigenverantwortung und Selbständigkeit" genannt werden (ebd.). Hier liegt ein undialektisches Modell des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft zu Grunde, das, letztlich psychologisch angelegt, eines der Prägung des ersteren durch letztere ist. Demgegenüber setzen wir mit den Kategorien ,Handlungsproblem' und ,Habitusformation' soziologisch an und versuchen die Genese und die Reproduktion eines spezifischen Habitus, der tatsächlich der Übernahme von „wirtschaftlicher Eigenverantwortung und Selbständigkeit" entgegenzustehen scheint, zu analysieren. Wenn es auf der anderen Seite heißt: „Die verbandliche Organisation [sc. gemeinsam von Unternehmen, Wirtschaftsverbänden und Arbeitnehmerschaften] der Interessen war so die Antwort auf die Unsicherheiten des Marktes." (1993c: 18), so thematisieren die Autoren damit nicht, dass die Vermeidung der „Unsicherheiten des Marktes" natürlich auch einen Verzicht auf Chancen bedeutet, und blenden damit von der anderen Seite her die Ebene des Habitus aus, der die Akteure dazu bewegte, diese Antwort auf die „Unsicherheiten des Marktes" zu wählen.
Kapitel 3 Fälle der Region 1
Methode und Gegenstand
1.1
Methodische Vorbemerkung
In der Darstellung gehen wir stets zunächst auf die objektiven Daten1 ein, die auch stets zuerst analysiert wurden. Diese Daten lassen die Ausgangskonstellation deutlich werden, die für die hier als Fall (s. u. Abschn. 1.2) zu untersuchende Person, die Optionen konkretisiert, die ihrer werdenden Identität2 sich eröffnen, die Handlungsprobleme, die ihr vorgehalten werden. Im Verlauf der ersten Darstellung wird das methodische Vorgehen auch allgemein erläutern werden; für die weiteren Darstellungen werden diese Erläuterungen dann vorausgesetzt. Bei der Analyse der objektiven Daten gehen wir von dem fallunspe^fischen Wissen über die Konstellation aus, in die hinein die Person geboren wurde und in der sie sich entfaltet hat; dieses wird, falls erforderlich, durch Informationen aus Lexika etc. ergänzt. Dabei werden die hier herangezogenen Daten stets auf die Handlungsoptionen der konkreten Person hin ausgelegt. Im Laufe der Analyse, die der Sequenz des realen biographischen Verlaufs folgt, kumuliert ein fallspezifisches Wissen, das in der objektiven Hermeneutik als innerer Kontext bezeichnet wird. Dieser besteht aus der sequentiell bereits analysierten Lebensgeschichte und den weiteren in ihrer Bedeutung für die Lebensgeschichte bestimmten Daten. Die sequentielle Analyse folgt dabei der praktischen Lebensgeschichte, die in dieser Hinsicht eine Verengung der Optionen darstellt, die zugleich eine neue Entfal1 „Zu den objektiven Daten zählen wir alle Daten, zu deren Gewinnung man nicht auf bezweifelbare interpretative Schlüsse angewiesen ist. Dazu gehören das Geburtsdatum, Geburtsort, Geschlecht, Wohnort, Ausbildung, Beruf, Heiratsdaten, Kinderzahl, Einwoherzahlen, Wohnraumaufteilung und dergleichen. Bei der Rekonstruktionsarbeit interessieren die Daten nun nicht an sich, vielmehr aufgrund der Annahme, daß die hierin objektivierten Lebensumstände auf lebenspraktische Entscheidungen verweisen, die sich zu einer Typik des Handelns sukzessive verdichten. Das Verhältnis von objektiver Möglichkeit und faktisch gewählter Option unterliegt selbst wiederum einem kumulativen Prozeß. In dieser Kumulation liegt die objektive Einzigartigkeit eines biographischen Verlaufs. Beide Gegenüberstellungen sind des weiteren Basis für die Rekonstruktion der Selbstthematisierung der Person oder der Familie. Selbstthematisierungen sind, wie vielfach begründet, ihrerseits selektiv, sie dienen dem Konsistenzbedarf der Person und sichern die Ansprechbarkeit in Austauschbeziehungen - als objektiv motivierte Bestandteile der Selbstvergewisserung müssen die entsprechenden Texte in den Biografieverlauf stimmig übersetzbar sein." (Allert 1993: 332)
Die Identität einer Person ist stets als Struktur und Prozess zugleich zu begreifen. Als erstere ist sie generativ und in einer generativen Formel auf den Begriff zu bringen; als letztere ist sie die Ablaufgestalt, in deren Verlauf sie sich herausbildet, transformiert und reproduziert. 2
86 • 3 Fälle der Region
tung bedeutet. Eine Verengung liegt vor in Bezug auf die auf derselben Optionenebene liegenden Möglichkeiten — um es an einem Beispiel zu veranschaulichen: Wer bei der anstehenden Wahl der weiterführenden Schule für einen bestimmten Schultyp optiert hat (z. B. für das Gymnasium oder für die Hauptschule), für den ist es fürderhin ausgeschlossen einen anderen Schultyp zu wählen (er wäre dann nicht mehr schlicht Hauptschüler, sondern gescheiterter Gymnasiast — oder eben umgekehrt: aufgestiegener Hauptschüler). Eine Entfaltung hingegen ist in Bezug auf die Optionen der nächsten Ebene gegeben. Es gilt das allgemeine Prinzip der Sequentialität, dass eine Entscheidung für eine bestimmte Option, die auf der gleichen Ebene liegenden Möglichkeiten ausschließt, hingegen auf der Folgeebene liegende Möglichkeiten überhaupt erst konkret eröffnet. Die Eingrenzung in der Auswahl der objektiven Daten ist natürlich auch forschungspraktisch bedingt. Nur wenn der Übergang von der Natur zu Kultur, also das Hineinragen der Natur in die Kultur und die kulturelle Transformation der Natur, Forschungsthema wäre, müsste mitthematisiert werden, welche Optionen dem mit der spezifischen genetischen Ausstattung der Gattung Mensch geborenen Wesen im Kontrast zu Angehörigen nicht-humaner Gattungen eröffnet, welche (zunächst funktional verstandenen) Probleme ihm gestellt sind. Wir gehen hier aber immer schon davon aus, dass es sich um ein animal decernens und um ein handlungskapables Weser? handelt. Ja, mehr noch wird vorausgesetzt, dass hier jemand in Deutschland geboren wurde, mit all den Implikationen was dies in Bezug auf die Zugehörigkeit zum — um es weit zu fassen — westlichen Kulturkreis etc. bedeutet.4 Der Analyse der objektiven Daten folgt 5 dann die sequen^analy tische Auswertung ausgewählter Interviewpassagen. Als Kriterien der Auswahl gelten einerseits A uf-
3 ,Handlungskapabel' soll das grundsätzliche Vorliegen einer Fähigkeit zu regelgeleitetem Verhalten, also zum Handeln, als Potentialität bezeichnen; im Unterschied dazu meint .handlungsfähig' das Vorliegen der konkreten praktischen Bedingungen für die Aktualisierung dieser Potentialität. Handlungskapabilität ist also ein Strukturmerkmal der Gattung Mensch; Handlungsfähigkeit eine Eigenschaft des je konkreten Exemplars dieser Gattung: als individuierten Subjekts.
Allerdings ist klar, dass wir bzgl. des Kontextwissens weitergehende Einschränkungen vornehmen müssen, wenn erst das Ruhrgebiet als Gegenstand in den Fokus der Analyse rückt. Dann ist das Wissen um die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kulturkreis u. U. fallspezifisch und darf insofern methodisch nicht in Anschlag gebracht werden (vgl. hierzu Loer 2006a: 353-356). 4
Ein häufiges Problem sogenannter qualitativer Sozialforschung besteht darin, dass die beiden Datentypen ,objektive Daten' und ,Interview' nicht getrennt werden. Folglich soll dann aus den Interviews der tatsächliche Verlauf der Biographie rekonstruiert werden. Dies ist nicht ein Anfangsfehler der sogenannten qualitativen Sozialforschung - etwa könnte man die Deutungsschwierigkeiten, die bei Deppe deutlich werden, so verstehen (1982: 35-62) - , sondern Ausdruck eines konstituitionstheoretischen Mangels, wird doch die Äußerung des Interviewees nicht als Ausdrucksgestalt seines Handelns verstanden und somit strukturell interpre5
3.1 Einleitende Bemerkungen • 87
schlusskraft — dies führt in der Regel zur Auswahl der Intervieweröffnung —, Kelevan^ßir die Fragestellung und schließlich falsifikatorische Relevan£
1.2 Vorbemerkung zum Gegenstand: Die Region als Fall und die Fälle der Region Wenn oben von den Fällen, die hier dargestellt werden, gesagt wurde, dass die Personen als Fall untersucht werden, so sollte dies deutlich machen, dass ,Fall' eine analytische Kategorie ist; in der Praxis begegnen wir nicht Fällen, sondern Personen. In Studien der sogenannten qualitativen Sozialforschung finden sich häufig verdinglichende Formulierungen, die die analytische Kategorie ,Fall' mit dem empirischen Begriff,Person' identifizieren. Zudem ist hier zu bemerken, dass wir es mit Fällen auf zwei Ebenen zu tun haben: Das Ruhrgebiet ist unser Fall, durch dessen Rekonstruktion wir den Gegenstand ,Region' auf den Begriff bringen wollen: das Ruhrgebiet als Fall von Region.6 Die einzelnen Interviewees, die wir untersuchen sind unsere Fälle, durch deren Rekonstruktion wir den Gegenstand ,Ruhrgebiet' auf den Begriff bringen wollen: die Interviewees als Fälle von ,ruhrgebietlichem Handeln'7. Für die Auswahl der Fälle bedeutet dies, dass sie prima vista eben tatsächlich als Fall der Region ,Ruhrgebiet' gelten dürfen - und dass sie dies in möglichst relevanter Weise tun. Es liegt auf der Hand, dass es schwierig ist, dies vorab zu bestimmen. Zwar lassen sich unpassende, für den Gegenstand ,Ruhrgebiet' irrelevante Fälle - die dann eben keine Fälle von ,ruhrgebietlichem Handeln' sind -
tiert, sondern als - angeblich durch subjektive Perspektive Authentizität verbürgende - Auskunft und somit lediglich inhaltlich gedeutet. Die Unterscheidung, die Andrew Abbott etwa macht: ,„case' as single-element" einer Menge (z. B. einer Bevölkerung) vs. ,„case' as exemplar" „of a conceptual class" (1992: 53) arbeitet mit einer unfruchtbaren Unterscheidung von Realismus und Nominalismus. Wenn wir hingegen hier das Ruhrgebiet als Fall von Region nehmen, so ist damit weder lediglich das Ruhrgebiet als Element der Menge der Regionen gemeint, noch lediglich das Ruhrgebiet als Exemplar der begrifflichen Klasse der Regionen, da, wenn es sich bei ,Region' um den Begriff für ein historisches Individuum handelt (vgl. S. 12f.), das Ruhrgebiet eine konkrete Realisierung dieses Begriffs ist. - Dem trägt die objektive Hermeneutik Rechnung, indem sie aus methodologischen und konstitutionstheoretischen Gründen davon ausgeht, dass die Unterscheidungen von type und token einerseits, von Idealtypus und Reattypus andererseits rein analytische sind, die keinesfalls methodologische - oder gar ontologische — Geltung beanspruchen können. Ein Idealtypus, der nicht als Realtypus in der sozialen Realität material wirkt, ist ein bloßes Konstrukt, das am Gegenstand nichts aufschließt. Demgegenüber muss davon ausgegangen werden, dass der Realtypus in jedem Fall wirkt und folglich im Fall rekonstruierbar ist; damit kann das Vorliegen eines Typus auch nicht an eine bestimmte Anzahl von Fällen gebunden werden. 6
7 In Ermangelung einer prägnanten und weniger unbeholfenen Ausdrucksweise sei diese vorläufige Formulierung gewählt.
88 • 3 Fälle der Region
leicht konstruieren: Personen, die seit der Geburt in München leben und deren Eltern dorthin aus Zagreb zugewandert sind, sind keine Fälle der Region ,Ruhrgebiet'. Aber wie ist es mit näheren räumlichen Bestimmungen? Ist jemand, der in Werne ansässig ist, ein Fall der Region? Ist es jemand aus Hamm, aus Duisburg, aus Moers, aus Lüdenscheid? Oben haben wir gesehen, dass es Plausibilisierungen dafür gibt, das Ruhrgbiet als Einheit zwischen der Ruhr im Süden und der Lippe im Norden wie zwischen dem Rhein im Westen und dem Nordabzweig des Hellwegs über Unna und Kamen nach Hamm im Osten zu fassen. Geht man davon aus, so liegt auf der Hand, dass es zunächst sinnvoll ist, Personen als Ruhrgebietsfälle zu untersuchen, die räumlich eindeutig in dem oben bestimmten Gebiet ansässig sind. Darüber hinaus erscheint es sinnvoll, zunächst mit Personen aus Milieus zu beginnen, die vermutlich nicht untypisch sind für das Ruhrgebiet - als untypisch muss etwa das akademische Milieu gelten, sind doch die Universitäten des Reviers lediglich Spätfolgen der Diskussion um die ,Bildungskatastrophe' einerseits, des strukturpolitischen Versuchs der Überwindung der notorischen Innovationsfeindlichkeit des Ruhrgebiets andererseits. Bei der Auswahl der ,clear cases' besteht dann natürlich die Gefahr, dass bestimmte Momente der Fallstruktur nicht durch die ,Einflussstruktur' der Region motiviert, sondern etwa dem - regionenunspezifischen - Milieu zuzurechnen sind. Die Fälle als Fälle der Region zu erweisen, wird eine Hauptaufgabe der Falldarstellungen sein — allerdings erst, wenn die Fallstruktur selbst rekonstruiert wurde. Aus Gründen der Darstellung und der Plausibilisierung, aber auch aus Gründen der Forschungsökonomie werden wir nicht umhinkommen, mit Kontrastierungen zu arbeiten. 8 Nach den ,clear cases' wären also gezielt Falsifikatoren zu suchen, also Fälle der Region, die die gewonnene, nun auf die Region als Fall bezogene Strukturhypothese zum Scheitern bringen könnten. Dieserart wird die Fallauswahl jeweils zu Beginn der Falldarstellungen erläutert werden. Die Sequenzialität der Analyse wird hier in der Darstellung beibehalten; somit wird auch hier das Sample nicht vorab charakterisiert, da es sich im Laufe der Analysen erst konstituierte, was einer inneren Logik der Forschung folgte.
Dass diese Beiziehung von Kontrastfällen forschungsökonomisch bzw. -psychologisch und nicht methodologisch begründet ist und keine methodische Relevanz hat, wird in einer Zwischenbemerkung zum Problem der Generalisierung dargelegt (vgl. S. 209-212).
8
2
Gehaltene Diskrepanz
2.1
Vorbemerkung zur Fallauswahl
Bei dem zunächst dargestellten Fall1 können zwei Interviews herangezogen werden, die in einem Abstand von 13 Jahren (1985/1998) geführt wurden, so dass ein diachroner Vergleich möglich ist. Veränderungen im Laufe der biographischen Entwicklung — etwa eine Steigerung der Erwachsenen-Autonomie — sollten so fassbar werden.2 Das Erwachsenenleben in der modernen Gesellschaft ist ja von der Dominanz spezifischer, rollenförmiger Sozialbeziehungen gekennzeichnet, die durch Vergesellschaftung und deren unpersönliche Regeln gekennzeichnet ist.3 Insofern sollte das zweite Interview Aufschluss über die mögliche Transformation der Fallstruktur geben können.
2.2
Analyse der objektiven Daten4
Männlich, geboren im November 1966 in Dortmund-Hörde Markus Schreibers Herkunftsort Hörde, ursprünglich eine um eine Burg (vgl. Körber 1999: 278) gelegene eigenständige Stadt mit Landkreis, liegt an einer ausgezeichneten Stelle des Emschertals, was ihm schon früh eine herausragende Bedeutung als Siedlungsort gab (s. o., S. 28). Der Ort Hörde bot lange dasselbe Bild spezifischer agrarischer Besiedlung wie weite Teile des späteren Ruhrgebiets (vgl. Brockpähler 1928: 50ff.; s. o.). Im 18. Jahrhundert begann die Kohle ihre Bedeutung für Hörde zu entfalten (Brockpähler 1928: 190). An Gewerbe fanden 1 Der Fall des Markus Schreiber wurde — auf der Basis des ersten Interviews - bereits in dem Projekt .Kontrastierende Fallanalysen zum Wandel von arbeitebezogenen Deutungsmustern und Lebensentwürfen' herangezogen; wo auf die dort erfolgten Analysen (vgl. Becker et al. 1987: 24-270; Matthiesen 1992: 100-146) Bezug genommen wird, ist dies ausgewiesen.
Dies versprach vor allem vor dem Hintergrund der hier im Vorgriff benannten Hypothese einer strukturellen Orientierung an Primärgruppenvergemeinschaftung - an deren Entfaltung auch die Analyse des ersten Interviews Anteil hatte - Aufschluss, könnte man doch vermuten, dass die Bedeutung dieser Orientierung spätestens mit der Auflösung der Peergroup, die u. U. beim ersten Interview — der Interviewee war zu dem Zeitpunkt 18 Jahre alt - noch bestand, und damit mit dem Verschwinden der letzten Bezugsgruppe, in der Relation zu deren Mitgliedern diffuse Sozialbeziehungen dominieren, verblasst. - Die familialen Beziehungen sind davon natürlich unbenommen: sowohl die Beziehungen zu den Mitglieder der Herkunfts- wie die zu denen der Gattenfamilie sind strukturell dominant diffus und nicht auflösbar. 2
Freundschaft stellt in diesem Verständnis eine moderne Sozialform dar, da erst die Freisetzung der Beziehung Erwachsener von Momenten der Vergesellschaftung durch deren Ausdifferenzierung kehrseitig die Konzentration persönlicher diffuser Sozialbeziehungen in einer Sozialform des Typus' ,Freundschaft' ermöglichte (vgl. Silver 2001). 3
Hier ist, wie an anderen Stellen oft, der Ort, den Mitarbeitern des Projektes, dessen Forschungszusammenhang diese Analyse entstammt, zu danken; um die Analyse der objektiven Daten zu diesem ersten Fall hat sich insbesondere Stefan Heckel verdient gemacht. 4
90 • 3 Fälle der Region sich auf der ,Alten Burg' Hördes einige Nagelschmiedereien, die allerdings um die W e n d e zum 19. Jahrhundert nur noch geringe Bedeutung hatten (Schulte 1 9 3 7 : 7). A n f a n g der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts dann begann mit der Gründung der ,Hermannshütte' durch den sauerländischen Unternehmer Hermann Diedrich Piepenstock der Aufstieg als Standort f ü r Eisenverhüttung (a. a. O.: 7f.). Heute ist Hörde ein wesentlich v o m Milieu der Hüttenarbeiter 5 geprägter Stadtteil Dortmunds. Seine Siedlungsstruktur ist neben der verwinkelten Altstadt bestimmt durch die Werkswohnungen (vgl. Bollerey/Hartmann 1 9 7 5 : Objekt Nr. 66) des Phönix-Werkes (Schulte 1937: 15). V o r allem zu Beginn und im ersten Fünftel des 20. Jahrhunderts hat es hier nochmals einen erheblichen Zuzug gegeben. - Kontrastiert man diese Konstellation zunächst (1) mit einem gewachsenen D o r f , in dem lang tradierte Beziehungen zwischen alteingesessenen Familien eine feste, vertraute Matrix für die Orientierung eines Heranwachsenden in seiner werdenden W e l t ebenso bereithalten wie eine schmale Bandbreite v o n eindeutigen Lebenswegen, die ihm möglich sind; des weiteren (2) mit einer gewerblich geprägten Kleinstadt, in der die sozialen Beziehungen in großem Maße gesellschaftlich vermittelt sind, was bereits den Heranwachsenden in alltäglichen Kontakten mit dem Phänomen rollenförmiger Distanz vertraut macht, was gegenüber den dominant diffusen Sozialbeziehungen auf dem D o r f
M. Rainer Lepsius verwendet in seinem diesbezüglich notorischen Aufsatz (1966) den „Begriff des ,sozialmoralischen Milieus'" als „Bezeichnung für soziale Einheiten, die durch eine Koinzidenz mehrerer Strukturdimensionen wie Religion, regionale Tradition, wirtschaftliche Lage, kulturelle Orientierung, schichtspezifische Zusammensetzung der intermediären Gruppen gebildet werden. Das Milieu ist ein sozio-kulturelles Gebilde, das durch eine spezifische Zuordnung solcher Dimensionen auf einen bestimmten Bevölkerungsteil bestimmt wird." (a. a. O.: 68) Um diese lediglich deskriptive Bestimmung in eine rekonstruktive Bestimmung des ,sozio-kulturellen Gebildes' zu überführen, ist zu beachten, dass die „Strukturdimensionen" nicht auf einer Ebene liegen. Die „kulturelle Orientierung" ist Ausdruck von zugrundeliegenden, milieuspezifischen Habitus und Deutungsmustern, die ihrerseits durch „Religion" und „regionale Tradition" mit ihren Handlungs- und Deutungsangeboten und durch „wirtschaftliche Lage" und Schicht als Handlungs- und Deutungsproblemen mit geprägt sind. Wenn wir hier vom Milieu der Hüttenarbeiter sprechen, so dürfen, um hier Text (Daten des Falles der ja als Fall von ,ruhrgebietlichem Handeln' analysiert wird) und Kontext (Daten, die nicht fallspezifisch, also auch nicht spezifisch für das Ruhrgebiet sein dürfen) auseinanderzuhalten, nur jene Momente der Handlungs- und Deutungsprobleme („wirtschaftliche Lage" und Schicht) und ihrer Lösung (kulturelle Orientierung) beigezogen werden, die nicht von vornherein als regionalspezifisch gelten können. — Milieus sind also durch aus spezifischen Lagen erwachsene Handlungs- und Deutungsprobleme einerseits, durch aus spezifischen Traditionen überkommene, bewährte (Handlungs- und Deutungs-) Muster der Lösung dieser Probleme andererseits gekennzeichnete sozio-kulturelle Gebilde, im Handeln von deren Angehörigen diese Muster sich als generative Habitus und Deutungsmuster nicht nur bei der Lösung der milieukonstitutiven Probleme ausdrücken. 5
3.2 Gehaltene Diskrepanz • 91
größere Individuierungschancen und -erfordernisse für ihn beinhaltet; 6 und schließlich (3) mit den Bedingungen des Aufwachsens in der Großstadt (vgl. Harloff/Lehnert/Eybisch 1998), wo außerhalb der Familie tendenziell die gesamte Welt der Erwachsenen zu einer Welt von distanten Rollenträgern geworden ist, was die Relevanz der Peergroup als Refugium der Vergemeinschaftung erhöht, was zugleich aber eine Auseinandersetzung mit der Vergesellschaftung als ihrem Gegenbild erfordert;7 so wird deutlich, was es bedeutet, in einer solchen Konstellation aufzuwachsen: Die Traditionaütät dörflicher Gemeinschaft muss einerseits ersetzt werden durch die Gemeinschaft der Peergroup, die aber andererseits keinen gesellschaftlichen Widerpart in der Erwachsenenwelt hat, vielmehr ist diese in die Gemeinschaft einbezogen, der Konflikt mit ihr reduziert sich auf einen Autoritätskonflikt zwischen den Generationen. 8 Dies ist dem Individuierungsprozess wenig förderlich (s. u.). Für das Milieu der Hüttenarbeiter, also auch für das Herkunftsmilieu Schreibers, muss nicht — erst recht nicht mehr in der Bundesrepublik —, anders als für das Proletariat insgesamt seit Beginn der Industrialisierung bis in der Weimarer Republik (vgl. von Harrach/Loer/Schmidtke 2000: 35-38), davon ausgegangen werden, dass die existenzielle Unsicherheit (vgl. Weber 1912) für das Leben bestimmend war. Gleichwohl muss auch hier — auch zusammenhängend mit dem Überwiegen der körperlich schweren, aber nicht schwierigen Anlerntätigkeiten, die eine auch als Moratorium für Individuierung dienende längere und formalisierte Ausbildungszeit nicht erfordert 9 — ein niedriger Individuierungsgrad und eine relativ geringe Ausdifferenzierung sozialer Rollen unterstellt werden. Dadurch sind die Sozialbeziehungen dominant diffus, stellen weniger Beziehungen von Rollenträgern als Beziehungen ganzer Menschen dar. Sie bilden vermutlich eine über das Verwandtschaftssystem in Nachbarschaft und in die Kollegenschaft hinausreichenden Vergemeinschaftung. Indikatorisch hierfür sind etwa die
Dies gilt auch für die ebenfalls klaren Bildungswege, die hier größere Wahlmöglichkeiten lassen. 6
7 „Compulsive independence of and antagonism to adult expectations and authority", stellt Talcott Parsons (1950: 342f.) als erstes Merkmal für die Peergroup - „especially in the urban middle classes" (a. a. O.: 342) - fest. - Vgl. Parsons 1954: 130-135.
In seinem Roman „Milch und Kohle" schildert Ralf Rothmann (2000) sehr anschaulich diesen Konflikt (vgl. a. a. O.: 115f.). 8
Erst im Geburtsjahr Schreibers wird ,Hüttenfacharbeiter' zum Ausbildungsberuf (1986 wird daraus dann der .Verfahrensmechaniker in der Hütten- und Halbzeugindustrie') (vgl. BB 2002).
9
92 • 3 Fälle der Region
Spit2namen unter Erwachsenen. 10 — Dieses Moment verstärkt das zum Herkunftsort Ausgeführte (s. o.); wir müssen eine wenig individuierte, auf Vergemeinschaftungsbeziehungen hin orientierte Habitusformation erwarten. Markus Schreibers Generation gehört noch zu denjenigen, deren Lage durch das von U. Oevermann so genannte Phänomen der „Verschweizerung", „in der in großem Umfang der von den Eltern erarbeitete Wohlstand geerbt wird" (Oevermann 2001a: 123), gekennzeichnet ist. Das „Verschweizerungssyndrom" hat erhebliche Konsequenzen für die Wahrnehmung der zukünftigen Lebenschancen. Den Kern bildet die im Familieneigentum, häufig als Immobilie, geronnene Lebensleistung der Eltern und eventuell der Großeltern. Das „Verschweizerungssyndrom" trat zuerst bei den um 1945 Geborenen, den späteren ,,'68ern" auf; die Kohorte von deren Eltern — die um 1925 Geborenen — bildete den Kern der Wiederaufbaugeneration. Kennzeichnend für diese Generation war die Maxime: „unsere Kinder sollen es einmal besser haben" (vgl. Fn. 20). Das Ende dieser verschiedene Generationen betreffenden Lage ist - vorsichtig interpretiert — bei den 1975 Geborenen festzumachen. Um eine genauere Generationsbestimmung vorzunehmen, ist auf die idealtypische Skizzierung der beiden in Frage kommenden Generationslagerungen, die „Sinnkrisengeneration" (1955-65) und die „Durchblickergeneration" (1965-75), zurückzugreifen. Hierzu soll hier ein Exkurs zur Frage der Generationsbestimmung die Grundlage liefern.
Exkurs zur Generationsbestimmung11 Zum Begriff der Generation Eine Generation hat ihren Ursprung in der „Amalgamierung von ontogenetisch universellen Krisen mit jeweils historisch konkreten, unwiederholbaren Lagen der politischen und kulturellen Vergemeinschaftung, in die ein Subjekt in seinem Bildungsprozess verbindlich hineinsozialisiert wird" (Oevermann 2001a: 80). Von den „vier großen Ablösungskrisen in der Ontogenese" (a. a. O.: 107) ist es die letzte: die Adoleszenzkrise, die für die Bestimmung der Generation zentral ist - auch wenn die anderen nicht ohne Belang sind. Hier nämlich verzahnen sich die kulturellen und politischen Deutungsmuster und die in der jeweiligen Verge-
10 Der methodische Status dieser Annahmen besteht darin, eine Folie für die sequenzielle Analyse der Biographie zu entfalten. Dafür ist unerheblich, ob sie im Detail für den Kontext dieses Falles zutreffen oder ob nicht von einer „Enttraditionalisierung der Lebensweise" oder gar von einer „Individualisierung des Arbeiterlebens" (Mooser 1984: 159) auszugehen ist. Dies wird sich im Verlauf der Analyse zeigen müssen.
Dieser Exkurs ruht im wesentlichen auf krisentheoretischen Überlegungen auf, die Ulrich Oevermann auch auf das Problem der Generationen bezogenen hat (Oevermann 2001a); erste Ausführungen hierzu im Ausgang von Karl Mannheim (1929) finden sich in Loer 1999. 11
3.2 Gehaltene Diskrepanz • 93
meinschaftung möglichen Habitusformationen und die individuelle Bildungsgeschichte unmittelbar, indem hier das Individuum erstmals vollgültig vor dem Handlungsproblem steht, eine eigene konkrete praktische Antwort auf das Bewährungsproblem zu entwickeln, erstmals praktisch die Frage zu beantworten: Wer bin ich? Karl Mannheim (Mannheim 1929) hat mit seinen Begriffen , Generationslagerung', ,Generations%usammenhang' und ,Generationseinheit' den bis heute bestimmenden Beitrag zur Soziologie der Generationen geliefert. Alle Elemente, deren es bedarf, um das „Problem der Generationen" zu bestimmen, liegen bei Mannheim versammelt vor; allein, es ist eine gewisse Präzisierung erforderlich, die durch eine angemessenere Fassung der konstitutionstheoretischen Seite seiner Soziologie erreicht werden kann: die Kategorie des sozialen Raumes ist bei ihm eine nicht gefüllte Metapher. 12 Mannheims Überlegungen sind hier aber nicht eigener Gegenstand, sondern werden benutzt, um der Sache einen prägnanten Ausdruck zu verleihen. Zur Generationslagerung führt Mannheim aus: „Man muß im selben historischsozialen Räume — in derselben historischen Lebensgemeinschaft - zur selben Zeit geboren worden sein, um ihr zurechenbar zu sein, um die Hemmungen und die Chancen jener Lagerung passiv ertragen, aber auch aktiv nutzen zu können." Er fügt hinzu, dass es sich hier um die „bloße Präsenz in einer bestimmten historisch-sozialen Einheit" handelt (a. a. O.: 542). Mannheims Kategorie des Generations-^usammenbangs, der „eine Partizipation an den gemeinsamen Schicksalen dieser historisch-sozialen Einheit" voraussetzt (a. a. O.: 542), lässt nun eine weitergehende Bestimmung der Spezifität der jeweils in Rede stehenden Generation zu. Die Kategorie ,Schicksal' muss soziologisch übersetzt werden, indem eine Präzisierung vorgenommen wird. Wie „Partizipation an den gemeinsamen Schicksalen" sinnvoll zu verstehen ist, kann an folgenden Ausführungen Mannheims verdeutlicht werden. Entscheidend ist dabei seine soziologische Bestimmung sowohl des Alters: „Alt ist man primär dadurch, daß man in einem spezifischen, selbsterworbenen, präformierenden Erfahrungszusammenhang lebt, wodurch jede neue mögliche Erfahrung ihre Gestalt und ihren Ort bis zu einem gewissen Grade im vorhinein zugeteilt erhält, wogegen im neuen Leben die formierenden Kräfte sich erst bilden und die Grundintentionen die prägende Gewalt neuer Situationen noch in sich zu verarbeiten vermögen." (a. a. O.: 534), als auch von dessen Funktion für die Gesellschaft: „gäbe es keine neue Generationen im Gesellschaftsprozeß, wäre die Rückstrahlung des allein aus neuen Lebenskeimen und neuen Ansätzen Erfahrbaren nicht möglich" (a. a. O.: 541). Wenn man, was Mannheim „die prägende Gewalt neuer Situationen" nennt, als Auftauchen eines Problems begreift, für dessen Begreifen der mit ihm konfrontierten Generation keine Deutungsmuster
12
Zur Problematik des Raumes vgl. S. 233-244; vgl. Loer 2002.
94 • 3 Fälle der Region
(vgl. Oevermann 1973, 2001b, 2001c; Honegger 1978: 25-34), für dessen Lösung ihr keine Handlungsmuster (vgl. Loer 1996: 310ff.; von Harrach/Loer/Schmidtke 2000: 81 ff.) 2ur Verfügung stehen, so lässt sich vermuten, dass es die in solchen Problemsituationen emergierenden Deutungs- und Handlungsmuster sind, die den Generationszusammenhang konstituieren. Dabei kann es sich um Probleme handeln, zu deren Lösung frühere Generationen gerade wegen ihres Verhaftetseins an den spezifischen Habitus ihrer Generation nicht in der Lage sind, um Probleme also, die nicht nur die junge Generation betreffen, die diese vielmehr stellvertretend löst; es kann sich aber auch um Probleme handeln, die qua Problem generationsspezifisch sind. Der Begriff der „Partizipation" bei Mannheim verweist darauf, dass neue Lösungsmuster von einem Teil der jeweiligen Generation aktiv entworfen werden können, wobei andere Teile sich nur in derselben Generationslagerung befinden, „insofern, als sie potentiell in die neuen Schicksale einbezogen werden" können (Mannheim 1929: 543, Kursivierung i. Orig.). Wenn es sich aber um wirkliche Probleme handelt, so können sich auch die passiven Teile den Lösungsvorschlägen nicht entziehen, müssen dazu Stellung beziehen. Nun sieht man genauer, dass das eigentlich den Generationszusammenhang Stiftende das Handlungsproblem ist, das überhaupt eine Lösung erfordert, nicht die in den je konkreten Lösungsvorschlägen ausgebildeten Deutungsmuster und Habitus;13 diese können verschieden sein, bilden sich aber alle in Auseinandersetzung mit dem entsprechenden Handlungsproblem. Dieses seinerseits konstituiert sich als Relation zwischen den spezifischen äußeren Bedingungen14 der Lebensführung und der spezifischen Entwicklungsaufgabe der Adoleszenz. An dieser Stelle führt Mannheim nun seine dritte Kategorie, die der Generationseinheit, ein: „Dieselbe Jugend, die an derselben historisch-aktuellen Problematik orientiert ist, lebt in einem ,Generationszusammenhang', diejenigen Gruppen, die innerhalb desselben Generationszusammenhanges in jeweils verschiedener Weise diese Erlebnisse verarbeiten, bilden jeweils verschiedene ,Generationseinheiten' im Rahmen desselben Generationszusammenhanges" (a. a. O.: 544). Aus den verschiedenen, sich auch in der Bearbeitung später auftauchender
Wenn Helmut Fend von „der Verschränkung von Lebensbedingungen und generationalen Bewältigungsstilen" (1988: 25) spricht, scheint zunächst eine ähnliche Konzeption zugrundezuliegen. Allerdings bleibt die Begrifflichkeit analytisch hinter dem Krisenmodell zurück, demgemäß historisch spezifische Lebensbedingungen mit „ontogenetisch universellen Krisen" (Oevermann 2001a: 80) sich verschränken, worauf hin sich spezifische Habitus und Deutungsmuster ausbilden. - Zur Unangemessenheit des Terminus .Bewältigung' vgl. Fn. 16. 13
14 Auf die äußeren Bedingungen reduziert Fend die „Generationslage", wenn er etwa für die Geschichte der Bundesrepublik folgende benennt: „Kriegs- und Nachkriegszeit" (für die Geburtskohorte 1920-35), „Wirtschaftswunder" (für die Geburtskohorte 1935-55), „Ölschock, Rüstung, Umweltproblemarik, Arbeitslosigkeit" (für die Geburtskohorte 1955-65) und „Tendenzwende, Wohlstand und Armut" (für die Geburtskohorte 1965-75) (Fend 1988: 183)
3.2 Gehaltene Diskrepanz • 95 Handlungsprobleme durchhaltenden Deutungsmustern und Habitus muss also eine Problemkonstellation rekonstruierbar sein, die die Generation als Generation konstituiert — bei aller inhaltlichen Verschiedenheit der den verschiedenen Generationseinheiten zugehörigen Lösungen. Im Zusammenhang der Frage der sozialen Bedeutung des Phänomens der Generationen ist Mannheims Begriff der Erfahrungsschichtung (a. a. O.) zentral. Vorgängige Erfahrung bildet das Muster, gemäß dem eine neue Situation, ein neues Handlungsproblem deutend konstituiert und gemäß dem dessen Lösung in A n griff genommen wird, woraus neue Erfahrung sich bildet. Dass hierbei stets Assimilation des Neuen an die in der ErfahrungsSchichtung gebildeten Deutungs- und Handlungsmuster einhergeht mit der Akkomodation dieser Muster an die neue Wirklichkeit, in welchem Prozess die Realität der handelnden Instanz emergiert, lässt sich — worauf hier nur verwiesen sei — mit der genetischen Erkenntnistheorie Piagets (vgl. Piaget 1 9 7 5 a, b, c) und ihrer soziologischen Ausdeutung (vgl. Miller 1 9 8 6 : 2 8 0 - 3 2 0 , Oevermann 1 9 7 6 , 2000c) genauer fassen. V o r diesem Hintergrund wird deutlich, dass die in der spezifischen, identitätskonstitutiven Krise der Adoleszenz 1 5 sich herausbildenden Deutungsmuster und Habitusformationen eine Generationsgestalt generieren, die sich in den Angehörigen der Generation solcherart realisiert, dass sie für sie spezifische Handlungsoptionen qua Optionen überhaupt erst eröffnet, andere hingegen verschließt. Dass jemand spezifische Optionen nicht, spezifische andere hingegen sehr wohl realisiert ist u. a. Ausdruck seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation. 1 6 Eine Bestimmung der Gestalt der Generation, der ein zu analysierender Fall
„Die zentrale psychologische Frage der Jugend ist die Bildung der Ich-Identität." (Bohleber 1996: 13) Für knappe und prägnante Ausführungen hierzu vgl. Garlichs/Leuzinger-Bohleber 1999: 67-71; vgl. schon früh die Ausführungen zu den „developmental tasks" von Robert Havighurst (1953), der allerdings nicht zwischen identitätskonstitutiven „developmental tasks" - etwa: „But the seif is actually being formed in the experience of the child with these early developmental tasks." (a. a. O.: 18) - und solchen Aufgaben, die fallspezifischen Charakters sind (vgl. auch Loer 2007b). 15
16 Der Begriff der Einflussstruktur, wie er in der vorliegenden Studie entfaltet wird (vgl. auch Loer 2006d), trifft insofern auch auf Generationen zu: Generationen haben eine Fallstruktur, ohne dass sie eine Handlungsmitte ausgebildet hätten. — Fend spricht anschaulich von „zentralen Lebensfuhrungskulturen" (1988: 17), bestimmt aber den Kulturbegriff nicht angemessen als Struktur im Sinne eines generativen Sets von Regeln. Fends Rede von „Mustern der Lebensbewältigung" (a. a. O.: 24) haftet demgegenüber ein sozialpädagogischer Bias an. Das Konzept der Lebensbewältigung ist ein ,sozialpädagogisches Konstrukt' (Böhnisch 1994: 169), das an Fällen von „Menschen in sozial desintegrativen Situationen dissozialen Verhaltens und sozialer Ausgrenzung, die sich aus eigener Hilfe nicht mehr in die Gesellschaft einfügen können", gebildet wurde (Böhnisch 1997: 26). ,Leben' ist für die Gattung Mensch primär in der Lösung von Krisen durch Entscheidungen konstituiert (animal decernens, vgl. S. 32-35). Aus dieser konstitutionstheoretischen Grundlegung folgt, dass das Lösen von Krisen durch Entscheidungen die Grundform der Lebensführung ist. ,Lebensbewältigung' ist demgegenüber an manifeste, das Leben als ganzes betreffende Krisen gebunden, zu deren Lösung (bereits bestimmte) Aufgaben bewältigt werden müssen. Lebensbewältigung zum
96 • 3 Fälle der Region
angehört, ist also wesentliche Aufgabe der Fallstrukturrekonstruktion. Indem die Generationsgestalt vorab bestimmt wird, kann die Fallstruktur umso deutlicher in ihrer, diesen Fall auch von anderen der gleichen Generation unterscheidenden Spezifik herausgearbeitet werden.17
Generationen in der Bundesrepublik - eine Skizze 18 Um 1920-25
(Wiederaufbaugeneration)
Die Angehörigen dieser Generation haben in ihrer Kindheit zunächst zwar die Konsolidierung, dann aber die Weltwirtschaftskrise, den Zerfall der Republik und das damit verbundene Elend erlebt, sind als Jugendliche vollständig in die nationalsozialistischen Organisationen eingebunden und tragen die volle Last des Krieges wie sie auch den Kern der Wiederaufbaugeneration stellen. Entpoütisierung und Wendung des Strebens auf privaten Wohlstand gehen damit einher. Dass ein verlorener und sich als moralisch nicht legitimierbar herausstellender Krieg von ihnen getragen wurde, beschädigt sie in ihrer Identität: Sie müssen mit einer biographischen Vergangenheit leben, die sich der Möglichkeit der retrospektiven Begründung vollzogener Entscheidungen entzieht. Die daraus resultierende kognitive Dissonanz (vgl. S. 152ff.) kann durch Vermeidung der Thematisierung der Vergangenheit und Konzentration auf Leistungen in der Gegenwart vermindert werden.19 Bezogen auf ihre Kinder wird nach den Enttäuschungen, die sie durchlebt haben, für die Angehörigen dieser Generation die Maxime: „unsere Kinder sollen es einmal besser haben"20 kennzeichnend.
Grundmodell der Lebensführung zu machen, hieße, Lebensführung als bestimmte Aufgabe zu begreifen, die zu bewältigen ist. Dies widerspricht der strukturellen Offenheit von Leben. 17
Vgl. die treffenden Bemerkungen von Hans Paul Bahrdt 1982: 9f.
Mit der knappen Skizzierung der Generationsgestalten der Bundesrepublik wird nicht der Anspruch auf eine typologische Geschichte der Generationen erhoben. Vielmehr dient sie zur Vereinfachung der Bestimmung der Konstellation, in der der jeweils zu analysierende Fall sich je befindet. Insofern werden die Bestimmungen hier auf die Fälle hin fokussiert vorgenommen; sie sind somit auch eingeschränkt auf die Fragen (und auf diejenigen Kohorten), die für diese Fälle relevant sind. 18
19 Auch nachträgliche forcierte Rechtfertigung der NS-Zeit unter Absehen von den Verbrechen (Stichwort: Autobahnen) dient Teilen dieser Generation zur Reduktion der kognitiven Dissonanz.
Dafür, dass dies auch in proletarischen Schichten gilt, bei denen nicht von Immobilienbesitz auszugehen ist, vgl. Josef Mooser: „Der traditionelle Topos der Erziehung: daß die »Kinder es besser haben sollen« wurde gerade von der Frau bzw. Mutter, die »konservativ« auf ihre Familienrolle fixiert war [...], nicht in Resignation, sondern in einer Optimierungsstrategie umgesetzt." (1984: 157f.) 20
3.2 Gehaltene Diskrepanz • 97
Um 1930
(Zwischengeneration)
Die Generation der um 1930 Geborenen befindet sich in einer spe2ifischen Situation be2Üglich ihres Umgangs mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Politisch-moralisch nicht verantwortlich für die Zeit ist sie dennoch objektiv vor das Problem der Schuld gestellt, da ihre — wie auch immer glücklichen — Jugenderfahrungen in die Zeit des Verbrechens fallen. Die Spannung von Gnade und Fluch, in der diese Generation leben muss, führt hier zur Vermeidung von lebendiger Erfahrung, die auch stets ein Anknüpfen an tabuierte Erinnerungen bedeuten würde.21 1935-1945
(Schweigende
Generation)
Die „Generation der um 1940 Geborenen" nennt Ulrich Oevermann die „schweigende [...], weil sie über das, wodurch sie im Unterschied zu den sie umgebenden Generationen geprägt wurde: die kriegsbedingte flächendeckende Väter-Abwesenheit während der entscheidenden frühen Kindheit als Quelle von Traumatisierung, und entsprechend über Gefühle nicht reden kann, denn das Trauma gilt für alle gleichermaßen, ist insofern also Normalität. Bei ca. einem Drittel dieser Generation kommt hinzu, dass die Väter auch nicht mehr zurückgekehrt sind, so dass deren Arbeitskraft zur Erlangung eines vererbbaren Vermögens in der Nachkriegszeit ersatzlos ausfiel" (Oevermann 2001a: 123f.).22 1945-1955
('68er-Generation)
Zuerst bei den 1945 Geborenen, den späteren ,,'68ern" trat das Phänomen auf, das, wie bereits erwähnt, Ulrich Oevermann die ,Verschweizerung' nannte,23 „in der in großem Umfang der von den Eltern erarbeitete Wohlstand geerbt wird" (Oevermann 2001a: 123), gekennzeichnet ist. Das „Verschweizerungssyndrom" hat erhebliche Konsequenzen für die Wahrnehmung der zukünftigen Lebenschancen. Den Kern bildet die im Familieneigentum, häufig als Immobilie, ge-
Vgl. Loer 1999, wo exemplarisch an einem Fall diese Problematik am Beispiel lebensgeschichtlicher Erinnerungen rekonstruiert und im Verfahren der Strukturgeneralisierung die Problematik der Generation sowie ein — eine Generationseinheit stiftender - Lösungsversuch herausgearbeitet wird. 21
Zugleich hält Helmut Fend für diese Generation fest: „Diese Phase war von einer ungebrochenen Freude an gestiegenen Konsummöglichkeiten, von einer ungebrochenen Freude an einem neuen Kühlschrank, an einem Auto geprägt. Die heranwachsende Generation konnte sich problemlos mit diesem »Normalentwurf« von Leistung und Konsum identifizieren." (Fend 1988: 208) - Eintritt in Sekundarstufe 1945-1955; nach Helmut Fend (1988: 135) gilt für NRW: Anteil Gymnasium männlich 1952: 13%, 1955: 16,5%; weiblich 1952: 10,3%, 1955: 13%. 22
„Phase der großen Prosperität und der besten Berufschancen" (Fend 1988: 78). - Eintritt in Sekundarstufe 1955-1965; nach Helmut Fend (1988: 135) gilt für NRW: Anteil Gymnasium männlich 1955: 16,5%, 1965: 16,5%; weiblich 1955: 13%, 1965: 13%. 23
98 • 3 Fälle der Region
ronnene Lebensleistung der Eltern und eventuell der Großeltern. Die Kohorte der Eltern der um 1945 Geborenen — die um 1925 Geborenen — bildete, wie gesehen, den Kern der Wiederaufbaugeneration. Die Lage der ,Verschweizerung' betrifft verschiedene Generationen bis etwa zu den 1975 Geborenen. Hier ist auf eine interessante Bifurkation im Generationenkonflikt aufmerksam zu machen, was den Umgang der Elterngeneration mit Protesterscheinungen (z.B. lange Haare der Jungen; Minirock der Mädchen) angeht: Handelt es sich (a) um einen souveränen Umgang durch Deutung derselben als Form des Generationenkonflikts, so ist zu erwarten, dass die notwendige Eroberung der Autonomiespielräume unaufgeregt begleitet wurde, ja anerkennend Unterstützung erfuhr. Handelt es sich (b) um einen agressiv-abwehrenden Umgang damit, so ist eine deautonomisierende Wirkung zu erwarten, die in einer Forcierung des Protests und einer sich verselbstständigenden wechselseitigen Überbietung mündet.24 Diese Deutung ist in der Lage, die Zweiseitigkeit des Prozesses wieder ins Licht zu rücken, nachdem es seit geraumer Zeit en vogue ist, die Problematik der sogenannten ,68er'-Generation einseitig auf deren unrealistische Weltdeutungen zurückzuführen. Ein unaufgeregter öffentlicher Umgang mit dem Aufbegehren der Generation hätte einen anderen Verlauf ermöglicht; warum diese Chance ihrerseits nicht ergriffen wurde, kann hier nicht analysiert werden. Allerdings sei bemerkt, dass davon auszugehen ist, dass das Fehlen der Anerkennung der Rebellen in der Kritik an ihrer Rebellion, das seinen Ursprung in der zeitgeschichtlich begründeten Verunsicherung hatte (vgl. Loer 1999), ein wesentliches Moment des Phänomens ,'68' darstellen dürfte. 1955-1965 (Sinnkrisengeneration) Auch die Kohorte der um 1960 Geborenen 25 gehört noch zu denjenigen, deren Lage durch das ,Verschweizerungssyndrom' gekennzeichnet ist. Jürgen Zinnecker nennt sie „Kinder des Wachstums" (Zinnecker 1982: 80). Zugleich aber wurde diese Kohorte zur Zeit ihrer Adoleszenz mit den „Grenzen des Wachstums" (Meadows et al. 1972) konfrontiert, was die Identitätsfindung — zumindest in dem Bewährungsfeld des Berufs — erheblich erschwerte. Die hohen Aspirationen durch hohe Bildungsabschlüsse, die zum Leitbild werden, werden massiv
Eine Anekdote mag dies beleuchten: Der Sohn eines Kleingewerbetreibenden, geb. 1953, trug in den späten 60er Jahren sein Haar sehr lang und wurde von einem erwachsenen Verwandten eben deswegen beschimpft (Typ b). Seine anwesende Mutter verteidigte ihn mit dem Hinweis, auch Jesus habe lange Haare gehabt (Typ a). 24
25 Eintritt in Sekundarstufe 1965-1975; nach Helmut Fend (1988: 135) gilt für NRW: Anteil Gymnasium männlich 1965: 16,5%, 1975: 23,5%; weiblich 1965: 13%, 1975: 24%.
3.2 Gehaltene Diskrepanz • 99
irritiert.26 Als sie in den Arbeitsmarkt eintreten, ist dieser von steigender Arbeitslosigkeit, insbesondere auch von steigender Jugendarbeitslosigkeit geprägt. Die „Sinnkrisengeneration" (Oevermann) ist die erste Generation für welche ein relativ zu früheren Generationen erleichterter Erwerb von Zertifikaten höherer Bildung mit der erhöhten Schwierigkeit, eine dem Bildungsgrad entsprechende Stellung am Arbeitsmarkt zu finden, zusammenfällt. Von da ab muss für alle nachfolgenden Generationen davon ausgegangen werden, dass das Moratorium, das zwischen dem Beginn der Adoleszenzkrise und dem in ihrer Lösung entspringenden Erwachsensein liegt und das eben der Lösung dient, im Prinzip unabgeschlossen bleibt - ein Aufschub, der tendenziell eine Stillstellung der Bewährungsdynamik bedeutet. Der mit dem Jahr 1965 einsetzende Enttraditionalisierungsschub ist in Bezug auf diese Generation ebenfalls in Betracht zu ziehen. Da die als Phase der „Rekonstruktion" zu bezeichnende (vgl. Abelshauser 1983: 91-98), durch die spezifischen Bedingungen der Nachkriegszeit ebenso wie die Auswirkungen des durch den Korea-Krieg ausgelösten Booms bedingte ökonomische Sonderentwicklung 1965 (vgl. a. a. O.: 13-84) zu Ende ging (vgl. a. a. O.: 98-101), kehrte Deutschland in die Reihe der normalen Volkswirtschaften zurück.27 Dies ging damit einher, dass die deutsche Volkswirtschaft, ähnlich wie die westlichen Demokratien, vor Absatzproblemen stand; die Rezession von 1966/67 war Ausdruck hiervon. Diese konnten nur durch die Ausweitung der Konsumentenbedürfnisse und die Steigerung der Massenkaufkraft gelöst werden. Die damit verbundene Selbstverständlichkeit von Wohlstand bedeutet insofern eine Enttraditionalisierung, als sie die u. a. von Knappheit geprägten traditionalen Habitusformationen und Deutungsmuster obsolet machte. In Verbindung damit ist die „Sinnkrisengeneration" die letzte Generation, die das ,,'68er"-Deutungsmuster: die stete Möglichkeit der rationalen Begründung von Zwecken und die damit verbunden für realisierbar gehaltene Utopie eines traumatisierungsfreien Lebens, identifikatorisch übernommen hat. Ausschlaggebend für die Konstellation dieser Generation ist, dass sie das Scheitern dieser technokratischen Illusion am eigenen Leib erfahren hat, was die fundamentale Sinnkrise auslöste. Insofern war sie rein subjektiv wieder zur Freiheit verdammt: 26 „Konnte man sich in den frühen siebziger Jahren auf der Gewißheit ausruhen, daß der Wohlstand auf Dauer zu sichern sei, so ist die Phase ab den frühen achtziger Jahren auch in diesem Bereich von einem Gewißheitsschwund gekennzeichnet." (Fend 1988: 86; Kursivierung i. Orig.) Dieser „Gewißheitsschwund" ist durchaus schon früher anzusetzen. Symptomatisch mag die Gründung einer Pop- und Kabarett-Gruppe unter dem Namen „Erste Allgmeine Verunsicherung" 1978 in Österreich gelten, deren erster größerer musikalischer Erfolg nicht zufällig der Titel „Ba-, Ba-, Banküberfall" war. (Brockhaus 2001) - Vgl. auch Sinus 1983: Die verunsicherte Generation.
Abelshauser schreibt über die Bundesrepublik im Jahre 1966/67: „Am Ende der Rekonstruktionsperiode war sie eine Industrienation wie (fast) jede andere geworden." (a. a. O.: 111)
27
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die erste Nachkriegsgeneration, für die die Zukunft wieder offen, und also von ihr selbst zu füllen war. 28 1965-1975 (Durchblickergeneration) Die letzte der von dem ,Verschweizerungssyndrom' betroffenen Kohorten bilden die im Jahrzeht von 1965 bis 1975 Geborenen. Für diese Geburtskohorte gewinnt die Normalität des Nationalstaats, die sich mit dem Beitritt der DDR zum Geltungsgebiet des Grundgesetzes der Bundesrepublik herstellt, dominante Bedeutung. Die Angehörigen dieser Kohorte nun werden beruflich in der auf die schwere Rezession von 1982 folgenden Phase eines enormen, vereinigungsbedingt im Prinzip bis 1992 andauernden hohen Wirtschaftswachstums sozialisiert. In einer Phase also, die zusammen mit der schon lange absehbaren, aber ab Mitte der 70er Jahre massiv auftretenden strukturellen Arbeitslosigkeit den Effekt hatte, dass einerseits die im Gefolge der Rezession auftretende hohe Arbeitslosigkeit nicht abgebaut werden konnte 29 und dass sich parallel dazu in der Privatwirtschaft eine enorme Nachfrage nach ökonomisch, technisch und ästhetisch qualifizierten Schul- und Hochschulabgängern entfaltete. Diese Nachfrage einerseits, der sehr hohe Abiturientenanteil in diesen Jahrgängen andererseits, die hier zusammenfielen, bewirkten für weite Teile der Generation gesteigerte Karriereaspirationen. In Nordrhein-Westfalen lag der Abiturientenanteil 1985 bei ca. 40%; die Erlangung des Abiturs war auf der Ebene der generationsspezifischen Aspirationen der dominante Bezugspunkt. — Gleichzeitig bildeten die Angehörigen dieser Kohorte die erste Generation, welche gegenüber dem ,,'68er"Deutungsmuster wirklich indifferent waren. Indikatorisch hierfür ist die in dieser Generation beginnende gelassene Ironisierung der ,,'68er"-Lehrer als „MüsliLehrer". Die identifikatorisch übernommene Karriereorientierung hatte die Ausprägung einer spezifischen Habitusformation zur Folge: Die Prätention hoher Urteilskompetenz bezüglich komplexer Sachverhalte, wurde in dieser Generation zu einem durchgängigen Verhaltenszug, weshalb sie als „Durchblicker" (Oevermann gekennzeichnet werden können: Man gab sich so — und verstand sich selbst auch so —, als ob man schon über alles Bescheid wisse. Darüber hinaus waren diese Jahrgänge die ersten, die eine Art individuelles Marketing betrieben, d. h. ihre Biographiegestaltung an Karrieregesichtspunkten ausrichtete. 30 Die Die Offenheit der Zukunft ist in den Slogans dieser Generation „no future" und „Null Bock" negativ verkörpert. 28
Helmut Fend bemerkt, dass die Angehörigen dieser Kohorte „in ihrer Jugend eine schwierige Phase der Eingliederung in das Beschäftigungssystem erleben" (1988: 78). 29
30 Mit der Haltung des „Durchblickertums" wurde auch eine Erfahrung verarbeitet, die Pierre Bourdieu von der ,geprellten Generation' sprechen lässt (Bourdieu 1982: 241-248): Mit den im Bildungsbereich durch Bemühungen um Chancengleichheit eröffneten Möglichkeiten der höheren Bildung auch für diejenigen, die aus vormals bildungsfernen Schichten stammten, ging eine Entwertung der Bildungstitel für die früher damit verbundenen beruflichen Positionen einher. Die Durchblicker blickten tendenziell auch in die Röhre.
3.2 Gehaltene Diskrepanz • 101 Hauptschule war in dieser Zeit schon zur „Restschule" verkommen. Hauptschüler haben folglich zumindest negativ an diesem „Durchblickertum" teil: Wo es eben möglich ist, verschweigen sie ihren Schulabschluss wie einen Ausweis des Nicht-Wissens - oder externalisieren die Gründe für ihren Besuch der Hauptschule. - Ende des Exkurses.
Zieht man nun die Bestimmung der „Sinnkrisengeneration" heran, so zeigt sich, dass hier für Markus Schreiber eine widersprüchliche Konstellation vorläge: Herkunftsort und Milieu sprächen für eine geringe Individuierung, u. a. wegen des fehlenden bzw. verkürzten Moratoriums, die Generation hingegen spräche für ein verlängertes Moratorium. Man sieht, dass die Generationsbestimmung alle drei Mannheimschen Kategorien: Generationslagerung, Generationszusammenhang und Generationseinheit in Anschlag bringen muss (vgl. Mannheim 1929; Loer 1999). Dass auch in dem Milieu Schreibers und in seinem Herkunftsort die zur gleichen Generationslagerung gehörende Kohorte sich dem Generationszuammenhang nicht entziehen kann, dass also die Möglichkeit höherer Bildung bei gleichzeitiger Nichterfüllung der damit verbundenen Hoffnungen für die Generationsangehörigen generell einen Bezugspunkt bildete, zu dem sie sich — auf die eine oder andere Weise — verhalten mussten, steht außer Frage. Aber in welcher Weise sie dies tun und ob sich dabei eine spezifische Generationseinheit ausbildet, bleibt zunächst offen. Die hinsichtlich der Prägung einer generationenspezifischen Habitusformation bedeutsamste ontogenetische Phase ist die Adoleszenzkrise (vgl. Oevermann 2001a: 107f.), deren Beginn bei männlichen Jugendlichen im Alter von etwa 14 Jahren anzusetzen ist. Markus Schreiber kann insofern nicht eindeutig zu den „Durchblickern" gerechnet werden: seine Enkulturation in die Erwachsenenrolle beginnt 1981. Seine Prägung findet also nicht vollständig in der Zeit der Hochkonjunktur statt, wie dies für die ab 1970 Geborenen vollgültig zutrifft. Wie bereits angedeutet muss analytisch klar zwischen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Geburtskohorte und damit zu einer, möglicherweise mehrere Kohorten umfassenden, „Generationslagerung", und der Zugehörigkeit zu einem „Generationszusammenhang" und schließlich der Ausbildung einer „Generationseinheit" unterschieden werden. Während es sich bei ersterer um die „bloße Präsenz in einer bestimmten historisch-sozialen Einheit" handelt (Mannheim 1929: 542), ist der Generationszusammenhang darüber hinaus bedeutsam, da er eine bestimmte soziale Verortung kennzeichnet, in welcher man in den für eine Kohorte typischen „Zeitgeist" sozialisiert wird. Die verschiedenen Generationseinheiten schließlich sind gekennzeichnet durch unterschiedliche Antworten auf das generationenspezifische Handlungs- und Deutungsproblem, das den Generationszusammenhang stiftet.
