Die Reformation 1517: Zwischen Gewinn und Verlust [1 ed.] 9783666564819, 9783525564813


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Die Reformation 1517: Zwischen Gewinn und Verlust [1 ed.]
 9783666564819, 9783525564813

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Cezary Lipiński / Wolfgang Brylla (Hg.)

Die Reformation 1517 Zwischen Gewinn und Verlust

Academic Studies

66

Refo500 Academic Studies Herausgegeben von Herman J. Selderhuis In Zusammenarbeit mit Christopher B. Brown (Boston), Günter Frank (Bretten), Bruce Gordon (New Haven), Barbara Mahlmann-Bauer (Bern), Tarald Rasmussen (Oslo), Violet Soen (Leuven), Zsombor Tóth (Budapest), Günther Wassilowsky (Frankfurt), Siegrid Westphal (Osnabrück).

Band 66

Cezary Lipin´ski / Wolfgang Brylla (Hg.)

Die Reformation 1517 Zwischen Gewinn und Verlust

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: 3w+p, Rimpar Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-0165 ISBN 978-3-666-56481-9

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Lesarten der Geschichte Heinz Schilling Der Mönch und das Rhinozeros

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wolfgang Reinhard Reformation global? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Johanna Schmid Was es bringt, katholisch zu sein. Katholische Konfessionalisierung durch die Fugger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

Anna Mikołajewska Neue Preußen, echte Preußen. Die Stadt Thorn als Erinnerungsort der Reformation im Werk Christoph Hartknochs (1644–1687) und Samuel Luther Gerets (1730–1797) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wacław Pagórski Reaktionen auf die Vertreibung der Sozinianer aus dem Königreich Polen-Litauen (1658–1660) im deutschen Sprachraum . . . . . . . . . . .

77

II. Literarische Annäherungen Cora Dietl Reformationsjubiläum 1617 in Stettin. Heinrich Kielmanns Komödie Tetzelocramia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Joanna Godlewicz-Adamiec Reformation und die mittelalterliche Tradition im Licht der didaktischen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Sławomir Les´niak Warum sich Luther und der Essay schlecht vertragen? Zur Reformation aus literaturwissenschaftlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Stefan Lindinger Die andere Reformation. Jan Hus und die Hussiten in der deutschen Literatur- und Kulturgeschichte: August von Kotzebues ‚vaterländisches Schauspiel‘ Die Hussiten vor Naumburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Tomasz Szybisty Prophet und Heiliger der Reformation? Konfessionelle Aspekte des Dürer-Bildes in den Romanen von Armin Stein, Rudolf Pfleiderer und Hermann Clemens Kosel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Gabriela Jelitto-Piechulik Ricarda Huchs Lutherprojektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

III. Ästhetisch-kulturelle Verortungen Wolfgang Brylla Luther, Playmobil und Popkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Jerzy Kała˛z˙ny Martin Luther in der deutschen Erinnerungskultur . . . . . . . . . . . . . 197 Cezary Lipin´ski Wider die „groben kunst vertrücker“. Die Reformation und der Paradigmenwechsel in der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Franz Josef Merkl biblisch gemäl und des Mahlers Peter Paul Rubens Altar Tafl. Konfessionalisierung und Kunst im Herzogtum Pfalz-Neuburg 1540–1650 241 Albrecht Classen Valentin Weigel und der Protestantismus. Die Suche nach Toleranz im 16. Jahrhundert als Suche nach Gott in der Seele . . . . . . . . . . . . . . 259

Inhalt

7

IV. Geschlechterdiskursive Perspektivierungen Mirosława Czarnecka Reformation und Geschlechterdiskurse. Eine Re-Vision . . . . . . . . . . 273 Arletta Szmorhun Martin Luthers Auffassung von Weiblichkeit, Körperlichkeit und Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

V. Noten zu einer Reformation der Sprache Michail L. Kotin Luthers deutsches Sprachschaffen und Sprachwandel in der binnendeutschen Standardvarietät . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Anita Fajt Das sprachliche Erbe der Lutherbibel bei Johann Arndt

. . . . . . . . . . 319

Vorwort Die Heiligenlegenden entlarvte Luther als Märchen. An den Bibellegenden hielt er fest; am Teufelsglauben auch; am Hexenwahn auch; an der Ketzervertilgung auch; am Antisemitismus auch, am Kriegsdienst, an der Leibeigenschaft, den Fürsten. Man nennt es: Reformation. (Karlheinz Deschner: Kriminalgeschichte des Christentums, Hamburg 2004, Bd. 8, 383.)

Zeit seines Lebens neigte Goethe, der schon in jungen Jahren sehr bibelfest war, zu Themen, die sich um die weit gefassten Begriffe der Religion und Religiosität rankten. Seine kritische Haltung in diesen Angelegenheiten, zusammen mit der bereits in den 1770er Jahren vollzogenen Wendung zum Pantheismus, brachten ihm im Nachhinein den Vorwurf des Atheismus ein, was ihn allerdings wenig bis gar nicht scherte, zumal er sich selbst weder als „Widerchrist“ noch „Unchrist“, stattdessen als „dezidierter Nichtchrist“1 zu erkennen gab. Auch vor Luther, der Reformation und dem Protestantismus machte der Dichter nicht Halt, was schon verwundern kann, wenn man seine (zugegebenermaßen konventionellen) lutherischen Wurzeln bedenkt. Warum sollte ich leugnen, daß der Anfang der Reformation eine Mönchszänkerei war und daß es Luthers Intention im Anfang gar nicht war, das auszurichten, was er ausrichtete. Was sollte mich antreiben, die Augsburgische Konfession für was anders als eine Formel auszugeben, die damals nötig war und noch nötig ist, etwas festzusetzen, das mich aber nur äußerlich verbindet und mir übrigens meine Bibel läßt.2

Die Distanziertheit des jungen Goethe (1773) gegenüber der Reformation, bei gleichzeitiger Anerkennung der Befreiungsleistung des „großen Mannes“ (Luther), steht symptomatisch für die Ambivalenz, von der das Verhältnis vieler deutscher Intellektueller zu dieser Bewegung geprägt war und ist. Die reformatorischen Errungenschaften in einem Bereich gingen doch nicht selten zu Lasten anderer Sphären, was ein befremdliches paradigmatisches Spannungsfeld zwischen Gewinn und Verlust etablierte. So überrascht auch nicht die Irritation des alten Goethe angesichts der Aufdringlichkeit der Bittsteller, die alle Hebel in Bewegung setzten, ihn für die Feierlichkeiten des 300. Jubiläums der Reformation zu gewinnen. 1 Goethes Brief an Johann Caspar Lavater vom 29. April 1782 zitiert nach: Goethes Werke, Bd. 12, München 121994, 695. 2 Johann Wolfgang Goethe, Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***, in: Goethe (Berliner Ausgabe), Bd. 17, S. Seidel (Hg.), Berlin/Weimar 1970, 279.

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Vorwort

Pfaffen und Schulleute quälen mich unendlich, die Reformation soll durch hunderterley Schriften verherrlicht werden; Maler und Kupferstecher gewinnen auch was dabey. Ich fürchte nur, durch alle diese Bemühungen kommt die Sache in’s Klare, daß die Figuren ihren poetischen, mythologischen Anstrich verlieren. Denn, unter uns gesagt, ist an der ganzen Sache nichts interessant als Luthers Charakter und es ist auch das Einzige, was der Menge eigentlich imponirt. Alles Übrige ist ein verworrener Quark, wie er uns noch täglich zur Last fällt.3

Die Reformation als eine One-Man-Show? Sachlicher und umfassender wurde die Kritik der reformatorischen Bewegung, die aus der Feder des Pfarrersohns Friedrich Nietzsche stammte. Dieser sah sie zunächst kulturgeschichtlich als ein Unglück, „ein grobes, biederes Mißverständnis, an dem viel zu verzeihen ist“4, eine „Ressentiment-Bewegung“5 und „gröbste Form der moralischen Verlogenheit unter der ‚Freiheit des Evangeliums‘“6, „ein wüstes und pöbelhaftes Gegenstück zur Renaissance Italiens“7 schließlich „eine Rekrudeszenz der christlichen Barbarei“8 an. Luther selbst, dieser „unmögliche Mönch“, der „aus Gründen seiner ‚Unmöglichkeit‘, die Kirche angriff und sie – folglich! – wiederherstellte“9, der sich „mit allen rachsüchtigen Instinkten eines verunglückten Priesters im Leibe, […] in Rom gegen die Renaissance“10 empörte, ist bei Nietzsche eine recht zwiespältige Figur. Man übersieht heute gut genug, wie Luther in allen kardinalen Fragen der Macht verhängnisvoll kurz, oberflächlich, unvorsichtig angelegt war, vor allem als Mann aus dem Volke, dem alle Erbschaft einer herrschenden Kaste, aller Instinkt für Macht abging: so daß sein Werk, sein Wille zur Wiederherstellung jenes Römer-Werks, ohne daß er es wollte und wußte, nur der Anfang eines Zerstörungswerkes wurde.11

Die bedeutendste Leistung des Reformators bestand für den Philosophen „in dem Mißtrauen, welches er gegen die Heiligen und die ganze christliche vita contemplativa geweckt“12, womit er „einer unchristlichen vita contemplativa in Europa“ den Weg geebnet habe. Auf diese Art und Weise soll er den Grundstein 3 Johann Wolfgang Goethe, Brief an Carl Ludwig von Knebel vom 22. August 1817, in: Goethes Werke, Bd. 28, Weimar 1887–1912, 227. 4 Friedrich Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, in: F. Nietzsche, Werke in drei Bänden, Bd. 2, K. Schlechta (Hg.), München 1954, 230. 5 Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: ebd., Bd. 2, 796. 6 Friedrich Nietzsche, Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, in: ebd., Bd. 3, 614. 7 Ebd., Bd. 3, 825. 8 Ebd., Bd. 3, 828. 9 Friedrich Nietzsche, Eccce Homo, in: ebd., Bd. 2, 1148. 10 Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, in: ebd., Bd. 2, 1233f. Hervorhebung im Original. 11 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: ebd., Bd. 2, 230. 12 Ebd., Bd. 1, 1070.

Vorwort

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für die fundamentale Aufwertung der weltlichen Tätigkeit und der Laien gelegt haben. Gleichwohl verblasst das Verdienst, wenn auch Luthers Fehler in Rechnung gezogen werden. So ist er in den Augen Nietzsches schuld an der Niedrigkeit der Beweggründe, die letztlich zur Reformation führten, an der Kurzsichtigkeit, mit der „[e]r […] die heiligen Bücher an jedermann aus[lieferte] – damit gerieten sie endlich in die Hände der Philologen, das heißt der Vernichter jeden Glaubens, der auf Büchern ruht“13, „an jenem Plebejismus des Geistes, der den letzten beiden Jahrhunderten eigentümlich ist“14, den wir „moderne Wissenschaft“ nennen und der für Nietzsche auf nichts weiter als die „Entartung des modernen Gelehrten“ hinauslief. Dennoch schloss der Atheist am Ende seinen Frieden mit dem Kirchenmann; aufgrund dessen… Unwissenheit sprach er den Wittenberger von seiner Schuld frei. Was hinterdrein alles aus seiner Reformation gewachsen ist, Gutes und Schlimmes, und heute ungefähr überrechnet werden kann – wer wäre wohl naiv genug, Luther um dieser Folgen willen einfach zu loben oder zu tadeln? Er ist an allem unschuldig, er wußte nicht was er tat.15

Nun kann man nicht umhin, die Frage aufzuwerfen, wofür es heute gut sein soll, im Zusammenhang mit der Reformation gerade auf Goethe und Nietzsche zurückzukommen? Von allen anderen Gründen abgesehen, setzt besonders der Letztere einen ernüchternden Kontrapunkt zum Tenor der offiziellen Feierlichkeiten, mit denen alle runden Jubiläen der Reformation, allen voran das fünfhundertste, begangen wurden. Ihr Ausmaß sucht im Verlauf der ganzen Luther-Dekade ihresgleichen. Trotzdem wurde die scheinbar nicht enden wollende Kette von Interviews, Tagungen, Ausstellungen, Büchern, Artikeln, Diskussionsrunden, Filmen, Sendungen, Dokus u. a.m. – in den populärsten Medien und zu besten Sendezeiten – interessanterweise von mahnenden Stellungnahmen begleitet. So warnte der prominente Historiker und langjährige Direktor des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Hartmut Lehmann, bereits 2008 vor einer „Heldenverehrung“ Luthers und warf der evangelischen Seite Festigung von alten Klischees vor: „Es ist erstaunlich, wie sehr Theologen, die sonst jeden Satz der Bibel historisch-kritisch unter die Lupe nehmen, Luther-Legenden ungeprüft übernehmen.“16 Ein Aufruf zum sachlichen Umgang mit dem Jubiläum kam auch vom (in dieser Materie besonders kompetenten) Vorsitzenden des Vereins für Reformationsgeschichte, Thomas Kaufmann; und der ehemalige Präsident 13 14 15 16

Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, 230. Ebd., Bd. 2, 231f. Ebd., Bd. 2, 231. Vgl. Kein Grund zum Jubeln, Grünes Blatt, Herbst 2016, 34, http://gruenes-blatt.de/index. php/2016-02:Kein_Grund_zum_Jubeln_-_Reformation_hat_zu_viele_Schattenseiten (letzter Zugriff am: 9. April 2019).

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Vorwort

des Europäischen Parlamentes und Vorsitzende der Konrad-Adenauer-Stiftung, Hans-Gert Hermann Pöttering, wünschte sich auf dem Höhepunkt des Jubels „eine angemessene Form der Würdigung“, die den „Gedanke[n] der Versöhnung i[n] [den] Mittelpunkt“17 stellen würde. Vom Personenkult und den heroischen Lutherfeiern der vergangenen Jahrhunderte will man sich heute trennen, die Verengung auf die deutsche Geschichte soll überwunden werden und der antikatholische Affekt vieler früherer Jubiläumsfeiern soll unterbleiben.18

Was in Wirklichkeit kam, war – auf das Medienwirksamste verkürzt – der kontroverse, „das Credo des Kulturprotestantismus des 19. Jahrhunderts“19 repetierende Leitartikel Am Beginn der Neuzeit von Heike Schmoll in der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (31. Oktober 2009) und das bombastische LutherOratorium, dessen Macher ungeachtet aller Appelle nicht nur förmlich zum Personenkult einluden, sondern auch, indem sie zu diesem Zweck alte Mythen wiederbelebten und längst widerlegte Stereotypen und Vorurteile hervorholten, der Annäherung der Kirchen und Gläubigen entgegenwirken. Es geht hier nicht darum, deutsche Festkulturen zu hinterfragen, eher um eine Begründung, warum in der öffentlichen Debatte auf beiden Seiten am liebsten zu eingefahrenen Vorstellungen gegriffen wurde. So standen sich z. B. auf einmal unversöhnlich gegensätzliche Luther-Inszenierungen gegenüber und Luther der prophetische Gottesmann, deutsche Nationalheld, Gründervater des Deutschen Reiches (oder gar Schöpfer der deutschen Nation) und der erste moderne Mensch musste sich Luther dem Fürstenknecht, Doktrinär, Chauvinisten, Antisemiten, Sexisten, Bauernfeind und Minderheitenverfolger stellen. Für begründete, sachlich untermauerte Erklärungen, ob es einander ausschließende, vervollständigende oder einfach falsche Bilder sind, fehlte irgendwie der Wille. Am Ende blieben alle bei ihren alten Überzeugungen. Die Reformation ist womöglich das am besten erforschte Ereignis in der Geschichte des Westens, vielleicht noch besser als der Holocaust und der Zweite Weltkrieg. Warum also wissen wir über sie so wenig, wenn wir so viel wissen? Warum verdecken und 17 Hans-Gert Hermann Pöttering, Politik und Reformation – ein fruchtbarer Zusammenhang, in: Politik im Zeichen der Reformation – Der lange Schatten von 1517, hg. Karlies Abmeier, Konrad-Adenauer-Stiftung, St. Augustin/Berlin 2017, 5f. 18 Ebd., 5; vgl. Dietrich Bonhoeffer, Werke (DBW). Bd. 12: Berlin 1932–1933, hg. Carsten Nicolaisen u. Ernst-Albert Scharffenorth, Gütersloh 1997, 426f: „Wir haben keine Zeit mehr zu feierlichen Kirchenfesten, in denen wir uns vor uns selbst darstellen, wir wollen nicht mehr so Reformation feiern! Laßt dem toten Luther endlich seine Ruhe und hört das Evangelium, lest seine Bibel, hört hier das Wort Gottes selbst.“ 19 Harm Klueting, Martin Luther zwischen Mittelalter und Neuzeit, Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte = Revue suisse d’histoire religieuse et culturelle = Rivista svizzera distoria religiosa e culturale, 104 (2010), 437–457, hier 439.

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Vorwort

entstellen die Wahrheit immer noch diverse Legenden aus der sprichwörtlichen Mottenkiste, hinter denen nicht selten noch Hauptakteure der Reformation stehen? Genügt der Verweis auf staats- dann nationsbildende Prozesse, die auf die Kanonisierung bestimmter Aspekte der Bewegung hinarbeiteten, für die ganze Antwort? Angesichts dieser recht unklaren Lage haben im niederschlesischen Zielona Góra (dt. Grünberg) zwei germanistische Institute, der Universität Zielona Góra und der Posener Adam Mickiewicz Universität, gemeinsam eine dreitägige (13.– 15. Oktober 2017) wissenschaftliche Tagung u.d.T. Reformation – zwischen Gewinn und Verlust Retrospektive – Revision – Redefinition ausgerichtet. Die Schirmherrschaft der Konferenz, an der fast fünfzig Gelehrte aus fünf Ländern teilgenommen haben, hat die Polnische Akademie der Wissenschaften übernommen. Im Horizont des 500. Reformationsjubiläums gingen Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen der Frage nach dem Mehrwert und bleibenden Erbe der protestantischen Reformation aus der Sicht der Gegenwart nach, wobei bei den Diskussionen die zu einer Bilanzziehung geradezu herausfordernde These Paul Tillichs, „contemporary theology must consider the fact that the Reformation was not only a religious gain but also a religious loss“20, Pate stand. Der vorliegende Band versammelt deutschsprachige Stellungnahmen, die während dieses Symposions im deutsch-polnischen Dialog zur Sprache kamen. Zielona Góra, im April 2019

Cezary Lipin´ski und Wolfgang Brylla

20 Paul Tillich, Systematic Theology, Vol. III, Chicago 1967, 6.

I. Lesarten der Geschichte

Heinz Schilling

Der Mönch und das Rhinozeros

I Ohne Zweifel, 1517 war ein Jahr der Weltgeschichte, in dem Weichen für eine grundstürzende Veränderung Europas und der Welt gestellt wurden – durch Martin Luther, aber längst nicht durch ihn allein. Die Frage nach dem Beginn der Neuzeit, also unserer heutigen Zeit, lässt sich anfangs des 21. Jahrhunderts nicht mehr mit dem Statement Adolf von Harnacks (1851–1930), des wohl bedeutendsten protestantischen Theologen und Wissenschaftsorganisators der Weimarer Republik, beantworten, der vor knapp 100 Jahren protestantisch selbstbewusst formulierte: „die Neuzeit hat mit der Reformation Luthers ihren Anfang genommen, und zwar am 31. Oktober 1517; die Hammerschläge an der Tür der Schlosskirche zu Wittenberg haben sie eingeleitet“. Ergänzt man die Lupe der deutschen Wittenberger Feldforschung durch das Fernrohr der Weltbetrachtung, so entdeckt man im Jahre 1517 eine bunte Vielfalt von Neuansätzen, Hoffnungen und Ängsten, die – ich zitiere einen Rezensenten – „einem den europäischen Star sticht, mit dem wir Deutsche gerade in diesem Jahr stolz auf die Welt schauen“ (Steffen Reiche in „Idea“). Das Teleskop führt dem Betrachter vor Augen, – wie die Welt damals, in vielen Regionen in religiöser Ehrfurcht erregt, auf große Dinge wartete, die dann auch kamen; – wie einzelne Weltregionen zum Ursprung neuer Religionen, neuer Umstände wurden, die dann die Welt veränderten; – wie im kastilischen Valladolid ein dynastischer Poker die Habsburger zur Weltmacht werden ließ; – wie in Kairo ein arabischer Frühling ausbrach, und sich in Dschidda entschied, wer Herr über Mekka wurde; – oder wie in Moskau eine Mission am Hof des Zaren ergebnislos endete, dem Westen Europas aber erstmals zuverlässige Kunde über den bislang weitgehend unbekannten, und daher gefürchteten Teil Europas, der „gen Mitternacht hin gelegen“ war, gebracht wurde;

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Heinz Schilling

– ähnlich wie in Peking ein portugiesischer Aufbruch ins Reich der Mitte, der erstmals seit Jahrhunderten bis an den Kaiserhof gelangte, elendiglich scheiterte, weil die Europäer unsensibel die kosmische Begründung des kaiserlichen Herrschaftsanspruchs und dessen ritueller Symbolisierung verletzten; – schließlich wie in Yucatán die aus der Karibik aufs mexikanische Festland vorstoßenden Spanier durch die folgenschwere Verwechslung mit rückkehrenden Göttern durch Maya und Azteken Glanz und Macht der mesoamerikanischen Hochkulturen vernichteten. Gleichzeitig ist zu berichten, – wie in Mitteleuropa in Straßburg die Hexenjagd eröffnet wurde oder in Regensburg eine Treibjagd gegen die Juden begann; – wie in Joachimsthal auf dem böhmischen, damals unter habsburgischer Herrschaft stehenden Teil des Erzgebirges, die berühmte Silbermünze geprägt wurde, die als Thaler Jahrzehnte lang den europäischen Geldverkehr beherrschte und schließlich der heute noch führenden Weltwährung, dem Dollar: Thaler – Daler – Dollar, den Namen gab; – wie sich zur selben Zeit im Ermland (im heutigen nordöstlichen Polen) ein Domherr mit der Frage der Geldstabilität plagte, die angesichts der Silberknappheit und des rasch expandierenden Handels vor allem in der Ostsee zur Achillesferse der europäischen Wirtschaft geworden war. Ergebnis war die erste moderne Geldwerttheorie aus der Feder von niemand geringerem als Nikolaus Kopernikus, der wenig später als Astronom Weltruhm errang. In einer frühen Reaktion auf dieses Kopernikus-Kapitel meines dem Jahre 1517 gewidmeten Buches gab „Die Welt“ einem der Artikel den Titel 500 Jahre EuroKrise (Matthias Kamanns Text vom 28. Januar 2017). Somit hatte sich 1517 das diplomatische, politische oder militärische Aktionsfeld der Europäer deutlich ausgeweitet. Wichtiger noch ist, dass eine mächtige Flut von Informationen über Geographie, Flora und Fauna der neu erschlossenen Welträume sowie über die dort lebenden Menschen und deren Kulturen ausgelöst wurde. Sie vertiefte in Europa das neue Weltwissen und amalgamierte sich mit dem innereuropäischen Wissensaufbruch im Zuge von Humanismus und Renaissance. Europa trat immer enger mit den anderen Kontinenten in Beziehung. Das europäische Wissen erweiterte, vertiefte sich, wurde bunter und komplexer. Für rasche Verbreitung sorgte der Buchdruck. Herbersteins Reisechronik ersetzte die verzerrenden Gerüchte durch eigene Anschauung und begründete die neuzeitliche rationale Russlandkunde. Die Summa Orientalis des portugiesischen Gesandten Tomé Pires erschloss den Fernen Osten bis hin zum Essen mit Stäbchen. Vielleicht wichtiger noch war die Druckgraphik, die das Neue abbildete

Der Mönch und das Rhinozeros

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und vervielfältigt den Menschen vor Augen stellte – berühmt wurde Albrecht Dürers Konterfei des Rhinozeros Odysseus, das bis heute als Ikone des neuen Weltwissens gilt. Das aus der Begegnung mit den neuen Welten entstandene Wissen wurde methodisch und theoretisch gleichsam europäisiert und in Herrschafts- und Nutzwissen umgeschmolzen. Das ließ die neuzeitlichen Naturwissenschaften aufblühen. Der moderne Höhepunkt dieser im frühneuzeitlichen Aufbruch wurzelnden Tradition europäischer Wissenskultur sollte dann im 19. Jahrhundert mit Alexander von Humboldt erreicht werden.

II Im Rahmen dieses Beitrags kann ich nicht die ganze Vielfalt der umbrechenden Veränderungen zu Anfang des 16. Jahrhunderts darstellen. Ich konzentriere mich auf drei Hauptkreise, die ich gleichsam von innen nach außen abschreite: – den innerchristlich-europäischen Kreis, fokussiert auf das kirchliche und religiöse Reformpotential; – den über Europa hinausreichenden militärisch-machtpolitischen Kreis; – schließlich den kulturell-wissenssoziologischen Kreis, der die Welt insgesamt umschließt.

Innovationen innerhalb des Christentums – Reformen ohne den Papst: Spanien als Vorreiter Luthers großer und rascher Erfolg ist ohne den Resonanzboden eines die lateinische Christenheit seit Generationen tief bewegenden Reformverlangens nicht denkbar. Indes, noch im März 1517, gelang es Papst Leo V., kraft seiner Position als „souveräner Pontifex“ (Paolo Prodi) und erster semi-absolutistischer Fürst Europas, das Laterankonzil feierlich zu beenden, ohne religiöse oder institutionelle Reformen zuzulassen. Trotzdem waren schon längst Reformen ohne den Papst auf dem Weg. So die devotio moderna, die moderne Frömmigkeit der Laien und ihres subjektiven Heilsverlangens, oder das landesherrliche oder nationale Kirchenregiment der Fürsten, das das Verhältnis zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt neuregelte. Das waren Antworten auf grundlegende soziale und politische Veränderungen – auf den Aufstieg eines gebildeten, selbstbewussten Laienstandes in den Städten, teils sogar bereits auf dem Lande einerseits, und auf die Herausbildung des auf Autonomie angelegten frühmodernen Staates andererseits. Angesichts

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Heinz Schilling

der damals engen strukturellen Verzahnung von Religion, Politik und Gesellschaft waren das nachgerade fundamentale Voraussetzungen für einen universellen Umbruch auf der Ebene individueller Frömmigkeit ebenso wie für den politisch-gesellschaftlichen Wandel im Sinne der Säkularisierung. Schauen wir konkret auf das Jahr 1517, so zeigt sich Spanien, das in nachreformatorisch protestantischer Sicht gar zu gerne auf die Inquisition reduziert wird, als Vorreiter kirchlicher und religiöser Reformen. Dort war die soziale, disziplinarische und geistig-moralische Reform des Klerus vorangeschritten – in den Orden ebenso wie bei den Weltgeistlichen. Das war die Leistung der katholischen Könige, aber auch der Kirche selbst, in der sich ein beeindruckend offenes und lebendiges Reformklima entfaltet hatte. Man denke an den 1373 gegründeten Reformorden der Hieronymiten oder Jeromiten, der Anfang des 16. Jahrhunderts das Land mit 49 Konventen überzog, oder an die Reformgruppen der Benediktiner, die sich der neuen Spiritualität der niederländischen devotio moderna anschlossen. Leitender Kopf war Francisco Jimenez de Cisneros (1436–1517), Erzbischof von Toledo, seit 1507 Großinquisitor, und als Beichtvater der Königin und Regentin von Kastilien (1516/17) einer der mächtigsten Männer der vereinigten Kronländer. Cisneros hatte begierig die neuen religiösen Ideen reformerischen und mystischen Charakters aus dem Ausland aufgegriffen, insbesondere die Gedanken Savonarolas, Katharinas von Siena und Erasmus’ von Rotterdam. Um die Verbreitung der Reformschriften zu beschleunigen, förderte Cisneros gezielt den Buchdruck. 1499 gründete er die Universität von Alcalá de Henares – oder nach dem römischen Namen der Stadt: Complutense. Sie wurde sogleich zum Zentrum des geistigen und religiösen Aufbruchs auf den Grundlagen der neuesten wissenschaftlich-humanistisch-philologischen Kenntnisse, hierin der Wittenberger Neugründung vergleichbar, die nur wenige Jahre später ihre Arbeit aufnahm. Für diese Bestrebungen brachte das Jahr 1517, das zugleich das Sterbejahr des großen Kirchenmannes werden sollte, einen Höhepunkt – den Abschluss eines vor fünfzehn Jahren begonnenen großen Editionsprojektes, das weitgehend aus dem Privatvermögen des Erzbischofs finanziert worden war, weil dieser, wie man sagte, reich wie ein Fürst war, und wie ein Mönch lebte. Mit der Vollendung des druckfertigen Manuskripts des Alten Testaments kam im Frühjahr 1517 die Arbeit an der Complutensischen Polyglotte zu einem glücklichen Ende, nachdem das Neue Testament bereits 1514 gedruckt worden war. Damit hatte Spanien die erste polyglotte Gesamtausgabe der Bibel auf dem Stand der neuesten philologischen Erkenntnisse hervorgebracht. Das bedeutete einen Meilenstein in der frühmodernen Bibelwissenschaft. Die 1517 abgeschlossene Ausgabe des Alten Testaments war besonders anspruchsvoll: Die Seite wurde in drei Textspalten gesetzt: außen Hebräisch, in der

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Mitte das Latein der Vulgata und in der Innenspalte der griechische Text der Septugainta, im Falle des Pentateuchs am unteren Rand noch um erläuternde aramäische Texte und deren lateinische Übersetzung ergänzt. Innerhumanistische Querelen, vor allem mit Erasmus, verzögerten den Druck, so dass die Complutensische Polyglotte erst Anfang der 1520er Jahre in sechs stattlichen Bänden vorlag: vier für das Alte, einer für das Neue Testament; den sechsten füllten aramäische, hebräische und griechische Wörterbücher und sonstige philologische Hilfsmittel. Doch hatten sich inzwischen (durch Luthers Wirken) die religiösen und wissenschaftlichen Konfliktlinien dermaßen verändert, dass die unmittelbaren Wirkungen dieses spanischen Pionierwerks begrenzt blieben. 1517 indes war nicht Wittenberg, sondern Alcalá, daneben auch Basel, wo Erasmus das Neue Testament in der griechischen Ursprache veröffentlicht hatte, die Zentren moderner Bibelwissenschaften in Europa. Vergleichbare Ansätze praktischer Kirchenreformen brachen auch in anderen Ländern, ja auch in Rom selbst auf. Dort stieß der französische Gesandte Guillaume Briçonnet 1517 auf eine eben entstandene Reformgruppe mit Namen Oratorium der Göttlichen Liebe, deren Verbindung von mystischer Frömmigkeit und praktischer Nächstenliebe ihn faszinierte und deren Reformansatz er nach Frankreich zu übertragen versuchte, als er wenig später zum Abt von St. Germain-des-Prés in Paris ernannt wurde. Anders als Savonarola in Florenz zu Beginn der 1490er Jahre oder später Luther in Deutschland lag diesen Gruppen allerdings eine Rebellion gegen die Papstkirche fern. Es ging ihnen vielmehr um deren Festigung durch Beseitigung der Missstände und Rückkehr zu den ursprünglichen apostolischen Lebensformen. Die Bruderschaft des Oratorio del Divino Amore, zu der sich die Reformströmungen im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts zunächst in Genua, dann in Rom und anderwärts institutionalisierten, stellte nicht fromme Werke zu Gunsten des eigenen Seelenheils in den Mittelpunkt, sondern das Ideal gelebter, die Person durchdringender caritas, die sie als eine von Gott geschenkte Gnade begriffen – eine Distanz zur herrschenden Werkfrömmigkeit also, wie sie im selben Jahr auch in den Ablassthesen des Wittenberger Augustiners zum Ausdruck kam. Bei der Realisierung im kirchlichen Alltag schlugen beide aber unterschiedliche Wege ein. Die Italiener setzten auf den Klerus selbst, der durch Verbesserung seiner Bildung, Frömmigkeit und Disziplin den Laienstand gleichsam organisch nach sich ziehen und damit die Priesterkirche wieder auf den Stand der Reinheit bringen sollte. Luther dagegen entwickelte aus seiner Gnadenlehre die These vom Priestertum aller Getauften und machte damit einen zur Vermittlung des göttlichen Heils notwendigen Priesterstand überflüssig. 1517 indes war ein solcher fundamentaler Gegensatz noch nicht zu erkennen. Erst als die römische Hierarchie keine Antwort auf die im Oktober 1517 veröffentlichten Ablassthesen gab, trat das in der lateinischen Christenheit tiefver-

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wurzelte Reformverlangen in zwei alternative Wege des religiösen und kirchlichen Aufbruchs auseinander – den radikalen Systembruch der Wittenberger und der daran anschließenden Reformationen, und die systemkonforme Reform der römischen Papstkirche. Das beschwor Gegensätze herauf, die in der Perspektive des Jahres 1517 inhaltlich-sachlich ganz und gar unbegründet waren – bei der Hochschätzung der Bibel, im Verständnis der Gnade, der Marienfrömmigkeit, in der Bewertung der Sexualität von Priestern oder Pfarrern, um nur das Wichtigste zu nennen.

Militärisch-machtpolitische Entscheidungen von geostrategischer (weltgeschichtlicher) Tragweite Was 1517 die europäische Christenheit aktuell (akut) in Atem hielt, war nicht die Reform, sondern ein Ereignis auf der nordafrikanischen Gegenküste. Am 23./ 24. Januar war unter dem Ansturm der osmanischen Janitscharenheere das Mameluckenreich zusammengebrochen, das sich Mitte des 13. Jahrhunderts als Herrschaft von Heerführern ehemaliger Militärsklaven in Syrien und Ägypten etabliert hatte. Von Sultan Selim persönlich angeführt, gelang das osmanische Heer in einem triumphalen Siegeszug über Aleppo und Damaskus vor die Hauptstadt Kairo, wo sie der Mameluckenherrschaft den Todesstoß versetzte. In Europa verbreitete sich sogleich Angst und Schrecken, vor allem in Italien, wo noch der Terror, den der Blitzüberfall der Türken in den 1490er Jahren in Otranto ausgelöst hatte, in frischer Erinnerung war. Gerüchte sprachen bereits von einer gewaltigen Flotte, die der Sultan in Alexandria zusammenziehe, um zum Sprung auf die italienische Gegenküste anzusetzen. Selbst das norditalienische Bergamo wurde von unheilverkündeten Vorzeichen erschüttert – einer in wabernden Wolkengebilden zu erkennenden Geisterschlacht, in der die andrängenden Türkenheere als Strafe Gottes gegen die sündige Christenheit erschienen. Realgeschichtlich machte der Fall Kairos den Weg die nordafrikanische Küste entlang Richtung westliches Mittelmeer und vor allem nach Arabien frei. Das markierte einen folgereichen Wendepunkt für das osmanische Weltreich und seine Beziehungen zu den europäischen Mächten. Das umso mehr, als einige Monate später weit im Westen die komplementäre Entscheidung fiel, die die frühmoderne Staatenwelt Europas neu ordnete und sie damit zugleich neu gegenüber dem in Europa zunehmend interessierten (islamischen) Weltreich der Osmanen positionierte. Am 23. November zog der eben 17-jährige Burgunderherzog Karl, Enkelsohn des Römischen Kaisers Maximilian und der burgundischen Erbtochter Maria einerseits und der katholischen Könige Spaniens Isabella und Ferdinand andererseits, in die kastilische Hauptstadt Valladolid ein und

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machte zeremoniell wie politisch unmissverständlich klar, dass er allen widerstrebenden Kräften zum Trotz alleine und ausschließlich das durch den Tod Ferdinands von Aragon angefallene spanische Erbe einzunehmen entschlossen war. Mit Kastilien fielen ihm die von Jahr zu Jahr durch neue Entdeckungen anwachsenden Länder in Übersee zu; mit Aragon das Königreich Neapel und damit die entscheidende Legitimation, die Interessen seines Hauses in Italien zu verfolgen. Damit war das europäisch-amerikanische Weltreich des Hauses Habsburg geboren, was wenig später auch formell und rituell befestigt wurde, als es Karl nach dem Tod seines deutschen Großvaters 1519 gelang, seine Wahl zum Römischen Kaiser durchzusetzen. Diese in ihrem Ergebnis umstürzenden Vorgänge waren für die Zeit ebenso alltäglich wie außergewöhnlich; alltäglich, weil der Zuschnitt der Reiche durch dynastische Heiratspolitik bestimmt wurde; außergewöhnlich, insofern es konkret einer ganzen Reihe von „glücklichen“ (passenden) Sterbefällen bedurft hatte, bevor sich die von Großeltern durch Ehe- und Erbverträge (Ende des 15. Jahrhunderts) eröffnete Möglichkeit zum Erbrecht Karls realisierte und sich auch politisch in Spanien wie in Deutschland durchsetzen ließ. Der kastilische Herbst leitete den Aufstieg des ersten christlich-europäischen Weltreiches ein, und damit der Konkurrenz zu dem älteren osmanischen Weltreich, das in Kleinasien verankert war, nun aber immer entschiedener nach Westen vordrang: zu Land auf dem Balkan und die afrikanische Küste entlang sowie zu Wasser ins westliche Mittelmeerbecken. Wichtiger als die geostrategische, territoriale Konstellation waren die mit den beiden Weltreichen verbundenen religiös-ideologischen Kraftlinien. Sie wirkten über die Jahrhunderte fort und sind in gewandelter Konfiguration sogar bis heute erhalten geblieben. Während der Habsburgerkaiser Karl V. die christliche Rittertradition aufnahm und als miles christianus gegen die inneren wie äußeren Feinde der Kirche zu Felde zog, traten die Sultane der Osmanen nach ihrem Sieg über die Mamelucken die Oberherrschaft über Mekka und damit die Führung über die islamische Welt an. Mehr noch – mit der Mameluckenherrschaft war auch das Mitte des 13. Jahrhunderts von Bagdad nach Kairo übertragene abbasidische Kalifat beendet. Zwar kam es nicht sogleich zu einem institutionalisierten osmanischen Kalifat, doch traten einzelne Sultane zu besonderen Anlässen als Kalifen auf: so bereits Selims Nachfolger Soliman I., der Prächtige, ein hoch gebildeter, urbaner Herrscher, der in einem Gesetzestext nicht nur als „chagan (Großkhan) des Erdkreises“, sondern auch als „chalı¯fa des Gottesgesandten“ tituliert wurde. Die 1517 eröffnete Tradition des osmanischen Kalifates bedeutete in mehrfacher Hinsicht eine der Reformation im lateinisch-christlichen Zivilisationskreis vergleichbare weltgeschichtliche Weichenstellung. Sie festigte die osmanisch sunnitische Interpretation des wahren Islams und ermöglichte ein ent-

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sprechendes disziplinierendes Vorgehen gegen die der Schia zuzurechnenden Bevölkerungsgruppen im Innern des Reiches. Macht- und außenpolitisch verlieh sie dem Gegensatz zum benachbarten schiitischen Persien eine vertiefte und die osmanischen Kräfte stärkende Legitimation. Und schließlich gab die neue geistliche Würde Sultans Soliman I., des Sohns und Nachfolgers des Siegers von Kairo, die Legitimation und das propagandistische Rüstzeug, sich in dem Ringen mit dem lateinisch-christlichen Europa als Endzeitherrscher darzustellen und dadurch in der damals weit über Europa hinaus üblichen eschatologischen Interpretation der Zeitgeschichte mit dem Römischen Kaiser und dem Papst gleichzuziehen. Die weltgeschichtliche Bedeutung der Ereignisse in Syrien und Arabien kann eine kontrafaktische Überlegung verdeutlichen. Etwa gleichzeitig mit der Eroberung Kairos durch die Osmanen unternahm Lopo Soares de Albergaria, der portugiesische Vizekönig des Entrado da India, den Versuch, die Hafenstadt Dschidda, den wichtigsten Umschlagplatz der Arabischen Halbinsel und das Tor zu den heiligen Stätten der Muslime, handstreichartig einzunehmen. Die Operation scheiterte, die weltgeschichtliche Perspektive eines Erfolges ist aber faszinierend: die katholischen Portugiesen und nicht die muslimischen Ottomanen als Herren über die arabische Halbinsel. Das hätte der Neuzeit einen völlig anderen Verlauf gegeben bis hin zur gegenwärtigen Situation in Syrien und dem neuen Kalifat des Islamischen Staates.

Übersee in Europa Dem europäischen Selbstverständnis nach kam das Neue in Wissenschaft, Kunst und Kultur zum Durchbruch als Rückbesinnung auf die eigene Tradition, vor allem der Antike. In Wahrheit hatten aber auch andere Weltregionen Anteil am Aufstieg der Neuzeit und der Moderne. Denn seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert, verstärkt in eben jenem Jahr, das die Europäer als Reformationsjahr und Beginn der Neuzeit feiern, strömte eine Welle neuen Weltwissens nach Europa ein: – von Westen durch die Begegnung der Spanier mit der ersten amerikanischen Hochkultur auf Yukatan; – von Osten durch das Vordringen der Portugiesen Fernão Peres de Andrade und Tomé Pires in das seit Jahrhunderten verschlossene chinesische Reich der Mitte; – und – kaum weniger bedeutsam – auf dem alten Kontinent selbst durch die Moskaureise des kaiserlichen Gesandten von Herberstein.

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Die davon erweckte Wissbegierde auf fremde Lebenswelten amalgamierte sich mit dem innereuropäischen Aufbruch des Wissens im Zeichen von Humanismus und Renaissance und trieb einen Prozess voran, der Europa immer enger mit anderen Kontinenten in Beziehung brachte und so das europäische Wissen erweiterte, vertiefte und immer bunter werden ließ. Der Buchdruck, vor allem aber die Anschaulichkeit der Druckgraphik, ließen das neue Weltwissen rasch in eine breite Öffentlichkeit von Kaufleuten, Wissenschaftlern, Intellektuellen und Künstlern gelangen. Herbersteins Reisechronik erfuhr rasch mehrere Auflagen und sollte über Generationen hin das Russlandbild prägen. Heute noch gilt sie als Beginn einer empirischen, rationalen Osteuropakunde. Die überseeischen Lebenswelten mit ihren exotischen Bewohnern, Tieren, Pflanzen und Artefakten menschlicher Kunst konnte jeder Interessierte direkt in Augenschein nehmen. Denn die Entdecker ließen die Zeugnisse der fremden Welten nach Europa bringen, wo sie in Ausstellungen, voran in Sevilla, Valladolid und Brüssel, zu Exponaten der Neugier wurden. Wem Zeit und Geld zu einer direkten Besichtigung fehlten, dem gaben wohlfeil auf den Markt gebrachte Flugblätter mit genauen Beschreibungen und Holzschnitten die Möglichkeit, seinen europäischen Gesichtskreis in die Welt hinaus zu erweitern. Berühmte und gefragte Meister wie Giovanni Penni mit Stephano Guilireti in Rom oder die Deutschen Hans Burgkmair, Albrecht Altdorfer, Jörg Breu und vor allem Albrecht Dürer, der die „wunderliche künstlich ding (aus dem) neuen gulden land“ 1520 in Brüssel selbst gesehen hatte, sorgten dafür, dass die viel bestaunten Artefakte, allen voran die beiden kunstvoll in Gold und Silber gearbeiteten großen Sonnenscheiben, sogleich Aufnahme in den europäischen Wissens- und Kulturkanon fanden. Auch darin kam es zu einer fruchtbaren Verbindung mit dem Renaissance-Aufbruch des Wissens, Sammelns und Kategorisierens, der in den fürstlichen Kunst- und Wunderkammern bereits kostbare Artificialia und außergewöhnliche Naturalia zusammengetragen hatte. Dasselbe gilt für die neuentdeckten Völker und ihre Lebensart oder für die Kunde über die exotische Pflanzen- und Tierwelt. Nur wenige Monate nach den Neuentdeckungen des Jahres 1517 waren die Europäer mit den „Kalikutischen Leuten“ bekannt, wie man die Inder oder Indianer der westlichen Hemisphäre als Verwandte der längst bekannten Inder des Ostens meinte bezeichnen zu können. Und dass dabei auch afrikanische Völker erscheinen, die die Künstler mit Schildern und Holzschwertern nach Aztekenart auftreten lassen, gibt zu erkennen, wie vorsichtig man sich vorantasten musste, um das Neue und Fremde angemessen zu beschreiben und zu kategorisieren. Doch dauerte es nicht lange bis man erkannte, dass es sich bei den vermeintlich einheitlichen „Indern“ um Bewohner zweier weit auseinander gelegener Erdteile handelte, deren Gestalt, Geschichte und Kultur ganz unterschiedlich waren.

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Wie präsent die fremden, exotischen Welten bereits 1517 in Europa waren, zeigt das berühmte asiatische Rhinozeros Odysseus, das der Gouverneur Albuquerque dem portugiesischen König Manuel aus Indien geschickt hatte. Am 20. Mai 1515 in Lissabon angekommen, konnte es dort im königlichen Gehege von jedermann bewundert werden. Aber auch außerhalb Portugals machten binnen Kurzem hunderte von Flugblättern sein Konterfei bekannt – am Papsthof in Rom bereits im Juli durch den Verstraktat Forma e natura e costumi de lo Rinocerante des Florentiner Humanisten Giovanni Giacomo Penni. Wie rasch sich Wissen und Anschauung über die neuen Welten über Europa verbreitete, belegt der bis heute berühmte Holzschnitt Albrecht Dürers, den der Nürnberger noch im selben Jahr riss und vertrieb. Das Bild wird auf der Beschreibung eines Nürnberger Kaufmanns fußen, der das Tier in Lissabon sah. Dürers Rhinozeros wurde immer wieder popularisiert, etwa im Meißener Porzellan, und gilt auch heute noch als Symbol für die Begegnung Europas mit der weiteren Welt und deren intellektuelle und künstlerische Aneignung sowie für die sammelnde und ordnende Aufnahme fremder Welten und deren Integration in das europäische Wissen und Selbstverständnis. Das Rhinozeros Odysseus ist aber zugleich ein Beispiel dafür, wie unterschiedlich präsent das neue Weltwissen in den einzelnen Regionen Europas war. Odysseus war 1517 in Rom am päpstlichen Hof zu bestaunen, wenn auch nur als ausgestopfter Kadaver, weil das als Geschenk des portugiesischen Königs Manuel an Leo X. verschiffte Tier vor der Küste Liguriens Schiffbruch erlitten hatte. Dass es dennoch sogleich in das Renaissance-Wissen Aufnahme fand, beweist Raffaels Fresko in der 1517/18 ausgemalten Loggia der Papstgemächer, das das Rhinozeros in trauter Eintracht mit seinem bereits seit längerem in der päpstlichen Menagerie lebenden ostasiatischen „Landsmann“, dem Elefanten Hanno, zeigt. Ganz anders in der Stadt, die sich noch im selben Jahr dem Weg zum Antipoden Roms und Kathedralstadt des Protestantismus befand. Die Stadt „am Rande der Zivilisation“, wie der aus der Großstadt Erfurt kommende Luther klagte, war 1517 zwar alles andere als verschlafen. Sie boomte geradezu mit der aufstrebenden Universität ebenso wie durch die mächtigen und ambitionierten Herrschaftsbauten, voran das Wettinische Residenzschloss, wo bedeutende Künstler Deutschlands und Italiens beschäftigt waren und das der BramanteRuine von Neu-St.-Peter in Rom die solide Finanzierung voraus hatte. Von dem bereits im Süden Deutschlands begierig aufgenommenen neuen Weltwissen indes findet sich dort keine Spur.

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III Und der Mönch, dessen Hammerschläge nach guter protestantischer Lesart Ende Oktober die Neuzeit eröffneten? Luders Elternhaus scheint wenig, wenn überhaupt, von den neu entdeckten Welten berührt worden zu sein. Jedenfalls befanden sich in der an zeitgenössischen Überresten reichen Baugrube, die die Archäologen unlängst neben dem Mansfelder Elternhaus entdeckten, keinerlei Haushaltsgegenstände, Textilien oder Nahrungsmittel außereuropäischen Ursprungs. Das gilt auch für den eigenen Haushalt, den der Reformator ein Vierteljahrhundert später im Wittenberger Augustinerkloster gründen sollte. Luthers Weltbild blieb kontinental und von dem neuen Wissen seltsam unberührt: In den 1520er Jahren handelt er kurz über den scheinbaren Widerspruch, dass einerseits die Bibel von der Mission der Apostel sagt: „ir stimm ist in die gantze welt außgangen“, andererseits „vil inseln erfunnden wordenn noch zu unseren zeiten, die da heiden seint und niemant hat in gepredigt“. Und in seiner Geschichtstabelle Supputatio annorum mundi der 1540er Jahre deutet er neue Krankheiten, die von der Übersee nach Europa gelangten, als Unum de signis magnis ante diem Extremum, also als ein Zeichen des Weltendes. Jenseits dieser missionsgeschichtlichen und eschatologischen Perspektive fand Luther kein Interesse am Ausgreifen Europas auf die anderen Kontinente. Diese Begrenztheit darf nicht missverstanden werden. Etwa im Sinne eines Gegensatzes von Weltläufigkeit des Papstes und Roms versus Provinzialität Luthers und Wittenbergs. Dem widerspricht schon die Tatsache, dass die Elbestadt sogleich zur Kathedralstadt Luthers und zu Gegen-Rom aufstieg – hoch bewundert oder abgrundtief gehasst. Somit lässt sich als Ergebnis unserer Gegenüberstellung von Mönch und Rhinozeros als zwei symbolischen Repräsentationen des Neuen, das 1517 über die lateinische Christenheit oder Europa hereinbrach, Folgendes festhalten: Das Reformationsjahr als ein Jahr der Weltgeschichte zu betrachten, macht Luthers am 31. Oktober versandte 95 Thesen und die damit ausgelöste Reformation nicht zu einer belanglosen Episode. Wohl aber befreit die weltgeschichtliche Kontextualisierung den deutschen Protestantismus von der Last des Mythos, Luther hätte am 31. Oktober die Neuzeit oder gar die Moderne eingehämmert. Der tiefgreifende Wandel, der die Neuzeit und schließlich die Moderne hervorbrachte, war vielmehr das Ergebnis eines Syndroms, in dem drei unabhängige Kräfte zusammenwirkten: der innereuropäische Aufbruch von Humanismus und Renaissance als Rückbesinnung auf die eigene antike Tradition, das mit Macht einströmende neue Weltwissen, und die christlichen Reformationen, die protestantischen wie die von ihnen provozierte katholische.

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Reformation global?

Was heute mediengerecht personalisiert als weltweiter „Luthereffekt“1 vermarktet wird, hieß vor einem halben Jahrhundert noch steif und sachlich „Weltwirkung der Reformation“2. Allerdings bestand diese Welt damals aus Deutschland oder höchstens aus Europa, während heute das evangelische Halbmillennium ganz selbstverständlich zur globalen Angelegenheit geworden ist.

Ein weltweites Reformzeitalter? Das verpflichtet uns zu der Frage, ob Reformation oder, allgemeiner, Reform ausschließlich im Christentum vorkommt, wie wir aus unserer europazentrierten Sicht zu unterstellen gewohnt sind.3 Immerhin hatte Martin Luther weltweit bemerkenswerte Reformer als Zeitgenossen. In Indien brachte die Bhakti-Bewegung mit ihrer Betonung persönlicher Gottesbeziehung radikale Mystiker wie Kabir (1440–1518)4 oder die „Gnadenlehre“ des Vishnuverehrers Vallabha (1481– 1531)5 hervor. Vor allem aber hatte Guru¯ Na¯nak (1469–1539) um 1500 ein Berufungserlebnis, das ihn zum Begründer der monotheistischen Sikhreligion machen sollte.6 Ihnen allen ging es um die Überwindung des ritualistischen Ballastes der indischen religiösen Tradition. 1 Der Luthereffekt. 500 Jahre Protestantismus in der Welt. 2 Ritter, Die Weltwirkung der Reformation; Steinmetz, Die Weltwirkung der Reformation. 3 Wolgast, Reform, Reformation, 313–360, bes. 316; Strauss, Ideas of Reformatio and Renovatio from the MiddleAges to the Reformation, 1–30; Schilling, Reform, 777–785; Wendebourg, Reformation, 794f; dazu jüngst über mittelalterliche Ordensreformen: Reform als Konflikt, 3– 176. 4 [Wikipedia] Kabir (siehe Link im Literaturverzeichnis). 5 [Wikipedia] Vallabha (siehe Link im Literaturverzeichnis). 6 Gächter, Sikhismus, 368–383; Wiesner-Hanks, Comparisons and Consequences in Global Perspective, 749–753.

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Ganz anders und doch wieder ähnlich wirkte Wang Yangming (1472–1529) in China. Deutlich weniger bekannt als sein Zeitgenosse Martin Luther (1483–1546) entfaltete er eine intellektuelle Wirkung, die fast genau so groß war. Als buddhistisch beeinflusster Philosoph und Beamter wollte er mit seiner „Lehre vom Herzen“ (xinxue) das als steril empfundene konfuzianische Denk- und Herrschaftssystem durch schlichte Aufrichtigkeit und Güte überwinden. Seine Anhänger, unter denen der streitbare Regimekritiker Li Zhi (1527–1602) herausragte, schufen nicht nur die wichtige Donglin-Akademie der späten Ming-Zeit, sondern beeinflussten auch das japanische Denken.7 Für den Islam könnte man vielleicht die Gründung des Safawidenreichs und die Einführung der Schia im Iran durch den Scheich des Sufi-Ordens von Ardabil im Jahr 1501 als vergleichbaren Reformimpuls reklamieren.8 Deutlicher wurde für das Judentum um 1530 eine neue Orthodoxie mit Anspruch auf mystische Gottesunmittelbarkeit anstelle der Tradition identifiziert. Joseph Karos monumentaler Kommentar zur Halacha von 1559 soll sogar den Ausgangspunkt einer „Konfessionalisierung des Judentums“ gewesen sein, wie sie sich im Christentum des 16. Jahrhunderts abgespielt hat.9 Die beobachteten Phänomene stehen sich räumlich und sachlich fern genug, um gegenseitige Beeinflussung auszuschließen. Es scheint also zu Luthers Zeiten eine kulturübergreifende Neigung gegeben zu haben, die „Werke“ der ritualisierten Tradition durch eine spiritualisierte persönliche Gottesbeziehung zu überwinden. Hatten die Weltanschauungen verschiedener sogenannter Hochkulturen damals parallel einen ähnlichen Entwicklungsstand mit entsprechenden religiösen Bedürfnissen erreicht? Karl Jaspers hat ja mit dem gehäuften Auftreten religiöser und philosophischer „Klassiker“ in der sogenannten „Achsenzeit“ zwischen 800 und 200 v. Chr. ein vergleichbares Phänomen identifiziert, auf das wir noch zurückkommen müssen.10 Doch auch wenn wir bei der Geschichte des Christentums bleiben, muss diese heute mehr denn je von der Person Luthers abgelöst werden – bezeichnenderweise ganz ähnlich wie die Geschichte des Christentums von der Person Jesu Christi! Denn der „Luthereffekt“ war viel eher ein Lutherimpuls. Bereits die von ihm in Deutschland ausgelöste evangelische Bewegung entglitt zu großen Teilen der Kontrolle des Reformators und an der anschließend von den Obrigkeiten durchgeführten Reformation durfte er gerade noch mitwirken. Die Befreiung von der römischen Kirchenherrschaft brachte je länger desto mehr eine evangelische Vielfalt voller Widersprüche hervor, in der Lutheraner längst nur noch 7 Perdue, Imperien und Grenzregionen in Kontinentaleurasien, 70–84; Wiesner-Hanks, Comparisons, 753–755. 8 Faroqhi, Das Osmanische Reich und die islamische Welt, 326. 9 Lauer, Die Konfessionalisierung des Judentums, 250–283. 10 Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, 15–42, 76–86.

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eine Minderheit darstellen. Weltweit wichtiger sind die Reformierten, die sich aus dem Genf Johannes Calvins herleiten. Aber auch sie haben keineswegs die Mehrheit, denn daneben existiert eine bunte Welt sogenannter Freikirchen.

Expansion des Protestantismus Zu Beginn des 21. Jahrhunderts waren von den 7 Milliarden Menschen 2,2 Milliarden Christen, gefolgt von 1,4 Milliarden Muslimen, 900 Millionen Hindus, 800 Millionen Nichtreligiösen, vor allem in China, und 400 Millionen Buddhisten.11 Von den Christen sollen 800 Millionen evangelische, 260 Millionen orthodoxe sowie orientalische und 1,1 Milliarden katholische gewesen sein. Von den Evangelischen gehörten aber nur 426 Millionen zu den „klassischen Gemeinschaften der Reformation“, wie die Evangelische Allianz Deutschland die älteren protestantischen Kirchen bezeichnet, davon nur 70 Millionen zum Lutherischen Weltbund mit 145 Kirchen in 79 Ländern.12 Der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen gehören 80 Millionen Christen von 230 Kirchen aus 108 Ländern an.13 Dem stehen zunächst die älteren freikirchlichen Gemeinschaften gegenüber. Zur Baptist World Alliance14 gehören allerdings nicht alle ca. 100 Millionen Baptisten in 160 Ländern. In den USA, wo die meisten Baptisten leben, sind die Southern Baptists 2004 aus dem Verband ausgetreten.15 Auch im World Methodist Council, der 102 Kirchen in verschiedenen Ländern mit zusammen 39 Millionen Mitgliedern umfasst, sind die USA neben afrikanischen Ländern besonders wichtig.16 Während die Baptisten auf die von den Reformatoren bekämpften Täufergemeinden der frühen evangelischen Bewegung zurückgehen, gehören die Methodisten zu den Erweckungsbewegungen des 18. Jahrhunderts, die für die weltweite Ausbreitung des Protestantismus von ausschlaggebender Bedeutung waren. Denn die religiöse Globalisierung ist älter als die aktuelle ökonomische und politische. Mehr noch als der Islam und der Buddhismus war das Christentum von Anfang an eine missionarische Religion, die sich in immer neuen Wellen über die jeweils bekannte Welt verbreitete.17 Die Neuzeit begann allerdings mit einem Triumph der römischen Kirche, die den größten Teil der Bewohner der neuentdeckten Welt im Westen für sich ge11 12 13 14 15 16 17

[Wikipedia] Religion (siehe Link im Literaturverzeichnis). [Wikipedia] Mitgliedskirchen (siehe Link im Literaturverzeichnis). [Wikipedia] Weltgemeinschaft (siehe Link im Literaturverzeichnis). [Wikipedia] Baptistischer Weltbund (siehe Link im Literaturverzeichnis). [Wikipedia] Southern Baptist Convention (siehe Link im Literaturverzeichnis). [Wikipedia] World Methodist Council (siehe Link im Literaturverzeichnis). Reinhard, Globalisierung des Christentums?

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winnen konnte und in Ost- und Südasien vorübergehend religiöse Kulturkontakte riskierte, die heute noch Respekt abnötigen. Aus theologischen, vor allem aber aus praktischen politischen Gründen blieben die Missionsanstrengungen und Erfolge der Kirchen der Reformation im Vergleich zunächst marginal. Denn die soft power des Evangeliums setzte sich deswegen erfolgreicher denn je durch, weil sie mit der hard power des Kolonialismus, der europäischen Expansion, einherging.18 Das war aber zuerst diejenige der iberischen Monarchien. Die frühe niederländische und britische Expansion wurde demgegenüber von privaten Profitinteressen getragen, die wenig Interesse an der Mission zeigten. Es war aber auch das private Engagement von erweckten evangelischen Christen, das im 18. und 19. Jahrhundert einen Wandel herbeiführte. Es handelte sich um einen gewaltigen religiösen Impuls, dessen Vertreter sich durchaus als Vollender der Reformation oder wie einst die Calvinisten als „zweite Reformation“ verstehen konnten.19 Während die katholischen Missionen mit der Aufhebung des Jesuitenordens 1759–1773 und dem Zusammenbruch des Ancien Régime seit 1789 in eine schwere Krise gerieten, blühten die evangelischen in der Hand zahlreicher (halb-)privater Missionsgesellschaften immer weiter auf. Vor allem in Afrika, Asien und Australasien erlebt der Protestantismus jetzt sein missionarisches Zeitalter weltweiter Expansion. Am Zusammenspiel mit dem europäischen Kolonialismus änderte sich dabei aber nur, dass es sich jetzt um dessen zweite Welle unter britischer Führung handelte. Im 19. Jahrhundert sollte dann auch das Deutsche Reich mit seinen Missionsgesellschaften hinzukommen, die unter anderem in Namibia und Tansania evangelische Kirchen hinterlassen haben. Allein in Afrika bestanden vor dem Ersten Weltkrieg ein halbes Tausend evangelische Missionsstationen mit dem Ergebnis, dass 1984 weit mehr als die Hälfte der afrikanischen Christen evangelisch gewesen sind, bezeichnenderweise mit Schwerpunkten in den ehemaligen britischen und deutschen Kolonien. Von Anfang bis Ende der Missionsgeschichte bedeutet diese Symbiose freilich nicht, dass Missionare sich pauschal als Agenten des Imperialismus abqualifizieren ließen, wie es im Gefolge des Marxismus üblich war. Auch wenn es vor allem in China bisweilen sehr danach aussah, konnte durchaus das Gegenteil richtig sein. Wie bereits zu Beginn mit Bartolomé de Las Casas (1484–1566) ein unerbittlicher katholischer Kritiker des spanischen Kolonialismus auftrat, so war zum Beispiel auch Franz Michael Zahn (1833–1900), der Inspektor der in Westafrika tätigen evangelischen Norddeutschen Mission, ein Gegner von Kolonien, erklärte kolonialpolitisches Engagement von Missionaren 1888 schlicht

18 Begriffe nach: Nye, Soft Power: the Means to Success in World Politics. 19 Vgl. Schilling (Hg.), Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland.

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zum „Verbrechen“ und 1891 den „Neger“ zum „Bruder in Christo“, dem mit gleicher „Ehrerbietung“ zu begegnen sei.20 Der Zusammenhang zwischen Protestantismus und Kolonialismus, der bis heute nachwirkt, war komplizierter. Er lässt sich am weitgehenden Schul- und Bildungsmonopol verdeutlichen, das Missionen aller Konfession infolge der Sparsamkeit der Kolonialmächte innehatten. Bekehrung, auch wenn sie durchaus religiös motiviert war, bedeutete daher bereits sprachlich Zugang zur überlegenen Lebensweise des Westens und den von ihr eröffneten neuen Lebenschancen. Sie mochten wollen oder nicht – die Glaubensboten aller Richtungen verbreiteten unausweichlich mit ihrer Religion auch die westliche Kultur mit allen ihren Errungenschaften. Der Missionar David Livingstone (1813–1873) wurde demgemäß nicht nur zum Entdecker Afrikas, sondern auch zur Vorhut seiner Eingliederung in die westliche Weltwirtschaft.

Reformation als Vorbild zur Bewältigung des Kolonialismus Vor allem für Angehörige der traditionellen Hochkulturen Asiens brachte der Zusammenstoß mit der westlichen Kultur im Zeichen des Kolonialismus häufig die traumatische Erfahrung politischer und kultureller Unterlegenheit mit sich. Was lag näher, als diesen Zustand durch Reformen nach westlichem Vorbild zu überwinden? Je länger desto mehr spielte dabei auch die Reform des religiösen oder weltanschaulichen Kerns der eigenen Kultur eine Rolle. Einerseits hatte man nämlich erkannt, dass sich kulturelle Errungenschaften, sogar militärische, nicht ohne ihren kulturellen Kontext, oder wie man früher zu sagen pflegte, ihre „geistigen Grundlagen“, übernehmen ließen bzw. dass letztere ohnehin zusammen mit den ersteren unausweichlich einsickern würden. Andererseits bestand die differentia specifica traditioneller Kulturen in der Religion bzw. ihrer weltanschaulichen Entsprechung wie z. B. dem chinesischen Konfuzianismus. Gezielter wie unbeabsichtigter Kulturwandel konnte also diesen Bereich gar nicht unberührt lassen. Dabei berief man sich bisweilen ausdrücklich auf die Reformation, denn die zweite Welle des Kolonialismus unter britischer Führung war eine protestantische und der Protestantismus galt als Prinzip des Fortschritts. Sogar das deutsche Reformjudentum schlug den Weg einer „Protestantisierung“ ein, als es nicht mehr das überlieferte Gesetz, sondern Glaubensinhalte und Ethik in den Mittelpunkt stellte und sich zu diesem Zweck sogar der lutherischen Erfindung des Katechismus bediente.21

20 Reinhard, Der Missionar, 287. 21 Haußig, Reformjudentum, 838–844.

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Der Islam hatte schon immer Erneuerungs- und Reinigungsbewegungen gekannt, nicht selten solche von messianischem Charakter. Schon vor der genannten kritischen Entwicklung hatte unter anderen Muhammad ibn Abd alWahhab (1703/04–1792) auf der arabischen Halbinsel den Islam zur ursprünglichen Strenge zurückgeführt und von „abergläubischen“ Praktiken wie der Heiligenverehrung gereinigt – mit Folgen für Saudi-Arabien und den islamischen Radikalismus bis heute.22 Aber Männer wie Jamal ad-Din al-Afghani (1838/39– 1897), Muhammad Abduh (1849–1905) und Muhammad Rashid Rida (1865– 1935) betrachteten die Reinigung des Islam vor allem als die angemessene Reaktion auf die Herausforderung des Westens. Im Gegensatz zu den Traditionalisten plädierten sie nicht nur für die Übernahme westlicher Errungenschaften, sondern vertraten sogar die Auffassung, ein gereinigter Islam enthalte bereits die westlichen Werte einschließlich der viel berufenen Rationalität.23 Bezeichnenderweise waren sie vor allem in Ägypten tätig, das in besonderem Maße unter Modernisierungsdruck stand.24 Die Leitkategorie islah (wörtlich: heil machen) spielte zwar von Anfang an im muslimischen Denken eine Rolle, erhielt aber jetzt in der Bedeutung von Selbstverbesserung (englisch: self-improvement) besonderes Gewicht. Dabei wurde idjtihad (wörtlich: Anstrengung) als persönliches Verstehen von Koran und Sunna – von Heiliger Schrift und Tradition – zum Recht, ja zur Pflicht jedes Gläubigen.25 Auch wenn al-Afghani nicht ausdrücklich die Rolle Luthers für sich in Anspruch genommen hätte26 – die Analogie zur Reformation ist nicht zu übersehen. Anagarika Dharmapala (1864–1933), eine maßgebende Figur des von Ceylon/ Sri Lanka aus erneuerten Buddhismus, stilisierte sogar den Buddha selbst zum Luther des Buddhismus als einer „protestantisch“ begriffenen Religion. Hatte der Buddha sich nicht wie Luther gegen die religiöse Autorität der Veden und der Brahmanen aufgelehnt?27 Auch in Britisch-Indien war die Reformdiskussion unter Modernisierungsdruck besonders lebhaft. Damals bürgerte sich die neue Übersetzung von (religiöser) Reform als (dharmik) sudhaar ins Hindi ein.28 Bereits Rammohun Roy (1772–1833) hatte ausgehend von der Vedanta-Philosophie durch die Reinigung der vielfältigen indischen Religiosität von abergläubischem Götzendienst und die Befreiung von der Priesterherrschaft eine 22 23 24 25

Peters, Erneuerungsbewegungen im Islam vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, 96–98. Peters, Erneuerungsbewegungen, 116–128. Reinhard, Die Unterwerfung der Welt, 907–910, 934–937, 1060f. Islah I./Ali Mérad, The Arab World, 141–163 und freundliche Mitteilungen von Gudrun Krämer und Cornelia Schöck. 26 Conrad, Eine Kulturgeschichte globaler Transformation, 604. 27 Ebd., 561. 28 Freundliche Mitteilung von Gita Dharampal.

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streng monotheistische Religion schaffen bzw. – angeblich – wiederherstellen wollen. Auch durch Übersetzung indischer religiöser Begriffe hat er den Anfang damit gemacht, dass zumindest im westlichen Verständnis so etwas wie eine einheitliche Religion „Hinduismus“ wahrgenommen werden konnte. International galt er als „the Luther of India“, lehnte diesen Ehrentitel selbst aber ab, denn er hielt sich lieber an die Unitarier.29 Swami Vivekananda (1863–1902) ging später ebenfalls von einer Variante des Vedanta aus und begann nach seinem viel beachteten Auftritt auf dem Weltparlament der Religionen 1893 in Chicago mit der nach seinem Lehrer, dem Mystiker Ramakrishna (1836–1886), genannten Ramakrishna-Mission für die weltweite Verbreitung indischer Spiritualität zu werben.30 Ein Mitglied der swedenborgianischen Freikirche hatte diese Nebenveranstaltung zur damaligen Weltausstellung von Chicago angeregt. So konnte im Zeichen des westlichen Universalismus protestantischer Herkunft das Angebot eines alternativen Universalismus des Ostens an den Westen seinen Anfang nehmen.31 Auch wenn die traditionelle konfuzianische Weltanschauung Chinas sich nicht ohne weiteres als Religion wie andere behandeln lässt, spielten die Begriffe gaige (wörtlich: etwas ändern) oder gar zongjiao gaige (religiöse Reform, Reformation)32 um dieselbe Zeit ebenfalls eine Rolle. Kang Youwei (1858–1927), der intellektuell führende unter den gescheiterten Reformern von 1898, wurde von seinen Schülern sogar als der Martin Luther des Konfuzianismus bezeichnet,33 obwohl er letzteren in seiner stark westlich inspirierten universalistischen Utopie Datong Shu (Buch von der großen Gemeinschaft, soll heißen: von der Menschheit) umgeformt, wenn nicht überwunden hatte. Nichtsdestoweniger schlug er vor, das Geburtsjahr des Konfuzius statt Christi Geburt zur Ära eines neuen Weltkalenders zu machen.34 Seine Unterscheidung von shendao (Götterweg) für christliche und andere Religionen und rendao (Menschenweg) für den Konfuzianismus und seinen eigenen Entwurf 35 lässt aber besonders deutlich erkennen, dass bei den Reformern des 19. Jahrhunderts nicht nur religiöse Impulse des Protestantismus, sondern auch säkulare der europäischen Aufklärung wirksam waren. Freilich sind beide nicht reinlich zu trennen, weil nicht nur erweckte Christen, sondern auch Aufklärer mit dem Anspruch auftraten, die Vollender der Reformation im Geiste 29 30 31 32 33 34

Zastoupil, Rammohun Roy and the Making of Victorian Britain, 5, 28, 31, 76. [Wikipedia] Vivekananda (siehe Link im Literaturverzeichnis). [Wikipedia] Parlament (siehe Link im Literaturverzeichnis); Conrad, Kulturgeschichte, 563. Freundliche Mitteilung von Chen Hongjie und Hu Haiyan. Conrad, Kulturgeschichte, 604. Reinhard, Unterwerfung, 1294; K’ang Yu-wie, Das Buch von der großen Gemeinschaft; Thompson (Hg.), Ta t’ung Shu. 35 Conrad, Kulturgeschichte, 624.

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Luthers zu sein.36 Das lief auf Vernunftreligion mit individueller Gewissensfreiheit hinaus und sollte den Protestantismus für die laufende Modernisierung der westlichen Welt anschlussfähig machen oder sogar zu deren Ursache erheben. Der Katholizismus hatte sich unterdessen im Pianischen Zeitalter (1791– 1958) für anderthalb Jahrhunderte aus der Moderne verabschiedet.37

Kulturprotestantische Meistererzählungen „Die große Erzählung“ dieses modernitätsstolzen Kulturprotestantismus ist Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus des Universalgelehrten Max Weber (1864–1920) von 1904/05.38 Sie beansprucht heute noch kanonische Geltung, denn es geht darin um den entscheidenden Beitrag des Protestantismus zur modernen Welt.39 Mit beträchtlicher Gelehrsamkeit wollte Weber darin 36 Beutel/Walther, Aufklärung, 805–807; Holzem, Christentum in Deutschland, 723–775, 848– 850. 37 Der Begriff Pianisches Zeitalter geht wohl auf Karl Rahner zurück (Mitteilung von Günther Wassilowsky), hier nach: Hersche, Muße und Verschwendung, 1044. 38 Weber, Asketischer Protestantismus und Kapitalismus, 97, 425. Die überarbeiteten Texte von 1920 sollen zusätzlich in Bd. I/18 der WGA ediert werden, obwohl die von Weber vorgenommenen Eingriffe an Sinn und Stoßrichtung nichts ändern. 39 Zur Auseinandersetzung mit Max Weber wurden herangezogen (in umgekehrter Reihenfolge der Veröffentlichung geordnet): Adair-Toteff, Max Weber’s Sociology of Religion; Vetrov, Von Schweinen im Kraut und Läufen mit Hindernissen, 321–348; Müller/Sigmund (Hg.), Max Weber-Handbuch; Sunar, Marx and Weber on Oriental Societies; Kaiser/Rosenbach (Bearb.), Max Weber in der Welt; Ghosh, Max Weber and „The Protestant Ethic“; Kaesler, Max Weber; Kaube, Max Weber; Fleck (Hg.), Max Webers Protestantismus-These, 5–178; Scaff, Max Weber in America; Bienfait (Hg.), Religionen verstehen; Preyer, Max Webers Religionssoziologie; Steinert, Max Webers unwiderlegbare Fehlkonstruktionen; Böhl, Das Christentum und der Geist des Kapitalismus; Radkau, Max Weber; Schluchter/Graf (Hg.), Asketischer Protestantismus und der „Geist“ des modernen Kapitalismus; Lehmann/Ouédraogo (Hg.), Max Webers Religionssoziologie in interkultureller Perspektive; Giesing, Religion und Gemeinschaftsbildung; Neusner (Hg.), Religious Belief and Economic Behavior; Lehmann, Max Webers „Protestantische Ethik“; L’éthique protestante de Max Weber et l’esprit de la modernité. Paris: Maison des Sciences de l‘Homme 1997; Spöttel, Max Weber und die jüdische Ethik; Hyung Gyun, Eine ostasiatische Kritik an Max Webers Rationalisierungskonzept (und der damit verbundenen Modernisierungstheorie); Duan Lin, Konfuzianische Ethik und Legitimation der Herrschaft im alten China; Hennis, Die spiritualistischen Grundlagen der „verstehenden Soziologie“ Max Webers; Schellong, Wie steht es um die „These“ vom Zusammenhang von Calvinismus und „Geist des Kapitalismus“?; Lehmann/Roth (Hg.), Weber’s Protestant Ethic; Kippenberg, Die Relativierung der eigenen Kultur in der vergleichenden Religionswissenschaft, 103–114; Bily, Die Religion im Denken Max Webers; Schluchter (Hg.), Max Webers Sicht des okzidentalen Christentums. Interpretationen und Kritik; Schluchter (Hg.), Max Webers Sicht des Islams; Graf, Max Weber und die protestantische Theologie seiner Zeit, 122– 147; Pütz, Max Webers These vom „Geist des Kapitalismus“, 193–207; Pütz, Max Webers und Ferdinand Kürnbergers Auseinandersetzung mit Benjamin Franklin, 297–310; Schluchter, Max Webers Studie über Konfuzianismus und Taoismus; 1983; Rösel, Die Hinduismusthese

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nachweisen, dass die protestantische Berufsethik asketischer Calvinisten in säkulares Unternehmerverhalten transformiert worden sei und dadurch zur Entstehung des Kapitalismus beigetragen habe. Angesichts der erschreckenden Prädestinationslehre Calvins hätten diese Menschen aus asketischer Lebensführung und dem daraus erwachsenden wirtschaftlichen Erfolg die Gewissheit ihrer Erwählung abgeleitet und so ihre Höllenangst überwunden. Inzwischen sei aber aus dieser religiösen Motivation der Zwang zum Geldverdienen als Selbstzweck geworden. Der daraus erwachsene Kapitalismus war für Weber aber nur ein Bestandteil der einzigartigen, umfassenden rationalen Weltordnung des modernen Abendlandes, die es vom Rest der Welt unterschied und ihm überlegen machte. Sie wollte er erklären. Deshalb führte er als Gegenprobe40 anschließend vergleichende Untersuchungen über Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen durch, die 1920/21 zusammen mit der Protestantischen Ethik als Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie erschienen. Er bearbeitete Konfuzianismus und Taoismus,41 Hinduismus und Buddhismus42 sowie das antike Judentum, das für ihn zwar keine Weltreligion, aber durch seine Propheten prägend für die abendländische Kultur gewesen ist.43 Seine Einstellung zum Islam lässt sich aus anderen Texten erschließen.44 Über sein Vorgehen bei der protestantischen Ethik hinaus verknüpfte er jetzt die religionsgeschichtliche Fragestellung mit gründlichen Untersuchungen zum Gesellschafts- und Herrschaftssystem der betreffenden Kulturen.45

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Max Webers; Turner, Weber and Islam; Zingerle, Max Weber und China; Eisenstadt, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus; Besnard, (Hg.), Protestantisme et capitalisme; Kitch, (Hg.), Capitalism and the Reformation; Lüthy, Variationen über ein Thema von Max Weber, 39–100; Green, Protestantism and Capitalism; Samuelson, Religion and Economic Action. Gosh, Die protestantische Ethik, 247; Kaube, Max Weber, 336–349. Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Konfuzianismus und Taoismus, 83–127 (Einleitung), 128–478 (I. Konfuzianismus und Taoismus), 479–522 (Zwischenbetrachtung). Vgl. auch: Vetrov/Schwinn/Müller/Stachura, Religionssoziologische Werke, 259–275; Preyer, Religionssoziologie, 81–91; Schmidt-Glintzer, Zur Geltung und Aktualität von Max Webers Studie über Konfuzianismus und Taoismus, 85–99; Lee, Kritik; Lin, Ethik; Schluchter, Studie; Zingerle, Max Weber. Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus Vgl. auch: Stachura, Hinduismus, 271–275; Preyer, Religionssoziologie, 91–101; Munshi, Revisiting Max Weber on India, 53–68; Bechert, Zur Buddhismus-Interpretation Max Webers, 101–107. Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Das antike Judentum. Vgl. auch: SchäferLichtenberger, Das antike Judentum, 279–286; Eisenstadt, Max Weber on Ancient Judaism, 139–174; Spöttel, Max Weber. Preyer, Religionssoziologie, 101–107; Paul, Max Weber und die „islamische Stadt“, 109–137; Schluchter, Max Webers Sicht des Islams; Turner, Weber and Islam. Gosh, Protestantische Ethik, 247.

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Bei seiner eurozentrischen Fragestellung stand das Ergebnis freilich von vorneherein fest. Mit großer Gelehrsamkeit führte er auf der Grundlage des damaligen Forschungsstandes nur noch den Nachweis, warum die betreffenden Kulturen mit ihren jeweiligen Religionen und Weltanschauungen keine moderne Wirtschaft und weltgestaltende Rationalität hervorbringen konnten. In China und der islamischen Welt habe das Fehlen autonomer Stadtgemeinden ein strategisches Defizit bedeutet, während Indien durch das religiös legitimierte Kastensystem blockiert gewesen sei. Die in jenen Kulturen ebenfalls vorhandene Rationalität sei im Gegensatz zum Abendland in China auf optimale Einfügung in die kosmische Ordnung gerichtet gewesen, in Indien auf Techniken der Weltverneinung. Die weltgeschichtliche Führung der abendländischen Rationalität protestantischer Herkunft war damit wissenschaftlich legitimiert. Max Weber bezeichnete sich zwar als „religiös unmusikalisch“46, war aber mit der evangelischen Theologie vertraut und ein für alle Mal von der historischen Inferiorität des Katholizismus überzeugt. Die protestantische Ethik kann durchaus „als eine Kampfschrift des Kulturprotestantismus im Gewand einer wissenschaftlichen Untersuchung“ bezeichnet werden.47 Nichtsdestoweniger verabscheute er das Luthertum seiner Mutter48 und auch das Verhältnis zu den Puritanern, seinen Helden, und zur Modernisierung war nicht ungebrochen. Berühmt ist seine Feststellung: „Der Puritaner wollte Berufsmensch sein – wir müssen es sein“, gefolgt von der Rede vom „stahlharten Gehäuse“, das daraus entstanden ist und in dem die Menschen wohnen müssen.49 Dennoch, auch in säkularisierter und vielleicht sogar tragischer Gestalt war der reformierte Protestantismus für ihn zur globalisierten Religion der Modernität geworden. Das konvergierte durchaus mit dem Selbstverständnis der zeitgenössischen Reformer aus anderen Kulturen. Aber dieses protestantische Selbst- und Weltverständnis ist inzwischen aus zwei Gründen hinfällig geworden. Erstens sind Webers Thesen fehlerhaft und widerlegt. Die protestantische Ethik hat sich durch Webers mangelnde wissenschaftliche Sorgfalt und den willkürlichen Umgang mit seinen Schlüsselquellen Richard Baxter und Benjamin Franklin von selbst erledigt.50 Der Einfluss von 46 47 48 49 50

Weber, Asketischer Protestantismus, 22–24. Steinert, Fehlkonstruktionen, 25. Weber, Asketischer Protestantismus, 22–24. Ebd., 423f. Hervorhebung im Original; Schellong, Wie steht es, 16f. Steinert, Fehlkonstruktionen, 35–171; Samuelson, Religion; Weber, Asketischer Protestantismus, 128; Schellong, Wie steht es, 34–37. Vgl. auch Schilling, Die Kirchenratsprotokolle der Reformierten Gemeinde Emden 1557–1620; Pütz, Auseinandersetzung; Pütz, Max Webers These. Ein hoch angesehener Philosoph des späteren 20. Jahrhunderts hat diese bei Max Weber anzutreffende Vorgehensweise für sich selber sogar unverblümt eingestanden: „Ich glaube, daß ich mir die fremden Zungen auf eine, hermeneutisch gesehen, brutale Art und Weise zu eigen mache. Auch wenn ich viel zitiere und andere Terminologien übernehme, weiß

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Religion auf das Wirtschaftsverhalten war ohnehin nie so direkt und auf eine Konfession beschränkt.51 Die Untersuchung der Auslegung des biblischen Talente-Gleichnisses Mat 25, 14–30 und Luk 19, 11–27 durch Katholiken, Lutheraner und Reformierte hat, anders als nach Weber zu erwarten wäre, kaum Unterschiede ergeben. Auch die Calvinisten lassen die weltliche Wirtschaft dabei beiseite.52 Und im Gegensatz zu Max Webers Spiritualismus53 hat Kapitalismus überhaupt keinen Geist, sondern ist von aggressiver Faktizität, die sich durchsetzt und ihre Legitimation selbst erzeugt.54 Webers These überlebt nur, weil sie immer noch bestimmte Bedürfnisse bedient. Durch Talcott Parsons’ Übersetzung ist sie in Amerika geradezu ein sacred text geworden, der amerikanische Träume formuliert: einerseits die kapitalistischen Lohnarbeits- und Kleinunternehmermoral des wirtschaftlichen Erfolgs, anderseits die chiliastische Vorstellung von der Ausbreitung der eigenen einzigartigen, aus dem Puritanismus und der Erweckungsbewegung erwachsenen Lebensform über die ganze Erde.55 Die breiter angelegte Wirtschaftsethik der Weltreligionen enthält zwar solidere Ergebnisse, leidet aber unter der eurozentrischen Fragestellung und Begrifflichkeit. Asiatische Befunde wurden zu Unrecht am europäischen wie dem angelsächsischen Kapitalismus oder der italienischen Stadtrepublik des Mittelalters als Normalfällen gemessen. Weber hielt vergebens Ausschau nach abendländischen Phänomenen wie Dogma, Glaube, Gnade, Gebot und sogar nach der Religion selbst im europäischen Sinn, denn wenn es anderswo solche Dinge gab, wurden sie mit anderen Kategorien sortiert.56 In Indien hatten die Engländer die spezifisch brahmanische Gesellschaftstheorie des Kastensystems übernommen, sie implementiert und anschließend empirisch verifiziert. Max Weber fiel prompt auf dieses zirkuläre Verfahren herein.57 In China kam sein allzu eindeutiges Bild des Konfuzianismus durch Unkenntnis der Blütezeit der Song-Kultur mit ihrem Neo-Konfuzianismus zustande.58 Seine Konstruktionen vom statischen NichtEuropa machen Weber also geradezu zum Klassiker des Othering und des Orientalismus im Sinne Edward Saids.59 Vor allem aber musste seine eurozentrische Meistererzählung infolge gewandelter Machtverhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg und der Dekolonisa-

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ich genau, daß mein Gebrauch mit dem, was die Autoren gemeint haben, manchmal wenig zu tun hat“ (Habermas, Dialektik der Rationalisierung, 208). Vgl. Reinhard, Die Bejahung des gewöhnlichen Lebens, 265–303. Böhl, Das Christentum und der Geist des Kapitalismus. Hennis, Grundlagen. Steinert, Fehlkonstruktionen, 19. Ebd., 23; Scaff, Max Weber, 211–228; Beyreuther, Die Erweckungsbewegung, 11. Paul, Max Weber und die „islamische Stadt“, 129–137. Rösel, Hinduismusthese. Stachura, Hinduismus, 268. Said, Orientalismus.

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tion dringend durch eine polyzentrische ersetzt werden. Das sollte die universalhistorische These von der Achsenzeit leisten, die der Philosoph und WeberVerehrer60 Karl Jaspers (1883–1969) schon 1949 vorlegte, auch er mit kulturprotestantischem Hintergrund. Denn er geht von der „Glaubensthese aus, daß die Menschheit einen einzigen Ursprung und ein Ziel habe“61, die wir aber nicht kennen. Für die historisch fassbare Zeit dazwischen sammelte er Sachverhalte im Sinne dieser philosophischen Einheitsidee. Dabei entdeckte er zwischen 800 und 200 v. Chr. eine „Achse der Weltgeschichte, die für alle Menschen auf Grund empirischer Einsicht überzeugend und für alle Völker ein gemeinsamer Rahmen geschichtlichen Selbstverständnisses sein könnte“62: In dieser Zeit drängt sich Außerordentliches zusammen. In China lebten Konfuzius und Laotse, entstanden alle Richtungen der chinesischen Philosophie, dachten Mo-Ti, Tschuang-Tse, Lie-Tse und ungezählte andere – in Indien entstanden die Upanishaden, lebte Buddha, wurden alle philosophischen Möglichkeiten bis zur Skepsis und bis zum Materialismus, bis zur Sophistik und zum Nihilismus, wie in China, entwickelt – in Iran lehrte Zarathustra das fordernde Weltbild des Kampfes zwischen Gut und Böse – in Palästina traten die Propheten auf [die schon Weber so wichtig waren – W.R.] von Elias über Jesaias und Jeremias bis zu Deuterojesaias – Griechenland sah Homer, die Philosophen – Parmenides, Heraklit, Plato – und die Tragiker, Thukydides und Archimedes […] ohne daß sie gegenseitig voneinander wußten. Das Neue […] ist […], daß der Mensch sich des Seins im Ganzen, seiner selbst und seiner Grenzen bewußt wird. […] Er drängt […] auf Befreiung und Erlösung. […] Er erfährt die Unbedingtheit in der Tiefe des Selbstseins und in der Klarheit der Transzendenz. Das geschah in Reflexion. Bewußtheit macht noch einmal das Bewußtsein bewußt, Denken richtet sich auf das Denken.63

Freilich gerät die sorgfältig hergestellte historische Gleichrangigkeit gleich wieder ins Wanken, denn in China und in Griechenland war es mit Transzendenz im Sinne von Übernatürlichkeit nicht weit her und objektiv ließ sich „der Vorrang des Abendlandes an weltgestaltender Wirkung“ auch nicht bestreiten. Doch dieser sollte komplementär mit den Errungenschaften der indischen und chinesischen Philosophie wettgemacht werden, die dem Westen abgingen.64 Jahrzehnte später wurde die fast vergessene65 Achsenzeittheorie von Shmuel N. Eisenstadt (1923–2010) wieder aufgegriffen und erweitert.66 Einerseits stellte er die Spannung zwischen transzendenten Visionen und der gesellschaftlichen Wirklichkeit in den Mittelpunkt. Andererseits dezentrierte er die Theorie durch 60 61 62 63 64 65 66

Radkau, Max Weber, 840. Jaspers, Vom Ursprung, 17. Ebd., 19. Ebd., 20. Ebd., 94f. Wagner, Palomar’s Question, 87–100. Eisenstadt, Protestantische Ethik.

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Einbeziehung neuer historischer Befunde. Weltgeschichtlich wichtige Länder wie Japan kamen nämlich in der Achsenzeit nicht vor. Denn Eisenstadt ist auch der „Erfinder“ der multiple modernities, die historisch an die Stelle der einen, westlich generierten Modernität treten sollten.67 Die Achsenzeit wurde für ihn zur Voraussetzung für erfolgreiche Modernisierungen; multiple axialities entsprechen multiple modernities.68 Faktisch hat sich die Achsenzeittheorie allerdings angesichts dieser historischen Wirklichkeit als empirisch unhaltbar in Nichts aufgelöst.69 Sie erweist sich bereits unter Zeitperspektive als willkürliches Konstrukt. Warum diese 600 Jahre und nicht mehr? Warum darf Echnaton nicht dazugehören, warum nicht Jesus Christus und Mohammed, deren Botschaften mindestens so axial waren wie die des Buddha oder des Sokrates? Auch für Luthers Zeit konnten wir ja parallele Reformer identifizieren, die wie er die „Werke“ einer ritualisierten Tradition durch Spiritualisierung und eine persönliche Gottesbeziehung überwinden wollten. Es scheint also in der Geschichte immer wieder neue „Achsen“ gegeben zu haben. Aus räumlicher Sicht verhält es sich kaum anders. Warum keine mesopotamischen Kulturen, warum nicht Japan? Beide Schwierigkeiten wollte man durch Aufgeben des Epochencharakters und die Annahme eines zeitlosen axialen Kulturtyps oder gar von Axialität als Eigenschaft überwinden. Aber der Inhalt dieser Axialität ist ebenfalls kaum auf einen Nenner zu bringen. Die einzige eindeutige Gemeinsamkeit ist ein Fortschreiten zu einer Art von theoretischer Weltanschauung und zur Reflexivität oder – zur Zeit Luthers – zu mehr Spiritualität. Dergleichen dürfte aber zu unterschiedlichen Zeiten und nicht als linearer Prozess stattgefunden haben. Im Westen fällt das Frühmittelalter deutlich hinter den Stand der Antike zurück. Bei allen anderen Phänomenen handelt es sich nur um eine scheinbare Gemeinsamkeit, die oft durch Verwechslung des formalen mit dem materialen Aspekt zustande kommt. Denn formal standen alle Kulturen weitgehend vor denselben anthropologischen Problemen, material aber lösten sie diese Probleme auf unterschiedliche Weise. Ren bei Konfuzius und to agathon bei Plato sind selbstverständlich Verwandte, aber im Detail grundverschieden. Mönchtum in Japan, Thailand und im Abendland kennt ebenso viele Unterschiede wie Ge67 Vgl. Sachsenmaier/Riedel (Hg.), Reflections on Multiple Modernities; Eisenstadt, Comparative Civilizations and Multiple Modernities. 68 Zur Achsenzeit zusammenfassend: Eisenstadt, Axial Civilizations and the Axial Age Reconsidered, 531–564; Eisenstadt, The Axial Age Conundrum between Transcendental Visions and Vicissitudes of their Institutionalization, 277–293. 69 Vgl. die Sammelbände von Arnason/Eisenstadt/Wittrock (Hg.), Axial Civilizations and World History; Bellah/Joas (Hg.), The Axial Age and Its Consequences. Cambridge; sowie mein unveröffentlichtes Papier Achsenbruch, das ich 2008 zu der Tagung verfasst habe, deren Beiträge in Bellah/Joas (Hg.), The Axial Age veröffentlicht wurden.

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meinsamkeiten. Und die Transzendenz tritt ebenfalls in verwirrend vielen Gestalten auf.70 Nichtsdestoweniger wird das Konzept der Achsenzeit immer noch als Stütze angeblich globaler Religiosität protestantischer Herkunft eingesetzt. Robert N. Bellah (1927–2013), wie Eisenstadt ein Angehöriger der dritten Generation nach Jaspers und Weber, hat eine evolutionäre Religionsgeschichte bis einschließlich der Achsenzeit geschrieben.71 Er behauptet, wir hätten von der Achsenzeit gelernt, den Exklusivitätsanspruch der Hochreligionen einschließlich des Christentums zu überwinden und religiösen Pluralismus von Gleichrangigen, die sich respektieren, als unsere Bestimmung zu akzeptieren.72 Das ist nichts als eine notgedrungene globale Fortschreibung der protestantischen Vielfalt oder des religiösen Universalismus im Sinne der Aufklärung, wie er in Gotthold E. Lessings Nathan der Weise propagiert wurde. Die Ähnlichkeit von Vorstellungen religiöser Gleichheit in Indien und China – „alle Religionen sind eins“ hieß es dort – täuscht; diese erweisen sich genauer gesehen als inklusivistisch und haben keine gleichgewichtige Kommunikation mit Respekt für die Identität des Anderen im Sinn. Auch die katholische Kirche hat inzwischen ihren traditionellen Exklusivismus, der alle Andersgläubigen in die Hölle verdammte, durch globalen Inklusivismus ersetzt, der alle Menschen guten Willens zu ihren Mitgliedern macht, sie mögen wollen oder nicht. Und wenn die Achsenzeit laut Bellah der Menschheit nicht nur utopische Visionen beschert habe, sondern auch das Werkzeug der kritischen Analyse, dann ist abermals die Stimme des aufgeklärten Europa protestantischer Provenienz zu hören.73

Alte und neue globale Religiosität Die globale religiöse Szenerie besteht aber keineswegs nur aus den inneren Problemen der großen Weltreligionen und ihrer friedlichen oder gewalttätigen interreligiösen Kommunikation, die im Westen durch die Mission asiatischer Religionen und die Einwanderung zahlreicher Anhänger dieser Religionen zusätzlich kompliziert wird. Zwei weitere Phänomene des religiösen Feldes sind mindestens ebenso bedeutsam. Das eine ist die weltweite, kulturübergreifende Verbreitung populärer Vorstellungen und Praktiken, die abfällig als „Aberglauben“, neutraler als Esoterik bezeichnet werden. Buchhandlungen und das Internet halten ein reiches einschlägiges Angebot bereit. Genannt seien nur die 70 71 72 73

Dalfert, The Idea of Transcendence, 146–188. Bellah, Religion in Human Evolution. Ebd., 603–606. Bellah, The Heritage of the Axial Age, 465.

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Astrologie oder der Glaube an Hexen, der im Westen nach wie vor lebendig ist und im nachkolonialen Afrika wieder zu blutigen Verfolgungen geführt hat.74 Zweitens konkurrieren zahllose neue Religionen mehr oder weniger hybriden Charakters mit den etablierten Weltreligionen.75 Nicht nur in den USA, sondern auch in Nigeria scheint Kirchengründung ein gutes Geschäft zu sein. Man sollte aber auch die afroamerikanischen Religionen, die Gemeinden indischer Gurus und den überaus kreativen Religionsmarkt in Japan nicht übersehen. Religiöse Hybridbildungen, die dabei häufig auftreten, sind freilich nicht neu und waren im Einzugsbereich des Christentums auch nicht auf das Umfeld des Protestantismus beschränkt. Die Anhänger der Beatriz Kimpa Vita im katholischen Kongo des späten 17. Jahrhunderts gehören ebenso dazu76 wie die Mormonen in den protestantischen USA hundertfünfzig Jahre später. Eine besonders eindrucksvolle Geschichte hat die Église de Jésus-Christ sur la Terre par le Prophète Simon Kimbangu mit Sitz am unteren Kongo, die 1969 in den Weltkirchenrat aufgenommen wurde. Kimbangu war ein protestantischer Katechet und erfolgreicher Krankenheiler, der sich 1921 zum Propheten für Afrika proklamierte. Die katholische Mission fühlte sich bedroht und der Kolonialstaat witterte Aufruhr. Der Prophet lieferte sich wie Jesus selbst aus, wurde zum Tode verurteilt, dann aber begnadigt und bis zu seinem Tode 1951 im Gefängnis gehalten. Seine Anhänger wurden verfolgt, was der Verbreitung seiner Lehre eher nützte. 1958–1974 musste die von seiner Familie geleitete Kirche schließlich von den Kolonialmächten Frankreich, Belgien und Portugal anerkannt werden. Nach eigenen Angaben gehören ihr zehn Prozent der Kongolesen an, insgesamt 17 Millionen Gläubige weltweit. Sie hat Kimbangus Geburtsort Nkamba aufwendig zu einem neuen Jerusalem ausgebaut, betreibt eine Universität, einen eigenen Fernsehsender und vieles andere. Ihre Theologie verbindet ein streng puritanisches Christentum mit afrikanischen Elementen. Zum Beispiel wird für das Abendmahl wegen des Alkoholverbots statt Wein flüssiger Honig verwendet, statt Brot aber ein Gebäck aus Kartoffeln, Mais, Eiern und Bananen. Vor allem wird Kimbangu seit den 1970er Jahren nach Johannes 14,16– 26 als Inkarnation des Heiligen Geistes betrachtet, seine drei Söhne gelten seit 2002 sogar als Inkarnationen der Personen der Dreifaltigkeit.77 Mit so viel Heterodoxie hatte der Weltkirchenrat allerdings ein Problem. Doch wer befindet unter Evangelischen denn verbindlich darüber, was rechtgläubig ist? Die europäischen oder amerikanischen Erben Luthers und Calvins? Was ein lutherischer Theologe demgemäß mir gegenüber kürzlich als „Schwachsinn“ 74 75 76 77

Behringer, Hexen, Glaube, Verfolgung, Vermarktung. Rüther, Religiöse Interaktion, globale, 1165–1188. [Wikipedia] Kimpa Vita (siehe Link im Literaturverzeichnis). Vellut, (Hg.), Simon Kimbangu 1921, de la prédication à la déportation. Les sources; Martin, Kirche ohne Weiße.

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bezeichnet hat, stellt sich aus der Sicht der Beteiligten als produktive und völlig legitime Indigenisierung und Transformation des evangelischen Christentums dar. Wenn wir bei dem Maler Jean Fouquet Mitte des 15. Jahrhunderts die Dreifaltigkeit als drei weißgekleidete Männer dargestellt sehen, könnte uns der Zugang zum Glauben an eine fleischgewordene Dreieinigkeit leichter fallen, der von afrikanischen Vorstellungen geprägt ist. Denn dort ist die Offenbarung eben nicht abgeschlossen wie für unsere Kirchen. Sie kann vielmehr erneut stattfinden, wenn Geister und Götter von Menschen Besitz ergreifen. Auch bestimmte Strömungen der evangelischen und katholischen Kirchen rechnen ja auch noch mit neuen, weiterführenden Offenbarungen. Außerdem ist auch unser Dreifaltigkeitsdogma erst durch Spekulation, die von griechischer Philosophie inspiriert war, aus unklaren Bibelstellen konstruiert worden. Muss ein Phänomen wie der Kimbanguismus deshalb nicht gleichberechtigt in die von Robert Bellah proklamierte interreligiöse Kommunikation einbezogen werden? Denn auch er gehört zur Globalisierung der reformatorischen Botschaft, ob uns das passt oder nicht!

Literatur Adair-Toteff, Christopher, Max Weber’s Sociology of Religion, Tübingen 2016. Bechert, Heinz, Zur Buddhismus-Interpretation Max Webers, in: H. Lehmann/J.M. Ouédraogo (Hg.), Max Webers Religionssoziologie in interkultureller Perspektive, Göttingen 2003, 101–107. Behringer, Wolfgang, Hexen, Glaube, Verfolgung, Vermarktung, München 2009. Bellah, Robert N., Religion in Human Evolution, Cambridge/London 2011. – The Heritage of the Axial Age: Resource or Burden?, in: R.N. Bellah/H. Joas (Hg.), The Axial Age and Its Consequences, Cambridge 2012, 463–465. Besnard, Philippe (Hg.), Protestantisme et capitalisme. La controverse post-weberienne, Paris 1970. Beutel, Albrecht/Walther, Gerrit, Art. Aufklärung 5.1. Religion und Kirche, Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 1, 2005, 805–807. Beyreuther, Erich, Die Erweckungsbewegung, in: Die Kirche in ihrer Geschichte, K.D. Schmidt/E. Wolf (Hg.), Bd. 4/R 1, Göttingen 1963. Bienfait, Agathe (Hg.), Religionen verstehen. Zur Aktualität von Max Webers Religionssoziologie, Wiesbaden 2011. Bily, Lothar, Die Religion im Denken Max Weber, St. Ottilien 1990. Böhl, Meinrad, Das Christentum und der Geist des Kapitalismus. Die Auslegungsgeschichte des biblischen Talentegleichnisses, Köln 2007. Conrad, Sebastian, Eine Kulturgeschichte globaler Transformation, in: S. Conrad/J. Osterhammel (Hg.), Wege zur modernen Welt 1750–1870, München 2016, 411–625. Dalfert, Ingolf U., The Idea of Transcendence, in: R.N. Bellah/H. Joas (Hg.), The Axial Age and Its Consequences, Cambridge 2012, 146–188.

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Was es bringt, katholisch zu sein Katholische Konfessionalisierung durch die Fugger

Schon im späten Mittelalter hatten Christen nach Wegen gesucht, ihre Gemeinden zu verändern und mehr Gestaltungsspielräume zu erringen. Mit der Reformation begann ein schleichender Wandel, der eine große Bandbreite an Praktiken und Mischformen in sich barg, ohne dass die Grenzen zwischen einzelnen Konfessionen bereits gezogen waren.1 In den konfessionellen Formierungsprozessen des 16. und frühen 17. Jahrhunderts positionierten sich Herrscher, Eliten und Gemeinwesen durch die Wahrnehmung und Wahrung der eigenen und anderweitiger Interessen. So standen bei den Kosten-Nutzen-Überlegungen auf der katholischen Seite die Option der Versorgungsmöglichkeit mit kirchlichen Pfründen und die Allianz mit anderen katholischen Kräften auf der Seite der Aktivposten, während die nicht katholischen Konfessionen mehr Selbständigkeit bei der Gestaltung kirchlichen Lebens bezüglich des kirchlichen Eigentums, der Lehre und der Herrschaft in Aussicht stellten. Welche Gruppierung konnte die Bedürfnisse von Pfarreingesessenen, Patronatsherren und lokalem Adel2 besser erfüllen – den Wunsch nach sinnstiftenden Gewissheiten3 und reguliertem sozialem Verhalten?4 Druck oder Strafe kam als Motivation für die Fugger nicht in Frage. Die Kaufleute, Montanunternehmer und Bankiers, die aus ihrer Nähe zum Haus Habsburg kein Geheimnis machten, bevorzugten Krisenmanagement und Friedenswahrung zur Wahrung ihrer eigenen Interessen.5

1 2 3 4 5

Schilling, Reformation, 13−34. Holzem, Christentum in Deutschland 1550−1850, 339. Ebd., 556. Walsham, Zu Tisch mit Satansjüngern, 313. Armer, Friedenswahrung, Krisenmanagement und Konfessionalisierung, 311.

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Augsburg Die Gemeinde von St. Moritz, Augsburg stellt ein typisches Beispiel für eine Gemeinde am Vorabend der Reformation dar. Neben dem Chorherrenstift gab es hier eine Pfarrzeche, d. h. eine von Laien getragene Genossenschaft mit eigener Vermögensverwaltung, von der bürgerlichen Oberschicht dominiert, wozu auch die Fugger gehörten. Jacob Fugger schuf mit der Zeche eine Prädikatur, verlangte dafür aber ein Mitspracherecht bei der Präsentation des Prädikanten.6 1517 wurde ihm und seiner Familie in einer Bulle das Patronatsrecht übertragen. Die Prädikatur war an ein Kanonikat gekoppelt, deswegen war der Prediger wirtschaftlich weitgehend selbstständig.7 Wie auch an anderen Stellen in Augsburg wurde diese Pfarrzeche zum Einfallstor der Reformation; denn man beschäftigte einen eigenen Prädikanten und unterhielt auch ein Predigthaus. Schon kurz nach seiner Berufung 1518 machte der Prädikant Dr. Johannes Speiser aus seinen Sympathien für die Reformation kein Geheimnis; als er durch den Theologen Dr. Johannes Eck als Ketzer diffamiert wurde, forderten 400 Mitglieder von St. Moritz seinen Schutz beim Rat, der dies zusicherte. Speiser bekannte sich ab 1524 wieder zur alten Kirche, was ihn zwar Fugger genehm machte, ihn aber seine Glaubwürdigkeit in der Gemeinde verlieren ließ. Jacob Fugger versuchte die Präsentation des Nachfolgers alleine zu regeln, da er befürchtete, dass die Gemeinde einen reformatorischen Prädikanten bevorzugen würde. Othmar Nachtigal, Prädikant zwischen 1525 und 1528, predigte gegen die reformatorische Entwicklung in der Stadt, galt trotz seiner Sympathien für manche reformatorischen Inhalte politisch als Verfechter der alten Kirche.8 Doch er konnte die wachsenden Spannungen zwischen Fugger und Gemeinde nicht lange aushalten. Der Rat der Stadt forderte für die Neubesetzung das Mitwirkungsrecht der Gemeinde ein; das Ergebnis war eine Doppelbesetzung: Predigt und Seelsorge wurden von nun an von Georg Storr, dem Fugger’schen Kandidaten, und Ulrich Rehlinger ausgeübt. Und dabei blieb es für die nächsten acht Jahre. In dieser Zeit, die vielfach als Blockade gedeutet wurde, konnten sich die Vorstellungen von Gemeinde und Kirche, die noch im Fluss waren, stabilisieren. 1533 beendete der zwinglianische Zechpfleger Marx Ehem die Pattsituation zwischen der Gemeinde und den Fuggern: Georg Storr, Prädikant der katholischen Seite, wurde ebenso aus der Kirche ausgesperrt, wie auch die Fugger. Zusätzlich wurde eine Christusfigur entfernt, mit der die Grablegung am Karsamstag als auch die Himmelfahrt nachgespielt wurden,9 das Loch in der Decke 6 7 8 9

Kießling, Eine „Doppelgemeinde“, 112. Scheller, Memoria an der Zeitenwende, 281. Häberlein, Die Fugger, 174. Kießling, Doppelgemeinde, 136.

