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German Pages 1790 [1769] Year 2017
De Gruyter Reference Martin Luther Teilband I
Martin Luther
Ein Christ zwischen Reformen und Moderne (1517–2017) Herausgegeben von Alberto Melloni In Verbindung mit Anne Eusterschulte, Volker Leppin, Peter Opitz, Tarald Rasmussen, Gury Schneider-Ludorff, Silvana Seidel Menchi, Herman Selderhuis, Violet Soen, Kirsi Stjerna, Piotr Wilczek, Zhang Zhigang
Teilband I
Redaktion: Nico Huhle, Katrin Ott, Stefan Selbmann
ISBN 978-3-11-050100-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-049874-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-049825-7 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagabbildung: Luther und Melanchthon. Doppelporträt, 1543, von Lucas Cranach d. Ä. © akg-images Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Teilband I Alberto Melloni Luther als Christ. Eine Einführung 1
Einführungen Paolo Ricca Die Reformation und der Protestantismus 25 Wietse de Boer Reformation(en) und Gegenreformation(en): Umstrittene Begrifflichkeiten der Reformationsgeschichtsschreibung 45 Matteo Al Kalak Das tridentinische Zeitalter und das Zeitalter der Reformen 63 Christopher M. Bellitto Ecclesia semper reformanda. Mittelalterliche Ideen und Versuche von Kirchenreform 79 Euan Cameron Religion, Vernunft und Aberglaube von der Spätantike bis zu Luthers Reform 95 Wolf-Friedrich Schäufele Luther als Kirchenvater 115 Sergio Rostagno Was bleibt von Luther? 127
Luthers Leben Jon Balserak Das mittelalterliche Erbe Martin Luthers 147 Volker Leppin Luthers mystische Wurzeln 163
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Inhalt
Franz Posset Luthers Inspiratoren und Sympathisanten. Von Professor Johann von Staupitz bis zu den Kreisen von Nürnberg und Augsburg 177 Patrizio Foresta Der Thesenanschlag. Geschichte eines Mythos 189 Richard Rex Luther unter den Humanisten 209 Lothar Vogel Luthers Bibel. Hermeneutik, biblische Theologie und Übersetzung 229 Silvana Nitti Luther und die Obrigkeit 249 Bradley A. Peterson Luther und das Mönchtum 275 Michele Lodone Erasmus und Luther. Der freie und der unfreie Wille 293 Jonathan D. Trigg Kontroversen über Taufe und Abendmahl 1521–1532 307 Christopher W. Close Der Reichstag zu Worms und das Heilige Römische Reich 327 Ulrich Andreas Wien Luthers Verhältnis zu Bauern und Fürsten 343 Giampiero Brunelli Das Heilige Römische Reich und seine Reichstage, 1521–1546 363 Marco Iacovella Luther und die Religionsgespräche 381 Herman Selderhuis Luthers Tod 397
Inhalt
Reformen und Reformatoren Günter Frank Luther und Melanchthon 409 Herman Selderhuis Luther und Calvin 421 Federico Zuliani Luther und Zwingli 437 Günter Vogler Thomas Müntzers Erbe. Eine Alternative im reformatorischen Prozess 453 James Stayer Luther und die radikalen Reformer 473 Guido Mongini Die „dritten Sekten“ Die italienischen Häretiker und die Kritik an der protestantischen Reform (1530–1550) 495 Peter Walter Erasmus von Rotterdam und sein Umfeld 513 Lucio Biasiori Lutheraner vor dem Inquisitor: einer, keiner, hunderttausend 531 Enrique García Hernán Ignatius von Loyola: Der antilutherische Reformator 551
Teilband II
Gesellschaftliche Debatten Violet Soen Vom Augsburger Interim bis zum Vertrag von Augsburg (1548–1555) 575 Luise Schorn-Schütte Luther und die Politik 591
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Inhalt
Jörg Seiler Keuschheit als Politikum. Martin Luther und der Deutsche Orden 605 Kirsi Stjerna Luther und Frauen. Überlegungen zu Luthers Anhängerinnen und der biblische Beleg 621 Brooks Schramm Luther und die Juden 643 Roni Weinstein Judentum und Luthertum: Vieldeutige Stille 661 Gregory J. Miller Luther und die Türken 677 Helmut Puff Martin Luther, die sexuelle Reformation und gleichgeschlechtliche Sexualität 693
Luthers theologisches Erbe Christophe Chalamet Lutherische Scholastik. Eine Skizze lutherisch-orthodoxer Theologien und deren Rezeption von Karl Barth 713 Pierre Bühler Kreuzestheologie. Ihre Bedeutung bei Luther und einige Etappen ihrer Wirkungsgeschichte 731 Franco Motta Die Gefangennahme des Minotaurus. Das Lutherbild der katholischen Kontroverstheologie 747 Antonio Gerace Rechtfertigung durch Glauben. Die Geschichte einer Auseinandersetzung 775 André Birmelé Das theologische Selbstverständnis der evangelisch-lutherischen Kirchen 793
Inhalt
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Luther in der Ökumene Patrizio Foresta Katholische Verdammung und Erlösung Luthers 815 Johannes Oeldemann Das Erbe Martin Luthers und die Tradition der Orthodoxen Kirche. Zum Stand des orthodox-lutherischen Dialogs in der Gegenwart 839 Billy Kristanto Die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre 863 Sarah Hinlicky Wilson Luthertum im ökumenischen Dialog 881 Enrico Galavotti Luther und die ökumenische Bewegung. Vom Exkommunizierten zum gemeinsamen Lehrer 901
Rezeption in Philosophie und Geschichte Giovanni Rota Luther und die Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts 925 Fulvio Tessitore Die universalgeschichtliche Funktion der Reformation entsprechend dem Idealismus und dem Historismus in der deutschen Kultur 955 Gabriella Cotta Luther und die Revolution des Individuums 981 Roland Boer Luther im Marxismus 1003 Jordan J. Ballor Reformatorischer Protestantismus und der „Geist“ des Kapitalismus 1017 Günter Frank Luther in der katholischen Historiographie und Theologie: 19. und 20. Jahrhundert 1035
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Inhalt
Thomas Hahn-Bruckart Luther in der protestantischen Historiographie und Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts 1053 Heinrich Assel Luther und das Dritte Reich: Konsens und Bekenntnis 1075
Luther im Bild Thomas Albert Howard Geschichte in der Gegenwart: Gedenken an Luther 1617, 1817 und 1883 1097 Marcin Wisłocki Reformation und Baukunst 1121 Maria Lucia Weigel Martin Luther im Bildnis 1153 Otfried Czaika Bildung, Ausbildung und Unterricht während der Reformationszeit 1179 Esther P. Wipfler Luther in Film und Fernsehen 1199
Teilband III
Luther weltweit Johannes Burkhardt Von den Religionskriegen zur nachwestfälischen Welt 1217 Pál Ács Studium und Übersetzung der Bibel in Ungarn zur Zeit der Reformation (1540–1640) 1237 Michela Catto Der Anfang allen Übels: Bilder und Auslegungen der Reformation und Luthers im frühneuzeitlichen Italien 1259
Inhalt
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Girolamo Imbruglia Protestantismus und Aufklärung, 1691–1780 1277 Mariano Delgado Einige Wahrnehmungsmuster Luthers in der hispanischen Welt vom 16. Jahrhundert bis heute 1295 Christine Helmer Luther in Amerika 1311 Rady Roldán-Figueroa Martin Luther in Lateinamerika. Vom Mythos der Gegenreformation des lateinamerikanischen Katholizismus bis zu Luther als religiösem Caudillo 1329 Judith Becker Lutherische Mission und Kirchen in Afrika. Theologische Perspektiven 1351 Daniel Jeyaraj Luther in Asien: Indien 1375 Bibliographien 1395 Patrizio Foresta Chronologie der Schriften Martin Luthers 1503
Abbildungen Karten 1511 Porträts 1543 Hintergründe 1621 Werke / Dokumente 1645 Darstellungen 1671
Personenregister 1739
Alberto Melloni
Luther als Christ Eine Einführung Einer der wohl wichtigsten Lehrsätze, den die Geschichte für die Menschheit bereithält, lautet: „Damals wusste noch niemand, was vor uns lag.“ Haruki Murakami 1Q84. Buch 1&2, Köln 2010
1 Einleitung Lange vor Andy Warhols Factory hatte die Cranach-Werkstatt in Wittenberg bereits einiges von der Bedeutung der Replik verstanden.¹ Die innere Sicherheit, die gleichmütig aus der diachronischen Sequenz der Luther-Portraits dieser Werkstatt aufscheint, die Sorgfalt der Haartracht und des weich in die Stirn fallenden Doktorhuts des Professors, der Blick: Was uns diese Werkstatt vermacht hat, überlagert sich seit fünfhundert Jahren und erschuf ein unumgängliches ikonographisches Stereotyp, das die raumgreifende Korpulenz und die mitreißende Faszination des Doctor Martinus aufzeigt, manchmal auch verbirgt, aber keinesfalls schmälert. Mit den unbequemen Ausmaßen dieser Persönlichkeit müssen sich alle messen. Auf der Seite des Glaubens all jene, die in seinem Weg die Erhebung des Evangeliums in der Geschichte gespürt haben, all jene, die sein Verlangen nach Erlösung als das Durchschlagen einer dicken Kruste von Missbräuchen aufgefasst haben, all jene, die ihn der Zerstörung einer mythischen Einheit des Christentums bezichtigt haben, all jene, die seine Analyse der Conditio humana teilten oder ablehnten. Auf der Seite der Wissenschaften all jene, die die Gattungen der Lutherforschung neu durchdachten, all jene, die den Quellen theologische und historische Fragen stellten, die inzwischen klassisch geworden sind, all jene, die nach neuen Fragestellungen suchten und dabei das Risiko des Extrinsezismus und des Anachronismus hinnahmen. Dieses Werk zielt darauf ab, unter Mitwirkung vieler unterschiedlicher Blickwinkel die Komplexität der Figur, dessen Gesicht Cranach für uns replizierte, zu bewahren, wobei man über einige unerwartete Lücken, die in der langen Vorbereitungszeit entstanden, hinwegsehen möge. In der Unmenge von Veröffentlichungen, die die Fünfhundertjahrfeier zum per Konvention gesetzten Beginn der Reformation überschwemmen, zielt diese Sammlung historischer Betrachtungen nicht etwa darauf ab, eine vereinheitlichende Lesart zu bieten oder die offen gebliebenen historischen Übersetzung: Hedwig Rosenmöller. Für eine semiotische Einordnung vgl. die Einleitung der Herausgeber in: N. Dusi u. L. Spaziante (Hg.), Remix-Remake. Pratiche di replicabilità, Rom, 2006, 9 – 63. https://doi.org/9783110498745-001
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und theologischen Fragestellungen einfach aufzulisten. Diese Sammlung ist keine Synthese², und sie verficht auch keine These. Nach vielen älteren wie neueren³ klassischen Lebensbeschreibungen, nach der monumentalen Biographie von Martin Brecht,⁴ nach den „Luther“-Titeln von Thomas Kaufmann,⁵ Volker Leppin,⁶ Heinz Schilling⁷ und Adriano Prosperi,⁸ nach unzähligen Zusammenfassungen, Hilfsmitteln, Monographien und Lehrmodellen – nach all dem soll hier dem Leser ein Weg geboten werden, der einen Bogen schlägt von den Dreh- und Angelpunkten aus Luthers Leben zur Philologie seines Werks, von der Modellierung seines Abbildes zur Implementierung seiner theologischen Position, von der Schaffung seines Erbes zur Fähigkeit seines Predigens, der Theologie eine Richtung zu geben, von der Geographie seines Erfolgs zur unaufhörlichen Ausarbeitung einer „Lehre“. Die Originalität dieses Kraftakts (ob und inwiefern sie umgesetzt wurde, werden die Leserinnen und Leser beurteilen) liegt nicht im Umfang oder in der Mittelmäßigkeit einer umfassenden Enzyklopädie. Sie liegt vielmehr in der erklärten Absicht, in der vielseitigen historischen Funktion, die Luther ausübte, die Bedeutung der Tatsache auszuleuchten, dass er ein Christ war und sein wollte. Die vorliegenden Bände sollen den Leser begleiten zu den Brennpunkten der Geschichte und der Forschung über einen Mann, mit dessen Namen unzählige Bezeichnungen und Beinamen verbunden wurden – der Rebell,⁹ der Reformator, der Prophet, der Ketzer, der Visionär, der Moderne, der Erzteufel, der Stifter, der Herkules… – die mal als Synonyme, mal in Konkurrenz untereinander entstanden. Obschon sie diese Beinamen heranziehen und mit ihnen arbeiten, wollen die Verfasser dieser Bände ein für ihre historische Arbeit grundlegendes Postulat voranstellen: Luther ist ein Christ, und sein Christsein soll dem, was er tut, vorangeordnet und nicht nachgeordnet werden. Luther ist ein reformatorischer Christ und nicht ein christlicher Reformator; ein rebellischer Christ und nicht ein christlicher Rebell, und so weiter. Er kann demnach mit voller Legitimität mit den hermeneutischen Instrumenten und den Vgl. R. Kolb, I. Dingel, L. Batka, The Oxford Handbook of Martin Luther’s Theology, Oxford, 2014. J. Atkinson, Martin Luther and the Birth of Protestantism, London 1968 (19822); H. Bornkamm, Martin Luther in der Mitte seines Lebens, Göttingen 1979; B. Lohse, Martin Luther. Eine Einführung in sein Leben und sein Werk, München 1981; W. von Loewenich, Martin Luther. Der Mann und das Werk, München 1982; M. Lienhard, Martin Luther. Un temps, une vie, un message, Paris 1983; G. Brendler, Martin Luther, Theologie und Revolution: eine marxistische Darstellung, Köln 1983; M. Lienhard, Martin Luther: la passion de Dieu, Paris, 1999. M. Brecht, Martin Luther, Band I: Sein Weg zur Reformation, 1483 – 1521; Band II: Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521 – 1532; Band III, Die Erhaltung der Kirche 1532 – 1546, Stuttgart, 1981– 1987. T. Kaufmann, Martin Luther, München, 2015. V. Leppin, Martin Luther, Darmstadt, 2017. H. Schilling, Martin Luther: Rebell in einer Zeit des Umbruchs, München 2012 (ital. Übers. Martin Lutero. Ribelle in un’epoca di cambiamenti radicali, Turin, 2016). A. Prosperi, Lutero. Gli anni della fede e della libertà, Mailand, 2017. Vgl. beispielsweise M. Meisner, Martin Luther. Heiliger oder Rebell, Lübeck, 1981; W. Landgraf, Martin Luther. Reformator und Rebell, Berlin, 1981.
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epistemologischen Postulaten jeder einzelnen Disziplin betrachtet werden – vorausgesetzt, dass der Historiker, Theologe, Gläubige, Soziologe, Philosoph oder Prediger jeglicher Konfession anerkennt, dass er es mit einem Christen zu tun hat. Ein Christ und Theologe, der von der Kraft des Bibeltextes mitgerissen wird und seinen eigenen Weg des Seins im Glauben und als Gnade lebt, wobei er zu hohem Preis lernt, die kirchlichen Konventionen abzulehnen, die sich zwischen ihn selbst und das Evangelium drängen. Ein Christ, der diese seine Erfahrung nicht etwa imaginären Adressaten der Devotio des fünfzehnten Jahrhunderts, sondern einer realen Glaubensgemeinschaft übergibt, Männern und Frauen aus Ober- und Unterschicht, einer Glaubensgemeinschaft, die sich nun seit fünfhundert Jahren zu seiner Figur Gedanken macht. Ein Christ in der Geschichte, Scharnier und Messers Schneide zwischen unterschiedlichen Arten, gerade das Christsein und gerade die Geschichte aufzufassen.¹⁰
2 Zwischen Geschichte und Geschichtsschreibung Wenn hier vom Christen Luther gesprochen wird, so wird vom Postulat ausgegangen, dass es einen einzigen Luther mit einem einzigen Leben und einem einzigen Glauben gibt; allerdings ist die Forschung zu seiner Figur, zu seinem Leben und zu seinem Glauben inzwischen ein „Ding“ an sich, was für das Verständnis der Person sowohl Zugang als auch Hindernis bedeutet. Es gibt tatsächlich einen Luther der Geschichte: den seiner Großtaten, seiner res gestae. Viele von ihnen scheinen hell in ihrer plastischen Evidenz, viele sind komplexer zu dechiffrieren, viele bleiben unbekannt.¹¹ Aber eben diese Ereignisse gaben ihm die Gewissheit, an einen entscheidenden Scheitelpunkt gestellt worden zu sein, an dem Gott und der Teufel um seine Seele, um seinen Leib, um seine Kirche stritten.¹² Diese Großtaten hallten weit über die Lebensbahn dieses Mannes hinaus nach, der riskierte, schon lange vor dem kalten Winter 1546, in dem er starb, ermordet zu werden. Luthers Leben hat ein in seinen literarischen Formen sehr unterschiedliches Werk erhellt, das Teil dieses Lebens ist, weil es immer vom Evangelium her aus einer evangelischen Notwendigkeit entstand, die nur auf Basis ihrer selbst und von ihr selbst heraus beurteilt zu werden fordert. R. Koselleck, „Geschichte, Historie.V. Die Herausbildung des modernen Geschichtsbegriffs“, in: O. Brunner, W. Conze, R. Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, Bd. II, Stuttgart, 1985, 593 – 717 (ital. Übers. Storia. La formazione del concetto moderno, Bologna 2009). Zur Ungewissheit seines Geburtsjahres vgl. H.A. Oberman, Luther. Mensch zwischen Gott und Teufel, Berlin, 1982, 88 (ital. Übers. Martin Lutero. Un uomo tra Dio e il diavolo, Rom/Bari, 1987, 74); die Diskussion zur Qualifizierung der Thesen von 1517 wurde eingehend untersucht in B. Lohse (Hg.), Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther, Neuere Untersuchungen, Stuttgart, 1988; zur Verbreitung der Thesen durch Drucker, die den Text irgendwie in die Hand bekamen, vgl. Schilling, Martin Luter, cit., 81. Vgl. auch Oberman, Luther. Mensch zwischen Gott und Teufel, cit.
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Die Ereignisse haben jedoch in ihrer Faktizität eine historia rerum gestarum hervorgebracht, eine Geschichte der Großtaten, die diese Passagen erzählte und interpretierte. Die kritische Geschichtsschreibung erfüllte viele Funktionen: Sie förderte das christliche Leben der Anhänger Luthers, ob sie nun zeitlich nah oder fern zu seinem Leben standen; aber sie arbeitete auch wissenschaftlich immer umsichtigere Erkenntnisse heraus und eroberte das „Ding Luther“ für eine Gelehrsamkeit, in der neue methodologische Instanzen sich oft vor alten Dilemmata und alten Antworten wiederfanden.¹³ Von den Quellen zu fordern, etwas „Wahres“ zu sagen über diese weit zurückliegende Gegenwart, in der der Christ Luther auf einzigartige Weise die Beziehung der gegenseitigen Obhut mit dem Evangelium erfuhr, die über sein Leben entschied, ist nicht nur Aufgabe des Berufshistorikers. Das Ergebnis solcher „Ausgrabungen“ ist inzwischen zu einem Fakt an sich geworden, der sich zwischen Wahrnehmungen und Wirklichkeit gedrängt hat. Die klassische Unterscheidung zwischen res gestae und historia rerum gestarum, die den Schreibenden wie den Lesenden auf die unüberbrückbare Kluft aufmerksam macht, die zwischen der platten Realität der Dinge und ihrem kritischen Verständnis liegt, beleuchtet jedoch nur eine der vielen Möglichkeiten, Luther kennen zu lernen. Auf den unruhigen Augustinermönch, der zum sprichwörtlichen Reformator wird, auf den Professor, dessen exegetische Entdeckung eine neue Freiheit erschafft, auf den Propheten, der furchtlos die unreine Fragilität des papistischen Babylons anprangert (und aus einer einzigartigen Heterogenese der Zwecke heraus in diesem Babylon eine von der eigenen verschiedene, aber nicht weniger epochale Reform auslöst) richtete sich der Blick von Wissenschaftlern vieler Disziplinen: von Philosophen und Ökonomen, Kunsthistorikern und Musikwissenschaftlern, Juristen, Psychologen,¹⁴ Soziologen und vor allem Theologen. Vor allem mussten sie und ihre unterschiedlichen Fachrichtungen zur Kenntnis nehmen, dass der Aufruf Luthers – „Habt das Wort lieb“¹⁵ – der von der Kanzel des Predigers und von der Kathedra des Gelehrten herunterschallte, ein tatsächliches Glaubensleben hervorgerufen hat; und von diesem konnte danach niemand mehr absehen, weder der, der es zurückwies noch der, der es sich zu eigen machte.¹⁶
Vgl. die in den 1930er Jahren erstellte Kartierung durch das Lutherjahrbuch. Organ der internationalen Lutherforschung. Die psychopathologisierende Logik von Grisar und Denifle wurde übernommen von P. J. Reiter, Martin Luthers Umwelt, Charakter und Psychose sowie die Bedeutung dieser Faktoren für seine Entwicklung und Lehre. Eine historisch-psychiatrische Studie, 2 Bde., Kopenhagen, 1937– 1941, zu dieser Arbeit vgl. U. Becke, „Eine historisch-psychiatrische Studie Paul Johann Reiters über Luther“, in Zeitschrift für Kirchengeschichte, 90 (1979), 85 – 95; vgl. auch E.H. Erikson, Young Man Luther. A Study in Psychoanalysis and History, New York, 1958. WA 51,139. Ich teile nicht die auch in neueren Biographien weit verbreitete Position derer, die Luthers Desinteresse an der Ausarbeitung einer universalistischen Ekklesiologie mit einem Manko verwechseln.