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In welchem Maße die Generationszugehörigkeit für die Biographie von Markus Schreiber eine Rolle spielt und in welcher Form, ist anhand von weiteren aussagekräftigen objektiven Daten zu rekonstruieren. Sonderschulabschluss 1984 Der Schulabschluss ist aufgrund seiner entscheidenden Bedeutung für die Lebenschancen eines Individuums wie für seine Selbsttypisierung sehr aussagekräftig. — Gemäß der Sparsamkeitsregel 31 wird zunächst die günstigste Lesart dieses Datums gewählt. Die Ausbildung der kognitiven Strukturen ist im Durchschnitt erst im Alter von dreizehn Jahren zu einer relativen Reife gelangt (vgl. Seiler 2001, Edelmann 1996). Das bedeutet, dass die Förderung der Intelligenzentwicklung in den davor liegenden Lebensjahren im Prinzip möglich ist. Wenn man — ebenfalls aus Gründen der Sparsamkeit — zunächst davon ausgeht, dass Markus Schreiber nicht unter angeborener „schwacher Intelligenz" leidet, so ist anzunehmen, dass diese Förderung bei ihm unterblieben ist. Die Aufgabe einer solchen Förderung hat in unserer Gesellschaft die Schule. Dass sie im Falle Schreibers dieser Aufgabe nicht nachgekommen ist, kann auf die Problematik des Lehrerberufs zurückgeführt werden. Dieser ist professionalisierungsbedürftig, aber nicht professionalisiert. Es ist folglich wahrscheinlich, dass die Überstellung auf die Sonderschule weniger einer Intelligenzschwäche als dem allgemeinen Phänomen zuzuschreiben ist, dass Lehrer, von problematischen Schülern überfordert, dazu neigen, sie an die Sonderpädagogik zu delegieren (vgl. Oevermann 1996b: 151, 2002: 51). Hätte Markus Schreiber die Förderung in der Familie erfahren können, wäre er also z. B. in einem Elternhaus mit höherer Bildung aufgewachsen, wäre er, so darf vermutet werden, auf der Regelschule verblieben. 32 - Beziehen wir das Datum auf die Frage der Generationseinbettung, so ist klar, dass Markus Schreiber nicht als „Durchblicker" gelten kann; gleichwohl gehört er dem Generationszusammenhang an, indem er aus ihm herausfällt. Er
Die Sparsamkeitsregel der objektiven Hermeneutik - gleichsam Ockham's razor für die interpretativen Wissenschaften - besagt, dass im Falle von strittigen Lesarten bei der Bedeutungsrekonstruktion diejenige Interpretation Vorrang hat, die mit den wenigsten fallspezifischen Zusatzannahmen auskommt. Dies sichert die Interpreten davor, fälschlicher und unnötiger Weise eine Pathologie zu unterstellen. 31
Für unseren Zusammenhang der Region ist die Feststellung aufschlussreich, die Friedrich Landwehrmann 1980 trifft: „Der Anteil der Schüler an allen Schülern allgemeinbildender Schulen, der Sonderschulen für Lernbehinderte besucht, ist im Ruhrgebiet mit 4,6% am höchsten. Er liegt mit 2 1 % über dem nächstfolgenden Ballungsraum Hannover mit 3,8%." (55) Da eine regional ungleiche Verteilung der Intelligenz unter dem Nachwuchs keine plausible Annahme ist, muss eine Bildungsferne oder gar -feindschaft diagnostiziert werden, die in einem Interview, das Stefan Heckel im Ruhrgebiet geführt hat, vom Interviewee in einer Äußerung über die schulischen Ambitionen bezüglich seines Sohnes wie folgt zum Ausdruck kam: „watt soll er denn lernen, er geht doch eh auf n Pütt" (mündliche Auskunft Stefan Heckel). 32
3.2 Gehaltene Diskrepanz • 103
bleibt negativ auf den generationsspezifischen Zeitgeist bezogen, was für ihn eine Erhöhung der Stigmatisierung bedeutet. Der Berufseinstieg über eine Lehre in einem anerkannten Ausbildungsberuf stellt sich als das primäre Problem für Sonderschüler dar. Der Generationszusammenhang erschwert dies noch. Zwar war dies stets, auch in der vorangegangenen Generation, schwierig, prinzipiell aber möglich. Nun, da mit dem Drang auf die höheren weiterführenden Schulen bereits die Hauptschule zur Schule für Problemfälle degenerierte, war es schon für ihre Absolventen sehr schwierig, in den für sie vorgesehenen Berufsfeldern unterzukommen. Für einen Sonderschüler dürfte es, obwohl die Konjunktur ab 1984 enorm anzog, erst recht schwierig, ja geradezu unmöglich gewesen sein, einen Ausbildungsplatz zu finden. Seine berufliche Zukunft sah insofern düster aus, als er auf Tätigkeiten als Hilfsarbeiter angewiesen war und gerade diese mit zunehmendem Rationalisierungsgrad der Industrie immer weniger benötigt werden. Von der Soziallage her gerät er damit in einen Bereich, der im Bild von der 2/3Gesellschaft im unteren Drittel liegt. Diese Bevölkerungsgruppe steht materiell mit dem Rücken zur Wand und bildet deshalb die Klientel der sozialen Wohlfahrt (vgl. von Harrach/Loer/Schmidtke 2000). Das wirklich Problematische ist hierbei jedoch nicht der geringe Lebensstandard. Während diese Personen früher in geschlossenen dörflichen bzw. nachbarschaftlichen Milieus integriert waren und in einer Art selbstverständlicher Solidarität .mitliefen' werden sie gerade durch den Bezug wohlfahrtsstaatlicher Leistungen als abweichend typisiert und damit stigmatisiert (a. a. O.: 83f.). Die so erzeugte soziale Marginalität erhöht die Wahrscheinlichkeit für Gewalt- und Eigentumskriminalität. Vor dem Hintergrund dieser Interpretation muss nun die weitere Analyse des vorliegenden Falles erfolgen. Vater: geboren im April 1926 in Hörde
Für Geburtsort und Milieu von Markus' Vater gilt das oben Ausgeführte in gesteigertem Maße. Auffallig ist, dass er zum Zeitpunkt von Markus' Geburt schon 40 Jahre alt ist. Dies ist, selbst wenn man Kriegsteilnahme und Gefangenschaft annehmen kann, ungewöhnlich. Die strukturell wahrscheinlichste 33 Lesart ist, dass er schon einmal verheiratet war; das späte Kind wäre realer Ausweis 34 des Als strukturell wahrscheinlich' muss diejenige Lesart für eine Abweichung von zu unterstellenden Normalmodellen gelten, die mit den wenigsten fallspezifischen Zusatzannahmen auskommt. Es handelt sich insofern um einen Sonderfall der mit ,sparsam' bezeichneten Lesarten als damit eine Aussage über den Fall als Typus gemacht wird. - Strukturelle Wahrscheinlichkeit kann sich in statistischer Häufigkeit ausdrücken.
33
34 Hiermit soll ausgedrückt sein, dass es sich nicht lediglich um einen symbolischen Akt handelt, mit dem etwas ihm Vorausliegendes zum Ausdruck gebracht werden soll, sondern um einen symbolischen Akt, in dem das, was zum Ausdruck gebracht wird, sich zugleich vollzieht.
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Vollzugs der zweite Ehe. Für Markus Schreiber bedeutete dies, dass er einerseits auf in der Kindererziehung erfahrene Eltern trifft, die zugleich - als Ausweis ihrer Beziehung und als .Nesthäkchen' - ihm besondere Zuwendung zuteil werden lassen: Spielräume zur Entfaltung der eigenen Autonomie werden ihm damit ebenso gegeben sein wie gesicherte Möglichkeiten zur Ausbildung des Urvertrauens (vgl. Erikson 1961: 228-231): gute Startbedingungen für eine gelingende Individuierung. Schulbesuch des Vaters: Einschulung 1932 im Alter von fünf Jahren; Volksschulabschluss 1940 Dass Markus Schreibers Vater mit fünf Jahren eingeschult wurde, liegt wahrscheinlich daran, dass die Einschulung zu Ostern stattfand, er nach heutiger Terminologie also ein ,Kann-Kind' war. Der Vater ist zum Zeitpunkt der nationalsozialistischen Machtergreifung sieben Jahre alt. Er zählt zu einer Generation, die ihre ganze bewusst erinnerte Kindheit und ihre Jugend im „dritten Reich" verbrachten. Er gehört zu den letzten Jahrgängen, die noch zur Wehrmacht eingezogen wurden. Er absolviert die Mindestschulzeit, die acht Jahre betrug. 1941-1943 Schweißer bei Hoesch Dass Markus' Vater mit „ S c h w e i ß e r " einen Anlernberuf ergreift, passt zu dem oben zu den Tätigkeiten in der Stahlindustrie und im Bergbau Ausgeführten. Man kann durchaus vermuten, dass bereits Markus' Großvater bei Hoesch gearbeitet hat. Die Übernahme des väterlichen Berufes ist typisch für ein traditionales Milieu. 35 Da hier die Bewährung in der Realisierung der tradierten und übernommenen Konventionen, d. h. in diesem Fall: das Erlernen eines „ordentlichen" Berufs und frühzeitige Familiengründung, erfolgt, ist dies nicht erklärungsbedürftig. In einem modernen Milieu, in dem Bewährung sich in gesteigerter Individuierung ausdrückt, u. U. gerade durch die Abgrenzung vom väterlichen Weg, gälte dies tendenziell als Scheitern. Die Anerkennung der bewährten und sich bewährenden Lebenslaufmuster in der je besonderen (partikularen) Gemeinschaft (des Milieus) sichert hingegen hier die Evidenz der Bewährung (vgl. Oevermann 1995). Wer in einer traditionalen Gemeinschaft das Überkommene übernimmt, erfährt die Anerkennung als vollgültiges und würdiges Mitglied eben dieser Gemeinschaft, die sich auf diese Weise in ihrer Überkommenheit reproduziert. 1943-1945 Kriegsdienst; 1945-1950 Arbeit bei einem Bauern Von 1941 auf 1942 verdreifacht sich die Zahlen der Toten an der Ostfront um von diesem Niveau weiter anzusteigen (Ploetz 1991: 912). Die Steigerungsraten
35 Josef Mooser schreibt über „die Bedeutung der Familie für die Berufswahl" von „Berufsvererbung" und führt aus: Auch heute „erfolgt die Berufswahl [...] strukturell nicht viel anders als im 19. Jahrhundert »milieukonform« und wird am stärksten gesteuert durch die Familie und die durch sie vermittelten Grundfähigkeiten und Elemente des Selbstvertrauens." (Mooser 1984: 138)
3.2 Gehaltene Diskrepanz • 105
der Vermissten und Gefangenen sind noch gravierender. Dass Markus Schreibers Vater den Krieg ohne Gefangenschaft überlebte, obwohl er zum Kriegsdienst eingezogen wurde, als der Angriff der Alliierten an allen Fronten begonnen hatte, lässt auf einen pragmatischen Umgang mit Krisen schließen. Der Jahrgang, dem der Vater angehört, und die ihn umgebenden Jahrgänge zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Jugend vollständig von den historischen Ereignissen absorbiert wurde. Das Erwachsenwerden wurde gewissermaßen erzwungen, hinzu kamen im Krieg erfahrene schwere Traumatisierungen. 36 Dass Markus Schreibers Vater unmittelbar nach Kriegsende bei einem Bauern arbeitete, legt nahe, dass seine Eltern - möglicherweise bei einem der starken Bombardements, die der Ruhrgebietsindustrie galten — ums Leben gekommen sind. Er wurde mit 17 Jahren von seiner Herkunftsfamilie getrennt, es wäre also mit Sicherheit zu erwarten, dass er, als er mit 19 Jahren aus dem Krieg zurückkam, zu ihnen heimgekehrt wäre. Um in den schwierigen Zeiten seine Familie zu unterstützen, hätte er mit hoher Wahrscheinlichkeit seine Arbeit bei Hoesch wieder aufgenommen. 37 Die Arbeit bei Bauern kann nicht allein durch ein ökonomisches Kalkül motiviert sein, da Markus' Vater noch bis zwei Jahre nach der Währungsumstellung bei dem Bauern arbeitet. Neben Kost und Unterkunft wird er dort für einen erheblich geringeren Lohn als in der Industrie gearbeitet haben. Die Arbeit bei den Bauern muss als Traumatisierungsfolge gedeutet werden. Nachdem er, zurückgekehrt aus dem Krieg, feststellt, dass seine Eltern nicht mehr leben, substituiert er seine verlorene Herkunftsfamilie durch Einbettung in einen bäuerlichen Familienhaushalt. Es ist durchaus möglich, dass er dort die Stelle eines gefallenen Sohnes eingenommen hat. Markus Schreibers Vater ist, als er aus dem Krieg zurückkommt, 19 Jahre alt, also im heiratsfähigen Alter. Die Arbeit beim Bauern gegen Kost und Logis und ein geringes Gehalt wird für die Gründung einer Familie nicht hinreichend gewesen sein. So ist anzunehmen, dass er bis zum 24. Lebensjahr die familiale Einbettung — wenn auch in eine Ersatzfamilie — der Gründung einer eigenen Familie vorzog; er wird erst später geheiratet haben. Vor dem Hintergrund des damaligen Frauenüberschusses betrachtet ist auch diese Tatsache ein Beleg dafür, dass er die Erfahrung des Krieges und den Verlust der Eltern nur schwer verwinden konnte. — Der Vater hat also eine schwere Traumatisierung erlebt. Da solche Traumatisierungen für seine Altersgenossen die Regel waren, entstand eine Konstellation, in der Gefühle nicht mitteilbar waren: Wenn alle leiden ist die Klage über das eigene Leid unpassend. Man muss gerade bei Schreibers Vater, ,'Trauma' bzw. /Traumatisierung' verwenden wir hier nicht im engeren psychoanalytischen Sinne, sondern nahe an der Ursprungsbedeutung von gr. ,Wunde', .Verletzung', ,Schaden'. Damit ist eine Beschädigung des biographischen Verlaufs angesprochen, die die einzelne betroffene Person übergreift. 36
Von den ökonomischen Rahmenbedingungen her wäre dies insofern möglich gewesen, als die Zeit der Stagnation nach der Kapitulation nicht lange anhielt (vgl. Ploetz 1991: 1294). 37
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um der Vermeidung des Schmerzes willen, einen hohen Grad an emotionaler Verschwiegenheit vermuten. Diese Konstellation wird lebenspraktische Folgen für Partnerbeziehung und Kindererziehung gehabt haben: Eine lebendige Partnerschaft im Sinne der wechselseitigen Anerkennung als ganze Person und des Nicht-Ausschlusses von Teilen der beteiligten Biographien aus dem gemeinsamen Kommunikationsraum, sowie der Ausdruck zärtlicher und verständnisvoller Zuwendung zu den Kindern wird nicht uneingeschränkt möglich gewesen sein. — Für Markus Schreiber mindert das zumindest auf der Vaterseite das, was oben zu seiner Stellung als .Nesthäkchen' erfahrener Eltern ausgeführt wurde. Er wird im Gegenteil um die Anerkennung des Vater ringen müssen. Wie kann dies geschehen? 1950-1955 Arbeit in einer Zeche, ab 1955 bei Hoesch als Schweißer
Man muss annehmen, dass die schwere, zunächst besser bezahlte (vgl. Petzina 1990: 513) Arbeit in der Zeche als Basis der Familiengründung diente und dass Markus' Vater zu Hoesch, an seine alte Arbeitsstelle, wechselte, als sich die Familie eingerichtet hatte. 38 Damit verließ er den Bergbau noch vor dem Eintreten der Kohlekrise um 1957 und zu einem Zeitpunkt, als die Löhne in der eisenschaffenden Industrie die der Bergarbeiter um ca. 10 % überflügelt hatten (vgl. ebd.). Drei Töchter aus erster Ehe, Ehe geschieden, kein Kontakt
Ex-Frau und Töchtern
Wegen des Alters seines Vaters bei Markus' Geburt wurde bereits oben eine vorausgehende Ehe vermutet. Dass Schreibers Vater keinen Kontakt mehr zu seinen Töchtern hat zeigt, dass ein massives Zerwürfnis stattgefunden haben muss. Dies muss eine Steigerung der aufgrund der eindringlichen und anhaltenden Traumatisierung von Schreibers Vater bestehenden Schwierigkeiten sein. Wir vermuten 39 Folgendes: Der Vater wird weder zu seiner Frau noch zu seinen Töchter eine wirklich anerkennende Beziehung haben aufbauen können; dass diese sich genau deshalb enger zusammengeschlossen haben werden, wird diese Konstellation noch verstärkt haben; das Fehlen eines Stammhalters, der gerade in traditionalen Milieus eine bedeutende Rolle für die famiüale Bewährung spielt und der auch die Familiendynamik hätte entlasten können, tat ein übriges und
38
Auch gesundheitliche Probleme - eventuell aufgrund von Kriegsfolgen — könnten Auslöser hierfür gewesen sein. 39
Diese Operation des Vermutens, also die gedankenexperimentelle Lösung eines Erklärungsproblems, die bei der Interpretation der objektiven Daten einen festen und bedeutsamen Stellenwert hat, hat die Funktion, eine möglichst reichhaltige Strukturhypothese zu gewinnen, die, wenn sie scheitert, dies höchst informationshaltig tut; wenn sie sich bewährt, ergibt sie eine konturierte Ausgangsbasis für prägnante Schlussfolgerungen. Die Basis für die Vermutungen, die Ingredenzien des Gedankenexperiments sind Regelwissen und fallunspezifisches Kontextwissen, das sich aus den verschiedensten verfügbaren Quellen (Alltagswissen, Milieukenntnis, historisches Wissen, theoretisches Wissen etc.) speist.
3.2 Gehaltene Diskrepanz • 107 erlaubte es dem Ehemann subjektiv, der Ehefrau die Schwierigkeiten verantwortlich zuzuschreiben; er wird ihr gegenüber einen - objektiv ungerechtfertigten, subjektiv plausiblen — heimlichen Groll entwickelt haben. Diese Tendenzen haben diejenigen gegen die Eheverbindung wirkenden Kräfte, die aufgrund des geringeren Individuierungsgrades in Unterschichtmilieus bestehen, verstärkt: die relativ dominante Stellung der Frau in der Familie (vgl. Segalen 1997: 28), und die verstärkt der „Peergroup-Society" zuwandten Position des Vaters, 40 welche der „Familialisierung des Vaters" — hier nicht gattungsgeschichtlich gemeint (vgl. Oevermann 2003: 197-200), sondern konkret auf die Stellung dieses Vaters zur Familie bezogen — naturgemäß entgegenwirkt. Die wenig individuierte, „spracharme" Ehebeziehung in der Unterschicht (vgl. Oevermann 1968: 309-318) begünstigt Koalitionsbildungen zwischen einem Elternteil und Kindern gegen den anderen Elternteil. — Von folgender Konstellation können wir ausgehen: Während der Vater, auch aufgrund des fehlenden Sohnes, aus der Familie drängte, hat sich die erste Ehefrau von Markus' Vater mit den Töchtern aufgrund von deren enger Bindung gegen den Ehemann verbündet. Dies erfolgte auf der Basis einer Ehebeziehung, die, auch aufgrund der Lebensgeschichte des Vaters, nicht von wechselseitiger partnerschaftlicher Anerkennung geprägt war. 41 Mutter: 1939 geboren in Dortmund-Eichlinghofen, Volksschulabschluss, %wei Kinder aus erster Ehe, Tochter 1958, Sohn 1960 in Kirchhörde geboren, ab 1971 berufstätig als Kassiererin Markus Schreibers Mutter hat wahrscheinlich mit 18 Jahren das erste Mal geheiratet. Die Kinder sind in einem Altersabstand zur Welt gekommen, der als normal gelten kann. Das niedrige Heiratsalter deutet auf die Herkunft aus einem traditionalen Milieu hin. Man muss annehmen, dass die Ehe geschieden wurde, da Schreibers Vater sonst für insgesamt sechs Kinder aufkommen müsste. Da Markus schon 1966 zur Welt kommt, also nur sechs Jahre nach seinem Halbbruder aus erster Ehe, kann diese nur kurz gewährt haben. Markus' Mutter kann in erster Ehe allenfalls acht Jahre verheiratet gewesen sein. Das Scheitern der Ehe ist auffällig, da traditionale Eheverbindungen primär pragmatisch ausgerichtet, nur sehr wenig vom „Romantic Love-Komplex" moderner Beziehungen (vgl. Sieder 1997: 261, Linton 1936: 174f.) gekennzeichnet und relativ stabil sind. Vor diesem Hintergrund muss die erste Ehe von Markus' Mutter als Fehlgriff gedeutet werden, welcher möglicherweise darin gründete, dass unrealistische Aspirationen im Spiel waren. Der Geburtsort der Kinder, Kirchhörde, ein eher kleinbürgerlich geprägtes Viertel, deutet darauf hin, dass Schreibers Mutter zunächst versuchte, durch Heirat einen Statusaufstieg zu erreichen. Die daraus resultierenA. Levenstein hielt fest, dass auf die Frage „Finden sie ihr Vergnügen mehr in der Familie oder im Wirtshaus?" nur zwischen 30 und 45 % der befragten Arbeiter die Familie angaben (Levenstein 1912: 259, 270, 282). 40
Aufgrund der Traumatisierungsgeschichte und der familialen Randständigkeit von Schreibers Vater besteht eine Problematik die auch als begünstigende Konstellation für Alkoholismus angenommen werden kann. 41
108-3 Fälle der Region den Friktionen führten zu einem Scheitern. Man muss annehmen, dass sie klare Vorstellungen von einem gehobenen Status hatte, die, auch wenn sie sie nicht realisieren konnte, auch in ihrem weiteren Leben Bezugspunkt bleiben. Daraus resultieren zwei konfligierende Tatsachen: Einerseits kommt ein Leben als alleinerziehende Mutter schon wegen des Bezugspunktes für sie nicht in Frage: Sie muss eine rasche Wiederverheiratung anstreben. Andererseits kann sie ihre Aspirationen auf diesem Wege vermutlich nicht verwirklichen, da sie als Mutter zweier Kinder nicht unbedingt als attraktive Partie gelten kann. Allerdings ist sie mit ca. 26 Jahren zu dieser Zeit noch relativ jung, was ihre Heiratschancen wiederum erhöht. Der auffällige Altersabstand von 13 Jahren auf Markus' Vater passt zu dieser Konstellation: Für ihn war sie aufgrund ihres Alters trotz der beiden Kinder genügend attraktiv, für sie garantierte er ein relativ abgesichertes Leben, auch wenn sie ihren Aspirationen wiederum nicht gerecht werden kann. Das Ehemotiv ist pragmatisch-instrumentell. Markus Schreiber ist in Hörde geboren, seine Mutter ist also aus dem kleinbürgerlichen Kirchhörde in ein rein proletarisches Wohnquartier gezogen. Dies bedeute, dass sie für ihre Ehe — in der ehelichen Selbstthematisierung: für ihren Mann - , einen auch äußerlich sichtbaren sozialen Abstieg in Kauf genommen hat. Es ist anzunehmen, dass sie sich in ihrem Selbstbild als gesellschaftlich über ihrem Mann stehend verortet. Resümmierend kann gesagt werden, dass auch diese Beziehung nicht durch hohe wechselseitige Anerkennung gekennzeichnet sein wird. Dagegen spricht der hohe Altersabstand, das tendenziell instrumenteile Ehemotiv, die lebensweltliche Distanz zwischen den Eheleuten infolge der Status- und Altersdifferenz sowie die andauernde Traumatisierung des Vaters einerseits, die unerfüllten Aspirationen der Mutter andererseits. Weiterhin ist die Familienkonstellation 42 dadurch geprägt, dass Markus' Mutter zwei Kinder, die zum Zeitpunkt seiner Geburt sechs und acht Jahre alt sind, mit in die Ehe bringt. Diese Kinder haben eine Loyalitätsverpflichtung gegenüber ihrem leiblichen Vater und werden im familialen Kräftefeld auf der Seite der Mutter stehen. Dass aus der Familie eine lebendige, praktisch Einheit wird, ist wenig wahrscheinlich; sie wird tendenziell aus zwei Hälften bestehen. — Folgende Aspekte der gescheiterten Ehen der Eltern spielen für Markus' Geburt eine Rolle: Während die erste Ehe seines Vaters ein schweres Zerwürfnis vermuten lässt, ist seine Mutter an ihrer anspruchsvollen Partnerwahl gescheitert. Während sein Vater noch einen Sohn erwartet, ist bei seiner Mutter eher zu vermuten, dass sie das Kind als Preis für den Ehestand akzeptiert, aber nicht wirklich gewünscht
Der Begriff der Familienkonstellation ist wohl zuerst von Alfred Adler gebraucht worden (vgl. etwa 1929: 25; dort — S. 24f£ — ist auch die Relevanz der Geschwisterfolge thematisch).
42
3.2 Gehaltene Diskrepanz • 109
hat. Mit der Zeugung wird die Ehe mit einem Mann vollzogen, den die Mutter nicht vollgültig als Partner anerkennen kann. Man könnte meinen, dass auf Markus als dem realen Ausweis des Vollzugs der zweite Ehe (s. o.) nun die Last ruht, die zwei Hälften der Familie zusammenzubinden. Da aber die fehlende Anerkennung des Vaters durch die Mutter, seine Ablehnung als Partner, sich, wenn auch nur auf unscheinbare Weise, 43 auf ihn auswirken muss, ist es ist unwahrscheinlich, dass er mit besonders viel mütterlicher Zuwendung aufgewachsen ist. Obwohl der Vater sich sicher freut, einen Stammhalter zu haben, bleibt doch die allgemeine Annahme, von der mangelnden „Familialisierung des Vaters" und die spezifische Annahme, dass der Vater von Markus emotional schweigsam ist. So wird die Interaktion mit der Mutter sozialisatorisch, die aufgrund der genannten Konstellation aber nicht als ausgeprägt zuwendend gelten kann, dominieren. Entgegen der oben entwickelten Annahme (vgl. S. 104), dass Markus Schreiber gute Startbedingungen für eine gelingende Individuierung gegeben sind, muss vielmehr geradezu von einer Tendenz zur Unterversorgung ausgegangen werden, die durch die Anwesenheit der Kinder aus erster Ehe noch verstärkt wird. Seine Mutter wird sich besonders gegenüber Markus' Halbbruder verpflichtet fühlen, da dieser ohne seinen Vater aufwächst und sie sich zumindest einen Teil der Verantwortung für diese Situation zurechnen muss. Dies führt dazu, dass die Mutter zuerst auf ihre Kinder aus der ersten Ehe achten, dass Markus eher,mitlaufen' wird. Die Tatsache, dass Markus' Mutter ab 1971: Markus ist gerade vier, höchstens fünf Jahre alt, berufstätig wird, muss durch die Notwendigkeit eines Zuverdiensts in einer finanziell eher knappen Lage motiviert sein. Darauf deutet auch hin, dass Berufstätigkeit ursprünglich nicht zu Frau Schreibers Lebensentwurf gehörte. Die Berufstätigkeit stellt sowohl ein erneutes Scheitern in den Ambitionen als auch eine Reduktion der Kinderbetreuung dar. Die Einschränkung der mütterlichen Zuwendung durch die Berufstätigkeit und dadurch, dass er tendenziell für deren Notwendigkeit verantwortlich gemacht werden wird, bedeutet besonders in dem Alter, in dem Markus sich zu dem Zeitpunkt befindet, für ihn eine Traumatisierung. So muss alles in allem eine Mutter-Kind-Beziehung mit geringer affektiver Zuwendung angenommen werden. Die Chancen auf eine gelingende Individuierung sind für Markus Schreiber nicht sehr gut. Markus: Einschulung 1973 Im November 1966 geboren, ist Markus zum Einschulungstermin 1973 sechs Jahre alt. Er wird also mit vorgesehenem Alter eingeschult.
Gerade unscheinbare Traumatisierungen aber, die man als solche nicht bemerkt und gegen die man sich folglich nicht schützen kann, hinterlassen ihre langfristigen Spuren in der Subjektbildung.
43
110 3 Fälle der Region Zweimalige Wiederholung der ersten Klasse, Versetzung auf die Sonderschule wegen Legasthenie nach hegasthenikertest
Legasthenie, also Lese- und Rechtschreibschwäche (vgl. Hirschberg 1982), ist keine Sprachstörung sondern eine die Relation von Phonemen und Graphemen betreffende Störung. Es gelingt dem Legastheniker nicht, den lautlich realisierten Wörtern die richtigen Buchstabenfolgen zuzuordnen. Die Kompetenz zur regelgerechten Zuordnung von Lautzeichen zu Schriftgestalten ist je nach Schwere der Störung mehr oder minder eingeschränkt. Diese Kompetenz steht im Zusammenhang mit der Fähigkeit, Wörter als „Gestalten" wahrzunehmen. Es ist zu vermuten, dass diese Fähigkeit in einer zuwendungs- und damit zugleich auch spracharmen Mutter-Kind-Dyade nur rudimentär ausgebildet wird. Es ist strukturell unwahrscheinlich, dass ein Kind, mit welchem in der Phase des Spracherwerbs viel und unter Betonung der Lautkontur der Wörter gesprochen wird, legasthenisch wird. D a häufiges betontes Sprechen zum Modus der Zuwendung im Kleinkindalter gehört, würde die anhand der bisherigen objektiven Daten rekonstruierte zuwendungsarme Mutter-Kind-Dyade zur Legasthenie-Diagnose passen. Im Gegensatz zur Lernschwäche, einer mehr oder weniger stark ausgeprägten generellen Intelligenzschwäche, ist Legasthenie eine partielle Störung. Eine kognitive Beeinträchtigung ist hier die Ausnahme. Von daher ist die anhand des Datums „Sonderschulabschluss" gebildete These einer Fehlentscheidung (vgl. S. 102) beizubehalten. Bisher gibt es keine Daten, die dafür sprechen, dass Markus Schreiber einer kognitive Beeinträchtigung unterliegt. Die Tatsache, dass das Nichtbestehen des Legastheniker-Tests die Überstellung an die Sonderschule nach sich zieht, zeigt vor allem, dass nicht autonom konkret fallbezogen pädagogisch entschieden, sondern die Entscheidung der Verwaltung in Gestalt des Schulamtspsychologen überlassen wurde (vgl. Oevermann 1996b: 151, 2002: 51). Die Überstellung an die Sonderschule stellt einen tiefen Einschnitt in die Biographie dar; sie reproduziert den Mangel an Anerkennung als konkrete besondere Person. Da sie als durch die Autorität der Verwaltung abgesegnete pädagogische Maßnahme notwendig in das Selbstbild des Sonderschülers und seiner Eltern integriert wird, ist mit ihr eine folgenreiche Stigmatisierung verbunden. Die Maßnahme ist aufgrund des amtlichen Siegels faktisch nicht mehr korrigierbar. Der Sonderschüler weiß, ebenso wie seine Eltern, dass er jetzt bei den „Idioten" 4 4 gelandet ist. Diese Zuschreibung und Selbstzuschreibung hat als Stigmatisierung fatale negative Auswirkungen auf Neugierde und Anstrengungsbereitschaft, die wiederum Bedingung dafür sind, aus der Situation als Sonderschüler herauszukommen. Um von vornherein mit dem Label des Gescheiterten und somit mit der Prognose des Scheiterns versehene ehrgeizige Anstrengung jetzt
Diese Selbstzurechnung der Sonderschüler wird an den Bezeichnungen, die sie für ihre Schule parat haben, wie z. B. ,Brettergymnasium', ,Klötzchenaufbauschule' etc. deutlich.
44
3.2 Gehaltene Diskrepanz - 1 1 1
noch zu unternehmen, bedürfte es eines ausgeprägten Selbstbewusstsein; dass dies genau aber nicht vorliegt, ist Moment der rekonstruierten biographischen Konstellation. Die Einweisung in die Sonderschule hat so notwendig einen regressionsfördernden Effekt. Dies hat im Falle Markus Schreibers insbesondere die Folge, dass sein Vater, für den der Sohn als Stammhalter eine Projektionsfläche seines väterlichen Stolzes gewesen sein dürfte, eine große Enttäuschung erfährt. Der Sohn wird tendenziell zu einem Indikator des väterlichen Scheiterns; dies wird die Abwärtsspirale noch steigern: Auch in der Familie wird Markus als hilfsbedürftig stigmatisiert und so in seiner Autonomieentwicklung weiter gehemmt. Als ihn anerkennende Bezugsperson kommt allenfalls die 12 Jahre ältere Halbschwester (s. u.) in Betracht. - Entscheidend wird nun sein, inwieweit seine Umgebung ihn in einer alltagspraktischen Solidarität mit seiner — zugeschriebenen — Eigentümlichkeit (löioreo) anerkennt und seiner Stigmatisierung dadurch die Spitze nehmen kann. Ein Milieu mit einer starken Binnenkohäsion und einer starken Abgrenzung nach außen, in dem sowohl die nachbarschaftlichen wie auch die verwandtschaftlichen Bindungen stark integrierend wirken, könnte die Stigmatisierung bis zu einem gewissen Grad mildern. Ein Milieu, in dem hohe Individuierung und Autonomie die dominanten Identitätskonzepte sind, würde hingegen zwingend eine Transformation Schreibers zum Abweichler nach sich ziehen. 1984 Berufsvorbereitendes Jahr Dass Markus nach Abschluss der Sonderschule zunächst ein sogenanntes berufsvorbereitendens Jahr absolviert, zeigt, dass er auf dem Lehrstellenmarkt der 80er Jahre keine Chance hat. Jeder Entwurf des Erwachsenseins, der in der Adoleszenszphase ausgebildet werden muss, impliziert einen Entwurf der „Selbstverwirklichung in der zukünftigen Berufs- und Erwerbstätigkeit" (Oevermann 2001a: 112), minimal aber, so darf angenommen werden, die autonome Bestreitung des Lebensunterhaltes. Hiermit wird Schreiber als Sonderschüler Schwierigkeiten haben. Er ist also auch als Erwachsener auf die Hilfeleistung des Milieus angewiesen. Die Peergroup, die als Gemeinschaft in der Phase der Adoleszenz das Ausprobieren von Identitätsentwürfen absichert und beeinflusst, darf diese Abweichung45 nicht als grundsätzliches, Ausschluss begründendes Versagen sanktionieren. Da die Peergroup eine Vergemeinschaftung darstellt und folglich die ganze Person ihrer Angehörigen umschließt und sie insofern nicht auf Rollenträger mit beruflichem Erfolg reduziert, folgt aus einem Abweichen in dieser Beziehung
Es kann nicht angenommen werden, dass das Beibehalten der Abhängigkeit in der Peergroup als Normalmodell gilt - jedenfalls nicht, solange nicht lediglich eine internierte Peergroup von Sonderschülern zur Verfügung steht, was bei Markus Schreiber nicht der Fall war. 45
112 3 Fälle der Region
kein Ausschluss. Anders allerdings als in der bedingungslosen Gemeinschaft 46 der Familie muss hier die Abweichung durch in der Peergroup anerkannte Leistungen auf anderem Gebiet kompensiert werden. — Diese anerkannten Leistungen werden in jeweiligen Peergroups eine je spezifische Form haben. Die von Parsons für urbane Mittelschicht-Peergroups konstatierte kompulsive Konformität (ebd.) muss hier mit der Möglichkeit zur Toleranz gegenüber Abweichungen gekoppelt sein, die ihrerseits wiederum auf die anerkannten Leistungen verwiesen sein wird. Ein traditionales Milieu, in dem u. a. die Berufswahl mehr oder weniger vorgeprägt ist und die Anforderungen an den Beruf eher gering sind, wäre durchaus geeignet, das Stigma „Sonderschule" zu mildern. Eine solidarische Anerkennung in seiner Besonderheit, d. h. die praktisch erfahrene Normalität seiner Besonderheit, könnte deren Abweichung in Bezug auf die universalistischen Anforderungen an ein modernes Individuum heilen. 1985 arbeitslos - 10/1985-1 //1985 ABM (Thyssen) Das ,berufsvorbereitende Jahr' wird hier als das entlarvt, was es entgegen seiner Absicht ist: Eine Warte schleife, die den Einstieg in den sozialen Abstieg verdeckt, allenfalls verzögert. Eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme erfüllt die gleiche Funktion. Sie wird zugewiesen vom Arbeitsamt. Das Fehlen einer Eigeninitiative verweist auf das oben rekonstruierte Problem des mangelnden Selbstvertrauens. Eigeninitiative setzt ein Selbstvertrauen voraus, ein Vertrauen darauf, dass das in Angriff Genommene schon gelingen wird. Wenn nun mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter die auch bei Markus Schreiber vorhandenen Potentiale der Selbstentfaltung nicht gefordert und genutzt werden, sondern die Stigmatisierung als hilfsbedürftig perpetuiert wird, ist ein Ubergang zu einem selbstverantwortlichen Erwachsenenleben kaum möglich. 11/1985-1994 Hilfsarbeiter (Hei^ungsisolierer) Die Arbeit als Heizungsisolierer ist eine prestigelose Hilfstätigkeit, die zudem körperlich belastend ist (unbequeme Körperhaltungen, kombiniert mit Belastung von Haut und Lunge, in zugigen Neubauten dem Wetter ausgesetzt etc.). Sie wird in Kauf genommen, um überhaupt Eingang in die Welt der Erwerbstätigen zu finden, um sich als erwachsen auszuweisen, um zu zeigen, das man zur autonomen Bestreitung des Lebensunterhaltes fähig ist. Im Interview ist zu prüfen, ob Markus Schreiber die Stelle aufgrund eigenen Bemühens antreten konnte, ob also eine Transformation stattgefunden hat. Der lange Verbleib spricht nicht dafür. Eine Typologie von Gemeinschaften, die ein dringliches Desiderat in der Soziologie darstellt, hätte auch diesen Aspekt herauszuarbeiten. Bei Familien etwa, von deren Gemeinschaftstypus die anderen Typen von Gemeinschaft abgeleitet sind, ist Angehörigkeit nicht an Bedingungen geknüpft; Peergroups hingegen sind Gebilde für die es zumindest Exklusionsbedingungen gibt (vgl. Parsons 1950: 342f.). 46
3.2 Gehaltene Diskrepanz - 1 1 3
1994-1996 Rewe (Großlager; Komissionierer) Diese relativ anspruchslose und im Prinzip maschinell ersetzbare Lagertätigkeit kommt, was die Belastung angeht, zunächst einmal einem Aufstieg gleich. Man muss nicht mehr auf wechselnden Baustellen, zu großen Teilen Wind und Wetter ausgesetzt, der beschwerlichen Arbeit nachgehen, sondern ist in einer wettergeschützten Halle tätig. Die Frage ist also weniger, was diesen Wechsel motivierte, als in welcher Konstellation und auf wessen Initiative hin er möglich wurde. Die Tätigkeit selbst könnte für Schreiber als Legastheniker gleichwohl eine gewisse Belastung bedeutet haben, da Kommissionierer relativ schnell Schriftzeichen erfassen können müssen, um ihre Paletten in angemessener Zeit zusammenstellen zu können. ab 1996 Rewe (Großlager; Warentransport; „Flitter") Dass Schreiber von der Kommissionierertätigkeit zu der des Warentransporteurs wechselt, könnte darauf zurückzuführen sein, dass er sich den Anforderungen der Kommissionierertätigkeit auf Dauer nicht gewachsen fühlte und deshalb eine Chance zum Wechsel ergriff. Denn was die Entlohnung angeht (Kommissionierer können durch Akkord ihren Lohn erhöhen), benimmt er sich einiger Chancen, nimmt also im Prinzip einen Abstieg in Kauf. Dass Schreiber den Anforderungen tatsächlich — etwa wegen seiner Legasthenie - nicht gewachsen war, ist unwahrscheinlich, da der Arbeitgeber ihn immerhin zwei Jahre auf diesem Platz beließ. lebt seit 1993 in eigener Wohnung in Hörde, kein Führerschein, kein Auto, nicht verheiratet, keine feste Freundin Diese Daten zeigen, dass Markus Schreiber mit seiner beruflichen Tätigkeit gerade das Mindestmaß an Eigenständigkeit erfüllt, um als Erwachsener anerkannt zu werden. Die Schwierigkeit, eine feste gegengeschlechtliche Bindung einzugehen wie der späte Auszug aus der elterlichen Wohnung bringen das Fortbestehen der Anerkennungsproblematik zum Ausdruck. 47 — Dass Schreiber trotz der erheblichen zeitlichen Belastung — um von seiner Wohnung zur Arbeitsstelle und zurück zu kommen, muss er täglich zwei einstündige Straßenbahnfahrten in Kauf nehmen — nicht die Wohnung wechselt, ist Ausdruck seines Verhaftetseins im Milieu. Seine Wohnung befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu der der Eltern in der Heimatsiedlung.
Falsch wäre es, hier zu argumentieren, dass Schreiber doch gerade wegen der mangelnden Anerkennung den Auszug möglichst früh suchen müsste. Gerade das Fehlen der Anerkennung in der frühen Sozialisation erlaubte ja den Aufbau einer autonomen Persönlichkeit, die sich nun gegen die aktuelle mangelnde Anerkennung wehren könnte, nicht. Außerdem darf man unterstellen, dass nun seitens der Eltern eine Art kompensatorische Wiedergutmachungsanerkennung einsetzte. 47
1 1 4 - 3 Fälle der Region Wir kommen zusammenfassend zu der Strukturhypothese, dass Markus Schreiber trotz sicherlich nicht unterdurchschnittlicher Intelligenz nach der impliziten Maxime lebt, im Zweifelsfall auf Nummer ,Sicher' zu gehen und sich auf den Rückhalt im Milieu zu verlassen. Dieser Rückhalt muss darin gründen, dass Schreiber für sein Milieu eine — möglicherweise symbolische — Reproduktionsfunktion innehat, die wir in ihrer Konkretion anhand der objektiven Daten nicht bestimmen konnten.
2.3
Analyse der Interviews
2.3.1 Beginn des ersten Interviews „wennße hier irgendwie (.) in Dortmund geborn bis, dann willße auch hierbleibn oder so."
Das erste Interview fand statt, als Markus Schreiber nach seinem ,berufsvorbereitenden Jahr' arbeitslos war. Vermittelt hatte das Interview ein Lehrstuhlmitarbeiter, der zur Peergroup des Interviewees gehörte und der auch als zweiter Interviewer anwesend war. Diese Konstellation ist bei der Analyse zu berücksichtigen. 48 Die sehr ausführliche Eingangsfrage des Interviewbeginns 49 macht den Interviewee zum Kollegen, was diesen überfordert; zugleich wird das Thema Arbeitslosigkeit durch den wirtschaftlichen Wandel schamvoll heruntergespielt („wo wir äh — so'n bißchen mal gucken soll — wollen, was hier eigentlich in der Dortmunder Region alles passiert" - A. 1 I l). 5 0 Konkret auf seine Problematik: Arbeitslosigkeit, bezogen, wird er zum Abwartenden gemacht („was passiert eigentlich hier mit den Menschen", „wenn so plötzlich die Arbeitsplätze ausbleiben" — I I I ) . Nach dem Vorspann leitet der Interviewer seine erste Frage ein: A. 111: [...] Also das is so so der allgemeine Rahmen da%u A.h — also vielleicht isses am günstigsten, wenn Du - vielleicht darf ich Dich mit Du anreden (lacht)
48 Sie kann etwa dazu führen, dass der Interviewee, sollte er Tatsachen aus seinem Leben verschweigen wollen, sich nicht sicher sein kann, ob sie den Interviewern nicht durch die geteilte Vergangenheit mit dem zweiten Interviewer bekannt sind bzw. werden können. Sie kann ebenso dazu führen, dass der Interviewee über - aus seiner Sicht etwa unangenehme — Dinge aus seinem Leben spricht, um nicht den Eindruck zu erwecken, er wolle sie verschweigen. Schließlich kann er u. U. Begebenheiten als bekannt voraussetzen.
Dieses Interview fand im Dezember 1985 in der Wohnung der Eltern des Interviewees, wo er selbst auch lebte, statt. - Der wenig professionelle Interviewbeginn und die Interviewführung insgesamt werden ausführlich kommentiert in Matthiesen 1992: 105ff. - Das erste Interview wird mit „A." gekennzeichnet, das zweite entsprechend mit „B.". 49
50
Die Transkriptionszeichen finden sich im Anhang erläutert.
3.2 Gehaltene Diskrepanz
115
Der Interviewee wird in die fachliche Beurteilung des Verfahrens einbezogen, also weiterhin quasi als Kollege behandelt. Für ihn muss das sehr befremdlich sein; er müsste nun eigentlich den Interviewer bitten, zur Sache zu kommen. Das ungefragte Duzen, das nachträglich gestattet werden soll, verweist in der Form auf eine erhebliche Altersdifferenz, wobei der Interviewee dem Interviewer gegenüber in eine Position des noch nicht Erwachsenseins gebracht wird. 51 Ein auf seinem Erwachsensein bestehender Interviewee müsste hier widersprechen. A. 2 MS 1: Jaha. Der Interviewee stimmt dem Interviewer forciert zu; entweder stellt die Frage für ihn etwas inhaltlich völlig Selbstverständliches infrage, oder aber die Tatsache, dass er erwachsenen' Gesprächspartnern nicht widerspricht, ist selbstverständlich. Beides läuft auf eine Annahme der Position des noch nicht Erwachsenseins hinaus. A. 3 12: Ah — we- wenn Du einfach mal 'n bißchen zunächst einmal erzählst, — äh - wie Dein bisheriger Werdegang is und wie also so nach der Schulausbildung — äh — %um ersten Mal so mit Arbeitslosigkeit oder mit Problemn so 'n Job finden, konfrontiert worden bist. Ah — wo bist — bist Du hier in Hörde %ur Schule gegangen? Der Interviewee wird weiterhin in eine passiver Rolle gedrängt: sowohl, was den Inhalt der Frage angeht („mit Problemn so 'n Job zu finden, konfrontiert worden") als auch, was die Interviewpragmatik betrifft: Die angesonnene Entscheidung über die Erzählung wird ihm im nächsten Atemzug abgenommen. A. 4 MS 2: Mhm. (.) Bin hier in Hörde \ur Schule gegangen, \... Im Prinzip würde das „Mhm" als Antwort auf die letzte Frage ausreichen; die Wiederholung des Inhalts der Entscheidungsfrage ist redundant. Dass sie dennoch vorgenommen wird, misst ihm eine besondere Bedeutsamkeit bei. Da es dafür in der äußeren Realität des Interviews keinen Anlass gibt, muss diese Bedeutsamkeit in der inneren Realität des Interviewees angenommen werden - sei es, dass er in der Beantwortung der Frage einer schönen Zeit nachsinnt, sei es, dass er sich dem Ort auf besondere Weise verbunden fühlt. A. 4 MS 2:.../ auf ne Sonderschule. Diese Äußerung könnte einerseits dem Versuch, den Werdegang möglichst genau wiederzugeben, dienen; sie könnte aber auch in der eingangs beschriebenen Konstellation (s. o.) gegründet sein. Was der Inhalt bedeutet, wurde bereits im vorangehenden Abschnitt analysiert. A. 4 MS 2: .../ Und wo ich vonne Schule runtergekommen bin, bin ich %um Vorbereitungsjahr, BVJ (.) in Körne.
51 Anders verhielte es sich, würde der Interviewer nachträglich fragen „vielleicht können wir uns duzen": Dann würde dem Interviewee vom Interviewer angesonnen, einer gemeinsamen Vergemeinschaftung anzugehören.
1 1 6 - 3 Fälle der Region Auffällig ist, dass das Partizip des zweiten Satzes ausgelassen wird, womit unkenntlich bliebt, ob es sich um eine Eigeninitiative handelte (,bin ich ... gegangen*) oder um eine Maßnahme, der der Interviewee unterzogen wurde (,bin ich ... geschickt worden*). Vor allem vor dem Hintergrund der Frage nach der Arbeitslosigkeit und der expliziten Thematisierung von Problemen, handelt es sich um eine Entdramatisierung: die ergebnislose Suche nach einer Lehrstelle, die der Wahl des ,BVJ' vorausgegangen sein wird, wird ausgeblendet. Dass der Stadtteil, nicht aber die Institution, in der das ,BVJ' absolviert wird, genannt wird, verweist auf die Bedeutsamkeit der örtlichen Verankerung, zumindest auf die Relevanz der räumlichen Zuordnungen für den Interviewee und auf die fehlende Relevanz von Spezifität und Rollenförmigkeit. A. 513: Aha. Vorbereitungslehrgang? Der Interviewer signalisiert hier einerseits Erkenntnis, gibt aber andererseits durch die Nachfrage zu verstehen, dass er nicht weiß, worum es sich handelt; 52 dies müsste den Interviewee irritieren. A. 6 MS 3: Ähä. Ein Jahr Der Interviewee akzeptiert hier die Fehldeutung des Interviewers; das fügt sich in die oben bereits deutliche gewordene Haltung des sich Fügens gegenüber dem Interviewer. A. 714: Aha. (.) Der Interviewer signalisiert leerlaufend Erkenntnis, die hier aber gar nicht vorliegen kann. Es ist wenig Neugierde zu spüren, was doch die Voraussetzung für ein gelingendes Interview ist. Der Interviewee als die konkrete Person, die er ist, wird wenig ernst genommen. Ein seiner selbst sicherer Interviewee müsste dies in der einen oder anderen Form zurückweisen. A. 8 MS 4: Da Markus Schreiber unterstellt entweder - zurecht - , dass der Interviewer, trotz seines Erkenntnissignals, nicht weiß, worum es sich bei dem ,BVJ' handelt und will dies — motiviert durch die Pause, die der Interviewer lässt — offensichtlich erläutern; oder — wenn „Da" als kataphorische kausale Konjunktion zu verstehen ist — er will eine Begründung geben. So oder so zeigt er - unter dem durch die Pause gesetzten Zwang zur Gesprächsfortführung — durchaus Eigeninitiative. A. 915: Worauf Leider unterbricht der Interviewer hier, gibt selbst dem von ihm selbst gesetzten Zwang zur Gesprächsfortführung nach. Die Frage zielt auf das, was der Inter-
Diese Form hat die Struktur eines standardisierten Interviews, bei dem einzelne Items abgefragt werden: Die Antwort auf das eine Item wird mit „Aha." als abzuhaken registriert; es folgt die Frage nach dem nächsten Item. 52
3.2 Gehaltene Diskrepanz - 1 1 7
viewee von selbst erläutern wollte (,worauf wird man vorbereitet?'). Nun wird aber die Strukturierung des Gesprächs dem Interviewee abgenommen; eine Interaktionsstruktur, die ihm bekannt sein wird. A. 915:.../
— äh— be- be- bearbei- also ist das spezielle Vorbereitung auf (.)
Dass der Interviewer nun gar keine klare Frage stellt, macht zwar seine Intervention umso unplausibler, gibt aber die Stafette der Gesprächsstrukturierung wieder an den Interviewee zurück. Der Logik nach kann das ,BVJ' keine „spezielle Vorbereitung" sein, sondern muss dem Teilnehmer einerseits gerade allgemeine Grundlagen, die er aufgrund seiner bisherigen Schulkarriere nicht hat, vermitteln; andererseits ihm Einblicke in verschiedene Berufe geben, um ihn bei der Berufswahl zu unterstützen. A. 10 MS 5: Ja, Die Zustimmung kann sachlich nicht motiviert sein; sie hat folglich vorrangig die Funktion, eine pragmatische Konkordanz zu signalisieren. A. 10 MS 5:.../ das sind vier (.) Bereiche. Markus Schreiber beginnt nun, wenig explizit, damit, den Aufbau des ,BVJ' zu erläutern; dass er nach dem einfachen Ausdruck .Bereich' suchen muss, indiziert, dass er sich wohl präzise mit dem entsprechenden Fachterminus auszudrücken bestrebt ist, ihm dieser aber nicht zur Verfügung steht. A. A. A. A. A. A. A.
1116: Aha 12 MS 6: Eimal (.) Metall (.) 13 I 7: Ah {ja "13 MS 7: Hofy) 14 18: Ähä. 15 MS 8: Malen und (.) Bau. 1619: Ah ja!
Die Bereiche, die Markus Schreiber aufzählt, sind Abkürzungen ^Metallverarbeitung', ,Holzverarbeitung'), die Insidern vertraut sind. Die durchgängig kontextgebundene, wenig explizite Rede legt es nahe, dass die Suche nach dem Fachterminus weniger der präzisen Benennung dienen sollte, als dass Schreiber sich der Ausdruckssicherheit, die ihm die Fachsprache geben könnte, versichern wollte. 54 A. 17 MS
9:Dann\...
Hier ist in der Interviewtranskription ein Zählfehler unterlaufen, der aber um der Identifikation der Stellen im Transkript willen beibehalten wird. 53
Das Streben nach Sicherheit teilt diese Haltung zwar mit der prätentiösen des Halbgebildeten (vgl. Loer 1996: 196-248, 316-321; 1999), letzterer ist aber durchaus in der Lage, die kontextüberwindende Kraft der Sprache zu nutzen und versucht seine Sicherheit gerade durch die explizite Bezugnahme auf approbierte Diskurse zu erlangen. 54
118 3 Fälle der Region
Da der Interviewee nun erst den zweiten Schritt („eimal" — „dann") benennt, müssen wir davon ausgehen, dass „Metall", „Holz", „Malen und Bau" zusammen einen Bereich bilden. Dies ist aber nicht der Fall. An der ebenfalls implizit bleibenden Aufzählung lässt sich wieder der stark restringierte Sprachgebrauch ablesen. A. 17 MS 9: .../ kommße55 dann eimal im Monat rein, (.) müsse gute Zensuren rausholen, / / I: Mhm / / werdn auch zensiert / / I: Mhm / / und (.) ja, und dann kommße dann hinterher in Vertiefungsbereich rein / / I: Mhm / / wo Du grade (.) gut bis. Das generalisierende ,Du' wie die weiter sehr kontextabhängige Sprache vereinnahmen den Interviewer in die Peergroup des Interviewee. Die Anlage des ,BVJ' wird von Schreiber nicht als Möglichkeit genutzt, verschiedene mögliche Tätigkeitsbereiche kennenzulernen, sondern nach einem Modell von Schule gedeutet, in dem es abstrakt auf gute Noten ankommt und dessen Regeln man als Objekt unterworfen ist. A. 18110: Ja. A. 19 MS 10: Ja, dann wirsse da au noch (.) beurteilt, dann wird eim dann ^um Schluß auch so'n —äh— (.) Zeugnis ausgegeben. Auch in die Maßnahme, die mit ihm ergriffen wird, fügt Markus Schreiber sich; er begreift sie nicht als Chance, eher noch als Belastung („au noch") und als wenig sinnvoll oder gar bedeutsam („so'n —äh— (.) Zeugnis"). A. 31 MS 16: [...] Un daas (.) dies Jahr (.) macht das vom Arbeitsamt was. A. 32116: Mhm. A. 33 MS 17: BA (.) IV- WBH(?)-Maßnahme // I:Ja. Ja. // is das. Mit (.) Körnende zusammen / / I: Mhm // die machen das, bei Thyssen, f.) Und (.) ja, dann bin ich daa Oktober hingekommen (.) Da hab ich (.) bis November (.) gemacht, (.)ja, dann hab ich hier '«Job gekricht als Hei^ungsisolierer. Obwohl hier eine Eigeninitiative des Interviewees zugrunde liegen könnte, wird das nicht deutlich, geschweige denn betont. Der ganze Interviewbeginn zeigt, dass sich der Interviewee weder sozial-räumlich noch geistig gern von seinem angestammten Platz fortbewegt. Er hockt sprachlich in seinem Milieu wie er auch seinen Stadtteil — und sogar seinen Wohnsitz in der elterlichen Wohnung — nicht von sich aus verlässt. Er ist aber auch nicht in einem genuinen Sinne sesshaft, so dass er von einem Lebensmittelpunkt aus die nähere und weitere Umgebung erkunden könnte; man könnte Markus Schreiber als einen Nesthocker des Milieus bezeichnen. 56
Hier nehme ich eine Korrektur gegenüber der Originaltranskription vor; dort hieß es „kommse". Mit „kommse" könnte auch die Aussprache mit weichem ,S' transkribiert worden sein (also für: ,kommen sie1); hier ist jedoch „kommße" mit scharfem ,S' gesprochen (also für: ,kommst du"). 55
5« Vgl. A. 707 MS 332: „Ja, hier die Umgebung. (..) Son (.) Ah! Wie soll ich sagen! (..) Aach! Jetz komm i nich drauf, aber (.) wennße hier irgendwie (.) in Dortmund geborn bis, dann willße auch hierbleibn oder so."
3.2 Gehaltene Diskrepanz • 119
Exkurs über Sässigkeit und Sesshaftigkeit Bei einer vorhergehenden Analyse des Falles (vgl. Becker et al. 1987: 24-270; Matthiesen 1992: 100-146) wird „Sässigkeit" als Modus der Milieuverhaftetheit von Markus Schreiber herausgestellt (vgl. Matthiesen 1992: 139-146). Dies deckt sich zum einen mit unserer Bestimmung ,Milieuhocker', es scheint andererseits der Behauptung zu widersprechen, dass Markus Schreiber nicht in einem genuinen Sinne sesshaft sei. Eine Klärung dieser scheinbaren Widersprüchlichkeit soll hier anhand der Differenz von Sässigkeit und Sesshaftigkeit versucht werden. — Im gegenwärtigen Sprachgebrauch wird ,sesshaft' verwendet in Wendungen wie ,sich sesshaft machen', ,sesshaft werden'; damit ist implizit auf den Gegensatz eines unsteten Lebens angespielt, auf ein Umherschweifen und Ausprobieren, für das die Jugendphase ein Moratorium, gekennzeichnet durch Verantwortungsentlastetheit, bietet. ,Sässigkeit' bzw. das zugehörige Adjektiv ,sässig' ist hingegen nur in ansässig', etwa in der Wendung ,ansässig sein' gebräuchlich. — Diese Anhaltspunkte dafür, eine begriffliche Differenz entsprechend auszudrücken, bietet auch das Grimmsche Wörterbuch mit seinen Einträgen zu „sasse" (Grimm/Grimm 1893: Sp. 1803f.), „seszhaft" (Grimm/Grimm 1905: Sp. 638ff.), „seszhaftig" (a. a. O.: Sp. 640), „seszhaftigkeit" (a. a. O.: Sp. 640f.) und „angesessen" (Grimm/Grimm 1854: Sp. 349). Mit,sesshaft' und ,sesshaftig' ist offensichtlich eine Verankerung auf einer sittlichen Ebene gemeint, die nicht den Aspekt der physikalischen Anwesenheit am Ort des Ansässig- (Angesessen-) seins akzentuiert, sondern sich aus rechtlichen und moralischen Gegensätzen speist; so sind in den Grimmschen Beispielen hier vermehrt Verweise auf Verehelichung zu finden — sesshaft ist, wer von seinem (Wohn-) Mittelpunkt aus (bürgerliche) Verantwortung für die Gemeinschaft, in der er sesshaft geworden ist, übernimmt. Dagegen ist Sässigkeit viel mehr geprägt von der Scholle, dem physisch-realen Ort auf dem der Sasse sitzt, es geht um Landpacht und Vasallentum. Zudem ist sesshaft sein Ergebnis eine aktiven Tuns, eine erworbene - und aktiv zu erhaltende — Position: Er ist (endlich) sesshaft geworden. Dagegen ist (an-) sässig zu sein geradezu eine askriptive Position. Diese sprachlich angelegte Unterscheidungsmöglichkeit soll hier, wie angedeutet, für eine begriffliche Bestimmung genutzt werden. Wenn jemand, so wie für Markus Schreiber rekonstruiert, in seinem Milieu sässig ist, gar .verstärkt sässig', wie Matthiesen mit Bezug auf Grathoff (1995: 414ff.) vermerkt (Matthiesen 1992: 139), so bedeutet dies ein inaktives Verhaftetsein, das eine Sicherheit gegenüber sich wandelnden Verhältnissen bietet, aber eben eine defensive Sicherheit. Er ist damit auf die Stabilität des Milieus angewiesen, zu der er seinerseits — wenn auch nur passiv — beiträgt, indem er das bewährte Überkommene übernimmt (s. o. 104). Darin gründet die Anerkennung, die der Sässige in seiner Gemeinschaft erfahrt: indem er seine Position annimmt und sich in ihr an der geltenden Normalität ausrichtet, trägt er zu deren Reprodukti-
1 2 0 - 3 Fälle der Region
on bei, darin verlässlich.57 — Diese Explikation macht deutlich, dass auch der Begriff der Sässigkeit nicht an die physische Lokalisierung zu binden ist. Vielmehr kann einerseits gewissermaßen die Scholle — als mentale Bindung ans Herkunftsmilieu — überallhin mitgenommen werden, andererseits ist selbst die physisch lokalisierte Scholle selbst primär sozialer Ort der Bindung (vgl. S. 233-244). Demgegenüber hat jemand, der in seinem Milieu sesshaft geworden ist, für dieses Verantwortung übernommen, indem er selbst für seine materielle Reproduktion sorgt: durch Erwerbstätigkeit; indem er seinen Beitrag zum generativen Fortbestand leistet: durch Familiengründung;58 und schließlich indem er zur Interessenwahrung der Gemeinschaft in ihrem Umfeld und - durch Aufrechterhaltung der Sittlichkeit — nach innen beiträgt: durch staatsbürgerliche Verantwortung. Der in diesem Sinne Sesshafte würde angesichts von sich wandelnden Verhältnissen aktiv für dieses Milieu tätig werden, so dass er durch die Zuversicht, die er aus seiner Sesshaftigkeit gewinnt, den Wandel nutzt. Auch er übernimmt das bewährte Überkommene — aber nicht, ohne gegebenenfalls seine Bewährtheit zu prüfen. Die Anerkennung, die der Sesshafte erfährt, gründet in der Leistung, die er — in dem bewährten Rahmen, aber auch notfalls begründet diesen überschreitend und transformierend — für die Gemeinschaft vollbringt.59 — Ende des Exkurses.
Die biographischen Daten Markus Schreibers: später Auszug aus der elterlichen Wohnung, keine feste Freundin, passen vor dem Hintergrund der Überlegungen zu der Diagnose Matthiesens: „verstärkte Sässigkeit".60 Nachfolgend soll nun anhand des zweiten Interviews geprüft werden, ob diese Haltung der verstärkten Sässigkeit' einen Reflex auf die Unsicherheit der Phase
Ähnlich bewährt sich der Sasse oder Sesse - etwa der Amtsasse, Holzsasse, Truchsess etc. durch Erfüllung der mit dieser Position seit alters her verbundenen Aufgaben. 57
Seinen Beitrag zum generativen Fortbestand kann der Sesshafte natürlich auch auf andere, letztlich aber immer der Familiengründung gegenüber substitutive Weise leisten (vgl. Hansert 58
2001). Mit Sässigkeit geht Gewerbefleiß nicht überein, wohl aber mit Sesshaftigkeit. (Hier wären einmal typische Gewerberegionen auf das Vorliegen von Sesshaftigkeit hin zu untersuchen.) Insofern ist die Hoffnung trügerisch, die Klaus Tenfelde in die Veränderung von „Bewusstseinsformen" durch Ansässigkeit setzt: „Mit dem Integrationskem der ,Neuen Mitte' ist heute eine tendenziell klassenübergreifende ,Erinnerungsgemeinschaft', wie Maurice Halbwachs das genannt hat, entstanden. Hilfreich wirkt darin, dass die klassischen Zuwanderungen in die Region längst versiegt sind und sich mithin über das Vehikel der Ansässigkeit Bewusstseinsformen familiär vererben ließen", (Tenfelde 2000: 19). Es ist gerade die spezifische ,Bewusstseinsform' der Ansässigkeit, die innovationshemmend wirkt. 59
Allerdings wird bei Matthiesen zwischen Sässigkeit und Sesshaftigkeit gerade nicht differenziert, was dann zu Fehleinschätzungen führt.
60
3.2 Gehaltene Diskrepanz • 121 der Berufswahl unter den besonderen Bedingungen der Biographie Markus Schreibers darstellt, oder ob ihr eine Dauerhaftigkeit 2ukommt, die es erlaubt, von einem spezifischen Habitus zu sprechen.61
2.3.2 Beginn des zweiten Interviews62 „Das ist jetzt mein Beruf."
B. 11R1 1: Es läuft - j a . (.) B. 2IR2 1: Aha - der muß weg! B. 3 IR1 2: Das - das -'»klappertja\... Die beiden Interviewer kümmern sich um die Aufnahmetechnik, ohne derweil den Interviewee zu adressieren. Dies lässt darauf schließen, dass dieser noch nicht — oder vorübergehend nicht mehr — im Raum ist. — Da der Interviewee aber, wie wir aus den Notizen der Forscher wissen, anwesend ist, muss er durch diese Missachtung irritiert sein. B. 3 IRt 2:... / - schlechtes Material Zunächst als an den Kollegen gerichtete Klage des ersten Interviewers über die schlechte Ausstattung zu verstehen erfüllt diese Äußerung vor dem Hintergrund des äußeren Kontextes 63 auch die pragmatische Funktion der Entschuldigung gegenüber dem missachteten Interviewee: Beide Interviewer sind bei so schlechtem Material gezwungen, sich konzentriert diesem zuzuwenden. B. 4 MS 1: Ja. Klar! Genau so nimmt Markus Schreiber die Äußerung auch auf, denn „klar!" wäre sehr despektierlich, wenn es sich auf die Institution, die die Interviewer mit dem schlechten Material ausgestattet hat, beziehen würde. Der Interviewee akzeptiert die Entschuldigung des Interviewers forciert entgegenkommend, fast scheint er deutlich zu machen wollen, als bestehe gar keine Differenz, die eine Entschuldigung erforderlich machen könnte.
61 Da wir nicht nur die Gestalt des Habitus, sondern auch seine bildungsgeschichtliche Motivierung bereits bestimmen konnten, wäre es sehr überraschend, wenn im zweiten Interview eine Veränderung — etwa von Sässigkeit zu Sesshaftigkeit — festzustellen wäre. 62
Dieses Interview mit Markus Schreiber fand im August 1998 in seiner Wohnung statt.