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dafür ließ Ehem verschließen. Der Streit eskalierte, denn Fugger stiftete eine neue Figur, die tatsächlich auch am Himmelfahrtstag verwendet wurde. Marx Ehem störte den Gottesdienst und schlug die Kirchenbesucher in die Flucht. Doch Anton Fugger wurde als Unruhestifter zu sieben Tagen Turmstrafe verurteilt. Tatsächlich musste er nur eine Nacht im Turm verbringen, der Rest wurde gegen Zahlung von 25 fl. an die Armenkasse abgelöst und ein Tag auf Bewährung ausgesetzt.10 In den nächsten Jahren fanden wesentliche Veränderungen statt: Der Schwerpunkt der lutherischen Reformation verlagerte sich nach St. Moritz,11 man begann mit Umbaumaßnahmen, um die Kirche als Teil des ökonomischen Zentrums zu präsentieren. Schließlich wurde 1545 das Predigthaus abgerissen.12 Man ging wohl davon aus, dass die Pfarrzeche keine Verwendung mehr dafür hatte, nachdem sie in die Stiftskirche umgezogen war; außerdem gab es zu diesem Zeitpunkt keinen katholischen Gottesdienst mehr in Augsburg. Anton Fugger trat erst wieder 1548 in Erscheinung. Nachdem der Kaiser Augsburg im Schmalkaldischen Krieg unterworfen hatte, wurde St. Moritz den Katholiken zurückgegeben. Die Fugger erhielten das Patronat und nutzten dieses auch, um in die Gestaltung der Gottesdienste einzugreifen. So wurde der Geistliche Zasius dafür gerügt, wie er sich durch den Kirchraum zur Kanzel bewegte; ebenso sollte er ein Ritual bei der Eheschließung weglassen, das für Fugger wohl nicht eindeutig katholisch war.13 Das Predigthaus war abgerissen, deswegen musste die evangelische Gemeinde nach St. Anna ausweichen. Auch in St. Anna waren die Fugger eine bekannte Größe: Das Bettelordenskloster war mit dem Augsburger Großbürgertum besonders über das Totengedächtnis verbunden; dort hatte Jakob Fugger eine Kapelle gestiftet, die 1517 fertiggestellt wurde.14 Doch als sich dort eine Hörergemeinde mit reformatorischen Sympathien gebildet hatte, und an Weihnachten 1525 das erste reformatorische Abendmahl gefeiert wurde, wandte sich Jakob Fugger strikt ab und übertrug die liturgische memoria an die Dominikaner.15 Als Jakob Fugger 1525 starb, wurde er zwar in St. Anna bestattet, doch sein Testament gab den Erben die Möglichkeit, das Gedenken auch in andere Kirchen zu transferieren.16 Deswegen gibt es bis heute im evangelischen St. Anna eine Fuggerkapelle, in der einmal im Jahr ein katholischer Gottesdienst stattfindet. Nach dem Weggang etlicher Mönche von St. Anna, der in der Auflösung des Karmeliterklosters gipfelte, war 10 11 12 13 14 15 16

Ebd., 138. Ebd., 134. Ebd., 143. Scheller, Memoria, 267. Häberlein, Fugger, 168. Scheller, Memoria, 277. Häberlein, Fugger, 172.

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auch das liturgische Gedenken an die Stifter der Fuggerkapelle nicht mehr gewährleistet bzw. schon als diese zur Reformation übertraten, wurde die Fürbitte für die Toten abgelehnt.17 Das Gebet für die Verstorbenen wurde den Bewohnern der Fuggerei übertragen: der Sozialsiedlung für Handwerker und Tagelöhner, die aus eigener Kraft keinen Haushalt führen konnten. Die Bewohner müssen bis heute täglich ein Vaterunser, ein Glaubensbekenntnis und ein Ave Maria für den Stifter und die Stifterfamilie Fugger beten. Da an dieser Stiftung nur die Stifterfamilie und die Bewohner beteiligt waren, konnte die Reformation nicht eingreifen; auch gab es dafür kein Interesse, da die Fuggerei als Instrument der Armenfürsorge für „wahrlich Bedürftige“ im Einklang mit dem Konzept der Gemeinnützigkeit in der evangelischen Reichsstadt stand.18 1555 übernahm Marx Fugger die Verantwortung für die Stiftung; es liegt nahe, dass er schon zu diesem Zeitpunkt einen Nachweis der „Rechtgläubigkeit“ der Bewohner forderte.19 Als 1581 eine Kapelle in der Fuggerei gebaut wurde, bot diese auch die Möglichkeit, die Religiosität der Bewohner zu kontrollieren. Wer nicht katholisch war, wurde ausgewiesen. Seit den 1560er Jahren setzten sich die Fugger für eine Ansiedlung der Jesuiten ein und wollten ihnen den Aufbau eines Kollegs ermöglichen; doch als mehrere Jesuiten auf das Zinsverbot pochten und den Mitgliedern der Handelsgesellschaft die Absolution verweigerten, schien dies unmöglich. Die großzügigen Schenkungen der Familie könnten als „Versöhnungsangebot“ gesehen werden;20 des Weiteren wurde die Niederlassung der Kapuziner unterstützt.21

Leeder Ausgehend vom urbanen Zentrum ihrer Tätigkeit, Augsburg, weitete das schwäbische Kaufmanns- und spätere Adelsgeschlecht seinen Einfluss auch auf ländliche Gebiete aus. 1595 erwarb Jacob Fugger das evangelische Leeder, südlich von Landsberg; so gelangte die Herrschaft an die Fugger als katholische Adelsfamilie, denen das ius reformandi des Augsburger Religionsfriedens grundsätzlich zustand. Bereits zwei Tage nach dem Kauf setzte Fugger einen katholi17 1522 wurde die letzte Jahrtags-Stiftung verzeichnet. Schott, Beiträge zur Geschichte des Carmeliterklosters, 254f. Zitiert in: Kießling, Doppelgemeinde, 110. 18 Scheller, Memoria, 280. 19 Nicht erst 1572 wie durch Belege nachweisbar. Scheller, Memoria, 272. 20 Häberlein, Fugger, 182. 21 Inwieweit die Fugger hier dem kaiserlichen Druck auf gemischt-konfessionelle Reichsstädte nachgaben, Kapuzinerklöster für die städtische Predigt und Individualseelsorge zu gründen, lässt sich nicht nachvollziehen (Holzem, Christentum in Deutschland, 412).

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schen Pfarrer ein, dem er prompt mehr als üblich bezahlte, mit der Begründung, „weil mit meinen underthonen müeh, vließ und arbeith [habe], biß sy wider bekhert werden“22, also eine Bekehrungsprämie. Der Vogt von Leeder war bereits drei Wochen vor Abschluss des Kaufes verpflichtet worden, für die Abhaltung von Gottesdiensten zu sorgen und die Teilnahme der Untertanen zu kontrollieren.23 Fugger sah also seinen Pfarrer als Multiplikator der Konfessionalisierung. Auch wenn über die theologische Grundbildung dieses Priesters nichts bekannt ist, so sollte er die „richtige“ konfessionelle Ausrichtung – Konfessionalisierung – der Laien leisten; bisherige Versuche durch das Herzogtum Bayern und den Bischof von Augsburg waren gescheitert. Da die öffentliche Wohlfahrt eng an den Gehorsam gegenüber der weltlichen und der überweltlichen Macht gebunden war, belief sich diese vorrangig in der Vereinheitlichung der äußeren Verhaltensweisen, wie der Kontrolle der Gottesdienstteilnahme, der Osterpflicht24 und Einhaltung der Verordnungen zur Gestaltung von Sonn- und Festtagen, zu Bußund Fastenzeiten.25 Als nächstes ließ Jacob Fugger im September 1595 die Kirche neu weihen und bei dieser Gelegenheit die Firmung spenden. Hier betonte er noch in seinem Aufruf die Freiwilligkeit der Teilnahme,26 wenig später erließ er jedoch eine Gerichtsordnung, in der der Eid in der katholischen Form geschworen werden musste, nämlich zu Gott und den Heiligen.27 Neben dem Gottesdienstbesuch sollte der Vogt auch die Einhaltung des Arbeitsverbots an Sonn- und Feiertagen überwachen, ebenso die Beschäftigung von katholischen Knechten und Mägden. Verstöße gegen diese Vorschriften wurden mit Ausweisung geahndet.28 Weitere Normen der Gerichtsordnung deckten Aspekte der Verheiratung, der Geselligkeit, wie Tanz oder Trinken, oder der Gotteslästerung ab.29 Die Fugger bemühten 22 Bestallung für Pfarrer Christian Speckhlin, 25. Juli 1595, Staatsarchiv Augsburg (StAA), Hochstift Augsburg, Neuburger Abgabe (NA), Akten 2472, fol. 4F. Zitiert in: Birkle, Reichsritterschaft, 65. 23 Bestallung für Vogt Michael Sürgensteiner, 1. Juli 1595, StAA, Hochstift Augsburg, NA, Akten Nr. 2472, fol. 1f. Zitiert in: Birkle, Reichsritterschaft, 64. 24 Holzem, Christentum in Deutschland, 399−402. 25 Holzem, Der „katholische Augenaufschlag beim Frauenzimmer“, 132−136. 26 „Yedoch will ire genaden, das derselben unnderthanen daruue kainen nit zwingen unnd waß ein yedlicher von sich selberß und guetwillig thuen will, dz steet bey aines yedlich freyen willen.“ StAA, Hochstift Augsburg, NA, Akten Nr 2472, fol. 1, Ermahnung Jacob Fuggers an seine Untertanen, 10. September 1595. Zitiert in: Birkle, Reichsritterschaft, 65. 27 Gerichtsordnung Leeder und Welden betreffend, 1. Oktober 1595, Fürstlich und Gräflich Fuggersches Familien− und Stiftungsarchiv (FA) 30.1.1, fol. 3. Zitiert in: Birkle, Reichsritterschaft, 66. 28 Gerichtsordnung Leeder und Welden betreffend. FA 30.1.1, fol. 3. Zitiert in: Birkle, Reichsritterschaft, 66. 29 Birkle, Reichsritterschaft, 66f.

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sich demnach, eine „konfessionsübergreifende“ Alltagskultur nach dem Vorbild eines christlichen Grundkonsens zu gestalten. Auch das eine Bildnis Luthers und die 41 protestantischen Bücher, die sich bei fünfzehn Untertanen fanden, wurden öffentlich im Schloss verbrannt, nicht ohne den Untertanen einen Grundstock an katholischen Büchern zur Verfügung zu stellen.30 Die Betroffenen wurden nicht zum Widerruf aufgefordert, deswegen kann diese Bücherverbrennung wohl als symbolisches Bekenntnis eingeordnet werden. 1597 bezeugte eine katholische Visitation, dass Leeder wieder vollständig katholisch sei.31 Bei der problemlosen katholischen Konfessionalisierung nach 1595 schien die Obrigkeit alle Entscheidungen zu treffen; die Ausgabe der katholischen Bücher deutete jedoch darauf hin, dass – neben dem Pfarrer – gewisse Untertanen als Multiplikatoren eingesetzt wurden. Ebenso wiesen die Regelungen der Gerichtsordnung darauf hin, dass in diesem normativen Text Sachverhalte geregelt werden sollten, die vom gewünschten Verhalten abwichen.

Grönenbach In Grönenbach lag eine komplexe Gemengelage vor: 1612 kam Grönenbach, dessen Bevölkerung zum Teil katholisch war und zum Teil der schweizerischen Reformation anhing,32 unter die Herrschaft von Ottheinrich Fugger. Besitz- und Herrschaftsrechte der Herrschaften Grönenbach und Rotenstein, damit des Katholiken Fugger und des Reformierten Pappenheim, waren eng verzahnt.33 1619 starb Philipp von Pappenheim. Er hatte seine Erben im sogenannten „rotensteinischen Testament“ verpflichtet, die reformierte Religion zu erhalten und die reformierten Untertanen zu schützen, auch wenn sie selbst nicht dieser Religion angehören mussten.34 Damit wollte er zum einen, die reformierte Religion erhalten, obwohl diese reichsrechtlich noch als Sekte galt35 und keinen Rechtsschutz genoss,36 gleichzeitig die Herrschaftsansprüche der Familienangehörigen sichern, die meist Katholiken waren. Dieser Anspruch, den die Erben unbedingt zu erfüllen hatten, wollten sie nicht ihr Erbe verlieren, stand in 30 Verzeichnis katholischer Bücher, 19. Dezember 1595, StAA, Hochstift Augsburg, NA, Akten 2473a. Zitiert in: Birkle, Reichsritterschaft, 68. 31 Zoepfl, Das Bistum Augsburg und seine Bischöfe im Reformationsjahrhundert, 723. 32 Franz Christoph von Pappenheim an Bonaventura Fugger, 22. Januar 1674, StAA, Fürststift Kempten, NA, Akten 1788, 51/C/19. Zitiert in: Hoser, Die reformierten Gemeinden in den Herrschaften Grönenbach, 162. 33 Ebd. 34 Birkle, Reichsritterschaft, 196. 35 Birkle, Herrschaftsaufbau und Konfessionalisierung, 31. 36 Hoser, Gemeinden, 163.

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Konfrontation zu den Konfessionalisierungsvorhaben der katholischen Kräfte, nämlich Ottheinrich Fuggers, des Augsburger Bischofs und Fürststifts Kempten, das die Hochgerichtsbarkeit innehatte und über seine Zinser in Grönenbach und in weiteren Dörfern vertreten war.37 Ottheinrich regierte die Herrschaft Grönenbach nicht selbst vor Ort, sondern durch einen Verwalter, der einerseits weitreichende Befugnisse innehatte und sich andererseits durch Korrespondenz mit seinem Herrn abstimmte.38 Als erster Schritt sollte der reformierte Grönenbacher Prediger Philipp Gessert aus dem Amt entfernt werden; mit der Begründung, er bringe die Calvinisten gegen die Katholiken auf.39 Am 2. September 1621 wurde nicht nur der Prediger aufgrund des Dekrets des Fürstabts von Kempten, Johann Eucharius von Wolffart, ausgewiesen, die – bis dahin von Katholiken und Reformierten genutzte40 – Stiftskirche wurde gesperrt und den Reformierten die Religionsausübung verboten. Die Mittel für den reformierten Prediger und Schulmeister wurden eingefroren41 und ein jahrelanger Streit um die Abgaben entbrannte.42 Doch die Reformierten nahmen dies nicht widerstandslos hin. Sie holten einen neuen Prediger, Hans Adolf Langhans, der jetzt in der Spitalkirche predigte; auch er wurde 1626 vom Fürstabt verhaftet und ausgewiesen. Den Kompromissvorschlag, einen lutherischen Prediger einzusetzen, akzeptierten weder der Kemptener Fürstabt noch die reformierten Untertanen; diese liefen stattdessen zum Gottesdienst in die Herrschaft Theinselberg aus, die nicht dem Fürststift unterstellt war; hier wirkte der ausgewiesene reformierte Prediger Langhans.43 Ein reformierter Prediger konnte 1632 wieder für Grönenbach bestellt werden, als die Schweden das Gebiet des Stifts Kempten kontrollierten; die Fugger konnten keine Hilfe von dem exilierten Fürstabt erwarten. Nach der Niederlage der Schweden und ihrem Abzug wurde das Verbot der reformierten Religionsausübung durch den Fürstabt erneuert und die Leistung der Abgaben mit militärischer Gewalt erzwungen,44 vermutlich auch der reformierte Prediger vertrieben.45

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Birkle, Reichsritterschaft, 156. Ebd., 191. Ebd., 200. Hoser, Gemeinden, 162. Fuggerischer Verwalter Zeiß an Gräfin Maria Elisabeth Fugger, 23. April 1649, (Abschrift), StAA, Fürststift Kempten, NA, Akten 391, 51/B/22. Zitiert in: Hoser, Gemeinden, 164. Ebd. Birkle, Reichsritterschaft, 219−224. Hoser, Gemeinden, 166. Ebd., 167.

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Erst mit dem Westfälischen Frieden 1648 erhielten die Reformierten ihre Anerkennung als Religionspartei; im Rahmen der Regelungen des Normaljahres musste der Konfessionsstand vom 1. Januar 1624 wiederhergestellt werden,46 was in Grönenbach und Rotenstein durch eine Kommission unter dem Vorsitz von Württemberg und Konstanz als den beiden ausschreibenden Fürsten im Schwäbischen Reichskreis geschehen sollte. Doch 1624 war der Prediger Gessert bereits ausgewiesen worden und Langhans war erst 1625/26 nach Grönenbach gekommen. So war Bonaventura Fugger, der älteste Sohn aus Ottheinrichs zweiter Ehe, optimistisch, was seine Konfessionalisierungsvorhaben anging; dazu kam, dass Wolf Philipp von Pappenheim kein Interesse mehr hatte, die reformierte Seite zu unterstützen.47 Doch die Reformierten forderten die Wiederherstellung eines „reformierten exerzitiums“; dem wurde durch die Kommission 1649 stattgegeben.48 Wolf Philipp von Pappenheim, selbst katholisch aber durch das rotensteinische Testament gebunden, versuchte gemeinsam mit Bonaventura Fugger die Abschaffung der reformierten Religionsausübung voranzutreiben. Dazu gehörte die Ausweisung des Predigers, die wenig einbrachte, da die Stelle von der Schweiz aus sogleich wieder besetzt wurde.49 Die Schweizer Reformierten waren durchaus am Erhalt der reformierten Gemeinde im heutigen Unterallgäu interessiert, betrachteten sie gar als Außenstelle. Neben der Aufbewahrung des rotensteinischen Testaments – um einen Zugriff Wolf Philipps zu erschweren – halfen sie durch finanzielle Unterstützung beim Wiederaufbau der im Krieg zerstörten Spitalkirche,50 entsandten Prediger und ließen Eidgenossen nach Grönenbach emigrieren.51 Zum weiteren Schutz diente die Unterstützung des brandenburgischen Kurfürsten, der die Ansprüche der katholischen Seite als unrechtmäßig interpretierte. 1695 verkauften die Fugger Grönenbach an das Fürststift Kempten, das sich zum Schutz der Reformierten verpflichtet hatte.52

46 Burkhardt, Das größte Friedenswerk der Neuzeit, 605−607. 47 Bonaventura Fugger an Johann Rudolf von Rechberg, Administrator des Bistums Ausburg. 3. März 1655, StAA, Fürststift Kempten Archiv, A 1340. Zitiert in: Birkle, Reichsritterschaft, 262. 48 Birkle, Reichsritterschaft, 245−251. 49 Birkle, Herrschaftsaufbau, 37. 50 Birkle, Reichsritterschaft, 265. 51 Ebd. 52 Ebd., 297−303.

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Konfliktpotentiale In gemischtkonfessionellen Gebieten hatten Bevölkerung bzw. Herrschaft Praktiken entwickelt, die zwar angesichts der Religionsdifferenz den Umgang im Alltag erlaubten, dennoch spezifische Konflikte hervorriefen,53 die besonders mit dem Beginn und Ende des Lebens zusammenhingen. Bei der Geburt sollte das Kind, wenn es als wenig lebensfähig angesehen wurde, möglichst katholisch getauft werden – selbst wenn dies über den Kopf der Mutter hinweg geschah; denn bei den Reformierten war die Nottaufe nicht üblich. Die geschah 1661, als das schwache Neugeborene der Reformierten Ursula Steinlin von den anwesenden Katholikinnen katholisch getauft und nach katholischem Ritus auf dem Friedhof begraben wurde.54 Ungetaufte Kinder durften laut Fürstabt und den Grafen Fugger nicht unter den übrigen getauften Toten beerdigt werden. Wollten die Eltern diese Kinder nicht im „Unschuldigenhäuschen“55 beisetzen, so mussten sie den beschwerlichen Weg auf sich nehmen, die toten Kinder bis nach Herbishofen zu bringen und dort zu begraben.56 Das Anliegen, die ganze Familie in einem Grab zu bestatten, lag auch 1670 dem Streit um das Begräbnis des pappenheimischen Untertanen Hans Henckhel im grönenbachischen Dorf Zell zugrunde. Henckhel wurde in der Grabstätte seiner Familie beerdigt;57 dieses Vorgehen entsprach jedoch nicht der Norm, Reformierte und Katholiken am jeweils bestimmten Platz zur letzten Ruhe zu betten. Die Angelegenheit eskalierte, dadurch dass der Fürstabt Bewaffnete anrücken ließ, um den Toten wieder auszugraben und in dem vorgeschriebenen Teil des Friedhofs zu bestatten.58 Nach weiteren Konflikten und verweigerten Bestattungen schaltete sich 1687 das Corpus Evangelicorum in Regensburg ein und forderte vom Augsburger Bischof, die Reformierten gemäß dem Westfälischen Frieden unbeeinträchtigt ihre Religion ausüben zu lassen.59

53 Ehrenpreis, Mischkonfessionalität und Konfessionalisierungforschung, 125. 54 Birkle, Reichsritterschaft, 272. 55 Jakob Jenisch an den fürststift−kemptischen Kanzler David Andler, 18. Februar 1670, StAA, Fürststift Kempten, NA, Akten 1466, 52/A/16. Zitiert in: Hoser, Gemeinden, 175. 56 Protest Pfarrer Paravicinis vom 30. Juli 1666, StAA, Fürststift Kempten, NA, Akten 408, 52/A/ 9. Zitiert in: Hoser, Gemeinden, 175. 57 Bericht vom 11.1670, StAA, Fürststift Kempten, NA, Akten 1466, 52/A/15. Zitiert in: Hoser, Gemeinden, 174. 58 Wolf Philipp von Pappenheim an Fürstabt Rupert von Kempten, 11. Februar 1670, StAA, Fürststift Kempten, NA, Akten 1466, 52/A/15. Zitiert in: Hoser, Gemeinden, 174. 59 Corpus Evangelicorum an Bischof Johann Christoph von Freyberg, 1687, StAA, Fürststift Kempten Archiv, A 1375, Prod. 29 A. Zitiert in: Birkle, Reichsritterschaft, 279.

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Noch größer wurde das Interesse an einer katholischen Taufe eines Kindes, wenn die Eltern zwei verschiedenen Konfessionen angehörten. 1713 wurde Barbara Grob, die unverheiratete Tochter des reformierten Schulmeisters von Grönenbach, schwanger. Da der Vater des Kindes der Stiefsohn des katholischen Amtmanns und Wirts war,60 galt die Hauptsorge des Pflegamtverwalters der katholischen Taufe des Kindes. Um diese sicherzustellen, sollte Barbara Grob bis zur Geburt des Kindes bei zwei katholischen Frauen wohnen, die das Kind sofort katholisch taufen lassen sollten.61 Natürlich gab es Druck auf die Kindseltern, zu heiraten, doch Barbara weigerte sich beharrlich zu konvertieren.62 Der Verwalter ordnete an, wenn sie den Vater nicht heiratete, müsse man dem Kind katholische Vormünder geben und sie sollte es nur die ersten drei Jahre behalten.63 Konfessionsgetrennte Ehen galten als Störfaktor, da die Gefahr bestand, dass einer der Partner zum Abfall vom wahren Glauben verführt oder ein Dauerzwist zwischen den Eheleuten grundgelegt wurde.64 Konvertiten wurden durch ihre soziale Isolation häufig zum lästigen Kostenfaktor und waren damit auch nicht für die Obrigkeit attraktiv.65 Dennoch wechselten einfache Leute meist im Zusammenhang mit ihrem Dienstverhältnis oder ihrer Eheschließung das Bekenntnis.66 Die Folge war, dass die Familien die Beziehungen kappten. So bei der Verlobung von Michael Schlauder, reformiertem Untertanen der Herrschaft Rotenstein, und Maria Stadler, katholisch, Untertanin des Fürstabts von Kempten, im Jahre 1671. Schlauder war bereit, katholisch zu werden, was Eltern und Freunde durch Schläge verhindern wollten. Sie erwarteten von der Braut den Konfessionswechsel und waren bereit, sich dies etwas kosten zu lassen. Nach Schlauders Konversion und Heirat verwandte sich der katholische Dekan bei Graf Bonaventura Fugger dafür, ihm eine freie Hofstätte zuzuteilen; Schlauder hatte die finanzielle und soziale Unterstützung durch seine Familie verloren.67 Vielfach wurden die konfessionellen Konflikte von den Pfarrern geschürt; Übergriffe gab es auf beiden Seiten, je nachdem, welche Seite die Oberhand hatte.68 Trotz aller Konflikte empfand man die konfessionellen Unterschiede 60 Verhörprotokolle vom 2. Januar 1713 und 11. Januar 1713, StAA, Fürststift Kempten, NA, Akten 1793 52/A/6. Zitiert in: Hoser, Gemeinden, 170f. 61 Bericht Nidermayers, 12. März 1713, StAA, Fürststift Kempten, NA, Akten 1793, 52/A/6. Zitiert in: Hoser, Gemeinden, 171. 62 Bericht Kollers an den stiftkempischen Hofrat, 11. März 1713; Nidermayer an Koller, 12. März 1713, StAA, Fürststift Kempten, NA, Akten 1793, 52/A/6. Zitiert in: Hoser, Gemeinden, 171. 63 Bericht Nidermayers vom 2. April 1714; Nidermayer an Koller, 12. März 1713, StAA, Fürststift Kempten, NA, Akten 1793, 52/A/6. Zitiert in: Hoser, Gemeinden, 171. 64 Freist, Glaube – Liebe – Zwietracht, 453. 65 Bock, Konversionen in der frühzeitlichen Eidgenossenschaft, 193. 66 Volkland, Konfession und Selbstverständnis, 182f. 67 Dekan Georg Megglin an Bonaventura Fugger, 29. Januar 1673, FA, 26,1,21. Zitiert in: Birkle, Reichsritterschaft, 285. 68 Hoser, Gemeinden, 181.

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nicht immer als unüberbrückbar. 1685 trugen sich die pappenheimischen und fuggerischen Untertanen mit dem Wunsch, gemeinsam eine Gastwirtschaft einzurichten. Doch Dekan Moll riet dem Grafen Bonaventura Fugger davon ab, denn das gemeinsame Feiern habe schon in der pappenheimischen Wirtschaft dazu geführt, dass man miteinander calvinistische Psalmen singe.69 Auch in anderen Regionen hatte es bereits Konflikte um Wirtshäuser gegeben, die als Brutstätte der Unmoral, „Bollwerke alternativer Geselligkeit“ und damit als Konkurrenz empfunden wurden.70 Denn diese übernahmen in einer multikonfessionellen Bevölkerung immer mehr die Funktion einer Kommunikations- und Verhandlungszentrale und lösten damit die Gemeinde ab.71 Wie konnten in diesen kleinen Ortschaften des heutigen Unterallgäus konfessionelle Minderheiten überleben? Militärischer Schutz durch die Pappenheimer schied aus, sie waren als Territorialherren zu schwach. Verhandlungen brachten meist nur Ergebnisse, die nicht tragfähig waren; so mussten die verschiedenen verfassungsmäßigen Institutionen einbezogen werden. Niemand hatte Interesse, einen Präzedenzfall bezüglich der Konfessionsfragen zu schaffen; deswegen konnten die nichtkatholischen Reichsstände oder das Corpus Evangelicorum am Reichstag verhindern, den labilen Status quo des Westfälischen Friedens zu stören.72 Auch die reformierten Städte der Schweizer Eidgenossenschaft griffen den gleichgesinnten Kirchengemeinden im Allgäu immer wieder finanziell unter die Arme, weil ihnen viel an diesen Allgäuer Außenposten lag. Deswegen waren sie auch bereit, die übrigen reformierten Städte in der Schweiz zu mobilisieren und immer wieder die protestantischen Reichsfürsten zum Eingreifen zu motivieren.73

Fazit Bei den Fuggern wird der doppelte Konnex zwischen Obrigkeit und Konfessionsbildung deutlich.74 Dabei lag das Hauptinteresse genauso auf der konfessionellen Homogenisierung des Untertanenverbandes als auch darauf, die Handlungsfähigkeit der Obrigkeit unter Beweis zu stellen. In diesem Rahmen mussten sie die wichtigsten Konfliktpunkte meistern, die Nutzung der Kirchen, 69 Dechant Moll an Bonaventura Fugger, 5. September 1685, FA 16,1,21. Zitiert in: Hoser, Gemeinden, 183. 70 Clark, The Alehouse and the Alternative Society, 48. 71 Holzem, Christentum in Deutschland, 423. 72 Hoser, Gemeinden, 185. 73 Ebd., 187. 74 Zeeden, Grundlagen und Wege der Konfessionsbildung in Deutschland, 253−259.

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die Öffentlichkeit von katholischer Liturgie, die Besoldung der Geistlichkeit und die Finanzierung des Kirchenbaus.75 Bei den Fuggern sind drei Bereiche zu unterscheiden: Am Beispiel von Leeder zeigte sich, wie der reformierte Katholizismus durch die Fugger eingeführt werden konnte: Der Pfarrer konnte als gut bezahlter Multiplikator gewonnen werden, wahrscheinlich auch der Schulmeister. Neue Normen wurden durchgesetzt und Gegenpropaganda verhindert.76 Im Fall Grönenbach geht Paul Hoser davon aus, dass die Sozialdisziplinierung weniger durch die Obrigkeit als durch die wechselseitige Überwachung der Gemeindemitglieder gewährleistet wurde.77 Die Fugger mussten sich mit den Gegebenheiten arrangieren, nämlich der Einbindung der kleinen Herrschaften in nachbarschaftliche Beziehungsgeflechte. In den 1650er Jahren kompensierten die Reformierten die weggefallene Unterstützung durch ihre Herrschaft mithilfe intensivierter Beziehungen zu neuen Unterstützern, wie dem Corpus Evangelicorum oder den Schweizer Gemeinden.78 Hier sehen wir die Bedeutung von religiösen oder politischen Außenkräften. Im gemischtkonfessionellen Gebiet um Grönenbach bildeten sich auch gesellschaftliche Praktiken, die die Duldung der Religionsdifferenz ermöglichten; auch auf Seiten der Herrschaft ging es darum, die Reibungsverluste gering zu halten. Dies wird auch am dritten Beispiel, Augsburg, deutlich. Auch wenn es sich hier nicht um ein Herrschaftsgebiet handelte, nahmen die Fugger doch aktiv Anteil an den konfessionellen Formierungsprozessen. Dabei stand die Ausschaltung von Störquellen, auch wenn es sich dabei um Angehörige der Eliten der Stadt handelte, und die Wahrung bzw. Etablierung von Interessenssphären im Vordergrund. Zur Abgrenzung von Nicht-Katholiken nutzten die Fugger neben ihrem Patronatsrecht den Memorialtransfer, die Teilhabe an Stiftungen und den Gottesdienstbesuch. Die Fugger fungierten als Agens der Konfessionsbildung und nutzten diese sowohl dazu, ihre Herrschaft zu intensivieren,79 als auch um sich als herausragende Vertreter des Katholizismus in einer bikonfessionellen Umgebung zu präsentieren.80

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Holzem, Christentum in Deutschland, 538. Reinhard, Zwang zur Konfessionalisierung?, 263. Hoser, Gemeinden, 183. Birkle, Reichsritterschaft, 307. Zeeden, Grundlagen und Wege, 253−259. Scheller, Memoria, 278.

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Literatur Armer, Stephanie, Friedenswahrung, Krisenmanagement und Konfessionalisierung. Religion und Politik im Spannungsfeld von Rat, Geistlichen und Gemeinden in der Reichsstadt Ulm 1554−1629, Stuttgart 2015. Birkle, Stefan, Herrschaftsaufbau und Konfessionalisierung. Die Fugger übernehmen evangelische Herrschaften, in: D. Schiersner (Hg.), Familiensache Kirche? Die Fugger und die Konfessionalisierung, Augsburg 2016, 21–40. – Reichsritterschaft, Reformation und Konfessionalisierung in Oberschwaben, Epfendorf 2015. Bock, Heike, Konversionen in der frühzeitlichen Eidgenossenschaft. Zürich und Luzern im konfessionellen Vergleich, Epfendorf 2009. Burkhardt, Johannes, Das größte Friedenswerk der Neuzeit. Der Westfälische Frieden in neuer Perspektive, Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 49/10, 1998, 592–612. Clark, Peter, The Alehouse and the Alternative Society, in: D. Pennington/K. Thomas (Hg.), Puritans and Revolutionaries: Essays in Seventeenth-Century History Presented to Christopher Hill, Oxford 1978, 47–72. Ehrenpreis, Stefan/Lotz-Heumann, Ute, Reformation und konfessionelles Zeitalter (Kontroversen um die Geschichte), Darmstadt 2002. Ehrenpreis, Stefan, Mischkonfessionalität und Konfessionalisierungforschung. Konzeptionelle Überlegungen, in: T. Brockmann/D.J. Weiß (Hg.), Das Konfessionalisierungsparadigma – Leistungen, Probleme, Grenzen, Münster 2013, 117–126. Freist, Dagmar, Glaube – Liebe – Zwietracht. Religiös-konfessionell gemischte Ehen der frühen Neuzeit, Oldenbourg 2017. Häberlein, Mark, Die Fugger. Geschichte einer Augsburger Familie (1367–1650), Stuttgart 2006. Holzem, Andreas, Christentum in Deutschland 1550–1850, Konfessionalisierung – Aufklärung – Pluralisierung, Bd. 1, Paderborn 2015. – Der „katholische Augenaufschlag beim Frauenzimmer“ (Friedrich Nicolai) – oder: Kann man eine Erfolgsgeschichte der „Konfessionalisierung“ schreiben?, in: T. Brockmann/D.J. Weiß (Hg.), Das Konfessionalisierungsparadigma – Leistungen, Probleme, Grenzen, Münster 2013, 127–164. Hoser, Paul, Die reformierten Gemeinden in den Herrschaften Grönenbach, Rotenstein und Theinselberg im Allgäu, in: P. Frieß/K.-L. Ay (Hg.), Konfessionalisierung und Region, Konstanz 1999, 161–188. Kießling, Rolf, Eine „Doppelgemeinde“: St. Moritz und St. Anna, in: R. Kießling/T.M. Safley/L. Palmer Wandel (Hg.), Im Ringen um die Reformation. Kirchen und Prädikanten, Rat und Gemeinden in Augsburg, Epfendorf 2011, 105–167. Reinhard, Wolfgang, Zwang zur Konfessionalisierung? Prolegomena zu einer Theorie des konfessionellen Zeitalters, Zeitschrift für Historische Forschung 10, 1983, 257–277. Scheller, Benjamin, Memoria an der Zeitenwende. Die Stiftungen Jacob Fugger vor und während der Reformation (ca. 1505−1555), Berlin 2004. Schilling, Heinz, Reformation – Umbruch oder Gipfelpunkt eines Temps de Réformes?, in: B. Moeller (Hg.), Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch. Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte 1996, Gütersloh 1998, 13–34.

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Schott, Eberhard, Beiträge zur Geschichte des Carmeliterklosters und der Kirche von St. Anna in Augsburg IV, Zeitschrift des historischen Vereins für Schwaben und Neuburg 9, 1882, 221−284. Volkland, Frauke, Konfession und Selbstverständnis. Reformierte Rituale in der gemischtkonfessionellen Kleinstadt Bischofszell im 17. Jahrhundert, Göttingen 2005. Walsham, Alexandra, Zu Tisch mit Satansjüngern. Geistliche und weltliche Soziabilität im nachreformatorischen England, in: A. Pietsch/B. Stollberg-Rilinger (Hg.), Konfessionelle Ambiguität. Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit, Gütersloh 2013, 285–313. Zeeden, Ernst Walter, Grundlagen und Wege der Konfessionsbildung in Deutschland im Zeitalter der Glaubenskämpfe, Historische Zeitschrift 185, 1958, 249–300. Zoepfl, Friedrich, Das Bistum Augsburg und seine Bischöfe im Reformationsjahrhundert, München 1969.

Anna Mikołajewska

Neue Preußen, echte Preußen Die Stadt Thorn als Erinnerungsort der Reformation im Werk Christoph Hartknochs (1644–1687) und Samuel Luther Gerets (1730–1797)1

Sowohl das Schaffen des Thorner Professors und Historiographen Christoph Hartknoch als auch die schriftstellerische Tätigkeit und der Briefnachlass des Thorner Staatsmanns Samuel Luther Geret führen dem Leser ein Preußen vor Augen, das als ein gefährdeter Mikroraum wahrgenommen wird. Dieses Bild kommt vor allem im letzten Werk Hartknochs, der 1686, also kurz vor seinem Tod, erschienenen Preussische[n] Kirchenhistoria zum Vorschein und ist zugleich ein nicht unwichtiges Thema von Gerets Briefen und Veröffentlichungen wie Die aus den Gräbern durchdringende Stimme sowie Belehrende historische Nachricht. Das Gedenken der Reformation nimmt auch deshalb einen besonderen Platz im Schaffen der beiden Gelehrten ein, weil sie gewisse Erinnerungsstrategien entwickeln, die zu einer preußisch-lutherischen Selbstbehauptung in einem immer stärker als fremd wahrgenommenen Polen-Litauen beitragen sollen. In Martin Luther als Bürger und Patriot schrieb Lutz Winckler treffend, dass „die Geschichte Luthers und der Reformation […] in gewissem Sinne die Geschichte ihrer Interpretation“ sei.2 So werden sowohl im Werk Hartknochs als auch Gerets stets Zusammenhänge zwischen der Konfession einerseits und dem politischen bzw. sozialen Wandel andererseits hergestellt und eine Deutung der (Stadt-/Provinz-)Geschichte vorgeschlagen, in der die Frage der Konfession als eine wichtige Komponente der eigenen Identität fungiert. Von der allen (Stadt-) Bürgern gemeinsamen konfessionellen Geschichte sollen – nach Hartknoch und zu einem geringeren Ausmaß auch nach Geret – das Zugehörigkeitsgefühl und die Loyalität zu einer bestimmten politischen Ordnung herrühren. Die Eigenart Preußens und die Geschichte seiner Verfassung lassen sich von der preußischen Kirchengeschichte nur schwer trennen. Hartknochs Erinnerungsstrategien finden ihre Fortsetzung in den Schriften Gerets, allerdings in einer Form, die an eine 1 In diesem Beitrag werden zum Teil Gedanken weiterentwickelt, die die Autorin in ihrer Dissertation „In seinen Schrancken bleiben“ – Preußen und die Preußen in der „Preussischen Kirchenhistoria“ von Christoph Hartknoch zum Ausdruck brachte. 2 Winckler, Martin Luther als Bürger und Patriot, 7.

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veränderte politische Lage Königlich-Preußens angepasst ist. Eben diese in Schrift fixierte Evolution im Denken über die preußische Identität im Zusammenhang mit der Geschichte lutherischer Selbstbehauptung soll im Weiteren nachgezeichnet werden. Die beiden Gelehrten, deren Tätigkeit mit dem königlich-preußischen Thorn verbunden war, trennt fast ein Jahrhundert. Gleichwohl hatten ein ähnliches Gefühl des Verlustes der Heimat sowie Konfessionsmigration und erzwungenes Exil einen unverkennbaren Einfluss auf ihr Schaffen ausgeübt. Sowohl Hartknoch (1644–1687) als auch Geret (1730–1797) waren Söhne lutherischer Geistlicher. Hartknochs Vater war Diakon, dann Pfarrer in Passenheim, sein Großvater – Pfarrer in Schareyken, seine Mutter – Pfarrerstochter aus Theerwisch.3 Männliche Vorfahren der Familie Geret stammten aus der Markgrafschaft Ansbach. Samuel Luthers Vater, Christoph Heinrich Andreas, war Feldprediger im kursächsischen Dienst, dann Pfarrer zu St. Marien und Senior des Ministeriums in Thorn; dessen Bruder, Vater und Großvater waren Geistliche in Roth und Crailsheim.4 Der Kindheit Hartnochs in Passenheim im Herzogtum Preußen setzte der Zweite Polnisch-Schwedische Krieg ein Ende. Als sich Friedrich Wilhelm, Markgraf von Brandenburg und Herzog in Preußen, an die schwedische Seite des Konflikts geschlagen hatte, drang das polnisch-litauische Heer ins Herzogtum ein. Der Feldzug von Wincenty Gosiewski, an dem Tataren als polnische Verbündete beteiligt waren, ging in die Erinnerung der Bevölkerung als Tatarenweg ein. Am 19. November 1656 brannte Passenheim nieder und die Familie Hartknoch flüchtete nach Allenstein. Bald danach starben die Eltern an den Folgen der im Herzoglichen Preußen grassierenden Seuche und der Sohn gelang in die Obhut des ehemaligen Schülers seines Vaters, des Rektors der Stadtschule in Bartenstein.5 Von nun an war er ständig unterwegs – auf den Besuch der Kneiphofer Schule in Königsberg folgten Aufenthalte in Kaunas, Wilna und auf den Gütern der Familie von Kalnein, deren Söhne Hartknoch unterrichtete. Auf ein Pfarramt in Słucko musste er wegen Krankheit verzichten und das Studium an der Königsberger Albertina konnte er erst nach durch Geldnot und Brustleiden verursachten Unterbrechungen abschließen. Nachdem Hartknoch an das Akademische Gymnasium zu Thorn im Königlichen Preußen im Jahr 1677 berufen worden war, schlug er alle Angebote, nach Königsberg zurückzukehren, ab. 3 Dittmann, Beyträge zur Geschichte der Stadt Thorn, Bd. 1, 85f. Vgl. Bayer, Hartknochi Leben und Schrifften, 39–45. 4 Dittmann, Beyträge, 19–22. Vgl. Schwarz, Art. Geret Samuel Luther, 209; Piskorska, Art. Geret Samuel Luther, 391–393; Dygdała, Art. Geret Samuel Luther, 83–85; Dygdała, Elity polityczne wielkich miast Prus Królewskich, 132f; Dygdała, Polityka Torunia wobec władz Rzeczypospolitej w latach 1764–1772, 30–33. 5 Sahme, Leben und Schriften Christoph Hartknochs, 192.

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Dabei verfolgte er die Entwicklungen an der Albertina,6 vor allem Streitigkeiten, in denen seine Kollegen und Professoren einer Affinität zum Synkretismus und eines latenten Katholizismus verdächtigt wurden.7 Es interessierte ihn auch die Karriere seines ehemaligen Kollegen, Matthias Prätorius aus Memel, mit dem er sich wegen Plagiatsvorwürfen und nach Prätorius’ Übertritt zum römisch-katholischen Glauben entzweit hat.8 In Thorn entstanden Hartknochs bekannteste Werke: Alt- und Neues Preussen (1684) sowie Preussische Kirchenhistoria (1686). Im Königlichen-Preußen war Christoph Hartknoch nie wirklich fremd. Für ihn und für seine Zeitgenossen galten beide Teile Preußens – des königlichen Anteils, in der Lubliner Union 1569 in den Staat Polen-Litauen eingegliedert, und des herzoglichen Anteils, nach 1657 vom Unionsstaat unabhängig – als ein Ganzes, ein Doppelland, wie es treffend von Janusz Małłek und Karol Górski bezeichnet wurde.9 Das Gefühl, des Landes der Kindheit beraubt worden und infolge der Königsberger Kontroversen der universitären Gemeinschaft entfremdet zu sein, prägte ihn jedoch sein ganzes Leben lang. Vor allem die Erfahrung des Tatareneinfalls und der Flucht über den vereisten Kalbensee aus dem brennenden Passenheim muss in seinem Selbstverständnis als Preuße und Lutheraner eine essenzielle Rolle gespielt haben. Die Flucht blieb für immer im Gedächtnis dortiger Menschen. Die mit dem Einbruch der heidnischen Truppen ins Preußen zusammenhängenden Gräueltaten wurden von Thomas Molitor, Pfarrer in Rozynsko im Kreis Johannisburg im Lied O wehgemutes Vaterland, du sollst durch Tränen waten (pol. Ojczyzno te˛skliwa, zalewaj sie˛ łzami)10, das sich bis ins 19. Jahrhundert in Preußen einer großen Popularität erfreute, thematisiert.11 Während Hartknoch ein militärischer Konflikt aus seiner Heimat vertrieb, der nur bedingt ein konfessioneller Konflikt war, konnten sich die Mitglieder der Familie Geret durchaus als Glaubensflüchtlinge verstehen. Nach dem Thorner Tumult 1724, in dem Handgreiflichkeiten zwischen Schülern des Akademischen Gymnasiums (desselben, an dem Hartknoch ein Jahrhundert zuvor lehrte) und des Jesuitenkollegiums in Aufruhr, Plünderung, (vermutlich) Zerstörung von 6 Siehe Briefwechsel mit dem Königsberger Martin von Kempe vom 14. Juni 1682: [Kempe], Edler/ […]/ vornehmer Freund, 42–44. 7 Siehe Briefwechsel mit Bernhard von Sanden: Bernhard von Sanden, Zwey Briefe an M. Christoph Hartknoch, 375–380 sowie Sdzuj, Zwischen Irenik, Synkretismus und Apostasie, 186–224. 8 [Hartknoch], Christoph Hartknochs Nachricht, 115. Vgl. Friedrich, The Other Prussia. Royal Prussia, Poland and Liberty, 103. 9 Małłek, Dwie cze˛´sci Prus, 26; vgl. Górski, Problematyka dziejowa Prus Królewskich, 159–171. 10 Pisanski, Von der Beredsamkeit, der Dichtkunst und der Musik im siebzehnten Jahrhundert, 155; Kawecka-Gryczowa, Zarys dziejów pis´miennictwa polskiego w Prusach Wschodnich, 51; Achremczyk, Historia Warmii i Mazur, 137. 11 Chojnowski, Przeszłos´c´ wyobraz˙ona Mazurów Pruskich, 312f.

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Kultobjekten12 und Kämpfen zwischen Protestanten und Katholiken in der Stadt mündeten, gingen die Obrigkeiten des Unionsstaates mit großer Härte gegen die Beteiligten vor. Gerets Vater gehörte zwar nicht zu den Hingerichteten, wurde aber der Stadt verwiesen und seine Schriften wurden öffentlich verbrannt. Noch vor dem Urteil flüchtete er aus der Stadt, holte nachher noch seine schwangere Frau und Töchter und alle begaben sich nach Marienwerder, wo die dritte Tochter der Familie geboren wurde.13 Er hat sehr aktiv an der Mythenbildung um den Tumult gearbeitet. Bereits 1725 reiste er nach Berlin, wo es zu einem Treffen mit Daniel Ernst Jabłon´ski kam, der im selben Jahr Das Betrübte Thorn verfasste, eine Abhandlung über den Thorner Tumult, die vor allem die dortigen Jesuiten in ein schlechtes Licht stellte.14 In der Angelegenheit seiner Gemeinde sprach Geret auch mit dem preußischen Geheimrat Heinrich Rüdiger Freiherrn von Ilgen sowie in Hannover mit Georg I., wovon die von Samuel Feunauer ausgewertete Dokumentation im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin zeugt.15 Das Urteil des Assessorialgerichts und die darauffolgenden Hinrichtungen, Geldstrafen, das Einmarschieren von Krontruppen in Thorn, der Verlust der Marienkirche an die Katholiken und die Verordnung, nach der der Stadtrat von nun an paritätisch von Katholiken und Protestanten besetzt werden sollte, glichen in der Erinnerung der Familie Geret dem Verlust der Bundeslade an die Philister. Der Name der Tochter, die auf der Flucht in Marienwerder zur Welt kam, sollte Elisabeth Icabod lauten und somit die verlorene Herrlichkeit von Israel/Thorn bekunden.16 Vater und Tochter wurden im Namen der protestantischen Traditionsbildung in Thorn zu Märtyrern der konfessionellen Verfolgung überhöht, indem sie sowohl in dem Trauergedicht, das 1747 nach Elisabeths Tod von ihrem Ehemann verfasst wurde, als auch in den Beyträge[n] zur Geschichte der Stadt Thorn von Georg Gottlieb Dittmann von 1789 ganz im Sinne des Topos der christlichen Standhaftigkeit und Duldsamkeit beschrieben wurden.17 Samuel Luther Geret wurde erst 1730 geboren, doch in die Geschäfte seiner Heimatstadt wurde er bereits als junger Mann eingeweiht. Nach dem Besuch des Thorner Akademischen Gymnasiums und Studienaufenthalten in Wittenberg, Jena und Göttingen war er im Auftrag der Stadt in Deutschland, den Nieder12 13 14 15 16

Dygdała, W cieniu głe˛bokich konfliktów wyznaniowych, 188. Dittmann, Beyträge, 23. Thomsen, „Das Betrübte Thorn“, 225. Freinauer, „Tragoedia Thoruniensis“, 64f. Dass Elisabeth Oeder, geb. Geret tatsächlich unter dem Namen Icabod bekannt wurde, davon zeugt das Trauergedicht ihres Ehemannes, das nach ihrem Absterben im Wochenbett verfasst wurde: Oeder, Trauergedicht nach dem Absterben seiner geliebtesten Ehefrauen Icabod Elisabet; Dittmann, Beyträge, 23. 17 Zur protestantischen Traditionsbildung im Kontext konfessioneller Migrationsprozesse siehe: Schunka, Lutherische Konfessionsmigration (siehe Link im Literaturverzeichnis).

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landen und England für das Sammeln von Spenden für den Neubau einer Kirche in Thorn zuständig,18 nachdem bekanntlich die Marienkirche an die katholische Gemeinde abgetreten worden war. Nach dem Tod des Vaters betätigte er sich im Dienst Thorns, das inzwischen in die Wirren des Siebenjährigen Krieges geriet und im März 1758 den Einzug russischer Truppen erlebte. Geret setzte sich im Interesse seiner Stadt als ihr Gesandter/Resident am Hof in Warschau für ein Bündnis mit Russland, gegen die Czartoryski-Familie und gegen die Reformen des Sejms von 1764 ein. Auch nach der Teilung 1772 war er als Stadtsyndikus, Ratsherr, Burggraf, Bürgermeister und Präsident der Stadt in der Politik tätig. 1793 erhob ihn Stanisław August Poniatowski in den Adelsstand. Nach der zweiten Teilung (1793) wurde Geret preußischer Kriegsrat. Das Eindringen des Fremden in den städtischen Mikroraum wurde im Werk der beiden Gelehrten zu einer Gefahr ersten Ranges stilisiert. Diese Angst prägte auch das Selbstbewusstsein der Thorner Lutheraner in Zeiten der Krise, die im Sinne des Verfalls, wie früher die politisch-wirtschaftlichen Entwicklungen nach den polnisch-schwedischen Kriegen im 16. Jahrhundert und die Situation am Vorabend der Teilungen Polens gedeutet wurde. Das Thorn Hartknochs war in vieler Hinsicht ein Verlierer der Kriege. Nicht nur der wirtschaftliche Niedergang infolge der Kriegshandlungen, der darauffolgenden Hungersnöte und Seuchen, sondern auch die Verschärfung der konfessionellen Spannungen nach der Zerstörung der vor allem von der Polnisch sprechenden, katholischen Bevölkerung bewohnten Vorstädte19 und folglich die nichtlutherische Migration in die Stadt sowie die Anwesenheit polnischer Truppen20 (ein schmerzhafter Eingriff in die Souveränität der Stadträte) trugen dazu bei, dass sich in der lutherischen Bevölkerung Thorns die Vorstellung verbreitete, dass man nun eine Zeit der Prüfung erlebte. In diesem Kontext wundert es nicht, dass die Preussische Kirchenhistoria als ein Beitrag zur lutherischen Selbstdarstellung und -behauptung Bilder transportierte, die den Zusammenhalt der bedrohten Gemeinschaft stärken und die Gegenwart durch Rückgriffe auf die gemeinsame Vergangenheit erläutern sollten. Eine ähnliche Gefühlslage lässt sich in Bezug auf das Thorn um die Hälfte des 18. Jahrhunderts verzeichnen. Die schwedische Belagerung 1703, Seuchen 1708 und 1710 sowie eine erneute katholische Migration in die Stadt21 verschärften die konfessionellen Beziehungen derartig, dass sich Frustration und Misstrauen in Aggression, vornehmlich im Tumult von 1724, entluden.22 18 Döring, Art. Geret, Samuel Luther von, 455. 19 Górski, Historia polityczna Torunia do roku 1793, 75; Nowak, Oble˛z˙enie Torunia w roku 1658, 215–232. 20 Achremczyk, Z˙ycie polityczne Prus Królewskich i Warmii w latach 1660–1703, 229f. 21 Salmonowicz, Mys´l Os´wiecenia w Toruniu, 175–206. 22 Salmonowicz, Dzieje wyznan´ i z˙ycia religijnego, 395–419.

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Sowohl die Hartknoch’sche Kirchenhistoria als auch die Werke Samuel Gerets aus der Zeit der Teilungen vermitteln ein Bild einer Stadt, die einer externen Gefahr ausgesetzt ist. Sowohl Hartknoch als auch Geret messen der Auseinandersetzung der Thorner mit den katholischen, kronpolnischen Obrigkeiten eine große Bedeutung bei. Vor allem vor dem Hintergrund der Tätigkeit der Jesuiten in der Weichselstadt lässt sich dieses negative Bild durchaus nachvollziehen. Zu Hartknochs Zeiten war das Jesuitenkollegium eine Konkurrenzanstalt des protestantischen Akademischen Gymnasiums und dessen katholische Schüler galten als Aufrührer, die sich den Regelungen der Stadt nicht fügen wollen.23 Für Gerets Glaubensgenossen galten die Thorner Jesuiten als treibende Kraft des Prozesses gegen Thorn nach dem Tumult. In den Beziehungen zwischen Thorn und dem kulmischen Bischof, zwischen Danzig und dem pommerellischen Bischof sowie Elbing und dem Bischof von Ermland in den ersten Jahrzehnten der preußischen Reformationsgeschichte, wie sie in der Preussischen Kirchenhistoria gezeichnet werden, können nicht nur die Stadträte, sondern auch einzelne Bürger ihr Beharren auf einem reinen, unverfälschten Glauben beweisen. Die Haltung der Bischöfe, die antireformatorisch in die Angelegenheiten der Stadt und ihres Gymnasiums eingreifen, stiftet in der Stadt Unruhe, wie es unter anderem die Auseinandersetzung des Bischofs Hosius und Rektors der städtischen Schule24 sowie die Einweihung und die darauffolgende Zerstörung der Kirchen nach der Visitation des Bischofs Opalin´ski25 zeigen. Ähnliches trug sich auch in Danzig zu.26 Nicht zu übersehen ist die Tatsache, dass es in Thorn anlässlich der Visitationen und privater Besuche der Bischöfe auch im 17. Jahrhundert zur Aufruhr kam, vornehmlich 1606, 1614 und erneut 1688.27 Somit muss die von Hartknoch gezeichnete Korrelation zwischen der Anwesenheit katholischer Obrigkeiten in der Stadt und den Protestaktionen der Bevölkerung fest in der Geschichte der Stadt verankert sein. Das Handeln der katholischen Obrigkeit hat noch eine andere überraschende Auswirkung auf die konfessionelle Landschaft der preußischen Städte. Die Gefahr seitens der Katholiken, vornehmlich der Bischöfe, der Gesellschaft Jesu und der weiblichen Orden, stärkt den Zusammenhalt der Protestanten und hilft dabei, Kontroversen innerhalb des Protestantismus beizulegen, wie es auch Hartknoch zugibt.28 Wenn man bedenkt, dass „[d]er Leitwert der Stadt, dem höchste Akzeptanz quer durch die sozialen 23 Tync, Dzieje gimnazjum torun´skiego, 53; vgl. Tync, Najdawniejsze ustawy gimnazjum torun´skiego, 66; Maliszewski, Stosunki religijne w Toruniu w latach 1548–1660, 278; Maliszewski, Zakony katolickie w Toruniu w okresie potrydenckim, 35–57. 24 Hartknoch, Preussische Kirchenhistoria, 870. 25 Ebd., 974. 26 Ebd., 669. Vgl. Hirsch, Der Prediger Pancratius. 27 Salmonowicz, Szkice torun´skie z XVII–XVIII wieku, 20. 28 Hartknoch, Kirchenhistoria, 910.

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Schichten zukam, […] der ‚Gemeinde Nutzen’, das Gemeinwohl aller Stadtbewohner [war]“29, worauf Berndt Hamm in seinem Buch Bürgertum und Glaube hingewiesen hat, so lässt sich die von Hartknoch geschilderte subversive, den Frieden störende Anwesenheit der Katholiken in Thorn erst in ihrer richtigen Bedeutung erfassen. Nicht anders verhält es sich in der Preussischen Kirchenhistoria mit allen anderen Denominationen des Protestantismus, die latent in die Stadt vordringen und sich der allgemein gültigen Ordnung nicht fügen.30 Im Zusammenhang mit der Schilderung der Reformation und der Tätigkeit der Gesellschaft Jesu in Thorn in der Preussischen Kirchenhistoria muss noch der Stellenwert der Prozessionen im städtischen Mikroraum thematisiert werden. Das Vordringen des Anderen ans Tageslicht wird von Hartknoch unterschiedlich gedeutet. In Bezug auf die anderen Protestanten wird ihr Wirken im Geheimen, ihre fehlende Bereitschaft, „sich […] zum Gebrauch des Heil. Abendmahls mit den Lutheranern […] eingefunden“31 zu haben sowie ihr Einzug ins Thorner Gymnasium hervorgehoben, „das man in Sorgen stehen müssen/ es würden die reformirte gäntzlich alles überschwemmen“32. Zwar schrieb man den Kalvinisten „unter dem Schaf=Peltz eine wölffische Grausamkeit“33 zu, doch viel problematischer erscheint die Präsenz der Katholiken in der Stadt, die gesehen werden wollen und sich dabei gegen die Verordnungen des Stadtrates auflehnen. So wird die am St. Markustag 1614 verrichtete Prozession von Hartknoch als unrechtmäßig geschildert, als ein Aufbegehren gegen die Ordnung der Stadt, die zu Handgreiflichkeiten führt, denen schließlich die Katholiken selbst zum Opfer fallen. Das ihr Leiden selbstverschuldet ist, bezweifelt Hartknoch nicht.34 Die desintegrative Funktion der Anderen – der Katholiken, der Bürger tschechischer oder schweizerischer Konfession – erweist sich in der Kirchenhistoria als ein die ganze Narration durchziehendes Thema. Nicht zu übersehen ist dabei die Verschränkung der Urteile über die Reformation in Preußen und die Hervorhebung der friedensstiftenden Funktion der Stadträte, die ununterbrochen Eingriffe von außen abwehren, mit dem politischen Denken Hartknochs. Das in Alt- und Neues Preussen sowie Respublica Polonica geäußerte Lob der preußischen forma mixta und zugleich sein Beitrag zum Mythos der alten Preußen, die „keinen Herren unter sich dulden wollen“35 und der neuen preußischen (Stadt-)Bürger, die die

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Hamm, Bürgertum und Glaube, 58. Vgl. Mikołajewska, Rottengeister und Glaubenszeugen, 49–58. Hartknoch, Kirchenhistoria, 880. Ebd., 780. Ebd., 534. Ebd., 920. In Anlehnung an Helmolds von Bosau Chronica Slavorum: Hartknoch, Alt- und Neues Preussen, 2. Vgl. Friedrich, The Other Prussia, 101–108.

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vergangene Tradition der Freiheit und Selbstherrschaft bis in die Gegenwart bewahrt haben, sind in seine Deutung der Reformation eingeschrieben. Der Beitrag Gerets zur Mythisierung der Stadt als eines Erinnerungsortes der Reformation fiel in eine ganz andere politische Situation, doch ähnlich wie Christoph Hartknoch ging es ihm um die Festigung des Zusammenhalts der in Gefahr stehenden städtischen Gemeinschaft, denn „[d]iese Städte sind für unsere Verfassung, Gerechtsame und Freyheiten dieselbe Vormauer, welche Ungarn der Christenheit ist“36. In Gerets Schrifttum und Briefnachlass wird dem Thema der Konfession bzw. der Reformation keine so exzeptionelle Rolle zugeschrieben, wie bei Hartknoch, doch auch bei ihm werden die preußischen Städte als ein Bollwerk der Freiheit(en) und der Verfassung gepriesen, und zwar mit Worten, die als Fortsetzung der Argumentationsführung Hartknochs gesehen werden können. Im Vergleich zu Hartknoch geht Geret jedoch viel weiter in seiner Glorifizierung der Rolle der lutherischen preußischen Stadt und Hervorhebung ihrer Andersartigkeit vor dem Hintergrund des fremden katholischen, „slavischlachischen“ Elements, das sie bedroht: [S]ie [Adam und Eva – A.M.] kamen in die Hände des Feindes des Menschen, und Elend und Plage ward ihr Erbteil. Wir haben unsere Schönheit und Ordnung in Land und Städten auch auf solche Art verloren; wir sind in den Händen derer, die, weil sie uns mit Eifersucht ansehen, uns nichts gutes gönnen.37

In seinen Briefen und Schriften entwickelt er ein Gegenprogramm zur Politik der Czartoryski-Familie und plädiert für ein unabhängiges Preußen, indem er sich der konfessionell und national gefärbten Argumente bedient. Die preußischen Städte sind bei Geret immer noch – wie schon bei Hartknoch – externen und internen Gefahren ausgesetzt, es sind aber nicht mehr Andersgläubige, vor denen man sich fürchten müsse, sondern „verpolackte“ Preußen, die ihre Geschichte und die Taten ihrer Vorfahren verdrängt haben. Die erfolgreiche Selbstbehauptung der preußisch-lutherischen Stadt gegenüber dem internen und externen Feind, dem Reformierten, dem Katholiken, dem Unionsstaat, die Hartknoch beschrieben hat, wird bei Geret zum Mahnzeichen erhoben, das alle Preußen, die ihrer Heimat den Rücken kehrten, an ihre Sünde erinnern soll.38 Während bei Hartknoch der katholische Unionsstaat, seine Bischöfe und Beamten zwar eine erhebliche externe Gefahr darstellten – die Oberherrschaft des polnischen Königs wurde allerdings nicht geleugnet –, lässt sich laut Geret die Verschiedenheit der benachbarten Völkerschaft nicht mehr übersehen, was ein einträchtiges Zusammenleben unmöglich mache. Die Erinnerung an die Reformation als Sieg des einzig wahren Glaubens, der lutherischen, deutschen Lebensweise und der 36 [Geret], Die aus den Gräbern durchdringende Stimme, 11. 37 Ebd., 7. 38 Geret, […] Sendschreiben an den Herrn Ludwig von Weyher, 3–45.

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preußischen Verfassung wird zum neuen Preußen-Mythos überhöht, in dem Thorn zu einer von Deutschen für Deutsche errichteten „aechtpreußische[n] Stadt“,39 die „den Bischöflichen Verfügungen bei sich stets gebührende Grenzen setzte“ erklärt wird.40 Gerets Ausführungen können natürlich nicht ohne ihren historischen Kontext betrachtet werden,41 denn er schrieb in einer Zeit, in der Preußen um sein Fortbestehen kämpfte. Dass sich Thorn am Vorabend der Teilungen für einen Weg entschied, der ohne Polen gegangen werden sollte und seinen Untergang in Kauf nahm, hat Gerets Ton zweifelsohne geprägt. Beide, Hartknoch und Geret, deren Gedanken zur Reformation hier lediglich skizzenhaft dargestellt werden konnten, haben in einer Zeit des Verfalls geschrieben und gewirkt, in der Zusammenhalt nach innen und Abgrenzung nach außen als Rettungsmaßnahmen angesehen wurden. In ihren Werken haben sie Erinnerungsstrategien entwickelt, die der Leserschaft in Preußen eine gemeinsame, religionskonforme Tradition geben sollten, in deren Zentrum die Reformation als Bezugspunkt und Prüfstein stand. Die Söhne des alten Preußens waren gefragt, ihre Vorfahren mit ihrem Handeln nicht zu enttäuschen. Nicht zuletzt machte Geret in einer Schrift kurz vor seinem Tod Ovids Epistulae ex Ponto, An Rufinus zum Motto: „Boden der Heimat zieht durch besondere Süße uns alle an und lässt es nicht zu, dass man nicht seiner gedenkt.“42

Literatur Quellen Bayer, Gottfried Sigfried, Hartknochi Leben und Schrifften, Das Gelahrte Preussen 3. Bogen, 1723–1724, 39–45. Dittmann, Georg Gottlieb, Beyträge zur Geschichte der Stadt Thorn […], Bd. 1, Thorn 1789. Geret, Samuel Luther, Belehrende historische Nachricht von dem eigentlichen wahren Jahrhunderte hindurch bestehenden Vaterlande der Stadt Thorn […], o. O. 1795. [–]Die aus den Gräbern durchdringende Stimme deren vor zwey hundert und hundert funfzig Jahren verstorbenen wahren und ächten Preußen zur Erweckung und Besserung an die jetzt lebenden zu Polen ausgearteten Preußen, gehöret in verschiedenen alten Schlössern und Klöstern in Preußen, Mitau 1774. Hartknoch, Christoph, Alt- und Neues Preussen Oder Preussischer Historien Zwey Theile […], Frankfurt a.M./Leipzig 1684. [–]Christoph Hartknochs Nachricht von M. Matthaei Praetorii Aemulation gegen ihn und seine Schriften, Erleutertes Preussen, Zweites Stück, 1723, 114–125. 39 40 41 42

Geret, Belehrende historische Nachricht, 29. Ebd., 15. Friedrich, The Other Prussia, 204–214. Titelblatt: Geret, Belehrende historische Nachricht.

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– Preussische Kirchenhistoria […], Frankfurt a.M./Leipzig 1686. [Kempe, Martin v.], Edler/[…]/vornehmer Freund, Das Gelahrte Preussen, 3. Bogen, 1723– 1724, 42–44. Oeder, Georg Wilhelm, Trauergedicht nach dem Absterben seiner geliebtesten Ehefrauen Icabod Elisabet, geb. Geretin, Göttingen [1747]. Sahme, Jacob, Leben und Schriften Christoph Hartknochs, Erleutertes Preußen, Teil 5, Stück 3, 1741, 189–203. [Sanden, Bernhard v.], Bernhard von Sanden, sen. Zwey Briefe an M. Christoph Hartknoch, seine Streitigkeiten mit denen so genannten Orthodoxis, ex autographo, in: Fortgesetzte Sammlung von Alten und Neuen Theologischen Sachen, Dritter Beitrag auf das Jahr 1731, Leipzig [1731], 375–380.

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Internetquelle Schunka, Alexander, Lutherische Konfessionsmigration, http://www.ieg-ego.eu/schunkaa2012-de URN: urn:nbn:de:0159–2012051419 (letzter Zugriff am: 30. Dezember 2017).

Wacław Pagórski

Reaktionen auf die Vertreibung der Sozinianer aus dem Königreich Polen-Litauen (1658–1660) im deutschen Sprachraum1

Der vorliegende Beitrag hat zum Ziel, die Reaktionen auf die Vertreibung der Sozinianer aus dem Königreich Polen-Litauen im deutschen Sprachraum zu untersuchen. Es werden sowohl die direkten Verhaltensweisen in der deutschen Gesellschaft als auch die Frage nach dem eventuellen Einfluss der Verbannung und Migration auf das deutsche Polenbild dieser Epoche analysiert. Die Thematik wird mit Rücksicht auf das Konfessionalisierungsparadigma und die „lange Dauer“ gesellschaftlicher Prozesse erfasst. Mit Blick auf die später zur Geltung kommenden Kategorien der Identität und Alterität liegt es nahe, dass das Instrumentarium auf den Techniken und Verfahrensweisen der Imagologie und der historischen Stereotypenforschung fußt. Analysiert werden diverse Quellenbeispiele aus dem 17. und 18. Jahrhundert, darunter offizielle Dokumente, wissenschaftliche Arbeiten, Gemeindebücher sowie Memoiren. Das große Spektrum der Quellenauswahl ermöglicht eine breite Erfassung dieser Problematik, gleichwohl ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Die Untersuchungen zum Sozinianismus blicken auf eine lange Tradition zurück und werden in vielen europäischen Ländern fortgesetzt. Geforscht wird sowohl zu den Anfängen und der Entwicklung der Bewegung in unterschiedlichen Regionen als auch zu der Migrationsproblematik und dem Exilleben der Sozinianer.2 Trotzdem blieb die Frage des eventuellen Einflusses ihrer Vertreibung auf das Polenbild im Ausland bisher unbeachtet. Deshalb hat man sich in diesem Beitrag zum Ziel gesetzt, auf diese Lücke aufmerksam zu machen und ausgewählte Textauszüge über die Verbannung und das Exilleben darzustellen. Daraus folgt die Gliederung des Artikels in drei Teile: 1) die Reaktionen auf die Verbannung der Sozinianer in der deutschen Gesellschaft, 2) Migration(sver1 Der vorliegende Aufsatz entstand im Rahmen des Forschungsprojekts (Nr. 2017/27/N/HS2/ 00254), das von The National Science Center in Polen (Narodowe Centrum Nauki) finanziert wird. 2 Aus der Menge der Literatur seien nur die neusten Studien genannt: z. B. Daugirdas, Die Anfänge des Sozinianismus; Ogonowski, Socynianizm; Salatowsky, Die Philosophie der Sozinianer.

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suche), 3) ein Blick auf das Exilleben der Sozinianer mit Beispielen ausgewählter Perspektiven aus Brandenburg-Preußen.

Reaktionen auf den Verbannungserlass (1658) Seit 1655 herrschte der schwedisch-polnische Krieg, in dem es den Schweden gelang, fast das ganze Territorium der polnischen Adelsrepublik unter ihre Kontrolle zu bringen. Selbst der polnische König Johannes Kasimir Vasa floh wegen des Verrats durch einen großen Teil des Adels ins Ausland. Die Sozinianer, deren Rechte schon vor dem Krieg eingeschränkt wurden (1638 – Schließung der Rakower Akademie, 1647 – Verbot aller Schulen und Druckereien), unterstützten den schwedischen König offen. Auch nach einigen Monaten der Verfolgung durch die polnische Gesellschaft schlossen sie sich dem Lager des polnischen Königs nicht wieder an, wie es die Mehrheit des Adels getan hatte. Als Objekt des Hasses und Sündenbock des Krieges wurden sie von der allgemeinen Amnestie für die ehemaligen Befürworter des schwedischen Königs (1658) ausgenommen und zur Verbannung aus dem Königreich verurteilt. Ihre Ächtung ist einerseits als eine Folge eines langen Prozesses der Ausschließung,3 und andererseits – im breiteren Kontext – als ein Resultat der Verschlechterung der Lage von NichtKatholiken in der Adelsrepublik im 17. Jahrhundert zu betrachten. Gründe dafür waren zahlreich und komplex: 1) die prokatholische Politik der Könige und die wachsende Rolle der katholischen Kirche in Polen-Litauen, 2) die sinkende Effizienz der Gutswirtschaft und die daraus folgende Verarmung sowie fortschreitende Schichtung des Adels, 3) die Degeneration der politischen Ordnung in Polen, deren Ausdruck Rebellionen gegen den König (poln. rokosz) sowie die fehlerhafte, pervertierte Anwendung des liberum veto und das „Zerreißen“ der Reichstage (zum ersten Mal im Jahre 1652) waren, woraus sich innere (z. B. der Kosackenaufstand) und äußere Konflikte (z. B. gegen Moskau, Schweden und die Türkei) ergaben. Die Tatsache, dass dabei die Gegner Nicht-Katholiken waren, hatte einen enormen Einfluss auf den Anstieg von Xenophobie in der damaligen Gesellschaft der Adelsrepublik. Infolge dieser negativen Entwicklung wurden bis zu 10 000 Sozinianer verbannt. Man ließ ihnen drei Jahre Zeit (dann auf zwei verkürzt), um den Staat zu verlassen oder zum Katholizismus zu konvertieren. Der Präzedenzfall von 1658 und die sich aus ihm ergebende Ausweisung fand eher wenig Beachtung in der deutschen Gesellschaft.

3 Über die Etappen der Ausschließung siehe: Pagórski, Wygnanie arian z Rzeczypospolitej, 135– 147.

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Zu den diesbezüglichen Stellungnahmen gehören Kriegsabenteuer des Rittmeisters Hieronymus Christian von Holsten,4 Memoiren eines deutschen Soldaten, der zuerst in den Jahren 1655–1656 in der schwedischen Armee diente, dann infolge einer Niederlage in Gefangenschaft geriet und später im polnischen Heer unter Kommando von Sebastian Lubomirski kämpfte. Holsten blieb in Polen bis 1663, er konnte also alle Ereignisse rund um die Verbannung und Zwangsauswanderung, wenn nicht selbst beobachten, so mindestens indirekt mitbekommen. Wichtig ist hier, dass er zusammen mit Paweł Domaradzki, Krzysztof und Aleksander Arciszewski sowie Jan Sienien´ski im Regiment von Stefan Niemirycz, einem Sozinianer, gedient hatte. Trotzdem werden in Kriegsabenteuern die Debatten über die Sozinianer und ihre Lage von Holsten kaum erwähnt.5 Der Gerechtigkeit halber muss aber unterstrichen werden, dass er – ein Protestant – sich nicht besonders für konfessionelle Fragen interessierte und generell wenig darüber schrieb. Ein anderer Grund für das Ausblenden dieser Problematik konnte aber auch die späte Niederschrift der Memoiren, erst zwanzig Jahre danach, gewesen sein. Eine andere deutsche Quelle ist das Reihenwerk Theatrum Europaeum.6 Die Kompilatoren aus Frankfurt sammelten Informationen aus ganz Europa, vor allem bezüglich der Kriege, um den Leser über politische Ereignisse auf dem Laufenden zu halten. Aber auch Informationen über Debatten und Erlasse der Reichstage trifft man hier neben anderen „Kuriositäten“. Im achten Teil (1658– 1660) finden die Sozinianer überhaupt keine Erwähnung. Nicht einmal ihre Verbannung kommt zur Sprache und das, obwohl die Vorbereitungen zum Reichstag, wie auch er selbst, auf mehreren Seiten beschrieben wurden. Das Thema der Sozinianer wurde im fünften Teil (für die Jahre 1643–1647) aufgegriffen. Im Zusammenhang mit dem Reichstag 1647 berichtete man sowohl von der Verurteilung Jonas Schlichtings als auch der Ausgrenzung der Sozinianer als Unchristen aus der Warschauer Konföderation (in Wirklichkeit wurde über die Klausel zur Konföderation erst 1648 abgestimmt).7 Nach den Angaben des Autors wurde auch 4 Holsten, Die Kriegsabenteuer des Rittmeisters Hieronymus Christian von Holsten. Sie wurden auch ins Polnische übersetzt: Holsten, Przygody wojenne 1655–1666. 5 Nur an einem Ort erwähnt er die „Arrianer“, die (neben Armeniern, Juden, Türken usw.) 1663 zahlreich zum Jahrmarkt in Lublin kamen. Laut dem Kommentar zu der polnischen Übersetzung gemeint sind hier die Vertreter unterschiedlicher religiöser Minderheiten, u. a. „Unitarier aus Siebenbürgen“. Siehe: Holsten, Przygody wojenne 85, Anmerkung 142. 6 Zum Polendbild in diesem Werk siehe: Bernt-Walter, Das Polenbild in der deutschen Publizistik des 17. Jahrhunderts. 7 Lotichius, Theatri Europaei Fünffter Theil, 1076. An einer anderen Stelle des Bandes stellten die Autoren aufgrund der Diskussionen um die Konföderation fest: „Die Arrianer waren der Zeit in Polen in schlechtem Credit und liesse sich ansehen, als ob sie hinfüro in der Cron nicht geduldet werden sollten“ (ebd., 1046).

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ein Decret gegen die Arrianer und Widertäuffer abgefaßt, darin dieser Lehre gänzlich verworffen und auch solche in der Cron Polen nicht mehr geduldet und dero Güter confiscirt werden sollten. Dahero bereits etliche sich funden, welche solche Güter als caduc ausbitten thäten.8

1647 wurde infolge des Strafprozesses von Jonas Schlichting ein Gesetz verabschiedet, das die öffentliche Tätigkeit der Sozinianer verbot (z. B. Führung von Schulen und Veröffentlichung von Büchern). Von der Vertreibung war zu dieser Zeit noch nicht die Rede. Als 1658 der Verbannungsakt kam, berichtete Theatrum Europaeum darüber nicht mehr. Die Ausweisung ist aber in der deutschen Gesellschaft bestimmt nicht ganz unbeachtet geblieben. Kurfürst Friedrich Wilhelm musste wohl über die Sachlage gut informiert gewesen sein, zumal ihn 1658 die Sozinianer gebeten hatten, sich für sie bei dem polnischen König einzusetzen. Von großer Bedeutung waren dabei private Beziehungen Bogusław Radziwiłłs, der Staathalter des Kurfürsten in Preußen war. Friedrich Wilhelm intervenierte wahrscheinlich bei Johannes Kasimir in dieser Sache, da aber ein Teil der Korrespondenz verschollen ist, steht es nicht fest, ob er sich direkt für die Sozinianer oder eher für die Protestanten im Allgemeinen stark machte.9 In Bezug auf die Sozinianer blieb aber die Intervention erfolglos.

Migration(sversuche) Die Verbannung und Migration der Sozinianer zog seit Dekaden die Aufmerksamkeit der Forscher auf sich.10 Dabei berücksichtigt man die beiden Etappen der Migration: die Auswanderung in die Nachbarländer sowie die anschließende Suche nach alternativen Ansiedlungsmöglichkeiten. Eine besondere Rolle bei diesen Prozessen spielten zwei Faktoren: geographische Nähe und persönliche Kontakte zu den Großgrundbesitzern, die der Ansiedlung stattgegeben haben. Die Migration setzte bereits vor dem Erlass des Verbannungsaktes während des Krieges gegen Schweden ein und war in den frühen 1660er Jahren immer noch zu beobachten. Anhand der gegen sie erhobenen Klagen, die dem Kurfürsten vorgebracht wurden, lässt sich nachweisen, dass sich die Sozinianer schon 1653 in der Neumark aufhielten.11 Während des Zweiten Nordischen Krieges kamen weitere Flüchtlinge aus der Bobelwitzer Gemeinde (pol. Bobowicko bei Mie˛8 Ebd., 1074. 9 Tazbir, Die Sozinianer in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, 38. 10 Die Thematik wurde schon im 18. Jahrhundert zum Forschungsgegenstand (z. B. die Werke Samuel Friedrich Bocks). Auch später beschäftigten sich mit dieser Frage u. a. Otto Fock, Theodor Wotschke und Janusz Tazbir. Es fehlt jedoch an neuersten Forschungen. 11 Tazbir, Socynianizm prusko-brandenburski w XVII i XVIII wieku, 181.

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dzyrzecz/Meseritz) hinzu.12 Trotz großer Abneigung vonseiten der lutherischen Geistlichkeit, deren Ausdruck weitere Beschwerden waren, fanden sie Schutz auf den Gütern der Familien Falkenreh, Sack und Schlichting. Die Unterstützung der Protektoren war ebenso wichtig in Preußen, wo der oben erwähnte Bogusław Radziwiłł nicht nur den Sozinianern erlaubte, sich auf seinen Gütern in Preußen anzusiedeln, sondern manche sogar dazu offen einlud, z. B. Zbigniew Morsztyn.13 Von Bedeutung war in Brandenburg-Preußen auch die Politik des Fürsten, der trotz des Widerstands der neumärkischen Stände14 die Ansiedlung der Sozinianer duldete.15 Die positive Einstellung des Fürsten hatte viele wirtschaftliche (Verwüstung nach dem Krieg), innen- (Machtgewinn gegenüber den Ständen) und außenpolitische (Einfluss auf die Situation in Polen, z. B. durch Krzysztof Niemirycz)16 wie auch religiöse (Konfessionspolitik des Fürsten)17 Gründe. Neben den Ansiedlungen in der Mark und Preußen ist auch der Aufenthalt der Sozinianer in Schlesien zu nennen. In diesem Fall handelte es sich um eine Migrationswelle direkt nach der Verbannung, als die Flüchtlinge im Fürstentum Brieg beim letzten männlichen Nachkommen aus dem Geschlecht der schlesischen Piasten Schutz suchten.18 Weil Brieg ein mediates Fürstentum war, waren dort die Einflüsse des Kaisers nicht so stark und so hoffte man, geduldet zu werden.19 Die Sozinianer gingen nach Kreuzburg, wo ihnen zunächst befohlen wurde, die Stadt binnen drei Tagen zu verlassen. Ihre Bitte an Herzog Georg (am 25. Juni 1661) um eine Ansiedlungsgenehmigung – auch hier war die Unterstützung von Bogusław Radziwiłł bestimmt nicht ohne Bedeutung – bewirkte, dass man sie dort bleiben ließ, zuerst für drei Monate. Dann wurden sie stillschweigend geduldet. Zu den Bedingungen, unter denen man sie tolerierte, gehörten: das Verbot jeglicher Propaganda und der öffentlichen Ausübung ihres Kultes sowie die Pflicht, ein Familienverzeichnis einzureichen.20 Ihre Ausweisung 12 Wotschke, Die unitarische Gemeinde in Meseritz-Bobelwitz, 191. 13 Bömelburg, Konfession und Migration zwischen Brandenburg-Preußen und Polen-Litauen 1640–1772, 130 wie auch dort das zitierte Buch von Hein, Johann von Hoverbeck. 14 Tazbir, Socynianizm w Prusach Ksia˛z˙e˛cych XVII wieku, 166. 15 Die Politik des Fürsten gegenüber den Sozinianern war vielschichtig. Es muss erwähnt werden, dass z. B. 1670 ein Verbot gegen Arianer, Anabaptisten und Juden verfasst wurde, und es ist nur ein Beispiel aus einer ganzen Reihe antisozinianischer Verfügungen; in Kraft getreten sind sie jedoch nicht. 16 Tazbir, Socynianizm w Prusach Ksia˛z˙e˛cych XVII wieku, 146. 17 Zum Thema der preußischen Herrscher und ihrer Stellung zum Sozinianismus siehe u. a.: Bömelburg, Konfession und Migration; Palladini, Die Berliner Hugenotten und der Fall Barbeyrac; Salatowsky, Dürfen Sozinianer geduldet werden?, 223–250. 18 In der älteren Literatur wird erwähnt, dass dies eine Genehmigung der polnischen Königin, Luise Maria Gonzaga, ermöglicht hat (Krasin´ski, Zarys dziejów powstania i upadku reformacji w Polsce, 33). Bei Tazbir findet man aber keine Information darüber. 19 Wollgast, Morphologie schlesischer Religiosität in der frühen Neuzeit, 164f. 20 Wotschke, Die polnischen Unitarier in Kreuzburg, 5.

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aus Schlesien ca. zehn Jahre später erfolgte unter dem Druck der katholischen Geistlichkeit und des Kaisers im Zusammenhang mit dem Tod des Herzogs Georg (1675). Infolge der oben skizzierten Situation wurden die Sozinianer dazu gezwungen, ständig nach neuen Zufluchtsorten zu suchen. In der zweiten Etappe ihrer Migration suchten sie nach Möglichkeiten einer Ansiedlung an immer weiter entfernten Orten, was an der Aussendung ihrer Boten nach Rheinland und Norddeutschland sichtbar wird. Wie immer waren auch dort die Beziehungen zu den Protektoren von ausschlaggebender Bedeutung; unbestritten war in dieser Phase die entscheidende Vermittlerrolle von Stanisław Lubieniecki.21 Einige Gesuche waren erfolgreich. Sowohl in Mannheim (Kurpfalz) als auch in Friedrichstadt (Schleswig) kam es zur Ansiedlung. Diese war jedoch nur von kurzer Dauer. Im ersten Fall wurden die Sozinianer ca. drei Jahre lang geduldet, bis man sie wegen ihrer religiösen Aktivität verbannte. In Friedrichstadt waren es weniger als achtzehn Monate, als Herzog Christian Albrecht ihnen auf Bitten des dortigen Superintendenten die Aufenthaltsgenehmigung zurückzog. Es gab zwar weitere Ansiedlungsversuche im Reich (z. B. in Bremen, Glückstadt und Lübeck), die letztendlich aber gescheitert sind. Diese Misserfolge veranlassten die Sozinianer dazu, noch weiter westlich – nach England und vor allem in die Vereinigten Provinzen zu ziehen, wo sie bessere Lebensbedingungen vorzufinden hofften. Obwohl auch dort ihre Rechte begrenzt wurden, konnten sie zumindest ihre Lehren verbreiten. Dies sieht man in der Migrationen aus Brandenburg-Preußen in die Niederlande (u. a. aus Finanzgründen und wegen besserer Ausbildungsmöglichkeiten) und an der Veröffentlichung der Bibliotheca Fratrum Polonorum in den niederländischen Druckereien.22

Stellung zu Exulanten in Brandenburg-Preußen In Brandenburg-Preußen weckte die Verbannung der Sozinianer aus Polen kein großes Interesse. Die Reaktionen auf ihre Ansiedlung und ihren Aufenthalt waren aber heftig. Die Gründe dafür sollen im Folgenden mit Beispielen aus vier Perspektiven, der Sozinianer, der lutherischen Gemeinden, eines zeitgenössischen Gelehrten und des Landesherrn, beleuchtet werden, wobei ebenso wichtig ist, inwieweit neben der konfessionellen auch die nationale Ebene wahrgenommen wurde, und welche Implikationen es verursachen konnte. 21 Zur Lubienieckis Rolle vgl. Jorgensen, Stanisław Lubieniecki; Tazbir, Stando lubentius moriar. 22 Interessant ist die Tatsache, dass die beiden Hauptverleger A. Wiszowaty und S. Przypkowski an dem Werk nicht in den Niederlanden gearbeitet haben. Der erste lebte 1665 in Mannheim und der zweite in Preußen. Siehe: Ogonowski, Socynianizm, 427–432.

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Die Exulanten siedelten sich im Fürstentum vor allem als Pächter auf Privatgütern von Bogusław Radziwiłł (in Preußen) und der Familien Falkenreh, Sack und Schlichting (in der Neumark) an. Insgesamt belief sich die Zahl der Exulanten auf diesen Gebieten grob geschätzt auf ein paar Hunderte.23 Quellenmangel und weitere Migrationszüge (z. B. zwischen Schlesien und Preußen), die aus den ständigen, grenzübergreifenden Kontakten zwischen den Exulantengruppen (aus den Niederlanden, Preußen, Schlesien und Siebenbürgen) resultieren, beeinträchtigen die Genauigkeit der Berechnung.24 Von ihrer Zusammenarbeit (im religiösen, aber auch wirtschaftlichen Bereich) zeugen die Synoden, an denen Vertreter der Gemeinden aus unterschiedlichen Ländern teilnahmen.25 Die letzte fand 1687 statt, was von der immer schwächeren Kooperation zwischen den Gemeinden zeugt. Eine schwierige rechtliche und wirtschaftliche Lage der Sozinianer sowie fehlende Ausbildungsmöglichkeiten führten dazu, dass manche Exulanten weiter in die Niederlande emigrierten, während diejenigen, die in Brandenburg-Preußen blieben, sich allmählich der dortigen Gesellschaft anpassten, indem sie z. B. in der Liturgie Deutsch benutzten und später auch zum Luthertum übertraten. In der Neumark gingen die letzten sozinianischen Gemeinden um 1760 ein; in Preußen war das die zweite Dekade des 19. Jahrhunderts.26 Es steht fest, dass den Eckstein der Identität der Exulanten ihre Konfession und Organisation des religiösen Lebens bildeten. Mindestens bis Ende des 18. Jahrhunderts haben sie jedoch ihre polnischen Wurzeln stets hervorgehoben und sie nicht verschwiegen. Ein interessantes Beispiel dafür sind die autobiographischen Ausführungen von Samuel Crell-Spinowski27:

23 Insgesamt, aus den 10 Tsd. Sozinianer, entschied sich fürs Exil ca. die Hälfte: Tazbir, Die Sozinianer in der zweiten Hälfte, 68. Die restlichen sind zum Katholizismus übergetreten oder geheim bei ihrer Konfession geblieben. Zum Thema Kryptoarianismus in Polen siehe z. B.: Tazbir, Polski kryptoarianizm, 187–211. 24 Sie haben sogar die Geldspenden, z. B. aus den Niederlanden nach während der Synoden festgelegten Regeln aufgeteilt: die Brüder in Schlesien und Preußen bekamen jeweils 3/5 der Spende; die 2/5 war dann in 12 Teile aufgeteilt: 5/12 davon ging an die Brüder in Siebenbürgen, 7/12 an die Gemeinden in Deutschland (z. B. Mannheim und Lübeck). Tazbir, Socynianizm w Prusach Ksia˛z˙e˛cych, 154f. 25 Nach der Verbannung fanden sieben Synoden statt: die erste 1662 wurde heimlich in Polen (Zabłudów) organisiert, dann in Schlesien (Kreuzburg, 1663), Preußen (Gross Kessel/Kocioł, 1665), Schlesien (Kreuzburg, 1668), zwei Mal in Preußen (beide in Alt Rudowken/Rudówka, 1678 und 1684) und die letzte in der Neumark (Selchow, 1687). 26 Laut dem preußischen Botschafter in England, Baron von Bülow, lebten 1838 nur noch zwei alte Sozinianer: Morsztyn und Schlichting; der Rest ist zum Lutheranismus konvertiert: Krasin´ski, Zarys dziejów, 33. 27 Seine Geschichte selbst ist ein interessantes Beispiel für die sozinianische Migration. Er wurde 1660 in Kreuzburg (Schlesien) geboren, wuchs aber in Amsterdam auf. Mehrere Jahrzehnte wirkte er als Prediger in der Mark Brandenburg und dann siedelte er wieder nach Amsterdam

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Nachdem Churfürst Friedrich Wilhelm die pohlnischen unitarischen Exilanten, auf Intercession einiger pohlnischen Magnaten und Senatoren, in seinen Landen zu toleriren anfieng, waren sie öffentlich da, das ganze Land wußte von ihnen, und ihren religieusen Versammlungen, in den Dörfern Selcho, Griesel und hernach, nachdem Selcho zu einer reformierten Herschaft übergieng in der Stadt Königswalde. Einige pohlnische Edelleute unter ihnen besaßen lehensweise ritterliche Güter, als einer von Morstin zu Griesel bis auf den heutigen Tag, und einer von Schlichting zu Gander.28

Die Tatsache, dass die Exulanten als „polnisch“ angesehen wurden, scheint insofern wichtig zu sein, als sie erlaubt, in ihrer Identität neben der konfessionellen auch eine kulturell-nationale Ebene festzustellen. Die Sozinianer, vor allem die erste Generation, hofften, nach Polen zurückkehren zu dürfen.29 So verfassten sie z. B. literarische Texte auf Polnisch und verwendeten Topoi der polnischen Gesellschaft. Zbigniew Morsztyn beschrieb während des Exils in Preußen Polen als „Mauer und Schutz Europas“.30 Die Vertreibung aus Polen blieb im Gedächtnis der sozinianischen Gemeinschaft mindestens bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Folgendermaßen schrieben die Vertreter einer preußischen Gemeinde 1776 an den König Friedrich II.: Es wurde uns gewehret, Güter erblich zu acquiriren und wir wurden von allen öffentlichen Aemtern, Ehrenstellen, Zünften und anderen Beneficiis ausgeschlossen. Gleichwie nun diese Einschränkungen der Preußischen Geistlichkeit Gelegenheit gaben, den Leuten einen desto verhaßteren Begriff von uns und unserer Religion beyzubringen und uns in die Classe der Juden und Heyden zu setzen […]; so haben sie viele unserer Vorfahren genöthigt, theils wieder nach Polen zurück zu gehen und die Religion zu ändern, theils weiter nach Holland, England und Siebenbürgen zu fliehen.31

Nach der Abmilderung des Gesetzes in Polen (1768) wurde bei vielen das Gefühl der verlorenen Heimat wach. Es veranlasste manche Brüder dazu, in die Ortschaften zurückzukommen, aus denen ihre Ururgroßeltern vertrieben worden waren.32 Die Abneigung der lutherischen Gemeinden gegenüber den Sozinianern war groß. Ständig übten sie also einen Druck auf den Fürsten aus, den Sozinianismus zu verbieten. Die Ursachen waren unterschiedlicher Natur. Es könnte dabei auch die nationale Komponente eine Rolle gespielt haben, was die Darstellungen so-

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um. Über Crell und die Entwicklung der Frühaufklärung siehe: Mulsow, Samuel Crell, 477– 494. Strodtmann, Das Neue Gelehrte Europa, 40. Hervorhebungen – W.P. Tazbir, Socynianizm prusko-brandenburski, 187. Pelc, Zbigniew Morsztyn: arianin i poeta, 209f. Zitiert nach: Tazbir, Socynianizm pruskobrandenburski, 188. Zur Antemurale-Rhetorik siehe z. B.: Srodecki, Antemurale Christianitatis; Tazbir, Polska przedmurzem Europy. Sembrzycki, Die polnischen Reformierten und Unitarier in Preußen, 40. Zitiert nach: Bömelburg, Konfession und Migration, 131. Hervorhebung – W.P. Tazbir, Socynianizm prusko-brandenburski, 190.

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zinianischer Begräbnisse vor Augen führen. Hier ein Beispiel aus den Kirchenbüchern der Gemeinde Griesel: 1667 Sonntag Misericordias wurde ein Arianer von den Arianern auf dem Weinberge begraben mit ihrem Gesange aus Herrn Morsteins Hofe bis an die Grabstätte. Bei der Grabstelle hat der alte Herr Morstein einen polnischen Sermon gehalten und wie gesagt wird, unsern apostolischen Glauben erzählet, und seind auch dabei 3 Lieder gesungen worden. Weils was Neues war, lief alt und jung zu diesem Begräbnis. 1668 Misericordias d. Die alte Frau Morstinen auf dem Weinberg begraben, weil sie eine Arianerin gewesen. Die Arianer haben im Tragen der Leiche polnisch gesungen. Erst auf dem Hofe bei Aufhebung der Leiche ist ein polnischer Sermon gehalten. Auf dem Berge hat Bogislaus Alexander von Schlichting die deutsche Abdankung gethan.33

Die theologischen Aspekte und Unterschiede zwischen den Lutheranern und Sozinianern, die in der Theorie wahrscheinlich nicht für jeden verständlich waren, wurden sichtbar in den gesellschaftlich-religiösen Ritualen. Begräbnisse auf einem anderen Friedhof, nach einem anderen Ritus wirkten bestimmt befremdlich auf die lokale Gemeinschaft. Und solange die Sozinianer noch dazu Polnisch bevorzugten,34 blieben sie „Häretiker“ aus Polen. Ein anderes Beispiel nennt Christoph Hartknoch. Als Historiker befasste er sich mit der Kirchengeschichte Preußens und schrieb deswegen auch über die Situation der Sozinianer. Er schilderte ihr Auftauchen im Fürstentum im 16. Jahrhundert sowie den Widerstand der Stände und die Stellung des Herrschers zu ihnen in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts.35 So wies Hartknoch auf die „Relegation“ von Martin Ruarus aus der Altdorfer Akademie und sein Exil in Europa hin.36 Er beschrieb ferner die Verbannung der Sozinianer aus Polen (1658), ihre Ansiedlung in Preußen (trotz gesetzlichen Verbots) und die sich daraus ergebende Gefahr für die Ordnung und Moral.37 Nicht ohne Freude teilte er mit: Es ward auch dieses gesagt, daß die Arianer in Königsberg eine Zeitlang haben pflegen in einem Hause auff dem Roßgarten zusammen zu kommen, umb ihren Gottesdienst daselbst in der Stille und im verborgenen zu verrichten. Allein dieses hat bald ein Ende 33 Beide Zitate nach: Wotschke, Die unitarische Gemeinde, 220. Hervorhebungen – W.P. 34 Im Laufe des 18. Jahrhunderts ist eine allmähliche Germanisierung der sozinianischen Gemeinden zu beobachten: Tazbir, Socynianizm w Prusach Ksia˛z˙e˛cych, 172 sowie Tazbir, Socynianizm prusko-brandenburski, 190. 35 Hartknoch, Preussische Kirchen-Historia, 489, 594. 36 Ebd., 819. Es sei zu unterstreichen, dass die Entdeckung und Vertreibung der Sozinianer aus Altdorf sowie die Vernichtung ihrer Bücher ein in ganz Deutschland bekanntes und heftig besprochenes Ereignis war. Deswegen war der Sozinianismus später leicht erkennbar und streng bekämpft. Ausdruck dessen ist die zahlreiche Reihe an antisozinianischen Schriften: Vgl. Ogonowski, Socynianizm, 433–437 und die dort genannte Literatur. 37 Dabei beschreibt er die Geschichte von Ch. Sandius, der zum Sozinianismus übergetreten sein soll.

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genommen und wird auch wol hoffentlich nimmer dazu kommen, daß sie die Freyheit offentlich ihren Gottesdienst zu verrichten im Herzogthum Preussen werden erlangen.38

Seine Abneigung gegenüber den Sozinianern hatte eine rein konfessionelle Grundlage und der nationale Aspekt scheint für Hartknoch unwichtig gewesen zu sein. Interessant ist die Auflistung unterschiedlicher Stellungnahmen bezüglich der Brüder. Nicht alle wollten sie nämlich verbannen, es gab auch Stimmen, dass man „die Arianer dulden solle, und sie also mit Sanfftmuth und Gutthaten auff den rechten Weg führen“39. Nicht allein religiöse Motivation steckte aber dahinter. Andere Gründe werden sichtbar, wenn man die Perspektive des Herrschers mit einbezieht. Die Stellung der einzelnen Herrscher zu den Sozinianern lässt sich keineswegs nur rein theologisch begründen. So liest man in einem Protokoll (1703) des preußischen Geheimen Rats Folgendes: Denen Pollnischen von Adel so sich zu Driesen und sonst in der Neumarck aufhalten soll connivendo Ihr exercitium Religionis verstattet werden, jedoch daß solches auff dem Königl. Ambthause geschehe. […] Einige Pollnische Edelleuthen soll das exercitium Religionis zu Riesenburg verstattet werden.40

Die Hervorhebung des nationalen Aspekts erfolgt auch im Wortlaut eines königlichen Dokuments. Im Zusammenhang mit den Versuchen der Sozinianer, eine Union mit anderen Konfessionen zu bilden, verfügte der König Friedrich Wilhelm I. 1718 Folgendes: „Der Name Unitarii sei den Petenten nicht zu gestatten. Sie können sich wie ehedem nennen oder die wegen ihrer besonderen Religion aus Polen Vertriebenen.“41 Damit wurde die Vertreibung offiziell zum Bestandteil der sozinianischen Identität. Dies ist in einer breiteren Perspektive als ein Gebot der Außenpolitik des preußischen Königs und der Gestaltung eines negativen Polenbildes auf der Grundlage der religiösen Intoleranz zu verstehen.42

38 Hartknoch, Preussische Kirchen-Historia, 647f. 39 Ebd., 647. 40 Aus dem Protokoll der Sitzung des Geheimen Rats in Preußen (1703). Zitiert nach: Palladini, Die Berliner Hugenotten, 39. Hervorhebungen – W.P. 41 Wotschke, Die unitarische Gemeinde, 319. Hervorhebung – W.P. 42 Siehe: Bömelburg, Konfession und Migration.

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Literatur Quellen Hartknoch, Christoph, Preussische Kirchen-Historia, Frankfurt a.M./Leipzig/Danzig 1686. Lotichius, Johann Peter, Theatri Europaei Fünffter Theil/ Das ist: Außführliche Beschreibung Aller Denckwürdigen Geschichten… Frankfurt a.M. 31707.

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– Dürfen Sozinianer geduldet werden? Obrigkeitliche und theologische Debatten in Brandenburg und Preußen im 17. und 18. Jh., in: F. Vollhardt (Hg.), Religiöser Nonkonformismus und frühneuzeitliche Gelehrtenkultur, Berlin 2014, 223–250. Srodecki, Paul, Antemurale Christianitatis. Zur Genese der Bollwerksrhetorik im östlichen Mitteleuropa an der Schwelle vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit, Husum 2015. Tazbir, Janusz, Die Sozinianer in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: P. Wrzecionko (Hg.), Reformation und Frühaufklärung in Polen. Studien über d. Sozinianismus u. seinen Einfluss auf d. westeurop. Denken im. 17. Jh., Göttingen 1977, 9–77. – Polska przedmurzem Europy, Warszawa 2004. – Polski krypto arianizm, Odrodzenie i Reformacja w Polsce 10, 1965, 187–211. – Socynianizm prusko-brandenburski w XVII i XVIII wieku, Odrodzenie i Reformacja w Polsce 18, 1973, 181–195. – Socynianizm w Prusach Ksia˛z˙e˛cych XVII wieku, Odrodzenie i Reformacja w Polsce 17, 1972, 141–175. – Stando lubentius moriar. Biografia Stanisława Lubienieckiego, Warszawa 2003. Wollgast, Siegfried, Morphologie schlesischer Religiosität in der frühen Neuzeit, in: K. Garber (Hg.), Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit, Bd. 1, Tübingen 2005, 113–190. Wotschke, Theodor, Die polnischen Unitarier in Kreuzburg, Korrespondenzblatt des Vereins f. Geschichte d. evangelischen Kirchen Schlesiens 12, 1910, 1–28. – Die unitarische Gemeinde in Meseritz-Bobelwitz, Zeitschrift der Historischen Gesellschaft für die Provinz Posen 26, 1911, 161–223.

II. Literarische Annäherungen

Cora Dietl

Reformationsjubiläum 1617 in Stettin Heinrich Kielmanns Komödie Tetzelocramia

MIt dem 1617. Jahr ward Hundert Jahr erfüllet/ von der Zeit anzurechnen/ daß Gott der Allmächtige nach seiner grundlosen Güte vnd Barmhertzigkeit in den letzten Zeiten/ fürnehmlich in vnsern geliebten Vaterlande Teutscher Nation/ das wahre Liecht des sehligmachenden Evangelij/ so by dero mehr als Egyptischen Finsternuß des Babsthumbs gar verdunckelt gewesen/ mit hellem Glantz wiederumb herfürbrechen lassen […]. (IV, 210)1

Mit diesen Worten begründet in der Darstellung des Pomrischen Kirchen Chronicon Daniel Cramers Herzog Philipp II. von Pommern-Stettin ausdrücklich „nach dem Exempel der Chur Sachsen/ vnd anderer Fürsten vnd Herrn“ (IV, 210) die Feierlichkeiten zum 100. Jubiläum des sog. Thesenanschlags. Die Formulierung – und auch die weitere Anordnung zur Feier, auf die im Folgenden noch genauer einzugehen ist, übernimmt Cramer fast wörtlich aus Philipps II. Bevehl unnd Ordnung zur Jubiläumsfeier 1617;2 nur der Verweis darauf, dass das Ganze nach dem Vorbild Kursachsens erfolge, ist Cramers Zutat. In der Tat setzte sich nicht zuletzt auf Betreiben Sachsens im Jahr 1617 das Jubiläum des sog. Thesenanschlags durch. Luther selbst hatte bereits 1527 der zehnjährigen Niederschlagung des Ablasswesens gedacht,3 aber 1580 wurde noch das Jubiläum der Confessio Augustana als 50-jähriges Reformationsjubiläum gefeiert. Nicodemus Frischlin führte anlässlich dieses Jubiläums 1580 sein Luther-Spiel Phasma in Tübingen und Stuttgart auf.4 Bereits bei der Drucklegung 1 Cramer, Das Grosse Pomrische Kirchen Chronicon. Der Faksimilie-Nachdruck aus dem Jahre 2009 mit einem Vorwort von Michael Erbe ist beim Verlag Olms erschienen. 2 Philipp II., Unsere von Gottes gnaden Philipsen. 3 Martin Luthers Brief an Nikolaus von Amsdorff vom 1. November 1527 in: Luther, Werke, Bd. 4, 275. Vgl. dazu: Leppin, „… das der Römische Antichrist offenbaret und das helle Liecht des Heiligen Evangelii wiederumb angezündet“, 115f; Wendebourg, Vergangene Reformationsjubiläen, 262. 4 Anlässlich dieses Jubiläums verfasste Nicodemus Frischlin 1580 das lateinische Schauspiel Phasma und führte es in Stuttgart und Tübingen auf. Es zeigt Luther als in einer langen Reihe von Streitgesprächen gegen die verschiedenen Konfessionen und protestantischen Splitter-

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des Phasma 1592 aber wird im Impressum auf das 75. Jubiläum des Thesenanschlags hingewiesen: „Anno Christi nati 1592. Antichristi vero relevati 75“5. Als Gedenktage der Reformation galten unter anderem auch der Todestag oder der Tauftag Luthers, der Augsburger Religionsfrieden oder die Einführung der Kirchenordnung in Kursachsen.6 Der Anstoß zu einer Feier des Jubiläums des Thesenanschlags am 31. Oktober ging zunächst von den Professoren der Universität Wittenberg aus, die am 27. März 1617 das oberste sächsische Oberkonsistorium um die Erlaubnis für ein „primus Jubilaeus christianus“ am 31. Oktober 1617 an der Universität baten.7 Nur wenige Wochen nach dem Antrag der Wittenberger Gelehrten regte der reformierte Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz die Feier dieses Gedenktags im Rahmen der Protestantischen Union an8, wodurch das Reformationsjubiläum letztlich zu einem politischen Akt des gemeinsamen Bekenntnisses zur Reformation und der vereinten Frontstellung gegen den Katholizismus und vor allem den Jesuitenorden werden sollte.9 Kurfürst Johann Georg I. von Sachsen genehmigte kurz darauf nicht nur den von der Universität beantragten Festakt, sondern ordnete zudem eine landesweite dreitägige Jubiläumsfeier nach dem formalen Vorbild hoher kirchlicher Feiertage an, vielleicht um einer Pfälzischen Konkurrenz zuvorzukommen, in jedem Fall aber, um in einer Zeit des Wiedererstarkens der katholischen Seite und der Zersplitterung der protestantischen Konfessionen die Position der „rechtgläubigen“ Sachsen zu betonen.10 Andere protestantische Länder schlossen sich den sächsischen Vorgaben zum Jubelfest an, und wie es im frühen 17. Jahrhundert üblich war, wurden die Feierlichkeiten nicht nur mit Predigten, Reden und Musik begangen, sondern auch mit Theaterstücken, die eigens für die Feier des Reformationsjubiläums geschrieben wurden. So können wir heute eine Reihe von Jubiläumsspielen aus dem Jahr 1617 verzeichnen.11 In Eisleben wurde Martin Rinckarts Indulgentiarius

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gruppen. Am Ende können vor dem göttlichen Gericht nur er und der württembergische Reformator Brenz bestehen (Frischlin, Phasma: Hoc est). Vgl. Scheitler, Lutherus redivivus, 192. Wendebourg, Vergangene Reformationsjubiläen, 265f; Kühne, Der Agent des Antichristen, 95. Flügel, „Und der legendäre Thesenanschlag hatte seine ganz eigene Wirkungsgeschichte“, 30; Wendebourg, Vergangene Reformationsjubiläen, 282f. Schönstädt, Antichrist, Weltheilsgeschehen und Gottes Werkzeug, 13–15; Fleischmann-Bisten, Die Reformations- und Lutherjubiläen in freikirchlicher Rezeption, 172f; Kühne, Der Agent des Antichristen, 97. Vgl. Leppin, Memoria und Aggression, 116f; Wendebourg, Vergangene Reformationsjubiläen, 263f. Wendebourg, Vergangene Reformationsjubiläen, 264f; Flügel, Geschichte des Reformationsjubiläums, 282f. Die Texte werden häufig erwähnt; ausführlich behandelt werden sie selten. Vgl. unter anderem Metz, Das protestantische Drama, 633–709; Kastner, Geistlicher Rauffhandel, 151–157,

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Confusus, Oder Eislebische Mansfeldische Jubelcomoedia aufgeführt, eine Darstellung der Konfrontation zwischen Luther und Tetzel.12 Der Rektor des Frankfurter Gymnasiums, Heinrich Hirtzwig, führte 1617 ein lateinisches Lutherus Drama in Frankfurt und Wittenberg auf. Es umfasst die gesamte Zeit von Luthers Berufung nach Wittenberg bis zu Szenen an seinem Grab.13 Vermutlich in Wernigerode wurde Balthasar Voigts deutschsprachiges Echo Iubilaei Lutherani aufgeführt: Es spielt in der Gegenwart des Jahres 1617, lässt Luther anlässlich des Jubiläums auferstehen und konfrontiert ihn mit dem Papst und den Jesuiten.14 Diese drei Dramen geben, wenn auch in jeweils unterschiedlichem Rahmen, der Luther-Figur Raum, um die Kernsätze sowohl seiner Kritik an Tetzel als auch seiner Lehre zu formulieren oder aber sich durch seine Standhaftigkeit als „Märtyrer im Leben“ oder als „Heiliger“ zu profilieren. Heinrich Kielmanns Tetzelocramia, die anlässlich des Jubiläums in Stettin aufgeführt wurde, schlägt einen anderen Weg ein.15 Daniel Cramer erwähnt das Stück im Pomrischen Kirchen Chronicon mit den folgenden Worten: Auch haben die Studiosi des Fürstlichen Pædagogij bald darauff eine lustige Comediam Tetzelocramiam genandt/ welche auch im Truck ist/ Ihro Fürstlichen Gnaden exhibiret, darin des Tetzels Ablaß/ vnd wie er zu Schanden gemacht/ artiglich für Augen gestellet worden/ dem lieben GOtt zu Ehren/ aber nicht ohne sonderbarn Verdruß der Papisten, derer viel in dieser Stadt auß Pohlen daßmahl verhanden gewesen. Wie dann gleicher gestalt zu Stargard auch eben dieselbe Comædia ist von den Schülern daselbst exhibiret worden. (IV, 211f)

Luther wird in Cramers Aufführungsbericht gar nicht erwähnt; in der Tat tritt Luther in Heinrich Kielmanns Tetzelocramia erst im fünften Akt auf, gleichsam als Deus ex machina und weniger als Protagonist im engeren Sinne. Der folgende Überblick über den Handlungsverlauf soll dies verdeutlichen: Religio klagt über die Entzweiung ihrer Kinder. Ihre bevorzugte Tochter Veritas wird von der Welt verachtet. Diese kommt bald zu ihr und berichtet der Mutter von einer Begegnung mit einem engelhaften Mann (Michael), der ihr empfahl, die Bibel nie aus der Hand zu legen. Während die Frauen sich zurückziehen, tritt der Hof- und Kirchenteufel auf und lobt seinen lieben Sohn, den

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316–318; Luserke-Jaqui, „Eine Nachtigall die waget“, 54–61; Scheitler, Lutherus redivivus, 196–210; Nahrendorf, Luther auf der Bühne, 173–177; Kühne, Der Agent des Antichristen, 98– 102. Rinckart, Indulgentiarius Confusus. Die Jubelkomödie war ursprünglich geplant als der zweite Teil eines siebenteiligen Zyklus von Lutherdramen. Hirtzwig, Lutherus: Drama. Voigt, Echo Iubilaei Lutherani. Kielmann, Tetzelocramia [nach dieser Ausgabe von 1617 wird im Folgenden zitiert]. Weitere Ausgaben: Alten Stettin: Johann Duber, 1617; Wittenberg: Paul Helwig/Johann Matthäsius 1618. Sprachlich modernisiert ist der Text wiedergegeben in: Bolz, Im Gespräch mit dem Buch, 19–103. Zum Text vgl. neuerdings: Schmidt, Der geküsste Papst, 475–489.