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Luther und die Causa Lutheri¹⁷ zwangen den verschiedenen Theologien drängende Fragen auf, denen sich jeder stellen musste: um ihn zu verstehen, um sich selbst zu verstehen, um die Ferne oder Nähe zwischen Kirchen auszumessen, die nicht anders konnten, als – auch zum Preis der Uneinheit und der religiösen Gewalt – Stellung zu beziehen zu dem, was unerwartet ausschlaggebend geworden war und was durch das Zerreißen eine spiegelbildliche, aber einheitliche Agenda erzwang, die die vorherige lateinische Christenheit nicht gekannt hatte oder nur in sehr auserlesenen Eliten, die dem Anliegen der Reformation gegenüber machtlos waren. Ein Knotenpunkt – die Rechtfertigung – dokumentiert in aller Klarheit, wie sich diese Agenda längs dem Faden der Geschichte entwickelt: An einem Ende dieses Fadens steht das Konzil von Trient, das, gerade weil die „Protestanten“ fernbleiben, all das und nur das definiert und reformiert – richtiger: reformiert und definiert –, was von Luther ins Spiel gebracht wurde, und eine Unterscheidung zum Ausdruck bringt, die für Jahrhunderte eine unüberbrückbare Kluft zu markieren scheint; am anderen Ende steht die Gemeinsame Erklärung von Römischen Katholiken und Lutherischen Protestanten von 1999, in der nach Jahrhunderten der Aussaat von Verachtung und Gewalt und nach Jahrzehnten bilateraler Gespräche eine „Übereinkunft“ zum theologischen Herzstück der Kontroverse der ersten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts erzielt wurde, womit einer unendlichen Reihe von Disputen und Kontroversen, die im konfessionellen Selbstverständnis der beiden Kirchen eine Hauptrolle gespielt hatten, ein Interims-Charakter verliehen wurde, den sich keiner hätte vorstellen können.¹⁸
3 Der Querschnitt durch die Jahrhundertfeiern Die vorliegende riesige und langwierige (nicht nur) historisch-theologische Arbeit gehört zur unermesslichen Bibliothek der Lutherforschung, die inzwischen fast schon ein eigener Zweig ist in der Geschichte der Geschichtsschreibung, und die mit ihren wissenschaftlichen Initiativen, Editionen, Monographien und älteren wie neueren Fachzeitschriften die Jahrhunderte durchläuft. Es liegt nicht in meiner Intention (und
Vgl. J. Delumeau, Le cas Luther, Paris, 1983 und die Sammlung Dokumente zur Causa Lutheri (1517 – 1521), hg. u. komm. von P. Fabisch u. E. Iserloh, Münster, 1988. Joint Declaration on the Doctrine of Justification. A Commentary by the Institute for Ecumenical Research, Genf 1997; zum Dialog A. Maffeis, Giustificazione. Percorsi teologici nel dialogo tra le chiese, Cinisello Balsamo, 1998 und Id., Dossier sulla giustificazione, Cinisello Balsamo 2000; eine theologische Einordnung in B. Sesboüé, Sauvés par la grâce: les débats sur la justification du XVIe siècle à nos jours, Paris, 2009 (ital. Übers. Salvati per grazia. Il dibattito sulla giustificazione dalla Riforma ai nostri giorni, Bologna 2012); zum historiographischen Hinterland vgl. H. Oberman, „Das tridentinische Rechtsfertigungsdekret im Lichte spätmittelalterlicher Theologie“, in Zeitschrift für Theologie und Kirche, 61 (1964), 251– 282; A. Peters, „Reformatorische Rechtfertigungsbotschaft zwischen tridentinischer Rechtfertigungslehre und gegenwärtigem evangelischen Verständnis der Rechtfertigung“, in Lutherjahrbuch, 31 (1964), 77– 128; O.H. Pesch, Theologie der Rechtfertigung bei Martin Luther und Thomas von Aquin. Versuch eines systematisch-theologischen Dialogs, Mainz, 1967, 109 – 122.
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ich schließe aus, dass es in meinen Fähigkeiten läge), die „Ergebnisse“ dieser Forschung zu beschreiben oder zusammenzufassen. Ich mache nur auf zwei Dinge aufmerksam. Erstens wurde auch die Lutherforschung von der allgemeinen Tendenz des wissenschaftlichen Fortschritts zu einer immer feineren Arbeitsteilung erfasst:¹⁹ Die historisch-kritische Exegese etwa – die letztlich eines der Ergebnisse der von den Wittenberger Theologen erzwungenen Zentralität der Bibel war –, die Forschung zu Luther und zum Schicksal²⁰ seines Predigens, ist bereits so umfangreich, dass der Fachwissenschaftler vor der Wahl steht, entweder der Faszination alter literarischer Gattungen wie der Biographie zu erliegen, obwohl er genau weiß, dass er nur entweder eine Lesart erzwingen kann oder wenig Neues sagt, oder aber hinzunehmen, dass er sein Spezialistentum auf sehr kleine und sehr spezifische Segmente konzentrieren muss; obwohl er weiß, dass er auf diese Weise den Kirchen die „Macht der Synthese“ (zurück)gibt, die in einer Gesellschaft des Überangebots von Information die strategischste aller Erkenntnisse ist.²¹ Zweitens stand auch die Lutherforschung unter dem Einfluss der großen Strömungen der Geschichtsschreibung, der wechselhaften Trends der public history, der methodologischen Moden im historischen Fach im Allgemeinen, die so auch auf diese Bereiche unabhängig von den Absichten und sogar von der Qualität des einzelnen Lutherforschers eingewirkt haben. Luthers Jahrhundertfeiern – 1483, 1517, 1521 und 1546 – liefern das Raster dieses Vorgehens, wobei gerade das Reformationsjubiläum eine höhere symbolische Anziehungskraft zu haben scheint. Das mutmaßliche Schlagen des mutmaßlichen Hammers auf den mutmaßlichen Nagel an der real existierenden Tür der Schlosskirche, das die Periodisierung von Harnack anregte,²² hat eine sehr komplexe Reihe von Gedenkfeiern hervorgebracht, von denen wir heute am besten die vier Querschnitte begreifen, die uns vorangehen. Einige bedeutende Untersuchungen haben das intellektuelle Timbre der unterschiedlichen Jahrestage herausgearbeitet.²³
Zum Thema vgl. von A. Melloni (Hg.), Dizionario del sapere storico-religioso del Novecento, 2 Bde., Bologna, 2010. Die Kategorie wurde verwendet vom berühmten L. Febvre, Martin Luther, un destin, Paris, 1928 (19884, mit einem Nachw. von Robert Mandrou). Vgl. zur Diskussion der 1980er Jahre A. Abbott, „History and Sociology. The Lost Synthesis“, in: Social Science History, 15 (1991), 2, 201– 238. „Die Neuzeit hat mit der Reformation Luthers ihren Anfang genommen, und zwar am 31. Oktober 1517; die Hammerschläge an der Tür der Schlosskirche zu Wittenberg haben sie eingeleitet“, in: A. von Harnack, Erforschtes und Erlebtes, Berlin, 1923, 110; zu A. von Harnack vgl. Ders., Martin Luther in seiner Bedeutung für die Geschichte der Wissenschaft und der Bildung, Gießen, 1883, und außerdem J. Pelikan, „Adolf von Harnack on Luther“, in: Interpreters of the Reformer. Essays in honor of Wilhelm Paulk, hg. von J. Pelikan, Philadelphia, 1968, 253 – 273. D. Wendebourg, „Vergangene Reformationsjubiläen. Ein Rückblick auf 400 Jahre im Vorfeld von 2017“, in H. Schilling (Hg.), Der Reformator Martin Luther 2017. Symposion des Historischen Kollegs im November 2013, München, 2014, 261– 281; Dies., „Im Anfang war das Reformationsjubiläum. Eine kurze Geschichte von Reformationsfeiern und Lutherbildern“, in: Die Politische Meinung. Zeitschrift für Po-
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Die Einhundertjahrfeier der Reformation verortet sich 1617 an der Schwelle zu dem Krieg, der sich „dreißigjährig“ hinstrecken sollte. Sie drückt den Glauben der evangelischen Kirchen aus, denen 1519 die Definition als „lutherisch“ übergestülpt worden war und die durch ihre Existenz bewiesen, dass die Absicht, sie zu zerstören, keinen Erfolg gehabt hatte, analog zur Eigendarstellung Luthers, der aus seinem eigenen bedrohten, aber nicht zerschmetterten Apostolat immer den Willen Gottes herausgelesen hatte. Auf halbem Weg zwischen den Jubeljahren Clemens’ VIII. und Urbans VIII., die voll der verhassten Ablässe waren, feierten die protestantischen Fürsten ihr „Anti-Jubeljahr“ als eine Revanche und als ein Symbol.²⁴ Die Zweihundertjahrfeier der „Reformation“ fällt in ein anderes Klima: Im Jahr der ersten Verhaftung Voltaires und der Geburt D’Alemberts wird auch Luther zu einem „Aufklärer“, der die Schrift öffnet, der gegen den papistischen Obskurantismus kämpft, während die innere Gewissheit der Erlösung zum Ausdruck einer subjektiven Rationalität wird, die von den Hilaria evangelica des gelehrten Bibliothekars Ernst Salomon Cyprian in Vorbereitung des Festes gerühmt wird.²⁵ Das dritte Jubiläum von 1817 wird in einer politischen Welt gefeiert, über die die napoleonische Welle und der Rückzug der Restauration hinweggegangen sind.²⁶ Und während in Wien das Gewicht der gegenreformatorischen Gesetzgebung reduziert wird, um eine neue „Toleranz“ innerhalb der Grenzen des Kaiserreichs zu praktizieren,²⁷ wird der Held von Wittenberg²⁸ zum theoretischen Gegenstand in Hegels Vor-
litik, Gesellschaft, Religion und Kultur, Sonderausgabe 4 (2016), 19 – 25; vgl. auch H. Lehmann, Luthergedächtnis 1817 bis 2017, Göttingen, 2012. In der numismatischen Mikrogeschichte beachte man, dass Johannes Georg I. (1615 – 1656) eine Münze schlägt, die auf einer Seite das Portrait von Jan Hus als Märtyrer zeigt und auf der anderen das des Doctor Martinus in der Cranachschen Pose. Zu den Papstjubiläen vgl. A. Melloni, Il giubileo. Una storia, Rom/Bari, 2015. Vgl. E. Koch u. J. Wallmann (Hg.), Ernst Salomon Cyprian (1673 – 1745): zwischen Orthodoxie, Pietismus und Frühaufklärung. Vorträge des Internationalen Kolloquiums vom 14. bis 16. September 1995 in der Forschungs- und Landesbibliothek Gotha, Schloß Friedenstein, Gotha, 1996. Wenn man einen numismatischen Beleg haben möchte, kann man die Münze anschauen, die Friedrich August I. (1694– 1733) prägen ließ und die auf der einen Seite ein schmückendes Portrait trägt – entweder von Frau Luther geb. von Bora oder vom altbewährten Hus – und auf der anderen entweder eine auf die Schriften scheinende Kerze oder Kinder, die die Mönchskapuze als Symbol des durch den Reformator besiegten Glaubens verhöhnen. D. Wendebourg, „Die Reformationsjubiläen des 19. Jahrhunderts“, in Zeitschrift für Theologie und Kirche, 108 (2011), 3, 270 – 335. S. Berg, „‚The Lord Has Done Great Things for Us‘: The 1817 Reformation Celebrations and the End of the Counter-Reformation in the Habsburg Lands“, in: Central European History, 49 (2016), 1, 69 – 92, zum ersten Jubiläum im Habsburgerreich, das konnotiert war von einem „ökumenischen“ Geist, der hier untersucht wird anhand der Reden, die in Wien und Budapest gehalten wurden, nachdem Joseph II. die gegenrefomatorischen Verordnungen gelockert hatte. Vgl. auch R. Hennings, „Die Reformationsjubiläen 1817 und 1917 in Oldenburg“, in: Kirchliche Zeitgeschichte 26 (2013), 217– 237. W. Flügel, „Deutsche Lutheraner? Amerikanische Protestanten? Die Selbstdarstellung deutscher Einwanderer im Reformationsjubiläum 1817“, in: K. Thanner u. J. Ulrich (Hg.), Spurenlese. Reformationsvergegenwärtigung als Standortbestimmung (1717 – 1983), Leipzig, 2012, 71– 99.
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lesungen zur Geschichtsphilosophie, in denen der Glaube nicht mehr Negation der Vernunft ist, sondern in seiner ursprünglichen Form mit der Vernunft selbst übereinstimmt.²⁹ Im Jubiläum von 1917 ist der Hercules Germanicus Träger patriotischer Bedeutungen, die Kaiser Wilhelm II. am Herz lagen:³⁰ Die Akzentsetzung auf Luthers Antipapismus wird durch das Jubiläum von 1921 in die Zeit nach dem Krieg verlängert und dient der Propaganda gegen den Pazifismus Benedikts XV. Zudem helfen die antijüdischen Schimpftiraden des Reformators, Argumente zu sammeln für einen Antisemitismus, der nunmehr bereit ist, aus der Einfriedung des Disputs zwischen Treitschke und Mommsen wenige Jahrzehnte zuvor auszubrechen und zum Rohstoff des nationalsozialistischen Rassismus zu werden.³¹ In Bezug auf die vier vorangegangenen Jubiläen unterscheidet sich die Fünfhundertjahrfeier von 2017 nicht durch eine geringere Neigung, auf Luther die Anliegen zu projizieren, die die Gegenwart als Verpflichtungen gegenüber dem Theologen empfindet, der in der aristotelischen Ethik nicht den Raum der Freiheit sah, die nur in Christus verliehen wird. Und sie unterscheidet sich auch nicht in der Anzahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Festreden (die die Fülle von Initiativen zum Jahrestag von Luthers Geburt 1983 repliziert³²), sondern durch ihre Chance, den beschrittenen Weg historisch einzuordnen und die Gattungen noch einmal durchzugehen (die Biographie, die Werke, das Vermächtnis) wie auch die Fragen (die sola, die Freiheit, das Subjekt) in einer Welt, in der die Geschichte nicht mehr das gemeinsame Element der herrschenden Klassen ist und die Theologie skeptisch beäugt wird in einer Gesellschaft, die, auch aus Schuld der Kirchen, überzeugt ist von der Äquivalenz von nicht apologetischem Wissen und extrinsezistischem Wissen.
Auf den Medaillen von Nürnberg steht in Großbuchstaben Drittes Jubeljahr nach der Wiederherstellung des Reinen Evangeliums. U. Asendorf, Luther und Hegel: Untersuchung zur Grundlegung einer Neuen Systematischen Theologie, Wiesbaden, 1982, 518; D.O. Dahlstrom, Philosophical Legacies. Essays on the Thought of Kant, Hegel and their Contemporaries, Washington, 2008, 131– 132. Zum Beispiel erscheinen auf der Rückseite der Medaille, wo das Portrait des Dr. Martinus – der nicht das pausbackige Lächeln der Cranachschen Ikonographie trägt, sondern sich in den harten Zügen der rationalistischen Skulptur modernisiert hat – vom biblischen Spruch Gottes Wort bleibt in Ewigkeit wie von einem Heiligenschein umgeben ist, die Städte der Reformation (Eisleben, Worms, Erfurt, Wittenberg, Eisenach, Coburg), die den Nationalstaat nach außen hin abstecken. Zur Verlängerung bis 1921 vgl. D. Wendebourg, „Das Reformationsjubiläum von 1921“, in Zeitschrift für Theologie und Kirche, 110 (2013), 316 – 361. Nützliche Hinweise in der Dissertation von M. Kroneberg, Kampf der Schule an der „Heimatfront“ im Ersten Weltkrieg: Nagelungen, Hilfsdienste, Sammlungen und Feiern im Deutschen Reich, Hamburg, 2014, 223 – 224; ein mit den Veröffentlichungen von 1883 vergleichbares Schriftenverzeichnis in J.M. Reu, Thirty-five years of Luther Research, Chicago, 1917. Cfr. H.A. Oberman, The Roots of Anti-Semitism in the Age of Renaissance and Reformation, Philadelphia, 1984. H. Junghans, „Aus der Ernte des Lutherjubiläums 1983“, in: Lutherjahrbuch, 53 (1986), 55 – 137; A. Zumkeller, „Martin Luther und sein Orden“, in: Analecta Augustiniana, 25 (1962), 254– 290.
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4 Die grundlegende Frage Das reduziert allerdings nicht die Tragweite der Frage, die in jeder historischen Untersuchung zum Christen Luther zentral ist. Aufgabe der Geschichte ist es nämlich nicht, sich müßig zu fragen, ob Luther vielleicht immun war gegen die kulturellen Konditionierungen seiner Zeit (Antwort: nein), oder ob man ihn für außenstehend erklären kann in Bezug auf die Konditionierungen, die weiterrollten und zu schrecklichen Ergebnissen führten (Antwort: nein). Und es ist sicher richtig, führt aber nicht zu großen Ergebnissen auf historischer Ebene, sich zu fragen, ob es Elemente in seinem Werk gibt, die aufzeigen, dass Luther Dinge entdeckt hat, die nach ihm zentraler erschienen, als sie es für ihn als Kämpfer für das Evangelium waren (Antwort: ja). Es gehört ja schließlich zum Beruf des Wissenschaftlers, Absichten und Ergebnisse, ursprüngliche Motive und „politische Konditionierungen“ in Verbindung zu bringen oder zu unterscheiden, auch wenn sich hierin die Aufgabe des Historikers in Bezug auf das „Ding Luther“, das etwas ganz anderes ist, nicht erschöpft. Die Aufgabe des Historikers besteht darin, exakt in ihrem Eigentlichen die Gründe sowie die Art und Weise zu bestimmen, durch die die evangelische Erhebung ausgerechnet diesen Menschen in den Phasen und Widersprüchen seines konkreten Lebens faszinierte und von hier aus nach ihm durch alle Kirchen ihren Gang nahm, wobei sie sich an Luther messen musste. Die Aufgabe besteht also darin, exakt und eigentlich zu bestimmen, auf welche Weise das Ferment der spirituellen Erneuerung, das die Kirchen nach 1517 durchzog – und das sehr schnell von den spiegelsymmetrischen institutionellen Schwerfälligkeiten der Kirchen absorbiert, aber niemals gänzlich von ihnen erstickt wurde –, an das anknüpft, was für Luther grundlegend war. Für die, die Geschichte schreiben und lesen, geht es also nicht vorrangig darum, sich damit zufrieden zu geben, Fragen zu registrieren, die ohne eine angemessene historische Einordnung nur einer lobpreisenden oder einer herabsetzenden Logik nützen würden.³³ Es kann auch nicht darum gehen, sich damit zufrieden zu geben, diesen oder jenen Stein des Mosaiks Luther ins Riesenhafte zu vergrößern, um aus ihm einen riesigen Monochromismus zu machen. Erforderlich ist vielmehr das Bemühen, die Quellen von und über Luther ins Zentrum eines Konflikts zu setzen, in dem es immer um körperliches Leben und körperlichen Tod und um ewiges Leben und ewigen Tod geht, unter denen die Freiheit des Christenmenschen eine Wahl ermöglicht. Aus diesem Grund hat Luthers Prosa einen „kämpferischen“ Tonfall (wobei die Jovialität der Zwischenakte mit seinen Schülern dazu dient, dass der Kämpfer neue Kräfte sammelt, und nicht das Backstage einer theatralischen Fiktion darstellt) und gleichzeitig einen „evangelischen“ Tonfall (wobei die polemische Leidenschaft und die taktische List als Werkzeuge und nicht zur Minderung einer Wahrheit dienen).
Für die katholische Seite vgl. H. Denifle, Luther und Luthertum in der ersten Entwicklung, 2 Bde., Mainz, 1904– 1909.
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Diese Tatsache schreibt dieselbe Spannung auch in die Denkweise der Christen ein, die die Predigten des Doctor Martinus für sich annehmen. Vom Blickwinkel des Flüchtigen aus, der, angetrieben von einem Verlangen nach Erlösung, das ihn an Orte bringt, die kein anderer zu erreichen gewagt hatte, in die Lage des eingekesselten Menschen versetzt wurde, der nichts anderes tun kann, drückt Luther eine physische und verbale Aggressivität aus, die nicht sterilisiert werden sollte: Luther, der „Doktor“ und nicht „Bruder“ genannt werden wollte, verhandelt nicht, diskutiert nicht, plaudert nicht, toleriert nicht. Das Ganze im Namen einer unmittelbaren und befreienden Eloquenz des Bibelwortes und des Primats der Gnade, ohne die er nicht er selbst wäre. Dies macht Luther unabdingbar für eine Welt, die sich mit Erasmus hätte begnügen können. Liegt andererseits nicht genau hier der Grund dafür, dass der geschichtliche Luther nicht nur nach wie vor eine Schlüsselfigur zum Verständnis der Geschichte des 16. Jahrhunderts ist, sondern auch zu einer solchen Schlüsselfigur für die Jahrhunderte wurde, die uns vom 16. Jahrhundert trennen? Liegt hier nicht der Grund dafür, dass die zersetzende Kontroversistik des römischen Katholizismus, die noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts die gelehrte Gewalt eines Grisar oder Denifle aus der Scheide zog, erodierte bis zur sogar päpstlichen Anerkennung eines „Werts“ des Lutherischen Predigens und bis zur Lesart Luthers (es ist gar nicht so sicher, dass er es begrüßen würde…) als „Kirchenvater“?³⁴ Die Antwort wird meiner Ansicht nach von den vorliegenden Aufsätzen kommen und von den Fragen, die sie werden aufwerfen können. Ich möchte betonen, wie sehr es notwendig ist, Luthers „Unerträglichkeit“ unversehrt zu bewahren: Denn sie ist wesentlich zu seinem Verständnis in seiner Zeit, und sie ist einer der Parameter, mit denen wir die Zeiten verstehen, in denen Glaube, Polemik, Geschichte und Theologie ihn haben wieder aufleben lassen. Die Anachronismen, die Gebete und sogar der ethische Wert dessen, zu dessen Vater man ihn machen will, riskieren einen Luther abzuliefern, der sicher anders ist als der „abscheuliche Mönch“, als den ihn seine politischen und religiösen Feinde zeichneten, weit entfernt vom pausbackigen Helden der konfessionellen Ölmalerei, aber der ganz einfach nicht Luther ist. Der harte und argwöhnische Mann, der während der Religionsgespräche den Hinterhalt des Teufels sogar in seinem lieben Melanchthon fürchtet, kann nicht zum harmlosen Ergebnis einer geschwächten konkordistischen Lehre werden:³⁵ ein Püppchen, wie das anlässlich des Gedenkjahres 2017 von Playmobil hergestellte, dem man Haare und
P. Manns, Martin Luther: Ketzer oder Vater im Glauben?, Hannover 1980, Ders., Vater im Glauben: Studien zur Theologie Martin Luthers. Festgabe zum 65. Geburtstag am 10. März 1988, hrsg. von R. Decot, Stuttgart, 1988; und kürzlich M. Delgado u. V. Leppin (Hg.), Luther: Zankapfel zwischen den Konfessionen und „Vater im Glauben“? Historische, systematische und ökumenische Zugänge, Fribourg/Stuttgart, 2016, 205 – 217. Ich verwende die gegen Wolfhart Pannenberg und Gunther Wenz verwendete Kategorie von F. Nüssel, Allein aus Glauben. Zur Entwicklung der Rechtfertigungslehre in der konkordistischen und frühen nachkonkordistischen Theologie, Göttingen, 2000.
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Schreibfeder, Mantel und Hut, Manschetten und Bibel anheften kann, um ihn dann wie in einem Miniatur-Flashmob hinstellen zu können, wo immer man will. Lange nach solch spektakulären Wendepunkten wie der erwähnten Übereinkunft zur Rechtfertigungslehre zwischen dem Lutherischen Weltbund und der römisch-katholischen Kirche gebietet „jenes ich weiß nicht was, das wir historisches Gespür nennen wollen“,³⁶ daran zu arbeiten, die Besonderheit der Erfahrung Luthers zu bewahren sowie seine Nicht-Reduzierbarkeit auf künstliche philosophische, theologische oder historische Zusammenhänge.