63 Mit .äußerer Kontext' bezeichnen wir hier - in Konkretisierung der Verwendungsweise des Terminus in der objektiven Hermeneutik - denjenigen Kontext des jeweils analysierten Textes, der noch nicht in die Analyse eingeflossen ist. - Die Bezeichnung .innerer Kontext' bezeichnet demgegenüber die vorangehenden, bereits analysierten Stellen des Protokolls und den in deren Analyse einbezogenen Kontext, der durch das sequenzielle Fortschreiten der Analyse bei späteren Stellen aus der vorhergehenden Analyse bereits zur Verfugung steht.
122
3 Fälle der Region
B. 5IR1 3: Ja. B. 6IR2 2: Ja. (.) -ähB. 7IR1 4: Fang wa mal an, ne. Offensichtlich gibt es eine Unklarheit zwischen den Interviewern, wer das Interview maßgeblich zu führen, zumindest, wer zu beginnen habe. Da die Äußerung sich nicht an ihn richtet, wird der Interviewee hiermit zum Gegenstand einer Tätigkeit - etwa einer Besprechung; die objektive Missachtung setzt sich fort. B. 8 IR2 3: Wir hatten ja Der Interviewer knüpft nun an eine gemeinsame Vorgeschichte an, sei es, dass er auf eine Kontaktaufnahme und Absprache für das Interview verweist, sei es, dass er an das zwölf, fast 13 Jahre zurückliegende Interview erinnert. B. 8 IR2 3:.../ — also ich war selber nicht daran beteiligt — \... Der Interviewer differenziert hier zwischen seiner Person und seiner Rolle, damit muss „wir" sich auf die Forscher beziehen. Eine solche Distanzierung wäre unangemessen, wenn sie sich auf die Absprache zum Interview beziehen würde. Aber auch bezogen auf das zurückliegende Interview ist die Differenzierung unangemessen - nur hätte er hier das „wir" nicht verwenden dürfen: Ein Interview, zumal ein biographisches, lebt, so könnte man abgekürzt sagen, von der personalen Involviertheit der Beteiligten, vom persönlich lizenzierten Interesse des Forschers; 64 das „wir" der Interviewer kann dann aber nicht die institutionalisierte Wissenschaft meinen, sondern immer nur die konkreten Forscher vor Ort. — Wieder also wird Markus Schreiber vom Interviewpartner zum Gegenstand wissenschaftlichen Handelns. B.8IR2 3:.../
aber\...
Die Adversation nimmt die Bedenken auf minimale Weise auf, ohne ihnen aber wirklich Rechnung zu tragen. B. 8 IR2 3:.../ vor (.) 12 Jahren war das wohl Um was es geht: dass mit Markus Schreiber vor zwölf Jahren ein Interview geführt wurde, bleibt in der Schwebe. Von so großer Wichtigkeit, dass man sich genau erinnert, ist es „wohl" auch nicht. B. 9 MS 2: Ja. Der Interviewee weiß schon, worum es geht; er ist mit kontextverhafteter Rede also nach wie vor vertraut; zudem kommt er — durch seine schnelle Reaktion auf ein Schweben in der Stimme, das eine Fraglichkeit allenfalls andeutet — dem Interviewer wiederum entgegen. — Die weitere Entfaltung der Eingangsfrage fügt
Natürlich muss dabei zugleich die Anonymität und praktische Folgenlosigkeit garantierende Neutralität glaubwürdig gewahrt werden. - Zu dieser Spannung vgl. Oevermann 1988: 283, Fn. 5. 64
3.2 Gehaltene Diskrepanz • 123 sich in die bisherige Interpretation („Langzeit-äh-beobachtung sozusagen", „Interview gegeben" etc.): B. 10IR2 4: -ääh- habn Sieja schon mal'»Interview gegeben fiiür (,)'n Forschungsprojekt und jetyt wollten wir eben im Rahmen -äh- einer so so so Lang%eit-äh-beobachtung sozusagen mal nochmal nachfragen bei denjenigen, mit denen damals gesprochen wurde, was so in der Zwischenzeit passiert ist, was sich getan hat und wie sich das so {entwickelt hat. B. 11 MS 3: Mhm.} B. 12 IR2 5: Weil - sich hier im Ruhrgebietja auch einiges getan hat in der Zeit und -ääh- ja — da wollten wir Sie einfach bitten mal soo -mh- erzählen, was seitdem -äh- damals - seit damals passiert ist - also was Sie vor allem so -äh- also wie''s Ihnen beruflich ergangen ist, was Sie so gemacht haben (.) seitdem und -äh- (.) Auch wenn am Ende danach gefragt wird, was der Interviewee „so gemacht" habe, bleibt er mit dieser Frage typisiert als jemand, dem eher etwas widerfährt, dem es „ergangen" ist, denn als jemand, der aktiv sich seinen Problemen stellt und sie bearbeitet. Dieser Typisierung müsste sich nun ein gewandelter Markus Schreiber widersetzen; ein sich gleich gebliebener hingegen würde sich in den Unterstellungen wiederfinden. B. 13 MS 4: Ja, ich bin \... Schreiber nimmt die Erzählaufforderung ohne Umschweife an, ein Widerspruch ist nicht zu erwarten. B. 13 MS 4:.../ — war— fümenneun- - fümenacht^ig war das, ne? B. 14IR1 5: Mhm. Die begonnene Bewegung (,ich bin — zum Arbeitsamt gegangen, Maler geworden, ...') wird nicht ausgeführt; zunächst wird die Ausgangsposition (,ich war — 18 Jahre alt, arbeitslos, ...') geklärt. Schreiber stellt sich zunächst jedenfalls nicht als aktiv Handelnder dar — und seine Darstellungsweise hat davon auch nichts. — Dass er nun der Jahreszahl sich erst vergewissern muss, zeigt, dass, wie oben bereits angedeutet, es dort eher darum ging, dem Interviewer entgegenzukommen, als darum, die korrekte Zahl von Jahren zu bestätigen. Das zwischengeschobene „fümenneun" kann nicht als Rechenschritt gedeutet werden; 65 zeitliche bewegt sich Schreiber zunächst in der näheren Umgebung, die größere Distanz wird schrittweise überwunden. Da die anhand des Beginns des ersten Interviews gewonnene Hypothese sich hier durchgängig bestätigt, kann die detaillierte Darstellung abgebrochen werden. Ihren ersten Abschluss findet die Eingangssequenz mit Schreibers Darstellung seiner gegenwärtigen Tätigkeit: B. 21 MS 8: [...] Und bin seit drei Jahren (.) im Großhandel (.) in Dortmund in — bei Rewe. B. 22IR2 9: Ah ja. B. 23 MS 9: Hab angefangen als Kommissionierer. (.) Ja und dann anderthalb Jahre bin ich dann auf
Wenn Schreiber 98 minus 12 rechnen würde, wäre ein möglicher Zwischenschritt 96, nicht aber 95. 65
124-3 Fälle der Region ein Schnellläufer gekommen oder Flitter. (.) Ich fahre Ware von A. bis nach B. B. 24 IR2 10: Mhm. B. 25 MS 10: Das istjet^t mein Beruf.
2.3.3 Spezifizierung der Fallstrukturhypothese „Da heißt's Beziehung. Ne." Dass Schreiber nun im Erwachsenenleben angekommen ist, machte er deutlich (s. o. B. 25 MS 10); es stellt sich aber die Frage, wie er dort hingekommen ist. Nach den bisherigen Analysen können wir kaum davon ausgehen, dass er ein eigenes Interesse entwickelte, das er dann eigeninitiativ durchgesetzt hat. Wie aber ging sein Weg vonstatten? Wie und nach welchen Kriterien wurden die erforderlichen Entscheidungen getroffen? Hierzu sollen die Stellen des zweiten Interviews herangezogen werden, in denen von solchen zu überschreitenden Schwellen die Rede ist. B. 91IR2
12: Ja und -äh- also (.) wie sind Sie dahin gekommen'? Äh -
jet^t-
Dieser Frage ging Markus Schreibers Schilderung seiner gegenwärtigen Tätigkeit: im Großlager der Einzelhandelskette ,Rewe' voraus. Die Frage unterstellt schon, dass der Interviewee hier nicht auf dem normalen Weg einer Bewerbung auf eine Stellenausschreibung hin eingestellt wurde, diese Unterstellung gleichzeitig kaschierend. Die bisherige Analyse lässt erwarten, dass der Interviewer hier keinen Widerspruch ernten wird. B. 92 MS 42: Nach Reive? B. 93IR2 13: Nach Reve. B. 94 MS 43: Ja, das is widda
Der Interviewee spielt auf bereits Geschildertes an: entweder auf ein Ubergangsmuster, das sich auch hier vollzog (,das ist wieder auf ein gelungenes Bewerbungsschreiben zurückzuführen'), oder auf ein Ereignis, eine Darstellung, die gleiche Merkmale aufweist wie sein Weg zu ,Rewe' (,das ist wieder schwer zu erklären'). Im ersten Fall wird deutlich werden, ob er sich solche Erfolge stetig zurechnet, oder auf welche Mechanismen er sie zurückführt. Dabei ist auffällig, dass Schreiber das Ereignis zwar in eine Reihe mit anderen stellt, aber noch nicht weiß, wie er diese Reihe benennen soll. Es geht also um etwas, das ihm wiederholt widerfährt, das aber offensichtlich nicht ganz einfach zu fassen ist. Damit ist klar, dass es sich nicht um eine Eigenaktivität handeln kann; darüber hinaus kann es kein eingerichteter Karriereweg sein. B. 94 MS 43:.../
- mit 'n Glück
3.2 Gehaltene Diskrepanz • 125
Glück ist nun in der Tat etwas, was einem widerfährt, wo man selbst kaum etwas hinzutun kann. 66 Dass er „Glück" mit bestimmtem Artikel verwendet, 67 fügt sich der Einleitung dieser Äußerung, es ist das altvertraute Glück, das sich hier wieder bemerkbar gemacht hat. Für Markus Schreiber, der aufgrund seiner traumatisierenden Bildungsgeschichte, die sich unter anderem zu dem handfesten Handicap der Legasthenie ausgewachsen hat, muss jemand Schicksal spielen, wenn er immer wieder „mit 'n Glück" rechnen kann. Der Sässige kann sich offensichtlich auf die Gemeinschaft verlassen. B. 94 MS 43:.../ sagen wa mal so — \... Nun macht sich der Interviewee daran, ,das Glück' für den Außenstehenden zu erläutern. B. 94 MS 43:.../ ich hab 'n Kollege f.) von meinen Schwager der beste Freund arbeit da (.) und der kennt den Personalchef sehr gut. B. 95IR2 14: Mhm. Damit liegt auf der Hand, wer Schicksal spielt: Es sind die verlässlichen Strukturen des traditionalen Milieus, die in gemeinschaftlicher Solidarität einen der Ihren nicht untergehen lassen. B. 96 MS 44: So einfach kommt man auch nicht da rein. B. 97IR1 39: Mhm. B. 98IR2 15: Mhm. Der Ort der beruflichen Tätigkeit wird als erlesene geschlossene Gesellschaft dargestellt, in die nicht Leistung und formelle Karrierewege hineinführen, sondern nur das Prinzip der Kooptation durch die Peers. Die gesellschaftlichen Prinzipien bleiben außerhalb der Vorstellung des Interviewees; mit dem kontrastiven „einfach" können sie nicht gemeint sein. B. 99 MS 45: Da heißt's Begehung. Ne. Dieses Muster taucht in den Beschreibungen von Stellenwechsel und überhaupt Erlangung eines Arbeitsplatzes immer wieder auf; und auch was die Wohnungssuche angeht. Schreiber bleibt Milieuhocker noch über den Auszug aus der elterlichen Wohnung hinaus:
Zwar gibt es Redewendungen, in denen darauf hingewiesen wird, dass man ,sein Glück machen' kann: ,jeder ist seines Glückes Schmied', ,das Glück des Tüchtigen'; aber auch diese unterstellen als Normalbedeutung, gegen die sie sich richten, diejenige, die treffend Heinrich Heine im „Romanzero" formulierte: „Das Glück ist eine leichte Dirne,/Sie weilt nicht gern am selben Ort;/Sie streicht das Haar dir v o n der Stime/Und küßt dich rasch und flattert fort." (Heine 1851: 78). 66
Dass dieser im Akkusativ (,,'n" = den) steht und nicht, wie die Präposition verlangte, im Dativ, ist vermutlich nicht dem Interviewee zuzurechnen; vielmehr trifft man die Vertauschung v o n Dativ und Akkusativ im Ruhrgebiet häufig an. Dies wäre eine eigene Analyse wert. 67
1 2 6 - 3 Fälle der Region B. 586 MS 275: Uund —ja, dann ha auch Glück, hier is dann auch einer gestorben in dem Hau/S //IR1:Mhm/ / und war auch mit sehr Schwierigkeit hier die Wohnung kriegen. Das is eima Hoesch — B. 587IR1 236: Ja, eben. B. 588 MS 276: Hoesch und Wohnstätte is hier. Der vonne Wohnstätte wollte mir nich - wollte mir keine geben. Un dann ham wa dann Leutee angeheuert dann gings über Hoesch, dann hab ich die über Hoesch gekricht dann. B. 589IR2 77: Mhm. B. 590 IR1 257: Aäh — was heißt das: es sind Hoeschleute vorgeschoben worden, diie Ihnen die dann — B. 591 MS 277: Nein, der vonne - es -äh- Hoesch hatte dann den Auftrag damals wie die Häuser hier gebaut worden sind, //IR1:Ja/ / wurde dann die Wohnstätte mit einbezogen, die hat dann die Treuhand hier -glaub ich- gemacht. B. 592IR1 238: Ja, ja, aber die Wohnstätte gehört doch wahrscheinlich auch Hoesch oder hat die 'ne extra — B. 593 MS 278: Aääh — die die Wohnungen gehörtjet% alle %ur Wohnstätte. B. 594 IR1 239: Ah ja! B. 595 MS 279: Die hatten so'n B. 5961R1 240: Welche Wohnstätte ist das denn - wissen Se B. 597 MS 280: Veba. B. 598 IR1 241: Veba. B. 599 MS 281: Veba. B. 600IR1 242: Ah ja. Ähä. B. 601 MS 282: Und die hatten dann irgendwie mit Hoesch so'n (.) 30 Jahre oder 40 Jahre -ääh/ / IRhÄhäl / Laufzeit gehabt / / IR1:Mhm/ / (.) vorher war'n nur Hoeschleute hier drin //IRI.Mhm// (.) und dann irgendwann wurds dann 'n bißchen gelockert //IR1:Mhm/ / und dann wurden auch keine Hoeschleute mehr dann kam auch normale Teute rein. / / IR1:Ja/ / Aaber derjenige, da (.) ich hab noch 'n Cousin, da war noch 'n bißchen Theater, d- — Name gehört — 'Schreiber' — wie's so is, ne, bißchen blöd gelaufen — naja, / / IR1:Mhm/ / un dann ham wa da 'n Betriebsrat von Hoesch eingeschaltet, der hat das dann ma eben kur^gradegerückt, was — warum. Ja dann — der vonne Wohnstätte wollte mich nich. Wollte 'n andern haben. Un dann ham wa das über Hoesch //IR1:Mhm// gemacht, ne, hab ich die von Hoesch gekrB. 602IR1 243: Mhm. Also letztlich der Betriebsrat oder wer hat dann bei der Stelle interveniert, die dann der Veba Wohnbau gesacht hat: „Hier - nehmt den doch ma rein." B. 603 MS 283: Genau! Genau! D i e s e E p i s o d e lässt d e u t l i c h z u t a g e t r e t e n , w i e d r a s t i s c h d i e r e k o n s t r u i e r t e S t r u k t u r a m W e r k e ist. A u f s c h l u s s r e i c h ist a u c h d a s T u n i n g z w i s c h e n S c h r e i b e r u n d e i n e m d e r I n t e r v i e w e r (B. 5 9 7 f f . ) : D e r g u t e R a p p o r t z w i s c h e n d e m e r s t e n I n t e r v i e w e r u n d M a r k u s S c h r e i b e r h a t sich hier g l e i c h s a m in e i n e n k o m m u n i k a t i v e n R a u m d e r Sässigkeit t r a n s f o r m i e r t , in d e m er sich v o l l s t ä n d i g a n e r k a n n t sieht (vgl. B. 602f.). E s b l e i b t als S t r u k t u r h y p o t h e s e also f e s t z u h a l t e n , dass es sich b e i M a r k u s Schreib e r u m e i n e n „ M i l i e u h o c k e r " h a n d e l t , d e r , a u f s p e z i f i s c h e W e i s e sässig in s e i n e m Milieu (s. o. S. 119), sich a u f die H i l f e d e r G e m e i n s c h a f t d e r V e r w a n d t e n u n d 68
Gemeint ist das Nachbarhaus zu dem, in dem er zuvor mit seinen Eltern lebte und in dem diese noch wohnen.
3.2 Gehaltene Diskrepanz • 127
Nachbarn verlässt, durch welche zugleich das Milieu sich in seiner spezifischen Struktur der traditionalen Vergemeinschaftung reproduziert.
2.4
Falsifikationsversuch
Sowohl das erste wie auch das zweite Interview wurden auf Falsifikatoren69 für die Fallstrukturhypothese „Milieuhocker" hin durchgesehen und entsprechende Stellen mit Falsifikationschancen wurden analysiert. Dabei waren v. a. solche Stellen erfolgversprechend, die es erlaubten, dem rekonstruierten „Milieuhockertum" eine Intentionalität zuzuschreiben. In diesem Versuch der Erschütterung der Fallstrukturhypothese wurde überprüft, ob die abwartende Haltung des Interviewee vielleicht eine Strategie darstellt, die angesichts seiner eingeschränkten Optionen wie seiner defizitären Fähigkeiten als rational eingeschätzt werden muss. Schreiber würde dieser Hypothese gemäß in realistischer Einschätzung seiner Lage und Fähigkeiten autonom den gewohnten Mustern der Lebensführung folgen und zugleich die Welt auf eine mit aus den überkommenen Mustern selbstgebildete Weise deuten. Eine solche Deutung ließ sich aber nicht aufrechterhalten. Zentral für ihre Widerlegung und die Reaugurierung der ursprünglichen Fallstrukturhypothese „Milieuhocker" war folgende Rekonstruktion: A. 682 Ia 202: Mhm. (.) (ständige Unterhaltung im Hintergrund: Eltern u. Cousinj Hasse irgenwie ma soo
Die Frage des Interviewers beginnt sehr unbestimmt. Damit wird das Thema, was auch immer es sei, als relativ gleich-gültig eingeführt. A. 682 la 202: ...¡so
Ideen \...
69 In seiner Replik auf Einwände, die ich gegen seine wissenschaftspolitische Verabschiedung des Wahrheitsanspruchs von Wissenschaft vorgebracht habe (Loer 2007c), hat Jo Reichertz den Falsifikationismus als anachronistisch verunglimpft (2007: 292, Fn. 10). Das von ihm ins Auge gefasste Problem, dass Falsifikatoren eine Strukturhypothese nicht falsifizieren könnten, da ja die Struktur sich zwischen der (a) Sequenzstelle, an welcher die Hypothese gebildet wurde, und (b) derjenigen, welche als Falsifikator dient, transformiert haben könnte, ist forschungspraktisch unerheblich, was aber noch der methodologischen Explikation harrt. In aller Kürze sei hier darauf verwiesen, dass ein Falsifikator nur indiziert, dass zwischen den bei (a) und bei (b) rekonstruktiv gewonnenen Hypothesen ein aufzuklärender Widerspruch besteht. Dies ist dann Anlass, die Rekonstruktion bei (a) zu prüfen und in dieser Prüfung — also an dem gleichen Datum - zu verwerfen bzw. zu modifizieren; gelingt dies nicht, erweist sich also die bei (a) gewonnene Hypothese als stichfest, so muss, falls die bei (b) gewonnene widersprechende Hypothese sich - nach einer gleichermaßen sorgfältigen Prüfung - ebenfalls als stichfest erweist, die Transformation der Fallstruktur konkret rekonstruiert und das Hervorgehen der in der zweiten Hypothese begriffenen Fallstruktur aus der in der ersten begriffenen aufgezeigt werden.
1 2 8 - 3 Fälle der Region
Der Plural erhöht die Unbestimmtheit und Gleichgültigkeit: irgendwie irgendwelche. A. 682 la 202:.../ oder was was se ma so später so gerne machs Ohne dass die „Ideen" spezifiziert würden (,Ideen von X"), wird schon eine Alternative eingeführt; s. o. - Das Thema ist nun vermutlich die zukünftige Berufstätigkeit. Möglicherweise intendierte der Interviewer dieses Thema auch schon vorher; durch den Modus der Präsentation gibt er sich aber als relativ desinteressiert zu erkennen. 70 A. 682 Ia 202:.../ oder mit mit Familie oder Fraun oder sowas. Das Thema Zukunft wird fortgeführt, aber noch beliebiger und gleichgültiger: das, was landläufig zur Zukunft gehört, wird abgefragt. A. 682 Ia 202:.../ Frauen is klar. Nun macht der Interviewer noch deutlich, dass die Frage der gegengeschlechtlichen Beziehung fraglos auf den Interviewee zukommt (oder er fraglos — wie dem zweiten, mit dem Milieu vertrauten Interviewer qua Insiderwissen geläufig sein könnte — bereits damit befasst ist; etwa als in ganz Hörde bekannter Don Juan). A. 683 MS 320
Jaa-.../
Die zögernde Äußerung dient weniger der Zustimmung als dem Zeitgewinn: Der Interviewee muss überlegen, was er auf die generalisierte Zukunftsfrage, die die Frage nach einer Partnerschaft einschließt, antworten soll. Wenn er sinnvoll antworten will, muss er selbst eine Strukturierung vornehmen. Dies wäre eine klare Widerlegung der „Milieuhocker"-Hypothese, da er mit einer solchen strukturierenden Antwort - zumindest in der Planungsphantasie - aktiv das Nest verlassen würde. A. 683 MS 320 .../ ersmaabwaten! Die pauschal und oberflächlich angefragten Zukunftserwartungen werden ebenso pauschal negiert. Der Interviewee hat eben keine eigenen „Ideen". Dies widerspricht schon der oben erwogenen Deutung einer strategisch planvollen Zurückhaltung, da eine realistische Einschätzung von Möglichkeiten und Fähigkeiten, wenn dieser ,Realismus' sogar die Produktion von zukunftsbezogenen „Ideen" ausschließt, in eine quasi-neurotische Selbstfesselung des eigenen Veränderungspotentials übergehen würde. A. 684 Ia 203: Ersma abwaten? A. 685MS 321:Jaa. Der Interviewer fragt erstaunt nach; in seinem Deutungshorizont ist, wie er zuvor ja schon klargemacht hatte, zumindest die Frage nach der Partnerschaft kein
70
Durch Präsens Indikativ wird das Machen vom konkreten Wunsch entkoppelt.
3.2 Gehaltene Diskrepanz • 129
Feld, in dem man abwartet. — Die Haltung des Interviewee aber bleibt unverändert. Allerdings ist er durch die erstaunte Nachfrage des Interviewers nun zu einer Begründung seines Attentismus aufgerufen. Nun müsste es sich zeigen, wenn doch ein der strategischen Planung affiner Modus der Weltdeutung vorlägeA. 685 MS 321:.../Ersma
will ich\...
Hier transformiert sich das folgenlose „ersma" aus Äußerung A. 683 in ein initiales „Ersma" einer Reihe von Planungsschritten (etwa: „ersma will ich den Führerschein machen, dann werde ich mich um einen Job als Fahrer beim Paketdienst bemühen".) A. 685 MS 321:.../
ersma-\...
Die Planung, deren sequenzielle Darstellung hier nun begonnen wurde, ist offensichtlich noch nicht zu einer festen Vorstellung geronnen; der Interviewee muss noch während des Darstellens Strukturierungsleistung vollbringen oder sich gar die Sache erst einmal klarmachen. A 685 MS 321:.../ will ich 'ne Lehre querst Die Dopplung der zeitlichen Positionierung („ersma [...] zuerst") lässt vermuten, dass „ersma" hier eine argumentationslogische Funktion hat („ersma will ich klarstellen, dass ich zuerst eine Lehre machen will"); dies wird aber nicht explizit gemacht. Argumentationslogik (Darstellung) und Dargestelltes vermengen sich. Des weiteren wird durch die nachgestellte zeitliche Bestimmung deutlich, dass es schlicht um das (Haben- bzw. Bekommen-),Wollen' einer Lehrstelle geht; der Ausdruck ,Lehre' lässt demgegenüber vermuten, es gehe um das Machen-Wollen einer Lehre. Die Vorstellung des Interviewee davon, was ,Lehre' resp. ,Lehrstelle' bedeutet, scheint nicht sehr klar zu sein.71 A. 685 MS 321: ...I 'ne "Lehre Ende machen - \...
Es scheint, als bringe der Interviewee hier explizit einen Willen zum Ausdruck, der die Fallstrukturhypothese „Milieuhocker" widerlegt. Kontrastiert man die Formulierung „Ersma will ich [...]" mit „Ersma soll ich [...]" bzw. „Ersma muss ich [...]", so wird Folgendes deutlich: Bei der Kontrastformulierung „Ersma soll ich [...]" wäre eine implizite Distanzierungsleistung erforderlich: die Quelle des Sollens wäre gedanklich auf Distanz gebracht worden (das Kind, dass die Aufforderungen seiner Eltern nicht mehr mit „ich will" zum Ausdruck bringt, sondern mit „ich soll", kann von der Position der Eltern seine eigene differenzieren und ist ihnen gegenüber autonomer Dritter). Die Formulierung „Ersma muss ich [...]" würde demgegenüber eine Einsicht in die Notwendigkeit und also wiederum eine Distanzierungsund Differenzierungsleistung (nämlich zwischen Wunsch und Notwendigkeit) voraussetzen. Hieran zeigt sich, dass die vom Interviewee gewählte Formulierung „Ersma will ich [...]" die bzgl. der erforderlichen Distanzierungsleistungen und bzgl. der Aufbringung eigener Willenskraft die am wenigsten voraussetzungsvolle Formulierung ist. Folglich taugt sie (bei dem oben behandelten Inhalt des Wollens) zumindest nicht zur Widerlegung der „Milieuhocker"Fallstrukturhypothese. 71
1 3 0 - 3 Fälle der Region
Dies wird nun noch deutlicher: es geht nicht darum, eine bestimmte (möglicherweise schon begonnene) Lehre zu Ende zu machen, sondern irgendeine. Der oben erwogenen Deutung eines strategischen Planens gemäß müsste diese Stelle so gedeutet werden, dass der Interviewee aufgrund seiner realistischen Selbsteinschätzung weiß, dass es ihm egal sein muss, was für eine Lehre er machen wird; dass es aber wichtig ist, diese dann zu Ende zu machen. Die „Milieuhocker"Hypothese würde demgegenüber davon ausgehen, dass der Interviewee hier floskelhaft eine vorgeprägte Formulierung, mit der er keine konkrete eigene Vorstellung verbindet, übernimmt. Eine konkrete eigene Vorstellung kann nicht das Bestimmte („zu Ende machen") dem Unbestimmten („ne Lehre") folgen lassen, sondern müsste von dem Bestimmten ausgehen. A. 685 MS 321:.../ und so. Diese Äußerung nun ist nur noch mit der „Milieuhocker"-Hypothese vereinbar, da hier das scheinbar Bestimmte („zu Ende machen") sich im beliebig Unbestimmten („und so") auflöst und als Floskelhaftes erweist.
Eine weitere Hypothese, die Ulf Matthiesen aufstellte (vgl. Matthiesen in Becker et al. 1987: 255ff.): dass der Interviewee klare normative Stufungen von (Ausbildungs-) Berufen hat, die er mit ebenso klaren Präferenzen verknüpft, die der „Milieuhocker"-Hypotese widerspricht, wurde anhand von einigen Textstellen überprüft. Es zeigte sich deutlich, dass die feststellbaren Präferenzen, entweder Übernahmen von allgemeinen Deutungen sind (Quelle hiervon ist möglicherweise die Einschätzung seiner Fähigkeiten, Möglichkeiten und charakterlichen Dispositionen durch die Eltern/die Mutter), oder aber eher aus einer Orientierung an dem vom Interviewee wegen bestimmter Eigenschaften präferierten Material Metall stammen. Schließlich wurde auch die letztgenannte Deutung: dass die Präferenzen aus einer Affiziertheit durch das Material Metall stammen (MaterialaffiziertheitsHypothese) überprüft. A. 343 Ia 89: Also der Schwerpunkt ist so hier immer noch so Metall, Zeche, so diese {beiden Bereiche? A 344 MS 163:Ja.} A. 345 1 87: Ja, du willstja auch hauptsächlich in Metallbereiche rein, ne, so, was - was interessiert dich denn dabei hauptsächlich'? Also warum — warum willst du grade da rein und nicht wie Gärt- so Gärtner oder was du sonst grade gesagt hast? Die Frage des Interviewers Ia bezieht sich auf eine Auflistung dessen, was „die meisten hier aus'n Ruhrpott" (A. 342 MS 162) werden wollen; „hier" meint also den „Ruhrpott". Dementsprechend vergleicht der Interviewer I die Berufswünsche des Interviewee mit den vom Interviewee selbst benannten Präferenzen der meisten Jugendlichen im Ruhrgebiet. Natürlich will der Interviewee nicht „hauptsächlich" in den
3.2 Gehaltene Diskrepanz • 131
Metallbereich (und nebensächlich in den Gartenbau o.a.), sondern sein Hauptwunsch ist es, einen Metallberuf zu erlernen. Die Ungenauigkeit der Sprache, die möglicherweise eine gewisse Entspanntheit erzeugen soll, bringt objektiv auch ein Desinteresse zum Ausdruck - ähnlich wie die Formulierung „oder was du sonst grade gesagt hast". A. 346 MS 164: Ja, Der Interviewee setzt eine Zäsur und überlegt, wie und was er antworten soll. Es darf also eine Begründung, die ja in der Interviewer-Frage verlangt wird, erwartet werden. A. 346 MS 164:.../ ich möchte gerne Zunächst wird das in der Frage angesprochene zu Begründende wiederholt. Dabei wird die schiefe Frageformulierung („hauptsächlich") korrigiert und ein weiterer Zeitgewinn möglich. Dies lässt eine eigenständige, nun zu entwickelnde oder aber auch bereits vorüberlegte Begründung erwarten. A. 346 MS 164:.../- weil Metallbereich Die präzisierende Wiederholung des zu Begründenden wird abgebrochen und die Begründung telegrammstilartig angefügt. Der Telegrammstil ist aber dabei keine verdichtende Redeweise, sondern dem restringierten Code (vgl. S. 150, Fn. 17) des Interviewee zuzurechnen. Es muss nun (inhaltlich) eine Qualifizierung des Metallbereichs folgen, die (strukturell) als Begründung für den Wunsch, dort zu arbeiten, gelten kann (etwa in der Form: ,weil Metallbereich - da verdient man viel', ,weil Metallbereich — da hat man nen leichten Job', ...). A. 346 MS 164: ...I möcht i' auch gerne Nun liegt an dem strukturellen Ort der Begründung eine Äußerung vor, die den Metallbereich nicht als Metallbereich näher qualifiziert, die aber den Metallbereich in Bezug auf den Interviewee näher bestimmt: Liest man diese Sequenz mit der vorangehenden zusammen („weil Metallbereich - möcht i auch gerne"), so ergibt sich als Begründung dafür, dass der Interviewee in den Metallbereich möchte, dass er auch in den Metallbereich möchte. Der Interviewee vergleicht sich selbst mit anderen Personen, die im Metallbereich sind. Im vorangehenden Text waren nur „die Jungs" (A. 340 MS 161) „hier ausn Ruhrpott" (A. 342 MS 162) thematisch. Die aber gehen nicht nur in den Metallbereich, sondern auch zur Zeche. Sie sind also als Pole der Vergleichsoperation ausgeschlossen. Allerdings könnte es auch sein, dass an dem strukturellen Ort der Begründung eine Spezifizierung des ,Mögens' steht: (,ich möchte gerne in den Metallbereich, weil im Metallbereich, da kann man X machen, und ich möchte auch gerne X'). A. 346MS 164:.../
wieheiß'\...
1 3 2 - 3 Fälle der Region Das X wird nun nicht benannt, nur seine Stelle markiert. Dass der Wunsch keine Konkretion erfährt, lässt deutlich werden, dass es kein genuiner Wunsch ist (kein .eigenes Leben'); vielmehr wird abstrakt gewünscht, zu tun, was andere 72 auch tun. Kern des Wunsches ist also: anderen zu gleichen; nicht: dasjenige, worin man ihnen gleicht. 73 A. 346 MS 164:.../ — wie das Metall verarbeitet wird. X wird nun durch eine Ergänzung zu .wissen' oder ,sehen' substituiert. Wieder fehlt die konkrete eigene Handlung, die den propositionalen Gehalt („wie das Metall verarbeitet wird") qualifiziert. Das Interesse daran, zu sehen oder zu wissen, „wie das Metall verarbeitet wird", wird also, nimmt man die obige Deutung zur Vergleichsoperation hinzu, eher aus der Quelle des Identifikationswunsches denn aus einer konkreten Affinität zum Gegenstand des Sehens oder Wissens gespeist. Dies widerspricht der Vermutung der Affiziertheit durch das konkrete Material des Metalls. Im Zuge der Prüfung und Widerlegung der Materialaffiziertheits-Hypothese ergibt sich hier also nunmehr eine Identifikations-Hypothese. Diese muss nun in der weiteren Analyse spezifiziert werden. A. 347 188: Hm. A. 348 MS 165: Wie heiß' (.) und wie das auseinandergeht, wie Metall -äh- wennße so Metall nach 'm mit'm Brenner drangehs Hier erfolgt nun eine Konkretisierung dessen, was der Interviewee gerne wissen oder sehen möchte. Diese Konkretisierung bleibt aber im Modus der übernommenen Beschreibung: • „und" ist auf derselben Ebene angesiedelt wie „wie das Metall verarbeitet wird" und „wie das auseinandergeht"; • „wie das auseinandergeht" ist eine sehr unspezifische Beschreibung, die kaum aus eigener Anschauung kommen kann; • das Gleiche gilt für die weitere Äußerungssequenz („wie Metall -äh- wennße so Metall nach'm mit'm Brenner drangehs"). A. 348 MS 165:.../ und so. Die Konkretion wird nun vollends verlassen und durch die Reihung wird deutlich, dass die vorherigen Glieder der Reihe, auch wenn sie — wie unzureichend
Wer diese anderen sind ist an dieser Stelle noch offen, da die im Protokoll präsenten „Jungs", wie gesagt, nicht in die Vergleichslogik passen. 72
73 Dass hier eine andere Vergleichsoperation, die dritte logisch mögliche, im Spiel ist (im Metallbereich nicht nur x, sondern auch y machen), ist vom Text her an keiner Stelle nahegelegt.
3.2 Gehaltene Diskrepanz • 133 auch immer — inhaltlich auf konkrete Erfahrungen zu verweisen beanspruchten, die Funktion von Subsumtionskategorien hatten. A. 348MS 165:.../
Dasintrettierstmich.
Der Interviewee greift hier die Formulierung aus der Frage des Interviewers (A. 345 I 87) auf. Einerseits wird so die Beantwortung der Frage abgeschlossen, andererseits wird markiert, dass hier Kategorien des Interessiertseins benannt wurden (nicht aber Gegenstände des Interesses konkret beschrieben). Denn die Verwendung des Fremdworts trotz der fehlenden Beherrschung desselben ist ihrerseits eine Operation der Identifikation (hier: mit dem Interviewer) und keine eine konkrete Beschreibung resümmierende, aus ihr erwachsene Schlussformel. A. 348 MS 165: ...I Würd ich gerne auch wissen und so. f...] Hier wird nun offenkundig: es gibt jemanden, der im Metallbereich tätig ist, mit dem sich der Interviewee vergleicht und dem er es gleichtun möchte. In der äußeren Realität, die im Protokoll repräsentiert ist, ist hierfür kein Kandidat vorhanden. Er muss also in der inneren Realität des Interviewee präsent sein. Aus dem Wissen über den Kontext können wir vermuten, dass es der Vater ist, der hier den Pol der Vergleichsoperation abgibt (auch der ältere Bruder kommt u. U. hinzu). Es ist also die Identifikation mit den engsten Bezugspersonen, die den Berufswunsch präformieren. 74
Schließlich soll noch anhand der jetztigen Tätigkeit - die ja der Materialaffiziertheits-Hypothese widerspricht - geprüft werden, ob nicht die Bewährung in der neuen Arbeit im Großlager der These vom „Milieuhocker" widerspricht; ob Schreiber dort nicht eine Lösung vom Herkunftsmilieu gelingt. Die Frage ist, ob die Identifikation etwa aufgegeben, zumindest gelockert oder ob sie verlagert wurde. B. 175 IR1 61: Was ist denn -ääh- - wenn ich noch 'n bißchen bei der Arbeit bleibe (lacht kur%) - vorher beim Kommissionieren oderjet% -ääh- (.) bei derjetzigen Tätigkeit — was was is angenehmer? Was sind Mit einer relativ komplexen Frage steuert der erste Interviewer auf eine Beschreibung und Bewertung der Tätigkeit zu. Es werden hier zwei Oppositionsdimensionen kontaminiert: vorher vs. jetzt und vorher besser vs. vorher schlechter resp. jetzt besser vs. jetzt schlechter. Mit „angenehm" ist dabei die subjektive Seite konnotiert. B. 175 IR1 61:.../ {so die Schwierigkeiten unddiie — B. 176 MS 82: Äääh - das zweite. (.) Das zweite is} \...
Hier wird deutlich, wie das, was Mooser „Berufsvererbung" nennt (vgl. Fn. 35), auf der Ebene der Subjekte konkret operiert.
74
1 3 4 - 3 Fälle der Region
Schreiber reagiert sofort auf diese Konnotation und macht damit glaubhaft deutlich, dass der Wechsel zum Warentransport subjektiv für ihn eine echte Verbesserung war. B. 176MS 82:.../ {schöner. Mit der Qualifizierung des ,Angenehmeren' als „schöner" nimmt er in einem (ästhetischen) Urteil auch eine objektive Verbesserung in Anspruch. ,Schön' ist eine Arbeit tendenziell dann, wenn sie (a) ohne große körperliche Anstrengung, (b) ohne intensive Verschmutzung, (c) ohne große kognitive Anstrengung, (d) ohne großen zeitlichen Druck, (e) in angenehmer kollegialer Atmosphäre erledigt werden kann und resp. Oder (f) das gestaltschließende Lösen interessanter Aufgaben beinhaltet. Die Kommissioniertätigkeit und die im Warentransport unterscheiden sich vermutlich nicht in (b), allerdings erheblich in (a)75, (c)76 und (d) und von daher wahrscheinlich auch in (e)77. In Bezug auf (f) findet eher eine Verarmung statt, da es sich um vollständig standardisierbare Routinetätigkeiten handelt. Diese Aspekte nimmt MS nicht nur wahr; sie sind für ihn so wichtig, dass er die subjektive Verbesserung emphatisch deutlich macht. B. 177IR1 62: Vorteile.) Schreiber wird zu einem abwägenden Urteil aufgefordert. B. 178 MS 83: Ich sach ma, das zweite is schöner: ich brauch keine Prozente machen. Das objektive Urteil wird wieder als subjektive Einschätzung qualifiziert und damit relativiert; zugleich erfolgt aber eine Begründung. Diese fügt sich genau dem oben zu ,schöner Arbeit' Explizierten. B. 179IR1 63: Ach so! Da könn Se nich - \... Der — durch die Überraschung noch gesteigerte — Kontrast ist aufschlussreich: MS betont die Freiheit vom zeitlichen Druck und vom Konkurrenzdruck; IR1
Der Kommissionierer muss einzelne Warenpacken von Hand auf die Auslieferungspalette packen. Dabei bewegt er pro Schicht ca. 2,5 t Waren. 75
Der Kommissionierer muss der Zusammenstellung der Paletten kognitive Aufmerksamkeit schenken, er muss kleine Aufklebe-Zettel mit Warennummer und -bezeichnung vergleichen und die Zuordnungen kontrollieren; der Warentransporteur transportiert nur komplette Paletten „von A bis nach B" (B. 23 MS 9). 76
77 Der zeitliche Druck, der sich durch die Akkordstruktur beim Kommissionieren ergibt, verschärft einerseits vermutlich den Konkurrenzdruck, lässt andererseits die Zeiträume für informelle, außerberufliche Kommunikation im Arbeitsalltag auf ein Minimum schrumpfen.
3.2 Gehaltene Diskrepanz • 135 formuliert demgegenüber den Verlust der Möglichkeit, über Leistung die Höhe der Entlohnung selbst zu beeinflussen. 78 B. 179IR1 63:.../
sind Se nich unter dem Streß.
Der Interviewer bemerkt den Kontrast und korrigiert sich im Sinne der Äußerung des Interviewee. Durch den bestimmten Artikel macht er deutlich, dass der ,Stress' des Warentransporteurs im Vergleich zu dem des Kommissionierers geringer ist. — ,Stress' ist ein unspezifischer Ausdruck für eine in ihren Ursachen nicht genau bestimmbare Uberforderung. B. 180 MS 84: Nein, ich bin nich mehr unter den Streß.
MS stimmt zu, allerdings ist die kolloquiale Transformation der grammatischen Deklination ein Indiz dafür, dass er generell nicht mehr unter Stress ist.79 B. 181IR1 64: Ähä. B. 182 MS 85: Ich brauch nich mehr mich bealen
IR1 nimmt diese Generalisierung zur Kenntnis. — Die Abwesenheit von Stress drückt sich für MS v. a. in der Abwesenheit des zeitlichen Drucks aus. B. 182 MS
85:.../gut\...
Die pragmatische Funktion des Folgenden ist die Abwehr der möglichen, antezipierten Unterstellung, Martin Schreiber übertreibe die Betonung des Angenehmen; inhaltlich könnte sie mit der Benennung von ,Stressmomenten' auch der neuen Tätigkeit (Ausnahmen wahrscheinlich vom nicht mehr sich beeilen Müssen), oder mit anderen unangenehmen Aspekten der Tätigkeit des Warentransports erfolgen. B. 182 MS 85:.../
Streß ham wir auch!
Der Inhalt der Relativierung müssen nun Ausnahmen sein. Dass Schreiber sich nicht mehr beeilen muss, ist die Regel; die Ausnahmen müssen so gering sein, dass kein Widerspruch zu der Lesart (vgl. Fn. 79) entsteht. Dass der Interviewee nun im Plural redet, lässt den o. g. Aspekt (e) der angenehmen kollegialen Atmosphäre in den Vordergrund treten. B. 182MS 85:.../
Wenn Weihnachten, Ostern is.
78
Wenn man dies so formuliert, zeigt sich, dass der Leistungslohn zugleich ein autonomieförderndes Potential enthält. Allerdings muss die konkrete Ausgestaltung dieses Potential heben; d. h. die geforderte Leistung muss real möglich und das nicht Erbringen der Leistung eine echte Alternative sein. 79
,Ich bin nicht mehr unter den Stress' als (1) kolloquiale Formulierung für ,Ich bin nicht mehr unter Stress' - und nicht als (2) kolloquiale Formulierung für ,Ich bin nicht mehr unter dem Stress [, unter dem ich als Kommissionierer war]', denn hier hätte Schreiber die Formulierung des Interviewers übernehmen können.
1 3 6 - 3 Fälle der Region
Zu Weihnachten und Ostern wird der Warenumschlag sich stark erhöhen, was bedeutet, dass entweder (1) in der gleichen Arbeitszeit erheblich mehr Paletten zu transportieren sind, oder (2) länger gearbeitet werden muss, oder (3) schließlich zusätzliches Personal mitarbeitet. Die Varianten 1 und 3 würden die Arbeit des Transporteurs wieder der des Kommissionierers annähern; die Variante 2 wäre eine modifizierte Form. — Alle drei Varianten reagieren auf eine Ausnahmesituation. B. 182 MS 85: .../So wiejet% die letzen Tage heiß war (.) //IR1: Ja./ / \... Eine weitere Ausnahmesituation des erhöhten Warenumschlags. Die konkrete Situation steht Schreiber sofort vor Augen. B. 182 MS 85: .../ komm die ganzen Getränke. / / IR1:Ja/ / Aaber wir ham - wenns hoch kommt ham wir (.) dreima im Jahr Streß bei uns anner Seite. //IR1:ähä/ / Aber sons (.) isses eigentlich 'n gan% ruhiges Arbeiten. Die Deutung bestätigt sich. Stressfreiheit bedeutet „ruhiges Arbeiten"; und das wird nur durch Ausnahmen unterbrochen. Die Thematisierung der Ausnahmen hat die pragmatische Funktion, die Schilderung der Arbeitssituation als besonders angenehmer glaubwürdiger zu machen. Sie unterstellt beim Gegenüber die gleiche Deutung von Arbeit und reagiert nur auf das Problem der Glaubwürdigkeit.80 Die Formulierung „bei uns anner Seite" hebt darüber hinaus seine Identifikation mit dem jetzigen Tätigkeitsbereich hervor, der die Kollegen als Gemeinschaft mit einbezieht. Damit zeigt sich, dass auch im Arbeitsbereich die Vergemeinschaftung eine große Rolle für Schreiber spielt, dass er jedenfalls Aufstiegschancen bzw. Chancen, den Verdienst zu steigern, nicht um den Preis einer geringeren Einbindung in die Kollegengemeinschaft nutzt. Die „Milieuhocker"-Hypothese ließe sich zwar von dieser Interview-Stelle her kaum entwickeln, aber sie wird hier gestützt, keinesfalls falsifiziert.
2.5
Habitus als sozial konstituiert
Die Rekonstruktion ergab über die auf der Habitus-Ebene liegende Hypothese vom „Milieuhocker" hinaus eine dazu in einem Passungsverhältnis stehende Hypothese, die auf der psychischen Ebene zu liegen scheint: die IdentifikationsHypothese. Eine genauere Betrachtung zeigt aber, dass hier keineswegs eine psychologische Deutung vorliegt, und dass erst recht nicht die soziologische „Milieuhocker"G a n z anders w ä r e die Sache gelagert, w e n n statt „ g u t " „ o b w o h l " stünde: dann w ä r e die P r a g m a t i k d u r c h eine geteilte U n t e r s t e l l u n g d e r Leistungsethik g e k e n n z e i c h n e t , u n d die Funktion der Ä u ß e r u n g bestünde darin, die a n g e n e h m e Tätigkeit nicht als L a u m a l o c h e erscheinen zu lassen. 80
3.2 Gehaltene Diskrepanz • 137
Hypothese durch psychologische Reduktion erklärt werden kann. Die Identifikation ist nämlich nicht im Sinne einer (möglicherweise gar pathologischen) psychischen Operation der Imitation, der Projektion o. ä. zu verstehen; vielmehr können wir 2unächst davon ausgehen, dass es sich bei ihr um eine spezifische Gestalt oder um einen Ausfluss des „Milieuhocker"-Habitus handelt: Es wird keine eigene Phantasie über mögliche berufliche Tätigkeiten entwickelt, sondern schlicht das nächstliegende übernommen. Dabei ist die Passung von psychischer Konstellation, die anhand der objektiven Daten als durch die Interaktionskonstellation in der Familie generiert81 herausgearbeitet werden konnte, und sozialem Habitus auffallig; dies wird etwa deutlich, wenn Schreiber Wohnungsrenovierungen in der Verwandtschaft und Bekanntschaft und im Nachbarschaftsmilieu übernimmt, die vorher sein Vater durchgeführt hat (vgl. IW 2, 1996-2002). Läge demgegenüber bei Schreiber eine Identifizierung mit dem Vater im Sinne der psychoanalytisch verstandenen Fixierung vor, müsste eine Ablösung zu einer psychischen Krise führen. Nach dem Umzug Schreibers in eine Wohnung in der Nachbarschaft der Eltern ist aber der Vater eine Figur im Reigen der Kumpel (vgl. IW 2, 2622-2632); die möglicherweise psychisch dominierte familiale Relation wird also durch die sozial dominierte Relation unter Peers abgelöst.
2.6
Résumé „Ich wollte vor 'ne Stunde schon drüben sein!" - „Ah ja! Bei'n Eltern!" -„Ja"
Markus Schreiber, geb. 1966, wurde zuerst im Rahmen eines früheren Projekts interviewt. Dieses erste Interview liegt 12 Jahre vor dem zweiten Interview. Herr Schreiber stammt aus einem proletarischen Milieu, ist Sonderschüler und Hilfsarbeiter; unverheiratet. Die familiale Konstellation2 Markus Schreibers, die anhand der objektiven Daten rekonstruiert werden konnte, ist auf spezifische Weise durch eine Anerken-
Dieses Ergebnis muss sozialisationstheoretisch wie folgt gedeutet werden: Die in der Sozialisation sich herausbildende psychische Struktur ist als Antwort auf die „development tasks" (Havighurst 1953) in ihrer Konkretion als je spezifische Handlungsprobleme zu begreifen, als mit denen konfrontiert das sich bildende Subjekt in der Sozialisationskonstellation sich erfährt. 81
Der Ausdruck ,familiale Konstellarion' (vgl. Adler 1929: 25) wie auch die verwandten Bezeichnungen .Sozialisationskonstellation', biographische Konstellation' (vgl. Oevermann 1990) oder überhaupt .soziale Konstellation' meint das Beziehungsgefüge von Momenten in Bezug auf ein Drittes. Dies Dritte kann — wie bei der Ursprungsbedeutung: Konstellation als Zueinanderstehen von Sternen - ein Beobachter sein, dies kann - was soziologisch verstanden auch für den Beobachter gilt — ein Handelnder sein, der in einer Konstallarion als mit bestimmten Handlungsproblemen konfrontiert sich erfahrt und darauf antwortet. 82
138-3 Fälle der Region nungsproblematik charakterisiert, die wesentlich durch die Kriegstraumatisierung des Vaters Schreiber bestimmt ist. Diese Beeinträchtigung drückt sich aus und setzt sich fort in dem Scheitern von dessen erster Ehe, welches ,repariert' wird durch eine zweite Ehe mit der komplementär ebenfalls in einer ersten Ehe gescheiterten späteren Mutter Markus Schreibers. Die Anerkennungsproblematik findet darüber hinaus ihren Ausdruck in der Geschwisterkonstellation, in der Markus als Stiefbruder der anderen Mutterkinder und als lebendiges Zeichen des Vollzugs der aus pragmatischen Gründen geschlossenen Ehe nur eine reduzierte Mutter/Kind-Beziehung erfährt. Die schulische Lauflahn von Markus Schreiber wird durch seine Legasthenie — und den unprofessionellen Umgang damit - vorgeprägt: Er wird früh zum Sonderschüler. Beides: die Legasthenie und dass er zum Sonderschüler wurde, muss als durch die familiale Konstellation sowie durch die schichtspezifische Ferne zum Bildungswesen wesentlich mitbestimmt interpretiert werden. Eine negative Karriere ist somit vorprogrammiert. Solange aber das Milieu, in dem er lebt, für einen formal Ungebildeten Bewährungschancen bereit hält — und das heißt auch: ihn als Typus kennt — hat jemand wie Markus Schreiber kein Normalisierungsproblem: Es gibt in der Normalität des Milieus für ihn, der in der individuellen Verfolgung und Erreichung der geltenden Standards der Anerkennung scheitert, einen Platz. Hierzu muss die im Milieu geltende Normalitätsvorstellung von Bewährung die Möglichkeit enthalten, sich durch Tätigkeiten Anerkennung zu verschaffen, die einer individuellen Leistungsorientierung nicht bedürfen. Dazu könnten etwa gemeinwohlbezogene oder der Milieugemeinschaft als Gemeinschaft bzw. für ihren Zusammenhalt dienliche Tätigkeiten gehören. Diese erlauben die positive — nicht lediglich kompensatorische — Typisierung einer solchen — nach universalistischen Maßstäben von Leistung, aber auch nach den milieuspezifischen Standards der Anerkennung scheiternden — Karriere. Das Bereithalten einer solchen Typisierung für die an übergreifenden Kriterien wie an den im Milieu geltenden Standards der Anerkennung gemessen abweichende Identität bedeutet eine Normalisierung durch das Milieu; sie wird nicht dem Abweichenden aufgebürdet. In ihr drückt sich eine Anerkennung aus. Wie muß nun das Milieu beschaffen sein, wenn eine solche Form der Anerkennung möglich sein soll? Die Normalitätsvorstellung dieses Milieus in Bezug auf Bewährung scheint ziemlich genau einen Kontrast darzustellen zu dem Modell „amerikanischer Identität", für das Norbert Bellah folgende Momente als grundlegend schildert: „We believe in the dignity, indeed the sacredness, of the individual. Anything that would violate our right to think for ourselves, judge for ourselves, make our own decisions, live our lives as we see fit, is not only morally wrong, it is sacrilegious." (Bellah et al. 1985: 142) Im Gegensatz dazu muss in ihm eher die Bedeutung der Gemeinschaft auf eine Weise Vorrang haben, dass sowohl sie wie selbstverständlich für ihre Mitglieder da ist, als auch diese wie selbstverständlich für sie da sind. Eine solche Struktur beschreibt Charles H. Cooley in seiner Bestimmung der Primärgruppe:
3.2 Gehaltene Diskrepanz • 139 „By primary groups I mean those characterized by intimate face-to-face assosiation and cooperation. They are primary in several senses, but chiefly in that they are fundamental in forming the social nature and ideals of the individual. The result of intimate association, psychologically, is a certain fusion of individualities in a common whole, so that one's very self, for many purposes at least, is the common life and purpose of the group. Perhaps the simplest way of describing this wholeness is by saying that it is a ,we'; it involves the sort of sympathy and mutual identification for which ,we' is the natural expression. One lives in the feeling of the whole and finds the chief aims of his will in that feeling." (Cooley 1923: 23)
Präzisierend wäre hinzuzufügen, dass Primärgruppen durch die Diffusität der Sozialbeziehung gekennzeichnet sind. Die Form der Vergemeinschaftung, die wir in dem Milieu, in dem Schreiber lebt, vorfinden, kann also treffend als Vergemeinschaftung durch Ausdehnung der Primärgruppen oder kurz als Primärgruppenvergemeinschaftung beschrieben werden. Durch Transformationen im Bereich der Arbeit - hier bedeutet die stete Rationalisierung den Wegfall von Arbeitsplätzen u. a. genau für diesen Typus — und im Bereich der milieubezogenen Vergemeinschaftungen — hier bedeutet die Rationalisierung die zunehmende Vergesellschaftung von ursprünglichen Gemeinschaftsaufgaben und damit die Reduktion der Relevanz von PrimärgruppenBeziehungen - kann nun allerdings das Milieu in eine Krise geraten, die die sozialen Orte für solchermaßen zu typisierende Mitglieder der Gemeinschaft verschwinden lässt. Wenn sich mit dieser Transformation auch die Normalitätsvorstellung verändert, so dass die Anerkennung des Abweichenden durch die Gemeinschaft, die gegenüber der übergreifenden Gesellschaft eine vom Milieu getragene Normalisierung darstellt, keinen Geltungsgrund mehr hat, werden die Abweichenden tendenziell zu Verlorenen. — In einer so weitreichenden Krise befindet sich — wie man an dem Aufgehobensein von Markus Schreiber in seinem einbettenden Milieu sehen kann - das Ruhrgebiet offensichtlich nicht. Zeigt sich diese Tendenz in der Berufskarriere von Markus Schreiber? Nach dem Abschluss der Sonderschule gelingt ihm erst nach einer von Arbeitsamtsmaßnahmen bestimmten Zwischenphase der Einstieg in den sogenannten ersten Arbeitsmarkt. Hier allerdings auf einem niedrigen Niveau, auf dem er sich zudem noch eine Nische sucht, wo er nur geringsten Anforderungen ausgesetzt ist. Ihm gelingt damit zunächst der Minimalnachweis des Erwachsenenseins: er verdient sich seinen Lebensunterhalt selbst. Allerdings zeigt seine Berufskarriere zugleich, dass er immer wieder noch aufgefangen wird vom Milieu. Er findet die Anschlüsse in seiner Laufbahn nicht durch Eigeninitiative, sondern durch Milieueinbettung. 83 Weder sozial-räumlich noch geistig bewegt Markus Schreiber sich gern von seinem angestammten Platz fort.
83
Eine typische Interviewäußerung zu dieser Anschlussproblematik ist 2. IW, 94 MS 43; s. o., S. 124f.)
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Er ist aber auch nicht in einem genuinen Sinne sesshaft. Vielmehr könnte man ihn also als einen Nesthocker des Milieus bezeichnen. 84 Die Milieunetze tragen ihn, was gleichzeitig erforderlich ist. Es liegt hier also ein Passungsverhältnis zwischen Habitusformation und Milieustrukturen vor. Sehr weit reicht offensichtlich auch die Bereitschaft des Milieus, Markus Schreibers Partnerlosigkeit, die wir auf eine in der Familienstruktur angelegte Bindungsschwierigkeit zurückführen müssen, anzuerkennen. Hier versucht Markus Schreiber die Peergroup-Struktur, die sich offensichtlich zunächst in der FußballFan-Gemeinschaft relativ stabil reproduziert, aktiv aufrechtzuerhalten, indem er durch Abonnement eines Pay-TV-Senders, der die Bundesligaspiele zeigt, und durch Bereitstellen von der Vergemeinschaftung dienlichen Getränken, den Familienvätern seiner Altersgruppe einen Rückzugsort für die Perpetuierung der Peergroup schafft. Diese Leistung für die Gemeinschaft ermöglicht die Normalisierung der Abweichung von der Normalitätsvorstellung des verheirateten Erwachsenen. Der — späte - Auszug aus der elterlichen Wohnung stellt insofern nur eine Verlagerung des Milieunestes, nicht aber ein Verlassen desselben, das das Komplement des Sesshaftwerdens in ihm wäre, dar. Zusammenfassend läßt sich festhalten: Markus Schreiber ist wenig autonom dafür aber stark in seinem Milieu verwurzelt, was ihm eine positive Ausbildung seiner Identität als „Milieuhocker" ermöglicht, die nicht lediglich substitutiven Charakter hat. Nicht er normalisiert seine abweichende Existenz, sondern das Milieu bietet ihm einen Platz, der nach außen eine Normalisierung darstellt. Da die Bewährung in einer beruflichen Aufgabe kein Erfordernis ist, er die Anerkennung mittels des eigenständigen Erwerbs des Lebensunterhalts erlangen kann — die Vorstellung von Erwerbstätigkeit ist auf diese Selbstverständlichkeit und damit auf eine extrinsische Motivation beschränkt —, ist zu fragen, wie lange die Peergroup-Funktion, die objektiv ein Substitut für die Bewährung im Bereich der partnerschaftlichen Bindung und Familiengründung 85 ist, tragen kann. Offensichtlich gelingt es in seinem Milieu sehr lange, eine solche Position beizubehalten (immerhin ist er zum Zeitpunkt des zweiten Interviews schon 33 Jahre alt und ohne Freundin). — Es ist eine offene Frage, ob diese objektive Normalisierung der Abweichung durch praktische Anerkennung dem spezifischen Milieu zugerechnet werden muss, oder ob hier die Region als Einflussstruktur wirksam ist.
m Vgl. die Selbsteinschätzung: 1. IW, 707 MS 332; s. o., S. 118, Fn. 56) 85 Dass zumindest Partnerschaft zu den Normalitätsvorstellungen auch von Markus Schreiber gehört, zeigt sich daran, dass er an den Wochenende häufig eine große Tanzveranstaltung besucht, die durchaus als Ort der Partnerschaftsanbahnung für schwierige Fälle gelten kann.
3
Verhaltene Dissonanz
3.1
Vorbemerkung zur Fallauswahl
Der hier vorgestellte Fall des Ulrich Hofmeister 1 wird auf der Basis eines Interviews analysiert, das 1989 geführt wurden; für ein zweites Interview stand der Interviewee nicht zur Verfügung. Die Auswahl erfolgte, weil Hofmeister, aus dem gleichen Milieu stammend wie Markus Schreiber, nach milieuinternten Kriterien eine erfolgreiche Etablierung im Beruf aufzuweisen hat. Der so hergestellte Kontrast bei sonst gleichen Fällen dient heuristisch dazu, fallspezifische Aspekte deutlicher hervortreten zu lassen.2
3.2
Analyse der objektiven Daten3
Männlich, geboren 1960 in Dortmund-Hörde
Wir haben hier die gleichen Ausgangsdaten vorliegen wie bei Markus Schreiber, so dass wir die dort entwickelte Deutung übernehmen können. Der Herkunftsort lässt auf eine dem Individuierungsprozess wenig förderlich spezifische Form der Traditionalität4 schließen. Auch bei Ulrich Hofmeister lässt das Milieu eine auf Vergemeinschaftungsbeziehungen hin orientierte Habitusformation erwarten. Generationell ist er hingegen der „Sinnkrisengeneration" zuzurechnen, die gekennzeichnet ist durch die Spannung zwischen einem erleichterten Erwerb von Zertifikaten höherer Bildung einerseits und der erhöhten Schwierigkeit, eine dem Bildungsgrad entsprechende Stellung am Arbeitsmarkt zu finden. Dies stellt eine Herausforderung dar, die für Hofmeister einerseits gesteigert vorliegen dürfte, da seine Adoleszenzkrise mit der Ölkrise und dem Manifestwerden der strukturellen Arbeitslosigkeit zusammenfallt (vgl. S. 98f.) und ihm somit im Moment der gesteigerten Ausbildung der eigenen Identität ein Bezugsrahmen für positive Entwürfe (und Gegenentwürfe gegen die elterlichen Lebensführungsmuster) fehlt. Dies steigert die Reduktion des Ablösungskonflikts auf einen reinen Autoritäts-
1
Der Fall ,Ulrich Hofmeister' wurde ebenfalls bereits in dem Projekt .Kontrastierende Fallanalysen zum Wandel von arbeitebezogenen Deutungsmustern und Lebensentwürfen' herangezogen; wo auf die dort erfolgten Analysen (vgl. Becker et al. 1998: 112-136) Bezug genommen wird, ist dies ausgewiesen. 2
Zur Bedeutung des Kontrastes vgl. S. 209-212.
3
Die objektiven Daten zu Hofmeister sind sehr viel spärlicher als bei Schreiber; da Hofmeister zu einem zweiten Interview nicht bereit war, konnten sie auch nicht nacherhoben werden. - Auch hier ist der Ort den Projektmitarbeitern, und auch hier besonders Stefan Heckel zu danken. 4
Es ist ein interessantes Datum, dass mitderweile versucht wird, diese spezifische Form eines nicht-ruralen Mangels an Urbanität positiv zu wenden mit dem Konzept der „Zwischenstadt" (vgl. Sieverts 1997).