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Papst, dem alle Könige dienen sollen. Ihm begegnet der Schatzmeister Kurfürst Albrechts von Brandenburg, der über eine leere Kasse klagt. Der Hofteufel gibt ihm verschiedene Ratschläge, wie er zu Geld kommen könnte, unter anderem durch Ablasshandel; er empfiehlt ihm Tetzel als Ablassprediger. Jetzt tritt in einer höchst fragwürdigen Prozession der Papst auf. Er erteilt zwei Fürsten großzügig Dispens für unerlaubte Verwandtenehe und gibt Tetzel den Segen für den Ablasshandel. Als die Sänftenträger den Papst beim Abgang fallen lassen, tanzen Kinder vor Freude. Unbeschadet dessen beginnt Tetzel erfolgreich mit dem Ablasshandel: Er hat Fürsten und Bauern als Kunden; nur ein Landsknecht versteht es, ihn ums Geld zu prellen. Als Veritas offen den Ablasshandel tadelt, versucht man ihr den Teufel auszutreiben und kerkert sie ein. Jetzt aber mehren sich die Zweifel am Ablasshandel und an der Werkgerechtigkeit, sowohl bei den ausgebeuteten Bauern als auch bei den Adeligen, die durch päpstlichen Dispens und Ablass nicht gegen ihr schlechtes Gewissen gefeit sind. Schließlich richtet sich die Aggression gegen Tetzel und im fünften Akt wird der Erzengel Michael von Gott gesandt, um Veritas zu befreien und Luther und Bugenhagen in die Welt zu entsenden. Tetzel wird in die Hölle gebannt und die beiden Reformatoren beginnen ihre Mission. In dem Moment, in dem nun Inhalte der protestantischen Lehre verhandelt werden könnten, endet das Spiel. Offensichtlich ging es Kielmann bei seinem Stück für das Jubiläumsfest 1617 nicht primär darum, Luther als Prediger zu präsentieren und die zentralen Punkte seiner Lehre aus seinem Munde zu wiederholen; das aber bedeutet nicht, dass Kielmann oder das Pädagogium nicht genügend in die Feierlichkeiten integriert gewesen wären. Das Pädagogium war 1541 als fürstliche Schule unter der Aufsicht der Herzöge von Pommern eingerichtet worden.16 Es diente von Anfang an dazu, in Pommern-Wolgast und Pommern-Stettin die lutherische Lehre einzuführen und zu stärken.17 Es sollte sich dabei am Vorbild des Straßburger Gymnasiums orientieren.18 Die Person Daniel Cramers, der 1594 zum Professor für Philosophie und 1597 zum Rektor des Pädagogiums ernannt worden war, zusätzlich ab 1597 Kaplan der Stettiner Marienkirche war,19 den Ruf auf die Generalsuperintendenz in Wolgast 1604 ablehnte,20 dafür während der Vakanz der Superintendenz von Pommern 1613–1615 diese verwaltete,21 steht für die enge Verbindung des Pädagogiums mit der lutherischen Kirche. Cramer hatte während seiner Studienzeit in Wittenberg selbst (höchst erfolgreiche) Theater16 Cramer/Erbe, Kirchen-Chronicon, 8*; Reichstel, Stettin, Hansestadt, Polen, 129 nennt das Datum 1543 (Beginn des Lehrbetriebs). 17 Buchholz, Frühmoderne Staatsbildung, Reformation und Fürstenschule, 39. 18 Cramer/Erbe, Kirchen-Chronicon, 8*; Hanstein, Caspar Brülow (1585–1627), 87. 19 Cramer, Kirchen Chronicon, IV, 99. 20 Ebd., 142. 21 Mödersheim, Cramer, Daniel, Sp. 24.

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stücke verfasst und aufgeführt: Areteugenia (1592) und Plagium (1593).22 Vielleicht deshalb zeigt er in seinem Kirchen Chronicon ein besonderes Interesse für das Theaterspiel am Stettiner Pädagogium, vor allem anlässlich kirchenpolitischer Feste. So vermerkt er für das Jahr 1612, als durch den Stettiner Vertrag Streitigkeiten zwischen der Stadt und dem Herzog beigelegt und die Aufgaben der Prediger in der Stadt neu geregelt wurden, in seiner Chronik: Es ist auch zu anzeigung der gebürlichen congratulation Ihrer F.G. zun Ehren/ von den Studenten im F. Pædagogio eine lustige Comædia/ welche Pax auffgeführet hat agiret worden/ dieselbe halb in Adelichen/ halb in Bürgerlichen Weiber Geschmück gekleidet/ führete an einer güldenen Ketten die Bestiam Erymum, welche auß dem Kopff vnnd Munde Fewer speyete/ vnd Pax trug im Rechten Arm das cornu copiæ, das war mit allerley Früchten erfüllet/ die sie auß demselben vbers gantze Volck außwarff. Gott bestetige vns in gutem Friede. (IV, 179f)

Es ist nicht bezeugt, wer der Verfasser dieses allegorischen Dramas von Pax und der Schlange Erymum war; zeitlich jedenfalls trifft die Aufführung mit der Berufung Heinrich Kielmanns als Professor für Poesie und Griechisch und Konrektor des Pädagogiums zusammen.23 Als poeata laureatus24 war Kielmann zum dichtenden Dienst an Obrigkeit und Land verpflichtet. Vielleicht also stellte Pax den Beginn seiner Zusammenarbeit mit Cramer dar, die dann – nach der wohl eher an den Bedürfnissen des Unterrichts orientierten Aufführung der lat. Venus (1513)25 – in der Kooperation zum Reformationsjubiläum gipfelte. Dass Cramers Festpredigten zum Jubiläum26 einige motivische Parallelen zu Kielmanns Stück aufweisen und dass vor allem das von Cramer anlässlich des Jubiläums entworfene Emblem27 zum Jubiläum unmittelbar auf die Schlussszene der Tetzelocramia bezogen ist, ist bereits mehrfach beobachtet worden;28 auf Letzteres weist Cramer in seinem Chronicon selbst hin.29 Auffällig ist vor allem auch, dass sowohl Cramers erste Festpredigt als auch das Titelblatt von Kielmanns Komödie unmittelbar eine Formulierung aus Philipps Verordnung zum Fest zitieren, wenn sie Luther als Gottes „erwehltes Rüstzeug“ bezeichnen.30 Grundsätzlich halten sich Cramers und Kielmanns Texte eng an Philipps II. Verordnung, die sich ihrerseits zwar nicht exakt, aber der Stoßrichtung nach an 22 23 24 25 26 27

Vgl. ebd., Sp. 25. Scherer, Art. Kielmann, 714. Flood, Poets Laureate in the Holy Roman Empire, 990. Scherer, Art. Kielmann, 714. Feyrliche Begängnus des Hochpreißlichen Ersten Evangelischen JubelJahres. Ebd., Bijr–Biijv. Auch als Einblattdruck erhalten: Cramer, Emblema Auff das Erste Evangelische JubelJahr. 28 Kastner, Geistlicher Rauffhandel, 312–319; Schmidt, Der geküsste Papst, 480. 29 Cramer, Kirchen Chronicon, IV, 212. 30 Philipp II., Bevehl vnnd Ordnung, Aijr; Feyrliche Begängnus, Biiijr; Kielmann, Tetzelocramia, Ar.

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den sächsischen Vorgaben orientiert:31 Nach Vorbereitungen am Sonntag, dem 26. Oktober 1617 und Donnerstag, dem 30. Oktober 1617 sollte am Freitag, dem 31. Oktober 1617 und an den folgenden beiden Tagen über Luthers „erste disputation, wieder des Gottlosen Münches Johan Tetzels Ablaßkram“32 gepredigt und das Sakrament in beiderlei Gestalt gereicht werden. Folgende Lesungstexte schreibt Philipp vor: am 31. Oktober Lk 10,17–22 (die Ankündigung des Sturzes Satans), II Thess 2,1–12 (die Warnung, sich nicht von falschen Propheten verführen zu lassen) und Ps 100 (Jauchzet dem Herrn);33 am 1. November Lk 2,49–51 (die Hinweise des 12-jährigen Christus im Tempel, dass man erkennen möge, was sein Haus ist), I Tim 4,1–5 (die Prophezeiung des Abfalls vieler vom Glauben in den letzten Tagen) und Ps 122 („Ich freue mich: lasset uns ziehen zum Hause des Herrn“); am 2. November aber die üblichen Lesungstexte dieses Sonntags.34 Cramer legt er in seiner ersten Predigt35 Lk 10,17–22 dahingehend aus, dass die Hure Babylon, d. h. die Macht des Papsttums, gefällt sei. Es bedürfe nun keines neuen Papstes, „so sey auch Gott dafür/ das wir Lutherum sollten zum Babst machen“, denn Christus sei der Priester. „In den Himel aber dürffen wir Lutherum nicht heben/ denn Er ist schon drin/ vnd Johannes hat diesen Engel (Lutherum) mitten durch den Himel fliegen sehen“ (Ciiijr). So wie Christus die Händler aus dem Tempel vertrieben habe, habe Luther die Krämerei und Simonie aus der Kirche gebannt, wie sie sich in Tetzels Ablasskram und Albrechts Pallium manifestiert hatten (Diiijr). Den Gedanken vom Sturz des Papsttums greift er in seiner zweiten Predigt (zu Lk 2,49) wieder auf, ebenso wie den der Vertreibung der Händler bzw. des Teufels „mit seiner Abgöttischen Meß/ Maozim/ Abgöttischen Bildern/ Aberglaubischen Klausen/ vnd Capellen“ (Eiiijv). Gott habe durch Luther die rechte Ordnung wiederhergestellt (Fijv). Als der von Gott gesandte Prophet sei er vielerlei Verfolgung ausgesetzt gewesen (Fiiijr), und nach seinem Tod habe der antichristliche Hofteufel versucht, die Lutherischen zu vernichten (Giiijr), was die Jesuiten nach wie vor wollten, daher ruft Cramer die Gläubigen auf, sich der in alle Sprachen übersetzten Bibel zu bedienen, das Licht des Evangeliums nicht zu verleugnen, da sie wissen, „das kein ander Weg zur Seligkeit vnd in den Himel/ sey/ denn allein durch den Glauben an Christum: Ihr kommet aber nicht hinein/ vnd wehret denen/ die hinein wollen“ (Hr). Das Thema der Einkehr ins Haus Gottes bildet dann wiederum die Verbindung zur dritten Predigt. Hier legt Cramer Mt 22,1–14 aus: die Parabel vom Königlichen Hoch31 Vgl. Leppin, Memoria und Aggression, 117f. 32 Philipp II., Bevehl vnnd Ordnung, Aiijr; Feyrliche Begängnus, Aiiijr. 33 Philipp II., Bevehl vnnd Ordnung, Aiijv; Feyrliche Begängnus, Aiiijr–v. In Sachsen waren Ps 76 und Dan 11,36–38 vorgeschrieben, II Thess 2 stand aber in vielen protestantischen in der Festtagsordnung (Leppin, Memoria und Aggression, 117–119). 34 Philipp II., Bevehl vnnd Ordnung, Aiijv; Feyrliche Begängnus, Aiiijv. 35 Feyrliche Begängnus.

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zeitsfest. Cramer bezieht die Parabel auf diejenigen, die auch nach hundert Jahren nicht die Errungenschaften der Reformation erkannt hätten und daher das Jubelfest nicht zu begehen wüssten (Jiiijr) – wie die verstockten „Papisten“. Die Vorgaben Philipps und die Predigten geben einen Rahmen für Kielmanns Stück vor, der, wie Leppin betont,36 aggressiv ist, zugleich aber Luthers Antichrist-Theologie entspricht, und – sei es Ironie des Schicksals oder Teil eines geplanten symbolischen Akts Luthers bei der Terminierung der Publikation seiner Thesen – sich ideal in den traditionellen Festkalender einfügt, in welchem die Mahnung an die Wiederkunft Christi den Beginn des Kirchenjahres markiert.37 Der Dichter setzt nicht unmittelbar die Auslegungen Cramers um, sondern beginnt wie dieser zunächst bei den Lesungstexten, in denen freilich nicht von Luther die Rede ist. Es geht um den Sturz Satans, um die Verführung des Volkes Gottes durch falsche Propheten, um den Abfall vom Glauben und die Rückkehr Christi in sein Haus sowie der Gläubigen zu Gott. Nur konsequent ist es, dass Kielmann Religio und das Kirchenvolk sowie seine Verführung durch Teufel, Papst und Tetzel ins Zentrum stellt. Dass es ihm dabei nicht um fiktive Unterhaltung gehe, macht Kielmann im Vorwort sehr deutlich: „Nec fictis tamen hic notare Papam,/ Sed veris, velut acta sunt, libebat“, er wollte hier nichts Erfundenes über den Papst sagen, sondern die Wahrheit, so wie es geschah (Vorwort, Aijr). Dies erfolge, der freudigen Stimmung des Festes entsprechend, in scherzhafter Rede (Vorwort, Aijr). Das Spaßige oder Scherzhafte aber sei nicht gottlos und nichts, wofür man sich schämen müsste, sondern Spiel und anständige, wenngleich gesalzene Scherze. In den scherzhaftgesalzenen, ja, bissigen Teilen ist demnach der Schlüssel zum Stück zu sehen. Mit einer solchen eher versteckt gesalzenen Stelle setzt der Text ein: Religio präsentiert sich im Anfangsmonolog als bedauernswertes Weib – auf den ersten Blick ein Boethius-Zitat, aber hier steht nicht eine Philosophia in zerfetztem Kleid, sondern eine Witwe: Ich armes Weib Religio, Wird ich doch nie auff Erden froh,/ Ach weh mir Armen Witwen weh/ Ich bin verlohrn/ wie ich hie steh/ Nichts bin ich/ nur ein blosser Nahm/ Daß ich mich meines stands auch scham (Akt I,1)

Religio ist Witwe. Dies irritiert auf den ersten Blick, vermutet man doch als ihren Bräutigam Christus. Verständnishilfe bietet Luthers Verwendung des WitwenBilds im Vorwort zum Buch Judith:

36 Leppin, Memoria und Aggression. 2007, 117f. 37 Vgl. Jacobus a Voragine, Legenda aurea, 76f.

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Denn Judith heisst Judea (das ist) das Jüdisch volck, so eine keusche heilige Widwe ist, das ist, Gottes volck ist jmer eine verlassene Widwe, Aber doch keusch vnd heilig, vnd bleibt rein vnd heilig im wort Gottes, vnd rechtem Glauben, casteiet sich vnd betet. Holofernes, heisst Prophanus dux, vel gubernator, Heidnischer, Gottloser oder vnchristlicher Herr oder Fürst, Das sind alle Feinde des Jüdischen volcks.38

Der Witwenstatus bezeichnet hier keineswegs den Tod des Ehemanns (Gottes), sondern primär die bedrohte Situation im Leben, ohne einen weltlichen Schutzherrn. Judith trotzt Religio, die für den Glauben oder das Volk Gottes steht, gegen Potentaten der Welt, die sie und ihren Glauben bedrohen. Diese Bedrohung scheint bei Religio aber so weit vorangeschritten zu sein, dass sie ihren eigenen Kern bereits verloren hat und nur noch Name ist. Mit anderen Worten: Sie wird ihrem eigenen Anspruch nicht mehr gerecht. Dies darf als eine scharfe Kritik an den „Christen“, die keine wahren Christen mehr sind, und am Christentum, das sich weit von seinen Wurzeln entfernt hat, verstanden werden. Gegen wen sich die Spitze dieser Aussage richtet, wird in den folgenden Versen deutlich: Religio benennt nun ihre drei ungleichen Kinder: Gnathaster („Fuchsschwänzler“)39, der nach Rom gegangen und Hofmeister des Papstes geworden ist, Hypocrisis (Heuchelei), die ins Kloster eingetreten ist und unter Mönchen und Nonnen lebt, und das Lieblingstöchterchen Veritas, von der sie sagt: „Die hat mir mein liebr Gott beschert“ (Akt I,1). Die Religion, die einen Gnathaster und eine Hypocrisis als Kinder hatte, war offensichtlich eine Religion, die sich auf den Menschen eingelassen hat und nicht auf Gott. Erst nach diesen Verirrungen hat sie (wieder) zu Gott gefunden und Wahrheit, sprich: die wahre Lehre hervorgebracht, doch diese ist jetzt in Gefahr. Ganz offensichtlich steht Veritas für die lutherische Lehre, Hypocrisis und Gnathaster für die Verirrungen der Papstkirche, Religio aber für die Idee der christlichen Religion, die in der aktuellen Lage bedroht und zum Teil durch hohle Formen ersetzt ist. Wie zerrüttet die Religion gerade im Wirkungskreis ihres Sohnes Gnathaster ist, wird bald darauf deutlich, wenn der Papst auftritt. In Akt II,2 wird er in einer Art Prozession, bei der Monstranz und Weihwassergefäße mitgeführt werden, auf einem Stuhl auf die Bühne getragen, während das Lied von den zwölf Heiligen Zahlen – ursprünglich ein Lied zum Pessach-Fest – gesungen wird.40 Damit schon ist der Papst als Vertreter einer alten (überkommenen) Religion markiert. Bilder

38 Luther, Vorrede auff das Buch Judith, 7. 39 Bolz, Im Gespräch, 19 nennt ihn „Gnadhafter“; in der Inhaltsangabe dagegen spricht er von vier Kindern der Religio: Wahrheit, Gerechtigkeit, „Superschlau und Ökonomia“ (15). Hier ist vielmehr Schmidt, Der geküsste Papst, 484 beizupflichten, dass hier der Name auf den Parasiten „Gnathon“ der römischen Komödie anspielt. 40 Gottsched, Briefwechsel, 445 [Kommentar]. Zu diesem Lied als Satire auf die katholische Heiligenverehrung vgl. Scheitler, Schauspielmusik, 399; Scheitler, Lutherus redivivus, 198.

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wie der Holzschnitt des Flugblatts Lutherus triumphans41 drängen sich auf und wecken entsprechende Erwartungen an die Szene. Kaum ist das Lied vorbei, wird die Sänfte abgesetzt und Gnathaster verliest acht Regeln, wie sich die Christen gegenüber dem Papst verhalten sollen, und nun rät der Hofteufel Tetzel, vor dem Papst einen Fußfall zu machen; er tut es, preist den Papst mit einem völlig übertriebenen Hymnus, der Formulierungen enthält wie „Petrus es potestate, Et Christus pietate“ (Akt II,4) und der wie eine Leise mit „Kyrie Eleison“ endet.42 Nach einem Fußkuss erhält Tetzel seinen Segen. Nach einer weiteren Lobpreisung des Papstes durch Gnathaster (Akt II,5) tun nun auch ein Fürst und ein Marschall einen Fußfall und küssen die Füße des Papstes, nur der Narr Miska weigert sich: Miska: Nein/ Marschal nein/ Ich thu es nicht/ das kann nicht sein. Hat mein Fürst müssn die füsse küßn/ Den Arß wird ich jhm lecken müssn. (Akt II,5)

Kaum ist der widerborstige Narr verjagt, der auf die komplett überzogene Hierarchie zwischen Papst und weltlicher Hoheit hingewiesen hat, lässt sich der Papst wieder wegtragen: Die Träger heben den Babst auff vnnd lassen ihn fallen. Redit: Sich da/ sich da/ hoy was ist das? Ihr ertz verzweifflten Bösewicht/ Potz wunder/ Potz was hie geschicht. Seidt jhr den Thol odr seid jhr trunckn/ Jhr Gottloß verzweiffelt holluncken/ Last jhr den Heilgen Vater falln? Der Bann soll euch gwiß schlagen all (Akt II,6)

Der Papst ist aufgrund der entsetzlichen Missachtung seiner Hoheit – oder weil er den Sturz durchaus allegorisch zu lesen vermag – sehr schnell bereit, das Instrument des Banns einzusetzen. Auffällig ist vor allem aber auch sein Sprachgebrauch, der sehr schnell die Stilebenen durchbricht: Flüche wie „Potz wunder“ werden im frühneuzeitlichen Spiel in der Regel Teufeln in den Mund gelegt. Damit ist aber verbal der Sturz gemeint und das heißt auch die Entblößung des Satans bereits geschehen. Die Vorgabe Philipps, dass in der ersten Predigt zum Festtag Lk 10,17–22 ausgelegt werden sollte, ist damit erfüllt. Die Verknüpfung des Sänften-Unfalls mit der Verleihung des Privilegs an Tetzel ist hierbei sicherlich kein Zufall, denn auch Cramer verbindet in seiner ersten Predigt die 41 Lutherus Triumphans. 42 Zur Ritualparodie vgl. Schmidt, Der geküsste Papst, 481–487.

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Thematik des Teufelssturzes mit der Austreibung der Händler aus dem Tempel. Der Lobpsalm Jauchzet dem Herrn (Ps 100), für den ersten Tag des Festes vorgeschrieben, wird hier ersetzt durch das Freudenlied eines Knabenchors, das den Unfall ganz im Sinne des Jubiläumsfestes deutet: Darauff kommen die Kinder in weissen Hembbden auff den Platz gelauffen/ vnd fangen mit laut an zu lachen. Expleto cachinno fangen sie an zu singen vnd zu Tantzen. Pueri: Der Babst hat sich zu Tod gefalln/ von einem hohen stule/ Mit wem soll denn mein arme Seel/ forthin nun weiter buhlen. Jesus Christus der soll es sein/ kein ander lieber werden/ macht vns von allen Sünden frey/ im Himmel vnd auff Erden […] Der Babst hat seinen Schlüssel verlohrn/ was wil er nun beginnen/ das thut jhn aus der massen zorn/ er kann sie nirgends finden. Ein frommer Man aus Sachsen Landt/ hat rechte Schlüssel gfunden/ Martinus Luther ist er genant/ den Christen GOtt wilkommen. […] (Akt II,6)

Die in ihren weißen Hemden als unschuldig gekennzeichneten Knaben sprechen aus, was keiner (außer dem Narren) zu sprechen wagt. Sie lachen und veranstalten einen Tanz um den Gestürzten. Er hat die Macht verloren, den Himmel aufzuschließen, denn Luther hat den Himmel für alle aufgeschlossen, während Christus allein von Sünden befreit. Das Lied hat Kielmann nicht erfunden. Es ist erstmals in einem Zwickauer Einblattdruck von 1535 überliefert, wurde in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in mehreren anonymen Flugschriften verwendet und war seit 1576 auch im Stettiner Gesangbuch vertreten.43 Damit hat das dem Publikum vertraute Lied nicht nur eine Interpretationsfunktion, sondern auch eine integrative: Das Publikum steht deutlich auf der Seite der Knaben, die mit lautem Spott den Papst verlachen. Als getanztes Interludium setzt das Lied zugleich einen Kontrapunkt zur absurden Prozession zu Beginn des Akts und markiert einen entscheidenden Wendepunkt im Geschehen, der bereits das Ende vorwegnimmt. Thema des sich nun anschließenden zweiten Teils der Komödie sind der Abfall vieler aufgrund falscher Prediger (I Tim 4,1–5) und die Frage, wer Herr im Hause 43 Vgl. Scheitler, Schauspielmusik, 399; Scheitler, Lutherus redivivus, 198; Schmidt, Der geküsste Papst, 486f.

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Gottes ist (Lk 2,49–51). Akt III führt die Verführung des Volkes Gottes bildhaft vor, wenn nun der erfolgreiche Tetzel auftritt und Veritas einem absurden Exorzismus unterzogen und in den Kerker geworfen wird. Am Tiefpunkt der Handlung nach dem dritten Akt wird noch einmal ein getanztes Interludium eingeschoben; gesungen wird dazu der Roland. Auch dieses Lied ist einzeln überliefert.44 Es erzählt vom schlauen Bauern Roland, dem es gelingt, seine Grete, die ein Verhältnis mit einem Mönch hat, für sich zurückzugewinnen. Bauernschläue und Standesbewusstsein des einfachen Volkes werden hier mit der Morallosigkeit und Dummheit eines stereotypen Mönches kontrastiert – und das genau in dem Moment, als Tetzel und der Exorzist Veritas gefangengenommen haben und zum Weintrinken gehen. Die Sympathielenkung ist eindeutig, ob es dazu des identitätsstiftenden Potenzials eines „Rolands“ für die Bürger einer Hansestadt bedarf, sei dahingestellt. Die Rezipientenerwartung ist mit diesem Lied jedenfalls gegeben, dass nun im vierten Akt die Klugheit des einfachen Volkes die Oberhand gewinnen und es zur Einsicht gelangen wird, dass Ablass und Wallfahrtswesen die Not der Sünder nur verschlimmern. An die Stelle der Predigt des dritten Tages, d. h. der Auslegung der Parabel vom königlichen Hochzeitsfest, tritt nun die Begegnung des einfachen Volkes mit Religio. Die Bauern lassen sich von ihr Luthers (d. h. die göttliche) Gnadenlehre erläutern, verinnerlichen sie sofort und lehren sie selbst ihrem Fürsten. Dass bald darauf Michael kommt und Veritas befreit, dass Religio und Veritas gegenüber Tetzel und den Vertretern der römischen Kirche triumphieren und letztere vom Teufel geholt werden, wird gleichsam als Triumph des einfachen Volkes inszeniert, das die Einladung Gottes zum Hochzeitsfest erkannt und seine Gnadenbotschaft erfahren hat, noch bevor Luther und Bugenhagen geholt werden, um diese Lehre zu verbreiten. Unter dem Vorzeichen der apokalyptischen Ausrichtung des gesamten Festes lassen sich die beiden am Ende des Stücks vom Himmel gesandten Propheten leicht als Abbilder Enochs und Elias’ verstehen. Sie bereiten die Wiederkehr Christi und das Weltenende vor. Über den Inhalt ihrer Predigten freilich erfährt man auch in der Offenbarung nichts. Gerade deshalb – und weil das einfache Volk als Wiederentdecker der wahren Religion gefeiert werden soll – werden Luther und Bugenhagen hier nicht als flammende Prediger inszeniert. Den Abschluss des Spiels bilden vielmehr der Jubel der Veritas „o tandem, tandem, tandem bona causa triumphat“ (Akt V,6) und der Religio „Gottes Wort Lutheri Lehr/ Vergehet nun vnd nimmermehr.“ Beide Sentenzen greift Cramer in seinem Epigramm auf, letztere war die Inschrift der Jubiläumsmedaille in Kursachsen.45

44 Roland genandt. Ein Fewr new Lied. 45 Schlüter, Münzen und Medaillen zur Reformation 16. bis 20. Jahrhundert, 84.

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Selbst wenn die Aufführung, wie Christian Schmidt vermutet,46 nicht Teil des offiziellen Festprogramms gewesen sein sollte – die Nähe zu den anderen Teilen und Akteuren des Festes spricht meines Erachtens sehr für einen offiziellen Charakter des Spiels – so war eine Aufführung vor oder bei der Marienkirche prominent genug, um in größerem Rahmen wahrgenommen zu werden. Damit erreichte die scharfe Kritik an der ausgehöhlten katholischen Religion deren Vertreter, die in der Hansestadt selbstverständlich zugegen waren, einen Höhepunkt. Cramer erwähnt in seinem Kirchen Chronicon die Reaktion der Polen in Stettin. Sie mussten sich besonders angesprochen fühlen, nachdem der Narr, der mit seiner Kritik am Papst nicht zurückhält, keinen deutschen, sondern einen typisch polnischen Narrennamen trägt. Freilich sind die Polen nicht die einzigen, gegen die sich Kielmann richtet. Allzu häufig erwähnt Cramers Chronik Konflikte mit Jesuiten: Sie sind eigentlich Gegenstand der Kritik.47

Literatur Quellen Cramer, Daniel, Emblema Auff das Erste Evangelische JubelJahr: Tandem Triumphat Veritas, Alten Stettin 1617. – Das Grosse Pomrische Kirchen Chronicon […], Alt-Stettin 1628. Cramer, Daniel/Erbe Michael, Das Große Pomrische Kirchen-Chronicon, mit einem Vorwort von M. Erbe, Hildesheim 2009. Feyrliche Begängnus des Hochpreißlichen Ersten Evangelischen JubelJahres, wie dasselbe Auff des […] Herrn Philippi II. Hertzogen zu Stettin Pommern […] gnedigen Befehl […] gehalten worden, Alten Stettin 1617. Frischlin, Nicodemus, Phasma: Hoc est; Comoedia posthvma, nova et sacra […], Straßburg 1592. Hirtzwig, Heinrich, Lutherus: Drama. Daß ist/ Warhaftiger/ Hitorischer/ gründtlicher unnd Außfhürlicher bericht/ von dem grossen Werck der reformation […], Wittenberg 1618. Jacobus a Voragine, Legenda aurea, B.W. Häuptli (Hg.), Freiburg 2014. Kielmann, Heinrich, Tetzelocramia. Daß ist/ Eine Lustige Comoedie/ Von Johan Tetzels Ablaßkram/ wie GOtt der Herr denselben/ Itzo für Hundert Jahren durch sein erwehltes Rüstzeüg. D. Martinum Lutherum […] umbgestoßen vnnd außgetrieben […], Wittenberg 1617. Luther, Martin, Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Briefe, Bd. 4, Weimar 1933. 46 Schmidt, Der geküsste Papst, 479. 47 Unter anderem Cramer, Kirchen Chronicon, IV, 124, 150: „Zu Posen steckten der Jesuiten junge Studenten der Evangelischen Kirchen/ die sie draussen vorm Thor hatten/ an/ vnd wollten dieselbe nicht lassen wieder bawen“; siehe auch: 151–154, 170.

Reformationsjubiläum 1617 in Stettin

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– Vorrede auff das Buch Judith, in: M. Luther, Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Bibel, Bd. 12, Weimar 1961, 4–7. Lutherus Triumphans. Einblattdruck, Wittenberg [um] 1570. Philipp II. von Pommern-Stettin, Unsere von Gottes gnaden Philipsen/ Hertzogen zu Stettin Pommern […] Bevehl vnnd Ordnung/ welcher gestalt in unsern Fürstenthümern unnd Landen/ das Christliche Evangelische Jubilæum sol gehalten/ vnnd begangen werden, Alten Stettin 1617 [auch in: Feyrliche Begängnus, Aiijr–Bv]. Rinckart, Martin, Indulgentiarius Confusus, Oder Eißlegische Mansfeldische Jubel-Comoedia […], Eisleben 1618. Roland genandt. Ein Fewr new Lied/ der Engellendisch Tantz genandt/ zugebrauchen auff allerley Jnstrumenten/ etc. Gar kurtzweilig zusingen vnd zu Dantzen: In seiner eignen Melodey, o.O. 1599. Voigt, Balthasar, Echo Iubilaei Lutherani. Das ist ein Christlich Gedicht oder Widerschall vom Lutherischen Jubelfest […], o.O. 1618.

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Reformation und die mittelalterliche Tradition im Licht der didaktischen Literatur

Sowohl die Reformation als auch Martin Luther und seine Tätigkeit werden von vielen für eine Zäsur gehalten, „für den Schnitt schlechthin vom Mittelalter zur Neuzeit“1. Gleichzeitig werden Luthers Lebensjahre2 mit großen Erfindungen und der Wiedergeburt der Kultur gleichgesetzt. Im späten Mittelalter sagten hingegen Kriege, Seuchen (der Schwarze Tod)3 und Katastrophen (unter anderem die Ausweitung der großen Hungersnot in Europa in den Jahren 1315–13174) einen nahen und sicheren Weltuntergang voraus. Diese Zusammenhänge von Krieg, Pestseuchen, Hungersnot und Massensterben werden eindrucksvoll in Albrecht Dürers Apokalyptische Reiter5 vor Augen geführt.6 Es kann nicht überraschen, dass weitsichtige Zeitgenossen, allen voran Petrarca, schon damals den Umbruchscharakter ihrer Epoche erkannten, den sie nicht nur mit den Schrecken der Pest zu erklären suchten.7 1 [Gespräch mit Volker Leppin] „Manchmal bekomme ich Gegensturm“ (siehe Link im Literaturverzeichnis). 2 G.R. Elton weist darauf hin, dass im Jahre des 500. Jubiläums der Geburt von Luther die Versuchung bestand, die Reformation mit Luther gleichzusetzen oder jedenfalls die Annahme, dass ohne ihn es nie zur Reformation gekommen wäre. Manche Historiker in Deutschland sind seiner Meinung nach dieser Versuchung nachgegangen, was sich Eltons Meinung nach leicht entschuldigen lässt, wenn man die Größe des Mannes betrachtet. Vgl. Elton, Studies in Tudor and Stuart Politics and Government, 246. 3 Die Pest, die Europa zwischen 1347 und 1351 heimsuchte, stellte eine der größten Katastrophen der europäischen Geschichte dar. Vgl. Bergdolt, Der Schwarze Tod in Europa, 9. 4 Die damalige Landwirtschaft war völlig vom Wetter abhängig. Annalen und Chroniken berichten sehr genau von Regenfällen und Frost, Naturkatastrophen und Trockenperioden. Vgl. Goetz, Leben im Mittelalter vom 7. Bis zum 13. Jahrhundert. München, 26. Siehe dazu auch: Curschmann, Hungersnöte im Mittelalter. 5 Bergdolt, Der Schwarze Tod in Europa, 9. 6 Ulrike Wolff-Thomsen stellt die Frage, ob der kurz vor der Jahrhundertwende 1500 entstandene Holzschnitt in kausaler Abhängigkeit von einem damals zu erwartenden Weltuntergang zu denken ist, oder ob Dürer das bekannte ikonographische Thema vielmehr unabhängig vom bevorstehenden Ende des Säkulums aufgegriffen hat. Vgl. Wolff-Thomsen, Weltende oder Zeiten(w)ende?, 330. 7 Bergdolt, Der Schwarze Tod in Europa, 10.

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Demgegenüber lässt sich die Renaissance als die Periode des wirtschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Aufschwungs und der Wiederentdeckung der Antike begreifen.8 Die Entwicklung der Geographie, Kartographie9 und Navigation ermöglichte große Entdeckungsreisen. In dieser Zeit flossen über neue Wege verschiedene Güter nach Europa, der Wohlstand in den Städten wuchs, der Buchdruck wurde einige Jahrzehnte zuvor entdeckt und Humanisten stellten den Menschen als Persönlichkeit in den Mittelpunkt. Erst Jahrhunderte nach Giorgio Vasari sollten Kunst- und Kulturhistoriker wie Aby Warburg (Erneuerung der heidnischen Antike), Johan Huizinga (Herbst des Mittelalters), Eugenio Garin (Der Mensch der Renaissance) oder Manfredo Tafuri (Interpreting the Renaissance) diese holistische Sicht der Renaissance als eigengesetzlicher, in sich geschlossener Epoche und Beginn der Neuzeit ins Wanken bringen. Sie verwiesen auch auf die Kontinuität mit dem Mittelalter und arbeiteten innere Brüche und Widersprüche heraus.10 Im Zusammenhang mit diesen Zweifeln ergibt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Mentalität dieser Zeit und der Literatur, der im Folgenden nachgegangen werden soll. Die Analyse konzentriert sich dabei auf zwei Probleme, ob trotz der konfessionellen Veränderungen bestimmte literarische Motive einen stabilen Ort in der Literatur hatten und wie bestimmte Themen dem sich verändernden kulturellen und religiösen Kontext angepasst wurden.

Verwandlung und Übergang statt Umbruch und Revolution In der Forschung wird darauf hingewiesen, dass das Mittelalter – trotz vieler Vorurteile und einseitiger Bewertungen – sich nicht als eine geschlossene Periode klassifizieren lässt. Paul Oskar Kristeller weist am Beispiel der Rhetorik darauf hin, dass die Renaissance-Humanisten „von Beruf“ Nachfolger der mittelalterlichen italienischen dictatores hätten sein können.11 Jacques Le Goff, einer der Experten für die Geschichte des europäischen Mittelalters, argumentiert, dass 8 Der Harvard-Professor Stephen Greenblatt beschreibt in seinem Buch Die Wende. Wie die Renaissance begann (Pulitzer Preis 2012) den Übergang vom Ende des Mittelalters zum Beginn der Renaissance und nimmt als Ausgangspunkt für die Zeitwende einen im 15. Jahrhundert entdeckten Text des antiken Dichters Lukrez De rerum natura, der das Denken der Menschen radikal veränderte und in die Welt der Moderne führte. Vgl. Greenblatt, Die Wende. 9 Bis in das 13. Jahrhundert hatte die mittelalterliche Kartographie keine praktische Absicht – Sinn und Zweck des Kartenbildes war eher die Aufzeichnung des entfalteten Heilsgeschehens als diesseitige Orientierung aufgrund einer präzis vermessenen Erdoberfläche. Vgl. Fuhrmann, Einladung ins Mittelalter, 18. 10 Blum, Giorgio Vasari, 12f. 11 Drozdowicz, Filozofia włoska w epoce Odrodzenia i Os´wiecenia, 17.

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sozial- und wirtschaftstheoretische Kriterien für ein langes Mittelalter sprechen und der traditionelle Mittelalterbegriff eine rein geistesgeschichtlich-idealistische Konstruktion sei, um die mit der Renaissance einsetzende Neuzeit von der ihr vorausgehenden primitiven Zeit abzugrenzen.12 Le Goff verweist auch darauf, dass eine so vermeintlich objektivierende Praxis wie die Periodisierung „nie ein neutraler Vorgang ohne Hintergedanken“ sei.13 Der Forscher glaubte an das lange Mittelalter, weil er keine Zäsur am Anfang der Renaissance sah und behauptete, das Mittelalter bildete sich im 4.–5. Jahrhundert aus der Antike heraus und hörte am Anfang des 16. Jahrhunderts keinesfalls auf.14 Obwohl man vor wenigen Jahrzehnten noch auf die katholischen Wurzeln der lutherischen Theologie nicht näher einging und das katholische Erbe in der Lehre Luthers unberücksichtigt ließ, werden heutzutage immer häufiger in verschiedenen Bereichen Stimmen laut, die mit dem für die Kultur gestellten Postulat von Le Goff im Einklang stehen. Das Mittelalter war nach Volker Leppin – Professor für Kirchengeschichte an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Lutherdekade – unglaublich spannungsvoll und pluraler als geglaubt wird und charakterisierte sich durch ein relativ breites Spektrum an teilweise gegensätzlichen Glaubenshaltungen und Einstellungen. Während die einen in tiefer Angst vor dem Jüngsten Gericht lebten, empfanden die anderen, unabhängig von diesem Gedanken, eine tiefe Nähe zu Gott. Luther ist in eine Konstellation hineingeboren, in der er einiges von dem erfuhr, was heute noch als finsteres Mittelalter in den Köpfen herumgeistert.15 Zugestimmt werden kann also Monika Saczyn´ska, dass diese Veränderung an der Schwelle des späten Mittelalters und der Reformation eher eine Umwandlung bzw. ein Prozess sei, da es in der Geschichte selten etwas plötzlich und unerwartet geschehe. Vielmehr entsteht die Bewegung der Reformation in einer Welt, in der das Postulat der Reform, immer wieder von den Theologen gepredigt, einen Teil der geistlichen und weltlichen Gesellschaft des späten Mittelalters ausmachte.16 Es ist die Zeit unterschiedlicher Spannungen. Die wichtigste unter ihnen bildete die Unstimmigkeit zwischen einer sehr veräußerten (z. B. Ablasshandel17) und einer sehr verinnerlichten Frömmigkeit (z. B.

12 Le Goff, Für ein langes Mittelalter, 29–36. Vgl. Würth, New Historicism und altnordische Literaturwissenschaft, 195. 13 Le Goff, Geschichte ohne Epochen?, 34. 14 Le Goff, Długie s´redniowiecze, 10f. 15 [Interview mit Volker Leppin] Mittelalter (siehe Link im Literaturverzeichnis). 16 [Interview mit Monika Saczyn´ska] S´redniowiecze (siehe Link im Literaturverzeichnis). 17 Mehr dazu: Rehberg (Hg.), Ablasskampagnen des Spätmittelalters. Die praktische mittelalterliche Frömmigkeit war in ihrer religiösen Haltung keineswegs auf den Ablass beschränkt und das Verständnis der Reliquienverehrung hängt nicht vom Ablass ab. Vgl. Luscher, Reliquienverehrung als Symbolsystem, 6.

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Christusnachfolge).18 Während in Luthers Zeiten Ablassbriefe zum Handelsobjekt wurden,19 galten solche Praktiken20 längst als Stein des Anstoßes in unterschiedlichen Gesellschaftskreisen, man nenne nur die rheinländische Mystik oder die Bewegung der Devotio moderna,21 die nach der Verinnerlichung des religiösen Lebens strebten.22 Im 14. und 15. Jahrhundert war es sogar üblich, sich über die Kleriker aufzuregen, die als sexuell verdorben, geldgierig und korrupt galten. Die Reaktion darauf war eine breite Strömung des Antiklerikalismus, die sich durch viele Texte jener Zeit zieht.23 Ein Paradebeispiel dafür bildet die manchmal sogar an Widerwillen grenzende Kritik in den Mären, wie in Vom pfarrer, der zu fünfmaln starb (Der fünfmal getötete Pfarrer) von Hans Rosenplüt oder in der bitteren Satire auf das Ordensleben um die Hälfte des 14. Jahrhunderts [Diu drei münche ze Colmar] (Die drei Mönche zu Kolmar) eines anonymen Autors, der den Namen Niemand angenommen hat.24 Große Epochen der Menschheitsgeschichte werden unterschiedlich beurteilt, das Mittelalter befindet sich jedoch nach Henryk Samsonowicz – als eine wenig bekannte Epoche, die mit ihrer Jahrhunderte dauernden Tradition als abgeschlossen gilt – in der schlimmsten aller Lagen.25 Voltaire, der den Traktat über die Toleranz verfasste, der die Folter und Hinrichtung des Protestanten Calas als ‚Affäre‘ bezeichnete, welche die Aufmerksamkeit seiner Zeit und der Nachwelt verdiene, stellte boshaft fest, dass das ganze Europa bis zum 16. Jahrhundert sozusagen in der Entwürdigung verwest sei. Gotthold E. Lessings Urteil fiel 18 [Gespräch mit Volker Leppin] „Manchmal bekomme ich Gegensturm“ (siehe Link im Literaturverzeichnis). 19 Die Reformation hat innerhalb ihres Wirkungsbereichs nicht nur dem Ablass, sondern auch der Reliquien- und Heiligenverehrung ein Ende gesetzt, aber auch den Umgang mit ihnen im katholischen Bereich verändert. Vgl. Luscher, Reliquienverehrung als Symbolsystem, 5. 20 Die meisten Ablässe konnten die Gläubigen ohne Geldzahlung für Frömmigkeitswerke erhalten. Vgl. Hamm, Ablass und Reformation, 40. 21 Bei dem Namen Devotio moderna handelt es sich nicht wie im Fall von Humanismus und Renaissance um eine spätere Kategorisierung, sondern um eine Selbstbezeichnung der Bewegung, die in der Mystik des ausgehenden Mittelalters beheimatet ist. Die Bezeichnung meint sowohl die religiöse Bewegung als auch die sozialen Gebilde, von denen Mitgliedern die neue Frömmigkeitsform praktiziert wurde. Vgl. Gössmann, Antiqui und Moderni im Mittelalter, 117. Die Devotio moderna war die bekannteste religiöse Bewegung des späten Mittelalters. Übertriebene Behauptungen bezüglich ihres Einflusses auf die Renaissance und die Reformation erfuhren jedoch Widerspruch. Vgl. McGinn, Die Mystik im Abendland, 166. Mehr zum Thema Devotio moderna: Wentzlaff-Eggebert, Deutsche Mystik zwischen Mittelalter und Neuzeit, 130–149 (V. Kapitel „Die Mystik der ‚Gottesfreunde‘ und der ‚Devotio moderna‘“); McGinn, Die Mystik im Abendland, 166–211 (Kapitel 3: „Mystische Aspekte der Devotio moderna“); Gössmann, Antiqui und Moderni im Mittelalter, 117–125 (Kapitel 7: „Devotio moderna als Selbstbezeichnung einer geistlichen Erneuerungsbewegung“). 22 Baran´ski, [Odpusty w s´redniowieczu – przemiany praktyk pokutnych], 10, 12. 23 [Interview mit Volker Leppin] Mittelalter (siehe Link im Literaturverzeichnis). 24 Vgl. Grabmüller (Hg.), Novellistik des Mittelalters. Märendichtung. 25 Samsonowicz, Dziedzictwo s´redniowiecza, 5.

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hingegen ein wenig differenzierter aus. Es gab zwar die Nacht des Mittelalters, aber doch mit Sternen beleuchtet.26 So stellte er mithilfe von Nathan dem Weisen (Aufzug III 7, 516–521) das Mittelalter als leuchtendes Vorbild der Toleranz gegen die „herrschende Orthodoxie“ dar, unter der der Schriftsteller selbst zu leiden hatte.27 Nicht einmal eine Generation später wird das Mittelalter zum Inbegriff des unbefragten Glaubens. Der Lutheraner Novalis, der die Rede Die Christenheit und Europa schrieb, besetzte seine Mittelalterschilderung absichtlich mit den für Protestanten besonders anstößigen Elementen, wie Marienverehrung,28 Heiligen- und Reliquienkult, Papsttum und intellektuelle Kontrolle der neuen Ideen. Als Beispiel mittelalterlicher Geschlossenheit und Ganzheitlichkeit galt ihm das geozentrische Weltbild, was jedoch mit wirklichen Entwicklungen des 10. oder 13. Jahrhunderts nichts zu tun hat.29 Das Mittelalter dient seither als der Vergleichspunkt, über den sich sozusagen die Moderne definiert: Je nach dem Standpunkt der Gegenwartskritik oder der Bejahung der Moderne wird das eine positiv, das andere negativ gesehen.30 Jules Michelet, französischer Historiker, Schriftsteller und Philosoph der Romantik, änderte das Verhältnis zum Mittelalter von der ehrfürchterlichen Bewunderung zur boshaften Verdammnis,31 und Henri Michel, französischer Historiker des 20. Jahrhunderts und der Schullehrer des bekannten Mediävisten Jacques Le Goff,32 machte anfänglich aus dem Mittelalter ein Muster der Neuzeitlichkeit, wertete es jedoch später zugunsten der Renaissance und Luthers ab.33 26 Le Goff, Długie s´redniowiecze, 19f. 27 Hinter dem Patriarchen von Jerusalem erkennt man den Hauptpastor zu Hamburg, Johann Melchior Goeze, einen lutherischen Theologen, der Lessings Gegenspieler im Fragmentenstreit war. Vgl. Auffahrt, Irdische Wege und himmlischer Lohn, 199. 28 Nach Peter Meinhold ist die Abwertung der Marienverehrung bei den Reformatoren nicht berechtigt. Zwar hat die Reformation an einer übertriebenen Marienverehrung eine scharfe Kritik geübt, aber sie hat doch mit dieser Kritik das rechte Verhältnis der Verehrung und Anbetung von Mutter und Sohn wiederherstellen wollen. Dass es in den Kirchen der Reformation nicht zu einer Praxis der Marienverehrung gekommen ist, ist zum Teil als Reaktion auf die Übersteigerung der Marienfrömmigkeit im neuen Katholizismus zu verstehen. Selbst das Zweite Vatikanische Konzil hat sich gegen jede Übertreibung der Marienfrömmigkeit wenden müssen. Vgl. Meinhold, Die Marienverehrung im Verständnis der Reformatoren des 16. Jahrhunderts, 43. 29 Groebner, Das Mittelalter hört nicht auf, 61. 30 Auffahrt, Irdische Wege und himmlischer Lohn, 199. 31 Le Goff, Długie s´redniowiecze, 36. Der französische Historiker Jules Michelet vermochte, das Mittelalter in Frankreichs revolutionäres Geschichtsbild zu integrieren. Das Jahr 1000, in dem Apokalypse und Weltende ausblieben, bewiese die Wahrheit, mit der die Kirche das Volk in Angst und Schrecken gehalten habe. Nach Michelet legte sich Frankreich einen weißen Mantel von Kirchen um; die Gotik wurde zum nationalen Sieg des französischen Volkes und bedeutete den Sieg der Ästhetik und des Volkes über eine fremdbestimmte Herrschaft der Religion. Vgl. Auffarth, Religiöser Pluralismus im Mittelalter?, 8. 32 Le Goff, Długie s´redniowiecze, 28. 33 Ebd., 10.

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Die Forderung der Reformatoren lautete: „zurück zu den Glaubensquellen“, die reiner und unverfälschter waren als alles, was in der Zwischenzeit geschrieben und gesagt worden war. Die Bibel spielte jedoch eine bedeutende Rolle auch in der mittelalterlichen Theologie und die spätmittelalterlichen Nominalisten betonten explizit die Autorität der Heiligen Schrift. Die Unterschiede in den theologischen Konzeptionen manifestierten sich nicht in der Hinwendung zur Bibel an sich, sondern in der Art und Weise der jeweiligen Bibelauslegung.34 Das historische Bewusstsein der Reformatoren unterschied sich kaum von dem des Mittelalters und Luther selbst sah seine eigene Epoche nicht als Neuanfang, sondern als Ende aller Zeiten, was sein Brief aus dem Jahr 1530 belegt.35 In der frühen reformatorischen Geschichtsschreibung stach das Bewusstsein eines nahe bevorstehenden Endes hervor. In der Chronik Chronicon Carionis von Johannes Carion, die später von Philipp Melanchthon36 und Caspar Peucer vollendet wurde, wurde die Geschichte der Menschheit in den Aufstieg und Niedergang der vier großen – nach der Prophezeiung Daniels – von Gott gewollten Reiche eingegliedert.37 Die deutschsprachige Chronica Carionis des brandenburgischen Hofastronomen Carion war 1532 erschienen. Dass sich das Chronikon partiell wie eine umfassende mittelalterliche Kaiserchronik liest, scheint dazu zu berechtigen, das Werk zum Großteil nicht als protestantisch erkennbar anzusehen. Deswegen erschien die Chronik den Lutheranern attraktiv genug, ohne dass sie sie explizit hätten konfessionalisieren müssen, konnte aber auch von Katholiken rezipiert werden, wenn sie bereit waren, eine gewisse Anzahl an Seiten zu überspringen.38 Nach Carion war das Mittelalter keine abgeschlossene Periode der Barbarei, sondern erst der Anfang einer Epoche des Verfalls. Nach fester Überzeugung der ersten Protestanten war ihre eigene Zeit eine Fortsetzung des Mittelalters. Während aber die Katholiken die Kontinuität des apostolischen Amtes, vor allem das des Papstes als des Nachfolgers Petri betonten, hoben die Protestanten die Kontinuität der wahren Lehre hervor.39 Und die protestantischen Historiker taten etwas Merkwürdiges, indem sie die Beweisführung der katholischen Gegner übernahmen, um sie umzudrehen, was meisterhaft in der ersten protestantischen, von einer Kommission unter Leitung von Mattias Flacius Illyricus zusammengestellten Kirchengeschichte,40 den dreizehnbändigen Mag34 Sandl, Interpretationswelten der Zeitwende, 27f. 35 Raedts, Die Entdeckung des Mittelalters, 49. 36 Melanchthon behielt den Namen Carion bei, veränderte aber die Gattungsbezeichnung zu Chronicon. Vgl. Pohlis, Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung, 176. 37 Raedts, Die Entdeckung des Mittelalters, 46. 38 Pohlis, Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung, 180, 188. 39 Raedts, Die Entdeckung des Mittelalters, 47–49. 40 Lange Zeit hat man die Abfassung der Centurien Illyricus zugeschrieben. Seit einigen Jahren steht fest, dass er zwar den Plan entwickelt und zahlreiche mittelalterliche Handschriften und Drucke gesammelt hat, die Centurien wurden aber von einem Gremium erarbeitet und

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deburger Centurien (1559–1574), geschah. Den besten Beweis dafür, dass im 16. Jahrhundert dieselbe Wahrheit verkündet wurde wie in der Zeit Christi und seiner Apostel bildete nach der katholischen Argumentation, die in der Einleitung der Centurien zusammengefasst war, die Kontinuität der Kirche, und zwar die sogenannte apostolische Sukzession, das heißt die ununterbrochene Folge von Päpsten und Bischöfen.41 Flacius stand am Anfang der wissenschaftlichen Beschäftigung der Protestanten mit der mittelalterlichen Geschichte, die diese Kontinuität der Kirche nicht bestreiten konnten, sie jedoch als die Kontinuität der Wahrheit verstanden. Trotz der Lasterhaftigkeit hat es in jeder Generation einige gegeben, die das Licht des Evangeliums weitergereicht haben, bis die Wahrheit in Luthers Zeit wieder öffentlich gepredigt werden konnte. Die Geschichte des Mittelalters zeigte, dass es zwischen der Urgemeinde und der Reformation einen ununterbrochenen Strom an Wahrheitssuchenden gegeben hat (dazu zählte Flacius die Zeugen, die von der katholischen Kirche als Ketzer verurteilt worden sind: Berengar von Tours im 11. Jahrhundert,42 Pierre Valdès im 12. Jahrhundert43 sowie um 1400 John Wycliffe und Jan Hus aus Böhmen als unmittelbare Vorläufer der Reformation).44 Ende 1516 veröffentlichte Luther die Schrift, die üblicherweise als sein erstes Buch bezeichnet wird, und neben seiner Briefeinführung den Text eines bisher unveröffentlichten Manuskripts, das auf einem unbekannten Weg in seine Hände gekommen ist, enthält. Dieses Werk ist ein kleines Kompendium, das Ideen der rheinländischen Mystiker Eckhart, Tauler und Seuse enthält. Es beschreibt die Stufen, die der zur Union mit Gott aspirierende Mensch zu besteigen hat. Zwar können Parallelen zwischen einigen Passagen Taulers und der Frankfurter Fassung in Luthers Schriften festgestellt werden, die Rheinländer

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verfasst. Die Centurien für das 14. bis 16. Jahrhundert sind nur zum Teil geschrieben worden und nie zum Druck gelangt. Vgl. Hartmann, „dass diese widrige Wahl großen Unfug und schädliche Zwietracht gebären wurde“, 222f. Raedts, Die Entdeckung des Mittelalters. Geschichte einer Illusion, 48. Über Berengar von Tours und den Eucharistiestreit vgl. Steckel, Kulturen des Lehrens im Früh- und Hochmittelalter, 886–960 (Kap. VI). Le Goff beschreibt Pierre Valdès wie folgt: „In der gärenden ketzerischer Strömungen der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts machte sich in Lyon ein Kaufmann, Pierre Valdès, von sich reden, der, selbst im Laienstand verbleibend, Armut, Demut und einen evangelischen Lebenswandel predigte. Ursprünglich scheint das Waldensertum keine Häresie gewesen zu sein, sondern eine Reformbewegung zu Gunsten einer größeren Beteiligung der Laien, ohne die Kirchliche Autorität in Frage zu stellen“ (Le Goff, Die Geburt Europas im Mittelalter, 119). Interesse am Mittelalter gab es auch in katholischen Kreisen, was beispielsweise im zwölfbändigen Werk des Kardinals Cesare Baronio, den Annales Ecclesiastici (1588–1607), die als Antwort auf die Centurien gedacht waren, sichtbar wird. Baronio beschäftigte sich nicht mit der Lehre, sondern beschränkte sich darauf, institutionelle Dokumente aus der Antike und dem Mittelalter zu sammeln und über die Kirchenstruktur zu polemisieren. Vgl. Raedts, Die Entdeckung des Mittelalters, 48f.

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scheinen jedoch keinen signifikanten Einfluss auf den Reformator ausgeübt zu haben.45 Bei Luther gibt es zwar Textstellen, die an eine kontinuierliche Reihe von Streitern des rechten Glaubens denken lassen, es sind aber im Ganzen einzelne unsystematische Bezugnahmen meist auf mittelalterliche Theologen, die als „Vorreformatoren“ anzusehen sind. Daneben treten auch andere, wie Johannes Tauler,46 wobei die Notizen, die Luther in seinem Exemplar der Predigten Taulers von 1508 bis 1515 und 1516 machte, bestätigten das Interesse des Wittenbergers. Luther hat die Bedeutung Taulers Hingabe an den gekreuzigten Christus und die Durchführbarkeit seiner vernakularen Predigt anerkannt, er las aber Tauler auf seine besondere Weise.47 Die Autoren von Ps.-Dionysius bis Staupitz48 wurden wahrscheinlich von Luther rezipiert, im Falle Meister Eckharts ist ein direkter Einfluss auf Luther nicht zu belegen, eine indirekte Beziehung über Tauler aber – von hoher Wahrscheinlichkeit. Die Einschätzung des Einflusses der religiösen Tradition des Mittelalters ist nicht eindeutig, in der gegenwärtigen Literaturforschung finden jedoch die Beziehungen Luthers zur Mystik verstärkt Beachtung. Diese Tendenz, die Theologie des Reformators im Zusammenhang mit der Mystik zu sehen, hängt Eberhard Winklers Meinung nach mit dem gegenwärtigen religiösen Interesse an der Mystik zusammen.49 Berndt Hamm und Volker Leppin behaupten, dass es keine einfache Kontinuität zwischen der mittelalterlichen Mystik und Luther gegeben habe; sie sprechen lieber von Transformationen.50 Während laut Leppin, dem Verfasser des Buches Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln,51 die Theologie des Reformators bis in ihre Kerninhalte hinein gar nicht anders zu verstehen sei als vor dem Hintergrund ihrer mystischen Wurzeln des Spätmittelalters, von denen er ausgegangen sei, sie weitergebracht und in transformierter Gestalt an das Luthertum weitergereicht habe,52 meint H. A. Oberman, dass in Luthers Stellung zur Mystik sich kein

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Rix, Martin Luther. The man and the image, 33f. Pohlis, Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung, 88. McGinn, Vere tu es Deus absconditus, 111. [Reformation500] Staupitz (siehe Link im Literaturverzeichnis). Winkler, Motive der Mystik in Luthers Verständnis des Abendmahls, 137f. Hamm/Leppin (Hg.), Gottes Nähe unmittelbar erfahren; Winkler, Motive der Mystik in Luthers Verständnis des Abendmahls, 137f. 51 Leppin, Die fremde Reformation. 52 Leppin, Transformationen spätmittelalterlicher Mystik bei Luther, 185. Nach Leppin soll die Ferne der mystischen Frömmigkeit nicht verloren werden, und Luther gewinnt noch, wenn er in die mystischen Frömmigkeits-Strömungen des Spätmittelalters eingebettet wird. Die Kraft kommt aus der deutschsprachigen Mystik des 14. Jahrhunderts und der wichtigste Autor ist für Luther Johannes Tauler, ein Schüler Meister Echkarts, dessen Predigten der Reformator in den Jahren 1515–1516 gelesen und mit Randbemerkungen versehen hat. Dem Forscher nach gibt es Verbindungen zwischen mittelalterlicher Mystik und Luther, er ist sogar überzeugt, dass es gerade die Mystik des Spätmittelalters zu jenen Änderungen geführt hat. Vgl. [Ge-

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wesentlicher Wandel vollzogen habe, weder durch seine Lektüre der Mystik Taulers und der Theologia Deutsch53 noch durch die Abwehr der Schwärmer, auch nicht durch die reformatorische Wende.54 Selbst wenn die Antworten auf die Frage nach der Rezeption und dem Verhältnis der Reformation zum Mittelalter miteinander verflochten erscheinen, soll dem Hinweis von Leppin, der vor der Gefahr warnt, die Reformation ausschließlich durch Luther-Denkmäler, LutherJubiläum-Logos und dergleichen zu betrachten,55 Reverenz erwiesen werden. Diesem Postulat, bestimmte kulturelle Phänomene in ihrer Kontinuität zu beobachten, kann auch im Bereich der didaktischen Literatur nachgegangen werden.

Die didaktische Literatur im polemischen Diskurs Der Kompliziertheit des Verhältnisses der Reformation zum Mittelalter folgend, können letztendlich Fragen nach dem Stellenwert, der Aufgabe und den Quellen der didaktischen Literatur im polemischen Diskurs gestellt werden. War sie eher ein Werkzeug in diesem Diskurs oder eine Art konfessionsfreie Literatur? Auf welche Art und Weise fand sie Zugang zu den früheren Quellen? Schöpfte sie nur aus dem antiken Repertoire oder griff auch auf die mittelalterlichen Stoffe zurück? Schließlich, welches Bild des Mittelalters und der jeweiligen Literatur ist der didaktischen, volkssprachlichen Literatur der Reformation zu entnehmen? Die didaktische Literatur erlebte im Reformationsjahrhundert ihre Blütezeit. In der geistlichen Literatur des 16. Jahrhunderts erfuhren mehrbändige Exempelsammlungen der Protestanten, in denen unterschiedliche Stoffe gesammelt, spräch mit Volker Leppin] „Manchmal bekomme ich Gegensturm“ (siehe Link im Literaturverzeichnis). 53 Luther spricht in einem Brief vom 6. Mai 1517 eine Literaturempfehlung aus, die sich auf das wohl am Ende des 14. Jahrhunderts entstandene Traktat bezieht. Die Mediävistik kennt seit dem 19. Jahrhundert einen noch im Mittelalter entstandenen Titel des Traktats, nach heutigem Wissen dürfte jedoch dieser an jede redaktionelle Bearbeitung gebunden sein, welche sich nur in der Frankfurter Handschrift erhalten hat und den ursprünglichen Textbestand um etwa zehn Prozent erweitert, während die anderen sieben der acht bisher entdeckten spätmittelalterlichen Überlieferungen keinen Titel tragen. Luther kannte nicht die erweiterte Redaktion und den mittelalterlichen Titel. Er fokussiert sich auf Adam und spricht bewusst ein zentrales Thema der sich im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts formierenden Wittenberger Theologie an. Die zweifache Edition des Traktats erfolgte im Zusammenhang mit der Konzeption der Wittenberger Theologie, was Wegener darauf schließen lässt, dass Luther die spätmittelalterliche Schrift für die Abgrenzung gegenüber etablierten theologischen Traditionen in Anspruch genommen hat. Vgl. Wegener, Der ‚Frankfurter‘/‚Theologia deutsch‘, 1, 4–6. 54 Oberman, ‚Simul gemitus ei raptus‘. Luther und die Mystik, 20–59. 55 [Gespräch mit Volker Leppin] „Manchmal bekomme ich Gegensturm“ (siehe Link im Literaturverzeichnis).

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übersetzt und nacherzählt wurden, weite Verbreitung. Aber die protestantische Exempelsammlung, die zum Kompilationswerk wurde, hat einen populärgewordenen Vorläufer in den seit dem 14. Jahrhundert zunächst in Latein verbreiteten Gesta Romanorum.56 Zu Kompilationswerken wurden auch die Fabelsammlungen. Die Fabel, deren Aufbau sie zur Vermittlung erzieherischer Inhalte für breite Schichten prädestiniert, erfreute sich in der Reformationszeit bei solchen Autoren wie Martin Luther, Erasmus Alberus und Burkhart Waldis großer Beliebtheit.57 Es entstanden sowohl zahlreiche Sammelwerke als auch eine ausformulierte Fabeltheorie, die meist in den Vorreden niedergelegt wurde.58 Die mündliche Verbreitung von Fabeln im 16. Jahrhundert wurde durch ihre literarische Wirkung überragt. Es lag in der spätmittelalterlichen Tradition, den Gemeinbesitz reich zu nutzen, was unter anderem das Schaffen des Geiler von Keyserberg bezeugt, der als bedeutendster deutscher Prediger des ausgehenden Mittelalters gilt und durch einen Predigtzyklus über Sebastian Brants Narrenschiff 59 sowie als Mitherausgeber und Übersetzer der Schriften von Jean Gerson bekannt geworden ist.60 Trotz anfänglicher Bedenken hat die Reformation mit dieser mittelalterlichen Tendenz nicht gebrochen.61 Die Blütezeit der volksspra56 Schwitzgebel, Noch nicht genug der Vorrede, 11. 57 Burkhart Waldis, der noch vom Mönchtum des ausgehenden Mittelalters herkam, bestätigte sich nach dem Übertritt zur Reformation in Handwerk und Handel und übernahm zuletzt das Amt eines evangelischen Pfarrers. Mit seinen Fabeln hat er um 1527 begonnen, nachdem er zum evangelischen Glauben übergetreten war, und er hat mit viermal hundert Fabeln in Büchern den umfangreichsten Volkssprachlichen Esopus (1548) geschaffen. In seinem assoziativ vorgehenden Bestätigungseifer entfernte sich Waldis nicht selten beträchtlich von dem zugrunde liegenden Fabeltext. Vgl. Elschenbroich, Die deutsche und lateinische Fabeln in der Frühen Neuzeit, Bd. 2, 80, 82, 160. 58 Schwitzgebel, Noch nicht genug der Vorrede, 57. 59 Bis weit in das 16. Jahrhundert reicht die Überlieferung des Brant’schen Narrenschiffs, das zu einem der wichtigsten und erfolgreichsten literarischen Werke auf der Schwelle vom Spätmittelalter zur Neuzeit werden sollte. Vgl. Voss, Das mittelniederdeutsche Narrenschiff, 16. Auch das in dieser spätmittelalterlichen Moralsatire vorhandene Beispiel des genügsamen Bauern in einem vorzeitigen Goldenen Zeitalter entspricht der Tradition. Bei Brants Darstellung eines zentralen Motivs der spätmittelalterlichen Literatur, des Lasterkatalogs der sieben Hauptsünden und seiner Beziehung zu den Ständen, ist ein Appell an die Einsicht seiner Leser sichtbar, die durch ein abschreckendes Bild der den einzelnen Leser am meisten betreffenden Narrheiten geweckt werden soll. Luther übersetzte den Lasterkatalog fünfzig Jahre nach Brant in einer leicht veränderten Reihenfolge. Luthers Marginalien zur Offenbarung Johannis, aus der die Gestalt des Antichrists genommen ist, zeigt in welchem Maße diese Vision zur Diskreditierung politischer Gegner (bei Luther – der katholischer Kirche) verwendet wurde (Weher, ,Diebold Laubers ‚ysopus gemolt?‘, 260). Am Beispiel der mittelalterlichen Begriffe ist sichtbar, dass Brant den geistigen Strukturwandel dekodiert, aber kein neuzeitliches Bewusstsein darstellt. 60 Elschenbroich, Die deutsche und lateinische Fabeln in der Frühen Neuzeit, Bd. 2, 68. 61 Die Exempelsammlung rückt manchmal in die Nähe der Fürstenspiegel; auch Martin Luther wollte mit seinen Fabeln gezielt die „grossen Fürsten und Herrn“ belehren. Vgl. Schwitzgebel, Noch nicht genug der Vorrede, 50.

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chigen Fabel geht mit dem Zeitalter der Reformation einher, was damit verbunden ist, dass die Gattung dank dem paradigmatischen Charakter der überlieferten Fabelinhalte, der Eindeutigkeit der Fabelfiguren sowie der strukturbestimmenden Verkoppelung von Erzählung und Lehre geeignet schien, breite Volksmassen zu beeinflussen. Sie errang Beweiskraft, besonders beim Verdeutlichen, Erklären, Überzeugen, wo es um Angriff und Verteidigung ging, wo Parteinahme herausgesondert werden sollte. Demzufolge wurde sie als Gebrauchs- und Zweckform verstanden, insbesondere in den Kampfjahren.62 Gerade Fabeln und ihre Lehre, die zum Lehrkanon von Kloster- und Lateinschulen gehörten, sollten nach Luthers Vorstellungen vom Hausvater den Kindern und der Gemeinde vorgelesen werden; ihr volkspädagogischer Impetus wurde auch in der konfessionellen Polemik gern genutzt: Man erinnere sich an Luthers Schriften gegen die Katholiken oder von Erasmus Alberus gegen die Zwinglianer oder Thomas Müntzer.63 Da oft Anspielungen genügten, weil viele Fabeln einen großen Bekanntheitsgrad erreicht hatten, besaßen diese einen höheren polemischen Reizwert und konnten schärfer treffen als ausgeführte Vergleiche zwischen einer erzählten Fabel und dem aktuellen Sachverhalt.64 Die Verwendung der Fabel als Tendenzliteratur brachte keinen Bruch mit der Tradition, da die deutschsprachigen Fabeldichter des Mittelalters durchaus politische Stellungnahmen in Tierfabeln zu kleiden wussten.65 Das 16. Jahrhundert ist jedoch nicht nur als das Zeitalter der Glaubenskämpfe in konfessioneller, sondern auch literarischer Dimension zu denken. Johannes Mathesius, ein evangelischer Prediger, scheint beispielweise mit dem ihm um zwei Generationen vorausgegangenen, noch ganz dem alten Glauben zugehörigen Geiler von Kayserberg verwandt zu sein. Beiden war die theologische Streitrede fremd, beide verstanden es, humanistische Gelehrsamkeit volkstümlich anzuwenden.66 Die Vorstellung, dass Kunst, Literatur und Musik bloße Auswirkungen des Konfessionskampfes und deshalb Propaganda seien, verkennt die Vielfalt der Kräfte, die auf den kulturellen Entwicklungsvorgang wirkten.67 Unter den Texten der von Luther geliebten Gattung, die aufgrund ihres belehrenden Charakters zum christlichen Moralisieren geeignet war, lassen sich viele Parallelen zu mittelalterlichen Werken, wie Reinhart Fuchs des Heinrich Glichezaere (1180), Bescheidenheit des Freidank (1215–1230) und Der Edelstein des Ulrich Boner (1350) ausmachen. 62 Elschenbroich, Die deutsche und lateinische Fabel in der Frühen Neuzeit, Bd. 1, 53. 63 Lobenstein-Reichmann, Sprachliche Ausgrenzung im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, 164. 64 Auf diese Art wandte sich zum Beispiel Luther gegen Hieronimus Emser und Thomas Marner. 65 Elschenbroich, Die deutsche und lateinische Fabel in der Frühen Neuzeit, Bd. 1, 53f. 66 Ebd., Bd. 2, 130. 67 Boettcher, Von der Trägheit der Memoria, 50.

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Das Fortleben der aesopischen Fabel wurde im Mittelalter neben Tiervolkserzählungen, Tierschwänken und Tiermären durch die Entwicklung der Fuchsepik begünstigt.68 Die Fassung von Reinhart Fuchs aus dem Jahre 1544, auch wenn sie kein Ergebnis der direkten Rezeption zu sein scheint, weist Parallelen zur Fassung aus dem Mittelalter (1180), in der Heinrich Glichezaere die ritterlichhöfische Gesellschaft des 12. Jahrhunderts der Kritik unterzog, auf. Der mittelalterliche Text Reinhart Fuchs ist in drei Handschriften bekannt.69 Während der Überlieferungsstrang des Reineke de Voß nie abgerissen ist, blieb Reinhart Fuchs bis 1817 verschollen.70 Die handschriftlichen Textüberlieferungen zeigen, dass sich Reinekes Geschichte über die Sammlungen einzelner Tiererzählungen und deren Verschmelzungen zunehmend in verschiedenen Volkssprachen des europäischen Mittelalters zu einer die Sprachgrenzen überschreitenden literarischen Komposition verdichtete. Auch wenn Heinrich eine eigenwillige Pointe erfand (am Schluss vergiftet der Fuchs den Löwen), verdeutlichen einige Partien der mittelhochdeutschen Erzählung Heinrichs ihre Nähe zum Roman de Renart, dessen zyklisch-episodische Struktur hier jedoch in eine lineare, sich steigernde Handlung verwandelt wurde. Das Werk zeigt gesellschaftskritische Züge und nimmt als warnende Satire auch ausdrücklich Stellung gegen die Staufer.71 Schon der Roman de Renart bezog sich unter dem Deckmantel der Tiergesellschaft auf die feudale Welt des 12. Jahrhunderts, im Reinhart Fuchs ist der aktuelle politische Bezug im Hinblick auf eine bestimmte weltliche Gesellschaft noch deutlicher mit den Mitteln der Satire herausgearbeitet.72 Der Wolf betrachtet die abgeschlossene bruderschaft, auf diese Weise wird die für das Mönchtum geradezu konstitutive christliche Bruderschaftsidee dieser Zeit parodiert. Geistliche Bruderschaften – genannt werden die Zisterzienser – werden auf die materielle Versorgung reduziert. Die Tatsache, dass Heinrich in seinem Werk gerade diese Bruderschaft nennt und kritisiert, mag mit der antistaufischen Tendenz des Werkes zusammenhängen, die gerade diesen Orden protegierte.73 Bei der Kritik wird kein Stand verschont und es werden Fehler und Laster nicht nur weltlicher Herren, sondern auch der Geistlichkeit getadelt. Im europäischen Mittelalter sind Tiererzählungen mit einem Fuchs in den Handschriften durchgehend nachzuweisen, wobei der Fuchs seit dem 12. Jahrhundert auch als tragende Figur erschien. Der Reineke-Fuchs-Stoff wurde später im Volksbuch Reynke de vos weiter entwickelt. Inwieweit das Werk beim Publikum Aufnahme fand, ist nicht überliefert; erhalten ist ein Nachdruck von 1517. Ähnlich populär wie der Eu68 69 70 71 72 73

Elschenbroich, Die deutsche und lateinische Fabeln in der Frühen Neuzeit, Bd. 2, 166. Widmaier, Das Recht im „Reinhart Fuchs“, 1. Ebd., 6. Ebd., 57f. Ebd., 5. Ebd., 72f.

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lenspiegel wurde das Werk als Reyneke Vosz de olde (durch den Druck des niederdeutschen Textes von Ludwig Dietz im Jahre 1539 in Rostock) mit neuen Kommentaren, der sogenannten protestantischen Glosse versehen, die eindeutig reformatorisches Gedankengut enthielt. Mit einer Übertragung ins Frühneuhochdeutsche (1544) und einer lateinischen Übersetzung (1579) wurde das Werk, das Martin Luther eine „lebendige Contrafactur des Hoflebens“ genannt hatte, im 17. Jahrhundert zum Volksbuch.74 Das Motiv der Königswahl der Tiere hat Luther mit starker Vermenschlichung so allegorisiert, dass dem Leser die doppelte realpolitische Sinndeutung nahegelegt wird. Mit Vorliebe redete er vom „Papstesel“.75 Für Luther blieb die Fabel ein wichtiges Erkenntnis- und Erziehungsmittel; ihr wird ein weitgespannter Anwendungsbereich zugebilligt, der die ganze Vielfalt zwischenmenschlicher Beziehungen umfasst, die positiv bestätigt oder der Kritik unterworfen werden können.76 Diese Tendenz wurde bekannt und gern benutzt,77 wovon Die Wittenbergisch Nachtigall (1523) von Hans Sachs zeugt, der scharfe, satirisch-polemische Kritik an der Kirche und ihren Repräsentanten übt. Der Löwe ist als Papst Leo X. zu entschlüsseln; mit den Schlangen werden Mönche und Nonnen gemeint, die das arme Volk (die Schafe) aussaugen; Wölfe symbolisieren Bischöfe, Pröpste, Prälaten; Frösche – theologische Fakultäten, die sich in Gutachten gegen Luthers Lehre wenden; Wildgänse – antilutherische Laien. Die Signifikanz der Tiere zielt auf die Verfasser der gegen Luther gerichteten Kampfschriften: der Waldesel auf Augustinus von Alfeld, das Wildschwein auf Johannes Eck, der Bock auf Hieronymus Emser, die Katze auf Thomas Murner, die Schnecke auf Johannes Cochläus. Sachs verwendete auch die Tageszeitenallegorik und den wohl aus dem Buch der Natur des Konrad von Megenberg stammenden Nachtigall-Topos, den er auf den Reformator übertrug. Nacht ist die Sünde, Morgenröte – die biblische Verheißung, die emporgestiegene Sonne – Christus, der Gesang der Nachtigall – die Verkündung der evangelischen Botschaft durch Luther.78 Auch wenn Reinhart Fuchs von Heinrich Glichezaere Kritik an der ritterlich-höfischen Gemeinschaft des 12. Jahrhunderts enthält und der Autor der Fassung aus dem Jahre 1544 keinen Stand verschont, sondern Laster weltlicher Herren und Geistlicher gleichermaßen verurteilt, lässt sich sowohl in der mittelalterlichen als auch in der Fassung aus der Reformationszeit die Tendenz beobachten, Kritik im Tigergewand zu üben. Die Fabeln vom Kampf zwischen Löwen und Esel um die Königsherrschaft ist in vielen Fassungen überliefert, worunter die mittelalterliche Version in Freidanks Bescheidenheit zu nennen ist. Danach folgten: eine schon etwa 1528 ver74 75 76 77 78

Goossens, Der Verfasser des „Reynke de Vos“, 45–52. Elschenbroich, Die deutsche und lateinische Fabeln in der Frühen Neuzeit, Bd. 2, 59. Ebd., 66. Mehr dazu: Jauss, Untersuchungen zur mittelalterlichen Tierdichtung. Elschenbroich, Die deutsche und lateinische Fabeln in der Frühen Neuzeit, Bd. 2, 55f.

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fasste Fassung Martin Luthers, die 1534, also unabhängig vom Druck des Coburger Äsop (1557) gedruckt wurde, sowie die Fassung des Erasmus Alberus in der 1534 veröffentlichten Sammlung Etliche Fabel Esopi verteuscht und ynn Rheymen bracht. Die Versionen Luthers und des Erasmus Alberus stimmen bis ins Detail miteinander überein. Die lutherischen Erzählstoffe wurden von Wolfhart Spangenberg aufgenommen. Alberus war ein streitbarer Lutheraner, der gegen alle, die von der reinen Lehre abwichen, Kampf- und Schmähschriften verfasste. Bei seinen Fabeln hielt er sich in dieser Hinsicht ziemlich zurück, viele blieben ganz frei von konfessioneller Streitsucht, in anderen begnügte er sich mit gelegentlichen Seitenhieben.79 Ähnlichkeiten lassen sich zwischen dem von Luther verdeutschten Werk Etliche Fabeln aus Esopo (1530) und Dem Edelstein Ulrich Boners (1350) beobachten, der als erster deutschsprachiger Fabeldichter auftrat.80 Seiner aus hundert Fabeln bestehenden Sammlung ist ein Versprolog vorangestellt, der mit einem Eingangsgebet (einem Lobpreis des Schöpfergottes) einsetzt und im folgenden Abschnitt auch Überlegungen zur Theorie der Fabel enthält.81 Der Edelstein Boners ist die erste geschlossene deutschsprachige Sammlung von 100 Fabeln,82 in mehreren Handschriften überliefert,83 deren Intention es ist, keine primär theologische, sondern eine lebenspraktische, moralische Anleitung zum besseren Leben zu geben.84 Bilder und Beispiele werden angeführt, aus denen „jung und alt kluogkeit“ lernen können. Ihnen liegt die Vorstellung zugrunde, 79 Ebd., 79. 80 Weher, Diebold Laubers ‚ysopus gemolt?‘, 260. Boner verweist gelegentlich auf Quellen, aus denen er schöpfte (Strange, Nachwort, 411). 81 Schwitzgebel, Noch nicht genug der Vorrede, 57. 82 Der Überlieferungszeit liegt zwischen 1411 und 1492, der Schwerpunkt ist das zweite Drittel des 15. Jahrhunderts (Strange, Nachwort, 412; Schlecht, „Fabula in situ“, 154). Aufgrund der Besitzernahme lassen sich dreizehn Handschriften dem Hochpartiziat und Adel zuordnen, viele weiteren stehen vermutlich mit der im 15. Jahrhundert massiv auflebenden Laiendidaxe. Vgl. Schlecht, „Fabula in situ“, 154. 83 Boners Fabel ist reichlich überliefert: in fast 40 Handschriften und zwei Drucken, Der Edelstein ist überwiegend in didaktischen Sammelhandschriften aufgefasst. Vgl. Strange, Nachwort, 412; Schlecht, „Fabula in situ“, 153, dort auch ein Überblick über die momentan bekannten Handschriften und Drucke von Boners Edelstein. Boners Werk ist im 15. Jahrhundert handschriftlich reich überliefert, darunter sind auch auffällig viele illustriert. Vgl. Weher, Diebold Laubers ‚ysopus gemolt?‘, 258; Strange, Nachwort, 412. In Bamberg wurden Boners Fabeln 1461 als erstes illustriertes Buch in deutscher Sprache gedruckt. Schon Diebold Lauber hatte bei seiner Schreibwerkstatt-Anzeige von ca. 1450 immer wieder darauf hingewiesen, dass die deutschen Texte auch gemolt, also illustriert seien. Hier kommt es zu einer Orientierung der Augsburger Drucker an den Handschriftenvorbildern. Vgl. Knape, Augsburger Prosaroman-Drucke des 15. Jahrhunderts, 340. Mehr dazu: Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung. Die Stoffauswahl der Drucker folgte zunächst offensichtlich den Markterfahrungen der Schreiber. In einer Schreibwerkstatt des Diebold Lauber (Hagenau) findet sich u. a. Ysopus gemolt. Vgl. Bonert, Sebastian Brants „Narrenschiff“, 615f. 84 Strange, Nachwort, 409.

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dass man mithilfe von Beispielen anschaulicher und erfolgreicher lernen könne. Vorausgesetzt ist jedoch, dass die Lehre als solche anerkannt und verstanden wird85: Diz büchelin mag der edelstein wol heizen, wand ez in im treit bischaft manger klougkeit, und gebirt auch sinne guot.86

Die Moral der Geschichte ist der Edelstein, auf den der Titel der Sammlung hinweist und den die Törichte nicht als solchen erkennen87: dem toren sint al. Die gelîch, die wîsheit, kunst, ê runde guot versmâhent durch ir tumben muot die nützet nicht der edel stan.88

Nützlich sind die Fabeln nur für den, der sie mit Verstand liest.89 Das Zentrum der Boner’schen Fabeln bildet zweifellos der Lehrteil, in dem die moralische Konsequenz aus dem Erzählteil gezogen wird und Anweisungen für das praktische Handeln erfolgen. Er argumentiert nicht im Sinne eines absoluten Wertesystems – wie etwa die sieben Todsünden, die sechs Werke der Barmherzigkeit oder die zehn Gebote –, sondern verbindet mit der Nennung eines bestimmten ethischen Wertes eine praktische, auf Nutzen abzielende Handlungsanweisung. Boner baut im Unterschied sowohl zu seinen Vorlagen als auch den zeitgenössischen und späteren Fabeln den moralisierenden Schluss stark aus und macht diesen zum zentralen Punkt der gesamten Fabel.90 Boners Edelstein sollte Angehörige aller Stände erreichen: Adel, Klerus, Stadtbürgertum und Landbevölkerung.91 Die Wirkung des Edelsteins war im 14. und 15. Jahrhundert außerordentlich groß und reichte bis zu Steinhöwels Äsop, einer Sammlung von 160 Fabeln, die reichhaltig überliefert und zum wichtigsten Fabelbuch bis zur Aufklärung wurde.92 Heinrich Steinhöwels wollte nach den mittelalterlichen Vorlagen und nach neuen, durch die italienische Renaissance erschlossenen Quellen, einen repräsentativen Korpus des antiken Überlieferungsgutes bereitstellen.93 Der Typus der bürgerlich-protestantischen Versfabel trat nicht eigentlich als etwas Neuartiges 85 86 87 88 89 90 91 92 93

Schwitzgebel, Noch nicht genug der Vorrede, 57. Boner, Der Edelstein, 2. Schwitzgebel, Noch nicht genug der Vorrede, 58. Boner, Der Edelstein, 3. Schwitzgebel, Noch nicht genug der Vorrede, 60. Strange, Nachwort, 413, 415f. Elschenbroich, Die deutsche und lateinische Fabeln in der Frühen Neuzeit, Bd. 2, 9. Strange, Nachwort, 411. Elschenbroich, Die deutsche und lateinische Fabeln in der Frühen Neuzeit, Bd. 2, 14.

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auf, eher als eine Erweiterung des Themenbereichs innerhalb der Gattung des erzählenden Spruchgedichts; auch der deutschen Fabeldichtung des Mittelalters, zu Boners Edelstein und Hugo von Trimbergs Renner,94 der bis in die Reformationszeit eines der meist gelesenen Bücher Deutschlands bildet und eine allegorische Darstellung der sieben Hauptsünden enthält. Die Fabeltheorie der Frühen Neuzeit wurde in erster Linie von Martin Luther entwickelt und übte einen maßgeblichen Einfluss darauf aus, dass der Fabel in der reformatorischen Moraldidaxe eine herausragende Stellung zukam. Er entwickelt eine eigene Theorie der Fabelgeschichte und geht auch auf die Inhalte, die sie vermitteln kann und auf die Art und Weise, wie sie es tut, ein.95 Luther hat sich selbst um eine neue Bearbeitung der sogenannten „äsopischen Fabel“ bemüht, also der lateinischen und auch schon deutschen Fabelüberlieferung des Spätmittelalters. Seiner Meinung nach vermittle die Fabel auf schlichte Art Weisheit und nützliche Lehren, allerdings nur demjenigen, der „sie zu brauchen weis“.96 So kommt bei Luther deutlich der Aspekt einer Fabeltheorie zum Ausdruck, dass die Fabel nämlich unterschiedliche Lehren vermitteln kann, je nachdem, an wen sie gerichtet ist. Es ist prinzipiell möglich, dass ihre Auslegungsform von verschiedenen Rezipientenkreisen abhängt, da die Fabelkonstellationen durch den Konflikt zwischen ungleichen Partnern gekennzeichnet ist.97 Nach Luther dient die Fabel der Warnung, der Unterweisung und dem „richtigen“ Lebenswandel, was ihre ursprüngliche Funktion sei.98 Für ihn sind die Texte keine „abgeschlossenen“ Lehrstücke, die die Lehre dezidiert aussprechen, sondern sie sollen vornehmlich Anregungen zur weiteren (Eigen)Interpretation und Aktualisierung geben. Voraussetzung dafür, dass die Fabel ihre Wirkung entfaltet und auf konkrete Probleme bezogen werden kann, bildet das verständige Leben.99 Es fällt auf, dass sie auf den religiösen und kirchlichen Bereich nicht anspielten.100 Die Fabelauffassungen Boners und Luthers weisen Ähnlichkeiten in Bezug auf die aktive Rolle des Rezipienten, dessen Verständnis erst das Annehmen der Lehre ermöglicht, auf. Die prinzipielle Offenheit der kleinen Formen begründet ihre Multifunk-

94 Hugo von Trimberg hat es verstanden, in seinem Renner Ton und Geschmack der Zeit zu treffen. Über 60 Handschriften und ein Druck des 16. Jahrhunderts (1549) bezeugen dessen Beliebtheit als moralisches und Erbauungsbuch durch das ganze Mittelalter. Hugo will nicht beschreiben, er will lehren; er hat mit seinem Renner das einflussreichste didaktische Werk des deutschen Mittelalters geschaffen. Vgl. Boor, Die deutsche Literatur im späten Mittelalter, 324, 328. 95 Schwitzgebel, Noch nicht genug der Vorrede, 63. 96 Schlecht, „Fabula in situ“, 21. 97 Schwitzgebel, Noch nicht genug der Vorrede, 66. 98 Schlecht, „Fabula in situ“, 22. 99 Schwitzgebel, Noch nicht genug der Vorrede, 67. 100 Schlecht, „Fabula in situ“, 24.

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tionalität. Die Fabel ist frei von moralischer Wertung; erst der Leser aktualisiert die Stoffe neu und gemäß seiner Situation und Absicht.101

Fazit Zwischen der Kultur des Mittelalters und der Reformation lassen sich Schnittflächen ausfindig machen. Auch wenn es sich nicht eindeutig einschätzen lässt, ob die Wurzeln der Reformation in der mittelalterlichen Mystik zu suchen sind, wuchs Martin Luther zweifellos in der Welt des Mittelalters auf. Er griff, wie viele Autoren der Reformation, auf Themen und literarische Strategien zurück, die im Mittelalter bekannt und benutzt wurden, weswegen die Frage nach dem Stellenwert und der Funktion der didaktischen Literatur im polemischen Diskurs gestellt werden kann. Ein Beispiel dafür bildet die protestantische didaktische Literatur, die aus der mittelalterlichen Tradition schöpft, was Reinhart Fuchs von Heinrich Glichezaere, Bescheidenheit Freidanks und Der Edelstein von Ulrich Boner exemplifizieren.

Literatur Auffahrt, Christoph, Irdische Wege und himmlischer Lohn. Kreuzzug, Jerusalem und Fegefeuer in religionswissenschaftlicher Perspektive, 2002. – Religiöser Pluralismus im Mittelalter? Besichtigung einer Epoche der Europäischen Religionsgeschichte, Berlin 2007. Baran´ski, Łukasz, Odpusty w s´redniowieczu – przemiany praktyk pokutnych, Zwiastun Ewangelicki 17, 2012, 10–12. Bergdolt, Klaus, Der Schwarze Tod in Europa: Die große Pest und das Ende des Mittelalters, München 2003. Blum, Gerd, Giorgio Vasari. Der Erfinder der Renaissance. Eine Biographie, München 2011. Boettcher, Susan R., Von der Trägheit der Memoria. Cranachs Lutheraltarbilder im Zusammenhang der evangelischen Luther-Memoria im späten 16. Jahrhundert, in: J. Eibach/M. Sandl (Hg.), Protestantische Identität und Erinnerung. Von der Reformation bis zur Bürgerrechtsbewegung in der DDR, Göttingen 2003, 47–69. Boner, Ulrich, Der Edelstein, F. Pfeifer (Hg.), Leipzig 1844. – Der Edelstein. Eine mittelalterliche Fabelsammlung, M. Strange (Hg), Ubstadt-Weiher/ Heidelberg/Neustadt a. d.W./Basel 2016, 409–426. Bonert, Christiane, Sebastian Brants „Narrenschiff“. Satire und Wirklichkeit an der Schwelle zur Neuzeit, in: B. Becker-Cantarino (Hg.), Satire in der Frühen Neuzeit, Amsterdam 1986, 615–645. Boor, Helmut De, Die deutsche Literatur im späten Mittelalter, Teil I, München 1997. 101 Ebd., 150.

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Sławomir Les´niak

Warum sich Luther und der Essay schlecht vertragen? Zur Reformation aus literaturwissenschaftlicher Perspektive

Martin Luther und den Essay in einem Atemzug zu nennen, mag befremden, denn dies, so hat es den Anschein, entspricht nicht der kulturgeschichtlichen Wirklichkeit. Deutschland fehlen in der Frühen Neuzeit die skeptischen Denker nach der Art eines Michel de Montaigne, die religiöses Pathos und mystische Versunkenheit gleichermaßen meiden würden. Dies mag auch der Grund für jene deutsche Essay-Fremdheit sein, die bei Luther in der Reformation ihren Anfang nimmt und fortan die deutsche Literatur und Kultur kennzeichnet.1 So sehr die Umstände nahelegen, die Reformation und den Essay als weit entfernte Kulturphänomene zu betrachten,2 versuchen die hier vorgelegten Analysen aufzuzeigen, dass nicht erst beim Essay die Relation von Wahrheit und Sprache komplex wird. Schon die Theologie Luthers selbst, die einen signifikanten Individualisierungsschub freisetzt und Kritik an den Erkenntnisfähigkeiten der Vernunft übt, problematisiert diese Beziehung. Dies lässt auch das Verhältnis von Luthers theologischer „Modernität“ und der essayistischen Reflexion, in dem sich die Berührungspunkte mit einer radikalen Andersartigkeit ihrer grundlegenden Vorrausetzungen überschneiden, als durchaus vielschichtig und spannungsgeladen erscheinen, was dem Verhältnis auch ein wenig von seiner Schärfe nimmt.

1 „Im angelsächsischen Sprachraum ist der Begriff essay in einer relativ unproblematischen Allgemeinheit für jede Art der nicht-fiktionalen Abhandlung bis heute in Gebrauch; wesentlich schwerer tun sich die Deutschen mit dem Begriff und vor allem der Sache selbst: Zwischen dem Ideal autonomer Dichtung und dem Imperativ strenger Wissenschaftlichkeit blieb die offene Mentalität des Essays den Deutschen allzu lange fremd“ (vgl. Schärf, Essay, 224–234; vgl. Rohner, Exkurs über die deutsche Essay-Fremdheit, 127–131). 2 Dies mag alle Literaturgattungen, wenn auch in jeweils anderem Maße, betreffen, worauf Luserke-Jaqui hinweist: „Dies führt zu der Frage, wie die Tatsache zu erklären ist, dass sich nur wenige Vertreter der sogenannten Höhenkammliteratur finden, die sich der historischen Person Luther literarisch stellen, gibt es tatsächlich, wie vermutet wurde, eine offenkundige Zurückhaltung der meisten bedeutenden und […] klassischen Autoren“ (Luserke-Jaqui, „Ein Nachtigall die waget“, 18f).

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Das Thema des Essays ist atopisch. Gleichwohl bemerkt Ludwig Rohner, dass eines der Themen, das im deutschen Essay nicht vorkommt, die Religion sei.3 So wurde auch die Gestalt Luthers – betrachtet man etwa die prominentesten EssayAutoren wie Hugo von Hofmannsthal, Rudolf Kassner, Thomas Mann, Max Rychner oder Vilém Flusser – nie zu einem Gegenstand ihrer essayistischen Produktion. Sie galt allenfalls als ein beiläufig eingeschalteter Gedanke, eine Assoziation, die reflexiv nicht weiter entfaltet, in einen größeren Verstehenszusammenhang eingebunden wurde. Diese signifikante Fremdheit innerhalb der Essayistik teilt Luther mit anderen mächtigen Gestalten des religiösen Lebens wie Johannes Tauler, Meister Eckhart, Angelus Silesius, Ulrich Zwingli und Philipp Melanchthon. Sie geht gleichwohl einher mit einem gemeinsamen, kulturgeschichtlichen Hintergrund von Reformation und Essay, der auf jene innovative Grundintention religiöser und säkularer Reformbestrebungen in der Frühen Neuzeit zurückgeht, die José Ortega Y Gasset als eine „radikale Vereinfachung als Ausweg aus der Krise“4 innerhalb des europäischen Seelenorganismus bezeichnet hat. Dass der Geist sich quasi zurücknimmt, simplifiziert und die Niederungen des Lebens – seien es der menschliche Leib, die Schwächen der Vernunft oder die Volkssprache – durchdringt, gilt auch als Ausdruck einer neuen, der individuellen Erfahrung und der gesellschaftlichen Praxis zugewandten Lebensund Frömmigkeitsform, die bereits im 13. Jahrhundert einsetzt und in der Reformation und in den essais Montaignes ihren jeweils andersartigen Kristallisationspunkt erreicht. Nehmen wir das Verhältnis von Reformation und Essay näher in den Blick, so erscheinen die Elemente wie die Aufwertung des Individuums, die Kritik an der Vernunft oder die Interferenz von schriftlicher und mündlicher Ausdrucksweise als ihr gemeinsames Erbe. Gleich dem Essay, der bei Montaigne aus der Skepsis gegenüber der scholastischen Spekulation und deren Wissens- und Wahrheitsansprüchen erwächst, richtet sich der Impetus der Reformation vor allem gegen 3 „Gegenstand der Essayistik ist also der Mensch. Sie wendet sich, seit ihren Anfängen, dem Humanistischen und Humanen zu, dem Menschen: seiner Psyche, Physiognomie, Umwelt, seiner Geschichte mit Vorliebe, der Kultur und Kunst, den Merkwürdigkeiten und dem Schicksal des Individuums. Die letzten, transzendenten Dinge berührt sie merkwürdig selten oder nur am Rande; desgleichen die nichtmenschliche Natur, etwa das Tier- und Pflanzenreich; sie lässt aus, was sich nicht als Kultur auf den Menschen bezieht“ (Rohner, Der deutsche Essay, 365). Und an einer anderen Stelle heißt es: „Über die großen Themen der Essayistik, die Liebe und den Tod, meditiert der Deutsche im Essay kaum, so selten wie über das Thema Religion“ (ebd., 366). 4 „Es besteht kein Zweifel darüber, dass dies Zurückweichen auf einen einzigen Punkt ihn [den Menschen um 1500] zunächst vom gesamten restlichen Tand seines Lebens befreit und es somit vereinfacht. […] Wie die ‚Brüder des gemeinsamen Lebens‘, wie die devotio moderna im Jahre 1400, wie Tomas von Kempen, wie Nikolaus von Kues, wie Erasmus, wie die katholischen Könige als Abwehr gegen das Chaos der halbfeudalen Vielfalt – jawohl, wir werden gleichsam sehen, warum – wie Luther, wie Montaigne, wie Galilei…“ (Y Gasset, Im Geiste Galileis, 502).

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die dogmatischen Erlösungstheorien der römisch-lateinischen Kirche. Und doch ist eine grundlegende Differenz zwischen der theologischen Denkweise Luthers und der eines Essayisten zu konstatieren. Der freie Christ Luthers verzweifelt an sich selbst, an seinen natürlichen Denk- und Willenskräften, was zugleich deren radikale Annihilation bedeutet.5 Gott bleibt dabei der einzige Grundbezug. Der Essayist schreitet dagegen voraussetzungslos und unbefangen in alle Richtungen aus; seine Texte weisen eine unendliche Assimilationsfähigkeit auf. Die Fokussierung der Theologie Luthers auf die Frage nach der Glaubensgerechtigkeit bietet einen geeigneten Einstieg in die hier gestellte Frage. Oswald Bayer erinnert in dem Zusammenhang an „eine Vision Swedenborgs“, des anderen großen Kritikers im skandinavischen Protestantismus neben Søren Kierkegaard: Luthers Rechtfertigungslehre ist schon oft der Vorwurf der Monotonie und Leere, ja der Monomanie gemacht worden – in besonders sarkastischer Weise von Swedenborg. Nach ihm ist der Lutheraner sein Leben lang in ein verdunkeltes Zimmer eingeschlossen, in dem er immer nur ein einziges Wort vor sich hin sagt: „Ich bin allein aus Glauben gerecht; ich bin allein aus Glauben gerecht; ich bin allein aus Glauben gerecht!“6

Und daran schließt sich sein Kommentar an: Doch trifft Swedenborgs Sarkasmus die in Luthers Theologie erfolgte Konzentration keineswegs. Er inszeniert vielmehr das alte und zähe – durch Theologie und Kirche leider oft genährte – Vorurteil, nach dem die Glaubensgerechtigkeit alle Weltbezüge verneine, von ihnen isoliere und weltlos, reine Entweltlichung sei. Mit diesem Vorurteil verknüpft sich der Verdacht, das lutherische Verständnis des Rechtfertigungsgeschehens sei individualistisch, gar heilsegoistisch.7

Darauf folgt sein entscheidendes Diktum: Demgegenüber möchte ich herausstellen, dass der Schriftausleger Luther – zumal der Alttestamentler, der er vor allem war – das Rechtfertigungsgeschehen in seiner sozialen, ja kosmischen Weite ebenso wahrnahm wie in seiner existentiellen Tiefe, aus der sich ihm jene Weite freilich erst erschloß. Mit der Glaubensgerechtigkeit ist nicht nur das

5 Ich knüpfe hier an die Analysen von Leszek Kołakowski an: „Zauwaz˙ymy jednakowoz˙ bez trudu, w tekstach Lutra, z˙e idea usprawiedliwienia z wiary ma podwójna˛ orientacje˛ polemiczna˛: obraca sie˛ przeciw zasadzie usprawiedliwienia przez uczynki, ale takz˙e przeciw zasadzie usprawiedliwienia przez doktryne˛. S´wiat wiary jest radykalnie róz˙ny od s´wiata mys´li dyskursywnej, wyrasta z gwałtownego zerwania, z przerwy, jaka dzieli wszystko, co naturalne, od wszystkiego co boskie. Chrzes´cijan´stwo prawdziwe rodzi sie˛ z pokonania natury, tj. woli własnej, autoafirmacji ludzkiej; moz˙liwe jest ono dopiero wtedy, gdy pokonamy fałszywe chrzes´cijan´stwo, poje˛te jako przedłuz˙enie, uzupełnienie czy uszlachetnienie przyrodzonych skłonnos´ci ludzkich – oto punkt, wokół którego rozrasta sie˛ mistyczny wariant reformacyjnego przewrotu“ (Kołakowski, Pochwała niekonsekwencji, 29). 6 Bayer, Leibliches Wort, 19. 7 Ebd., 20.

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Gottes- und Selbstverhältnis neu geworden, sondern zugleich das Verhältnis zu „allen Kreaturen“ – das Verhältnis zur Welt; darin eingeschlossen ist eine neue Wahrnehmung des Raumes und der Zeit.8

Es geht hierbei um zwei entgegengesetzte Aspekte der Perspektiverweiterung: Zum einen lässt die christologische und glaubensorientierte Theologie Luthers eine weite, gleichwohl überschaubare Bandbreite von Themen auffächern. Die Tischreden, die aus den Aufzeichnungen der Schreiber, die im „Schwarzen Kloster“ bei Tisch saßen und an gelehrten Gesprächen teilgenommen haben, bieten hierfür ein beredtes Beispiel. Birgit Stolt konstatiert: Der Inhalt ist kaleidoskopisch. Vor allem haben die Schreiber natürlich theologische Belange aufgezeichnet. Aber daneben finden sich Notizen zu allen Fragen des Lebens: die Tücken des Teufels und seines Anhangs, Politik, Freunde und Feinde, Essen und Trinken, Familienfragen, Kinder und Kindererziehung, Freud und Leid. Nirgendwo meint man den lebendigen Menschen im Alltag so nahe zu kommen wie hier. Manchmal hat man das Gefühl, Luther persönlich zu hören, so wie er nach einem Kraftausdruck, mit einem Blick auf die Schreiber, ironisch auffordert: „Hoc scribite et notate!“ (= Schreibt euch das auf!).9

Zum anderen ist festzuhalten, dass der Vielfalt an Themen und Gedanken, die die Tischreden aufweisen, vorwiegend nur eine Grundreferenz zugrunde liegt – Gott und die Figuren und Assoziationen, die der religiösen Sphäre entspringen. So finden kurze, aphoristisch anmutende Aussprüche, die sich auf explizit säkulare Lebensbereiche beziehen, im Glauben an die alles umgreifende Gegenwart Gottes oder im Gespür für die Wirkungsmacht des Teufels im Alltag, ihre letzte Begründung. Spricht Luther darin etwa vom Wein, so setzt er ihn sogleich mit der Schrift in Beziehung: „Der Wein ist gesegnet und hat sein Zeugnis in der Schrift, das Bier aber gehört zur menschlichen Überlieferung.“10 Ebenso der Beruf des Arztes wird unvermittelt ins Religiöse gewendet und mit dem des Theologen assoziiert: „Es gehört nicht zu der Aufgabe der Ärzte, darüber zu disputieren, wie man es mit Gesunden halten solle. Sie haben sich um Kranke zu kümmern wie die Theologen um Sünder.“11 An einer anderen Stelle spricht Luther vom Geld und will es als Maske eines göttlichen Widersachers verstanden wissen: „Geld ist das Wort des Satans, durch das er alles in der Welt schafft, wie Gott alles durch das wahre Wort schafft.“12 All dies zeigt, dass mit der thematischen Erweiterung der Reflexion, ja einer neuen Wahrnehmung der Welt, bei Luther doch zugleich eine von dem Wort her motivierte Einschränkung einhergeht, die auch in der repe8 9 10 11 12

Ebd. Stolt, Martin Luthers Rhetorik des Herzens, 9. Luther, Tischreden, 274. Ebd., 295. Ebd., 264.