5 Reform im Mittelalter Es gibt zwei weit auseinandergehende und rein geometrisch nicht in Übereinstimmung zu bringende großen Lesarten, wie Luther zwischen Mittelalter und Neuzeit einzuordnen sei. Die eine setzt ihn an den Abschluss des lateinischen Mittelalters. Es handelt sich um eine derart bekannte These, dass ich sie ohne allzu viele Erläuterungen aussprechen kann, wobei ich weiß, dass diese Problemstellung viele auch voneinander abweichende historiographische Abwandlungen hatte und immer noch hat. Sie hat auf ihrer Seite eine objektive Evidenz: Nur so kann Luther sein Schicksal und seine Causa als Reformator aufgefasst haben. Luther war sich des Risikos bewusst, wie Jan Hus hundert Jahre zuvor auf dem Scheiterhaufen zu landen, er versteht aber die Gefährlichkeit der Komponenten dieser Welt, die ihm geläufig sind und die er verleugnet, nicht um sein Leben zu retten, sondern um ein Leben als Geretteter, als Erlöster, leben zu können. Das Kirchenrecht und die Scholastik, das Kaiserreich und das Papsttum, die lateinische Sprache und das Mönchtum, den Zölibat und die Abtrennung: Luther verbrennt alles. Er leugnet, er bricht aus, er lehnt all das ab, was ihn auf „kultureller“ Ebene geprägt hat, um sich ganz dem Bibelwort anzuvertrauen. Wer – wie der ihm gleichaltrige Francesco Guicciardini – in Luther die „Irrtümer der Böhmen“³⁷ sieht, will nicht den Stil der römischen Häresiologie unterstützen, die dazu neigt, jede verurteilte Lehre als eine Reinkarnation älterer Irrtümer zu betrachten
Der Ausdruck wurde verwendet von Delio Cantimori, um die erste Arbeit von G. Alberigo zu loben, vgl. G. Alberigo, I vescovi italiani al Concilio di Trento (1545 – 1547), Florenz, 1959. „Es folgte das Jahr 1520: Während der Frieden in Italien aus denselben Gründen, aus denen er im vorangegangenen Jahr erhalten geblieben war, weiter Bestand hatte, begannen sich in diesem Jahr Lehren sehr zu verbreiten, die zunächst gegen die Autorität der römischen Kirche, dann gegen die Autorität der christlichen Religion neu entstanden waren. Dieses verderbliche Gift hatte seinen Ursprung in Deutschland in der Provinz Sachsen mit den Predigten Martin Luthers, eines Augustinermönchs, der in den Grundzügen die alten Irrtümer der Böhmen zu großen Teilen wachrief. Diese Irrtümer blieben lange Zeit in den Grenzen Böhmens eingehegt, nachdem sie durch das in Konstanz begangene allgemeine Konzil der Kirche verdammt und zusammen mit der Autorität zweier Hauptanführer jener Häresie, Jan Hus und Hieronymus von Prag, verbrannt worden waren“, in: F. Guicciardini, Storia d’Italia, a cura di S. Seidel Menchi, Introduzione di F. Gilbert, 3 Bde., Turin, 1971, Buch XIII, Kapitel 15.
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und mit dem Präzedenzfall die Notwendigkeit ihrer Ausrottung zu legitimieren: Er will eher die das 14. und 15. Jahrhundert durchziehende unheilbare Taubheit des Papsttums gegenüber der reformatio in capite et in membris anklagen. Und obgleich er viel von Luther versteht, erfasst er nicht, dass dessen Originalität gerade darin liegt, die Hoffnung auf Reform anzunehmen und umzuschreiben, die weder die Avignonesische Gefangenschaft noch das Abendländische Schisma oder die Renaissance-Kultur imstande waren, zu erfüllen oder auszulöschen.³⁸ Luther übernimmt und überarbeitet die reformatorische Prophezeiung derer, die – wie Joachim von Fiore oder Jan Hus und in gewisser Weise auch Girolamo Savonarola³⁹ – einer politischen und religiösen Autorität widerstanden, die stark genug war, ihre Prophezeiung mit Prozess, Verurteilung und Exekution „wahr zu machen“. Gleichzeitig übernimmt und überarbeitet er das evangelische Anliegen, aus dem die Devotio moderna (moderna in der Selbstdefinition) hervorgegangen war, die ein Gemeinschaftserleben von unten her entwickelte und somit auf die Reform der kirchlichen Struktur verzichtete, um sich der Selbstreformation des Lebens, des Gesangs, der Geschlechterverhältnisse, der Frömmigkeit und des Predigens zu widmen. Diese Welt des gemeinsamen Lebens, die in der Frühen Neuzeit oder Frühmoderne (wobei hier das Wort Moderne von den Historikern definiert wird), zum Verschwinden bestimmt war, um dem Konfessionalismus als System Platz zu machen, hallt nach im Leser des Augustinus: Auch wenn er aus diesem „Ursprung“ der Reformation abstammt, kann Luther nicht in dieser eingesperrt werden aus dem einzigen Grund, dass er der Epoche, die er eröffnet, das Siegel eines so alten Wortes wie Reformatio aufdrückte.⁴⁰ Gerade die tatsächliche und in gewisser Hinsicht offensichtliche mittelalterliche Verwurzelung Luthers ermöglicht heute jedoch einen neuen Blick auf die Reformation: nämlich als einen extremen und drastisch fruchtbaren Versuch, auf die Modernisierung (nicht auf die Modernität!) des humanistischen Papsttums zu reagieren.⁴¹ Mit dem Empfindungsvermögen eines frommen Menschen des 15. Jahrhunderts, dessen Wurzeln in abgeschiedenen Gebieten liegen und der dann Professor in einer Stadt mit 2.000 Einwohnern wird, sieht Luther nur Missbrauch, Korruption und Schändlichkeit, wenn er auf eine Kirche schaut, die vier Jahrhunderte lang die „Dualismen“ ausgebrütet hat, die nach Paolo Prodi vom 11. Jahrhundert bis zum Ende
Vgl. den Brief an Spalatin vom Februar 1520: „Wir sind alle Hussiten, ohne es zu wissen“ (WA.BR 2,255). Zur Episode der Übergabe des Portraits von Fra Savonarola vgl. Brecht, Martin Luther, Bd. I, cit., 427; H.-M. de Lubac, La postérité spirituelle de Joachim de Flore, 2 Bde., Paris, 1979 – 1981, ital. Übers. La posterità spirituale di Gioacchino da Fiore, 2 Bde., Mailand, 1981– 1984. Auf Thomas Müntzer bezieht die beiden Figuren Schilling, Martin Lutero, cit., 259. G. Alberigo, La riforma protestante. Origini e cause, 3. Aufl., Brescia, 1998 (Originalaufl. 1977). C.M. Bellitto u. L.I. Hamilton (Hg.), Reforming the Church before Modernity: Patterns, Problems and Approaches, Aldershot/Burlington, 2005.
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des zweiten Jahrtausends den Westen prägten;⁴² oder wenn er auf eine politische Philosophie schaut, die sich gerade in den Jahrzehnten, um die es hier geht, zuspitzt und die im Begriff steht, die konstituierenden Merkmale des „Modernen Staates“ noch vor seiner Definition und seiner Verankerung in der Konfessionalisierung auszuarbeiten.⁴³ In diesem Prozess ist das Christentum bereits an ein neues Subjekt übergegangen, nämlich an die persönliche Innerlichkeit, in die sich Luthers Überzeugung gründet, dass dem Bibelwort seine verloren gegangene Position gegeben werden solle. Die Erasmusausgabe des Neuen Testaments war in diesem Sinn ein ganz gegenständlicher unwissentlicher und unfreiwilliger Vorläufer.⁴⁴ In diesem Raum, von dem auch die Diskussion zum Naturrecht seit Wilhelm von Ockham einiges erahnt hatte⁴⁵ und der später die Entwicklung einer Lutherischen Theosislehre möglich machte, bricht Luther – entflammt vor Entrüstung über die Art und Weise, wie der verabscheute Bischof von Mainz die von ihm zur Kumulation seines dritten Bistums eingegangenen Schulden gegenfinanziert – mit seiner Gegenwart im Namen einer evangelischen Radikalität, die das Unerwartete erschließt.
6 Belege für die Modernität Hat dieser Bruch die „Moderne“ hervorgebracht? Viele – sowohl apologetische als auch diffamierende – Publikationen bejahten dies und machten Luther zum Initiator der Moderne (oder der Modernen?). Der geschichtliche junge „Martin Luder“ sieht und kennt nichts Modernes: die Entscheidung, Mönch zu werden⁴⁶ und sich dem universitären Leben zu widmen, überschreitet nicht die Grenzen seiner Welt.⁴⁷ Als ätiologische Verzerrung kann eine Reihe von Studien der Sozialgeschichte aufgefasst werden, die in der wirtschaftlichen Physiognomik seiner Geburtsstadt, die auf der Suche Vgl. die Trilogie von P. Prodi, Una storia della giustizia. Dal pluralismo dei fori al moderno dualismo tra coscienza e diritto, Bologna, 2000; Il sacramento del potere. Il giuramento politico nella storia costituzionale dell’Occidente, Bologna, 1992; Il sovrano pontefice. Un corpo e due anime: la monarchia papale nella prima età moderna, Bologna, 1982. Zur bekannten Position Wolfgang Reinhards vgl. die effiziente Zusammenfassung in W. Reinhard, „Reformation, Counter-Reformation, and the Early Modern State“, in: The Catholic Historical Review, 75 (1989) 3, 383 – 404 und seine Storia del potere politico in Europa, Bologna, 2001. Vgl. M. Walraff, S. Seidel Menchi u. K. von Greyerz (Hg.), Basel 1516. Erasmus’ Edition of the New Testament, Heidelberg, 2016. B. Tierney, The Idea of Natural Rights. Studies on Natural Rights, Natural Law, and Church Law, 1150 – 1625, Atlanta, 1997 und sein neuerer Beitrag „The Idea of Natural Rights-Origins and Persistence“, in: Northwestern Journal of International Human Rights, 2, (2004), 1, 1– 13; vgl. auch R. Saccenti, Debating Medieval Natural Law. A Survey, Notre Dame, 2016. A. Zumkeller, „Martin Luther und sein Orden“, in: Analecta Augustiniana, 25 (1962), 254– 290. Zu Erfurt E. Kleineidam, Universitas Studii Erfordensis. Überblick über die Geschichte der Universität Erfurt im Mittelalter 1392 – 1521, Bd. II: Spätscholastik, Humanismus und Reformation, 1461 – 1521, Leipzig, 1969.
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nach Bildung war, alles vorfand, was auf einen Luther warten konnte: Bürgerschaften auf der Suche nach Repräsentanz, politische Gefühle, die den weit entfernten Mächten feindlich gegenüberstanden, Konsumenten, die bereit waren für das gedruckte Buch. Nimmt Luder für diese Welt, die nicht nach der alten Reformatio suchte, sondern nach einer neuen Freiheit, den Künstlernamen Eleutherios an, der in der Abkürzung Luther zu seiner neuen Identität wird? Nein, er bewegt sich nicht aus solchen sozialen Bedürfnissen heraus, auch wenn er sie verwendet; er schifft sich nicht auf philosophischen Karavellen ein, um zu den Kontinenten des Ichs zu reisen. Er unternimmt ganz einfach eine Reise durch das Evangelium, aus der ein neuartiger Gebrauch der Entscheidung, der Selbstverantwortung, des öffentlichen Lebens und der Politik erwächst. Zwei Episoden der Lutherischen „Blütenlesen“ sind besonders ausdrucksstark als eine schon immer dagewesene Vergrößerungslinse der an Luther – auf theologischer, philosophischer oder historischer Ebene – festzumachenden Merkmale, wobei eine solche Linse allerdings die Proportionen im Verhältnis zu einem „Ganzen“ verschiebt, das im Brief an die Galater oder im Brief an die Römer Erfüllung findet. Die erste Blütenlese bezieht sich auf das Jahr 1517: Das „Anschlagen“ der Thesen ist ein Mythos, der zum Ölbild wurde, bis hin zu den Gemälden, die zwischen der Hälfte des 18. und dem Ende des darauffolgenden Jahrhunderts Luther in der Kutte des romantischen Helden portraitieren, im Erstaunen über das Ende einer Epoche.⁴⁸ Es ist allseits bekannt, dass der Reformator die Thesen wohl nicht anschlug, dass die akademische Anfechtung der Praktiken der Prediger nicht ungewöhnlich war und dass der Appell an den nicht um den in seinem Namen begangenen Missbrauch wissenden Papst keine Taktik war. Dennoch ist die epische Verzerrung keine „Fälschung“, sondern eine Inventio im engeren Sinne. Sie findet ein Objekt und ordnet ihm eine Geschichte zu: In diesem Fall den Bruch mit dem Gesetz des Schweigens, den eine Seele vollziehen kann, die durch Gnade für ihre Erlösung verantwortlich wurde⁴⁹ und gerade deshalb frei ist von der sterilen Schuldzuweisung an den mittelalterlichen Büßer. Dasselbe gilt für das Bild vom 18. April 1521 in Worms, das den Mönch auf der Höhe seiner 35 Jahre und seines Wissens vor dem zwanzigjährigen Karl V. und seinem Reichstag widerstehend darstellt. Auch hier gibt es die Inventio eines effektvollen Satzes – das berühmte Hier stehe ich, ich kann nicht anders – das hinter der metrischen Erhabenheit die evangelische Klarsicht verbirgt, mit der der zum Ketzer erklärte Christenmensch ein wohlbekanntes Schicksal sich abzeichnen sieht. Dennoch evoziert auch diese Inventio mit ihrer wiederholten Verwendung des Pronomens in der
H. Holsing, Luther – Gottesmann und Nationalheld. Sein Image in der deutschen Historienmalerei des 19. Jahrhunderts, Diss., Universität zu Köln, 2004. Zur finnischen Schule und zur Person als „ekstatisches Sein in Christus“ vgl. R. Saarinen, „Ökumenische Theologie am Ende des 20. Jahrhunderts“, in Theologische Rundschau, 65 (2000), 206 – 225, wo der evangelisch-orthodoxe Dialog kritisiert wird; S. Carletto, „Lutero, la divinizzazione e l’ontologia. Temi e figure della ‚finnische Lutherforschung‘“, in Annali di Studi Religiosi, 3 (2002), 157– 197.
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ersten Person ein sich selbst gegenüber verantwortliches Subjekt auf neue Weise im Vergleich zum Homo medievalis und seiner Auffassung der moralischen Tat.⁵⁰ Diese „Haltung“ des Selbst wäre demnach die Freiheit oder die Rebellion oder die „Modernität“ Luthers? Das denkt jedenfalls die Ideologie des katholischen Intransigentismus, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Reformator den ersten Fehler eines ganzen Reigens von Übeln sieht, der sogar bis zur Moderne und zur relativistischen Postmoderne reicht, die dem mythischen Mediävalismus entgegen stehen, in dem das Wohl der Gesellschaft mit der Unterwerfung unter die Macht und unter die Ideologie des Gemeinwohls übereinstimmte.⁵¹ Das denkt jedoch auch Habermas,⁵² auf den Spuren einer Theologie, die keine Zweifel kannte.⁵³
7 Luther als Europäer Die Sichtweise auf Luther als Vater der Moderne oder als Epigone des Reform-Mittelalters schreibt sich also ein in den Prozess der Konfessionalisierung des Glaubens.⁵⁴ Dieser hat zur unausweichlichen, aber nicht ewigwährenden Konsequenz die von Giuseppe Alberigo als solche definierte „Beschlagnahmung Luthers durch die Lutheraner“,⁵⁵ die nur dank der ökumenischen Arbeit wahrnehmbar ist. Das war nicht die einzige Beschlagnahmung, deren Opfer der Reformator wurde, und dies ist nicht
Für eine spezifische Position vgl. zum Beispiel R. Saccenti, Conservare la retta volontà. L’atto morale nelle dottrine di Filippo il Cancelliere e Ugo di Saint-Cher (1225 – 1235), Bologna, 2013. D. Menozzi, La chiesa cattolica e la secolarizzazione, Turin, 1993; die Verbindung zwischen dieser Reihe von Visionen und der des Lutherischen Pietismus von Novalis, der nichts zu tun hat mit der Modernität als Autonomie des Subjekts, würde eine Untersuchung verdienen. J. Habermas, Der Philosophische Diskurs der Moderne: Zwölf Vorlesungen, Frankfurt am Main, 1985. Zum Beispiel M. Wolfes, Protestantische Theologie und Moderne Welt. Studien zur Geschichte der Liberalen Theologie, Berlin/New York, 1999. Die grundlegende Position wurde zum Ausdruck gebracht von W. Reinhard, „Zwang zur Konfessionalisierung? Prolegomena zu einer Theorie des konfessionellen Zeitalters“, in Zeitschrift für historische Forschung, 10, (1983), 3, 257– 277; eine kritische Untersuchung eines Teils der Debatte in H. Klueting, „‚Zweite Reformation‘ – Konfessionsbildung – Konfessionalisierung. Zwanzig Jahre Kontroversen und Ergebnisse nach zwanzig Jahren, in: Historische Zeitschrift, 277 (2003), 309 – 341. G. Alberigo, „Martin Lutero nella coscienza cattolica dopo il Vaticano II“, in: Martin Luther e il Protestantesimo in Italia. Bilancio storiografico. Atti del convegno internazionale in occasione del quinto centenario della nascita di Lutero (1483 – 1983), Mailand 1984, 210 – 222: „In dem Maße, in dem Luther sich im christlichen Glauben erhalten hat, und mit ihm all jene, die ihm bis heute gefolgt sind, bedeutet das, dass sich in ihm evangelische Werte ausdrückten, die dazu bestimmt sind, für alle Kirchen fruchtbar zu sein“; nach dem Historiker aus Bologna „kann man sagen, dass Luthers ‚Vereinnahmung‘ durch die Lutheraner die Rezeption seiner Botschaft genauso verzögert und behindert hat wie die Feindseligkeit, das Misstrauen und die Ignoranz der Katholiken“; ein diagonaler Blickwinkel in H.-C. Rublack (Hg.), Die lutherische Konfessionalisierung. Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte 1988, Gütersloh, 1992.
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das einzige Problem, auf das eine neuere Bestrebung antwortet, die die trans-historiographischen Dimensionen erkundet hat.⁵⁶ Wenn es etwas gibt, dessen wir sicher sein können, dann ist es, dass Luther sich eine „deutsche“ Dimension gibt: Die Welt des Handwerks und der Metalle seiner Familie und seines Konvents erweitert sich und gewinnt als Bezugspunkt eine Natio, die auf ihn hört; es gibt eine linguistische Dimension, die die monumentale Bibelübersetzung durchzieht;⁵⁷ es gibt eine Dimension des ethischen Selbstbewusstseins, das im Ablassstreit die ganze Empörung auf Rom richtet, die auch Albrecht, den verschuldeten Bestecher, betreffen musste;⁵⁸ es gibt eine ganz und gar politische Dimension, die den Reformator, Verbannten und Mönch den Bauernaufstand als einen teuflischen Akt auffassen lässt, der eine Gewalt verdient, die die Fürsten nicht zögern, zu vervielfachen.⁵⁹ Dieser „deutsche“ Luther wird später mit propagandistischer Absicht jedes Mal gefeiert, wenn die Nation eine politische Einheit erreicht.⁶⁰
8 Eine doppelte Verpflichtung Es gibt tatsächlich auch einen transnationalen Luther oder, wenn man die Ungenauigkeit akzeptiert, einen „europäischen“ Luther. Zur Konturierung dieser Figur leisten seine zwei Gegner einen wesentlichen Beitrag: Der Kaiser und der Papst. Karl V. und der Reichstag beurteilen in Worms eine zunächst leicht scheinende Causa mit einem als sicher zu erwartendem Ergebnis: Da ist ein Streit zwischen Bettelmönchen und Universitätsprofessoren, der an einen schon 200 Jahre alten und noch immer lebendigen Antagonismus erinnert;⁶¹ es gibt ein Urteil des Apostolischen Stuhls, das nur vor einem unwahrscheinlich scheinenden Konzil angefochten werden könnte, das aber aus päpstlicher Sicht eine abzuwendende Gefahr darstellt;⁶² es gibt K. von Greyerz, M. Jakubowski-Tiessen, T. Kaufmann et al. (Hg.), Interkonfessionalität – Transkonfessionalität – binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese, Gütersloh, 2003. H. Gelhaus, Der Streit um Luthers Bibelverdeutschung im 16. und 17. Jahrhundert, 2 Bde., Tübingen, 1989 – 1990. F. Jürgensmeier (Hg.), Erzbischof Albrecht von Brandenburg 1490 – 1545. Ein Kirchen- und Reichsfürst der Frühen Zeit, Frankfurt am Main, 1991. P. Blickle, Der Bauernkrieg: Die Revolution des Gemeinen Mannes, 4. Aufl., München, 2012 (Originalaufl. 2002). Cfr. J.-B. Müller (Hg.), Die Deutschen und Luther. Texte zur Geschichte und Wirkung, Stuttgart, 1983; L. Müller, Diktatur und Revolution. Reformation und Bauernkrieg in der Geschichtsschreibung des „Dritten Reiches“ und der DDR, Stuttgart, 2004. Vgl. A.G. Traver, „Secular and Mendicant Masters of the Faculty of Theology at the University of Paris, 1505 – 1523“, in The Sixteenth Century Journal, 26 (1995), 1, 137– 155; zu den Ursprüngen vgl. zusätzlich zu den berühmten Aufsätzen von Yves Congar auch S. E. Young, Scholarly Community at the Early University of Paris. Theologians, Education and Society 1215 – 1248, Cambridge, 2014. Vgl. die Arbeiten von H.J. Sieben, Die katholische Konzilsidee des lateinischen Mittelalters, Paderborn 1984, und Die katholische Konzilsidee von der Reformation bis zur Aufklärung, Paderborn, 1988.