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konflikt zwischen den Generationen, den wir bei Schreiber bereits als Spezifik des Herkunftsortes bestimmten. — Gleichzeitig ist der sich mit dem Jahr 1965 verbindende Enttraditionalisierungs schub in Betracht zu ziehen (vgl. S. 99). 1Vater geb. 1933, Mutter geb. 1934 Ulrich Hofmeisters Eltern gehörten gerade noch der Zwischengeneration an (vgl. Loer 1999). Für die Erziehungsziele und die Erziehungspraxis bedeutet dies eine Distanz zu autoritären Mustern, was mit der Enttraditionalisierung einhergeht; zugleich aber entweder eine Unsicherheit oder ein forciertes Bemühen um Partnerschaftüchkeit. erster Bruder geb. 1952, erste Schwester geb. 1954, ^weiter Bruder geb. 1956, (UH geb. 1960), zweite Schwester geb. 1970 Die relativ hohe Kindert^ahl lässt auf ein traditionales Milieu schließen; angesichts des Ortes ist ein katholisches Milieu naheliegend. Da die vorhandenen familialen Ressourcen hier auf viele Nachkommen verteilt werden, ist die Wahrscheinlichkeit des Aufstiegs der Kinder relativ gering. Wodurch ist die Traditionalität bezüglich der Kinder gekennzeichnet? Unabhängig von einer religiösen Begründung bzw. Rationalisierung der hohen Kinderzahl (etwa als gottgewollt') muss ein Deutungsmuster vorherrschen, in dem ,Kindersegen' als Ausweis der Bewährung und als Garantie des Fortbestehens der Gemeinschaft - sei dies die Familie im engeren oder im weiteren Sinne, sei es der Stamm oder die religiöse Gemeinde — begriffen wird. 5 Eine Orientierung des Lebens an der Gemeinschaft geht mit dieser Deutung einher und wird notwendigerweise auch in der Geschwisternschaft praktisch eingeübt. Auch hinsichtlich der Zukunft der Kinder wird bei traditional-kinderreichen Familien die Reproduktion der Gemeinschaft und des in ihr erreichten Status im Vordergrund stehen; der überkommene Normalitätsentwurf wird in der Regel übernommen. Die Zukunftsentwürfe der Eltern für ihre Kinder werden sich daran orientieren. Wesentliches Moment des Entwurfs wird eine frühe berufliche Selbstständigkeit auf den überkommenen Pfaden sein. Der Besuch einer weiterführenden Schule liegt nicht nahe. Ulrich Hofmeister ist das vierte von fünf Geschwistern, dabei der jüngste von drei Brüdern; ihm folgt mit 10 Jahren Abstand noch eine Schwester. In dieser
Damit wird — ohne dass dies an dieser Stelle ausgeführt werden könnte — einer Interpretation widersprochen, die die hohe Kinderzahl in traditionalen Gesellschaften lediglich negatorisch durch Rückführung auf mangelndes Planungsbewusstsein zu erklären versucht. Diese gängige (und eingängige) Interpretation ist nicht distanziert genug und speist sich aus der Annahme einer praktischen Überlegenheit der geringen Kinderzahl, ahistorisch unterstellend, dass die Angehörigen traditionaler Gesellschaften eine geringere Kinderzahl gewählt hätten, wenn sie nur methodisch ihr Leben geplant hätten. Demgegenüber möchte ich anregen, die hohe Kinderzahl als positiv motiviert - und zwar nicht lediglich soziobiologisch-funktional (verursacht, müsste man hier auch sagen) - zu begreifen als Antwort auf das Bewährungsproblem (generell zum Bewährungsproblem vgl. Oevermann 1995). 5
3.3 Verhaltene Dissonanz • 143
Geschwisterkonstellation nimmt Ulrich die Position des ,Benjamin' der Familie ein. Diese Bezeichnung selbst6 enthält implizit die theoretische Deutung der Konsequenzen dieser Position. Er erfährt einerseits besondere und in besonderem Maße andauernde Zuwendung der Mutter 7 und genießt andererseits größere Freiheiten, da die älteren Geschwister diese bereits erkämpft haben und da zudem die Eltern erfahrener sind. Beide Momente ermöglichen eine stärkere Individuierung, so dass im Rahmen einer vergemeinschaftungsdominierten familialen Konstellation hier die maximale Chance einer Transformation der überkommenen Muster hin zu einem „eigenen Leben" 8 besteht. Die Kehrseite dieser Position in der Geschwisterkonstellation besteht in einer möglichen Erschwerung der Ablösung von der Mutter. Hofmeister spielt vom siebten Lebensjahr an Handball im Verein Dieses Datum ist insofern auffallig, als die traditionelle Sportart für einen Arbeiterjungen im Ruhrgebiet Fußball ist (vgl. Lindner/Breuer 1979). Die erfolgreichen Handballvereine, wie VfL Gummersbach, Mörfelden/Walldorf, Lemgo, Kiel etc. finden sich durchweg in Orten, die durch Facharbeiter aus dem verarbeitenden Gewerbe und Angestellte geprägt sind. Dies verweist darauf, dass nicht unbedingt eine traditional proletarische Orientierung im Passungsverhältnis zum Handballsport steht. Darüber hinaus findet sich Straßenfußball als Grundlage für den Vereinssport; Straßenhandball hingegen nicht. Handball ist von vornherein organisationsvermittelt und von daher ebenso wie von der Ausführung des Sports selbst weniger vergemeinschaftungsorientiert als Fußball. Das Zusammenspiel ist stärker als beim Fußball auf die individuierten Einzelleistungen der Spieler - auch in ihrem Zusammenspiel — abgestimmt. Gleichzeitig ist die Verbindung zur lebensweltlichen Vergemeinschaftung in Deutschland im Fußball ungleich enger als im Handball, da der Fußballverein die Gemeinschaft in ungleich höherem Maße als andere Vereine repräsentiert. Die Mitgliedschaft im Handballverein steht in einem Passungsverhältnis zur Benjamin-Position. 1975 Abschluß der Hauptschule
„Sein Vater aber nannte ihn Benjamin (Erfolgskind)." (Gen. 35,18) - Die genaue Übersetzung ist „Sohn der rechten (Seite)".
6
Dies stimmt in einem positivistischen Sinne nicht mit dem Urbild dieses Namens überein, stirbt doch die Mutter Rahel bei seiner Geburt; deshalb nannte sie ihn „Ben-Oni (Unglückskind)" (die genaue Übersetzung ist „Sohn meines Schmerzes"). 7
Ich benutze den treffenden Titel von Beck/Vossenkuhl/Ziegler 1995, womit in unserem Zusammenhang ein individuierter Lebensentwurf gemeint ist. Demgegenüber drückt die sogenannte Individualisierungstheorie Ulrich Becks lediglich das analytische Problem der Rekonstruktion von individuierten Strukturen aus, vor das sich auch subsumtionslogische Verfahren vermehrt gestellt sehen, seit die - methodisch immer schon ihren Gegenstand verfehlende - Reduktion von beobachtbaren Handlungsresultaten auf sozialstrukturelle Merkmalskombinationen durch statistische Korrelationen offensichtlich nicht mehr greift. 8
1 4 4 - 3 Fälle der Region Trotz der erweiterten Bildungsmöglichkeiten besucht Hofmeister keine weiterführende Schule; dies ist allerdings für das Milieu (s. o.) nicht weiter erklärungsbedürftig. Mit dem Hauptschulbesuch antezipiert man eine dem tradierten lebensweltlichen Kontext angehörende berufliche Option. 9 1978 Abschluß einer Lehre bei Hoesch als Hüttenfacharbeiter/Schwerpunkt Walzwerk Für den 1960 geborenen Ulrich Hofmeister beginnt die Adoleszenzkrise ca. 1974. Da er in einem Milieu aufwächst, in dem die Verschärfung der Adoleszenzkrise durch die Entkoppelung von Schulabschluss und Arbeitsmarkzugang noch nicht virulent ist, kann er die Realisierung eines angemessenen Erwachsenennormalitätsentwurfes antezipieren. 10 Er ist nicht, wie das für seine Jahrgangsgenossen mit Abitur gilt, von einem sich aus dieser Entkoppelung ergebenden Sinnkrisenphänomen betroffen. 11 Auch Hofmeisters berufliche Sozialisation erfolgte noch zu einer Zeit, als der Lebenslauf eines Arbeiters bzw. eines Angestellten noch als Routine antezipierbar war. 12 Man arbeitete dauerhaft in dem Bereich, für den man ausgebildet war und konnte unter der Bedingung eines gewissen beruflichen Engagements einen beruflichen Aufstieg erwarten. Dass diese Perspektive, die eine berufliche Laufbahn abseits der Hütte als Option ausschließt, dominierte, zeigt sich auch an dem gewählten Beruf des Hüttenfacharbeiters: dieser kann, im Gegensatz zu anderen technisch-gewerblichen Berufen wie Elektriker, Schlosser, Dreher etc., nur in der Stahlindustrie ausgeübt werden. Hofmeister wählt also, obwohl auch unspezifische Lehrberufe bei Hoesch angeboten wurden, einen Beruf, der ihn auf eine Tätigkeit an der Hütte festlegt. Indem er diesen Beruf ergreift, antezipiert er eine Lebensstellung an der Hörder Hütte. Er richtet sich damit in der Erwartung einer Erwerbsbiographie ein, die dem Beamtenverhältnis strukturell gleicht. Es gibt einen dem Altersavancement im Staatsdienst vergleichbaren geDemgegenüber ließe der Besuch einer weiterführenden Schule durch Angehörige der Unterschicht auf eine Orientierung schließen, die von der Antezipation einer lebensweltlichtradierten Tätigkeit abgelöst und in dem oft verwendeten Satz: „Mein Kind soll etwas lernen" verkörpert ist. Das Zukunftspotential universalistischen Wissens, über welches das Kind frei von einer Tradition verfügen kann, wäre Gegenstand der Orientierung. Damit wäre eine neue Stufe der Enttraditionalisierung erreicht und die Herrschaft der Vergangenheit über die Zukunft gemindert. 9
10 Die Mitte der siebziger Jahre auftretende Krise der deutsche Stahlindustrie ändert an dieser Sichtweise insofern nichts, als sie als konjunkturelle, nicht als strukturelle Erscheinung interpretiert wurde (vgl. Petzina 1990: 536-551).
Für die in den achtziger Jahre auf den Arbeitsmarkt kommenden Hauptschüler trifft dies, da die Hauptschule inzwischen zur Restschule herabgesunken ist, hingegen in drastischer Weise zu. 11
12 Auch hier gilt, dass die retrospektive Einschätzung hiermit nicht übereinstimmt und dass einer realistischen Sicht auf die wirtschaftliche Entwicklung dies auch schon 1975 hätte deutlich werden müssen; gleichwohl galt ,im Revier' die Maxime des Weiterso (vgl. Petzina 1990).
3.3 Verhaltene Dissonanz • 145
regelten Aufstieg sowie eine Sicherheit vor betriebsbedingten Kündigungen. Die der Maxime ,Keiner fällt ins Bergfreie' folgende Personalpolitik, die eine Fürsorgepflicht des Unternehmens über die vertragliche Logik hinaus enthält, verleiht dem Beschäftigungsverhältnis einen paternalistischen Zug. Die deutsche Stahlindustrie gerät allerdings Anfang der achtziger Jahre in eine strukturelle Krise, die sie zu umfangreichen Werksschließungen und tiefgreifenden Umstrukturierungen zwingt. 13 Diese haben, da das gesicherte Avancement wegfällt, tiefgreifende Auswirkungen auf die Erwerbsbiographien in der Stahlindustrie. Für Hofmeister, wie selbstverständlich in die entsprechenden Aufstiegsaspirationen sozialisiert, wird durch die strukturelle Krise des Stahlstandortes Deutschland, die diese Aspirationen gegenstandslos werden lässt, die auf den beruflichen Aufstieg bezogene Sinnstiftung in die Krise geraten. Ein Verlust der lebenspraktisch zentralen Sinnstiftung ist die Folge; eine Krise, die eine Transformation der Orientierung erforderlich machte. 1979 Ableistung des Wehrdienstes, danach wieder Tätigkeit bei Hoesch, 1981 dort Arbeit am Tiefofen Der Wehrdienst folgt wie üblich der Lehre; die Rückkehr zu Hoesch war erwartbar. Es ist zu vermuten, dass Hofmeister aufgrund der für Wehrpflichtige bestehenden Arbeitsplatzgarantie zuerst auf seinen alten Arbeitsplatz zurückkehrt. Die Angabe .Arbeit am Tiefofen' ist als Indikator für einen Arbeitsplatzwechsel zu interpretieren, der u. U. durch betriebsinterne Umstrukturierungen im Gefolge der Stahlkrise motiviert ist. Damit ist das geregelte Avancement ist für Hofmeister allerdings durchbrochen, da er am neuen Arbeitsplatz wieder von vorne beginnen muss. 1984 Null-Kurzarbeit „Null-Kurzarbeit" ist eine beschönigende Bezeichnung für den faktischen Verlust der bisherigen Arbeitsstelle, die eine Rückkehr zum vorherigen Zustand als möglich, ja als wahrscheinlich suggeriert. Das Kurzarbeitergeld hat für den Betroffenen den Vorteil, dass die Fristen von Arbeitslosengeld und -hilfe nicht berührt werden. Die Freistellung ist hier Folge der Schließung des Tiefofens bzw. einer Umstrukturierung am Tiefofen, die wiederum Folge der Stahlkrise ist. Auch wenn Hofmeister nicht unmittelbar mit Arbeitslosigkeit rechnen musste — z. B. da der Personalabbau in der Stahlindustrie vorrangig über den Vorruhestand erfolgte —, stellt die Kurzarbeit eine Deprivation dar: Das antezipierte Avancement wird für Hofmeister ein zweites Mal durchbrochen. ab 1984 Arbeit in der Haubenglühe, ab 1987 Vorarbeiter
13 „Brennpunkt dieser Entwicklung war das Ruhrgebiet, wo auf dem Höhepunkt der Abbauwelle, zwischen 1979 und 1986, 45.000 Arbeitsplätze oder 30 Prozent verschwanden." (Petzina 1990: 539)
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Im Gegensatz zum Tiefofen ist die Haubenglühe dem Bereich der Veredelung zuzurechnen, stellt also eine Reaktion der Firma auf die Absatzkrise für Stahl mit geringem Verarbeitungsgrad dar. Dieser Betrieb ist zum Zeitpunkt des Interviews (1989) im Prinzip überholt, da in der sogenannten Conti-Glühe wesentlich rationeller produziert werden kann. Hofmeister muss also damit rechnen, dass auch die Haubenglühe über kurz oder lang geschlossen wird und sein Avancement also auch hier abgebrochen wird. Dies lässt vermuten, dass er sich die neue Tätigkeit nicht im Vorgriff auf eine Umstrukturierung selbst ausgewählt hat, sondern dass er ihr vielmehr passiv folgt. 1977 stirbt Ulrichs Mutter, 1979 sein Vater; Hofmeister bleibt in der Wohnung wohnen Obwohl der Tod nicht mehr sozialisatorisch entscheidend sein kann, ist er doch traumatisierend. Ein Auszug aus der elterlichen Wohnung hätte von hierher durchaus nahegelegen. Gleichwohl bleibt Hofmeister dort wohnen und setzt die Familie sozusagen örtlich fort. 1986 %ieht seine Lebenspartnerin (*1953), die zunächst von So^alhilfe lebende, dann als Puttfrau hinzuverdienende Daniela, mit ihren beiden Söhnen aus einer früheren Ehe (*1974 und *1979) Hofmeister Hofmeister geht eine eheähnliche Beziehung mit einer acht Jahre älteren Frau ein, die aus einer früheren Ehe zwei Kinder mitbringt. Der große Altersunterschied deutet auf die Dominanz der Lebensgefährtin hin. Dass diese Frau bereits Kinder hat, lässt im Hinblick auf die Beziehung schließen, dass sie nicht eine von gleichrangigen Partnern ist — die sich womöglich in einem weiteren Kind realisiert. Vielmehr liegt nahe, dass Hofmeister zu einer autonomen Gestaltung der Beziehung nicht in der Lage ist; dies lässt darauf schließen, dass die Erschwerung der Ablösung von den pimären Beziehungen der Herkunftsfamilie (s. o.) tatsächlich wirksam war und die Aufgabe der familialen Sozialisation: Individuierung und Autonomisierung, die in der Ablösung von der Herkunftsfamilie endet (vgl. Garlichs/Leuzinger-Bohleber 1999: 67-71), nicht vollständig bewältigt werden konnte. Hieraus lässt sich erschließen, dass Hofmeister die Lösung biographischer Krisen eher schwerfallen muss. Eine innovative Lösung der sich zu einer tiefgreifenden Sinnkrise ausweitenden Entwertung der beruflichen Arbeit (s. o.) ist von daher nicht zu vermuten. — Allerdings bleibt erklärungsbedürftig, warum diese Seite der Benjamin-Position in dem Maße Folgen zeitigen konnte und wie diese Folgen stabilisiert wurden. Da Hofmeister ja nicht als manifest pathologisch, gar als klinisch auffällig gelten kann, muss es - ähnlich wie bei Schreiber (vgl. S. 137ff.) — ein Milieu geben, das diese Abweichung vom Modell des vollständig individuierten autonomen Erwachsenen stützt; ein von Primärgruppenvergemeinschaftung geprägtes Milieu würde diese Aufgabe erfüllen können. Zusammenfassend lässt sich zu Ulrich Hofmeister die Strukturhypothese formulieren, dass er mit Krisen reaktiv umgeht, also keine innovative Überwindung von Problemlagen anstrebt. Dabei ist zu vermuten, dass er dieses objektive Scheitern an dem wirtschaftlichen Wandel im Muster der übernommenen Deutung vom
3.3 Verhaltene Dissonanz • 147
Erwerbsverlauf als traditionalem Avancement zu verarbeiten sucht, was zu Dissonanzen führen muss. Ob sich dies so verhält, und falls ja: welchen Weg zur Reduktion dieser Dissonanzen 14 Hofmeister einschlägt, wird nun am Interview zu untersuchen sein. Die Rolle des Milieus in diesem Prozess: es ist zu vermuten, dass eine Orientierung an Primärgruppenvergemeinschaftung hier stützend fungiert, ist ebenfalls zu klären.
3.3 Analyse des Interviews15 1 I 1: Also wir machen 'ne Untersuchung über die Veränderungen (.) der Arbeitsverhältnisse und auch der hebensweisen hier im östlichen Ruhrgebiet, also es geht speziell (.) 2 UH 1:Mhm 3 I 2: ums östliche Ruhrgebiet und ums Zentrum natürlich Dortmund. Undjet^t interessiert uns, wie verschiedene Bevölkerungsgruppen diese Veränderungen sehen. Und was sie vor allem auch - also für Konsequenzen daraus Riehen im Hinblick auf berufliche Pläne, auf Zukunftserwartungen (UH: Mhm) nich. Und im Zentrum stehn jet^t wiederum - (lacht kur%) - -äh- die Stahlarbeiter, nich, weil diiie nun eine Kem (.) gruppe der Bevölkerung hier im Ruhrgebiet sind, aber wir machen nich nur Stahlarbeiter, wiiir befragen auch Arbeitslose, wir befragen Angestellte - also so in verschiedensten Bereichen, auch etwa Leute so aus'm High-Tech-Zentrum daa an der Universität (Geschirrklappern im Hintergrund), um einfach die verschiedenen Sichtweisen auf die Probleme -äh- %u ermitteln. Die Anfangssequenz des Interviews erinnert eher an die Anbahnung als an den Beginn eines Forschungsinterviews. Indem der Interviewer das Forschungsinterview mit der Begründung des Interviewzwecks eröffnet, präsupponiert er, dass der Befragte diesen nicht kennt, was aber unwahrscheinlich ist, hat er sich doch zum Interview bereiterklärt. - Der Interviewee wird durch die Frage als Exemplar angesprochen, ähnlich wie in standardisierten Erhebungen, denen es auf statistische Repräsentativität ankommt; zudem hat, falls der Interviewee bei der Anbahnung des Interviews nicht hinreichend über die Stoßrichtung der Untersuchung informiert wurde, er seine Beteiligung an einer ihm im Prinzip unbekannten Sache zugesagt. Dass er sich überhaupt der Untersuchung als Interviewee zur Verfügung stellt, lässt dann darauf schließen, dass er sich aus Respekt vor der Institution Universität bereiterklärte, ihrem Anliegen mehr oder weniger unhinterfragt Folge zu leisten bereit ist. Es muss nun damit gerechnet werden, dass er bemüht sein wird, in seiner Sicht .repräsentative' Antworten zu geben. 4 UH 2: Ah so.
14 Ohne weitere - aber erforderliche — Begründung schreibt Leon Festinger in seiner Theorie der kognitiven Dissonanz: „reduction of dissonance is a basic process in humans." (Festinger
1957: 4) 15 Die Zählung der Interviewsequenzen setzt bei diesem ersten Transkript am Beginn des Interviews ein; in weiteren Verweisen wird sie um die Nummer des herangezogenen Transkripts ergänzt.
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Die Wendung „ah so", eine umgangssprachliche Form von „ach so", stellt einen Kommentar des Interviewees zu den Ausführungen des Interviewers dar. Die Interjektion „ach" bringt in Zusammenhang mit der deiktischen Partikel „so" Überraschung zum Ausdruck. Die Sequenz zeigt, dass dem Interviewee die Untersuchung in der vom Interviewer geschilderten Form nicht bekannt war. Dass sich der Interviewee zur Teilnahme an einer Untersuchung bereiterklärt hat, die von seinen bisherigen Vorstellungen abweicht, müsste er zumindest thematisieren. — „Ah so" bringt zugleich zum Ausdruck, dass dem Sprecher wissenschaftliche Untersuchungen bekannt sind. Dies ist vor dem Hintergrund des Kontextes als Prätention zu werten. 5 I 3: Und (.j daß wa uns nun hier bei Hoesch aufs Kaltwalzwerk konzentrieren, das hat seinen Grund darin, daß halt im Kaltwalzwerk so die (.) meisten arbeitsorganisatorischen und technischen Veränderungen in der letzten Zeit vorgenommen worden sind, nich? (lautes Geschirrklappern) Der Interviewer gibt sich einerseits sehr informiert, drückt mit dem Begründungsplatzhalter („halt") jedoch gleichzeitig Unsicherheit aus. Dabei wird der Interviewee überfordert, da die Kenntnis der Tatsache dass „die (.) meisten arbeitsorganisatorischen und technischen Veränderungen in der letzten Zeit' im Kaltwalzwerk stattfanden, einen Überblick über das Betriebsgeschehen voraussetzt, den man bei einem Stahlarbeiter im Kaltwalzwerk nicht voraussetzen kann. Ein souveräner Interviewee würde hier die Ansprüche, die der Interviewer an ihn resp. an das Interview stellt, korrigierend einschränken. 6 UH 3: Und die noch -äh- weiter ausgebaut werden! Hofmeister bezieht sich auf die „arbeitsorganisatorischen und technischen Veränderungen" im Kaltwalzwerk. Dabei stimmt er den Ausführungen des Interviewers bezüglich der Umstrukturierungen in der Vergangenheit zu; er prätendiert also erneut eine Kenntnis, über die er nicht verfügen kann. Darüber hinaus überbietet Hofmeister den Interviewer noch, indem er über Insiderkenntnisse über die künftige Unternehmensstrategie zu verfügen prätendiert. Mit .ausbauen' wird eine Tätigkeit des Optimierens, Vervollständigens, Erweiterns etc. bezeichnet. Sie bezieht sich auf einen Gegenstand, der durch menschliches Handeln verändert werden kann. So können beispielsweise Dachstühle, Warenangebote etc. ausgebaut werden. Mit „noch -äh- weiter ausgebaut werden" drückt der Interviewee aus, dass die „arbeitsorganisatorischen und technischen Veränderungen" bereits .ausgebaut' wurden und nun über den bereits erreichten Grad hinaus ,ausgebaut' werden. Die Kombination von .ausbauen' mit .Veränderungen' ist allerdings semantisch nicht wohlgeformt, da es sich bei einer Veränderung nicht um eine ausbaufähige Sache handelt. Vielmehr wird mit Veränderung die Folge einer Transformation, wie etwa eines Ausbaus, jedoch nicht ihr Gegenstand bezeichnet. In der Perspektive des Sprechers erscheinen die Veränderungen selbst als das eigentliche, ihnen liegt keine sachliche Ebene zugrunde. Darin kommt ein Deutungsmuster zum Ausdruck, welches die Veränderungen nicht als sachangemessen sondern als Veränderungen um der Veränderung wil-
3.3 Verhaltene Dissonanz • 149
len interpretiert. Dieses Deutungsmuster impliziert den Vorwurf der Technokratie und Pseudoinnovativität. Es ist der aus der Perspektive des reelle Arbeit leistenden, traditionsbewussten Proletariers stammende Vorwurf gegen die aus seiner Sicht nutzlosen Bürokraten. 7 I 4: Also - (.) die noch ausgebaut werden, genau, und dann auch also Rückwirkungen auf die davorliegenden Linien -16 Der Interviewer qualifiziert die Aussage des Interviewee als zutreffend (,genau") und bringt sich in einer Überbietungslogik wieder als die eigentliche Fachautorität ins Spiel. Mit den „davorliegenden Linien" können nur die dem Kaltwalzwerk vorgelagerten Produktionsschritte gemeint sein. Damit ist der Bereich, über den ein Arbeiter im Kaltwalzwerk kompetent Auskunft geben kann, überschritten. Der Sprecher überbietet den Interviewee und erreicht ein Niveau, das diesem nicht mehr zugänglich ist. Dass Hofmeister den Interviewer unterbricht, ist insofern motiviert, als er nunmehr seine Überforderung kenntlich machen muss. 8 UH 4: Da -(.) da wo ich jet(t arbeite, (I: Ja) da werden wa wohl auch noch einiges mitmachen dadurch. Der Sprecher hat vorher schon woanders gearbeitet, wurde also versetzt. Dass Hofmeister hier als Vertreter seiner Gruppe — „wa" ist die dialektale Form von „wir" — spricht, die schon einiges erleiden musste, zeugt von einer Gruppenidentifikation, die zugleich dem Ansinnen auf Repräsentativität (s. o.) gerecht wird. Die Stahlarbeiter sind in seiner Perspektive Opfer der bereits angesprochenen — abstrakten — technischen Veränderungen („dadurch"). Die formulierte Einsicht wirft objektiv die Frage auf, ob nicht Hofmeister nach einem Weg aus dieser Misere suchen sollte. Die Abtönungspartikel „ w o h l ' bringt allerdings eine Resignation zum Ausdruck, die eine Eigeninitiative unwahrscheinlich erscheinen lässt. 915: Also was meinen Siejet^t genau mit,mitmachen' Die Nachfrage macht die unterschiedlichen Explizitheitsniveaus der Sprecher deutlich, die hier beide stellvertretend für die jeweiligen Milieus stehen, die sie hier vertreten: der Interviewer ein universalistisches Milieu mit einer Verpflichtung auf maximale Explizitheit; der Interviewee hingegen ein partikularistisches Milieu, in dem die Kenntnis des Kontextes bei den jeweiligen Interaktionsteilnehmern präsupponiert wird und damit eine Explikationsnotwendigkeit entfallt. Die Nachfrage muss also bei dem Interviewee gewisse Irritationen auslösen. / 0 UH 5: Jaa, ich binjajet%t in der (.) in der Haubenglühe (I: Jaj tätig \... Hofmeister nimmt die Aufforderung zur Explikation auf, wobei er präsupponiert, dass dem Interviewer seine Tätigkeit ebenso wie der Arbeitsplatzwechsel bekannt sind. Obwohl die Präsupposition dem Kenntnisstand des Interviewers
16
Transkriptionszeichen, das hier für Unterbrechung eingesetzt wurde.
1 5 0 - 3 Fälle der Region unangemessen ist, wird der Interviewer sprachlich wie ein Bekannter behandelt; somit wird er der Lebenswelt Hofmeisters assimiliert. Dies lässt erneut auf ein Milieu schließen, in dem sich aufgrund des hohen Vergemeinschaftungsgrads die kontextunabhängige Darstellung von Tatsachen erübrigt. 10 UH 5: .../ wir machen ja viel A.utobleche und (I-ja) so weiter. Undjet^t ham wa ja nebenan die nagelneue Conti-Glühe 1116: Genau 12 UH 6: und das ist das gefragte Blech Die Herstellung von Blechen von hohem Veredelungsgrad wird als eine der Hauptfunktionen der Haubenglühe gekennzeichnet und die Conti-Glühe als zum selben Produktionssegment wie die Haubenglühe gehörig gerahmt. Der thematische Bezug der Schilderung und ihre sprachliche Gestaltung machen dem Eingeweihten deutlich, dass die Conti-Glühe das effektivere Produktionsverfahren ist und das Haubenglühverfahren längerfristig überflüssig machen wird. — Sehr lakonisch stellt der Interviewee so den Rahmen dar, der ihn zu dem Urteil veranlasst, seine Abteilung würde „noch einiges mitmachen". Diese Lakonie ist eine Funktion der auf einen hohen Vergemeinschaftungsgrad des einbettenden Milieus zurückzuführenden Kontextabhängigkeit der Rede. 17 Ein Angehöriger eines moderneren Milieus würde denselben Sachverhalt sehr viel expliziter darstellen. Hofmeister ist Vertreter eines hoch vergemeinschafteten proletarischen Milieus,
17 Auch wenn dies an dieser Stelle nicht ausgeführt werden kann, soll doch zumindest angedeutet werden, dass die Unterscheidung von elaboriertem und restringiertem Code, die Basil Bernstein eingeführt hat (vgl. Bernstein 1964), um ein wesentliches Moment erweitert werden muss. Der restringierte Code ist nach Bernstein an die Rollen seiner Sprecher gebunden. Wenn man nun aber - anders als die frühe Familiensoziologie und als die Familiensoziologie in Teilen bis heute - die familiale Praxis (vgl. Oevermann 1979) und damit die Vergemeinschaftungspraxis generell als nicht rollenförmig sondern diffus bestimmt, so ist der rollengebundene restringierte Code, dessen „wesentliche Funkdon" laut Bernstein darin besteht, „die Form der Sozialbeziehung zu definieren und zu verstärken, indem der verbale Ausdruck der individuellen Erfahrung beschränkt wird" (Bernstein 1971: 18; Kursivierung hinzugefügt), gerade auf ein individuiertes, vergesellschaftetes Subjekt angewiesen. Der Restringierte Code' in partikularen Vergmeinschaftungen hingegen ist Ausdruck und Medium der Selbstvergewisserung der Gemeinschaft (vgl. Oevermann 1968: 318, unter Bezugnahme auf Bernstein 1962 und Schatzmann/Strauss 1955); die Bezeichnung .restringiert' setzt eine Differenzierung voraus, die hier noch nicht vorliegt. Da die Sprache auch hier durchaus eine eigenständige, generative Bedeutung hat, wäre u. E. eine positive Benennung angemessen. Man könnte mit guten Gründen von einem .energischen Code' sprechen (e-laboriert. aus dem Werk heraustretend, aus-gearbeitet; en-ergiscb. in der Arbeit/Tätigkeit verbleibend, wirkend). Erst also, wenn aus dem ,energischen Code' ein ,elaborierter Code' ausdifferenziert wurde, kann dieser .restringiert' werden. - Die Parallelisierung von restringiertem Code mit,mechanischer Solidarität' nach Dürkheim, und elaboriertem Code mit ,organischer Solidarität', die Oevermann vornimmt (1968: 333) bleibt noch einem einlinigen Entwicklungsmodell verhaftet.
3.3 Verhaltene Dissonanz • 151
welches sich durch diesen Vergemeinschaftungsgrad auch von moderneren proletarischen Milieus unterscheidet.18 13 I 7: Jaa. 14 UH 7: und dadurch werden wir wohl ma eines Tages (.) nicht mehr sein! \...
Mit „nicht mehr sein" verwendet der Interviewee einen Ausdruck, der den Tatbestand des Sterbens prägnant und zugleich verbergend zum Ausdruck bringt. Auf diese Weise wird der gesellschaftlichen Tabuierung des Todes Rechnung getragen. Diese Wendung hier deutet also darauf hin, dass auch das Thema der Schließung der Haubenglühe einem Tabu unterliegt. Die mit der Schließung verbundene Krise wird zugleich als allumfassend, die ganze Existenz betreffend wahrgenommen und als wirklich schwer empfunden, als so schwer, dass sie durch ein Tabu verborgen werden muss. Auf die Bedrohlichkeit deutet auch die Erregung („/*) Hofmeisters hin. 14 UH 7:.../ (.) Die wollenjet^t Kaltbandstraße und Beiden (.) alles umbauen (.)
Die implizite Sprechweise wird mit dem Demonstrativpronomen „die", dem kein Referent im Text entspricht, fortgesetzt. Es bringt eine unpersönliche, aber erahnte bestimmte Macht zum Ausdruck. Diese Ausdrucksweise, die sich häufig auf Behörden, Regierungen aber auch Kriminelle bezieht, ist vor allem in partikularen Milieus anzutreffen. Im Unterschied zu „sie"19 wird mit „die" zudem über die entsprechenden Personen abfällig gesprochen, da man sie kennt (bestimmtes Demonstrativum), aber nicht nennt. Bei Hofmeister bricht sich so ungewollt eine gewisse Verärgerung Bahn, deren Quelle er nicht benennen kann. - Obwohl jetzt lediglich von „umbauen" die Rede ist, muss, nachdem zuvor der Untergang prognostiziert wurde, geschlossen werden, dass hier ein unverstande-
Bringt man hier die instruktive Unterscheidung von Josephine Klein in Anschlag, so ist Hofmeister nicht „einer sich verändernden, modernen Arbeiterschicht" (Oevermann 1968: 309; vgl. Klein 1965: 219-302), zuzurechnen, sondern eher einer „traditional working-class" (a. a. O.: 121-218). Die Bestimmungen Kleins für den Übergang von der tradionalen zur modernen Orientierung („from a close-knit family network to a more loose-knit one; from a community-centered existence to a greater individuation; [...] to a more home-centered one; [...] to greater participation in associational life; [...] from traditional occupational choice to social mobility; from status-assent to status-dissent; from ascriptive values to achievement values; from financial stringency to greater affluence; from an emphasis on the breadwinner to emphasis on the child." - a. a. O.: 221) lassen sich in der Gegenüberstellung auf die Spezifik in Hofmeisters Habitus und Deutungsmuster beziehen. Damit ist wieder einmal die noch zu beantwortende Frage der Zurechnung der rekonstruierten Struktur aufgeworfen: handelt es sich lediglich um die Gestalt eines zumindest ehedem allenthalben zu findenden traditionalen Arbeitermilieus oder ist dieses auf spezifische Weise bestimmend für die Region, kongruent zu ihr als Einflussstruktur? 18
19 Etwa in dem einem in der S-Bahn mitgehörten Gespräch entnommenen Beispiel: „Gestern ham se mir 'n Fernseher aus m Keller geklaut."
152 • 3 Fälle der Region ner, deswegen noch Hoffnung weckender Prozess des Überflüssigwerdens auch der Haubenglühe dumpf empfunden wird. 1518: Jaa 16 UH 8: und dann sind wir nachher vielleicht über. Hofmeisters Rede schließt hier weder die Möglichkeit aus, dass die Haubenglüher überflüssig 20 werden, noch das Gegenteil. Dies widerspricht aber den vorherigen Äußerungen, nach denen das Ende der Haubenglühe zumindest hochwahrscheinlich ist. D e r Widerspruch lässt erneut zu Tage treten, dass, jenseits dieser Einsicht, an der H o f f n u n g auf Weiterbestehen der Haubenglühe festgehalten wird. Diese irrationale Hoffnung kam schon in der oben festgestellten Tabuierungshaltung zum Ausdruck. 16 UH8:...
/ (.) Wo man heute schon von spricht.
Das Oszillieren setzt sich fort. - D e r Kern einer solchen kognitiven Dissonanz 2 1 besteht offenkundig darin, dass einerseits die Realität des Arbeitsplatzabbaus und damit des Obsoletwerdens der überkommenen Formen des beruflichen A v a n cements aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung nur um den Preis einer pathologischen Realitätsverleugnung übersehen werden könnte, dass aber andererseits die bisherigen alten Handlungsmuster quasi subkutan weiterbestehen. Da der Interviewee in einer Situation, in der innovatives Handeln gefordert ist, wei-
Diese Formulierung, die Hofmeister seiner Befürchtung gibt, scheint die Kategorie des Überflüssigen, die sich gegenwärtig häufig findet, zu rechtfertigen. Deshalb sei an dieser Stelle eine Bemerkung zu dieser Kategorie eingefügt (vgl. Loer 2007d, Liebermann 2007a). In einer Vermengung von Kategorien einerseits, von wissenschaftlicher Analyse und praktischem Interesse andererseits ist es Heinz Bude (vgl. Bude 1998, 2004, Bude/Willisch 2006) gelungen, diese Kategorie in der soziologischen Diskussion um die Entwicklungen in der Erwerbsarbeit und am Arbeitsmarkt zu etablieren. In ihr drückt sich aber die gegenwärtige Entwicklung unreflektiert aus, statt dass sie mit ihr analysierbar gemacht oder gar auf den Begriff gebracht würde. Wenn aus dem aus der Standardisierung und Automatisierung folgenden Überflüssigwerden lebendiger Arbeit in bestimmten Bereichen von Produktion und Dienstleistung durch kategorialen Kurzschluss abgeleitet wird, diejenigen, die diese Arbeit bis dato verrichteten, selbst seien überflüssig geworden, so wird damit eine Reduktion der Person auf den Erwerbstätigen kategorial übernommen, die in der politischen Reformdebatte heute, welche eben den Bürger auf den Erwerbsbürger reduziert, mit erheblichen praktischen Konsequenzen vorgenommen wird. Begreift man demgegenüber die Konstitution der Gesellschaft als politische Gemeinschaft und nicht lediglich als Gesellschaft von Erwerbstätigen, so werden mitnichten die Menschen überflüssig. Vielmehr gewinnen sie Freiheit für sinnvolle Tätigkeiten - was natürlich einer entsprechenden sozial- und bürgerschaftspolitischen Realisierung bedürfte. Dass Hofmeister hier vom ,Über Werden' spricht, zeigt, dass er seine Identität als durch die konkrete Erwerbstätigkeit bestimmt begreift. 20
Leon Festinger bestimmt in seiner Theorie der kognitiven Dissonanz: „two elements are in a dissonant relation if, considering these two alone, the obverse of one element would follow from the other." (Festinger 1957:13) 21
3.3 Verhaltene Dissonanz • 153 ter den alten Handlungsmustern folgt, muss er die Realität zugleich so deuten, dass diese Praxis gerechtfertigt ist.22 16 UH 8: ... / Und ich bin schon an drei verschiedene Arbeitsplatz immer, wo einmal davon gesprochen wird (.) es wird %ugemacht!
gewesen, (.) und ich sage mir
Dass der Referent von „davon" fehlt, ist weiterer Ausdruck davon, dass die dem eigenen Handeln widersprechende, gleichwohl wahrgenommene Realität wegen der kognitiven Dissonanz nicht realisiert werden darf. 23 Hier verbinden sich die Kontextabhängigkeit der Rede, die in sich Ausdruck von lebensweltlicher Traditionalität und lebensweltlichem Partikularismus ist - sie zeigt sich auch im Fehlen begründender Konjunktionen —, und die Reduktion der Dissonanz durch Verleugnung. 1719: Ah ja, das is Ihre Erfahrung bisher. 18 UH 9: Das wird auch \-ugemacht. Das ist meine Erfahrung. 19110: (???) 20 UH 10: Und ich binjedesmal immer wieder von unten angefangen! Wäre der Neuanfang auf der ersten Hierarchiestufe nichts Ungewöhnliches, hätte Hofmeister ihn nicht erwähnt. Er geht also implizit von einem Anspruch auf einen geregelten beruflichen Aufstieg aus. Die Heftigkeit („/")24 zeugt von der Frustration über die immer wieder eintretende Zerstörung des bereits geleisteten beruflichen Aufstiegs und der damit verbundenen biographischen Sinn-
22 Hier ist wieder das allgemeine Praxismodell von Entscheidung und Selbstrechtfertigung wirksam, das uns in einer anthropologischen Wendung der Konstitutionstheorie dazu führte den Menschen als animal decemens zu bezeichnen (vgl. S. 32ff.). - In doppelter Weise setzt die Theorie der kognitiven Dissonanz diese konstitutionstheoretische Bestimmung voraus. Einerseits wird die Deutung von Gerüchten, die forschungsgeschichtlich am Beginn der Entwicklung dieser Theorie stand (Festinger 1957: v-viii), erst vollständig plausibel mit der Annahme der Begründung als konstitutiven Moments von Handeln, auch in seiner inwendigen Form: Empfinden („these rumors predicting even worse disasters to come were not .anxiety provoking' at all but were rather ,anxiety justifying.' That is, as a result of the earthquake these people were already frightened, and the rumors served the function of giving them something to be frightened about. Perhaps these rumors provided people with information that fit with the way they already feel." - a. a. O.: vii; vgl. Freud 1909: 400: „Wir sind aber nicht gewohnt, starke Affekte ohne Vorstellungsinhalt in uns zu verspüren, und nehmen daher bei fehlendem Inhalt einen irgendwie passenden anderen als Surrogat auf'.). Andererseits gilt, dass Handeln und Wissen nicht unmittelbar in einen Gegensatz treten, sondern als Kognitionen, d. h. erst dann, wenn die Begründung für das Handeln dissonant zu zu ihr in relevanter Relation stehenden kognitiven Elementen wird.
„But to hold two ideas that contradict each other is to flirt with absurdity.", heißt es treffend bei Wolfgang J. Koschnick im Artikel über kognitive Dissonanz (Koschnick 1992: 596).
23
Auch dass die Bemerkung des Interviewers nicht zu verstehen ist, dass also Hofmeister impulsiv weiterredet, zeugt hiervon. 24
154 • 3 Fälle der Region
Stiftung.25 - Hier haben wir einen unabhängigen Beleg dafür, dass Hofmeister, wie wir oben auch aus den objektiven Daten schlössen, zu einer Zeit beruflich sozialisiert wurde, als der gesicherte innerbetriebliche Aufstieg normal war. Die Wendung: „von unten angefangen", die eine auf eine Rangordnung bezogene Perspektive voraussetzt, bringt die Möglichkeit des Aufstiegs faktisch zum Ausdruck und deutet, im Unterschied etwa zu: ,von vorne', darauf hin, dass sich die berufliche Sinnstiftung des Sprechers auf Statusverbesserung bezieht. Diese auf eine Prestigeskala bezogene Aufstiegsaspiration unterscheidet sich sowohl von einem an einer Sache Orienten Berufsethos als auch von einer allein am finanziellen Erfolg ausgerichteten Arbeitsorientierung. Die Ausrichtung an Prestige weist der Arbeit eine instrumentelle Funktion zu.26 20 UH 10: .../ (.) Und get^ bin ich wieder da soweit, daß ich da den Vorarbeiter mache Während die Formulierung ,dass ich Vorarbeiter bin' über die Identifikation von Person und Tätigkeit eine genuine Berufsethik zum Ausdruck bringt, wird in der von Hofmeister benutzten Formulierung eine Distanz deutlich, die bei einem berufsethisch bestimmten Handeln durch die immanente Identifikation mit der sachlichen Tätigkeit überbrückt würde. Eine solche Identifikation mit der die Berufsrolle bestimmenden sachlichen Tätigkeit liegt hier nicht vor und ist in dem bisher bestimmten Deutungsmuster auch nicht vorgesehen. Die Rolle des Vorarbeiters wird hier nicht als durch ihre sachliche Funktion bestimmt gesehen, sondern als Typus — etwa wie eine durch überkommenes Tableau festgelegte Figur in der Commedia dell'arte. Auch dies verweist wieder darauf, dass hier die Berufsethik nicht als Deutungsmuster ausgeprägt ist, und wirft die Frage auf, ob dieses Fehlen die Region als ganze kennzeichnet: als eine Region, in der die Berufsethik noch nicht als Deutungsmuster universalisiert ist. Sollten Milieus mit einer ausgeprägten Berufsethik im Ruhrgebiet auffindbar sein, so müsste an ihnen — etwa dadurch, dass sie diese Berufsethik nicht stillschweigen selbstverständlich exemplifizieren, sondern forcieren — deutlich werden, dass sie es bisher nicht geschafft haben, die Region mit ihrem Geist zu durchdringen. Durch: „bin ich wieder da soweit' wird zudem deutlich, dass Hofmeister den Aufstieg zum Vorarbeiter bereits mindestens einmal geschafft hat, was auch heißt, dass er mindestens einmal die Früchte seiner Arbeit eingebüßt hat. Das stete notwendig Werden eines Neuanfangs {„von unten") motiviert ihn aber nicht, nach
An dieser Stelle wird eine Folge des Niedergangs der Traditionsindustrien sichtbar. Während vor der Krise der Stahlindustrie ein Beschäftigungsverhältnis mit der Möglichkeit eines gesicherten beruflichen Aufstieg realistisch gekoppelt war, ist diese Möglichkeit inzwischen hinfällig. 25
Im Gegensatz dazu wird der Arbeit im Berufsethos lutherischer Prägung ein ethischer Eigenwert beigemessen. 26
3.3 Verhaltene Dissonanz • 155
neuen Wegen zu suchen; er hält am Überkommenen fest, dem er an den verschiedenen Orten („da") folgt. 21111: Ähä 22 UH 11: Seit äh drei Jahren und ich bin selbst erstfünfJahre in dem Betrieb, Hofmeister macht deutlich, dass er überdurchschnittlich schnell aufgestiegen ist; er präsentiert sich damit als überdurchschnittlich leistungsfähig. Gleichzeitig drückt sich aber das Deutungsmuster des Avancements nach Betriebszugehörigkeit aus. Das steht einer Deutung des raschen Avancements als auf überdurchschnittlicher Leistungsfähigkeit beruhend entgegen. Erneut liegt eine kognitive Dissonanz vor. Sie erklärt sich aus einem individuierten Anerkennungsstreben (überdurchschnittliche Leistungsfähigkeit) und der Basis dieser Anerkennung in einer traditionalen Vergemeinschaftung, die eben das sachbezogene Herausstellen der eigenen Leistung nicht kennt - und somit objektiv negativ sanktioniert: ein Mechanismus der Verhinderung sachbezogener Innovationen. 22 UH 11: .../ aber ich hab mich selbst reingekniet, Nun macht Hofmeister deutlich, dass er — gegenüber anderen, die kein eigenes Engagement zeigen, ihm gegenüber aber bevorzugt wurden — seinen Aufstieg durch Eigenleistung geschafft hat. Dass er diese Benachteiligung herausstellt, deutet auf ein Ressentiment aufgrund relativer Deprivation hin. 22 UH 11:.../ was ich das alles wieder reinkriege Hier spricht Hofmeister seine durch die Arbeitsplatzwechsel verursachten Verluste an Rangordnungsprestige und Finanzen an; dabei impliziert die Spezifizierung: „wieder reinkriege", dass eine Sache bereits Eigentum des Sprechers war, er es aber wieder verloren hat. Es wird so die habituelle Verankerung eines Anspruches auf eine gewisse Lohn- bzw. Statushöhe deutlich. Hofmeister gibt sich davon überzeugt, dass die Differenz zwischen dem in einem hypothetischen kontinuierlichen Aufstieg möglichen und dem faktisch erzielten Lohn/Status ihm zusteht. Indem er überzeugt ist, dass ihm das Entgangene zusteht, muss er sich langfristig vom Betrieb betrogen fühlen. 23 112: Mhm 24 UH 12: weil esja auch 'ne Geldsache ist! Hofmeister thematisiert hier die Lohndifferenz, macht aber zugleich deutlich, dass diese etwas zusätzliches ist: Der Verlust erschöpft sich nicht in der Lohndifferenz; primär geht es um die entgangene Statusverbesserung. 25113: Ja 26 UH 13: Und wenn man get% hört:, Oh, der Betrieb wird vielleicht auch zugemacht!' Die konditionale Konjunktion markiert eine Konfrontationsbeziehung und eröffnet zugleich die Rechtfertigung für ein bestimmtes Handeln, eine bestimmte Haltung o. ä. Weil die Betriebsstillegung die vorherigen Bemühungen konterkariert hat, kann dies nur von Wut und Frustration moduliert sein. In der .zitierten'
1 5 6 - 3 Fälle der Region wörtlichen Rede verwendet Hofmeister karikierend den sprachlichen Duktus der Mittelschicht, womit der Gegner für seinen Groll markiert ist: die Geschäftsleitung. 26 UH 13:.../ dann steht man schon wieder aufn gan% ander Standpunkt. Die Überzeugung von der Möglichkeit, den beruflichen Ausfall durch Engagement zu kompensieren, lässt sich nicht aufrechterhalten, was — so wird hier behauptet — zu einer radikalen Einstellungsänderung führt. Indem der Sinn des Engagements, der berufliche Aufstieg, entfallt, wird auch das Engagement obsolet. Der Wirkung der Betriebsstillegung liegt strukturell dieselbe Logik zugrunde, die Dürkheim als eine unabhängige Variable im Zusammenhang mit dem „anomischen Selbstmord" beschreibt (Dürkheim 1930: 274). Indem das Ziel des Handelns außerhalb von dessen Reichweite: „ä l'infini", fällt, verliert die Handlung ihren Sinn. Dieser Zustand - Dürkheim nannte ihn ,Anomie' — hat insofern Auswirkungen auf die Haltung gegenüber einer Sache, da diese ihre Orientierungsfunktion einbüßt. Indem das Handlungsziel keinen Sinn mehr für das Handeln stiftet, verliert die Handlung als ganze ihren Sinn. Die Folge ist Unzufriedenheit, Groll, Frustration. Um dem entgegenzuwirken, muss man „ 'n ganv^ ander Standpunkt' einnehmen, von dem das Handeln dann wieder Sinn erhält. Dieser ist — wie auch hier — zunächst nur negatorisch, in Abgrenzung zu dem vorhergehenden zu bestimmen. 27 Was wären über diese Abgrenzung hinaus die Optionen des Umgangs mit dem Verlust des Ziels? Wer sich der sachorientierten Leistung verpflichtet weiß, müsste, wenn der Rahmen für die erfolgreiche Ausübung dieser Leistung grundsätzlich nicht mehr gegeben ist, sich einen neuen Rahmen suchen — oder schaffen. Dazu müsste der — verlorengegangene — Rahmen als ein eine spezifische Sozialbeziehung definierendes Rollengerüst verstanden werden: Ein Unternehmen bietet einen qua Rollendefinition vertraglich festgelegten Arbeitsplatz an, den einzunehmen eine Übernahme der Rollenverpflichtungen ebenso bedeutet wie den Erwerb des Anspruchs auf aus der Rolle sich ergebende Zuwendungen etc. Kann das Unternehmen die ihm obliegenden Rollenverpflichtungen nicht mehr übernehmen, ist eine — in der Rollendefinition vorgesehene - Beendigung der rollenförmigen Beziehung zu vollziehen. Platz für persönliche — eben nicht auf einer rollenspezifischen, sondern auf einer diffusen Sozialbeziehung beruhenden — Kränkung ist hier nicht. — Ganz anders wenn der — verlorengegangene — Rahmen nach dem Modell einer diffusen Sozialbeziehung interpretiert wird. Von hier her ließe sich eine Logik der Rebellion bestimmen, die von dem anomischen Zustand sich negatorisch abstößt. Diese Form der Rebellion scheint auch die Form zu sein, die eine Revolution zunächst annimmt; zu einer solchen transformiert sich die Negation dann, wenn ein eigenständiges Positivum die Form zu füllen in der Lage ist. (Insofern ist die Ausarbeitung der „Ideen von 1789" die inhaltliche Vorbedingung für die Revolution - vgl. Richet 1969; die praktische Reaktion auf die wie oben bestimmte Anomie ist aber strukturellhandlungslogische Ausgangsbedingung.) 27
3.3 Verhaltene Dissonanz • 157 Die Versagung der persönlichen Fürsorge, die nach diesem, in Arbeitsbeziehungen als paternaüstisch zu deutenden Modell dem Arbeiter zukommt, wird notgedrungen als Missachtung der Person verstanden. Persönliche Kränkung ist die Folge. Die hierauf folgenden Handlungsoptionen sind entweder Rückzug der Person (Dienst nach Vorschrift) oder gar persönliche Rache, beide verbunden mit Ressentiment. 28 26 UH 13:.../ Dann hat man das nur wieder im Kopf:fängste wieder von vorne an! Hofmeister macht deutlich, dass die ganze Person durch einen Gedanken besetzt ist: die erneute Entwertung der bisherigen Leistung. Man hat auf einem Weg, der einen Anfang und ein Ziel hat, ein Stück zurückgelegt, als plötzlich ein Ereignis eintritt, das die bisherige Leistung obsolet werden läßt. Erneut wird hier der von Dürkheim beschriebene Mechanismus der Anomie deutlich. Die bis dato geleistete Arbeit wird entwertet, weil das Ziel, auf das hin man gearbeitet hat, wieder genauso weit weg ist, wie am Anfang. Die Strukturlogik der Anomie, die nach Dürkheims Analyse auch in einer Volkswirtschaft mit Vollbeschäftigung notwendig auftritt — „L'anomie est actuellement à l'état chronique dans le monde économique" (Dürkheim 1930: 461, vgl. 282-288) — wird durch die strukturelle Arbeitslosigkeit verstärkt. Gleichwohl sind die Möglichkeiten, diese Zumutung der Anomie zu bewältigen, unterschiedlich (s. o.). Die Hofmeisters Deprivation zugrundeliegende habituelle Logik kann als auf Statusverbesserung bezogene Aufstiegsorientierung bezeichnet werden, die mit der biographischen Sinnstiftung direkt verbunden ist. Die Avisierung eines solchen biographischen Zieles, welches durch Dienstalter oder durch Leistung zu erreichen ist, unterscheidet sich diametral von einer rein instrumentell am Erwerb ausgerichteten Joborientierung. Letztere würde den biographischen Sinnstiftungsaspekt vermissen lassen. Dass eine Sinnstiftung durch Berufsarbeit vorliegt, lässt sich aus der Frustration des Sprechers herleiten; allerdings besteht sie in Hofmeisters Fall nicht in der Hingabe an eine Sache, sondern in der Verpflichtung auf die Erreichung eines bestimmten Status. Wichtig ist, dass die Berufsarbeit über die individuelle Beantwortung der Sinnfrage: „Wer bin ich?" eine zentrale sinnstiftende Funktion hat. Sie kann durch die bloße Anerkenntnis der Realität, die in sich kein Sinnstiftungspotential beinhaltet, nicht ersetzt werden. Die Frustration des Sprechers erklärt sich durch den Wegfall des Sinnstiftungspotentials seiner Berufsarbeit, den er nicht durch einen rollenrationalen Stellenwechsel kompensieren kann. Dies liegt nicht nur in der generell schwierigen Lage am Arbeitsmarkt begründet und auch nicht allein darin, dass er als Hüttenfacharbeiter nur in der — sich in der Krise befindenden — Hüttenindustrie Arbeit finden könnte. Dass er Hüttenfacharbeiter wurde ist vielmehr bereits Ausdruck
,Ressentiment' bezeichnet dieses Moment sehr treffend, geht es doch um eine Verletzung des Gefühls (senüment), auf die reagiert wird. 28
1 5 8 - 3 Fälle der Region einer Habitusformation, die auch den Wechsel verhindert: die Übernahme des Überkommenen. 29 26 UH 13:.../ (..) Ich hätte meinen Meister schon machen können! Die Diskrepanz des Von-vorne-anfangen-Müssens und der Möglichkeit, den Meistertitel schon in der Tasche zu haben, lässt den Rückschritt, den die Betriebsstillegung für Hofmeister bedeutet, noch größer erscheinen. Kontrastiert man diese Äußerung mit der Formulierung ,ich hätte meinen Meister machen sollen', so wird deutlich, dass das Nichterreichen des Meistertitels hier nicht als eigenes Versagen verstanden, sondern von anderen verschuldeten Tatbeständen angelastet wird. Die zugleich eine zeitliche Verzögerung wie eine Abtönung markierende Partikel „schon" betont dies noch: ,Wenn die mich nicht gehindert hätten, wäre ich bereits Meister; an mir hat es nicht gelegen, ich hätte das schon hingekriegt.' Hofmeister impliziert hier, dass es Schuldige gibt; nach dem bisher rekonstruierten Zusammenhang kann es sich dabei aus seiner Sicht nur um die Entscheidungsträger des Betriebs handeln. Als Temporaladverb - über die Entgegensetzung zu ,noch' — präsupponiert „schon", dass Hofmeister den Meistertitel noch erwerben wird und eröffnet damit eine Aufstiegsperspektive jenseits des ausgelaufenen Avancements. Die Sinnstiftung durch Statusverbesserung wird also nach wie vor aufrechterhalten. Dies wird auch durch das Possessivpronomen indiziert, das die Perspektive des Titelerwerbs als gesicherten Anspruch darstellt. Dass Hofmeister aber den Besuch der Meisterschule nicht aus eigener Initiative forciert betrieben hat, lässt sich wiederum nur durch sein übernommenes Vertrauen auf Avancement erklären. 27114: Ja? 28 UH 14: Hätte! Auf die Formulierung eines Zweifels durch den Interviewer, der so implizit eine Begründung fordert, reagiert Hofmeister relativ hilflos mit der wiederholten Behauptung der Möglichkeit, den Meistertitel zu erwerben, und der Tatsache, ihn nicht gemacht zu haben; der Aufforderung zur Begründung bzw. Explikation kommt er nicht nach. Diese müsste die Konstellation, aus der sich die Möglichkeit ergab, konkret beschreiben und konkret begründen, wieso er die Chance nicht ergriffen hat. Dass Hofmeister hier die Begründung schuldig bleibt, deutet darauf hin, dass seine Behauptung nur subjektiv gültig ist. 29115: Also was heißtjet.£,hätte'?
Die generelle Bedingung für die Aufrechterhaltung der Option des Wechsels des Arbeitgebers wie auch der möglichen Vermeidung des betriebsinternen Abstiegs durch Erarbeitung eines Aufstiegs wäre angesichts der Krise auf dem Arbeitsmarkt minimal: Fortbildungschancen zu nutzen. Diese Fortbildungschancen werden aber im Ruhrgebiet erstaunlicherweise auch dort, wo sie - anders als in der Stahlindustrie bei Hüttenarbeitern, wo Umschulungen erforderlich wären - möglich und sinnvoll sind, kaum genutzt (vgl. Büttner et al. 2003). 29
3.3 Verhaltene Dissonanz • 159
Die ungeduldige Frage des Interviewers markiert die explizierte Prätention. 30 UH 15: Hätte heißt 31 116: War Ihnen angeboten worden oder — 32 UH 16: Hätte heißt: ich habe (.) alle gemacht, damit ich - da wird so 'ne Vorschule gemacht Unterscheidet man die formalen Voraussetzungen von den realen Möglichkeiten, die Meisterschule zu besuchen, und sind, wie nun klar ist, jene erfüllt, aber diese nicht gegeben, so wird deutlich, dass Hofmeister im Muster des automatischen Avancements denkt: Wenn die formalen Voraussetzungen erfüllt sind, sind alle Bedingungen geschaffen, den Meister zu machen. Er hält hier gegen die Realität die Überzeugung aufrecht, dass er die Meisterprüfung hätte machen können. Diese Dissonanz ist durch das überkommene Deutungsmuster des automatischen Avancements generiert; das Festhalten daran ist Funktion einer biographischen Krise, in die ihn die Erosion der bisher geltende Aufstiegslogik bringt. Das Festhalten am überkommenen Deutungsmuster ist Hofmeisters Form der Beibehaltung der Sinnstiftung durch beruflichen Aufstieg. Festinger beschreibt diesen Mechanismus treffend wie folgt: „Let us imagine a person who has some cognition which is both highly important to him and also highly resistant to change. This might be a belief system which pervades an appreciable part of his life and which is so consonant with many other cognitions that changing the belief system would introduce enormous dissonance." (Festinger 1957: 198f.)
In dieser Beschreibung finden wir unschwer das Deutungsmuster des .natürlichen' Avancements wieder, das für Hofmeister gilt und offensichtlich den Kern seiner beruflichen Bewährung darstellt, die wiederum ein wesentliches Moment seiner personalen Identität ist. „If, under these circumstances, attempts at reduction of dissonance by acquiring new cognitive elements consonant with the original cognition are unsuccessful, one would expect an attempt to be made to deny the validity of the event which gave rise to the dissonance." (a. a. O.: 199)
33117: Mhm 34 UH 17: da muß man Teste schreiben (.) und - ääh- da muß man da nach so'm (.) so 'm Schulungsleiter will ich mal sagen, der das alles überprüft: Mathematik, Aufsätze schreiben und und und (.) und das hab' ich alles geschafft, bin auch empfohlen worden von da aus, \... Hofmeister hat, dies macht er hier nochmals deutlich, von seiner Seite aus alles getan, um die Bedingungen des Avancements zu erfüllen; umso größer muss seine Enttäuschung gewesen darüber sein, dass er nicht zur Meisterschule gehen konnte. 34 UH 17: .../ (.) aber da wir dann in der Zeit drei- bis viermal unsere Betriebsleitung gewechselt haben, Hofmeister macht den Wechsel der Betriebsleitung (der Haubenglühe) dafür verantwortlich, dass er die Meisterschule nicht besuchen konnte; vermutlich
160 • 3 Fälle der Region
musste er die Freistellung zur Meisterschule bei jedem Wechsel neu aushandeln. Gleichwohl stellt Hofmeister sich als Mitglied einer kollektiven Entscheidungsinstanz dar: „wir", die den Wechsel der Betriebsleitung veranlasste. Diese Darstellung, als ob die Arbeiter an der Haubenglühe sich eine unter mehreren Betriebsleitungen ausgesucht hätten, widerspricht dem realen Ablauf: faktisch war es so, dass die Belegschaft, der Hofmeister angehörte, jeweils der Leitung eines anderen Betriebes unterstellt wurde. Es wird hier die Produktion als von einer autonomen Praxis getragen dargestellt. Diese Perspektive ist als Funktion einer Vergemeinschaftung zu sehen, die der Logik der Peergroup folgt. Sie steht, aufgrund der primären Verpflichtung gegenüber der in sich autonomen Vergemeinschaftung, strukturlogisch im Widerspruch zur hierarchischen betrieblichen Logik. Es kommt hier also ein Grad an Vergemeinschaftung zum Ausdruck, der in moderneren durchformalisierten Organisationen in der Regel nicht anzutreffen ist. Diese Gemeinschaft stützt Hofmeister darin, gegen die Realität an einem .normalen' Ablauf des Avancements festzuhalten. 34 UH 17:.../ (.) is das immer wieder (..) hinausgeschoben //HN.ja// worden. Nun wird deutlich, dass die Berechtigung Hofmeisters, auf die Meisterschule zu gehen, obsolet geworden ist: das hinausgeschoben Werden ist abgeschlossen und liegt auch schon {„in der Z e i f ) länger zurück, gleichwohl ist Hofmeister nicht auf einem Meisterlehrgang. Dennoch hält er in seiner Darstellung kontrafaktisch an der Möglichkeit fest, er hätte den Meister machen können und könnte ihn im Prinzip noch machen {„ich hätte meinen Meister schon machen können!1'). Das Festhalten macht die ansonsten nicht mehr mit Aufstiegsmöglichkeiten versehene Berufsperspektive aufgrund des mit dem Meisterstatus verbundenen Potentials der Sinnstiftung durch Aufwertung erträglich. 34 UH 17: .../ Ja und heutzutage sagen se:,Meisterschulunggibts
%ur Zeit nicht mehr bei Hoesch'
Nach dem adversativen Beginn dieser Äußerungssequenz muss aufgrund des Vorhergehenden die Mitteilung folgen, dass Meisterschulungen nicht mehr möglich sind. Dies ist einerseits auch der Fall: „Meisterschulung gibts [...] nicht mehr bei Hoesch" (a); andererseits aber sagt Hofmeister: „Meisterschulung gibts %ur Zeit nicht [...] bei Hoesch" (b). Diese Kontamination von zwei unvereinbaren Satzplänen bringt zugleich die Anerkenntnis der Realität (a) und ihre — durch zeitliche Dilatation ermöglichte — massive Verleugnung (b) zum Ausdruck. Dass die kognitive Dissonanz ganz in dem von Festinger analysierten Sinne durch Realitätsverleugnung reduziert wird (vgl. a. a. O.: 198f.), statt, wie man ja gedankenexperimentell konstruieren kann, durch Anerkennung der Realität und Transformation des Deutungsmusters („belief system"; a. a. O.: 199) überwunden zu werden, 30 ist durch die Funktion, welche diese Uberzeugung biographisch Diese Seite ist bei Festinger zwar erwähnt, aber unterbelichtet, da er sie schlicht als eine von mehreren Möglichkeiten betrachtet, die kognitive Dissonanz zu reduzieren; dass dies ange30
3.3 Verhaltene Dissonanz • 161 übernimmt, zu erklären. Sie besteht darin, einem Arbeitsleben, über den rein instrumentellen Aspekt des Geldverdienens hinaus, Bedeutung zu verleihen, also zur Beantwortung der Sinnfrage, zur Identitätsbildung beizutragen. Das Festhalten an dieser Überzeugung unter Bedingungen, welche die Grundlage dafür: das hergebrachten Avancement, zerstört haben, ist auf die Einsozialisierung in ein traditionales, u. a. durch ein in sich ständisches, auf Treueverpflichtung aufbauendes Beschäftigungsverhältnis geprägtes Milieu, zu einer Zeit als die durch die ständische Beziehungslogik konstituierten außerkontraktuellen Verpflichtungen noch wirksam waren, zurückzuführen. Dadurch wurde eine traditionale, d. h. in erster Linie am Ü b e r k o m m e n e n orientierte Habitusformation ausgeprägt, die sich hier im dogmatischen Beibehalten überkommener Überzeugungen erweist. 34 UH 17:.../ weilja soweit umw - - abgebaut worden
is,\...