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titiven Literalität seiner Sprache zum Ausdruck kommt. Die Sprache Luthers will, könnte man sagen, am Sein haften und ihre Bewegung bleibt jedes Mal an Wort und Schrift rückgebunden. Im Essay dagegen, was ein Moment einer unauflösbaren Differenz gegenüber der Theologie Luthers darstellt, löst sich der Realitätsgehalt vom Thematischen der Sache und geht in eine distinktive Reflexionsbewegung über, die Montaigne in der vielzitierten Aussage zusammenfasst: „Distingo est le plus universel membre de ma logique.“13 Aus der Distinktionslust heraus, die sich gleichwohl nicht auf Wissenschaft, sondern auf die individuelle Erfahrung bezieht, sagt Montaigne: Je ne peints pas l’estre. Je peints le passage […]. Non seulement le vent des accidens me remue selon son inclination: mais en outre, je me remue et trouble moy mesme par l’instabilité de ma posture; et qui y regarde primement, ne se trouve guere deux fois en mesme estat.14

Einen geeigneten Anhaltspunkt für die hier behandelte Frage stellt eine jeweils andere Verwendungsweise der Metapher bei Luther und im Essay dar. Im Essay geht die Metapher in einer unendlichen Reflexionsbewegung auf, die darauf abzielt, was Aldo Venturelli als „Magie der Freiheit“15 bezeichnet hat: Die Magie findet ihre Grundlage mithin nicht länger in jener Welt der Mythen und Symbole, die ihre Bedeutung verloren haben; sie verwirklicht sich vielmehr innerhalb eines „Baus“, der sich selbst dekonstruiert. „Der Bau ist dazu da, um sich zu bergen, um die Idee der Freiheit als Idee der Ideen gebildet“ und etwas Lebendiges und Fließendes, das nicht durch starre Begriffe ausgedrückt werden kann: „sonst wäre er ein Gefängnis, ein System oder ein Mausoleum.“16

Bei Luther hingegen, wie Hans Martin Barth bemerkt, „kommt die Metapher – unbeschadet aller modernen Metapherntheorien – nicht für, sondern als die Sache selbst zu stehen. Durch uneigentliche Rede wird nicht etwa Uneigentliches, sondern gerade das Eigentliche zum Ausdruck gebracht.“17 Dieses Wörtlichnehmen der Metapher, dem wir bei Luther begegnen, kann als Umkehrung der metaphernbildenden Tätigkeit begriffen werden. Wolfram Groddeck spricht in diesem Zusammenhang von einer anthropologischen Aporie, die dem ‚Trieb‘ zur Bildlichkeit anhafte und auf den sprachphilosophischen Gedanken zurückgehe, 13 Montaigne, Essais, de l’inconstance de nos actions, 370. „Ich unterscheide, dies ist das A und O meiner Logik“ (Montaigne, Über die Wechselhaftigkeit unseres Handelns, 167). 14 „Ich beschreibe nicht das Sein, ich beschreibe den Übergang […]. Nicht bloß der Wind der Zufälle treibt mich, wohin er will, sondern ich selbst trage durch meine schwankende Haltung zu diesem verwirrenden Hin und Her bei; und wer sich angespannt beobachtet, wird feststellen, dass er kaum zweimal in derselben Verfassung ist“ (Montaigne, Über die Wechselhaftigkeit unseres Handelns, 167). 15 Venturelli, Imagination und Magie der Moderne, 141f. 16 Ebd. 17 Barth, Die Theologie Martin Luthers, 124.

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dass „die ‚eigentlichen‘ Wörter und Begriffe einer Sprache sich aus ursprünglich tropischen Beziehungen zur Welt – als den logisch und historisch früheren – ableiten lassen.“18 Dies bedeutet, dass der Trieb zur Metaphernbildung, wenn seine Produkte sich entfärben und erblassen und zu starren Begriffen werden, nicht erlischt. Trotz der Instrumentalisierung und Funktionalisierung der Sprache wuchert der bildliche Ausdruck gleichsam fort. So führt auch „jede beim Wort genommene Metapher in das Paradox einer ursprünglichen Uneigentlichkeit zurück.“19 Positiv gewendet stellt jedes Wörtlichnehmen der Metapher eine Regressionsbewegung dar, die den poetischen Ausdruck poetisch dekonstruiert und eine neue poetische Sprache schafft. Der springende Punkt dabei ist, dass Luther bei seiner Handhabung der Sprache die besagte Aporie durch den Rekurs auf Gottes Wort ungültig macht: „Beides, die Wahrheit des Gekreuzigten und das von ihm verkündigende Wort vom Kreuz, sind daher metaphorisch beim Wort zu nehmen.“20 So wird auch die Unaussprechlichkeit der Vereinigung von Gott und Mensch mittels bildhafter Rede überwunden. Die communicatio idiomatum weist Luther als modus loquendi scripturae aus, das altkirchliche Dogma von der Gottmenschlichkeit Christi nicht bruchlos repristinierend, sondern ihm neuen Glanz verleihend.21

Jetzt gehe ich näher auf das Verhältnis von Begriff und Bild bei Luther und im Essay ein und weise es an den Kategorien der Ganzheit und der Wahrheit aus. Der metaphorische Vorgang, so der Ausgangspunkt meiner Argumentation, ist im Essay vornehmlich auf die Ganzheit ausgerichtet,22 bei Luther hingegen auf die Wahrheit. Die Worte von Hans Blumenberg zeigen, wie bei Montaigne die Ganzheit mit dem tropischen Ausdruck zusammenhängt: Was in den Eigenschaften einer Wiese unter objektivem Aspekt nicht vorkommt […] wird von der Metapher [pratum ridet – S.L.] festgehalten. Sie leistet dies, indem sie die Wiese dem Inventar einer menschlichen Lebenswelt zuweist, in der nicht nur Worte und Zeichen, sondern die Sachen selbst „Bedeutungen“ haben, deren anthropologischer Urtypus das menschliche Gesicht mit seiner unvergleichlichen Situationsbedeutung sein mag. Die Metapher für diesen Sinngehalt der Metapher hat Montaigne gegeben; le visage du monde.23

Zum einen evoziert die Metapher des Gesichts ein Vorstellungsbild der Ganzheit, zum anderen ist in ihre physiognomische Grundierung das Einzigartige, aber 18 19 20 21 22

Groddeck, Reden über Rhetorik, 265. Ebd. Wolff, Metapher und Kreuz, 86. Ebd., 414f. „Der Essayist erkennt das Einzelne stets im Zusammenhang des Ganzen. Er schreibt nieder, was ihm, in der Auseinandersetzung mit einem Gegenstand, zu diesem, zu sich und zur Welt einfällt“ (Rohner, Der deutsche Essay, 336). 23 Blumenberg, Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit, 89. Hervorhebung im Original.

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auch das Flüchtige einer wechselnden Situationsbedeutung eingeschrieben. Es ist die eigentümliche Temporarität der tropischen Sprechweise bei Montaigne, in der das Gesicht als Ort des Sinnlich-Widersprüchlichen gilt, indem ein FlüchtigEinzelnes nur einen kleinen, doch lebendigen Teil der Lebenswelt, einen „Ziegel eines großen Gebäudes“24 darstellt – des Ich Montaignes: Je donne à mon ame tantost un visage, tantost un autre, selon le costé où je la couche. Si je parle diversement de moy, c’est que je me regarde diversement. Toutes les contrarietez s’y trouvent selon quelque tour et en quelque façon […]. Tout cela, je le vois en moy aucunement, selon que je me vire; et quiconque s’estudie bien attentifvement trove en soy, voire et en son jugement mesme, cette volubilité et discordance. Je n’ay rien à dire de moy, entierement, simplement et solidement, sans consusion et sans meslange […]. Nous sommes tous de lopins et d’une contexture si informe et diverse, que chaque piece, chaque momant, faict son jeu. Et se trouve autant de difference de nous à nous mesmes, que de nous à autruy.25

So nimmt die Metapher einerseits teil an der prälogischen Welt, in der sich eine archaische Beseelung der Dinge vollzieht, andererseits geht sie über die Leiblichkeit der Dinge hinaus und verleiht Worten und Zeichen jenen tropischen Wert, der jeglicher Abstraktions- und Erkenntnisleistung der Vernunft – wie wir dies seit Giambattista Vico wissen26 – zugrunde liegt und so der Metapher volle 24 Das Bild des Baus als Metapher für die Gedankenwelt Montaignes gebraucht Tadeusz Z˙elen´ski (Boy) in dem Vorwort zu seiner Übersetzung der essais: „Mimo to dzieło Montaigne‘a nie jest dziełem burzenia, ale budowania; jest to pie˛kny, miły i wygodny dom mieszkalny, który wzniósł dla siebie i do którego nas zaprasza. Jes´li tak starannie bada kaz˙da˛ cegiełke˛, to dlatego, aby dom, w którym pragnie spe˛dzic´ reszte˛ dni swoich był trwały i aby sie˛ nie rozpadł w proch pod wpływem wstrza˛´snien´ i atmosfery“ (Montaigne, Próby, 34). 25 Montaigne, Essais, 370–372. „Ich gebe meiner Seele bald dieses, bald jenes Gesicht, je nach welcher Seite ich sie wende. Wenn ich unterschiedlich von mir spreche, dann deswegen, weil ich mich als unterschiedlich betrachte. Alle Widersprüche finden sich bei mir in irgendeiner den Umständen folgenden Form […]. Von allem sehe ich etwas in mir, je nachdem wie ich mich drehe; und wer immer sich aufmerksam prüft, entdeckt in seinem Innern dieselbe Wandelbarkeit und Widersprüchlichkeit, ja in seinem Urteile darüber. Es gibt nichts Zutreffendes, Eindeutiges und Stichhaltiges, das ich über mich sagen, gar ohne Wenn und Aber in einem einzigen Wort ausdrücken könnte […]. Wir bestehen alle nur aus buntscheckigen Fetzen, die so locker und lose aneinanderhängen, dass jeder von ihnen jeden Augenblick flattert, wie er will; daher gibt es ebenso viele Unterschiede zwischen uns und uns selbst wie zwischen uns und den anderen“ (Montaigne, Über die Wechselhaftigkeit unseres Handelns, 167f). 26 Vico gilt damit als Begründer der modernen Philosophie der Metapher, nach der „die figurative natürlich-ursprüngliche Sprache der ersten Menschen, in der jede Metapher ein ‚kleiner Mythos‘ ist, in der historischen Zeit durch die Entstehung einer zweiten, nämlich der philosophisch-abstrakten Sprache ergänzt wird, wodurch sich die ursprüngliche Metaphorik in eine reflektierte verwandelt, in eine rhetorische Figur als eine paradigmatische Opposition zur abstrakten Sprache. Die Übertragungsrichtung der allegorisch-reflektierten Metaphorik der historischen Zeit verläuft entgegengesetzt zu der mythisch-ursprünglichen Metaphorik der ersten Menschen: Sie ist nicht archaische Beseelung der Dinge, sondern nachträgliche,

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Autonomie gewährt. Die Metaphern sind daher „nicht lediglich Vorläufer eines noch nicht gefundenen Begriffs.“27 Gleichwohl bedarf es „einer besonderen Anstrengung, sie hinter dem Schleier einer Abstraktion, die zur Denkgewohnheit geworden ist, zu entdecken.“28 Dies leistet der Essay, in dem die Metapher nicht aus dem rhetorischen Bereich praktischer Argumentation erwächst, sondern sich als eine innovative Ausdrucksweise auf den bildlich-sinnlichen wie begrifflichanalytischen Ausdruck gleichermaßen bezieht. In dieser nun bewussten Arbeit der sprachlichen Formung im Essay, die die anthropomorphe Beschaffenheit der übertragenden Projektion stets mitreflektiert, wird der Begriff quasi aufgeschlossen und gerät in ein Spannungsverhältnis mit dem Bild. Luther geht es dagegen darum, durch den Bilderreichtum und die Plastizität seiner Sprache den Hiatus zu überbrücken zwischen den Worten des Glaubenden und den zwei Spielarten der Sprache, die nach ihm die göttliche Verheißung nicht zum Ausdruck bringen können – der Alltagssprache und der Sprache der philosophischen Reflexion. Die Metaphern, die Luther als sprachliche Mittel der Überbrückung dienen, sind weitgehend theologisch begründet und ihre Vielfalt geht stets auf die Grundbedeutung der göttlichen Verheißung zurück. Gleichwohl haben sie auch eine innovative Komponente, deren Beliebigkeit und Willkür jedoch im Voraus durch den Bezug zu Schrift und Dogma verhindert wird. Metaphern finden dabei Ähnlichkeiten nicht lediglich vor, sondern sie stiften sie, indem sie den symbolischen Überschuss der Situationen aufgreifen. Daraus erklärt sich etwa Luthers Suchen nach der richtigen Übersetzung von Ps 63, bei der er ursprünglich die Metaphern aus der hebräischen Vorstellungswelt, die sich auf das tierische Fett beziehen, angewandt hat. Wie wir es aus den Summarien über die Psalmen erfahren, verzichtet er im Nachhinein auf die animalische Metaphorik zugunsten des sinngesättigten Wortes.29 Es ist eingangs gesagt worden, das Thema der Religion komme im deutschen Essay nicht vor. Als aufschlussreich erweisen sich hier gleichwohl die wenigen Beispiele der essayistischen Behandlung von religiösen Gestalten und Themen aber notwendige Veranschaulichung, Vergegenwärtigung und Verlebendigung der abstrakten Begriffe, denn ,sobald wir aus dem Verstand geistige Dinge hervorziehen wollen, müssen wir von der Phantasie unterstützt werden, um sie darstellen zu können‘“ (Debatin, Die Rationalität der Metapher, 36). 27 Meyer-Drawe, Zum metaphorischen Gehalt von „Bildung“ und „Erziehung“, 163. 28 Ebd. 29 Luther begründet die Änderung in den Summarien folgendermaßen: „Da wir vorher den Worten nach so übersetzt haben: ‚Laß meine Seele voll werden, wie mit Schmalz und Fett, dass mein Mund mit fröhlichen Lippen rühme‘ haben wir die hebräischen Worte fahren lassen, weil das kein Deutscher versteht, (Schmalz und Fett, womit sie Freude meinen, gleichwie ein gesundes, fettes Tier fröhlich, und umgekehrt ein fröhliches Tier fett wird, ein trauriges Tier abnimmt und mager wird und ein mageres Tier traurig ist), haben wir so ein klares Deutsch gegeben: ‚Das wäre meines Herzens Freude und Wonne, wenn ich Dich mit fröhlichem Munde loben sollte‘‘‘ (Luther, Summarien über die Psalmen und Ursachen des Dolmetschens, 177f).

Warum sich Luther und der Essay schlecht vertragen?

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des okzidentalen Christentums, aus denen zu ersehen ist, wie der Essay aus der Spannung heraus lebt zwischen Subjektivem und Objektivem, Innerem und Äußerem, Subversion und Form und so die religiöse Thematik in seine sprunghafte und unabgeschlossene Reflexionsbewegung übergehen lässt. Darin mag auch der Unterschied zu Luther liegen, bei dem durch die starke Bindung der Form an Gottes Wort – sei diese nun musikalischer, bildkünstlerischer oder sprachlicher Art – der Spannungsbogen von reflexiver und metaphorischer Darstellungsweise religiöser Inhalte von vornherein beschränkt bleibt. Dies wird nun am Beispiel von Kassners Kardinal John Henry Newman und Thomas Manns Fragment über das Religiöse nachgewiesen. Kassner widmet seinen Essay der großen Gestalt der Oxforder Bewegung innerhalb der anglikanischen Kirche, Kardinal Newman, indem er bei Newman den Momenten des Suchens und des Strebens, des Widersprüchlichen und Unvereinbaren nachspürt. Er zeigt dies an zwei Äußerungen Newmans: „O ja, wenn ich (was nicht für ganz schicklich gehalten werden dürfte) genötigt wäre, der Religion in einem Trinkspruch zu gedenken, so würde ich mein Glas leeren auf das Wohl des Papstes, gewiß, aber zuerst auf das Gewissen und dann auf den Papst.“30 Und an einer anderen Stelle heißt es: Ist nicht vielmehr das für Europa so bezeichnend, daß es allerzeit abwechelnd, taumelnd gleichsam, das Subjekt und dann wiederum das Objekt zu sehr zu betonen gezwungen ist, daß es stets von neuem aus der einen Wahrheit des Protestantismus, des Methodismus der Jünglingsjahre Newmans, in die andere des Katholizismus, der Infallibilität des Papstes, den Weg sucht, und daß es einzig und allein darum in Europa so sehr auf den einzelnen Menschen, auf den Erwählten, auf die Persönlichkeit, auf diese Brücke und Spannung zwischen Subjekt und Objekt ankommt?31

An beiden Passagen ist zu beobachten, wie sich die essayistische Reflexion nur insofern an den theologischen Fragen entzündet, als sie diese in ihren souveränen und freien Sprachduktus integriert, bei dem die innere und äußere Gebundenheit des Glaubenden sowie konfessionell tradierte Wahrheitsansprüche in ein sich jeweils im sprachlichen Vollzug konstituierendes Verhältnis treten. So lässt das konfessionsübergreifende Formempfinden Newmans im Essay eine dynamische Reflexionsbewegung initiieren, die sich aus metaphorischen und reflexiven Verdichtungen und Erweiterungen gleichermaßen aufbaut. Eine ebenso offene Weite gedanklicher und assoziativer Verbindungslinien lässt sich in Manns Fragment über das Religiöse ausmachen. Hier eine Sequenz von Textstellen:

30 Kassner, Kardinal John Henry Newman, 174. 31 Ebd., 175.

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Glaube? Unglaube? Ich weiß kaum, was das eine ist und was das andere. Ich wüßte tatsächlich nicht zu sagen, ob ich mich für einen gläubigen Menschen halte oder für einen ungläubigen. Tiefste Skepsis in bezug auf beides, auf sogenannten Glauben, ist all mein Ausweis, wenn man mich katechisiert.32

Und weiter: Kein Wunder und Zufall also, daß seither das Religions- und Mythengeschichtliche – eine Welt von rührendster Intimität und Geschlossenheit, in der von Anfang an alles da ist – sich ganz und gar meines humanen Interesses bemächtigt hat. Es bildet den Gegenstand des Romans, an dem ich schreibe, eines Buches, noch krauser und eigensinniger vielleicht als das vorige, so daß sehr ungewiß ist, ob es ein Publikum haben wird. Was ich weiß ist, daß es mich unendlich unterhält und beschäftigt.33

Was beide Stellen verbindet und den ganzen Text Manns durchzieht, ist ein reflexives Schweben über dem Gegenstand, das über das Thematische hinausgeht und damit die entgegengesetzten Empfindungs- und Reflexionspole in der Lust und im Interesse an der Sache verknüpft. Es lässt sich daher resümieren, dass sich die essayistische Reflexion bei Kassner und Mann nur insofern an religiösen Fragen zu entzünden vermag, als das religiöse Motiv die Paradoxie als seinen hervorstechendsten Wesenszug enthält, dass Freiheit und Gebundenheit, Subjektivität und Objektivität, Skepsis und Glaube einander Kräfte zuführen, sich aneinander potenzieren. Die Paradoxie wird nun im Essay im jeweiligen Sprachvollzug entfaltet. Auch wenn Luthers Theologie diese Paradoxie aufweist, so wird sie gleichwohl – bedenkt man etwa den Disput Luthers mit Erasmus und sein leidenschaftliches Insistieren auf dem gebundenen Willen – von ihrem durchgängigen Rekurs auf Gottes Wort stets aufgehoben. Dies mag auch der Grund sein, warum der deutsche Essay Luther und die Reformation niemals zu seinem thematischen Gegenstand genommen hat. Als Kontrastfolie zum Essay und dessen inhärenter Paradoxie gilt hier die Äußerung Thorsten Beckers über seinen Roman Das ewige Haus, die sich auf den Zusammenhang der Entwicklung der Gattung Roman mit dem Protestantismus bezieht. Das verbindende Element zwischen Roman und Protestantismus sei die Innerlichkeit: Der Autor beruft sich auf die Literatursoziologie und beschwört die Möglichkeiten, die der Roman der modernen Seele böte, er erzeuge einen schönen Schein, der eine Welttotalität suggeriere, die es in der historisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit und ihren Fragmentarisierungen längst nicht mehr gebe. Die Seele bekomme auf diese Weise Trost und Asyl geschenkt.34

32 Mann, Fragment über das Religiöse, 424. 33 Ebd., 425. 34 Zitiert nach: Luserke-Jaqui, „Ein Nachtigall die waget“, 213.

Warum sich Luther und der Essay schlecht vertragen?

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Der Essay bietet nun dem Leser weder Trost noch Asyl. In seiner gattungsspezifischen Souveränität ist er Luther gleichermaßen nah und fern, geistesverwandt und von ihm zugleich unüberbrückbar getrennt.

Literatur Barth, Hans-Martin, Die Theologie Martin Luthers. Eine kritische Würdigung, Gütersloh 2009. Bayer, Oswald, Leibliches Wort: Reformation und Neuzeit im Konflikt, Tübingen 1992. Blumenberg, Hans, Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit. Schiffbruch mit Zuschauer, Frankfurt a.M. 1979. Debatin, Bernhard, Die Rationalität der Metapher. Eine sprachphilosophische und kommunikationstheoretische Untersuchung, Berlin 1995. Groddeck, Wolfram, Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens, Basel 2008. Kassner, Rudolf, Kardinal John Henry Newman, in: R. Kassner, Sämtliche Werke, E. Zinn/ K.E. Bohnenkamp (Hg.), Pfullingen 1982, 167–177. Kołakowski, Leszek, Pochwała niekonsekwencji. Filozoficzna rola reformacji, Londyn 1989. Luserke-Jaqui, Matthias, „Ein Nachtigall die waget“: Luther und die Literatur, Tübingen 2016. Luther, Martin, Tischreden, Stuttgart 1981. – Summarien über die Psalmen und Ursachen des Dolmetschens, in: K. Aland (Hg.), Martin Luther: Luther Deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart, Göttingen 1983, 176–195. Mann, Thomas, Fragment über das Religiöse, in: T. Mann, Reden und Aufsätze (3), Frankfurt a.M. 1990, 423–425. Meyer-Drawe, Käte, Zum metaphorischen Gehalt von „Bildung“ und „Erziehung“, Zeitschrift für Pädagogik 45, 1999, 161–175. Montaigne, Michel de, Próby, Warszawa 1957. – Essais, de l’inconstance de nos actions, Paris 1962. – Essais. Über die Wechselhaftigkeit unseres Handelns, H. Stillet (Übers.), Frankfurt a.M. 1998. Rohner, Ludwig, Der deutsche Essay. Materialien zur Geschichte und Ästhetik einer literarischen Gattung, Neuwied/Berlin 1966. Rohner, Ludwig, Exkurs über die deutsche Essay-Fremdheit, in: L. Rohner, Der deutsche Essay. Materialien zur Geschichte und Ästhetik einer literarischen Gattung, Neuwied/ Berlin 1966, 127–131. Schärf, Christian, Essay, in: D. Lamping (Hg.), Handbuch der literarischen Gattungen, Stuttgart 2009, 224–234. Stolt, Birgit, Martin Luthers Rhetorik des Herzens, Tübingen 2000. Wolff, Jens, Metapher und Kreuz. Studien zu Luthers Christusbild, Tübingen 2005. Venturelli, Aldo, Imagination und Magie der Moderne, in: G. Neumann/U. Otto (Hg.), Physiognomik als Wissensform, Freiburg im Breisgau 1999, 141–160.

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Y Gasset, José Ortega, Im Geiste Galileis, in: J.O. Y Gasset, Gesammelte Werke, Stuttgart 1978, 386–567.

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Die andere Reformation Jan Hus und die Hussiten in der deutschen Literaturund Kulturgeschichte: August von Kotzebues ‚vaterländisches Schauspiel‘ Die Hussiten vor Naumburg

Gut hundert Jahre vor Martin Luthers legendärem Wittenberger Thesenanschlag im Jahre 1517 wurde der tschechische Reformator Jan Hus 1415 in Konstanz auf dem Scheiterhaufen verbrannt. In den Augen seiner Anhänger machte ihn sein gewaltsamer Tod zu einem Märtyrer. Es kam zu Protesten und 1419 schließlich zu einer Revolution der Hussiten, die von Prag ausging und eine Reihe kriegerischer Auseinandersetzungen zur Folge hatte, welche beinahe zwei Jahrzehnte lang andauerten. Nachdem das sogenannte Kreuzfahrerheer unter der Führung Sigismunds von Luxemburg spätestens 1426 mit der Schlacht von Aussig/Ústí nad Labem in seinem Versuch gescheitert war, die (theologisch und sozial durchaus heterogene) hussitische Bewegung militärisch zu besiegen, gingen die Hussiten unter Führung von Jan Zˇizˇka und, nach dessen Tod, Andreas Prokop ihrerseits zur Offensive über, wodurch die Kämpfe auf die an Böhmen angrenzenden Gebiete in Österreich, Bayern, Franken, Sachsen, Brandenburg und Schlesien übergriffen – und dort auch Spuren in der Erinnerungskultur hinterließen. Diese Phase dauerte von 1426 bis 1434, als Prokop, der das Heer der Taboriten, des radikalen Teils der Hussiten, befehligte, bei Lipan eine vernichtende militärische Niederlage gegen das Heer Sigismunds von Luxemburg und die mit ihm verbündeten gemäßigten Utraquisten erlitt. Doch erst 1436 waren die Hussitenkriege endgültig vorüber.1 Hus und die Hussiten stellen in doppeltem Sinne – und auf komplexe Weise – eine Präfiguration von Luther und einer Reihe von Ereignissen seiner Reformation dar. So ist Luthers kirchenkritisches Wirken seit 1517 immer verbunden mit der potentiellen Gefährdung durch einen gewaltsamen Tod auf dem Scheiterhaufen, in Analogie zum „Konstanzer Ketzerfeuer“2, das ein Jahrhundert zuvor dem Leben des Jan Hus ein gewaltsames Ende gesetzt hatte. Am deutlichsten manifestiert sich diese Bedrohung ohne Zweifel an Luthers eigenem 1 Einen Überblick über die geschichtlichen Abläufe bietet etwa Krzenck, Hussiten (siehe Link im Literaturverzeichnis). 2 Schilling, Martin Luther, 183.

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großen öffentlichen Auftritt, demjenigen vor dem Reichstag von Worms im Jahre 1521.3 So könnte eine gedachte Fortsetzung des legendären „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ fraglos lauten: „und wenn es mich das Leben kostet“. Schon bald verbreitete sich darüber hinaus die (auch oft auf Stichen oder Gemälden graphisch dargestellte) Geschichte, Hus selbst habe sich auf dem Scheiterhaufen als Gans bezeichnet, in Anspielung auf das entsprechende, mit seinem Namen nahezu identische tschechische Wort ,husa‘. Ihm werde ein Schwan nachfolgen, dem es dann vergönnt sei, das Lied der Reformation zu singen: Luther.4 Zwischen Jan Hus und Martin Luther werden im deutschen Kulturraum insofern also durchaus positive Verbindungslinien gezogen. Anderes gilt im Hinblick auf die Anhänger des tschechischen Reformators, die Hussiten selbst. Ungeachtet der historischen Heterogenität dieser Bewegung tritt diese in deutschsprachigen literarischen Texten überwiegend in Gestalt ihres ,radikalen‘ Teils in Erscheinung,5 als der Aggressor, der den Krieg von außen in den deutschen Kulturraum trägt. Damit stehen die Hussiten in diesem Kontext also weniger für eine religiöse, reformatorische Bewegung, als vielmehr für eine Bedrohung von außen durch das Fremde und in gewissem Sinne auch Barbarische. Während also Martin Luther in Deutschland – jedenfalls in dessen protestantischem Teil – spätestens im Verlauf des 19. Jahrhunderts zum nationalen Mythos geworden ist, und seine Reformation wesentlich zur – positiven – Ausprägung einer deutschen Identität beigetragen hat,6 so trifft auf das Bild von Hus und insbesondere den Hussiten hier das Gegenteil zu, denn auch sie tragen identitätsstiftende Züge, allerdings auf umgekehrte Weise, sozusagen ex negativo: Die Bedrohung von außen zwingt zu einer Reaktion, zu einem Zusammenrücken, zur Herausbildung einer wie auch immer gearteten Gemeinschaft, in der etwaige vorher vorhandene Gegensätze jetzt überbrückt werden können.7

3 Vgl. ebd., 213. 4 Vgl. ebd., 600f, 610. Vgl. auch – mit einschlägigem Bildmaterial – Schäufele, Jan Hus und die Reformation, 7–12. 5 In ihrer kommentierten Quellensammlung bietet Petra Hörner einen Überblick mit Ausschnitten aus den (heute fast zur Gänze vergessenen) literarischen Texten (Hörner, Hus. Hussiten). 6 Zur Rolle Luthers als nationaler ,Mythos‘ der Deutschen vgl. Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, 301–327. 7 Zur Ergänzung ließe sich hier anmerken, dass hinsichtlich der Einschätzung von Jan Hus und den Hussiten im deutschen Kulturraum ähnlich differenziert wird wie zwischen Martin Luther selbst und seinen als Schwärmer geltenden Anhängern (und später Gegnern) um Andreas Karlstadt, Kaspar von Schwenckfeld oder Thomas Müntzer, die in einer Reihe von Unruhen bis hin zu den Bauernkriegen von 1524–1526 gipfelte (zu letzteren vgl. ausführlich Schilling, Martin Luther, 279–321). Dass es sich bei den Hussiten aus der tschechischen Sicht spätestens seit dem 19. Jahrhundert ebenfalls um einen zentralen, positiv wirkenden Faktor bei der Herausbildung einer tschechischen Nationalidentität und bei Jan Hus – in Analogie zur

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Diesen Impuls spiegeln viele der – heute allerdings weitgehend vergessenen – einschlägigen literarischen Werke wider, die sich im deutschen Kulturraum mit den Hussiten auseinandersetz(t)en.8 Besonders eindrucksvoll lässt sich das oben umrissene Schema an August von Kotzebues „vaterländische[m] Schauspiel mit Chören“, Die Hussiten vor Naumburg – uraufgeführt 1802 und erstmals erschienen 1803 –, ablesen.9 Dieses Werk gipfelt in seinem letzten Akt in der Selbstfeier einer neu gestifteten Gemeinschaft und stellt auf diese Weise die (mythische) Ätiologie eines (bis heute existierenden) Festes dar, des Naumburger Kirschfestes. Das Stück fand zur Zeit seiner Entstehung große Beachtung, nicht zuletzt weil es auch die damalige Verunsicherung durch die Niederlagen deutscher Staaten in den ersten Koalitionskriegen gegen Frankreich und die daraus resultierende Suche nach einer nationalen Identität kurz vor dem bereits absehbaren Ende des Heiligen Römischen Reiches reflektiert.10 Bekanntermaßen war Kotzebue ein äußerst fruchtbarer Theaterautor, der mit seinen populären Stücken europaweit große Erfolge feiern konnte, die meisten waren freilich literarische Massenware. Heute erinnert man sich seiner allenfalls im Zusammenhang mit seinem gewaltsamen und auch geschichtlich folgenreichen Lebensende. Für viele seiner Zeitgenossen aufgrund seiner Publizistik und der vermeintlichen Aktivität als russischer Spion zu einer Symbolgestalt für die restaurative Politik nach dem Wiener Kongress geworden, fiel er im März 1819 dem Mordanschlag des national gesinnten Studenten und Burschenschaftlers Karl Ludwig Sand zum Opfer. Diese Bluttat war der Auslöser für die berüchtigten Karlsbader Beschlüsse, die zum Inbegriff der repressiven Politik jener Jahre werden sollten.11

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Stellung Luthers in Deutschland – um einen tschechischen ,Mythos‘ handelt, liegt im Übrigen auf der Hand. Jan Hus und Martin Luther teilen hinsichtlich ihrer Darstellung in der deutschen Literatur das Schicksal, dass es über sie zwar eine beachtliche Zahl von Texten gibt, deren literarische Qualität aber in der Regel kaum über den Durchschnitt hinausragt. Zu Hus vgl. in diesem Zusammenhang die Einführung in Hörner, Hus. Hussiten, 9–32; zu Luther: Luserke-Jacqui, „Ein Nachtigall die waget“; Mecklenburg, Der Prophet der Deutschen. Kotzebue, Die Hussiten vor Naumburg im Jahr 1432. Kursorische Analysen des Stückes finden sich in: Maurer, August von Kotzebue, 163f; Gebhardt, August von Kotzebue, 36f; Schröter, Musik zu den Schauspielen von August von Kotzebue, 152–154; Schröter, August von Kotzebue, 74–78; Walcher, Die Hussiten vor Naumburg im Jahr 1432, 112f. Ein Indiz dafür, dass die Parallelen zwischen Hussiten und Franzosen bzw. zwischen dem hussitischen Anführer Procopius und Napoleon von den Zeitgenossen durchaus wahrgenommen wurden, stellt die Tatsache dar, dass das Stück trotz seines anhaltenden Erfolges im spannungsreichen Klima der Monate vor der preußischen Niederlage von Jena und Auerstedt 1806 von den Spielplänen abgesetzt wurde. (Vgl. Schröter, August von Kotzebue, 88). Für einen kurzen Überblick zu Kotzebues Leben und Werk vgl. etwa Stock, August von Kotzebue, 958–971; Adamzik, August von Kotzebue, 330–335; Lorenz/Zanucchi, Art. Kotzebue, August (Friedrich), 662–664; Kosˇenina, Das eigentliche Theatertalent der Deutschen, 586–591.

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Ungeachtet der Geringschätzung, die diesem Schriftsteller bereits zu seinen Lebzeiten, insbesondere aber durch die spätere Rezeption entgegengebracht wurde,12 ist eine Literaturgeschichte der Dramatik in der Goethezeit ohne Kotzebue nicht denkbar. Neben Rührstücken wie Menschenhass und Reue, mit dem er Ende der 1780er Jahre seinen Durchbruch erzielte, oder Lustspielen wie Die deutschen Kleinstädter zählt zu seinem schriftstellerischen Œuvre eine Reihe historischer Stücke, die sich an der Tradition der im Gefolge von Johann Wolfgang von Goethes Götz von Berlichingen entstandenen Ritterstücke, aber auch an Friedrich Schillers Geschichtsdramen orientierten. Auch Kotzebues Werke mit historischen Stoffen aber zeichnen sich immer durch ihre Nähe zum Rührstück aus, das ja gewissermaßen sein Markenzeichen war.13 Die Hussiten vor Naumburg zählen zu den von Schiller beeinflussten Stücken.14 Kotzebue evoziert eine Kriegssituation, die etwa an Die Jungfrau von Orleans (deren Handlung sich im Übrigen fast zeitgleich mit derjenigen der Hussiten vor Naumburg abspielt), aber auch an die Wallenstein-Trilogie erinnert.15 Das Werk wurde gleich mit seiner Uraufführung in Leipzig zu einem großen Bühnenerfolg, eine Reihe weiterer Aufführungen in Weimar, Wien, Berlin und sogar Paris schloss sich an. Dies lag sicherlich nicht zuletzt an der eigens für das Stück komponierten Bühnenmusik.16 Doch auch der Text als solcher machte große Wirkung, wie etwa Christoph Martin Wielands Brief an Karl August Böttiger nach der Lektüre des Manuskripts der Hussiten zeigt. Mit „ganz ausnehmende[m] Vergnügen“ und „innige[r] Rührung“ habe er es „an einem schönen Morgen […] in dem Tiefurtischen Elysium durchlesen“: 12 Vielen Literaturgeschichten des 19. Jahrhunderts galt er nachgerade als abschreckendes Beispiel, als Negativfolie, von deren Hintergrund sich der (durch dieselben Literaturgeschichten erstellte) Kanon der deutschen Nationalliteratur positiv abheben konnte. Zu dieser Problematik vgl. Winko, Negativkanonisierung. August von Kotzebue, 341–364. 13 Zur ersteren Gruppe zählt etwa Johanna von Montfaucon, zur zweiten Gustav Wasa. Vgl. Klingenberg, Iffland und Kotzebue als Dramatiker, 126 sowie Maurer, August von Kotzebue, 157–159. Vgl. dazu auch Krause, Das Trivialdrama der Goethezeit 1780–1805, 175f. 14 Vgl. von Wiese, Einführung, 15. Wie Schiller verfasste auch Kotzebue im übrigen historische Abhandlungen. Vgl. dazu Elias, August von Kotzebue als Historiker, 117–142. 15 So hat sich Kotzebue über die Jungfrau von Orleans mehrmals begeistert geäußert und sich, in seiner Zeit als Theaterdirektor in Wien, aktiv um eine Aufführung des Wallenstein bemüht. (Vgl. Stock, Kotzebue im literarischen Leben der Goethezeit, 62f). Auch die Stanzen, die Kotzebue in seinem Stück verwendet, entsprechen denjenigen in der Jungfrau von Orleans (vgl. ebd., 67). 16 Für die verschiedenen Aufführungen, insbesondere in Weimar, Wien, Berlin und Paris, wurden unterschiedliche Bühnenmusiken komponiert. Vgl. dazu eingehend das Kapitel „Zur Rezeption der Hussiten vor Naumburg. Weimar – Wien – Berlin – Paris“ in: Schröter, Musik zu den Schauspielen von August von Kotzebue, 141–183. In Bezug auf Salieris Bühnenmusik zur Wiener Aufführung der Hussiten vgl. auch Herrmann, Antonio Salieri und seine deutschsprachigen Werke für das Musiktheater, 306–364. Zum großen Erfolg des Stückes etwa in Berlin vgl. auch Schröter, August von Kotzebue, 74–78.

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Ich müßte mich sehr irren, oder dieses neue Product des Geistes und Herzens unsers unerschöpflichen Freundes ist, in jeder Rücksicht, nicht nur das schönste und vollkommenste aller seiner bisherigen Werke, sondern in Hinsicht auf die Wirkung, die es auf Leser, und Hörer und Zuschauer thun muß, das non plus ultra dessen, was die dramatische Muse über menschliche Gemüther vermag.17

Kotzebue legt das Stück in fünf Akten an und wahrt die Einheit von Ort und Zeit: „Die Scene ist in und vor Naumburg. Die Handlung beginnt am 28. July [1432] mit Tages Anbruch, und endet gegen Abend.“18 Es gibt vier Hauptpersonen, zunächst den Bürgermeister Hildebrand, wohlhabenden Vertreter des Naumburger Stadtpatriziats und kinderlos, und dann den armen, aber aufrechten ,Viertelsmeister‘ Wolf, einfachen Handwerker und Vater von acht Kindern. Der Ausdruck ,Viertelsmeister‘ bezeichnet ein Amt der lokalen Selbstverwaltung insbesondere der einfacheren Bürger, steht also durchaus im Gegensatz zur Stadtspitze. Diese beiden Hauptpersonen verkörpern den (sozialen) Konflikt, der das Gemeinwesen zu Anfang des Stückes bestimmt. Ganz in diesem Sinne ist im Übrigen auch das Bühnenbild gestaltet, das den ersten Akt bestimmt: „Der Markt zu Naumburg. Den Hintergrund nimmt das Rathhaus ein, vor welchem sich in seiner ganzen Länge eine breite Treppe von fünf bis sechs Stufen hinzieht. Rechts im Vordergrunde ein kleines, unansehnliches Haus des Viertelsmeisters Wolf.“19 Dieser Konflikt – soviel sei vorweggenommen – wird eben dadurch beigelegt, dass die Naumburger durch die hussitische Bedrohung zum Zusammenrücken gezwungen sind, wodurch erst eine Gemeinschaft entstehen kann, die diesen Namen auch tatsächlich verdient. Außerdem umfasst das Personenverzeichnis Wolfs Ehefrau Bertha sowie den Gegenspieler der Naumburger, Procopius, den Heerführer der Hussiten. Hinzu kommt eine Reihe von Personengruppen, deren Vertreter nicht einzeln namentlich benannt werden: Ratsherren, Bürger und Bürgerinnen, Landleute, Kinder, ein Herold und schließlich die titelgebenden Hussiten. Der erste Akt spielt, wie erwähnt, auf dem Naumburger Marktplatz und ist zunächst geprägt von einer ländlich-idyllischen Atmosphäre: Ein Chor der Bürger und Bürgerinnen zieht hinaus vor die Stadt, um dort die Ernte einzubringen. Getrübt wird die Stimmung zunächst nur durch die Zukunftssorgen von Bertha, die Angst vor einer drohenden Verarmung ihrer wirtschaftlich ohnehin nicht sehr gut gestellten Familie hat. Wolf jedoch weist diese Bedenken zurück,

17 Kummer (Hg.), Aus August von Kotzebue’s hinterlassenen Papieren, 363f. Wielands Lob bleibt freilich nicht uneingeschränkt. Im Verlauf dieses Briefes macht er Bedenken hinsichtlich der konkreten sprachlichen und metrischen Gestaltung des Stückes geltend. Vgl. dazu Schröter, Musik zu den Schauspielen von August von Kotzebue, 144–147. 18 Kotzebue, Die Hussiten vor Naumburg im Jahr 1432, o.S. 19 Ebd., 1.

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indem er bürgerliche Tugenden wie „Fleiß und Redlichkeit“ beschwört20, und darüber hinaus auf gute Nachbarschaft und Gott vertraut. Doch plötzlich bricht ein Elementarereignis über die Stadt herein: „Man läutet Sturm!“21 Nach einigem Durcheinander stellt sich Folgendes heraus: „Die Feinde sind vor unsern Thoren!“ Wolf: „Die Feinde? welche Feinde?“ Ein Bürger: „Die Hussiten!“ Wolf erschüttert: „Gott sey uns gnädig!“ Bertha, heftig erschrocken: „Gott erbarme sich!/ Sinds die Hussiten, so ists aus mit uns!“22

Aus dieser entsetzten Reaktion wird deutlich, dass die Hussiten essentiell die Bedrohung durch ein feindliches, unbegreiflich erscheinendes Anderes verkörpern. Die plötzlich vom Lande zurückkehrenden Schnitter und auch Flüchtlinge aus umliegenden Gegenden verkünden in ihren Botenberichten die Schrecknisse der jüngsten Kriegshandlungen unweit der Stadt. Ein Bauer: Der Churfürst ist geschlagen!/ Sein stattlich Heer zerstreuet! –/ Es wälzten die Hussiten/ Wie rauschende Wasserfluthen/ Sich über die Gebürge/ Wohl mehr als sechzigtausend,/ Zerstörten Oschaz, Grimma –/ Bei Altenburg gelagert/ Besiegten sie die Sachsen,/ Die auf der blutgen Wahlstatt/ Die Leichen gräßlich häuften!/ Dann flogen Feuerbrände/ In fruchterfüllte Scheunen,/ Auf Gott geweyhte Tempel,/ Die Feuersäule prasselt,/ Und in den Flammen kreischen/ Säuglinge, Greise, Priester –.23

Der Bürgermeister versucht, Ordnung in das Chaos der sich überstürzenden Nachrichten zu bringen. Dann tritt ein Herold der angreifenden Hussiten in Erscheinung und setzt die Naumburger – und mit ihnen die Zuschauer – in Kenntnis: „Fluch bring’ ich der Stadt!“24 In einem langen Monolog übermittelt der Bote eine Erklärung von Procopius, dem Anführer der Hussiten – wodurch Kotzebue nun auch der Gegenseite die Möglichkeit gibt, sich zu rechtfertigen. Ausführlich werden die Ereignisse des Konzils von Konstanz wiedergegeben, wohin Jan Hus nach der Zusicherung freien Geleites gereist und, so der Herold, unter tatkräftiger Mitwirkung des Naumburger Bischofs verraten worden und dann auf dem Scheiterhaufen als „Märtyrer“ gestorben sei. Diese „Greuelthat“ soll nun von seinen „treuen Jünger[n]“ mit „Feu’r und Schwerdt“ gerächt – und die Stadt zerstört werden.25 Dies ist übrigens auch die einzige Stelle im Stück, wo auf die Person des tschechischen Reformators selbst ausführlicher Bezug genommen wird. Der Herold: „Ein frommer Mann hat jüngst in Prag gelebt,/ Johannes Huß, begabt mit hoher Weisheit./ Der Pfaffen Trug, Den Welschen

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Ebd., 6. Ebd., 9. Ebd., 11f. Ebd., 17. Ebd., 20. Ebd., 20–24.

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Kirchenzwang,/ Wußt’ er von Gottes reinem Wort zu scheiden.“26 Mutatis mutandis würde sich eine kurze Charakterisierung Martin Luthers auch nicht anders anhören. Angesichts dieser bedrohlichen Lage bietet sich Wolf an, trotz Todesgefahr und der Tatsache, dass er achtfacher Vater ist, den Hussitenfürsten Procopius aufzusuchen, um zu verhandeln. Seine Kinder empfiehlt er der Gemeinschaft: „Erwirbt mein Tod der Vaterstadt Verschonung,/ Dann sind es nicht mehr Wolfs, dann sind es Naumburgs Kinder!“27 Das Gemeinwesen kann, so lautet der hier vertretene Gedanke, nur dann überleben, wenn die Einzelinteressen zurückgestellt werden. Damit verbunden ist aber auch umgekehrt der Appell an die Verantwortung der Gemeinschaft für den Einzelnen. Somit umreißt Wolf hier mit seinen Worten ein Ideal bürgerlicher Solidarität. In den Akten zwei und drei geht es darum, wie Wolfs Mission zunächst scheitert. Im Rathaussaal berichtet er, dass Procopius unerbittlich auf seinem Vorsatz beharre, Naumburg zu zerstören. In der Führung der Stadt herrscht Uneinigkeit darüber, wie man jetzt vorgehen solle: kämpfen oder kapitulieren? Dabei spielt ein Ratsherr auf den Sieg Davids gegen Goliath an: „Es lebt ein Gott, der einst des Knaben Arm/ Bewaffnet gegen eines Riesen Hohn!/ Er kann noch heut’ – ob kecke Feinde drohn –/ Vernichtung schleudern auf den tollen Schwarm!“28 Wieder ist es aber Wolf, der denjenigen Vorschlag ins Spiel bringt, der sich letztlich durchsetzt: Von den Kindern der Stadt solle eine Bittprozession zu Procopius und den Hussiten durchgeführt werden, um die Herzen der Fremden durch den Appell an deren menschliche Gefühle zu erweichen.29 Und Wolf bietet an, dass seine eigenen acht Söhne den anderen Kindern voran ziehen werden: „Ich bin der reichste! O bey Gott! ich bin der reichste!/ Und dennoch sprech’ ich: nehmt sie hin! es gilt/ Das Heil der Stadt – nehmt meinen ganzen Reichthum!“30 Er malt sich bereits die Harmonie aus, die in der gesamten Stadtgemeinschaft herrschen wird, wenn der Plan glücken sollte: Aus allen Fenstern seh’ ich freundlich nicken,/ Auf allen Straßen jubelnd Volk erscheinen,/ Die Greise wandeln wieder ohne Krücken,/ Es mischet Jung und Alt sich mit den Kleinen,/ Ich lese stummen Dank in Vaterblicken,/ Die Mutterherzen schlagen an dem meinen,/ Die Thräne fließt, es fühlt mit nassen Wangen/ der Feind vom Feind sich

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Ebd., 21. Ebd., 31. Ebd., 43. Vgl. ebd., 52f. Ebd., 57. Übrigens ist auch der Bürgermeister bereits im zweiten Akt ein Verfechter der gesellschaftlichen Solidarität angesichts der Bedrohung von außen: „Was auch geschehe, tragen wirs vereint;/ Denn leichter trotzt der Wald des Sturmes Wuth,/ Wo nachbarlich der Baum das Bäumchen decket,/ Als eine Tanne einzeln auf den Bergen“ (ebd., 38).

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brüderlich umfangen!/ […]/ O selig, wem die schöne That gelungen,/ der ärmste wird der reichste seiner Brüder!31

Der dritte Akt ist nahezu ausschließlich dem Konflikt zwischen Wolf und Bertha gewidmet, die – als Frauengestalt, welche in diesem Stück allerdings wesentlich auf ihre Mutterrolle reduziert wird – den drohenden Verlust ihrer Kinder nicht verwinden kann und schließlich in Ohnmacht sinkt. Dieser Aufzug stellt nicht nur formal, sondern auch gedanklich einen Höhepunkt des Dramas dar, insofern hier der Gegensatz zwischen individuellem und gemeinschaftlichem Interesse pointiert auf die Spitze getrieben wird. Zu den für Kotzebue spezifischen Rührszenen zählt der in einer Regieanweisung ausführlich beschriebene Aktschluss, in dem sich die Kinder um die bewusstlose Mutter scharen, bevor der Zug ins Lager der Hussiten aufbricht.32 Dort spielt schließlich der vierte Aufzug. In der Eingangsszene beschreiben drei hussitische Hauptleute in einer Art Wechselgesang die grausamen Details des Blutvergießens, das sie an Kindern, Müttern, Greisen, Nonnen und Priestern anzurichten gedenken. Der dazugehörige Refrain lautet: „Brüder! dann mischt in den blutigen Greul/ Brüllend der siegenden Rache Geheul!“33 Sie prahlen mit den Mordtaten, die sie im Laufe des Feldzuges bereits begangen haben. Die Szene geht in eine Teichoskopie über, mit deren Hilfe das Herannahen des Kinderzuges beschrieben wird.34 Über die weitere Vorgehensweise herrscht bei den Hussiten kein Zweifel, sie warten nur darauf, bis ihr Feldherr „das Signal zum Schlachten/ Ertheilt“35. Nach der Beschreibung ihrer Untaten in den Botenberichten des ersten Aktes werden die Hussiten hier also endgültig als eine fremdartige Bedrohung von außen etabliert. Eine detaillierte Regieanweisung in der zweiten Szene beschreibt dann, wie die Kinder die ihnen entgegen gereckten Spieße einfach ignorieren und weiter voranschreiten. Die Hussiten aber bringen es nicht fertig, zuzustoßen: „sind wir verzaubert?“36 „Welch’ unsichtbare Macht lähmt mir den Arm? –/ Ein seltsam Grauen schleicht mir durch die Adern –/ Wir stehn gebannt – das ist ein Zauberwerk.“37 Auch Procopius, der aus dem Zelt tritt, kann dem Anblick der um Gnade bittenden Kinder letztlich nicht widerstehen. Zunächst stößt er zwar Drohungen aus, lässt sich aber von Wolf schließlich in einen Austausch von Stichomythien verwickeln, in dem er unterliegt und daraufhin ankündigt, allein dessen Kinder umbringen zu wollen.38 Der höchste Grad an 31 32 33 34 35 36 37 38

Ebd., 59. Vgl. ebd., 89–91. Ebd., 92f. Vgl. ebd., 96–100. Ebd., 101. Ebd., 102. Ebd., 103. Vgl. ebd., 104f.

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Dramatik – und Rührung – ist erreicht, als sich Wolf weigert, zu verraten, welche der Kinder die seinigen sind, diese sich aber aus Angst um den Vater selbst zu erkennen geben. Sie flehen um Gnade, zwei von ihnen klammern sich gar an Procopius fest.39 Das ist zu viel für Procopius und die Hussiten: Sie begnadigen die Kinder und senken ihre Spieße. Regieanweisung an dieser Stelle: „Die Kinder wiederholen frölich [sic!]: Gnade! Und drängen sich alle um Procopius, seine Hände, seine Kniee, seine Füße zu küssen. Er kann sich ihrer Liebkosungen kaum erwehren, hebt ein Kind um das andere in die Höhe und küßt es.“40 Auch Wolf fällt auf die Knie und dankt Gott: „Du starker Gott! Der du wie Wachs die Herzen der Menschen biegest, des Mannes Wut durch Kindes Lallen besiegest!“41 An dieser Stelle löst das Stück die Anspielung auf die alttestamentarische Geschichte von David und Goliath aus dem zweiten Akt ein, humanisiert und harmonisiert diese allerdings, so dass eine Versöhnung der Gegner möglich wird. Musikanten kommen, es wird ein Friedensfest gefeiert, „in den Freudenwein“ rinnen „Freuden-Thränen“42. Jetzt werden Kirschen für die Kinder gebracht, und die Hussiten singen ihnen vor: „Seht der Kirsche lieblich Roth,/ Nehmet, esset,/ Und vergesset,/ Was am Morgen euch bedroht.“43 Wolf beschwört ein zukünftiges Idyll allgemeiner Harmonie und Versöhnung. Und Procop verspricht, dass die Hussiten kampflos abziehen werden: Die Kinder haben ihn besiegt.44 Eigentlich ist die dramatische Handlung zu Ende. Was jetzt noch folgt, ist die Ätiologie des Naumburger Kirschfestes, sinnfällige Manifestation der durch die gemeinsam gemeisterte Gefahr durch das Andere neu gewonnenen – kollektiven und solidarischen – Identität des Selbst. Schauplatz ist ein freier Platz vor der Stadt. Zuerst müssen die Mütter – allen voran Bertha – beruhigt werden, die noch um ihre Kinder fürchten. Erleichterung und Freude brechen aus, als die Kleinen am Horizont zu sehen sind.45 Wolf hat Tränen in den Augen, als er bemerkt: „mich dünkt/ Ich sehe Gott in seinem Himmel lächeln“46. Vor lauter Rührung fallen sich Frauen, die bisher verfeindet gewesen waren, in die Arme und versöhnen sich.47 Die Kinder stürmen auf die Bühne, Wolf erstattet dem Bürgermeister Bericht über das Geschehene.48 Auch die beiden Männer – der eine reich, der andere arm – liegen sich in den Armen, die innergesellschaftlichen Gegensätze werden überbrückt. Der Bürgermeister ruft aus: 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48

Vgl. ebd., 109–111. Ebd., 111f. Ebd., 112. Ebd., 114. Ebd. Vgl. ebd., 120. Vgl. ebd., 126f. Ebd., 133. Vgl. ebd., 130f. Vgl. ebd., 133f.

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Komm an mein Herz, du wackrer Bürger Naumburgs! –/ Ihr aber, nie vergeßt, was dieser Mann/ Im schlichten Rock zur Zeit der Noth euch wurde!/ Oft gieng der Reiche wohl an diesem Armen/ Mit Stolz vorüber […]!/ Von heute an gehören seine Kinder/ Der Stadt, ihm werd’ ein gnügend Eigenthum,/ Und seinen Nahmen nenne dankbar einst/ Die Chronik unsern späten Enkeln!49

Wolf seinerseits bekräftigt die eigene „Bürgertreue“ gegenüber der „Vaterstadt“: „Ja, süße Früchte nenn’ ich Ehr’ und Liebe,/ Doch süßer noch, wenn mit freywill’gem Triebe/ Die Vaterstadt sie eignen Söhnen pflückt!“50 Als sich zeigt, dass die Hussiten tatsächlich abziehen, wird das Kirschfest gestiftet. Der Bürgermeister verkündet: Schöner Tag,/ Durch eines gnadenreichen Gottes Wunder/ Verherrlichet! sey festlich! bleibe festlich/ Für alle kommenden Jahrhunderte!/ So oft die Sonne diesen Tag verkündet,/ Soll unsrer Kinder frohe Schaar hinaus/ Auf die Gebürge ziehn, sich wacker tummeln/ Um den Gedenkstein, auf dem Platz errichtet,/ Wo einst des Böhmer Fürsten Fahne wehte!/ Und dieser Anger, den der Mütter Thränen/ Befeuchtet, nimmer soll der Pflug ihn furchen,/ er werd’ hinfort der Frauenplan genannt./ Ein Volksfest werde dieser Tag gefeyert/ Auf ew’ge Zeiten! Und am Abend kehre/ Der muntre Kinderschwarm mit grünen Zweigen/ Zur Stadt zurück, und singe laut und frölich:/ „Victoria! Sieg über die Hussiten!“/ Daß unsre Noth und Gottes Wunderhülfe/ Den Enkeln unsrer Enkel lehrreich bleibe!51

Der Chor bricht in ein „Hallelujah!“ aus, und das Stück endet mit einem Siegeszug: Die Gemeinschaft feiert sich selbst.52 August von Kotzebue verband seine notorische Theaterwirksamkeit durchaus mit einem Spiel mit gesellschaftlichen Werten und Normen, das auf manche bisweilen allerdings irritierend wirkte. So warf man ihm wechselweise vor, Jakobiner, Reaktionär oder ganz einfach unmoralisch zu sein.53 Wenn viele seiner dramatischen Werke überdies mit der verrufenen Kategorie der Rührstücke in Verbindung gebracht werden, so darf dabei nicht vergessen werden, dass es sich bei der Rührung ja ursprünglich um eine zentrale – wenn auch um 1800 mittlerweile abgesunkene – dramentheoretische Kategorie aus der Gedankenwelt der Spätaufklärung, sprich der Empfindsamkeit und des bürgerlichen Trauerspiels, handelt, auf deren Grundlage, verkürzt gesagt, ja eine Förderung des ethischen Verhaltens der Zuschauer erzielt werden soll, womit durchaus ein pädagogischer Anspruch verknüpft ist. Die gedankliche Auseinandersetzung mit der (potentiellen) Bedeutungsebene seiner literarischen Themen und Stoffe kann man 49 50 51 52 53

Ebd., 134. Ebd. Ebd., 136f. Hervorhebung im Original. Vgl. ebd., 137f. Vgl. dazu Klingenberg, Iffland und Kotzebue als Dramatiker, 83–86 bzw. Stock, Kotzebue im literarischen Leben der Goethezeit, 73–79.

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Kotzebue jedenfalls nicht absprechen, wenngleich er auch diese oft wohl vor allem deshalb eingesetzt haben dürfte, um Wirkung beim Publikum zu erzielen, wenn es sich um leicht vermittelbare, wenig strittige und insofern wohlfeile ,Botschaften‘ handelte. Wenn es eine solche Botschaft in den Hussiten vor Naumburg gibt, dann lautet diese jedenfalls folgendermaßen: Veränderung kann nicht durch Aufstand und Gewalt (Hussiten und – damals mit ihnen fraglos assoziiert – die französischen Revolutionäre und ihre Nachfolger in Gestalt der Heerscharen Napoleons) herbeigeführt werden, sondern nur durch die Entwicklung eines wie auch immer gearteten Bürgersinns, der erst aus der Überwindung von auch sozialen Gegensätzen entstehen kann – und hierfür fungiert in diesem Stück die reformatorische Bewegung der Hussiten eben als Katalysator im Rahmen eines kulturell-gesellschaftlichen Lernprozesses. So hat Kotzebue sein Stück, in dem eine „schöne Tat“ die Rettung bringt, nicht unweit der Gedankenwelt der Klassik positioniert, in der Ethik und Ästhetik unauflöslich miteinander verbunden sind. In einigen der obigen Zitate, insbesondere hinsichtlich des angestrebten harmonischen Zustandes der Gesellschaft, stellen sich unwillkürlich Assoziationen an Schillers Sprache ein.54 Und auch wenn August von Kotzebue sein (freilich vor dem Einschnitt von 1806 bzw. den Befreiungskriegen 1813/14 entstandenes) Stück als „vaterländisches Schauspiel“ bezeichnet, so haftet ihm doch nichts Nationalistisches an, im Gegenteil: Ganz im Sinne der Klassik gehören auch die ,barbarischen‘ Hussiten letztlich der Menschheit an, auch sie sind ,humanisierbar‘ durch die ,schöne Tat‘; pointiert ausgedrückt handelt es sich bei ihnen sozusagen um Kotzebues Taurer, und bei Procopius um seinen Thoas. Vom durchschlagenden Erfolg dieses „vaterländischen Schauspiels“ zeugt die 1811 erschienene Schrift Die Sage von den Hussiten vor Naumburg und der Ursprung des Naumburger Kirschfestes. Schon der erste Satz des Vorwortes lautet: Bei dem so allgemeinen Interesse, mit welchem vor mehreren Jahren das Schauspiel des Hrn. von Kotzebue: die Hussiten vor Naumburg aufgenommen wurde, konnte es nicht fehlen, daß auch der demselben unterliegende Stoff, eine bis dahin ausser Naumburg wenig bekannte Sage, ein abgesondertes, historisches Interesse erregte, und die Frage

54 Um nur ein Beispiel herauszugreifen: die oben zitierte Stelle aus dem zweiten Akt („es fühlt […] der Feind vom Feind sich brüderlich umfangen!/ […]/ O selig, wem die schöne That gelungen,/ der ärmste wird der reichste seiner Brüder“; Kotzebue, Die Hussiten vor Naumburg im Jahr 1432, 59) erinnert an einige Stellen aus der Ode an die Freude, und auch Frithjof Stock verweist auf die erstaunlichen Parallelen zwischen den Kinderszenen in den Hussiten vor Naumburg und Wilhelm Tell. (Vgl. Stock, Kotzebue im literarischen Leben der Goethezeit, 68f).

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veranlaßte: was von dieser Sage selbst zu halten sey? ob und in wie weit sie auf sicherm Grunde beruhe?55

Die Skepsis, die der Verfasser dieser Schrift hier an den Tag legt, ist berechtigt, denn die Hussiten waren wohl nie vor Naumburg. Die Pointe an der Sache ist also, dass bereits Kotzebues vermeintlich historische Quelle in dieser Hinsicht eine raffiniert gemachte Fälschung ist, oder, freundlicher ausgedrückt, selbst ein literarischer Text. Die erste narrativ wirklich kohärente Darstellung stammt nämlich – unter Berufung auf eine obskure handschriftliche Chronik – von dem später als „dreister Geschichtsfälscher“ notorisch gewordenen Johann Georg Rauhe. Rauhes Schrift erschien im Jahre 1782 und nennt sich Die Schwachheit über die Stärke, oder gründliche Nachricht von dem 1432 vor Naumburg sich gelagerten Heere der Hussiten unter ihrem Heerführer Procopio, und dem daher entstandenen Naumburgischen Schul- oder Kirschfest, alles aus sehr raren und seltenen Urkunden zusammengetragen.56 Offenbar hatte also schon dieser vermeintliche Chronist ein feines Gespür für die Attraktivität dieses Stoffes, indem er ein tatsächliches Fest, nämlich ein traditionelles Schulfest, mit einer historisch nicht eindeutig belegbaren Belagerung der Stadt durch die Hussiten zusammenbrachte.57 Die Verwendung von Kindern in einer derartigen Geschichte unter dem Tenor ,Schwachheit gegen Stärke‘ ist ja durchaus verlockend und findet sich etwa auch in der sogenannten Dinkelsbühler Kinderzeche, wo es ebenfalls Kinder sind, welche die Angreifer erweichen und so ihre Stadt retten können, nur handelt es sich in diesem Falle um die Schweden im Dreißigjährigen Krieg. In diesem Zusammenhang ein Nachtrag: Das Naumburger Kirschfest gibt es bis heute, und auch weitere Feste und Festspiele in anderen Städten Deutschlands, deren geschichtliche Vergangenheit eine Verbindung zu den Hussiten aufweist, so etwa in Bernau bei Berlin oder im ostbayerischen Raum, nämlich in Neunburg vorm Wald, Bärnau und Furth im Wald.58 Dass diese Gedenkveran55 Lepsius, Die Sage von den Hussiten vor Naumburg, 3. Ein weiteres Zeugnis der Popularität von Kotzebues Hussiten legt auch eine noch 1803 unter dem Titel Herodes vor Bethlehem erschienene dramatische Parodie von August Mahlmann ab. 56 Mitzschke, Art. Rauhe, Johann Georg, 220. 57 Lepsius verweist in diesem Zusammenhang auch auf eine Schrift des Naumburger Stadtschulrektors Johannes Töpfer von 1671, De honesta laboris intermissione, sowie Bemerkungen eines Lehrers namens Jacob Franke in den Miscellaneis Numbergicis von 1681 (vgl. Lepsius, Die Sage von den Hussiten vor Naumburg, 12f). Vgl. dazu auch Schröter, Musik zu den Schauspielen von August von Kotzebue, 149–151). 58 Und auch andere Spuren finden sich gerade in diesen Grenzgebieten noch zuhauf: Sowohl auf deutscher als auch, selbstverständlich, auf tschechischer Seite haben die Hussiten eine Vielzahl von Spuren im kollektiven Gedächtnis hinterlassen, angefangen von Feld- und Gedenksteinen, über die künstlerische Ausgestaltung von Kirchen bis hin zu Sagen und Geschichten, die in die oben erwähnten Festspiele mündeten. Für das ostbayerisch-tschechische Grenzgebiet vgl. hierzu etwa Grundler/Dorfner, Hussen – Hymnen – Helden – Mythen.

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staltungen ursprünglich auf kriegerische Ereignisse zurückgehen, hat heute keine Bedeutung mehr. Seit etlichen Jahren gibt es eine kulturelle Initiative, die deutsche und tschechische Hussitenstädte miteinander verbindet, ein Versuch, nicht nur das Zusammenfinden innerhalb der eigenen Gemeinwesen in Abgrenzung gegen andere zu betonen, sondern vielmehr – und auch dies ist im oben angedeuteten Sinne durchaus eine Weiterführung des Schlusses von Kotzebues Hussiten – die Gemeinsamkeit mit diesen anderen.59 Das Verbindende ist ein grenzüberschreitendes kulturelles Erbe, die Geschichte der und die Geschichten um die Hussiten.

Literatur Adamzik, Sylvelie, August von Kotzebue, in: G.E. Grimm/F.R Max (Hg.), Deutsche Dichter. Leben und Werk deutschsprachiger Autoren, Bd. 4: Sturm und Drang, Klassik, Stuttgart 1989, 330–335. Elias, Otto-Heinrich, August von Kotzebue als Historiker, in: K. Gerlach/H. Liivrand/K. Pappel (Hg.), August von Kotzebue im estnisch-deutschen Dialog, Hannover 2016, 117– 142. Gebhardt, Armin, August von Kotzebue. Theatergenie zur Goethezeit, Marburg 2003. Grundler, Franz/Dorfner, Dominik, Hussen – Hymnen – Helden – Mythen. Auf den Spuren der Hussiten, Amberg 2005. Herrmann, Timo Jouko, Antonio Salieri und seine deutschsprachigen Werke für das Musiktheater, Leipzig 2015. Höhne, Steffen, Die literarische Instrumentalisierung der böhmischen Geschichte im Vormärz. Hus und die Hussiten, in: K.-H. Ehlers/S. Höhne/V. Maidl/M. Nekula (Hg.), Brücken nach Prag. Deutschsprachige Literatur im kulturellen Kontext der Donaumonarchie und der Tschechoslowakei. Festschrift für Kurt Krolop zum 70. Geburtstag, Frankfurt a.M./Berlin/Bern 2000, 43–80. Hörner, Petra, Hus. Hussiten. Dokumentation literarischer Facetten im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M./Berlin/Bern 2002. Klingenberg, Karl-Heinz, Iffland und Kotzebue als Dramatiker, Weimar 1962. Kosˇenina, Alexander, Das eigentliche Theatertalent der Deutschen: August von Kotzebue (1761–1819) zum 250. Geburtstag, Zeitschrift für Germanistik N. F. 21/3, 2011, 586–591. Kotzebue, August v., Die Hussiten vor Naumburg im Jahr 1432. Ein vaterländisches Schauspiel mit Chören in fünf Akten, Leipzig 1803. Krause, Markus, Das Trivialdrama der Goethezeit 1780–1805. Produktion und Rezeption, Bonn 1982. Kummer, Paul Gotthelf (Hg.), Aus August von Kotzebue’s hinterlassenen Papieren, Leipzig 1821. 59 Die an der Initiative teilnehmenden Städte finden sich in: Männer/Návara, Spolecˇné deˇjiny spojují. Vgl. dazu auch das Interview mit den beiden Initiatoren in: Grundler/Dorfner, Hussen – Hymnen – Helden – Mythen, 56–58.

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Lepsius, Carl Peter, Die Sage von den Hussiten vor Naumburg und der Ursprung des Naumburger Kirschfestes, Zeitz 1811. Lorenz, Sabine/Zanucchi, Mario, Art. Kotzebue, August (Friedrich) von, Literaturlexikon, W. Killy (Hg.), Bd. 6, 2009, 662–664. Luserke-Jacqui, Matthias, „Ein Nachtigall die waget“. Luther und die Literatur, Tübingen 2016. Männer, Theo/Návara, Jirˇí, Spolecˇné deˇjiny spojují/Gemeinsame Geschichte verbindet. Spolecˇenstvi meˇst s husitskou minulostí a tradicí, Tábor/Neunburg vorm Wald 2000. Maurer, Doris, August von Kotzebue. Ursachen seines Erfolges. Konstante Elemente der unterhaltenden Dramatik, Bonn 1979. Mecklenburg, Norbert, Der Prophet der Deutschen. Martin Luther im Spiegel der Literatur, Stuttgart 2016. Meyer, Jörg F., Verehrt, verdammt, vergessen. August von Kotzebue. Werk und Wirkung, Frankfurt a.M. 2005. Mitzschke, Paul, Art. Rauhe, Johann Georg, Allgemeine Deutsche Biographie 53, 1907, 220–223. Münkler, Herfried, Die Deutschen und ihre Mythen, Reinbek bei Hamburg 2010. Schäufele, Wolf-Friedrich, Jan Hus und die Reformation. Vom Nutzen und Nachteil historischer Kontinuitätskonstruktionen, in: M. Winzeler (Hg.), Jan Hus. Wege der Wahrheit. Das Erbe des böhmischen Reformators in der Oberlausitz und in Nordböhmen/Jan Hus. Cesty Pravdy. Deˇdictví cˇeského reformátora v Horní Luzˇici a v seˇ echách, Görlitz 2015, 7–12. verních C Schilling, Heinz, Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs. Eine Biographie, München 2017. Schröter, Axel, August von Kotzebue. Erfolgsautor zwischen Aufklärung, Klassik und Frühromantik, Weimar 2011. – Musik zu den Schauspielen von August von Kotzebue. Zur Bühnenpraxis während Goethes Leitung des Weimarer Hoftheaters, Sinzig 2006. Stock, Frithjof, August von Kotzebue, in: B. Wiese (Hg.), Deutsche Dichter des 18. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk, Berlin 1977, 958–971. – Kotzebue im literarischen Leben der Goethezeit. Polemik, Kritik, Publikum, Düsseldorf 1971. Walcher, Bernhard, Die Hussiten vor Naumburg im Jahr 1432, in: J. Birgfeld (Hg.), Kotzebues Dramen. Ein Lexikon, Hannover 2011, 112f. Wiese, Benno v., Einführung, in: J. Mathes (Hg.), August von Kotzebue: Schauspiele, Frankfurt a.M. 1972, 7–39. Winko, Simone, Negativkanonisierung. August von Kotzebue in der Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, in: R. v. Heydebrand (Hg.), Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung, Stuttgart/ Weimar 1998, 341–364.

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Internetquelle Krzenck, Thomas, Hussiten, in: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, http://ome-lexikon.uni-oldenburg.de/58483.html (letzter Zugriff am: 10. Dezember 2017).

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Prophet und Heiliger der Reformation? Konfessionelle Aspekte des Dürer-Bildes in den Romanen von Armin Stein, Rudolf Pfleiderer und Hermann Clemens Kosel

Der Mythos von Albrecht Dürer als Genius der deutschen Kunst an der Wende zur Neuzeit wurde weitgehend von der Romantik geprägt.1 Mehrere Faktoren haben diesen Prozess beeinflusst, unter anderem die damals verbreitete Vorstellung vom Künstler als Originalgenie und Medium göttlicher Eingebung, die ihn zum Priester der romantischen Kunstreligion emporsteigen ließ. Eine nicht zu unterschätzende Voraussetzung für die Ikonisierung des Nürnberger Meisters war auch die politische Lage Deutschlands in jener Zeit. Die Napoleonischen Kriege, die die bisherige Ordnung in Europa erschütterten und dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation ein Ende setzten, fungierten als eine Art ‚Katalysator‘ für die Idee des deutschen Nationalstaates und gaben den entscheidenden Impuls zu einer intensiv betriebenen Suche nach historischen Personen und Ereignissen, die als Träger nationaler Mythologie in Frage kommen könnten.2 Dürer, ein zeit seines Lebens der freien Reichsstadt Nürnberg verbundener Maler und dabei ein Selfmademan, dessen Legende bereits in den Viten Giorgio Vasaris oder der Teutschen Academie Joachim von Sandrarts begründet war, erschien geradezu prädestiniert, Projektionsfläche dieser soziopolitisch gefärbten Erwartungen und Wünsche zu werden, nicht nur in der Rolle eines prototypischen deutschen Malers, sondern auch „eines imaginären deutschen Nationalcharakters, belegt mit den Attributen eines Deutschtums, das den Romantikern als ideal erschien“3. Der Dürer-Kult in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich im Rhythmus der fortschreitenden ‚Entdeckung‘ Nürnbergs als Hort der altdeut1 Bänsch, Zum Dürerbild der literarischen Romantik, 259–274; Pirsich, Die Dürer-Rezeption in der Literatur des beginnenden 19. Jahrhunderts, 304–333; Białostocki, Dürer and his critics, insb. Kap. IV: The two worlds of arts: Dürer versus Raphael (73–90), V: The artist’s divinity (91– 143), VII: The „Melancholy“ and „Knight“ in the Romantic vision (189–218); Schauerte, „… Erinnerung an den vortrefflichsten Bürger der Stadt und ihre ehrenvollste Zeit“, 29–33. 2 Hermand, Die gescheiterte Hoffnung, 9–23. 3 Pirsich, Die Dürer-Rezeption in der Literatur des beginnenden 19. Jahrhunderts, 310; vgl. auch Pahl/Werner, Variation als Aneignung, 90f.

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schen Kunst. Die ersten Ecksteine für dieses Narrativ legten Ludwig Tieck und Wilhelm Heinrich Wackenroder. Herzensergießungen eines knstliebenden Klosterbruders, Franz Sternbalds Wanderungen und Phantasien über die Kunst waren wirkmächtige Texte, die auf die einst florierende Stadt in Franken aufmerksam machten und das idealisierte Bild des Albertus Noricus kodifizierten, das von mehreren späteren Autoren repetiert und nicht selten trivialisiert wurde. Im Mittelpunkt standen dabei Dürers psychologische und ethische Qualitäten. Den Kern seines nicht nur literarisch konstruierten Charakters bildeten Bescheidenheit und Einfachheit, denkerische Veranlagung sowie tiefe Religiosität gepaart mit makelloser Moral.4 Festzuhalten ist, dass die schriftstellerische Produktion um Dürer in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zumeist aus Dramen und Gelegenheitsgedichten bestand, die nur bedingt die Möglichkeit boten, eine historische und konfessionelle Problematik zu thematisieren. Die Frage, ob der Maler bis zu seinem Lebensende ein treuer Sohn der katholischen Kirche geblieben war, wurde zwar gestellt, aber sie war im Grunde genommen ohne Brisanz für die damalige Dürer-Debatte. Bei Wackenroder und Tieck „scheint sich Dürer der Reformation innerlich und äußerlich vollkommen angeschlossen zu haben […], gleichzeitig wird er jedoch mit den Attributen eines geradezu mystischen Katholizismus belegt“5, was allerdings vor dem Hintergrund der universalistischen und damit auch überkonfessionellen Bestrebungen der Romantik völlig einleuchtend ist. Hinzu kommt noch, dass die sich damals so klar abzeichnende Tendenz, Dürer zum Heros der ‚gesamtdeutschen‘ Geschichte zu stilisieren, wenig Ansatzpunkte dafür bot, den Künstler „den Katholiken des zersplitterten Reiches durch eine allzu starke evangelische Vereinnahmung zu entfremden“6. Die Diskussion um das Bekenntnis des Malers entfachte sich erst nach der Reichsgründung 1871.7 Hintergrund dieses mitunter recht verbissenen Streits bildeten vor allem der um sich greifende Nationalismus, die Dominanz Preußens im neuen „kleindeutschen“ Staatsgebilde und konfessionelle Spannungen, die durch den Kulturkampf verschärft wurden. Die den preußischen Führungsanspruch untermauernde Gleichsetzung von ‚deutsch‘ und ‚protestantisch‘ implizierte ein bestimmtes Dürer-Bild, das die katholische Konfession ausschloss. 4 Vgl. vor allem Bänsch, Zum Dürerbild der literarischen Romantik; Pirsich, Die Dürer-Rezeption in der Literatur des beginnenden 19. Jahrhunderts. Zur ‚Entdeckung‘ und Literarisierung Nürnbergs vgl. unter anderem Brockmann, Nuremberg; Möseneder (Hg.), Nürnberg als romantische Stadt; Grote, Die romantische Entdeckung Nürnbergs; Knop, Der romantische Blick, 15–19; Helfrecht, „Nürnberg!“, 21–26. 5 Pirsich, Die Dürer-Rezeption in der Literatur des beginnenden 19. Jahrhunderts, 311. 6 Schauerte, Albrecht Dürer als Zeitzeuge der Reformation, 38. 7 Ebd., 38–40; vgl. auch Białostocki, Dürer and his critics, Kap. VIII: Dürer in the agony of German ideologies (219–242), X: Dürer and the Reformation (265–307); zur Diskussion über Dürers Bekenntnis vgl. Sebaß, Dürers Stellung in der reformatorischen Bewegung, 79–84.

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Exemplarisch hierfür ist die Aussage Christian Ernst Luthardts, eines in Wittenberg promovierten Theologen, der Dürer 1875 als den „deutscheste[n] aller deutschen Künstler, und de[n] evangelischsten“8 zugleich apostrophierte. Ein Jahr später erschien die vielgelesene Dürer-Biographie von Moritz Thausing, dem Direktor der Wiener Albertina, einem aus Böhmen gebürtigen Katholiken. Der wissenschaftlichen Korrektheit halber versäumte er es in seinem Werk nicht, auf die positive Einstellung des Malers zur Reformation und die diesbezüglichen Quellen einzugehen, was diverse Reaktionen auf der katholischen Seite nach sich zog.9 Im polemischen Eifer der nachfolgenden Jahrzehnte fehlte es weder an Übertreibungen und Überinterpretationen mit Endgültigkeitsanspruch noch versöhnlichen und besonnenen Stellungnahmen. So vetrat Konrad Lange die These, Dürer sei „zwar persönlich ein Freund und Bewunderer Luthers“ gewesen, aber „als Künstler durchaus auf dem Boden der katholischen Kirche“ geblieben, und „höchstens in seinen letzten sieben Jahren [vielleicht] ein lutherischer Künstler“ geworden.10 Als ‚unwiderlegbare‘ Hauptbeweise für Dürers Konversion wurden vornehmlich seine eigenen Aussagen herangezogen, darunter der Wunsch nach einer persönlichen Begegnung mit Luther, geäußert in dem bekannten Brief an Georg Spalatin von 1520, und die sogenannte Luther-Klage im Tagebuch der niederländischen Reise, niedergeschrieben nach der Nachricht von der Entführung und mutmaßlichen Ermordung des Reformators auf dem Heimweg vom Reichstag in Worms, sowie die Tatsache, dass der Meister die Vier Apostel, sein letztes großes Werk, mit Zitaten aus der Luther-Bibel versehen hatte. Das Hauptargument dafür, dass der Maler kurz vor seinem Tod zur römischen Kirche zurückgekehrt sei, bildete hingegen für die katholischen Dürer-Biographen und Bewunderer die Aussage Willibald Pirckheimers in seinem vielzitierten Brief an Johann Tschertte in Wien.11 Der Nürnberger Patrizier hatte darin seine Enttäuschung über die Reformation und seine Distanzierung von Luther zum Ausdruck gebracht, obwohl er „anfenglich auch gut lutherisch“ war, „wie auch unser Albrecht seliger“12. Die meisten eifrigen Diskutanten vergaßen dabei, dass die Frage nach dem Bekenntnis des Künstlers de facto anachronistisch war, denn 8 Zitiert nach: Schauerte, Albrecht Dürer als Zeitzeuge der Reformation, 40. 9 Vgl. ebd. 10 Lange, War Dürer ein Papist?, 277; vgl. auch Sebaß, Dürers Stellung in der reformatorischen Bewegung, 79. 11 Zu den Quellen zum Fragenkomplex Dürer und die Reformation vgl. insb. Sebaß, Dürers Stellung in der reformatorischen Bewegung; Schauerte, Albrecht Dürer als Zeitzeuge der Reformation, 18–33, 41–47, vgl. auch z. B. den oben erwähnten Artikel Langes, der einen guten Einblick in die Debatte um Dürers Bekenntnis im ausgehenden 19. Jahrhundert gibt. Langes Streitschrift entstand in Reaktion auf die „klerikale“ Biographie von Weber, Albrecht Dürer, sein Leben, Wirken und Glauben, die wiederum als Exempel der katholischen ‚Beweisführung‘ dienen kann. 12 Scheible (Hg.), Willibald Pirckheimers Briefwechsel, 436.

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eine Grenzziehung zwischen der katholischen und der zu Dürers Lebzeiten erst in statu nascendi begriffenen evangelischen Kirche so gut wie unmöglich ist.13 Die Debatte um das Bekenntnis des Nürnberger Meisters, die vorwiegend in publizistischen und wissenschaftlichen Schriften ausgefochten wurde, fand auch in der erzählenden Literatur des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts ihren Niederschlag, was im Folgenden anhand von drei ausgewählten Dürer-Romanen aus dieser Zeit stichprobenartig besprochen werden soll. Dürers Konversion wurde von vielen Autoren als Selbstverständlichkeit angesehen. Meist wurde er sogar als Verfechter und größter künstlerischer Exponent der Reformation dargestellt, dessen Werke eine schöpferische Umsetzung Luthers Lehre und somit ein Fundament der deutschen Identität gebildet hätten. Dieser Gedanke manifestiert sich bereits auf dem Titelblatt des 1892 erschienenen Romans von Armin Stein Albrecht Dürer14, wo im Sockel einer architektonischen Umrahmung im Stil der deutschen Renaissance zwei Medaillons mit Bildnissen von Luther und Hutten platziert sind. Stein (eigentlich Hermann Otto Nietschmann, 1840–1929) war ein evangelischer Pfarrer, Dichter und Komponist und vierzig Jahre lang an der Moritzkirche in Halle an der Saale tätig. Aus seiner Feder kamen mehrere biographische Romane, die sich den wichtigsten Persönlichkeiten der deutschen Kulturgeschichte, darunter Luther, Melanchton und Katharina von Bora, widmeten.15 In Steins Dürer-Roman fühlt sich der Protagonist angesichts der Missbräuche der katholischen Kirche noch lange vor dem Auftritt Luthers berufen, „dem ganzen Volke [zu] predigen“16. In extenso werden im Werk die Luther-Klage17 und die Inschriften auf den Vier Aposteln18 zitiert sowie alle Aufträge von Friedrich dem Weisen aufgezählt. Der Maler kennt Luthers Schrift Das heilige Vaterunser19 fast auswendig und nachdem die Nachricht von dessen Thesen Nürnberg erreicht hat, bekennt er mit Eifer: Dem Martin Luther hat meine Seele zugejauchzet, seit ich etwas von ihm vernommen, und in mir sprach’s: der ist’s, der hat die Wahrheit! Sollte es Gott abermals zulassen, daß Satanas ihm sein Werkzeug zerschlägt? O, mehr und immer mehr möchte ich von Luther hören und mich von ihm in alle Wahrheit führen lassen. Denn jetzund bin ich noch wie einer, der lange im Finstern gesessen und mit geblendeten Augen an dem hellen Tage hilflos tappt.20

13 14 15 16 17 18 19 20

Sebaß, Dürers Stellung in der reformatorischen Bewegung, 82. Stein, Albrecht Dürer. [Stein], Armin Stein (siehe Link im Literaturverzeichnis). Stein, Albrecht Dürer, 85. Ebd., 213–216. Ebd., 226–228. Ebd., 177. Ebd., 179f.

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Stein arrangiert auch eine Begegnung Dürers mit Luther, bei der sich die beiden Großen als Gleichgesinnte gegenüberstehen.21 Im Roman wird darüber hinaus der Inhalt des bereits angesprochenen Briefs an Tschertte relativiert, indem die Rückkehr Pirckheimers zum katholischen Lager als eine zum Teil erzwungene Entscheidung dargestellt wird, die „den stolzen Mann zu Boden” geworfen habe.22 Dürer weicht hingegen nicht vom Weg der Reformation ab, er liest immer wieder in Luthers Bibelübersetzung, deren Sprache „sich ins Ohr und von dem Ohr ins Herz hineinschmeichelte“23. Diese Lektüre bereitet ihn für den Empfang der Kommunion in beiderlei Gestalt vor, was ihm ein Erlebnis religiöser Erfüllung bereitet: Meine Seele erhebet den Herrn, und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilands. Jetzt erst weiß ich, daß ich ihn in mir habe, der für mich in den Tod gegangen ist, und mich seiner ganz getrösten kann. O Mann Gottes, Martin Luther, Gott segne dich und behüte dich! Wie soll ich dir danken, was du an mir gethan!24

Aus dieser Erfüllung heraus keimt in Dürer der Gedanke auf, nach dem Pinsel zu greifen, um „den evangelischen Glauben bildlich dar[zu]stellen“25. Bald entstehen die Vier Apostel, d.i. „die Gestalten derer […], welche [das Evangelium] von dem Herrn empfangen und der Welt verkündet hatten“26, wobei die Gesichtszüge Johannes’, des Lieblingsevangelisten Luthers, an Philipp Melanchton erinnern. Die Stilisierung des Malers zum Heiligen der neuen Kirche erreicht ihren Höhepunkt in der Szene seines Todes. In seinen letzten Lebenstagen findet der kranke Meister Trost in den Worten des Johannes-Evangeliums (in Luthers Übersetzung), das ihm von seiner Frau vorgelesen wird.27 Entgegen den historischen Tatsachen (Dürer starb am Montag der Karwoche 1528) lässt Stein seinen Protagonisten am Karfreitag das Zeitliche segnen, und zwar genau um 9 Uhr, als die Glocken der Nürnberger Kirchen zur Erinnerung an den Tod Christi läuten.28 Dadurch wird der Maler, der zunächst als Prophet der Reformation dargestellt wurde, schließlich zum Kreuzesnachfolger und zum Heiligen des neuen Bekenntnisses stilisiert. Die ‚protestantische‘ Perspektive liegt im Roman nicht nur dem literarisch konstruierten Lebenslauf des Künstlers zugrunde, sondern sie steuert auch die Lektüre von Dürers Werken. So werden die Apokalypse und insbesondere die Vier Apostel von Stein als Bildpredigten aufgefasst. Aus seiner konfessionellen 21 22 23 24 25 26 27 28

Ebd., 195f. Ebd., 221. Ebd., 223. Ebd. Ebd., 225. Ebd. Ebd., 234. Ebd., 236.

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Sichtweise heraus interpretiert der Autor sogar Dürers Madonnen – ein durchaus katholisches Thema. Stein argumentiert nämlich, dass in den Marien-Bildnissen des Nürnbergers nicht die Mutter Gottes, sondern das Jesuskind das eigentliche Thema der Darstellung sei: eine genauere Betrachtung aller dieser Bilder mußte lehren, daß dem Künstler selbst nichts ferner gelegen hatte, als diese Abgötterei [die Verehrung Mariens – T.Sz.] zu fördern. Wer Augen hat zu sehen, der sieht, daß die Jungfrau Maria auf den Bildern Dürers nicht die eigentliche Hauptperson ist: das göttliche Kind ist es vielmehr, um das sich alles dreht. Ihm dienet alles, die Engel und die Heiligen und mit ihnen auch die, aus deren Schoße es hervorgegangen war. Nicht vom Heiligenschein umstrahlt erscheint Maria auf den Bildern Dürers, sondern als ein rechtes, echtes Menschenkind, ja wie eine rechte, echte Nürnberger Mutter in der Nürnberger Tracht.29

Einer verblüffend ähnlichen Argumentation, die womöglich auf die Lektüre derselben historischen Studien über Dürer zurückzuführen ist, bedient sich auch Rudolf Pfleiderer (1841–1917) in seinem Roman Albrecht Dürer.30 Der Autor dieses für jugendliche Leser bestimmten Werkes, das voll von historischen Erklärungen und Exkursen ist, war Kunsthistoriker, Erzieher und evangelischer Pfarrer. 1917, anlässlich des 400-jährigen Reformationsjubiläums, wurde posthum sein Artikel Dürer gehört uns!31 veröffentlicht, der einen der Höhepunkte der protestantischen Vereinnahmung des Nürnberger Malers markiert. In Pfleiderers Roman wird, wie bei Stein, außer auf Dürers Madonnen32 auch auf die Apokalypse eingegangen, die als Ausdruck der tiefen Frömmigkeit des Künstlers und seiner antipäpstlichen Einstellung interpretiert wird.33 An einer anderen Stelle äußert sich der Autor über die wesentliche Rolle von Dürers Werken im Prozess der Bildung der deutschen Nation, wobei der Maler mit Luther gleichgesetzt wird. Dürer habe als Kupferstecher und Zeichner für den Holzschnitt zur religiösen und sittlichen Bildung des deutschen Volkes mehr beigetragen, als irgend ein Anderer, Künstler oder Schriftsteller, ausgenommen den Einen, dem er an Seelenadel und Volkstümlichkeit wohl zu vergleichen ist, dem er als Vor- und Mitarbeiter, nur mit anderen Mitteln, zur Seite steht, Martin Luther.34

Dem letzten großen Ölgemälde des Nürnbergers, den Vier Aposteln, die „das erste und zugleich größte Kunstwerk des Protestantismus“35 seien, kommt die 29 Ebd., 175. 30 Pfleiderer, Albrecht Dürer. Ein altdeutsches Bürger- und Künstlerleben. 31 Pfleiderer, Albrecht Dürer gehört uns!, 321–325, vgl. auch Pfleiderer, Albrecht Dürer als Dichter, 265–268. 32 Pfleiderer, Albrecht Dürer, 145. 33 Ebd., 70–79. 34 Ebd., 57. 35 Ebd., 151.

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Funktion eines „Bekenntnisses“ zu. Es lautet: „D a s E v a n g e l i u m a l l e i n i s t der Quell unserer Erkenntnis und die Grundfeste der Kirc h e .“36 Wiederum wird dabei auf Johannes, „unseres Luther Lieblingsevangelisten“, hingewiesen. Der Maler habe „ihn voran, und den Römischen Hauptapostel Petrum hinter ihn gestellt, als welcher seine Schlüssel nur aufgrund der Schrift trägt und handhaben soll, nicht aus päpstlicher Gewalt“37. Pfleiderer setzt sich auch mit der seiner Meinung nach irrtümlichen Ansicht („zumal von katholischer Seite“)38 auseinander, „daß Dürer nur die 4 Temperamente habe darstellen wollen und nichts weiter“39. Auch an anderen Stellen finden sich im Roman direkte Bezugnahmen auf die Debatte um das Bekenntnis des Künstlers, der „von Anfang an“, so Pfleiderer, „mitten, ja vorne dran im Kreis der Nürnberger Reformationsfreunde“40 gestanden habe, „was auch eine blinde, parteiliche Geschichtsschreibung sagen mag“41. Wie bereits erwähnt, war es der Brief Pirckheimers, der es ermöglichte, die Relativierung der lutherischen Sympathien Dürers in seinen letzten Lebensjahren oder gar seine ‚Rückkonversion‘ zu begründen. Die religiösen Zweifel des Künstlers, sein Hin- und Herpendeln zwischen Rom und Wittenberg, bargen großes literarisches Potenzial und konnten als Grundlage einer frappanten Persönlichkeitszeichnung verwertet werden. Diese Möglichkeit nahm Hermann Clemens Kosel (1867–1945) in seiner Dürer-Trilogie42 wahr. Dieser aus Böhmen stammende Schriftsteller, Maler, Grafiker und Fotograf, der am Anfang des 20. Jahrhunderts ein renommiertes Porträtatelier in der Hauptstadt der Donaumonarchie betrieb,43 war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Katholik – es ist nämlich bekannt, dass er 1896 seinen Sohn Hermann in der Wiener Karl-Borromäus-Kirche taufen ließ.44 In der literarischen Welt wurde Kosel zunächst als Lyriker anerkannt; später wandte er sich dem biographischen Roman zu. Dürer, erschienen 1923–1924, war sein Debüt auf diesem Gebiet, gefolgt von Elisabeth Vigée-Lebrun (1925) und Michelangelo (1931). Kosels Stärke ist vor allem die gekonnte Darstellung der psychologischen Komplexität seiner Figuren sowie des historischen und kunstgeschichtlichen Hintergrundes, was wohl auf seine in die Tiefe gehenden Vorstudien zurückzuführen ist.45 Diese Vorarbeit klingt auch in den Anmerkungen nach, mit denen er die Dürer-Trilogie 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45

Ebd., 147f. Hervorhebungen im Original. Ebd., 148. Ebd., 151. Ebd. Ebd., 122. Ebd., 121. Kosel, Albrecht Dürer. Hanus, Kosel Hermann Clemens, 143f. [GenTeam], GenTeam (siehe Link im Literaturverzeichnis). Hanus, Kosel Hermann Clemens, 143f.

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versehen hat und die auf eine gute Orientierung des Autors in der kunsthistorischen Literatur schließen lassen. Selbstverständlich kann Kosels Roman nicht den oben präsentierten Werken unmittelbar entgegengestellt werden, da er in einer anderen politischen Situation nach dem ersten Weltkrieg entstand, sein literarisches Niveau durchaus höher ist und der Autor nicht aus dem Deutschen Reich stammte. Allerdings finden sich im Roman zahlreiche Reflexe der im 19. Jahrhundert begonnenen Debatte um das Bekenntnis Dürers; die konfessionelle Frage bildet die Achse der Romanhandlung, was vom Verfasser im Nachwort explizit dargelegt wird. Das in Kosels Roman vermittelte Dürer-Bild trägt dezidiert apologetische Züge. An mehreren Stellen lassen sich auch nationalistische und antisemitische Klischees finden. Der jüdische Juwelenhändler Squarro betrügt den Vater Albrechts, die schöne Tochter des Juden, Judith, versucht den Protagonisten zu verführen, desgleichen unternimmt auch ein polnisches Mädchen in Krakau, wo der junge Dürer Veit Stoß besucht, die Italiener neigen zu verräterischen und heimtückischen Taten. Vor diesem Hintergrund verkörpert der vorbildliche deutsche Maler folgerichtig den idealisierten Nationalcharakter. Den Hauptstrang der Handlung bildet Dürers moralisch-religiöse und künstlerische Entwicklung. Dieser Prozess hat einen aufsteigenden Charakter in dem Sinne, dass die nachfolgenden Arbeiten immer besser sind als die vorausgegangenen und das Opus Magnum selbstverständlich die der Heimatstadt geschenkten Vier Apostel darstellen. Die wichtigste Frage bei der Reifung des Künstlers ist dabei seine Religiosität. Im Nachwort zu seinem Roman plädiert Kosel, der sich offensichtlich der konfessionellen Dürer-Kontroverse bewusst ist, für eine versöhnende Position, indem er sich auf den evangelischen Pfarrer Richard Bürkner beruft, der in seiner Dürer-Biographie von 1911 feststellte: Man hat von ihm [Dürer – T.Sz.] behauptet und zu beweisen geglaubt, er sei fest dem protestantischen Bekenntnis zugewandt gewesen; während doch andere nachgewiesen zu haben meinten, er sei ein treuer Sohn der katholischen Kirche geblieben. Im letzten Grunde sind beide Behauptungen irrig, denn das, was man ein wirklich protestantisches Bekenntnis nennen möchte hat es in wechselvollen Werdezeiten bis zu Dürers Tode überhaupt nicht gegeben, und andererseits konnte der alten Kirche nicht ungestört angehören, wessen Herz so mächtig von Luthers Persönlichkeit angezogen wurde, wie das bei Dürer geschehen ist.46

Den Weg dieses scheinbaren Widerspruches verfolgt auch Kosel in seinem Roman, indem er Dürer als Anhänger Luthers darstellt, ohne den Protagonisten von der katholischen Kirche loszulösen, da der wahrheitssuchende Maler, „ohne daran zu denken, daß aus dem Kampfe der Reformation eine Spaltung der Kirche

46 Bürckner, Dürer, 169f.

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entstehen könnte“47, im Glauben kirchentreu gewesen sei. Aus dem Brief Pirckheimers schließt der Autor des Weiteren, dass der Meister „seine anfängliche Meinung über Lutherische später, als die Bauernverwüstungen einsetzten, geändert haben müsse, was auch anzunehmen ist, weil er sich nie öffentlich dem Geiste der Reformation hingegeben habe“48. Zum Ausgleich vermerkt er aber im nachfolgenden Satz, dass „die übereifrige Kirchenmacht“49 bereits den jungen Dürer erschüttert haben musste. Kosel führt auch die Aussage von Ernst Heidrich aus der Studie Dürer und die Reformation an: Wenn Tendenzschriftsteller von Dürers Rücktritt zum Katholizismus sprechen, so ist das für die Wissenschaft belanglos, und die Historie sollte zu schade sein, von dort her den Standpunkt der eigenen Forschung sich irgendwie bestimmen zu lassen. Es handelt sich um eine möglichst lebendige und klare Anschauung und Erkenntnis der Vergangenheit – in diesem Falle nur der persönlichen Stellung Dürers, nicht zum Luthertum, sondern zu den Lutherischen. Für die anschauliche Kenntnis der Persönlichkeit ist es unentbehrlich, von den Gegensätzen zu wissen, an denen er teilgehabt hat.50

Seine Auffassung von einer unvoreingenommenen Geschichtsschreibung, die kein vereinfachtes Bild von Dürers Psyche und Religiosität liefern soll, versucht Kosel in seinem Roman umzusetzen. Das Werk besteht aus drei Teilen: Jugend und Wanderjahre, Der Meister und Der Apostel. Diese Gliederung korrespondiert mit den drei im Nachwort umrissenen Etappen von Dürers „Weg aus der Finsternis zum Licht“51, die von der Apokalypse, den durch die Antike inspirierten Werken sowie den Vier Aposteln markiert werden. Die religiösen Dilemmata werden folglich im zweiten Teil kaum thematisiert, während sie in Jugend und Wanderjahre mehrmals angesprochen werden. Dies geschieht zunächst beim Kreuzweg am Karfreitag, als der schon fast zwanzig Jahre alte Albrecht zur Besorgnis seiner Mutter erklärt, dass seine Frömmigkeit tiefer wurzelt „als im Niederknien und lauten Beten“52. Vehement widerspricht er auch der Vorstellung von einem rächenden Gott und kritisiert die kirchliche Hierarchie, die in Sünde verfallen sei.53 Etwas später empört er sich auch über den „Ablasskram“ des Papstes.54 „[D]er gepeinigten Christenheit“ wolle er die Apokalypse darstellen.55 Nach der Gesellenwanderung und der Erlangung des Meisterrechts setzt er seinen Vorsatz um: 47 48 49 50 51 52 53 54 55

Kosel, Albrecht Dürer, Bd. 3, 313. Ebd., 313f. Ebd., 314. Zitiert nach: ebd. Ebd., 315. Ebd., Bd. 1, 83. Ebd., 84. Ebd., 107. Ebd., 85.

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Inmitten von soviel Zerfall und Zuchtlosigkeit im Schoße der Kirche kündete der Meister sein Ahnen und Sehnen nach reinerem Gottesglauben und künftigen Entscheidungsstunden, die die bedrängten Gemüter erlösen sollten; er wurde zum Vorläufer Martin Luthers.56

Dieser erste Höhepunkt in der religiösen Entwicklung des Künstlers bedeutet zugleich eine wichtige berufliche Wende: Dürers „Apokalypse“ war nicht nur die Mahnung zu einer reineren Religion, sie war auch eine neue Offenbarung der Kunst; ein Neues, wie es in dieser Zeit noch nicht geahnt noch bestanden hatte. […] Diese erste Großtat des jungen Meisters begründete seinen Ruhm, erlöste ihn von dem erniedrigenden Gefühl des Handwerkertumes und wies ihm den Rang des Künstlers an.57

Im zweiten Teil der Trilogie wird auf religiöse Fragen nur einmal eingegangen, als der Maler während des Venedig-Aufenthalts seine gute Freundin Margarethe, die für ihn das Vorbild eines unerschütterlichen und ehrlichen Glaubens war, bei einem Brand verliert. Trost findet er nun in den Schriften eines „erleuchteten Augustinermönchs“ und in der Rückkehr zum römischen Dogma, da er „doch von seinem Mutterglauben nicht loskonnte“58. Der Religiosität Dürers wird dann im dritten Teil des Romans wieder ein besonderes Augenmerk geschenkt. Nach dem Tod der Mutter, deren naiven und zweifelsfreien Glauben er immer bewundert hat, scheint sich der Künstler wieder der römisch-katholischen Kirche zuzuwenden. Letztendlich tritt er aber zur protestantischen Partei über. Die Entwicklung in seiner Heimatstadt, die sich immer mehr Luthers Lehre zuneigt, lässt Dürer mit Optimismus in die Zukunft blicken, denn er sieht den Reformator als Auserwählten Gottes, dessen Ankunft er geahnt hat. Er stellt sogar fest, dass sein Glaube stärker sei als je zuvor.59 In dieser Zeit entsteht Hieronymus im Gehäuse, der heilige Übersetzer stellt dabei – in der eigenen Interpretation des Künstlers – einen Prototypus Luthers dar.60 Die wichtigste Station in der religiös-künstlerischen Entwicklung des Meisters fällt in die letzten Jahre seines Lebens, als es infolge der durch Luther in Gang gesetzten Umwälzungen zum Bauernkrieg und zu vermehrten Auftritten von neuen Sekten und ,falschen Propheten‘ kommt. Zwar wendet sich Dürer nicht von der Reformation ab, wie sein Freund Pirckheimer, aber wie dieser wird auch er von Zweifeln geplagt, die mit einer künstlerischen Krise und seinem sich allmählich verschlechternden Gesundheitszustand einhergehen. Bei einem Gespräch mit Pirckheimer, der ihn mit Elan dazu überredet, überwältigende Werke 56 57 58 59 60

Ebd., 232. Ebd., 284f. Ebd., Bd. 2, 187. Ebd., Bd. 3, 84. Ebd.

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zu schaffen und die deutsche Kunst in neue Bahnen zu lenken, erfährt der Maler eine künstlerische Vision. Vor seinem geistigen Auge sieht er monumentale Figuren, die wie riesige Pfeiler stabile Stützen in einer ins Wanken geratenen Welt sind. Es handelt sich dabei um die Vier Apostel, die er bald malen wird, um sein Bekenntnis abzulegen: „daß im wahren Glauben alle Wege zu Gott führen“.61 Das ‚wahre‘ Werk krönt seine religiöse Entwicklung ebenso wie seinen künstlerischen Werdegang, so dass der Protagonist endgültig feststellen kann: „Ich habe erkannt.“62 Als er später im Nürnberger Rathaussaal das Gemälde betrachtet, sagt er: „Wenn ich auch sonst nichts hab’ tun können für meine deutsche Heimat: in Not und Pflicht hab’ ich für die Kunst mein Leben gegeben. Die deutsche Kunst ist das Kreuz, auf dem ein Dulder sterben muß, wenn er erlösen will.“63 Dürers künstlerische Bemühungen werden somit an die nationale Idee gekoppelt, in diesem Punkt ist sich Kosel mit vielen, nicht nur protestantischen, Autoren vollkommen einig, denn unabhängig von den konfessionellen Zwistigkeiten wurde die Größe Dürers als Ikone der deutschen Kunst so gut wie nie in Frage gestellt. Die literarische Rezeption der Debatte um Dürers Bekenntnis, hier an den Romanen von Stein, Pfleiderer und Kosel exemplifiziert und sicherlich einer umfassenden Untersuchung wert, war nur eine Nebenströmung des Streites um das Erbe der Reformation und deren Bedeutung im politischen Bewusstsein des Wilhelminischen Reiches. Die Kontroverse, die auch außerhalb des deutschen bzw. deutschsprachigen Raumes verfolgt wurde,64 ist allerdings erst lange nach der Abdankung Wilhelms II. verebbt. Betrachtet man das heutige Dürer-Bild, in dem die Konversion des Malers zum Protestantismus beinahe als Axiom angenommen wird, so könnte man im Rückschluss folgern, dass der ‚Streit um Dürers Seele‘ zugunsten der reformatorischen Seite entschieden wurde. Dieser ‚Sieg‘ scheint umso größer zu sein, als das ‚protestantische Narrativ‘ nicht nur in der vereinfachten, populären Vorstellung von Dürer zu finden ist, sondern auch von renommierten Kunsthistorikern (wie z. B. Erwin Panofsky) übernommen wurde, worauf neulich Thomas Schauerte hingewiesen hat.65

61 62 63 64

Ebd., 257. Ebd., 259. Ebd., 288. So berichtete z. B. 1928 die polnische „Gazeta Kos´cielna“ („Kirchliche Zeitung“). Organ der Priestervereinigungen, in Anlehnung an den „Courrier de Genève“, von den Forschungen eines gewissen Dr. Alexander Frins, eines protestantischen Pfarrers in Berlin, der nachgewiesen haben soll, dass Dürer immer Katholik gewesen sei und in seinem Glauben ausgeharrt habe, vgl. Dürer był katolikiem, nie protestantem, 493f. 65 Schauerte, Albrecht Dürer als Zeitzeuge der Reformation, 40f, 44, wo die 2003 veröffentlichte Studie von Karl Arndt und Bernd Moeller über die Vier Apostel als „erneut sehr engagiert“ bezeichnet wird.

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Internetquellen [GenTeam], GenTeam. Die genealogische Datenbank, https://www.genteam.at/ (letzter Zugriff am: 29. September 2017). [Sten], Armin Stein, www.armin-stein.eu (letzter Zugriff am: 29. September 2017).