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eine Übereinkunft der akademischen Autoritäten und sogar des Erasmus, des letzten Vorgebirges der beruhigenden humanistischen Kultur vor den unendlichen Weiten einer unbekannten Welt,⁶³ gegen den Ketzer aus Wittenberg.Wenn die Automatismen, die den Wittenberger Professor in Asche verwandeln sollten, ins Stocken geraten, so liegt das nicht nur an der Protektion, die dem Verbannten von Friedrich dem Weisen angeboten wird, von dem Fürsten, der nicht für die Führung des Kaiserreichs kandidiert hatte.⁶⁴ Es liegt auch daran, dass Karl, gerade weil er die Verurteilung anerkennt, ihn in die große Politik einführt. Es ist sein Name, den die Landsknechte während der Plünderung Roms 1527 in die päpstlichen Fresken ritzen. Wenn also Karl V. sich mit einer Krönung in Bologna am 24. Februar 1530 begnügen muss, um nicht den Groll der Ewigen Stadt herauszufordern, dann liegt das daran, dass er Luther eine Dimension verlieh, die auch nach dem neuen Reichstag, der über die Reformation diskutierte, und auch nach dem Tod des Rebellen bestehen blieb. Der Kaiser zeigt sich dessen bewusst, als er sich, nachdem er im Mai 1547 Wittenberg eingenommen hat, vor dem Grab Luthers in der Schlosskirche zurückhält, wenigstens dessen sterbliche Überreste den Flammen zu übergeben.⁶⁵ Ein unausgeführter Akt des Triumphalismus, der den fait accompli des europäischen Mythos Luther anzuerkennen scheint, des unbewaffneten Herolds des Evangeliums, der sich nicht vor dem Herrscher des unendlichen Kaiserreichs beugt, welcher sich mit dem papistischen Dämon verbündet hat. Am Ende erhält Luther alles, was er haben wollte, nämlich die Möglichkeit, das Evangelium zu predigen, bis zu den äußersten Grenzen der Erde. Ein nicht weniger entscheidender Faktor für Luthers Prägung wird ausgerechnet der Papst. In dem Moment, in dem Rom Luthers Verurteilung wegen Ketzerei verkündet, wird die Causa Luthers „universal“, nicht nur auf politischer Ebene, sondern auch auf theologischer.⁶⁶ In dem Moment, in dem Luther die Bulle verbrennt und sich somit weigert, zu einem der vielen zu rehabilitierenden Opfer einer Macht zu werden, in der er die Züge des Antichrists erkennt, muss Rom sich den Folgen stellen, durch die die Reformation zu einer eigenen Causa wird.⁶⁷ Es gibt keinerlei Zweifel an der
Vgl. A.S.Q. Visser, „Reading Augustine through Erasmus’ Eyes. Humanist Scholarship and Paratextual Guidance in the Wake of the Reformation“, Erasmus Studies, 28 (2008), 67– 90. M. Schulze, „Friedrich der Weise. Politik und Reformation“, in: Relationen. Studien zum Übergang vom Spätmittelalter zur Reformation, hrsg. von A. Lexutt, W. Matz, Münster, 2000, 335 – 355; vgl. Schilling, Martin Lutero, cit., 108. Zum Gemälde des Adolf Friedrich Teich, vgl. Schilling, Martin Lutero, cit., 523 – 524. Der Gang der evangelischen Botschafter nach Konstantinopel im vergeblichen Versuch den ökumenischen Patriarchen für die Causa der Reformation zu gewinnen und vier Jahrhunderte später die römische Überzeugung, immer noch mehr Dinge gemeinsam zu haben mit dem orthodoxen Orient als mit dem Protestantismus, drücken diese neue Dimension Luthers aus, die zur globalen Chiffre des christlichen Selbstbewusstseins in universaler Größenordnung wurde. A. Prosperi, Il Concilio di Trento: una introduzione storica, Turin, 2001.
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Chronologie von Luthers Abscheu gegen das Papsttum:⁶⁸ Das Mönchlein, das wegen Zwistigkeiten der Augustiner in Rom ankommt, empfindet keinerlei Bewunderung für die komplexeste steuerpolitische Maschinerie der damaligen Zeit; und als er seine exegetische und theologische Entdeckung macht, gelingt es ihm, mit immer größerer Klarheit zu erkennen, dass dieses Papsttum nicht etwa ein Hindernis für den Glauben ist, weil es dem Anliegen der Reform gegenüber taub ist, sondern im Gegenteil: Es ist taub gegenüber der Reform, weil es ein Hindernis für den Glauben ist. Daher muss man ihm mit offenem Visier entgegentreten und es nur mit der Kraft Gottes bewaffnet herausfordern und überall (bei den Fürsten, in den Städten, im Kaiserreich) die Mittel aufgreifen, um diese Schlacht zu schlagen, die einen fast eschatologischen Beigeschmack hat. Diese übergroße Intransigenz zwingt Rom dazu, ein Duell anzunehmen, das gar kein Duell hätte werden dürfen, sondern – nach Auffassung Leos X. – mit einer banalen Exekution wegen Ketzerei hätte enden müssen, aufgrund einer „Lehre“, die sich nicht hatte in den politischen Grenzen der Unterdrückbarkeit halten können⁶⁹ und die sich auch nicht als eine reine „Selbstreform“ präsentieren konnte, die das Papsttum ignorieren oder akzeptieren konnte, wie es das gesamte 16. Jahrhundert hindurch geschehen sollte.⁷⁰ Die Prima sedes, a nemine iudicatur,⁷¹ spricht eine Verurteilung aus, die sie selbst aburteilt und die den Verurteilten zwingt, über die eigene spirituelle und theologische „Entdeckung“ und über die Bedeutung des sola fide zu entscheiden. Was im September 1517 eine theologische „Erscheinung“ war, wurde mit der Bulle vom 15. Juni 1520 zu einer existentiellen Grenzlinie. Dasselbe gilt für die Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen aus dem Herbst desselben Jahres, die dem Papsttum die radikale Ablehnung jeglichen Autoritätsarguments vorsetzt, das die Befreiung und die Freiheit des Bibelworts unterordnet. Es fehlen nur 25 Jahre bis zur Eröffnung des Trienter Konzils, 43 bis zu seiner Beendigung, etwas mehr als ein Jahrhundert bis zum Westfälischen Frieden, ein Drittel Jahrtausend bis zum Vaticanum II, geringfügig weniger als 500 Jahre bis zur ersten Teilnahme eines Papstes am Reformationsjubiläum. Und es ist unzweifelhaft, dass auf der faktischen Ebene nur die charakterliche und verbale Härte Luthers, die sich durch das römische Unverständnis immer mehr zuspitzte, die ganze Kirche – einschließlich des Papsttums – zwang, dorthin zu gehen, wo auf eigenen Füßen anzulangen unmöglich gewesen wäre. Eine abgeschwächte Vision in R. Bäumer, Martin Luther und der Papst, Münster 19823; P. Ricca, Lutero e il Papa: la Chiesa, in Lutero nel suo e nel nostro tempo. Studi e conferenze per il 5° centenario della nascita di M. Lutero, Turin, 1983, 169 – 200. Zum italienischen Vermächtnis der Lehre des Delio Cantimori vgl. M. Firpo, Riforma protestante ed eresie nell’Italia del Cinquecento. Un profilo storico, 6. Aufl., Rom/Bari, 2008 (Originalaufl. 1993). Für eine kritische und bibliographische Einordnung vgl. beispielsweise die Sammlung N.H. Minnich, The Catholic Reformation: council, churchmen, controversies, Aldershot, 1993; S.D. Bowd, Reform before the Reformation: Vincenzo Querini and the religious Renaissance in Italy, Leiden, 2002; E. Massa, Una cristianità nell’alba del Rinascimento: Paolo Giustiniani e il „Libellus ad Leonem X“ (1513), Genua, 2005; J. O’Malley, The First Jesuits, Harvard, 1993. Zum Axiom vgl. S. Vacca, Prima sedes a nemine iudicatur. Genesi e sviluppo storico dell’assioma fino al decreto di Graziano, Rom, 1993.
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9 Der Konflikt und sein Ausgang Das Gegenteil versuchten der historische Finalismus und der historische Providentialismus vorzubringen: durch eine Glaubensfrage getrennte Zwillinge, aber identisch in ihrem Bestreben, dass die Rechnung aufgehen sollte, indem sie den Lauf der Dinge als determiniert und rational darstellten, in einer gleichmäßigen Verteilung von unrecht haben und recht haben.⁷² Wenn es also etwas gibt, das die historisch-kritische Arbeit der Entwicklung der eigenen Disziplin, den Theologien und dem Leben der Kirchen anbieten kann, ist es die Schärfe in der Bewahrung der effektiven Gewalt, der Heimsuchungen der Jahrhunderte, des Skandals der Trennung der Christen, der Spuren, die die Glaubensspaltung sogar in der kolonialen und postkolonialen Mission hinterlässt, der Reformationsprozesse und der institutionellen Verhärtungen, die gegen Luther und um ihn herum entstanden. Luther wird nicht geboren, um eine Kirche und eine Form des christlichen Lebens zu entwerfen, durch die er das Predigen sowohl vor der päpstlichen Verurteilung als auch vor den Schlussfolgerungen schützen könnte, die die Bauern oder die Wiedertäufer für ihn ziehen. Die Reform, deren Morgendämmerung er im endlich befreiten Bibelwort sieht, sollte eine Reform der Kirche in ihrer Gesamtheit sein. In gewissem Sinn könnte man den berühmten Sinnspruch des Alfred Loisy aufgreifen („Jesus verkündete das Reich Gottes – gekommen ist die Kirche“), um zu sagen, dass Luther die Reform erwartete und eine Kirche kam. Ohne diese Niederlage hätte das evangelische Anliegen nicht seine Fruchtbarkeit finden und Kontakt aufnehmen können mit dem semper reformanda im von Karl Barth erläuterten Sinn. Und ohne diese Niederlage hätte sich die lateinische Kirche, die seiner Reform nicht beitritt, nicht in der Notwendigkeit wiedergefunden, eine solche Reform durchzuführen, was sie sonst nie akzeptiert hätte. Die Illusion, mit schierer Macht das unkalkulierbare institutionelle Gewicht, das zwischen dem 11. und dem 15. Jahrhundert entstanden war, tragen zu können, muss der Idee eines Konzils weichen, das spät kommt, aber es kommt.⁷³ Es war die Idee zu einer Reform, die zwar eine forma sanctae romanae ecclesiae auf der Ebene von Lehre und Repression wiederherstellt, aber die lateinische Kirche in eine neue Ära führt. In dieser neuen Ära werden alle von Luther gewählten Instrumente – Predigt, Katechismus, Teilnahme an der Liturgie, Sakramente, Amt, Konfessionalisierung, Gerichte, politische Theologie, Exegese, Ehe, Soziabilität, Bildung, Philosophien, Dogmatiken – als polarisierte Inhalte und mit einer unauslöschlichen Symmetrie Für eine theoretische Diskussion dieses Punkts vgl. O. Marquard, A. Melloni, La storia che giudica la storia che assolve, Rom/Bari, 2008. Vgl. H. Jedin, Geschichte des Konzils von Trient, 5 Bde., Darmstadt, 2017, neue Ausg.; (ital. Übers. Storia del Concilio di Trento, 2. Aufl., Brescia, 1973 – 1981 [Originalaufl. 1949]); J.E. Vercruysse, „Ermeneutica del concilio di Trento in prospettiva ecumenica“, in: G. Alberigo, I. Rogger, Il Concilio di Trento nella prospettiva del Terzo Millennio. Atti del convegno tenuto a Trento il 25 – 28 settembre 1995, Brescia, 1997, 57– 76; vgl. auch kürzlich Prosperi, Il Concilio di Trento, cit.
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aufgegriffen, aus der noch nie die entsprechenden „christlichen“ Schlussfolgerungen gezogen wurden. Sich in die monumentale Bibliothek der Lutherforschung einzureihen und dabei den Christen Luther im Blick zu haben, bedeutet nicht, kritischen Problemstellungen und historischen Fragen auszuweichen, die, wie die Leserinnen und Leser dieser Bände feststellen werden, aus mehreren Blickwinkeln und in der Überzeugung, dass jede Option ihre sed contra mit sich bringt, behandelt werden. Es bedeutet, ein „Einheits“-Postulat aufzustellen, das – mit Popper gesprochen – Zugang zu Erkenntnissen ermöglichen kann, die mit anderen Netzen nicht immer erreichbar wären. Man kann und muss manchmal sogar unterschiedliche Gewichte an das Leben oder an die Werke Luthers anlegen, zum Glaubensleben, das das eine oder die anderen hervorbrachten, zu den Phasen und zu den theologischen Inhalten eines Moments seines Lebens oder seiner Nachwelt. Dabei ist jedoch zu bedenken – und darauf legen diese Bände Wert –, dass eine tiefe Einheit hier im Begriff steht, sich zu spalten, nämlich die christliche Dimension. Man kann große Editionen erstellen bis hin zu einer „Patristik“ der Reformation und des Reformators:⁷⁴ Dabei sollte man jedoch berücksichtigen, dass sein Werk aus der Leidenschaft und aus der Gefahrensituation eines Menschen heraus entsteht, dessen Schreibfeder zum Seismographen einer Gesamtlage wird, die auch die eigenen Bestrebungen übersteigt und ihn zwingt, den Seinen die dringende Notwendigkeit weiterzugeben; das nimmt seinen Schriften allerdings nichts weg, sondern fügt ihnen jene evangelische Kraft hinzu, die immer noch wahrnehmbar ist. Der Christ Luther wendet sich immer noch an die Forschung und an die Kirchen: Gerade die Forschungsarbeit kann, wenn sie mit intellektueller Redlichkeit und wissenschaftlicher Strenge durchgeführt wird, besonders schroffe Fragen an die Kirchen stellen. Eine wichtige Phase der Ökumene hat versucht, der Tragödie der Teilung der Christen in einer Logik pluraler Charismen einen Sinn zu geben: nicht Uneinigkeit also, sondern Spezifizität und idiomata, die sich darauf beschränken, als vorrangig hervorzuheben, was in den anderen nachrangig ist. Die Teilung wäre demnach nur eine Frage der Talente: der Orthodoxie die Talente der Liturgie, der römisch-katholischen Kirche die Talente der Stabilität der Institution, den Protestanten die der Liebe zur Schrift. So wurde vor allem in der katholischen Ökumene das sola scriptura zu einer Akzentsetzung von banalem pädagogischem Wert. Umgekehrt wurde im antiökumenischen evangelikalen Lager die Schrift zu einem identitätsstiftenden Marker, der seine Bewahrheitung im biblischen Fundamentalismus und in der wörtlichen Auslegung findet. Der historisch-kritische Widerstand gegen solche Vereinfachungen war eindringlich und penibel. Es ist nämlich vollkommen evident, dass der „Luther der Geschichte“ nicht dieser oder irgendeiner anderen Verkürzung anhängen kann – ob sie nun ökumenisch oder antiökumenisch ist, und dass er sich ohne irgendwelche
Fabisch/Iserloh, Dokumente zur Causa Lutheri (1517 – 1521), cit.
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Rücksichten auf den ethisch-politischen Wert der einen oder der anderen Option beschränkt. Das Problem liegt anderswo, nämlich in der historischen Einordnung einer Dimension, die gleichzeitig öffentlich und innerlich ist: Luther ist nämlich nicht daran interessiert, innerhalb einer Menge von theologischen Positionen, mit denen zu wetteifern wäre oder die sich gegenseitig ergänzen sollten, einen Trend zu setzen, ob er nun einen Konflikt mit dem theologischen Mainstream bedeutet oder nicht. Er ist daran interessiert, alle Schlussfolgerungen zu ziehen aus der Intuition, die ihn dazu führte, die Kraft des Bibelworts im Glaubensakt zu entdecken. Er ist daran interessiert, ein Christ zu sein.
Einführungen
Lucas Cranach der Ältere, Martin Luther als Augustinermönch, Stich, New York, Metropolitan Museum of Art, 1520 (Image copyright The Metropolitan Museum of Art / Art Resource/Scala, Florenz)
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Die Reformation und der Protestantismus 1 Die Entstehung des Protestantismus Die Geburtsstunde des Protestantismus wird üblicherweise und aus guten Gründen in der Protestation der evangelischen Fürsten während des Reichtags zu Speyer vom 20. April 1529 gesehen. Sie richtete sich damit gegen den Mehrheitsbeschluss zur Aufhebung des im Speyerischen Reichstag im Juni 1526 einstimmig gefassten Beschlusses, welcher der politischen Führung eines jeden Staates des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation die Autorität verlieh, die Religion des eigenen Landes zu bestimmen. Die Herrscher konnten frei entscheiden, ob sie das Christentum nach den Regeln Martin Luthers und anderer Reformatoren übernehmen oder das traditionelle Christentum unter der Führung des römischen Pontifex beibehalten wollten. Diese freie Wahl wurde vom zweiten Speyerischen Reichstag widerrufen, und gegen diesen Widerruf „protestierten“ die evangelischen Fürsten. Sie hatten in ihren Staaten die von Luther gewollte Reformation eingeführt, man las dort unter anderem bereits die Messe in der Sprache des Volkes. Mit der Protestation erklärten die Fürsten die Gründe ihrer Aktion, es ging im Grunde um zwei Einwände. Erstens war die Entscheidung des ersten Speyerischen Reichtags von 1526 einstimmig gefasst worden und durfte daher während eines späteren Reichtags nur einstimmig abgeändert oder aufgehoben werden. (Der nur mehrheitlich gefasste Beschluss des zweiten Reichstags von 1529 konnte keinen vorherigen, einstimmigen Beschluss aufheben.) Der zweite Einwand war nicht gesetzlicher, sondern religiöser Natur und wurde folgendermaßen in Worte gekleidet: Außerdem hat auch sonst jeder in Dingen, die Gottes Ehre, das Heil unserer Seele und die Seligkeit angehen, für sich selbst vor Gott zu stehen und Rechenschaft zu geben; hier gefunden: So kann sich also keiner mit [Berufung auf] Verhandlung oder Beschluss einer Minderheit oder Mehrheit entschuldigen […]. Da aber nun diese dritte Anzeige unserer merklichen Beschwerde bei Euer königlichen Durchlaucht und Liebden, sowie bei Euch, den anderen [Fürsten], keine Möglichkeit noch Annahme erfährt, protestieren und bezeugen wir hiermit offenöffentlich vor Gott, unserem alleinigen Erschaffer, Erhalter, Erlöser und Seligmacher, der (– wie bereits erwähnt – allein unser aller Herzen erforscht und erkennt, und auch demnach danach gerecht richten wird) auch vor allen Menschen und Kreaturen, daß geschöpfen, dass wir für uns, die Unsrigen und aller männiglich halben in Unserer und für alle Handlung und vermeinten jeder Verhandlung und vermeintlichen [Reichstags‐]Abschied, wie wir vorher gesagt, oder anderen Sachen, die gegen Gott, sein heiliges Wort, unser aller Seelenheil und gutes Gewissen, auch gegen den vorher zitierten Speyrer Reichstagsabschied vorgenommen, beschlossen und gemacht worden sind, nicht zu-
Übersetzung: Fried Rosenstock.
https://doi.org/9783110498745-002
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stimmen noch billigen, einwilligen, sondern [sie] aus vorgesetzten rechtlichen und anderen redlichen gegründeten ursachengründen für nichtig und unbündig unverbindlich halten.
Wie schon gesagt, der zweite Grund für die Protestaktion/Protestation war religiöser Natur. In Glaubensfragen ist jedermann nur Gott verantwortlich, niemand kann sich damit entschuldigen, dass er seine Verantwortung auf eine äußere Autorität übertragen habe müssen, weil diese es so verlangte. Die Entscheidung des zweiten Reichstags zu Speyer nahm den Fürsten, und damit auch ihren Untertanen, die Möglichkeit der freien Wahl zwischen dem „reformierten“ und dem traditionellen Christentum, eine offene Verneinung der Gewissenfreiheit, wie sie die evangelische Minderheit des Reichtages verlangte. Der Protestantismus ist ein Kind dieser Forderung, also eines ununterdrückbaren Verlangens nach Freiheit, genauer gesagt, der religiösen Gewissensfreiheit. Aber wer waren sie, diese ersten „Protestanten“, und wer hätte es sich jemals vorstellen können, dass ihr Publice protestamur vom 16. Jahrhundert bis heute fast der gesamten evangelischen Bewegung mit ihren zahlreichen Formen den Namen gegeben hätte? Es handelte sich um fünf Fürsten, Johann, Kurfürst von Sachsen, Philipp, Landgraf von Hessen, Georg, Markgraf von Brandenburg,Wolfgang, Fürst von AnhaltKöthen, Ernst und Franz von Braunschweig-Lüneburg sowie die Repräsentanten von vierzehn Städten, Konstanz, Heilbronn, Isny, Kempten, Lindau, Memmingen, Nördlingen, Nürnberg, Reutlingen, Straßburg, Sankt Gallen, Ulm, Windsheim und Weißenburg. Protestamur, was heißt das eigentlich? Das Verb protestor, protestari bedeutet „Zeugnis ablegen“, „öffentlich erklären“. Die Idee des Protestes, die im Verb „protestieren“, im Adjektiv „protestierend“ und im Substantiv „Protestant“ im Vordergrund steht, bleibt im lateinischen Verb protestor eher im Hintergrund (ohne jedoch ganz abwesend zu sein). Im Vordergrund stehen: Zeugnis ablegen, feierliche Erklärung, öffentliche Bezeugung. Somit hat die Protestation der evangelischen Minderheit während des zweiten Reichstags zu Speyer mehr den Charakter eines Glaubensbekenntnisses als eines Protests.