Darin, dass Hofmeister hier eine Begründung dafür gibt, dass Meisterschulungen bei Hoesch auch künftig nicht mehr möglich sein werden, zeigt sich erneut die immer wieder zur Wahrnehmung gelangende Realität, die immer wieder geleugnet wird, weil sie im Widerspruch zu seiner mit dem in die Identitätsstiftung eingehenden Deutungsmuster kongruenten und aus ihr gespeisten H o f f n u n g steht, dass irgendwann wieder Meister ausgebildet werden würden. 34 UH 17: .../ was soll man die ganzen Meister oder die Leute da i j I: Mhm/ / als Meister ausbilden, wennja nachher gar keine Anstellungen mehr da sind. //I: Mhm. Also das/ / ne Die Endgültigkeit des Abbaus von Beschäftigungsmöglichkeiten für Meister und deren Folge für zukünftige Meisterschulungen wird als allgemein geteilte Überzeugung (,Ja") anerkannt; Hofmeister ist von den Begründungen der Einstellung der Meisterschulungen überzeugt. 3 1 Damit widerspricht er seiner bereits geäußerten Hoffnung, er könnte den Meistertitel noch erwerben, erneut diametral.
strebt wird, ist bei ihm nicht weiter begründet (s. o., Fn. 14). Wenn man eine solche Begründung aber mit Bezug auf die Annahme der Dialektik von Entscheidung und Selbstrechtfertigung, die Handeln im Unterschied zu Verhalten konstitutiert (s. o., Fn. 22), hinzufügt, so ist erklärungsbedürftig, warum das um den Preis des Scheiterns der Realität angemessene Handeln, nicht zu einer Transformation des gleichzeitig die kognitive Verleugnung der Realität erzwingende Deutungsmuster führt. Was genau bedeutet es, wenn es sich bei diesem um ein „belief system which pervades an appreciable part of his life" (ebd.) handelt? Offensichtlich wäre die Identität der Person, die sich in diesem „belief system" selbst rechtfertigt, als ganze berührt: sie müsste ihr Leben ändern. Dies kommt auch darin zum Ausdruck, dass er mit „ne", d. h. ,nicht war', Zustimmung erheischt. 31
1 6 2 - 3 Fälle der Region
3.4
Résumé
„Meisterschulung gibts zur Zeit nicht mehr" (34 UH 17) Ulrich Hofmeister, geb. 1960, wurde wie Markus Schreiber im Rahmen eines früheren Projekts interviewt; mit ihm war ein zweites Interview nicht möglich. Er stammt ebenfalls aus einem proletarischen Milieu und arbeitet als Hüttenfacharbeiter. Er lebt zum Zeitpunkt des Interviews unverheiratet mit einer sieben Jahre älteren Frau und deren beiden Kindern (aus ihrer vorangegangenen Ehe) zusammen. Für die Konstellation der Herkunftsfamilie Hofmeisters ist bedeutsam, dass er als Benjamin einerseits erhöhte Chancen auf Individuierung hatte, die er jedoch nur wenig nutzte; dass andererseits so seine Ablösung erschwert wurde, was sich noch in seiner Partnerschaft zeigt. Anders als bei Schreiber ist der biographische Verlauf bei Hofmeister, die schulische und die berufliche Laufbahn, nicht weiter auffallig. Allerdings ist seine Berufskarriere erheblich durch die wirtschaftlichen Entwicklungen beeinträchtigt: das gängige Avancement durch Anciennität ist wegen der ständigen Umstrukturierungen nicht möglich. Mit der Krise der Stahlwirtschaft gerät auch Hofmeister objektiv in eine Krise. Unterscheidet man bei einer Krise ihre praktische und ihre interpretative Dimension: Konflikt und Dissonane so lässt sich Hofmeisters Situation wie folgt darstellen: Zunächst sieht er sich durch den Untergang der Stahlindustrie, der sich ihm durch ständig erforderliche Wechsel innerhalb des Betriebs zeigt, die sich aus Schließungen von Betriebseinheiten ergaben, vor die Entscheidung gestellt, entweder diese absehbar immer schwierigere Lage durchzustehen — auf die Gefahr hin, dass sie in Arbeitslosigkeit mündet — oder initiativ zu werden, um sich neue Erwerbsmöglichkeiten zu erschließen. Dieser Konflikt bleibt für Hofmeister allerdings latent. Er ist bereits vorentschieden, da eine Maxime seines Habitus, der gemäß er folglich im Zweifel ohne Willen und Bewusstsein handelt, lautet: ,Wenn zu wählen ist zwischen einem neuen Weg und einem überkommenen Muster, so wähle letzteres'; und eine weitere: ,Wenn zu wählen ist zwischen der bürgerlichen Gesellschaft als dem „Kampfplatz des individuellen Privatinteresses" (Hegel 1821: 458) und der vertrauten Gemeinschaft, so wähle letztere.' Aus beidem zusammengenommen folgt eine traditionale Übernahme überkommener (beruflicher) Muster; diese führt nun aber angesichts der sich verändernden Realität zu einem Deutungsproblem. Denn auch wenn die Entscheidung gewissermaßen immer schon gefällt worden ist, so bedarf sie doch als objektiv getroffene Wahl - wie implizit auch immer einer Begründung, die das Selbstverständnis des Handelnden, seine Identität betrifft. Letztlich ist die Begründung, die Selbstrechtfertigung also, in der Identität der Lebenspraxis fundiert: ,Ich habe so und so gehandelt, weil ich so und so einer bin.' Solange das habitualisierte Handeln glatt läuft, nicht auf Widerstände trifft, ist diese Form der Reproduktion der Identität ungefährdet; ein zum Habi-
3.3 Verhaltene Dissonanz • 163
tus in einem Passungsverhältnis stehendes Deutungsmuster enthält — implizit — die Begründungen für das Handeln. Wenn aber, wie es nun bei Hofmeister der Fall ist, der Verfolg der Maximen immer wieder zu einem Scheitern führt, so bedarf es, wenn nicht die gemäß dem Habitus erfolgende Vorentscheidung aufgegeben wird, was, wie gesagt, aufgrund von deren Verstrickung mit der Fallstruktur als ganzer, mit der Identität nicht so ohne weiteres möglich ist,32 einer Begründung, für das Handeln, die sowohl der widrigen Realität als auch dem (nach rationalen Kriterien unangemessenen) Handeln Rechnung trägt; dies führt zu dem interpretativen Moment der Krise: zur kognitiven Dissonanz. Hofmeister erkennt die Begrenzung seiner beruflichen Möglichkeiten an und hält zugleich an dem zum traditionalen Habitus in einem PassungsVerhältnis stehenden Deutungsmuster des automatischen Avancements fest. Die Begrenzung deutet er als durch kontingente Umstände bedingt, wobei er dort, wo durch Frustration seiner beruflichen Aspiration die Sinnstiftung durch die Arbeit direkt berührt ist, in Form eines Ressentiments anonym bleibende und doch bestimmte Mächte („die"; 14 UH 7) dafür verantwortlich macht. 33 Dieses Ressentiment bleibt aber vergleichsweise schwach,34 in der Regel gelingt es Hofmeister in einer Amalgamierung des Unvereinbaren die Dissonanz zu reduzieren. Es ist zu vermuten, dass ihm dies gelingt, weil er sich in einem unterstützenden Milieu bewegt.35 Der Schutz vor der Explikation und damit dem Sichtbarwerden des Unvereinbaren wird dadurch gewährleistet, dass nicht unpersönliche Regeln der
Bourdieu spricht diesbezüglich von „l'hysteresis des habitus" (1979: 158); diese Kategorie bleibt bei ihm allerdings — entgegen seinem Anspruch, damit etwas ,zu erklären' (ebd.) deskriptiv. Die Begründung des mit dem Terminus ,Hysteresis' treffend gekennzeichneten Effekts muss den Habitus als Moment der Fallstruktur begreifen, das das Individuum als Moment seiner Identität nicht ohne weiteres aufgeben kann. - Hier wäre eine Untersuchung über die Entstehung der Hysteresis des Habitus anzuschließen; es liegt nahe, dass sie von der Untersuchung der Entstehung des modernen Gewissens (Kittsteiner 1992) viel lernen, sie aber auch bereichern könnte; vgl. S. 272£. 32
Hier findet sich der Ansatz für eine soziologische Erklärung des Sündenbockphänomens: Angesichts der Hysteresis des Handelns einerseits, seiner konstitutiven Begründungbedürftigkeit andererseits muss etwas das Scheitern einer Handlung begründen, das nicht mit der Begründung für das Festhalten am unangemessenen Handeln in Dissonanz steht; dies ist der externe Verursacher: der Sündenbock. 33
An anderen Stellen im Interview, deren Analyse hier nicht dargestellt wurde - es geht dort um die Auseinandersetzung mit (schulischer) Offizialität - tritt das Ressentiment ebenfalls auf (Transkr. 2, 6 UH 3). 34
„The social group is at once a major source of cognitive dissonance for the individual and a major vehicle for eliminating and reducing the dissonance which may exist in him." (Festinger 1957: 177) Wenn die Evidenz selbst einer in sich widersprüchlichen Deutung sozial gesichert ist, kann die Bedeutung der kognitiven Dissonanz minimiert werden: „If social support [„for the opinion he wishes to maintain"] is obtained, the dissonance will be materially reduced and perhaps even eliminated." (a. a. O.: 191) 35
164-3 Fälle der Region Gesellschaft handlungsleitend sind, sondern die persönlich lizenzierten Regeln der Gemeinschaft. Im beruflichen Umfeld würde eine klare Orientierung an unpersönlichen Kriterien der Leistung das Scheitern als Scheitern offenbar werden lassen. Nur die Anerkennung des Strebens eines malochenden Kumpels erlaubt die Reduzierung der kognitiven Dissonanz und das Festhalten an überkommenen, bewährten, aber eben nur scheinbar sich immer noch bewährenden Deutungs- und Handlungsmustern.
4
Inszenierte Konformanz
4.1 Vorbemerkung zur Fallauswahl Mit Werner Nowit2ki wurde zunächst im Juni 1992 ein Interview 1 geführt; nach acht Jahren erfolgte ein weiteres. Werner Nowitzki wird in dem Projekt .Kontrastierende Fallanalysen zum Wandel von arbeitsbezogenen Deutungsmustern und Lebensentwürfen' als „Aufsteiger" geführt und diese Deutung ist auch, verstärkt dadurch, dass Nowitzki zum Zeitpunkt des zweiten Interviews im Zuge eines beruflichen Aufstiegs das Ruhrgebiet verlassen hatte, weiterhin zutreffend. Insofern kann dieser Fall, der mit den beiden vorhergehend dargestellten Herkunftsort und -milieu teilt, als Kontrastfall gelten, an dem entweder die Transformation der rekonstruierten Struktur oder aber ihre Beharrlichkeit verdeutlicht werden kann.
4.2 Analyse der objektiven Daten Geb. 9/1956, älterer von eineiigen Zwillingen (15 Min.); Stiefbruder geb. 12/1954; alle drei evgl. Werner Nowitzki gehört zur Geburtskohorte der „Sinnkrisengeneration" (vgl. S. 98f.), allerdings steht er an deren Beginn; berücksichtigt man noch die Verzögerung, die durch die relative Bildungsferne bedingt ist,2 so wird dieser Generationszusammenhang nicht dominieren. Es ist zu erwarten, dass Nowitzki von der Enttraditionalisierung, von der die sogenannte 68er-Bewegung ein Ausdruck war, eher noch profitiert, als dass er mit ihren Folgeproblemen schon konfrontiert wäre. Eine gewisse Befreiung von überkommenen Mustern der Lebensführung wird ihm Optionen eröffnen, die die Älteren noch nicht, die Jüngeren nicht mehr hatten. Nowitzkis Pubertät und beginnende Adoleszens fallt in die prosperierende Zeit der sozialliberalen Koalition vor der Ölkrise; diese selbst wird zunächst, da ist Nowitzki 17 Jahre alt, als Ausnahme interpretiert. Man kann davon ausgehen, dass er einen stabilen Habitus ausbilden kann, zu dessen dazugehörigen erwerbsbezogenem Deutungsmuster der geregelte Einstieg ins Erwerbsleben gehört. Hinzu kommt, dass seine Alterskohorte in den Genuss der erweiterten Bildungschancen (z. B. BAFöG) kommt, ohne schon der dadurch produzierten Entwertung der niedrigeren Bildungsabschlüsse zu unterliegen. Als älterer (15 Min.) von eineiigen Zwillingen mit einem älteren Halbbruder, wächst Werner Nowitzki in einer bevorzugten Stellung in der Geschwisterkonstellation auf. Die sprachliche Entwicklung von Zwillingen ist in der Regel gegenüber
1 Auch dieses wurde bereits in dem Projekt .Kontrastierende Fallanalysen zum Wandel von arbeitsbezogenen Deutungsmustern und Lebensentwürfen' erhoben und ausgewertet; wo auf die dort erfolgten Analysen (vgl. Becker et al. 1998: 17-50) Bezug genommen wird, ist dies ausgewiesen. 2
Wir nehmen hier den Kontext abkürzend bereits hinzu.
1 6 6 - 3 Fälle der Region
der von Einlingen retardiert, 3 zugleich müssen sie — was bei sich äußerlich sehr ähnelnden eineiigen Zwillingen gesteigert gilt - forciert ihre Identität gegeneinander abgrenzen; häufig gibt es eine Teilung der Funktionen unter den Zwillingen. Der Ältere erweist sich dabei als der Kräftigere, der sich durchsetzt und in der Außenrepräsentadon dominiert (vgl. Zazzo 1986). Dass die Altersdifferenz von 15 Minuten in der Familie bekannt ist und berichtet wird, zeigt, dass es auch ein Familienthema war. Werner Nowitzki ist also doppelt bevorzugt: einerseits gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder — innerhalb der Geschwisterfolge gegenüber dem älteren (Halb-)Bruder, weil dieser für ihn und seinen Zwillingsbruder gewissermaßen den Weg bahnt; andererseits als der ältere gegenüber seinem jüngeren Zwillingsbruder. Es verbinden sich für Nowitzki also die Vorteile der Position des Jüngeren mit denjenigen des Älteren; die Geschwisterkonstellation stellt für ihn eine günstige Basis für Individuierung dar. Vater: Geb. 1922, 2jüngere Schwestern, kath., ,gelernter" Bergmann (Zeche Hansemann); 193945: als Soldat in Norwegen; 1951/52: Bergunfall, bei dem sein Kumpel umkommt; Ende 1950er Jahre: Dortmund-Hörder Hüttenunion Phönix (Gleisbau); 1953/54: Heirat, Geburt des Sohnes Hanno (12/1954); 1955: Tod der Ehefrau (Leberzirrhose); Ende 1955: zweite Hochzeit; 1956: Geburt der eineiigen Zwillinge Werner u. Wolfgang (9/1956); 1958: Um^ug von Penningskamp in die DHHPhönix Werksiedlung (Am Binsengarten); gest. 1977 (Dickdarmkrebs, vier Wochen nach OP) Großvater (väterlicherseits): Geb. um 1890, Bergmann, Einwanderer ins Ruhrgebiet (aus Pommern) Großmutter (väterlicherseits): Maria, „Oma Mengede", „er^katholisch" Nowitzkis Vater gehört zur Wiederaufbaugeneration (vgl. S. 96); dabei kann — auch wenn es in Norwegen während der ganzen Besatzungszeit eine „wirkungsvoll agierende Widerstandsbewegung" gab (Ploetz 1991: 985) — unterstellt werden, dass er von der Last des Krieges nicht in vollem Maße betroffen war. 4 Dass er sich die ganze Kriegszeit über bei der Besatzungstruppe in Norwegen halten konnte, verweist auf geschickte Unauffälligkeit. Der Arbeitgeberwechsel Ende der 50er Jahre war einerseits ein vorausschauende Entscheidung, die angesichts der sinkenden Beschäftigtenzahlen im Steinkohlenbergbau und der Lohnentwicklung 5 der Familie auch künftig ein Einkommen Vgl. Wagner 1996: 16-20; der Frage, ob diese Verzögerung einer Besonderheit der Struktur der Interaktion unter Zwillingen zuzurechnen ist (vgl. a. a. O.: 18), was seinerseits Folgen für die Bindung hätte, kann hier nicht nachgegangen werden. Es muss aber unterstellt werden, dass es sich nicht um ein Intelligenzdefizit handelt, sondern darum, dass die Aufmerksamkeit und das Verbalisierungsbemühen der Zwillingsmutter geteilt und durch die Belastung insgesamt reduziert ist. Dies bedeutet auf der anderen Seite, dass die Bevorzugung eines der Zwillinge besonderes Gewicht hat. 3
Da Vater Nowitzki dauerhaft in Norwegen war, wird er der Besatzungstruppe und nicht der bei den Angriffen in heftige Kämpfe verwickelten Marine angehört haben. 4
1958 sank die Zahl der im Steinkohlenbergbau beschäftigten Arbeiter um 23.196, 1959 um 52.821 und 1960 nochmals um 40.361 jeweils gegenüber dem Vorjahr (Petzina 1990: 523); im Laufe des Jahres 1959 gingen die Durchschnittslöhne der Bergarbeiter gegenüber denen in der eisenschaffenden Industrie erheblich zurück; letztere stiegen stark an. 5
3.4 Inszenierte Konformanz • 167
und zudem durch die Werkssiedlung auch eine W o h n u n g sicherte; andererseits blieb der Vater Nowitzkis damit im traditionalen Montanbereich, w o er auch ungelernt sein Auskommen hatte. Dass der Vater Nowitzkis zunächst eine leberkranke Frau heiratete - die tödliche Leberzirrhose ist progredient und taucht unabhängig v o n ihrer Ätiologie nicht plötzlich auf (Pschyrembel 1 9 8 2 : 663) - spricht in Zusammenhang mit dem Datum der Heirat und dem Datum der Erstgeburt dafür, dass es sich bei der Heirat um die Legalisierung einer unehelichen Schwangerschaft handelt. Die rasche Wiederheirat nach dem Tod der ersten Frau und die baldige Geburt der Zwillinge stellt die beschädigte Familie wieder her. Dass die Kinder evangelisch getauft wurden, obwohl der Vater katholisch war, 6 ist ein Hinweis darauf, dass der Vater seiner zweiten Frau gegenüber Dank zollt - sie hat ihn, den sieben Jahre älteren (s. u.), aus der schwierigen Lage als verwitweter Vater eines Säuglings befreit. Dickdarmkrebs, die Todesursache des Vaters, ist im Alter v o n 55 Jahren selten. Da diesem häufig Colitis ulcerosa vorausgeht, lässt sich über das Verhältnis v o n Vater Nowitzki zu seiner Mutter folgende Vermutung anstellen: Diese muss in der frühesten Symbiose eine solche Dominanz ausgeübt haben, dass der Raum für die Subjektkonstitution, den die Zuwendung eröffnete, sogleich wieder verschlossen wurde, sobald das werdende Subjekt sich als eigenständiges, d. h. sich abgrenzend, bemerkbar machte. 7 D e r Vater wird so für W e r n e r Nowitzki kein starker Widerpart gewesen sein, an dem er sich hätte reiben können, aber eben
Obwohl die Familie aus Pommern stammt, ist Vater Nowitzki katholisch; von daher ist hier entweder eine forcierte Bindung an den Katholizismus zu erwarten (Effekt der DiasporaSituation), oder aber eine oberflächliche, da aus einer pragmatischen Konversion stammend. In Nowitzkis Familie scheint beides zuzutreffen: Für Nowitzkis Vater scheint es kein großes Problem zu sein, seine Kinder evangelisch taufen zu lassen, als möglicherweise seine Gattin dies wünscht; zugleich wird in dem ersten Interview von „Oma Mengede" berichtet, dass sie strenggläubig und der unkatholischen Verehelichung von Vater Nowitzki zeitlebens uneinsichtig gegenübergestanden habe. Folgende Vermutung (vgl. S. 106, Fn. 39) liegt nahe: Die Familie des Großvaters väterlicherseits, der ins Ruhrgebiet einwanderte, war gemäß ihrer Herkunft aus Pommern lutheranisch; der Großvater väterlicherseits heiratete nach seiner Migration eine Katholikin, die gemäß der amtskirchlichen Vorgaben darauf bestand, dass er den katholischen Glauben annahm. Dies ist aus Sicht des Konvertiten die oben erwähnte pragmatische Konversion. Möglicherweise ist der .Rückfall' zum Lutheranertum sogar ein Versuch, die Dominanz der „Oma Mengede" zu unterlaufen. 6
Für diese Argumentation sei verwiesen auf die Forschung Claudia Scheids, die unter anderem aufzeigt, dass das Subjekt „in der [Entzündung] des Dickdarmes [...] sich nicht behaupten - also die Autonomie füllen - [kann], weil ihm eine Abgrenzung verwehrt wurde" (Scheid 2002: 206). — Die Erzählungen von Werner Nowitzki über „Oma Mengende" bestätigen dieses Bild. So verschwindet der Vater z. B. an einer Stelle (1056 WN 21), als er quasi als passiver Widerständler erscheinen könnte, strukturell völlig hinter der Großmutter; diese wird auch mit ihrem Mädchennamen eingeführt: „L. hat Nowitzki geheiratet" (1056 WN 21). 7
168 • 3 Fälle der Region
auch kein Partner. Die Mutter wird in der Kernfamilie die dominante Rolle übernommen haben. Mutter: Geb. 1929 (Breslauer Gegend) (alte Angabe: 1925), evgl., aus dörfl. Gegend im Riesengebirge, aus Arbeiter-Bauern-Familie; sieben Geschwister; 1945: Flucht der Familie, Ansiedlung im Har% (Liebenburg bei Goslar); geht mit Schwester ins Ruhrgebiet, Hausangestellte; 1977: Rückkehr in den Har% neue Lebensgemeinschaft mit „ Onkel Walter" Großvater (mütterlicherseits): Geb. um 1890 Die familiale Konstellation Nowitzkis ist geprägt von einer zu vermutenden Spannung zwischen Patriüneage und Matriüneage. Dies drückt sich in der Religion aus: katholisch vs. evangelisch, und in der jeweiligen Familientradition: Bergmannsgeschlecht seit der Jahrhundertwende im Ruhrgebiet ansässig vs. bäuerlicher Familientradition und jüngste Flucht. Gerade allerdings der Aspekt des Zugereistseins der Mutter könnte angesichts der relativ kurzen Ansässigkeit der Vatersfamilie eine Forcierung der Demonstration der Sässigkeit der Familie seitens der Mutter ebenso wie eine erhöhte Dankbarkeit bewirken; zu letzterem wird auch die ,Erlösung' aus dem wenig attraktiven Domestikenberuf beitragen. Für die sozialisatorische Konstellation bedeutet dies eine Schwächung der Mutter, die diese, da durch die Umstände der Flucht zudem der Rückhalt in der Herkunftsfamilie nicht gegeben ist, durch eine verstärkte Zuwendung zu den Kindern kompensieren wird. Der Tod der ersten Ehefrau 1955 kurz nach der Geburt des ersten Sohnes - der Vater selbst ist 33 Jahre alt — erfordert zum Erhalt der Familie eine sofortige Substituierung, was die Heirat mit der späteren Mutter von Werner Nowitzki kurz nach dem Tod seiner ersten Frau erklärt. Dass beide bald gemeinsame Kinder: zwei weitere Söhne, Zwillinge, haben, ist Ausdruck davon, dass die Ehe gleich vollzogen und so die Mutter von ihrer Substitut-Funktion entlastet wird. Dass die Mutter 1977 nach dem Tod ihres Mannes in den Harz zu ihrer dortigen Verwandschaft zurückkehrt und dort rasch eine neue Lebensgemeinschaft mit „Onkel Walter" — offensichtlich einem Vertrauten der Familie, der von den Kindern wie ein Onkel wahrgenommen wurde — eingeht, macht deutlich, dass sie im Milieu und in der Verwandschaft ihres Mannes nie richtig heimisch war - ihre Dominanz war ja keine originäre, sondern eine sekundäre, durch die schwache Autonomie des Vaters bestimmte. Für die Kindern war damit eine wesentliche Strukturbedingung für die Autonomiewerdung stark reduziert: Sie waren kaum gezwungen eine eigenständige Position zwischen Vater und Mutter zu entwickeln; sie konnten in der Familie gut zurechtkommen, wenn sie sich bei der Mutter - und bei den Wochenendbesuchen (also für eine begrenzte, eingekapselte Zeit, unter der sie auch stets litten) 8 bei der „Oma Mengede" — lieb Kind
1064 WN 25: „OOh! Das war grausam! War total grausaum, (mit Lachen) weil meine Oma (.) war 'ne absolute (.) so'ne autoritäre, die hat meinen Vatter noch (.) völlig im Griff gehabt da obwohl der ja nu schon - der war ja zweimal verheiratet [...]" 8
3.4 Inszenierte Konformanz • 169
machten. - Werner Nowitzki ist also einerseits fast eine Art Sonntagskind - resultierend aus besonderer Zuwendung und der bevorzugten Stellung in der Geschwisterkonstellation —, andererseits wird er daran gehindert, eine entscheidungsstarke Autonomie auszubilden. Zum Herkunftsmilieu können wir die Deutungen übernehmen, die anlässlich der Fälle Schreiber und Hofmeister über Hörde und das Stahl- und Bergarbeitermilieu dort ausgeführt wurde. Die familiale Konstellation legt nahe, dass Werner Nowitzki eine Unterstützung erfahrt, die einen Aufstieg im Rahmen der Möglichkeiten gestattet. Diese Möglichkeiten erweitern sich in seiner Generation, was eben durchaus einen Bildungsweg über Haupt- und Realschule hinaus denkbar macht. 1963: Einschulung Horde, Weingartenschule; 1966 Wechsel %um Stadtgymnasium; 1975 Abitur; anschließend 16-monatiger Zivildienst in der Jugendarbeit der evgl. Kirche im Nachbarstadtteil Aplerbeck
1963 wird Nowitzki eingeschult - und zwar in einer entfernteren Schule mit besserem Ruf (Hörde, Weingartenschule), was auf eine durch eine gewisse Bildungsaspiration geprägte Schulkarriere schließen lässt. Die Aspiration wird vorrangig an dem Status der Schule orientiert sein. Mit dem Wechsel zum Stadtgymnasium, einer Schule die bis dato nur von Kindern aus gehobenen Schichten besucht wurde, gelingt Werner Nowitzki ein erheblicher Aufstieg. Auf der Basis der rekonstruierten familialen Konstellation, muss davon ausgegangen werden, dass Nowitzki die Herausforderung des Schichtaufstiegs bewältigt hat, indem er die Peergroup durch Konformität 9 für sich gewann. Diese Konformität kann die Form der - stellvertretenden — Rebellion angenommen haben, die sich - um Robert K. Mertons Terminologie zu benutzen - unter Anpassung an die Ziele der Peergroup und die in ihr anerkannten Mittel gegen die Ziele der umgebenden Gesellschaft: im engeren Sinne der Schule, im weiteren der bürgerlichen Werte, gerichtet haben. Stellvertretend konnte eine solche Rebellion insofern sein, als Nowitzki als Proletariersohn authentisch deren (Anti-)Werte verkörpern konnte. Dass Nowitzki den Wehrdienst verweigert, zeigt, dass er sich von den traditio9
„Conformity may be defined as the endeavor to maintain a standard set by a group. It is a voluntary imitation of prevalent modes of action, [...] aiming to keep up rather than to excel, and concerning itself for the most part with what is outward and formal. [...] it is distinguished from involuntary imitation by being intentional instead of mechanical. Thus is not conformity, for most of us, to speak the English language, because we have practically no choice in the matter, but we might choose to conform to particular pronunciations or turns of speech used by those with whom we wish to associate." (Cooley 1902: 232) Gegenüber Cooleys Alternative „intentional" vs. „mechanical" können wir mit dem Begriff des regelgeleiteten Handelns sein Kriterium ,to have a choice in the matter' in Anschlag bringen, ohne gleich bewusste Absichtlichkeit der Wahl unterstellen zu müssen. Das Beispiel von Cooley selbst: die Aussprache, macht dies deutlich. Kaum jemand wird die Aussprachegewohnheiten der Peergroup etwa bewusst wählen; gleichwohl werden die Angehörigen konform mit den ungeschriebenen Ausspracheregeln sprechen (s. u.).
1 7 0 - 3 Fälle der Region
nalen Pfaden seines Milieus schon weit entfernt hat; dies bedeutet aber für sich nicht eine Transformation der Fallstruktur; vielmehr kann die Rebellion, die eine Wehrdienstverweigerung 1975 durchaus noch darstellte, gerade in einer gesteigerten Anpassung gründen. 10 In der inhaltlichen Gestaltung des Zivildienstes knüpft Nowitzki wohl an Kontakte aus dem Milieu an und gibt ihm, da es ihm den Aufstieg ermöglichte, etwas zurück. WS 77/78 - SS 78: Studium LA Mathe ¡Bio (PH Do); 1978 (6 Mon.): Job in Kaufhaus in Lochum Die Peergroup, der Werner Nowitzki sich in der Schule einfügen konnte, hat nach der Zwischenzeit des Zivildienstes offensichtlich ihre stützende Kraft verloren, was erklärt, dass Nowitzki, den wir als entscheidungsschwaches Sonntagskind rekonstruierten, die Eigenleistung, die die Orientierung in einem Studium auch wenn es ,nur' das vorrangig von Aufsteigern gewählte Lehramtsstudium ist — nicht aufbringen konnte. Ein Studium erfordert darüber hinaus eine gewisse Ausdauer, genauer: Fertigkeit zur Sublimation, die nicht auf unmittelbar in materiellen Gratifikationen ausweisbarem Erfolg angewiesen ist. Diese bringt er nicht mit. Der Abbruch ist Ausdruck einer Desorientierung des Aufsteigers. Dass er seine Aspirationen nicht konkret umsetzen kann, zeigt auch, dass es sich dabei um Statusaspirationen handelt, die nicht der Orientierung an einer Sache, nicht der Orientierung an einer selbstgewählten Aufgabe entstammen. Werner Nowitzki unterbricht seinen Aufstieg für eine sechsmonatige Findungsphase. WS 78/79 — SS 84: Studium der Betriebswirtschaftslehre (Nf.: Soziologie) an der Universität Dortmund; 1983/84: Japanisch-Intensivkurs (Bochum) Wohnt in Wohngemeinschaften (1978-79: Dortmund-Asseln; 1980-83: Schwerte-Villigst; 1984-85: Dortmund-Lindenhorst; 1985-89: Bönen) 1984: Diplom-Kaufmann (Diplomarbeit über Japans Wirtschaftsstruktur und japanische Marketingstrategien) lehnt DAAD-Stipendium für Japan ab WS 85/86: 1 Semester in Spanien (Stipendium des spanischen Außenministeriums) Das BWL-Studium, das Nowitzki aufnimmt, verspricht Statusgewinn und materiellen Ausdruck desselben. Mit der Wahl des Nebenfaches Soziologie wiederholt sich - in gewandelter Gestalt - die Konformität durch Abweichung. Es ist davon auszugehen, dass diese Abweichung durch Vergemeinschaftung gestützt wurde. Der Fachbereich Soziologie war zu Beginn der achtziger Jahre in der WisoFakultät der Universität Dortmund gewerkschaftsorientiert und verstand sich als
10 In Mertons „Typology of modes of individual adaption" sind „conformity" und „rebellion" einander an den Enden der Typenreihe gegenübergestellt, was damit zusammenhängt, das Merton hier nicht zwischen Revolution und Rebellion im engeren Sinne unterscheidet (vgl. Merton 1968: 194-211). Die Rebellion im engeren Sinne muss nicht unbedingt eine „alienation from reigning goals and standards" voraussetzen (a. a. O.: 209), sondern kann hier vielmehr geradezu ein Ausdruck kompulsiver Konformität (vgl. Parsons 1964: 285f.) in Bezug auf die Peergroup sein.
3.4 Inszenierte Konformanz • 171
Gegengewicht zur BWL; dies drückte sich auch in einer erhöhten Gemeinschaftsorientierung aus. 11 Die biographische Ausgangskonstellation wird mit dem Studium: ein Betriebswirt, der zugleich über den Tellerrand hinausblickt, und sich damit interessant macht, transformatiert: eine sich material ausweisende Karriere und zugleich ein gewisses Maß an Distanz zu dieser. Gemeinsame Basis für beides ist die Anerkennung in primären Vergemeinschaftungen, die in aufeinanderfolgenden Wohngemeinschaften perpetuiert werden. Das Thema der Diplomarbeit wie der Sprachkurs lassen vermuten, dass Nowitzki hier eine Chance zu beruflichem Fortkommen sieht. Dass er mit der Ablehnung des zunächst beantragten und gewährten DAAD-Stipendiums für Japan diesen Weg nicht weiterverfolgt, legt angesichts der stattdessen gewählten Option offen, dass weder ein genuines Interesse noch eine karrierebezogene intrinsische Motivation vorlag. Zu dem einsemestrigen Spanienaufenthalt gibt es keine innere Verbindung; entsprechend bleibt er auch ohne Folgen. Der Entscheidungsschwäche muss auch hier eine zugefallene Verlockung: ohne Eigenkosten und ohne Verpflichtung die Sonne Spaniens genießen, korrespondieren. 12 1985-89: Siemens (Witten); Zentraleinkauf München (3 Mon.: USA) Ende 1989-91: Zenit (Mülheimj (NRW-finanzierte Organisation %ur regionalen Technologieförderung): Berater 1991-3/93: E-Tech (Essen): Assistent GF; Start Up Firma für Sensortechnik: GF; BruttoJahresgehalt: 120.000 DM; Neuer BMW (3er-Reihe) Seit 6/1993: ITC (Bremerhaven): GF Seine berufliche Lauftahn beginnt Nowitzki 1985 bei Siemens in Witten, wo er vier Jahre bleibt. In dieser Zeit ist er auch im Zentraleinkauf in München eingesetzt und verbringt zur innerbetrieblichen Weiterbildung drei Monate in den USA. Er nimmt hier in einer Zeit der noch prosperierenden Wirtschaft eine Stellung an, die die Richtung seiner in der Ausbildung erkennbaren Aspirationen inhaltlich nicht fortsetzt, aber doch die Struktur aufnimmt, eine sichere Karriere bzw. Stellung, verbunden mit der Möglichkeit, in den Primärgruppen einen Exotenbonus zu erlangen. Es folgt eine beratende Tätigkeit bei einer aus Landesmitteln finanzierten Organisation zur regionalen Technologieförderung in Mülheim/Ruhr (Ende 1989-91). Hier ist der Quasi-Beamtenstatus die Fortsetzung der sicheren Karriere. Weiter geht dieser Weg 1991 bei einer regionalen Institution zur Förderung der technologischen Entwicklung in Essen. Hier arbeitet Nowitzki als Assistent der
11 Bis heute gilt dort als Anrede zumindest unter den Mitarbeitern aller Hierarchieebenen und Funktionsbereiche - häufig auch zwischen Lehrenden und Studenten - das ,Du' als normal; begründungspflichtig ist, wer beim ,Sie' bleibt. 12 Diese ist aus den Daten hier nicht rekonstruierbar; da aber diese Deutung sowohl mit den Daten als auch mit der bisherigen Fallstrukturhypothese kompatibel und von daher sparsam ist, sei die Vermutung aufgestellt.
1 7 2 - 3 Fälle der Region
Geschäftsführung. Er partizipiert also an deren Status, ohne wirklich die Verantwortung tragen zu müssen — was bei der Konstruktion der ganzen Organisiation sich strukturell wiederholt. Zugleich wird Nowitzki Geschäftsführer eines Start Up-Unternehmens für Sensortechnik mit einem ansehnlichen Gehalt (Brutto-Jahresgehalt: 120.000 DM). Seine Karriere, die sich auch in Zahlen ausdrückt, sein Aufstieg ist dem Milieu, aus dem er kommt, auch als Status kenntlich — so fährt er einen neuen BMW (3er-Reihe). (Anders sähe es etwa bei einer Karriere als Wissenschaftler aus, wo in der Logik der Primärgruppen-Standards allein der mit dem Titel gegebene Status die geringe materielle Gratifikation aufwiegt). Schließlich wechselt Nowitzki nach Bremerhaven, wo er seit Juni 1993 Geschäftsführer einer wiederum staatlich finanzierten Förderorganisation, ist. Er verläßt nun dauerhaft das Ruhrgebiet - aber in eine strukturell ähnliche Position in einer strukturell ähnlichen Region. Eine Wohnung (140 qm) bezieht er in Bremen. Vierzehntäglich fährt er zu den Heimspielen von Borussia Dortmund in seine Heimatstadt. Nowitzki hat bei einer vorteilhaften familialen Konstellation, die ihm erhebliche Aufstiegsmöglichkeiten eröffnete und ihn mit den entsprechenden Ressourcen ausstattete, die Möglichkeiten, die das expandierende Bildungssystem zu seiner Schulzeit und die prosperierende Wirtschaft zur Zeit seines Berufseintritts boten, nicht ausgeschöpft. Sein Weg ist gekennzeichnet von einer Bindung an Primärgruppen, ans Milieu und die Anerkennung dort. Dies faltet sich auf in eine in statusrelevanten Gratifikationen sich ausdrückende zugleich Sicherheit (bei Verzicht auf volle Eigenverantwortlichkeit und fehlender intrinsischer Motivation) bietende Karriereorientierung und eine Exotentum kultivierende Selbstinszenierung. Dass die biographische Ausgangskonstellation von Nowitzki diesen Lebensweg nach sich zog, lässt auf ein Passungsverhältnis zwischen der familialen Konstellation und der regionalspezifischen Konstellation der Wertschätzung von Malochertum und Gemeinschaftsorientierung schließen, die in einer habituellen Orientierung an Anerkennung in Primärgruppen ihre Synthese finden Was wir über die Ehe Nowitzkis wissen, fügt sich dieser Struktur: 1994 heiratet er die elf Jahre jüngere Schwester eines Studienfreundes. Sie ist ausgebildete Werbeassistentin, hat zunächst in einer Werbeagentur gearbeitet und hat nun ein Lehramtsstudium für Deutsch und Kunst aufgenommen: Nowitzki verschafft sich in seiner neuen Heimat in Bremen Anerkennung durch das Statussymbol einer hübschen jungen Frau, die sich den Luxus der zweiten Ausbildung in schöngeistigen Fächern - allerdings nicht müßig, sondern legitimiert durch den praktischen Bezug des angestrebten Lehramts — leisten kann.
3.4 Inszenierte Konformanz • 173
4.3
Analyse des ersten Interviews
4.3.1 Interviewbeginn:
Thema Herkunft
Im Erstinterview, das 1992 geführt wurde, interviewen die Forscher einen ehemaligen studentischen Mitarbeiter. Diese pragmatische Vorstrukturierung, die impliziert, dass Werner Nowitzki Sachen über sich erzählt, von denen er weiß, dass die Interviewer sie kennen, die also eine Verletzung der Ernsthaftigkeitsregel des Fragens bedeutet, führt dazu, dass der Interviewee seine Erzählung inszeniert. Dies muss bei der sequenziellen Analyse berücksichtigt werden. Der Interviewer II beginnt entsprechend der Schwierigkeit, die sich aus der Vertrautheit ergibt, mit einer Aufforderung aus dem Arsenal des narrativen Interviews und der Interviewee Werner Nowitzki antwortet entsprechend. 1005 WN 2: Ja. Okay. (.) Ich bin Alt-Hörder. (.) In Hörde im Penningskamp (.) [...] 1007 WN3:geboren. Nowitzki inszeniert hier - im Modus der kompulsiven Konformität — die authentische Zugehörigkeit zum Zentrum der Milieuheimat, die er zudem mit der Bezeichnung „Alt-Hörde" zu einem besonderen Ort (wie etwa Alt-Heidelberg), zu einer Altstadt mit Tradition stilisiert. Da es die Arbeitsstelle des Vaters ist, die die Ansässigkeit in Hörde motiviert, ist dies auch eine Verortung in der Nachfolge des Vaters. 1007 WN 3:.../ (.) Uund (.) in Hörde getauft, in Hörde konfirmiert 100811 4: Katholisch. 1009 WN 4: Neein, evangelisch. Als nächstes inszeniert Nowitzki die authentische Zugehörigkeit zum evangelischen Milieu. Dieses ist nun die Heimat der Mutter. Beides markiert also ungefragt und deutlich seine Beheimatung. Offensichtlich ist hier eine Begründungsbedürftigkeit (wo bin ich zu Hause?) vorhanden, eine Begründungspflicht noch nicht eingelöst. Auch die Vater-/Mutter-Bindung wird hier ungefragt als austariert hingestellt. 101011 5: {Wieso das denn? 1011 WN 5: Vater Katholik,} Mutter evangelisch. Diese knappe Antwort, die strukturell eine eingeforderte Begründung darstellt, dies aber syntaktisch nicht markiert, inszeniert eine Konstellation, die der Religionszugehörigkeit erhebliche Bedeutung beimisst. Die Religion — die des Vaters ist für diesen selbst in der Sicht des Interviewees von geringer Bedeutung - ist ein relevanter Aspekt der spannungsvollen Ausgangskonstellation von Vaterbindung und Mutterbindung. Dabei wird durch das Nomen die Religiosität des Vaters als eine eher askriptive, statische und statusförmige dargestellt; durch das Adjektiv die der Mutter tendenziell eher als praktizierte, dynamische, ihr als Ei-
174 • 3 Fälle der Region
genschaft zukommende. Die Religion der Mutter erscheint als führend, was ja auch in der Taufe zum Ausdruck kommt (s. o.). 101212 2: Ach! 1013 11 6: Ach ja! 1014 WN6:Mutta(.) 101512 3:Ähä. 1016 WN 7: aus Schlesien (.)geborene Lange Ohne Begründungsoperator wird hier eine Begründung geliefert für die Religionszugehörigkeit der Mutter; 13 zugleich wird die Herkunft thematisiert, beginnend mit der Mutter, was deren Dominanz fortführt. Der Nachname — als deutscher — markiert darüberhinaus gegenüber dem slawischen Familiennamen eine Zugehörigkeit zu dem Land des gegenwärtigen Lebens. 1016 WN 7: .../ Vatta (.) kommt da irgendwie aus Pommern Nun wird der Vater, der zunächst über „Alt-Hörde" noch als Heimatgeber implizit thematisch war, zu einem Zugereisten, dessen Herkunft unklar ist. Damit aber ist auch die Herkunft von Werner Nowitzki unklar. 14 / / (Hierfehlen etwa 5 Sekundenj/ / betrieben haben, aber — weiß ni- — Ende letzten Jahrhunderts Anfang diesen Jahrhunderts sind die rübergekommen - {ja, ja. 101711 7: So. ¿0.} Nowitzki nimmt hier die Perspektive des Einwanderungslandes ein, womit eine Abgrenzung gegenüber denen, die „rübergekommen" sind, markiert wird (desgleichen mit dem Demonstrativum), und zugleich werden aber die, die Gekommen sind, wie Nachbarn behandelt, mit denen man lange schon Tür an Tür wohnte. Grenze und Nähe zu den Aszendenten der väterlichen Linie ist auf ambivalente Weise thematisch, was ein weiterer Hinweis für die Virulenz der Problematik von Herkunft, Sässigkeit und Sesshaftigkeit ist. 1018 WN 8: Und vier Generationen dann schon in Dortmund. Nun wird wieder die Seite der hiesigen Kontinuität betont, wobei Nowitzki die Migranten schon vollgültig als „in Dortmund" hinzuzählt. 1018 WN8:.../
Berchleute.
Bergleute in Dortmund sind seine Vorfahren väterlicherseits nur drei Generationen lang — und das auch nur, wenn er seinen Vater nach dem Motto „einmal 13 Schlesien war „1522 bis 1555 zu neun Zehnteln protestantisch geworden"; allerdings betrieb Österreich „seit 1570/1621 die Gegenreformation" (Köbler 1999: 576). In Verbindung mit dem deutschen Namen darf aber von einer Zugehörigkeit zum Protestantismus ausgegangen werden. 14 Indem Nowitzki ,Vater' artikellos und ohne Possessivpronomen verwendet, also wie einen Namen, adressiert er die Interviewer wie Vertraute, Peergroup-Mitglieder.
3.4 Inszenierte Konformanz • 175
Bergmann — immer Bergmann" hinzuzählt. Das bedeutet, dass Werner Nowitzki selbst sich einreiht womit eine Verstärkung der Kontinuität erreicht wird. 101912 4: Dann bist Duja fast 'n Ureinwohner. Das genau kommentiert der Interviewer 12 ironisch. 1020 WN 9: Ja, ja — und -äh- -pf- der Vatter der war auch gelernter Berchmann. Hat au noch 'n Kriech mitgemacht. (.) Jahrgang 22 — blutiger Jahrgang. Hat aber Glück gehabt, daß eer nach Norwegengekommen is. Hiermit folgt noch ein weiterer Akt des Nachweises der Legitimität der Herkunft. Mit .gelernter X' wird zum Ausdruck gebracht, dass X der Lehrberuf einer Person ist, die danach u. U. andere Berufe ergriffen hat. Nun ist Bergmann aber, anders als etwa Hauer, kein Lehrberuf; es kommt Nowitzki also offensichtlich darauf an, seinen Vater in einer spezifischen Tradition zu verorten, zu der er sich selbst erneut ebenfalls („auch") hinzuzählt. Zudem wird ungefragt hervorgehoben, dass der Vater Soldat war: also kein Drückeberger, und zugleich kein Mitläufer oder gar überzeugter Nationalsozialist. Offensichtlich ist die Frage der Herkunft und die Verortung in entsprechenden Gemeinschaften ein wichtiges Thema für Werner Nowitzki. Woher komme ich? Wo gehöre ich hin? Die Geschichte der Migration und damit die Frage der Herkunft sind nun nicht etwas, das allein die Familie Nowitzki betrifft. Es kommt hier ein Problem zum Ausdruck, das als bedeutsam für die Region ,Ruhrgebiet' als ganzes begriffen werden muss. Es wird das Drängen eines Handlungsproblems deutlich, für das die anhand der objektiven Daten rekonstruierte Fallstruktur: eine habituelle Orientierung an Anerkennung in Primärgruppen, eine Lösung darstellen könnte. Diese Lösung ihrerseits ist aber ebenfalls nicht zufällig; für sie konnte auf vorliegende Deutungsmuster und historisch gewachsene Habitusformationen zurückgegriffen werden (vgl. Kap. 2).
4.3.2 Weitere Stelle:
Klassengemeinschaft
Die Darstellung der folgenden Äußerungen dient nicht der Falsifikation, sondern der exemplarischen Verdeutlichung; deshalb wird die Darstellung der sequenzanalytischen Auswertung entsprechend fokussiert. 3001 WN1: [...] Und in der Klasse (.) gabs dann 1, 2 Drop-outs Die distanzierte Kategorisierung, die Nowitzki hier bezüglich seiner Klasse (die Information, dass es sich um Nowitzkis Schulklasse handelt, nehmen wir aus dem vorhergehenden Kontext hinzu) und seiner Klassenkameraden vornimmt, lässt vermuten, dass er hier einen Klassenverband vor Augen hat, in den er jedenfalls nicht integriert war. Gemessen an seiner Orientierung an Anerkennung muss er einen schweren Stand gehabt haben.
1 7 6 - 3 Fälle der Region 3001 WN 1: .../ gen sind. ( ) \ . . .
die dann — die — bei dieser Drogengeschichte (.) halt auf die harten Sachen gesprun-
Auch hier drückt sich eine distanzierte und zugleich aber wertende und (ver-) urteilende Haltung aus, die eine gemeinschaftliche Integration nicht erkennen läßt. 3001 WN 1: .../ Jaa, aber das hatte alles - diesegan%e Umsteigetheorie — ich erinnere mich — {das war immer — wir hatten immer 300211 1: Halt ich aberfür Cappes} 3003 lVN 2: das Poster von Käthe Strobel: (.) ,Du machst dich kaputt, der Dealer macht Kasse/' 3004 12 2: (lacht) Jau! 3005 WN 3: Dasfanden wir immer total lustig ja. 300611 1: (lacht) Weris das denn?
Vor dem Hintergrund, dass Nowitzki hier über eine Zeit erzählt, in der offensichtlich die Vergemeinschaftung nicht gelang ist es umso signifikanter, wie er in der Interviewsituation eine Vergemeinschaftung herstellt, indem er durch LabelDropping den richtigen Insiderton trifft. Selbst der Interviewer II, der gar nicht weiß, worum es inhaltlich geht, ist gern im Bunde der Dritte. Daran wird deutlich, dass es hier nicht um den Inhalt des Gesagten geht, sondern allein um die praktische Funktion. Anerkennung wird also nicht vermittelt durch die Objektivation in eine Sache, durch Leistung erreicht, sondern durch die Herstellung von Vergemeinschaftung (s. o., S. 169). 300712 3: (lacht) Ich lach mich — weiß ich auch noch! (lacht) das war sowas von komisch! 300811 2: Weris denn Käthe Strobel? 3009 WN 4: Das war {Gesundheitsministerin da301012 4: Die war Gesundheitsministerin} - so'ne (.) 301111 3: {Ach so! Ah! 3012 WN5: Damals.) 3013 12 5: Mutti so. (lacht) 3014 WN 6: Und da wurde also weiße so der - hasse so 'n Typ mit so 'm dicken Hugo, so 'm {Fünblatt (?) H11-.(lacht)H 301512 6: (lacht) Das sah - ^u-} 3016 WN 7: Du machs dich kaputt, der Dealer macht Kasse!,jaa. / ¡11 301712 7: Pooh! Das {kenn ich auch noch! (lacht) //11 -.(lacht).// 3018 WN 8: Uund — das is aber gan^ wichtig } ich hab das nämlich jet% vor dem Hintergrund der heutigen Drogendebatte diesegan^e Umsteigetheorie und das das war nämlich alles {Cappes!Ja. 301912 8: Ja. Sicher. 302011 4: Ja. Klar!}
In einer Kaskade von wechselseitiger Bestätigung zwischen Interviewern und Interviewee hat sich die Distanz vollständig aufgelöst, die Gemeinschaft wird agierend bestätigt und befestigt. Nowitzki geht darin vollständig auf, diese Befestigung voranzutreiben. 3021 WN 9: Das hat gan% andere Gründe gehabt. {Deswegen — 302212 9: Immer!} 3023 WN 10: komm die auch heute (.) schnallen die das Drogenproblem ja gar nich, das is -äh- das
3.4 Inszenierte Konformanz • 177
hatten se damals nich geschnallt, {damals kriminalisiert, ja, 302412 10: Da warn se zwischendurch} schon fast weiter! Immer noch geht es um die wechselseitige Bestätigung von Werturteilen, die schlicht aufgestellt und allenfalls mit Schlagworten „belegt" werden. 3025 WN 11: ]aa. Und es gab / / \2iÄhäl / halt so, was ich immer sage, die die ljeute, die aus so 'm intakten"Elternhauskamen - ob dasjet% {Malocha-Haushalt— 302612 11: Ja, is egal.} {Mhm. 3027 WN 12: ja, das} war völlig egal. Die ham die Kurve gekricht und 'n paar andere sind wirklich drop-outs. 3028 12 12: Ja. 3029 im 13: Ja. Schon eine frühere Analyse dieses Falles (Becker et al. 1998: 17-55) stellte fest, dass Nowitzki keineswegs in die Klasse der Bürgerkinder integriert war. Das Bemühen um Anerkennung in der Peergroup war offensichtlich treibender Motor seiner schulischen Leistungsfähigkeit. Hier wird — mit ja durchaus zutreffenden Überlegungen — die Gleichwertigkeit von „Malocha-Haushalt" und Bürgerhaushalt hergestellt; an anderen Stellen wird deutlich, dass Nowitzki geschickt dort die Anerkennung der Peergroup zu erlangen suchte, wo die soziokulturellen Differenzen entweder kaum eine Rolle spielten (etwa bei den ,Paukfächern' Latein und Griechisch), oder dort, wo sie sogar zum Vorteil ausschlugen (im permissiven Umgang mit Sexualität; vgl. 1. Interview, 3114-3140). Das Gemeinsame der bisher rekonstruierten Momente der Fallstruktur ist die offensichtliche Orientierung an Vergemeinschaftung, die als eine Antwort auf das Problem der Herkunft begriffen werden muss.
4.4 4.4.1
Analyse des zweiten Interviews Karriereplanung?
In der Analyse des Interviews, das acht Jahre nach dem ersten geführt wurde, geht es nunmehr darum, zu prüfen, ob die starke Vergemeinschaftungsortientierung und die damit verbundene Form der Bewältigung des Bewährungsproblems: der Versuch, Anerkennung über Vergemeinschaftung statt etwa über sachorientierte Leistung zu erlangen, sich — u. U. beeinflusst durch den beruflichen Werdegang und den Wegzug aus dem Ruhrgebiet 15 - transformiert hat. Die einzige Stelle, die in diesem Interview, das in überwiegenden Teilen durch den ungehemmten Redefluss des Interviewees bestimmt ist, Indikatoren für eine Transformation bzw. die Chance auf eine Falsifikation enthält, soll hier analysiert
15 Nowitzki lebt zum Zeitpunkt des zweiten Interviews (Juni 2000) in Bremen und arbeitet in Bremerhaven (s. o., S. 171 f.)..
1 7 8 - 3 Fälle der Region werden. Der Interviewer versucht, die Motive der Entscheidung für einen Stellenwechsel zu eruieren. 19 12 12: Und wie war das damals, also als sie sich da beworbn haben? da gabs schon diesn Knies mit dem Chef, deswegen haben sie sich umgeguckt? oder war das Zufall, dass sie irgendwie auf die Anzeige gestoßn sind +(WN: Ne ne ne)+ und gesacht haben ja 20 IVN 12: also man muß sichja imma, Die Unterstellung, einem zufalligen Ereignis seine Karriere zu verdanken, weist Nowitzki vehement zurück. Dass der Interviewer die Alternative ,Zufall' nennt, wird von Nowitzki offensichtlich als impliziter Vorwurf gedeutet, dem er begegnet, indem er seine Entscheidung auf eine allgemeine Notwendigkeit zurückführt. 20 WN 12:... / ich binjajemand, der so die Dinge imma \ Entweder stellt Nowitzki nun zunächst in einem Einschub Charakteristika von sich heraus, die die Bezugnahme auf die allgemeine Notwendigkeit plausibilisieren, oder er korrigiert sich indem er von allgemeinen Notwendigkeit Abstand nimmt und die Generalisierung auf seine Person beschränkt. Dabei unterstellt er, dass er dem Interviewer als ein solcher, der er ist, bekannt ist. Interviewer 2 und der Interviewee kannten einander aber vor dem Interview nicht. Festzuhalten ist indessen, dass sich Nowitzki bei beiden Lesarten auf allgemeine Prinzipien bezieht, auch wenn noch nicht sicher ist, ob es sich dabei um inhaltlich universalistische Prinzipien handelt. Eine abschwächende Modifizierung der Prinzipienfestigkeit markiert allerdings die Partikel ,so': Nowitzki stellt sich als jemand spezifisches dar, er bringt sich nicht als diese spezifische Person zum Ausdruck. 20WN12:.../
nichs,
Insofern als die Selbstcharakterisierung als prinzipiell lediglich negativ abgrenzend vorgenommen wird, wird sie nun noch weiter zurückgenommen. Das, als was Nowitzki nicht erscheinen möchte, steht im Vordergrund; das positive Gegenbild ist nicht vorrangig. Aus dem inneren Kontext der Frage wird deutlich, dass Nowitzki keinesfalls als spontan auf eine Situation reagierend, gar als von Zufällen bestimmt erscheinen möchte. Dass er diesen Eindruck herzustellen aber so bemüht ist, legt nahe, 16 dass er die Sachlage in der Formulierung des Interviewers treffend beschrieben findet. Die umständliche Verneinung (,immer nicht', statt ^ e " ) spricht deutlich für diese Lesart. 20 WN 12:.../ nich nur so situativ entscheidet, sondern \
16 Der Volksmund kennt diesen Schluss unter dem Sprichwort „Qui s'excuse s'accuse"; in der diesem Sprichwort zugrundeliegenden Erfahrung drückt sich die konstitutive Dialektik von Entscheidung und Selbstrechtfertigung aus. Die praktische Begründungsverpflichtung kann nicht eingelöst werden, da die - geteilten - Maßstäbe verletzt wurden; also wird versucht, den Grund für das Erfordernis einer Selbstrechtfertigung zu tilgen (vgl. S. 163, Fn. 33).
3.4 Inszenierte Konformanz • 179
Damit weist Nowitzki die vom Interviewer aufgeworfene Lesart, er habe aus einem Streit mit seinem Chef heraus spontan eine neue Stelle gesucht, zwar zurück, aber gesteht zugleich zu, dass er (zwar ,nicht nur', aber eben) auch situativ entscheidet, sie ganz falsch also auch wieder nicht ist. Dass hier ein Gegensatz vorbereitet ist,17 liegt an der Einbettung und Zurückweisung, die in der Äußerungssequenz hier durch die Partikel ,so' zum Ausdruck kommt. 18 Der Gegensatz zu ,situativ entscheiden' ist,gemäß einer situationsübergreifenden Erwägung oder Planung entscheiden'. 20WN12:
.../jemand,
Nun wird der Vergleich auf eine andere Ebene gehoben: Nowitzki stellt sich nun als jemand dar, der nicht auch situativ entscheidet; unverbunden stellt er sich also als zwei verschiedene, nicht vereinbare Personen dar.19 Berücksichtigt man die Sequenzialität der Äußerung so ist folgende Bewegung festzustellen: In direkter Zurückweisung der Unterstellung durch den Interviewer behauptet der Interviewee zunächst, jemand zu sein, der nicht situativ entscheidet; das wird aber dahingehend relativiert, dass das zunächst negierte Moment in die Bestimmung aufgenommen wird, was zusammen mit der oben bereits betonten Logik des s'excuser/s'accuser deutlich werden lässt, dass die Unterstellung durch den Interviewer durchaus zutrifft; auf dieses Zugeständnis folgt nun eine Negierung, womit der Interviewee in der Absicht, sich der Behauptung des Interviewers entgegenzusetzen: er sei nicht jemand, der situativ entscheidet, sondern jemand, der (zumindest auch) gemäß einer situationsübergreifenden Erwägung entscheidet, diese Behauptung retrograd negiert: er ist nicht jemand, 20 der nicht (nur) situativ entscheidet. 20 IVN 12:.../ der so auch imma mittelfristich bis langfristich auch, äh äh [...] plant, \ Nun wird die erste Satzplanung wieder aufgenommen und das principle of charity lässt uns Nowitzki auch so verstehen, als wolle er sagen, er sei jemand, der nicht nur situativ entscheidet, sondern auch planvoll. Diese Moment des Planvollen erweist sich somit als übernommene Deutung, die aber keineswegs mit
17 Formal könnte man schreiben: ,X = Y[(nicht nur) A, (sondern auch) B/B ** A]', wobei letzteres bezeichnen soll, dass A im Gegensatz zu B steht. 18 Von Kaffee etwa kann man durchaus sagen, er ist nicht nur heiß, sondern auch süß, gemäß obiger Formel also ,Y[(nicht nur) A, (sondern auch) B/B A A]', wobei ,A' schlicht .different' heißen soll. 19 Es werden hier zwei Satzpläne A]' mit ,X # Y, X = Z/Z ** Y'. realisiert; im Verfolg des zweiten aus dem ersten Satzplan, obwohl sei Y und nicht Y. 20
Dieses
,nicht jemand'
kontaminiert: ,X = Y[(nicht nur) A, (sondern auch) B/B ** Im Verfolg des ersten Satzplans ist,(sondern auch) B' nicht wurde Y' nicht gesetzt, damit tritt das (unvollständige) Y nicht verneint, an die Stelle. Damit sagt der Sprecher, er (X)
folgt retrograd aus dem .sondern jemand'
1 8 0 - 3 Fälle der Region
der Selbstwahrnehmung übereinstimmt. Nowitzki möchte jemand sein, der planvoll entscheidet, erfährt sich aber selbst als jemanden, bei dem das nicht der Fall ist (also als jemand, den der Interviewer richtig beschreibt). Auch wenn wir hieraus eine Vergmeinschaftungsorientierung nicht ableiten können, geht das Rekonstruierte doch mit ihr zumindest konform. Aus dem Interaktionsverlauf lässt sich zudem ein Bemühen um Konformität mit den vom Interviewer vorgebrachten Urteilskriterien feststellen.