Gabriela Jelitto-Piechulik

Ricarda Huchs Lutherprojektionen

Zwischen 1916 und 1936 verfasste die bereits anerkannte Schriftstellerin und Historikerin, Ricarda Huch (1864–1947), zwei unterschiedlich konzipierte Studien, die, durch die jeweiligen zeit- und kulturgeschichtlichen sowie politischen Interessen der Autorin bedingt, dem Leben und reformatorischen Werk Martin Luthers gewidmet sind. 1916 erschien Luthers Glaube. Briefe an einen Freund und 1936 folgte der zweite Band der Deutschen Geschichte mit dem Untertitel Zeitalter der Glaubensspaltung, dessen zentralen Teil die Luther-Kapitel bilden.1 Diese beiden Studien, wenn auch in Form und Forschungsansatz unterschiedlich, sind weder als eine detailgetreue Luther-Biographie noch eine theologische Auseinandersetzung mit Luthers Lehre zu betrachten. Was sie verbindet, ist vielmehr das Vorhaben, Luther als Tatmenschen, der sich mit Blick auf sein reformatorisches Programm verwirklichen wollte, unter den jeweiligen Zeitanforderungen zu verorten. Die Tatsache, dass Huch keine studierte Theologin, sondern Dichterin und Historikern war,2 ermöglichte ihr, auf Luthers Leben und Schaffen aus einer anderen Perspektive, die vor allem der zeitgeschichtlichen und literarischen Erschließung der Persönlichkeit des Reformators galt, zu schauen. Bereits 1916 zeichnete Huch in ihrem Buch Luthers Glaube ein dichterisches Zukunftsbild aus ihrer zeitgenössischen Sicht: „Als wir alt und lahm wurden, machten wir uns goldene Flügel; aber sie tragen uns nicht; sie ziehen uns in den Staub. Erst wenn wir sie abgeworfen haben, werden wir wieder fliegen können.“3 Zum Gewinn nicht merkantiler, sondern geistig emportragender Flügel sollte die Verdeutli1 Die einzelnen Luther-Kapitel wurden wie folgt betitelt: „Luther“, „Die Thesen“, „Von Heidelberg bis Leipzig“, „Die Kaiserwahl“, „Hutten und Luther“, „Worms“, „Der Prophet“, „Neue Kirche“, „Luther und Erasmus“, „Sickingens und Huttens Ende“, „Der Bauernkrieg“, „Pavia“, „Der Abendmahlstreit“, „Die Wiedertäufer“, „Frauen“, „Anfechtungen“, „Einigungsversuche“, „Die Befreiung des Adlers“. Im Jahre 1983 veröffentlichte Balzer im Kiepenhauer & Witsch Verlag diese Luther-Kapitel in einer Einzelausgabe unter dem Titel Luther. 2 Balzer, Nachwort, 197. 3 Huch, Luthers Glaube, 314.

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chung der historischen Leistungen und der Persönlichkeit des Reformators beitragen, auch wenn die Niederlage zum unabdingbaren Lebensbestandteil wird. Jeder Schicksalsschlag des Menschen wird von Huch keinesfalls als endgültiger Untergang verstanden, sondern als Ansporn zu einem neuen Kraftakt. Vor diesem Hintergrund besteht das Ziel des folgenden Beitrags, in der Nachzeichnung des Lutherbildes aus dem Blickwinkel Ricarda Huchs, wobei eine besondere Bedeutung der Frage zukommt, „wie Luthers Ideen die Deutschen durch ihre Geistes- und Staatsgeschichte begleiteten?“ Schon in Huchs Arbeiten zur deutschen Romantik und in ihren geschichtsphilosophischen Ausführungen lässt sich ihre Schwerpunktlegung erkennen, die sich um die Bedeutung des Individuums im Zuge geschichtlich-politisch-religiöser Umgestaltungen dreht. Die Verfasserin sucht in ihren literarischen Biographien der deutschen Frühromantiker nach einer aus dem Inneren des Künstlers heraus entstehenden Synthese, die Gegensätze produktiv im Sinne des Kunstschaffenden vereinigt. Huch versucht, Widersprüchliches in seinem Wesen, ebenso wie Luthers religiöse und moralische Standhaftigkeit herauszuarbeiten. Es soll daher untersucht werden, inwiefern die Biographin Luthers historisch wahres Bild dichterisch modifizierte und ihre Luther-Kreationen als Orientierungssignale für die Gegenwart verstanden sehen wollte. Die Studie Luthers Glaube, die um 1916 in der Zeit einer geistigen Entleerung entstanden ist, betrachtet Huch als die Frucht ihres Lebens,4 mit der sie ihren Zeitgenossen geistige Wegweiser in der politisch und historisch anspruchsvollen Lage präsentieren will. Dieses Vorhaben erkannten auch die Rezensenten. Walther Nithack-Stahn hebt in seinem Aufsatz in der Zeitschrift „Das literarische Echo“ Huchs Interesse nicht für den historischen Luther, sondern für seinen Glauben und den daraus resultierenden inneren Kampf des Menschen mit seinen Schwächen hervor.5 Der Kritiker nutzt dabei die Gelegenheit, um sich abwertend über den „aufklärenden Rationalismus“6, der das Verhältnis des Menschen zu Gott zerstöre, zu äußern. Zugleich betont er, dass es Huch in ihrem Luther-Buch meisterhaft gelungen sei, „den Zwiespalt so vieler Heutigen, die die Persönlichkeit über alles schätzen und doch, von dem Schein der Natur eingeschüchtert, nicht wagen, sie zu verewigen“7. Somit sei es auch Huchs Verdienst, ihren Zeitgenossen die unverfälschte, also auch menschlich schwache und mit sich selbst ringende Persönlichkeit Luthers vor Augen geführt zu haben. In diesem Sinne gibt auch die Rezensentin Margarethe Kupfer zu, dass Huch die Gegensätze in Luthers Wesen künstlerisch ansprechend und menschlich 4 Siehe: Brief von Ricarda Huch vom 2. November 1915 an Katharina Kippenberg in: Huch, Briefe an die Freunde, 64. 5 Nithack-Stahn, Ricarda Huch: Luthers Glaube, 485. 6 Ebd., 487. 7 Ebd.

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produktiv erarbeitet habe. Dies sei nur möglich gewesen, weil man Huchs „tiefe Verankerung im echten Lebensboden fühlen [muss], die Demut des schöpferischen Menschen, der weiß, daß aus Gnadengabe nur durch zielbewußtes, planmäßiges Arbeiten und Handeln Leistung wird“8. Huch wird somit von der Rezensentin als eine Dichterin beschrieben, die sich ihrer menschlichen Schwächen durchaus bewusst sei, diese in ihrem künstlerischen Schöpfungsprozess überwinde und selbst zu einem Kraftmenschen werde. Den äußeren Anlass für die Veröffentlichung des ersten Luther-Buches von Huch bildete das nahende 400. Lutherjubiläum, das mitten im Ersten Weltkrieg nicht nur deutschlandweit, sondern auch an der Front gefeiert wurde.9 Wenn 1916 die deutsche Tagespresse von den Siegen der Kaiserarmee berichtete, zeichneten sich 1917 die Vorboten der Niederlage ab. Die Kriegspropaganda präsentierte den inzwischen kriegsmüden Deutschen ihren Martin Luther als einen Helden und stilisierte bzw. instrumentalisierte ihn als ein im Kampf um die „gerechte“ Sache nicht erlahmendes Vorbild.10 Um 1916–1917 steht Ricarda Huch mit ihrer Luther-Studie nicht allein da, sondern reiht sich in die geistesgeschichtliche Tradition der Luther-Forschung ein. Erinnert sei hier nur an Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770–1831) Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (gehalten 1822–1831),11 an Leopold von Rankes (1795–1886) Geschichte im Zeitalter der Reformation (5 Bde.; 1839) und an Adolf von Harnacks12 (1851–1930) Martin Luther und die Grundlegung der Reformation (1917).13 An der Herangehensweise dieser Denker an das Thema Martin Luther lässt sich die Tendenz des 19. Jahrhunderts, den Reformator fern von der historischen Wahrheit als den „Hercules Germanicus“14 zu heroisieren, ablesen.15 Diese Einstellung teilte auch die Historikerin Huch. Ihrer Ausgangs8 Kupfer, Die religiöse Botschaft der Ricarda Huch, 893. 9 Das Luther-Bild im Kriegsjahr 1917 war auch ein Teil der protestantischen Mobilisierung für einen Sieg- und Annexionsfrieden. Siehe: Röther, Luther 1917 und 2017 (siehe Link im Literaturverzeichnis). Siehe auch den Brief von Ricarda Huch an Katharina Kippenberg vom 2. November 1915 in: Huch, Briefe an die Freunde, 65. 10 1917 bemühte sich die Kriegspropaganda um eine weitgehende Instrumentalisierung Luthers. Siehe: Röther, Luther 1917 und 2017 (siehe Link im Literaturverzeichnis). 11 Hegel hielt seine Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte in den Jahren 1822–1831 an der Berliner Universität. Diese wurden 1837 postum aus Notizen und Mitschriften von Eduard Gans veröffentlicht. 12 Adolf von Harnack betont in seiner Abhandlung aus dem Jahr 1923, dass die „Neuzeit mit der Reformation Luthers ihren Anfang genommen [hat], und zwar am 31. Oktober 1517; die Hammerschläge an der Tür der Schlosskirche zu Wittenberg haben sie eingeleitet“. Siehe: Harnack, Die Reformation und ihre Vorstellung, 110. 13 Erschien als Festschrift der Stadt Berlin zum 31. Oktober 1917 in der Weidmannschen Buchhandlung in Berlin 1917. 14 Schilling, Martin Luther, 621. 15 Köhler, Luther! Biographie eines Befreiten, 292–295.

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position lag die Überzeugung zugrunde, dass Luther seine Aufgabe in der Erneuerung des christlichen Glaubens durch die Rückkehr zur Wahrheit des Evangeliums gesehen habe. Er sei kein Revolutionär gewesen; vielmehr habe er auf einen langwierigen Prozess der Umgestaltung gesetzt, der eine Begründung in dem überlieferten Wort Gottes und im theologischen Disput findet. Das Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts suchte nach einem „universalgeschichtliche[n] Epochenmodell, das mit [Luthers] Tat die Neuzeit oder gar die Moderne beginnen lässt“16. Somit diente Luthers reformatorisches Auftreten dem intellektuellen Bürgertum als eine „Legitimation des eigenen weltverändernden Handelns“17, welches durchaus zukunftsorientiert war. Für ihre Luther-Studie (1916) wählte Huch die Briefform. Diese ist möglicherweise als zeitbedingt zu deuten, wenn man bedenkt, dass die deutsche Feldpost zwischen 1914 bis 1918 täglich ca. 16 Millionen Postsachen zuzustellen hatte und die Gesamtzahl der Feldpostbriefe und -karten auf rund 28,7 Milliarden geschätzt wird.18 Huch ahmt somit die situationsbedingte Kommunikationsmöglichkeit nach, gestaltet diese jedoch literatur-ästhetisch um, indem sie Briefe an einen fiktiven Adressaten verfasst, der im Vertrauensverhältnis zu der Schreiberin steht, die sich als Scheherezade bezeichnet und ihrem Briefpartner, dessen Glauben an ihm selbst und an seinen Zeitumständen scheitert, neue Lebensimpulse geben will. In der Briefschreiberin sieht Huch eine Widerspiegelung des eigenen Ich. Sie erzählt von Luther, um sich ähnlich wie die Scheherezade durch gedankliches Mitteilen am Leben zu halten und sich die Gunst des persönlichen Zuhörers zu sichern.19 Für ihren ungenannten Briefpartner wählt Ricarda Huch den Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin (1864–1945), den sie 1914 in der Schweiz kennen und schätzen lernte und der ihre Kunstanschauung beeinflusste.20 Während aber Wölfflin mit seinem kunsthistorischen Forschungsansatz zur Entwicklung der formalen Kunstbetrachtung, die die Kunstwerke vor allem nach ihrer äußeren Form beurteilt, beigetragen hat, strebte Huch die innere und einmalige Erschließung des betrachteten Gegenstandes in einem „unbewußten Vorgang, zu dem nur Geist gehört“21 an. Somit ließ sie sich in ihrer Luther-Studie auf eine gewisse Polemik mit Wölfflin ein, indem sie von einem 16 17 18 19 20

Schilling, Martin Luther, 620. Ebd., 620f. Thielen, „Wir warten hier noch, bis Verdun gefallen ist“ (siehe Link im Literaturverzeichnis). Baum, Leuchtende Spur, 197. Es handelt sich hier um Heinrich Wölfflins Werk Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Huchs Biographin Heidy Margrit Müller geht der Beziehung zwischen Ricarda Huch und Heinrich Wölfflin auf den Grund. Müller betont, dass es Huchs Initiative war, Wölfflin als Geliebten für sich zu gewinnen. Dieses Unterfangen scheiterte endgültig im Sommer 1916. Beide verband jedoch eine tiefe Freundschaft über die Jahre hinaus. Siehe: Müller, Mosaikbild einer Freundschaft. 21 Huch, Kunst und Weltanschauung, 93.

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Standpunkt ausging, der auf die subjektive Tätigkeit des menschlichen Geistes abzielt. Die Form des Textes begünstigt das gedankliche Sich-Entkleiden und verleiht den Mitteilungen den persönlichen Anstrich eines Glaubens- und Lebensbekenntnisses.22 So kann die Erzählerin im Zuge des Erzählvorgangs eine persönliche Katharsis erfahren, zu der sie auch ihren Briefpartner bewegen will. Die Intimität der Mitteilung wird noch vertieft, indem Huch ihre Leser mit religiösen Fragestellungen, Erwartungen und Anforderungen des Zeitalters konfrontiert, mit der Absicht, damit einen Beitrag zu einer religiös-moralischen Erneuerung zu leisten. Ihr Buch soll ein „Wegweiser zum Worte von Gott“23 sein – eine Art Kompendium, ein geistiger Führer in Glaubensfragen und Sachen der inneren Erkenntnis für ihre durch die Last des Kriegsalltags gezeichneten Zeitgenossen.24 In diesem Zusammenhang bildet der Glaube einen der zentralen Gedanken der Studie. Huch versteht ihn als eine reale Möglichkeit, als „eine Tätigkeit des selbstbewußten Geistes“25, der des Glaubens bedarf, um überhaupt die Fähigkeit zu glauben zu entfalten. Huch schließt, ganz im Sinne der aufklärerischen Tradition, den Verstand nicht aus, sondern verweist auf eine Verbindung zwischen dem Glauben und der menschlichen Vernunft, die bereit ist, Glaubenswahrheiten zu erkennen und diese aus der im Menschen wirkenden Kraft heraus zu verinnerlichen.26 Indem das geniehafte Individuum „zugleich unendlich viel will und unendlich viel kann“27, das „Wesen Gottes [als] unendliches Können“28 in seinem Inneren verspürt, sei es durchaus in der Lage, „unendliches Wollen“29 in konkrete Handlungen umzusetzen. Mit der Überzeugung, 22 Diese von Huch gewählte Textform wurde von dem zeitgenössischen Rezensenten Ernst Troeltsch als „gedämpfte Erotik“ bezeichnet. Siehe: Troeltsch, Ricarda Huch, 168. 23 Ebd., 212. 24 Ein Zeitgenosse des 21. Jahrhunderts sei hier sehr stark an das 2012 zum Jahr des Glaubens von Robert Zollitsch herausgegebene Lesebuch: Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. Theologisches ABC. Ein Lesebuch von Abba bis Zweifel erinnert. Es handelt sich hier um ein Glaubenskompendium, in dem in einer überschaubaren Form die einzelnen Begriffe der christlichen Religion erläutert wurden. Die 165 zusammengetragenen Sichtwörter „geben Einblick in das Denken [von Papst Benedikt XVI.], vermitteln theologisches Verstehen und bieten anregende geistliche Lektüre“ (Ratzinger, Theologisches ABC, aus dem Klappentext). Im Vorwort des Herausgebers wird darauf verwiesen, dass Benedikt XVI. es anstrebt, den Glauben mit der Vernunft zu verbinden, und dazu sei er als Wissenschaftler und zugleich gläubiger Christ am besten prädestiniert. Der Glaube greife nicht ins Leere, sondern ist dem Menschen sein ganzes Leben eigen und im Angesicht des Todes verlässlich. Ratzingers Überlegungen gehen aus seiner existentiellen Überzeugung, die theologisch abgesichert sei, hervor. Ziel dieses Buches ist, für den zeitgenössischen Menschen ein Wegweiser oder ein Rettungsring auf den bedrohlichen Gewässern des Lebens zu sein. 25 Huch, Luthers Glaube, 134. 26 Dazu sei noch ergänzt, dass der „Glaube die Bestätigung und Besiegelung des Wissens, nicht umgekehrt“ ist (ebd.). 27 Ebd., 166. 28 Ebd. 29 Ebd.

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dass der Glaube nicht von dem menschlichen Willen abhängig sei, setzt sich Huch gegen den modernen Voluntarismus ihrer Zeit und weist, sich an der mystischen Tradition orientierend,30 auf die Gottesähnlichkeit des Menschen hin. Diese sei in der wirkenden Kraft Gottes verankert, die dem Menschen erlaubt, sich im Wirken (Handeln) als Ganzheit zu begreifen. Dieser glaubende und zugleich handlungsfähige Mensch sei ein Gottmensch, der für die Schriftstellerin stellvertretend für das Genie steht. Das Genie besitze wiederum die Phantasie, d. h. „die Fähigkeit, sich das Unsichtbare einzubilden“31, was zugleich die Fähigkeit impliziert, Gott in seinem Inneren aufnehmen zu können. Der moderne Mensch habe jedoch diese Fähigkeit verloren und er verzweifle an sich selbst und sei zugleich vom Verhängnis seiner Zeit überzeugt.32 Diese dekadente Stimmung der zivilisatorisch-technisch voranschreitenden Gegenwart versucht Huch zu überwinden, indem sie ihren Zeitgenossen die Gefahren der Zeit vor Augen führt und sich, auf Luther berufend, das Prinzip des Bösen – den Teufel selbst – beschreibt, vor dem sich die Menschheit nicht mehr fürchtet. Die Ursache des hier als zerstörerisch wirkende Kraft33 verstandenen Bösen sieht Huch im Verfall der Moral und Sittlichkeit, die sich nach der jeweiligen Gesetzeslage zu orientieren haben und die wiederum die „natürliche Selbstsucht“ des Menschen ersticken, „um eine erdachte Vollkommenheit zu erreichen“,34 die das menschliche Individuum in seinem Inneren zerstöre. Zugleich vertreibt ein moralischer Mensch das Göttliche aus seinem Inneren; vor allem, indem er die Tätigkeit des Herzens, der Quelle seiner geistigen und physischen Existenz, lähmt. Die Folge ist, dass er nur aus seiner Selbstkraft heraus einen Schaffensprozess einzuleiten versucht. Dieser Schaffensakt legt jedoch nur seine eigentliche schöpferische Kraft lahm, führe ihn in eine phantasie- und ideenlose Leere und mache den Menschen handlungsunfähig.35 Huch lässt jedoch ihre Zeitgenossen nicht verzweifeln. Indem sie an den ewigen Zyklus von Leben und Verfall erinnert, legt sie ihren Zeitgenossen als Pflicht (und Notwendigkeit) auf, sich zu erneuern, denn sie sieht sie an einem Scheideweg stehen: „Es ist die Flutzeit des Lichtes, schon donnert es an dem Strand der Erde, und die summenden Sterne verlieren sich; nun rede, du, nein vielmehr nun handle du!“36 Huchs Lutherbild von 1916 ist das eines aus sich selbst handelnden Kraftgenies, das immer noch gottähnlich, aber doch kein 30 Mit der Mystik von Jacob Böhme setzt sich Ricarda Huch in ihrer Romantik-Studie auseinander und geht von der Annahme aus, dass die Naturphilosophie der Frühromantiker sich stark an die Vorstellungen von Böhme anlehnt. Siehe: Huch, Die neue Religion, 171–187. 31 Huch, Luthers Glaube, 176. 32 Ebd., 145. 33 Siehe: Fielmann, Mythos und Interpretation, 186–197. 34 Huch, Luthers Glaube, 199. 35 Ebd., 199f. 36 Ebd., 333.

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Heros ist, der sich selbst im unsinnigen Kampf zerstöre. Ein Individuum, fähig, Gegensätze in sich aufzunehmen und diese nach dem bestandenen inneren Kampf durch die innere, d. h. göttliche Kraft, zu synthetisieren. Mit diesen Eigenschaften Luthers fühlt man sich an Huchs Novalis-Charakteristik erinnert, woraus sich Berührungspunkte mit der deutschen Frühromantik ergeben.37 Bei den Luther-Bildern von 1936 handelt es sich um eine zeitorientierte Narration, die Huch in die Form eines historischen Essays kleidet. Mit dieser Form stellte sie sich gegen die Didaktisierungsabsichten der Nationalsozialisten. Sie hatte keine Abbildung der Realität vor, sondern sie setzte sich für die bunte Vielfalt der dichterischen Aussagen sowie für die kreative Schaffensfreiheit ein. Für diese Überzeugung und Darstellungsperspektive erntete Huch als Historikerin bereits 1935, nach dem Erscheinen des ersten Bandes der Deutschen Geschichte: Römisches Reich Deutscher Nation, heftige Kritik seitens der Hauptschriftführerin der Zeitschrift „Die deutsche Frau“ in Berlin, Anne Marie Koeppen, als „Magierin“, für die es „im Deutschland Adolf Hitlers […] kein Platz mehr“ gäbe.38 Dieser Vorwurf sei hier als ein Hinweis dafür angeführt, dass Huch mit ihren Vorstellungen und ihrem traditionellen Kulturanspruch im Dritten Reich deplatziert wirkte und in ein mystisches Reich verbannt wurde.39 Auch in der Rezension von E. Gottlieb40 in der „Hilfe. Zeitschrift für Politik und geistige Bewegung“ wird die isolierte Stellung ihres Werkes wegen der „philosophischabstrakte[n] Seite“ hervorgehoben.41 Die Folge war, dass „die Künstlerin, je rückhaltloser sie sich offenbart, je mehr sie das Chaos ihres Innern lichtet, in einer gewissen Weise um so rätselhafter wird“42. Huchs Luther-Bilder erscheinen 1941 dem regierungskonformen Rezensenten wegen der gedanklichen Mannigfaltigkeit der dichterischen Aussagen suspekt genug, um diese Studie als erbauende und belehrende Lektüre nicht zu empfehlen. Dazu kommt noch Huchs persönliches Bekenntnis, denn sie ist bereits 1933 aus der Preußischen Akademie der Schönen Künste ausgetreten und öffentlich erklärte:

37 Siehe: Jelitto-Piechulik, Modernitätskrise und Mentalitätswandel an zwei Jahrhundertschwellen, 211–224. 38 Koeppen, Ein berühmter Name und ein unrühmliches Werk, 70–72. 39 Bronnen, Fliegen mit gestutzten Flügeln, 31f. 40 Der Vorname von dem Rezensenten E. Gottlieb konnte nicht ermittelt werden. Er gehörte auch nicht zu dem wissenschaftlichen Beirat, der 1907 von Adolf Grabowsky und Richard Schmidt gegründeten ältesten deutschsprachigen politikwissenschaftlichen Zeitschrift. Siehe: Duve, Die Gründung der „Zeitschrift für Politik“, 405–426. 41 Gottlieb, Ricarda Huchs Luther-Buch, 124. 42 Ebd., 127.

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Was die jetzige Regierung als nationale Gesinnung vorschreibt, ist nicht mein Deutschtum. Die Zentralisierung, den Zwang, die brutalen Methoden, die Diffamierung Andersdenkender, das prahlerische Selbstlob halte ich für undeutsch und unheilvoll.43

Unter diesem biographischen Gesichtspunkt ist Huchs Luther-Vorstellung aus dem Jahre 1936 als eine Projektion der inneren Emigrantin, die als Historikerin und freie Literatin dessen Reformanliegen und Individualität zeitgeschichtlich betrachtet und zugleich nach kritischen Parallelen zu ihrer Zeit sucht, anzusehen. Wenn die Nationalsozialisten nach 1933 den Kirchenreformator Luther für sich vereinnahmten und ihn zu ihrem Deutungskampf und Glaubenskrieg missbrauchten44, versuchte Huch mit ihrem Forschungsansatz von 1936 das reformatorische Auftreten Luthers als eine „historische Notwendigkeit“45 im Sinne eines Beitrags zur spirituellen Erneuerung und geistigen Umkehr zu präsentieren. In ihren Luther-Kapiteln aus dem zweiten Band der Deutschen Geschichte zeichnet sie anfangs, unter Rekurs auf ihre Studie aus dem Jahre 1916, ein Porträt eines geistigen Führers des deutschen Volkes, der einen wegen der geschichtlichen Not der Stunde beschleunigten Reifungsprozess durchlaufe, seine innere Zerrissenheit überwinde und sich seiner Größe und Wirkungskraft bewusst werde: „Bis dahin war er ein einzelner gewesen, der einige Freunde hatte, die ihn verstanden und schätzten.“46 Huchs Luther sah allmählich selbst ein, dass „er der Führer eines Volkes war“47 und „er ahnte nicht, daß es viele gab, die auf ihn warteten“48. Mit diesem Bewusstwerden der Rolle Luthers für die Deutschen macht Huch eine zeitgenössische Perspektive auf, in der ein wachsamer und der Regierung trotzender Betrachter einen Aufruf zum persönlichen Kraftakt gegen die Diktatur der Zeit erblicken konnte. In diesem Sinne erscheint Luther als ein Heros, der sich den Missständen seiner Zeit stellt und aus sich heraus diese zu überwinden versucht. Die Verbrennung der Bannbulle am 10. Dezember 1520 betrachtet Huch als einen öffentlichen Akt der Verteidigung der „evangelischen Wahrheit“49 gegen die unterdrückende Macht der Kirche und des Papstes und 43 Siehe: Brief von Ricarda Huch an Max von Schillings vom 9. April 1933. In: Bendt/Schmidgall (Hg.), Ricarda Huch 1864–1947, 327. 44 Das Berliner Dokumentationszentrum „Topographie des Terrors“ hat zum 500. Reformationsjubiläum eine Ausstellung zum Thema „‚Luthers Worte überall‘ – Schau zu Luther im Nationalsozialismus“ vorbereitet. Es handelt sich hier um „die erste umfassende Ausstellung zur Rezeption Luthers in der NS-Zeit und stelle die staatliche wie auch die kirchliche Berufung auf den Reformator in den Mittelpunkt“, der von den Nationalsozialisten zu einer „national einigende[n] Führerfigur“ stilisiert wurde. Siehe: [Luther 2017] „Luthers Worte überall“ (siehe Link im Literaturverzeichnis). 45 Huch, Luther, 26. 46 Ebd., 29. 47 Ebd., 30. 48 Ebd. 49 Ebd., 15.

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zugleich als eine Protestaktion und einen Appell, sich gegen diese Herrschaft zu erheben, um einerseits sich die Glaubensfreiheit zu sichern, und andererseits Rom die finanzielle Unterstützung zu untersagen. Wenn auch anfangs ungewollt, führte Luthers reformatorisches Anliegen zur Sprengung der „einheitliche[n] Weltanschauung“50, von der seit dem Mittelalter der Universalismus Europas getragen wurde. Huch teilt aber zugleich die Überzeugung Luthers, dass der religiöse Universalismus im Missbrauchs- oder Diktaturfall eine Bedrohung der Freiheit des menschlichen Individuums darstelle. Huchs Antwort – in Anlehnung an Luthers reformatorisches Programm gegen die Bedrohung durch einen äußeren Zwang – ist die Rückbesinnung auf die ursprüngliche Einheit mit Gott, die auch die Quelle der inneren Einheit eines Christenmenschen sein solle: Im Gefühl des Zusammenhangs mit Gott durch den Glauben fühlt sich der Christ frei, frei von Satzungen, die Menschen aufstellten. Er ist frei, ein Herr aller Dinge, freiwillig aber ein Knecht aller Menschen; denn es liegt im Wesen der Liebe, die ihn mit Gott verbindet; daß sie ihn zugleich mit den Menschen, seinen Brüdern, eint.51

Mit dieser Deutung der Freiheit sei man an Luthers Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520) erinnert, die in der Sicht von Huch durchaus politisch aktuell zu deuten ist und zwar als ein Plädoyer für das Aufrechterhalten der inneren Freiheit des Einzelmenschen sowie die Nächstenliebe aus dem Glauben und aus der christlichen Humanitas heraus. Indem Huch Luthers Stellung zum Bauernaufstand thematisiert, zerstört sie das Bild des Reformators als eines Helden und legitimen Anführers seines Volkes im gerechten Kampf. Der Biographin wird jetzt allmählich bewusst, dass Luther bei der Umsetzung seines reformatorischen Vorhabens versagt habe, denn aus seiner Verwirrung und Ratlosigkeit wandte er sich an die Fürsten, da er glaubte, nur mithilfe der rechtmäßigen Regierung eine reale Chance auf die Verwirklichung der Reformationsziele zu haben. Luthers Entscheidung, die man mit seiner Ordnungsliebe und Gehorsam gegen die Obrigkeit begründen will, sich an die Seite des Stärkeren zu stellen, gab den Impuls für eine härtere Vorgehensweise gegen die aufrührerischen Bauern. Die Folge war die Freisetzung einer zerstörerischen Kraft und Chaos. Am Ende gab es keine Sieger, nur Verlierer. Dieser prophetische Blick schien in Huchs Gegenwart allmählich an Realität zu gewinnen. Der politisch-historischen Zukunftsvision Deutschlands setzt Huch dennoch eine Pflicht jedes einzelnen Deutschen entgegen, die innere Souveränität zu bewahren. Somit bedeutet auch Huchs sich an Luthers Vorstellungen orientierende Empfehlung für ihre Zeitgenossen einen Rückzug in die Freiheiten eigener Innerlichkeit: „Im allgemeinen hatte man so viel Freiheit, wie man sich 50 Ebd., 54. 51 Ebd., 50.

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erkämpfen konnte“52. Luthers Parteinahme für das Machtprinzip führte zu einer Spaltung unter den einzelnen gesellschaftlichen Schichten, und die Biographin sieht gerade darin die Ursache der Zerstörung der organischen Einheit der Deutschen, die sich Huchs Meinung nach seitdem, d. h. seit der Säkularisation, in der historischen Schwäche manifestiere. Der Weg in die Modernität sei zwar offen gewesen, aber Huch sah in dieser Entwicklung vor allem einen Rückschlag, für den sie Luther verantwortlich machte. Huchs Luther von 1936 fehlte es an innerem Potential, um das gesamte deutsche Volk für sein Anliegen zu begeistern und an sich zu reißen, weil der Reformator zu sehr auf die Profilierung der eigenen Person bedacht war und dabei sich selbst, d. h. sein Inneres, verraten und verloren habe. Eine tragische Konsequenz sei somit, dass Luthers innere Verbindung mit Gott gestört wurde. Huchs negatives Urteil über Luther spitzt sich in der Feststellung zu, er sei ein Betrüger gewesen, für den „seine Anhänger in Flammen gestorben“53 waren und der ihre Aufopferung nicht geschätzt habe. Diese kritische Akzentuierung hängt mit Huchs Kritik an den diktatorischen Machthabern ihrer Zeit und deren vernichtenden Wirkung auf das deutsche Volk, das verblendet genug diese zerstörerische Bedrohung nicht erkennt, zusammen. Die beiden hier nur skizzenhaft besprochenen Luther-Studien von Huch stellen zwei Lutherporträts dar, die in der Konzeption und im zeitgenössischen Anliegen unterschiedlich verortet sind. Wenn in Luthers Glaube ein konstruktives Bild eines titanenhaften Kraftmenschen nachgezeichnet wird, der für Gott und in Einheit mit dem Wort Gottes Großes für die Menschheit erbracht habe, der das Geniehafte verkörpere, sich jedoch nicht in einem unsinnigen Kampf selbst vernichte, schätzt Huch in den Luther-Kapiteln aus dem zweiten Band ihrer Deutschen Geschichte die Reformation und deren Folgen für ihre Zeit ein. Ihre Bilanz fällt negativ aus: Die Verluste und die ungünstigen Auswirkungen der Reformation für und auf das Gesellschaftsbild sind – staatshistorisch gesehen – größer als die Errungenschaften der Bewegung. Die Ursache liegt in Luther selbst, der mit seiner Kampfansage gegen die religiösen Missstände seiner Zeit, gleichzeitig aber mit seiner Entscheidung, sich dem Machtprinzip zu unterordnen, dem Erstarken der Nationalismen den Weg geebnet habe.

Literatur Balzer, Bernd, Nachwort, in: R. Huch, Luther, Köln 1983, 197–202. Baum, Marie, Leuchtende Spur. Das Leben Ricarda Huchs, Tübingen 1964. 52 Ebd., 113. 53 Ebd., 170.

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III. Ästhetisch-kulturelle Verortungen

Wolfgang Brylla

Luther, Playmobil und Popkultur

L-U-T-H-E-R: Zwischen Doktrin und Mainstream Auf die Bühne tritt Eckart von Hirschhausen. Mit breitem Lächeln im Gesicht moderiert der Kinderarzt und Comedian vom Dienst eines der größten medialen und musikalischen Events des Jahres 2017 an. Hirschhausen, selbst lutherischen Glaubens, wozu er sich auch öffentlich bekennt, fängt seine Begrüßungsrede mit einem Witz an: Früher oder später hätten die Katholiken Martin Luther heilig gesprochen, denn der Reformator habe schlichtweg die katholische Kirche des Spätmittelalters vor einem riesigen strukturellen und ideologischen Kollaps gerettet und so zu ihrer dogmatischen Neuausrichtung beigetragen.1 Im Publikum kommen Gelächter auf, viele Zuschauer gehören der katholischen Konfession an, auf den Rängen nahmen nicht nur Evangelische Platz. Vor einer zehntausend starken Menschenkulisse findet an diesem Abend in einer Halle in Düsseldorf eines von vielen besonderen Konzerten statt, für die Hirschhausen die offizielle Patenschaft übernahm. Luther – das Poporatorium in der Regie von Michael Krause und Dieter Falk,2 so heißt von der Tragweite her eine der wichtigsten (kommerziellen) Reformationsveranstaltungen der ganzen „Lutherdekade“, die 2008 von Bischof Wolfgang Huber inauguriert wurde.3 Die Ideengeber und Leiter des Bühnenprojekts, das mithilfe der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) realisiert wurde und 2015 in der Dortmunder Westfallenhalle Premiere feierte, hatten vor, auf eine populäre, auf den heutigen popkulturellen Zeitgeist zugeschnittene und mainstreamgerechte Art und Weise, Luther und der ganzen Reformationsbewegung des 16. Jahrhunderts Tribut zu zollen. Angepeilt wurde der Versuch, die Person Luther und seine Lehren in einem neuen modernen Gewand schmackhaft zu machen und somit auch die Jugendlichen anzuspre1 Eine katholische Sichtweise auf Luther und die Reformation wird in dem Buch von Reinhardt, Luther der Ketzer angeboten, wo anhand von neuen historischen Quellenfunden die römische Perspektive des 16. Jahrhunderts rekonstruiert wird. 2 Wagin´ska-Marzec, Obchody jubileuszu 500-lecia Reformacji, 270–272. 3 Siehe: ebd., 256–259.

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chen. Die Zahlen sind in Deutschland, aber nicht nur dort, sowohl für die evangelische als auch katholische Kirche erschreckend. Es gibt immer mehr Kirchenaustritte, die lokalen Kirchengemeinden vergreisen, die Jugend kehrt der Kircheninstitution den Rücken.4 Somit sollte das „Poporatorium“ erstens als Form begriffen werden, Anstöße zu geben und Überzeugungs- sowie Basisarbeit für die ‚Rekrutierung‘ neuer Gemeindemitglieder zu leisten; zweitens kann das Musical als Meinungsplattform gesehen werden, den in den letzten Jahren ins Wanken geratenen Ruf Luthers aufzupolieren. Heinz Schilling konstatiert, dass das Unvermögen, wenn nicht gar der Widerwille, Menschen früherer, uns heute in ihren Strukturen und Denkformen fremden Zeiten zu verstehen, […] im Falle Luthers gelegentlich so weit [geht], nicht nur das Reformationsgedächtnis 2017 in Frage zu stellen, sondern allen Ernstes zu fordern, den Wittenberger Reformator aus dem Geschichtsbewusstsein zu tilgen.5

Luther wurde als „religiöser Fundamentalist“ diffamiert, der statt der Freiheitsnur die Selbsthassgedanken gepredigt habe.6 Solchen kritisch wertenden Stimmen sollte das Musikspektakel entgegenwirken, indem – drittens – ein historisches Thema neuskaliert und an die popkulturellen Erwartungen der Rezipienten von heute angepasst worden ist. Im Endeffekt bekamen die Zuschauer eine Show serviert, in dem es von Referenzen auf die jüngere und ältere Gegenwart wimmelt und in dem verschiedene Perzeptionsebenen miteinander kombiniert worden sind mit dem Ziel, möglichst modern, innovativ und offen rüberzukommen. Schon beim musikalischen Einstieg des „Poporatoriums“ wird man den Eindruck nicht los, dass die Verantwortlichen bewusst oder unbewusst starke Anleihen bei der Synthesizer-Plastikmusik der 1970er und 1980er Jahre gemacht haben. „L-U-T-H-E-R“ – mit solch einer Buchstabierung des Nachnamens des Wittenberger Theologieprofessors beginnt das über zwei Stunden lange Musical, das einerseits an die Cats erinnert, andererseits aber durch den Auftritt eines großen Laienmänner und -frauenchores (ca. 3.000 Sänger), das übrigens in jeder Stadt, in der die Show gastierte, neu zusammengesetzt wurde, an einen Sonntagsgottesdienst. Aber dieses Skandieren von „L-U-T-H-E-R“ ruft eher Assoziationen mit „YMCA“ von den Village People hervor. Es fehlen nur ein verkleideter Polizist, ein Indianer oder ein Bauarbeiter; stattdessen wird man mit der Figur Martin Luther konfrontiert, die sich im handelsüblichen Sakko, einem Kapuzenpulli und mit einem Dreitagebart durch die Reformationsgeschichte 4 Vgl. die Zahlen auf: [Zeit] Kirche (siehe Link im Literaturverzeichnis) sowie [Evangelisch.de] Mitgliederzahlen (siehe Link im Literaturverzeichnis). 5 Schilling, Martin Luther 2015/2017, VIII. 6 Ebd. Schilling bezieht sich dabei auf den „besonders krassen, historisch ignoranten Pamphlet“ von Posener, Neueinhalb Thesen gegen Martin Luther.

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singend durchschlängelt. „Wer ist Luther?“ lautet die Frage, die die Vorführung stellt und auf die das Storyboard im Grunde keine Antwort geben will oder kann. Mit dieser Frage beschäftigte man sich generell 2017, die EKD und andere kirchliche bzw. außerkirchliche Einrichtungen waren mit ihrer Erinnerungspolitik darum bemüht, Luther der Generation Y näher zu bringen und bei den Älteren dessen Verdienste und Rolle für die globale Kirchen-, Mentalitäts- und nicht zu letzt Identitätsentwicklung ins Gedächtnis zu rufen. Deswegen bereiste ein spezieller Luther-Bus halb Europa – mit zwei Stationen in Polen – Warszawa (Warschau) und Cieszyn (Teschen) – mit dem Ziel, Menschen für das Problemfeld Reformation oder besser gesagt, was davon übrigblieb, zu sensibilisieren. Dass man dabei in aufdringlicher Weise von Luthers Namen Gebrauch machte, reiht sich in eine lange Kette von ähnlichen medialen und wirtschaftlichen Missbräuchen. Luther ist fast jedem Deutschen geläufig, in einer Umfrage für eine Sondersendung des ZDF belegte er hinter Konrad Adenauer Platz zwei im Ranking der bekanntesten Deutschen.7 Diese Popularität lässt sich natürlicherweise in ökonomischer Hinsicht imposant ausschlachten und für eigene kapital- und marktorientierte Zwecke nutzen. Denn der Name Luther mauserte sich zu einem Marketingprodukt, einem trade mark, das sich vom geschichtlichen Kontext loslöst bzw. abkapselt und in der popkulturellen social media-Welt an neuem Wert und Signifikanz gewinnt, in der ihm eine von Grund auf andere ‚Wirtschaftsidentität‘ zukommt. Aus Luther wurde ein Markenlogo wie das von Adidas; eine Popikone wie Che Guevara.

Hauptsache irgendwas mit Luther… So ist es keine allzu große Überraschung, dass im Onlineverkauf bestimmte TShirts mit einem Abdruck des Antlitzes von Luther – salopp ausgedrückt – der Renner sind/waren. „La Viva Revolution“ steht darunter in Anspielung auf den südamerikanischen kommunistischen Frontkämpfer der 1950er und 60er Jahre. In Polen, was einige erstaunen mag, da das Land als katholisch gilt, kann ein weißes T-Shirt mit einem schwarz radierten Konterfei Luthers käuflich erworben werden mit der Unterschrift: „Dem Papst habe ich nicht nachgeweint“ (poln. „Nie płakałem po papiez˙u“). Mit Ironie und Humor wird die historische Leistung Luthers umspielt und in gewisser Weise auch verschwiegen, was für die Popmoderne im Sinne des Diederichsen’schen Pop II und dessen „Perfektion der 7 Es handelt sich dabei um die Sondersendung des ZDF Unsere Besten – Die größten Deutschen vom 28. November 2003. Luther wurde in dieser Rangliste Zweiter hinter Adenauer, Rang drei belegte Karl Marx. Siehe: [Spiegel] Unsere Besten (siehe Link im Literaturverzeichnis).

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Entleerung“8 keinesfalls eine Ausnahme bildet.9 Einige Elemente werden aus schon etablierten und bestehenden Zusammenhängen herausgerissen und in neue verpflanzt. Erschaffen wird somit eine auf Alles und gleichzeitig auf Nichts rekurrierende kulturelle Hybride, die auf der einen Seite mit semantischen Inhalten aufgefüllt werden kann, die auf der anderen Seite ein Bedeutungsvakuum infolge einer Überstrapazierung entstehen lässt, einen Raum der (kulturellen) Leere, in dem die Bezugnahmen, Korrelationen und Korrespondenzen schwer zu erkennen sind. Auf einem Ankündigungsplakat eines Seminars im Berliner Dom von 2016 konnte man den muskelbepackten Körper von Superman bewundern, dessen Clark Kent-Kopf durch den von Luther ersetzt wurde. Suggeriert wurde sozusagen das Heldentum Luthers und seine ‚Weltretterfunktion‘ nach dem (Comic-)Motto „auf-auf-und-davon“. Wenn in diesem Fall der Konnex zwar an den Haaren herbeigezogen, aber doch noch einigermaßen nachvollziehbar erscheint, da es sich um ein religiöses Ereignis von weltgeschichtlicher Wirkung handelt, kann von einer ähnlichen Legitimation im Falle der vielen Luther-Einkaufstaschen oder Luther-Socken nicht die Rede sein. Die Luther-Socke, mit dem Luther-Zitat „Hier stehe ich und ich kann nicht anders“ und dem Werbespruch „Ein Stück Selbstbewusstsein“, kann nur für Schmunzeln und Kopfschütteln sorgen. Dass solche Werb- und Verkaufsaktionen von der EKD gebilligt, begrüßt und teilweise unterstützt wurden, steht auf einem ganz anderen Blatt. Thomas Kaufmann hat in einem Zeitungsinterview diese Luther-Masche als „banal, erbärmlich, albern“ moniert.10 Die Luther-Socken sind allerdings nur ein kleiner Bestandteil des ganzen Luther-Applikationen- bzw. Luther-Gadgets-Geschäftes, das mit der kirchlichen Reformation und der Erinnerung an das Jahr 1517 in keinerlei Verbindung stand und nur vom allgemeinen Luther-Trend profitieren wollte. Mehr noch: Die Socke bildet die Spitze des marketingkonformen Eisberges. Überboten wurde sie nur durch die Luther-Kondome, die 2017 zeitweilig eine kleine politisch-ethische Diskussion auslösten. Die evangelische Jugendkirche aus Düsseldorf verteilte Kondompackungen, auf denen sich unter anderem der Spruch „Für Huren und Heilige“ befand. Nach kurzzeitigem (Fast-)Eklat hat die Evangelische Kirche Rheinlands diese skurril anmutende Verhüttungs- und safer sex-Kampagne, die im World-

8 Diederichsen, Der lange Weg nach Mitte, 284. 9 Diederichsen versteht unter Pop II eine „homogenisierende Subsumption unterschiedlicher Phänomene aus den Bereichen Kultur, Öffentlichkeit, Medien“, die zum „begrifflichen Passepartout einer unübersichtlichen Gesellschaft“ geworden ist (ebd., 274). 10 Siehe das Interview mit Thomas Kaufmann von Christian Schröder für den „Berliner Tagespiegel“ vom 2. Januar 2017. Abrufbar unter [Tagesspiegel] Kaufmann-Interview (siehe Link im Literaturverzeichnis).

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Abb. 1: Die Luther-Socke. Weitere Varianten und Bilder auf der Homepage des Herstellers www.luthersocke.de. Quelle: www.luthersocke.de

WideWeb sarkastisch als „rheinische Kondom-Krise“ abgestempelt wurde, untersagt.11 Hatte jemand Lust auf Süßes, so konnte er entweder zu Luther-Konfekt,12 Luther-Lutscher, den Luther-Bonbons oder Luther-Keksen greifen.13 Die Plätzchen wurden mit dem Satz „Original aus Wittenberg“ und einer Luther-RoseEinkerbung auf der Gebäckoberfläche vermarktet, das Naschzeug warb mit einer orangefarbigen Verpackung, dem Datum 31. Oktober auf jeder in Plastikfolie verhüllten Süßigkeit und dem Slogan „Die süße Überraschung der evangelischen

11 [Spiegel] Kondome (siehe Link im Literaturverzeichnis). Mit einem Luther-Porträt bzw. mit der Luther-Rose wurde auch eine Taschentücher-Serie versehen. 12 Die sogenannte Luther-Kiste wird hergestellt von der Zerbster Schlosskonditorei. Das Firmenlogo auf der Pralinenoberfläche wurde durch die Luther’sche Rose ersetzt – [Volksstimme] Konditor (siehe Link im Literaturverzeichnis). Der ehemalige DDR-SchokoladenProduzent „Rotstern“ hat die Vollmilchschokolade „Martin Luther“ – mit einem Kakaoanteil von 32 % – auf den Markt gebracht. 13 Die österreichische Firma Gossy hat eine Haselnuss-Schnitte mit Luther- und Reformationsmotiven, die Firma Wikana ein spezielle Brotfertigmischung („Lutherbrodt“) und die Konditorei Kathi aus Halle den Luther-Kuchen entworfen. Wer sich selbst zu Hause als Konditor- und Backmeister versuchen wollte, der konnte darüber hinaus auf die LutherAusstechform der Firma phil goods zurückgreifen.

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Kirche“. Mit Plattheiten bekamen es auch Freunde des fettigen und salzigen Essens zu tun. In Finsterwalde konnte man an den Ständen beispielweise den Luther-Burger zu sich nehmen, eine Spezialität im „Lausitzer Gusto“14. Was der Fleisch-Patty mit Gurke, Salat und Brötchen mit Luther gemeinsam hatte, wurde von den Möchtegern-McDonald’s-Vertreibern nicht erklärt. Eines stand allerdings fest: Ginge es nach den Erfindern dieses Burgers, hätte Luther ihn bestimmt mit Genuss gegessen… In Thüringen verkaufte ein Metzger eine als Luther-Bibel getarnte Salamiwurst aus „hochwertige[m] Rindfleisch und Schweinefleisch, mit edlen Kräutern und Gewürzen“15. Wer auf gesunde Ernährung schaute, konnte an der Gemüsetheke im Supermarkt Luther-Tomaten direkt aus dem Wittenberger Anbau kaufen.16 Dass Tomaten lange nach Luthers Ableben in Europa Einzug hielten, um erst im 18. Jahrhundert in der Küche Verwendung zu finden, wurde übersehen. An „Pfarrer, Lutherfans und überzeugte Protestanten und Ökumeniker“ waren die farbigen „Luther bissfeste[n]!“ Motivnudeln – „Martin Luther Pasta“ – adressiert. Das Getränkeangebot war ebenso breit aufgestellt. Vor allem das Luther-Bier in vielen Geschmacksrichtungen sei an diesem Punkt zu erwähnen sowie die Schnapseigenmarke der Brauerei Neunspringe Worbis „Reformator“, deren Warenpalette vom Bierbrand bis hin zum Kräuterlikör und Whiskey reicht(e).17 Auf den Vorwurf, die EKD hätte mit Verzögerung oder gar nicht auf solche PRund Marketingverkaufsstrategien einiger Unternehmen reagiert, gingen die Kirchenfunktionäre nicht näher ein und erklärten, jede Form, Luthers Kunde zu kolportieren, sei ihnen herzlich willkommen (gewesen).18 Das Problem liegt jedoch darin, dass mit den Luther-Tomaten oder Luther-Keksen nicht die Botschaft der christlichen Erneuerung in die Welt gesetzt wird, sondern die frohe 14 Siehe einen „Focus“-Beitrag zu diesem Thema auf: [Focus] Luther-Burger (siehe Link im Literaturverzeichnis). Die kulinarische Luther-Mode machte allerdings auch vor Wittenberg nicht halt, wo man im Luther-Hotel außer dem Burger noch eine andere hausgemachte Kreation verköstigen darf – die „Käthe-Nuggets“ – [Werkstadt] Luther-Hotel (siehe Link im Literaturverzeichnis). 15 [Delikatessen] Luther-Salami (siehe Link im Literaturverzeichnis); [Thüringer Allgemeine] Luther-Bibel (siehe Link im Literaturverzeichnis). 16 Siehe: Neudecker, Saison für die Luther-Tomate (siehe Link im Literaturverzeichnis). Der MDR teilte mit, dass außen den Tomaten auch die Luther-Paprika gezüchtet und geerntet wurde – [MDR] Luther-Gemüse (siehe Link im Literaturverzeichnis). 17 Außerdem waren auch – bei anderen Konzernen – ein Luther-Tee („Luthers Rose“), ein Luther-Kaffee, ein Luther-(Doppel-)Korn oder ein Luther-Wein erhältlich. 18 Vgl. das Interview mit dem Cheftheologen der Evangelischen Kirche Thies Gundlach für den „Deutschlandfunk“ vom 6. März 2017, in dem er sich vor den Vorwürfen der Kirchenkritiker zu verteidigen weiß. Auf die Frage, ob die EKD Luther zum „Schoßhündchen“ mache, antwortete Gundlach: „Also das ist eine flotte Formulierung, die ich aber für völlig falsch halte. Ehrlich gesagt versuchen wir an vielen Stellen die Kantigkeit und die Eindeutigkeit Luthers auch in seinen Schwächen und Grenzen sehr deutlich zu problematisieren“ – [Deutschlandfunk] Gundlach (siehe Link im Literaturverzeichnis).

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Abb. 2: Eins von vielen sogenannten Luther-Bieren. Auf dem Bild: Luther-Porter – Lieblicher Schwarztrunk. Quelle: Brauerei Neunspringe.

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Botschaft des in der Brieftasche klingenden Gelddämons. Den Tomaten-Züchtern oder Brauereimeistern kam es nicht darauf an, den Reformationsgedanken zur größeren Anerkennung zu verhelfen, sondern vielmehr auf der Welle zu schwimmen und mithilfe des Reformationsjahres ihr Etat aufzustocken. Alles, was das Luther-Emblem im Namen oder auf der Verpackung führte, verkaufte sich bestens. Eine alte Weisheit aus der Merchandising-Theorie besagt, dass das Marketing des Marktes vor allem auf dem „Erkennen und [der] Maximierung von Kundenwünschen und deren Erfüllung bei gleichzeitiger Optimierung von Einkauf, Preisfindung und Warenplazierung zum wirtschaftlichen Nutzen des Händlers“ beruhe.19 So gesehen haben der Hersteller Lilalu mit seiner Luther-Quietschente und die Playmobil-Firma mit ihrer Luther-Kleinfigur – in der linken Hand die Bibel in deutscher Übersetzung, in der rechten ein Federkiel – einen Coup gelandet. Der Andrang übertraf alle Erwartungen, ganz schnell musste bei Playmobil ein Figurennachschub gesichert werden.20 Verkommen zum acht Zentimeter kleinen Kunststoffspielzeug oder zum Holznippes – ähnlich Katharina Bora – wurde Luthers Stellenrang als Weltveränderer spätestens dann infrage gestellt und pervertiert.21 In Wirklichkeit wurde durch solche Marketingentscheidungen quasi ein Reliquien- bzw. Ikonenkult betrieben, der im krassen Widerspruch zu Luthers Vorhaben steht, vor dem sich aber die gegenwärtige evangelische Kirche keinesfalls wehrte oder gar wehren wollte.22 Der Luther-Hype wurde selbst von der Kirche dermaßen gefüttert und vorangetrieben, dass es den Anschein hatte, als lutherte es überall. Luther tauchte in freundlicher Gestalt in der Jubiläumsausgabe der Abrafaxe auf ihrer Zeitreise durch die Weltgeschichte auf. Auch in 19 Bürger/Berlemann, Merchandising, 59. 20 Nach 72 Stunden waren die 32.000 Stück ausverkauft, nach einer Woche sogar 750.000 Stück. Siehe: Drobinski, Luther-Playmobil bricht alle Rekorde (siehe Link im Literaturverzeichnis); [Pro-Medienmagazin] Playmobil-Luther (siehe Link im Literaturverzeichnis). 21 Über den Online-Luther-Shop (luthershop.com) konnte man passend für die Weihnachtszeit Luther als Räuchermann (mit oder ohne Apfelbaum) beziehen – Original aus dem Erzgebirge. Eine kleine Luther-Holzfigur, die ihrem Gegenüber, dem Papst Leo X., die Stirn bietet, wurde außerdem in ein Wetterhäuschen (Jubiläumsedition) integriert. Für die Herstellung von Luther als Handpuppe im Großformat entschied sich die bekannte Kumquat-Firma. 22 Obwohl die ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann schon 2012 appellierte, keinen Luther-Kult zu betreiben – [EKD] Käßmann (siehe Link im Literaturverzeichnis). Fünf Jahre später sagte sie in einem Interview, die aktuelle Lage verkennend: „Persönlich sehe ich keinen Lutherkult, und wir feiern kein Luther-Heldengedenken“ – [Domradio] Käßmann-Reformation (siehe Link im Literaturverzeichnis). Die EKD selbst hat sich mit den Verkaufszahlen der Luther-Playmobil-Figur gebrüstet. Der heutige Ratsvorsitzende sei froh über den Aufstieg des kleinen Luther zum „Kassenschlager“ gewesen: „Wo immer ich in der Welt unterwegs bin – sei es in Südafrika oder Ruanda oder den USA – überall begegnet mir die Playmobil-Figur. Die Figur ist kein Klimbim oder lediglich ein Fan-Artikel, wie manche Kritiker behaupten. Eltern kaufen ihren Kindern diese Figur, weil sie spüren, dass sie mehr zu bieten hat als Darth Vader oder Spiderman“ – [EKD] Playmobil-Luther (siehe Link im Literaturverzeichnis).

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anderen Comics kam Luther vor wie im freizugänglichen Internetcomic Martin Luther. In Wort und Bild vom Verlag Evangelisches Medienhaus, in dem Bilderbuch Martin Luther. Ein Mönch verändert die Welt, in der schwarz-weißen Comicstory von Moritz Stetter, die im Unterschied zu den anderen LutherZeichnungen keineswegs eine idealisierende oder romantisierende Wirkung hat, oder in der graphic novel des italienischen Autorenduos Ciponte/Palmerino, in dem der Lebensweg Luthers mit unscharf gezeichneten Bildsequenzen nachskizziert wird. Cipontes und Palmerinos Luther-Comic ist aus dem Grund hervorzuheben, weil er auch die Schattenseiten und andere Facetten der Person Luther und seiner Ansichten veranschaulicht wie beispielsweise seine Judenaversion und antibäuerliche Haltung. In dem ganzen 08/15-Pool von Ja-Sagern, Schönrednern und Luther-Moralaposteln stellt Martin Luther von Ciponte/ Palmerino eine Einzelerscheinung – trotz des fraglichen Malstils – dar. Die Unmenge von sogenannten Luther-Filmen und Luther-Dokumentationen, die in den letzten dreißig Jahren gedreht wurden, zuletzt Luther von Eric Till mit Joseph Fiennes in der Hauptrolle (2003) als auch Julina von Heinz’ Katharina Luther (2017), sollen hier nicht näher besprochen werden.23 Nur eine eher unbekannte Zeichentrickfilmserie des ungarischen Regisseurs Zsolt Richly, in der Luthers Kampf mit dem Teufel von Kindesbeinen an gezeigt wird, verdient eine Erwähnung. Mit comicähnlichen Erzählmitteln und unter Ausblendung wenig ruhmreicher Abschnitte schildert Richly Luthers Werdegang. Auch die Spielerszene ist vom Luther-Virus nicht verschont geblieben. Außer einigen einfach gestrickten und wenig (vom technischen Standpunkt her) attraktiven Online-Plattformspielen, in denen der Versuch unternommen wurde, die Player der niedrigeren Alterskategorien mit Informationen über die Reformationsepoche für sich zu gewinnen, hat der Verlag Kosmos das Brettspiel „Luther. Das Spiel“ herausgebracht, selbstverständlich unter der heißbegehrten Luther-Dachmarke, mit der alle offiziellen Brandingprodukte signiert wurden, die von der EKD in der Reformationsdekade abgesegnet wurden.24 Die Brettspieler können anhand spezieller Spielkarten, jeweils mit dem Abbild von Luther, Philip Melanchthon, Katharina von Bora, Lucas Cranach oder Friedrich dem Weisen, Luthers ‚Abenteuer‘ von Worms 1521 bis Augsburg 1530 mit verfolgen, indem sie auf der Brettspielkarte die vorgezeichnete Route befolgen und Punkte für die richtigen Antworten auf die Fragen sammeln: „Als Luthers Zeitgenossen treten die Spieler in seine Fußstapfen und bereisen die Städte, in denen er wirkte. Mit Käse, Brot und Dünnbier wandern sie von Ort zu 23 Zur Darstellung von Martin Luther im Filmgenre siehe die englischsprachige Monographie von Wipfler, Martin Luther in Motion Pictures. 24 Entwickelt wurde die Kampagne von der Werbegentur Scholz & Friends. Siehe: [Welt] Dachmarke (siehe Link im Literaturverzeichnis) sowie [TAZ] Kommerz (siehe Link im Literaturverzeichnis.

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Abb. 3: Das Luther-Brettspiel vom Verlag Kosmos. Foto: Wolfgang Brylla.

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Ort und treffen dabei auf wichtige Weggefährten des Reformators. […] Hier kann man Martin Luther ganz spielerisch erleben“ – liest man im Werbetext auf der Rückseite des Verpackungsdeckels. Luther als feierabendliche Freizeitgestaltung. Die Werbemaßnahmen rund um Luther waren/sind jedoch nicht nur der PopRhetorik geschuldet, in der Inhalte durch Kitschigkeit und irrelevante Oberflächlichkeiten substituiert werden. Schon zu Lebzeiten Luthers, das ganze 16. Jahrhundert lang, kann ein wahrer Luther-Kult beobachtet werden, der seinen Anfang mit Cranachs Bildern nahm, die heutzutage von der Forschung als „Entwürfe für ein [Propaganda-] Image“ bewertet werden.25 Den Höhepunkt erreichte die Luther-Mode im 19. Jahrhundert im Zuge des in Preußen ausgerufenen Zusammenschlusses der kalvinischen und lutherischen Glaubensgemeinschaften (Unierte Kirche) und der Gründung des Deutschen Kaiserreiches (1871). Mit Luther wurde damals ein „Devotionaliengeschäft“ betrieben und Luther selbst wurde zum Sinnbild der deutsch-bürgerlichen Tugend, der solche positiven Eigenschaften wie „Gemütsinnigkeit und Arbeitsethos, Ordnungsliebe und nüchterner Realismus, Wahrhaftigkeit und sittliche Reinheit“ verkörperte.26 Die Künstlergilde offenbarte ihre Vorliebe für den thüringischen Theologen, indem sie ihn zum Helden ihrer Romane und Gemälde machte.27 Infolge solcher ästhetischen Praktiken wurde Luther mehr und mehr zur Kunstfigur und zum Werbeträger eines Religionskonzepts, das vom Staat gefördert wurde. In eben dieser Zeit pflanzte man die ersten Luther-Buchen zur Erinnerung an den Mann, der es wagte, Rom Paroli zu bieten. Seitdem hat die Tradition des Baumanbaus stark nachgelassen, dafür werden Parkanlagen, Straßen und sogar ein ICE der Deutschen Bahn (ICE 4 „Martin Luther“) auf den Namen Luther getauft.28 Von einer wahrhaften Luther-Renaissance kann man in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sprechen, als infolge der Feierlichkeiten zum 400. Reformationsjubiläum Luther post mortem zum Medienstar avancierte. Vor allem die Literatur benutzte Luther als Blaupause und Vorlage für ihre meistens geschichtsorientierten Handlungen („Lutheromanie“).29 Auch heutzutage ist die Tendenz, unter Rückgriff auf Luther eine (recht selten) spannende Geschichte aufzubauen, mit bloßem Auge zu sehen; es entstand sogar eine Subgattung der Luther-Romane.30 Abgesehen vom literarischen (Un-)Wert all dieser LutherTexte, die man der Kategorie Geschichtsroman bzw. Geschichtsfiktion zuordnen 25 Zitiert nach: Mecklenburg, Der Prophet der Deutschen, 9. 26 Ebd., 114. 27 Ebd., 145f. Siehe auch: Luserke-Jagui, Luther in der Literatur, 544–550; Luserke-Jaqui, „Eine Nachtigall die waget“. 28 Siehe auch: [DB] Luther-ICE (siehe Link im Literaturverzeichnis). 29 Mecklenburg, Der Prophet der Deutschen, 156. 30 Zur Darstellbarkeit der Reformation in der Literatur siehe: Janus, Die Darstellung der Reformation in aktuellen historischen Romanen, 357–367.

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kann, können sich die Verkaufszahlen fast von allen solchen Romanen sehen lassen. Die Bandbreite der Luther-Romane erstreckt sich von harlequinähnlichen Liebesschmonzetten über die Wiederaufnahme von klischeehaften Luther-Beschreibungen und Luther-Bildern bis hin zu komplexen funktionalisierten Problemromanen, in denen vor dem Luther-Hintergrund die Problematik von Gerechtigkeit und Schuld, Gut und Böse, Dürfen und Nichtdürfen oder Leben und Tod durchdekliniert wird. Zu dem letzt genannten Segment zählen beispielweise Feridun Zaimoglus sprachintensiver Evangelio. Ein Luther-Roman31 oder Waldtraut Lewins Feuer, in dem die Autorin die Sockelstellung Luthers als Legende teilweise zu revidieren vermag. Gängige Betrachtungsweisen: Luther, der Mensch, Luther, der Reformator, Luther, der Antisemit,32 werden fiktionaltechnisch hinterfragt. Erzählt wird von der inneren Zerrissenheit eines Menschen, der von eigenen Trieben an den Abgrund des psychischen Daseins gelotst wird und einen Fluchtweg aus der Sackgasse, in der er landete, sucht. Luther wird im Gegensatz zu anderen Luther-Romanen eindeutig die Mitschuld am Blutvergießen gegeben, der Text endet mit Luthers Ableben kurz vor dem Ausbruch des Schmalkadischen Krieges: „Knapp ein halbes Jahr darauf, am 10. Juli, stehen sich das Heer seiner Kaiserlichen Majestät und die Truppen des evangelischen Schmalkaldischen Bundes im Felde gegenüber. Keine Versöhnung. Es wird Krieg geben in seinem Namen. Man nennt die evangelischen Streiter: die Lutherischen.“33

Luther-Mythologisierung 2.0 Die Motive des medialen Luther-Interesses mögen unterschiedlich sein, gleichwohl münden sie in einem klischeehaften plumpen Luther-Verständnis, das seit Mitte des 19. Jahrhunderts besteht und kaum verifiziert wurde. Die Mythologisierung, die Mythos-Bildung, die in Preußen der Hohenzollern vonstatten ging, erlebt zweihundert Jahre später eine Neuaktualisierung, die Kaufmann „Heroisierung“ und „Monumentalisierung“ nannte.34 In Wahrheit jedoch erweist sich die Mythologisierung der Errungenschaften Luthers und seiner Leistung 2.0 heute größer, als sie noch im 19. Jahrhundert war. Wenn damals Luther als beschönigte Identifikationsfigur im Prozess der Herausbildung der deutschen 31 Zaimoglu, Evangelio. 32 Zu Luthers Verhältnis zu Juden und dessen Judenbild siehe die eingängige Studie von: Kaufmann, Luthers Juden. 33 Lewin, Feuer. Der Luther-Roman, 382. 34 Siehe: [Tagesspiegel] Kaufmann-Interview (siehe Link im Literaturverzeichnis). Von der Monumentalisierung Luthers hat schon früher Leppin, Die Monumentalisierung Luthers, 69– 92.

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Nation zum Einsatz kam („Geburtsstunde nationaler Identität“35) und den Nationalprotestantismus symbolisierte, der allmählich Züge eines „aggressiven Nationalismus“36 annahm und zum „Topos deutscher Apologetik und konservativer antidemokratischer Kulturkritik wurde“37, so ist er anno 2017 zur bedeutungslosen Maske verunstaltet, hinter der sich alles Mögliche verstecken kann. ‚Verpopung‘ und Kommerzialisierung von Luther fand in diversen Bereichen der Kunst und des alltäglichen Lebens statt, was dazu führte, dass es diesem Luther’schen Wunschbild einfach am Identifikationspotential mangelt(e), das beispielsweise von Conrad Ferdinand Meyer noch so stark gepriesen wurde (Lutherlied). Infolge solches Identitätsverlustes wird Martin Luther bloß als Wirtschaftsprodukt wahrgenommen, das sich gut veräußern lässt. Was blieb, ist nur eine Luther-Hülle, die mit Substanz je nach Gutdünken und Absicht des jeweiligen Unternehmens oder Künstlers umgemodelt und dem eigenen Interesse angepasst wird. Es kristallisierte sich ein völlig neues Image von Luther heraus – nicht als Rebell, Bibelübersetzer, der dem Volk aufs Maul schaute, sondern als Sprücheklopfer, als Kabarettist (!) und schließlich als popmoderne Werbefigur bzw. als Promi, den man schon im australischen Dschungel made by RTL zu sehen glaubt. Des Sinngehalts und der Gedankenwelt beraubt lebt Luther sein neues, anderes Leben und unterscheidet sich kaum von Lego, Puma, oder Daniela Katzenberger. Bedenklich ist, dass sich die evangelische Kirche im Allgemeinen diese Bedeutungsumwandlung gefallen lässt und, was den Rahmen sprengt, eine Reformationserinnerungskultur billigt, der der Trash des Pop zugrunde liegt. Viele Kirchenfunktionäre, wie Gotthard Fermor, der das rheinländische Pädagogisch-Theologische Institut der Evangelischen Kirche leitet, meinen, dass Luther tatsächlich zum wahren Popstar mit Starallüren tauge. Ob man es mit den „popkulturelleren Anbiederungen“ tatsächlich schaffen könnte, eine Brücke zwischen der reformatorischen Vergangenheit und der Gegenwart zu schlagen, bleibt dahingestellt. Fermor bejaht es: „Pop ist das, was gut funktioniert – und das, was er [Luther] losgetreten hat, hat funktioniert.“38 Mit solchen und ähnlichen Vorgehensweisen wird man weder der ganzen Reformation noch Luther gerecht; man zieht Luther ins Lächerliche, indem man ihm auf Teufel komm raus einen Popstar-Habitus aufzwingt. In Zeitungsartikeln sieht man zum einen die anschwellende Tendenz dazu, Luther leichtfertig zu verherrlichen, und zum anderen den exorbitanten Erklärungsdrang, der darin zum Ausdruck kommt, dass man einen Menschen des Mittelalters leichten Herzens zum Vater der 35 36 37 38

Mecklenburg, Der Prophet der Deutschen, 2. Ebd., 148 Ebd., 157. Das Interview mit Gotthard Fermor geführt von Änne Seidel für den „Deutschlandfunk“ vom 30. Oktober 216, abrufbar unter [Deutschlandfunk] Fermor-Interview (siehe Link im Literaturverzeichnis).

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Moderne stilisiert.39 Dabei gibt man sich in der Argumentation nur mit Floskeln zufrieden und insistiert auf obsoleten Deutungsmustern der Person Luther aus dem 19. Jahrhundert, in dem Luther mit dem „Hercules Germanicus“ gleichgesetzt wurde.40 Schilling hat 2013 die zwei Hauptaufgaben der Historiker darin gesehen, aus Anlass der Reformationsfeierlichkeiten, ein reines, nicht glorifizierendes, sondern auf dem wirklichen Sachverhalt beruhendes Bild der Reformation herauszuarbeiten. Erstens müsse die Reformationsepoche kontextualisiert werden, d. h. in der Zeit ihres (direkten) Wirkens verständlich gemacht werden; die Zusammenhänge, Querverbindungen etc. müssten offengelegt werden. Zweitens solle sich die Wissenschaft mit der Luther- und ReformationsMythosbildung sowie mit den Ressentiments, Vorurteilen und historischen Unwahrheiten auseinandersetzen und das gängige, in Umlauf gebrachte Weltbild auf den Prüfstand stellen.41 Hiermit wiederholt Schilling mehr oder minder eine Forderung, die schon 1991 der berühmte polnische Dichter und Sänger Jacek Kaczmarski in seinem Lied Marcin Luter mit den folgenden Schlusszeilen unter Verweis auf die Bedeutsamkeit des Wortes zum Ausdruck brachte: „Lese derjenige, der lesen kann/ Lesen solle er lernen!/ Wiederfinden solle er zum Wort!“ (poln. „Lecz niech czyta, kto umie,/ Niech nauczy sie˛ czytac´!/ Niech powraca – do Słowa!“).42 Lesen sowie Erkenntnis statt popkultureller Hülsen-Luther-Symbolik, die, hätte es sie im 16. Jahrhundert gegeben, wahrscheinlich den Bilderstürmern zum Opfer gefallen wäre.

Literatur Bürger, Joachim H./Berlemann, Friedrich R., Merchandising. Die hohe Schule des Handelns im Handel, Landsberg am Lech 1987. Diederichsen, Diedrich, Der lange Weg nach Mitte. Der Sound und die Stadt, Köln 1999. Janus, Richard, Die Darstellung der Reformation in aktuellen historischen Romanen und Konsequenzen für die Kirchengeschichtsdidaktik, in: R. Bernhard/F. Hinz/R. Maier (Hg.), Luther und die Reformation in internationalen Geschichtskulturen, Göttingen 2017, 357–367. Kaufmann, Thomas, Luthers Juden, Stuttgart 2014. 39 Dabei kann man, worauf Thomas Kaufmann hinweist, keine eindeutige Verbindungslinie zwischen der Reformationsbewegung und der Herausbildung der Moderne ziehen: „Eine definitive Antwort auf die Frage nach der Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen westlichen Zivilistion dürfte problematisch sein; auch eine kausale Ableitung derselben allein aus der Reformation kommt kaum in Betracht“ (Kaufmann, Reformation, 94). 40 Siehe: Mecklenburg, Der Prophet der Deutschen, 4. 41 Schilling, Martin Luther, IXf. 42 Siehe: Roguski, Do przyjaciela wroga, 310; Preder, Poz˙egnanie barda, 123–125.

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I Das Reformationsjahr 2017, dessen offiziellen Höhepunkt die drei nationalen Sonderausstellungen in Berlin, Wittenberg und Eisenach bildeten, hat ausdrücklich gezeigt, dass Martin Luther als Symbol- und Identifikationsfigur noch lange nicht ausgedient hat und weiterhin als solche bemüht wird, indem er – so die Evangelische Kirche in Deutschland in einem Grundlagentext – „einerseits zum Widerspruch herausfordert“ und andererseits „mit Beharrlichkeit, Wagemut und Überzeugungskraft zur Identifikation einlädt“1. Das Ringen um die Deutung der Figur Luthers und um das Verständnis seiner reformatorischen „Tat“, welches den Prozess der Mythisierung des Reformators und der vielfachen Vereinnahmung der von ihm initiierten Reformation in Gang setzte, begann bereits zu seinen Lebzeiten und fand seinen sinnfälligen Ausdruck nicht zuletzt in den Lutherjubiläen (Jahrestagen der Reformation, Geburts- und Todestagen des Reformators etc.), bei denen man – so Hartmut Lehmann in seiner Darstellung des Luthergedächtnisses – „jeweils an einen anderen Luther erinnert“ habe.2 Selbst ein flüchtiger Blick auf Gedenkinitiativen und -maßnahmen aller Art (Massenveranstaltungen, Denkmäler, Bilder usw.) bestätigt die Diagnose Lehmanns von dem zeit- und geschichtspolitischen Gebrauch des Luthergedächtnisses: Fast will es scheinen, dass diejenigen, die Luther feierten, immer zuerst und vor allem sich selbst feierten – ihre eigene politische Position, ihre eigenen kulturellen Werte, ihre jeweiligen kirchenpolitischen Ansichten. Mit anderen Worten: Immer wieder wurde das Luthergedächtnis für bestimmte politische, kirchliche und kulturelle Zwecke instrumentalisiert.3

1 Zitiert nach: Jureit, Reformation als Konfliktgeschichte, 198. 2 Lehmann, Luthergedächtnis 1817 bis 2017, 10. 3 Ebd., 11.

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In dem Beitrag wird die Erinnerungsgeschichte der Reformation und ihres „Urhebers“ unter besonderer Berücksichtigung der Luther- und Reformationsjubiläen und der massenwirksamen Maßnahmen rekonstruiert, die Luther als Symbol- und Identifikationsfigur der Deutschen kreierten und die kollektive Erinnerung an die Reformation als einen engen Zusammenhang von Religion und Nation konstruierten.

II Die von Luther initiierte Reform der Kirche hatte eindeutig zunächst einen theologischen Ursprung. Luthers antirömische Haltung und antipäpstliche Rhetorik spitzten diese Fragestellung politisch zu und öffneten den Weg zur politischen Inanspruchnahme des reformatorischen Bestrebens. Der theologische Streit verwandelte sich rasch in eine nationalpolitische Auseinandersetzung, in der die Sache Luthers, wie das der Politikwissenschaftler, Ideenhistoriker und Forscher der politischen Mythen Herfried Münkler nachweist, als die Sache der Deutschen dargestellt werden konnte.4 Die zentralen Szenen im Luthermythos, die in den wiederkehrenden Reformationsjubiläen immer wieder eindrucksvoll zum Vorschein kamen, sind der Thesenanschlag an der Wittenberger Schlosskirche am 31. Oktober 1517 und Luthers Auftritt auf dem Reichstag in Worms mit seinem berühmten Bekenntnis: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“. Dass beide Ereignisse in Wirklichkeit nicht stattgefunden haben, zumindest nicht so, wie sie sich in das kollektive Gedächtnis eingeprägt haben, ändert nichts an der Tatsache, dass sie – so Herfried Münkler – „in ihrer mythisch-narrativen Form dem deutschen Protestantismus Kraft und Selbstvertrauen gegeben [haben]“5. Der Reformator wurde mithilfe der unzähligen und mannigfaltigen ‚Luther-Events‘: Gottesdienste, akademischer Reden, Musikaufführungen, Theaterspiele, Publikationen von Schriften und Bildern zum „Spiegel, in dem Epoche um Epoche ihre höchsten Werte zelebrierte und beschwor“6.

4 Vgl. den Beitrag von Münkler, Antifaschistischer Widerstand, frühbürgerliche Revolution und Befreiungskriege, 443–445. 5 Münkler, „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“, 183. 6 Wendebourg, Im Anfang war das Reformationsjubiläum, 20.

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III Die beiden Jubiläen der Reformation 1617 und 1717 waren gesellschaftliche Großereignisse, in denen Macht und Einigkeit des protestantischen Lagers demonstriert wurden. Zu jener Zeit gab es schon eine reiche Ikonographie, die Luther als einen quasi Heiligen, als Evangelisten oder als Sieger über den Papst und die römische Kirche darstellte. Ab und zu griff man dabei auf die mythologische Stilisierung zurück, indem man den Reformator z. B. als deutschen Herkules zeigte, der mit Keule die römische Hydra erschlägt. Bildliche Darstellungen, die den deutschen Luther-Mythos geprägt haben, veranschaulichen verschiedene Etappen seines Lebens (vorwiegend die frühe Phase der reformatorischen Tätigkeit und den saturierten Luther in den letzten Lebensjahren). Man kann dabei zwei Darstellungstypen unterscheiden. Luther wurde entweder als junger asketischer Mann in Mönchskutte und mit Tonsur, als Junker Jörg oder als saturierter Mann, der selbstzufrieden auf sein vollbrachtes Lebenswerk zurückschaut, präsentiert. Ein anschauliches Nebeneinander von Bildern eines Kämpfers, der gegen alle Obrigkeiten und Autoritäten ins Feld zieht, und denen eines Lehrers der Nation ist für die Luther-Ikonographie über Jahrhunderte hinweg geradezu paradigmatisch. Ein solches Lutherbild dominierte wohl auch im Jubiläum 1717, in dem der Reformator weiterhin Standfestigkeit, Gewissheit und Autorität verkörperte und in die Rolle einer Identifikationsfigur für die Anhänger seiner Sache schlüpfte. In den Zeiten, in denen die Reformation eher als ein noch nicht abgeschlossener Prozess gesehen wurde, brauchten sie eine Halt und Orientierung gebende Persönlichkeit dringender denn je. „Mit der Reformation ist noch bey weitem nicht alles geschehen, was hat geschehen sollen“ – meinte der lutherische Theologe Philipp Jakob Spener im Rückblick auf das ausgehende 17. Jahrhundert.7

IV Die Aufklärung brachte ein neues Reformationsverständnis mit sich und dementsprechend wurde auch das Lutherbild modifiziert. Die Reformation verstand man nun als ein revolutionäres Ereignis, Beginn eines neuen Zeitalters und eine natürliche Entwicklungsstufe der Menschheit auf ihrem Weg zur Freiheit und Vernunft. Luther wurde zum Vorkämpfer der Aufklärung stilisiert, dessen Leistungen als Taten interpretiert wurden, die die Mündigkeit der Menscheit, allgemeine Bildung, Gewissensfreiheit und Toleranz gefördert haben. Lessing 7 Zitiert nach: Chaix, Die Reformation, 13.

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z. B. sah in Luther vor allem den Bibelübersetzer und Kämpfer für die Vernunft. Mit Luther „[brach] die Morgenröte eines freien Glaubens hervor“, schrieb der jüdische Publizist Saul Ascher im Rückblick auf das Reformationsjubiläum von 1817.8 Bei diesem Jubiläum begann aber auch eine durch konfessionell-lutherische Kreise initiierte Pluralisierung des Luther- und Reformationsbildes,9 die bei den folgenden Reformationsjubiläen ihren sinnfälligen Ausdruck fand.

V Luther gehörte zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu den bekanntesten – neben Hermann dem Cherusker und Friedrich Barbarossa – „deutschen“ Heldenfiguren, in deren Tätigkeit die „Verbildlichung und phantasmatische Materialisierung des Begehrens nach nationaler Identität“ zum Ausdruck kam.10 Luther, dessen Figur komplizierter war als z. B. die von Hermann, wurde um die Wende zum 19. Jahrhundert zur Projektionsfläche für unterschiedliche national-, kultur- und kirchenpolitische Interessen. Immer wieder aber, wenn es um die Selbstvergewisserung der Deutschen über ihre nationale Identität ging, suchte man Halt und Argumente im Protestantismus und seiner zentralen Form: Wenn die Nation feierte, sang man protestantische Lieder, verehrte Luther und stilisierte die Reformation zur deutschen Revolution, man überhöhte den Sieg der deutschen Truppen 1870 über die französische Armee religiös zum Sieg des protestantischen Gottes auf deutscher Seite über den katholischen Gott, der den Franzosen und zuvor den Österreichern nicht helfen konnte.11

Die nationale bzw. nationalpolitische Umdeutung Luthers, deren Hintergrund eine enge Verknüpfung des Nationalen mit dem Religiösen bildete,12 brachte zumindest zwei zentrale Denkfiguren hervor: 1. Luther als Mann der „Tat“, mit dessen Hilfe die vermeintlich nicht abgeschlossene Reformation zu vollenden sei, und 2. Luther als Mann des „Wortes“, dessen Bibelübersetzung der Gründung der deutschen „Kulturnation“ zugrunde liegt und die politische Einheit Deutschlands erst möglich machte. Diese Argumentation von Friedrich Ludwig Jahn13 hat bis heute gehalten, worauf ich noch im letzten Abschnitt dieses Beitrags zu sprechen kommen werde. 8 9 10 11 12

Zitiert nach: Wendebourg, Die Reformationsjubiläen des 19. Jahrhunderts, 327. Vgl. Wendebourg, Im Anfang war das Reformationsjubiläum, 21. Vgl. Krippner, Der „deutscheste Mann unserer Geschichte“, 108. Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, 100. Zur strukturellen Ähnlichkeit zwischen Nationalismus und religiösen Denkweisen unter Berufung auf Benedict Andersons Konzept von imagined community vgl. Krippner, Der „deutscheste Mann unserer Geschichte“, 111–113. 13 Vgl. Jahn, Deutsches Volksthum, 161, 163f.

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In Zeiten, in denen die nationale Einheit als ein besonders erstrebenswertes politisches Ziel angesehen wurde, sah man die Reformation aber auch als Ursache der Spaltung deutscher Nation. Diesen Störfaktor der deutschen Einheit wollte man überwinden, indem man die Erinnerung an die Reformation in den Hintergrund zu drängen versuchte und eher die identitätsstiftende Persönlichkeit Luthers in den Vordergrund rücken ließ. „Luthers Charakter […] [war] das einzige, was einer Menge imponiert. Alles übrige ist ein verworrener Quark, wie er uns noch täglich zur Last fällt“ – schrieb Goethe an Karl Ludwig von Knebel am 22. August 1817.14 Die Verbindung des Gedenkens an die Reformation mit dem aufsteigenden Nationalgefühl der Deutschen und patriotischen Tendenzen, die im Laufe des 19. Jahrhunderts einigermaßen zur geschichtspolitischen Norm wurde, manifestierte sich auch in der Durchführung der Reformationsjubiläen, die man mit den aktuellen politischen Ereignissen (z. B. 1817 mit der Erinnerung an die Völkerschlacht bei Leipzig) zu kombinieren suchte. In diesem Gedenken, in dem sich das Konfessionelle mit dem Politischen verschränkte, wollte der Historiker Franz Schnabel die Grundidee der politischen Massenveranstaltungen des 19. Jahrhunderts sehen, jener – wie z. B. das Hambacher Fest 1832 – „weltliche[n] Gottesdienste, in denen die nationalen und revolutionären Idole an die Stelle des Allerhöchsten zu treten sich anschickten“15. Luther wurde – so Gérald Chaix in der bereits zitierten erinnerungsgeschichtlichen Darstellung der Reformation – zur „Verkörperung des jungen aufstrebenden Deutschland gegenüber den senilen romanischen Mächten“ und zum „Prototyp des romantischen Geistes“.16 Dieses Lutherbild hatte auch eine philosophische Begründung: Sah schon Johann Gottfried Herder den Reformator als Helden des Volkes, Begründer einer wahren Nationalreligion und Sprachgenie, so erkannte Georg Wilhelm Friedrich Hegel in der Reformation den Anfang der Herrschaft des Geistes. „Mit der Reformation […] beginnt […] das Reich des Geistes, wo Gott als Geist wirklich erkannt wird“ – schrieb der Philosoph in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte.17 Hegel und auch Johann Gottlieb Fichte sahen in Luther einen Umstürzler, der die bestehende Ordnung umkrempeln wollte. In der Nachfolge der Hegel’schen Linke urteilte Karl Marx, dass Luthers Reformation den ideellen Grund für eine soziale Revolution vorbereitet habe. Dementsprechend wurde von den Vertretern dieser Denkrichtung der Bauernaufstand als zentrales Ereignis des reformatorischen Geschehens erkannt und sein Anführer Thomas Müntzer als Prototyp des Revolutionären gewürdigt.18 Dieser

14 15 16 17 18

Zitiert nach: Chaix, Die Reformation, 14. Zitiert nach: ebd., 15. Zitiert nach: ebd., 16f. Zitiert nach: ebd., 17. Vgl. Zimmermann, Allgemeine Geschichte des großen Bauernkrieges.

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Gedanke wurde in der DDR in das offizielle Reformationsgedenken aufgenommen.

VI Das Bild des Reformators wurde – neben Festen und Jubiläen – auch durch die Lutherdenkmäler geformt, die sich ins kollektive Bewusstsein einprägten. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts (zwischen 1807 und 1817) sind Lutherstatuen in Mansfeld, Eisleben und Wittenberg entstanden, und 1821 wurde das Lutherdenkmal in Wittenberg eingeweiht. Dieses Werk von Johann Gottfried Schadow sowie das 1868 enthüllte Denkmal in Worms, nach dem Entwurf von Ernst Rietschl, wurden zum Vorbild für andere Lutherdenkmäler, deren Zahl in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wesentlich zugenommen hat. Beide Monumente visualisieren die Erfolgsgeschichte der Reformation. Luther ist hier kein Kämpfer aus der Frühphase der Bewegung, sondern ein reifer und erfolgreicher Mann, der mit Genugtuung auf das vollbrachte Lebenswerk zurückblickt. Er wurde als Lehrer der Nation dargestellt, dessen hohes Lehramt die in der linken Hand gehaltene Bibel symbolisiert. Bezeichnenderweise dienten für die beiden Denkmäler Bilder des älteren Luther als Vorlage. „Luther, der Antiautoritäre, war zur Autorität geworden“ – bemerkte dazu Herfried Münkler.19 Luther und andere Akteure der Reformation wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts ins nationale Pantheon aufgenommen, zu dem schon solche Persönlichkeiten, wie Johannes Gutenberg (Mainz, 1817), Albrecht Dürer (Nürnberg, 1837), August Hermann Francke (Halle, 1825–1828), Lessing (Braunschweig, 1848–1849), Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller (Weimar, 1852– 1857) oder Georg Händel (Halle, 1857–1859) gehörten. Ihre Denkmäler bildeten ein dichtes Netz, welches dem Begriff der Kulturnation „Gehalt und Gestalt“ gab.20 Diese Vernetzung der kulturellen Erinnerung wurde durch die rasche Entwicklung des Transportwesens (der Eisenbahn) wesentlich gefördert. Dadurch, dass historische Orte, darunter auch die Gedächtnisorte der Reformation, nun schnell und bequem erreichbar wurden, konnte die Erinnerung an die Reformation und an Luther selbst effektiv auch in das nationalpädagogische Programm eingebunden werden. Sowohl die Denkmäler als auch Fresken und Historienmalerei mit ihren Lieblingsthemen, dem Thesenanschlag, Auftritt in Worms, der Verbrennung der päpstlichen Bannbulle, wurden immer wieder im Hinblick auf die Gegenwart 19 Vgl. Münkler, „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“, 191. 20 Chaix, Die Reformation, 21.

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und nationalpolitische Interessen interpretiert. Luther erscheint in der öffentlichen Ikonosphäre des 19. Jahrhunderts als Befreier des Denkens, Begründer einer originellen deutschen Kultur und Vorkämpfer für ein freies und vereintes Deutschland.

VII Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das Luthermythos zunehmend für nationalistische Zwecke, wie die Untermauerung der Weltsendung Deutschlands, in Anspruch genommen. Einen wesentlichen Beitrag dazu leistete auch die akademische Geschichtswissenschaft. Leopold von Ranke z. B. stellte die Reformation in seiner Deutschen Geschichte im Zeitalter der Reformation (1839–1847) ins Zentrum des politischen Einigungsprozesses; ihm ist auch die Benennung der Periode zwischen 1517 und 1555 zu verdanken. Ein differenzierteres Bild des Bündnisses von Religion und Politik im Kaiserreich und der von Dieter Langewiesche festgestellten ‚Deutungshoheit‘ des Protestantismus in Fragen der nationalen Einheit der Deutschen gewinnt man aus der Unterscheidung zwischen dem in weiten Kreisen der Bevölkerung verbreiteten Nationalprotestantismus und dem in den Bildungseliten gepflegten Kulturprotestantismus: Im Kaiserreich wurden die Weichen für Deutschlands Weg in die Moderne gestellt. Die Lutherbilder wiesen in dieser weichenstellenden Epoche in gegensätzliche Richtungen. Die nationalprotestantische Ordnungsidee der Homogenisierung des deutschen Volkes stand quer zu den kulturprotestantischen Ideen eines „Pluralismus“ der politischen Gemeinschaften und religiösen Glaubenskreise, wie es Ernst Troeltsch sehr modern formulierte, damit aber nur eine Minderheit erreichte. Präsent ist die im Kaiserreich erzeugte Spannung zwischen nationaler Homogenisierung und kultureller Pluralisierung bis in die Gegenwart.21

Stellvertretend und wegweisend für die nationalprotestantische Inanspruchnahme Luthers durch die Geschichtswissenschaft ist die Gedächtnisrede, die Heinrich von Treitschke, einer der Vertreter der „borussischen“ Schule der Geschichtsschreibung, zum 400. Geburtstag des Reformators im Jahre 1883 hielt: Aus den tiefen Augen dieses urwüchsigen deutschen Bauernsohnes blitzte der alte Heldenmut der Germanen, der die Welt nicht flieht, sondern sie zu beherrschen sucht durch die Macht des sittlichen Willens, und weil er heraussagte, was im Gemüte seines 21 Hübinger, Luther als nationale Symbolfigur (siehe Link im Literaturverzeichnis). Zum National- und Kulturprotestantismus vgl. grundlegend Gailus/Lehmann (Hg.), Nationalprotestantische Mentalitäten in Deutschland (1870–1970); Hübinger, Kulturprotestantismus und Politik.

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Volkes schon lebte, nur deshalb konnte der arme Mönch […] schließlich der neuen römischen Weltmacht ebenso furchtbar werden wie einst die germanischen Kohortenstürmer dem Reiche der Caesaren.22

Sowohl Treitschkes Rede als auch die um wenige Tage jüngere Ansprache Albrecht Ritschls, des Theologen und Vaters des „Kulturprotestantismus“, in der die Reformation mit der nationalen Frage und mit der Modernität deutscher Kultur in Verbindung gesetzt wurde, sind anschauliche Beispiele für die Deutung der Reformation, die den Interessen der politischen und kulturellen Eliten des Reiches entsprach: „Kulturell hatte sie mit der romanischen Welt gebrochen und den Werten einer deutschen Kultur zum Durchbruch verholfen“23. Im Jahre 1883, auf dem – so Chaix – „Höhepunkt der Symbiose von Reformation und Nation“24, wurde übrigens der „Verein für Reformationsgeschichte“ gegründet und man begann mit der Arbeit an der kanonischen Weimarer Ausgabe der Werke Luthers. 1886 wurde der einflussreiche und reichsweit wirksame „Evangelische Bund zur Wahrung der deutsch-protestantischen Interessen“ ins Leben gerufen. Die angebliche Modernität der reformatorischen Idee wurde um die Jahrhundertwende im Rahmen einer durch die „Krise der Moderne“ hervorgerufenen kulturkritischen Auseinandersetzung mit der Reformation und Luther infrage gestellt. Ihr scharfer Kritiker war Friedrich Nietzsche in seinem Antichrist; weniger radikal bezweifelte die Verbindung von Reformation und Modernität Troeltsch, der in Luther keinen Vorreiter der Moderne, sondern einen Mann des Mittelalters sah. Diesen zu einer Kampffigur stilisierten „nationalen“ Reformator und die „lutherische Tat“ beschwor man in den großen Momenten der deutschen Geschichte, sei es 1871, indem man eine Verbindungslinie zwischen Reformation und Reichsgründung zog,25 sei es 1917, als der Krieg schon so gut wie verloren war und Luther als Symbol der Durchhaltekraft und der unbezwingbaren Stärke des deutschen Geistes gute Dienste leisten konnte. Die Rolle des zeitgenössischen Mitstreiters der kämpfenden Nation wurde Luther ausdrücklich vom Theologen Paul Althaus in seiner Gedächtnisrede 1917 zum 400. Jubiläum des Thesenanschlags zugewiesen: Wie hat Martin Luther unser deutsches Volk lieb gehabt! Wenn er sah, wie sein Volk von Welschen gedrückt, geschunden und verachtet wurde, dann schwoll ihm die Zornesader

22 23 24 25

Zitiert nach: Münkler, „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“, 192. Vgl. Chaix, Die Reformation, 21. Ebd., 20. So z. B. der Divisionspfarrer in Metz und spätere Hofprediger in Berlin Adolf Stöcker: „Das heilige evangelische Reich deutscher Nation vollendet sich […]. In dem Sinn erkennen wir die Spur Gottes von 1517 bis 1871“ (zitiert nach: Münkler, „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“, 191).

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gar gewaltig und deutscher Grimm donnerte durch seine Anklageschriften. Eines würde Luther auch heute gewisslich nicht sein: neutral!26

Ein anschauliches Beispiel für die ‚Mobilmachung‘ des Reformators in der Stunde der Kriegsnot ist die Feldpostkarte von 1917, die Luther und Bismarck unter der deutschen Eiche als – so die Werbung des „Evangelischen Bundes“ – „Streiter für deutsche Ehre, deutschen Glauben, deutsche Macht“ zeigt.27 Diese hier sinnfällig dargestellte, sich wechselseitig verstärkende „Nationalisierung christlicher Glaubensbestände“ und „Sakralisierung der Nation“28 behielten ihre Wirksamkeit auch nach 1918.

VIII Einen wichtigen Bestandteil des Lutherbildes bzw. Luther-Mythos macht seine Rolle als Ehemann und Familienvater aus, welche im Zuge der Verbürgerlichung der Gesellschaft (und des Pfarrberufes) auf ein konstant wachsendes Interesse am Privatleben des Reformators stieß. Luther galt im 19. Jahrhundert nicht nur als Begründer des evangelischen Pfarrhauses, sondern auch als Schöpfer des protestantischen Familienideals und Verkörperung bürgerlicher Tugenden.29 Einen wesentlichen Beitrag zu dieser Sichtweise haben unter anderem der Historiker Leopold Ranke, der Schriftsteller Gustav Freytag und der Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl geleistet, indem sie in ihren Schriften Protestantismus mit Deutschtum, Bürgertum und deutscher Kultur identifizierten.30 Das evangelische Pfarrhaus wurde zunehmend zur „Chiffre für Bildung und Bürgerlichkeit, Familie und Nation, Zentralwerte des 19. Jahrhunderts“31 und war für das deutsche Bürgertum im späten 19. Jahrhundert ein Hort bürgerlicher Tugenden.32 26 Zitiert nach: ebd., 193f. 27 Vgl. Hübinger, Luther als nationale Symbolfigur (siehe Link im Literaturverzeichnis). Beschreibung der Feldpostarte vgl. auch den leicht gekürzten und veränderten Auszug aus: Kuhn/Stüber, Lutherbilder aus sechs Jahrhunderten, 62. 28 Hübinger, Luther als nationale Symbolfigur (siehe Link im Literaturverzeichnis). 29 Diese Rolle spielte im deutschen Imaginarium des 19. Jahrhunderts auch Johann Sebastian Bach. Vgl. dazu Veit, Bach, 239–257. 30 Vgl. Ranke, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation; Freytag, Bilder aus der deutschen Vergangenheit; Riehl, Die Familie. 31 Janz, Das evangelische Pfarrhaus, 221–238. Vgl. auch Weichlein, Pfarrhaus, 64f. 32 Man könne – so Janz – von einer Kontinuität dieses Bildes über weite Strecken des 20. Jahrhunderts sprechen. Erst um 1970 habe es den radikalen Bruch mit dem mehr oder weniger stark nationalisierten Bild des Pfarrhauses als Teil des deutschen Sonderwegs, also der Abweichung Deutschlands von dem westlichen Entwicklungsprozess gegeben. Vgl. dazu Janz, Das evangelische Pfarrhaus.

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Unzählige populäre Bilder, Zeichnungen etc., die Luther im Familienkreis darstellen, wie er mit Kindern musiziert oder Weihnachten feiert, kann man auch als idealisierende Visualisierungen des gerade verschwindenden „ganzen Hauses“ (Otto Brunner) betrachten, also der alteuropäischen Hausgemeinde, die neben den Familienmitgliedern auch das Hausgesinde und Abhängige umfasste.33 Darüber hinaus lässt sich aus diesen Bildern leicht die Tendenz erkennen, Luther als Urbild des biedermeierlichen Familienvaters zu inszenieren.

IX Die nationalistische Stilisierung Luthers zu einer Identifikationsfigur der Deutschen wurde auch nach 1918 durch deutschchristliche und völkische Gruppierungen fortgesetzt. Sie knüpften an sein heroisches Bild an und betonten die antirömische und antijüdische Haltung des Reformators, wobei dessen Antijudaismus zunehmend antisemtisch ausgelegt wurde. Nicht zuletzt konnte man sich dabei auf das 1917 veröffentlichte Manifest des völkischen Christentums Deutschchristentum auf rein evangelischer Grundlage: 95 Leitsätze zum Reformationsfest 1917 von Friedrich Andersen, Adolf, Ernst Katzer und Hans von Wolzogen berufen, in dem die Fortführung und Vollendung der Reformation postuliert wurde. Der Weg dazu sei die „Verdeutschung des Christentums“, also die „Ausscheidung der schädigenden Fremdkörper [vor allem der Juden – J.K.] aus dem Organismus der Kirche“34. Einer großen Popularität erfreute sich damals der Film Luther. Ein Film der deutschen Reformation von 1927 in der Regie von Hans Kyser, in dem der Reformator als Sieger über den römischen Katholizismus präsentiert wurde. Der Film stieß übrigens auf heftige Kritik der katholischen Seite; man warf ihm eine aggressive antikatholische Haltung vor, die die historische Wahrheit verfehle.35

33 Zur Darstellung des „ganzen Hauses“ und ihrer Rolle in der deutschen bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts vgl. Kała˛z˙ny, Unter dem „bürgerlichen Wertehimmel“, 219– 232. 34 Andersen/Bartels/Katzer/Wolzogen (Hg.), Deutschchristentum auf rein-evangelischer Grundlage. Zitate nach: Buss, Die Deutschen und Martin Luther (siehe Link im Literaturverzeichnis). 35 Zu den Lutherbildern im Film siehe: Fey, Luther zwischen Präformation und ‚Re-Formation‘, 53–75.

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X Versuche einer ideologischen Vereinnahmung Luthers und der Reformation in der NS-Zeit fanden einen besonders sinnfälligen Ausdruck in den Feierlichkeiten 1933 zum 450. Geburtstag Luthers, in denen sich Elemente bürgerlicher Festkultur mit nationalsozialistischer Symbolik mischten. Die ideologische und propagandistische Inanspruchnahme Luthers für die Sache des nationalsozialistisch ‚erneuerten‘ christlichen Glaubens fand in mehreren Bereichen des öffentlichen (innerkirchlichen, politischen etc.) Diskurses statt. So erklärte der spätere Reichsbischof Ludwig Müller in der Rede zum 450. Geburtstag Luthers: Wir wollen den Lutherischen Kampfgeist, der zur Entscheidung drängt und bis zur Entscheidung durchdringt, hinaustragen in unser Volk; der durch die deutsche Revolution aufgeweckte und aufgerüttelte deutsche Mensch soll tief innerlich gepackt und ergriffen werden von der befreienden Botschaft Christi, wie Luther ‚der Deutscheste aller Deutschen‘ sie für die deutsche Seele neu hat erstehen lassen.36

Zum Leitmotiv der Festveranstaltungen und Festreden zum Lutherjubiläum anno 1933 und später wurde die Parallelisierung von Luther und Hitler als zwei ‚großen Männern‘ deutscher Geschichte, die angeblich Vaterlandsliebe mit Gottesglauben in eins setzten.37 Untermauert wurde diese Argumentation paradigmatisch 1933 im in der „Allgemeinen Evangelischen-Lutherischen Kirchenzeitung“ (AELKZ) veröffentlichten Aufsatz Luther und Hitler von Hans Preuß.38 Preuß, Professor für Kirchengeschichte in Erlangen, hat weitausholende biografische, weltanschauliche und politische Parallelen gezogen, die wie folgt pointiert wurden: Man hat gesagt, daß deutsche Volk habe dreimal geliebt: Karl den Großen, Luther und Friedrich den Großen. Wir dürfen nun getrost unseren Volkskanzler hinzufügen. Und das ist wohl die lieblichste Parallele zwischen Luther und Hitler.39

36 Aufruf von Müller im Flugblatt zur 450. Wiederkehr Martin Luthers, undatiert. Landeskirchliches Archiv Kiel, 98.86, Nr. 26 – zitiert nach: Buss, Die Deutschen und Martin Luther (siehe Link im Literaturverzeichnis). Vgl. auch die Richtlinien der 1932 gegründeten nationalsozialistisch orientierten Glaubensbewegung Deutsche Christen: Richtlinien der Glaubensbewegung ‚Deutsche Christen‘ vom 26. Mai 1932 in: Kirchliches Jahrbuch für die Evangelische Kirche in Deutschland, 4–6. 37 Die offizielle Losung der Landessynode der evangelisch-lutherischen Kirche von Sachsen am 17. 11. 1933 lautete „Mit Luther und Hitler für Glaube und Volkstum“. Die Parallele von Luther und Hitler und Stilisierung des Reformators zum ‚ersten Nationalsozialisten‘ findet man explizite sowohl in den akademischen Aufsätzen und Vorträgen als auch in den Ansprachen der Politiker. Vgl. dazu den Vortrag von Kuessner, Luther – Hitler (siehe Link im Literaturverzeichnis). 38 Vgl. Lehmann, Hans Preuß, 287–296. 39 Zitiert nach: Kuessner, Luther – Hitler (siehe Link im Literaturverzeichnis).

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Die hier sichtbare Politisierung, oder „politische Entkernung“ des Reformators, verdeutlicht einigermaßen die auch in der Nachfolge von Preuß populär gewordene Gleichstellung Luthers und Hitlers. Ihren Ursprung hatte sie in der in Deutschland vielgelesenen Abhandlung Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts von Houston Stewart Chamberlain und dessen Darstellung Luthers vor allem als Politiker.40

XI Das Kriegsende 1945 bedeutete eine Zäsur für die nationale bzw. nationalistische Kreierung des Lutherbildes. Die Wende wurde schon 1946 sichtbar, als der 400. Todestag Luthers begangen wurde. In den Vordergrund rückte das Bild Luthers als Diener Gottes, Theologe und Bibelausleger, bei dem man Trost, oder – in der Formulierung von Dorothea Wendebourg – „Aufrichtung im allgemeinen Zusammenbruch“ finden könne.41 In den folgenden Jahrzehnten wurde dieses Bild „entnationalisiert“ und „entgermanisiert“ zugunsten einer immer stärkeren Berücksichtigung der sozialen, anthropologischen, kulturellen und politischen Aspekte der Reformation. Diese Tendenz ist, wohlgemerkt, auch in den gegenwärtigen Reformations- und Lutherforschung vorherrschend. Bereits in den ersten Nachkriegsjahren zeichnete sich eine neue, durch die Neuauflage der Abhandlung Der deutsche Bauernkrieg von Friedrich Engels eingeleitete Interpretationslinie der Reformation und Luthers selbst ab. Sie lief in der DDR darauf hinaus, die Erinnerung an den Reformator sowie seinen Mythos politisch zu instrumentalisieren und geschichtspolitisch zu nutzen. Die Neubewertung der Reformation als einer „frühbürgerlichen Revolution“ brachte Ende der 1960er Jahre auch die Rehabilitierung Luthers, der bis dahin in der Nachfolge Engels’ als Bauernverräter und Fürstenknecht angesehen wurde. Jetzt galt er als „Bürgersohn im Fürstendienst“ bzw. als „stadtbürgerlicher Theologe“. Ins Zentrum des Reformationsgedenkens wurde die Bauernrevolution und ihr Anführer Thomas Müntzer gestellt, wie 1975 beim 450. Jahrestag des deutschen Bauernkrieges. In den folgenden Jahren versuchte man, das symbolische Potential der Lutherfigur für geschichtspolitische Zwecke – vor allem als zentrale Figur im DDR-Gründungsmythos – zu nutzen, was die offiziellen Feierlichkeiten im Lutherjahr 1983 anschaulich zum Ausdruck brachten. Der 500. Geburtstag

40 Vgl. ebd. Dort auch über den Widerspruch zur Parallelisierung Luthers und Hitlers, unter anderem von Karl Barth und den Theologien aus seinem Kreis und über andere distanzierte Stimmen. 41 Wendebourg, Im Anfang war das Reformationsjubiläum, 24.

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Luthers wurde mit einem deutlich größeren organisatorischen und medialen Aufwand gefeiert als der 100. Todestag von Marx, der auf dasselbe Jahr fiel.42

XII Zur Entmythologisierung des Lutherbildes und seiner „Privatisierung“ steuerte in der Nachkriegszeit auch die Filmkunst bei. In Martin Luther von 1953 in der Regie von Irving Pichel wurde der Reformator als introvertierter Intellektueller dargestellt. In Deutschland, wo dieser Film 1954 aufgeführt wurde, stand er unter landesbischöflicher Schirmherrschaft; Eintrittskarten konnte man auch über die Pfarrämter besorgen. Auf diese Weise wurde dieses Filmwerk zu „einem kanonisierten protestantischen Identifikationsmedium“ geformt43 und gleichzeitig sorgte es für heftige Kritik auf der katholischen Seite. Seit den 1960er Jahren ging die Entmythologisierung des Reformators auch im deutschen Fernsehfilm vor sich. Als Beispiele können solche Fernsehspiele dienen wie Der arme Mann Luther von 1965 mit fiktiven Gesprächen des Reformators auf dem Sterbebett oder Der Reformator von 1968, in dem dokumentarische Elemente in die Handlung eingebaut wurden. Um 1983, zum 500. Geburtstag Luthers, wurden sowohl in der BRD als auch in der DDR zahlreiche mehrteilige Fernsehfilme gedreht, die keine größeren konfessionell motivierten Kontroversen erweckten, wie die erwähnten Filme von Pichl oder Kyser. Der kanadische Regisseur Erick Till setzte sich in seinem Spielfilm Luther von 2003 zum Ziel, die das Leben des Reformators von seiner Mönchwerdung 1505 bis zur Darlegung der Confessio Augustana auf dem Augsburger Reichstag 1530 auf die Leinwand zu bringen. Bevor der Film in die deutschen Kinos kam (am 30. Oktober 2003; im Fernsehen wurde er am 31. Oktober 2005 von der ARD gezeigt), wurde seine Aufnahme durch gezielte Äußerungen des Regisseurs Till und Produzenten Thies gewissermaßen vorprogrammiert. So erläuterte der Regisseur die Gestaltung der Hauptfigur, indem er ihre Vorbildlichkeit und Aktualität betonte: „Wir bewundern auch heute Menschen, die unglaubliche Risiken auf sich nehmen, um sich dem Terror zu widersetzen und dabei persönliche Stärke, Kraft und Unmittelbarkeit beweisen.“44 Der Produzent wiederum wollte „einen emotionalen, spannenden Film für das breite Publikum“ machen, der den jungen Luther zeigen und vor allem junge Menschen ansprechen würde.45 Dementsprechend wurde aus Luthers Biografie die handlungsinten42 Vgl. dazu Münkler, Antifaschistischer Widerstand, frühbürgerliche Revolution und Befreiungskriege, 442–448. 43 Vgl. Fey, Luther zwischen Präformation und ‚Re-Formation‘, 56. 44 Zitiert nach: ebd., 59. 45 Zitiert nach: ebd.