2 Der Protestantismus und die Reformation Der protestantische französische Historiker Emile G. Léonard nennt den Protestantismus den „Sohn, der sich von der katholischen Kirche emanzipiert hat“. In einem gewissen Sinne trifft das zu, der Protestantismus entstand innerhalb der Kirche, nicht außerhalb, war für die Kirche und nicht gegen sie, wurde von Söhnen der Kirche geschaffen und nicht von Feinden. Gleichzeitig jedoch wurde dieser „Sohn“, vielleicht weil er „emanzipiert“ war, sofort verstoßen und nicht als Sohn anerkannt. Historisch gesehen entstand der Protestantismus auf Initiative des Mönchs Martin Luther im Herbst 1517 mit der Niederschrift und Verbreitung der 95 Thesen über die Buße, gefolgt von zwei wichtigen öffentlichen Disputationen (die erste 1518 in Heidelberg, die zweite
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1519 in Leipzig) und, als Höhepunkt, von der Veröffentlichung von drei programmatischen Schriften im Jahre 1520 (Aufruf An den christlichen Adel deutscher Nation, Die babylonische Gefangenschaft der Kirche, Von der Freyheith eines Christenmenschen). Der Protestantismus wurde von der römischen Kirche sowohl als Lehre als auch als Lebensweg verurteilt und schließlich mit der Bulle Decet Romanum Pontificem vom 3. Januar 1521 als Ketzerei verdammt und Luther exkommuniziert. Der Protestantismus ist Sohn der Reformation und ihrer Exkommunizierung. Es gäbe keinen Protestantismus, wenn es keine Reformation gegeben hätte, aber es würde ihn auch nicht geben, wenn die Reformation nicht exkommuniziert worden wäre. Es gibt den Protestantismus, weil die exkommunizierte Reformation nicht auf ihr Kirchenprojekt verzichtete. Sie hat sich zwar in einer Pluralität verschiedenster Formen nationaler und regionaler Art artikuliert, aber mit einem gemeinsamen Verständnis der christlichen Botschaft und einer weitgehend einheitlichen Vision von der Natur, der Funktion und der Rolle der Kirche in der Welt. Es versteht sich von selbst, dass man den Protestantismus ohne die Reformation nicht verstehen kann. Aber auch die gegenteilige Behauptung ist zutreffend, dass man nämlich die Reformation nicht verstehen kann, wenn man sie, wie es oft geschieht, von ihrem unvermeidlichen historischen Ergebnis, dem Protestantismus, isoliert. Dieser ist zweifellos ein vielfältiges Phänomen, so wie es auch die Reformation von Anfang an war. Daher sprechen einige Gelehrte von „Protestantismen“, also in der Mehrzahl, nicht von „Protestantismus“. Das sei zugestanden, wenn man die einheitliche Basis des Protestantismus aus den Augen nicht verliert. Man verwende guten Gewissens den Begriff „Protestantismen“, solange man nicht vernachlässigt, dass diese die Zweige ein und derselben Pflanze sind. Wenn es zutrifft, dass man den Protestantismus ohne die Reformation nicht verstehen kann, stellt sich unausweichlich die Frage: Was war in Wirklichkeit jenes historische Phänomen – vom Anschlag der 95 Thesen (1517) bis zur lutherischen Konkordienformel von 1577 –, das etwa sechzig Jahre andauerte und von uns die protestantische Reformation genannt wird? Ein Phänomen dieser Proportionen, die das religiöse Gesicht Europas radikal veränderte, hat es weder vorher noch hinterher in der Geschichte des christlichen Abendlandes gegeben. Ihm müssen zahlreiche Ursachen zugrunde liegen, die in größerem oder geringerem Ausmaß zu seiner Entstehung und Entwicklung beigetragen haben. Vielleicht ist es angebracht, sie kurz in Erinnerung zu rufen. Unter den Ursachen für, die dem Erfolg der Reformation beigetragen haben, hat mit Sicherheit die moralische Frage eine Rolle gespielt. Die Reformation wurde vor allem von der katholischen Seite als eine Reaktion, die man gut verstehen kann, auf den weit verbreiteten moralischen Verfall des Klerus und des religiösen Lebens erklärt. Nicht wenig Gewicht hatte auch der politische Faktor, der langsame, aber unaufhaltsame Niedergang des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, das Aufblühen der städtischen, regionalen und nationalen Autonomien (die Reformation ließ in vielen Nationen nationale oder örtliche Kirchen entstehen, unabhängig von einer zentralen religiösen Autorität), sowie die ausschlaggebende Entscheidung ei-
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niger Fürsten und Stadträte, die Reformbestrebungen zu unterstützen und sie für ihre Gebiete zu übernehmen. Auch ein sozialer Faktor hat ohne Zweifel eine Rolle gespielt, die Krise der feudalen Wirtschaftsstruktur und das Entstehen einer neuen Ökonomie, die sich auf die Arbeit und den Handel stützte und unter der Hegemonie des Bürgertums zur Herausbildung des Kapitalismus führte. In diesem Zusammenhang ist die Reformation als die religiöse Seite des Übergangs von der Wirtschaft der Feudalgesellschaft zu der des Bürgertums interpretiert worden. Schließlich spielte auch noch der kulturelle Faktor eine Rolle: das Verhältnis zwischen Reformation und Humanismus ist reich an Übereinstimmungen und Gegensätzen. Gemeinsam kehrte man zu den Quellen zurück, für die Reformation war dies die in ihrer Originalsprache gelesene und in die Volkssprache übersetzte Bibel, weit weg von den Fesseln der lateinischen Vulgata. Gegensätzlich war die Weltanschauung: die Humanisten rückten im Grunde genommen den Menschen ins Zentrum, während die Reformatoren theozentrisch argumentierten. Diese Faktoren und auch noch einige andere können nicht vernachlässigt werden, wenn man die Reformation verstehen will, reichen aber für ihr Verständnis nicht aus. Um die Reformation wirklich zu verstehen, muss man logischerweise zu ihren Ursprüngen zurückkehren, welche religiöser Natur sind. Wie Johannes der Täufer seinen irdischen Auftrag mit der „Bußtaufe“ (Mk 1,4) beginnt – denn von dort, der Buße muss man ausgehen, um den Weg zu Gott wiederzufinden –so eröffneten die 95 Thesen Luthers, ohne dass er es damals wissen oder wollen konnte, das Zeitalter der Reformation, mit der wahren Buße als Angelpunkt. Darum geht es ursprünglich bei der Reformation, um einen Aufruf zur Buße und die Rückkehr zu Gott. Diese Rückkehr zu Gott, sowie Er in der heiligen Schrift gefunden und wiederentdeckt wurde, verursachte in den folgenden Jahren eine Neubesinnung und Neuauslegung fast aller Glaubensäußerungen, der christlichen Botschaft und des christlichen Lebens. Daraus ging eine ganze Reihe von Reformen hervor, sowohl was die Lehre, die Diakonie, die Liturgie, die Ethik, die Gestalt der Kirche und ihre Rolle in der Gesellschaft, angeht, und letztlich ist das „protestantische Christentum“ entstanden, beziehungsweise der „Protestantismus“. Aber war das, was wir üblicherweise „protestantische Reformation“ nennen, wirklich eine Reform? Viele haben dies seit dem 16. Jahrhundert entschlossen abgestritten. Damals gab es hauptsächlich drei Parteien, die gegen die Reformation heftig bekämpft haben: die Römische Kirche, die Wiedertäufer und Thomas Müntzer. Die Römische Kirche hat von Anfang an bestritten, dass es sich bei der Reformation um eine Reform handele, nicht nur weil sie Luther fast sofort als Ketzer exkommunizierte, sondern vor allem weil das Konzil von Trient (1545 – 1563), das die Reformation in seinen Dokumenten nie erwähnte, alle ihre Behauptungen verdammte, ohne auch nur das Geringste davon anzunehmen. Für Rom galt die Reformation bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1962– 1965), also für mehr als vier Jahrhunderte, als eine Deformation, d. h. eine Entstellung des Christentums, eine Entartung seines Wesens, dazu mit der unverzeihbaren Schuld, die abendländische Kirche gespalten zu haben. Wäre die Reformation eine wirkliche Reform gewesen, so
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wurde argumentiert, hätte sie die Kirche erneuert, ohne sie zu trennen. Die Kirchenspaltung beweist also nach römischem Urteil, dass es sich nicht um eine Reform gehandelt haben kann, sondern um ein unrettbares Abweichen vom Christentum. Die zweite Gegenstimme kam von einer Rom entgegengesetzten Front, von den Wiedertäufern, dem radikalen Flügel der Reformation. Deren Kritik an der sogenannten „Magisterial Reformation“ (ein englischer Ausdruck!), d. h. an der Reformation, die durch die politische Behörde eingeführt wurde, besteht darin, dass die politische Macht in der Durchsetzung der Reformation in einer Anzahl von Gebieten eine bedeutende Rolle gespielt hat. Die von allen großen Reformatoren durchgesetzten Reformen – von Luther, Melanchthon, Butzer, Zwingli, Bullinger, Calvin, Theodor von Beza und anderen– setzen die Mitwirkung der politischen Macht voraus. Man könnte die Kritik der Wiedertäufern an die Reformation folgendermaßen zusammenfassen: „Luther hat uns vom Papst befreit, aber nicht von Konstantin“. Das heißt, er hat den christlichen Glauben von der Unterwerfung unter den Papst befreit, dessen Autorität unrechtmäßig mit der Christi gleichgesetzt wurde, aber nicht von der „konstantinischen Gefangenschaft“. Daraus ergeben sich zwei entscheidende Einsprüche. Die erste weist darauf hin, dass die Reformation die „konstantinische“ Verflechtung zwischen politischer Macht und christlicher Gemeinde nicht in Frage gestellt hat, sondern im Gegenteil entschlossen verteidigt und für sich in Anspruch genommen. Das war für die politische Macht nützlich, da sie sich konsolidieren konnte, jedoch verhängnisvoll für die Religion, denn sie wurde von der Politik unterstützt und gleichzeitig domestiziert. Der zweite Einspruch besagt, dass sich die Reformation innerhalb eines sogenannten Corpus christianum bewegt hat, und damit den Widerspruch einer „christlichen Gesellschaft“ verewigte, die es nach Meinung der Wiedertäufer auch damals nicht gegeben hatte, die aber von den Reformatoren einstimmig und hartnäckig verteidigt wurde. Denn sie behielten die von den Wiedertäufern verdammte und nicht in der Heiligen Schrift nachweisbare Kindertaufe bei, ein Sakrament des Corpus christianum, das alles tauft, was zur christlichen Gesellschaft gehört. Da die Reformation die „konstantinische“ Verfassung der Kirche nicht in Frage stellte, blieb die „Magisterial Reformation“ nach Meinung der Wiedertäufer eine unvollendete, ja sogar misslungene Reform, und die „reformierte“ Kirche ist daher wie die römisch-katholische Kirche weiterhin „konstantinisch“, und kann deshalb nicht als wirklich reformiert gelten. Die dritte Stimme gegen die Reformation kam von Thomas Müntzer, welcher ebenfalls den schillernden „linken Flügel“ der Reformation vertrat und dessen Kritik an Luther noch radikaler als die der Wiedertäufer war. Man braucht sich nur die Überschrift einer der letzten Schriften Müntzers vor Augen zu führen: Hoch verursachte Schutzrede und Antwort wider das gaistloße sanftlebende Fleysch zu Wittenberg, welches mit verkehrter Weise durch den Diebstahl der Heiligen Schrift die erbärmliche Christenheit also ganz jämmerlich besudelt hat, welche er im Dezember 1524 veröffentlichte. Mit „das gaistloße sanftlebende Fleysch zu Wittenberg“ war natürlich Luther gemeint, dessen Reform das Christentum gar nicht verbessert, sondern im Gegenteil besudelt, ja sogar verfälscht hat. Zwei Hauptgründe gab Müntzer für ein so
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radikal negatives Urteil über Luther vor. Erstens war für ihn das Christentum Luthers und seiner Mitstreiter, allen voran Melanchthon, ein Affenspiel, ein simuliertes Christentum, eine äffische Groteske. Warum? Weil es sich um ein Christentum ohne Geist handelte, wo das geschriebene Wort der Bibel laut wird, aber der Geist, weht nicht, das tote Wort herrscht, nicht das lebendige. Luthers Gott ist ein stummer Gott, der einst gesprochen hat, aber nicht mehr spricht, hingegen ist Müntzers Gott der lebendige Gott, der heute spricht durch ihn. Es handelt sich um zwei Deutungen des Christentums, die nicht nur divergieren, sondern nur als einander ausschließend anzusehen sind. Der zweite Grund für den unüberbrückbaren Konflikt zwischen Luther und Müntzer lag in der Haltung gegenüber den Fürsten. Zwar kritisierte Luther die Fürsten, auch auf scharfe Weise, predigte dem Volk jedoch die Unterwerfung unter die konstituierte Macht, selbst wenn sie tyrannisch war, und bat Gott um eine „Revolution von oben“ gemäß Lukas 1,52. Müntzer behauptete dagegen, Gott habe den Fürsten das Schwert entwunden und dem auserwählten Volk, nämlich den Bauern, übergeben. Dieses sei dazu berufen, in der heutigen Geschichte mit dem Schwert das Jüngste Gericht Gottes an den Fürsten zu vollstrecken, sie zu eliminieren, denn mit ihrer grenzenlosen und ungerechten Macht verschatteten sie die Herrschaft Gottes. Den „süßen Christus“ Luthers, der alles verzeiht und vergibt (die Predigt eines „süßen Christus“ ist nach der Meinung Müntzers „das schlimmste Gift, das den Schäflein Christi je gegeben wurde“), stellt Müntzer einen „bitteren Christus“ entgegen, der den Fürsten nicht vergibt und sie sogar auslöscht. Für Müntzer ist das Christentum Luthers, den er oft den „Doktor Lügner“ nennt, keineswegs reformiert, sondern eine Verfälschung, ein Christentum, das nur dem Anschein nach christlich ist. Angesichts dieser drei Gegenstimmen erscheint die Frage, ob die Reformation wirklich eine Reform gewesen sei, alles andere als rhetorisch. Unsere Antwort, die selbstverständlich genauso bestreitbar ist wie alle anderen, lautet: Die Reformation hat zweifellos die Kirche reformiert, im dem Sinne, dass sie ihr neue Formen gegeben hat und zu vielen Fragen auch neue Inhalte, aber die Kategorie „Reformation“ genügt nicht, um ihre tiefergehende Natur auszudrücken. Karl Barth, bedeutendster protestantischer Theologe des 20. Jahrhunderts, schrieb 1933 als Abschluss eines Vortrages über die Reformation: Es lässt sich nicht scherzen mit der Reformation. Es ist gewiss angebracht, sich ernstlich zu fragen, ob die Reformatoren mit ihrer Neubegründung der Kirche nicht etwas gewagt haben, was sie nicht hätten wagen sollen, weil die europäische Menschheit diesem Wagnis nicht gewachsen war. Ob sie uns nicht ein Erbe hinterlassen haben, mit dem wir, so wie es ist, nichts anzufangen wissen, weil es seine untragbare Zumutung für uns bedeutet, weil es einen Glauben von uns verlangt, den wir nicht aufbringen können, weil es dem nicht gerecht wird, was nun einmal unser Anliegen ist. So kann man allen Ernstes fragen.
In diesem Text überrascht die Behauptung, dass die Reformation eine „Neubegründung der Kirche“ gewesen sei. In welchem Sinne ist eine Behauptung dieser Art zu verstehen? Sicherlich nicht dahingehend, dass die Reformatoren die Kirche als eine
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Glaubensgemeinschaft im Namen des dreifaltigen Gottes und Jesu Christi, wahrhaftiger Gott und wahrhaftiger Mensch, begründet hätte. Hier hat die Reformation nichts gegründet, sondern alle Glaubenssätze mit der Römischen Kirche und mit den Glaubensbekenntnissen der alten christlichen Kirche geteilt. Was dagegen die Kirche als Institution betrifft, so hat die Reformation tatsächlich ein neues Fundament geschaffen, verschieden von dem, was für mehr als ein Jahrtausend in der westlichen Welt vorherrschte. Mit dem „Nachfolger Petri“ hat Jesus Christus selbst dem Zweiten Vatikanischen Konzil entsprechend „ein immerwährendes und sichtbares Prinzip und Fundament der Glaubenseinheit und der Gemeinschaft eingesetzt“. Für die Reformation ist dieses „Prinzip und Fundament“ nicht das Papsttum, sondern die Heilige Schrift, und in diesem Sinne ruht auf ihr die wirkliche Neugründung der Kirche. Bekanntlich ist die Heilige Schrift stets im Leben, in der Liturgie und im Glauben der Kirche vorhanden gewesen, galt aber nicht als deren Fundament. Die Schrift hat die Kirche immer begleitet, nicht aber begründet. Aus der reformatorischen Neugründung ergab sich, dass eine biblische Substanz für Glaube, Leben und Theologie grundlegend wurde. All dies führte schließlich zu einer neuen Art und Weise des Christseins in der Welt und zu einem neuen Modell von christlicher Kirche. Es handelte sich keinesfalls um eine neue Kirche, die Reformatoren wären darüber entsetzt gewesen, denn die Reformation, obwohl von Rom exkommuniziert, bleibt ein Vorgang, der sich innerhalb der einzigen Kirche Christi ereignet hat. Also keine neue Kirche, sondern ein neues Modell der Kirche Christi, das ist es, was die Reformation hervorgebracht hat. Daher ist die Kirche der Reformation nicht eine reformierte katholische Kirche, sondern ein neues Kirchenmodell. Der Protestantismus ist nicht ein reformierter Katholizismus, sondern eine neue Art von Christentum. Neu gegenüber dem Christentum, wie es sich im Hoch- und Spätmittelalter herausgebildet hatte, aber mit einem „alten Herz“, das schon immer in den Seiten der Bibel schlägt.
3 Protestantismus und Moderne Zu den vielen offenen Fragen, die der Protestantismus aufwirft, zählt ohne Zweifel sein Umgang mit der „Moderne“ beziehungsweise der „modernen Epoche“ oder der „modernen Welt“. Eine solch umfangreiche Fragestellung zerfällt ihrerseits in drei Unterfragen, die den drei konstituierenden Aspekten der Moderne entsprechen, welche man voneinander getrennt behandeln muss, nämlich die Säkularisierung, die „westlichen Grundwerte“ und der Anbruch des Kapitalismus.
3.1 Protestantismus und Säkularisierung Bekannt ist die These der katholischen Kontroversgeschichtsschreibung, welche etwa bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts behauptete, dass die Reformation die Hauptschuldige für die Säkularisierung sei, die über das moderne Europa hereingebrochen
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ist. Das einstige Vaterland des Christentums sei heute zu weiten Teilen unchristlich, von einer beispiellosen Krise geschüttelt, die vielleicht sogar tödlich für die christliche Zivilisation ausgehen könnte. Luthers Entscheidung, vor den beiden höchsten Autoritäten seiner Zeit, dem Kaiser und dem Papst, seine unter Anklage stehenden Behauptungen nicht zu widerrufen (deponere conscientiam), indem er nur seinem Gewissen gehorchte, „als Gefangener des Gotteswortes“, habe entsprechend dieser These einen Prozess allgegenwärtiger Unbotmäßigkeit und die Zerstörung der mehr als tausendjährigen sozialen und religiösen Ordnung verursacht, deren Epilog vor unser aller Augen liegt: Die Entfernung Gottes aus der Öffentlichkeit, seine Verbannung in die Privatsphäre, die Erklärung seiner Bedeutungslosigkeit oder sogar seiner Nichtexistenz, die Kritik am Glauben als Illusion, Aberglauben oder schlimmer: als Schule des Fanatismus. Vereinfacht kann man es folgendermaßen zusammenfassen: Man beginnt mit dem Protestantismus, geht zum Deismus über und endet im Atheismus. Hinter dieser These steht natürlich eine vollständig negative Bewertung der Säkularisierung, die als ein Verlust nicht nur des Glaubens und der Transzendenz gesehen wird, sondern auch vieler bedeutender Werte unserer Zivilisation. Es gibt jedoch eine andere mögliche Lesart des Phänomens der Säkularisierung, nicht negativ, sondern positiv, entsprechend der sie „ihre Essenz auf den christlichen Glauben gründet und dessen rechtmäßige Konsequenz ist“. (F. Gogarten) In welchem Sinne? In dem Sinne, dass der christliche, und vor ihm der jüdische Glauben, wie im Alten Testament bezeugt ist, unter anderem die fundamentale Aufgabe übernahmen, die Welt und die Natur zu entheiligen, indem sie eindeutig den Schöpfer von der Schöpfung unterschieden und behaupteten, nur Gott sei göttlich, ein grundsätzlich unsichtbarer, unfassbarer und in keiner Weise darstellbarer Gott. Nichts von dem, was geschaffen wurde, ist göttlich, weder die Sonne, noch die Sterne, noch die Lebensenergie der „Mutter Erde“, unerschöpflich in ihrer Fruchtbarkeit, auch nicht der Mensch, obwohl er „als Ebenbild Gottes“ (Gen 1,26) geschaffen wurde und „wenig geringer gemacht als Gott“ (Ps 8,6). Auch die irdischen und religiösen Herrscher sind nicht göttlicher Natur, besonders wenn sie es durch ihre Verabsolutierung von sich behaupten. Die Verweltlichung der Welt, ihre Säkularisierung, relativiert dieselbe gegenüber Gott und gewährt damit nur Gott göttliche Qualität und Natur. Dies ist ein ständiger Auftrag an den christlichen Glauben. Ein weiterer Auftrag ist die Evangelisierung der Welt, zu deren Voraussetzungen die Säkularisierung gehört. Der christliche Glaube widersteht den ständig wiederholten Versuchen des Menschen, der Gott aus den Augen verloren hat, sich selbst, seine Kreationen und seine Weltanschauung zu „vergöttlichen“ und für absolut zu erklären. In dem Maße, in dem die Säkularisierung rechtmäßige und notwendige Tochter des christlichen Glaubens ist, schließt sie keineswegs Gott aus oder verkleinert ihn, im Gegenteil, sie „heiligt“ ihn. Sie erschafft also nicht den Säkularismus, der Gott ablehnt oder ignoriert. Der Glaube erschafft die Säkularisierung, der Untergang des Glaubens bringt den Säkularismus hervor.Viele verwechseln Säkularisierung und Säkularismus, und setzen sie gleich, in Wirklichkeit sind sie antithetisch und schließen einander aus.
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Welche Rolle hat der Protestantismus in der Säkularisierungsgeschichte der westlichen Welt gespielt? Stark vereinfacht könnte man sagen, so wie der jüdische und der christliche Glauben die Welt und die Natur entheiligt haben, so hat der Protestantismus die Kirche entheiligt. Auf welche Weise? Indem er den Unterschied – nicht nur nach Rang und Funktion, sondern dem Wesen nach – zwischen Priester und Laie abschaffte, wie er sich in der Kirche seit mehr als tausend Jahren durchgesetzt hatte. 1520 schrieb Luther hierzu: Man hats erfunden, daß Papst, Bischöfe, Priester und Klostervolk der geistliche Stand genannt wird, Fürsten, Herrn, Handwerks- und Ackerleute der weltliche Stand. Das ist eine sehr feine Erdichtung und Trug. Doch soll niemand deswegen schüchtern werden, und das aus dem Grund: alle Christen sind wahrhaftig geistlichen Standes und ist unter ihnen kein Unterschied außer allein des Amts halber. […] Das alles macht, daß wir eine Taufe, ein Evangelium, einen Glauben haben und gleiche Christen sind, denn die Taufe, Evangelium und Glauben, die machen allein geistlich und Christenvolk.
Indem er die Taufe als Ordination zum Priesteramt interpretierte – denn die Getauften bilden laut Petrus eine „königliche Priesterschaft (1 Petr 2,9)“ – hat Luther dem hierarchischen Gebäude der katholischen Kirche seine theologische Basis entzogen, da es auf dem angeblich „wesentlichen“ Unterschied zwischen dem hierarchischen Priestertum und den einfachen Gläubigen errichtet wurde. Laut Luther gibt es diesen Unterschied nicht, alle Gläubigen sind Priester oder Geistliche „derselben Art“, da sie getauft wurden. Zwar unterscheiden sich die Aufgaben, aber nicht das Priestertum, die Priester oder Geistlichen sind Laien und die Laien Priester (oder Geistliche). Das hat auch Karl Marx so gesehen: Luther „hat die Pfaffen in Laien verwandelt, weil er die Laien in Pfaffen verwandelt hat“. Er hat das Priestertum dem Klerus entzogen und resozialisiert, und damit zweifellos die Kirche „säkularisiert“, denn er unterschied zwischen dem, was von Gott stammt (das Wort und der Geist), und dem, was vom Menschen geschaffen wurde (die Institution, die Regeln, die Gesetze, die Überlieferung). Wie man sieht, handelt es sich um eine Säkularisierung sui generis, die wie gesagt nicht den Glauben ausschließt, sondern ihn voraussetzt, ja Ausdruck des Glaubens ist. Es gibt aber noch einen anderen Bereich, in dem der Protestantismus den Säkularisierungsprozess begünstigt hat, jener Fragenkomplex, der in den modernen westlichen Demokratien die „Laizität des Staates“ betrifft. Im christlichen Lager stammt er von Luthers Lehre der „Zwei Reiche“ ab, durch die Gott die Welt und die Geschichte lenkt. Indem er die politische Macht der Bevormundung durch die kirchliche Autorität entzog, hat Luther eine wichtige Voraussetzung für deren Emanzipation und Autonomie geschaffen, die dann in der Weltlichkeit mündete. Also trifft es zu, dass der Protestantismus auf zwei verschiedene Weisen zur Säkularisierung unseres Kontinents beigetragen hat und ein im Grunde weltliches Verständnis von Glauben und Gott hervorgebracht hat. Glaube und Säkularisierung sind miteinander verbunden, aber wenn der Glaube schwindet, verwandelt sich die Säkularisierung in Säkularismus.