4.4.2 Zukunft statt Herkunft? Ein weiterer Aspekt, den es in dem Zweitinterview zu prüfen gilt, ist der der Herkunftsproblematik. Wird diese, was der berufliche Wechsel nach Bremerhaven, der Wegzug nach Bremen andeutet, durch ein Sesshaftwerden an anderem Ort gelöst? Nowitzki hebt im Laufe des Interviews selbst hervor, dass er seine Zukunft nicht in Bremerhaven, sondern im Ruhrgebiet sieht (50 WN 27 bis 54 WN 29). Die Beziehungen, die er in Bremen aufbaut, sind ebenfalls weder von Sesshaftigkeit noch von einem Streben danach gekennzeichnet (91 WN 48). Die Anerkennung, die Nowitzki dort erfährt, ist, wie bereits bei seinem Wechsel zum Stadtgymnasium, eine durch Exotentum kultivierende Selbstinszenierung. Dass er darauf reduziert wird, sich selbst darauf reduziert, quittiert er mit einem unaufgeregten Ressentiment den „Pfeffersäcken" gegenüber. Seine Verankerung findet er nach wie vor in der Peergroup-Kultur im Ruhrgebiet, so etwa in der Fan-Szene von Borussia Dortmund.21 Diese Verbindung aufrechtzuerhalten, fällt Nowitzki von Bremen aus u. U. leichter als wenn er im Ruhrgebiet selbst leben würde.22 Im letzteren Fall wäre die Peergroup-Verortung dem Druck des Alltags ausgesetzt, die Quelle von Anerkennung, zumindest von einem Zufluss an Anerkennung, als die ihm sowohl in Bremen als auch bei seinem Eintauchen in die Peergroup seine Exotik dient, wäre versiegt. Das Problem der Herkunft wird also bei Nowitzki nicht durch einen in Sesshaftigkeit verankerten Zukunftsentwurf gelöst; er weicht dem Problem aus, indem er, wie er es selbst erkennt, eine „Berufsjugendlichnrolle" (86 WN 45) spielt, die aber zugleich das Problem durch Verschiebung perpetuiert.
Er fahrt zu den Heimspielen nach Dortmund, geht dort aber in die Fankneipen statt ins Stadion (58 WN 31).
21
„58 WN 31: [...] weil von Duisburch nach Dortmund, dann kann ich auch von Brem nach Dortmund fahrn [...]" — so schließt Nowitzki eine Episode ab, in der er von einem ausgeschlagenen Angebot einer Stelle in Duisburg berichtet. 22
3.4 Inszenierte Konformanz -181
4.5 Résumé „wollts doch imma mit fuffzich hier wieda im Ruhrgebiet sein" — „ja is doch noch Zeit, dat schaff ich doch noch, also grüß zuhause"
Werner Nowitzki, geb. 1956, ist ein Aufsteiger aus dem Milieu, mit dem wir uns auch in den vorhergehenden Analysen beschäftigten. Er hat nicht nur das Milieu, sondern auch das Ruhrgebiet verlassen und wirft damit die Frage auf, ob er zugleich auch die habituelle Prägung hinter sich gelassen hat. Die familiale Konstellation setzte hierfür gute Bedingungen, nimmt Werner Nowitzki doch zugleich die Position des Älteren (gegenüber seinem Zwillingsbruder) und Erstgeborenen (seiner Mutter) und die des Jüngeren (gegenüber seinem Halbbruder) und Zweitgeborenen (seines Vaters) ein: er ist sozusagen ein Sonntagskind. Angesichts des schwachen Vaters in dieser Familie jedoch konnte er das Komplement zu dieser günstigen Lage: Entscheidungsstärke nicht ausbilden. In seiner schulischen Laußahn hat Werner Nowitzki weniger von der bildungspolitisch durchgestzten Öffnung der Gymnasien als von den günstigen sozialisatorischen Ausgangsbedingungen profitiert. Der Besuch des renommierten bürgerlichen Stadtgymnasiums ermöglichte ihm einen in Bildung fundierten sozialen Aufstieg, den er mit seiner Fähigkeit zu einer — häufig kompulsiven, durch gepflegte Exklusivität forcierten - Konformität zu sichern wusste. Nowitzkis berufliche Laußahn zeigt — nach einigen Unentschiedenheiten zu Beginn — ebenfalls den Aufsteiger, der aber nicht aufgrund riskanter Entscheidungen seine selbstverantwortete Karriere macht, sondern in einer Art transformiertem Anciennitätsprinzip im Schutzraum staatlich subventionierter Gesellschaften die Karriereleiter erklimmt. Dabei bleibt er, trotz seines Wegzugs nach Norddeutschland, dem Ruhrgebiet aufs Engste verhaftet und strebt ein Rückkehr auf Dauer an, die aber nicht die Form einer verantwortlichen Sesshaftigkeit, sondern die einer Ansässigkeit annimmt. (Eine Familie zu gründen, hat Nowitzki offensichtlich nicht vor.23) Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Nowitzki zwar räumliche und — im schichtensoziologischen Sinne — soziale Mobilität aufweist; seine, immer die exotisierende Abweichung betonenden, Inszenierungen der Konformität, erlauben es aber nicht, die Sässigkeit an neuen Orten in eine Sesshaftigkeit zu transformieren, die mit einer Verantwortung für das Gemeinwesen einherginge. Nowitzki macht diese Spannung für sich persönlich erträglich mit einer an Zynismus grenzenden Ironie und mit der — inszenierten und immer wieder aktualisierten - Einbettung in ein Peergroup-Milieu, das seinerseits diesem Exoten Seine Frau spielt eher die Rolle eines für seine Konformitätsinszenierungen notwendiges Accessoire als dass sie eine Partnerin darstellt. 23
182
3 Fälle der Region
ohne Ressentiment gegen sein Aufsteigertum immer wieder gern eine Bühne bietet und damit dazu beiträgt, die Handlungsmuster zu perpetuieren und den Habitus zu stabilisieren.
5
Gesuchte Performanz
5.1 Vorbemerkung zur Failauswahl Nachdem die bisherigen Fälle alle auch Fälle des proletarischen Herkunftsmilieus in Hörde waren, ist folgender Fall auch Fall des Unternehmermilieus; als Kontrastfall kann er eine Antwort auf die Frage bieten, ob die bisher rekonstruierten Strukturen nicht eher dem sozialen Milieu als der Region zuzurechnen sind. Anton Schäfer entstammt der Familie eines Unternehmers mit Gewerbetradition, deren Tradition er fortfuhrt.
5.2 Analyse der objektiven Daten1 5.2.1 Der Werdegang Geb.: 12/1953, Dortmund; evangelisch
Anton Schäfer ist 1968 in der Adoleszenskrise, wird also von dem kulturellen Aufbruch berührt: Das Klima, in dem er seine Ablösung bewältigen muss, ist liberal bis libertär, was Konfliktstoff für die Auseinandersetzung der Generationen bietet, gleichzeitig aber auch durch Orientierung an neuen Mustern die Abgrenzung erleichtert, da weniger Eigenleistung als Subsumtion unter anerkannte Protestformen erforderlich ist (vgl. S. 97f.). In Dortmund ist „68" verzögert, so dass Schäfer in moderater Form wohl vorrangig die befreienden und entlastenden Momente erfährt, ohne die Last des anstrengenden Protests auf sich nehmen zu müssen. - Die Konfessionszugehörigkeit lässt eine Präferenz für Individuierung gegenüber der Bindung an die Vergemeinschaftung erwarten. 4/1960-4/1964
Gemeinschaftsschule Dortmund-Aplerbeck
Einschulung und Grundschulzeit verlaufen unauffällig. In Aplerbeck gab es 1960 zwei Gemeinschaftschulen, 2 von denen die eine ca. 1 km, die andere ca. 2,3 km vom Wohnhaus Schäfers entfernt lag. Unmittelbar neben oder gegenüber der näher gelegenen Gemeinschaftsschule befand sich eine katholische Grundschule.3 Dass Schäfer auf eine der näher gelegenen Schulen ging, ergibt sich vermutlich durch die entsprechende Einteilung der Schulbezirke. Dass auch die Wahl
1
Wegen der Kontrastierung wird hier die Analyse der objektiven Daten wieder ausführlicher dargestellt. 2 3
Ich danke Herrn Brausch vom Dortmunder Stadtarchiv für die Auskunft.
Es handelt sich um die Aplerbecker Gemeinschaftsschule, Köln-Berliner-Str. 73, die Aplerbecker Markschule, Schwerter Str. 269 und die Ewaldi-Schule, Kath., Köln-Berliner-Str. 72. Die beiden heiliggesprochenen angelsächsischen Priestermönche Schwarzer Ewald und Weißer Ewald erlitten bei den Sachsen (wohl im Gebiet zwischen Rhein, Ruhr und Lippe) um 695 den Märtyrertod (Brockhaus 1997, Bd. 7: 5; vgl. S. 44f.). Nach diesen dürfte die Schule benannt sein.
1 8 4 - 3 Fälle der Region
einer katholischen Grundschule möglich gewesen wäre, ist unwahrscheinlich, da die katholische Schule vermutlich Kinder anderer Konfessionen nicht aufnahm zumal die Gemeinschaftsschule benachbart war. 4/1964-6/1971 Humboldt-Gymnasium, Dortmund Schäfer besucht das Gymnasium, das er entweder nach der elften Klasse verlässt oder nach der zehnten Klasse, nachdem er einmal nicht versetzt wurde. Dass er das Gymnasium besucht, spricht zu seiner Zeit noch für (a) entsprechende Schulleistungen, (b) ein entsprechend ambitioniertes Elternhaus (entweder aufstiegsorientierte oder selbst mit höherer Bildung versehene Eltern). 4 Dass er das Gymnasium nach der Ober- oder nach der Untersekunda verlässt, spricht dafür, dass er den gestiegenen Anforderungen der Oberstufe nicht gewachsen ist. Rational wäre es für eine Karriereplanung, die auf das Abitur verzichtet, gewesen, nach Erreichen des „Einjährigen" das Gymnasium zugunsten einer anderen weiterführenden Ausbildung zu verlassen. Entweder ist dies der Fall oder die elterlichen und die eigenen Ambitionen haben diesen Schritt nicht zugelassen; mehr oder weniger bedeutet das Verlassen des Gymnasiums ein Scheitern dieser Ambitionen. Schäfer beginnt seinen weiteren Ausbildungsweg mit einem Makel. 8/1971-6/1973 Höhere Wirtschaftsfachschule (Höhere Handelsschule), Dortmund; Abschluss: Fachabitur Wirtschaft Schäfer wendet sich nach dem Scheitern der Bildungsambitionen 5 einer praxisorientierten Ausbildung zu, die ihm sowohl einen Berufseinstieg im kaufmännischen Bereich als auch ein Fachhochschulstudium eröffnet. Da Schäfer von „Fachabitur Wirtschaft" spricht, 6 wird er auch einen praktischen Teil absolviert haben. Es handelt sich also um eine klare Ausrichtung auf baldige Berufstätigkeit. — Im Anschluss an das Fachabitur, Schäfer ist jetzt 19 Jahre alt, wäre es rational, den Grundwehrdienst abzuleisten, um dann möglichst zügig in den Beruf einzusteigen — oder aber ein Fachhochschulstudium aufzunehmen. 10/1973-6/1975 Zeitsoldat (10/1973-5/1974 Augustdorf; 5/1974-6/1975 Handoif)7
Nach Fend (1988: 135) lässt sich für NRW festhalten, dass 1955 bei Eintritt in Sekundarstufe der Anteil der männlichen Gymnasiasten an ihrer Alterskohorte 16,5% betrug.
4
Es bestätigt sich hier, dass es sich so oder so um ein Scheitern handelt, da Schäfer entweder nach einer Klassenwiederholung nahtlos von der wiederholten Klasse 10 des Gymnasiums in die (Einstiegs-) Klasse 11 der Fachoberschule wechselte oder dort die Jahrgangsstufe 11 wiederholte. 5
Die objektiven Daten entstammen einem vom Interviewee im Anschluss an das Interview selbst ausgefüllten Fragebogen.
6
7 Augustdorf, ein großer Truppenübungsplatz in der Senne, liegt ca. 20 km südöstlich von Bielefeld; von Dortmund ist er ca. 100 km entfernt. - Handorf liegt am nordöstlichen Stadtrand von Münster/Westf. Und ist von Dortmund ca. 50 km entfernt.
3.5 Gesuchte Performanz • 185 Die Verlängerung der Grundwehrdienstzeit 8 um faktisch sechs 9 Monate bei Gewinn einer Verpflichtungsprämie für Zeitsoldaten 1 0 ist rational, da das FHStudium erst im W S hätte begonnen, der Grundwehrdienst aber nicht rechtzeitig zum W S 1 9 7 4 hätte beendet werden können. Die verlorene Zeit wurde so zu finanziellem Vorteil genutzt. Resetveoffisjersanwärter,
Fahnenjunker
Schäfer nutzt die Zeit für einen Aufstieg: er schlägt die Offizierslaufbahn ein. Damit, dass Schäfer Fahnenjunker wurde, erreichte er einen Dienstgrad, der bereits nach zwölf Monaten als SaZ möglich war. Nach 21 Monaten hätte er Fähnrich werden können (nach 36 Monaten Leutnant). 1 1 Er realisiert seine Chancen hier also nicht. - Dass Schäfer überhaupt Offiziersanwärter 1 2 wurde, lässt auf Ambitionen einerseits, Tauglichkeit andererseits schließen. Nach der Wehrdienstzeit ist nun die A u f n a h m e eines Studiums oder einer (wegen des Fachabiturs vermutlich verkürzten) Lehre 1 3 zu erwarten. 611975-10/1976 „diverse Jobs b%w. Uni Lochum + Auslandstätigkeit", Eltern (Drei-Familien-Haus)
Auszug aus dem Haus der
Der Grundwehrdienst dauerte gemäß Wehrpflichtgesetz in der Fassung vom 28. September 1969, § 5, Abs. 1 fünfzehn Monate. (Die Angaben zu Gesetzen und Verordnungen, die den Wehrdienst betreffen, entnehme ich Schnell/Seidel/Ronke 1971.) 8
Die Mindestzeit bei einer Verpflichtung als Soldat auf Zeit (SaZ) betrug zwei Jahre; dies hätte eine Dienstzeit bedeutet, die um neun Monate länger war als der Grundwehrdienst. Weshalb Schäfer nach 21 Monaten den Dienst quittieren konnte, ist nicht geklärt; möglicherweise hat er sich erst nach der dreimonatigen Grundausbildung verpflichtet und sie in seinen Angaben nicht mitgerechnet. (Der Erholungsurlaub betrug für Schäfer 21 Werktage pro Jahr, so dass auch ein Aufsparen der insgesamt 42 Werktage für zwei Jahre nicht ein dreimonatiges Vorziehen des Endes der Wehrdienstzeit ermöglicht hätte; außerdem zählt die Urlaubszeit ja noch zur Wehrdienstzeit.) 9
10 Gemäß dem Stand vom 1.7.1971 erhielt ein Soldat, der sich für zwei Jahre verpflichtet hatte am Ende seiner Dienstzeit die dreifache Monatsvergütung als Prämie (sog. Übergangsbeihilfe). Dies entsprach bei einem Nettogehalt von etwa 600 DM einer Summe von 2200 DM („Die Übergangsbeihilfe ist steuerfrei. Sie wird bei Beendigung des Dienstverhältnisses in einer Summe gezahlt." - Schnell/Seidel/Ronke 1971: E 06). 11 Soldatenlaufbahnverordnung in der Fassung der Siebenten Änderungsverordnung vom 30. April 1971 BGBl I S. 429, § 18. 12 ROA konnte werden, wer das Zeugnis über den erfolgreichen Besuch einer Mittelschule oder einen entsprechenden Bildungsstand besaß. 13 Wegen der Anbindung an die Berufsschule kann auch die Lehre nur jeweils zum Beginn des Schuljahres beginnen.
1 8 6 - 3 Fälle der Region
Weder die durch die Ausbildung eröffnete Karriere wird nach Entlassung aus dem Militärdienst angestrebt, noch wird die Militärkarriere fortgesetzt. 14 Schäfer, jetzt 21 Jahre alt, gelingt nun mit dem Verlassen des Elternhauses zwar zumindest räumlich die Ablösung von der Herkunftsfamilie, diese hat aber kein positives Ziel; er erscheint zunächst orientierungslos, was er an der Universität Bochum gemacht hat, ist unklar; die Voraussetzung für ein Universitätsstudium hatte er nicht. Allerdings ist die FH Bochum räumlich in die Universität integriert. Sollte Schäfer an der FH ein Studium aufgenommen haben, wäre die gewählte Formulierung prätentiös und brächte unerfüllte, gleichwohl aufrechterhaltene Ambitionen zum Ausdruck. „Auslandstätigkeit" verweist auf die Tätigkeit im Auftrag einer Auslandsgeschäfte betreibenden Firma. Da diese nicht genannt wird, bleibt unklar, worum es sich handelt. Die sparsamste Lesart wäre, dass Schäfer eine Möglichkeit nutzte, um zugleich berufliche und Auslandserfahrungen zu sammeln, um dann ein Studium aufzunehmen, wodurch er dafür erforderliche Praktika einsparen könnte. 15 Demgemäß müsste nun im WS 1976 die Aufnahme des Studiums erfolgen (die „Auslandstätigkeit" würde sich geringfügig mit dem Studienbeginn überschneiden, was aber zu bewältigen wäre). 6/1975-10/1976 Wohnungen: „BRD, Spanien, Frankreich, Portugal, Hamburg, Dortmund als Gast und Untermieter" Schäfers Angaben zur Wohnung in der Zeit der „Jobs" und der „Auslandstätigkeit" deuten auf ein unstetes Tingelleben hin. Wenn es um eine klare Uberbrückung einer Wartezeit durch Geldverdienen und Sammeln von beruflichen Erfahrungen gegangen wäre, wäre es rational gewesen, von einer preiswerten Wohnung aus den Beschäftigungen nachzugehen, oder gar zu Hause zu wohnen. Die häufigen Wohnungswechsel hängen zwar wahrscheinlich mit der Tätigkeit zusammen; allerdings bleibt die Option offen, ob nicht der Wechsel der Tätigkeiten Folge des Wechsels des Aufenthaltsortes war. Eine feste Einbettung in eine Peergroup liegt offensichtlich nicht vor. Dauerhafte soziale Bindungen werden auch nicht aufgebaut. 10/1976-11/1982 Zeitsoldat, Hemer (Wohnung dort), (Panzertruppe, Dienstgrad Oberfeldwebel)
14 Für die Vergabe eines Studienplatzes Wirtschaftswissenschaften FH (als integrierter Studiengang u. a. angeboten in Bochum und Dortmund) war im WS 1974/75 die ZVS Dortmund zuständig; der geltende NC konnte von der ZVS leider nicht mehr ausfindig gemacht werden.
Unwahrscheinlich ist, dass durch die gewählte Formulierung ein durch wechselnde Jobs finanzierter Auslandsaufenthalt verbrämt wird; bringt man allerdings die Lesart ,prätentiös' in Anschlag und stellt diese Prätentiosität in Rechnung, so wäre eine entsprechende Verbrämung denkbar. 15
3.5 Gesuchte Performanz • 187
Wieder wird die Möglichkeit zur zielstrebigen Karriere nicht genutzt; vor dem Hintergrund dieser weiteren Entwicklung müssen wir nun doch für „Auslandsaufenthalt" die Prätentions-Lesart (vgl. Fn. 15) heranziehen. Schäfer kehrt zu seiner militärischen Laufbahn zurück. Hier steigt er aber nicht wieder in die Offiziers-, sondern in die Unteroffizierslaufbahn ein. Das bedeutet, dass er die zivile Zwischenzeit nicht mit einem Studium gefüllt, gar mit einem entsprechenden Abschluss beendet hat; auch eine Aufnahmeprüfung, sofern er sich einer solchen unterzogen hat, hat er nicht bestanden. Somit muss er sich einer Unteroffiziersund einer Feldwebelprüfung unterzogen haben. 16 Schäfer avanciert bis zum Oberfeldwebel, steigt also um drei Dienstgrade auf. Dadurch, dass er seine Offiziersambitionen nicht verwirklicht, erscheint die erneute Wehrdienstzeit wieder als orientierungsloses Moratorium. Allerdings könnte die Zeit statt für ein militärisches Avancement für eine zivile Ausbildung genutzt worden sein. Dass Schäfer in Hemer wohnt, obwohl es in relativer Nähe zu Dortmund (Luftlinie ca. 25 km) liegt, weist einerseits auf eine Verlagerung seines Lebensmittelpunktes oder besser auf die Bildung eines Lebensschwerpunktes und damit auf ein Sesshaftwerden hin. Obwohl eine Peergroup-Bindung zu Dortmunder Bekannten nach bisherigem Wissen nicht vorliegt, die Verlagerung dort also kein Verlust darstellt, ist andererseits dennoch von einer Art Legionärsdasein auszugehen, schon bedingt durch den Dienst wird der Aufbau eines sozialen Beziehungsgeflechts außerhalb der Gruppe der Dienstkameraden schwer sein; nach dem bisherigen inneren Kontext der Biographie ist diese Leistung von Schäfer nicht zu erwarten. Seine Anerkennung wird er einersits im Dienst suchen, andererseits bei Personen, die ähnlich sporadische unverbindliche Kontakte pflegen wie er.17 KpFw (Kompaniefeldwebel), KpTrpFhr (Kompanietruppführer), P^ZugFhr (Pan%er%ugführer)
Diese Dienststellungen, die Schäfer angibt, sind z. T. nicht vereinbar: Der Kompaniefeldwebel ist für die Organisation der Kompanie zuständig, sitzt also im Büro; der Kompanietruppführer hingegen führt in Übungen und im Feld, ist also „draußen bei der Truppe"; hier also muss Schäfer sich aufeinanderfolgend in den entsprechenden Dienststellungen bewegt haben, was ungewöhnlich ist. Zwei sich widersprechende Lesarten tun sich hier auf: Anton Schäfer könnte sich als besonders flexibel bewährt haben; er könnte aber auch besonders unbeliebt sein, so dass man ihn gern gehen lässt. Die Stellung eines Panzerzugführers setzt in der Regel den Rang eines Hauptfeldwebels voraus, den Schäfer nicht innehatte. Er muss also informell sich bewährt haben.
16 Vgl. Soldatenlaufbahnverordnung in der Fassung der Siebenten Änderungsverordnung vom 30. April 1971 BGBl I S. 429, §§ l l f . 17
Die Kontakte zu Motorradfahrern (s. u., S. 195) passen hierzu.
1 8 8 - 3 Fälle der Region
Zivile Ausbildungslehrgänge: Mechaniker
Kefa-Organisator,
Mittleres Management, Betriebsorganisator, Kf%-
Wie erwartet, nutzt Schäfer die Möglichkeit zu ziviler Ausbildung. Allerdings wählt er keinen stringenten Ausbildungsweg mit Abschluss, sondern sammelt Lehrgänge rund um das Management von Betriebsabläufen. Für die Tätigkeit als Kompaniefeldwebel ist dies funktional. Der Kfz-Mechaniker passt dabei so wenig in die Reihe, dass man annehmen muss, dass er das Wissen aus diesem Lehrgang für private Zwecke nutzen wollte. Eine spätere Berufstätigkeit als KfzMechaniker wäre ein deutlicher Abstieg. Der Zeitpunkt der Beendigung der Wehrdienstzeit (11/1982) könnte einerseits durch die Anrechnung der ersten 21 resp. 24 Monate bedingt sein, so dass Schäfer sich unter Berücksichtigung dieser Anrechnung als SaZ 8 verpflichtet hatte, oder er ist von außen motiviert. Schäfer rangiert auch während der Wehrdienstzeit heftig hin und her — aber wie auf einem nur vorübergehend genutzten Abstellgleis, ohne dass er sich vorwärts bewegte. 11/1982 bis heute: Fa. Anton Schäfer GmbH (Fa. im Besit£ der Familie: Vater und dessen Onkel väterlicherseits, Anton Schäfer, resp. dessen Verwandtschaftslinie); zunächst: Ausbildung (Orthopädiemechaniker) mit verkürzter Lehrzeit (2 Jahre) Der Eintritt in den Familienbetrieb war voraussichtlich nach Abbruch des Gymnasiums, spätestens nach der Fachhochschulreife eine ständige Option. Dass Schäfer diese Option nicht zielstrebig zu realisieren versucht, weist auf ein forciertes Abgrenzungsbedürfnis hin, das sich jedoch tatsächlich in negativer Abgrenzung erschöpft: damit bleibt die forcierte Ablösung gleichwohl halbherzig, die Option wird passiv aufrechterhalten. Den Gegensatz zur kompulsiven Konformität Nowitzkis könnte man mit dem Typus des „passively oriented anticonformist [...] predisposed to such a pattern as ,hoboism"' (Parsons 1964: 284) kennzeichnen, denn selbst die Einfügung in die militärische Laufbahn erscheint in ihrer mangelnden Zielstrebigkeit weniger als ein positives Gegenbild denn als der Versuch, sich Freiheit von Verpflichtungen und Verantwortlichkeit zu verschaffen und zu bewahren: „The hobo, we may presume, is above all concerned to protect his freedom" (ebd.). 18 Dabei ist der — strukturelle — „hoboism" bei Schäfer aber nur ein Moment der Habitusformation. Anders als in den Eröffnungsversen des „Song of the Open Road" von Walt Whitman, die, das Bild des ,hobo' suggerierend, die Zukunftsoffenheit und die Freiheit dem selbst Gewählten, was auch immer es sei, betonen, 19 ist offensichtlich - als ein Komplement des Freiheitsstrebens - ein weiteres Moment in Schäfers Habitus darauf gerichtet, gerade diese Zukunftsoffenheit als horror vacui zu vermeiden. Die 18 „The sociology of the homeless man" nennt Nels Anderson seine instruktive Studie „The Hobo" im Untertitel (1923). 19 „Afoot and light-hearted I take to the open road, / Healthy, free, the world before me, / The long brown path before me leading whereever I choose." (Whitman 1973: 149)
3.5 Gesuchte Performanz • 189
Lücke des positiven Gegenbildes wird scheinbar mit der militärischen Karriere gefüllt, dies aber, wie gesehen, eher tatsächlich als Lückenfüller denn als eigenständige Entwicklungslinie.20 Der Eintritt in die Firma der Familie teilt mit dem Antritt des Zeitwehrdienstes, dass diese Entscheidungen nicht autonom auf einen positiven Entwurf hin erfolgten, sondern von außen — wodurch auch immer - angestoßen wurden. Schäfer schlägt hier — dem hatte er sich bisher verweigert — einen offensichtlich vorbestimmten Weg endlich ein. Arbeit als Geselle; 2/1985: Beginn der Meisterschule (besteht mit besonderer Auszeichnung sein Meisterstück gewinnt einen Preis)
In dem Moment, wo er in die Fußstapfen des Vaters tritt und sich in die Familientradition eingereiht hat,21 werden seine Fähigkeiten geweckt — wie bei Antaios, nur dass hier nicht die Mutter Erde berührt, sondern der Weg der Vaterlinie eingeschlagen wurde — und erlauben eine zielstrebige Verfolgung des Weges. Dies ist vor dem Hintergrund des bisherigen strukturellen „hoboism" erklärungsbedürftig, konnte doch vorher offensichtlich nur — und auch nur bis zu einem gewissen Maße — die militärische Organisation mit ihren den Alltag strukturierenden Routinen eine formelle Absicherung des Lebens geben, so dass sich eine intrinsische Motivation nicht feststellen ließ. Was sich sonst geändert hat, ist die Rückkehr in den Schoß der Familie, so dass davon ausgegangen werden muss, dass die zielstrebige und Erfolge erreichende individuelle Leistungsbereitschaft ihre Triebfeder in der Anerkennung in der Familie und als Mitglied der Familie in der diese anerkennenden Gemeinschaft, welche Schäfer sicher bis dahin entbehren musste, hat. als Ausbilder überregional tätig (Handwerkskammer?); arbeitet (nach eigenen Angaben) über 16 Stunden täglich
Als Fortsetzer der Familientradition erfüllt Schäfer nun alle Anforderungen vorbildlich. Diese Familientradition wird im folgenden in ihren konstitutiven Momenten zu analysieren sein.
5.2.2 Die familiale Konstellation Großvater väterlicherseits: RudolfAnton Schäfer; *12/1894, Volksschule, Kaufmännische hehre, Leitender Angestellter Großmutter Väterlicherseits: Flora Elsa Hintel; *5/1897; Hausfrau Heirat: 10/1920 in Wahrenbrück Geburt des Sohnes Horst Rudi Hein% (einziges Kind): 11/1920
20
Dennoch muss es eine positive Motivierung für gerade diesen Lückenfüller gegeben haben (s. u., S. 192).
21
Auch zieht Anton Schäfer zu diesem Zeitpunkt wieder in das väterliche Haus.
1 9 0 - 3 Fälle der Region
Dass die Großeltern väterlicherseits in Wahrenbrück 22 heirateten, lässt darauf schließen, dass sie auch aus der Niederlausitz, dem südlichen Brandenburg oder aus dem nördlichen Sachsen stammen. Sie werden evangelisch sein. Die relativ späte Heirat mag durch den 1. Weltkrieg bedingt sein, indem Großvater Rudolf Anton Schäfer Soldat gewesen sein wird. Dass allerdings erst einen Monat vor der Geburt des Sohnes aus dieser Verbindung, des Vaters von Anton Schäfer, geheiratet wurde, ist erklärungsbedürftig. Es gibt keinen konstruierbaren allgemeinen, fallunspezifischen Grund für diese Handlung; die möglichen Erklärungen sind sehr fallnah. So kann etwa ein langwierige familiäre Auseinandersetzung schließlich zur - vom Paar (a) oder von den Herkunftsfamilien (b) — ungewünschten Verheiratung führen. Wäre (a) der Fall, so würde die erzwungene Ehe wie ein Alb auf dem dafür „verantwortlichen" Kind lasten. Dass es bei einem Kind bleibt, spricht für diese Variante: der weitere Vollzug der Praxis als Paar bleibt aus. — Wäre (b) der Fall, so würde das Kind als Ausweis der errungenen Ehe mit besonderem Bonus versehen. Es müsste aber ein Widerstand der Familien von einem erheblichen, sehr unwahrscheinlichen Ausmaß angenommen werden. Wenn wir von (a) ausgehen, muss der Großvater versucht haben, sich der Verantwortung zu entziehen. Die Belastung der Ehe, die den Charakter einer Zwangsgemeinschaft tragen muss, und die des Kindes muss enorm sein.23 Der Vater von Anton Schäfer wird als Soldat den Zweiten Weltkrieg in seiner ganzen Länge mitgemacht haben, was zugleich für eine große Resistenz wie für starke Traumatisierung spricht. Zusammengenommen mit der schwierigen sozialisatorischen Situation gemäß Lesart (a) ist dies kaum denkbar. Horst Rudi Heinz Schäfer muss eine gesteigerte Zuwendung durch seine Mutter (Flora Elsa Hintel) erfahren und stabiles Urvertrauen ausgebildet haben. 24 Wir können dies — vereinbar mit (a) — so erklären, dass die Emotionen der Großmutter nicht in die Partnerschaft, sondern in die Mutter-Kind-Beziehung geflossen sind. Bei älter werdendem Sohn wurde die Beziehung zunehmend problematisch, da dieser 22
Wahrenbrück liegt ca. 60 km nordöstlich von Leipzig am Zusammenfluss von Schwarzer Elster und Kleiner Elster im Kreis Elbe-Elster im südlichen Brandenburg. 23
Der Wegzug aus der Niederlausitz ins Ruhrgebiet könnte, sollte er früh erfolgt sein, dadurch (mit-) motiviert sein, den verwandtschaftlichen Verwerfungen zu entgehen. Allerdings ist, im Falle eines späteren Wegzugs, hier als Ursache die Flucht im Zuge des Einmarschs der sowjetischen Truppen wahrscheinlicher. 24
Wenn wir Vertrauen im Sinne von Erik H. Erikson verstehen: „Es soll damit eine gewisse Naivität und Wechselseitigkeit ausgedrückt und zugleich ausgesagt werden, daß das Kind nicht nur gelernt hat, sich auf die immer gleichen und stetig spendenden Versorger aus der Außenwelt zu verlassen, sondern auch auf sich selber und seine jedem Bedürfnis entsprechend funktionierenden Organe" (Erikson 1961: 229£), so geht es bei der Ausbildung von Urvertrauen darum, „in dem Kinde eine tiefe, fast körperliche Überzeugung zu wecken, daß das, was sie tun, sinnvoll ist." (a. a. O.: 231)
3.5 Gesuchte Performanz -191
zugleich den Partner ersetzen musste. So müssen wir davon ausgehen, dass bei Horst Rudi Heinz Schäfer eine paradoxe Konstellation von Selbstvertrauen bei schwach ausgeprägter Entscheidungsfähigkeit 25 einerseits und irritierter Bindungsfähigkeit andererseits vorliegt. Dies wird seine Auswirkung auf die Sozialisation von Anton haben: Eine Erwartung von hoher Leistungsbereitschaft ihm gegenüber einerseits und ein mangelnder Vollzug der partnerschaftlichen Momente der Vater/Sohn-Beziehung andererseits dürfte bei diesem wenig autonomiefördernd gewesen sein. Eher wird Verweigerung zum Modus der Selbstbehauptung, indem er dem hohen Leistungsdruck zugleich nachkommt und aber, da er Anerkennung dafür nicht erwarten kann, die Früchte dieser Leistung nicht erntet und vor allem nicht kumulativ auf ein Ziel hinarbeitet. Großvater mütterlicherseits: August Wilhelm Füßl; * 8/1894, Volksschule, Militärschule; nach Verwundung: Verwaltungsoberinspektor Großmutter mütterlicherseits: Elisabeth Schröders; * 5/1897; Hausfrau Heirat: 12/1916 in Saarbrücken Geburt des Sohnes: ?? (^w. 1916 u. 1927); im 2. Weltkrieggefallen Geburt der Tochter Hannelore Anneliese: 7/1928
Soldat;
Die Heirat der Großeltern von Anton Schäfer mütterlicherseits dürfte entweder in einem Heimaturlaub des Soldaten oder nach dessen Verwundung erfolgt sein. Der Großvater August Wilhelm Füßl, der eine militärische Laufbahn eingeschlagen hatte und wahrscheinlich Offizier war, ist dennoch nicht von dem allgemeinen Elend der Kriegsteilnehmer betroffen: als Verwaltungsoberinspektor hat er eine angesehene, sichere und einträgliche Stellung. Im Saargebiet wird zudem seine Kompetenz bei der treuhänderischen Verwaltung durch den Völkerbund (1920-1935) auch nach der Niederlage benötigt worden sein.26 Die Tochter wird relativ spät geboren. Über den Abstand der Kinder können wir nichts sagen, da das Geburtsdatum des älteren Bruders unbekannt ist. In der Tatsache der Beschränkung auf zwei Kindern drücken sich eine kontrollierte Familienplanung und eine Orientierung an der modernen Form der Kleinfamilie aus. Wenn der Onkel mütterlicherseits als Flieger über Afrika eingesetzt war (vgl. Interview), so ist es nicht unwahrscheinlich, dass er 1941/1942 gefallen ist (Cartier 1982). Der Verlust des älteren Bruders im Alter von 14, 15 Jahren bewirkte bei Hannelore Anneliese Füßl, der Mutter von Anton Schäfer, die ja als Schulkind in die nationalsozialistischen Erziehungsagenturen geriet, und deren Vater als ehemaliger Soldat und als Verwaltungsbeamter mit großer Wahrscheinlichkeit loyal zum Regime stand, eine gesteigerte Identifikation mit dem Nationalsozialismus, was nach 1945 eine gesteigerte Erschütterung der Identität zur Folge 25
Er brauchte sich die Liebe der Mutter nicht gegen einen starken Vater zu erkämpfen.
Die Eingliederung in das Zollgebiet Frankreichs 1925 dürfte dem keinen Abbruch getan haben. 26
1 9 2 - 3 Fälle der Region gehabt haben dürfte. Auf der familialen Ebene muss sie nun die Familienzukunft sichern. Dies könnte auch die persönliche Antwort auf das generationenspezifische Handlungsproblem (vgl. Loer 1999) sein. Die Mutter Anton Schäfers würde also gesteigert ihre Identität zunächst in ihrem Beruf und dann womöglich in einer nachträglichen Heilung der Familie sehen. Die soldatische Karriere des Onkels und des Großvaters mütterlicherseits waren offensichtlich der Ausgangspunkt für die Wahl des Lückenbüßers SaZ (s. o., S. 189). Vater: *11/1920; Volksschule, hehre, Orthopädiemechaniker-Meister Heirat: 7/1950 in Dortmund-Aplerbeck Der Vater von Anton Schäfer wächst in einer Familie der gehobenen Mittelschicht auf; damit stehen ihm viele Optionen offen. Er wählt nicht den Weg des Angestellten, den sein Vater ging, sondern wendet sich einem handwerklichen Beruf zu, in dem er das Optimum ausschöpft. Die rekonstruierte familiale Konstellation der Herkunftsfamilie des Vaters bestätigt sich hier darin, dass der Vater sich in der Berufswahl nicht am Großvater orientiert und dass er seine Chancen realisiert. Die Kriegsteilnahme wird trotz der erheblichen Beeinträchtigung, die sie bedeutet, die Laufbahn nicht im wesentlichen unterbrochen haben. Das kann an dreierlei liegen: (i) nach dem Krieg ist die Orthopädie gefragt; (ii) der Betrieb, in dem der Vater lernte und/oder seinen Meister machte, existiert noch und beschäftigt ihn gern wieder; (iii) der Vater macht sich selbstständig, wozu er angesichts seiner Sozialisation und angesichts von (i) in der Lage sein dürfte. Der Vater heiratet mit 29 Jahren, zu einem Zeitpunkt - fünf Jahre nach Kriegsende — wo entweder sein Betrieb (iii) sich schon konsolidiert, oder aber er sich in einem Betrieb etabliert und u. U. eine kleine Rücklage gebildet haben dürfte. Die Planung des familialen Lebens erscheint so rational. Allerdings zeigt sich in der Wahl einer acht Jahre jüngeren Partnerin die oben konstatierte Irritation der Bindungsfähigkeit: eine gemeinsame Praxis mit einer gleichrangigen Partnerin wird nicht eingegangen. Nimmt man nun die oben bereits erwähnte Information hinzu, dass der Onkel von Horst Rudi Heinz Schäfer, Anton Schäfer, ein Orthopädiegeschäft besaß, so zeigt sich zweierlei: zum einen ist Antons (jr.) Vater gewissermaßen in die Verwandschaftslinie seines Vaterbruders eingetreten, hat also den Vater durch den Onkel ersetzt — dies wird dadurch komplettiert, dass er seinen Sohn nach dem Onkel benennt; zum anderen muss die obige Annahme (ii) modifiziert werden, da verwandtschaftliche Verpflichtung den Wiedereintritt in die Firma unterstützt haben kann. Mutter. *7'/1928; Mittlere Reife, Kaufmännische Lehre, Buchhalterin in der Fa. Anton Schäfer; Hausfrau
3.5 Gesuchte Performanz • 193 Die Mutter von Anton Schäfer schöpft die Möglichkeiten, die ihr die soziale Stellung ihres Vaters gibt aus. Als einziges verbliebenes Kind macht sie eine typische Ausbildung, tritt an die Stelle ihres gefallenen Bruders. Nach der Verheiratung mit 22 Jahren realisiert sie das Modell der Kleinfamilie. Dass sie einen acht Jahre älteren Mann heiratet, korrigiert strukturell den Verlust ihres älteren Bruders. Sie ,heilt' also die Familie in doppelter Weise: indem sie den Ort des Bruders wieder besetzt und indem sie die .Normalität' einer kompletten, unbeschädigten Familie realisiert. Hierzu würden nun zwei Kinder gehören. Der Vollzug von Familie als familialer Praxis wird durch diese Kompensationsfunktion gestört. Die Kinder erfüllen für die Mutter ein Kompensationsprogramm, zumal ihr in ihnen stets neu die Möglichkeiten vorgeführt werden, die in ihrer Herkunftsfamilie zerstört wurden. Dass der Vater eine wesentlich jüngere und zudem noch letztlich — als Buchhalterin in der Firma seiner Familie — von sich abhängige Frau heiratet, sichert ihm seine AutoritätsStellung in der Partnerschaft, ohne dass er sie praktisch vollziehen muss. Da das Paar keine praktische Mitte ausbildete, und da die Praxis der Mutter/Kind-Beziehung von der Kompensationsfunktion, also der Notwendigkeit für das Kind, bildhaften Erwartungen gerecht zu werden, überlagert wurde, wird Anton Schäfer schwer eine eigenständige Position ausbilden können. In dem Schwanken zwischen Vaterlinie (Fachabitur, OrthopädiemechanikerLaufbahn) und Mutterlinie (Militär) kommt dies zum Ausdruck. Schwester Gunda Emilie Schäfer *4/1952 Die Schwester Anton Schäfers wird erst ein Jahr nach der Hochzeit der Eltern gezeugt, so dass davon ausgegangen werden kann, dass die finanzielle Lage durch Weiterarbeit der Mutter zunächst noch konsolidiert werden sollte. Dem oben Ausgeführten gemäß müsste nun in einem rationalen Abstand von ca. zwei Jahren das nächste und letzte Kind folgen, was, wie wir bereits wissen, der Fall ist. Der relativ knappe Geburtsabstand der Geschwister, rational aus Sicht der Bewältigung der familialen Aufgaben, führt für die ältere Schwester zu einer frühen Entthronung. Dadurch, dass es sich bei Anton zudem um einen Jungen handelt, wird diese Traumatisierung über lange Zeit immer wieder verstärkt werden. Schwester: Mittlere Keife; kaufmännische hehre; Geschäftsführerin der Fa. Anton Schäfer GmbH Region< bezeichnete einmal eine realräumlich gegebene, im Erdraum scheinbar unverrückbar fixierbare Raumeinheit', heißt es ja bei ihm: ,„Region1: Das war einmal eine [...] Raumeinheit".
4
5
Das Webersche methodologische Selbstmissverständnis spiegelt sich hier.
4.1 Unbegriffen: Region und Raum • 233
dein zugrunde liegen und sich in ihm ohne Willen und Bewußtsein ausdrücken, wirkt? Die Orientierung auf — wie auch immer kommunizierte - Konzepte der Kegion ist dann nur eine Ausdrucksgestalt dieses Handelns unter vielen — und nicht unbedingt eine ausgezeichnete. Der „Wandel der raumbezogenen Deutungs- und Orientierungsmuster" (a. a. O.: 765) findet nicht im lufdeeren Raum und nicht richtungslos statt. Erst wenn die objektiven Möglichkeiten eines solchen Wandels gedankenexperimentell entworfen wurden, kann der reale Wandel aufschlussreich darauf abgebildet werden. Es kann nicht lediglich um die Nacherzählung des Wandels gehen. Zur Bestimmung regionaler Identität ist es vielmehr wichtig, folgende Fragen zu bearbeiten: Drückt sich darin, welche Wandlungsmöglichkeiten gewählt wurden, drückt sich in der spezifischen Selektion also, ein Wandel der zugrundeliegenden Handlungstypik aus, oder ist die Wahl der Wandlungsmöglichkeit genau Ausdruck der Reproduktion der Handlungstypik, der „Beharrlichkeit der Deutungsmuster" (Fischer/Großer/Liebermann 2001), oder besser: der „hysteresis" der Habitusformationen (vgl. Bourdieu 1979: 158; s. o., S. 162)? Auf der Ebene der Phänomene weist Gemot Grabher im Ruhrgebiet überzeugend ein solches Beharren auf, das sich darin zeigt, dass es „regionale Netzwerke [...] zu zähen Koalitionen gegen durchgreifende wirtschaftliche, politische oder kulturelle Neuerungen verfestigen." (Grabher 1993a: 749) — Was er nicht zeigen kann, ist die Konstitution dieser Funktion der regionalen Netzwerke in regionalspezifischen Handlungsmustern, die durch regionalspezifische Habitusformationen generiert werden. Die theoretische Figur der Einbettung - Grabher bezieht sich hier auf Granovetter (1985) — reicht zur Erklärung nicht aus, was Grabher auch sieht: „Erfolgversprechender erscheint vielmehr, jenen Faktoren nachzuspüren, die entweder eine sklerotische Erstarrung oder aber eine Erosion begünstigen." (Grabher 1993a: 755) - Diesem Komplex wollen wir uns - nach einem Exkurs zum Begriff des Raumes, in dem konstitutionstheoretische Grundlagen nochmals systematisiert werden - nun abschließend zuwenden. Exkurs zum Begriff des Raumes
Ernst Halberstadt, den wir schon mit seiner Beschreibung der Geologie des Ruhrgebiets zitierten (vgl. S. 26f.) erweist in dieser Beschreibung wie selbstverständlich auch „dem schweifenden Auge" seine Reverenz. Schon seine Rede vom „Antlitz der Landschaft" (1928: 31) verwies darauf, dass mit der Kultur eine die reine Funktionalität6 überschreitende Perspektive in die Welt tritt, die ihre Phänomene als dialogisches Gegenüber erfährt. Die Welt ist, so könnte man emphatisch sagen, beseelt und sie als Objekt an sich zu begreifen eine gattungsAuch Funktionalität unter Bedingungen von Kultur ist eine andere als Funktionalität unter subkulturellen Bedingung: Im Rahmen von Handeln ist sie zu begreifen als Nützlichkeit für eine voreingerichteten Zweck.
6
234 • 4 Einflussstruktur
geschichtlich wie stets noch ontogenetisch späte Errungenschaft. 7 — Wie ist die Konstitution von dinglicher Welt im allgemeinen, von Raum im besonderen soziologisch zu konzeptualisieren?
Martina Low hat unlängst eine „Raumsoziologie", vorgelegt (2001) in der sie schon in der Einleitung deutlich macht, dass ,Raum' ein Grundbegriff der Soziologie ist (vgl. Loer 2002). Low empfiehlt , Raum Soziologie' als Bezeichnung einer Disziplin (Low 2001: 57) wodurch die Bezeichnung ,Stadt- und Regionalsoziologie' abgelöst werden soll. Sie verkennt allerdings, dass damit aus der Beschäftigung mit einem Grundbegriff eine soziologische Bindestrichdisziplin würde. Da aber außer Frage steht, dass ,Raum' eine zentrale Kategorie ist, deren Bedeutung sowohl für die Sozialwissenschaften als auch im Alltag zugenommen hat, führte diese Reduktion in die Irre. Ein zentrales Problem dieser Kategorie ist der Dualismus von physischem und sozialem Raum, den es zu überwinden gilt. In der Geschichte der Raumkonzepte in der Physik wird ein absolutistisches' Raumverständnis, das den Raum losgelöst von in ihm befindlichen Körpern konzipiert, durch ein Relativistisches', das den Raum als nur relativ zu Körpern begreift, abgelöst. In der Soziologie 8 gibt es Konzeptualisierungen, die an ein .absolutistisches' Konzept von Raum als ,Behälter' anknüpfen. Giddens und sein geographischer Gewährsmann Hägarstrand untersuchen „die Lokalisierung des Handelns" (a. a. O.: 43), die sich aber auf routinierte Handlungsabläufe in Raum und Zeit beschränkt; „der räumliche Bezug des Handelns unter nicht routinisierten und institutionalisierten Bedingungen sowie die Entstehung räumlicher Strukturen" werden dabei nicht berücksichtigt (ebd.). — Auch in der Stadt- und Regionalsoziologie herrscht, das weist Low überzeugend nach, ein Verständnis von Raum als ,Gefäß' vor - sei es, dass explizit eine „klare Trennung zwischen Räumlichem und Sozialem" (a. a. O.: 46) gefordert und nur letzteres als für die Soziologie relevant erklärt wird; sei es, dass auf der Basis der Trennung der Raum als „Behälter [...], der in einem direkten Verhältnis zum Handeln steht", begriffen wird (a. a. O.: 52). Lediglich bei Bernd Hamm und bei Dieter Läpple sieht Low Versuche, die in die Richtung dessen führen, was sie der ,Raumsoziologie' angelegen sein lässt: „Untersuchungsgegenstand wäre dann die räumliche Konstruktion des Sozialen und die soziale Konstruktion des Räumlichen." (a. a. O.: 56) In diesen Formulierungen steckt aber genau ein Problem, das weder Läpple noch Low lösen. Wenn Dieter Läpple etwa schreibt:
Vgl. Loer 1994: 373, Fn. 65, wo auf Walter Benjamins Bestimmung der Aura als ^vergessenes Menschliches' [...] an den Dingen [...], das nicht durch die Arbeit gestiftet wird" (Benjamin 1940: 849, Kursivierung i. Orig.) eingegangen wird. 7
8
In der Darstellung stütze ich mich hier im Wesentlichen auf Low.
4.1 Unbegriffen: Region und Raum • 235 „Statt v o n ,Raum' zu sprechen, erscheint es mir [...] sinnvoller, v o n Raumbegriffen oder R a u m k o n ^ e p t e n zu sprechen und dabei gleichzeitig (durch Verwendung eines sinnbestimmenden Adjektivs, wie z.B. physikalisch, geographisch, sozial, ökologisch etc.) anzugeben, auf welche Problemstellung sich der jeweilige Raumbegriff bezieht." (Läpple 1991: 164, Kursivierung i. Orig.)
so hat er damit schon gleich zu Beginn seinen Gegenstand — immerhin trägt sein Text ja den Haupttitel „Essay über den Raum" — aufgegeben. Er kann nurmehr positivistisch auflisten, was für , R a u m b e g r i f f e oder Raumkon^epte" es denn alles so gibt; ein Kriterium für deren Kritik hat er nicht mehr. — So verwundert es auch nicht, dass er auf „eine Theorie sozialwissenschaftlicher Stadt- und Regional/örschunj?1, abzielt (a. a. O.: 165; Kursivierung hinzugefügt) statt auf eine Theorie der Region. Im gleichen Tenor wird bei Low Konstitution des Raumes auf Konstruktion reduziert, allerdings ohne dass so explizit wie bei Läpple der Anspruch auf einen angemessenen Begriff des Raumes aufgegeben würde. Die Problematik lässt sich an Löws Thematisierung des euklidischen Raumverständnisses sehen. Dabei reduziert sie die Bedeutung von Sozialisationsprozessen auf (schulisches) Einüben. Obwohl Low zunächst darauf verweist, dass der „kulturelle Stellenwert des euklidischen Denkens" sich „sowohl auf seinen praktischen Nutzen als auch auf seine besondere Anschaulichkeit, die es durch die Anknüpfungspunkte an die Idee des einen homogenen Raums gewinnt", zurückführen lässt (2001: 78), differenziert sie analytisch nicht zwischen Konstitution und (kulturell spezifischer) Konstruktion. Die Relevanz der beiden Momente .praktischer Nutzen' und ,Anschaulichkeit' für die Konstitution des gattungsspezifischen Handlungsraumes wird nicht thematisiert. Vielmehr wird „die praktische Relevanz euklidischen Wissens" gleichgesetzt mit der „Nivelllerung [...] in der schulischen Vermittlung" und dem „Einfluß der kulturell tradierten Raumvorstellung (maßgeblich basierend auf der antiken Raumvorstellung und dem jüdisch-christlichen Schöpfungsmythos)". Diese Momente dienen - so Low - als Basis „für die Ausprägung der Alltagsvorstellung ,im Raum zu leben'" (ebd.). Demgegenüber muss aber die .Nützlichkeit' der euklidischen Raumkonzeption umfassend als Relevanz für gattungskonstitutive Handlungsprobleme verstanden werden; eine utilitaristische Reduktion verfehlte ihren Gehalt. Die einfache Frage, was denn die Grundlage dafür ist, dass gerade diese kulturelle Tradition sich ausbildete und beharrlich tradiert wurde, wird von Low nicht gestellt. Dies ist aber entscheidend, müssen wir doch davon ausgehen, dass die Beharrlichkeit ein Ausdruck von Bewährung ist, d. h., dass mit dieser im Handeln und Deuten wirksamen Konzeptualisierung von Raum offensichtlich konstitutive Handlungsprobleme gelöst werden. Alles andere würde heißen, sie als zufällig entstanden und folglich auch als beliebig veränderbar zu begreifen. 9 Dagegen muss davon ausgegangen Low geht tatsächlich auch von einer entsprechenden Veränderbarkeit aus und gesteht allenfalls zu, dass dies nur „in langwierigen gesellschaftlichen Prozessen" (a. a. O.: 188) möglich sei.
9
236 • 4 Einflussstruktur
werden, dass die Dominanz der euklidischen Raumvorstellung darauf beruht, dass sie in einem gattungskonstitutiven Sinne ,nützlich' ist und sich deshalb nicht beliebig verändern lässt. Dies anzuerkennen, müsste nicht daran hindern, diejenigen Kräfte aufzuspüren und zu analysieren, die das Innovationspotential zur Geltung bringen, das in der lebendigen Erfahrung der unreduzierten und mit euklidischen Bestimmungen nicht identischen Wirklichkeit liegt.10 Ein Gegenkonzept zur absolutistischen' Sichtweise von Raum muss, dies beansprucht Low zu Recht, die schlichte Entgegensetzung: die relativistische Annahme, überschreiten. Hierzu unterscheidet sie „zwei verschiedene Prozesse der Raumkonstitution" (a. a. O.: 158): ,Spacing' und ,Syntheseleistung'. ,Spacing' ist dabei „das Plazieren von sozialen Gütern und Menschen bzw. das Positionieren primär symbolischer Markierungen" (ebd.); ,Syntheseleistung' „heißt, über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse werden Güter und Menschen zu Räumen zusammengefaßt." (a. a. O.: 159) Daraus ergibt sich die begriffliche Fassung von Raum als „eine relationale (An) Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern [...]. Raum wird konstituiert durch zwei analytisch zu unterscheidende Prozesse, das Spacing und die Syntheseleistung." (a. a. O.: 159f.) Im „repetitiven Alltag" stehen Routinen im Vordergrund, in denen als „regelmäßigen sozialen Praktiken" räumliche „(An)Ordnungen im Handeln reproduziert" werden (a. a. O.: 163); dauern diese an, so entstehen „institutionalisierte Räume" (a. a. O.: 164). Low stellt die soziale Bedingtheit von Routinen heraus, fragt jedoch nicht, worauf die Routinen beruhen, woher sie kommen und warum sie andauern. Dieses Desiderat ist aber für den Argumentationsgang entscheidend: Erneut wird trotz der intendierten theoretischen Aufklärung der Konstitution von Raum nur die Oberfläche der je empirisch vorfindlichen, historisch spezifischen Konstruktion ins Auge gefasst. Der Versuch, die historische Ausbildung von Routinen und ihr Beharren zu erklären, müsste demgegenüber die Differenz von handelnd konstituiertem wirklichen Raum einerseits und in spezifischen Routinen konstruktiv realisiertem Raum andererseits berücksichtigen. Nur dann wäre man in der Lage, z. B. die gegenkulturellen Konstruktionen von Raum zu begreifen. Low bezieht sich auf Paul Willis' Studie über eine Arbeiterschule (Willis 1979). Dieser schreibt über eine gegenkulturelle Schülergang: „Sie konstruieren sich buchstäblich ihren eigenen Tagesablauf aus dem was die Schule bietet" (a. a. O.: 49). In diesem gegenkulturellen Tagesablauf spielt — darauf verweist Low zu Recht — der (Gegen-) Raum eine zentrale Rolle. Wichtig für die Frage der Konstitution von Raum ist dabei aber, dass die ,Lads' — so der Name der Schülergang — eben Handlungsmöglichkeiten realisieren, die zur Wirklichkeit der Schule als konstituiertem Raum gehören, auch wenn sie in der Raumkonstruktion der Schule als
10 Max Imdahl gelang die Vermitdung der Erfahrung dieser Öffnung der ,vierten Dimension' durch eine Zeichnung von Josef Albers in seinen Gesprächen mit Arbeitern und Angestellten der Firma Bayer Leverkusen (vgl. Loer 2000).
4.1 Unbegriffen: Region und Raum • 2 3 7
spezifisch organisierter Institution nicht realisiert und somit normativ als Option nicht vorgesehen sind.11 An einem weiteren von Low angeführten Phänomen: dem der „Atmosphäre", das zur Aufklärung der .eigenen Potentialität' (Low 2001: 204) von Räumen beitragen soll, lässt sich die Problematik der Raumkonstitution noch weiter klären. Low bestimmt Atmosphären als „die in der Wahrnehmung realisierte Außenwirkung sozialer Güter und Menschen in ihrer räumlichen (An)Ordnung" (a. a. O.: 205). Um die soziale Konstitution des Raumes zu fassen, reicht dies nicht aus. Die Atmosphäre eines Raumes muss vielmehr als Ausdruck der Gesamtheit der realen und fiktionalen Handlungsmöglichkeiten, die er eröffnet, begriffen werden.12 So verstanden ist auch Atmosphäre als konstitutives Moment des Raumes universell; ihre Realisierung durch den je spezifischen (Wahrnehmungs-) Akt hingegen historisch spezifisch. Dass Low die Konstitution des Raumes konzeptuell verfehlt, spiegelt sich - dies sei hier noch angedeutet — nicht zuletzt auch in den „methodologischen Konsequenzen" (a. a. O.: 218-223), in denen sie zwar richtig für eine Berücksichtigung der Perspektiven der untersuchten Subjekte plädiert, in denen aber nicht deutlich wird, wie diese zu erfolgen hätte. Erst wenn, wie oben bereits in Bezug auf Willis' Gegenkulturkonzept erwähnt und hier in Bezug auf „städtische Räume" (a. a. O.: 254-262) noch einmal angedeutet werden soll, die in der Konstitution der Räume gesetzten objektiven Möglichkeiten als Folie der Analyse bestimmt werden konnten, kann darauf abgebildet die je spezifische Konstruktion von konkretem Stadtraum durch spezifische Milieus fruchtbar in den Blick genommen werden. So könnten - z. B. durch Verhältnisse sozialer Ungleichheit oder durch geschlechterspezifische Machtverteilungen gesetzte — spezifische Einschränkungen der sozial-räumlich konstituierten Optionen als spezifische verzerrte Realisationen und Rekonstruktionen (in Löws Termini „Spacing" und „Syntheseleistung") bestimmt werden. Warum — habituell — bestimmte Wege z. B. nicht gewählt werden, die doch gewählt werden könnten, kann nur unter Berücksichtigung der objektiv realen Perspektive des Wählenden auf die zuvor rekonstruierten Optionen, mit denen der Handelnde räumlich konfrontiert wird, analysiert werden. — Der dazu erforderlichen Theorie der sozialen Konstitution von Raum soll hier noch ein wenig weiter nachgespürt werden
11 Man muss hinzufügen, dass die Gegenkultur nur dann Gegenkultur sein kann, wenn sie sich gleichermaßen auf die in der (affirmativen) Kultur nur auf spezifische Weise realisierte Wirklichkeit bezieht und andere Optionen dieser Wirklichkeit entbirgt; sonst baute sie lediglich eine berührungslose Parallelwelt auf.