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sivste Lebensphase zwischen 1505 und 1530 gewählt und die Hauptrolle einem jungen und attraktiven Schauspieler anvertraut. Das enorme, medial stimulierte Interesse an der Person Luther wurde in der sogenannten Lutherdekade vor dem Reformationsjubiläum 2017 auch durch allerlei Fernsehproduktionen gestillt. Die Luther gewidmete vierte Reihe der in Deutschland sehr populären ZDF-Serie Die Deutschen (2008) in der Regie des Journalisten, Publizisten, Historikers und Autors vielgesehener historischer Dokumentationen („Histotainment“) Guido Knopp folgt der These von Ulrike Jureit, dass das im 19. Jahrhundert etablierte Bild des „deutschen Luther“ bis heute nicht ganz überwunden wurde.46 Selbst der Titel der Sendung Luther und die Nation. Der Reformator und Förderer der deutschen Sprache ist ein Verweis auf die nationalen Verdienste des Reformators, wenn nicht gerade seine nationsbildende Rolle. Dass das ein historischer Anachronismus ist, hat aber für die öffentliche Wahrnehmung keine Bedeutung: „Luther als Förderer der deutschen Sprache, der damit die Grundlage eines zusammenwachsenden Nationalstaates ermöglichte – das ist ein Narrativ, das seit langem etabliert ist.“47

XIII Das Reformationsjahr 2017 und allerlei Gedenkinitiativen, -veranstaltungen und Events, die zum Anlass des 500-jährigen Reformationsjubiläums konzipiert und durchgeführt wurden, lassen einige Fragen formulieren, deren Beantwortung den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde. Wenn sie hier doch abschließend gestellt werden, dann mit der Absicht, wenigstens einige Linien und Tendenzen in gegenwärtigen Sichtweisen auf Luther und in der Deutung der Reformation aufzuzeigen. Dient Luther als Erinnerungsfigur weiterhin als „kulturelles Identifikationsmuster“ für große Teile der deutschen Gesellschaft, wie es Carola Fey 2008 in ihrem Studium zu den Luther-Filmen diagnostizierte?48 Funktioniert also die Vergegenwärtigung der Geschichte (hier der Reformation) weiterhin als „identitätsstiftender und damit unverzichtbarer Selbstvergewisserungsmechanismus einer Gesellschaft“, oder soll man eher vom „Geschichtskonsum mit und ohne Identitätsbezug“49 (freilich mit dem Akzent auf Konsum) sprechen? Ist die Behauptung richtig, dass „keine Luther-Deutung hierzulande je das tränengeschwängerte Wohlgefühl eines kollektiven Gedächtnisses hervorrufen [wird]“ und dass „Luther nicht [eint], er entzweit“?50 Anders gewendet, ist es legitim, die 46 47 48 49 50

Vgl. Jureit, Reformation als Konfliktgeschichte, 196. Krippner, Der „deutscheste Mann unserer Geschichte“, 107. Fey, Luther zwischen Präformation und ‚Re-Formation‘, 53. Jureit, Reformation als Konfliktgeschichte, 199f. Zitiert nach: Fey, Luther zwischen Präformation und ‚Re-Formation‘, 55.

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Reformationsgeschichte – so wie das Ulrike Jureit tut – als Konfliktgeschichte „mit globaler Wirkungskraft“ aufzufassen51, oder soll man sie eher als Vorläufer, wenn nicht gerade Beginn der europäischen Moderne sehen? Stellvertretend für die kaum überschaubare Menge von kommemorativen und kulturellen Veranstaltungen im Reformationsjahr 2017 war ein dreiteiliges Großereignis, in dem gewisse Tendenzen – zumindest im offiziellen Reformations- und Luthergedenken – in Erscheinung traten. „Die volle Wucht der Reformation“ (www.3xhammer.de) waren drei nationale Sonderausstellungen, die den Hauptbeitrag von Bund und Ländern darstellten und drei Perspektiven auf Luther und die Reformation entfalteten. Ausstellungen in Berlin, Wittenberg und Eisenach, deren zentrales Narrativ die Wirkungsgeschichte der Reformation war, bauten aufeinander auf und lieferten – so eine Mitarbeiterin des Deutschen Historischen Museums in Berlin – „in ihrer Gesamtheit ein vielschichtiges Bild von Luther und der Reformation“52. 1. Die Sonderausstellung „Der Luthereffekt. 500 Jahre Protestantismus in der Welt“ im Berliner Martin-Gropius-Bau konzentrierte sich auf die globale Wirkungsgeschichte der Reformation und auf die Konfliktpotentiale, die in der Begegnung mit fremden Kulturen und Religionen in anderen Erdteilen und infolge der protestantischen Missionstätigkeit freigesetzt wurden. Die Ausstellung konzentrierte sich (außer Deutschland) auf solche Länder wie Schweden, die USA, Südkorea und Tansania und ließ Ostmitteleuropa außer Acht. 2. Die Ausstellung in Eisenach „Luther und die Deutschen“ war der nationalen Rezeptionsgeschichte des Reformators gewidmet. Die Exposition, deren zentraler Ort die Wartburg war, zeigte – so das Programm – Luther als „deutsche nationale Symbol- und Projektionsfigur“53 und die historische Wandlung seines Bildes. Die Ausstellung bestand aus drei Segmenten zu drei großen Themenbereichen: der Wartburg als einem zentralen deutschen Erinnerungsort, den kultur- und geistesgeschichtlichen Folgen der protestantischen Lehre und der politischen Instrumentalisierung der Reformation. 3. Die in der Lutherstadt Wittenberg eröffnete Ausstellung „Luther! 95 Schätze – 95 Menschen“ schilderte Luthers Entwicklung zum Reformator. Im Mittelpunkt der Ausstellung stand der Thesenanschlag. Mit den im ersten Teil der Exposition präsentierten „95 Schätzen“ – Exponaten aus der Lebenswelt des jungen Luther – wurde der Blick der Besucher auf den historischen und persönlichen Kontext des reformatorischen Durchbruchs gelenkt. Im zweiten Teil der Ausstellung wurden 95 Persönlichkeiten aus der ganzen Welt und aus verschiedenen Epochen vorgestellt, welche existentielle Bezüge zu 51 Jureit, Reformation als Konfliktgeschichte, 203. 52 Zitiert nach: [Evangelisch] Luther (siehe Link im Literaturverzeichnis). 53 [3xHammer] Sonderausstellungen (siehe Link im Literaturverzeichnis).

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Luther und Reformation hatten. Die Auswahl reichte von Goethe über Martin Luther King und Astrid Lindgren bis hin zu Steve Jobs. Diese drei Ausstellungen kann man wohl insofern als repräsentativ für die gegenwärtige Erinnerung an Luther und sein Werk betrachten, als in ihnen zur Zeit dominierende erinnerungskulturelle Tendenzen zum Ausdruck gekommen sind. Diese lassen sich stichwortartig als Globalisierung, Universalisierung, (historische und kulturgeschichtliche) Kontextualisierung, Medialisierung, Didaktisierung und nicht zuletzt Eventisierung (mit der dazu gehörenden Kommerzialisierung)54 des reformatorischen Geschehens und seines Hauptakteurs apostrophieren. Luther als Playmobil-Figur und Luther als Rebell in Zeiten des Umbruchs aus der vielgelesenen Biografie von Heinz Schilling wären die zwei Pole der gegenwärtigen Luther-Memoria.

Literatur Andersen, Friedrich/Bartels, Adolf/Katzer, Ernst/Wolzogen, Hans Paul (Hg.), Deutschchristentum auf rein-evangelischer Grundlage. 95 Leitsätze zum Reformationsfest 1917, Leipzig 1917. Chaix, Gérald, Die Reformation, in: E. François/H. Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 2, München 2009, 9–27. Doyé, Werner M., Arminius, in: E. François/H. Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsort, Bd. 3, München 2003, 587–602. Fey, Carola, Luther zwischen Präformation und ‚Re-Formation‘, in: A. Erll/S. Wodianka (Hg.), Film und kulturelle Erinnerung. Plurimediale Konstellationen, Berlin/New York 2008, 53–75. Freytag, Gustav, Bilder aus der deutschen Vergangenheit, Bd. 1–4, Leipzig 1859–1864. Gailus, Manfred/Lehmann, Hartmut (Hg.), Nationalprotestantische Mentalitäten in Deutschland (1870–1970). Konturen, Entwicklungslinien und Umbrüche eines Weltbildes, Göttingen 2005. Hübinger, Gangolf, Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland, Tübingen 1994. Jahn, Friedrich Ludwig, Deutsches Volksthum, Leipzig 1813. Janz, Oliver, Das evangelische Pfarrhaus, in: E. François/H. Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, München 2009, 221–238.

54 Vgl. in diesem Zusammenhang das kritische Urteil von Ulrike Jureit, die die besprochenen Sonderdarstellungen als „ein kommerzielles Spektakel mit emotionaler Wohlfühlgarantie“ bezeichnete (Jureit, Reformation als Konfliktgeschichte, 197). Eventisierung und Kommerzialisierung des historischen Gedenkens ist wohl in der gegenwärtigen Erinnerungskultur die Regel. Siehe in diesem Zusammenhang z. B. den Beitrag über Hermann den Cherusker alias Arminius als Erinnerungsort in: Doyé, Arminius, 587–602.

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Jureit, Ulrike, Reformation als Konfliktgeschichte. Beobachtungen zum Reformationsgedenken 2017, in: U. Di Fabio/J. Schilling (Hg.), Weltwirkung der Reformation. Wie der Protestantismus unsere Welt verändert hat, Bonn 2017, 195–206. Kała˛z˙ny, Jerzy, Unter dem „bürgerlichen Wertehimmel“. Untersuchungen zur kulturgeschichtlichen Erzählprosa von Wilhelm Heinrich Riehl, Frankfurt a.M. 2007. Krippner, Friederike, Der „deutscheste Mann unserer Geschichte“. Luther im nationalen Diskurs zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: K. Grabbe/S.G. Köhler/M. Wagner-Egelhaaf (Hg.), Das Imaginäre der Nation. Zur Persistenz einer politischen Kategorie in Literatur und Film, Bielefeld 2012, 105–130. Kuhn, Andreas/Stüber, Gabriele, Lutherbilder aus sechs Jahrhunderten, G. Stüber/H. Bogs (Hg.), Ubstadt-Weiher 2016. Langewiesche, Dieter, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000. Lehmann, Hartmut, Hans Preuß 1933 über ‚Luther und Hitler‘, Kirchliche Zeitgeschichte. Internationale Zeitschrift für Theologie und Geschichtswissenschaft 12.1, 1999, 287– 296. – Luthergedächtnis 1817 bis 2017, Göttingen 2012. Münkler, Herfried, „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“ Luthers Kampf gegen Rom., in: H. Münkler, Die Deutschen und ihre politischen Mythen, Berlin 2009, 181–196. – Antifaschistischer Widerstand, frühbürgerliche Revolution und Befreiungskriege. Die Gründungsmythe der DDR, in: H. Münkler, Die Deutschen und ihre politischen Mythen, Berlin 2009, 421–453. Ranke, Leopold v., Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, Bd. 1–5, Berlin 1839–1843. Riehl, Wilhelm Heinrich, Die Familie, Stuttgart-Augsburg 1855. Veit, Patrice, Bach, in: E. François/H. Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, München 2009, 239–257. Weichlein, Siegrid, Pfarrhaus, in: Ch. Markschies/H. Wolf (Hg.), Erinnerungsorte des Christentums, München 2010, 642–645. Wendebourg, Dorothea, Die Reformationsjubiläen des 19. Jahrhunderts, Zeitschrift für Theologie und Kirche 108, 2011, 270–335. – Im Anfang war das Reformationsjubiläum. Eine kurze Geschichte von Reformationsfeiern und Lutherbildern, Die Politische Meinung, Sonderausgabe: November 2016, 19– 25. Zimmermann, Wilhelm, Allgemeine Geschichte des großen Bauernkrieges, Stuttgart 1841– 1843.

Internetquellen Buss, Hansjörg, Die Deutschen und Martin Luther. Reformationsjubiläen im 19. und 20. Jahrhundert, in: Luthermania – Ansichten einer Kultfigur. Virtuelle Ausstellung der Herzog August Bibliothek im Rahmen des Forschungsverbundes Marbach Weimar Wolfenbüttel 2017, http://www.luthermania.de/exhibits/show/hansjoerg-buss-die-deut schen-und-martin-luther (letzter Zugriff am: 20. Dezember 2017).

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Hübinger, Gangolf, Luther als nationale Symbolfigur. Wie Nationalprotestanten und Kulturprotestanten im Kaiserreich um ein modernes Luther-Bild rangen, Rotary Magazin 10/2016, https://rotary.de/gesellschaft/luther-als-nationale-symbolfigur-a-9612. html (letzter Zugriff am: 7. Januar 2018). Kuessner, Dietrich, Luther – Hitler. Ein Blick in die Schreckenskammern der LutherJubiläen 1933 bis 1946, http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/kvu103/luthit.htm (letzter Zugriff am: 9. Januar 2018). [3×Hammer] Sonderausstellungen, https://www.3xhammer.de/fileadmin/user_upload/ Startseite/Flyer_Nat_Sonderausstellungen_de.pdf (letzter Zugriff am: 2. Oktober 2017). [Evangelisch] Luther, https://www.evangelisch.de/inhalte/137438/16-08-2016/luther-ausdrei-perspektiven (letzter Zugriff am: 10. Januar 2018).

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Wider die „groben kunst vertrücker“ Die Reformation und der Paradigmenwechsel in der Kunst

Ausgangsüberlegungen Die Rechtfertigung der Bedeutung der protestantischen Reformation als des einschneidenden Ereignisses in der Geschichte des Westens der letzten 500 Jahre speist sich für gewöhnlich aus ihrer großen Wirkungsbreite, die vom politischen Denken über die Mentalität, breit verstandene Kultur bis hin zur Kunst und Wissenschaft reicht. Der Heterogenität des Gegenstandes versucht man bisweilen mittels der schon in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangenen Weber’schen Denkfigur der Entzauberung der Welt beizukommen, die man als einen Dachbegriff für eine Reihe neuzeitlicher Entwicklungen (Herausbildung einer modernen Berufsethik, Ökonomisierung des Lebens, Rationalisierung, Wissenschafts- und Technikentwicklung, Beherrschung der Welt u. a.) benutzt. Nicht ganz nach Webers Vorstellung. Zwar sah der Soziologe diverse Gruppierungen des (post)formatorischen „asketischen Protestantismus“, wie Calvinisten, Quäker1 und Puritaner2, als Vollender dieser Tendenz an, gleichwohl verstand er den Prozess breiter. Schon die Überzeugung Webers, seinen Anfang bereits im antiken Judaismus3 gefunden zu haben, machte es unmöglich, die „Entzauberung“ als eine Erfindung oder Errungenschaft der Reformation zu betrachten. Darüber hinaus sah sogar der „religiös unmusikalische“ Weber die „zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung“ aus der Perspektive der Religion als nur bedingt geglückt an: „Mit jeder Zunahme des Rationalismus der empirischen Wissenschaft wird dadurch die Religion zunehmend aus dem Reich des Rationalen ins Irrationale verdrängt.“4 Nicht anders verhalte es sich mit der a 1 2 3 4

Weber, Die protestantische Ethik, 155–157. Ebd., 93–96; Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, Bd.1, 513. Weber, Die protestantische Ethik, 93–96. Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, Bd.1, 564.

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priori angenommenen befreienden Wirkung der Reformation, wo jene „Entzauberung“ in Wirklichkeit einen lästigen Kontrollzuwachs zur Folge gehabt habe, weil sie ja nicht sowohl die Beseitigung der kirchlichen Herrschaft über das Leben überhaupt, als vielmehr die Ersetzung der bisherigen Form derselben durch eine andere bedeutete. Und zwar die Ersetzung einer höchst bequemen, praktisch damals wenig fühlbaren, vielfach fast nur noch formalen Herrschaft durch eine im denkbar weitgehendsten Maße in alle Sphären des häuslichen und öffentlichen Lebens eindringende, unendlich lästige und ernstgemeinte Reglementierung der ganzen Lebensführung.5

Der Befund Webers, der den Mythos der Reformation als Befreiung von Aberglauben, religiösem Missbrauch, Zwang etc. zu einer quasi modernen vernunftbasierten Religiosität mit menschlichem Antlitz Lügen straft, ist bekanntlich nicht neu. Der Gedanke einer möglichen regressiven Entwicklung als einer Folge der Reformation klingt in einer vielzitierten Äußerung Sebastian Francks bereits im frühen 16. Jahrhundert mit: „Du glaubst, du seist dem Kloster entronnen, es muss jetzt jeder ein Leben lang ein Mönch sein.“6 (In Anlehnung an Arno Borst verwies Hans Maier dabei auf die unerwartete Verwandtschaft zwischen „dem benediktinischen Stundenmaß und dem Zeittakt der Moderne“7). Mit seinem Diktum spielte Franck auf jene säkulare Asketisierungstendenz an, die auf einen paradigmatischen Wechsel hinauslief, von dem die Kunst am frühesten betroffen sein sollte und der gerade in diesem Bereich dramatische Veränderungen nach sich zog. In die Geschichte Europas ging er als der reformatorische Bilderstreit bzw. – etwas einengend – Bildersturm ein. Als eine spektakuläre religionspolitische Erscheinung fesselte er die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, zuerst durch ihren exzessiv expressiven Charakter und die Einfachheit des Versprechens, mit einem Schlag alle Fehler des alten Glaubens abschütteln und den wahren beweisen zu können. Darin unterschied er sich in nichts von der inkriminierten Praxis der alten Kirche, die die Neigung vieler Gläubigen zum magischen Denken sanktualisierte und unter Zusicherung des Sündenerlasses missbrauchte. Die Auseinandersetzungen um die „Bilder“ entwickelten sich unerwartet zu einer der zentralen, hart umkämpften kulturellen Angelegenheiten des Jahrhunderts, in der nicht nur Glaubensprinzipien, sondern auch die erst aufzubauende konfessionelle Identität und Integrität – intern im Reformationslager und gegenüber der römischen Kirche – auf dem Spiel standen. Die Zäsur des 16. Jahrhunderts – schließlich „[n]iemand wird leugnen können, daß die Reformation oder die Entstehung der Kunstsammlung die

5 Weber, Die protestantische Ethik, 20. 6 Reinhard, Lebensformen Europas, 437. 7 Maier, „Die Zeit ist edeler als tausend Ewigkeiten“, 28.

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Dinge verändert haben“8 – wird heutzutage kaum in Zweifel gezogen, selbst wenn Hans Belting berechtigte Einwände gegen das Timing erhebt: Die Auslieferung des Bildes an den Betrachter kommt handgreiflich in der neu entstehenden Kunstsammlung zum Ausdruck, in der die Bilder humanistische Themen und Kunstschönheit repräsentieren. […] Die Reformatoren haben diese veränderte Bewußtseinslage gegenüber dem Bild nicht geschaffen, ja sind in dieser Hinsicht ihrerseits die Kinder ihrer Zeit. Was sie im Namen der Religion zurückweisen, hat längst die alte Substanz der Bildoffenbarung verloren. […] Dieser Prozeß hat auch in der katholischen Welt stattgefunden, und keineswegs nur als Reaktion auf die Kritik der Reformatoren.9

Nichtsdestotrotz setzt auch Belting den Anfang der von ihm ausgerufenen „Ära der Kunst“ in jene Zeit, in der man die Kunstartefakte um ihrer selbst willen zu sammeln begann. Auf derselben argumentativen Schiene bewegen sich auch andere Gelehrte in der Überzeugung, dass „[w]o Bilder zerstört worden sind wie im Protestantismus […], […] sich Malerei und Bildhauerei von ihrer religiösen Funktion befreien und zur ‚reinen‘ Kunst avancieren“ konnten.10 Erst dann habe sich der Übergang von image zu art vollziehen können. Die Kunst stellt in dieser „modernen“ Betrachtung kein materielles Objekt per se dar; vielmehr setzt sie einen fähigen Rezipienten voraus, da „[d]as Spiel der Wahrnehmung und der Deutung, das man in der bildenden Kunst ebenso sucht wie in der Literatur, […] den Kenner [verlange], der die Spielregeln versteht“11. Oder, um mit Arthur Danto zu sprechen, „[t]o see something as art requires something the eye cannot decry – an atmosphere of artistic theory, a knowledge of the history of art: an artworld“12. Bei allem guten Willen, die veränderte Lage der Kunst durch das Prisma der religiös motivierten Bilderstürme des 16. und 17. Jahrhunderts zu erwägen, ist es gar nicht ersichtlich, ob der reformatorische Ikonoklasmus überhaupt in die Zuständigkeit der Kunstgeschichte fällt. Die schwer zu lösende Paradoxie beginnt bereits bei Versuchen, den eigentlichen Stellenwert des damaligen Ikonoklasmus zu bestimmen. Dies ist umso komplizierter, als die Bilderfrage, so Bob Scribner, nur eine Randfrage der Theologie darstellte, „die keine der grundlegenden Glaubensfragen der Zeit wesentlich beeinflußte“13. Gleichzeitig, und zwar weil sie „am Kern einer wichtigen ontologischen Verschiebung des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit

8 Belting, Bild und Kult, 27. 9 Ebd., 26. 10 Holenstein/Schmidt, Bilder als Objekte – Bilder in Relationen, 511. Hervorhebung im Original. 11 Belting, Bild und Kult, 27. 12 Danto, Artworld, 580. 13 Scribner, Das Visuelle in der Volksfrömmigkeit, 9.

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liegt“, sei sie „eine Kernfrage der reformatorischen Geschichtsforschung“14. Ihre kirchenhistorische Bedeutung ergebe sich ferner daraus, dass manchmal „der Bildersturm das einzige wichtige und nennenswerte reformatorische Ereignis […], die erste und zugleich letzte Manifestation des neuen Glaubens“15 gewesen sei. Die Situation bleibt mit Blick auf den Beitrag der Reformation zum Paradigmenwechsel im Bereich der Kunst (bzw. gar zu ihrer „Geburt“) oder deren Befreiung von der drückenden Last der Instrumentalisierung durch Theologie und religiöse Praxis recht unübersichtlich. Aus Unklarheiten und Unstimmigkeiten, unter denen das Problem der Kunst im 16. und 17. Jahrhundert als Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion (trotz der mittlerweile unübersehbar gewordenen einschlägigen Literatur) nach wie vor leidet, speisen sich auch die Fragestellungen des vorliegenden Beitrags. Sie beginnen mit den immer noch verschwommenen Grenzen des Gegenstandes. Sowohl den die religiöse Kunst in Bausch und Bogen verurteilenden Reformatoren als auch den späteren Kommentatoren, wie Karl Barth, war klar, dass die „Bilder“ nur eine Denkabkürzung darstellen, deren Umfang je nach Perspektive, Interesse u. dgl. deutlich variierte. So wird eine überzeugende Bearbeitung des Problems schon durch die einfache Tatsache erschwert, dass trotz der extrem weiten Spannbreite der „bilderstürmischen“ Zerstörungen, die oft mit figürlichen Darstellungen nichts zu tun hatten, das Thema immer noch pauschal unter dem Universalbegriff des Bilderstreites(-sturms) behandelt wird. Dabei haben die bei einer ikonoklastischen Aktion ermittelten Motive und Umstände oft nur einen singulären Wert, der sich auf andere Fälle scheinbar ähnlichen Charakters nicht übertragen lässt. Der erwähnte, theologisch gesehen relativ untergeordnete Stellenwert, den die Bilderfrage in der Lehre der jeweiligen Reformatoren innehatte, darf auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Theologen die eigentlichen Profiteure der (auch auf Kosten der Kunst herbeigeführten) logozentrischen Wende waren.16 Ihre Aufwiegelung zu Bilderstürmen, sei es durch gedruckte theologische Gutachten, sei es durch konkrete homiletische Aufforderungen, ist, ähnlich wie ihre Beteiligung an ikonoklastischen Aktionen, gut dokumentiert und lässt etliche von ihnen als Anstifter und Katalysatoren des reformatorischen Ikonoklasmus17 erscheinen. Die unter dem Banner der Reformation voranschreitende, durch das moderne Druckverfahren wesentlich unterstützte Umformung des Christentums 14 Ebd., 20. 15 Michalski, Das Phänomen Bildersturm, 84. 16 Zwar lassen sich die Anfänge der „Theologie des Wortes“ schon in die vorreformatorische Zeit (Erasmus) datieren, gleichwohl wird im vorliegenden Beitrag dieser Begriff durchgehend auf die Theologen des reformatorischen Lagers angewandt. Vgl. Eusterschulte, Der reformulierte Bilderstreit, 122–135. 17 Vgl. Michalski, Das Phänomen Bildersturm, 82.

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in eine Religion des Wortes lief direkt auf die Entwicklung der akademischen Theologie hinaus. Zwar genoss diese durch das ganze 17. Jahrhundert den Status der angesehensten unter den universitären Disziplinen, hatte jedoch am Ende die protestantische(n) Religiosität(en) ausgelaugt und in eine tiefe Krise getrieben.18 Angesichts der gebietsweise verheerende Ausmaße annehmenden Zerstörungen der Kultursubstanz mutet die durch einzelne Reformatoren gelegentlich deklarierte Kunstfreudigkeit19 widersprüchlich, zuweilen zynisch, an. So beteuerte beispielsweise der gewöhnlich zu Bilderfeinden schlechthin gerechnete Zwingli,20 um nur ein Beispiel zu nennen, die Vorurteilslosigkeit seiner Kunst ablehnenden Position mit dem Verweis auf… die eigene Kunstliebe: „Ich rede durchaus nicht aus persönlicher Leidenschaft; denn im Übrigen bewundert Niemand mehr Gemälde, Statuen und Bilder als ich.“21 Andererseits stand der im Nachhinein für einen Bilderfreund gehaltene Luther der Nützlichkeit und insofern Präsenz der Bilder im kirchlichen Raum aus religiös-pragmatischen Gründen sehr skeptisch gegenüber: War ists, ich wollt, sie [die Bilder] weren auß den kirchen, nicht des anbetens far halber, denn ich furcht, man anbete die heyligen selbst mehr denn die bilde, Sondernn vmbs des falschen vertrawens willen, das man meynet, gott eyn gutt werck vnnd dienst daran zu thun, [vnd man an] holtz vnd steyn legt vergeblich, das man an des nehesten notturfft sollt wendenn.22

Gegen die These von der in der Konsequenz der Reformation vollzogenen Befreiung der Kunst findet man bei Luther eine direkt die Schöpfer angehende Ablehnung einer Kunst, die den Anforderungen der theologischen Auslegung der Bibel (bzw. ihrem Literalsinn) nicht hinreichend gerecht worden wäre: Die maler malen auch alszo Christum auff dem regen bogenn, das yhm ein ruthe unnd schwerd aus dem mund gehet, wilchs ist ausz Jsaja xi genommen, da er spricht: Er wirt schlahen die erden mit der stangen seins munds, und mit dem geyst seyner lippen wirt er todten den gotloszen. Das aber die maler ein bluehende ruthen malenn, ist nit recht. Es solt eyn stab adder stangen seyn, unnd beyde, stange und schwerdt, alleyn ubir die eyne seytte gehenn ubir die verdampten.23

Letztendlich klingt auch hier der Wille zur Zensur und Kontrolle an, die Absicht, die Kunst vor den Wagen einer konfessionell fixierten Katechese zu spannen. 18 Vgl. Lipin´ski, Kryzys duchowos´ci luteran´skiej na XVII-wiecznym S´la˛sku, 83–88. Aus der Fülle der kritischen Stellungnahmen ragt besonders Christ=Fürstliches Bedencken vnd Außschreiben (Erstdruck Amsterdam 1646) heraus. Die Schrift hängt mit den Kirchenreformversuchen des schlesischen Herzogs Johann Christian von Brieg (1593–1639) zusammen. 19 Vgl. Scribner, Das Visuelle in der Volksfrömmigkeit, 9. 20 Ebd., 18. 21 Zwingli, Der Kommentar von der wahren und falschen Religion, 605f. 22 Luther, Luther an Graf Ludwig zu Stolberg, 513. 23 Luther, Eine treue Vermahnung zu allen Christen, 677f.

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Begriffliche Inkonsistenz Die Gefahr des Missbrauchs von „Bildern“ war das ganze Mittelalter hindurch eine rege diskutierte Angelegenheit. Zu Akten der Zerstörung kam es aber nur selten. Im Zusammenhang mit dem Aufkommen des Hussitismus im 15. Jahrhundert änderte sich die Situation im großregionalen Maßstab. Hus selbst verwarf die Bilder nicht, sofern sie ihre pädagogische Funktion erfüllten. In diesem Bereich stimmte seine Meinung mit der des Papstes Gregor des Großen überein, der explizite vor jedem Missbrauch warnte, gleichzeitig mit Nachdruck den Gebrauch von Bildern als einer Laienbibel (libros idiotarum esse imagines)24 und insofern ein effektives Mittel der religiösen Unterweisung befürwortete: Etwas anderes ist es ja, ein Gemälde anzubeten, und etwas anderes, aus dem Gemälde den Gegenstand der Anbetung kennen zu lernen. Denn was die Schrift denen bietet, die lesen können, das bietet ein Gemälde den Gläubigen, welche nicht lesen können. Dasselbe stellt auch den des Lesens Unkundigen ein nachahmungswürdiges Beispiel vor Augen und lehrt so ohne Buchstaben zu lesen. Darum sind die Bilder vorzüglich für die Heiden anstatt der Lesung geeignet.25

Was die Hussiten, deren geistige Anführer vorerst sogar willig waren, „die richtige Verehrung in Bezug auf den im Bildnis widergespiegelten ‚Prototyp‘ (‚cum relatione ad prothotipum‘)“26 zu dulden,27 am Ende zu Gegnern der Bilder machte, war der „schlecht[e] Bildungstand der breiten Bevölkerung“28, infolgedessen das einfache Volk im besonderen Maße für Aberglauben, Übertreibung und religiöse Verblendung anfällig war. Am Ende überwog also die Ökonomie des Glaubens. Der Mangel an gut ausgebildeten Priestern, die die ungelehrten Laien zum richtigen Verständnis der Bilder hätten anleiten können, ließ die sakrale Kunst in den Augen der Hus-Anhänger als eine zu große Gefahr für das Seelenheil der Gläubigen erscheinen. So entschied man sich gegen sie. Bereits in der damals zwischen den Parteigängern Hus’ und den (oft gar nicht unkritischen) Vertretern der römischen Kirche entflammten Polemik traten Elemente zutage, die sowohl für frühere ikonoklastische Ausschreitungen als 24 Formulierung Calvins aus Institutio christianae religionis I, XI. 25 Brief An den Bischof Serenus in Marseille in: Des heiligen Kirchenlehrers Gregorius des Grossen ausgewählte Briefe, 557. Übrigens endet die „Tradition“ des Gebrauchs von (nicht nur plastischen) Künsten für die Zwecke der Christianisierung nicht mit der großen frühneuzeitlichen Auseinandersetzung. Vgl. Granados, Bild und Kunst im Prozeß der Christianisierung Lateinamerikas, 15: „Die bildende Kunst als Katechisierungsmittel wurde bereits von den Spaniern in Lateinamerika eingesetzt. Weil die Spanier die einheimischen Sprachen nicht beherrschten, profitierten sie von der Kunst, die sie als erstes Kommunikationsmittel zwischen Indianern und Spaniern einsetzten.“ 26 Bracha, Polemik gegen den hussitischen Bildersturm, 179. 27 Ebd., 185f. 28 Ebd., 186.

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auch den späteren reformatorischen Bildersturm charakteristisch waren. So stellten die Bilder für die Hussiten nicht nur eine theologisch-religiöse Streitfrage dar, sondern wurden in einen Zusammenhang mit der Kritik an dem „unnötigen Prunk, de[m] Ehrgeiz und d[er] Gefräßigkeit des Klerus und der Künstler auf Kosten der materiellen Hilfe für die Armen“29, der Ausartung des Heiligenkults (Matthias von Janov) und anderen Missständen der Kirche gestellt. Interessanterweise waren die Bilder auch für die aufseiten der römischen Kurie agierenden Polemiker kein autarker Gegenstand. (Ganz davon zu schweigen, dass sie nicht einengend als figurative Darstellungen verstanden wurden.) Vielmehr wurden die Kontroversen um abergläubige Bilderverehrung dazu genutzt, um das Problem anderer von Missbrauch gezeichneter (oder zumindest gefährdeter) Praktiken, wie erfundene Wunder oder falsche Wallfahrten, zu thematisieren und anzuprangern. In diesem Sinne liegen diesen Stellungnahmen klare kirchenreformatorische Bestrebungen zugrunde. Gute Beispiele hierfür stellen Tractatus de superstitionibus (1444/1445) des aus Schlesien gebürtigen Theologen Johann von Wünschelburg (1380/1385–ca. 1456) und De superstitionibus (1405) seines Landsmanns, des Nikolaus Magni von Jauer (1355–1435)30 dar. Die Notwendigkeit einer kumulativen (kirchenfeindlichen) Betrachtung sowohl der Motive als auch Ziele der bilderstürmerischen Aktionen beweist die Praxis des Ikonoklasmus. Besser als alle Wortgefechte der Gelehrten weicht sie jene Begriffsbestimmung der „Bilder“ auf, die sich einseitig auf bildkünstlerische Artefakte beschränkt. Bereits der Sturm des Klosters Einsiedeln am 6. Januar 1314 legt dafür ein beredtes Zeugnis ab: Unterdessen durchstürmen zahlreiche Scharen [von Schwyzern] das Kloster/ Und verheeren das Haus: da ist im Schafstall der Wolf./ […]/ Ohne Schlüssel erbricht selber die Türen sofort/ […]/ Unsere Bücher, Kleider und Betten tragen von dannen./ Sie und anderes mehr, was nur gebraucht werden kann./ Sie verschleppen, was wir gesammelt und schonlich verwendet./ Und das Heilige selbst treten mit Füßen sie frech/ […]/ Mit gewaltigen Sparren erkühnen sie sich und mit Äxten/ Einzuhauen das Tor, das zum Tempel hin führt/ […]/ Die zerstreuten Hostien stampfen mit Füßen sie: diese/ Gottesschänd’rische Tat schreit zu dem Himmel empor/ […]/ Und die Gebeine der Heil’gen, die im Frieden da ruhten,/ Welche jeder Christ, wie es sich ziemt, verehrt,/ Wagen sie zu berühren mit besudelten Händen/ Sie zu entreißen der Ruh’ und auf die Erde zu streu’n./ […]/ Dann nach toller Tat, durch Getränk auf ’s Höchste erhitzet,/ Da sie gesoffen ohn’ Maß unsern spärlichen Wein,/ Taumeln sie alsbald umher nach genossenem Weine,/ Schanden den Tempel des Herrn mit ihrem/ Unrat sodann.31

29 Ebd., 187. 30 Zur Auseinandersetzung mit dem Ikonoklasmus der Hussiten siehe: Bracha, Polemik gegen den hussitischen Bildersturm. 31 Zitiert nach Blickle, Antiklerikalismus um den Vierwaldstättersee, 116.

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Man kommt nicht umhin, in diesem Bericht interessante Parallelen zum reformatorischen und nachreformatorischen Bildersturm festzustellen. Die am 2. Oktober 2013 in der Londoner Tate Britain eröffnete Ausstellung „Art Under Attack: Histories of British Iconoclasm“ dokumentierte die Auswirkungen dieses Phänomens auf den Britischen Inseln. Die Loslösung von der römischen Kirche ging dort mit der zeitweise systematisch vorangetriebenen, vom Staat organisierten und bezahlten Zerstörung religiöser Kunst einher. Nicht nur gemalte (Fresken, Gemälde, Altarbilder) und geschnitzte oder gehauene Bilder fielen dieser Praxis zum Opfer. Im gleichen Ausmaß zerstört wurden auch Glasfenster, Grabplatten, Kruzifixe, Orgeln, Notenschriften, Messgeräte (Monstranzen, Kelche), liturgische Gewänder u. a.m. Sogar Kloster- und Kirchengebäude hat man nicht selten verbrannt oder geschleift. Besonders folgenschwer war die massenhafte Vernichtung von Büchern (Breviere, Evangelien- und Messbücher, Legendare usw.). Beispielsweise von rund 640 Bänden, die im Besitz der Worcester Abtei waren, überdauerten … nur sechs die Angriffe. Auch die Bestände der Bibliothek der University of Oxford wurden fast vollständig verbrannt. Im Fall Großbritanniens könnte man freilich mit dem Verweis auf den weitgehend staatlich vorangetriebenen Konfessionswechsel entgegenargumentieren. Dann wäre jene totale Zerstörung, also die Tatsache, dass nicht bloß allerlei Bildnisse, sondern vor allem Gewänder, Messgeräte, Bücher, Register, Urkunden usw. unter die Axt und Hammer der (Bilder-)Stürmer gehörten, nur als eine breit angelegte und konsequent durchgeführte Säuberungsaktion zu deuten, ein politisches Statement und religiöser Umsturz, der auf die Brechung der Macht der alten Kirche hinauslief. Das Problem stellen aber auffallende Ähnlichkeiten zu anderen vom Bildersturm betroffenen Gebieten Europas dar. Den Versuchen der zur Räumung der Bilder auffordernden Reformatoren, die Aktionen unter ihre Kontrolle zu stellen, könnte man vielfältige Motivationen abgewinnen. Religionspolitisch schien das nach dem Bildersturm entstandene Machtvakuum dazu einzuladen, neue für den jeweiligen Theologen günstige Verhältnisse zu etablieren. Ordnungspolitisch mag die Angst vor dem Vorwurf der Obrigkeiten, sie würden zur Anarchie aufrufen, die kompromissbereiten unter ihnen dazu veranlassen, den Eindruck eines geordneten Vorgehens wecken zu wollen. Dem letzten Ziel diente zum Beispiel die mittels der bilderkritischen Texte vorgenommene Kanalisierung der Aufmerksamkeit auf die Ausartung der Bilderverehrung im Götzendienst. Dies geschah schon in der entweder von Karlstadt persönlich oder unter seinem maßgeblichen Einfluss verfassten Wittenberger Kirchenordnung (Ain lobliche ordnung der Fürstlichen stat Wittemberg, Januar 1522), einem der „wichtigsten Dokumente der früheren Reformationsgeschichte“32, in der zuerst die amtliche Pflicht festgeschrieben wurde, die 32 Barge, Andreas Bodenstein von Karlstadt, 378.

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Bilder von den Stadtkirchen zu entfernen („Item die bild und altarien in der kirchen sollen auch abgethon werden, damit abgötterey zu vermeyden“).33 Diesen Weg ging der sichtlich von einer kleinen (bis gar keiner) Ausbeute der Kirchenordnung sichtlich irritierte Karlstadt in seinem um nur wenige Tage jüngeren, den reformatorischen Ikonoklasmus einleitenden Traktat Von der Abtuhung der Bilder und das keyn Betdler unther den Christen seyn soll (1522). Die Schrift steht paradigmatisch für den Argumentationsgang der Reformierten und des sog. „linken Flügels der Reformation“ (Heinold Fast). Angesichts der Fülle des bereits in der vorreformatorischen Zeit vorliegenden Materials und damit auch des polemisch-argumentativen Reichtums muss der Text enttäuschen. Die von Karlstadt vorgebrachten Argumente, „die genauso alt wie längst widerlegt waren“34, sind explizite an die Interpretation des biblischen Verbots (Ex 20,4) und die daraus gewonnene Überzeugung, „das bilder in kirchen/ wider das erst gebott seind“35, angelehnt. Deren Inkriminierung erfolgt aus der Auffassung ihres Charakters als eines seelischen Morddienstes heraus, der für die Gottentfremdung der Menschen verantwortlich gemacht wird: [B]etrüglich bilder ermorden alle yre anbeter vnd breyßer / alß geschrieben steht. Sie seind got frembd / vnd voller schand beschutt / vnd greulich geworden wie die ding / welche sie gelibt haben. […] Got hasset vnd neydet byldnis / wie ich sagen werd / vnd achtet sie fur einen grawell vnd spricht / das alle menschen in seynen ougen sollen sein / wie die ding / welche sie lieben. Byldnis seind greulich. volget / das wir auch greulich werden / ßo wir sie lieben.36

Die auf einer abstrusen Logik aufgebaute Beweisführung ist höchst paradox. Die Verbannung der Kunst aus dem religiösen Bereich, auf die Karlstadts Polemik gegen die Bilder hinausläuft, lässt die Kunst am Ende als das eigentliche Opfer dastehen. Die undifferenzierte und pauschale Verurteilung der „Bilder“ als Götzendienst ergibt sich nicht aus ihrer Behaftung mit einem immanenten Makel bzw. einer inhärenten Schuld, sondern aus dem Eingeständnis ihrer Wirkung auf die Menschen, oder adäquater gesagt, des menschlichen Faibles für sie: „Sih wie got allerley bilder verbeut / darumb das menschen leychtfertig seind / vnd gneigt / sie antzubeten. Der halben spricht got / du solt sie nit anbetten / du salt sie auch nit eheren.“37 Der (interessanterweise von vielen Befürwortern des Ikonoklasmus häufig vorgebrachte) anthropologische Faktor wird später durch einen pädagogisch-gesellschaftlichen ausbalanciert, als Karlstadt die Erziehung als eine

33 Karlstadt, Ain lobliche ordnung der Fürstlichen stat Wittemberg, 484. 34 Iserloh, Die Verteidigung der Bilder durch Johannes Eck zu Beginn des reformatorischen Bildersturms, 76. 35 Karlstadt, Von abtuhung der Bylder, Bl. [Biiij b]. 36 Ebd., Bl. [Aii b]. 37 Ebd., Bl. [Aiiij a].

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bedeutende Quelle dieser Disposition aufdeckt. Seine Überzeugungskraft wird durch ein persönliches Eingeständnis seiner ursprünglichen Verfallenheit an die Bilder bekräftigt: [M]ein hertz ist von Jugend auff yn eher erbiethung vnd wolachtung der bildnis ertzogen vnd auff gewachßen vnd ist mir ein schedliche forcht eingetragen / der ich mich gern wolt endletigen / vnd kan nit. Alßo sten ich in forcht / dz der ich keinen olgotzen dorfft verbrenen.38

In der anschließenden demonstrativen Erklärung – „Ich hab kein bild lieb. Ich forcht kein bilde“39 – wird schon der reformatorische Mythos der Befreiung vom Aberglauben inszeniert, und zwar ungeachtet der gleichzeitig ins Bewusstsein drängenden Macht der Bilder: „itzt weiß ich / […] wie vest vnd tieff bilder yn meinem hertzen sitzen“40. Trotz der Bemühungen, den Ikonoklasmus als ein ästhetisches (mit einer impliziten oder expliziten Wendung gegen die Künstler) bzw. religiös-praktisches Dilemma (Auftreten gegen eine falsche religiöse Praxis) erscheinen zu lassen, bleibt der reformatorische Ikonoklasmus ein begriffliches Problem. Den Bemühungen, bilderstürmerische Aktionen, sei es durch theologische „Gutachten“, sei es durch Zusammenarbeit mit der weltlichen Obrigkeit, in geordnete Bahnen zu lenken oder zumindest den Eindruck zu erwecken, als wären sie theologisch untermauerte und rechtlich geordnete Maßnahmen, war kein Erfolg beschieden. Im Gegenteil. Allzu viele Unruhen mit einem bilderstürmerischen Hintergrund belegen ein regelloses, oft schlechtweg anarchisches Verhalten der Massen, deren Zerstörungswut sich nicht nur gegen die Bilder im engen Sinne richtete: Kollektive, gewalttätige Aktionen wechselten sich ständig mit individuellen, demonstrativen Zerstörungsakten ab; neben scheinbar spontanen Übergriffen auf kirchliche Bilddarstellungen lassen sich ebenso häufig obrigkeitlich initiierte Bildentfernungen beobachten, und selbst die Resultate jener vielfältigen Attacken auf die „Götzen“ weisen keineswegs auf eine gleichförmige Zerstörungsabsicht hin. Der historische Aussagegehalt des Begriffs „Bildersturm“ – so lautet das Fazit eines jüngeren Forschungsberichts (1990) – „zeigt sich bei näherem Hinsehen als höchst uneindeutig, verworren und schillernd“.41

So ist der Ansatz Sergiusz Michalskis, der darum bemüht war, den Begriff des Bildersturms gegen andere ähnliche Phänomene abzugrenzen, um dadurch zu einem klar abgesteckten Untersuchungsfeld zu gelangen, durchaus nachvollziehbar. Eine andere Sache sind jedoch die Stichhaltigkeit und Validität seiner 38 39 40 41

Ebd., Bl. [Ciiij b]. Ebd. Ebd. Schnitzler, Ikonoklasmus – Bildersturm, 9.

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Typologie. Den „Bildersturm“ als „eine Lösung des der Problematik des religiösen Bildes im Protestantismus […] durch eine demonstrative Zerstörung oder quasi-rituelle Verhöhnung der Bilder“42 vom „Bildfrevel“ „einzelner Personen oder sehr kleiner Gruppen“43 und der „Bildentfernung“ in allen anderen Fällen zu unterscheiden, wobei „der Grad der Legalität“ der Aktion zweitranging gewesen sei soll, die Spontaneität aber „ein ganz wesentliches Moment“ ausgemacht habe, scheint angesichts der fehlenden Berichte, die den Charakter des Ereignisses klarstellen könnten, eher willkürlich.44 Aus den Erfahrungen der ikonoklastischen Vorfälle am Anfang des Ersten Hugenottenkrieges (1562) in Frankreich und des niederländischen Bildersturms von 1566 geht hervor, dass eine Kontrolle über die Ereignisse solchen Ausmaßes illusorisch war. Bei größeren Tumulten nahmen vielmehr massenpsychogische Faktoren (auch blinde Zerstörungswut) oder der manchmal von der Forschung heraufbeschworene unkontrollierbare „überzeitlich wirksam[e] bilderstürmerisch[e] Fanatismus“ überhand. Es ist gleichwohl nicht nur die Vielfalt der Zerstörung, sondern es sind auch die befremdenden bilderstürmerischen Praktiken und (Entweihungs-)Rituale, die die wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas erschweren. Besonders diverse der Zerstörung vorausgehende Formen der Profanierung und Beschädigung von Objekten (durch Verstümmelung z. B. Blendung), Entweihung (z. B. durch Verunreinigung) von Kultstätten, Schändung von Gräbern (und Gräberraub) u. dgl. beweisen die Heterogenität der Ziele und Motive der „Bilderhasser“. So wurde beispielsweise im schweizerischen Schwanden der Flügelaltar im Fluss versenkt, nachdem man den darauf stehenden Bildnissen der heiligen Katharina und Barbara nach der üblichen Praxis die Augen und Gesichter ausgekratzt hatte. In Süddeutschland pflegte man den Palmesel (Jesus auf dem Esel) öffentlich zu steinigen, bevor man ihn zerschlug.45 Im niederländischen Den Briel wurde am Aschermittwoch 1567 ein Strafgericht gegen fünf Bilder des heiligen Rochus abgehalten, „das Urteil lautete auf Tod auf dem Scheiterhaufen“46. Paradoxerweise bezeugen gerade solche Verfahrensweisen, die übrigens keine Ausnahmen darstellten, die Tiefe der Angst vor den Bildern.47 Die ihnen zugeschriebene magische (sprich: teuflische) Kraft musste durch unterschiedliche Formen der 42 Michalski, Das Phänomen Bildersturm, 69. 43 Ebd. 44 Vgl. Holenstein/Schmidt, Bilder als Objekte – Bilder in Relationen, 520, wo die Praxis der Bilderentfernung neutral als ein obrigkeitlich legitimierter, ordnungsgemäß durchgeführter und entsprechend beaufsichtigter Prozess von „unrechtmäßigen“ vandalischen Aktionen, dem „Bildersturm“ oder „Bilderfrevel“, unterschieden wird. 45 Ebd., 515f. 46 Blickle, Bilder und ihr gesellschaftlicher Rahmen, 2. 47 Vgl. Bracha, Polemik gegen den hussitischen Bildersturm, 175, 185.

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Schändung im Vorfeld der eigentlichen Zerstörung gebrochen werden. Dennoch belegen ikonophobe Abläufe, dass die befreiende Wirkung des bilderstürmerischen Aktionismus (wofür Karlstadt in seiner Schrift ein Exempel inszeniert) eher mäßig ausfiel. Der Umschlag der Verehrung in Verachtung und Angst bedeutet noch lange keine Befreiung vom übermächtigen Bann der Bildnisse. In dem recht hysterisch anmutenden Aufruf der Theologen zur „Vertilgung“ der Bilder und der Leidenschaft, mit der die Massen ihm folgten, kommt vielmehr das mitunter auch explizite Eingeständnis ihrer Macht48 zum Ausdruck. So ist ihre physische Auslöschung als ein Versuch, von ihnen freizukommen, nur ein Aspekt des Ganzen. Gleichzeitig ließ die Irreversibilität des Verfahrens die Zerstörung zur Treueidleistung gegenüber der „wahren“ Kirche werden: Die Entheiligung des ehemals Verehrten diente einer Reinigung des Gläubigen von der Abgötterei. […] Die Profanierung der Heiligen diente also der Entprofanierung und Heiligung der Kirche. […] [Somit] war auch die Distanzierung der Bilderstürmer von der Bilderverehrung ein Akt der Abgrenzung. […] So diente die Zerstörung dem Aufbau und der Wiederherstellung der göttlichen Ordnung.49

Die manchmal bizarren Ritualisierungsformen als bestimmendes Epiphänomen des Zerstörungswerks ergeben sich auch aus der Usurpation der Rolle des Strafgerichts Gottes durch Lynchjustiz. Ihre Aufgabe war es wohl, den Akt der ausschließlich physischen Demolierung als religiös „unrechtmäßig“ und somit uneffektiv zu verhindern und durch die Verleihung des Eindrucks (oder Scheins) eines geregelten Verfahrens nicht nur die Praxis der Verwüstung zu legimitieren, sondern auch ihre Wirksamkeit zu beweisen: Die Verhöhnung der Bilder war zuweilen wichtiger als ihre Entfernung. Die Bloßstellung der Institutionen, die diese Bilder verwaltet hatten, nahm manchmal die Form der stellvertretenden Bestrafung „in effigie“ an. Wenn man die Schuldigen nicht erreichte, ließ man den Unmut an den Bildern aus, die sie zurückgelassen hatten.50

Blickle erinnert daran, dass die Hugenotten an einer Figur König Ludwigs XI. eine rituelle Hinrichtung durch den Scharfrichter vollzogen, indem sie ihr Kopf, Beine und Arme abschlugen.51 Selbstverständlich war der Angriff auf das alte Machtgefüge, somit die römische Kirche, einer der Aspekte der bilderstürmerischen Aktionen im Zuge der Reformation. Vielleicht hängt die Bandbreite der Zerstörung gerade damit zusammen, dass „es die symbolischen Hypertrophien eines Herrschaftssystems zu beseitigen galt“52:

48 49 50 51 52

Holenstein/Schmidt, Bilder als Objekte – Bilder in Relationen, 517. Ebd., 516. Belting, Bild und Kult, 513. Blickle, Bilder und ihr gesellschaftlicher Rahmen, 2. Warnke, Bilderstürme, 8.

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Jede Herrschaftsform formulierte ihren Ewigkeitsanspruch, doch in materiellen, vereinzelten, verwundbaren Symbolen. Zahlreiche Beispiele zeigen, daß sie als partikulare Machtmittel verstanden worden sind: Sieger beseitigen sie, usurpieren sie oder setzen neue, Unterlegene verletzen oder fragmentieren sie – „zeichnen“ sie.53

So dienten die im symbolischen Substitutionsprozess mit Rom in Verbindung gebrachten Kultobjekte als deren anerkannter Ersatz. Über die massentherapeutische Wirksamkeit deren Verhöhnung/Demütigung hinaus konnte auf diesem Weg der konfessionelle Wechsel besiegelt werden.54 Obwohl die in-effigieVerfahren bei diversen Ritualisierungsformen der Zerstörung die Hauptrolle gespielt zu haben scheinen, bleibt dieses symbolische Verhältnis immer noch ein (zu) wenig untersuchtes Feld der Bildersturmforschung.

Logozentrische Wende und „Kunstrevolution“ der Dilettanten Die epochale Rolle, die man gern der Reformation im Bereich der Kunst55 attestiert, wird aus zweierlei geschlussfolgert: den angenommenen kunstideologischen Implikationen (Funktions- und Stellenwertwechsel) und den objektiven materiellen Folgen der bilderstürmerischen Aktionen. Allein im Jahre 1525 wurde nur in Oberdeutschland eine dreistellige Zahl der Klöster56 verwüstet. Ähnliches ereignete sich in den 1560er Jahren in Frankreich, wo die Zahl der zerstörten Kirchen je nach Schätzung zwischen 10 000 und 20 000 schwankt.57 Eine theologische Begründung dortiger Bilderstürme lieferte die Veröffentlichung der finalen Version von Calvins Institutio Christianae Religionis (1559), des „heftigste[n], systematisch angelegte[n] Angriff[s] auf die Bilderverehrung“58: Der Kampf gegen die Bilderverehrung als verwerfliche Idololatrie, wie ihn Calvin führte, hat im Kraftfeld der Genfer Reformation reichlich seine Früchte getragen. In dem Bewußtsein, wirkliche Götzenbilder zu zerstören, haben Calvinisten in den französischen Bilderstürmen seit Beginn der 1560er Jahre und erst recht im niederländischen Bildersturm 1566 ungezählte und heut unzählbare Kunstwerke vernichtet: die sechziger Jahre erst sahen die Hochblüte des Ikonoklasmus. Sein Träger war der Calvinismus, sein Wirkungsbereich das an Kunstschätzen überreiche Ursprungsland der hochmittelalterlichen Kultur zwischen Pyrenäen und Niederrhein.59 53 Ebd., 10. 54 Zum Austauschen der Gemeinschaftssymbolik vgl. Bracha, Polemik gegen den hussitischen Bildersturm, 190. 55 Vgl. unter anderem Schnitzler, Ikonoklasmus – Bildersturm, 10. 56 Blickle, Bilder und ihr gesellschaftlicher Rahmen, 1f. 57 Ebd., 2. 58 Jedin, Entstehung und Tragweite des Trienter Dekrets, 147. 59 Ebd., 148.

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Noch schlimmer tobten die Bilderstürmer in Großbritannien, wo die Schätzungen sogar insgesamt von ca. 90 % der zerstörten Kultursubstanz ausgehen, deren Gros im 16. und 17. Jahrhundert vernichtet worden ist.60 Gegenüber dem Zerstörungsausmaß, das als valider Grund für den Konsens über kulturrevolutionäre Folgen der Reformation gelten kann, ist die theologische Defunktionalisierung und kulturelle Refunktionalisierung des für den gesamten Kunstbereich stehenden Bildes nicht mehr so eindeutig. Das Bild soll sich damals „vom Gegenstand und Mittel der religiös-kultischen Verehrung zum Objekt des ästhetischen Kunstgenusses“61 gewandelt haben, was unter anderem Belting dazu veranlasste, den „Machtverlust der Bilder in der Reformation“62 festzustellen. An der Überzeugungskraft dieser Denkfigur nagt neben den oben erwähnten Bilderpraktiken in der neuen Welt die weitgehende Restitution der Rolle der religiösen Bilder im Trienter Dekret über die Bilderverehrung (1563). Zwar betraf die repressive antibilderstürmerische Politik in einigen Ländern63 vor allem die Frühphase der Reformation (ab den 1520er Jahren), gleichwohl relativiert auch das Erlahmen des ikonoklastischen Impulses in England unter Elisabeth I., die die Entfernung der Bilder nur dort erlaubte, wo sie „mißbräuchlich verehrt wurden“64, die Kunstrevolution-These. Noch verworrener wird die Situation, wenn man die diesbezügliche Position der Lutheraner bedenkt: „Für das frühneuzeitliche Luthertum war der kirchliche Bildschmuck ein selbstverständliches und im Horizont seiner interkonfessionellen Strittigkeit in wachsendem Maße angeeignetes Moment seiner religionskulturellen Identität.“65 Das Einschwenken der lutherischen Kirche (nach jahrzehntelangen Debatten mit den Reformierten) auf einen eindeutig bilderfreundlichen Kurs führte im 17. Jahrhundert „zu einer bildreichen Ausstattung auch ev[angelischer] Kirchen“66. Ein immer noch unzureichend untersuchtes Feld stellen die Auswirkungen der Reformation auf die Arbeitssphäre der Künstler dar. Erwägungen, die von der befreienden Wirkung auf die Kunst ausgehen, ohne dabei die Konsequenzen in Betracht zu ziehen, die sich aus der frühneuzeitlichen Ikonophobie für die Künstler selbst (ihre schöpferischen Möglichkeiten, Rolle, ihren sozialen Status, Arbeitsverhältnisse usw.) ergaben, scheinen einen wichtigen Aspekt zu übersehen. Wenn sich also langfristig eine generelle Verselbstständigungstendenz der ästhetischen Tätigkeit annehmen lässt, bedeutete der Ausbruch des Ikonoklas60 61 62 63 64 65 66

Vgl. Schnitzler, Ikonoklasmus – Bildersturm, 149–153. Holenstein/Schmidt, Bilder als Objekte – Bilder in Relationen, 522. Belting, Bild und Kult, 24. Schnitzler, Ikonoklasmus – Bildersturm, 154. Ebd., 153. Kaufmann, Die Bilderfrage im frühneuzeitlichen Luthertum, 414. Sörries, „Bilder, Bilderverehrung“, 508.

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mus im dritten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts einen Marktzusammenbruch für die ganze Branche. Die Kirche stellte bislang nicht nur die wichtigste Inspirationsquelle dar, von ihr stammte vor allem der Großteil der Aufträge, die den ganzen Arbeitsbereich der Künstler organisierte. So erscheint die angenommene befreiende Kunstwende als eine Folge der Reformation äußerst paradox, wenn man die tiefe berufliche, existenzielle, aber auch identitäre Krise mitreflektiert, in die die Strömung die Künstler stürzte. Zumal die ökonomische Misere zahlreiche unter ihnen in ein Spannungsverhältnis zu einer Sache geraten ließ, deren Anhänger sie in vielen Fällen waren. Ein interessantes Beispiel hierfür stellt der Schweizer Reformator, bildende Künstler, Dichter und Publizist Niklaus Manuel dar. Als arrivierter Maler griff er um 1522 zur Feder, um in mit bissigem Humor geschriebenen literarischen Arbeiten (unter anderem Vom Papst und seiner Priesterschaft mit dem Zusatz Von evangelischer Freiheit, 1524; Underscheid zwischen dem Papst und Christum Jesum, 1524, Der Ablaßkrämer, 1525) aufseiten der Reformation zu kämpfen. Zeit seines Lebens soll er aber gleichzeitig entschiedener Gegner des Ikonoklasmus bleiben. Die Verworrenheit der Situation der Künstler macht die Manuel (auch Hans Sachs) zugeschriebene Verssatire Klagred der armen Götzen (1528) deutlich. Nach dem anfänglichen Eingeständnis eigener Schuld („Wir armen götzen gross und klein/ Bekennend uns allhie gemein/ All unser sünd und missetat,/ Die gott und d’welt erzürnet hat,/ Dass wir im tempel gstanden sind/ Glich wie des himmels husgesind,/ Und habend gfüert so guten schin,/ Als wärend wir gott selber gsin.“)67

decken die Götzen die Menschen als die eigentlichen Schuldigen am Missbrauch der Bilder auf: On zwitel ist und ganz gewiss,/ Dass wir nit schuldig unsers bschiss./ Was mögend’s wir, dass man uns hat/ In d’kilchen gstellt an gwichte statt/ Und uns anbetet, glich als ob/ Solch eer und dienst war gottes lob?/[…]/ Das habend ir selbs gfangen an/ Mit uns, die wir kein leben hond/ Und dennocht ietzund tragen sond/ Die schuld und straf für ander lüt./ Das ist doch ein ungliche büt/ Ir selbs hond uns zu götzen gmacht,/ Von denen wir ietz sind verlacht,/ Und ist an uns deshalb kein schuld./ Ir selbs bi uns hond gnad und huld.68

Als Künstler verstand Manuel sehr wohl, dass der Charakter eines Kunstwerks ihm nicht immanent ist, sondern sich erst aus der Art der Wahrnehmung des Rezipienten – um mit Viktor Sˇklovskij zu sprechen – ergibt. In dem Sinne argumentierte auch Luther in Wider die himmlischen Propheten (1525), wo er sich selbst keinesfalls als Freund der Bilder zu erkennen gab, sondern vielmehr als ein 67 Manuel, Klagred der armen Götzen, 237. 68 Ebd., 240f.

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Mann der Ordnung auftrat. So habe er nichts gegen die Entfernung der Bilder, „so fern das on schwermen und stürmen durch ordentliche gewalt geschehe“69, jedoch für wichtiger als ihre physische Zerstörung halte er, dass sie zuerst „aus allen hertzen gerissen, veracht und vernichtet“70 werden. Bei Albrecht Dürer, dem Belting die entscheidende Rolle beim Übergang von der Ära des Bildes zu einer der Kunst zuschreibt, trat der innere Konflikt mit noch größerer Deutlichkeit hervor. Als Künstler der „sich im Rahmen des gemeinsamen christlichen Glaubens der Lehrmeinung Luthers zuneigte“71, den mit etlichen Reformatoren (Karlstadt, Zwingli) eine lange Freundschaft verband, der Mitglied (Genannter) des Stadtrates von Nürnberg war, als dieser die Reformation einführte, „war Dürer gleich beim ersten Ausbruch des deutschen Bildersturmes in seinem künstlerischen Werk auf das unmittelbarste bedroht“72. Er malte Altarbilder im Auftrag der alten Kirche und stach Graphiken nach reformatorischem Geschmack; er porträtierte den Kardinal Albrecht von Brandenburg und den Kurfürsten Friedrich den Weisen von Sachsen, Erasmus und Philipp Melanchthon. An ihm, dem „erste[n] deutsche[n] Maler an der Wende des 15. zum 16. Jahrhundert, der Kunst mit Theorie vereinigte“73, lässt sich jene quälende Pinder’sche „Gleichzeitigkeit des Verschiedenaltrigen“74 beobachten, die den Künstlern eigen ist, bei denen Einflüsse und Sichtweisen zweier Epochen einander überlagern. In vielem stand er noch mit einem Bein im Mittelalter, in anderem wies er bereits in die Zukunft. In Reaktion auf die offenbar schon Anfang des 16. Jahrhunderts immer deutlicher werdenden ikonophoben Positionen, lange bevor 1522 in Wittenberg der erste reformatorische Bildersturm losging, verteidigte er, die kommenden bilderstürmerischen Tumulte antizipierend, die Kunst vor Verunglimpfungen „durch dy groben kunst vertrücker“75. Der Argumentationsgang Dürers ist modern und rückwärtsgewandt zugleich. Die Kunst wird in den Aufzeichnungen zum geplanten Lehrbuch der Malerei (ca. 1508–1510) unmittelbar von Gott abgeleitet: „Zum ersten, es ist ein nutze kunst, wan sie jst gottlich vnd wurt geprawcht zw guter hellger vermanvng.“76 Daraus ergibt sich ihr von Natur aus positives Wesen: „Dan gott hat alle kunst beschaffen, dorum müsen sy all genaden reich, foll tugettn vnd gut sein.“77 Gleichzeitig kommt Dürer dem in der mittelalterlichen Auffassung der Kunst als 69 70 71 72 73 74 75 76 77

Luther, WA 18, 68. Ebd. Anzelewsky, Albrecht Dürer – Werk und Wirkung, 239. Rupprich, Dürers Stellung zu den agnoëtischen und kunstfeindlichen Strömungen, 15. Rupprich, Einleitung, 7. Pinder, Das Problem der Generation in der Kunstgeschichte Europas, 107. Dürer, Das Lehrbuch der Malerei, 109. Ebd., 92. Ebd., 107.

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einer handwerklichen Tätigkeit begründeten Nützlichkeitsgebot entgegen, indem er sie auf der einen Seite religions-praktisch („Dan dy kunst ist gros, schwer vnd gut, vnd wir mügen vnd wöllen sy mit grossen eren jn das lob gottes wenden“78; „Dan dy kunst des molens würt geprawcht jm dinst der kirchen vnd dordurch angetzeigt daz leiden Christi, behelt awch dy gestalt der menschen noch jrem absterben“79), auf der anderen sittlich („Der mensch van guter frumer natur würt gepessert durch fill künst“)80 funktionalisiert. Die Kunst um ihrer selbst willen kennt Dürer ohnehin nicht; entschieden widersetzt er sich aber einer Denkweise, die den Nutzen als Gegenteil des Schönen wissen will. So ist „daz vnnücz ist zw vermeiden. Aber der nutz ist ein grosser teill der schonheit“81. Einen besonders interessanten Aspekt des polemischen und apologetischen Schrifttums Dürers stellen seine Äußerungen gegen die Feinde der Kunst (kunst vertrücker) dar. In ihnen tritt mit besonderer Dynamik die Auseinandersetzung über die Kunst an der Schwelle ihrer Emanzipierung zutage. Die apostrophierten „Unterdrücker“, unter denen vor allem die Unkundigen, Dilettanten oder Agnoeten (die Unwissenden), wie Hans Rupprich sie nennt, zu verstehen sind, greifen die Kunst ohne Grund an. In ihrer Unverständigkeit und Blindheit verteufeln sie die Kunstwerke, um deren Zerstörung zu legitimieren. Diesem Unwesen fallen – was Dürer explizite zutiefst bedauert – wertvolle Objekte zum Opfer, die doch ihre Entstehung den Gaben Gottes verdanken: Es geschicht oft durch dy groben kunst vertrücker, daz dy edlen jngenj aws gelescht werden. Dan so sy dy getzognen figuren jn etlichen linien sehen, vermeinen sy, es sey eitell tewfells pannung. Also eren sy got mit dem, daz wider jn ist. Vnd menschlich zw reden, so hat gott ein misfall vber dy, dy do sölliche meisterschaft vertilgen, dy mit grosser müe, erbett vnd tzeit erfunden würt vnd allein van got verlihen ist. Ach was grosser schmertzen…82

Abgesehen von den leicht lenkbaren Massen, ist die Stoßrichtung der Argumentation Dürers gegen die ikonophoben Theologen gerichtet, die von ihm implizite als Ignoranten entlarvt werden. Der ästhetische Genuss ist allen Menschen gemeinsam („Wir sehen geren schöne ding, dan es gibt vns frewd“)83, gleichwohl steht das Recht, Urteile über Kunstwerke zu fällen, nur den Sachverständigen, sprich schaffenden Künstlern, zu: „Dy kunst des malens kan nit woll gevrteilt werden dan van den, dy do selbs gut moler sind. Aber vürwar den anderen ist es verporgen wy dir ein fremde sprach.“84 78 79 80 81 82 83 84

Ebd., 104. Ebd., 113. Ebd., 107. Ebd., 100. Ebd., 109f. Ebd., 113. Ebd., 109.

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Obwohl der stark durch italienische Meister beeinflusste Dürer im frühen 16. Jahrhundert den Grundstein für die fortschreitende Autonomisierung der Kunst legte, erweist sich die (reformiert-)reformatorische Ikonophobie als eine Erscheinung, die nicht nur in historischer Perspektive in den Blick genommen werden soll. Vielmehr ist sie ein Faktor, der nach wie vor die Kunst ablehnende Haltung autorisiert. Auch die im 16. Jahrhundert zwar hochwirksamen, gleichwohl schon damals theologisch anachronistischen Argumente (vgl. Karlstadt), die in die Bilderdebatte eingebracht worden sind, weisen eine bemerkenswerte Resistenz auf und hallen bis in die Gegenwart nach. Ebenso Dürers Absicht, die Kunst vor dem Ignorantentum der (gelehrten) Demagogen zu retten, indem man ihr Schicksal den geübten Händen der Kunstschaffenden anvertraut, ist nur als bedingt geglückt anzusehen. Das Beispiel Karl Barths beweist eindringlich nicht nur, dass die Bereitschaft der Theologen, kompromisslose Stellungnahmen zu ästhetischen Problemen vom Standpunkt pedantischer Bibelgemäßheit aus zu formulieren, immer noch groß ist, sondern auch dass diese sogar in der Moderne zur Radikalisierung der Position(en) zur Kunst im kirchlichen Raum führen können. Vielsagend ist in diesem Zusammenhang die Kontroverse um die Ersetzung der Chorfenster im Basler Münster 1952, in der sich Barth eindeutig gegen die sogar von der Synode zugelassenen und von vielen Verbänden unterstützten Entwürfe des Basler Glasmalers Charles Hindenlang aussprach. Als komplettes theologisches Gutachten musste auch in diesem Fall der Verweis auf das „zweite Gebot“ herhalten. Barths Meinung nach sollten sich sowohl der Kirchenrat als auch die Synode, die Pfarrer und Teilnehmer an der öffentlich geführten Diskussion vor allem die Frage gestellt haben, ob die Anbringung von Abbildungen Jesu Christi und des nach dem christlichen Bekenntnis in ihm vollbrachten Heilsgeschehens im gottesdienstlichen Raum einer Kirche reformierter Konfession überhaupt und als solche ein mögliches Unternehmen sei.85

Letztendlich trug die negative Stellungnahme des große Achtung genießenden Theologen wesentlich dazu bei, dass bei 25-prozentiger Stimmbeteiligung die Vorschläge abgelehnt wurden, und zwar obwohl sogar der konsequent gegen die religiöse Kunst zu Felde ziehende Zwingli expressis verbis bestätigte, dass man „die Bilder nicht zu zerstören [brauche], die als Fensterschmuck eingesetzt wurden, vorausgesetzt, daß sie nichts Schädliches darstellen; denn Niemand verehrt sie dort“86. Vor dem Hintergrund des Basler Referendums ist die Position Beltings nachvollziehbar, dass die Kunst generell nicht in den Zuständigkeitsbereich der 85 Barth, An die „Basler Nachrichten“, 295. Hervorhebungen im Original. 86 Zwingli, Der Kommentar von der wahren und falschen Religion, 605.

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Kirchenmänner falle, „denn sie reden von den historischen Theologen und ihrem Umgang mit den Bildern, statt von diesen selbst“87. Der Fall des manchmal als „Kirchenvater des 20. Jahrhunderts“88 bezeichneten Barth steht paradigmatisch für die Überforderung der Theologen und Religionsführer mit den Problemen der Kunst und ihrer Rezeption. Seine Beweisführung ausschließlich auf theologische Argumentation stützend, geht Barth von der alten Auffassung der Unabbildbarkeit Gottes aus, der sich in Christus „selbst zu erkennen gegeben hat“. Und dieses Bild könne per se „in keinem von menschlichem Fühlen und Denken entworfenen und durch menschliche Erfindung und Kunst herzustellenden Abbild“89 wiedergegeben werden. (Übrigens ist sein Ansatz auch in diesem Punkt ein Nachhall der reformatorischen Diskussion, namentlich der Meinung Zwinglis, die göttliche Natur könne nicht abgebildet, die menschliche dürfe nicht verehrt werden)90. Alle Bemühungen der Künstler, die Grenze des Unmöglichen zu überschreiten, bezeichnet Barth deshalb als „Versuche an einem untauglichen Objekt“. Vielmehr sollen sie sich vom Gottesdienst der Gemeinde fernhalten […], [denn] [k]ein Mensch hat nämlich die Autorität und das Recht, die Aufmerksamkeit der Gemeinde ausgerechnet an sein Christusbild zu binden, und wenn dieses noch so fromm empfunden wäre. Das geschieht aber durch die Anbringung solcher Darstellungen an dem Ort, wo die Gemeinde zum Hören der Schrift, zum Gebet, zur Feier der Taufe und des Abendmahls versammelt wird.91

So stehe die Kunst dem im Wege, dass sich die Verkündigung von Christus als „ein lebendiges Geschehen“ immer wieder erneuert, vertieft und „von etwa eingedrungenen eigenmächtig geformten Bildern“ reinigt. Denn im Vergleich zur Lebendigkeit des Glaubens habe [d]as Christusbild auf der Scheibe […] die fatale Eigenschaft, unveränderlich sich selbst gleich zu bleiben, sich der Gemeinde dauernd aufzudrängen und in dieser seiner Beharrlichkeit ein Hindernis der fortwährend notwendigen Neugeburt der Verkündigung und des Glaubens zu sein.92

Seine Beweisführung schließt Barth mit einer für die Mitte des 20. Jahrhunderts etwas überraschend radikalen Schlussfolgerung ab: „Aus dem Gottesbild entsteht notwendig die Abgötterei“93.

87 88 89 90 91 92 93

Belting, Bild und Kult, 13. Padberg (Hg.), Von Tertullian bis Bonhoeffer, 122. Barth, An die „Basler Nachrichten“, 295f. Zwingli, Der Kommentar von der wahren und falschen Religion, 604. Barth, An die „Basler Nachrichten“, 295. Ebd., 296. Hervorhebungen im Original. Ebd.

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Barths Kunstauffassung trägt über weite Strecken ziemlich reaktionäre Züge. Er hält das materielle Kunstwerk für etwas Steifes, Statisches, ein für allemal Fixiertes, dem nur eine, konstante Botschaft für immer unterlegt ist. Er scheint blind für die Tatsache zu sein, dass ein Artefakt nicht nur erst im Akt der Rezeption, im Vorgang der Aktualisierung zum Kunstwerk wird, sondern dass es auch bis zu diesem Zeitpunkt weitgehend unvollständig oder „unbestimmt“, um mit Wolfgang Iser zu sprechen, bleibt94: „Durch diese Aktualisierung wird unzweifelhaft etwas Neues hervorgebracht.“95 In einer dynamischen Kunstauffassung ergeben sich aus der Rolle des Rezipienten als des Mitkonstituenten des Kunstwerkes die prinzipielle Unendlichkeit und Unabschließbarkeit der Interpretation. Die primäre Dynamik der Kunst setzt eine Wandlungsfähigkeit voraus, die der ihr von Barth unterstellten Konstanz und Abgeschlossenheit wesensfremd ist.

Abschließende Gedanken „Eine umfassende und anerkannte Interpretation dafür, was beim Bildersturm vorliege, fehlt“, meint Blickle.96 Der westeuropäische Bilderstreit konnte an der Schwelle der Neuzeit bereits auf eine jahrhundertelange Tradition – mit einer Phase der Eskalation im 15. Jahrhundert – zurückblicken. Der reformatorische lässt sich teilweise als Nebeneffekt der Rechtfertigungsdebatte97 und der damit organisch zusammenhängenden Neuverortung von Glauben und Werken ansehen. So sind auch die späteren emphatischen Stellungnahmen, wie die von Ernst Troeltsch, der Anfang des 20. Jahrhunderts dem Protestantismus attestierte, „der Kunst einen neuen Geist eingeflößt“, „das Stoffgebiet der Kunst total verwandelt und ihr die Aufgabe gestellt [zu haben], neue Gebiete zu erobern“98, nichts als Zuschreibungen des Kulturprotestantismus, ein Effekt jener Mythisierungsprozesse, die schon im 16. Jahrhundert im Zuge der lutherischen und reformierten Konfessionalisierungen einsetzten. Wie man heute die protestantische Reformation immer mehr als einen Höhepunkt in einer Reihe reformatorischer Bestrebungen des Mittelalters betrachtet, und eher von „purification movements, of which the Protestant Reformation was one“99 spricht, scheint auch ihr Status als einer Kunstrevolution überschätzt zu sein. Zum einen war das Niveau der diesbezüglichen theologischen Debatte selbst bei den einflussreichsten Reformato94 95 96 97 98 99

Iser, Die Appellstuktur der Texte, 233. Ingarden, Das literarische Kunstwerk, 386f. Blickle, Bilder und ihr gesellschaftlicher Rahmen, 7. Belting, Bild und Kult, 12. Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus, 83. Tillich, Systematic Theology, vol. 2, 144.

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ren (Zwingli, Calvin, Karlstadt) ziemlich enttäuschend. Nicht nur religiöse Legitimierung des Ikonoklasmus, sondern auch Begründung des eigentlichen Handlungsimperativs ging bei den Gegnern der „Bilder“ selten über auf das zweite Gebot (nach reformierter Zählung) und dessen Interpretation hinaus. Beim in dieser Angelegenheit lange schwankenden Luther wies die „Abwertung der Bilder zu Adiaphora, zu nicht heilsnotwendigen Mitteldingen“100 einen Mittelweg zwischen der Bilderverehrung der alten Kirche und der überspannten undifferenzierten Bilderfeindschaft des reformierten Lagers. Tatsache bleibt aber, dass weder die Theologen – einschließlich Luther – neue Argumente zur Diskussion beigesteuert haben, noch hat die Bewegung eine neue Sichtweise der Kunst angeboten. Was die Reformation publik machte, war längst im Gange. Dürer spürte mehr als ein Jahrzehnt vor dem ersten Bildersturm das Anwachsen ikonophober Stimmungen in Deutschland. Karlstadt fühlte sich gerade durch wiederkehrende Übergriffe auf Priester und kirchliche Substanz zum Vorlegen seiner Schrift Von Abtuhung der Bilder herausgefordert. Die Reformation blieb hier auf derselben religions-politischen Schiene wie die Hussiten im 15. Jahrhundert (vgl. Nikolaus von Dresden). Statt der Befreiung von der kirchlichdogmatischen Funktionalisierung findet man im Schrifttum der Bewegung Angriffe auf die Künstler und Kunst sowie den gefährlichen Zensureifer, der eher auf eine erneute Instrumentalisierung als auf Freigabe schließen lässt. Am Ende entwickelt die Reformation zwei (Schein)Lösungen des Problems: Ausrottung oder Unterordnung. Lange bevor reformatorische Strömungen mit ihrem kunstsubversiven Handeln Aufsehen erregten, ging die eigentliche Kunstrevolution bereits seit fast einem Jahrhundert vonstatten. In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts setzte mit dem wegweisenden Werk De pictura libri III (1435/36) von Leon Battista Alberti in Italien der Prozess der „Ästhetisierung des Bildes“ ein. Dem Genuesen schwebten vor allem zwei Ziele vor: 1) die Malerei auf einer wissenschaftlichen Basis zu begründen, 2) sie von den handwerklichen Einschränkungen zu befreien und damit den Maler in den Rang eines Künstlers zu erheben: Der Übergang vom Kultbild zum Kunstbild, von der Verehrung des Bildes zum Genuß des Bildes, vom Bilderkult zur Künstlerreligion im Italien der Renaissance verdeutlicht, daß dieser Paradigmawechsel nicht notwendig an den Bildersturm der Reformation gekoppelt war.101

Auch das damals hochmoderne, zum Teil gleiche Ziele verfolgende Lehrbuch der Malerei Dürers, an dem er seit 1508 schrieb, um die Arbeit ca. 1513 abzubrechen, ist ein Kind der vorreformatorischen Entwicklung. Die Malerei war bereits im 100 Wimböck, Die Autorität des Bildes, 34. 101 Holenstein/Schmidt, Bilder als Objekte – Bilder in Relationen, 522. Hervorhebungen im Original.

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Prozess der Wandlung begriffen, dessen Tragweite am wenigsten die wortfixierten Reformatoren haben ermessen können/wollen, selbst wenn alle Zeichen bereits auf Neuerung und Innovation standen. Nicht nur die bedeutendsten und neuartigsten Werke Dürers, sondern auch die von Grünewald, Altdorfer und anderen sind vor der Reformation entstanden. Das eigentliche Problem stellte die Haltung der Theologen dar, denen es nicht um Korrekturen und Verbesserungen in den Künsten, auch nicht ums Rechthaben, sondern um die Meinungshoheit ging. Selbst die modernsten, der reformatorischen Lehre verpflichteten Werke der treuen Anhänger der Bewegung durften auf kein Verständnis (und Nachsicht) der Ikonoklasten hoffen. Die Zerstörung des Marienaltars von Lucas Cranach im Prager Bildersturm von 1619 spricht für sich. Ein kulturgeschichtlich hoch interessantes Phänomen ist die Leidenschaft, mit der die Massen der Kunst die Axt an die Wurzel legten. Es handelte sich womöglich um zweierlei: Systemwechsel und Sicherung des eigenen Seelenheils: Bilder sind Mittel der Kommunikation. Künstlerische Bilder sind es in gesteigertem Maße: Sie vermitteln nicht nur Inhalte, sondern auch Werturteile und Gefühle über die Art von Darstellung und Inhalt. Bilder setzen Betrachter voraus – gedachte oder reale.102

Die Zerstörung der Zeichen mündet notwendigerweise in einen kulturellen Kommunikationsbruch ein. Beim Systemwechsel lassen sich die alten Kommunikationsmittel nicht einfach reloaden. Kontinuierlich rufen sie Irritationen hervor. So wurden die Bilder und Kultobjekte zerstört, um den Störungen, dem zersetzenden Rauschen im Kommunikationskanal, vorzubeugen. Gleichzeitig bestachen Bilderstürme durch die Einfachheit, mit der man durch Beteiligung daran ein Versprechen göttlicher Gnade erlangte (was für die reformatorischen Reihen schon recht ironisch anmutet). Nicht nur „[d]ie mehrmals bezeugte Teilnahme von Frauen und Kindern“103 lässt sich in diesen Zusammenhang einordnen. Auch das bizarre Trophäensammeln, d.i. Kauf und Verkauf von Fragmenten „überwundener Götzen“104, die dann als eigentümliche reliquienähnliche Beweisstücke eigener politisch korrekter Religiosität lange aufbewahrt wurden, gehört dazu. Nicht ohne gewisse Entmutigung apostrophierte Luther die altbekannte, jetzt unter neuer Fahne stehende Oberflächlichkeit des Glaubens: „Wyr sind Christen, leyder, mit bild brechen, fleysch essen vnnd anderen eußerlichen dingen, aber glawb vnnd liebe, da die macht ligt, will nyrgen hernach.“105 Zum Schluss noch ein Wort über die Relativität des reformatorischen „Bilderkrieges“. Wenn „[ j]ede Kultur, die immer Abdruck ihrer Gesellschaft ist, sich 102 103 104 105

Metzler, Bilderstürme und Bilderfeindlichkeit in der Antike, 14. Michalski, Das Phänomen Bildersturm, 101. Vgl. ebd., 88. Luther an Graf Ludwig zu Stolberg in: Luther, WA BR 2, 514.

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ihre Bilder [schafft]“106, dann wären die Praktiken der Hussiten, der militanten Ikonoklasten par excellence, der beste, gleichwohl nicht einer gewissen Paradoxie entbehrende Kommentar zur späteren großen reformatorischen Auseinandersetzung um die Bilder. Um die Wende des 15. zum 16. Jahrhundert entwickelte sich in ihren Reihen ein richtiger Hus-Kult, der der früheren Heiligenverehrung in der römischen Kirche an Intensität und Inbrunst in nichts nachstand. Dem Prager Theologen wurden in der Zeit der protestantischen Reformation nicht nur Altäre (in der Bethlehemskapelle, der Nikolauskirche, der Philipp-und-Jakobˇ áslav, Kostelec, Kutná Hora, Litomeˇrˇice, C ˇ eský Kirche in Prag-Smichov, in C Dub), sondern auch Kirchen geweiht (Na Kopecˇku in Königgrätz [1530], auf der Prager Kleinseite [1560]).107 Solche Umstände lassen jedoch nicht nur die Beweggründe der Ikonoklasten kritisch hinterfragen; sie mahnen auch zur Vorsicht bei der einseitigen Beurteilung der Leistungen der Reformation: „Contemporary theology must consider the fact that the Reformation was not only a religious gain but also a religious loss.“108

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106 Blickle, Bilder und ihr gesellschaftlicher Rahmen, 3. 107 Royt, Hussitische Bildpropaganda, 351. 108 Tillich, Systematic Theology, vol. 3, 6.

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biblisch gemäl und des Mahlers Peter Paul Rubens Altar Tafl Konfessionalisierung und Kunst im Herzogtum Pfalz-Neuburg 1540–1650

Neuburg an der Donau liegt gut 100 km nördlich der bayerischen Landeshauptstadt München und gut 20 km westlich der Autometropole Ingolstadt und damit zumindest heute eher in der bayerischen Provinz. Im für uns interessanten Zeitraum war Neuburg Hof- und Residenzstadt und Zentrum eines kleineren Territoriums im Alten Reich. Dieses hatte europäische Bezüge, wie der Blick in eine Kapelle der Neuburger Hofkirche mit einer barocken Abbildung der Muttergottes von Czenstochau zeigt. Nach Neuburg kam die Kostbarkeit als Mitgift der Prinzessin Anna Katharina Konstanze Wasa (1619–1651), die 1642 in Warschau den Erbprinzen Philipp Wilhelm (1615–1690) aus der Pfalz-Neuburger Linie der Wittelsbacher heiratete. Das Bild wird von sechs Medaillons mit Abbildungen von Patres der Gesellschaft Jesu umrahmt1 und belegt – aus katholischer Perspektive – die Bedeutung der Kunst für die Formung der Konfessionen.

Einführung der Reformation 15422 Mit der Einführung der Reformation und der Einrichtung einer eigenen Landeskirche durch den Pfalzgrafen Ottheinrich waren zunächst keine Vorgaben zu religiösen Bildern verbunden. In den Orten des kleinen Herzogtums gab es eine sehr gegenstandsbezogene Frömmigkeit, wie Kreuzpartikel in zwei Benediktinerinnenklöstern zeigen. Die Nonnen, die aus Neuburg wegen der Einführung der Reformation ins bayerisch-altkirchliche Kühbach auswanderten, nahmen den ihren mit.3 Die nach brandenburgisch-nürnbergischem Vorbild von Andreas Osiander verfasste Kirchenordnung des Jahres 1543 verbot „alle spectacula, alsda man mit Bildern getriben hat“4. Unter das Verbot dieser spectacula dürfte das 1 Veit, Gnadenbild von Czenstochau, 388. 2 Zu den Konfessionalisierungsvorgängen Merkl, Kunst und Konfessionalisierung, 189–193, sowie aktuell Seitz, Reformation und Gegenreformation, 73–94. 3 Seitz, Kreuzpartikel aus Kühbach, 285f; Merkl, Votivbild aus Bergen, 273. 4 Merkl, Kunst und Konfessionalisierung, 190.

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Segnen mit dem Kreuzpartikel gefallen sein, jedoch keine Bilder oder andere Gegenstände als solche. Allerdings ließ Ottheinrich bereits im gleichen Jahr seine Neuburger Schlosskapelle mit vor allem biblischen Motiven ausmalen.5

Kaiserliches Interim 1546–1552 Während des Interims bzw. der Besetzung durch kaiserliche Truppen im Schmalkaldischen Krieg und in der Zeit danach wurde die Reformation rückgängig gemacht. Ottheinrich nahm sein Land 1552 im Vorgriff auf den Passauer Vertrag erneut in Besitz und setzte die Kirchenordnung des Jahres 1543 wieder in Kraft. Die bisher angesprochenen konfessionsrelevanten Vorgänge beeinflussten den Bestand an religiöser Kunst nicht.6

Evangelische Landeskirche 1552–1615 Die Kirchenordnung des Jahres 1554, die der württembergischen des Vorjahres nachgebildet war, enthielt eine Kurskorrektur. Gegenüber dem ebenfalls von Johann Brenz verfassten Vorbild wurde in das erste Gebot des Dekalogs ein eigenständiges Bilderverbot eingebracht, das wohl auf die Neuburger Theologen Michael Diller und Johann Ehinger zurückgeht. Hier scheinen oberdeutsche Einflüsse eine Rolle gespielt zu haben. Brenz’ moderate Haltung – ähnlich der Luthers – gegenüber Bildern kam nicht zum Tragen.7 Konkrete Folge des Bilderverbotes war die Verordnung vom 12. August 1554 zur Beseitigung der Bilder und Feldkapellen. Sie trug den herzoglichen Beamten auf, du sollst ohne sonder gebolder, gespöt oder geschrai die altar- und andere tafln, sambt bilder aus allen kirchen deines ambts tun und an ain besonder ort verwahren, die altär aber noch zur Zeit allenthalben bleiben lassen.8

Bilder und Skulpturen – wie das Gnadenbild von Bittenbrunn nahe Neuburg9 oder eine Holzfigur des Kirchenpatrons St. Martin zu Pferd (um 1500) in Wolferstadt bei Monheim10 – wurden in „Götzenkammern“11 weggesperrt. An eini5 Seitz, Die Schloßkapelle zu Neuburg a. d. Donau, 29–36. 6 Seitz, Reformation und Gegenreformation im Fürstentum Pfalz-Neuburg, 46. 7 Henker, Johann Brenz und die Entwicklung des Neuburger Kirchenwesens, 113; Brecht, Johannes Brenz, 112. 8 Sehling (Hg.), Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, 112. 9 Veit, Verlauf der Rekatholisierung in Neuburg, 149. 10 Horn, Die Kunstdenkmäler von Bayern, 617. 11 Auszug aus dem Inventar von Schloss Burglengenfeld von 1582 (Fotomontage) in: Ausstellungskatalog: FürstenMacht & wahrer Glaube, 67.

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gen Orten kam es zur Zerstörung von gotischen Fresken wie einer Darstellung der Gefangennahme Jesu (um 1350) in Oberglauheim, Landkreis Dillingen an der Donau,12 oder einer Marientoddarstellung (1494) in Schweinspoint, Landkreis Donau-Ries.13

Abb. 1: Gotische Marientoddarstellung (1494) in der Reformationszeit zerstört; Filialkirche St. Bartholomäus Schweinspoint. Foto: Rupert Heckel.

Zerstört wurden auch Feldkapellen und Wallfahrtskirchen; von zwei Wallfahrtskirchen existieren noch heute Ruinen.14 Die Entfernung der Bilder wurde regelmäßig überprüft. Die Visitationsordnungen von Ottheinrichs Nachfolger Pfalzgraf Wolfgang (reg. 1559–1569) der Jahre 1560 und 1566 besagten dazu, so werden wie bericht, das noch abgöttische Bilder als [auch] sacramentsheuslein und altaria, so nit zur communion gebraucht, in etlichen Kirchen sein. Da sollen unsere visitatores auf mitl und weg denken, ob und wie solche bilder und anders zur abgötterei ursach geben kann, mit christlicher beschaidenheit abzuschaffen.15

Wolfgangs Nachfolger Pfalzgraf Philipp Ludwig (reg. 1569–1614) setzte diesen Kurs fort. Die Generalartikel von 1576 sahen eine Einzelfallprüfung vor, wo in den Kirchen […] abgöttische und ergerliche bilder gefunden, dieselben soll weder der pfarrer noch ambtmann eigens willens abzeschaffen gestattet werden, sunder eine 12 13 14 15

Meyer, Die Kunstdenkmäler von Bayern, 780, 782. Horn, Kunstdenkmäler Donauwörth, 506. Ebd., 511f (Spindeltal) und 524f (Übersfeld). Sehling, Die evangelischen Kirchenordnungen, 135.

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jeder superintendens soll deshalben mit der oberkait jeden orts aus grund der heili[g]en schrift reden und handeln, damit dieselben mit aller beschaidenheit ohn ergernus und beschwerlichs nachreden hinweg getan werden mögen.16

Im Schloss Burglengenfeld befanden sich nach einem Inventar von 1582 neben zahlreichen Leuchtern und Prozessionsstangen allein 30 Flügelaltäre mit 69 Plastiken, 79 Holztafelgemälde, eine große Holztafel mit den 12 Aposteln sowie 20 Einzelplastiken in der „Götzenkammer“.17 Die Praxis für den Umgang mit der vorhandenen religiösen Kunst war uneinheitlich und führte zu einem erheblichen Teil zur Beseitigung älterer Kunstwerke, zum geringeren Teil blieben diese erhalten. Unproblematisch scheinen Kruzifixe gewesen zu sein, haben sich doch zahlreiche gotische Arbeiten erhalten.18 Wie uneinheitlich die Praxis war, zeigt sich darin, dass in Burglengenfeld die „12 Apostel“ in die „Götzenkammer“ gesperrt wurden, während um 1600 ,evangelische‘ Tafelbilder mit diesem Motiv – allerdings mit einer zentralen Christusdarstellung – an anderen Orten entstanden und sich in Flotzheim und Wolferstadt, Landkreis Donau-Ries erhalten haben.19 Es wurden aber auch neue, theologisch korrekte Kunstwerke geschaffen. Dazu gehörte „das biblisch Gemäl“20, biblische Szenen an den Wänden der Schlosskapelle von Neuburg und auch der von Höchstädt. Dazu gehörten auch Kreuzaltäre wie der ,lutherische‘ Altar in Unterstall bei Neuburg21 oder in den Schlössern von Neuburg22 und Höchstädt (Altarbild mit einer kleinfigurigen Kreuzabnahme). Mang Kilian malte es zusammen mit den Fresken der Höchstädter Schlosskapelle 1601/1602. Das „ganz aus Stein gehauene Kruzifix [war] aus einem weißen Bruchstein, dessen Korpus ganz von einem Stück samt dem Kreuz aus dem Stein gehauen, wobei die Arme mit zwei eisernen Stiften an dem Körper befestigt“ waren. Es wurde 1819 von den königlich-bayerischen Behörden abgegeben, ist aber mittlerweile spurlos verschwunden. Der Altar, zumindest das Altarbild, war bereits 1815 unentgeltlich an die „arme“ Pfarrkirche im nahen Gremheim überlassen worden. Dort befindet es sich noch immer.23

16 Ebd., 193. 17 Auszug aus dem Inventar von Schloss Burglengenfeld von 1582 (Fotomontage) in: Ausstellungskatalog: FürstenMacht & wahrer Glaube, 67. 18 Merkl, Kunst und Konfessionalisierung, 195f mit weiteren Nachweisen. 19 Horn, Kunstdenkmäler Donauwörth, 232, 616. 20 Stierhof, das biblisch gemäl, 47. 21 Horn/Meyer, Die Kunstdenkmäler von Bayern, 768f. 22 Zum Altar des Eichstätter Bildhauers Martin Hering vgl. Seitz, Schloßkapelle zu Neuburg, 23– 26. 23 Seitz, Das Fürstliche Renaissanceschloß zu Höchstädt a. d. Donau, 106f, 116.

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Abb. 2: „Lutherischer“ Kreuzaltar (um 1600); Pfarrkirche St. Magnus Unterstall. Foto: Winfried Dier.

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Abb. 3: Mathis Gerung, Kreuzabnahme aus der Schlosskapelle Höchstädt (1602/03); Kuratiekirche St. Andreas Gremheim. Foto: Franz Josef Merkl.

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Die Stadtpfarrkirche Mariä Himmelfahrt in Höchstädt verfügt über einen reichen Bestand an ,protestantischen‘ Kunstwerken, drei Fresken und zwei Tafelbildern. An einen Pfeiler ist eine Rollwerkkartusche mit einem Text aus dem Johannesevangelium, flankiert von zwei Engeln mit floraler Dekoration, aufgemalt.24 Die Worte an die Jünger sollten die evangelischen Höchstädter ermutigen, ihre religiöse und weltliche Praxis – nach protestantischem Verständnis – entsprechend den durch die Heilige Schrift überlieferten Worten Jesu auszurichten. Dafür war ihnen eine himmlische Belohnung in Aussicht gestellt. An einem weiteren Pfeiler ist Christus mit Nimbus abgebildet. Seine rechte Hand ist segnend erhoben, in der linken hält er die Weltkugel. Unterhalb findet sich sein Auftrag aus dem Matthäusevangelium (28,18), alle Völker zu lehren und zu taufen.25 Die Abbildung samt Text aus dem Neuen Testament überrascht nicht, gehörten doch durch Schriftstellen belegte christologische Motive zum Repertoire der evangelischen Kunst in Pfalz-Neuburg. Gemeint waren damit Lehre und Taufe in der konfessionell ,richtigen‘ Version. An einer Innenwand findet sich in einem oben und unten mit Beschlagwerk dekorierten Rahmen eine Szene aus dem ersten Buch Mose (Gen 37,7 und 9): Josef erzählt seinen Brüdern seine Träume. Links dahinter neigen sich Getreidegarben vor einer zwischen ihnen aufrecht stehenden Garbe; rechts sind Sonne, Mond und Sterne erkennbar.26 Josef zeigt sich als der Auserwählte und zu Großem Vorbestimmte. Seine Brüder beneideten und hassten ihn dafür so sehr, dass sie ihn töten wollten, später aber als Sklaven nach Ägypten verkauften. Die Abbildung der Träume und der Traumerzählung sollte die Höchstädter daran erinnern, dass sie – als evangelische Christen – wie Josef ausgewählt waren. Von ihren – katholischen – Brüdern im bischöflichaugsburgischen und damit katholischen Dillingen wurden oder fühlten sie sich

24 Wer mich liebt der wird meine worte halten und mein Vatter wirdt ihn lieben und wir werden zu ihm kommen und wohnung bey ihm machen. Johan. am 14 Cap 23. Vgl. auch Meyer, Kunstdenkmäler Dillingen, 395. 25 Ebd. 26 Ebd. Vgl. auch Schöttl/Stirnweis, Stadtpfarrkirche Mariä Himmelfahrt, 10. Die Texte links und rechts der Abbildung lauten: Joseph sprach: Mir träumte: Wir bänden Garben auf dem Felde u. es schien meine Garbe erhebe sich und stehe aufrecht, rings umher aber neigten sich eure Garben vor der meinen. Gen 37,7 Und wieder träumte er einen Traum und erzählte ihn seinen Brüdern und sprach: Ich hatte einen Traum da sah ich wie die Sonne u. der Mond u. elf Sterne sich vor mir neigten Gen 37,9

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Abb. 4: Fresko Josef erzählt seinen Brüdern seine Träume (um 1600); Stadtpfarrkirche Mariä Himmelfahrt Höchstädt. Foto: Peter Kratzer.

deswegen nicht nur abgelehnt, sondern möglicherweise sogar gehasst oder bedroht. An einem Rundpfeiler ist die Almosentafel von Mathis Gerung aus dem Jahre 1553 angebracht. Ihr Bildprogramm zeigt zentral drei Almosen gebende Personen, der linke ist wohl ein Höchstädter Ratsherr. Der andere Herr und die Dame sind ausgesprochen herrschaftlich gekleidet. Links sind drei bedürftige Personen abgebildet, zwei mit Verbänden. Einer ist seiner Umhängetasche nach Reisender. Rechts der drei Gebenden sind bedürftige Frauen und Kinder zu sehen, Hinweise auf die Armutsrisiken für Witwen und Waisen. Generell vertritt man die Meinung – so die Forschungsliteratur – dieses Bild zeige in der Mitte Herzog Georg den Reichen von Bayern-Landshut mit seiner Frau Hedwig, Ottheinrichs polnischer Großmutter, und beziehe sich auf seine Armen-Stiftung aus dem Jahr 1495.27 Es handelt sich gleichwohl um einen reformatorischen Bildtypus, eine gemalte Predigt, wonach entsprechend protestantischem Verständnis der rechte Glaube auch zu den richtigen Werken führt. Wichtig war dabei die Verbindung der beispielgebenden Szene mit Belegstellen

27 Horn/Meyer, Kunstdenkmäler Dillingen, 395; Schöttl/Stirnweis, Stadtpfarrkirche, 10f. Siehe zur Stiftung: Ehrhart, Mit Almosen und stetem Beten, 24f.

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Abb. 5: Almosentafel von Mathis Gerung (1553); Stadtpfarrkirche Mariä Himmelfahrt Höchstädt. Foto: Peter Kratzer.

aus der Heiligen Schrift.28 Die „alte“ Werkgerechtigkeit hatte wohl doch ihre Vorteile gehabt und die für die Wohlfahrtspflege Verantwortlichen hatten jetzt mehr Mühe, die erforderlichen Mittel zu beschaffen. In diesen Kontext gehört die

28 Under Euch soll gar kain dirfftiger noch betle[r] erfunden werden/ auf das des dir dein her und Got benedeyt deut/ 15 [4]/ Brich dem hungerigen dein Brot und die fremdling fier in dein/ Haus und so du sichst ainen nackeden so beklaid in iesaias/ 58 [7] as ir gethan haben aim auß meinen geringsten das habt ir mir gethan/ machen. [= Mt 25,40]

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Almosentafel. Dabei wurde mit Herzog Georg dem Reichen auf eine vorreformatorische Persönlichkeit zurückgegriffen und mit der Abbildung des früheren und des Großvaters des aktuellen Landesherrn Kontinuität und Legitimität der eigenen auch religiösen Anliegen betont. Wie die anderen Kirchen der Reformation sah sich die Pfalz-Neuburger Landeskirche nicht als etwas Neues, sondern in der Tradition der „alten“ Kirche.29 Und die Annahme, Herzog Georg der Reiche habe 1495 aus Gründen der Werkgerechtigkeit30 und nicht aus dem richtigen Glauben heraus die Stiftung errichtet, kann auch das Ergebnis rückblickender Interpretation sein. Mathis Gerung schuf nämlich 1557 für Lauingen eine vergleichbare Arbeit, die – Almosen gebend – zentral Pfalzgraf Ottheinrich und seine verstorbene Frau Susanna abbildet.31 Im Gegensatz zur Lauinger Tafel, die sich im Heimathaus befindet, ist die Höchstädter Arbeit an dem Platz, für den sie geschaffen wurde, bis heute zu sehen. Über einem Portal ist auf einem großformatigen Tafelbild (Öl auf Holz) aus der Zeit um 1600 der Traum des alttestamentarischen Jakob von der Himmelsleiter abgebildet. Im Fußfeld finden sich die Wappen der Stifter Wilhelm von Kreut und seiner Frau Susanna Walrab – beide Familien waren in Pfalz-Neuburg begütert und stellten in der ständischen Politik wichtige Akteure.32 Darüber enthält ein Band einen Text aus dem Johannesevangelium.33 Am Fuß der Leiter schläft Jakob auf einem gestuften Steinblock, der mit einem Text aus dem Buch Genesis beschriftet ist.34 Alt- und neutestamentarische Szenen und Texte stehen zueinander in Beziehung, der alttestamentarische Text kündigt die neutestamentarische Verbindung zwischen Himmel und Erde durch Jesus Christus an. In ihrer Verknüpfung von Text und Bild stellt auch diese Arbeit eine gemalte Predigt dar, bei der die Motivauswahl sicherlich die Wünsche der Stifter wiedergibt. Die Motivauswahl des Stifters bzw. seiner Familie zeigt sich auch beim Gansheimer Epitaph für den 1602 verstorbenen Ortsherrn Dr. jur. Thomas von Strahlenfels. Reste der polychromen Fassung sind erkennbar. Das von Wappen gesäumte Steinrelief zeigt den Apostel Thomas neben zehn weiteren Jüngern und zwischen korinthischen Pilastern. Er legt seine Hand in die Seitenwunde des zentral ab29 30 31 32

Ziegler, Kritisches zur Konfessionalisierungsthese, 46. Eichler, Mathis Gerung (um 1500–1570), 25. Ebd., 178f, 195–204; Ehrhart, Die Lauinger Almosenspendetafel, 268f. Cramer-Fürtig, Landesherr und Landstände im Fürstentum Pfalz-Neuburg, 340, 347f, 381, 450, 465, 489, 502; Nadler, Historischer Atlas von Bayern, 244f. 33 Joh 1 [51] Warlich warlich sage ich Euch Von Nun an Werdet Ihr den Himmel offen sehen, und die Engel Gottes hinauf und herab fahren, Auf des Menschen Sohn. 34 Horn/Meyer, Kunstdenkmäler Dillingen, 405f; Schöttl/Stirnweis, Stadtpfarrkirche, 10. Gen 28,11. Und Jacobnahm einenstain des Ortsund legte ihn zu seinenHaupten und legte sichan dem selbigen Ort schlaffen.

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Abb. 6: Epitaph(fragment) für Thomas von Strahlenfels († 1602) mit den Kernelementen Glauben, Gnade und Schrift der lutherischer Theologie; Pfarrkirche St. Nikolaus Gansheim. Foto: Rupert Heckel.

gebildeten Christus. Ein Jünger hält als einziges Attribut ein Buch in der Hand.35 Die Darstellung auf dem Grabmal des vorletzten protestantischen Ortsherrn, der in der pfalz-neuburgischen Politik unter anderem als Landschaftskommissar eine zentrale Rolle spielte,36 nimmt zunächst den Vornamen auf und erinnert so an den Verstorbenen. Sie will aber mehr, nämlich mit Hilfe des „ungläubigen“ Thomas, der seine Hand in die Seite Christi legen durfte und so Gnade erfuhr und zum Glauben fand, auf die Elemente Glauben und Gnade verweisen. Das Buch betont die Bedeutung der Schrift. Damit verbindet die Darstellung mit Gnade, Glauben und Schrift die drei Kernelemente lutherischer Theologie37 und erin-

35 Horn, Kunstdenkmäler Donauwörth, 230–232; Ausstellungskatalog (AK) FürstenMacht & wahrer Glaube, 67. Abb. 26. 36 Nadler, Die Landstände von Pfalz-Neuburg (1505–1808), 36. 37 Merkl, Kunst und Konfessionalisierung, 201; Boß/Urban, Zum Thema „Martin Luther“, 47.