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3.2 Der Protestantismus und die „westlichen Werte“ Die Freiheit in ihren verschiedenen Artikulationen und Verflechtungen, die Person und ihre „unantastbaren“ Rechte, die nicht nur politische, sondern auch kulturelle und soziale Demokratie, die Weltlichkeit der öffentlichen Einrichtungen sowie der Schutz des religiösen und ideologischen Pluralismus sind die bedeutendsten Werte der westlichen Gesellschaft. Sie gelten inzwischen als wesentliche Bestandteile des moralischen und bürgerlichen Erbes der diese Länder bewohnenden Völker – und natürlich schlägt sich das auch in deren Gesetzgebung nieder. Die oft gestellte Frage lautet, ob der Protestantismus zur Entstehung und zur Durchsetzung dieser Werte beigetragen hat und wenn ja, in welchem Ausmaß. In dieser Hinsicht sei behauptet, dass im Lichte kürzlich erfolgter Untersuchungen die Thesen von Ernst Troeltsch, einem bedeutenden Vertreter des liberalen Protestantismus, keineswegs als überholt gelten können. Laut Troeltsch hat der Protestantismus „in erheblichem Umfang zur Entstehung der modernen Welt beigetragen“, andererseits darf aber dieser Beitrag „nicht einseitig übertrieben werden“. In Wirklichkeit handele es sich „um ein höchst verwickeltes Problem“. Eigentlich war die Reformation laut Troeltsch noch zu sehr vom mittelalterlichen Gedankengut bestimmt (gegen das sie aber reagierte), als dass die moderne Welt ihr direkter Abkömmling sein könnte. Vielmehr müsse man sich den Einfluss auf die Moderne durch den sogenannten sektiererischen Protestantismus vor Augen halten, also durch diejenigen, die Troeltsch die „Stiefkinder der Reformation“ nennt – die mystischen und spiritualistischen Strömungen des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, normalerweise am sogenannten „linken Flügel“ der Reformation angesiedelt, die Baptisten, die Quäker, die Independenten und schließlich jener außerordentliche Schmelztiegel an spirituellen, politischen und sozialen Energien, die der Puritanismus mit sich brachte. Es sind dies die religiösen Kräfte, die vor allem die moderne westliche Welt geprägt haben, zu Fragen von großer Bedeutung wie der Trennung von Kirche und Staat, der Religionsfreiheit und Kultausübung und später der Gewissensfreiheit, also auch der Freiheit, nicht zu glauben. Dazu gehört auch die persönliche Entscheidung, Mitglied einer Kirche zu werden, nicht wegen sozialer Herkunft und Zugehörigkeit (und damit endete auch die „Volkskirche“). Diese Prinzipien setzten sich zunächst nicht in Europa durch, sondern in Amerika, wo sie dann auch Eingang in die Gesetzgebung fanden. Der amerikanische Kontinent wurde schon im 17. Jahrhundert zum Vaterland der religiösen Toleranz, denn die ersten Einwanderer, die man nicht zu Unrecht „Pilgerväter“ nennt, waren zum größten Teil Opfer der religiösen Intoleranz, die damals in Europa vorherrschte. Die Vereinigten Staaten konstituierten sich von Anfang an als weltlicher Staat, denn ihre „Gründungsväter“ hatten als Dissidenten in den konfessionsgebundenen europäischen Staaten Unterdrückung erfahren und wurden vertrieben. Der nordamerikanische Staat ist an keine Konfession gebunden, obwohl der Präsident auch heute noch über der Bibel seine Verfassungstreue schwört. Die strenge Trennung zwischen Staat und Kirche wurde nicht von säkularisierten oder antireligiösen Kräften durchgesetzt, sondern von den Kirchen selbst. Einerseits wollten sie für die Gleich-
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berechtigung der verschiedenen religiösen Strömungen des Landes einstehen, andererseits aber auch verhindern, dass sich der Staat in die Angelegenheiten der Kirchen einmischte. Die Trennung zwischen Staat und Kirche, Grundregel der amerikanischen Verfassung, wurde von den Kirchen (meist calvinistischer Ausrichtung) gefördert, nicht passiv hingenommen. Die Ablehnung eines staatlichen Christentums hat in Amerika weder den christlichen Glauben ausgelöscht, noch die Kirchen marginalisiert, im Gegenteil, sie spielen in der amerikanischen Gesellschaft eine bedeutende Rolle, auch wenn sich inzwischen die religiöse Vielfalt um nichtchristliche Konfessionen erweitert hat. Das Verhältnis zwischen dem Protestantismus und den „westlichen Werten“ ist also sehr komplex, einerseits gibt es keinen Zweifel, dass die moderne Zivilisation, um es mit den abschließenden Worten von Troeltsch zu sagen, „von einer gewaltigen Erweiterung der Idee von Freiheit und Person“ geprägt ist, zu dem der Protestantismus ein „bedeutendes Fundament religiös-metaphysischer Natur“ beigetragen hat. Andererseits waren es jedoch eher die „sektiererischen“ Protestanten als die großen, etablierten Kirchen, die in relevanter Weise im moralischen und zivilen Gewissen des Westens und in seinen Verfassungen ihre „Werte“ eingeschrieben haben.
3.3 Protestantismus und Kapitalismus Das inzwischen zum Standardwerk gewordene von Max Weber über die Verbindung von protestantischer Ethik und Geist des Kapitalismus bleibt auch heute noch ein unumgänglicher Bezugspunkt für jeden, der diesen Fragenkomplex untersuchen will. Bekanntlich wurde dieses Werk häufiger zitiert als gelesen und oftmals missverstanden. Man ging so weit, Weber eine These zuzuschreiben, die er selbst als „törichtdoktrinär“ zurückwies, dass nämlich der Kapitalismus „nur als Emanation bestimmter Einflüsse der Reformation“ zu verstehen sei oder sogar, dass der Kapitalismus als ökonomisches System ein „Produkt der Reformation“ sei. All dies ist in der Abhandlung von Max Weber nicht zu finden. Nach der Publikation kam es jedoch zu einigen Kritiken, die keineswegs unbegründet erscheinen. Eine davon machte darauf aufmerksam, dass die protestantische Ethik, von der Weber spricht, sich auf den Puritanismus beschränkt, also den angloamerikanischen Protestantismus des 17. und 18. Jahrhunderts und eine Spätphase des Phänomens, auf das bereits andere Einflüsse eingewirkt hatten, während jene, die sich direkt auf die Reformation bezogen, schon stark abgeschwächt waren. Es geht hier also um eine bestimmte Art von protestantischer Ethik, nicht um die protestantische Ethik schlechthin. Eine zweite Kritik weist darauf hin, dass Formen kapitalistischer oder vorkapitalistischer Ökonomie in katholischen Regionen und Familien zu beobachten waren, noch ehe der Puritanismus geschichtliche Realität wurde. Zwar spricht Weber vom ‚Geist‘ des Kapitalismus und nicht vom Kapitalismus im Allgemeinen, aber es scheint, dass dieser Geist auch in anderen Bereichen als den protestantischen oder puritanischen geweht hat. Das entkräftet zwar nicht die These Webers, aber begrenzt ihre Wirkung. Eine dritte Kritik
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betrifft die Rolle, die Weber den „guten Werken“ zuschreibt, sie versichern den Gläubigen seines begnadeten Standes oder „sind ihm notwendig als Zeichen seines Auserwähltseins“. Es trifft zu, und Weber weist darauf hin, dass die guten Werken dem Protestanten im Allgemeinen und dem Puritaner im Besonderen nicht dazu dienen, sich die Erlösung zu verdienen, aber sie bezeugen die Wirklichkeit des Glaubens in der bereits erfolgten Erlösung und befreien den Gläubigen von der Sehnsucht nach Erlösung. Die guten Werke sind als Glaubensindiz „unverzichtbar“, aber nicht als Indiz des Auserwähltseins. Dieses unterliegt einer anderen Ordnung der Dinge und ist eng mit dem Mysterium Gottes verbunden. Webers in gewisser Weise abschließende Behauptung, nach der „die Kraft der puritanischen Lebenskonzeption […] an der Wiege des modernen ‚homo oeconomicus‘ stand“, kann nur in dem Bewusstsein akzeptiert werden, dass dazu verschiedene andere Kräfte ihren Beitrag geleistet haben – was übrigens auch Weber zugesteht. Aber abgesehen von dieser und eventueller anderer Kritik kann man dank der Schrift Webers die Existenz einer „Wahlverwandtschaft“ (wenn auch nicht einen Zusammenhang von Ursache und Wirkung) zwischen puritanischer Ethik und ‚Geist‘ des Kapitalismus als gesichert betrachten. An der Basis stehen zwei Faktoren, die Säkularisierung des Heiligen – so hat man es genannt – und die innerweltliche Askese der Laien als wichtigstes soziales Ergebnis. Die Säkularisierung des Heiligen hat ihre Wurzeln in einer neuen Konzeption der Arbeit lutherischer Prägung. Der weltliche Beruf wird von Luther als religiöse Berufung verstanden. Der christliche Laie erlebt seine tägliche Arbeit, egal welcher Natur, als Dienstleistung für Gott und den Nächsten, als Kulthandlung, bei der er eine Art neuer Mönch wird, welcher seine Heiligkeit außerhalb des Klosters, im Hause und bei der Arbeit, in den Dienst Gottes stellt. Die Stadt wird ein großes Kloster ohne Mauern, das wäre die Säkularisierung oder Verweltlichung des Heiligen. Aus ihr entsteht die innerweltliche Askese, die der Protestant, und nicht allein der Puritaner ausübt, denn er ist sich der religiösen Wurzel seines Lebens in der Welt bewusst. Gerade weil seine Arbeit eine Kulthandlung ist, wird er sie mit größter Hingabe ausführen und seine irdische Zeit so verantwortlich wie möglich gestalten. Er wird also ein reichhaltiges und gutes Ergebnis erzielen, dazu wenig verbrauchen, denn er wird nicht für sich selbst arbeiten, sondern für Gott und den Nächsten. Den produktiven Reichtum wird er nicht so sehr als ein privates, sondern als ein soziales Gut betrachten. Deshalb wird er es nicht für sich selbst verschwenden, sondern neu investieren und nochmals vermehren. Die innerweltliche Askese der Laien erzeugt gleichzeitig unermüdlichen Arbeitseifer und umsichtige Sparsamkeit, Gewinnmehrung und Einschränkung. Hierher passt also Webers abschließende Bemerkung: „Die Wertschätzung der professionellen Arbeit der Laien, unermüdlich, kontinuierlich und systematisch, […] sollte das wirkungsvollste Werkzeug für die Ausbreitung jenes Lebensmodells sein, welches wir den ‚Geist des Kapitalismus‘ genannt haben“. Eine weitere, äußerst vielschichtige Thematik, welche mit der vorherigen nicht in direkter Verbindung steht, soll hier nur kurz angedeutet werden. Es handelt sich um das Versagen des Protestantismus des 19. Jahrhunderts im Verhältnis zu der gleich-
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zeitig entstehenden Arbeiterbewegung und dem Proletariat als Folge der Industrialisierung. Dies war nicht nur ein Merkmal des Protestantismus, sondern der gesamten Christenheit, welche angesichts einer programmatisch atheistischen Weltanschauung und Gesellschaftsordnung mit Entsetzen reagierte. Für die kommunistische Revolution galt die Religion als Entfremdung und die Kirche als historische Verbündete des politischen Establishment sowie der vorherrschenden sozialen Ordnung, und damit als Feindin. Aber vor allem schien sie unfähig, „die prophetische Botschaft zu erkennen, die sich unter der proletarischen Profanität verbarg“. Die Gründe für diese nicht erfolgte Begegnung sind offensichtlich vielfältiger Natur. Da sind hauptsächlich die Leitungen der Kirchen in Betracht zu ziehen, sie waren vollkommen in die bürgerliche Gesellschaft integriert, hatten deren Kultur und Werte aufgesogen und waren daher nicht in der Lage, die Dringlichkeit und das Ausmaß der sozialen Frage zu erkennen, wie sie von den Arbeitern in den Fabriken erlebt wurde. Die katholischen und protestantischen Kirchen vervielfältigten und verbesserten ihre Wohltätigkeitsprogramme, um den Opfern der kapitalistischen Arbeitsorganisation beizustehen, nahmen aber eine feindliche Haltung gegenüber dem Sozialismus ein und bekämpften ihn. So kam es zur Scheidung zwischen dem Christentum – und in seinem Schoss, dem Protestantismus – und den proletarischen Massen der industrialisierten Länder. Es trifft zu, dass es kleinere Gruppen von Christen gab, die eine andere Stellung bezogen. Innerhalb des europäischen Protestantismus entstand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Bewegung des „religiösen Sozialismus“, der zwei Ziele hatte: Erstens, die Kirche aus ihrer bürgerlichen Gefangenschaft zu befreien und sie für die sozialistische Botschaft zu öffnen, zweitens, den Sozialismus vom Atheismus zu lösen. Die religiösen Sozialisten waren überzeugt, dass der Sozialismus sein Projekt der sozialen und humanen Befreiung nur erreichen konnte, wenn er von einer starken ethisch-religiösen Eingebung erfüllt war. Hauptvertreter des religiösen Sozialismus waren zwei Pastoren der reformierten Schweizer Kirche, Hermann Kutter und Leonhard Ragaz, und der lutherische Theologe Paul Tillich. Im amerikanischen Protestantismus entstand zur gleichen Zeit die Bewegung des Social Gospel („soziales Evangelium“), dessen wichtigster Vertreter der christliche Sozialist Walter Rauschenbusch war. Diese Minderheiten hatten eine bedeutende Botschaft, fanden aber wenig Widerhall und konnten die antisozialistische Einstellung der Kirchen nicht verändern. Wegen ihres religiösen und nicht „wissenschaftlichen“ politisch-sozialen Anliegens wurden sie auch von den Anführern der Arbeiterbewegung nicht nur nicht ernst genommen, sondern sogar kritisiert und verspottet. So blieben sie Rufer in der Wüste, sowohl innerhalb der Kirche als auch in den Arbeiterparteien. Heute, nach dem unrühmlichen Ende des sogenannten „realen Sozialismus“ und dem unaufhaltsamen Niedergang der Ideologien, in einer radikal veränderten Welt, könnte man annehmen, dass die „religiösen Sozialisten“ nunmehr der Vergangenheit allein angehören. Aber das stimmt so nicht. Die nach ihrer Vision entworfene Gesellschaft und welche Wege man einschlagen muss, um sie zu verwirklichen, gehören
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mutatis mutandis eher der Zukunft als der Vergangenheit der Menschheit an, selbst in einer vollkommen veränderten Weltsituation.
4 Protestantismus, Katholizismus und Ökumene Die christliche Geschichte des zweiten Jahrtausends ist von zwei Faktoren bestimmt, die von großer Bedeutung sind. Der erste ist die zweifache Kirchenspaltung: Im 11. Jahrhundert (üblicherweise wird dafür das Jahr 1054 genannt) trennte sich die „östliche“ bzw. byzantinische Kirche von der „westlichen“ (auch „lateinische Kirche“ genannt) und im 16. Jahrhundert erfolgte in der westlichen Kirche die Trennung zwischen Protestantismus und Katholizismus, dafür kann symbolisch das Jahr 1517 gelten, als Luther seine 95 Thesen anschlug, oder das Jahr 1521, als Luther exkommuniziert wurde, oder das Jahr 1530, mit der öffentlichen Lesung des Glaubensbekenntnisses der neuen religiösen Konfession anlässlich des Reichtages zu Augsburg. Zu den drei großen christlichen Konfessionen Orthodoxie, Protestantismus und römischer Katholizismus kamen seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Pfingst- oder charismatischen Bewegungen hinzu, welche zwar innerhalb des Protestantismus entstanden sind und dessen Grundsätze teilen, aber sich heute zu einem Phänomen ausgeweitet haben, das die gesamte zeitgenössische Christenheit durchdringt und mit großer Schnelligkeit auf die gesamte Welt übergegriffen hat. Der zweite für das 2. Jahrtausend maßgebende Faktor ist von größter Bedeutung für das gegenwärtige und zukünftige Geschick des Christentums. Gemeint ist die Ausbreitung des katholischen Glaubens über die gesamte Welt (seit dem 16. Jahrhundert) und die Ausdehnung des Protestantismus ab dem 17. Jahrhundert. Die protestantische Missionierung außerhalb Europas setzte zu Beginn des 17. Jahrhunderts ein, aber nicht auf Initiative der Kirchen, sondern der Handelsgesellschaften (die erste war eine englische, die zweite eine holländische). Die Missionen wurden von den jeweiligen Regierungen eingesetzt oder gefördert, als mehr oder weniger beiläufiger Aspekt ihrer Kolonialpolitik. Das bedeutet aber nicht, dass jene erste protestantische Mission vereinfachend zum religiösen Nebenzweig (oder gar moralischen Alibi) der englischen oder holländischen Kolonialisierung erklärt werden kann. Im Gegenteil, schon im 17. Jahrhundert kam es zu mehreren Auseinandersetzungen zwischen den Missionaren der Handelsgesellschaften und ihren Anführern, welche von den Missionaren nicht nur verlangten, unter den Eingeborenen „den Namen Christi“ auszubreiten, sondern auch, die Interessen der Kompanie zu fördern. Man kann die Geschichte der protestantischen Missionen in vier Zeiträume unterteilen. Der erste fällt ungefähr mit dem 17. Jahrhundert zusammen, als die Missionierung durch die Geistlichen der Handelskompanien stattfand. Die Kompanien wurden von ihren Regierungen finanziert. Die Mission galt als Verkündigung im Namen der „christlichen Nationen“, aber auch in Verbindung mit wirtschaftlichen Interessen, denen sich die Missionen nicht unbedingt zu unterwerfen hatten, sie handelten aber insgesamt in der Gewissheit der kulturellen und religiösen Vorherrschaft
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des christlichen Europas. Während des zweiten Zeitraums, der sich über das gesamte 18. Jahrhundert erstreckte, kam es zu ersten missionarischen Unternehmungen, die unabhängig von kolonialen Interessen handelten (aber nicht immer frei von kolonialer Mentalität waren). Sie wurden von hoch motivierten Glaubensgruppen ins Leben gerufen, aus der Überzeugung, dass die Mission der erstrangige Auftrag der Christenheit sei. Innerhalb des dritten Zeitraums, vom 19. Jahrhundert bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, kam es zur Entstehung, Weiterentwicklung und beachtlicher Aktivität von zahlreichen Missionsgesellschaften, die autonom handelten und mit mehr oder weniger Erfolg versuchten, das Geschick der Mission vom westlichen Kolonialismus abzukoppeln. Der vierte Zeitraum dürfte ungefähr in der Mitte des letzten Jahrhunderts begonnen haben, seine Aktion befindet sich auch heute noch in voller Entwicklung. Die Idee der Mission wird dabei radikal in Frage gestellt. Das entspricht – seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs – einer tiefgreifenden Veränderung im Verhältnis der Völker zueinander, vor allem mit dem Beginn der Entkolonialisierung, zwischen Kulturen, die untereinander einen immer engeren Kontakt pflegen, und vor allem zwischen den Kirchen der christlichen Länder und den einst „Missionsgebiete“ genannten Ländern. Das „christliche“ Europa ist heute zu weiten Teilen unchristlich und gilt als zu missionierendes Gebiet, während sich die tatsächliche Bedeutung und das Gewicht der christlichen Kirchen immer stärker in Länder verlagert, die einst als „heidnisch“ galten. Seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts kümmerte man sich in den Kirchen um eine Neugestaltung der Lehre und um ein neues Profil auf dem Gebiet der Strukturen, der Theologie, der Moral, der Liturgie und der persönlichen und gemeinschaftlichen Wohltätigkeit. Daher wurden die Glaubensbekenntnisse der Lutheraner (Augsburg, 1530) und der reformierten Kirchen Zwinglis und Calvins (Helvetica Posterior, 1566), die Katechismen Luthers (1529) und von Heidelberg (1563) mit großem Eifer ausgearbeitet, wie auch im Katholizismus mit dem Konzil von Trient (1545 – 1563), der Tridentiner Professio fidei (1564) und dem „Römischen Katechismus“ (1566). Die Fronten der Konfessionen verhärteten sich und die Kirchen erlebten für Jahrhunderte eine Trennung, die einem „kalten Krieg“ entsprach. Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts kam es zu „Religionskriegen“, die sich hin und wieder in schrecklichen Massakern entluden, man denke an das der Waldenser in Kalabrien (1561), an die Bartholomäusnacht in Frankreich (der Nacht auf den 24. August und Ausschreitungen bis Ende September 1572), an das in der Valtellina (1621), an das an den Waldensern in Piemont (1655) und andere. Auch der Dreißigjährige Krieg (1618 – 1648), selbst wenn er nicht nur ein religiöser Krieg war, wurde doch zu weiten Teilen von Interessen und Konflikten begleitet, die religiösen Ursprung hatten. Erst gegen Ende bekriegte man sich nur noch aus politischen Gründen. Aber auch wenn es zwischen den Konfessionen nicht zu bewaffneten Konflikten kam, gab es doch fast immer eine mehr oder weniger explizite Feindseligkeit, Polemiken,Verleumdungen der gegnerischen Kirche, Konkurrenzdenken und Proselytenmacherei, denn eine jede Konfession glaubte, im Besitz der mehr oder weniger exklusiven christlichen Wahrheit zu sein und folglich als