„Raumgefühl indessen scheint mehr zu verlangen: daß man etwas aus dem Raum heraus sich einfallen lasse; nicht etwas Beliebiges im Raum, das gegen diesen indifferent wäre." (Adorno 1966: 119) 12
2 3 8 • 4 Einflussstruktur
Benno Werlen, auf den auch Martina Low sich bezieht, ist einer der Vertreter einer Sozialgeographie, der sich am intensivsten mit Fragen der sozialen Konstitution auseinandergesetzt hat (vgl. 1995, 1997, 1998a, 2000). In einem Beitrag über Wolfgang Hartke (1998b)13 führt er seine Konzeption sehr dicht aus, weshalb dieser hier exemplarisch herangezogen werden soll. Werlen teilt mit Hartke (vgl. Hartke 1956, 1959) die Argumentation gegen die physikalische Geographie, schüttet dabei aber indem er sich im Gegenzug auf intentionalistische Handlungstheorien bezieht, das Kind mit dem Bade aus. Werlen führt aus, dass „jede Art der Nutzung der physischen Welt [...] vom sozial-kulturellen Kontext ab [hängt], in den die Handelnden eines bestimmten Gebietes eingebunden sind" (Werlen 1998b: 24), aber die ,Welt, die genutzt wird', hat doch eine spezifische Gestalt, die von dem spezifischen sozio-kulturellen Kontext unabhängig ist. Vielmehr wird sie konstituiert durch die Handlungsprobleme, mit denen die „Handelnden eines bestimmten Gebietes" objektiv konfrontiert werden. Wenn diese Handelnden diesen Handlungsproblemen objektiv ausweichen, sich ihnen also .stellen', indem sie sie — etwa wegen der Wirkung spezifischer kultureller Deutungsmuster — gar nicht subjektiv realisieren, so stellt dieses Nichtrealisieren ein Ausblenden dar, objektiv also eine Entscheidung. Es ist folglich für die soziologische Analyse ein Erklärungsproblem. Analysieren lässt sich diese soziokulturelle spezifische Gestalt der Handelnden nur, indem sie auf der Folie der objektiven Handlungsmöglichkeiten 14 abgebildet wird. Warum etwa lassen Angehörige einer bestimmten Kultur bestimmte Flächen brachfallen, obwohl es objektiv möglich wäre dort ertragreich Anbau zu betreiben? Und andererseits: Wie und warum schaffen Angehörige einer bestimmten Kultur auf bestimmten Flächen durch Meliorisation des Bodens o. ä. Anbaumöglichkeiten, die vorher objektiv nicht gegeben waren? Man muss die Objektivität der Handlungsmöglichkeiten und -probleme nicht leugnen, wenn man den Objektivitätsbegriff — statt ihn lediglich biologisch, physikalisch oder sonst naturwissenschaftlich zu fundieren — auf der Ebene der Konstitution der Gattung des handelnden, also Regeln folgenden Wesens Mensch ansiedelt. Raum konstituiert sich also als Handlungsmöglichkeit überhaupt, von der die kulturell spezifische Gestalt stets eine spezifische Realisierung darstellt. „Spurenforschung" (Werlen 1998b: 30) lässt sich mit einer solchen Konstitutionstheorie und Methodologie sehr wohl vereinbaren: Nichts anderes ist ja das Geschäft des Historikers, der immer nur Spuren, d. h.: Protokolle von Handlungen, vorliegen hat, in denen der Umgang einer Lebenspraxis mit einem
Der Beitrag entspricht weitgehend einem Kapitel von Werlens Einführungsband zur Sozialgeographie (2000: 143-166). 13
Diese reduzieren sich nicht, wie einleitend gezeigt (vgl. S. 11 f.), auf „verhaltensregelnde und verhältnisbegründende Qualität von Sachen", wie Hans Linde in seinem interessanten Versuch, die Sachdimension für die Soziologie zu retten, formuliert (1972: 82); diese Reduktion unterläuft Linde aber, da er Sachen letztlich nur als Normen und Institutionen begreift. 14
4.1 Unbegriffen: Region und Raum • 239
Handlungsproblem zum Ausdruck kommt. — Wenn Werlen „Regionalisierung" bestimmt „als Praxis der Welt-Bindung, mit der die Subjekte unter globalisierenden Bedingungen die Welt auf sich beziehen" (a. a. O.: 36), so bleibt die Frage, was denn „die Welt" konstituiert; in Konstruktion durch subjektive Akte lässt die Konstitution sich nicht auflösen, 15 vielmehr setzen Konstruktionen die Konstitution immer schon voraus. Erika Spiegel (1998) plädiert ebenfalls für eine angemessene Berücksichtigung des Raumes in soziologischen Analysen und schlägt als Lösung für dieses Problem den situationsanalytischen Ansatz von Hartmut Esser vor. Damit kann sie jedoch den Raum und die Sachen nur um den Preis der Reduktion auf institutionalisierte Handlungszumutungen einbeziehen - auch wenn sie in der Formulierung von den „sozialen Beziehungen und Verhältnisse[n], die in den Raum dinglich erfüllenden Sachen angelegt sind" (a. a. O.: 53) darüber hinauszugehen trachtet. Dass die Dinge wie der Raum Handelnde objektiv mit Handlungsmöglichkeiten konfrontieren, ist uno actu ihre Konstitution als Dinge und Raum für die Gattung Mensch; die „sozialen Beziehungen und Verhältnisse" sind demgegenüber stets konkret und historisch spezifisch. Immer wieder findet sich in den Versuchen zur auch soziologisch angemessenen Konzeptualisierung von Raum eine Vermengung von Konstitution und Konstruktion. Dies ist auch in den Argumenten, die Peter Weichhart (1998) zur Erklärung der Beharrlichkeit der Raumkonzepte und zugleich für ihre analytische Unangemessenheit anführt, der Fall. Dass ,gut internalisierte Sozialisationsprodukte', zu denen er „das alltagsweltliche Modell zur Konzeptualisierung von Räumlichkeit" zählt, so hartnäckig sind (a. a. O.: 77), dass sie überhaupt ,gut internalisiert' sind, hat etwas mit ihrer Bewährung im Handeln zu tun. Neben ihrer Rückführung auf die Funktion der Komplexitätsreduktion muss - da es dafür viele funktionale Äquivalente gibt — eben auch erklärt werden, warum gerade diese Konzeptualisierung sich bewährt hat. Offensichtlich ist die Konstitution des Raumes im alltäglichen Handeln dieser Konzeptualisierung adäquat. Ihre Rekonstruktion — was freilich etwas anders ist, als sie schlicht „zu einem wissenschaftlichen Erkenntnisprinzip hoch [zu] stilisier [en]" (ebd.) — muss also in die Bildung eines angemessenen Raumbegriffs eingehen, er darf ihr nicht schlicht entgegengesetzt sein. Auch wenn Weichhart schreibt: „Wir können also sogar sagen, daß wir im Handeln in der Regel physisch-materielle Dinge und Körper, psychische Empfindungen und soziale Gegebenheiten in einen Zusammenhang bringen, aufeinander beziehen." (a. a. O.: 80), so bleibt er einer handlungstheoretisch-intentionalistischen Sichtweise verhaftet. Zwar wird Raum dadurch konstituiert, dass „im Handeln [...] physisch-materielle Dinge und Körper [...] aufeinander" bezogen werden, dies ist aber nicht in der Intention der Handelnden,
15 Um mit Leon Festinger zu sprechen: „If one sees that the grass is green, it is very difficult to think it is not so." (1957: 24f.)
240 • 4 Einflussstruktur
sondern in Regeln gegründet, die dem Handeln des konkreten Akteurs im konstitutionslogischen Sinne vorgängig sind; für ihn sind die „physisch-materielle [n] Dinge und Körper" bereits sinnhaft aufeinander bezogen, sie konfrontieren ihn in diesem aufeinander Bezogensein objektiv mit einem Handlungsproblem (was auch umfasst: Handlungsoptionen — vgl. S. 22ff.). Die Dinge treten in unser je konkretes Handeln also in der Regel immer schon als sinnhafte Träger von Handlungsoptionen. 16 Allerdings sind die Dinge insofern als unabhängig von ihrer sinnhaften Konstitution zu betrachten, 17 als von ihnen her Irritationen unser Handeln aus der Bahn bringen können; diese Irritationen erzeugen eine (Wahrnehmungs- und Handlungs-) Krise und erfordern eine Neuinterpretation der Welt, eine Neukonstitution der Dinge. Dies mag folgendes Beispiel erläutern: Wir wandern im Gebirge und der — nicht unbedingt uns, aber etwa dem Alpenverein, der ihn mit Wegzeichen versehen hat, — wohlbekannte Weg ist durch einen Felssturz versperrt. Wir müssen die Welt um uns für unser Handeln neu ordnen; dabei bilden wir - um die hilfreiche Terminologie von Charles Sanders Peirce (7.677; vgl. Loer 2003a) heranzuziehen — auf „feeling" und „sensation" beruhende „percepts", die mittels eines „percipuums" in „perceptual judgments" resultieren, welche ihrerseits in einen Begriff eines neuen Weges münden, an dem wir unser Handeln ausrichten; er muss nicht unbedingt als kognitives Konzept expliziert werden, was aber möglich ist - etwa indem wir eine Karte zeichnen für die neue Wegmarkierung des Alpenvereins. — Die Anerkennung von „hybriden Phänomenen, die gleichzeitig in (mindestens) zwei der Popperschen Welten beheimatet sind" (Weichhart 1998: 82; Kursivierung ausgelassen) verlagert hingegen das Problem nur in die Phänomene hinein.18 Die Relevanz der Räumlichkeit versucht Weichhart nun auf der Basis der Behauptung: „es gibt keine eindeutigen Verknüpfungen zwischen Sinn und Materie", zu retten: „Was es aber sehr wohl gibt, das sind kontext- und handlungsspezifische Sinnzuschreibungen, wie sie von den handelnden Subjekten vorgenommen werden." (Weichhart 1998: 84) Alles kommt hier auf den Handlungsbegriff an. Werden Handlungen als intentionale Akte begriffen, die das handelnde Subjekt aus sich selbst schöpft, so gibt es keine Basis dafür, zu erklären, warum bestimmte Sinnzuschreibungen sich bewähren und andere nicht. Damit wäre zwar der Determinismus besiegt, aber auch die Wissenschaft generell in einem Modell des anything goes aufgegeben. Konzeptualisiert man Handlungen demgegenüber
In einem gegenüber der explizit eingeführten Bestimmung sinnvoll erweiterten Verständnis sind die Dinge immer schon Momente der Welt 3 („Welt der objektiven Gedankeninhalte" — Popper 1984: 109). 16
Insofern sind sie in der Welt 1 („Welt der physikalischen Gegenstände oder physikalischen Zustände" - ebd.) verankert. 17
Richard Pieper charakterisiert dies zu Recht wie folgt: „Die Schwierigkeit ist natürlich, daß ,hybride Phänomene' die Interaktion zwischen den Welten nur begrifflich internalisieren, aber nicht aufklären." (1998: 91). 18
4.1 Unbegriffen: Region und Raum • 241
als regelgeleitet, wobei sich im regelgeleiteten Handeln der Individuen eine in den Regeln realisierte Angemessenheitsrelation ausdrückt, so muss - ohne dass man auf Debatten um den ontologischen Status sich einlassen muss - eine Wirkrelation methodologisch unterstellt werden; diese ist nicht deterministisch und nicht eindeutig: jederzeit kann die Wirklichkeit als brüte fact in unser Handeln einbrechen und unsere bis dahin bewährten Routinen erschüttern. 19 Das Finden neuer Deutungen, die sich an der Wirklichkeit bewähren und so zu Deutungsroutinen verfestigen können, ist nun kein Akt der Zuschreibung, sondern der Rekonstruktion (wie oben mit Bezug auf Peirce angedeutet); somit geht in sie die ,Welt 1' als wirkendes Moment ein.20 Wenn Weichhart schreibt, „daß spezifische Aspekte oder Ausschnitte der erdräumlich lokalisierbaren Welt in einem spezifischen Handlungskontext über die subjektiven und objektiven Sinnzuschreibungen zu einem wesensinhärenten Element des Sozialen werden" (ebd.), so ist dabei zum einen zu beachten, dass er das Phasenmoment der Neukonstitution von Welt (s. o.) beleuchtet, aber das Phasenmoment der routinisierten (teilweise institutionalisierten) Deutung unterbelichtet (in der Regel sind uns die „Aspekte oder Ausschnitte der erdräumlich lokalisierbaren Welt" immer schon in spezifischer, häufig bewährter Weise bedeutsam). Zum anderen setzt die Rede von „der erdräumlich lokalisierbaren Welt" schon die ,Welt 1' qua Konzept voraus, hier also die Geographie als Wissenschaft. - Der Fehlschluss aber, in den die Formulierung von den „Sinnzuschreibungen" führen kann, ist, den Determinismus nur um den Preis eines wissenschaftszerstörenden relativistischen Konstruktivismus aufzugeben. — Dass Weichhart diesem Fehlschluss entgehen möchte, zeigen seine Fragen am Ende seines höchst anregenden Artikels: die nach den brüte facts, nach der objektiven Realität des Sozialen und nach „einer ,Passung' zwischen materiellen Strukturen, Akteuren und sozialen Konstrukten" (a. a. O.: 86). Eine angemessene Lösung hierfür bietet er aber, wie gesehen, nicht.
Auch in der Diskussion um den bereits zitierten Ansatz von Benno Werlen (Meusburger 1999a), der als avanciertester Versuch gelten kann, soziologische Konzepte für eine (sozialgeographische) Theorie des Raumes zu rezipieren (vgl.
19 Dies geht bis hin zur Erschütterung von solchen ,Gewissheiten' wie der Alpha-Konstante in der Physik, die, wie neuerdings vermutet werden muss, eben doch nicht konstant ist (vgl. Gabriele et al. 2006).
Bei diesen Überlegungen ist natürlich zu berücksichtigen, dass ,Materie', .physikalische Welt' etc. abstrakte Kategorien darstellen, sehr späte Konzeptualisierungen von Welt. Die ,Welt 1' qua Konzept setzt eine Entsozialisierung der Weltdeutungen voraus; dessen eingedenk, können wir die Realität der ,Welt 1' nun nicht rückwirkend zur Wirklichkeit erklären, die dann in Relation zur ,Welt 3' gesetzt werden muss. ,Welt 1' ist als ,Welt 1' eine Ausgeburt von ,Welt 3': eine Theorie über die Wirklichkeit, mit der diese konzeptuell realisiert wird. 20
242 • 4 Einflussstruktur
Meusburger 1999b), wurde deutlich, dass das Problem der sozialen Konstitution des Raumes nach wie vor ungelöst ist. Peter Weichhart entwickelt in seiner Kritik (Weichhart 1999) die Möglichkeiten, die in Werlens Entwurf enthalten sind, ohne dass er sie, wegen der individualistischen Orientierung seines Ansatzes, entfalten könnte. Das für eine sozialwissenschaftliche Forschung zentrale Raumkonzept: der „relationale Raum" (a. a. O.: 92, passim) lässt sich mühelos als Handlungsraum begreifen, der aber nicht durch subjektiv-intentionale Akte konstituiert wird, sondern durch Regeln. Diese eröffnen und verschließen den Handlungsinstanzen, die dadurch bestimmt sind, dass sie Regeln folgen, bestimmte Optionen. Auch die Beziehungen dieses — konstitutiven — relationalen Raumes zu dem „Ordnungsraum" (ebd.), der sich als rekonstruktive Darstellung des Handlungsraumes, und zu dem Raum als „flächenbezogene Adressangabe" (a. a. O.: 76), der sich als erdräumliche Realisierung des Handlungsraumes begreifen lässt, sind für ein Verständnis der verschiedenen Raumkonzepte und für den Austausch zwischen ihnen sehr hilfreich. Die Fundierung der verschiedenen Konzepte in einem durch Handlungsregeln konstituierten Raum bleibt hier zugleich greifbar. Eine solche konkrete Konzeptualisierung bietet Werlen aufgrund seiner handlungstheoretischen Gewährsleute (v. a. Giddens) nicht; dass sich eine materiale Analyse räumlicher Beziehungen als sozialer bei ihm nicht findet, wird von hierher plausibel. 21 Eine solche Analyse aber könnte zu einem empirisch fundierten Begriff von Raum als sozial konstituiertem verhelfen.
Ellen Semple, Schülerin von Friedrich Ratzel, hat in ihren materialen geographischen Analysen die soziale Konstitution des Raumes der Sache nach berücksichtigt, auch wenn sie den konstitutionstheoretischen und methodologischen Gehalt dieser Analysen nicht expliziert hat (vgl. 1903, 1911, 1932). Dass geographische Bedingungen in der doppelten Weise, wie sie in einer Kapitelüberschrift zum Ausdruck bringt, „factors in history" (Semple 1911: 1) sind, macht Semple deutlich. Zwar gibt es eine Reihe von Formulierungen bei ihr, die einen (Mono-)
„Werlen fragt immer wieder, ob ,der Raum' eine kausale Wirkkraft hat, er fragt nie, ob eine Lokalität, ein action setting, ein Standort mit Ressourcen oder Potentialen, ein Tiefseehafen, ein Finanzzentrum, eine Einkaufsstraße, eine Eisenbahn, eine Brücke, ein Forschungsinstitut, das Territorium einer Jugendgang' oder Lagebeziehungen eine kausale Wirkkraft haben." (Meusburger 1999c: 121) — Man wäre bei der soziologischen Analyse von Räumen, als eine empirisch-hermeneutische angelangt, übersetzte man ,kausale Wirkkraft' als ,Handlungsproblem' (vgl. S. 22ff.) und analysierte man dies konkret: „Unlike animal territories, these areas [sc. areas students in a library reference room occupy] are concerned less with mating, feeding, or nesting than with socially conditioned and non-instinctual needs." (Sommer 1967: 660) Die Frage, warum die Studenten bestimmte Räume auf bestimmte Weise okkupieren, kann nur dann angemessen analysiert werden, wenn vorab bestimmt wurde, welche „kausale Wirkkraft" am Werk und was das in dem Raum zu lösende Handlungsproblem ist (und für die Lösung welches Handlungsproblems der Raum geschaffen wurde). 21
4.1 Unbegriffen: Region und R a u m • 2 4 3
Kausalismus nahezulegen scheinen; liest man aber aufmerksam, so findet man überall, was in folgender Passage etwa deutlich wird: „Open and wind-swept Russia, lacking these small, warm nurseries where Nature could cuddle her children, has bred upon its boundless plains a massive, untutored, homogeneous folk, fed upon the crumbs of culture that have fallen from the richer tables of Europe. But that item of area is a variable quantity in the equation. It changes its character at a higher stage of cultural development. Consequently, when the Muscovite people, instructed by the example of western Europe, shall have grown up intellectually, economically and politically to their big territory, its area will become a great national asset. Russia will come into its own, heir to a long-withheld inheritance. Many of its previous geographic disadvantages will vanish, like the diseases of childhood, while its massive size will dwarf many previous advantages of its European neighbours." (Semple 1911: 12f.) Mit der Veränderung der Handlungsmöglichkeiten verändern sich auch die Handlungsprobleme, die geographische Bedingungen - als Hindernisse wie als Chancen — darstellen. - Dies wird bei Semple manchmal verdeckt von Formulierungen, die eine Aktivität der geographischen Faktoren nahelegen: „the ocean barrier culled superior qualities of mind and character [...] - independence of political and religious conviction, and the courage of those convictions, wether found in royalist or Puritan, Huguenot or English Catholic." (a. a. O.: 21) V o r dem Hintergrund des Bevölkerungsdrucks eröffnete die Entdeckung A m e rikas Chancen, die — aufgrund der „ocean barrier" — nur von denjenigen genutzt wurden, die — aus diversen zu analysierenden Gründen — die Mobilsten waren. Nicht genutzt wurden sie von denjenigen, für die die Mobilen zwar die .reference group' darstellten, die aber — aus diversen zu analysierenden Gründen — selbst nicht mobil waren. N i c h t wahrgenommen
wurden die Chancen schließlich v o n
denjenigen, die - aus diversen zu analysierenden Gründen - andere Reference groups' hatten, andere Orientierungen etc. 2 2
Wie sieht also eine angemessene Konzeptualisierung des Raumes aus? R a u m konstituiert sich primordial im Handeln als Handlungsraum, in dem die Handelnden sich als mit Handlungsproblemen konfrontiert erfahren. Diese lassen sich als objektive Möglichkeiten rekonstruieren (vgl. S. 11 f.), welche v o n den Handelnden u. U. nicht vollständig und nicht vollständig adäquat realisiert werden — sei es handelnd, sei es deutend. D i e Veränderung des Raumes ist eine Veränderung der Handlungsmöglichkeiten. Zwar ist die Veränderung, die sich etwa durch die modernen Verkehrs- und Kommunikationsmittel ergeben hat, nicht so radikal, wie Heinrich Heine meinte, 2 3 aber seine extreme Verdichtung -
durch
22 „Influences of geographic environment" (1911) lässt sich demgemäß angemessen als .Geographische Einflussstruktur' übersetzen. 23
„Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet" (1843: 449).
244 • 4 Einflussstruktur
die (immer schneller werdenden) Eisenbahnen, noch mehr durch die Flugzeuge (vgl. Werlen 2000: 24f.) — führt dazu, dass der Raum qua Handlungsraum die Handelnden mit immer mehr Optionen konfrontiert. Das wiederum nötigt zu Routinisierungen und Standardisierungen: Wie sollte man, was man bei all den Optionen müsste, sich ständig entscheiden? So wird der Raum nicht getötet, aber es besteht die Gefahr, dass er zum Erstarren gebracht wird; und da ihm so seine Lebendigkeit ausgetrieben würde, hätte Heine dann doch noch Recht. — Ende des Exkurses.
2
Wirtschaft qua Vergemeinschaftung 1
2.1 Vorbemerkung In den Überlegungen dieses Abschnitts soll die Hypothese des regionalspezifischen Habitus im Bereich des wirtschaftlichen Handelns, w o das Ruhrgebiet notorisch wenig innovativ, w e n n nicht innovationsfeindlich ist, 2 auf ihre Erklärungskraft geprüft werden. Die Ursachen f ü r die Innovationshemmnisse in der montanindustriellen Monostruktur der Wirtschaftslandschaft zu suchen, ist - wie wir bereits gesehen haben - ein gängiger Weg, der im folgenden an exemplarischen Versuchen verfolgt werden soll. In A u s f ü h r u n g e n G e r n o t Grabhers, der sich intensiv mit den Einflüssen der montanindustriellen Wirtschaftsstruktur auf den Innovationsgrad wirtschaftlichen Handelns im Ruhrgebiet beschäftigt hat, werden die Desiderata ökonomischer Erklärungen durchaus gesehen und durch A n k n ü p f u n g e n an aktuelle Debatten zu befriedigen versucht. Die Auseinandersetzung mit dieser avancierten Position 3 wird hier geführt, um die These der in einer Habitusformation gründenden Regionalspezifik zu präzisieren.
1 Dieses Kapitel war Grundlage eines Aufsatzes (Loer 2006d). Für klärende Kommentierungen und weiterführende Diskussion einer früheren Fassung habe ich hier Ute Luise Fischer, Manuel Franzmann, Stefan Heckel, Sascha Liebermann, Hartmut Neuendorff und Christian Pawlytta besonders zu danken, ebenso Hartmut Hirsch-Kreinsen für manche Hinweise.
Einige Belege von vielen seien hier genannt: „Während die Bundesrepublik insgesamt in den fünfziger Jahren nicht nur die Wiederherstellung industriellen Altbestandes verfolgte, vielmehr zum guten Teil auch eine Neuindustrialisierung, verfestigten sich an Rhein und Ruhr überkommene Strukturen. Vorrangig in den innovationsträchtigen Bereichen, in der chemischen Industrie, der Elektroindustrie, im Maschinenbau und in der Feinmechanik und Optik, wies das Revier große Defizite auf" (Petzina 1990: 517). - „Trotz politischer Bemühungen und trotz des großen finanziellen Aufwandes im Rahmen der Programme der Landesregierung (allein 1968 wurden 2,1 Mrd. DM im Rahmen des Entwicklungsprogrammes Ruhr' ausgegeben, das gesamte Programm umfaßte rund 3,7 Mrd. DM an zusätzlichen Mitteln für den gesamten Programmzeitraum) veränderte sich die wirtschaftsstrukturelle Situation im Ruhrgebiet nur sehr langsam, die Abhängigkeit zu den seit Jahrzehnten dominierenden Branchen Kohle und Stahl blieb bestehen. Und trotz des Wachstums des Dienstleistungsbereiches auch im Ruhrgebiet hatte sich der traditionelle Rückstand gegenüber dem Bundesdurchschnitt nicht verringert." (Schlieper 1986: 187) - Für neuere Daten sei zum einen auf das Kapitel „Die Empirie der Entwicklungsprobleme der Ruhrwirtschaft" in Börner 2000 (42-88) verwiesen, aus dem hier nur die Reduktion der relativen Beschäftigungsentwicklung im Ruhrgebiet im Vergleich zum Durchschnitt der alten Bundesländer von 1985 bis 1998 im Bereich Forschung und Entwicklung auf nahezu -30 % erwähnt sei (a. a. O.: 46, Abb. 2); zum anderen auf den IAT-Report über Weiterbildung (Büttner et al. 2003), der einen „Weiterbildungsrückstand im Ruhrgebiet" (a. a. O.: 3) konstatiert. Die Autoren stellen „Defizite der betrieblichen Lernkultur" und traditionellere Selektions- wie Weiterbildungsformen (a. a. O.: 7) fest. Eine auf der Ebene der Soziolkultur ansetzende Analyse könnte bei der Erklärung dieser Beobachtungen weiterführen. 2
Die Position Grabhers ist sachlich avanciert - auch wenn das Erscheinen der entsprechenden Publikationen einige Jahre zurückliegt - , da die in ihr markierten Desiderata bisher nicht 3
246 • 4 Einflussstruktur
Die Debatten, die Grabher aufnimmt, repräsentieren eine seit geraumer Zeit in Wirtschaftsgeschichte, Wirtschaftsso^iologie und in Teilen der ökonomischen Wissenschaften stattfindende Entwicklung, die man mit dem Untertitel eines gewichtigen Sammelbandes zu Theorien der Organisation „Die Rückkehr der Gesellschaft" (Ortmann/Sydow/Türk 1997) nennen könnte. 4 Allerdings wurde von denjenigen Soziologen, die sich dem Feld des wirtschaftlichen Handelns zuwandten, immer schon die soziale Konstitution dieses Handelns entweder stillschweigend vorausgesetzt oder explizit zum Thema gemacht (vgl. Loer 2006d: 218). Diese Entwicklung und die Tatsache, dass sie so betont wird, ist nur zu verstehen, wenn man sie aus der Perspektive der ökonomischen Wissenschaften und eingedenk derer Gesellschaftsvergessenheit betrachtet: Für die nach wie vor vom Modell des ,homo oeconomicus' und der ,Rational-Choice-Theorie' bestimmte Ökonomie ist die Einsicht in die Relevanz ,sozialer Faktoren' eine Entdeckung (vgl. Loer 2006d: 218f.). Die soziologische Theorie beschäftigt sich seit ihren Anfängen mit dem Problem einer angemessenen Konzeptualisierung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft. In den verschiedensten Formulierungen die Frage nach der Möglichkeit von Ordnung' umkreisend wird doch selten herausgearbeitet, dass schon die Frage falsch gestellt ist. Um nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft fragen zu können, müssen beide zunächst künstlich isoliert, also mittels einer analytischen Operation genau aus jenem Verhältnis herausgelöst werden, in das sie zu bringen dann zum Rätsel wird. Das Ergebnis dieser analytischen Operation wird als empirischer Ausgangspunkt der Gesellschaftskonstitution genommen - manchmal gar die behauptete Primordialität der Elemente gegenüber dem Ganzen noch zeitlich interpretiert - woraus die reale Synthese zur Forschungsfrage wird. Die Antworten auf diese Frage sind naturgemäß unterschiedlich, teils elementaristisch im Sinne einer Gesellschaft als Summe ihrer Teile: der Individuen und ihres Verhaltens; teils deterministisch im Sinne der Abhängigkeit dieser Teile von der Gesellschaft als ihrer Epiphänomene — so, wie Ameisen als Vollstrecker ihres genetischen Programms begriffen werden können, das ein hochkomplexes Verhalten erlaubt, durch das das einzelne Exemplar aber ohne Entscheidungsmöglichkeit in seinem konkreten Verhalten durch die — durchaus jeweils spezifischen - Reize der aktuellen Situation jeweils festgelegt ist (vgl. Hölldobler/Wilsonl995). 5 Schließlich sei hier noch die Position erwähnt, die befriedigend bearbeitet wurden - auch nicht in der ausufernden Debatte um ,Netzwerke', (vgl. Loer 2006d: 217£). 4
„Rediscovering the social" titelt Grabher (1993b).
Dass Edward O. Wilson auf der Basis seiner Ameisenforschung eine Soziobiologie begründete (Wilson 1975), deren Vertreter die Differenz von Handeln und Verhalten nicht sehen und ersteres auf letzteres meinen reduzieren zu können, sollte die Soziologie nicht davor zurückschrecken lassen, die instruktiven Forschungen in diesem Zweig der Biologie zur Kenntnis zu nehmen (vgl. etwa Kappeler 2003). 5
4.2 Wirtschaft qua Vergemeinschaftung • 247
beide Antwortpole verbindet, indem sie sie zeitlich dynamisiert und von einer zunehmenden Befreiung des Individuums von determinierenden Strukturen ausgeht: die ,Individualisierungstheorie'.6 Als ein Kandidat 7 für die Vermeidung des Kategorienfehlers bei der Formulierung der o. g. Frage bietet sich nun im Kontext der Analyse von wirtschaftlichem Handeln die Kategorie der ,embeddedness' an, die zugleich für die oben genannte Wiederentdeckung der Gesellschaft durch die Ökonomie steht. Zunächst sei ihre Diskussion durch Mark Granovetter, auf dessen einschlägigen Aufsatz (1985) sich die Debatte vorwiegend bezieht,8 ins Auge gefasst, um dann die Verwendung dieser Kategorie durch Gernot Grabher zu prüfen, der sie für die Analyse des Ruhrgebiets in Anschlag bringt.
2.2 Zum Begriffsvorschlag .embeddedness'
2.2.1 ,Embeddedness' - ein ambivalenter Terminus Zunächst ist eine dem Terminus ,embeddedness' inhärente Ambivalenz zu klären, dann sollen die beiden Werte, die beiden Bedeutungen, die der Terminus eingrenzen kann, für sich und in ihrer Beziehung zueinander betrachtet werden. „The embeddedness argument stresses", so heißt es bei Granovetter (a. a. O.: 490) „the role of concrete personal relations and structures (or Networks") of such relations in generating trust and discouraging malfeasance." Diese Form der Genese von Vertrauen (s. u., S. 248ff.) wird einerseits der - von Granovetter als „undersocialized" gekennzeichneten — Konzeption eines funktionalistischen Verständnisses von (wirtschaftlichem) Handeln entgegengesetzt, die davon aus-
6
Eine andere als die zeitliche Departementalisierung, nämlich eine wissenschaftskonstruktivistische, kommt in dem bekannten Bonmot - als Soziologe sollte man besser sagen: Mauvaismot - von James Duesenberry zum Ausdruck: „economics is all about how people make choices; sociology is all about how they don't have any choices to make" (Duesenberry 1960: 233; zit. n. Granovetter 1985: 485). 7
Dass Michael Storper und Rober Salais explizit beanspruchen, „to explore a theory which maintains the tension beween these two extremes [sc. „a neoclassical conception of contract (in which two individuals endowed with equal optimizing rationality execute a complete contingent claims contract)" and „its sociological opposite, which sees agreement as the result of persons submitting to exogenous norms (social institutions, norms, and so forth)"]" (1997: 17) wird uns noch beschäftigen (s. u., S. 265). 8
Henning Nuissl nennt ihn „die schon ,klassische' Adaptation der .uralten' soziologischen Einsicht, dass sich Gesellschaft und Individuum nicht voneinander trennen lassen (Cooley 1923), an das Problem des ökonomischen Handelns durch Marc Granovetter (1985)." (Nuissl 2002: 92f.) zusammen mit seinen Ko-Autoren Anna Schwarz und Michael Thomas bezeichnet er den Aufsatz gar „als ,Gründungsdokument' einer ,new economic sociology'" (Nuissl/Schwarz/Thomas 2002: 61)
248 • 4 Einflussstruktur
geht, dass Einrichtungen der Gesellschaft funktionale Äquivalente für Vertrauen bieten, die es für den Einzelnen schlicht rational machen, sich auf die anderen zu verlassen und sich selbst verlässlich zu zeigen; andererseits steht sie der — kontrastiv als „oversocialized" (vgl. Wrong 1961) charakterisierten — Konzeption einer „generalized morality" entgegen, die den Einzelnen als Exekutor eines — wo auch immer verfassten - gesellschaftlichen „script" sieht: „Actors d o not behave or decide as atoms outside a social context, nor do they adhere slavishly to a script written f o r them by the particular intersection o f social categories that they happen to occupy. Their attempts at purposive action are instead embedded in concrete, ongoing systems o f social relation." (Granovetter 1985: 487)
So verstanden, ist ,embeddedness' eine konstitutionstheoretische Kategorie, die deutlich macht, dass Handeln qua Handeln an anderen orientiert ist.9 Erst wenn Handeln als durch ,embeddedness' konstituiertes konzeptuaüsiert ist, könnte in bestimmten Gegenstandsfeldern untersucht werden, welche Form und welches Maß diese ,embeddedness' annimmt. Die zweite Bedeutung, die der Terminus ,embeddedness' eingrenzt, ist genau diese objekttheoretische Kategorie. In diesem Verständnis würde die Aussage: „The embeddedness argument stresses [...] the role of concrete personal relations and structures (or .networks') of such relations in generating trust [...]" (Granovetter 1985: 490) bedeuten, dass hier, beim Generieren von Vertrauen im wirtschaftlichen Handeln, die konkreten persönlichen Beziehungen eine besondere Rolle spielen. In diesem Sinne verwendet Grabher ,embeddedness', wenn er herausarbeitet, welche bedeutende Rolle im Ruhrgebiet die persönlichen Beziehungen und deren Geschichte zwischen den Unterhändlern von Unternehmen spielen (s. u.: 253f.). — Bevor darauf eingegangen werden kann, ist der Terminus ,embeddedness' als konstitutionstheoretische Kategorie auf Prägnanz prüfen. Zudem erscheint es sinnvoll, zunächst in einem Exkurs den Vertrauensbegriff auf seine für unsere Fragestellung relevanten Aspekte zu beleuchten.
Exkurs zum Begriff des Vertrauens Der Ausdruck ,Vertrauen' ist mehrdeutig:10 Er umfasst einerseits Vertrauen in die Geltung von Regeln und deren Befolgung durch die Handelnden — in der Regel Rollenträgern in einem Bereich spezifischer Sozialbeziehungen; er umfasst
O f f e n bleibt dabei, ob dies etwa im Sinne Max Webers verstanden werden soll, also als intentionale Bezogenheit des Handelnden in seinem Handeln auf andere, oder als durch Regelgeleitetheit generierte Bezogenheit des Handelns auf potenziell vorangegangene oder nachfolgende Handlungen - seien es eigene oder solche von anderen. 9
10 Es kann hier die umfangreiche Literatur zum Begriff des Vertrauens nicht auch nur annähernd berücksichtigt werden. Einen umfassenden klassifikatorischen Überblick gibt Henning Nuissl (2002); vgl. auch Gambetta 1988.
4.2 Wirtschaft qua Vergemeinschaftung • 249
andererseits Vertrauen, das einem Handelnden als Person entgegengebracht wird und das in einer persönlichen Qualität11 gründet, die demjenigen, der Vertrauen entgegenbringt, die Gewähr gibt, dass derjenige, dem Vertrauen entgegengebracht wird, als Person in dieser konkreten Beziehung getreulich handelt.12 Die Differenzierung der beiden Typen von Vertrauen lässt das hier behandelte Problem auf andere Weise aufscheinen: Geht es um die ,Eingebettetheit' in einen spezifisch geregelten sozialen Kontext oder um die ,Eingebettetheit' in die konkrete Geschichte einer besonderen personalen Beziehung (s. u., 252f.)? — Karl Friedrich Bohler trifft eine ähnliche Unterscheidung, wenn er „das lebensweltliche Vertrauen" von einem „Vertrauen zweiter Ordnung, das man als gesellschaftliches Systemvertrauen bezeichnen könnte" unterscheidet (Bohler 2002: 100). Bei Viktor Vanberg scheint dem in etwa die Unterscheidung von „Personen-Vertrauen" und „Institutionen-Vertrauen"13 zu entsprechen (Vanberg 1987: 276; vgl. Nuissl 2002: 98; Fox 1974: 66-70); allerdings muss er wegen des zugrundegelegten Rational-Choice-Ansatzes zusätzlich eine .Theorie der Reziprozität' heranziehen, die jedoch ihrerseits mit der Rückführung von Reziprozität auf eine Norm letztlich in einen Zirkel gerät. Gouldner, auf den Vanberg sich dabei bezieht, zielt eine generelle, über bzw. unter der konkrete Verpflichtungen generierenden Moral liegende Ebene an. Dabei fehlt ihm zwar die Theoriesprache, diese Ebene angemessen begrifflich zu fassen,14 es lässt sich aber ein Konzept von Reziprozität als konstitutiv allem Handeln zugrundeliegend rekon-
11
Diese persönliche Qualität ist analytisch als Ausdruck der Fallstruktur zu fassen.
12 Eine Auseinandersetzung mit den Fällen in Nuissl/Schwarz/Thomas 2002 führte zu der Vermutung, dass eine dritte Form von Vertrauen angenommen werden muss: Vertrauen in einen - berufsspezifischen - Habitus. Diese Vermutung kann hier allenfalls angedeutet, keineswegs aber argumentativ ausgeführt werden. Bei diesem angenommenen dritten Typus von Vertrauen ist dieses zwar an die konkrete Person als Träger des Habitus, in den Vertrauen gesetzt wird, gebunden, kann aber nicht auf die Fallstruktur dieser Person als ganze zurückgeführt werden (vgl. Loer 2003b): Wenn etwa ein verhandelnder Unternehmer aufgrund von nicht standardisierbaren und schwer explizierbaren Gestaltwahrnehmungen an seinem Gegenüber—die sich auf „Vertrauenssignale" (Nuissl/Schwarz/Thomas 2002: 96ff.) nicht reduzieren lassen - eine spezifische Passung wahrnimmt (der von Nuissl, Schwarz und Thomas interviewte Unternehmer bringt dies auf die Metapher ,die Chemie muss stimmen 1 ), dann vertraut er — begründet (aufgrund von „guessing" könnte man mit Peirce sagen — 1929) und doch bedingungslos — darauf, dass dieser entsprechend den nicht kodifizierten und standardisierten Regeln unternehmerischen Handelns, also dem Geiste nach als Unternehmer handelt. 13 Eine extreme, da angesichts der Umstände selbstschädigende Form des InstitutionenVertrauens legte der Vater von Reinhard Bendix an den Tag, der mehrfach gegen das nationalsozialistische Willkürregime den Rechtsstaat in Anschlag zu bringen versuchte (Bendix 1990: 250-270; vgl. Lepsius 1997). 14 „In sum, beyond reciprocity as a pattern of exchange and beyond folk beliefs about reciprocity as a fact of life, there is another element: a generalized moral norm of reciprocity which defines certain actions and obligations as repayments for benefits received." (Gouldner 1960: 170; Kursivierung i. Orig.)
250 • 4 Einflussstruktur struieren. Dies ist bei den meisten neueren Konzepten des Vertrauens nicht der Fall. Im Gegenteil gehen diese v o n einem Problem der Koordination als Grundproblem aus. 15 Handeln ist aber immer schon ,koordinert' und die zu koordinierenden ,Einzelhandlungen' stellen eine nachträgliche Abstraktion dar. D e r Ursprung des Vertrauens ist das Vertrauen in die Regelhaftigkeit der Welt. Eriksons Konzept des ,Urvertrauens' (1961: 228ff.) meint genau dies: ein an die konkrete Person gebundenes Vertrauen in die Regelhaftigkeit der Welt. Hier, in der sozialisatorischen Interaktion, w o überhaupt Vertrauen erst - als Komplement v o n Individualität - sich bilden muss, sind die beiden Momente noch nicht differenziert. „Vertrauen stellt sich in diffusen Sozialbeziehungen dadurch her, dass es bedingungslos vollzogen wird." (Oevermann 2001a: 88) Und erst wenn in dieser Bedingungslosigkeit ein praktisch wirksamer Begriff v o n Vertrauen als Vertrauen in die durch das konkrete Gegenüber verbürgte Regelhaftigkeit der Welt gebildet wurde, kann er abgelöst und auf institutionalisierte Regeln übertragen werden, die ihrerseits dann in einer legitimen Ordnung fundiert sein müssen. 16 — Diejenigen Konzepte hingegen, die v o n der Funktionalität des Vertrauens zum Zwecke der Vermeidung von Interaktions- (bzw. Transaktions-) Kosten (vgl. Bosshart 2 0 0 1 : 159-168) und zur Vermeidung v o n Erwartungskontingenzen ausgehen, geraten in einen Zirkel, dessen Beginn sie nicht begründen können. 1 7 Ende des Exkurses.
Für anwendungsorientierte ökonomische Ansätze ist dieser Ausgang verständlich, wird doch hier die Kooperation von konstituierten Akteuren wie etwa Betrieben in den Blick genommen (vgl. etwa Bachmann 1996); gleichwohl zeigt sich auch hier, dass eine angemessene Konzeptuaüsierung der praktischen Kooperationsprobleme nur gelingen kann, wenn zuvor Handeln konstitutionstheoretisch angemessen begriffen wurde - nicht umsonst heißt es etwa bei Georg Simmel (1992: 393): „das Vertrauen zu ihm [sc. einem Menschen] - ersichtlich eine der wichtigsten synthetischen Kräfte innerhalb der Gesellschaft" (wenn auch Simmel die Notwendigkeit des Vertrauens mit dem unzureichenden Wissen begründet und damit einer individualistisch-rationalistischen Konzeption des Vertrauens das Wort redet ebd.). 15
16 Mit „Vertrauen in die Leitidee der Institution" (Lepsius 1997: 285) ist dies nur unzureichend beschrieben. 17 So spricht zwar etwa Niklas Luhmann davon, dass „Vertrauen jenen zirkulären, sich selbst voraussetzenden und bestätigenden Charakter [habe], der allen Strukturen eigen ist, die aus doppelter Kontingenz entstehen" (1985: 181, Kursivierung i. Orig.), beginnt aber seine Argumentation mit der Behauptung, dass „ Vertrauen bzw. Mißtrauen" als „Folgen doppelter Kontingenz" dann auftreten, „wenn das Sich-Einlassen auf Situationen mit doppelter Kontingenz als besonders riskant empfunden wird." (a. a. O.: 179, Kursivierung i. Orig.) Damit unterstellt er unausgewiesen eine Normalität der Nicht-Riskanz, die wir eben als durch begründungsloses Vertrauen gekennzeichnet beschreiben müssen. Sie geht der Situation der ,doppelten Kontingenz' konstitutionslogisch voraus und kann folglich mit dieser nicht erklärt werden. - Einen grundsätzlich alternativen Ansatz, der das konstitutionslogische Verhältnis auf die Füße stellt, entwickelt Martin Endreß, der davon ausgeht, dass es sich bei dem „Vertrauensphänomen [...] um einen vorprädikativen Modus des menschlichen Weltverhältnisses
4.2 Wirtschaft qua Vergemeinschaftung • 251
2.2.2 ,Embeddedness' als konstitutionstheoretische
Kategorie
Um einerseits Handeln von bloßem Verhalten und von kybernetischen Prozessen unterscheiden zu können, um andererseits den oben thematisierten Fehler der elementaristischen Auflösung der Einheit von Gesellschaft und Individuum zu vermeiden, muss Handeln als regelgeleitet und der Handelnde als Entscheidungsinstanz konzeptuaüsiert werden, die in ihrem Handeln aus durch Regeln eröffneten Optionen selegiert, dadurch bestimmte Optionen schließend und regelgemäß neue Optionen eröffnend. 18 Damit stellt sich die Frage, ob ,embeddedness' überhaupt eine angemessene Bezeichnung für die Tatsache der sozialen Konstitution von Handeln darstellt.19 ,Embeddedness' beschreibt ein Verhältnis zweier diskreter Elemente, wovon das eine das Lager des andern ist; die Elemente treten durch Einbettung in ein Verhältnis, das dann die Eingebettetheit ist.20 Sofort stellt sich die Frage: Wer hat hier ,eingebettet? Man benötigt also entweder eine dritte Instanz, einen Akteur, der das am Ende ,eingebettete' Element in das ,einbettende' hineinplaziert; oder man muss eines der beiden polaren Elemente aktivisch konzeptualisieren in dem Sinne, dass entweder sich das eine Element selbst in das andere ,bettet'; oder - schon unwahrscheinlicher — dass das ,einbettende' Element das ,einzubettende' in sich hineinplaziert. In konstitutionstheoretischer Verwendung müsste man aber formulieren: Konkretes Handeln ist immer schon in einen umfassenderen Prozess des Handelns ,eingebettet' — dies
handelt." (Endreß 2001: 171) Auch ihm zufolge „kommt Vertrauen in risikotheoretischen Modellierungen verkürzt in den Blick", nämlich dann, wenn es thematisiert werden muss, weil „die aufgrund des für Menschen konstitutiven Weltverhältnisses adäquate Antwort auf das Problem des Umgangs mit der für dieses Weltverhältnis unaufhebbaren Spannung von Vertrautheit und Fremdheit", die Vertrauen darstellt, problematisch geworden ist (a. a. O.: 203). (Darauf, dass aus soziologischer Sicht die von Endreß phänomenologisch aufgewiesene Konstitution dieses Weltverhältnisses selbst durchaus noch klärungsbedürftig ist, sei an dieser Stelle nur hingewiesen.) 18 Hier beziehe ich mich auf die im Rahmen der objektiven Hermeneutik ausgearbeitete Konstitutionstheorie (vgl. Oevermann 2000a: 68-83 und Loer 2006a; vgl. S. 32-35; s. u., Abschn. 3). 19 Hier könnte eingewendet werden, dass es bei der Diskussion um ,embeddedness' nicht um Handeln gehe, sondern um ökonomische Prozesse, deren ,embeddedness' in Handeln überhaupt erst thematisiert würde. Nur eine funktionalistische oder systemtheoretische Konzeptualisierung ökonomischer Prozesse, die im Ansatz deren Sozialität ausblendet, müsste so nachträglich Sozialität im Sinne der Konstitutiertheit der ökonomischen Prozesse in Handeln wieder einholen. Eine solche Notwendigkeit ergibt sich also aus einem anfänglichen Reduktionismus, könnte insofern durch dessen Vermeidung ihrerseits vermieden werden.
,Embeddedness' wird häufig mit ,Einbettung' übersetzt; da aber das Suffix ,-ung' nicht nur ein Nomen acti, sondern immer auch, in der Regel sogar primär, ein Nomen actionis markiert, wird durch diese Übersetzung ein mögliches Missverständnis nicht vermieden. ,Embeddedness' jedenfalls bezeichnet klarerweise das Ergebnis des Einbettens, nicht den Prozess selbst. 20
252 • 4 Einflussstruktur
ist eine nicht falsche, jedoch wenig aufschlussreiche, lediglich deskriptive Redeweise.
2.2.3 ,Embeddedness'
als objekttheoretische
Kategorie
2.2.3.1 Vorbemerkung Wenn ,embeddedness' als objekttheoretische Kategorie verwendet wird, so muss man gemäß der genannten konstitutionstheoretischen Konzeptualisierung von Handeln als regelgeleitetem Verhalten nochmals unterscheiden zwischen einem ,Eingebettetsein' von spezifischen Handlungen in einen Regelkontext höherer Ebene aber gleichen Typs einerseits — das Sprechen einer Einzelsprache etwa ist nicht allein durch die Regeln der einzelsprachlichen Grammatik selbst konstituiert, sondern ebenso durch die Regeln der Universalgrammatik — und einem ,Eingebettetsein' von Handlungen eines Typs in Handlungen eines anderen Typs andererseits — das Handeln im Rahmen eines Arbeitsablaufs etwa ist .eingebettet' in die organisatorischen Regeln des Betriebs und kann zudem ,eingebettet' sein in mikropolitische Kämpfe. Dies soll an zwei Beispielen — einem von Granovetter und einem von Grabher — verdeutlicht werden.
2.2.3.2,Embeddedness' im Hinblick auf soziale Beziehungen gleichen Typs Granovetter zitiert das Beispiel der Diamanthändler, die ihren Geschäftsabschluss lediglich mit einem Handschlag besiegeln, von Yoram Ben-Porath (1980: 6), und fügt hinzu: „this transaction is possible in part because it is not atomized from other transactions but embedded in a close-knit community of diamond merchants who monitor one another's behavior closely." (Granovetter 1985: 492) Damit behauptet er, dass ,embeddedness' hier eine Bedingung für das erfolgreiche Handeln am Markt ist. Die ,Eingebettetheit' des Markthandelns und des Vertragsabschlusses in soziale Vorbedingungen der Vertrauensbildung ist hier offensichtlich. Nur wenn der entsprechende Händler gemäß den Regeln der Berufsgruppe dazugehört, was sich vor allem darin ausdrückt, dass er diesen Regeln gemäß handelt, ist er entsprechend so vertrauenswürdig, dass mit ihm auch gemäß diesen Regeln gehandelt wird. Hier steht also eine Handlung in einem spezifischen Verhältnis zu übergreifenden Regeln und in einem spezifischen Verhältnis zu vorangegangenem Handeln; dieses Verhältnis bezeichnet Granovetter als ,embeddedness'. Erneut aber stellt sich die Frage, ob der Ausdruck der Sache angemessen ist, ob er sie auf den Begriff bringt. Betrachten wir zunächst den Aspekt der übergreifenden Regeln. Der Diamanthandel, bei dem stets hohe Summen im Spiel sind, wird deswegen in der Regel nicht bar vor Ort vollzogen; außerdem ist die Qualität der Ware nur zu Teilen unmittelbar messbar, sie hängt ebenfalls sehr von Kennerschaft voraussetzenden
4.2 Wirtschaft qua Vergemeinschaftung • 253
Einschätzungen ab. Entsprechend hat sich ein Kodex herausgebildet, dessen Befolgung Bedingung und Ausweis der Zugehörigkeit zur Berufsgruppe ist. In Übereinstimmung mit diesem Kodex und seinen Regeln erfolgt die konkrete Handlung, sie wird durch diese Regeln gewissermaßen hervorgebracht — insofern ist die ,Eingebettetheit' aber eine unangemessene Bezeichnung für dieses Verhältnis. Die Forderung nach der ,Einbettung' in jeweils vorangegangenes Handeln nun dient der Lizenzierung der je besonderen Handelnden, die den Kodex dauerhaft befolgten und auch kein Anzeichen für Vertrauensunwürdigkeit gegeben haben. Die Bekanntheit der Transaktionspartner miteinander ist ratio cognoscendi, sie ermöglicht ihnen, eine begründete Annahme darüber zu haben, ob sich der jeweils andere an die für beide geltenden Regeln halten wird.21 Dies ist aber nur im Abweichungsfall relevant: Wenn von einem der Partner das Gerücht geht - oder gar die Tatsache bekannt ist — dass er sich nicht an die Regeln gehalten hat, wurde er damit oder hat er sich damit gar selbst aus dem Kreis der Händler ausgeschlossen. — Abgesehen davon, dass hier von dem Ausnahmefall her die Sache aufgeschlüsselt würde, schließt die Kategorie .embeddedness' wiederum nichts auf. Allenfalls kann man sagen, dass die anstehende Interaktion in der Perspektive früherer betrachtet wird.22
2.2.3.3 .Embeddedness' im Hinblick auf typendifferente soziale Beziehungen Gernot Grabher wendet nun, wie bereits angeführt, die Kategorie der embeddedness' in seiner Analyse der regionalen Wirtschaftsentwicklung im Ruhrgebiet
Hier geht es nicht um die persönliche Vertrauenswürdigkeit des Diamanthändlers, sondern darum, ob er die Rolle des Diamanthändlers angemessen ausfüllt. Ein persönliches Vertrauen in den spezifischen Händler ist weder hinreichende noch notwendige Bedingung für die Vertrauenswürdigkeit des Händlers als Händler; es ist allerdings eine erleichternde Zusatzbedingung. Umgekehrt folgt aus der Vertrauenswürdigkeit des Händlers als Händler nicht, dass ich mich dem Händler als Person anvertraue. 21
Ist aber gemeint, dass ,embeddedness' in eine gemeinsame Geschichte als ratio essendi für die Vertrauenswürdigkeit gilt, so ist dies falsch. Dass jemand vertrauenswürdig handelt, ist nicht darin begründet, dass er dies stets getan hat. Dass er es stets getan hat, ist vielmehr Ausdruck seiner Fallstruktur, der wir alltagspraktisch (wie auch konstitutionstheoretisch begründet methodisch) eine relative Konstanz unterstellen. Dies ist für die anstehende Interaktion wiederum nur relevant, wenn dieser Ausdruck als ratio cognoscendi für die Einschätzung der Handelnden genommen wird. — So kann der junge Mann, über dessen Eintritt in eine Baptistengemeinde in North Carolina Max Weber berichtet (Weber 1920: 209ff.; 1910: 586/311), nur aufgrund seines untadeligen Lebenswandels getauftes Mitglied der Sekte werden. Aber dass er Mitglied der Sekte werden durfte, ist für die künftigen Kunden seiner Bank - und zwar nicht nur für die Baptisten unter ihnen - Ausweis (ratio cognoscendi) seiner ebenfalls in seiner Untadeligkeit (ratio essendi) gründenden Vertrauenswürdigkeit als Bankier. 22
2 5 4 • 4 Einflussstruktur
an, der er einen dreifachen „lock-in" attestiert. Die erste Blockierung bezeichnet Grabher als „functional lock-in" (Grabher 1993c: 260f.). Zum Zwecke der Reduktion von Transaktionskosten seien enge intraregionale Beziehungen aufgebaut worden, „embedded in long-standing personal connections" (a. a. O.: 260). Grabher zeigt die Folgen der engen Beziehungen auf, die tatsächlich in Zeiten der stabilen Marktverhältnisse zu reduzierten Transaktionskosten und hohen Synergien durch wechselseitige Anpassung führten. Dass diese Folgen ihrerseits die engen Beziehungen zusätzlich stabilisierten, steht außer Frage; offen bleibt aber zum einen, ob die engen Beziehungen tatsächlich aufgrund der Reduktion der Transaktionskosten, die sie versprachen, aufgenommen und aufgebaut wurden; zum anderen, warum diese engen Beziehungen dort, wo die aufgrund der geringeren Absatzchancen eintretenden Verluste die aufgrund der geringen Transaktionskosten möglichen Einsparungen längst überwogen, nicht aufgegeben wurden (s. u., S. 259f.). Auch der weitere Aspekt der funktionalen Blockierung, der mit den engen, auf der Basis von „well-developed personal connections" (a. a. O.: 261) ruhenden Beziehungen zwischen Zulieferern und ihren Hauptkunden verbunden ist und die Unterentwicklung von Marketingstrategien aufgrund ihrer Ersetzung durch persönliche Beziehungen zu wenigen Kunden betrifft, lässt sich, wie Grabher zurecht betont, nicht auf das „dependent supplier Syndrome" (ebd.; vgl. Brusco 1990: 11 ff.) zurückführen. Der Kreislauf zwischen der Investition in transaktionsspezifische persönliche Beziehungen zur Erleichterung der Kooperation zwischen den Betrieben einerseits und der sich dadurch festigenden Kontinuität und Absatzsicherung andererseits, den er als Erklärung anführt, ist in seiner Emergenz seinerseits erklärungsbedürftig. In anderen Regionen, auch solchen mit hoher zwischenbetrieblicher Vernetzung, 23 hat ein solcher Teufelskreis die Chance auf Stabilisierung gar nicht erhalten.
Für die auch und gerade in der Transformation wirtschaftlich erfolgreichen industrial districts' in der Emilia-Komagna weist Sebastiano Brusco auf die hohe Vernetzung hin (Brusco 1990: 15); diese kann einerseits vertikal sein, bei hoher horizontaler Konkurrenz (a. a. O.: 16); andererseits kann sie auch in hohem Maße horizontal sein (Brusco 1982: 169), ihre Innovativität und ihre Funktion bei der Erhaltung der Flexibilität ist aber auch dann gerade in ihrer Rückwirkung auch auf die großen Unternehmen des „primary sectors" zu sehen (a. a. O.: 182f.). Die historischen Wurzeln für diese Spezifik der Region sieht Mario Pezzini u. a. in einer spezifischen „culture of work" (1989: 226). - Für das Silicon Valley weist Annalee Saxenian ebenfalls eine enge Verflechtung nach, die zudem noch den Charakter einer „community" hat; der Innovativität tat dies keinen Abbruch, im Gegenteil (vgl. Saxenian 1994a, b, 1995). Die „community" hat aber im Silicon Valley nicht die Struktur einer Vergemeinschaftung von Kumpeln; es ist viel mehr eine Kollegenschaft, die durch die Orientierung an einer gemeinsamen Sache gestiftet ist: „The shared challenges of exploring uncharted technological terrain shaped their view of themselves and of their emerging community." (Saxenian 1994a: 30) Die Form, die diese Orientierung an der Sache hier allerdings annimmt, ist durchaus die einer Vergemeinschaftung: „juxtaposition of competitive rivalries and quasi-familial loyalitity" (a. a. O.: 31). Die Konstitution der „technical community" in dieser spezifischen Form beleuchtet sehr anschaulich Tom Wolfe am Beispiel des Fairchild-Mitbegründers, Erfinders des integrierten Schaltkreises und Intel-Gründers Robert Noyce (Wolfe 1992). Wolfes Verweis 23
4.2 Wirtschaft qua Vergemeinschaftung • 255
Bringen wir bezüglich des Ausdrucks „embedded", wie Grabher ihn hier verwendet, unsere obige Begriffsklärung in Anschlag, so zeigt sich, dass die ,Eingebettetheit' in soziale Beziehungen, die gegenüber den sachbezogenen etwas Zusätzliches darstellen, gemeint sein muss. Weil sie sich als Person kennen, schätzen und vertrauen, sind die Verhandlungspartner einander als Träger einer spezifischen Rolle vertrauenswürdig. Damit dieser Zirkel des Vertrauens aber zum Teufelskreis werden kann, muss er entweder von vornherein auf der persönlichen Beziehung gründen oder die sich bildende persönliche Beziehung muss im Laufe der Zeit die rollenförmige Beziehung überlagern. Eine weitere Möglichkeit bestünde schließlich darin, dass eine Differenzierung der verschiedenen Beziehungsformen, die einhergeht mit der genannten Differenzierung zwischen persönlichem Vertrauen und Vertrauen in gesellschaftliche Regeln, gar nicht gemacht wird. Beide Differenzierungen: diejenige von Person und Rolle wie die damit verbundene zweier Formen von Vertrauen, sind Ausdruck der Differenzierung von Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung. Das vorliegende Muster muss gedeutet werden als habituelle Dominanz einer Orientierung an persönlichen, vergemeinschaftenden und partikularistischen Beziehungen — seien diese nun dominant in dem Sinne, dass sie die gleichwohl ausdifferenzierte Sphäre der Vergesellschaftung beherrschen, seien sie dominant in dem Sinne, dass sie eine Ausdifferenzierung der Gesellschaftlichkeit von Sozialbeziehungen - und damit auch einer modernen Form der Vergemeinschaftung — gar nicht erst — oder zumindest kaum — zulassen.
Die zweite Blockierung, die Grabher konstatiert, nennt er eine kognitive (Grabher 1993c: 262f.). Treffender wäre hier von Deutungsmustern zu sprechen, die nicht bloße kognitive Muster, sondern praktisch folgenreich die Interpretation von Welt strukturieren (vgl. Oevermann 1973; 2001b, c). Grabher zeigt auf, dass in den Unternehmen des Ruhrgebiets die Wahrnehmung der Welt der (Stahl-) Wirtschaft — und damit die Reaktion auf deren Veränderungen — im Rahmen des einmal eingeschlagenen Entwicklungspfades verblieb. Diese geteilte Weltsicht habe sich auf der Basis von „social reinforcement" entwickelt (a. a. O.: 262). Aber auch hier, das zeigt die Wortwahl („reinforcement") an, wird die Erklärung letztlich nicht durchgeführt: Etwas, was verstärkt wird, muss es bereits geben. Wo also kommt es her? Wo ist es konstitutionslogisch zu verorten? Auch zeigen
auf dessen kongregationalistischen Hintergrund deutet einen Weg an, das Desiderat zu schließen, das auch in Saxenians Erklärung der unterschiedlichen Entwicklung von Route 128 und Silicon Valley offen bleibt, die sich letztlich auf nicht weiter erklärte Unterschiede in der Organisation der Arbeit einerseits in auf Autarkie bedachten Firmen und andererseits eben in einer „technical community" stützt (Saxenian 1994a: 161). - Saxenian selbst verfolgt leider die Spur, die sie durchaus bei Wolfe gelegt sieht: „a surprising number of the community's major figures had grown up in small towns in the Midwest and shared a distrust for established East Coast institutions and attitudes" (a. a. O.: 30; vgl. Wolfe 1983), nicht weiter.
256 • 4 Einflussstruktur
etwa die Ausführungen von Alfred Marshall zu der „industrial atmosphere" von Sheffield oder Solingen (Marshall 1919: 284, 287)24 und diejenigen von Annalee Saxenian zum Silicon Valley (Saxenian 1994a; 1994b; 1995), dass „social reinforcement" durchaus auch innovationsförderlich sein kann. Der zweite Aspekt, den Grabher in diesem Rahmen anführt: „personel cohesivness and well-established relations within the coal, iron, and steel complex" (Grabher 1993c: 262), führt nun wieder zu der oben bereits festgestellten habituellen Dominanz der Orientierung an persönlichen, vergemeinschaftenden Beziehungen. Grabher führt aber dann eine andere Perspektive ein, wenn er herausstellt, dass diese Dominanz die Ausbildung von „Brückenbeziehungen" verhindere. Mit „Brückenbeziehungen" versucht Wegener, auf den Grabher sich hier bezieht (Wegener 1987: 279f.; vgl. Grabher 1993c: 263), formalisiert „schwache soziale Beziehungen" zu fassen. Die Unterscheidung von ,starken' und .schwachen sozialen Beziehungen', deren analytischer Sinn so ohne weiteres nicht ausgemacht ist,25 steht nun aber quer zu der Unterscheidung von Vergemeinschaftungsorientierung und Vergesellschaftungsorientierung. Die „Brückenbeziehung" müsste, wenn sie die Fixierung auf den einmal eingeschlagenen Entwicklungspfad überwinden sollte, nicht lediglich eine formal .schwache Beziehung' sein die man per definitionem nur zu Personen außerhalb des eigenen engeren Beziehungsnetzes haben kann, woraus dann als Korollar folgt, dass diese Personen zumindest formal einen anderen Blick auf die Sache haben - , sie müsste anders: nach der Logik unternehmerischen Handelns unter Bedingungen marktförmiger Vergesellschaftung, strukturiert sein. Der andere Blick, den ein Anderer auf eine auch mich betreffende Sache hat, muss für mich zunächst einmal Relevanz erlangen. Dies folgt nicht bereits daraus, dass meine Beziehung zu ihm als ,schwach' qualifiziert werden kann. Entweder ist er für mich aufgrund einer Vgl. zu der auf Marshall zurückgehenden Kategorie der .industriellen Distrikte' den so betitelten Aufsatz von Josef Reindl (2000), der allerdings das kultursoziologische Potenzial vergibt, wenn er Marshalls - knappe - Überlegungen auf „Vorüberlegungen zu einer Theorie der Agglomerationsvorteile" (a. a. O.: 62) reduziert. Das Plädoyer für die Beschränkung des Terminus auf die Konstellationen im „Dritten Italien" und gegen die inflatorische Ausweitung hingegen (a. a. O.: 66f.) erscheint plausibel. Die oberitalienischen .industriellen Distrikte' sind auf eine historisch-spezifische soziokulturelle Gestalt der Region zurückzuführen, sind somit theoretisch als Einflussstruktur zu konzeptualisieren - was allerdings Reindl, der ökonomistisch mit der Kategorie .Cluster' argumentiert, nicht sieht. 24
25 Wegeners Versuch der Bestimmung bleibt, wie er selbst schreibt, formal (Wegener 1987: 281) und erschöpft sich in einer klassifikatorischen Abbildung der Realität ohne aufschließende Erklärung. Auch die quantifizierende Bestimmung Granovetters in seinem frühen Aufsatz, dessen Titel oft für die Rede von starken und schwachen Bindungen zitiert wird, erlaubt keine strukturelle Bestimmung, die die Unterscheidung zwischen ihnen rechtfertigen würde, sondern nur eine willkürliche Diskretion innerhalb eines Kontinuums: „the strength of a tie is a (probably linear) combination of the amount of time, the emotional intensity, the intimacy (mutual confiding), and the reciprocal services which characterize the tie." (Granovetter 1973: 1361)
4.2 Wirtschaft qua Vergemeinschaftung • 257
(,starken*) Beziehung als Person relevant — das Gegenteil also — oder meine Beziehung zu ihm ist für mich in spezifischer Hinsicht als Rollenbeziehung relevant; schließlich kann aufgrund der generalisierten Neugier eines Forschers - sei er Wissenschaftler oder Künsder - der Blick des Anderen relevant sein. Auch in die ,kognitive Blockierung', die laut Grabher zusammen mit der ,funktionalen' unvermeidlich in dem von R. Rothwell und W. Zegveld so benannten „sailing-ship effect" (ebd.) mündete: in einer Verbesserung also auf dem bereits überkommenen Entwicklungspfad, geht folglich eine habituelle Orientierung an persönlichen Beziehungen wesentlich ein.
Die dritte Blockierung schließlich, die Grabher benennt, ist die politische: „The politico-administrative system kept the region effectively on course, even when this course became a dead-end." (ebd.) Die Interessen, die hier im Spiel waren, und zu einer sich verfilzenden Allianz von „rather conservative social democrats, conservative unions, and patriarchal industrialists" (a. a. O.: 264) führten, reichen aber ebenfalls zur Erklärung nicht aus; die - wieder im Deskriptiven verbleibende — Bezugnahme auf „highly cooperative relations beween industry and the politico-administrative system", die zu einer versteinerten Kultur des Konsenses geführt haben (ebd.), wirft ihrerseits die Frage auf, warum diese vielfach wieder persönlichen Beziehungen sich ausbildeten und gegen alle ökonomische und politische Vernunft erhielten.