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nerte die Untertanen über den Tod des Ortsherrn hinaus an deren zentrale Bedeutung. Viele Gemeinden konnten sich hochwertige neue Kunstwerke nicht leisten. Auch liturgische Geräte wie der zinnerne Abendmahlskelch aus Veitriedhausen38 bei Lauingen verweisen auf eine gewisse Schlichtheit bei der Ausstattung. Viele Kirchen erschienen deshalb leer. So stellte der – jetzt katholische – Höchstädter Dekan 1643 in Schwennenbach anlässlich einer Visitation fest: das alte Gotteshaus hat keinerlei Schmuck; es ist bar allen Zierrats. […] Es hat das Aussehen eines lutherischen Gotteshauses; denn außer einem hohen Kreuz, das mit roter Farbe angestrichen ist, sind keinerlei Bilder vorhanden.39

Gegenreformation40 Die Existenz der Landeskirche endete nach der Konversion des Erbprinzen Wolfgang Wilhelm 1613, der Nachfolge in der Herrschaft im Jahr darauf und dem Religionsmandat vom 24. Dezember 1616. Der neue Landesherr ließ sich und sein religionspolitisches Programm um 1630 – die Confessio Augustana trat er demonstrativ mit Füßen – wohl von seinem Neuburger Hofmaler abbilden.41 Die evangelischen Pfarrer wurden bis 1618 des Landes verwiesen. In der Folge wurde das Land durch zum Teil drastische Maßnahmen wie die Einquartierung von Soldaten auf Kosten der Untertanen katholisch konfessionalisiert; besonders wirkungsvoll waren hier Berittene, die auch die Futtervorräte verbrauchten.42 Unterbrochen wurde diese Phase durch die Zeit der schwedischen Besetzung (1632–1634), in der die Menschen in Pfalz-Neuburg wieder evangelische Gottesdienste besuchen konnten. Allerdings litten sie unter den Lasten der Besatzung und von Einquartierungen.43 Eine Sonderrolle spielte Höchstädt, das als Witwensitz für Anna von Kleve, Philipp Ludwigs Witwe und Wolfgang Wilhelms

38 Merkl, Veitriedhauser Abendmahlskelch, 340. 39 Zitiert nach: Sing, Die Pfarrei Schwennenbach in der Zeit der Reformation und Gegenreformation, 246. 40 Im Hinblick auf die konfessionell-kämpferische Seite beschreibt der Begriff Gegenreformation das Vorgehen bei der Einführung des durch das tridentinische Konzil erneuerten Katholizismus zutreffend. 41 Henker, Herzog Wolfgang Wilhelm von Pfalz-Neuburg, 288f. 42 Merkl, Kunst und Konfessionalisierung, 192 mit weiteren Nachweisen. Aktuell: Seitz, Reformation und Gegenreformation, 82f. 43 Ebd., 87–91.

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Mutter, bis zu deren Tod 1632 bzw. bis zum Ende der schwedischen Besatzung zwei Jahre später protestantisch blieb.44 Aber Zwang war nicht das einzige Mittel. Die Kunst bot die Möglichkeit, die „richtigen“ religiösen Vorstellungen zu propagieren und vor den „falschen“ zu warnen. Wolfgang Wilhelm, aufgrund einer Erbschaft Herr über das am Niederrhein gelegene Teilherzogtum Jülich und Berg mit der Hauptstadt Düsseldorf, hatte gute Verbindungen in die spanischen Niederlande und nach Antwerpen. Für seine Hofkirche bestellte er dort bei Peter Paul Rubens das monumentale Große Jüngste Gericht als Hauptaltarbild, das 1618 aufgerichtet wurde. Im Jahr darauf wurden die beiden Seitenaltarbilder, eine „Ausgießung des Heiligen Geistes“ und eine „Anbetung der Hirten“, geliefert. Für die Stadtpfarrkirche St. Peter erwarb er 1623 einen „Engelssturz“ mit dem Erzengel Michael als kämpfender Symbolfigur der Gegenreformation.45 Während die Kunstwerke der Reformation in der Schoßkapelle46 und anderswo zugetüncht wurden, wurde mit Hilfe hochwertiger Kunst den an ihren protestantischen Vorstellungen zäh festhaltenden Menschen47 eindrucksvoll vor Augen geführt, was ihnen – aus Sicht ihrer Herrschaft – bei weiterer Widersetzlichkeit nach Ende ihres irdischen Lebens drohte. Auch auf dem Land entstanden neue Kunstwerke, wie 1620 ein Bildstock in Unterstall unweit Neuburg an der Donau, der Reliefs der Passion Christi (Dornenkrönung, Geißelung und Kreuzigung) zeigt.48 Exemplarisch erwähnenswert sind die eindrucksvollen Pietàs in Rehau (um bzw. wohl nach 1600) und des Meisters IBF in Gansheim aus dem Jahr 1645.49 Vor allem Motive der Marienverehrung wie ein abgegangenes Tonrelief (1623) an einer Hausfassade in Unterstall50 wiesen den religiös „richtigen“ Weg. Wolfgang Wilhelm konnte, um seine konfessionspolitischen Ziele zu erreichen, auf eine eindrucksvolle und im Sinne der katholischen Reform erneuerte Kunst zurückgreifen. Motive wie die Passion, die Nachfolge im Leiden in Form von Märtyrerdarstellungen, Pietàs und andere Mariendarstellungen fanden im Lande Eingang. Diese Kunst sollte gleichzeitig belehren und die Gefühle anrühren.51 Der ikonografische Befund entspricht dabei den Vorgaben aus dem „Dekret über die 44 Westphal, Die Herzoginwitwe Anna (1552–1632), 200–209. Interessant wäre eine Antwort auf die Frage, ob die Erhaltung der relativ zahlreichen ,evangelischen‘ Kunstwerke in Höchstädt mit dem längeren Bestehen des protestantischen Bekenntnisses im Zusammenhang steht. 45 Renger, Peter Paul Rubens, 25–64; Seitz, Gegenreformation pur, 182–185. 46 Seitz, Schlosskapelle zu Neuburg, 58. 47 Thiele, 1618: Neuburger Bürger im Verhör, 167f. 48 Horn/Meyer, Kunstdenkmäler Neuburg, 771. 49 Horn, Kunstdenkmäler Donauwörth, 493; Schlegel/Langer, Inventar Pfarrkirchenstiftung St. Nikolaus, 48. 50 Horn/Meyer, Kunstdenkmäler Neuburg, 771. 51 Mühlen, Die Kunst der Gegenreformation, 412.

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Abb. 7: Pietà des Meisters IBF (1645); Pfarrkirche St. Nikolaus Gansheim. Foto: Rupert Heckel.

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Anrufung, die Verehrung und die Reliquien der Heiligen und über die heiligen Bilder“ des Konzils von Trient vom 3. Dezember 1563. Die den Bildern erwiesene Ehre bezog sich danach „auf die Urbilder“. Die Heiligen aber brachten „ihre Gebete für die Menschen Gott dar“; es war gut und nützlich, sie flehentlich anzurufen und zu ihren Gebeten, ihrem Beistand und ihrer Hilfe Zuflucht zu nehmen, um von Gott durch seinen Sohn Jesus Christus, unsern Herrn, der allein unser Erlöser und Erretter ist, Wohltaten zu erwirken.52

So konnten die Menschen mit ihren Bedürfnissen angesprochen und erreicht werden. Ein Beispiel ist der Jesuit Franz Xaver, der Vorzeigeheilige der katholischen Reform. Der ,Erfinder‘ der weltweit erfolgreichen Mission der Gesellschaft Jesu war als Schutzpatron gegen Sturm und Pest und für eine gute Sterbestunde ein wichtiger Bezugsheiliger, weswegen sein Bild bis heute in kaum einer Kirche auf dem Gebiet des früheren Herzogtums Pfalz-Neuburg fehlt.53 Seine Verbreitung verweist auch auf die zentrale Rolle der Jesuiten bei der Durchsetzung des tridentinischen Katholizismus. Die Menschen nahmen die Angebote zunehmend an, wie viele Gegenstände der Volksfrömmigkeit zeigen. Ein Beispiel ist ein Votivbild aus der Wallfahrtskirche Bergen nahe Neuburg. Hier soll während der Zeit der evangelischen Landeskirche der Kreuzpartikel in einen Eichenblock eingepasst und in einem Brunnen verborgen worden sein. Nach deren Ende wurde er hervorgeholt und unter jesuitischer Leitung Ziel einer großen Wallfahrt, die zeitweise sogar Altötting übertraf und bis in die Gegenwart nicht ganz abgerissen ist.54 Die Verbindung von Kunst, gegenständlich-fassbarer Darstellung und Volksfrömmigkeit wurde zum Erfolgsrezept bei der Einführung des tridentinischen Katholizismus und half dabei, verbliebene ,lutherische‘ Vorstellungen zu verdrängen und zu ersetzen.

Resümee Die bildende Kunst wurde zu einem entscheidenden Unterscheidungsmerkmal zwischen den Konfessionen: Wolfgang Braunfels bietet dafür den Begriff cuius regio eius ars an,55 der den richtigen Zusammenhang herstellt. Die katholische Seite konnte dank ihrer Bilderfreundlichkeit besonders erfolgversprechend darauf zurückgreifen. Die Betonung der ,richtigen‘ religiösen Vorstellungen und 52 Denzinger/Hünermann (Hg.), Enchiridion symbolorum definitionum de rebus fidei et morum, Nrn. 1821–1825. 53 Merkl, Der heilige Franz Xaver, 400. 54 Merkl, Votivbild aus Bergen, 273; Pötzl, Die Wallfahrt zum Kreuzpartikel nach Bergen, 44, 52. 55 Braunfels, Cuius Regio Eius Ars, 133.

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die Warnung vor den ,falschen‘ bis hin zu deren Unsichtbarmachen – Wolfgang Reinhard spricht hier zutreffend von Propaganda und Verhinderung von Gegenpropaganda56 – war eine der wichtigsten Aufgaben der Kunst. Bilder, ihre „Abschaffung“ und ihr Verbot dienten damit der Formung der territorial definierten religiösen Großgruppe „Konfession“.57

Literatur Boß, Gerhard/Urban, Hans Jörg, Zum Thema „Martin Luther“. Handreichungen für Erwachsenenbildung und Seelsorge, Paderborn 1983. Braunfels, Wolfgang, Cuius Regio Eius Ars, in: H. Glaser (Hg.), Wittelsbach und Bayern, Bd. II/1: Um Glauben und Reich, Kurfürst Maximilian I. Beiträge zur Bayerischen Geschichte und Kunst 1573–1657, München 1980, 133–140. Brecht, Martin, Johannes Brenz, in: M. Greschat (Hg.), Gestalten der Kirchengeschichte 6. Die Reformationszeit, Stuttgart 1993, 103–117. Cramer-Fürtig, Michael, Landesherr und Landstände im Fürstentum Pfalz-Neuburg. Staatsbildung und Ständeorganisation in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, München 1995. Denzinger, Heinrich/Hünermann, Peter (Hg.), Enchiridion symbolorum definitionum de rebus fidei et morum/Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, Lateinisch-Deutsch, Freiburg 1991. Ehrhart, Bernhard, Mit Almosen und stetem Beten/ sollst du dein Seel und Leben retten! Die Lauinger Almosentafel von 1557, Jahrbuch des Historischen Vereins Dillingen 109, 2008, 23–28. Eichler, Anja-Franziska, Mathis Gerung (um 1500–1570). Die Gemälde, Frankfurt a.M. 1993. Henker, Michachel/Nadler, Markus/Teichmann, Michael/Thiele, Roland/Dier, Winfried (Hg.), Ausstellungskatalog: FürstenMacht & wahrer Glaube. Reformation und Gegenreformation, Regensburg 2017. Henker, Michael, Johann Brenz und die Entwicklung des Neuburger Kirchenwesens zwischen 1553 und 1560, Neuburger Kollektaneenblatt 133, 1980, 106–140. Horn, Adam, Die Kunstdenkmäler von Bayern, Landkreis Donauwörth, München 1951. Horn, Adam/Meyer, Werner, Die Kunstdenkmäler von Bayern. Stadt- und Landkreis Neuburg an der Donau, München 1958. Langer, Brigitte/Rainer, Thomas (Hg.), Ausstellungskatalog: Kunst & Glaube. Ottheinrichs Prachtbibel und die Schlosskapelle Neuburg, Regensburg 2016. Merkl, Franz Josef, Kunst und Konfessionalisierung. Das Herzogtum Pfalz-Neuburg 1542– 1650, Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 32, 1998, 188–211.

56 Reinhard, Zwang zur Konfessionalisierung?, 260f. 57 Merkl, Kunst und Konfessionalisierung, 211.

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– Votivbild aus Bergen, in: M. Henker/M. Nadler/M. Teichmann/R. Thiele/W. Dier (Hg.), Ausstellungskatalog: FürstenMacht & wahrer Glaube. Reformation und Gegenreformation, Regensburg 2017, 273. – Der heilige Franz Xaver, in: M. Henker/M. Nadler/M. Teichmann/R. Thiele/W. Dier (Hg.), Ausstellungskatalog: FürstenMacht & wahrer Glaube. Reformation und Gegenreformation, Regensburg, 2017, 400. – Veitriedhauser Abendmahlskelch, in: M. Henker/M. Nadler/M. Teichmann/R. Thiele/ W. Dier (Hg.), Ausstellungskatalog: FürstenMacht & wahrer Glaube. Reformation und Gegenreformation, Regensburg, 2017, 340. Meyer, Werner, Die Kunstdenkmäler von Bayern, Landkreis Dillingen an der Donau, München 1972. Mühlen, Ilse v. zur, Die Kunst der Gegenreformation, in: R. Baumstark (Hg.), Ausstellungskatalog: Rom in Bayern. Kunst und Spiritualität der ersten Jesuiten, München 1997, 412. Nadler, Markus, Die Landstände von Pfalz-Neuburg (1505–1808). Tragende Säule des Fürstentums und Garant seiner Selbständigkeit, Neuburger Kollektaneenblatt 163, 2015, 7–43. Nadler, Markus, Historischer Atlas von Bayern, Teil Schwaben, Neuburg an der Donau, Das Landgericht Neuburg und die Pfleggerichte Burgheim und Reichertshofen, München 2004. Pötzl, Walter, Die Wallfahrt zum Kreuzpartikel nach Bergen, in: Kloster Bergen bei Neuburg an der Donau und seine Fresken von Johann Wolfgang Baumgartner, Weißenhorn 1981, 39–57. Reinhard, Wolfgang, Zwang zur Konfessionalisierung? Prolegomena zu einer Theorie des konfessionellen Zeitalters, Historische Zeitschrift 3, 1983, 254–274. Renger, Konrad, Peter Paul Rubens. Altäre für Bayern, München 1991. Schöttl, Julius/Stirnweis, Werner R., Stadtpfarrkirche Mariä Himmelfahrt, München 1981. Sehling, Emil (Hg.), Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts III, Altbayern, Tübingen 1966. Seitz, Reinhard H., Das Fürstliche Renaissanceschloß zu Höchstädt a. d. Donau – seine Baugeschichte und seine (ost)europäischen Bezüge, Weißenhorn 2009. – Die Schloßkapelle zu Neuburg a. d. Donau. Einer der frühesten evangelischen Kircheräume, Weißenhorn 2016. – Gegenreformation pur: Der Choraltar der Hofkirche zu Neuburg an der Donau bis zum Jahr 1721, in: M. Henker/M. Nadler/M. Teichmann/R. Thiele/W. Dier (Hg.), Ausstellungskatalog: FürstenMacht & wahrer Glaube. Reformation und Gegenreformation, Regensburg 2017, 182–185. – Reformation und Gegenreformation – Beispiel: Stadt Lauingen, in: M. Henker/M. Nadler/M. Teichmann/R. Thiele/W. Dier (Hg.), Ausstellungskatalog: FürstenMacht & wahrer Glaube. Reformation und Gegenreformation. Regensburg 2017, 73–94. – Reformation und Gegenreformation im Fürstentum Pfalz-Neuburg, in: H.H. Stierhof (Hg.), Ausstellungskatalog: 475 Jahre Fürstentum Pfalz-Neuburg, München 1980, 43– 66. Sing, Hans, Die Pfarrei Schwennenbach in der Zeit der Reformation und Gegenreformation, Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 10, 1976, 220–258.

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Albrecht Classen

Valentin Weigel und der Protestantismus Die Suche nach Toleranz im 16. Jahrhundert als Suche nach Gott in der Seele

Kurioserweise stellt sich sehr schnell heraus, dass die protestantische Reformation keineswegs eine Befreiungsbewegung gewesen war, die das Individuum plötzlich aus der geistigen Klammer des Spätmittelalters befreite, so schön auch diese weit verbreitete Meinung wirken mag, die nur zu gerne die katholische Kirche des Spätmittelalters als eine repressive Organisation ansieht, von der sich Martin Luther radikal löste, um den Menschen Freiheit zu bringen.1 Zwar brachen die Reformer aus der universalen Struktur der katholischen Kirche aus, schufen also ihre eigene Kirche, aber in der schnell auftretenden Konfliktsituation, die die Protestanten mit Anabaptisten, Schwärmern oder Spiritualisten kollidieren ließ, von den Katholiken ganz zu schweigen, machte sich sogleich bemerkbar, dass die lutherische Reform keinesfalls als eine Grundlage für eine Demokratisierung und Liberalisierung diente und auch solche Ideale überhaupt nicht anpeilte. Ganz im Gegenteil, im Laufe des 16. Jahrhunderts machte sich in der protestantischen Kirche sehr stark eine neue Orthodoxie breit, die innerhalb des offiziellen Rahmens fast keine persönlichen Freiheiten mehr erlaubte, so sehr doch gerade die lutherische Lehre auf dem Prinzip sola fide beruhte. Zwar verfügten die weltlichen und klerikalen Autoritäten im Norden Deutschlands nicht über ein solches Instrumentarium wie die Inquisition, aber protestantische Repressalien lassen sich überall nachweisen, wie uns das berühmte Beispiel der Anna Ovena Hoyers (1584–1655) deutlich vor Augen führt, die nach vielen persönlichen Konflikten ihre Heimat in Nordwestdeutschland verlassen und in Schweden Zuflucht suchen musste.2 All dies sollte uns jedoch nicht überraschen, denn keine politische oder kirchliche Organisation vermag es bis heute, leichthin abweichende Stimmen, Gruppen, Bewegungen oder Ideologien zu akzeptieren oder zu integrieren, ohne 1 Kritisch zu diesem Thema jetzt Schubert, Eine Frage der Freiheit, 22–28. Vgl. dazu auch die Beiträge in: Pohlig/Lotz-Heumann/Isaiasz/Schilling/Bock/Ehrenpreis (Hg.), Säkularisierungen in der Frühen Neuzeit. 2 Classen, Die ‚Querelle des femmes‘ im 16. Jahrhundert, 189–213; Classen, Anna Ovena Hoyers, 24f.

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in diesem Prozess in sich zu zerfallen oder sich gar aufzulösen. Gerade junge Organisationen, wie die protestantische Kirche, waren geradezu darauf angewiesen, eine stramme religiöse und politische Führungsstruktur zu entwickeln, um nicht im unablässigen Wirbel der frühen Jahre, als die traditionelle religiöse Institution der katholischen Kirche sich stark in der Auflösung befand und die Gegenbewegung einen eigenständigen Raum für sich in Anspruch zu nehmen bemüht war, erneut in sich zu kollabieren. Auf der einen Seite traten die Calvinisten und Reformierten unter Jean Calvin und Ulrich Zwingli auf, auf der anderen machten sich die Schwärmer, Spiritualisten und Anabaptisten bemerkbar, konnten sich aber niemals richtig durchsetzen, wie das Beispiel von Caspar Schwenkfeld (1490–1561) eindringlich demonstriert, der sich mit Luther über seine Eucharistie-Lehre zerstritt, was zum Verbot seiner ganzen Gruppe führte. Trotzdem beeinflussten seine Ideen im Laufe der Zeit zahllose Wiedertäufer, Pietisten und Puritaner in England.3 Im Grunde beobachten wir also eine recht unstabile Situation während der 20er Jahre des 16. Jahrhunderts. Auch in den folgenden Jahrzehnten, die durch eine starke Konsolidierung der kirchlichen Herrschaft gekennzeichnet sind, vermochten sich geistliche Minderheiten nicht durchzusetzen, womit abweichende Meinungen zunehmend ins Abseits gerieten und weder Anerkennung fanden noch überhaupt Existenzberechtigung genossen.4 Während sich die kirchengeschichtliche Forschung überwiegend den zwei Lagern (Lutheraner vs. Katholiken) zugewandt hat, verdienen z. B. gerade die Anabaptisten und Spiritualisten, die ebenfalls eine recht gewichtige Rolle gespielt haben, durchaus unsere Aufmerksamkeit.5 Wir gehen heute davon aus, dass die Hutterer, Mennoniten und Amische, generell bekannt als die (Wieder)Täufer, als die wichtigsten Gruppierungen anzusehen wären, die sich nicht unterordnen oder integrieren ließen. Zu den jüngeren Strömungen werden die Bruderhöfer, die Evangelischen Täufergemeinden (ETG, auch Evangelisch Taufgesinnte oder Neutäufer genannt), die pietistisch-täuferischen Mennonitischen Brüdergemeinden, die River Brethren und die Schwarzenau Brethren gezählt.6 Bekannt

3 McLaughlin, Caspar Schwenckfeld, Reluctant Radical. Weigelt, Von Schlesien nach Amerika. 4 Seebass, Die Reformation und ihre Außenseiter; Loewen, Ink Against the Devil; Knellwolf, Rede, Christenmensch! 5 Haude, Anabaptism, 237–256 – mit vielen wichtigen Literaturhinweisen. 6 [Wikipedia] Täufer (siehe Link im Literaturverzeichnis). Dieser Online-Artikel zeichnet sich durch seine gründliche Behandlung des Themas, einen hohen Grad an Wissenschaftlichkeit und eine ausführliche Bibliographie aus. Die Forschung hierzu ist aber erheblich vorangeschritten und hat sich vor allem auf örtliche Verhältnisse oder Situationen der Wiedertäufer konzentriert. Jüngst dazu Hill, Baptism, Brotherhood, and Belief in Reformation Germany 2015.

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wurden auch die Münsteraner Täufer, Thomas Müntzer, Andreas Bodenstein genannt Karlstadt, die Antitrinitarier und die Spiritualisten.7 Für all diese Sondergruppen dürfte zutreffen, dass sie ihren eigenen Weg einschlugen und sich weder der einen noch der anderen Doktrin unterwarfen, dafür in enger Anlehnung an das biblische Wort theologische Unabhängigkeit und damit zugleich engere Beziehung mit Gott anstrebten, ohne sich dem Mandat ihrer kirchlichen Autoritäten anzupassen. Mir geht es hier aber nicht um diese Wiedertäufer oder Böhmischen Brüder, sondern um die Frage, wie in dieser ungemein spannungsreichen Gemengelage im 16. Jahrhundert der Gedanke bezüglich der Anerkennung des anderen sowohl in politischer als auch religiöser Hinsicht entwickelt wurde. Selbstverständlich streben gerade diejenigen, die von der Mehrheit unterdrückt werden, schon immer nach einer Form von Respekt und formulieren entsprechende Ideologien. Ob sie aber tatsächlich tief von dem Ideal der gegenseitigen Duldung bestimmt waren, wäre nur dann nachweisbar, wenn die Täufer z. B. selbst in einer bestimmten Region zur Macht gelangt wären. Der Fall des Täuferreichs in Münster (1531–1535)8 und der Puritaner in den Dreizehn Kolonien in der Neuen Welt ermutigt uns in dieser Hinsicht nicht besonders.9 Von Toleranz, wie sie eigentlich erst im späten 18. Jahrhundert zur Geltung gelangte (Voltaire, Locke, Lessing, Kant), kann hier kaum die Rede sein, dafür aber umso mehr von frühen Formen von Duldung, also toleratio. Während Martin Luther oder die Gegner auf der katholischen Seite im Laufe ihrer tiefgreifenden Auseinandersetzungen überhaupt kein Interesse an dieser Thematik zeigten und eher im Gegenteil Formen radikaler Intoleranz entwickelten, sehen wir von Luthers früher Schrift hierzu ab,10 traten doch einige faszinierende Persönlichkeiten auf, die konträr dazu neue Positionen bezogen, die wir aus heutiger Sicht durchaus als Duldung bezeichnen würden. Bisher wurden bereits die Theologen Sebastian Franck (1499–1543) und Sebastian Castellio (1515–1563) in die diesbezügliche wissenschaftliche Betrachtung herangezogen und ausführlicher behandelt.11 Eine bisher noch ziemlich unbekannte Stimme, die des Valentin Weigel, eines Pfarrers aus Zschopau, verdient aber in diesem Zusammenhang genauerer Würdigung, vor allem weil seine Werke erst vor wenigen Jahren vollständig in einer historisch-kritischen Ausgabe ediert 7 Fast (Hg.), Der linke Flügel der Reformation; Goertz, Die Täufer; Williams, The Radical Reformation; Seebaß, Geschichte des Christentums. 8 Siehe: Dülmen, Das Täuferreich zu Münster; Klötzer, Die Täuferherrschaft von Münster. 9 Russer, The City Upon a Hill vs. The Inner Light; Gribbe (Hg.), Puritans and Catholics in the Trans-Atlantic World. 10 Grell/Scribner (Hg.), Tolerance and Intolerance in the European Reformation; Tietz, Martin Luther im interkulturellen Kontext; Ludwig, Beispiele interkonfessioneller Toleranz im 16.– 18. Jahrhundert. Vgl. dazu Classen, Toleration, Tolerance, or Intolerance in the Works of the Young Martin Luther. 11 Schmidinger (Hg.), Wege zur Toleranz.

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wurden und weil wir im gleichen Zuge schnell beobachten konnten, dass er eine beträchtliche Auswirkung auf spätere Theologen, Philosophen und Dichter (z. B. Angelus Silesius und Daniel Czepko) auszuüben vermochte.12 Hier geht es mir darum, inwieweit Weigel das Prinzip der Toleranz bereits kannte oder zumindest das Ideal der religiösen Duldung akzeptierte bzw. sogar selbst praktizierte, ohne seinen unzweideutigen und festen Glauben an Christus aufzugeben. Er wurde 1533 in Hayn in Sachsen geboren und erhielt eine gründliche Schulund Universitätsausbildung, worin er stark vom Kurfürstlichen Rat Kommerstadt, Kurfürst August I. und vielen verschiedenen Lehrern unterstützt wurde, die in ihm einen geistig besonders qualifizierten Schüler bzw. Studenten erkannten. Nach dem Abschluss seiner Studien an der Universität von Wittenberg ging er auf Geheiß des Kurfürsten in die Stadt Zschopau südlich von Chemnitz, um dort eine Pfarrerstelle einzunehmen. Er wurde vom Wittenberger Generalsuperintendenten Paul Eber 1567 geweiht und konnte dann seine Arbeit aufnehmen, die ihn für den Rest seines Lebens beschäftigte. Abgesehen von einigen Überprüfungen seitens der protestantischen Autoritäten ereignete sich wenig im Leben Weigels, der sich bewusst und sorgfältig von allen möglichen theologischen Kontroversen fernhielt und eine außerordentlich stille Existenz an jenem entlegenen Ort führte.13 Weigel stand niemals mit einer der verschiedenen radikalen Sekten in Verbindung, obwohl er sich offensichtlich stark durch die spätmittelalterliche Mystik, am besten vertreten von Johannes Tauler (ca. 1300–1361), und die Lehren des Theophrastus Bombastus von Hohenheim, bekannt als Paracelsus (1493– 1541), beeinflussen ließ. Weigel erwies sich dazu frühzeitig als Schüler von Franck und Schwenckfeld, was sich daran zeigte, dass er insbesondere die Rolle des inneren geistigen Lebens betonte und demgemäß auch eine „geistige Kirche“ anstrebte, in der der Mensch persönlich Kontakt mit Christus knüpfen könnte, ohne sich auf schriftliche Zeugen wie die Bibel stützen zu müssen. 1565 heiratete er Katharina Beuche; sie hatten zwei Söhne – Joachim und Nathaniel. Darüber hinaus gibt es aber kaum etwas Bemerkenswertes über Weigel zu berichten, obwohl er, in der Stille seines Stübchens eine ungeheure schriftstellerische Produktivität an den Tag legte, von der fast niemand etwas wusste, jedenfalls nicht die Autoritäten. Diese zahllosen Schriften erschienen erst ca. 20 Jahre nach Weigels Tod am 10. Juni 1588 und begannen rasch, einen recht großen Einfluss auf die Nachwelt auszuüben. 1571 war ihm der Diakon Benedikt Biedermann zur Unterstützung in seinem Amt zugewiesen worden, der offensichtlich Weigels

12 Brecht/Berg (Hg.), Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. 13 Zur Einführung siehe: Andrew Weeks in: Weigel, Selected Spiritual Writings, 9–49.

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Vorstellungen über ein spirituelles Leben teilte, und der später entscheidend dazu beitrug, dass seine Werke in den Druck gelangten.14 Zu den wichtigsten Traktaten von Weigel gehören: Unterrichts-Predigt: Wie man christlich trauern und täglich solle im Herrn sterben (1576), Libellus de vita beata (1609), Ein schön Gebetsbüchlein, welches die Einfältigen unterrichtet (1612), Der güldene Griff, alle Ding ohne Irrtum zu erkennen (1613), Ein nützliches Traktätlein vom Ort der Welt (1613), Dialogus de Christianismo (1614), Erkenne dich selbst (1615); Informatorium oder Kurzer Unterricht (1616; 1618 erweitert als Soli deo gloria), Kirchen- oder Hauspostill (1618), Libellus disputatorus (1618), De bono et malo in homine (1618), Zwei schöne Büchlein (1618), Studium universale (1618) und Tractatus de opere mirabili (1619). Obwohl Weigel posthum offensichtlich großes Ansehen für seine Werke gewann, entschieden sich die Autoritäten schließlich, diese als häretisch einzustufen und 1626 verbrennen zu lassen. Während bis heute natürlich Martin Luther, Philipp Melanchthon oder Johann Reuchlin höchstes Interesse seitens der modernen Forschung geweckt haben, sind solche leisen Individuen wie Weigel bisher weitgehend in ihrem Schatten geblieben, obwohl sie letztlich im Laufe der Zeit bei späteren Theologen und Philosophen auf große Resonanz stießen. Wie wir inzwischen wissen, griffen solche Universalgelehrten wie Johann Arndt, Gottfried Arnold und Gottfried Leibniz bereitwillig seine Gedanken auf, die sich trotz der Verurteilung und anschließenden Verbrennung seiner Bücher unablässig verbreiteten, nachdem einige von ihnen seit 1609 in Halle und seit 1618 in Neustadt bei Magdeburg gedruckt waren. Sowohl für die katholische als auch für die protestantische Kirche waren alle Mystiker, dann aber vor allem die Spiritualisten des 16. Jahrhunderts, äußerst suspekt, denn sie schöpften ihre Glaubensvorstellung primär aus dem Inneren des eigenen Ichs und waren nicht davon überzeugt, dass sie sich doktrinären Lehren zu unterwerfen hätten. Solche Konflikte betrafen freilich nicht nur die Einzelgänger oder marginale Gruppen, sondern sogar die zwei Hauptkirchen, wie die zahllosen Auseinandersetzungen hinsichtlich der täglichen Religionspraxis beweisen. Benjamin J. Kaplan hat dies bereits mit einer großen Detailfreude anhand von einer Fülle von konkreten Fällen vom späten 16. bis zum 18. Jahrhundert nachzuzeichnen vermocht.15 14 Müller, Art. Weigel, Valentin, 472–474. Der Beitrag zu Weigel in dem berühmten Biographisch-Bibliographischen Kirchenlexikon mit aktuellen Nachträgen ist vorläufig noch nicht im Druck erschienen; siehe die online-Version: [BBKL] Weigel (siehe Link im Literaturverzeichnis). Der englische Artikel auf Wikipedia bietet kaum ausreichende Informationen zu Weigel, aber die deutschsprachige Version erweist sich als um vieles ausführlicher: [Wikipedia] Weigel (siehe Link im Literaturverzeichnis). 15 Kaplan, Coexistence, Conflict, and the Practice of Toleration, 486–505.

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Wennschon sich die zwei großen Kirchen in solchem Konflikt befanden, überrascht es keineswegs, dass Persönlichkeiten wie Weigel stark darum bemüht waren, ihren eigenen Weg einzuschlagen. Aus der prinzipiellen Einsicht heraus, dass weltliche Autoritäten keinen Einfluss auf persönliche Glaubensentscheidungen haben dürften, entwickelte gerade Weigel ein breit gefächertes Konzept von Toleranz bzw. Duldung, das ich hier insbesondere anhand seines Traktats Vom wahren seligmachenden Glauben, der nur in einer Handschrift überliefert ist,16 kritisch erörtern möchte, ohne den Blick auf seine anderen Werke zu scheuen. Weigels Ausgangspunkt besteht darin, dass das Ziel der Beziehung zwischen Mensch und Gott die völlige Vereinigung oder Verschmelzung ist.17 Das Individuum solle sich dem Vorbild Christi anpassen und zum Sohn Gottes werden: „also solten wir Söhne sein, vndt kinder Gottes“. Wir müssten wieder wie Kinder werden, unser Leben hinter uns lassen und uns ganz Gott zuwenden, um die völlige göttliche Liebe zu erfahren.18 Weigel lässt niemals Zweifel daran aufkommen, dass er fest auf dem Boden des Christentums steht und nur eine tiefere Wahrnehmung der Glaubensgrundlagen entwickeln möchte, damit der „newe mensch“ geboren werden könne.19 Er warnt aber seine Leser davor, sich bloß auf die Aussage der Heiligen Schrift zu verlassen, vielmehr müsse das Individuum sich nach innen kehren, „in vns selber“20, zugleich aber die Gefahr vermeiden, sich dabei selber im Wege zu stehen und der Selbstsucht zu frönen.21 Viele Christen würden sich nun zufrieden geben mit dem Gedanken, dass ja durch den Tod des Heilands alle Sünden genommen worden seien und somit keine Probleme mehr beständen, was aber bloß bedeute, dass man den Glauben auf der Zunge und nicht im Herzen habe.22 Weigel demonstriert hier explizit, was die spiritualistische Ausrichtung ausmache, nämlich die Abwendung von den externen Bedingungen und von den Worten, die in der Öffentlichkeit gesprochen werden, hin zu den inneren Bedingungen und Worten, die im Herzen gesprochen werden.23 Es gehe also darum, „den Geistlichen menschen“ zu finden und sich ganz nach der spirituellen Aussage des biblischen Textes zu richten.24 Sogar die Hoffnung, sich mittels guter Werke Gottes Liebe zu erwerben, sei hinfällig, denn

16 Wolfenbüttel Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 918 Helmst., 1r–55v; hier zitiert nach: Weigel, Vom wahren seligmachenden Glauben. 17 Weigel, Vom wahren seligmachenden Glauben, 4. 18 Ebd., 5. 19 Ebd., 9. 20 Ebd., 13. 21 Ebd., 14. 22 Ebd. 23 Ebd., 16. 24 Ebd., 17.

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dies sei alles nur äußerlich, nicht geistig, obgleich solche Lehren alle Universitäten, Klöster, Stifte oder Schulen beherrschten.25 Nur der wahre, tiefe, innere Glaube sei anzustreben, womit alle Menschen als gleichwertig anzusehen seien, solange sie nur diese Ziele verfolgten: „Die rechtfertigung in Christo geschicht alleine im glauben, daß wir Kinder gottes werden.“26 Dem fügt er aber noch hinzu, dass es letztlich gleichgültig sei, welcher förmlichen Glaubensrichtung man anhänge, denn entscheidend sei nicht der formale Ritus, sondern der innere Glaube: „Jn diesem wesen vnd Handel ist kein vnterscheidt irgendt einer Person, es gilt alles gleich, due syest Jude, Heide, knecht, freyer etc., man, Weib.“27 In der Tat, Weigel scheut sich dann nicht davor, auch den Juden oder den Heiden als Glaubensbruder anzuerkennen, solange sich beide nur innerlich dem gleichen Glauben anschließen würden.28 Christen wären damit u. U. als schlechtere Gläubige als Muslime zu betrachten, wenn sie sich nämlich nur nach den Werken richteten und nicht die innere Gesinnung pflegten.29 Aus der tiefen Besorgnis heraus, wie der wahre Glaube gewonnen werden könne, schiebt Weigel jegliche Unterschiede zwischen den Religionen beiseite und betont dafür, dass alle Menschen sich in der seligen Spiritualität wiederfinden könnten, was ganz unabhängig vom konkreten Glaubensbekenntnis zu erreichen wäre. Wie der frühe Luther argumentiert Weigel mit größter Entschiedenheit, dass man nur durch den Glauben an Christus das Ziel, die individuelle Seligkeit, erreichen könne, ganz gleich, welche formalen Riten oder Praktiken man einsetze.30 Wir merken leicht, wie stark sich hier der Spiritualist zu Wort meldet, für den die formale Position innerhalb einer Kirche bzw. einer Glaubensgemeinschaft bzw. die Beobachtung bestimmter Riten oder Formeln völlig gleichgültig ist, weil es ja nur auf die innere Gesinnung ankomme. Geradezu sarkastisch kommentiert er im Anschluss über diejenigen, die heuchlerisch auftreten und kraft ihres offiziellen Amtes und ihrer gelehrten Worte meinen, wahrhaftig von Christus sprechen zu dürfen: „Hörestu Lieber, das Reich Gottes stehet nicht in worten, Sondern in crafft vnd Thaten, Es wil leben vnd gethan sein, vnd nicht mit schatzen außgerichtet sein.“31 Weigel vertieft seine diesbezüglichen Gedanken im Traktat Daß das Wort Gottes in allen Menschen sei, der in zwei Handschriften überliefert ist: Gotha, Forschungs- und Landesbibliothek, Chart. B 893, 143r–153v, und Copenhagen, 25 26 27 28 29 30 31

Ebd., 36. Ebd., 38. Ebd. Ebd., 38f. Ebd., 39. Ebd. Ebd., 40.

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Der Kongelige Bibliothek, Thott. 119 4v–115v. Hier vernehmen wir erneut, dass der wahre Glaube sich nicht in Handlungen, Riten oder Zeremonien zu erkennen gebe, sondern in der inneren, spirituellen Vereinigung mit Gott. Weigel lehnt sogar die Taufe als das entscheidende Kriterium ab, womit ein Säugling von vornherein zum Mitglied der christlichen Kirche werde, und betont stattdessen den einzig ausschlaggebenden Wertmaßstab, das Wort Gottes: „Das Reich Gottes ist inwendig in euch.“32 Für Weigel spielt das Wort Gottes die zentrale Rolle, und dieses stehe jedem Menschen zur Verfügung, der zu lesen und zu verstehen vermag.33 Eindeutig formuliert er dies folgendermaßen: „Dasselbige Wort ist das Leben der menschen, ‚vndt das Leben ist das Liecht der menschen‘.“34 Mithin postuliert er sinngemäß, dass jeder Mensch zu Gott finden kann, wenn man nur die innere Botschaft des Wortes zu verstehen in der Lage ist, was alle Unterschiede zwischen den Menschen aufhebt: Das Wort, oder Leben, oder Liecht oder Sohn Gottes, er Leuchtet nicht alleine Abrahams Kinder, oder etliche Juden, oder Mosen, oder die Christen, sondern es er Leuchtet alle Menschen, die da in diese Welt gebohren werden35

Radikaler als viele andere vor und auch nach ihm insistiert also Weigel darauf, dass Gott alle Menschen liebt und sie ohne Ansehen ihrer religiösen Orientierung als seine eigenen Kinder akzeptiert: „er sey Jüde oder grieche, Christ oder Türcke, alles was nur ein mensch ist, vnd heißet, dasselbe hatt in ihm das Wort, Liecht vndt Leben“36. Selbst wenn das Licht Gottes nicht in allen Menschen scheine, so würde es doch in allen vorhanden sein, denn Gott definiere sich über seinen „unvergengliche[n] Geist“37. Niemand müsse in der Welt umherreisen, um exotische Wunderarznei zu finden, denn die Heilung aller Wunden befinde sich sowieso bereits „in der Kammer deines Hertzens“38. Weil diese Botschaft schwer zu verstehen sein könnte, wiederholt der Autor die zentrale Aussage mehrfach und betont etwa: „Mercke wol das Wortt oder Leben, oder Liecht ist inwendig im menschen, den es erleuchtet alle menschen, die da in diese Welt kommen.“39 Theologisch verstanden legt Weigel dies so aus, dass Christus als Jude geboren wurde, aber gleichzeitig „vom eigenthumb aller menschen“ entstammte.40 Dies bedeute demnach, dass alle Menschen die gleiche Seele besäßen, was letztlich 32 33 34 35 36 37 38 39 40

Ebd., 74. Ebd., 75. Ebd., 76; nach Joh 1,4. Ebd., 77. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 78. Ebd., 79.

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allen ermögliche, den Worten Gottes zu lauschen und sie anzunehmen, ganz gleich, welcher weltlichen Kirche man angehöre, solange man nur gläubig sei.41 Natürlich vertritt Weigel ausschließlich die christliche Religion, aber als Spiritualist begreift er seine Wahrnehmung von Gott als eine universale, die alle Menschen integriert. Der wahre Glaube werde durch den Heiligen Geist in die Seele gepflanzt, auch wenn er nicht mit den physischen Augen sichtbar sei: Daraus folget, daß nicht ein rechter glaube sey, do man mus wieder sein hertz oder gewißen glauben, do man sich selbest nötiget zum glauben, nimpt etliche sprüche fur sich, vndt wil ihn selber also einen glauben machen.42

Obgleich Weigel nicht konkret die Unterschiede zwischen Juden, Christen oder Muslimen bzw. anderen Gläubigen anspricht, verfolgt er eine esoterische Lehre, wonach letztlich alle äußeren Unterschiede der Religionen hinfällig würden: „Wo nun hungrige hertzen sein, die werden durch das ambt des geistes ermahnet vndt erwecket zum glauben.“43 Externes Predigen oder Unterrichten könne gar nicht den wahren Glauben vermitteln: „So der diener des geistes nit kan glaubig predigen die Menschen, Viel weniger wirdt ein diener des buchstabens den glauben hinein predigen oder würcken.“44 In dem Traktat Das Gott nicht geunehret werde so der Mensch seine Bößheit Sunde vnd Nichtigkeit erkennet vnd saget (Bd. 5) erklärt er schließlich, dass es ihm nicht daran gelegen sei, „von anderen Leuten schriften vrtheile[n]“45, denn er wolle lieber zuhören und von anderen lernen. Der wahre Gläubige müsse Demut bewahren und seine niedrige Position gegenüber Gott im Auge behalten,46 womit Weigel sich direkt gegen die Ansprüche sowohl der katholischen als auch der protestantischen Kirche wendet und konsistent darauf beharrt, Gott allein in der Seele zu suchen. Dennoch gibt er zu erkennen, worin der wahre Glaube zu finden sei, denn es gebe nur zwei Personen, den äußeren und den inneren Menschen, d. h. Adam und Christus, und Weigel ruft seine Leser dazu auf, sich ganz der spirituellen Identifizierung mit Gott zu verschreiben, was im Grunde nichts Spezifisches mit der christlichen Kirche zu tun hat und genauso gut auch auf die Vertreter anderer Religionen zutreffen könnte. Natürlich geht es ihm allein darum, den Weg zu Gott im christlichen Sinne anzudeuten, aber als Spiritualist drückte er sich so generell aus, dass sich auch Juden oder Muslime angesprochen fühlen konnten. Der zentrale Punkt besteht für ihn darin, den äußeren mit dem inneren Menschen in Einklang zu bringen, was eine universale 41 42 43 44 45 46

Ebd., 81. Ebd., 83. Ebd., 94. Ebd. Ebd., 100. Ebd., 101.

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religionsphilosophische Aussage ausmacht.47 Daher reflektiert er auch global über das Wesen der Sünde, die von außen in die Seele eintrete, verursacht durch den Willen.48 Genau durch diesen aber könne der Mensch gerettet werden, indem er seinen Willen gegen die Sünde richte und sich selbst befreie.49 Streng betrachtet könnte keine dieser Aussagen Weigel zu einem Vorläufer des Toleranzdiskurses machen, denn vergleiche man seine Gedanken etwa mit denjenigen von Gotthold Ephraim Lessing in seinem berühmten Drama Nathan der Weise (1779), würden sich doch große Unterschiede herausstellen, vor allem weil Weigel aus der Sicht eines christlichen Pfarrers sprach und es ihm zentral daran gelegen war, die Mitglieder seiner Gemeinde und dann natürlich die Leser seiner Schriften von den Grundlagen seines theologischen Spiritualismus zu überzeugen. Aus einer nicht so engen Perspektive betrachtet erweisen sich aber Weigels Überlegungen als ungemein wichtig hinsichtlich der Beziehung zwischen Christen und Juden oder Muslimen, denn er verlagert die Gotteserkenntnis ins Innere des Menschen, nimmt entschieden Abstand von dem traditionellen kirchlichen Rahmen und betont immer wieder die ausschlaggebende Bedeutung des Wortes und somit des Geistes, womit jedes Individuum hier in dieser Welt angesprochen ist. In einer seiner Predigten („Dominiac III. Aduentus Euangelium Mathe. 11ten“) hebt er z. B. hervor, dass selbst Christi leibhaftige Erscheinung hier auf Erden keinen Nutzen gehabt haben konnte, solange nicht der einzelne den Glauben in seinem Herzen empfing: „wo sie nicht auch am gemüth vnd im hertzen ihn in der würckung, Gaist vnd Crafft erkennet, ergrieffen, gesehen, vnd geschmeckt hetten, gleich wie die vnmündigen kinder.“50 Es geht also konsistent allein um den Glauben, um die innere Erfahrung Gottes, und niemals um eine äußerliche Praxis, womit laut Weigel allen Menschen der Welt der Weg zu Gott offen stehe. Entscheidend sei nicht die Taufe in physischer Form, sondern die geistige Taufe, „die Jnwendige Tauff“51. NichtChristen hätten sich sicherlich nicht ohne Weiteres in den Texten Weigels wiedergefunden, wie wir heute konstatieren dürften, aber zugleich unterwanderte er mit seinen Vorstellungen die Lehren sowohl der katholischen als auch der protestantischen Kirche und öffnete damit, ohne es explizit zur Sprache zu bringen, auch denjenigen den Weg zu Gott, die sich nicht innerhalb der christlichen Gemeinschaft befanden. Diese Spiritualisierung des Glaubens darf als eine wichtige Vorstufe zur religiösen Duldung, letztlich sogar der Toleranz gedeutet werden, denn Weigel erkannte erstens, dass nach seiner Auffassung Gott alle 47 48 49 50 51

Ebd., 102. Ebd., 103. Ebd., 110. Weigel, Handschriftliche Predigtensammlung. Ebd., 31 (Vierte Predigt).

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Menschen liebe, zweitens dass der Glaube an Gott sich allein in der Seele manifestiere und dass drittens jeder dazu aufgerufen sei, dem Ruf Christi zu folgen, was eine sehr persönliche Willensentscheidung sei. Zwar äußerte sich dieser Pfarrer-Autor kaum explizit zur Frage, wie das Christentum zu anderen Religionen stehen sollte, aber indem er die religiöse Erfahrung prinzipiell in die Seele des Menschen verlagerte, öffnete er viele Türen hin zu einer charakteristischen Form der Duldung (toleratio), wie sie bereits seit dem 14. Jahrhundert in der Literatur, Philosophie und Theologie allmählich gepflegt wurde.52 Dass aber ein so gut etablierter Pfarrer der lutherischen Kirche in aller Heimlichkeit solche spirituellen Vorstellungen entwickelte, die letztlich alle Menschen involvierten und niemanden ausschlossen, darf als ein sehr beachtenswertes Phänomen innerhalb der Reformationsgeschichte des 16. Jahrhunderts angesehen werden.

Literatur Brecht, Martin/Berg, Johannes v. den (Hg.), Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert, Göttingen 1993. Classen, Albrecht, Anna Ovena Hoyers, in: K. Klein (Hg.), „…von gar nicht abschätzbarer Bedeutung“: Frauen schreiben Reformationsgeschichte, Kiel 2016, 24f. – Die ‚Querelle des femmes‘ im 16. Jahrhundert im Kontext des theologischen Gelehrtenstreits. Die literarischen Beiträge von Argula von Grumbach und Anna Ovena Hoyers, Wirkendes Wort 50.2, 2000, 189–213. – Toleration, Tolerance, or Intolerance in the Works of the Young Martin Luther: The Issue with Jews in Early Sixteenth-Century Christian World View, Humanities and Social Science Research 1.1, 2018, online: https://j.ideasspread.org/index.php/hssr/arti cle/view/61/15 (letzter Zugriff am: 8. November 2018). Dülmen, Richard v., Das Täuferreich zu Münster: 1534–1535. Berichte und Dokumente, München 1974. Fast, Heinold (Hg.), Der linke Flügel der Reformation. Glaubenszeugnisse der Täufer, Spiritualisten, Schwärmer und Antitrinitarier, Bremen 1962. Gallé, Volker/Krauß, Wolfgang (Hg.), Zwischen Provokation und Rückzug: die Politik der radikalen Reformation im Südwesten, Worms 2016. Goertz, Hans-Jürgen, Die Täufer. Geschichte und Deutung, München 1988. Grell, Ole Peter/Scribner, Bob (Hg.), Tolerance and Intolerance in the European Reformation, Cambridge 1996. Gribbe, Crawford (Hg.), Puritans and Catholics in the Trans-Atlantic World, 1600–1800, Houndmills, Basingstoke/New York 2016. Haude, Sigrun, Anabaptism, in: A. Pettegree (Hg.), The Reformation World, London/New York 2000, 237–256. 52 Classen, Toleration and Tolerance in Medieval and Early Modern European Literature.

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Albrecht Classen

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IV. Geschlechterdiskursive Perspektivierungen

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Reformation und Geschlechterdiskurse Eine Re-Vision

Einführung Überblickt man den interdisziplinären Forschungsstand zur Bedeutung der Reformation für Frauen und Geschlechterdiskurse, so lässt sich feststellen, dass seit etwa den 1980er Jahren die bis dato dominierende, positive Beurteilung der stillschweigend angenommenen Leistungen der Reformation, in diesem Bereich aus einer historischen Perspektive immer kritischer reflektiert wird. Die bisher dominante These von einem radikalen Wandel, ja von einem Bruch in der Geschlechtergeschichte als Effekt der Reformation, wird sowohl durch Historiker, Soziologen als auch immer stärker durch feministische Theologen und Kirchenhistoriker – vor allem im angelsächsischen Raum – hinterfragt. Bereits 1980 stellte Dagmar Lorenz fest: Unter Lutheranern trifft man immer wieder auf die Ansicht, Luthers Schaffen habe, nebst zahlreichen, gemeinhin als fortschrittlich betrachteten und ihm zugeschriebenen Neuerungen […] auch eine Aufwertung und Verbesserung der Rolle der Frau im Staatsund Sozialwesen eingeleitet. Ebenswenig wie die ersteren Annahmen unqualifiziert zu akzeptieren sind, ist es die letztere, zu der nicht selten auch Protestanten neigen.1

Diese kritische Sichtweise entwickelte 1995 Lyndal Roper in ihrer grundlegenden Studie zur Geschlechterordnung in der Reformation – Das fromme Haus.2 Indem sie auf die protestantische Morallehre verwies, in der die Ehe als „alleinige legitime Grundlage der Ordnung zwischen den Geschlechtern und den Stadtbürgern“3 sein sollte, setzte sie sich zugleich gegen die weit verbreitete Überzeugung, dass die Reformation die (soziale) Stellung der Frau stark verbesserte: 1 Lorenz, Vom Kloster zur Kirche, 7. 2 Roper, Das fromme Haus. 3 Ebd., 7.

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Wie konnte dieser revolutionäre Glauben in eine sozial konservative Frömmigkeit, die über die Schlechtigkeit der Welt hinwegtrösten sollte, verwandelt werden? Wie war es möglich, dass die Verkündung des Evangeliums, der Gleichheit aller Christen, von Männern und Frauen, arm und reich, der Gleichheit in Glaubensdingen und vor Gott, die einen besonderen Priesterstand unnötig machte, zum Bollwerk einer hierarchischen weltlichen Ordnung wurde? Wie konnte ein Glaube, der anfangs über die prophetischen Gaben frohlockte, die beiden Geschlechtern geschenkt worden seien, dahin kommen, Frauen fast ausschließlich als Ehefrauen zu sehen, die ihren Ehemännern untertan seien und von ihren Predigern belehrt werden müssten?4

Nach den gravierenden Umwälzungen der Frühphase der Reformation, an deren auch viele Frauen – adeliger und bürgerlicher Herkunft – aufseiten Luthers beteiligt waren, erfolgte eine „konservative Umdeutung der Glaubenslehre“, die den Protestantismus als „eine Religion des ehelichen Lebens und eine Politik der Ehezucht“ auffasste.5 Diese konservative Wende hatte eine Festigung des Patriarchats, eine hierarchische Weltordnung, in der die Handlungsräume der Geschlechter getrennt wurden, zur Folge. Das reformatorische Ehekonzept als gesellschaftliches Ordnungsmodell wird heute in seinem Erneuerungsimpetus zusehends abgeschwächt und eher als „Kontinuität zur vorreformatorischen Normierungen der Ehe“ gesehen.6 Auch die neuesten Ergebnisse der mediävistischen Forschung zu Eheschriften, etwa von Hans-Jürgen Bachorski, Rüdiger Schnell und Detlev Roth, stellen die Annnahme von der Reformation als fundamentalem Bruch in der Geschichte der Ehe infrage.7 Selbst Luthers Argumente zur „Würde der Ehe“ erweisen sich keineswegs als Novum, wie Deltlef Roth nachweisen konnte: Seit dem 12. Jahrhundert entsteht in der homiletischen und moraldidaktischen Literatur (im Hinblick auf Laien) […] eine ausführliche commendatio matrimonii, die im 16. Jahrhundert von refromierten Predigern übernommen und sogar gegen die katholische Ehelehre verwendet wurde. Bereits Radulphus Ardens (12. Jh.) nennt sieben Argumente zur Würde der Ehe […]. Die Ehe sei nämlich von Gott selbst vor der Sünde im Paradies eingesetzt worden […], und ihr entsprechen Güter fides, sacramentum und paroles.8

Die Reformation bedeutete aber in der Tat einen Bruch, und zwar im klerikalen, ehefeindlichen Diskurs durch ihre Ablehnung des Zölibats und Negierung der bislang als eine besondere, höhere, geistige und geistliche Lebensform verstandenen Ehelosigkeit. Von primärer Bedeutung für den weltlichen vorreformatorischen Ehediskurs waren Texte der frühhumanistischen Literatur, wie Heinrich 4 5 6 7 8

Ebd. Ebd., 20. Westphal, Frauen- und geschlechtergeschichtliche Ansätze, 220. Vgl. Burghartz, Unordnung statt Ordnung?, 179. Roth, An uxor ducenda, 184.

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Wittenwillers Ring (1408–1410) und Das Ehebüchlein des Albert von Eybl (1472). Und in ihnen fiel die Antwort auf die Frage, ob ein Mann heiraten solle, immer positiv aus. Dabei ist nicht zu übersehen, dass diese Frage nicht mehr den gelehrten Mann, sondern den Mann im Allgemeinen betrifft, was die Forscher auf die Sprache und das Publikum dieser Literatur beziehen. Die grundlegende Bedeutung für diese Entwicklung zum ehelichen Leben hin hatte im Spätmittelalter sicherlich das Konzept des „Ehepaars als Arbeitspaar“, das die Sozialhistorikerin Heide Wunder beschrieben hatte.9 Im Laufe des 16. Jahrhunderts, mit der allmählichen Herausbildung der neuen sozialen Elite wie Universitätsprofessoren, Pfarrer, Großkaufleute, sowie mit der voranschreitenden Professionalisierung der Arbeit, hat sich dieses Geschlechtermodell verändert. Die gemeinsamen Handlungsräume von Mann und Frau wurden immer deutlicher voneinander getrennt, indem der Mann zum Alleinernäher wurde und die Frauenarbeit sich zusehends oder ausschließlich auf Haushalt und Kinder verlagerte. In diesem Zusammenhang ist auch „die Herausbildung des evangelischen Pfarrhauses zu sehen, das jüngst wieder große Aufmerksamkeit in der Forschung erfuhr und dessen hohe kulturgeschichtliche Bedeutung hervorgehoben wird“10. Auf die ersten stürmischen Tage der Reformation blicken viele Forscherinnen und Forscher heute gerne zurück, um die These von der frauenfreundlichen Haltung der Reformatoren und der Verbesserung der Situation der Frau in der Gesellschaft zu bestätigen. Heide Wunder schreibt 1992 in ihrer vielbeachteten Studie über Frauen in der frühen Neuzeit: „Vor allem wurde Luthers Lehre von der Priesterschaft aller Gläubigen als ein Indiz für die Neubewertung der Frauenrolle hervorgehoben.“11 Tatsächlich griffen einige Frauen zur Feder, schrieben nicht nur Flugschriften, Briefe und Lieder, aber auch Sendbriefe, Predigttexte und Leichenreden. Immer wieder werden in diesem Kontext Katharina Zell und Argula von Grumbach genannt. Mary Wiesner nennt 1989 weitere Namen von Autorinnen frühreformatorischer Texte, wie Elisabeth Gottgabs, Katherine und Veronica Rem, Martha Elisabeth Zitterin, Margarethe Blarer, Ursula Weide, Justina Sanger oder eine gewisse Frau Vogli.12 Diese Liste ergänzt 1994 Albrecht Classen um Florentina von Oberweimar, eine Graserin und Ursula Weidin (Weyda).13 Der Optimismus dieser ersten Generation der Reformationsautorinnen muss jedoch der Tatsache weichen, dass sie – mit Ausnahme von Katharina Zell – ihren Federkiel in den 1530er Jahren beiseite gelegt hatten und sozusagen verstummten. Heute wurde mit dem großangelegten online-Projekt „500 Jahre Reformation von Frauen gestaltet“ des deutschen Evangelischen 9 10 11 12 13

Wunder, „Er ist die Sonn’, sie ist der Mond“, 90–92. Westphal, Frauen- und geschlechtergeschichtliche Ansätze, 222. Wunder, „Er ist die Sonn’, sie ist der Mond“, 237. Wiesner, Nuns, Wives and Mothers, 6–28. Classen, Frauen in der deutschen Reformation, 179–201.

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Frauen Vereins, die Teilnahme von Frauen als Mitstreiterinnen, Autorinnen und Multiplikatorinnen der reformatorischen Ideen aktualisiert und europaweit präsentiert. Diese neuen geistig-geistlichen Handlungsräume, die die religiöse Reformationsbewegung anfangs für Frauen geöffnet hatte, wurden also bald geschlossen. Dieser Umstand „relativiert die These von der emanzipatorischen Wirkung der Reformation“, wie es Siegrid Westphal 2016 betonte.14 Mit meinem Beitrag schliesse ich mich diesen kritischen Reflexionen an. Was mich im Kontext der Reformation interessiert, ist zweilerlei: Zum einen will ich fragen, inwieweit sich die Reformationslehre über Ehe und Bildung auf die Stellung der Frau in der Gelehrtenkultur auswirkte. In Bezug auf die Eheschriften des Erasmus von Rotterdam werde ich mich auf die Gelehrtenehe und die damit verbundene Kontroverse im 16. Jahrhundert konzentrieren, und zwar am Beispiel des Gelehrtenhaushalts Luthers und Melanchthons. Zum anderen will ich die Männlichkeitsmodelle der Reformation befragen, wie sie in der Gelehrtenkultur der Zeit gelebt wurden. Meine These lautet: Die erste Generation der Reformatoren bildeten humanistisch gebildete und gesinnte Männer. Für sie war die Ehe eine neue Erfahrung, sowohl als institutionalisierte Geschlechterordnung als auch als neuer Habitus. Ihre Ehefrauen waren meistens ehemalige Nonnen oder Töchter aus der urbanen Elite, die in die Ehe ein bestimmtes Bildungsniveau mitbrachten, das eine intellektuelle Gefährtenschaft möglich machen konnte. Der Gelehrtenhaushalt der ersten Reformatoren gründete auf dem humanistischen Ehekonzept. Die Gattinnen der frühen Reformatoren sind primär also als Gelehrtenfrauen und nicht als Vorbilder der protestantischen Pfarrfrauen zu sehen, da sich das neue Modell des protestantischen Pfarrhauses mit seiner Ethik, seiner Funktion als Ort der Bildung und Kultur sowie seiner Geschlechterordnung erst im ausgehenden 16. Jahrhundert herauskristallisierte.15

Ehediskurse der Humanisten und der Reformation Der Gelehrtendiskurs der Frühen Neuzeit operierte mit dem seit der Antike tradierten Topos des sapienti uxor, des Gelehrten mit charakteristischen Eigenschaften, die konstant geblieben sind, wie etwa – nach der Auflistung von Ralph Häfner – „das nächtliche Schreiben, eine bestimmte Diätetik, der Stand der Ehelosigkeit“16. Ebenso traditionsbildend wurde der Topos des vom Unglück verfolgten Gelehrten oder der Melancholie des Gelehrten mit solchen Erscheinungsformen wie Vergesslichkeit und Geistesabwesenheit, Gleichgültigkeit ge14 Vgl. Westphal, Frauen- und geschlechtergeschichtliche Ansätze, 219. 15 Vgl. Schorn-Schütte, Das ganze Haus, 37–49. 16 Häfner, Das Selbstbild des Gelehrten, 33.

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genüber körperlichen Bedürfnissen und Mitmenschen.17 Topisch ist das Saturnengesicht mit melancholischem Blick, ungepflegtem Haar und durchfurchten Wangen, die nach Häfner „Attribute einer vom Verfall gezeichneten Lebensform, einer greisenden Weisheit (senilis sapientia)“ sind.18 Dieser arbeitsethisch-physiognomischen Darstellung schließt sich die ununterbrochen seit der Antike gestellte Frage an, ob ein Gelehrter heiraten soll. Diese topische Frage wurde zwar durch die Reformation neu aufgeworfen, jedoch kulturhistorisch gesehen begann die Wende des Gelehrten von der Ehelosigkeit zum ehelichen Leben bereits – so Gadi Algadzi – um 1400. Vor 1400 waren sie (die Gelehrten) im Norden in der Regel zölibatär. Viele von ihnen lebten in quasi monastischen Gemeinschaften, in Kollegien und Stiften […]. Andere Universitätsgelehrten lebten mit ihren männlichen Studenten und auch oft mit einer Haushälterin in kleinen Haushalten. Seit etwa 1400 – in Italien früher als im Norden – fingen sie vermehrt an, Familienhaushalte zu gründen.19

Wie Mediziner und Juristen belegen, waren „im Laufe des 15. Jahrhunderts […] auch Philosophen von diesem Prozess ergriffen und im 16. Jahrhundert werden auch Theologen dazu kommen“20. Die Theologen der ersten Stunde wie Bugenhagen, Crutziger, Spalatin oder Luther, sowie der theologiemächtige Humanist und Universalgelehrte Philipp Melanchthon heirateten ehemalige Nonnen oder Frauen aus dem wittenbergischen Mittelstand. Für die humanistische und reformatorische Ehediskussion ist auffallend, dass die wichtigsten Eheschriften der Humanisten, etwa die von Erasmus von Rotterdam, Conrad Peutinger, Thomas Morus und Martin Luther, fast gleichzeitig erschienen sind.21 Gemeinsam war ihnen die Auffassung von der Ehe als Institution der gesellschaftlichen Ordnung, die einen hohen Wert besaß. Zwar galt für Erasmus weiterhin das Zölibat für den Klerus, doch in Bezug auf die Laien teilte er die Überzeugung Luthers vom Ehestand als einer hierarchisch konstituierten Gemeinschaft von Mann und Frau mit geteilten Handlungsräumen und gegenseitigem Respekt. In Erasmus’ Konzept der humanistischen Ehe treten Mann und Frau als ideelle Partner auf, ohne dass die androzentrische Ordnung gestört

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Algadzi, „Geistesabwesenheit“, 324. Häfner, Das Selbstbild, 40. Algadzi, „Geistesabwesenheit“, 328. Ebd. Erasmus von Rotterdam: Encomium Matrimonii (1518), Conjugium (1523), Institutio Christaine Matrimoni (1526), und Colloquia Familiaria (1523). Brief des Erasmus von Rotterdam an Ulrich von Hutten über Thomas Morus (1519). Caspar Peutingers berühmter Brief an Reuchlin von 1498 über eine gelehrte Partnerschaft in der Ehe wurde in den Anthologien Clarorum virorum epistolae (Briefe berühmter Männer) 1514 und 1519 gedruckt. Luthers Eheschriften erschienen wie folgt: Sermon vom Ehestande (1519), Predigt über das Eheleben (1522), Sermon vom ehelichen Leben (1524).

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worden wäre. Der gelehrte Mann bleibt eine Autorität und ein Lehrer seiner Frau, die er zur Gelehrsamkeit erzieht. Mit Colloquia familiaris (1524) führt Erasmus die Gestalt der humanistisch gebildeten Gelehrtenfrau Magdalia ein, die zwar den dummen, eingeschränkten und misogynen Pfarrer in einem ironisch zugespitzten Dialog völlig zugrunde richtet, doch stets die erzieherische Funktion ihres gelehrten Gatten hervorhebt, der ihre intellektuelle Entwicklung billigt und unterstützt.22 Dieses Konzept der Formation, der Bildung der Frau durch den gelehrten Mann erlangte bei der ersten Generation der Reformatoren eine Gültigkeit, es wurde zur Basis für das sich im Laufe des 16. Jahrhunderts erst langsam herauskristallisierende Modell des Pfarrhauses mit seinem ehelichen Ethos und kulturbildender Funktion. Die humanistisch gebildeten Reformatoren entwickelten eine Gelehrtenkultur, in der Frauen eine wichtige Rolle zu spielen hatten, denn diese Kultur war primär im Gelehrtenhaushalt verortet.

Luthers Ehekonzept und Selbstbild Im Gegensatz zu Erasmus adressiert Luther sein Ehekonzept – „das fromme Haus“, wie es Roper beschrieben hatte –, in erster Linie nicht an den exklusiven Gelehrtenstand, sondern an die Handwerker.23 Als Nichttheologin werde ich mich mit theologischen Aspekten des Sermons über das eheliche Leben von Martin Luther freilich nicht befassen. Ich belasse es bei einer kurzen Zusammenfassung der wichtigsten und in der Forschung längst untersuchten Aspekte seines Ehekonzepts, um im zweiten Schritt auf seinen Gelehrtenhaushalt und die Gesellschaftsrollen sowie Zuweisungsbereiche von Mann und Frau zu sprechen zu kommen. Wir haben bereits auf die Vielfalt vorreformatorischer Ehediskurse verwiesen und können unisono mit der Lutherforschung sagen, dass der bedeutendste Unterschied, der sich zwischen Luther und seinen Vorgängern auftut, „die Einschätzung der Ehe als Institution“ sei.24 Nicht mehr nur ausschließlich – wie in der Moraltheologie der Kirchenväter – als eine Notlösung für die Reglementierung libidinöser Ökonomie der Geschlechter, sondern gerade als ein „weltlich Ding“ und Gebot der christlichen Menschen beschreibt Luther die Ehe. Damit erlangte er einen gravierenden Einfluß auf das individuelle Leben von Männern und Frauen. Vor allem aber waren von seiner Ehelehre die Frauen beeinträchtigt, weil er ihnen keinen Freiraum mehr ließ. Luther definiert die Frau als Ehefrau und spricht sie primär als Weib und erst sekundär als Mutter an. Die ethische Folge dieses Konzepts war eine Trennung der Lebensräume der Ge22 Vgl. Hess, Die Renaissance, 113–149. 23 Roper, Das fromme Haus, 30. 24 Vgl. Lorenz, Vom Kloster zur Kirche, 11.

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schlechter, was mit der Domestizierung der Frau endete: „[…] das Weib geschaffen ist zur Haushaltung, der Mann aber zur Policey, zum weltlichen Regiment und Gerichtshandeln, die zu verwalten und zu führen“25. Die Ehe verstand Luther als Bildungsprogramm der Humanisten ebenso wie er in der Bildung von breiten Volksmassen generell die Notwendigkeit sah, das neue, protestantische, unmittelbare Verhältnis des Menschen zu Gott realisieren zu müssen. Eine geschlechterübergreifende Lesefähigkeit forderte er grundsätzlich in seiner Schrift an den deutschen Adel,26 wo er zum Aufbau von Elementarschulen für Knaben und Mädchen in den Städten und Dörfern sowie zur Gründung von Bibliotheken aufgerufen hatte. Die Ehefrau als erste Lehrerin der Kinder sollte in der Bibel und Erbauungsliteratur ausgewiesen sein, damit sie, wie es in den Tischreden nachzulesen ist, „[i]hre Kinder fein zu Gottes Wort führen konnte“27. Aus vielen Tischgesprächen lässt sich zwar Luthers zurückhaltende, wenn nicht eindeutig abwertende Stellung den klugen Frauen gegenüber entnehmen – „Es ist kein rock, der einer frauen oder jungfrauen so ubel an stehet, den wens klug will sein“28 –, doch ist für seine Anthropologie die Gleichwertigkeit von Mann und Frau als „Gottes Kreaturen“ grundlegend. Nicht nur das, sondern auch die Anerkennung ihrer Körperlichkeit als „gottes gutes Werk“ ist tief in seiner Ehelehre verankert, in der die menschliche Sexualität nicht mehr als Sünde begriffen wird. In Luthers Ehekonzept hat das Elternamt eine besondere Bedeutung. Die gemeinsame Sorge für die Kinder, die nach Luther „das schönste Geschenk der Ehe sind“, obliegt beiden: Mann und Frau. Diese Lehre hatte besonders für Männer weitgehende Konsequenzen, denn sie erforderte neue Selbstbilder und Männlichkeitsvorstellungen. Dieses neue Selbstbild des Mannes als liebender, geduldiger und am Wohl des Kindes interessierter Vater hatte Luther in Sermon vom ehelichen Leben (1522) folgendermaßen beschrieben: Ach Gott, soll ich das Kind wiegen, die Windeln waschen, Betten machen, Gestank riechen, die Nächte durchwachen, auf sein Schreien achten, seinen Grind und Blattern heilen, danach die Frau pflegen, sie ernähren, mich bemühen, hier sorgen, da sorgen, hier tun, da tun, das leiden und dies leiden, und was der Ehestand mehr Unlust und Mühe lehrt? Ei, sollt ich so gefangen sein? […] Alle (Werke) sind mit göttlichem Wohlgefallen geschmückt […] Ach Gott, weil ich gewiß bin, daß Du mich als Mann geschaffen und von meinem Leib das Kind gezeugt hast, deshalb weiß ich auch sicher, daß es Dir aufs allerbeste gefällt, und bekenne Dir, daß ich nicht würdig bin, daß ich das Kindlein wiegen noch seine Windeln waschen noch seine Mutter pflegen sollte […]. Ach, wie gerne will ich solches tun, und wenn‘s noch geringer und verachteter wäre. […] 25 Luther, Tischreden I, 1054. 26 Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation; Luther, An die Ratsherren aller Stände deutschen Landes. 27 Luther, Tischgespräche IV, 4783. 28 Luther, Tischgespräche II, 1555.

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Gott lacht mit allen Engeln und Kreaturen, nicht weil er die Windeln wäscht, sondern weil er′s im Glauben tut! […] mit der Frau teilhaben an Gottes Schöpferwerk.29

Luther ging in der Vaterrolle richtig auf: Er pflegte, versorgte, erzog, unterrichtete seine Kinder und beim Kindstod erlebte er ein grausames Trauma, von dem er sich lange nicht erholen konnte. Nach dem Tod seiner kleinen Tochter Elisabeth schrieb er: […] mein Töchterlein Elisabeth ist mir gestorben. Wundersam, wie grauenvoll sie mir meinen Sinn gelassen hat, fast wie eine Frau, so bewegt mich das Mitleiden mit ihr. Vorher hätte ich niemals geglaubt, daß väterliche Sinne um eines Kinds willen so weich werden.30

Die begabte Elisabeth hätte, nach dem humanistischen Bildungsideal für Frauen, das ‚Schmuckstück‘ des gelehrten Vaters sein und im Schwarzen Kloster für eine weibliche intellektuelle Gefährtenschaft stehen können, wie es im Hause Melanchthons der Fall war.

Philipp Melanchthons Ehediskurs und Selbstbild Philipp Melanchthon hatte zwar keine Eheschriften verfasst, doch sich in seinen Briefen sehr präzise über die Ehe geäußert und sie letztendlich auch gelebt. Er war der humanistischste Gelehrte des 16. Jahrhunderts, dem das topische Bild des einsamen, unglücklichen und durch Wissenschaftsliebe körperlich verfallenden Mannes galt. Melanchthon war bekanntlich durch Luther und seine Freunde so stark unter Druck gesetzt, dass er endlich nachgeben musste und sich bereit erklärte, 1520 Katharina Krapp zu heiraten. Am Anfang war er nicht bereit, seine bisherige uneingeschränkte Freiheit des Gelehrten einzuschränken oder anders aufzuteilen. In seinem Lebensplan hätte sich durch die Heirat gar nichts verändern sollen und die Ehefrau sollte eigentlich auf die Rolle einer Haushälterin reduziert werden. Weiterhin glaubte er, auch eine fast mönchisch-monastische Lebensform führen zu können, indem er seinen Freund, den frisch verheirateten Johann Agricola, eingeladen hatte, bei ihm einzuziehen. Dagegen musste Katharina „mit Händen und Füssen“, wie es heißt, protestiert haben.31 Er floh vielmehr vor dem häuslichen Alltag in sein Museum. Zum Mythos Melanchthon gehört seine Aussage über den Hochzeitstag als „Trübsal Tag“ sowie seine angebliche humanistische Misogynie. Diesem Bild widersprechen jedoch eindeutig seine ungebrochene intensive wissenschaftliche Arbeit, an der er durch das 29 Luther, Vom ehelichen Leben, 295f. 30 Luther, Briefwechsel, 269, 26. 31 Vgl. Fricke/Heesch (Hg.), Der Humanist als Reformator.

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Eheband nicht gestört wurde, sowie seine Vaterrolle, in der er vollkommen aufging. In Johann Camerarius’ Melanchthon-Biographie von 1566 erscheint der Praeceptor Germaniae als liebender Vater, den das Geschrei der Kinder kaum stört: Er hält in einer Hand das Buch, während er mit der anderen die Wiege schaukelt.32 Die Gelehrtenehe Melanchthons blüht aber erst mit den Nachkommen auf. Sein Selbstbild ändert sich gravierend: Aus dem asketischen, genussleeren Gelehrten wird ein liebevoller, fürsorglicher, glücklicher Vater und Ehemann. Sehr bald veränderte sich die Einstellung Melanchthons zu seiner Frau und der Ehe als Lebensform. Er teilte die Auffassung Luthers über die Frau als göttliches Geschöpf, das dem Manne gleichgestellt sei. Anders aber als Luther, der sich immer wieder auch abwertend und grob über Frauen äußerte, hat Melanchthon die Frau als Partnerin gewürdigt, wie im Brief an Veit Dietrich vom 27. November 1540: Ich haße die menschenfeindliche Gesinnung, nach welchem man eine gewisse Ehre und Weisheit darin sucht, das weibliche Geschlecht zu verachten. […] mag das weibliche Geschlecht seine Schwachheiten haben, auch die Männer haben die ihrigen. Wir wollen das weibliche Geschlecht ehren, schützen und verbessern, und, wenn wir – als Männer – mehr Stärke und Kraft besitzen, den Beweis davon dadurch geben, daß wir sie unterstützen, nicht daß wir sie verachten.33

Auf seine frauenfreundliche Haltung hatten seine Kontakte mit den gelehrten Frauen Europas eingewirkt, etwa mit Caritas Pirckheimer, sowie mit den gelehrten Frauen seiner Freunde: Anna Camerarius, die er lectissima femina nannte und der er seine Loci communes von 1521 widmete, sowie Elisabeth Crutziger, der gelehrten Gattin von Caspar Crutziger und ersten protestantischen Dichterin. Er stand nicht nur in Briefkontakt mit diesen gebildeten Frauen, sondern setzte das humanistische Weiblichkeitsparadigma bei der Erziehung seiner eigenen Tochter Anna um. Anna war die talentierte Wundertochter des Gelehrten, sein Schmuckstück. Er unterrichtete sie selbst und stellte auch gute Lehrer ein, die sie in klassischer Literatur, Fremdsprachen, vor allem in Latein, und Glaubensfragen ausbildeten. Die außergewöhnlich gut, klassisch humanistisch geschulte Anna, die eine ideale Gelehrtenfrau sein sollte, wurde sehr früh, schon im Alter von vierzehn Jahren, mit dem hochbegabten Schüler Melanchthons, dem späteren Dichter und Rektor der Königsberger Universität, Georg Sabinus verheiratet. In ihrer Ehe hätte Anna ihre besonderen Qualitäten als vorbildliche Gelehrtenfrau bestimmt umgesetzt, hätte sie der Ehemann nicht zusehends gedemütigt und misshandelt. Als sie nach der Geburt ihres sechsten Kindes starb, übernahmen die Großeltern die Sorge für die Enkeln. Das Schicksal seiner gelehrten Tochter hat Melanchthons frauenfreundliche Haltung sicher mit beeinflusst. 32 Vgl. Camerarius, Das Leben Philipp Melanchthons. 33 Brief an Veit Dietrich vom 27. November 1540, Corpus Reformatorum 3, 1173.

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Die Reformatorenfrauen in ihrem Gelehrtenhaushalt als Hauptort der Gelehrtenkultur Die Gelehrtenfrauen der ersten Generation der Reformatoren entwickelten ein Netzwerk privater, freundschaftlicher und intellektueller Verbindungen, entweder durch persönliche Kontakte in den Kulturkreisen Wittenbergs oder durch Austausch von Briefen oder Vermittlung durch die Ehemänner. Bekannt sind Briefe von Katharina Zell an die Lutherin, wie auch Grüße und Ratschläge zur Kinderpflege, die Argula von Grumbach an sie durch Luther ausrichtete. In Wittenberg stand die Lutherin mit Katharina Cranach, Katharina Melanchthon und Elisabeth Crutziger in freundschaftlichem Kontakt, sie besuchten einander und nahmen an der ritualisierten Gelehrtenkultur, die sie mit organisierten, teil.

Katharina Krapp (1497–1557) Melanchthons Frau Katharina Krapp stammte aus einer wohlhabenden Wittenberger Familie, ihr Vater war seit 1494 Bürgermeister und führte eine große Gewandschneiderei. Die reiche Familie sorgte für eine angemessene Mitgift der Tochter, die mit 23 Jahren mit Philipp Melanchthon verheiratet wurde.34 Von zu Hause wurde sie für die Berufsarbeit in der Familienfirma angehalten, vielleicht hatte sie auch Buchführung gelernt, wie es in kaufmännischen Familien häufig der Fall war. Wichtig war die Sozialisation in einem Haushalt, wo die Mutter und der Vater als Arbeitspaar wahrnehmbar waren, und wo die Mutter große berufliche Souveränität erlangte, die ihr erlaubte, nach dem Tod des Ehemanns das Familienunternehmen weiter erfolgreich selbständig zu führen, bis der Sohn es übernehmen konnte. Das Modell des Ehepaars als Arbeitspaar hatte Katharina im Ehestand als Professorengattin nur eingeschränkt umsetzen können. Zwar war Katharina nicht so geschäftig und in der Führung des Haushalts so erfolgreich wie die Frau Luthers, doch muss betont werden, dass auch sie einen großen Gelehrtenhaushalt geführt hatte. Primär oblag ihr die Sorge um die Gesundheit des Ehemannes und der vier Kinder, das Gesinde und andererseits die Organisation aller Formen der Gelehrtenkultur, die in diesem Haus gepflegt wurden. Sie hatte nicht nur die eigene Familie zu versorgen, sondern auch die Tochter ihrer verstorbenen Schwester, später auch die Enkelkinder sowie Kostgänger und Privatschüler, die, ähnlich wie im Schwarzen Kloster, in ihrem Hause wohnten. Viele Gäste und Besucher aus dem Ausland, die den berühmten Humanisten kennenlernen wollten, mussten empfangen und bewirtet werden, oft auch mit 34 Vgl. Mager, „Es ist nicht gut, daß der mensch allein sei“, 120–137.

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Übernachtung, wofür Katharina verantwortlich war. Melanchthon erinnert in einem Brief, dass an einem „Mittagstisch elft verschiedene Sprachen erklangen“35. Nach der Beschreibung von Johannes Mathesius sah das Mittagstischritual bei Melanchthons wie folgt aus: Der Sohn betet, die Tochter liest aus Luthers deutschem Katechismus vor, dann sind die Tischgenossen, insbesondere die Hausschüler, mit Lesungen aus biblischen und antiken Texten an der Reihe, und, über allen „thront“ Melanchthon, der die Runde mit Anekdoten und literarischen Reminiszenzen unterhält.36

Katharina nahm an diesen geistreichen Tischrunden als Gastgeberin teil, obwohl über ihre aktive Teilnahme am Gespräch nichts übermittelt ist. Im Gelehrtenhaushalt Melanchthons waren die Geschlechterräume offensichtlich weitgehend getrennt. Das Ehepaar bildete anfänglich auch kein harmonisches Beispiel für eine humanistische Gelehrtenehe. Aber als Katharina während seiner Abwesenheit im Alter von 60 Jahren starb, trauerte Melanchthon ihr bis zu seinem eigenen Tod nach. Er schrieb: Im Alter hört die Sehnsucht nach der verlorenen Gattin nicht auf. Der Schmerz bricht wieder auf, wenn ich daran denke, daß ich meine Familie und die Enkel ihrer beraubt sind […]. Deshalb vermisse ich sie jetzt in vielen Dingen.37

Es gibt keine Indizien dafür, dass Melanchthon für die intellektuelle Entwicklung seiner Ehefrau besonders Sorge trug. Das befremdet im Kontext seines Einsatzes für ein humanistisches Frauenideal.

Katharina von Bora (1499–1552) Die Bildung, die Katharina von Bora im Kloster bekam, zeichnete sie in der urbanen Kultur Wittenbergs aus: Sie war nicht nur elementar geschult, sondern auch theologisch unterrichtet, konnte etwas Latein und wurde mit der Heilkunde vertraut gemacht. Die frühen Urteile über Katharina, dass sie „stolz und hoffärtig“ wäre38, was Luther anders sah, waren wohl Resultat dieser hohen Bildung der ehemaligen Nonne sowie einer allgemeinen eher abwertenden Einstellung der Gesellschaft den nun befreiten Nonnen gegenüber. Katharina wurde nicht erst durch die Ehe mit dem gelehrten Reformator zur bekannten Person in der Wittenberger Öffentlichkeit. Wichtig für ihre Stellung innerhalb der humanistischen Kultur der Stadt und wohl auch für das Interesse seitens Luthers, waren die 35 36 37 38

Vgl. Rhein, Katharina Melanchthon, 513. Luther, Tischreden V, 5257. Zitiert nach: König, Melanchthon und die Frauen, 139. Luther, Tischreden II, 1461.

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zwei Jahre, die sie nach der Flucht aus dem Kloster im Hause von Katharina Barbara und Lukas Cranach verbrachte, in „einem weltoffenen Haus; geführt von der selbstbewussten und umsichtig agierenden […] Ehefrau des Malers. Sie wurde ihre Lehrerin, Beraterin und Freundin“39. In dieser Zeit konnte sie von ihren Kräuter- und Heilkundekenntnissen in der Hausapotheke Gebrauch machen. Weiter konnte sie Kontakte mit Universitätskreisen, Gelehrten und Studenten aber auch Künstlern und Landesherren, wie etwa dem König Christian II. von Dänemark, knüpfen, die das Haus des Malers als Zentrum der Gelehrtenkultur besuchten. Wegen ihres hohen Wissensniveaus wurde sie in diesen gelehrten und kulturtragenden Kreisen „Katharina von Sienna“ genannt.40 Als Luthers Ehefrau hatte sie dann einem der wichtigsten Gelehrtenhaushalte Wittenbergs vorgestanden und sie hatte eine erstaunliche Leistung erbracht. Sie wurde nicht nur zu Luthers Gefährtin, sondern auch zu einer selbstständigen Geschäftsfrau. Sie trug entscheidend zum materiellen Wohl ihrer Familie bei, dadurch dass sie die Geldausgaben beschränken konnte, indem sie Naturalien, die Luther als Endgeltung bekam, selbst verarbeitete, Bier braute, eigenes Gemüse und Obst anbaute, Vieh züchtete und Fische im eigenen Teich fangen konnte. Keine der Reformatoren-Ehefrauen war so erfolgreich in ihren Unternehmungen wie Katharina von Bora: von der Heilkunde, über Bauarbeiten am Schwarzen Kloster, Führung von Studentenburse und Kostgängerschaft bis hin zum Ankauf von Immobilien und Grundstücken. Der Haushalt im Schwarzen Kloster umfasste die eigene Familie mit sechs Kindern, Pflegekinder, Kostgänger, Gesinde und Gäste aus ganz Europa. An den Tischgesprächen waren bis zu 40–50 Personen beteiligt. Mit Hilfe von Dienstpersonal hatte Katharina Luther diese enorme wirtschaftliche und gastfreundschaftliche Herausforderung bewältigen können. Es fällt auf, wie die Meinungen Luthers über Frauen schlechthin und über seine eigene Frau voneinander divergieren. Über Katharina sprach Luther oft mit Respekt, Dankbarkeit und Anerkennung. Katharina war seine Gefährtin nach dem Modell der humanistischen Ehe. Von ihm angeregt, bildete sie sich fort, las seine Schriften und Bibelübersetzungen. Sie dagegen besaß sicherlich Einfluss auf Luthers Anschauungen über die Geschlechterbeziehungen, denn im Laufe ihrer Ehe änderte er die streng androzentrisch patriarchale Auffassung zugunsten einer auf Respekt und Anerkennung gegründeten partnerschaftlichen Geschlechterrelation, ohne allerdings dass er auf die festgelegte Hierarchie von Mann und Frau je verzichtete. In der Gelehrtenkultur, deren Zentrum das lutherische Haus bildete, kam Katharina Luther eine relevante Funktion zu. Anders als bei Melanchthon separierte sich Luther nicht ganz von dem Ehealltag. Katharina konnte die anfängliche Scheu und Zurückhaltung schnell überwinden 39 Weigelt, Katharina von Bora, 26 (siehe Link im Literaturverzeichnis). 40 Ebd.

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und nahm an Tischgesprächen aktiv teil, indem sie mitredete, Fragen stellte und nicht selten Luther widersprach, auch in theologischen Diskusionen. Da sie Latein einigermaßen beherrschte, war die Verwendung der Gelehrtensprache für sie kein großes Hindernis.41 Hatte Katharina Luther selbst keine poetische Proben hinterlassen – und auch von ihren Briefen sind lediglich zwei überliefert –, so lässt sich doch anhand der schriftlichen Zeugnisse anderer ihre Position in der gelehrten Kultur und Kommunikation rekonstruieren. Wie Sabine Kramer, die die Briefkorrespondenz der ersten Generation der Reformatoren aus dieser Perspektive untersuchte, nachweisen konnte, finden sich „in etwa 500 Briefen und mehr als 30 Aktenstücken Aussagen zu Lutherin“42. Die Briefe Luthers an seine Frau lassen auch über ihre An-Briefe verfolgen. Die Eheleute schreiben vor allem über familiäre Angelegenheiten, über Probleme des großen Haushalts, obwohl Katharina eine große Freiheit in diesem Bereich hatte und Luther ihren Kompetenzen vertraute. Katharina trat in der Öffentlichkeit auch als Geschäftsführerin ihres Mannes auf. Er beauftragte sie häufig mit Aufgaben, die die Drucklegung seiner Schriften betrafen. Außerdem musste sie mit den Verlegern verhandeln sowie Luthers Berichte von politischen Verhandlungen, an denen er teilnahm, dessen gelehrten Freunden vermitteln.43 In den Kontext der öffentlichen Kommunikationsräume, in die Katharina Luther Zugang hatte, gehört auch ihre Widmungsschrift an Dorothea, Herzogin von Preußen, die Ehefrau von Herzog Albrecht, der die Lutherin ein schönes mit Goldschnitt geziertes und mit zwanzig Holzschnitten geschmücktes Exemplar des letzten von Luther autorisierten Gesangbuchs – Geistliche Lieder, gedruckt in Leipzig 1545 –, geschenkt hatte. Dieses Buch war Teil der herzoglichen Kammerbibliothek und wird heute in der Universitätsbibliothek im polnischen Torun´ (Thorn) aufbewahrt. Der dortige Bibliothekswissenschaftler, Janusz Tondel, schreibt dazu aus der Autopsie: […] es ist mit einer handgeschriebenen Widmung Katharina Luthers für die Herzogin Dorothea versehen […]. Die Widmung befindet sich auf der Innenseite des Vordeckels. Der Text lautet wie folgt: „meiner gnädigen Frauen Dorothea Hertzogin in Preussen etc. willige Katherina Lutherin.“44

Mithilfe einer genealogischen Verfahrensweise im Humboldt’schen und Foucau’schen Sinne können wir hier von diesem Widmungstext der Lutherin zum Widmungstext von Rosina Gryphius, Gattin von Andreas Gryphius, die als Witwe den Band Himmel Steigende Hertzens Seüfftzer Übersehen und mit newen reimen 41 42 43 44

Luther, Tischreden II. Kramer, Katharina von Bora, 64. Ebd. Tonel, Ein Dedikationsexemplar der Katharina Lutherin, 345.

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gezieret von Andrea Gryphio (1665) der Herzogin Elisabeth Maria von Wittenberg, Teck und Oels, geb. Herzogin zu Münsterberg, gewidmet hatte, einen Bogen spannen. Beide Gelehrtenfrauen, die eine aus dem 16., die andere aus dem 17. Jahrhundert, gründeten damit eine weibliche Kommunikationstradition, indem sie in die Schriftkultur mit Souveränität eintreten, die Werke ihrer gelehrten Männer rekommandieren, und mit ihren Kontakten zu Herrscherinnen zugleich ein Netzwerk der schreibenden, intellektuellen Frauen in der Frühen Neuzeit aufbauen.

Literatur Algadzi, Gadi, „Geistesabwesenheit“. Gelehrte zu Hause um 1500, Historische Anthropologie 13, 2005, H. 3, 325–342. Burghartz, Susanna, Unordnung statt Ordnung? Ehe, Geschlecht und Reformationsgeschichte, in: H. Puff/Ch. Wild (Hg.), Zwischen den Disziplinen? Perspektiven der Frühneuzeitforschung, Göttingen 2003, 165–185. Camerarius, Johann, Das Leben Philipp Melanchthons, V. Werner (Übers.), Leipzig 2010. Classen, Albrecht, Frauen in der deutschen Reformation: Neufunde von Texten und Autorinnen sowie deren Neubewertung, in: P.G. Schmidt (Hg.), Die Frau in der Renaissance, Wiesbaden 1994, 179–201. Fricke, Michael/Heesch, Matthias (Hg.), Der Humanist als Reformator. Über Leben, Werk und Wirkung Philipp Melanchthons, Leipzig 2011. Häfner, Ralf, Das Selbstbild des Gelehrten. Apuleius-Reminiszenzen bei Erasmus von Rotterdam und im Zusammenspiel mit der Übersetzung der laus stultitiae durch Sebastian Franck, in: R. Bogner/R.G. Czapla/R. Seidel/Ch. v. Zimmermann (Hg.), Realität und Herausforderung. Literatur in ihren konkreten historischen Kontexten. Festschrift für Wilhelm Kühlmann, Berlin 2011, 33–47. Hess, Ursula, Die Renaissance. Eine Epoche der Frau in Deutschland, in: G. Brinker-Gabler (Hg.), Deutsche Literatur von Frauen, Bd. 1, München 1988, 113–149. König, Andreas, Melanchthon und die Frauen. „Daß wir sie unterstützen, nicht dass wir sie verachten“, in: M. Fricke/M. Heesch (Hg.), Der Humanist als Reformator. Über Leben, Werk und Wirkung Philipp Melanchthons, Leipzig 2011, 123–160. Kramer, Sabine, Katharina von Bora in den schriftlichen Zeugnissen ihrer Zeit, Leipzig 2015. Lorenz, Dagmar, Vom Kloster zur Kirche: Die Frau vor und nach der Reformation Dr. Martin Luther, in: B. Becker-Cantarino (Hg.), Die Frau von der Reformation zur Romantik, Die Situation der Frau vor dem Hintergrund der Literatur- und Sozialgeschichte, Bonn 1980, 7–36. Luther, Martin, Vom ehelichen Leben, in: M. Luther, Weimarer Lutherausgabe, Bd. 4.1.10.3, Stuttgart 2007, 295f. – Werke, Teil IV: Briefwechsel, Weimar 1930. – Werke. Teil: Tischgespräche II, Weimar 1916. – Werke. Teil: Tischgespräche IV, Weimar 1916.

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– Werke. Teil: Tischreden I, Weimar 1912. – Werke. Teil: Tischreden II, Weimar 1913. – Werke. Teil: Tischreden II, Weimar 1913. – Werke. Teil: Tischreden V, Weimar 1927. Mager, Inge, „Es ist nicht gut, daß der mensch allein sei“ (Gen. 2,18). Zum Familienbild Philipp Melanchthons, Archiv für Reformationsgeschichte 81, 1990, 120–137. Rhein, Stephan, Katharina Melanchthon, geb. Krapp. Ein Wittenberger Frauenschicksal der Reformationszeit, in: S. Oehmig (Hg.), 700 Jahre Wittenberg. Stadt, Universität, Reformation, Weimar 1995, 501–518. Roper, Lyndal, Das fromme Haus. Frauen und Moral in der Reformation, Frankfurt a.M. 1995. Roth, Detlef, An uxor ducenda. Zur Geschichte eines Topos von der Antike bis zur Frühen Neuzeit, in: R. Schnell (Hg.), Geschlechterbeziehungen und Textfunktionen. Studien zu Eheschriften der Frühen Neuzeit, Tübingen 1998, 171–231. Schorn-Schütte, Luise, Das ganze Haus. Evangelische Pfarrhäuser im 16. und 17. Jahrhundert, in: T. Seidel/Ch. Spehr (Hg.), Das evangelische Pfarrhaus. Mythos und Wirklichkeit, Leipzig 2014, 37–49. Tonel, Janusz, Ein Dedikationsexemplar der Katharina Lutherin für die Herzogin Dorothea von Preußen, Archiv für Reformationsgeschichte 78, 1987, 345–349. Westphal, Siegrid, Frauen- und geschlechtergeschichtliche Ansätze als neuer Zugang zur Erforschung von Bekenntnisschriften, Lutherjahrbuch 83, 2016, 211–232. Wiesner, Mery, Nuns, Wives and Mothers: Women and the reformation in Germany, in: S. Marschall (Hg.), Women of Reformation and Counter-Reformation Europe. Public and Private Worlds, Bloomington/Indianapolis 1989, 6–28. Wunder, Heide, „Er ist die Sonn’, sie ist der Mond“. Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992.

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Martin Luthers Auffassung von Weiblichkeit, Körperlichkeit und Sexualität

Zwischen Eva und Maria oder: Von (Dis)Kontinuitäten eines Rollenspiels Im 16. Jahrhundert war das Frauenbild immer noch von den frühmittelalterlichen Vorstellungen der Kirche geprägt, die den Rahmen vorgaben, innerhalb dessen Weiblichkeit und Frauendasein angesiedelt waren. Unter Bezugnahme auf die biblische Überlieferung wurde die Darstellung der Frau in den Zusammenhang von Missachtung des göttlichen Diktums und Keuschheitsideal gestellt: „Entweder war die Frau der Sündhaftigkeit Evas verfallen oder sie strebte danach, der Jungfräulichkeit Marias zu folgen; die eine Werkzeug des Teufels, die andere erstrebenswertes Ideal der Kirche.“1 Dieses Eva-Maria-Paradigma bildete folglich den Ausgangspunkt der gesellschaftlichen Sanktionierung von Frauenverhalten und führte viele Frauen in nachteilige Lebenslagen. Dem etablierten Frauenschema nach genoss die jungfräulich lebende Nonne, deren Stand als höchster und vollkommenster galt, eine Wertschätzung, die von der Ehefrau nicht erreicht werden konnte. Verheiratete Frauen galten im Mittelalter als Menschen zweiter Ordnung; sogar bei kirchlichen Umzügen bekamen sie den Platz am Ende der Prozession zugewiesen. Mit einem Tabu waren menstruierende, schwangere oder stillende Frauen belegt, die in dieser Zeit weder die Kirche besuchen noch an der Kommunion teilnehmen durften: „Nach der Geburt eines Mädchens wurde die Mutter zudem mit einem doppelt so langen Ausschluss vom Besuch der Kirche belegt wie bei der eines Jungen.“2 An diesem Punkt markiert die reformatorische Bewegung eine deutliche Zäsur. Die mittelalterliche Kirchenkritik an der Institution Ehe entmachteten Luther und seine Mitstreiter mit der These, dass die von Gott eingesetzte heilige Ehe die Grundlage des Hauswesens, der öffentlichen Ordnung und der Religion sei, wohingegen Mönche und Nonnen in einem von Menschen erdachten Status 1 Weigelt, „Der Männer Lust und Freude sein“, 7. 2 Domröse, Frauen der Reformationszeit, 145.

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leben und durch sexuelles Verlangen gequält werden.3 Schon lange vor seiner Hochzeit – so Heinz Schilling – hatte Martin Luther Mönchen und Nonnen versichert, dass der Verzicht auf Sexualität dem Menschen übermenschliche Anstrengungen abverlange, die unter vielen Tausenden nur wenige, und zwar mit Gottes Hilfe, aufzubringen vermögen.4 In seiner Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation kritisiert Luther die Verpflichtung zu solcher Lebensform, die keine Ehe, keine Kinder und keinen Sex zulässt, und entblößt ihre Unwirksamkeit, indem er manchen armen „Pfaff[en]“ bedauert, der „mit Weib und Kind überladen sein Gewissen beschwert und dennoch niemand etwas dazu tut, [ihm] zu helfen; obgleich [ihm] sehr wohl zu helfen wäre“5. Seine Kritik an den ZölibatPredigern gipfelt in der Einsicht: „Die den Zölibat befürworten, sollten auch das Scheißen verboten haben.“6 Schilling zufolge steigerte sich Luthers Kritik am Zölibat in dem Maße, in dem er das Ehe- und Familienleben schätzen lernte, denn es entsprach der Radikalität seiner Persönlichkeit, mit jeder neuen Lebensentscheidung die abgelegte alte Form zu vernichten.7 Das von Luther propagierte Ehe-Konzept stärkte das Selbstbewusstsein der verheirateten Frau, weil das Ideal der keuschen Jungfrau durch das der makellosen Ehefrau und vielfacher Mutter ersetzt wurde. In seinen Schriften besteht Luther darauf, die (Ehe)Frau ebenfalls als Geschöpf und Gabe Gottes anzuerkennen, sie in ihrer Würde zu ehren und Gott für dieses Geschenk zu danken: „Ein Weib ist schnell genommen, aber es stets lieb zu haben, das ist schwer und Gottes Gabe. Und wer das hat, der mag unserem Herrgott wohl dafür danken.“8 Allerdings verbesserte sich die soziale und rechtliche Stellung der Frauen damit kaum und dies mag dadurch bedingt sein, dass die Linie der weiblichen Wertschätzung in Luthers Lehre nicht konsequent verfolgt wird und das Lob blitzschnell in Kritik umschlägt bzw. mit kritischen oder sogar frauenfeindlichen Kommentaren einhergeht. Im Folgenden soll auf Luthers Äußerungen über Frauen eingegangen werden, die von Unstimmigkeiten bzw. starken Ambivalenzen geprägt sind und ein Frauen- und Körperbild entstehen lassen, das an der Schnittstelle zwischen Natur und Kultur zu platzieren wäre. Als ‚Natur‘ wird der weibliche Körper als Beleg einer grundlegenden Unterscheidung zwischen Frauen und Männern angerufen und begründet so ontologisch die Geschlechterdifferenz.9 Umso wichtiger ist der in Luthers Schriften verborgene Nachweis, dass diese ‚Natur‘ durch 3 4 5 6 7 8 9

Luther, Tischreden, 101, 105, 109. Vgl. Schilling, Martin Luther, 334. Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation, 57. Luther, Tischreden, 105. Vgl. Schilling, Martin Luther, 335f. Luther, Tischreden, 97. Vgl. Lenz/Mense /Ullrich, Reflexive Körper?, 8.

Martin Luthers Auffassung von Weiblichkeit, Körperlichkeit und Sexualität

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gesellschaftliche Diskurse und Praktiken der Reformationszeit mitgeschaffen bzw. mitbegründet und die Frau als Symbolträgerin von Körperlichkeit und Sexualität etikettiert wird. Anders formuliert, im weiblichen Körper werden Diskurse lebendig, die anscheinend Soziales in Natur verwandeln, um den gesellschaftlichen Status quo aufrechtzuerhalten. Das Anliegen besteht also darin, anhand von Luthers Ausführungen zu veranschaulichen, auf welche Weise Weiblichkeit, Körperlichkeit und Sexualität durch biologische und soziale Prozesse zu einer Gesamtheit zusammengebunden und als Seismograph gesellschaftlicher Ordnung und Abweichung begriffen werden.

Von der Gleichwertigkeit des Ungleichwertigen oder Martin Luthers Auffassung der Geschlechterordnung Obwohl Luther die Gleichwertigkeit von Mann und Frau betont, weil in der Gestalt von Frau und Mann der Mensch zum Bilde Gottes geschaffen sei, neigt er in seinen Reden sichtlich dazu, Gott vornehmlich im Mann zu erkennen, so dass die Annahme der Gleichwertigkeit immer wieder ins Wanken gerät. Man könnte in diesem Zusammenhang die Behauptung wagen, dass nach Luthers geschlechtertheologischer Auffassung beide Geschlechter zwar gottgleich seien, aber Männer irgendwie gottgleicher, eine Tatsache, die wohl im Sündenfall begründet liegt. Das deutliche Hierarchie-Gefälle, nach dem der Mann eindeutig über der Frau steht, sei seiner Meinung nach darauf zurückzuführen, dass bereits Eva einen schwächeren Sinn und Verstand als Adam gehabt hätte. Obwohl Eva genauso wie Adam eine vortreffliche Kreatur und das Bild Gottes sei, so sei sie doch ein Weib und das Weib sei an der Ehre und Würde dem Mann auch nicht gleich.10 Als ein hieb- und stichfester Beweis dafür gilt die Anstiftung des Teufels in Gestalt einer Schlange. Seine Verführung konnte nur bei Eva erfolgreich sein, denn das gleiche Ansinnen hätte bei Adam scheitern müssen, weil „der Satan die menschliche Natur allda angreift, da sie am schwächsten ist, nämlich die weibliche Person, Eva, und nicht den Mann, Adam…“11. Luther ist fest davon überzeugt, dass wenn „der Teufel Adam erstlich hätte versucht und angegriffen, würde Adam gewonnen haben“12. Als Strafe für seine Schwäche und Sünde soll das Weib der Macht des Mannes unterworfen werden und sein Einflussbereich bezieht sich ausschließlich auf das Haus, während außerhäusliche Herrschaft und Regierung allein dem Mann zusteht.13 In Luthers Sicht der Frau wird das Prinzip des sola 10 11 12 13

Vgl. Zimmermann (Hg.), Geist aus Luthers Schriften oder Concordanz der Ansichten, 664. Ebd., 669. Ebd. Vgl. Luther, Tischreden, 110.

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scriptura wirksam, das darin besteht, die Werte und Normen der Zeit kritisch am biblischen Zeugnis zu prüfen und althergebrachte Überlieferungen abzulehnen, wenn sie der Heiligen Schrift widersprechen. Allein, was in der Schrift steht, hat Gültigkeit und gilt als Maßstab für das eigene Urteil und Handeln.14 An die Bibel anzuklopfen, um Gottes Wort herausspringen zu lassen, sieht Luther als den wesentlichen Inhalt seiner theologisch-seelsorgischen Aktivitäten an.15 In Rückprojektion auf die Anfänge der Menschheit entwickelt er anthropologische Grundaussagen sowie sein Verständnis der menschlichen und institutionellen Zuordnung von Mann und Frau wie auch der Beziehung der Geschlechter zueinander.16 Es nimmt also kaum Wunder, dass bei der Wahrnehmung, Ergründung und Beurteilung der Weiblichkeit die Bibel ins Zentrum seiner Bemühungen rückt. Luthers Erörterungen über die Frau und ihren gesellschaftlichen Status stehen vor allem im Zusammenhang mit seiner Apologie der Ehe, die als ein Bereich hervorgehoben wird, in dem die Frau ihre Geltung erlangt. Sowohl die Frau als auch die Ehe seien eine große Anordnung Gottes, „durch welche die ganze Nachkommenschaft vermehrt und weltliches Regiment und Hausstand erhalten werden“17. „Wo wären wir, wenn nicht die Ehe eingesetzt worden wäre?“18, fragt Luther in seinen Tischreden. Obwohl die Ehe für den Reformator vor allem ein weltliches Geschäft ist, in dem die kirchlichen Würdenträger nichts zu bestimmen haben, bezieht er sich hinsichtlich der Geschlechterrollen auf den zweiten Schöpfungsbericht sowie auf Paulus und seine Aussagen im Epheserbrief. Da Gott die Frau aus der Rippe des Menschen schuf und der Mensch so zum Mann wurde, sollen die Männer ihre Frauen wie ihren eigenen Leib lieben. Wer seine Frau liebt, der liebt sich selbst, denn niemand hat je sein eigenes Fleisch gehasst.19 Die Frauen sollen sich dagegen ihren Männern wie dem Herrn unterordnen, weil der Mann das Haupt der Frau ist, wie Christus das Haupt der Gemeinde.20 Das Kreuz in der Ehe ist nach Genesis für die Frau das Kindergebären und für den Mann die Arbeit: Und zur Frau sprach er [Gott der Herr – A.Sz.]: Ich will dir viel Mühsal schaffen, wenn du schwanger wirst; unter Mühen sollst du Kinder gebären. […] Und zum Mann sprach er: Mit Mühsal sollst du dich von ihm [dem Acker – A.Sz.] nähren dein Leben lang. […]

14 15 16 17 18 19

Vgl. Domröse, Frauen der Reformationszeit, 133. Vgl. Kaufmann, Erlöste und Verdammte, 102. Vgl. Globig, Frauenordination im Kontext lutherischer Ekklesiologie, 36. Luther, Tischreden, 95. Ebd. Vgl. Gen 2,21–23; den Brief des Paulus an die Epheser 5,25–29 (Die Bibel. Lutherübersetzung). Luther, Ein Traubüchlein für die einfältigen Pfarrherrn, 77. 20 Vgl. den Brief des Paulus an die Epheser 5,22–23; Luther, Ein Traubüchlein für die einfältigen Pfarrherrn, 77.