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einziger Vertreter des christlichen Glaubens zu gelten. An vereinzelten Friedensvorschlägen fehlte es nicht, aber sie fanden kein Gehör. Von der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts verlief die Geschichte der Konfessionen im Grunde genommen in gegenseitiger Abschottung. Was den Protestantismus anbelangt, so entwickelte sich seine theologische Geschichte in sieben Etappen, die wir hier nur andeuten können. Die erste umfasst die protestantische Orthodoxie und Scholastik, vom Ende des 16. Jahrhunderts bis in die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts. Sie setzt sich mit der kartesianischen Herausforderung auseinander, transferiert den Glauben in Gedankengänge, schafft durch Intellektualisierung eine organische Lehre, die auf die Heilige Schrift gegründet ist und stellt oftmals eine Übereinstimmung zwischen dem Wort Gottes und dem Buchstabe der kanonischen Schrift her. Die zweite Etappe, der Pietismus, reagierte auf die „tote Orthodoxie“, verstand den Glauben als gelebtes Leben, als Erfahrung, nicht jedoch im Sinn von Gefühlen und Innenleben, sondern als eine Praxis, die an einem Ideal progressiver Heiligwerdung inspiriert ist. Das Evangelium deutet den Menschen nicht, es verändert ihn. Es geht dabei nicht um Wissen, sondern um Wiedergeburt. Viele große soziale Werke des Protestantismus sind aus dem Pietismus entstanden. Die dritte Etappe ist diejenige der Theologie der Aufklärung, mit welcher die kritische und wissenschaftliche Vernunft in die christliche Zitadelle eindringt. So entsteht im protestantischen Haus die kritische Lektüre sowohl der Bibel, als auch der Geschichte der Dogmen und der Kirche. Das Christentum wird immer noch bekannt, aber nunmehr in den Grenzen der reinen Vernunft, seine Geltung deckt sich mit seiner Moral. Die vierte Etappe ist die romantische Theologie. Die Orthodoxie hatte das Denkvermögen auf den Thron gehoben, der Pietismus die Erfahrung und die Aufklärung die Vernunft, die Romantik inthronisiert dagegen das Gefühl, und genauer gesagt das „Bewusstsein schlechthinniger Abhängigkeit“ (F.D.E Schleiermacher), wie es sich in der Tiefe der menschlichen Seele findet. Die Religion ist folglich ein universales und ewiges Phänomen, es kann kritisiert, aber nicht eliminiert werden. Die fünfte Etappe besteht aus verschiedenen „Erweckungsbewegungen“, die auf ein überwiegend soziologisches Christentum reagieren, dem man mehr aus Tradition als aus Überzeugung anhängt, und unterstützt einen Glauben, der sich das persönliche Heil aneignet und eine individuelle Antwort auf die göttliche Berufung findet. Wie schon der Pietismus hat das Wiedererwachen den Protestantismus im missionarischen Sinn angetrieben, sei es als „Innere Mission“ innerhalb der Kirche und in einem stark säkularisierten Europa, sei es, indem man Missionsgesellschaften für die Evangelisierung der Welt gründete. Die sechste Etappe ist die liberale Theologie, in der das Gewissen eine zentrale Stellung einnimmt als der Ort, an dem Gott seine Stimme ertönen lässt und seinen Willen mitteilt. Jesus ist vor allem ein Meister des Lebens, nicht der Lehre, sein beispielhaftes Leben ist mehr als sein stellvertretender Tod das Ereignis des Heils. Der Glaube wird oft zur religiösen Kultur abgeschwächt. Als siebente und letzte Etappe sei auf die „dialektische Theologie“ hingewiesen, welche sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte und in dem Schweizer Karl Barth ihren Hauptvertreter fand. An
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seiner großartigen Kirchlichen Dogmatik (die unvollendet blieb) hat man kritisiert, sie sei ein „Monolog im Himmel“. In Wirklichkeit hat Barth während der leidvollen politischen Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts klare, freie, treffende und oft unpopuläre Worte zu finden gewusst und dem Weg der Kirche mit Hellsichtigkeit und Mut eine Richtung gegeben. Auf der spezifisch theologischen Ebene hat er in der ersten Phase seines Denkens mit großer Entschiedenheit die Göttlichkeit Gottes hervorgehoben, sein radikales Anderssein gegenüber dem heidnischen Gott der Nationalsozialisten und dem bürgerlichen, domestizierten Gott der Kirchen. In einer zweiten Phase untersuchte er die Menschlichkeit Gottes, wie sie sich in Jesus von Nazareth, dem „menschlichen Angesicht Gottes“ kundgibt, in welchem der Mensch seine weitgehend verlorene Menschlichkeit wiederfinden kann. Zwei weitere lutherische Theologen haben das zeitgenössische Christentum tiefgreifend beeinflusst, Paul Tillich und vor allem Dietrich Bonhoeffer. Aber nach Barth brachte die protestantische Theologie nicht mehr die große Synthese zustande und konzentrierte sich auf Einzelfragen, insbesondere politischer Art. Es entstand ein neues kritisches Bewusstsein von der politischen Verantwortung des Christen, auch angesichts des ökumenischen Programms Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung sowie der „feministischen Theologie“, welche die Kirchen dazu zwingt, anzuerkennen, dass die Bibel in einem patriarchalischen Kontext erdacht und geschrieben und das Christentum konzipiert und formuliert wurde – was wiederum zu rein männlichen Amtsstrukturen geführt hat, die auch heute noch dominieren, auch in der Art und Weise, wie Gott gedacht und verkündet wird. Etwa seit 1850 fand die ökumenische Idee im Bewusstsein von immer mehr Christen Raum. Die ökumenische Bewegung entstand innerhalb des Protestantismus und gab sich 1910 eine ständige Struktur mit der Missionskonferenz von Edinburgh. Seit 1920 beteiligten sich auch einige orthodoxe Kirchen und 1948 wurde schließlich in Amsterdam der ökumenische Kirchenrat gegründet. Die katholische Kirche hielt zunächst Abstand von der ökumenischen Bewegung und beurteilte sie mit Pius’ XI. Enzyklika Mortalium animos von 1928 negativ. Es war den Katholiken sogar verboten, an ökumenischen Versammlungen teilzunehmen. Das Zweite Vatikanische Konzil brachte eine radikale Änderung. Wie alle christliche Kirchen machte sich auch die katholische seitdem das ökumenische Anliegen zu eigen und vertiefte es in einer Reihe zahlreicher Dialoge mit den wichtigsten christlichen Konfessionen. Das religiöse Klima hat sich vollkommen verändert, die Christen der verschiedenen Kirchen haben entdeckt, dass sie Brüder (und Schwestern) sind, zwar immer weniger getrennt, aber noch nicht vereint. Von den Dokumenten des Konzils ist die Kategorie des „Ketzers“ verschwunden. In dem Dokument Unitatis redintegratio stellt das Konzil sogar fest, dass die protestantischen Kirchen „nicht ohne Bedeutung und Gewicht im Geheimnis des Heiles“ sind und dass „der Geist Christi sich gewürdigt [hat], sie als Mittel des Heiles zu gebrauchen“, stellt dann allerdings fest, dass dies nicht deren eigenes Verdienst sei, sondern „sich von der der katholischen Kirche anvertrauten Fülle der Gnade und Wahrheit herleitet.“ (§3) Auf jeden Fall handelt es sich um radikal neue Äußerungen, wie man sie vorher nie gehört hat. Ohne Zweifel wurde in der
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Beziehung zwischen Protestantismus und Katholizismus eine neue Ära eingeläutet. Das Pontifikat von Papst Franziskus hat dies ausdrücklich bestätigt. Seine Unternehmungen in diesem Bereich sprechen für sich, der Besuch in einer Pfingstgemeinschaft in Caserta, der Besuch einer waldensischen Kirche in Turin und bei der lutherischen Kirche Schwedens, wo er am 31. Oktober 2016 in der Kathedrale von Lund an dem Gottesdienst zur Eröffnung der Fünfhundertjahrfeiern der protestantischen Reformation (1517– 2017) teilgenommen hat. Der Papst zeigt damit eine wahrhaft ökumenische Offenheit in alle Richtungen, er gibt der Begegnung mit den anderen Kirchen viel Raum und vor allem wünscht er, wirklich brüderliche Beziehungen zuknüpfen, damit wir alle „zusammen gehen“, in eine gemeinsame Zukunft, was er nicht müde wird zu wiederholen. Man hat den Eindruck, dass der Papst dabei ist, das Papsttum neu zu erfinden. Wenn ihm dieses Projekt gelingt, könnte auch die Frage nach dem Papstamt, das Papst Paul VI. als das größte Hindernis für die Einheit der Christenheit sah, auf neue Art angegangen werden.
5 Die Zukunft des Protestantismus Den Protestantismus gibt es als historische Wirklichkeit und soziale Entität seit fünf Jahrhunderten, davon zwei Strömungen, die Waldenser und die böhmischen Brüder (geistliche Kinder von Jan Hus) sogar seit acht bzw. sechs Jahrhunderten. Also handelt es sich nicht um ein Strohfeuer oder ein vorübergehendes Phänomen. Diese christliche Konfession hat sich über die ganze Welt ausgebreitet, und auch wenn der historische Protestantismus Zeichen von Müdigkeit und Anhängerschwund aufweist, so zeigt der Pfingst- oder charismatische Protestantismus eine überraschende Jugendlichkeit und missionarische Energie. Aber was kann die Zukunft einer so vielschichtigen, vielgliedrigen und in ihrem Inneren unterschiedlich artikulierten Strömung sein, die weltweit keine einheitliche Organisation besitzt? Wie bereits gesagt, hat die Reformation ein neues Kirchenmodell hervorgebracht und ein Christentum, das verschieden ist von der Kirche des Hoch- und Spätmittelalters, ein „modernes“ Christentum mit einem „antiken Herz“, das seit jeher in den Seiten der Bibel pulsiert. Ihre Grundprinzipien können folgendermaßen zusammengefasst werden. (1) Soli Deo gloria, Gott über allen Dingen, erste Wahrheit und letzte Liebe, oberste Instanz, höher als jede menschliche, religiöse oder weltliche Autorität. (2) Gott manifestiert sich vor allem als Wort, so wie es in den Schriften des Alten und Neuen Testamentes aufbewahrt wird. Mit Jesus von Nazareth ist das Wort Fleisch, d. h. Mensch, geworden. Gott ist damit auch menschlich und Jesus sein menschliches Spiegelbild. Das Christentum ist seinem Wesen nach das Evangelium, die frohe Botschaft von Jesus, also ein Wort, eine Verkündigung, ein Aufruf. (3) Die Kirche verkündet Gott, wie er in Jesus erschienen ist, aber verleibt ihn sich nicht ein; sie dient ihm, ohne ihn zu besitzen; sie legt Zeugnis von ihm ab, ohne ihn zu monopolisieren. (4) Die Kirche ist eine Versammlung von Brüdern und Schwestern, welche einen einzigen „Vater im Himmel“ haben. In ihr gibt es keine Hierarchien oder verschiedene Grade von Macht, sondern
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nur unterschiedliche Funktionen oder Dienstleistungen, auf der Grundlage des Priestertums aller Gläubigen. (5) Die Kirche ist mit dem Wort und ihrem Handeln Zeuge Gottes in der Welt, aber ohne sich selbst, ihre Vorschriften oder ihren Lebensstil der Gesellschaft, in der sie lebt, aufzuzwingen. Sie respektiert die Autonomie dieser Gesellschaft. Die Kirche fürchtet nicht, sondern befürwortet die Laizität des Staates, die öffentlichen Institutionen und die Kultur in ihren verschiedenen Ausdrucksformen. (6) Hegel nannte den Protestantismus die „Religion der Freiheit“, tatsächlich war er ein evangelischer Aufruf zur Freiheit. Gleichzeitig behauptet der Protestantismus die Souveränität Gottes über die gesamte Wirklichkeit und protestiert gegen die Trennung von göttlicher Transzendenz – heute weitestgehend verloren – und der menschlichen und historischen Immanenz. (7) Der Protestantismus heiligt, d. h. betrachtet als endgültig, kein politisches, soziales, kulturelles oder religiöses System, allen voran sein eigenes. Der Christ ist nicht, sondern wird, sein Sein fällt mit seinem Werden zusammen. Die einzige Permanenz ist die des Evangeliums, die christliche Botschaft mit ihrer kritischen und lehrenden Kraft. Diese Prinzipien, die für den Protestantismus grundlegend sind, werden heute von vielen anderen Christen geteilt, denn sie sind, wie es den Anschein hat, auf lautere Weise christlich und haben daher mit Sicherheit eine Zukunft. Aber wie kann man sich eine Zukunft des Protestantismus als christliche Konfession vorstellen, die sich vom Katholizismus und vom orthodoxen Christentum unterscheidet? Sehr allgemein lässt sich sagen, dass die Zukunft des Protestantismus von der Zukunft des Christentums abhängt. Wenn das Christentum eine Zukunft hat, so wird sie auch der Protestantismus haben, wenn das Christentum keine Zukunft hat, so wird auch der Protestantismus keine haben. In spezifischer Weise lässt sich sagen, dass der Protestantismus in Zukunft zwei Hauptlinien folgen wird, die ihn auch heute auszeichnen, das Evangelium und der Ökumenismus. Zuerst: Die Zukunft des Protestantismus wird eine „evangelische“ sein. Die Reformation entstand aus der Wiederentdeckung des Evangeliums, der bedingungslosen, unverdienten und unentgeltlichen Gnade Gottes. Der Protestantismus, als Kind der Reformation, hat kein anderes Ziel, als sich diesem Evangelium zur Verfügung zu stellen, in der Hoffnung, aus ihm eine Kirche aufzubauen, die dem entspricht und deshalb den Namen verdient, den ihr der Apostel Paulus verliehen hat: „Der Leib Christi“, das heißt der menschliche Raum, in dem das Wort und der Geist Christi Gestalt unter Menschen gewinnen. Heute verdient keine Kirche diesen Namen, es wäre wünschenswert, wenn die Zukunft des Protestantismus von der Anstrengung erfüllt wäre, diesen Namen zu erfüllen. An zweiter Stelle: Die Zukunft des Protestantismus wird eine „ökumenische“ sein. Die christliche Kirche ist zwar getrennt, aber doch eine einzige. Ihre Einheit war eigentlich nie gleichförmig. Das Christentum ist im Plural entstanden, es gab ein paulinisches Christentum, ein Jerusalemitisches, von Jakobus geleitet, dann ein Johanneisches, von den anderen beiden verschieden. Es gab keine drei „Christlichen Leiber“, sondern nur einen in drei unterschiedlichen Gestalten. Es gab keine Trennung, es gab Einheit und Verschiedenheit zugleich. Im Verlauf des ersten Jahrtausends der Kirchengeschichte sind viele Unterschiede verschwunden, im zweiten
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Jahrtausend sind neue Gestalten entstanden, aber die Trennung auch ist aufgetaucht. Heute setzt sich die ökumenische Bewegung für die Einheit der Kirche ein, ohne auf Verschiedenheiten zu verzichten. Deshalb konzipiert sie die Einheit als die Aussöhnung der Unterschiede. Der Protestantismus, von Anfang an in diesen Prozess mit einbezogen, hat die Absicht, dazu beizutragen und ihn zu vollenden, zusammen mit den anderen christlichen Kirchen.
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Reformation(en) und Gegenreformation(en): Umstrittene Begrifflichkeiten der Reformationsgeschichtsschreibung 1 Die Begriffe Wer sich mit der Person Martin Luthers (1483 – 1546), der mit ihr verbundenen Bewegung, ihren Vorgängern, ihrem Kontext und ihren Folgen befasst, muss sich der Frage stellen, was die Worte, deren er sich dazu bedient, bedeuten. Der Versuch, ein Individuum mit seiner (und unserer) Umwelt in Bezug zu setzen, führt unausweichlich dazu, es mit historischen Kategorien und Erklärungsmustern zu verbinden, die dessen eigenen Erfahrungshorizont erheblich überschreiten. Diese letztlich für einen jeden Menschen zutreffende Tatsache ist insbesondere dann zu berücksichtigen, wenn es sich um eine Persönlichkeit handelt, deren bereits zu Lebzeiten allgemein anerkannter Einfluss im Nachhinein in Theoreme weltgeschichtlicher Veränderungen einbezogen wurde. Zur Kennzeichnung einer solchen direkten oder indirekten Bedeutsamkeit können die Begriffe „Reformation“ und „Gegenreformation“ auf eine lange Geschichte zurückblicken; sie fungieren nach wie vor als leicht handhabbare Chiffren für einen Großteil der komplexen Transformationsprozesse der frühneuzeitlichen Welt. Da sie indes von späteren Anhängern und von Historikern unterschiedlicher konfessioneller Herkunft geprägt und fortentwickelt wurden, tragen sie die Spuren ihrer langen Geschichte wie alte, bereits mehrfach restaurierte und so reinterpretierte Ölgemälde: Sie determinieren unser Verständnis dessen, was sie bezeichnen, zwar weiterhin – jedoch in modifizierter Art und Weise. Marc Blochs (1886 – 1944) Bemerkung, dass der Mensch zum großen Kummer der Historiker sein Vokabular nicht zugleich mit seinen Gewohnheiten verändere, trifft insofern auch auf die Zunft der Historiker selbst zu,¹ wobei die – Bloch ebenfalls vertraute – Tatsache das Problem weiter verschärft, dass die Terminologie der Reformation der Geschichte ihres Gegenstands selbst entstammt und somit, bereits bevor sie sich im Sprachgebrauch der Geschichtswissenschaft etablierte, nicht etwa eine neutral-deskriptive, sondern eine zutiefst parteiergreifende Sprache war, die
Übersetzung: Tobias Jammerthal. Diese Bemerkung Blochs (Apologie pour l’histoire ou métier d’historien, Paris, 1974 [1949], 40 – 41) eröffnet einen Aufsatz aus der Feder von C. Ginzburg, „Our Words, and Theirs: A Reflection on the Historian’s Craft, Today“, in: S. Fellman und M. Rahikainen (Hg.), Historical Knowledge: In Quest of Theory, Method and Evidence, Cambridge, 2012, 97– 119; bei der Abfassung dieser Zeilen lag mir der Wiederabdruck in Cromohs, 18, 2013 vor. https://doi.org/9783110498745-003
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auch in ihrem geschichtswissenschaftlichen Gebrauch vielfach mit unausgesprochenen Vorannahmen belastet blieb.² Der Beschäftigung mit dieser Terminologie ist es angesichts dessen förderlich, sich die durch den Linguisten Kenneth Pike (1912– 2000) eingeführte und in der Folge zunächst durch Anthropologen, inzwischen zunehmend auch durch Historiker, aufgegriffene Differenzierung zwischen emischer (interner) und etischer (externer) Perspektive zu Herzen zu nehmen.³ Aus emischer Perspektive ist zu fragen, welche Bedeutung der Begriff Reformation (oder Gegenreformation) in seinem historischen Entstehungskontext hatte. In etischer Perspektive ist zu reflektieren, ob und inwiefern die betreffende Begrifflichkeit (oder auch zur Verfügung stehende Alternativbegriffe) nach wie vor die historiographische Funktion einer erhellenden Charakterisierung der von ihr beschriebenen Phänomene erfüllen kann. Diese Differenzierung ist im vorliegenden Falle insbesondere deshalb von Bedeutung, weil die konfessionellen Prägungen der Forschung – und damit der in der Vergangenheit vielfach erhobene Anspruch, seinerseits die „wahre“ Reformation zu vertreten – sich in nach wie vor prägenden Interpretationsmustern spiegeln. Ein solches wirkmächtiges Paradigma stellt die hegelianische Reformationsdeutung dar, in der die Reformation und die ihr folgenden Jahrhunderte konfessioneller Konsolidierung und interkonfessioneller Auseinandersetzung in ein Narrativ allgemeinmenschlichen Fortschritts eingezeichnet werden. Nach Georg Friedrich Wilhelm Hegels (1770 – 1831) klassisch gewordener Formulierung manifestiert die Reformation die Befreiung des Weltgeistes von einer mittelalterlichen Kirche, in der „the external in a coarse material form [was] enshrined in its inmost being.“⁴ Die ihrem Wesen nach als einheitlich verstandene Reformation erscheint daher als diejenige Kreuzung, ab welcher europäische Geschichte auf auseinanderlaufenden Bahnen verlief. Nach Hegel kam der vorausgesetzten Zweigleisigkeit von römischem Katholizismus und Protestantismus eine zentrale Funktion in der Unterscheidung zwischen einem konservativen (oder auch rückwärtsgerichteten) und einem fortschrittlichen (als modern identifizierten) Weg in der Geschichte zu. Auf diese Weise stellte Hegels Konzept nicht nur eine gesamthistorische Deutungsperspektive für die Krise des 16. Jahrhunderts bereit, sondern überführte zugleich die bis dato konfessionell betriebene Kirchengeschichtsschreibung in das Feld der allgemeinen Historiographie. Die lang andauernde Dominanz der hegelschen Reformationsdeutung verdankt sich dabei in nicht unerheblichem Maße der Tatsache, dass sie zu dem Zeitpunkt und an dem Ort entwickelt wurde, zu und an dem Geschichtsschreibung als Wissenschaft institutionalisiert wurde. Dies zeigt sich besonders deutlich bei Leopold von Ranke (1795 – 1886), für den die Reformation ungeachtet seiner sonstigen Bemühungen auf dem Felde der Pro-
Ebd., 98. Vgl. zum Wert der Unterscheidung zwischen emisch und etisch und zur fruchtbaren Spannung zwischen diesen beiden Zugangsweisen Ginzburg, Our Words, and Theirs, 104– 105 mit weiterer Literatur. C. Fasolt, „Hegel’s Ghost: Europe, the Reformation, and the Middle Ages“, in: Viator, 39, 2008, 345 – 386, hier: 349, Anm. 12.
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fessionalisierung der Geschichtswissenschaft als Wendepunkt der Weltgeschichte fungierte, und für den Luther die Funktion eines persönlichen Wetzsteins einnahm.⁵ Ein emisches Verständnis der religiösen Vorgänge des 16. Jahrhunderts sollte daher so weit als möglich von (post‐)hegelianischen Deutungsmustern befreit werden, auch wenn etische Zugänge als unverzichtbares Hilfsmittel für ein vermittelbares und den Rahmen der Altertümelei übersteigendes Verständnis dieser Epoche anzuerkennen sind. Insofern die Geschichtsschreibung der konstanten und synchron wie diachron arbeitenden Kombination von Puzzleteilen bedarf und auf diese Weise sowohl kontextbezogenes Wissen als auch ein Verständnis zeitübergreifender Entwicklungslinien erarbeitet, fungieren historische Begrifflichkeiten als Marker der dabei zugrunde gelegten Kriterien und können daher bei entsprechend reflektierter Verwendung wichtige heuristische Dienste leisten. Die in der Reformationsforschung der zurückliegenden fünfzig Jahre zu beobachtenden emischen wie etischen Zugänge haben zu einer in vielerlei Hinsicht produktiven Spannung geführt, welche sowohl eine neue Verwendungsweise der Begriffe „Reformation“ und „Gegenreformation“ als auch die Suche nach sachangemesseneren Alternativkonzepten befruchtet hat. Bevor jedoch diese Forschungslandschaft darzustellen ist, gilt es angesichts der Tatsache, dass die hierfür grundlegenden Begrifflichkeiten dem Forschungsgegenstand der Reformbewegungen des 16. Jahrhunderts und der aus ihnen hervorgegangenen Konfessionen selbst entstammen,⁶ die frühneuzeitlichen Präzedenzfälle zu erörtern.