Alle drei von Grabher benannten und beschriebenen Blockierungen finden ihren Grund in einer Interferenz von auf der Ebene von Vergesellschaftung liegenden, rollenförmigen, spezifischen Sozialbeziehungen mit auf der Ebene von Vergemeinschaftung liegenden, persönlichen, diffusen Sozialbeziehungen. — Lässt diese sich nun angemessen als ,embeddedness' im Sinne der Eingebettetheit des (wirtschaftlichen) Handelns in gegenüber den sachbezogenen zusätzliche soziale Beziehungen fassen? Rekapitulieren wir hier noch einmal die Ebenen, auf denen die Kategorie der ,embeddedness' prima vista angesiedelt ist. — (1) Jegliches Handeln, somit auch das wirtschaftliche, ist sozial konstituiert. Dies als ,Eingebettetheit' von Handeln in Sozialität zu bezeichnen, ist sachlich unangemessen (s. o.: 251 f.). - (2) Spezifisches Handeln ist durch diesem Handeln übergeordnete Regeln (a) konstituiert oder (b) zusätzlich reguliert. 26 Im ersten Unterfall von konstitutiven Regeln ist die Rede von ,Eingebettetheit' des Handelns genauso unangemessen wie auf der Ebene der Konstitutionstheorie. Betrachten wir den zweiten Unterfall, um den es nun zuletzt anhand der Ausführungen von Grabher ging. Alle dort genannten Zur Differenzierung von konstitutiven und regulativen Regeln vgl. Searle 1970: 33f. bzw. 1983: 54.
26
258 • 4 Einflussstruktur
Blockierungen sind, so scheint es, zumindest verquickt mit einer .Eingebettetheit' des wirtschaftlichen Handelns in soziale Beziehungen, die mit dem Sachproblem, auf dessen Bewältigung das Handeln sich richtet, also in diesem Fall: mit den ökonomischen Aufgaben, deren Erledigung das Handeln dient, in keiner sachlogischen Beziehung stehen. Diesen gegenüber dem Sachproblem zusätzlichen sozialen Beziehungen kommt, nur das macht sie zu einem Kandidaten für die Erklärung der spezifischen Blockaden, eine spezifische Relevanz zu: sie dominieren das wirtschaftliche Handeln. Hier kann nun mit ,Eingebettetheit' nicht die konstitutive Bedeutung gemeint sein - weder im Sinne einer allgemeinen Konstitutionstheorie noch im Sinne einer spezifischen Objekttheorie wirtschaftlichen Handelns; beides würde - abgesehen von der oben aufgezeigten Unangemessenheit — nicht die spezifische Relevanz erfassen. Die spezifische Relevanz erhalten die zusätzlichen sozialen Beziehungen durch eine — offensichtlich habituelle - Orientierung der Handelnden an diesen Beziehungen. 27 Auch hier ist die Rede von ,Eingebettetheit' nicht angemessen, zumindest nicht erhellend. Es ist ja durchaus noch nicht ausgemacht, welche der oben (S. 255) entworfenen Alternativen zutrifft. Nur in dem Falle, dass die auf der Ebene von Vergesellschaftung liegenden Handlungsoptionen und die auf der Ebene von Vergemeinschaftung liegenden persönlichen Beziehungen ausdifferenziert vorlägen, könnte man der Rede von ,Eingebettetheit' einen deskriptiven Sinn abgewinnen: „Der Handelnde ,bettet' in seinem auf der ersten Ebene anzusiedelnden Handeln dieses in die auf der zweiten Ebene liegenden Beziehungen ,ein"'. Eine aufschließende Kraft käme einer solchen Kategorienbildung aber nicht zu.
2.2.4 Fazit Die Kategorie der ,embeddedness' hat sich für die Analyse der Strukturierung des (wirtschaftlichen) Handelns als analytisch unbrauchbar erwiesen — mag ihr auch im Rahmen der wirtschaftswissenschaftlichen Debatten eine wichtige polemische Funktion zukommen. Den Kategorien von Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung hingegen, mit den damit verbundenen Differenzierungen spezifisch vs. diffus und sachlich-problembezogen vs. persönlich kommt durchaus analytische Kraft zu, lassen sie es doch zumindest zu, die Bereiche, deren Beziehung mittels der Kategorie der ,embeddedness' erfasst werden sollte, klar zu bestimmen. Diese Beziehung der Dominanz des letztgenannten über den erstgenannten Bereich, ist damit allerdings noch nicht aufgeklärt. — Grabher
27 Ein Versuch, die zugrundeliegenden Handlungsmaxime formal zu bestimmen, könnte lauten: ,Immer wenn bei einer zu treffenden Entscheidung mittels des Moments ,Vertrauen' das Risiko vermindert werden kann, wähle die Option, w o das Vertrauen persönlich lizenziert ist.' Begreift man Habitus als ein Ensemble von unausgesprochenen Maximen der Lebensführung, denen im Zweifel gefolgt wird (vgl. Loer 1996: 310-312; von Harrach/Loer/Schmidtke 2000: 81 ff.), so wäre die hier formulierte Maxime ein wesentliches Moment der visierten regionalspezifischen Habitusformation.
4.2 Wirtschaft qua Vergemeinschaftung • 259
greift nun für das Verständnis dieser Beziehung auf die Begriffe ,Anpassung' und ,Anpassungsfähigkeit' zurück.
2.3 .Adaption' und .Adaptabilität' 2.3.1 Anpassung vs. Passungsverhältnis „The production pattern of close interfirm linkages embedded in strong personal relations and supported by a tightly knit politico-administrative system reflected the perfect adaption of the Ruhr to a specific economic environment." (ebd.) Diese Formulierung legt eine funktionalistisch-materialistische Deutung nahe: die ,Eingebettetheit' und die spezifische politische Konstellation als Überbau des ökonomischen Feldes, als funktionales Element einer ökonomischen Strategie — oder (funktionalistischer formuliert) eines ökonomischen Systemgeschehens. Zunächst argumentiert Grabher so, und wenn er dann von einer .Dialektik von Anpassung und Anpassungsfähigkeit' spricht (a. a. O.: 265), so erscheint die mangelnde Anpassungsfähigkeit angesichts neuer Herausforderungen als Folge der zu guten Anpassung an lange stabile Bedingungen. Die Rede von ,Dialektik' ist hier allerdings unangemessen, wenn anders man einen prägnanten und analytisch aufschlussreichen Begriff von Dialektik in Anschlag bringen will. Anpassungsfähigkeit ist zwar Bedingung für Anpassung, ihrerseits aber von Anpassung unabhängig: weder ist die Anpassung an spezifische Umstände notwendige Bedingung für Anpassungsfähigkeit noch trifft dies für die Vermeidung von Anpassung zu. Ein System, das durch hohe Anpassungsfähigkeit gekennzeichnet ist, ist in der Lage, seine interne Struktur sowohl stabilen wie auch instabilen Umweltbedingungen anzupassen. Es ist ein Zeichen von reifizierender Begriffsbildung, wenn in der Debatte um Postfordismus so getan wird, als sei die unter dessen Bedingungen erforderliche Flexibilität eine Eigenschaft, die unter fordistischen Bedingungen kontraproduktiv wäre. Ein Unternehmer erweist unter fordistischen Bedingungen seine Flexibilität darin, dass er sich erfolgreich die stabile Umwelt zunutze macht — nur bleibt diese Flexibilität einem standardisierenden Zugriff verborgen: Ein System von geringer Anpassungsfähigkeit, das — in Bezug auf seine eigene Leistung eher zufällig — in einem Passungsverhältnis zu der gleichen stabilen Umwelt steht, erscheint diesem Zugriff als dasselbe; dass beide dabei durch geradezu konträre Strukturlogiken bestimmt sind, wird nicht gesehen. Nun würde das Kind mit dem Bade ausgeschüttet werden, wenn eine Wechselwirkung mit den Bedingungen, zu denen ein — sei es selbst hergestelltes, sei es in bezug auf die handelnde Instanz zufälliges - Passungsverhältnis besteht, vollständig außer Betracht bliebe (s. o., S. 254). Die stabilisierende Wirkung einer stabilen Umwelt auf eine zu ihr im Passungsverhältnis stehende von ihrer Strukturlogik her innovationsferne Handlungsinstanz ist ebenso in Betracht zu ziehen wie die mögliche Bewirkung der Abnahme der dominanten Momente einer in-
260 • 4 Einflussstruktur novationsfreundlichen Fallstruktur. Dies aber sind empirische Fragen, die durch die analytische Unterscheidung der möglichen zugrundeliegenden Fallstrukturgesetzlichkeiten überhaupt erst gestellt werden können. Zu konstatieren ist im Ruhrgebiet ein Passungsverhältnis zwischen der auf die N u t z u n g von Innovationschancen der Vergesellschaftung negativ wirkenden dominanten Orientierung an diffusen Sozialbeziehungen einerseits und den ökonomischen Verhältnissen in einem von der Montanindustrie geprägten industriellen Bezirk unter der Bedingung stabiler Absatzmärkte andererseits. Diese Verhältnisse wirken stabilisierend auf die Dominanz von Vergemeinschaftung über Vergesellschaftung. 28 — Hierzu führt Grabher nun einen weiteren Aspekt der mangelnden Anpassungsfähigkeit an.
2.3.2 Mangelnde Selbstreflexivität U m die erforderliche Anpassungsfähigkeit zu erhalten, so Grabhers Rückgriff auf die Debatte um lernende Organisationen, sei eine Fähigkeit erforderlich, sich selbst infrage zu stellen (ebd.). Ähnlich wie zuvor bei der Behandlung der kognitiven Blockierung (s. o., S. 255) zeigt sich die Angewiesenheit der Kognition auf eine habituelle Offenheit. Diese Offenheit und damit die Fähigkeit der Selbstreflexion, der Überprüfung der Angemessenheit des eigenen Handelns aber war nun im Ruhrgebiet durch das „production pattern of rigid and intensive interfirm linkages" stark eingeschränkt (a. a. O.: 266). Wir sehen, dass Grabher auf ein Moment als Erklärungsfaktor zurückgreift, von dem wir oben gesehen haben, dass seine Benennung als ,embeddedness' zwar deskriptiv zutrifft, dass es aber seinerseits erklärungsbedürftig ist. Auch hier stoßen wir wieder auf dasselbe Desiderat: Was ist dafür verantwortlich, dass die auf der Ebene der diffusen Sozialbeziehungen liegenden „strong lies" eine Dominanz gewinnen, die auf der Ebene des spezifischen Wirtschaftshandelns zu einer „weakness" führt, die offenkundig wird, wenn die Sonderbedingungen der — eben nicht zufälligerweise — patriarchalisch geprägten Montanindustrie, zu der die „strong lies" in einem Passungsverhältnis stehen, wegfallen?
28
Vgl. die Ausführungen zur Identifikation der Mitarbeiter in Großbetrieben des Montanbereichs (s. o., S. 78£). - Im Vergleich zur spezifischen Form der Vergemeinschaftung im Silicon Valley (vgl. Fn. 23) könnte man mit Bezug darauf sagen, dass im Ruhrgebiet der Kollege zum Kumpel wird und von der Rollenförmigkeit der Beziehung zu ihm in dieser Transformation nahezu nichts übrig bleibt; in der „technical Community" hingegen wird der Kumpan zum Kollegen, zum - auch rivalisierenden - Kommilitonen bei der Weiterentwicklung einer gemeinsamen Sache. (Mit Bezug auf Wolfes Hinweise [Wolfe 1992: 17-21] könnte man hier von einer „technischen Kongregation" sprechen - s. o., Fn. 23.)
4.2 Wirtschaft qua Vergemeinschaftung • 261
2.3.3
Mangelnde,Redundanz'
Mit einer Anleihe bei der Informationstheorie: dem Begriff der Redundanz, unternimmt Grabher einen weiteren Erklärungsversuch. In den Bereichen der Redundanz schaffenden „Boundary-spanning Functions — Management, Forschung & Entwicklung und Marketing" (Grabher 1994: 108) sieht er eine Möglichkeit angelegt, die Blockierungen zu überwinden. Hierzu zieht Grabher die Zunahme von Umwelttechnik-Firmen im Ruhrgebiet heran: „filtration plants and decontamination plants designed by Ruhr firms to repair environmental damage caused by Ruhr firms." (Grabher 1993c: 268) Die mit einem Generalunternehmen kooperierenden Firmen bekommen von diesem nur noch grob umrissene Probleme vorgegeben, für die sie Lösungen entwickeln müssen und erfolgreich entwickeln. In der Entstehung von .Redundanz', insbesondere von „Beziehungsredundanz" (Grabher 1994: 107f.) bestehe die Chance, die „strong ties" zu lockern, da je nach gegebener Situation andere Bindungen eingegangen werden. Die Beschreibung des Zusammenhangs von Flexibilität und Innovationsfähigkeit einerseits und der Fähigkeit, nach den Erfordernissen der Situation zu agieren andererseits - und das heißt gerade nicht: gemäß dem Kriterium gewachsenen personalen Vertrauens, sondern: gemäß den Regeln ökonomischen Kalküls und den unpersönlichen Regeln wirtschaftlichen Handelns — ist durchaus zutreffend; die Frage, woher diese Fähigkeiten kommen, ist damit aber noch nicht beantwortet. Die suggerierte Antwort: dass Ausweitung der Aktivitäten in Marketing und Forschung und Entwicklung zu einer erhöhten Flexibilität führen, greift zu kurz. Denn belegen lässt sich der Zusammenhang eher in den norditalienischen .Industrial Districts' als im Ruhrgebiet. Hier nämlich darf die Cleverness im Erfinden von praktischen Lösungen, für die das Ruhrgebiet notorisch ist und die jetzt auf neuen Feldern Blüten treibt, nicht verwechselt werden mit der Ablösung der Vergemeinschaftungsorientierung durch eine stärkere habituelle Verankerung der Vergesellschaftung. Grabhers Versuch, dies so darzustellen, wird durch einen von ihm selbst im Zusammenhang mit der Bewältigung der Umweltprobleme angeführten Ausspruch konterkariert: „The Strategie know-how of plant engineers, as a Krupp manager has put it, consists precisely in ,knowing the right project partner for each problem'." (Grabher 1993c: 269)29 Was als Flexibilität auf der Ebene der sozialen Beziehungen erscheint, ist also faktisch allenfalls eine Ausweitung des Beziehungsnetzes; eine Veränderung seiner Struktur ist hingegen nicht festzustellen. - Erneut ist zu betonen, dass diese Verschiebungen Gegenstand empirischer Untersuchungen sein müssen, die aber nur aufschlussreich durchgeführt werden können, wenn nicht kurzschlüssig die empirisch vorflndli-
Analog begründete Bodo Hombach, ein in entsprechender Weise fachlich nicht ausgewiesener Politiker, seinen Einstieg in die Geschäftsführung der WAZ-Mediengruppe: „Ich freue mich über die neue Aufgabe. Bin ich doch im Ruhrgebiet verwurzelt. Hier kenne ich alle Ecken." (zit. n. Rossmann 2002)
29
2 6 2 • 4 Einflussstruktur
che Gleichzeitigkeit der genannten Aspekte als ein Bedingungsverhältnis interpretiert wird.
2.4 Region als Strukturmoment von Wirtschaft Entscheidendes M o m e n t der Wortgeschichte von „ W i r t s c h a f t " (vgl. G r i m m / G r i m m 1960, Sp. 661-679) ist, dass sich allmählich die Betonung des Sachbezugs und des Bezugs auf die materiellen Güter aus der ursprünglichen Bindung an das Sorgen für Personen in der Hauswirtschaft und das Bewirten von Personen in der Gastwirtschaft herausbildet. Die Sachdimension ist Moment des einheitlichen Wirtschaftens, die sich durch Ausdifferenzierung autonomisiert; konstitutionslogisch bleibt sie aber Moment des umfassenden Handelns. Der Wortgeschichte entspricht die Begriffsgeschichte (vgl. Burkhardt et al. 1992), aus der erhellt, dass die Sphäre wirtschaftlichen Handelns sich immer deutlicher als eigenständige Sphäre der Vergesellschaftung aus dem zunächst allumfassenden Kern der Vergemeinschaftung ausdifferenzierte und dass sie zugleich stets an diesen — sich seinerseits verdichtenden — Kern rückgebunden bleibt. 30 Diese Ausdifferenzierung ist als Moment des universalhistorischen Rationalisierungsprozesses 31 zu betrachten, dem sich, um den Preis des Untergangs, keine Kultur auf Dauer entziehen kann. Ein zur Vergesellschaftung komplementäres Moment dieses Prozesses ist die Individuierung. Anders als bei dem Terminus .Individualisierung' wird durch die Kategorie der Individuierung die wechselseitige Konstitution von Gemeinschaft resp. Gesellschaft und Individuum nicht aufgelöst. Die Ausdifferenzierung der Sphären von Gesellschaft und die Verdichtung des Kerns von Gemeinschaft im
30
Die „große Erkenntnis", so Granovetters Bezugsautor Karl Polanyi, „daß die wirtschaftliche Tätigkeit des Menschen in der Regel in seine Sozialbeziehungen eingebettet ist" (Polanyi 1944: 75), erfasst dies nur unzureichend; dies wird deutlich, wenn es weiter heißt: „Sein Tun gilt nicht der Sicherung seines individuellen Interesses an materiellem Besitz, sondern der Sicherung gesellschaftlichen Rangs, seiner gesellschaftlichen Ansprüche und seiner gesellschaftlichen Wertvorstellungen." (ebd.) Damit wird eher auf die Rückwirkungen ausdifferenzierten wirtschaftlichen Handelns auf andere, ebenfalls bereits ausdifferenzierte gesellschaftliche Sphären Bezug genommen als auf die Frage der Konstitution wirtschaftlichen Handelns als Handeln überhaupt. Als Handeln ist es eingebunden in die Dialektik von Entscheidung und Selbstrechtfertigung. „Sicherung gesellschaftlichen Rangs, seiner gesellschaftlichen Ansprüche und seiner gesellschaftlichen Wertvorstellungen" muss also in diesen Rahmen übertragen werden; dann ist damit eine - auch für die anderen gesellschaftlichen Sphären — konstitutive Dimension erfasst. 31
Dieser Prozess läuft, dies haben die materialen Analysen Webers gezeigt, die ihn zu seiner Postulierung führten, nicht schlicht ab wie ein evolutionärer Entfaltungsprozess, sondern stellt ein konkretes historisches Geschehen dar, das aber zugleich points of no return emergieren lässt und immer wieder dialektische Polaritäten, die den Prozess konkret weitertreiben, hervorbringt.
4.2 Wirtschaft qua Vergemeinschaftung • 263
Zuge des Rationalisierungsprozesses 32 führt auf der Ebene des Individuums zu höheren Integrationserfordemissen. Die Hypothese der von uns in den Fällen rekonstruierten und in den historischen Konstellationen aufgewiesenen Habitusformation der Primärgruppenvergemeinschaftung erlaubt es, die Leerstellen, die in Grabhers Erklärungen verbleiben, zu füllen. Die Geltung der oben versuchsweise formulierten Maxime (vgl. Fn. 27), die ihrerseits Moment der Habitusformation ist, kann die im Bereich wirtschaftlichen Handelns zu Blockierungen führende Orientierung u r sächlich erklären' (s. u., S. 267ff.); die schlichte Feststellung der ,Eingebettetheit' des wirtschaftlichen Handelns in extraökonomische soziale Kontexte kann dies aufgrund der mangelnden Spezifität nicht. Das Handeln von Angehörigen einer Region ist durch eine jeweils regionalspezifische Habitusformation geprägt. Deren Gestalt im Ruhrgebiet führt dazu, dass wirtschaftliches Handeln überwiegend gerade nicht als Handeln in der bürgerlichen Gesellschaft als dem „Kampfplatz des individuellen Privatinteresses" (Hegel 1821: 458), der das Individuum aus dem Bande der Familie herausreißt (a. a. O.: 386), vollzogen wird; vielmehr treffen wir hier auch in der Sphäre der Ökonomie auf gemeinschaftliches Handeln: Wirtschaft qua Vergemeinschaftung.
Vor dem Hintergrund des bisher Ausgeführten erscheint die Orientierung an Vergemeinschaftung, die auch die Wirtschaftssphäre des Ruhrgebiets prägt, als eine überkommene vormoderne Konstellation, die aufgrund der spezifischen Bedingungen der Montanindustrie funktional war und durch diese Funktionalität hier länger erhalten blieb als andernorts. Handelt es sich hier also um Traditionalismus und damit um die Dominanz der traditionalen Form von Vergemeinschaftung? Traditionalismus verstehe ich dabei im Sinne Max Webers: „Es soll [...]: »Traditionalismus« die seelische Eingestelltheit auf und der Glaube an das alltäglich Gewohnte als unverbrüchliche Norm für das Handeln heißen" (Weber 1920: 269). Dabei darf in Rechnung gestellt werden, dass die „seelische Eingestelltheit" ihre Bestätigung und Verstärkung in der Orientierung an Verwandtschaft und ,Sippe' findet. Ein wesentlicher Aspekt des Traditionalismus aus der Perspektive des fortgeschrittenen Rationalisierungsprozesses ist dabei das Zurückbleiben hinter der Ausdifferenzierung der Sphären der Vergesellschaftung aus dem Kern der Vergemeinschaftung, der seinerseits noch nicht seine moderne
Allan Silver hat dies anhand der Gleichzeitigkeit der Ausdifferenzierung der wirtschaftlichen Sphäre und der Transformation von Freundschaftsbeziehungen in einer Analyse der Schriften der schottischen Aufklärer schlagend herausgearbeitet (Silver 2001). Vormodern sind in .Freundschaft' ungeschieden auch quasi-vertragliche Verpflichtungen enthalten. Im Übergang zu marktvermitteltem wirtschaftlichem Handeln bilden sich vertragliche Beziehungen heraus, was ,Freundschaft' zu der diffusen Sozialbeziehung sich verdichten lässt, als die sie in der nachromantischen Moderne rekonstruiert werden muss. 32
264 • 4 Einflussstruktur Gestalt ausgebildet hat. 33 Sich gemäß der ihr eigenen Logik in der Sphäre der Vergesellschaftung zu bewegen, erfordert eine Orientierung an unpersönlichen Regeln, die zwar überkommen sein können, deren Geltungsgrund aber nicht in ihrer Tradiertheit liegt, sondern in ihrer .Rationalität' - sei es die formale Rationalität des Verfahrens ihrer Erzeugung oder der Funktionalität für vorgegebene Ziele, sei es die materiale Rationalität der Sachangemessenheit von Routinen der Krisenlösung. Diese Orientierung ihrerseits ist einem individuierten Subjekt möglich, dessen „seelische Eingestelltheit" nicht durch Subsumtion unter „das alltäglich Gewohnte", sondern im wesentlichen durch Autonomie in Bezug auf die Optionen seines Handlungsraumes gekennzeichnet ist (vgl. S. 58, Skizze 1). Vergesellschaftung setzt also Individuierung voraus; zugleich ist erstere wesentliches Moment letzterer. Wenn nun aber im Zuge dieses Prozesses sich auch der ursprüngliche Kern der Vergemeinschaftung transformiert, so stellt sich die Frage, ob eine Form der Ausdifferenzierung möglich ist, die den Gewinn, den die Befreiung hinein in die Sphären der Vergesellschaftung bedeutet, erlaubte, ohne die Anerkennung als ganze Person, die die Gemeinschaft bietet, aufzugeben. Dies könnte nicht der von Kleist in seiner Schrift über das Marionettentheater beschriebene Weg sein: durch die vollständig rationalisierte Reflexion hindurch von hinten wieder ins Paradies zurück (von Kleist 1985: 342). Es müsste vielmehr ein Weg sein, der die Erinnerung an das Paradies nicht nur in ästhetisch sublimierter Form erlaubte, sondern in einer praktisch inkorporierten Form. 3 4 Diese bestünde in einer autonomen Aufrechterhaltung der diffusen Sozialbeziehungen, mit der nicht deren Indienstnahme durch, sondern deren Akkordanz mit den spezifischen Erfordernissen des jeweiligen Handlungsfeldes einherginge.35
Die unterschiedlichen Formen traditionaler und moderner Vergemeinschaftung zu bestimmen ist m. E. ein Desiderat zeitgenössischer Soziologie. Die Richtung, in der diese Bestimmung vorzunehmen wäre, hat Allan Silver (2001) aufgezeigt; die rein negatorische Bestimmung einer „posttraditionalen Gemeinschaft", wie Ronald Hitzler dies versucht (Hitzler/Pfadenhauer 1997) scheint mir hingegen eher ungeeignet. Demgegenüber bietet die Unterscheidung von zwei Typen oder Ebenen der modernen Form von Gemeinschaft, die Ulrich Oevermann in Anlehnung an Hegels Sittlichkeit von Familie und Staat entwickelt (2000b: 40f.), einen fruchtbaren Ausgangspunkt. 33
Exemplarisch sei dies durch die Äußerung eines Taxifahrers beleuchtet, der im Vorbeifahren an einem abgebrannten Gasthof über den Brandstifter, den Pächter des Gasthofs, sagte, dieser werde seines Lebens nicht mehr froh. Bei Anerkennung der gesellschaftlichen Regeln des Umgangs mit Brandstiftern drückte der Taxifahrer hier ein Mitempfinden mit dem Fremden aus als sei es ein Nahestehender. 34
35 Dies erlaubte „die Verwirklichung des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenzen", wäre der Zustand einer Gesellschaft „in dem man ohne Angst verschieden sein kann." (Adorno 1951: 130f.)
4.2 Wirtschaft qua Vergemeinschaftung • 265
2.5 Fazit In der Diskussion um die Relevanz der Industriekultur für das Innovationsklima (vgl. Bußkamp/Pankoke 1990) im Ruhrgebiet werden, wie wir gesehen haben, immer wieder die historisch gewachsenen Beziehungen zwischen den großen Montanunternehmen und ihren Belegschaften 36 einerseits, die Beziehungen zwischen den Montanunternehmen und ihren Zulieferern andererseits als spezifisch ausgeprägte Beziehungen thematisiert. Erstere seien geprägt durch das einfache Tätigkeitsniveau, durch patriarchalische Muster, durch Zuwanderung; für letztere arbeitete, wie wir sahen, Gernot Grabher heraus, dass es eine quasi feudale Abhängigkeit der Zulieferunternehmen von den dominierenden Montanunternehmen gebe und dass sich eine homogene Weltsicht und eine versteinerte Konsens-Kultur zwischen ökonomischem und politischem System herausgebildet habe (s. o.; vgl. Grabher 1994: 15). Wie herausgearbeitet wurde, gibt es ein Passungsverhältnis zwischen diesen Bedingungen der Montanindustrie und einer Orientierung an Vergemeinschaftung, die für das Ruhrgebiet als ,Region' konstitutiv ist. Die Befunde aus der weiteren Geschichte der Region, die oben dargelegt wurden, haben gezeigt, dass es sich dabei um eine longue durée im Sinne Fernand Braudels (1958) handelt. Die Bestimmung von Genese und Struktur einer Region in einer historisch-soziologischen Strukturanalyse hat die regionalspezifischen Habitusformationen und Deutungsmuster ihrer Bewohner auf der Folie der zu bestimmenden Handlungsprobleme vom Beginn der Besiedlung des sich zu einer Region ausbildenden Gebietes bis heute in ihrer wechselseitigen Bestimmung zu rekonstruieren versucht. So erst kann auch angemessen und umfassend die Frage der ökonomischen Wissenschaften, die die Gesellschaft wiederentdeckt haben, beantwortet werden, die Annalee Saxenian (1994b: 2) so formuliert: Warum antworten unterschiedliche Regionen auf dieselben externen Kräfte so unterschiedlich? Hieß noch 1989 ein Kapitel des dem Zusammenhang von „territory, technology, and industrial growth" gewidmeten Buches von Michael Storper und Richard Walker „How Industries Produce Regions" (70-98), so wird von Storper in seinem mit Robert Salais verfassten Werk (1997) der Kultur — wenn auch in der noch unzureichenden Form von „Conventions" — eine Eigenlogik zugestanden, so dass auch er sich nun die genannte Frage stellt: „why are different real worlds [sc. of production] present in different nations and regions, often in similar product markets?" (a. a. O.: 23) Der Versuch der Beantwortung dieser Frage mit Hilfe einer „économie des Conventions" (Salais/Storper 1992; Storper 1993) bedarf allerdings ebenfalls einer hier vorgeschlagenen kultursoziologischen Fun-
Belegschaft', heute auf alle Großbetriebe angewandt, stammt aus der Montanindustrie, wurde in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts verwendet i. S. v. „Gesamtheit der Beschäftigten, die ein Bergwerk oder eine Hütte betreiben" (Duden 7: 411). Dies wiederum dürfte zusammenhängen mit der Bedeutung ,einen Berg belegen' bzw. ,ein Bergwerk belegen' für ,ein Bergwerk betreiben' (Grimm/Grimm 1854, Sp. 1441). 36
2 6 6 • 4 Einflussstruktur
dierung. Zwar beanspruchen Storper und Salais, to „take seriously the complexity and diversity o f pragmatic problems" (1997: 15), womit sie unserem K o n zept des Handlungsproblems nahe kommen, sie konzeptualisieren aber die Handlungsprobleme individualistisch. 37 Die praktische Realisierung der logisch konstruierten, durch c o n v e n t i o n s ' strukturierten ,idealtypischen' Regionalen Welten der Produktion' ist aber ihrerseits v o n den habituellen Prägungen der Handelnden abhängig. 38 Diese bilden sich als Antworten auf Handlungsprobleme heraus, die für die Handelnden identitätsbestimmend sind. Zwar zielen Storper und Salais mit ihrem K o n z e p t der „like rebuttable hypotheses" gebildeten „Conventions", which „then become second nature through practice" (a. a. O.: 18) offensichtlich auf Vergleichbares ab, reduzieren es dann aber auf „social constructions" (a. a. O.: 19, Kursivierung ausgelassen). Dadurch wird das Moment der Bewährung und damit der Beharrlichkeit von Habitus und Deutungsmuser nicht begriffen. Was die Systematik der „conventions" ausmacht, 39 kann individualistisch nicht bestimmt werden. Es bedarf also eines Konzeptes, das den strukturierenden Einfluss regionaler Soziokultur, die allem individuellen Handeln vorgängig ist, analytisch zu fassen vermag.
37 „uncertainty with respect to the performance and expectations of other actors" (ebd.; Kursivierung i. Orig.) 38 Die Mechanismen, die Storper etwa bzgl. der „existence of industry-specific human capital" im Silicon Valley anführt: „professional culture" und „relatively small numbers and personal reputation effects" (Storper 1993: 447) sind, wie wir gesehen haben, ihrerseits noch erklärungsbedürftig (s. o., Fn. 23). Darüber hinaus ist der Status der Typen, die die „world of production" darstellen, unklar. Warum sind „Market World" und „Industrial World" als eigenständige Typen voneinander getrennt (Storper/Salais 1997: 20f.)? Ist mit „World of Intellectual Ressources" (a. a. O.: 21) nicht das Moment der Innovativität analytisch gefasst, dass jedem unternehmerischen Handeln innewohnt? Gilt nicht gleiches für die „Interpersonal World" (a. a. O.: 20), wobei die Ausweitung dieses Moments allen Handelns zum Konstituens einer „world of production" gerade die Folgen zeitigt, die wir in der Ruhrgebietswirtschaft sahen?
„A convention is a system of mutual expectations with respect to the competences and behaviors of others." (a. a. O.: 42) Dass ein Habitus, eine „convention" „historically constructed and regularly repeated" (a. a. O.: 183; vgl. 295) sei, erklärt weder ihren Ursprung in der Lösung eines Handlungsproblems, noch ihre Hysterese (Bourdieu). So verbleibt die Bestimmung des für die amerikanische Kultur spezifischen ökonomischen Habitus, mit Hilfe dessen die Schwierigkeit der Übertragung amerikanischer ökonomischer Modelle (etwa desjenigen des Jiire and fire', dessen Funktionieren eben wesentlich auch vom raschen „reentry" abhängt - vgl. a. a. O.: 188) erklärt werden soll und erklärt werden könnte, im Deskriptiven: „Thus the economic actors tend to conform to the conventions of identity [...] of American individualism." (a. a. O.: 183) 39
3
Zum Begriff der Region
3.1
Einflusstruktur
„Was immer der Sozialphilosoph oder der Künstler oder, soweit er Künstler ist, der Historiker als das Wesen und den Träger des .Geistes' oder .Charakters' eines Volkes oder einer Epoche erkennen [...] mag - für die Sozialwissenschaft können jene Worte nichts anderes bedeuten, als eine Art zu sein und zu reagieren, eine Disposition, ein Verhalten, das wir im Sinne bestimmter Denk- und Gefühlsgewohnheiten interpretieren [...]. Nichts anderes deckt auch das Wort ,Kultur', [...] nichts anderes auch das Wort Zivilisation' [...]. An der Tatsächlichkeit der Erscheinung, die wir im eben definierten Sinn unter .Volksgeist' verstehen, ist nicht zu zweifeln - zweifelhaft kann nur ihre Natur und Tragweite sein." (Schumpeter 1929: 3).
Der Gegenstand, dem wir in den Worten Schumpeters einen „Geist" oder einen „Charakter" zugesprochen haben, ist die Region ,Ruhrgebiet'; dass wir ihn ihm zugesprochen haben, hatte weniger mit einer intuitiven Erfassung zu tun,1 als damit, dass die Rekonstruktion der Gründe für das Auftreten bestimmter Phänomene, der sie generierenden Strukturen uns zu der Annahme einer bestimmten, regionalspezifischen „Disposition" und entsprechend „bestimmter Denkund Gefühlsgewohnheiten" führte, die genauer als Handlungen und Deutungen generierende Habitus und Deutungsmuster zu bestimmen sind. Die „Fülle fundamentaler Probleme", die Joseph Schumpeter hier ankern sieht (ebd.), sind damit durchaus noch nicht gelöst. Einige Vorschläge dazu, wie dies geschehen könnte, sollen die vorliegende Arbeit abschließen.
Hermann Kotthoff und Josef Reindl kamen in ihrer Branchen und Regionen vergleichenden Untersuchung kleiner Betriebe zu der „zentralen .Einsicht'": „Die regionale Industriegeschichte und Kultur, die sich im Verhalten der Beschäftigten und der Unternehmer manifestiert, wirkt in entscheidendem Maße auf das Herrschaftsgewand der Sozialordnung ein." (1990: 15) Sie sprechen von einer .kulturellen Mitgift des Raums' (a. a. O.: 324) und wir konnten in der Auseinandersetzung mit Grabhers Herausarbeitung der spezifischen Blockierungen im Ruhrgebiet zeigen, dass die Annahme einer solchen .kulturellen Mitgift' manches Erklärungsproblem zu lösen in der Lage ist. Die diesbezüglich vorgelegten Überlegungen könnten dahingehend missverstanden werden, es sei hier eine monokausale Erklärung von regionalspezifischen Phänomenen visiert, als würde also deren einzige Ursache in dem regionalspezifischen Habitus der Bewohner einer Region gesehen. Dies wäre ein reduktio-
1 Gleichwohl nehmen wir es als einen Hinweis für die Angemessenheit der Zuschreibung, dass die Ergebnisse nicht kontraintuitiv sind und gut zu den Primärerfahrungen in der Region passen.
2 6 8 • 4 Einflusstruktur
nistisches Missverständnis, das zwei Aspekte umfasst. — Der eine ist in den Ausdrücken ,mor\okausaf und .Ursache' enthalten. Kausale Erklärungen2 sind dem Gegenstand ,Handeln' als .regelgeleitete Form des Verhaltens' grundsätzlich nicht angemessen. Wenn es an der vielzitierten Stelle bei Max Weber heißt: „Soziologie [...] soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will." (Weber 1972: 1), so ist der Akzent auf „dadurch" zu legen, was allerdings einen Widerspruch zutage treten lässt. Dieser lässt sich auflösen, indem „ursächlich" hier als .seinen Gründen nach' verstanden wird. Erklärungen3 für Phänomene der sinnstrukturierten Welt sind immer bezogen auf Gründe, nicht auf Ursachen. Gründe lassen sich rekonstruktiv bestimmen, sind aber angesichts der konstitutiven Autonomie von Praxis und damit der Offenheit von Zukunft keinesfalls hinreichende Bedingungen für ihre Folgen. Gründe müssen allerdings - um nun nicht andererseits ein handlungstheoretisches Missverständnis aufkommen zu lassen — keineswegs immer intentional realisiert worden und bewusst handlungsleitend sein. Die Genese einer Fallstruktur, so etwa in die Genese der Fallstruktur einer Region, ist ein komplexer Prozess, in den selbstverständlich vielfältige historische Konstellationen ebenso wie physikalisch und biologisch bestimmbare Bedingungen als Momente eingehen. Diese Konstellationen und Bedingungen werden aber zu Momenten der Strukturgenese und -transformation, eben indem sie für eine Praxis bedeutsam werden. - Eingedenk dieser Komplexität soll der andere Aspekt noch kurz beleuchtet werden: ,«ö«ökausal'. Eine Verschränkung des hier fokussierten Momentes der soziokulturellen Konstitution einer Region: des habituellen, mit anderen Aspekten kann und soll natürlich nicht systematisch ausgeschlossen werden; es handelt sich lediglich um eine thematische Begrenzung. Nehmen wir etwa jenen „crucial factor", den Mario Pezzini nennt: „the diffusion of technical know-how" (Pezzini 1989: 234) und von der wirtschaftlichen Vergangenheit der Region abhängig macht,4 so
Bezugspunkt ist hier die strenge Fassung von Kausalität, der gemäß die Ursache-WirkungsBeziehung zwischen X und Y impliziert, dass X die notwendige und hinreichende Bedingung für Y ist, dass also dem Auftreten von Y stets X vorausging und dem Auftreten von X stets Y folgt (vgl. die Artikel .Kausalität', ,Kausalanalyse' in Koschnik 1992 und .Ursache' in Koschnik 1993). 2
Es geht hier nicht um die notorische Differenz zwischen .erklären' und .verstehen', die in der Debatte um die Begründung hermeneutischer Verfahren eine so große Rolle spielte. Spät aber treffend wurde die Überhöhung dieser Differenz durch Manfred Bierwisch kritisiert, der nüchtern feststellte, dass gemäß der üblichen Redeweise „erklären einfach das kausative Verb zu verstehen" ist (2002: 153; Kursivierung i. Orig.). 3
„Whether or not the family-run farms of the past have helped to structure the later labour market and bring about a social atmosphere conducive to entrepreneurial activity or the formation of artisan entrepreneurs, it is certain that these are a good forecaster of future smallfirms development." (a. a. O.: 233) - An einer weiteren Stelle bringt Pezzini das Moment der kulturellen Formung ins Spiel, wenn er schreibt: „Finally, the culture of work which is deeply 4
4.3 Zum Begriff der Region • 269
zeigt sich z. B., dass für die Verbreitung und die Raffinierung technischen Wissens das Vorhandensein von technischen Ausbildungsstätten einen wichtigen Faktor darstellt, aber natürlich hängt auch dies mit der habituell verankerten Innovationsbereitschaft und Akzeptanz einer technischen Ausbildung zusammen. 5 Zugleich gibt es, wie wir gesehen haben, sowohl die Reproduktion des Habitus stabilisierende als auch seine Transformation fördernde Momente der historischen Entwicklung von Regionen.
Auch was die „politische Kultur" des Ruhrgebiets angeht, so ist, wie wir gesehen haben, ihre spezifische Gestalt nur erklärbar, wenn eine Einflussstruktur der Region angenommen wird, die sich auf der Ebene der Habitusformation der Bewohner der Region realisiert und in den Momenten einer Orientierung an Primärgruppenvergemeinschaftung und einer leistungsethischen Ausrichtung auf gemeinschaftliche Anerkennung von kraftvoller Bewältigung anstehender Aufgaben ihren Ausdruck findet. 6
ingrained in such families leads them to accept working conditions which others might refuse, and for longer periods." (a. a. O.: 226) Max Webers wichtige Unterscheidung von „kapitalistischer Form" und „kapitalistischem Geist" erlaubt die erforderliche analytische Differenzierung: „Die ,kapitalistische' Form einer Wirtschaft und der Geist, in dem sie geführt wird, stehen zwar generell im Verhältnis adäquater' Beziehung, nicht aber in dem einer gesetzlichen' Abhängigkeit voneinander." (Weber 1920: 49) — Diese Differenzierung schützt auch vor Verkürzungen, denen oft die — als meist ,von unten' betriebene und häufig von einem praktischen Impuls getriebene - Sozialgeschichte unterliegt. So etwa, wenn als Erklärung für die Homogenität des Reviers angeboten wird, dass „die Bevölkerung insgesamt [...] seit der Industriellen Revolution in überwältigendem, unvergleichlichem - wenngleich seither in einem viele Jahrzehnte beanspruchendem Prozeß abnehmendem - Ausmaß durch die Schwerindustrie in ein Klassenverhältnis gezwängt worden ist, das sich durch weitgehend gleiche Arbeits- und Lebensverhältnisse in Lohnabhängigkeit auszeichnete" (Tenfelde 1990: 146f.; Kursivierung hinzugefügt). Weder ist die .Unvergleichlichkeit' ein Kriterium für kausale Zusammenhänge, noch erklärt das Klassenverhältnis die Lebens und Arbeitsbedingungen, zumal diese nur „weitgehend gleich[..]" sind. Auch die Hysterese des Habitus bei „abnehmendem Ausmaß" des Zwangs bedarf einer Bezugnahme auf den handelnden Umgang mit diesem Zwang. 5
6 Rolf Lindner stellt die „These vom erweiterten Verwandtschaftssystem als regionalem Vergesellschaftungsmodus" auf (1994b: 218). Dem ist inhaltlich zuzustimmen, aber sein Erklärungsvorschlag „Ethos der Region" (so der Titel des Aufsatzes) mit Bezugnahme auf ethnographische Konzepte, auf Bourdieus Konzept der Lebensstile und auf Max Webers Theorem der Lebensführung ist, wie wir sehen werden, nicht hinreichen. Es bleiben eben immer noch die Fragen, warum eine spezifische Weise der Lebensführung „für .schicklich' gilt" (Weber 1972: 219), und, warum ihre Schicklichkeit auf bestimmte Weise (etwa streng oder liberal) wirksam ist.
270 • 4 Einflusstruktur In den historischen Konstellationen, so haben wir im zweiten Kapitel dieser Arbeit sehen können, wurden die Angehörigen der Region immer wieder mit spezifischen Handlungsproblemen konfrontiert, für welche die bereits ausgebildeten Habitusformationen und Deutungsmuster überkommene Lösungen bereithielten, was die Orientierung am Überkommenen seinerseits stärkte. Da ein punktueller Ursprung dieser Bewegung nicht rekonstruierbar ist, erscheint sie als Zirkel und die auf ihr aufbauende Erklärung als zirkulär. Dies ist notwendig so. In der Analyse lässt sich stets nur willkürlich ein Handlungsproblem identifizieren, das immer schon Handlungsproblem für eine spezifische Praxis ist. Dann aber kann das diese Praxis bestimmende generative Prinzip rekonstruiert werden, indem die bestimmten Lösungen des Problems, die die Praxis selegiert bzw. hervorbringt, vor der Folie der rekonstruierbaren möglichen Lösungen abgebildet werden. Warum hält Herr Hofmeister daran fest, dass er - auf verlorenem Posten, wie eine unvoreingenommene Analyse sofort zeigt — ,seinen Meister schon noch machen kann' (vgl. S. 157-161)? Warum wird die Möglichkeit zur Fortbildung, die zu ergreifen angesichts des Arbeitsmarkts und dem öffentlichen Diskurs über die Notwendigkeit des Wissens auf demselben als erforderlich auf der Hand liegt, im Ruhrgebiet so wenig ergriffen? Das Handeln der Bewohner des Reviers ist offensichtlich auf eine strukturierte Weise beeinflusst, die sie — ohne Willen und Bewusstsein — bestimmte Entscheidungen treffen lässt. Wie ist nun das Verhältnis von Einflussstruktur und Habitusformation, das implizit immer wieder thematisch war, zu denken? „Habitusformationen entstehen in kriterialen Phasen der Ontogenese, sind ähnlich wie Deutungsmuster Ausdruck von Krisenlösungen und Krisenbewältigungen und als solche tief ins — nicht unbedingt dynamische - Unbewußte hinabgesunken." (Oevermann 2001b: 45f.)
In die Lösung von Krisen, anders formuliert: in die Lösung von Handlungsproblemen, die eine Person in ihrer Bildungsgeschichte zu lösen hat, geht unter der konstitutiven Dialektik von Entscheidung und Selbstrechtfertigung vermittels der Anerkennung dieser Rechtfertigung durch die für sie relevanten Anderen 7 das von diesen Anderen bereitgehaltene Tableau v o n Handlungs- und Deutungsmustern, die auch schon Momente der Konstitution der Handlungsprobleme darstellten, ein. Damit wird das Individuum im Prozess der Entfaltung seiner Bildungsgeschichte sozialisiert. Die unausgesprochene Maximen der Lebensführung (vgl. Loer 1996: 311) werden nun offensichtlich von den Angehörigen einer Region unausgesprochen geteilt. 8 Insofern hat die Region eine spezifische Gestalt, der eine rekonstruierbare Fallstruktur zugrundeliegt.
7 8
„The generalized other is the attitude of the whole community." (Mead 1934: 154)
Dies ist die Grundlage für das von Lindner thematisierte Ethos, das seinerseits eine Folge der zugrundeliegenden handlungsgenerierenden Strukturen ist, an welcher man sie erkennen kann. Das Ethos stellt also eher eine ratio cognoscendi als eine ratio essendi dar.
4.3 Zum Begriff der Region • 271
Nun ist aber der Begriff,Fallstruktur' in der objektiven Hermeneutik - und nur hier hat der Terminus begrifflichen Rang9 — aus gutem Grund auf Fälle mit einer Entscheidungsmitte beschränkt: „Fallstrukturen [...] muß man [...] sich denken als je eigenlogische, auf individuierte Bildungsprozesse zurückgehende Muster der Lebensführung und Erfahrungsverarbeitung, mehr noch: als je eigene, Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebende Lebens- und Weltentwürfe und Entscheidungszentren." (Oevermann 2000a: 123)
Eine Region selbst aber - wenn sie nicht politisch verfasst ist - handelt in der Regel nicht, hat keine Entscheidungsmitte.10 Deshalb borgten wir uns von dem Historiker Peter Steinbach den Terminus ,Einflussstruktur' (vgl. S. 15, Fn. 11). Welche theoretischen Drachmen das Wuchern mit dem Pfund dieser Anleihe einbringt, soll im folgenden abgeschätzt werden.
3.2
Perspektiven einer Theorie der Einflussstrukturen
3.2.1 Der Begriff der Ein flussstruktur Der Begriff der Einflussstruktur, mit dessen Hilfe hier auf der Ebene der Region bestimmte Phänomene verstehbar und erklärt wurden, ist, so wurde eben angedeutet, gekennzeichnet durch eine spezifische Differenz zum Begriff der Fallstruktur in der objektiven Hermeneutik, wie er soeben erläutert wurde: er kennzeichnet einen Fall ohne Handlungsmitte. Das genus proximum beider lautet also ebenfalls ,Fallstruktur', worin sich ausdrückt, dass die fallprägende Kraft von Strukturen zunächst und zumeist an Fällen qua Entscheidungsinstanzen rekonstruiert wurde und wird. In der objektiven Hermeneutik hat dieser Begriff der Fallstruktur sowohl in der Konstitutionstheorie als auch in der Methodologie eine zentrale Rolle inne. Die Struktur eines Falles ist die Erzeugungsformel seiner Handlungen, in denen sie sich zugleich realisiert. Die Handlungen einer Handlungsinstanz, sei diese ein Individuum oder ein Kollektiv, sind stets Entscheidungen als Auswahl aus durch Regeln eröffneten Optionen. Diese Entscheidungen geben einer Systematik, einer Gesetzlichkeit Ausdruck: eben der Fallstrukturgesetzlichkeit (Oevermann 2000a: 119). Regionen sind, wie wir am Fall des Ruhrgebiets gesehen haben, ebenfalls strukturierte Gebilde, sie haben eine Fallgestalt. Gleichwohl können sie — wie gesehen — keine Entscheidungen treffen. Entscheidungen, auch solche, die die Region betreffen, werden von Angehörigen der Region getroffen. 11 Dem Handeln der Angehörigen der Region
9
Dies lässt sich unschwer an den Beiträgen in Kraimer 2000 festmachen.
Beim Ruhrgebiet gilt das ja gerade als Problem; und obwohl hier das Fehlen einer Entscheidungsmitte besonders ausgeprägt ist, konnten wir doch eine Gestalt der Region rekonstruieren und ihre Genese verfolgen. 10
11 Auch bei verfassten Gemeinschaften treffen Personen die Entscheidungen für diese Gemeinschaft — so könnte man entgegenhalten. Da diese Personen aber die Entscheidungen qua
2 7 2 • 4 Einflusstruktur
kommt, wie ebenfalls zu sehen war, eine Regionalspezifik zu, die erklärt werden kann, wenn wir von einer regionalspezifischen strukturierenden Kraft ausgehen. Eine Region ist also ein Fall, der als historisches Individuum (vgl. S. 12f.) eine Bildungsgeschichte hat, die sich durch das Handeln seiner Angehörigen in Entscheidungen ausdrückt, selbst aber nicht handelt, keine Entscheidungsinstanz darstellt. Dies teilt die Region mit anderen historischen Gebilden wie Generationen, Milieus etc. Sie ist also ein Fall ohne Handlungsmitte, weshalb ihre Strukturgesetzlichkeit keine Handlungen generiert, aber eben Handlungsinstanzen auf strukturierte Weise in ihren Handlungen beeinflusst; dies bringt der Terminus ,Einflussstruktur' auf den Begriff.
3.2.2 Region Die vorliegende Arbeit hat sich auf die Rekonstruktion einer Einflussstruktur beschränkt, die als Erklärungsmoment für viele der in der reichhaltigen Literatur über das Ruhrgebiet — aber auch über andere Regionen — herausgestellten Phänomene gelten und viele dort implizit enthaltene Erklärungsdesiderata befriedigen kann. Dies müsste nunmehr in die Herausarbeitung der konkreten Verschränkungen von Einflussstruktur und anderen Ebenen der Strukturierung einer Region — etwa jener der politischen Institutionen, wie sie u. a. in Arbeiten wie derjenigen über die verhinderte Städtebildung von Detlev Vonde (1989) oder Lutz Niethammer (1976) thematisch ist — münden. Dies führt zu einer wichtigen Unterscheidung, die in den Termini „Einflußstrukturen und -faktoren" von Peter Steinbach (1981: 208) nur implizit und unzureichend gemacht wird. Die Kategorie ,Handlungsproblem' (vgl. S. 2124) führt da weiter. In das Handlungsproblem gehen ,Faktoren' ein, die es selbst wie die Möglichkeiten seiner Lösung beeinflussen. So ist die Beschaffenheit des Bodens physikalisch bestimmt und der Bauer ist objektiv gezwungen, sich damit auseinanderzusetzen, wenn anders er Landwirtschaft betreiben will; ebenso ist der Niedergang der Weltmarktpreise eines überkommenen Werkstoffs ein ,Einflussfaktor', mit dem die Führung eines Stahlbetriebs etwa sich auseinandersetzen muss, wenn anders sie ihren Betrieb weiterführen will. Dass aber das Handlungsproblem für die jeweilige Praxis, den Bauern, die Betriebsführung, zum Handlungsproblem überhaupt wird und in welcher Weise es dies wird, wird generiert durch die Handlungs- und Deutungsmuster, die die Momente Fallstrukturgesetzlichkeit dieser Praxis darstellen und strukturierend beeinflusst durch die Strukturen der jeweiliegen übergeordneten Fälle, von denen eine die Region, andere Milieus, Generationen etc. sind (vgl. Oevermann 2000a: 73f.).
Amt treffen, ist es die verfasste Gemeinschaft selbst, die hier entscheidet. Dies kann man exemplarisch an der Verbindlichkeit der Entscheidungen einer Gemeinschaft sehen, die erhalten bleibt, wenn die Personen, die die Entscheidung qua Amt getroffen haben, etwa durch Wahl durch andere ersetzt werden.
4.3 Zum Begriff der Region • 273
3.2.3 Milieu, Szene, Generation etc. Bei der Analyse von sozialen Kollektivgebilden trägt der Begriff der Einflussstruktur insofern zu Klärungen bei, als mit ihm die Ebene der durch das kollektive Gebilde geprägten Habitusformation seiner Angehörigen gezielt rekonstuiert und auf den Begriff gebracht werden kann. Dadurch gelingt es etwa Milieus von Szenen zu unterscheiden, ohne der Verführung des Terminus Individualisierung' zu erliegen. Milieus prägen nämlich als Einflussstrukturen sozialisatorisch ihre Angehörigen derart, dass diese in ihnen sich als mit Handlungsproblemen konfrontiert erfahren derart, dass sie zugleich — bewährte — Lösungs- und Deutungsmuster für dieselben realisieren. Szenen hingegen sind Gebilde, in die man sich hineinbegibt, die zu ihnen gehörigen Situationen genießend, um sie dann wieder zu verlassen. Sie prägen ihre Angehörigen nicht qua Einflussstruktur, da sie weder Handlungsprobleme vorhalten noch Lösungs- und Deutungsmuster, sondern Stile. Ob man sich aber Stilen unterwirft, mit ihnen spielt oder sie meidet, ist generiert auf der Ebene der von Einflussstrukturen geprägten Habitusformatiön. Auch die Gesetzlichkeit von Generationen lassen sich als Einflusstrukturen begreifen was ein Rückblick mit dem hier nun vorliegenden Instrumentarium auf die obigen Ausführungen zu diesem Thema offenbart (vgl. S. 92-96): Durch „die prägende Gewalt neuer Situationen" (Mannheim 1929: 534) mit einem Problem konfrontiert, für dessen Begreifen keine Deutungsmuster (vgl. Oevermann 1973, 2001b, 2001c; Honegger 1978: 25-34), für dessen Lösung ihr keine Handlungsmuster (vgl. Loer 1996: 310ff.; von Harrach/Loer/ Schmidtke 2000: 81 ff.) zur Verfügung stehen, entwickelt die betreffende Generation Deutungs- und Handlungsmuster die künftig das Handeln der ihr Angehörenden strukturiert.
Dass Erproben der Begrifflichkeit zusammengenommen mit dem entsprechenden fallrekonstruktiven Verfahren, mit dem Fälle von Gebilden, die durch ihre Einflussstrukturen auf den Begriff gebracht werden können: Fälle von Regionen, Fälle von Milieus, Fälle von Generationen, Fälle von Kulturen, etc., stünde nun an - zur Prüfung der Tragfähigkeit des Begriffe wie zu seiner Ausfaltung in reichhaltige, erfahrungsgesättigte Objekttheorien.12
12 Mittlerweile hatte ich Gelegenheit, das Konzept bei Untersuchungen zur lettischen Kultur zu prüfen: Loer 2006b, c; Loers 2007.
274 • 4 Einflusstruktur
3.3
Postscriptum
Das Ruhrgebiet wurde hier ja nicht lediglich als Beispiel benutzt, sondern als Fall von Region analysiert und damit in seiner Gestalt rekonstruiert. Damit stellt sich die in der umfangreichen Literatur meist vorrangige Frage nach der Zukunft des Reviers, die mit der rekonstruierten Einflussstruktur kompatibel ist — es ist dies die Frage nach den ,endogenen Potenzialen' (Läpple 1995: 48f.). M. E. ist ein diesbezüglich sinnvolles Unterfangen einzig, nach Feldern der Betätigung für die Vergemeinschaftungsorientierung und die auf Anerkennung in der Gemeinschaft gerichtete Schaffenskraft zu suchen statt die Hoffnung auf eine Verpflanzung der andernorts unter Bedingungen der ausdifferenzierten bürgerlichen Gesellschaft erfolgreichen Modelle moderner Ökonomie ins Revier zu setzen. Kein großes Gemälde, aber doch einen kleinen croqui will ich mir erlauben: vielleicht kann das Revier den Sässigkeit suchenden ,hobos' unserer modernen Gesellschaft eine Heimstatt geben.
Anhang Literatur „Eine [• • •] Unsitte, die immer mehr in Gelehrtenkreisen einreißt, ist die: Literaturübersichten zu geben, ohne die angeführten Werke zu kennen. Beim heutigen Stande unserer bibliographischen Technik ist es dann nicht schwer, beliebig lange Listen von Büchern aufzustellen, die freilich nur dem Laien den Eindruck der Gelehrsamkeit machen, während der Eingeweihte meistens die Eselsbrücken bemerkt, denen die Listen ihre Entstehung verdanken. Einem solchen Unfug sollte mit der stillschweigend angenommenen Regel gesteuert werden, kein Buch in einer Literaturübersicht anzuführen, von dessen Verwendbarkeit für den bestimmten Zweck man sich nicht hinreichend unterrichtet hat." (Sombart 1928: XXIII) Abbott, Andrew (1992): What do cases do? Some notes on activity in sociological analysis. In: Charles C. Ragin & Howard S. Becker (eds.): What is a Case? Exploring the foundations of social inquiry, Cambridge: 53-82 Abelshauser, Werner (1983): Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland (1945-1980). Frankfurt/M. Abrams, Lynn (1992): Zur Entwicklung einer kommerziellen Arbeiterkultur im Ruhrgebiet (1850-1914). In: Dagmar Kift (ed.): Kirmes, Kneipe, Kino: Arbeiterkultur im Ruhrgebiet zwischen Kommerz und Kontrolle (1850-1914), Paderborn: 33-59 Adler, Alfred (1929): Lebenskenntnis. Frankfurt/M. 1978 Adorno, Theodor W. (1951): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt/M. 1984 — (1955): »Betriebsklima« und Entfremdung. In: Ders.: Gesammelte Schriften Bd. 20,2. Vermischte Schriften II, Frankfurt/M. 1986: 674-684 — (1966): Funktionalismus heute. In: Ders.: Ohne Leitbild. Parva Aestetica, Frankfurt/M. 1981: 104-127 Allert, Tilman (1993): Familie und Milieu. Die Wechselwirkung von Binnenstruktur und Außenbeziehung am Beispiel der Familie Albert Einsteins. In: Thomas Jung & Stefan Müller-Doohm (eds.): „Wirklichkeit" im Deutungsprozeß. Verstehen und Methoden in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Frankfurt/M.: 329-357 Anderson, Nels (1965): The Hobo. The sociology of the homeless man. Chicago, London AKKZG (2000): Arbeitskreis für kirchliche Zeitgeschichte, Münster: Konfession und Cleavages im 19. Jahrhundert. Ein Erklärungsmodell zur regionalen Entstehung des katholischen Milieus in Deutschland. In: Historisches Jahrbuch 120: 358-395 Aring, Jürgen, Bernhard Butzin, Rainer Danielzyk & Ilse Heibrecht (1989): Krisenregion Ruhrgebiet?. Alltag, Strukturwandel und Planung. Oldenburg Assmann, Aleida, Jan Assmann (1990): Einleitung: Schrift - Kognition - Evolution. Eric A. Havelock und die Technologie kultureller Kommunikation. In: Eric A. Havelock: Schriftlichkeit. Das griechische Alphabet als kulturelle Revolution, Weinheim: 1-35
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Transkriptionszeichen • 299
Transkriptionszeichen (')
sehr kurze Pause
(•)
kurze Pause
(n) (Für n > 1 Sekunde)
lange Pause (n Sekunden)
füüür, jaaa
lang gesprochen
(lacht), (hüstelt), (räuspert)
non-verbal
(Lachen)
non-verbal (wenn Person nicht zuzuordnen)
{...
Gleichzeitigkeit
[eigene Interpretation] oder [unverständlich]
Unverständliches
betont
Betont
Satypassage kursiv [laut]
Laut gesprochen (dies gilt auch für leise gesprochene Passagen und andere Kommentierungen, keine Fußnoten einfügen) Ausruf starke Stimmhebung leichte Stimmhebung Stimmsenkung leichte Stimmsenkung schwebend
D.h.: Satzzeichen haben keine Interpunktions-, sondern Intonationsfunktion: Sie geben die Satzmelodie wieder.
Petrus Han
Theorien zur internationalen Migration Ausgewählte interdisziplinäre Migrationstheorien und komprimierte Zusammenfassung der zentralen Aussagen 2006. X/300 S„ kt. € 19,90. UTB 2814. ISBN 978-3-8252-2814-9 Der Strukturwandel der kapitalistischen Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert hat die Bedingungen für die internationale Migration kontinuierlich und grundlegend verändert. Die Migrationsforschung stellt sich mit sukzessivem Paradigmen Wechsel auf diese Veränderungen ein: Assimilation, ethnischer Pluralismus, Feminisierung, Transmigranten und Transnationalismus, Migration als Funktion steigender Mobilität des Kapitals und Kosten-Nutzen-Analyse der Migration. Das vorliegende Buch versteht sich als Grundlagenwerk, das Studierende, thematisch Interessierte und Politiker in relevante interdisziplinäre Theorien zur internationalen Migration einführt. Diese Theorien sind zugleich Spiegelbild und Steuerungsinstrument gesellschaftlicher Entwicklungen und dokumentieren die kulturellen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Kontexte der internationalen Migration.
Ingo Baiderjahn
Standortmarketing Forum Marketing & Management, Bd. 1 2000. X/161 S., kt. € 24,50,-. ISBN 978-3-8282-0125-5 Das Buch liefert in gut strukturierter Form grundlegende Hinweise zur Entwicklung einer Standortmarketing-Konzeption. Dazu gehört eine umfassende Standortanalyse, die Formulierung von Leitlinien und Zielen der Standortentwicklung sowie die Implementierung von Strategien zur Profilierung eines Standortes und die Durchführung geeigneter Maßnahmen. Die Grundlage für den Einsatz des Marketing für die Standortvermarktung stellen genaue Kenntnisse über das Standortverhalten von privaten Unternehmen dar. Diesem Thema ist deshalb ein eigenständiges Kapitel gewidmet. Darüber hinaus müssen die spezifischen Vermarktungsbedingungen bei Standorten berücksichtigt werden. Das Buch richtet sich sowohl an Studenten von Universitäten und Fachhochschulen sowie an Wissenschaftler, die einen schnellen und übersichtlichen Einstieg in das Thema wünschen. Insbesondere ist es aber für Praktiker geeignet, die sich in ihrem Arbeitszusammenhang mit Fragen des Standortmarketings und der Wirtschaftsförderung beschäftigen. Das Buch verwendet zur Illustration zahlreiche Fallbeispiele aus der Praxis des Standortmarketing.
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