Martin Luthers Auffassung von Weiblichkeit, Körperlichkeit und Sexualität

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Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde wirst, davon du genommen bist.21

Die mit dem zweiten Schöpfungsbericht festgeschriebenen Geschlechterrollen, laut denen dem Mann mit der Arbeit die Produktion und der Frau mit dem Gebären von Kindern die Reproduktion zugeschrieben wird, finden ihre ziemlich intensive Entsprechung in Luthers Lehre: „Gott schuf Mann und Frau; die Frau sich zu mehren, den Mann zu nähren und zu wehren.“22 Luther geht sogar einen Schritt weiter und schließt in die Reproduktionsaufgabe auch die für die Frau gefährliche Situation der Geburt eines Kindes mit ein. Da der Tod im Kindbett zu seiner Zeit für Frauen eine häufige Todesursache war, sollen sie sich daran trösten, dass sie durch das Gebären Gottes Willen erfüllen.23 Die Fruchtbarkeit, die ausschließlich durch die Zahl der Kinder bewiesen werden kann, assoziiert Luther mit Gesundheit, Reinheit und Zufriedenheit. Der Gegenentwurf offenbart dagegen eine schwache, ungesunde und somit minderwertige Weiblichkeit. Die Verhütung einer Schwangerschaft zum gesundheitlichen Wohl der Frau kommt nach dieser Auffassung nicht infrage, denn es sei besser, kurz und gesund als lange und ungesund zu leben.24 Luthers Argumentation hinsichtlich der weiblichen Fruchtbarkeit korrespondiert mit seinen Vorstellungen von der Ehe, die, um ihrer göttlichen Aufgabe gerecht zu werden, aus unterschiedlichen Komponenten bestehen müsse: „Folgendes sind die Stücke einer Ehe: Die natürliche Befriedigung des Geschlechtstriebs; Zeugung und Nachkommenschaft; Hausgemeinschaft und gegenseitige Treue.“25 Die Institution der Ehe folgt demzufolge einzig und allein den Linien der fruchtbaren Vermehrung, der Vermeidung von Unkeuschheit und der leiblichen Freude aneinander durch eine bewusst gelebte Sexualität. In seinen Schriften und in der praktischen Seelsorge betont Luther nachdrücklich, dass jeder Mensch seine Sexualität (aus)leben kann und muss – nämlich durch eine rechtzeitige und angemessene Verheiratung.26 Daher richtet er einen dringenden Appell an die männliche Nation, sich ein Weib zu nehmen, wenn der Mann vor Begierde brennt und sein Fleisch in Versuchung gerät.27 Sexualität außerhalb der Ehe betrachtet er als Verstoß gegen die Schöpfungsordnung. Die Ehe ist Teil der weltlichen und der göttlichen Ordnung, Ehebruch dementsprechend eine Sünde sowohl wider Gott als auch wider Land-, Stadt- und Hausregiment. Voreheliche Sexualität vergleicht er dagegen mit der Hurerei und plädiert dafür, sie kirchlich wie staatlich zu bestrafen. Den jungen Männern, die 21 22 23 24 25 26 27

Gen 3,16–19. Luther, Tischreden, 109. Vgl. Domröse, Frauen der Reformationszeit, 135. Vgl. ebd. Luther, Tischreden, 94. Vgl. Schilling, Martin Luther, 334. Vgl. Luther, Tischreden, 94.

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gar nicht in der Lage sind, sich zu verheiraten, empfiehlt er, zu beten und Gott um ein frommes Mädchen für die Ehe zu bitten.28 Schilling sieht in diesem aus heutiger Sicht eher naiven Ratschlag eine Widerspiegelung des Welt- und Menschenbildes des Reformators, das über die existentiellen irdischen Belange hinausweist: Denn Sexualität und Ehe sind für Luther nicht nur Teil der göttlichen Ordnung, sondern auch des eschatologischen Ringens um Gottes Heilsplan. Im Paradies vereinigen sich Mann und Frau ohne Lüsternheit. Durch den Sündenfall aber wurde die Sexualität vergiftet, so dass auf Erden selbst die durch Gott zur Ehe Berufenen darunter leiden. Nur in der Ehe wird das gemildert.29

So gelten Ehe und Sexualität bei Luther als „säkulare Entsprechung der religiösen Gnadenerfahrung und säkulare Manifestation der Freiheit des Christenmenschen“30. Beides basiert auf der ewigen Treue Gottes zu den Menschen, die demzufolge in der ehelichen Beziehung von den Eheleuten einander gegenüber nicht aufgekündigt werden sollte. In der Frage der ehelichen Treue zeigt sich Luther jedoch bereit, Zugeständnisse an den Mann zu machen. Wenn Frauen sich wegen der Gefahr für ihr Leben durch häufige Schwangerschaft weigern, den Beischlaf zu vollziehen und ihre Männer aus diesem Grund in Unkeuschheit fallen, wird dem männlichen Geschlecht die Absolution erteilt und zwar nach dem Prinzip: „Willst du nicht, so will eine andere, will die Ehefrau nicht, dann komme die Magd.“31 Obwohl Luthers Schriften allgemein durch eine frauenbezogene Ambivalenz geprägt sind, tritt die Widersprüchlichkeit in seinen Äußerungen über Frauen insbesondere in den Tischreden zum Ausdruck. So behauptet Luther einerseits, dass im Weibe viele Güter zu finden sind: „[D]er Segen des Herrn, Nachkommenschaft, Gütergemeinschaft, lauter so große Güter, daß sie einen Menschen mit Wohltaten überhäufen können“.32 Seine Anerkennung von Frauen und ihren Qualitäten gipfelt in der Frage, was wäre, wenn das weibliche Geschlecht nicht vorhanden wäre. Die Antwort bleibt nicht aus: Es bricht zusammen das Hauswesen und alles, was zur Wirtschaft gehört, es brechen zusammen die Staaten und Gemeinwesen. Darum kann die Welt der Weiber nicht entraten, selbst wenn die Männer aus eigener Kraft Kinder erzeugen könnten.33

Andererseits aber zieht Luther mentale und territoriale Grenzen für Frauen, indem er dem weiblichen Geschlecht den Mangel an „Stärke und Kräften des

28 29 30 31 32 33

Vgl. Schilling, Martin Luther, 334. Ebd., 334f. Ebd., 335. Luther, Vom ehelichen Leben, 283. Luther, Tischreden, 94. Ebd.

Martin Luthers Auffassung von Weiblichkeit, Körperlichkeit und Sexualität

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Leibes und am Verstande“34 unterstellt und es aus diesem Grund zum Dienst im Haushalt verpflichtet. Er zieht sogar eine Verbindungslinie zwischen dem Körperbau und den zu erfüllenden gesellschaftlichen Rollen, die er als Ordnung Gottes festschreibt und dafür plädiert, diese gottorientierte Geschlechterpolitik nicht nur zu akzeptieren, sondern sie auch hingebungsvoll zu praktizieren: Männer haben eine breite Brust und kleine Hüften, darum haben sie auch mehr Verstand denn die Weiber, welche enge Brüste haben und breite Hüften und Gesäß, da sie sollen daheim bleiben. Im Haus sitzen, haushalten, Kinder tragen und ziehen.35

In Luthers Ausführungen zeichnet sich ein Differenzkonzept ab, dass den Frauen- und Männerkörper nicht als zwei Varianten des Gleichen versteht, das Gott nach seinem Bilde als Mann und Frau schuf, sondern sie als essentiell verschieden und einander entgegengesetzt begreift. Dementsprechend wird ein biologischer Frauenkörper von einem biologischen Männerkörper unterschieden und die soziale Benachteiligung von Frauen in Übereinstimmung mit dem naturrechtlichen Gleichheitspostulat gebracht: Die biologische Gegensätzlichkeit von Frauen- und Männerkörper sollte die Legitimität ihrer ungleichen Positionierung beglaubigen. Der Frauenkörper fungiert in diesem Prozess der asymmetrischen Regulierung als Geschlechtskörper, der hinsichtlich der Reproduktionsaufgabe besondere Betrachtung, Erwähnung und Behandlung erfährt. Geprägt von suggestiven Frauendarstellungen in der Bibel ordnet Luther den weiblichen Körper in ein Pauschalraster ein, das Handlungsräume absteckt und das Verhältnis zwischen dem Erlaubten und Verpönten festlegt. Ein rollenuntypisches (Körper)Verhalten ist in dieser Perspektive nicht mal im Ausnahmefall erlaubt und Frauen, die sich als „Lob der Fruchtbarkeit“36 an dieses gesellschaftliche Wahrnehmungs- und Handlungsschema nicht halten, richten nur Unheil an und Gott bestrafft ihre Auffälligkeit an ihrem Ruf und Körper.37 In Luthers frauen- und körperbezogenen Überlegungen ist implizit angelegt, was die britische Sozialanthropologin Mary Douglas in ihrer Studie Ritual, Tabu und Körpersymbolik explizit thematisiert. Sie begreift den Körper als ein natürliches Symbol, das in einen gesellschaftlich-kulturellen Kontext eingebunden ist und auf natürliche Weise soziale Strukturen und Situationen zum Ausdruck zu bringen vermag. Wie der Körper als gesellschaftliches Symbol genutzt bzw. zu einem solchen „gemacht“ wird, hängt von der jeweiligen Gesellschaft ab. Relevant ist hierfür die Beziehung zwischen dem Sozialsystem, das durch die Gesellschaft bzw. Kultur repräsentiert wird, und dem Symbolsystem, das sich im

34 35 36 37

Ebd., 93. Ebd., 92. Ebd., 106. Ebd., 108.

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Körper als Ausdrucksmedium manifestiert. Der Körper als soziales Gebilde steuert nämlich die Art und Weise, wie der Körper als physisches Gebilde wahrgenommen wird; und andererseits wird in der (durch soziale Kategorien modifizierten) physischen Wahrnehmung des Körpers eine bestimmte Gesellschaftsauffassung manifest. Zwischen dem sozialen und dem physischen Körpererlebnis findet ein ständiger Austausch von Bedeutungsgehalten statt, bei dem sich die Kategorien beider wechselseitig stärken.38

Der Körper als soziales Gebilde impliziert religiöse und politische Ideologien, Weltbilder, Wert- und Moralmaßstäbe sowie Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, die in einer Gesellschaft/Kultur in Umlauf sind. Sie prägen die Wahrnehmung und Bewertung des eigenen und fremden Körpers dermaßen, dass eine natürliche Auffassung vom und Einstellung zum Körper aufgrund der Eingebundenheit des Menschen in kulturspezifische Wissens- und Wertesysteme kaum möglich ist.39 Der Befund, dass zwischen Luthers Körper- und Gesellschaftsvorstellungen seiner Zeit ein Konnex besteht, wird in seinen Tischreden bestätigt, in denen der Reformator sich erstaunlich häufig zu sexuellen Fragen äußert und dabei über einzelne Teile des Frauenkörpers, unter anderem über den Busen und seine Funktionen reflektiert. So habe Gott der Frau die Brüste dazu gegeben, damit sie ihre Kinder stillt: Brüste sind eines Weibes Schmuck, wenn sie ihre Proportionen haben; große und fleischliche sind nicht am besten, stehen auch nicht sonderlich wohl, verheißen viel und geben wenig. Aber Brüste, die voller Adern und Nerven sind, auch wenn sie klein, stehen wohl auch an kleinen Weibern, haben viel Milch, damit sie viele Kinder stillen können.40

Obwohl Luther bemüht ist, weibliche Brüste auf ihre Beschaffenheit hin zu beleuchten und sie implizit als Quelle erotischer Faszination und einen naturgegebenen Hauptfokus männlicher Aufmerksamkeit anerkennt, werden sie in erster Linie aufgrund ihrer Fähigkeit zum Stillen bzw. ihrer Dysfunktionalität markiert, wenn sie diese Aufgabe nicht erfüllen können. Sie gelten vielmehr als Barometer generativer Kapazitäten von Frauen, die Luther allein an der Brustform und Bruststruktur abzulesen vermag. So zieht er kleine, aderige und mit Nerven durchzogene Brüste dem üppigen Busen vor, der zwar die männliche Vorstellungskraft in Bewegung setzt, sich aber hinsichtlich seiner sexuellen und naturbedingten Aufgabe als ineffizient erweist. Die Übermenge von Fettgewebe macht nämlich die weibliche Brust nicht nur unempfindlich gegen äußere Reize, sondern sie beeinträchtigt vielmehr die Quantität und Qualität der Muttermilch. Kleine Brüste stellen hingegen, sowohl auf individueller als auch gesellschaftli38 Douglas, Ritual, Tabu und Körpersymbolik, 99. 39 Vgl. ebd. 40 Ebd.

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cher Ebene, ein besonderes Attraktivum dar, weil sie erstens „sonderlich wohl stehen“ und zweitens mehr Milch produzieren. Sie besitzen somit Qualitäten, die ihre Besitzerin in der gesellschaftlichen Hierarchie höher einstufen lassen als den Gegenentwurf mit gut ausgeprägten Körperrundungen. Betrachtet man allein die überlieferten Sprüche aus den Tischreden mit Blick auf Luthers Äußerungen über Frauen, so fällt auf, dass nicht die universelle Kategorie ‚Frau‘ mit ihren Bedürfnissen, Attributen und Ambivalenzen oder anders gesagt, nicht die Frau als Person und Persönlichkeit im Vordergrund steht, sondern die Reproduktion als ihre ‚natürliche‘ Aufgabe innerhalb der Geschlechter- und Gesellschaftsordnung. Der Körper der Frau wird dementsprechend mit (an Fortpflanzung orientierter) Sexualität gleichgesetzt, qualifiziert, disqualifiziert und schließlich in organische Verbindung mit dem Gesellschaftskörper gebracht, dessen Fruchtbarkeit er regeln und gewährleisten muss. Der Raum der Familie, den er als substantielles und funktionelles Element mittragen muss und das Leben der Kinder, das er hervorbringt und dank einer biologisch-moralischen Verantwortung schützen muss, gelten dementsprechend als weibliche Zuständigkeitsbereiche, die zu den männlich konnotierten komplementär sind und diese funktional ergänzen.41 In Luthers Körpervorstellungen wird der Diskurs um den Körper als abgeschlossenen Behälter dominant. Die Gefäß- und Behältermetapher taucht in seiner Vorstellung von Frauen als Samen empfangende und Kinder austragende Wesen auf.42 Er begreift somit den Frauenkörper als Gattungskörper, der Frauen in erster Linie auf die Fähigkeit des Gebärenkönnens und Gebärenmüssens festlegt und ihren Körper als Gefäß für das potenzielle oder reale Kind entwirft.43 Dementsprechend behauptet Luther auch, dass Gott Weiber gerade dazu besonders geschaffen habe, dass sie Kinder tragen und der Männer Lust und Freude sein sollen.44 Der in Luthers Schriften gezeichnete Frauenkörper symbolisiert soziale Rollenmuster, Geschlechterverhältnisse sowie Macht- und Ungleichheitsstrukturen, die dafür sorgen, dass die Bedürfnisse des (weiblichen) Körpers den gesellschaftlichen Bedürfnissen untergeordnet bleiben. In diesem Anordnungsprozess kann die Bedeutung räumlicher Strukturen nicht unberücksichtigt bleiben, die nicht nur soziale Hierarchien versinnbildlichen, sondern vielmehr die Zustimmung zu Ein- und Ausschlüssen sichern und das (eigene) Handeln habitualisieren. Das von Luther entworfene Frauenbild stellt den weiblichen Körper als ein Mittel dar, mit dessen Hilfe Frauen nicht nur definiert und bewertet, sondern vielmehr positioniert werden. Luther sieht die Frau ausschließlich für den 41 42 43 44

Vgl. Foucault, Der Wille zum Wissen, 126. Vgl. Löw, Raumsoziologie, 117. Vgl. ebd., 120. Vgl. Luther, Tischreden, 109.

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Hausstand zuständig, den Mann dagegen für das öffentliche Leben, für Kriegsund Rechtsgeschäfte.45 Luthers geschlechtsspezifische Territorialisierung der weiblichen (und männlichen) Kultur wird mit Bedeutungszuweisungen und Bewertungen vervollständigt, mit denen Macht- und Besitzverhältnisse geregelt und soziale Handlungsgrenzen abgesteckt werden. Während das Haus für den Mann einen temporären Ruheort bedeutet, von dem aus er zu öffentlichen Räumen der Bewährung und Bestätigung aufbricht, stellt es für die Frau einen ihrer sozialen Rolle angemessenen Standort dar, dessen Grenzen sie nur selten überschreiten darf.46 Die Festlegung der Frau auf den Innenraum des Hauses und die Familie wird mit intellektuellen Defiziten untermauert und bringt auch kommunikative Grenzziehungen mit sich. So soll die Frau, die im Haushalt regiert, nur hausinterne Themen ansprechen, weil sie sich ausschließlich in dieser Materie auskenne. Wenn sie sich aber an öffentliche Fragen heranwage, sei das wirr und unpassend.47 Luther wünscht den Frauen sogar den Mangel an Verstand, denn „es ist kein Rock noch Kleid, das einer Frau oder Jungfrau übler ansteht, als wenn sie klug sein will“48. Mit anderen Worten, geistige und intellektuelle Fähigkeiten widersprechen der weiblichen Natur und selbst der Versuch, sich klug anzustellen, wirkt sich negativ auf die Attraktivität der Frau aus und schmälert erheblich ihren ,Marktwert‘. Mit einer solchen Argumentationslinie wird der Ausschluss der Frau von der Leitung im politischen Regiment und in der Kirche legitimiert und ihre Leitung im dritten Stand, im Haushalt, bekräftigt. Während zumindest in den Städten des Hochmittelalters – so Sonja Domröse – Frauen in der Stellung selbstständiger Zunftmitglieder nachzuweisen sind, so findet nach der Einführung der Reformation das Modell der selbstständigen weiblichen Existenz, einer Handwerkerswitwe beispielsweise, keine Akzeptanz mehr. Frauen sollten sich nämlich schnell wieder verheiraten oder anders gesagt, sich wieder einem Mann unterordnen.49 Das von Luther propagierte Prinzip, „Gott schuf Mann und Frau; die Frau sich zu mehren, den Mann zu nähren und zu wehren“50 sowie die daran gekoppelte räumlich-kommunikative Territorialisierung im Rahmen der Geschlechterordnung scheint jedoch in seinem Haus nur bedingt Geltung erlangt zu haben. Da Luther von Gelddingen gar nichts versteht und – von morgens bis abends eingespannt – sich um die Angelegenheiten von Haus und Familie nicht kümmern kann, nimmt er es dankbar als Fügung Gottes an, dass seine Frau Katharina Abhilfe schafft und ihm damit die Verantwortung für die materiellen Belange der 45 46 47 48 49 50

Vgl. ebd., 110. Vgl. Würzbach, Raumdarstellung, 53. Vgl. Luther, Tischreden, 110. Ebd., 92. Domröse, Frauen der Reformationszeit, 147. Luther, Tischreden, 109.

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Familie abnimmt.51 So lässt er seine Frau nicht nur die alltägliche Versorgung von Familie und Tischgästen meistern, sondern auch den Betrieb der Studentenburse und den Erwerb von Immobilien oder die Pacht von Grund und Boden. Dank des hausfraulichen Geschicks und der ökonomischen Fähigkeiten seiner Frau – so Schilling – zählt Luthers Haushalt schließlich zu den wohlhabendsten der Stadt. Auf dieser Grundlage können die Eheleute im ehemaligen Augustinerkloster ein „großes Haus“ führen, das allen wesentlichen Funktionen des gesellschaftlichen Lebens dient. Nach heutigen Kriterien gilt Luthers Haus als privat und öffentlich zugleich – privat, insofern es die Versorgung der Familie sicher stellt, öffentlich, insofern es dem Lehr- und Studienbetrieb dient. Eine solche Funktionalisierung verleiht ihm auch und nicht zuletzt den Status eines Wirtschaftsbetriebs, eines Unternehmens, das auf Erwirtschaftung eines finanziellen Überschusses angelegt ist.52 Im Laufe der Jahre steigt Katharina zu einer verlässlichen Stütze auch der reformatorischen Arbeit selbst, in gewisser Hinsicht zu einer „Mitarbeiterin“ Luthers auf, die nicht nur die Bibel studiert, sondern auch mit theologischen und kirchenpolitischen Problemen vertraut gemacht wird sowie Luthers Ansichten und Einstellungen beeinflusst.53 Obwohl Luther sich gerne auf ihr Können, ihre Umsicht, ihren Fleiß und ihre geistigen und intellektuellen Fähigkeiten verlässt und seiner Frau Respekt zollt, werden ihrer ‚Herrschaft‘ – wenigstens in schriftlich überlieferter Form – deutliche Grenzen gesetzt: „Ich gestehe ihr zwar gern die ganze Herrschaft im Hauswesen zu, aber ich will mein Recht auch unverletzt und uneingeschränkt haben, und Weiberregiment hat nie etwas Gutes ausgerichtet.“54 Während Luther in seinem Privatleben bereit ist, traditionelle Rollen von Mann und Frau aufzulösen und geschlechtsdemokratische Handlungsmuster einzuführen, so besteht er in der Öffentlichkeit beharrlich darauf, die bestehende Ordnung mir der männlichen Vormachtstellung zu erhalten und die Frau in der Gemeinde schweigen zu lassen. Er selber nimmt aber die hegemoniale Position innerhalb der Geschlechterordnung nie ein. Ganz im Gegenteil, er scheint das Weiberregiment zu genießen und erleichtert zu sein, von seinem männlichen Programm abweichen und sich ausschließlich auf seine theologischen Aktivitäten konzentrieren zu können. Die Leistungen seiner Frau, die ihm all dies erst ermöglichen, finden allerdings keine achtbare Dokumentation, die Katharinas Abweichung von dem üblichen Frauenbild der Zeit eindeutig würdigen und die vorherrschenden Konstellationen im Geschlechterverhältnis infrage stellen könnte.

51 52 53 54

Vgl. Schilling, Martin Luther, 340. Vgl. ebd., 342. Vgl. ebd., 345f. Aland (Hg.), Luther Deutsch, 278.

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Luthers (Haus)Frauen als ,Prägefaktor‘ oder Von Schwankungen und Widersprüchlichkeiten – Fazit Betrachtet man Luthers Schriften mit Blick auf seine Äußerungen über Frauen, dann könnte man dazu geneigt sein, ihn als frauenfeindlich bzw. frauenkritisch einzustufen. Schaut man sich aber den Reformator in seiner privaten Korrespondenz an, dann wird man mit einem Luther konfrontiert, der – dem herrschenden Trend zum Trotz – mit einer Wertschätzung der Frau überrascht und den bislang skizzierten Äußerungen und Argumenten widerspricht. In den erhaltenen Briefen an Frauen, die kein Bedürfnis nach gesellschaftlicher Konformität verspürten und mit ihrem Verhalten aus dem Spiegelbild traten (wie etwa Katharina von Bora oder Argula von Grumbach, um nur einige wenige zu nennen), stößt man auf keinen Kommentar, der ihren Versuch, sich einen Platz in der Gesellschaft zu erobern, verpönen oder ihn als unpassend einstufen würde. In seiner Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation setzt sich Luther zudem für die Bildung von Mädchen ein, indem er fordert, christliche Schulen aufzurichten, „darinnen täglich die Mägdlein eine Stunde das Evangelium hörten, es wäre deutsch oder lateinisch“55. Die positiven Ansätze Luthers zu einer Würdigung von Frauen und ihren Leistungen werden jedoch von zahlreichen Dokumentationen gedämpft, die deutlich machen, dass Lob und Achtung für Frauen ein Verfallsdatum haben. Diese Widersprüchlichkeit ist besonders in den Tischreden zu registrieren. Versucht man, der starken Diskrepanz in der Bewertung von Frauen auf den Grund zu gehen, so ergeben sich wenigstens zwei Deutungsperspektiven von Luthers Inkonsequenz. Die erste Deutungsvariante geht auf Kurt Aland zurück, der in der Einführung zu Werken von Martin Luther in neuer Auswahl für die Gegenwart darauf verweist, dass die Tischreden nur die letzten fünfzehn Jahre aus Luthers Leben umfassen. In ihnen gelangt also nicht der Mönch zu Wort, der um die Erkenntnis ringt, nicht der junge Professor, der die Schrift durchmisst und ihre Tiefe und ihren Sinn zu ergründen sucht, auch nicht der Luther der Sturmjahre der Reformation, sondern der „alte“ Luther.56 Die Tischreden stammen also aus der Zeit, die durch einen ausschweifenden Lebenswandel des Reformators gekennzeichnet war. Während der junge Luther viele Schriften gegen Völlerei und andere Laster verfasst hatte, neigte der alte selbst zu Fettleibigkeit und Trunkenheit. Da es sich bei den Tischgesprächen um eine Situation handelt, in der man in geselliger Runde bei gutem Essen und Alkohol diverse Themen eher spontan anspricht, ist davon auszugehen, dass der dem Alkohol nicht abgeneigte Luther seine Gedanken an manchen Stellen nicht nur unkontrolliert in Worte 55 Luther, An den christlichen Adel deutsche Nation, 89. 56 Vgl. Aland, Einführung, 9.

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fasste, sondern sie auch bald vergaß. Nicht zu vergessen ist auch die Tatsache, dass Luthers Erörterungen nicht von ihm selbst, sondern von seinen Schülern schriftlich fixiert wurden und somit einer (un)willkürlichen Aus- und Hineindeutung anheimfallen konnten. Die zweite Deutungsperspektive bezieht sich hingegen auf zwei Frauen, die Luthers Leben nachhaltig prägten und nicht unterschiedlicher hätten sein können. Es ist einerseits seine Ehefrau Katharina, die mit ihrer Klugheit, Selbstständigkeit, Kritikkompetenz und mit ihren Ansprüchen an das Leben nicht ganz in das konservative Frauenbild ihrer Zeit passte, aber als Ehefrau allen Erwartungen ihres Mannes gerecht geworden sein dürfte, und zwar in dem Maße, dass Luthers Wohlergehen von dem seiner Frau und seiner Familie abhing. Den Gegenentwurf stellt die Mutter des Reformators dar, die – der traditionell vorgegebenen Rolle als Kinds- und Hausmutter verhaftet – nie daran gedacht hatte, sich mit einem subversiven Verhalten über die gesellschaftliche Konvention hinwegzusetzen. Das Verhältnis zwischen Luther und seiner Mutter, einer strengen Frau, die ihre Kinder auch wegen kleiner Verfehlungen hart bestrafte, schien nicht ungetrübt gewesen zu sein: „Während ihm der Vater um seiner Herzlichkeit und Güte willen wohl sehr nahe stand […], begegnete er der Mutter mit Zurückhaltung.“57 Die Luther-Forschung lässt in der erhaltenen Dokumentation eine freundliche, warme Erwähnung seiner Mutter vermissen, und es ist daraus zu schließen, dass das tröstende Bild der Mutterliebe, die die meisten Menschen durchs Leben begleitet, dem Reformator versagt geblieben ist.58 Dass die positiven Aussagen über die Frau in Luthers Schrifttum in einem festen Zusammenhang mit seiner Ehefrau stehen und eine problematische Beziehung zur Mutter das negative Frauenbild mitbestimmt haben sollte, ist durchaus denkbar, aber als Forschungsthese nicht unbedingt haltbar. Allein schon deshalb, weil die erhaltenen Zeugnisse, die das Mutter-Sohn-Verhältnis betreffen, so spärlich sind, dass man über das frauenbezogene Hin-und-her-Schwanken des Reformators nur spekulieren kann.

Literatur Aland, Kurt (Hg.), Luther Deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart. Tischreden. Nach den ursprünglichen Nachschriften in sachlicher Gliederung, Bd. 9, Göttingen 1983.

57 Weigelt, „Der Männer Lust und Freude sein“, 20. 58 Vgl. ebd.

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– Einführung, in: K. Aland (Hg.), Luther Deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart. Tischreden. Nach den ursprünglichen Nachschriften in sachlicher Gliederung, Bd. 9, Göttingen 1983, 7–10. Die Bibel. Lutherübersetzung. Bibeltext in der revidierten Fassung von 2017, Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.). Domröse, Sonja, Frauen der Reformationszeit, Göttingen 2014. Douglas, Mary, Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologischen Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur, Frankfurt a.M. 1993. Foucault, Michel, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Frankfurt a.M. 1977. Globig, Christine, Frauenordination im Kontext lutherischer Ekklesiologie, Göttingen 1994. Kaufmann, Thomas, Erlöste und Verdammte. Eine Geschichte der Reformation, München 2017. Lenz, Ilse/Mense, Lisa/Ullrich, Charlotte, Reflexive Körper? Zur Modernisierung von Sexualität und Reproduktion: Einleitung, in: I. Lenz/L. Mense/Ch. Ullrich (Hg.), Reflexive Körper? Zur Modernisierung von Sexualität und Reproduktion, Wiesbaden 2005, 7–15. Löw, Martina, Raumsoziologie, Frankfurt a.M. 2015. Luther, Martin, An den christlichen Adel deutscher Nation, in: M. Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation/Von der Freiheit eines Christenmenschen/Sendbrief vom Dolmetschen, E. Kähler (Hg.), Stuttgart 2012, 5–101. – Ein Traubüchlein für die einfältigen Pfarrherrn, in: K. Aland (Hg.), Martin Luther: Luther deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart, Bd. 1– 10, Göttingen 1991, 74–80. – Tischreden. Vom Einfachen und Erhabenen, T. Walldorf (Hg.), Wiesbaden 2017. – Vom ehelichen Leben, in: K. Aland (Hg.), Martin Luther: Luther deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart, Bd. 1–10, Göttingen 1991, 275–304. Schilling, Heinz, Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs, München 2017. Weigelt, Silvia, „Der Männer Lust und Freude sein“. Frauen um Luther, Weimar/Eisenach 2011. Würzbach, Natascha, Raumdarstellung, in: V. Nünning/A. Nünning (Hg.), Erzähltextanalyse und Gender Studies, Stuttgart 2004, 49–71. Zimmermann, Ernst, Geist aus Luthers Schriften oder Concordanz der Ansichten und Urtheile des großen Reformators über die wichtigsten Gegenstände des Glaubens, der Wissenschaft und des Lebens, Bd. 4, Darmstadt 1831.

V. Noten zu einer Reformation der Sprache

Michail L. Kotin

Luthers deutsches Sprachschaffen und Sprachwandel in der binnendeutschen Standardvarietät

Historische und sprachhistorische Kulissen Ungeachtet unterschiedlicher Akzentsetzung in der Diskussion um Martin Luthers Beitrag zur Herausbildung der binnendeutschen Standardvarietät gilt heute als eine opinio communis, dass Luther, wenn nicht der Schöpfer des Standarddeutschen gewesen ist, so doch eine sehr wichtige Rolle im Prozess seiner Etablierung gespielt hat.1 Worin diese Rolle allerdings primär liegt, ist bis heute umstritten. So stellt Wilhelm Schmidt – wohl zurecht – fest, Luther sei weder im Bereich des Wortschatzes oder der Syntax noch im Bereich der Wortbildung überdurchschnittlich innovativ gewesen; seine Hauptleistung liege vielmehr darin, dass er den indigenen Verknüpfungsregeln in Wortbildung, Satz- und Textsyntax vor allem durch ihre konsequente Anwendung an die Bibelübersetzung eine außerordentliche normative Kraft verleihen konnte.2 Andererseits habe sich Luther in eine Tradition eingeschrieben, welche lange vor der Reformation, u. a. in der sprachschöpferischen Tätigkeit der Mystiker existierte.3 Gerade der Einfluss der katholischen Mystik auf Luthers Sprachschaffen ist in der Forschung neulich besonders stark thematisiert und favorisiert worden. Volker Leppin bezeichnet Luthers Werk eben wegen des seiner Meinung nach entscheidenden Einflusses mystischer katholischer Denkweisen als „fremde Reformation“4. Historisch und zum Teil auch sprachlich lässt sich dies relativ gut belegen. Nach Luthers Eintritt in den Augustinerorden war es vor allem sein Beichtvater Johann von Staupitz, der ihn mit der spätmittelalterlichen Mystik vertraut machte. Noch Jahrzehnte später erinnert sich Luther: „Staupicius hat die

1 Vgl. Arndt, Luthers deutsches Sprachschaffen; Schmidt, Geschichte der deutschen Sprache, 106–109; Knott /Brovot/Blumenbach, Denn wir haben Deutsch; Beutel, In dem Anfang war das Wort. 2 Vgl. Schmidt, Geschichte der deutschen Sprache, 108f. 3 Vgl. ebd., 105. 4 Vgl. Leppin, Die fremde Reformation.

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doctrinam angefangen“5. Staupitz hat Luther mit den Schriften von Johannes Tauler vertraut gemacht und ließ ihn auf diese Weise mittelbar am Gedankengut von Meister Eckhart teilhaben, war ja der Letztere unbestritten in vielerlei Hinsicht ein Vorbild für Tauler gewesen. Zu Taulers Predigten schrieb Luther 1516 in einem Brief an Georg Spalatin, einem der engsten Vertrauten Friedrichs des Weisen, dass er bisher „weder in der lateinischen noch in unserer Sprache eine heilvollere und mehr mit dem Evangelium übereinstimmende Theologie gefunden“ habe.6 Ferner sei ein aus dem 14. Jahrhundert stammender Traktat erwähnt, der dem späteren Reformator ebenfalls von Staupitz nahegebracht wurde und dem Luther selbst den vielsagenden Titel Theologia deutsch gegeben hat.7 Die Affinität Luthers und generell der deutschen Reformationsbewegung des 16. Jahrhunderts zur katholischen Mystik bedarf einer eingehenden Untersuchung, die bis heute noch aussteht. Ihre bloße Feststellung reicht lange nicht aus, um deren Gründe und deren Wirkungskraft zu bewerten. Frage ist, wieso diese höchste Wertschätzung der Leistung der Mystiker durch Luther mit seiner heftigsten Kritik am Katholizismus einhergehen konnte. Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive kann ebenfalls gefragt werden, wieso Luther, der sonst die Behandlung der Bibeltexte durch zeitgenössische katholische Geistliche wie Hieronymus Emser oder Johannes Eck schlechthin zurückweist, einen katholischen Traktat aus dem 14. Jahrhundert als Theologia deutsch bezeichnet und äußerst hochschätzt. Freilich haben hierbei mehrere Faktoren gewirkt. Eines der wichtigsten ist meines Erachtens eine seit mehreren Jahrhunderten bestehende, wenn auch nicht immer explizit geführte, interne „Diskussion“ zwischen der scholastischen und der mystischen Denkweise innerhalb des Katholizismus, die eine ganze Palette von konzeptuellen und sprachlichen Phänomenen umfasste und auch in sich selbst weitaus nicht konsistent und homogen war. Daher ist es äußerst schwierig, die für Luthers Werk relevanten Aspekte dieser bereits vorlutherisch fest etablierten Diskrepanzen im westeuropäischen theologischen Diskurs des hohen und späten Mittelalters zu ermitteln und adäquat zu beschreiben. Betont werden soll hier allerdings, dass dieser konzeptuelle Gegensatz von Mystik und Dogmatik – zumindest in derart zugespitzter Form – lediglich dem westlichen Zweig des Christentums eigen war. Die in der orthodoxen Ostkirche geführte Diskussion wurde dagegen, wenngleich ebenfalls intensiv, so doch prinzipiell anders geführt: Mystik wurde dabei nie der Dogmatik gegenübergestellt, sondern war stets deren integrativer Bestandteil, was unter anderem der 5 Luther, Tischreden, Bd. 1, 245. 6 Zitiert nach: Leppin, Die fremde Reformation, 38. 7 Vgl. ebd.

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russische Theologe und Kirchenhistoriker des 20. Jahrhunderts Vladimir N. Losskij in seinem Buch Abriss der mystischen Theologie der Ostkirche. Dogmatische Theologie explizit hervorgehoben hat.8 Die mystischen Erfahrungen der Kirchenväter und anderer Heiliggesprochener, vor allem aber die mystischen Wurzeln der Offenbarung, wurden nämlich als Orientierung für dogmatische Urteile angesehen, welche sich somit unmittelbar aus den letzteren ergaben und sich darin legitimiert sahen. In der westlichen Kirche stand Mystik dagegen eher in Opposition zur Dogmatik und wurde weitgehend als eine Art Herausforderung an diese letztere gehandhabt, welche sich vor allem rational-scholastisch definierte. Indem also Luther an die mystische Tradition anknüpft, gerät er nolens volens in die mehr oder minder „oppositionelle“ Strömung. Dies geschieht offensichtlich noch lange bevor er durch seine 95 Thesen und darauf folgendes Werk eine entscheidende Kehrtwende in der westeuropäischen christlichen Denk- und Handlungsweise verursacht. Eine im Allgemeinen sehr positiv gefärbte Rezeption des Nachlasses der katholischen Mystik durch Luther und – mittelbar – durch seine Nachfolger, Vor- bzw. Frühpietisten (Johann Arndt) und Pietisten (Gerhard Tersteegen, Valentin Weigel, Philipp Jacob Spener etc.), hat mehrere Gründe. Aus theologischer Sicht wurden diese Werke zum Angelpunkt für die Anknüpfung an eine zwar intern katholische, dabei aber offenkundig vom damaligen religiösen „Mainstream“ deutlich abweichende Haltung. Dies schuf eine wie auch immer zu verstehende Tradition des nicht scholastisch geprägten religiösen Diskurses. Man muss bedenken, dass der Protestantismus damals grundsätzlich anders situiert war als dies aus der heutigen Perspektive erscheinen mag. Eine Berufung auf Tradition im Sinn einer weit verstandenen Überlieferung war Anfang des 16. Jahrhunderts eine unveräußerliche Voraussetzung, damit das Gepredigte überhaupt hätte ernst genommen werden können, denn eine eigene „protestantisch-reformatorische“ Tradition existierte verständlicherweise noch nicht, und Traditionslosigkeit wäre damals selbst von den radikalsten Freidenkern als Ketzerei empfunden. Nicht umsonst unterstreicht Luther selbst – insbesondere am Anfang seiner Predigt – seine innigste Verbundenheit mit der katholischen Kirche. Doch das Vorhandensein zum Teil sehr diverser, ja kontroverser Denkrichtungen innerhalb der katholischen Kirche selbst erlaubte ihm und seinen Mitstreitern, potentiell eine relativ weite Palette an Ansätzen und Herangehensweisen zu nutzen. Hinzu kommt das für diese Abhandlung wichtigere – sprachliche – Moment. Es waren gerade die Mystiker und nicht die Scholastiker, die in ihren Werken deutsches Wortgut nutzten und durch Neubildungen nach deutschen Wortbildungsmustern wesentlich erweiterten. Angefangen mit David von Augsburg und Mechthild von Magdeburg bis Meister Eckhart, Johannes 8 Vgl. Losskij, Ocˇerk misticˇeskogo bogoslovija Vostocˇnoj Cerkvi.

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Tauler, Heinrich Seuse u. a. ging dieser Prozess unaufhaltsam vonstatten. Luther, der sich von vornherein für eine volkssprachennahe Verdeutschung der Bibeltexte und eine umfassende Nutzung der deutschen Sprache im Kirchenleben faszinierte, konnte nicht umhin, diese Tendenz aufzunehmen und fortzusetzen. Freilich unterschied sich seine Sprache im Endeffekt wesentlich von den oft nur von Mystikern für Mystiker geprägten Redeweisen, aber er verstand es exzellent, gerade die für den „gemeinen Mann“ geeigneten Sprachformen von den Mystikern zu übernehmen und in einen viel weiteren theologischen und gesellschaftlichen Diskurs einzuführen. Es ging ihm dabei unter anderem darum, Verständnisstörungen zu beseitigen, die sich aus einer im damaligen deutschsprachigen Gebiet geradezu unvergleichbaren dialektalen Heterogenität ergaben. Kennzeichnend ist hierfür die aus dem Jahr 1538 stammende Tischrede, in der unter anderem sowohl zum Problem selbst als auch zu seiner vermeintlichen Lösung Stellung genommen wird: Teutschland hat mancherlei Dialectos, Art zu reden/ also, daß die Leute in 30 Meilen wegs einander nicht wol können verstehen/ Die Oesterreicher vnd Bayern verstehen die Duringen vnd Sachsen nicht/ Sonderlich die Niderländer […] Ich hab keine gewisse/ sonderliche/ eigene Sprach im Teutschen/ sondern brauche der gemeinen Teutschen Sprach/ daß mich beyde/ Ober vnd Niderländer verstehen mögen. Ich red nach der Sächsischen Cantzeley/ welcher nachfolgen alle Fürsten vn Könige im Teutschlande/ alle Reichßstätte/ Füsten-höve/ schreiben nach der Sächsischen vnd vnsers Fürsten Cantzley/ Darumb ists auch die gemeineste Teutsche Sprach…9

Die Behandlung der Sprache der Sächsischen Kanzlei, also der teilweise standardisierten Varietät des Ostmitteldeutschen, als die gemeinste deutsche Sprache, der angeblich alle Fürstenhöfe und Reichstädte im damaligen Deutschland folgten, ist natürlich alles andere als angemessen. Aber sie ist ein überaus charakteristisches Indiz für Luthers Wunschdenken und zeigt die Richtung an, in die sein deutsches Sprachschaffen ging. Im Weiteren wird nun gezeigt, wie dabei von Luther im Bereich des Wortschatzes eine Brücke zwischen Sakralem und Profanem gebaut wird, wodurch Luthers Sprachschaffen zum Mittelding zwischen Neuprägungen der Mystiker und ihrer säkularisierten Verwendung in der Gegenwartssprache geworden ist.

Linguistische Frage- und Zielstellung Die Bereicherung des Allgemeinwortschatzes durch Luther kann aus der sprachwissenschaftlichen Sicht als Ergebnis eines kontinuierlichen Prozesses verstanden werden, bei dem die genuin sakral konzipierte Lexik der Mystiker 9 Luther, Tischreden, Bd. 1, 14f.

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durch Luthers Selektion und darauffolgende kontextuelle Erweiterung – zunächst immer noch im weit verstandenen religiösen Rahmen – für den weiteren Übergang in die Sphäre des Allgemeinwortschatzes „befähigt“ wurde. Es geht speziell um die Öffnung des Wegs für die spätere „Säkularisierung“ genuin mystischer Wörter und Wendungen und deren Nutzung in anderen Kommunikationsbereichen als Religion: Philosophie, Naturwissenschaft, Geistesgeschichte, später auch in der Alltagssprache. Aus der Sicht der Sprachwandelforschung handelt es sich um eine Wechselwirkung von Spontaneität und bewusster Einwirkung im Sprachwandelprozess. Die theoretische Fragestellung lässt sich wie folgt präzisieren: Untersucht wird das Verhältnis von Intention, Intuition (Sprachgefühl) der Einzelperson und Sprachsystem als Filter beim Sprachwandel. Die gesamte Entwicklungskette wird vom berühmten Sprachwandelforscher Eugenio Coseriu10 wie folgt beschrieben. Eine Neuerung im Wortschatz einer natürlichen Sprache ergibt sich aus dem Bedarf an der Schließung von Bezeichnungslücken für neu entstehende Begriffe. Die Flexibilität der Begriffs- und Benennungssphäre entspringt direkt der Dynamik der Erkenntnis bzw. deren Erfassung durch die gegebene Sprachgemeinschaft. Die Erweiterung des bisherigen Wissens geht dabei immer mit dessen Symbolisierungsbedarf einher. Die Symbolisierung erfolgt in verschiedenen Zeichenformen, von denen die sprachlichen Zeichen die wichtigsten sind. Die Entstehung neuer Sprachzeichen beginnt mit der Initiierung des konkreten Wandels durch eine Person, was einen atomaren Akt sprachschöpferischer Tätigkeit darstellt. Diese Person kann in den meisten Fällen nicht namentlich festgestellt werden, aber manchmal können Autoren neuer Sprachzeichen durch historische Sprachforschung ermittelt werden. Im Fall der Mystiker oder auch Luthers ist dies gerade nicht selten möglich. Die Initiierung des Sprachwandels darf dabei keinesfalls als intendierter Wandel sensu stricto verstanden werden, d. h. meist verläuft die Initiierung spontan und unbewusst in dem Sinn, dass kein Sprachwandel als solcher veranlasst wird. Freilich gibt es Ausnahmen von dieser Regel. Ein Paradebeispiel ist hier die gezielte sprachschöpferische Tätigkeit der Puristen zur Verdeutschung fremdsprachlicher Wörter. Aber im hier behandelten Fall geht es schlechthin um lediglich mittelbare Intentionen, da weder die Mystiker noch Luther direkten Sprachwandel wollten, sondern Neubildungen verschiedener Art für ihre praktischen Erkenntnis- und Kommunikationszwecke einsetzten. Ob sich nun diese im Wortschatz halten würden, war dabei lediglich eine Frage der weiteren Entwicklung des Sprachsystems. Die nächste Stufe des Wandels ist nach Eugenio Coseriu die Akzeptanz des persönlichen „Angebots“ durch die Sprachgemeinschaft, welche nicht mehr ein 10 Coseriu, Sincronia, diacronia e historia.

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atomarer Akt, sondern vielmehr ein länger währender Prozess ist. Um von der Sprachgemeinschaft akzeptiert zu werden, muss die Neuprägung eine Reihe von Voraussetzungen erfüllen, vor allem aber muss sie „systemkonform“ im weiteren Sinn sein. Nicht systemkonforme Neubildungen werden normalerweise von der Sprachgemeinschaft relativ schnell wegselegiert. Luthers Verdienst um die Erweiterung des deutschen Wortschatzes besteht somit vor allem darin, dass er dank seiner Sprachintuition gerade diejenigen Einheiten aus- bzw. wegselegiert hat, welche jeweils systemkonform respektive -inkonform waren. Weitere Voraussetzungen für die Akzeptanz von Neubildungen sind u. a. ihre gesellschaftliche Relevanz, Kontinuität der Diskurse, in denen sie als Stichwörter auftreten, Fehlen einer wie auch immer definierten „konnotativen Belastung“, welche gesellschaftlich „vorbelastete“ Prägungen vorprogrammiert, etc. Diese Faktoren wurden von Luther ebenfalls berücksichtigt, was eine Stabilität seiner Neuprägungen und deren langfristige Beibehaltung im binnendeutschen Sprachsystem bewerkstelligte. Die Akzeptanz durch die Mehrheit der Sprecher garantiert die endgültige Festlegung der Neuform durch deren Usualisierung und darauf folgende Kodifizierung, was nun die Schlussetappe des jeweiligen Wandels ist. Bezogen auf Luthers sprachschöpferische Tätigkeit und deren langfristige Folgen für den binnendeutschen Wortschatz lassen sich die oben angeführten Stadien folgendermaßen präzisieren: (i) Bedarf an Erweiterung des für das gemeine Volk verständlichen theologischen Wortguts im Zusammenhang mit der wachsenden Rolle des Deutschen im konfessionellen Kommunikationsbereich; (ii) Initiierung von Neuprägungen durch Luther mithilfe einer Selektion aus dem bereits vorhandenen lexikalischen Inventar der hoch- und spätmittelalterlichen Mystik: Es werden „taugliche“ Wörter und Bildungsmuster übernommen und „untaugliche“ wegselegiert. Als untauglich werden diejenigen Bildungen eingestuft, welche für den „gemeinen Mann“ nicht verständlich sind, da sie von Mystikern für Mystiker gebildet wurden (obgleich z. B. Meister Eckhart auch für das Volk predigte); (iii) weitestgehende Akzeptanz der durch Luther übernommenen „Theonyme“ als Erfolgsgrundlage für den durch ihn initiierten Sprachwandel.11 (iv) Usualisierung der Neubildungen durch deren Fixierung in gedruckten Werken, ihre breiteste Verwendung von Luthers Nachfolgern (vorpietistische und pietistische Werke von Johann Arndt, Gerhard Tersteegen, Valentin Weigel und andere) und ihre spätere Kodifizierung in Sprachbüchern und Grammatiken (u.v.a. Justus Georg Schottels Teutsche Haubt-Sprache, das Wörterbuch von Johann Christoph Adelung etc.). 11 Vgl. Besch, Luther und die deutsche Sprache.

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Im Weiteren wird an zwei exemplarischen Beispielen, dem Substantiv Gelassenheit und dem Adjektiv grundlos, gezeigt, wie die Ergebnisse der oben dargestellten Wandelprozesse durch Luthers Vermittlung in die binnendeutsche Standardvarietät eingegangen sind.

Zur Bedeutungsgeschichte des Substantivs Gelassenheit Laut dem Frühneuhochdeutschen online-Wörterbuch, herausgegeben von Oskar Reichmann und Anja Lobenstein-Reichmann,12 wurde dieses Nomen abstractum, abgeleitet vom Adjektiv verbalen Ursprungs (genuin Partizip II von (ge)lassen) gelassen, ursprünglich vorwiegend in den westoberdeutschen Texten der Mystik verwendet und bedeutete dort so viel wie ‚völlige, restlose Ergebenheit Gott gegenüber‘: Tauler 115, 36: disen súllent wir ansehen […] und volgen deme mit warem armuͦ te unsers geistes und mit grundeloser gelossenheit. Seuse 161, 14 (alem., 14. Jahrhundert): daz man vindet zweierley gelassenheit: einú heisset dú vorgendú, dú ander heisset dú nagend gelassenheit.

In den mystischen Texten wurde dieses Substantiv neben sinnverwandten und ebenfalls theologisch geprägten Bedeutungsvarianten der Nomina armut, demut, geduldigkeit, gelas, ledigkeit, stätigkeit verwendet. Als Gegenwort wird im Frühneuhochdeutschen Wörterbuch bekorung genannt. Bei Luther findet sich Gelassenheit unter anderem in seinem Text unter dem Titel Kurze Form, die zehen Gebote, Glaube und Vater Unser zu betrachten in folgendem Kontext: „[…] und Gute von Gott allein aufnimmt und ihm wieder heim traget mit Danksagung und williger Gelassenheit.“ Offensichtlich wird hier keine bei Tauler, aber insbesondere bei Seuse konzipierte Mehr- oder besser gesagt „Weit“deutigkeit suggeriert; es geht weder um das Maß (oder eher die Maßlosigkeit) an Gelassenheit noch um deren verschiedene Arten, sondern einzig und allein um ein Vertrauen Gott gegenüber, das willig, d. h. frei vom Menschen gewählt, ist. Durch Kontextpräzision und Eindeutigkeit kann das Substantiv Gelassenheit somit zwar als ein zum immer noch theologisch geprägten, dabei aber bereits allgemein verständlichen Wortgut gehöriges Lexem eingeordnet werden.

12 Lobenstein-Reichmann, Mystische Wurzeln in Luthers Sprache, 27–54.

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Direkt von Luther ging das Substantiv Gelassenheit in die Werke der vorpietistischen und pietistischen protestantischen Literatur (Arndt, Tersteegen, Weigel, Spener und andere) über.13 Der weitere Entwicklungsweg dieses Substantivs war gerade vorprogrammiert, erfüllte es ja alle Voraussetzungen, um in den späteren Sog der Säkularisierung der genuin religiös-christlich konzipierten Ableitungen von Abstrakta zu geraten. Im Gegenwartsdeutschen bedeutet dieses Nomen abstractum laut Duden eine gelassene Haltung mit den dort angegebenen Synonymen Abgeklärtheit, Ausgeglichenheit, Bedächtigkeit, Beherrschtheit, Beherrschung, Beschaulichkeit, Besinnlichkeit, Besonnenheit, Disziplin, Fassung, Frieden, Geduld, Gefasstheit, Gemächlichkeit, Gemessenheit, Gemütlichkeit, Geruhsamkeit, Gesetztheit, Gleichgewicht, Gleichmaß, Gleichmut, Langsamkeit, Mäßigung, [Seelen]ruhe, Selbstbeherrschung, Umsicht; (gehoben) Bedachtsamkeit, Langmut, Muße; (bildungssprachlich) Contenance, Stoizismus, Tranquillität; (salopp) Coolness.14 Es kann freilich auch im Gegenwartsdeutschen jederzeit in theologischen Kontexten durchaus weiterhin in seiner „lutherischen“ Bedeutung verwendet werden, aber die heutige Semantik dieses Lexems suggeriert keinesfalls eine exklusiv theologische Lesart. Im Gegenteil: Die oben angeführten Synonyme von Gelassenheit sind in ihrer Mehrheit gerade aus potentiellen Texten theologischen Inhalts ausgeschlossen. Das Substantiv Gelassenheit hat somit in seiner semantischen Entwicklung einen Weg zurückgelegt, der solche ebenfalls genuin von katholischen Mystikern geprägten Lexeme wie Eindruck, Einfluss u.v.a. kennzeichnet.

Zur Bedeutungsgeschichte des Adjektivs grundlos Dieses Adjektiv war bereits im Frühneuhochdeutschen polysem, was sich unter anderem aus seinem Wortbildungstyp ergibt. Das Suffix -los in Verbindung mit dem substantivischen Stamm Grund- ergibt nämlich zwei potentielle Lesarten, welche seit ältester Zeit tatsächlich realisiert wurden: (i) ‚ohne Grund‘ im Sinn ‚so tief, dass kein Grund zu sehen ist oder sogar überhaupt kein Grund [also kein Boden] existiert‘ und (ii) ‚ohne Grund‘ im Sinn ‚ohne festen Boden‘, also entweder ‚unbegründet‘ oder ‚verschwommen, nicht fest, ungenau‘. Alle diese Deutungen, welche vor allem durch Mehrdeutigkeit des substantivischen Stammes selbst sowie durch seine Verbindung mit–los bei adjektivischer Ableitung versursacht sind, finden sich in der deutschen Sprache bereits seit mittel13 Ausführlicher hierzu vgl. Meshcherinov, Zur Rezeptionsgeschichte der Werke des deutschen Pietismus, 201–212. 14 Vgl. [Duden] Gelassenheit (siehe Link im Literaturverzeichnis).

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bzw. frühneuhochdeutscher Zeit. Das Frühneuhochdeutsche online-Wörterbuch15 führt folgende Bedeutungen (teils mit entsprechenden Belegen) an: (i) ‚quantitativ (an Maß, Größe, räumlich und zeitlich) und qualitativ (an Intensität, Kraft usw.) nicht meßbar und damit nach menschlichen Maßstäben nicht faßbar und erklärbar, grenzenlos, unendlich, ewig (d. h. ohne Anfang und Ende), unerschöpflich, unbegreiflich (das Göttliche kennzeichnend; zumeist von den Personen der Trinität, der Mutter Gottes sowie deren Eigenschaften und deren Gnadengaben für die Menschen gesagt, aber auch von dem mit Gott eins gewordenen Menschen)‘. Eckhart 15, 16 (14. Jahrhundert): wie grundloz sint dein urteil und wie unbegriffenlich sint dein wege! Luther WA 2, 69, 22 (1529): [Christo] sey danck gesagt ynn ewigkeit fur alle seine reiche grundlose guͤ te an uns erzeigt. (ii) ‚(räumlich gedacht:) bodenlos, endlos nach unten gehend, ohne erkennbare untere Begrenzung (von Gewässern, Klippen, Schluchten)‘; ütr.: ‚abgrundtief, ohne die Möglichkeit des Entkommens und der Rettung, schrecklich (vom Fegefeuer und von der Hölle); endlos, schlimm (vom Schmerz)‘; speziell: ‚hoffnungslos, sinnlos‘ Luther, WA 17, 2, 148, 2 (1525): das ienige, das man yhn gibt, reyssen sie zu sich, […] yhren grundlosen geytz nuͤ r tieffer zu machen. (iii) ‚sich räumlich in die Weite erstreckend (nicht nur in die Tiefe, ohne negative Konnotation), endlos, weit, tief; innerlichst; unerschöpflich, unergründlich (vom Meer als Symbol der Unerschöpflichkeit und der Unendlichkeit)‘ (iv) ‚aus der Tiefe des Herzens kommend, wahrhaftig, nichts anderes begehrend und wollend, anspruchslos‘ Bei (i), das ursprünglich rein theologisch, als Nichtmessbarkeit Gottes und seiner Gaben gedeutet wurde, handelt es sich um eine Bedeutungsvariante, welche zwar bei Luther immer noch fortlebt, aber danach allmählich außer Gebrauch gerät. Jedenfalls gibt es bei Duden keinerlei Hinweise auf – auch säkularisierte – Reste dieser genuinen Bedeutung. Offenkundig verschwand mit Abnahme des religiösen, christlichen Bezugs die „positive“ Lesart der Suffixableitung mit–los. Dies ist möglicherweise gar nicht auf den Wechsel des Verwendungsbereichs des Adjektivs zurückzuführen, sondern vielmehr auf eine Bedeutungsverengung des korrelierenden Substantivs Grund im Wortbestand des Derivats. Es wurde nämlich zunehmend als ‚fester Boden‘ und nicht mehr als ‚Maß‘ bzw. ‚Messbarkeit‘ verstanden. Was nunmehr keinen festen Boden hat, ist grundlos im Sinn (ii). Diese letztere Bedeutungsvariante hat sich aber in der Gegenwartssprache 15 Reichmann/Lobenstein-Reichmann (Hg.), Frühneuhochdeutsches online-Wörterbuch 2017 (siehe Link im Literaturverzeichnis).

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nur zum Teil gehalten. Sie verlor nämlich den – genuin ebenfalls religiös begründeten – Gefühlswert16 ‚schlimm‘, ‚schrecklich‘, ‚fürchterlich‘, den wir noch bei Luther finden können und der direkt auf die Vorstellung von Grundlosigkeit der Hölle zurückgeht. Doch der negative Nebensinn ‚unbegründet‘, ‚unfest‘ blieb auch in der säkularisierten Wortverwendung beibehalten. Schließlich die Bedeutungen (iii) und (iv) sind in der Gegenwartssprache ebenfalls so gut wie völlig verschwunden. Einer unausweichlichen Säkularisierung des Lexems grundlos konnte somit nur die Variante (ii), aber auch diese lediglich nach entsprechendem Bedeutungswandel, standhalten. Hier soll allerdings einschränkend angemerkt werden, dass eine Säkularisierung als Ursache semantischen Wandels keinesfalls zu bedeuten hat, dass das jeweilige Wort unbedingt aus der Sphäre des Sakralen verschwinden und gänzlich in den Bereich des Profanen übergehen muss. Eine Säkularisierung bedeutet ja vielmehr die Verallgemeinerung der Bedeutung, das Fehlen ihrer obligatorischen Festlegung auf den religiösen Funktionsbereich. Freilich kann ein „säkularisiertes“ Lexem stets weiterhin theoretisch auch im sakralen Funktionsbereich verwendet werden, einschließlich der Spezifik seiner religiös geprägten Lesart (wie bei Gelassenheit). Doch das Verschwinden der für diese Letztere unveräußerlichen Merkmale (wie im Falle von grundlos) führt unausweichlich zur endgültigen semantischen Umdeutung des betreffenden Lexems. Der Duden gibt für grundlos folgende zwei Bedeutungen an: (i) (selten) keinen festen Untergrund, Boden besitzend (ii) keine Ursache habend, ohne Grund; unbegründet Unbestritten sind beide Lesarten von der oben behandelten Bedeutung (ii) erwachsen, während alle sonstigen Varianten aufgegeben wurden.

Zu den Wortverbindungen grundlose Gelassenheit bei den Mystikern bzw. grundlose Barmherzigkeit und vollkommene, ledige Gelassenheit bei Luther Die hier untersuchten Lexeme sind unter anderem deshalb ausgewählt worden, weil sie bei den Mystikern auch zusammen verwendet werden. Die adjektivischnominale Wortfügung grundlose Gelassenheit bedeutete unter anderem bei Tauler ‚unbegrenztes, tiefstes, innigstes Verlassen auf Gott‘: Tauler 115, 36: „disen súllent wir ansehen […] und volgen deme mit warem armuͦ te unsers geistes und mit grundeloser gelossenheit.“ In diesem Satzfragment handelt es sich um ein 16 Vgl. Schippan, Lexikologie der deutschen Gegenwartssprache, 148.

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wahres christliches Verhalten gegenüber Gott, der angesehen und dem gefolgt werden muss „mit wahrer Armut des Geistes und mit unermesslichem, uferlosem Vertrauen“. Ein Christ soll sich nach dieser Vorstellung seiner eigenen Wünsche und Bestrebungen (die gemeinhin entweder sündhaft oder zumindest weit von Gott entfern sind) entledigen und völlig auf Gott vertrauen. Taulers grundelose gelossenheit setzt ein passives Verhalten des Christenmenschen, welcher auf Gottes Wort hört und stets bereit ist, nach seinem Willen zu handeln oder eben das Handeln zu lassen. Diese Übergabe seiner Seele und seines ganzen Lebens dem Gott ist das Leitmotiv der hier beschriebenen mystischen Erfahrung. Im passiven Verhalten des Menschen gegenüber Gott darf dabei nicht eine bloße Entsagung gesehen werden. Aktiv ist nämlich das Passive selbst, indem der Mensch eine freie Entscheidung trifft, nichts als Gott und seinen Willen zu tun und völlig, also grundelos, darauf zu vertrauen. Luther übernimmt weitestgehend die Denkweise der Mystiker, indem er das Adjektiv grundlos im durchaus vergleichbaren Kontext verwendet, allerdings in Verbindung mit einem anderen Substantiv (Barmherzigkeit). Dabei wird in demselben Fragment auch Gelassenheit gebraucht, und zwar in Verbindung mit dem Adjektiv ledig in der Bedeutung ‚allein‘, ‚ungestört‘, ‚frei von jedem Zweifel‘: O allmächtiger Gott, dieweil du durch deine grundlose Barmherzigkeit, uns nicht alleine zugelassen, sondern uns rechten Gehorsam, eine vollkommene, ledige Gelassenheit in allen Dingen, geistlich, weltlich, zeitlich [gabst].17

Dank seiner grundlosen Barmherzigkeit lässt also Gott den Menschen nicht allein, sondern gibt ihm rechten Gehorsam und eine vollkommene und ledige Gelassenheit in allen Dingen. In diesem Fall ist das Aktive am Menschen noch viel schwächer als bei Tauler. Ohne Übertreibung kann man feststellen, dass das menschlich Aktive hier vollkommen negiert wird. Spricht Tauler davon, wie wir Gott ansehen und ihm folgen sollen (also beschreibt er unsere Pflicht, uns Gott zu übergeben und somit eine einzig mögliche richtige Entscheidung zu treffen), trifft der Mensch bei Luther in Einklang mit seinem Grundgedanken überhaupt keine Entscheidung, sondern er erhält die vollkommene, ledige Gelassenheit unmittelbar von Gott als Gabe, welche sich aus Gottes Barmherzigkeit ergibt. Der barmherzige Gott fordert also vom Menschen keine vollkommene, ledige Gelassenheit, sondern versieht ihn unmittelbar und sozusagen „eigenhändig“ damit. Wir können also sehr gut verfolgen, wie dieselben Lexeme an Luthers Theologie angepasst und kontextuell umgedeutet werden.

17 Luther, Kurze Form die zehen Gebote.

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Fazit Luthers sprachschöpferische Tätigkeit geht auf eine reiche Tradition der katholischen Mystik zurück. Luther selegiert aus dem Nachlass der Mystiker diejenigen Wörter und Wortbildungsmuster aus, die für den „gemeinen Mann“ verständlich waren. Dadurch eröffnet er diesen Einheiten nolens volens den Weg zur Säkularisierung und somit zum allgemeinen Wortschatz. Der individuelle Beitrag Luthers zum Sprachwandel im Bereich der Lexik bzw. der Wortbildung muss daher vor dem Hintergrund allgemeiner Gesetzmäßigkeiten des Sprachsystems beurteilt werden. Luthers Leistung besteht nicht primär darin, dass er den Sprachwandel durch seine Tätigkeit bewusst beeinflusst hat, sondern darin, dass er dank seiner Sprachintuition gerade diejenigen Einheiten aus- bzw. wegselegiert hat, welche jeweils systemkonform resp. -inkonform waren. Einige Wortbedeutungen erlagen später wegen ihrer Spezifik teilweise dem allgemeinen Systemdruck und wurden nach der Säkularisierung eingeengt. Bestimmte Wortfügungen, die gemeinhin auf die Sprache der Mystiker zurückgehen, sind durch eine angemessene Kontextualisierung an das Lutherische theologische Denkmodell angepasst und darin folglich umgedeutet worden.

Literatur Arndt, Erwin, Luthers deutsches Sprachschaffen: Ein Kapitel aus der Vorgeschichte der deutschen Nationalsprache und ihrer Ausdrucksformen, Berlin 1962. Besch, Werner, Luther und die deutsche Sprache. 500 Jahre deutsche Sprachgeschichte im Lichte der neueren Forschung, Berlin 2014. Beutel, Albrecht, In dem Anfang war das Wort. Studien zu Luthers Sprachverständnis, Tübingen 2006. Coseriu, Eugenio, Sincronia, diacronia e historia. El problema del cambio linguístico, Montevideo 1958; Deutsche Ausgabe: Synchronie, Diachronie und Geschichte. Das Problem des Sprachwandels, München 1974. Knott, Marie Luise/Brovot, Thomas/Blumenbach, Ulrich (Hg.), Denn wir haben Deutsch: Luthers Sprache aus dem Geist der Übersetzung, Berlin 2015. Leppin, Volker, Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln, München 2016. Lobenstein-Reichmann, Anja, Mystische Wurzeln in Luthers Sprache, in: M. Habermann (Hg.), Sprache, Reformation, Konfessionalisierung, Berlin/Boston 2018, 27–54. Losskij, Vladimir N., Ocˇerk misticˇeskogo bogoslovija Vostocˇnoj Cerkvi. Dogmaticˇeskoje bogoslovije, Moskva 1991. Luther, Martin, Tischreden, Bd. 1, 1, 5, Weimarer Ausgabe (WA), Weimar 1883. – Schriften/Werke, Bd. 10/II, Schriften 1522, Weimarer Ausgabe (WA), Weimar 1907. Meshcherinov, Peter, Zur Rezeptionsgeschichte der Werke des deutschen Pietismus in Russland und zu den ausgewählten Fragen ihrer Übersetzung ins Russische, in: M.

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Habermann (Hg.), Sprache, Reformation, Konfessionalisierung, Berlin/Boston 2018, 201–212. Schippan, Thea, Lexikologie der deutschen Gegenwartssprache, Tübingen 2002. Schmidt, Wilhelm, Geschichte der deutschen Sprache, Stuttgart/Leipzig 61993.

Internetquellen Reichmann, Oskar/Lobenstein-Reichmann, Anja (Hg.), Frühneuhochdeutsches onlineWörterbuch 2017, https://fwb-online.de (letzter Zugriff im September-November 2017). [Duden] Gelassenheit, https://www.duden.de/rechtschreibung/Gelassenheit (letzter Zugriff am: 12. Dezember 2017).

Anita Fajt

Das sprachliche Erbe der Lutherbibel bei Johann Arndt1

In Martin Luther sahen viele Generationen der Sprach- und Literaturwissenschaftler den Vater der neuhochdeutschen Schriftsprache schlechthin. Heute neigt die Forschung zu der Annahme, dass sich seine sprachliche Leistung eher als die des Katalysators2 denn als des Schöpfers der frühneuhochdeutschen Standardsprache verstehen lässt: „Er steht nicht am Beginn einer sprachlichen Entwicklung und auch nicht an deren Ende, sondern vielmehr inmitten des Prozesses der Herausbildung des Neuhochdeutschen.“3 Auch das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch4 trug viel zur Richtigstellung seines sprachgeschichtlichen Kontextes bei. Dank solcher Initiativen wissen wir schon viel mehr über das sprachliche Umfeld von Luthers Schriften. Ein Problem wurde aber immer noch nicht gelöst. Luthers Bibelübersetzung war eine mehr oder weniger individuelle Leistung (das Neue Testament noch mehr als das Alte), die mit keinen anderen ähnlichen individuellen Leistungen (in) der Frühen Neuzeit vergleichbar ist. Luthers Einfluss auf die deutsche Schriftsprache blieb bis heute eher ein Topos, denn es fehlt an anspruchsvoll ausgearbeiteten vergleichenden Analysen zu diesem Thema. Im Folgenden möchte ich versuchen, diese Lücke teilweise zu schließen, indem ich auf Johann Arndt und sein Gebetbuch, das Paradiesgärtlein, welches unter diesem (philologischen) Aspekt noch nie analysiert worden ist, Bezug nehme. Johann Arndt (1555–1621) zählt zu den wichtigsten lutherischen Theologen des 17. Jahrhunderts; die Forschung bezeichnete ihn als Bahnbrecher, Erneuerer der lutherischen Frömmigkeit oder eben Vater des Pietismus.5 Arndt setzte sich 1 Der Aufsatz wurde von Nationalem Forschungs-, Entwicklungs- und Innovationsbüro – NKFIH-OTKA 116234 gefördert. 2 Wortgebrauch von Werner Besch. Siehe: Pfefferkorn, Martin Luthers sprachhistorische Bedeutung, 111. 3 Ebd. 4 [FWB] Frühneudeutsches Wörterbuch (siehe Link im Literaturverzeichnis). 5 Zur Zusammenfassung der Forschungsgeschichte: Illg, Ein anderer Mensch werden, 15–54; Anetsberger, Tröstende Lehre, 13–63.

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Anfang des 17. Jahrhunderts sehr stark für die innige und aufrichtige Religionsausübung ein und übte heftige Kritik an der Tätigkeit der damaligen lutherischen Kirche. Aber nicht diese vehemente Kritik stiftet(e) Verwirrung um Arndts frömmigkeitsgeschichtliche Einordung, sondern vielmehr die vielfältigen Traditionen, auf die Arndt in seinen Schriften zurückgriff. Sein berühmtes Andachtsbuch Die Vier Bücher vom Wahren Christentum (1605–1610) löste nach seiner ersten Ausgabe heftige Auseinandersetzungen aus, weil es unter anderem Gedanken von Paracelsus und dem heterodoxen Valentin Weigel enthielt. Trotz zahlreicher Analysen lässt sich Johann Arndts Tätigkeit in keine ideengeschichtliche Strömung eindeutig einordnen. Seine komplexe Gedankenwelt widersteht den Bestrebungen, sie vor dem Hintergrund eines einheitlichen philosophischen oder theologischen Systems zu deuten. Arndt verschmolz verschiedene literarische und theologische Traditionen: die mittelalterliche Mystik, spiritualistische Ansichten (besonders die von Valentin Weigel), Gedanken von Paracelsus und die orthodox-lutherische Lehre. Infolge solcher Vielfältigkeit wurde er ganz verschiedenen theologischen und geistesgeschichtlichen Richtungen zugeordnet und seine Orthodoxie wird bis heute immer wieder infrage gestellt.6 Aber – wie ich darauf schon früher hingewiesen habe – Arndts Leistung wurde fast ausschließlich anhand des Wahren Christentums ermittelt, während seine anderen Schriften, wie das Paradiesgärtlein oder seine Postillen, die aus mehr als 900 Predigten bestehen, unberücksichtigt blieben. Das Paradiesgärtlein voller christlicher Tugenden, welches 1612 in Magdeburg publiziert wurde,7 zählte mit seinen ungefähr achtzig Ausgaben im 17. Jahrhundert zu den populärsten lutherischen Gebetbüchern.8 In der Fachliteratur wird die Sammlung meistens im Kontext des Wahren Christentums erwähnt, wie z. B. im ersten Band der Geschichte des Pietismus, wo Martin Brecht schrieb: „Arndts weitere Veröffentlichungen lassen sich fast alle dem Wahren Christentum zuordnen. Dies gilt besonders für das 1612 erschienene Paradiesgärtlein, das später auch häufig zusammen mit dem Wahren Christentum gedruckt wurde und oft auf dieses verweist.“9 Das Gebetbuch selbst, seine Struktur bzw. seine Gebete 6 Schneider, Johann Arndt als Lutheraner?, 274–298. 7 In diesem Aufsatz zitiere ich Arndts Texte aus der zweiten Ausgabe (Magdeburg, 1615). 8 Die Werke von Johann Arndt verfügen weder über kritische Ausgaben noch vollständige Bibliographie. In meiner Doktorarbeit stellte ich eine Bibliografie zu den ParadiesgärtleinAusgaben zusammen: Fajt, „Embernek maga Istenre való hagyása“, 165–176 (siehe Link im Literaturverzeichnis). Nach der Abgabe des Aufsatzes ist Jeung Keun Parks Buch über das Paradiesgärtlein erschienen. Park hat parallel zu meiner Arbeit auch eine Bibliographie zu dem Gebetbuch erstellt. Siehe: Park, Johann Arndts Paradiesgärtlein, 225–249. Aus dem Vergleich der zwei Bibliographien ergibt sich, dass es für das 17. Jahrhundert 81 Ausgaben gibt. In der Buchpublikation meiner Dissertation werde ich meine frühere Bibliographie um die Angaben von Parks ergänzen. 9 Brecht, Das Aufkommen der neuen Frömmigkeitsbewegungen, 141.

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wurden noch nicht zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen, die Forschung konzentrierte sich diesbezüglich eher nur auf einige Detailfragen. Eine Anzahl der Studien beschränkte sich auf die in dem Paradiesgärtlein seit den 1630er Jahren enthaltene Wundergeschichte (nach der das Gebetbuch nicht verbrannt werden kann) und ihren mentalitätsgeschichtlichen Kontext.10 Ein anderer Zweig der Untersuchungen befasst sich mit Illustrationen und Emblemen des Paradiesgärtleins. Dank Katarzyna Cies´lak kann man heute ganz genau die Editionsgeschichte der illustrierten Ausgaben zurückverfolgen: Das Gebetbuch wurde zum ersten Mal 1681 in Amsterdam mit Emblemen herausgegeben, ab 1685 erschienen Abbildungen in den deutschen Ausgaben; vier verschiedene Illustrationstypen konnten von Cies´lak bestimmt werden.11 Die Vorrede des Paradiesgärtleins über das Gebet, deren Inhalt Parallelen in den Auffassungen zum Gebet von Arndt, Weigel und Luther aufweist, sowie der Aufbau des Gebetbuches, wurden von Christan Braw analysiert.12 Braw hob hervor, dass Arndt sich in seinen Gebeten in großem Maße an der Lutherbibel orientierte, aber in dem Band selbst taucht Luthers Name nicht auf. Zu dem Paradiesgärtlein gehört eine Vorrede zur richtigen Gebetspraxis, in der Arndt weder auf Luther noch auf die Bibel Bezug nimmt.13 Braw war bisher der einzige, der Beziehungen zwischen Arndt und Martin Luther bezüglich des Gebetbuches herausstellte. Neben den Unterschieden – während Luther hauptsächlich gegen die katholischen spätmittelalterlichen Gebetsformen polemisierte, griff Arndt die äußerliche Gebetspraxis an – betont Braw, dass beide Theologen das innerliche Beten akzentuieren, und viele Bilder von Arndt (Vereinigung mit Gott, Einwohnung Christi in den Gläubigen) erschienen bereits in Luthers Schriften. Die vom Forscher festgestellten Beziehungen zwischen Arndt und Luther scheinen aber zu allgemein zu sein, während die Unterschiede – meiner Meinung nach – viel größer sind. Bei Arndt dient z. B. das Gebet zur Erneuerung der Gottebenbildlichkeit des Menschen, und das Beten sei für Arndt die geistige Ausübung der Tugenden. Das konkrete Verhältnis zwischen den Texten Luthers und Arndts muss noch anhand konkreter Vergleiche untersucht werden. Zwei Aufsätze, in denen die Texte des Paradiesgärtleins beleuchtet wurden, sollen hier noch erwähnt werden. Elke Axmacher untersuchte fünf Passionsgebete Arndts aus einer theologiegeschichtlichen Sicht und stellte fest, dass er in dem Konzept (z. B. Reihenfolge der Gebete) und in den Details der Textgestaltung

10 Messerli, Die Errettung des Paradiesgärtleins aus Feuers- und Wassernot, 253–279; Pfefferkorn, Bücher, die in Feuer nicht verbrennen, 291–351. 11 Cies´lak, Embleme in Johann Arndts Paradiesgärtlein, 11–30. 12 Braw, Das Gebet bei Johann Arndt, 9–24. 13 Vorrede/ in welcher der grundt der rechten Betekunst/ vnd vrsach dieses Betbüchleins vermeldet wird in: Arndt, Paradiß Gärtlein, [Avijr–Bvijv] (siehe Link im Literaturverzeichnis).

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der lutherischen Tradition treu blieb.14 Oliver Pfefferkorn hat mithilfe der Textsortenanalyse das Problem von Arndts Orthodoxie bzw. Heterodoxie und die Frage der Unterschiede (und Verhältnisse) verschiedener Gattungen in seinem Œuvre angesprochen.15 Pfefferkorn legte einen großen Wert darauf, dass die zu verschiedenen Gattungen gehörenden Texte unterschiedliche Funktionen haben, und diesen Funktionen gemäß betrachtet werden sollten. Er berief sich hier auf den rhetorischen Termin aptum, auf die Lehre von der Synthese zwischen res und verba. Sich auf das Gebetbuch beziehend bemerkt Pfefferkorn, dass sich das Paradiesgärtlein durch sprachliche Komplexität (mit vielen parallelen Reihungen) und Dichte auszeichne: „[d]iesen Reihungen kommt in Kombination mit weiteren Stilelementen wie z. B. Wiederholungen, Ausrufen, Steigerungen ein starkes emotionales Moment zu“16. Die Leser sollen also durch diese Mittel affektiv ergriffen werden. Infolge einer Vergleichsanalyse von Arndts Werken stellte es sich heraus, dass die belehrende Funktion in dem Wahren Christentum und in den Postillen mehr in den Vordergrund tritt als in dem Paradiesgärtlein. So viel die Forschung. Was wissen wir also heute über Arndts Gebetbuch? Es steht außer Frage, dass Arndt das Paradiesgärtlein als Bestandteil des Wahren Christentums angesehen hat, und er wollte, dass seine Leser sich beide Werke zu Gemüte führen: Bereits auf dem Titelblatt des Gebetbuchs17 und noch an zahlreichen anderen Stellen im Buch wurde auf das Wahre Christentum verwiesen.18 Die Zusammengehörigkeit des Wahren Christentums und des Paradiesgärtleins ist aber viel komplexer, als es die Forschung bisher herausgearbeitet hat. Beide Werke sind z. B. erst in den 1690er Jahren gemeinsam erschienen, diese Ausgabeform (dazu gehören die Sechs Bücher vom Wahren Christentum mit dem Paradiesgärtlein) wurde erst im 18. Jahrhundert (nicht im 17.) äußerst populär. In meinem Beitrag konzentriere ich mich also fast ausschließlich auf das Gebetbuch und seine Bibelzitationen. Selbst wenn bei meinen Untersuchungen einige er-

14 15 16 17

Axmacher, „daß Passio Christi sey Satisfactoria, Meritoria, Monitoria“, 43–71. Pfefferkorn, Predigt, Andachtsbuch und Gebetbuch, 347–385. Ebd., 376. „Mit dreyen nützlichen Registern/ deren das erste auff die ordnung der Gebet/ das ander auff die Sontags vnd Fest Evangelia/ das dritte auff die Artickel vnser Christlichen Religion/ zu den vier Büchern vom wahren Christenthumb gehörig/ gerichtet ist.“ Dieser weitschweifige Titel verkürzte sich aber mit der Zeit und parallel dazu entfällt auch der Hinweis auf das Wahre Christentum. Die kürzere Form des Titels war nur: Paradiesgärtlein voller Christlicher Tugenden, wie dieselbige in die Seele zu pflanzen, durch andächtige lehrhafte und tröstliche Gebete. Dazu siehe: die Paradiesgärtlein-Bibliographie. In: Fajt, „Embernek maga Istenre való hagyása“, 165–176. 18 Vor den Registern z. B.: „Vom Nutz vnnd Krafft des Gebets/ Besihe mit fleiß das 20. Capitel vnnd das 34. biß auffs 40. meines andern Buchs vom wahren Christenthumb“ (Arndt, Paradiß Gärtlein [Bviijr]). Dieser in den früheren Ausgaben noch mit großen Buchstaben gesetzter Hinweis geriet ab 1636 mit den Registern zusammen vom Buchanfang ans Buchende.

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wähnte Studien als Vorbild19 dienten, wurde das Paradiesgärtlein bisher unter diesem Gesichtspunkt noch nicht analysiert. Schlägt man den Band erstmals auf, so ist schon auf den ersten Blick ersichtlich, welch große Rolle dort der Bibel zukommt. Die Seiten sind voll von Marginalien, die fast ausschließlich Bibelstellen sind; die Blätter selbst setzen sich zu 85 Prozent aus biblischen Zitaten zusammen. Angesichts dieser Sachlage drängt sich die Frage auf, auf welche Art und Weise Arndt die Heilige Schrift in sein Werk implementiert hat? Vor allem machte er beim Zitieren von mehreren Methoden Gebrauch. So reichen seine Textbelege von wortwörtlichen Zitaten bis hin zu Paraphrasen biblischer Begriffe. Das folgende Gebet (I. Teil 40, Gebet und Danksagung für die geistliche Vermählung Christi mit unseren Seelen) enthält eine extrem große Anzahl an biblischen Intertexten, die in vielen Fällen einfach lange direkte Zitate sind.20 Schon am Anfang des Gebets nutzt Arndt die Sprache der Bibel: ACH HERR Jesu Christe du Schönster vnter den Menschen Kindern21/ du Holdseliger Breutigam vnser Seelen/ du hast gesagt Ich wil mich mit dir verloben in ewigkeit/ Ich wil mich mit dir vertrawen/ im Gericht/ vnnd Gerechtigkeit/ ja in Glauben wil ich mich mit dir verloben/ vnd du solt den HERRN erkennen22/ ich dancke dir von Hertzen für deine inbrünstige/ hertzliche heilige/ vnd reine Liebe/ damit du mich allezeit geliebet hast.

Seiner Gattung entsprechend fängt das Gebet mit einer Apostrophe an, führt dann den Gedankengang mit einer der Bibel entnommenen Jesus-Periphrase fort („schönster unter den Menschen-Kindern“), und schließt die Klammer mit der Anrede „[d]u holdseligster Bräutigam“23. Im darauffolgenden Satz kommt Jesus mit dem nächsten Bibelintertext (und mit Gottes Worten) aus dem Buch Hosea selbst zu Wort. In Arndts Ergänzungen spiegelt sich die Eigenart seines Gebetbuches wider: die starke Präsenz der bernhardinischen Brautmystik. Arndt schrieb in einem affektiven Stil, wobei seine Rede stets um die zentralen Begriffe der Liebe und des Herzens kreist. Die Modifikationen des Bibeltextes haben einen eher stilistischen als inhaltlichen Charakter. Beispielsweise spricht im Originaltext Hosea seine untreue Frau an. Diese Szene wurde in der herme19 Pfefferkorn, Luthersprachliche Einflüsse, 110–123; Bartsch, Zum sprachlichen Einfluß Luthers, 124–134; Sachse, Zur sprachlichen Wirkung Martin Luthers, 135–143. 20 I. Teil, 39. Gebet vnnd Dancksagung für die Geistliche vermehlung Christi mit vnser Seelen n: Arndt, Paradiß Gärtlein. 165–172. 21 Die Bibelstellen zitiere ich nach Luthers letzter Hand (1545): [Bibel] Bibel Online (siehe Link im Literaturverzeichnis). Ps 45,3: „DV bist der schönest vnter den Menschen kindern/ holdselig sind deine Lippen/ Darumb segenet dich Gott ewiglich.“ 22 Hos 2,21–22: „Jch wil mich mit dir verloben in ewigkeit/ Jch wil mich mit dir vertrawen/ in Gerechtigkeit vnd Gericht/ in Gnade vnd Barmhertzigkeit/ Ja im Glauben wil ich mich mit dir verloben/ Vnd du wirst den HERRN erkennen.“ 23 Das Adjektiv (holdselig) stammt auch aus dem Psalm, aber in seinem originalen Kontext stand dort ein Prädikativum (holdselig sind deine Lippen).

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neutischen Tradition als Metapher für Israels Untreue gegenüber Gott interpretiert. Aus diesem Zusammenhang herausgerissen erhält hier diese Aussage eine positive Sinngebung. Jesus spricht nämlich als Bräutigam seine Braut (die Gläubigen) an. Arndt verzichtet im Fragment „Jch wil mich mit dir vertrawen/ in Gerechtigkeit vnd Gericht/ in Gnade vnd Barmhertzigkeit“ auf den letzten Satzteil („in Gnade vnd Barmhertzigkeit“) und baut Wörter ein, die sich um solche Fragen drehen wie Gerechtigkeit und Gericht. Die Veränderungen scheinen inhaltlich wenig relevant zu sein. In der neuen Gestalt klingt das Bibelzitat dichter und nähert sich der rhythmischen Prosa an (der Gliedersatz „Ich will mich mit dir vertrauen in Gericht und Gerechtigkeit“ in dieser Form reimt sich auf „Ich will mich mit dir verloben in Ewigkeit“). An einer anderen Stelle des gleichen Gebets übernimmt Arndt eine ganze Reihe von Bibelversen: Ach mein Freund/ wie frewdig ist dein Hertz/ wie wacker ist deine liebe. Das ist die Stimm meines Freundes/ siehe er kömpt vnd hüpffet auff den Bergen/ vnd springet auff den Hügeln/ mein Freund ist gleich einem Rehe/ oder jungen Hirsch24/ Mein Freund ist weiß vnd roth/ außerkorn vnter viel Tausenden sein Heupt ist wie das feinste Golt25/ seine Backen wie die wachsenden Würtz-Gertlein/ seine Lippen seynd wie Rosen/ die mit fliessender Myrren trieffeen/ seine Hände seynd wie die güldenen Ringe voller Türckisß/ sein Leib ist wie ein [!] Elphenbein mit Saphiren geschmücket seine Beine seynd wie Marmel Seulen/ gegründet auff güldenen Füssen.26

Arndt hat hier die Verse des Hoheliedes übernommen27 und die aus verschiedenen Kapiteln stammenden Textstellen zu einem neuen Gedankengang mit unendlichen Parallelismen und anaphorischem Satzbau in rhythmischer Prosa zusammengeführt. In diesem mittleren Teil des Gebets zitierte Arndt siebenmal nacheinander ausschließlich aus dem Hohelied, und die Reihenfolge der Intertexte stimmte mit der ursprünglichen Aufeinanderfolge der Verse des Hoheliedes nicht überein; fast eine Seite lang stößt man nur auf die im Text eingebetteten Bibelzitate. Einer etwas anderen Methode bedient er sich im nächsten Textabschnitt:28

24 Hl 2,8–9. „DA ist die stimme meins Freunds/ Sihe/ Er kompt vnd hüpffet auff den Bergen/ vnd springet auff den Hügeln. Mein Freund ist gleich einem Rehe oder jungen Hirss. Sihe/ Er stehet hinder vnser Wand/ vnd sihet durchs fenster/ vnd gucket durchs gitter.“ 25 Hl 5,10–11. „Mein Freund ist weis vnd rot/ auserkoren vnter viel tausent. Sein Heubt ist das feinest Gold. Seine Locken sind kraus/ schwartz wie ein Rabe.“ 26 Hl 5,13–15. „Seine Backen sind wie die wachsende wurtzgertlin der Apoteker. Seine Lippen sind wie Rosen die mit fliessenden Myrrhen trieffen. Seine Hende sind wie güldene Ringe vol Türkissen. Sein Leib ist wie rein Elphenbein mit Saphiren geschmückt. Seine Beine sind wie Marmelseulen/ gegründet auff gülden füssen.“ 27 Eigentlich kam schon im vorigen Satz ein langes Zitat aus Hl 8,6 vor. 28 Arndt, Paradiß Gärtlein, 169f.

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Ach du aller schönster Breutigam […] setzte mich wie ein Siegel auff dein Hertz/ vnd wie ein Siegel auff deinen Arm29/ Nim weg aus meinem hertzen/ alles was deine liebe in mir hindert/ Entkleide meine Seele von aller Creatur vnnd Welt liebe/ Mache sie bloß vnd lauter von allen irrdischen dingen/ daß du dich allein mit ir vermehlen/ vnd vereinigen kanst/ daß du sie allein haben vnd besitzen mügest/ vnd kein ander mit dir.

Im zweiten Teil des Absatzes tauchen Arndts eigene Überlegungen auf, die mit Bibelworten vermischt werden. Die Entkleidung der alten Welt (an anderen Stellen: der sterbenden Welt), die Neugeburt, die neue Kreatur, die immer wiederkehrende Betonung der Vereinigung mit Gott sind zentrale Begriffe Arndts, denen aber keine biblischen Aussagen zugrunde liegen. Trotz der generell großen Verdichtung von Zitaten findet man bei Arndt aber Gebete, in denen seine eigenen Worte dominieren. In dem Gebet um die Liebe Christi30 z. B. kommen nur sieben Bibelstellenangaben am Textrand vor: Laß mich auff dieser Hut stehen Tag vnnd Nacht31/ vnd diesen Schatz fleissig vnd embsig bewahren/ dafür sorgen / dafür beten. Denn diß ist der vorschmack des ewigen Lebens/ der Vorhoff des Paradises. […] Ach daß mein Hertz sich auffthete/ zu empfahen vnd in sich zu trincken/ deine zarte vnd edle Blutströpfflein/ die in deinem Todes-kampff auff die Erden gefallen sein.32 Ach daß sich die Brunnen meiner Augen aufftheten/ vnnd für liebe heisse Threnen vergössen/ vnd ich dir so lange nachweinete als ein Kind/ biß du mich holest/ auff deine Arme nimbst/ dich mir zu schmecken gibest/ vnd dich mit mir vereinigest/ durch die Geistliche Himlische vermehlung/ daß ich mit dir ein Hertz/ ein Geist vnnd ein Leib werde. Ach zeuch mich nach dir so lauff ich33/ ach daß ich dich küssen möchte in meinem Hertzen!34/ vnd aus deinem Munde deinen süssen Trost entpfinden.

Dieses Beispiel zeigt, wie Arndt in manchen Fällen auf Originalworte nur hinweist, während die Bibelstellen nach dem jeweiligen Sprecher umformuliert werden. (Vgl. Bibel: „Es ward aber sein schweis wie Blutstropffen/ die fielen auff die Erden“, bei Arndt: „zu empfahen vnd in sich zu trincken/ deine zarte vnd edle Blutströpfflein/ die in deinem Todes-kampff auff die Erden gefallen sein“). Eine 29 Hl 8,6: „SEtze mich wie ein Siegel auff dein Hertz/ vnd wie ein siegel auff deinen Arm/ Denn Liebe ist starck wie der Tod/ vnd Eiuer ist fest wie die Helle/ Jr glut ist fewrig/ vnd ein flammeHie sihet man wol das Salomo in diesem Liede von geistlicher Liebe singet/ die Gott gibt/ vnd vns auch erzeigt in alle seinen wolthaten des HERRN.“ 30 Arndt, Paradiß Gärtlein, 224–229. 31 Jes 21,8: „Vnd ein Lewe rieff/ HErr/ ich stehe auff der Warte jmerdar des tages/ vnd stelle mich auff meine Hut alle nacht.“ 32 Lk 22,44: „Vnd es kam/ das er mit dem Tode rang/ vnd betet hefftiger. Es ward aber sein schweis wie Blutstropffen/ die fielen auff die Erden.“ 33 Hl 1,4: „ZEuch mich dir nach/ so lauffen wir/ Der König füret mich in seine Kamer/ Wir frewen vns/ vnd sind frölich vber dir/ Wir gedencken an deine Brüste mehr/ denn an den Wein/ Die Fromen lieben dich.“ 34 Hl 8,1: „O Das ich dich/ mein Bruder/ der du meiner Mutter brüste saugest draussen fünde/ vnd dich küssen müste/ das mich niemand hönete.“

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große Bedeutung kommt hier charakteristischerweise dem Herzen zu. Einige Elemente (unter anderem das weinende Kind, Tröpflein statt Tropfen, Gott im Geschmack empfinden) sind der mittelalterlichen mystischen Tradition entlehnt, was symptomatisch für Arndts Werk ist. Er wies auch manchmal auf den Bibelinhalt hin, ohne jedoch ihn buchstäblich wiederzugeben. „Ach so laß mich nach dir weine[n]! und dich mit Threnen suchen wie Maria Magdalena.“35 Im Gebet um die Nachfolgung Christi wandelte Arndt biblische Ausdrücke ab, wie z. B.: „du ewiger Weg leite mich/ du ewige Warheit lehre mich/ du ewiges Leben erquicke mich“36. Im folgenden Zitat kommen die bereits erwähnten typischen Gedanken Arndts zum Vorschein, wenn er davon spricht, dass man ein sündhaftes Leben führt, solange man im Körper einer alten Kreatur lebt. Textbelege für solche Ansichten fand er natürlich in der Bibel, nur dass dort bloß das Motiv der neuen Kreatur auftaucht. Alle anderen entspringen also der Gedankenwelt von Arndt: Ach wie vngleich ist doch mein Sündliches Leben deinem Heiligen Leben/ Ich solte in dir als eine Newe Creatur leben37/ so lebe ich mehr in der alten Creatur/ nemlich in Adam/ als in dir meinem lieben HErrn Jesu Christo38/ ich solte nach dem Geist leben/ so lebe ich leider nach dem Fleisch/ vnnd weiß doch was die schrifft sagt: Wo ihr nach dem Fleisch lebet/ so werdet ihr sterben.39

Arndt bettet hier die Bibelstellen organisch in seinen eigenen Gedankengang ein, die Intertexte schmiegen sich unsichtbar an den Gebettext heran. Die Bibelintertexte werden in der Druckfassung fast immer am Seitenrand markiert. Es stellt sich also die Frage, welche Rolle die Marginalien in dem Gebetbuch spielen? Die mit ihnen überfüllten Seitenränder sind den LiteraturwissenschaftlerInnen bekannt. Die Verfasser (bzw. Drucker) von frühneuzeitlichen Schriften haben die von den Marginalien ‚angebotenen‘ Möglichkeiten in vielen Fällen sehr bewusst genutzt.40 Die Randbemerkungen haben unter-

35 Arndt, Paradiß Gärtlein, 228. Joh 20,15: „Spricht Jhesus zu jr/ Weib/ was weinestu? wen suchestu? Sie meinet es sey der Gartner/ vnd spricht zu jm/ Herr /hastu jn weggetragen? so sage mir/ wo hastu jn hin geleget? so wil ich jn holen.“ 36 Teil III, 4. Gebet. Gebet vmb die Nachfolgung Christi in: Arndt, Paradiß Gärtlein, 365. Joh 14, 6: „Jhesus spricht zu jm/ Jch bin der Weg/ vnd die Warheit/ vnd das Leben. Niemand kompt zum Vater/ denn durch Mich.“ 37 2 Kor 5,17. „Darumb ist jemand in Christo/ so ist er eine newe Creatur/ Das alte ist vergangen/ sihe/ es ist alles new worden.“ 38 Gal 6,15: „Denn in Christo Jhesu gilt weder Beschneitung noch Vorhaut etwas/ sondern eine newe Creatur.“ 39 Röm 8,13: „Denn wo jr nach dem Fleisch lebet/ so werdet jr sterben müssen. Wo jr aber durch den Geist des fleisches Gescheffte tödtet/ so werdet jr leben.“ 40 Tribble, Margins and marginality.

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schiedliche Funktionen:41 1) eine erbauliche, die im Falle des Paradiesgärtleins offensichtlich von großer Bedeutung ist42, 2) eine kommunikative, die dem Herausgeber oder Verfasser erlaubte, Leser zu beeinflussen, 3) eine kontrollierende, die als Macht- und Autoritätsquelle betrachtet werden kann, weil sie in vielen Fällen zur Stabilisierung der Bedeutung und zur Kontrollausübung über die Interpretation benutzt wird. Arndt nutzte darüber hinaus bewusst die Möglichkeiten, die ihm verschiedene Paratexte (darunter sind nicht nur die Marginalien, sondern auch die vielfältigen Register zu verstehen) zur Verfügung stellten. Obwohl ich weiterhin davon überzeugt bin, dass das Paradiesgärtlein vom Schatten des Wahren Christentums befreit werden müsste, lohnt es sich doch auf das Wahre Christentum einen Blick zu werfen. Auch dort findet man viele Marginalien, die aber nur selten Bibelstellen anführen. Sehr häufig sind dagegen die inhaltlichen Zusammenfassungen (z. B. „[w]orin d[as] ware Christenthum[m] stehe“43, oder „[w]er Christo nicht folget, der gleubet auch nicht an jhm“44 bzw. „der me[n]sch ein Bilde der heiligen Dreyfaltigkeit“45). Im Unterschied zu diesen inhaltlichen Kurzfassungen tauchen Bibelstellen im Paradiesgärtlein fast ausschließlich am Seitenrand auf, so ist daraus zu schließen, dass Arndt in seinen zwei Hauptwerken verschiedene Rezeptionsmethoden förderte. Das Wahre Christentum scheint, mit den belehrenden Marginalien ausgestattet, sich mehr für die Didaxe zu eignen, während das Paradiesgärtlein eher die potentiellen Leser zum Bibellesen ermuntert. Neben den Relationen zwischen der Lutherbibel und dem Paradiesgärtlein soll jetzt auch der Einfluss des Gebetbuchs Arndts auf die zeitgenössische Liederdichtung thematisiert werden. Obwohl Arndts Wahres Christentum eine größere und abwechslungsreichere Rezeption genoss, taucht das Paradiesgärtlein in unterschiedlichen literarischen Werken öfter auf, darunter fallen auch die verschiedenen Umdichtungen oder Lieder aus dem 17. Jahrhundert, die auf Arndts Gebeten basieren. Bekannt ist Christliche Welt- Feld- und Gartenbetrachtungen (1647)46 von dem Nürnberger Johann Michael Dilherr, in dem unter anderen Gedichte von Georg Philipp Harsdörffer zu finden sind. Johann Rist und Paul Gerhard, zwei der populärsten Kirchenliederdichter des 17. Jahrhunderts, 41 Slights, The Edifying Margins of Renaissance English Books, 682–716. Slights versuchte die verschiedenen Funktionen der Marginalien zu bestimmen, er stellte fünfzehn Funktionstypen fest. Zur erbaulichen Funktion siehe: ebd., 691. 42 Zu den englischen Bibelausgaben im Hinblick auf die Marginalien siehe: Tribble, Margins and marginality, 11–56. 43 Arndt, Vier Bücher Von wahrem Christenthumb, [Aijv]. 44 Ebd., [Aiiijv]. 45 Ebd., 2. 46 Ingen, Johann Michael Dilherr, 58.

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stützen sich in vielen ihren Liedern auf das Paradiesgärtlein.47 Auch Andreas Gryphius setzt in seinen Sonn- und Feiertags-Sonetten48 in mehreren Texten Elemente von Arndts Gebeten um. Im Unterschied zu anderen Werken Arndts sind die dichterischen Bezugnahmen auf das Paradiesgärtlein häufiger. Der Grund dafür liegt wahrscheinlich darin, dass das Gebetbuch in einer viel engeren Korrelation mit der Dichtung seiner Zeit stand. Zur Popularität des Paradiesgärtleins unter den Dichtern trugen auf jeden Fall die Bibelzitate bei. Es scheint mir, dass das Paradiesgärtlein eine eigene Rezeptionstradition entwickelte, die – auf welche Weise auch immer – unabhängig von dem Wahren Christentum verlief. Das Wahre Christentum wurde im 17. Jahrhundert noch als kontrovers angesehen, aber das Paradiesgärtlein fand seinen Weg zu der von den theologischen Streitigkeiten freien geistlichen Lyrik. Arndts Tätigkeit wurde in der Fachliteratur oft ganz radikal und heterodox bewertet, aber „[d]iese […] Bewertungen Arndts, vor allem seine Stellung zur Orthodoxie, hängen wohl letztlich von der Grundlage ab, auf der sie erfolgen“49. In der Forschung wird immer wieder hervorgehoben, dass Arndt sich fast in allen seinen Schriften – mit Ausnahme des Wahren Christentums – als ‚Pfleger bzw. Hüter der Tradition‘ zu erkennen gibt. Unter diesem Gesichtspunkt wurden hauptsächlich Arndts Predigtwerke untersucht, dabei kam in mehreren Fällen heraus, dass sich ein großer Unterschied zwischen dem Wahren Christentum und seinen Postillen feststellen lässt.50 Arndt folgte in seinen Predigten der traditionellen lutherischen Hermeneutik (‚die Bibel interpretiert sich selbst‘), und was den Stil und Inhalt betrifft, blieb er dem Gattungsrahmen verhaftet. Er bezog sich sehr deutlich auf Luthers Katechismus, ohne jedoch bei ihm Spuren von Heterodoxie oder Spiritualismus zu finden. In den Predigten tritt er oftmals sehr offensiv und polemisch gegen Katholiken und Reformierte auf. Meiner Meinung nach baut das Gebetbuch bewusst auf der lutherischen Tradition auf.

Zusammenfassung Die Bedeutung und Wirkung Luthers Bibelsprache auf das deutsche Schrifttum ist kaum zu überschätzen. August Langen unternahm seinerzeit den Versuch, die Wirkung der Lutherbibel auf den Wortschatz der Pietisten zu untersuchen. Er kam zum folgenden Schluss „Was der Pietist wie jeder Protestant im Ohr und im 47 Steiger (Hg.), Johann Rist/Johann Schop, 474–498, 507–515, 536–539; Axmacher, Johann Arndt und Paul Gerhard, 271–291; Mager, Johann Rists „Himmlische Lieder“, 70, 72–74. 48 Krummacher, Andreas Gryphius und Johann Arndt, 419–438. 49 Pfefferkorn, Predigt, 352. 50 Sommer, Johann Arndts Predigtwerke, 10–31; Anetsberger, Tröstende Lehre; Lund, Modus docendi mysticus, 223–245.

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Blut hat, ist das Wort und die Sprachkraft Luthers.“51 (Er fügte hinzu, dass diese Festlegung für das ganze protestantische religiöse Schrifttum gelten könne). Dass ein Erbauungsbuch im 17. Jahrhundert in großem Maße auf die Lutherbibel baute, ist wenig verwunderlich. Obwohl es um die Zeit des Todes Martin Luthers (1546) 253 Ganz- oder Teileditionen) von seiner Übersetzung gab, der ganze Text um 1580 schon achtunddreißigmal herausgegeben wurde52, und Anfang des 17. Jahrhunderts ungefähr eine halbe Million Lutherbibel im Umlauf waren,53 blieb die Bibel wegen des Bildungsstandes, ihres Kaufpreises, großen Formats (meist Folio) den meisten Menschen noch lange Zeit unzugänglich. Erst die Sechsgroschenbibel der Pietisten brachte am Ende des 17. Jahrhunderts den wichtigen Durchbruch in der Verbreitung der Bibel. Die Bibel verdankte ihre Beliebtheit auch den Textsorten, die auf sie zurückgriffen (Predigten, Andachtsund Erbauungsliteratur).54 Die Gebetspraxis hing schon vor der Reformation von der Heiligen Schrift ab. Der Psalter kann par excellence als ein Gebetbuch betrachtet werden, und schon im Mittelalter war er ein Bestandteil der Bibel, den die Laien zur Privatandacht gebrauchen durften.55 In der lutherischen Tradition steht das Gebet immer in enger Beziehung zur Bibel: Martin Luther schrieb in seinem Betbüchlein (1522) – in dem sich keine Gebetformeln befinden (!) –, dass es den Gläubigen völlig genüge, wenn sie mit ihren eigenen Worten zu Gott sprechen würden, denn niemand von ihnen brauche speziell ein Gebetbuch, das Vaterunser, das Glaubensbekenntnis, die Zehn Gebote, die Psalmen und das Ave Maria aus dem Lukasevangelium würden vollkommen ausreichen.56 Dieses idealisierte Konzept von Luther konnte aber in der Praxis nicht umgesetzt werden,57 die Nachfrage nach den ‚Mustergebeten‘ war zu groß. In den Gebetbüchern spielte die Bibel allerdings immer noch eine wichtige Rolle. In den Anfangsjahren der Reformation wurden überwiegend solche biblischen Gebetbücher bzw. Kompendien populär, wie Otto Brunfels’ Biblisch und christlich Betbüchlein (1528) oder Georg Schmaltzings Der Psalter Davids (1527). Unter Hinweis auf das am meisten verbreitete lutherische Gebetbuch, das Christliche Gebet von Johann Habermann 51 52 53 54 55 56 57

Langen, Der Wortschatz des deutschen Pietismus, 390. Cameron (Hg.), The New Cambridge History of the Bible, vol. 3, 234. Pfefferkorn, Martin Luthers sprachhistorische Bedeutung, 143. Ebd., 145. Achten, Gebetbücher II, 106. Wallmann, Zwischen Herzensgebet und Gebetbuch, 13–46. Die Meinung Luthers veränderte sich mit der Zeit, wenn er in seinem Katechismus und in den späteren Editionen des Betbüchleins einige Gebetformeln anführte (Abend- und Morgen-, und Tischgebete). Verstreut erscheinen Gebete auch in seinem Gesangbuch, und solche knappen Gemeindegebete (Kollektengebete, Gottesdienstliche Gebete) konnten als Vorbild für die Privatgebete dienen. In der Praxis war Luther also gar nicht so Gebetformeln-Skeptiker als in seinem Betbüchlein. Siehe dazu: Schulz, Gebetbücher III, 109f.

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(1567), wird immer wieder betont, dass sich Habermann in seinem Text ganz an der Bibel orientierte: In der Textgestalt der Gebete hält er sich (d. h. Habermann) wenn auch etwas weitschweifig, an die biblische Sprache und die biblischen Kernworte Luthers. Die Nähe zu Luthers kerniger Sprache hat zu dem nachhaltigen Erfolg des „Habermann“ nicht unwesentlich beigetragen.58

Habermann hat „mit diesem Rückgriff auf biblische Sprache und biblische Kernworte Luthers Ansatz fortentwickelt, wonach sich alles evangelische Beten an der Bibel entzünden muß“59. Das Hauptziel meines Beitrags war also nicht, den Zusammenhang zwischen dem Paradiesgärtlein und der Bibel zu exponieren. Mir war es wichtig, einerseits auf die Bibelentlehnungen in Johann Arndts Gebetbuch hinzuweisen, und andererseits mithilfe genauerer Gegenüberstellungen zu veranschaulichen, was, wie und wie viel Arndt aus der Bibel übernahm.

Literatur Quellen Arndt, Johann, Vier Bücher Von wahrem Christenthumb […] Das Erste Buch, Magdeburg 1610. – Paradiß Gärtlein/ Voller Christlicher Tugenden/ wie dieselbige in die Seele zu pflantzen, Magdeburg 1615.

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