2 Die Verwendung von reformatio bis zum 19. Jahrhundert Inzwischen ist allgemein bekannt, dass der Begriff der reformatio im Spätmittelalter in einer Vielzahl unterschiedlicher Kontexte als Chiffre sowohl für die Rückkehr zu einem in die Vergangenheit projizierten Ideal als auch für Maßnahmen zur Herstellung einer neuen Ordnung gebräuchlich war, und daher in zahlreichen juristischen, ad-
D. R. Kelley, Fortunes of History: Historical Inquiry from Herder to Huizinga, New Haven/London, 2003, 132– 140; J. Pelikan, „Leopold von Ranke as Historian of the Reformation: What Ranke Did for the Reformation – What the Reformation Did for Ranke“, in: G. G. Iggers und J. M. Powell (Hg.), Leopold von Ranke and the Shaping of the Historical Discipline, Syracuse, NY, 1990, 89 – 98. Vgl. ferner Z. Purvis, „Martin Luther in German Historiography“, in: Oxford Research Encyclopedia of Religion, November 2016 [online unter http://religion.oxfordre.com/view/10.1093/acrefore/9780199340378.001.0001/acref ore-9780199340378-e-379?print=pdf, abgerufen am 10. Dezember 2016]. Zur Einführung in die im Folgenden zu erörternden Fragestellungen s. S. Joutard (Hg.), Historiographie de la Réforme, Paris, 1977; D. M. Whitford, Reformation and Early Modern Europe: A Guide to Research, Kirksville, MO, 2008; S. Dixon, Contesting the Reformation, Malden, MA, 2012; A. Schubert, „Wie die Reformation zu ihrem Namen kam“, in: Archiv für Reformationsgeschichte/Archive for Reformation History, 107, 2016, 343 – 354; J.W. O’Malley, Trent and All That: Renaming Catholicism in the Early Modern Era, Cambridge, MA, 2002.
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ministrativen, akademischen, politiktheoretischen, kirchlichen und allgemeinreligiösen Diskursen Verwendung fand,⁷ wobei er schon im letzteren Bereich ein außerordentlich breites Bedeutungsspektrum aufwies, das sich in der bekannten mittelalterlichen Formel einer reformatio tam in capite quam in membris wiederspiegelt.⁸ Diese ursprünglich einem hierarchischen Kirchenverständnis entstammende Formel bezeichnete auf der einen Seite institutionelle Reformen der Kirche im Allgemeinen und der päpstlichen Kurie im Besonderen, auf der anderen Seite die sittlich-moralische Erziehung der Gläubigen, von welcher der Basler Konzilsvater Johannes von Segovia (1395 – 1458) als einer „correctio morum pro exstirpatione vitiorum“ sprach.⁹ Die Erwartung einer umfassenden Reform nahm um die Wende zum 16. Jahrhundert häufig apokalyptische Züge an. Aber unabhängig von der konkreten Bedeutung des Begriffs ging ihre Verwendung meist mit der Einnahme einer autoritativen Position und der Identifikation ideologischer Gegner einher. So ist es zu erklären, dass das Konstanzer Konzil (1414– 1418) seine Forderung nach regelmäßig tagenden Konzilien durch folgende Aufgabenbeschreibung begründen konnte: Frequens generalium conciliorum celebratio, agri dominici praecipua cultura est, quae vepres, spinas et tribulos haeresium, errorum et schismatum exstirpat, excessus corrigit, deformata reformat, et vineam Domini ad frugem uberrimae fertilitatis adducit.¹⁰
Die auf Augustin (354– 430) zurückgehende Formulierung deformata reformare sollte sich als langfristige Parole erweisen, während die Verurteilung und Verbrennung des Jan Hus, der ebenfalls eine Vision einer Kirchenreform entwickelt hatte, darauf verweist, dass bereits vor der Reformationszeit das Konzept der reformatio selbst umstritten war und Spaltungspotential besaß. Die nachfolgende Zusammenfassung beruht auf folgende Untersuchungen, auf die für Details hiermit verwiesen sei: G. Strauss, „Ideas of Reformatio and Renovatio from the Middle Ages to the Reformation“, in: T. A. Brady, Jr., H. A. Oberman und J. D. Tracy (Hg.), Handbook of European History 1400 – 1600, Bd. 2, Leiden, 1995, 1– 30; M. U. Edwards, „Reformation“, in: H. J. Hillerbrand (Hg.), The Oxford Encyclopedia of the Reformation, Bd. 3, New York / Oxford, 1996, 396 – 398; U. Köpf, „Reformation“, in: H. D. Betz (Hg.), Die Religion in Geschichte und Gegenwart: Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, 4. Aufl., Bd. 7, Tübingen, 2004, 145 – 159; T. Mahlmann, „Reformgedanke“, ebd., 159 – 164; Ders., „Reformation“, in: J. Ritter et al. (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, Basel, 1992, 416 – 427; Ders., „‚Ecclesia semper reformanda‘. Eine historische Aufklärung. Neue Bearbeitung“, in: T. Johansson, R. Kolb und J.H. Steiger (Hg.), Hermeneutica Sacra: Studien zur Auslegung der Heiligen Schrift im 16. und 17. Jahrhundert. Bengt Hägglund zum 90. Geburtstag, Berlin, 2010, 381– 442; E. Wolgast, „Reform/Reformation“, in: O. Brunner, W. Conze und R. Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 5, Stuttgart, 1984, 313 – 360. K.A. Frech, Reform an Haupt und Gliedern. Untersuchungen zur Entwicklung und Verwendung der Formulierung im Hoch- und Spät-Mittelalter, Frankfurt / New York, 1992. E. Campi, „Was the Reformation a German Event?“, in: ders., Shifting Patterns of Reformed Tradition, Göttingen, 2014, 15 – 34, hier: 18. „Concilium Constantiense – 1414– 1418“, sessio XXXIX, in: G. Alberigo et al. (Hg.), Conciliorum Oecumenicorum Decreta, Bologna, 1991, 438.
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Es ist daher wenig überraschend, dass diese Konnotation des reformatio-Begriffs infolge des religiösen Schismas in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts verstärkt auftauchte, auch wenn reformatio bei Luther, der den Begriff selten gebrauchte, in aller Regel in seiner geistlichen Bedeutung als gottgewirkte Erneuerung der Welt oder Verbesserung der Lehre verwendet wird und Maßstab einer „legitimen“ Reformation daher stets das „lautere Evangelium“ ist.¹¹ Dennoch bediente sich Luther in seiner Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung der Sprache des spätmittelalterlichen Konziliarismus, um das päpstliche Unvermögen, eine Reformation und ein „freies“ Konzil zuwege zu bringen, zu geißeln. 1528 konnte er in polemischer Absicht umgekehrt schreiben, er habe „ein Concilium angericht und eine reformation gemacht, das den Papisten die ohren klingen“. Zu diesem Zeitpunkt findet sich bereits die Bezeichnung der mit Luther verbundenen Vorgänge als Reformation im positiven oder negativen Sinne: Luthers Gegner Hieronymus Emser (1477– 1527) griff selbst auf die Sprache des Konstanzer Konzils zurück, wenn er in Frage stellte: „Ist das ein reformation oder deformation?“¹² – eine bis weit ins 18. Jahrhundert in der antiprotestantischen Polemik wiederkehrende Kritik.¹³ Während die Anführer der Bauernrevolte Mitte der 1520er Jahre den reformatioBegriff für sich beanspruchten, findet sich Luthers Zögern auch bei den anderen theologisch führenden Vertretern wie Ulrich Zwingli (1484– 1531) oder Johannes Calvin (1509 – 1564). Dennoch bürgerte es sich etwa ab dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 ein, die theologischen Pioniere der sich nun als Konfessionskirchen institutionalisierenden Reformbewegungen als „Reformatoren“ zu bezeichnen. Das ius reformandi entwickelte sich und gewann mit dem Westfälischen Frieden (1648) formalen Charakter, und die Bezeichnung „reformiert“ entwickelte sich zu einem gleichermaßen begehrten wie – etwa im Falle der „Zweiten Reformation“ in Niederhessen und Kurbrandenburg – umstrittenen Attribut. Im Laufe der Zeit nahmen somit Parteibezeichnungen den Charakter konfessioneller und historiographischer Kategorien an.¹⁴ Bereits die 1580 erschienene Histoire ecclésiastique des églises réformées au royaume de France aus der Feder Theodor von Bezas (1519 – 1605) ist durch eine Verbindung traditioneller Diskurse über die notwendige „Reform der Kirche“ mit zahlreichen Hinweisen auf „reformierte Kirchen“, in denen diese Reform erfolgt war,
Mahlmann, „Reformation“, 417. Ausführlich zur Lutherrezeption im Laufe der Zeiten: E. W. Zeeden, Martin Luther und die Reformation. Studien zum Selbstverstandnis des lutherischen Protestantismus von Luthers Tode bis zum Beginn der Goethezeit, 2 Bde., Freiburg, 1950. Zitate bei Wolgast, „Reform/Reformation“, 326. Vgl. Joachimus Rapperswilanus, Reformatio difformis et deformis, sive demonstratio qua tum theologicis argumentis, tum ex historicis relationibus luculenter ostenditur, praetensam Novatorum Reformationem esse gratis et perperam factam, Teil 1, Argentorati, 1726; S. Ekerman, Dissertatio gradualis, impudens mendacium Jesuitarum Reformatio Lutheri, deformatio ecclesiae explosura, Uppsala, 1761. Mahlmann, „Reformation“, 417– 418; ausführlich: H. Heppe, Ursprung und Geschichte der Bezeichnungen ‚reformirte‘ und ‚lutherische‘ Kirche, Gotha, 1859; W. Richard, Untersuchungen zur Genesis der reformierten Kirchenterminologie der Westschweiz und Frankreichs, Bern, 1959.
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charakterisiert.¹⁵ Auch auf lutherischer Seite zeigen die Feierlichkeiten zur hundertsten Wiederkehr von Luthers 95 Thesen 1617 ein gewisses Maß an Zufriedenheit mit dem Erreichten, was sich bei Johann Gerhard (1582– 1637) in der aus diesem Anlass geäußerten Überzeugung manifestierte, dass der Wittenberger Theologe „reformationis opus non solum inciperet, sed etiam felicissime perficeret.“ ¹⁶ In ähnlicher Weise drängte der fromme Herzog Ernst von Sachsen-Gotha (1601– 1675) seinen Hofgelehrten Veit Ludwig von Seckendorff (1626 – 1692) mehrfach dazu, „eine Geschichte der im vorigen Jahrhundert in Deutschland, oder wenigstens in Sachsen durchgeführten Reformation“ zu schreiben. Ziel, so Seckendorff später, sei es gewesen, anhand archivalischer Quellen zu rekonstruieren, „quo consilio et successu Religionis Reformatio tractata fuerit, utque a levibus initiis in eum statum processerit, quem posteritas vix admirari satis potuit“. ¹⁷ Dennoch bedurfte der Commentarius historicus et apologeticus de Lutheranismo sive de Reformatione religionis ductu D. Martini Lutheri Seckendorffs des äußeren Anreizes, dass die erstmals 1680 aufgelegte Histoire du Luthéranisme des Jesuiten Louis Maimburg (1610 – 1686) 1686 in einer neuen Auflage erschien, in deren Widmungsvorrede an Ludwig XIV. (1683 – 1715) Maimburg seiner Bewunderung für die „jüngeren Edikte“ dieses Königs – gemeint ist die Zurücknahme des Toleranzedikts von Nantes im Jahr 1685 – Ausdruck verlieh und das Reich Karls V. (1500 – 1558) als Beispiel dafür benannte, „dass die Häresie ein Feind ist, der in einem großen Reich mehr zu fürchten ist als die größten Armeen“.¹⁸ Konsequent erscheint das Luthertum in dieser Schrift als „Luthers Sekte“ und wird unter andere Ketzereien eingereiht. Für Seckendorff galt es daher nicht nur, die lutherische Sache als eine legitime Reformation zu verteidigen, sondern auch, den lutherischen Exklusivitätsanspruch zu bekräftigen. Ungeachtet aller römisch-katholischer Polemik führte die Vereinnahmung des reformatio-Begriffs durch Lutheraner, Calvinisten und andere nichtrömische Kirchen zu einer dauerhaften Gleichsetzung der Reformation mit einem protestantischen Phänomen. Dennoch lassen sich auch weiterhin Spuren einer inhaltlich weniger festgelegten und zugleich stärker einschränkenden Begriffsverwendung bei römischen Katholiken wie bei Protestanten finden, da der Terminus nach wie vor auf beiden Seiten Bestrebungen der Religionspolitik, insbesondere Versuche, sich der Kontrolle über das Kirchenregiment zu bemächtigen, bezeichnen konnte. Freilich Theodor von Beza, Histoire ecclésiastique des églises réformées au royaume de France, Antwerpen, 1580. Wolgast, Reform/Reformation, 329; vgl. ausführlicher Zeeden, Martin Luther, Bd. 1, 71– 110. V. L. von Seckendorff, Commentarius historicus et apologeticus de Lutheranismo sive de Reformatione religionis ductu D. Martini Lutheri…, Frankfurt/Leipzig, 1688. Aus zahlreichem archivalischen Quellen „quorum non exiguam multis locis copiam reperiri posse dicebat [Herzog Ernst], eruerem, quo consilio et successu Religionis Reformatio tractata fuerit, utque a levibus initiis in eum statum processerit, quem posteritas vix admirari satis potuit. Dei, ajebat, profecto digitus is fuit; ingrati sumus, qui hunc non agnoscimus, memoriamque rerum tam illustrium non accuratius conservamus et propagamus“ (Praeloquium, fol. [a4]v). Eine ausführliche Untersuchung bietet Zeeden, Martin Luther, Bd. 1, 113 – 128. L. Maimbourg, Histoire du Luthéranisme, Paris, 1686, „Epistre au Roy“.
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begleitete den Begriff auch in dieser Verwendung eine feindliche Konnotation, weswegen der Schritt zur „Gegen-Reformation“ nicht groß war. So protestierten evangelische Gruppierungen in den Habsburgischen Erblanden in der Mitte des 17. Jahrhunderts vehement gegen die vom Kaiser verordnete „Reformation“, eine aggressive Rekatholisierungspolitik, die in einer zeitgenössischen Quelle bereits als „Gegen-Reformation“ bezeichnet wird.¹⁹ Als historisches Konzept erscheint die Gegenreformation etwa ein Jahrhundert später. Der lutherische Jurist und Historiker Johann Stephan Pütter (1725 – 1805) verwendete in seiner 1762 erstmals erschienenen Darstellung der Geschichte des Heiligen Römischen Reiches zunächst den Begriff der „katholischen Reformationen“, um die Bestrebungen katholischer Fürsten, „eine Reformation zum Nachteil ihrer evangelischen Untertanen durchzuführen“, zu charakterisieren.²⁰ Bereits im Vorwort zu einer von ihm veranstalteten Neuausgabe der Confessio Augustana von 1776 begann Pütter jedoch, den Begriff der Gegenreformation zu verwenden, „um den Unterschied zwischen der evangelischen Reformation und den katholischen Gegenreformationen zu verdeutlichen“.²¹ Letzterer, im Plural stehender Begriff bezeichnete zunächst allgemein Maßnahmen fürstlicher Politik mit dem Ziel, protestantisch dominierte Gebiete, protestantische Kirchen und protestantische Untertanen zurück in katholische Obödienz zu führen, avancierte jedoch im Verlauf weiterer Schriften Pütters zur Bezeichnung eines Gesamtunternehmens, dessen Gewaltbereitschaft stets betont wurde: so berichtet er, dass „der Pfalzgraf von Neuburg am 17. Jul[i] 1628 erst im völligen Geiste der gewaltsamen Gegenreformation Befehle ergehen“ lassen habe.²² Andernorts kennzeichnet Pütter die Gegenreformation als Projekt, dessen Ziel es gewesen sei, „nicht nur dem weiteren Fortgange der bisherigen Reformation entgegen zu arbeiten, sondern wo möglich ganze Länder durch eine Gegenreformation wieder zur catholischen Kirche zu bringen“.²³ Die Schuld an diesem „Plan einer katholischen Gegenreformation“ sahen andere Gelehrte bei den Jesuiten, die mit ihm bei leicht beeinflussbaren Kaisern wie Rudolf II. (1552– 1612) und vor allem Ferdinand II. (1578 – 1637) geradezu hausieren gegangen seien.²⁴ Die Verwendung von „Reformation“ als historiographischer Fachbegriff bürgerte sich unterdessen immer mehr ein. Bald nach der dem ersten hundertjährigen Jubiläum der 95 Thesen sprach der Calvinist Abraham Scultetus (1566 – 1625), wenn er in
Wolgast, „Reform/Reformation“, 330. A. Elkan, „Entstehung und Entwicklung des Begriffs ‚Gegenreformation‘“, in: Historische Zeitschrift, 112, 3, 1914, 473 – 493, 475 und Anm. 2. Eine kurze Zusammenfassung von Pütters Werk bietet O’Malley, Trent and All That, 20. Elkan, „Entstehung und Entwicklung“, 175, Anm. 3. J. S. Pütter, Historische Entwickelung der heutigen Staatsverfassung des Teutschen Reichs, Zweyter Theil von 1558. bis 1740, Göttingen, 1788, 236. J. S. Pütter, Historische Entwickelung, Erster Teil bis 1558, Göttingen, 1798, 447. C. G. Heinrich, Allgemeine Weltgeschichte von der Schöpfung an bis aug gegenwärtige Zeit, Bd. 4, 6, Leipzig, 1795, 981.
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seinen Annales evangelii passim per Europam […] renovati (1618) Rückblicke der betreffenden Theologen zitierte, von einem saeculum reformationis, im Jahr des Westfälischen Friedens veröffentlichte der Schweizer Theologe und Orientalist Johann Heinrich Hottinger (1620 – 1667) seine Dissertatio continens historia[m] Reformationis Ecclesiasticae. ²⁵ Dennoch dauerte es noch bis ins späte 18. Jahrhundert, als Wissenschaftler religiöse Ereignisse in engeren Zusammenhang mit politischen und anderen zeitgenössischen Kontexten zu bringen begannen, dass aus einer Bewegung und einem Abschnitt der Kirchengeschichte eine historische Epoche im Vollsinne wurde. In seiner Geschichte der Entstehung, der Veränderungen und der Bildung unsers protestantischen Lehrbegriffs vom Anfang der Reformation bis zu der Einführung der Concordienformel forderte Gottlieb Karl Georg Planck (1824– 1910) „nicht nur genaue Kenntnis der ganzen Geschichte des Zeitalters, sondern ebenso genaue Kenntnis ihrer persönlichen Geschichte, ihres Charakters, ihrer Lage, ihrer Lokalumstände“.²⁶ Damit war zum einen der Weg zu jener integrativen Art von Reformationsgeschichtsschreibung eingeschlagen, der durch Rankes ab 1839 erscheinende Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation beinahe kanonischen Rang erhalten sollte, zum anderen die Voraussetzung für die Etablierung eines ähnlich konzipierten Zeitalters der Gegenreformation gegeben. Ranke, der noch lange von einer der Reformation folgenden „Zeit der GegenReformationen“ gesprochen hatte, ging 1881 dazu über, den Begriff im Singular statt im Plural zu verwenden, und folgte so einer offenbar erstmals 1865 bei seinem Schüler Wilhelm Maurenbrecher (1838 – 1892) anzutreffenden Schreibweise. Maurenbrecher hatte darüber hinaus den Begriff der „Katholischen Reformation“ eingeführt, um binnenkatholische Reformen zu bezeichnen.²⁷ Diese vielsagende und umstrittene Unterscheidung basierte auf der Annahme gemeinsamer Wurzeln von evangelischer und katholischer Reformation; für die terminologischen Debatten des 20. Jahrhunderts sollte sie entscheidende Folgen haben. Im Bemühen, dem nuancenreichen und komplexen Charakter der frühen Neuzeit gerecht zu wurden, wurden zahlreiche weitere begriffliche Differenzierungen vorgeschlagen: Die frühen Reformbewegungen wurden als „Evangelismus“ bezeichnet, anstelle der Gegenreformation setzte man den Begriff der katholischen „Restauration“ oder sprach vom gesamten infragestehenden Zeitraum als von der Epoche der „Glaubensspaltung“; zur Kennzeichnung
J. H. Hottinger, Dissertatio continens historiae Reformationis Ecclesiasticae partem I, Tiguri, 1648, zit. bei Mahlmann, Reformation, 418. G. J. Planck, Geschichte der Entstehung, der Veränderungen und der Bildung unsers protestantischen Lehrbegriffs vom Anfang der Reformation bis zu der Einführung der Concordienformel, 2. Aufl., Leipzig 1791– 1800, Bd. 1, S.VIII; zit. bei Wolgast, „Reform/Reformation“, 332– 333 („nicht nur genaue Kenntnis der ganzen Geschichte des Zeitalters, sondern ebenso genaue Kenntnis ihrer persönlichen Geschichte, ihres Charakters, ihrer Lage, ihrer Lokalumstände“). Vgl. die Diskussion bei Wolgast, „Reform/Reformation“, 334– 335; H. Jedin, Katholische Reformation oder Gegenreformation? Ein Versuch zur Klärung der Begriffe nebst einer Jubiläumsbetrachtung über das Trienter Konzil, Luzern, 1946, 11– 12 sowie passim; O’Malley, Trent and All That, 25 – 27.
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bestimmter Gruppen entwickelte sich eine Fülle zusätzlicher Termini vom inklusivistischen „protestantisch“ hin zu den stärker exklusivistischen Begriffen „lutherisch“, „erasmianisch“, „calvinistisch“ und „täuferisch“, wobei viele dieser Bezeichnungen deprekativen Ursprungs sind.²⁸ Dessen ungeachtet entwickelten sich „Reformation“ und „Gegenreformation“ spätestens mit Ende des 19. Jahrhunderts zu den in der Geschichtswissenschaft allgemein üblichen Begriffen, die sich auch über das Heilige Römische Reich als ihrem Ursprungsland hinaus zur Kennzeichnung von Vorgängen in Großbritannien, Frankreich, Italien und anderen Kontexten einbürgerten und so ein aus der komplexen konfessionellen Situation des Reiches erwachsenes Konzept zur Blaupause frühneuzeitlicher europäischer Geschichte insgesamt machten. In diesem Rahmen ist es nicht möglich, die Entwicklung der beiden Begriffe außerhalb Deutschlands nachzuzeichnen; hinzuweisen ist aber doch auf bestimmte Charakteristika. So verbindet sich die niederländische Rezeption etwa mit dem komplexen „Kulturkampf“ dieses Landes im 19. Jahrhundert: Nach der Einführung einer liberalen Verfassung 1848 und der Wiederzulassung der katholischen Kirche 1853 wurde in den Niederlanden der Versuch, eine „versöhnliche“ Nationalgeschichtsschreibung zu generieren, durch fortdauernde Streitigkeiten über die Beurteilung der Reformation und ihre Verbindung zu denjenigen Aufständen im 16. Jahrhundert, denen die Niederlande ihre nationale Existenz verdanken, stark behindert.²⁹ Im gerade erst nationalstaatlich konstituierten Italien waren die Beziehungen zwischen Staat und Kirche durch die Annexion des Kirchenstaates nachhaltig gestört. In diesem Kontext griffen liberale Intellektuelle wie Benedetto Croce (1866 – 1952) den Begriff der Gegenreformation auf, um damit die Wirkungen der nachtridentinischen römisch-katholischen Kirche auf die langfristige Entwicklung Italiens in der Frühen Neuzeit zu beschreiben.³⁰ Dieser jeweils spezifischen Rezeptionskontexte ungeachtet ist im Ergebnis zu konstatieren, dass es zur Entwicklung einer standardisierten Terminologie kommt, welche vornehmlich von protestantischen Historikern entwickelt worden war und derzufolge „Reformation“ ausschließlich für protestantische Reformbewegungen verwendet wird, während „Gegenreformation“ die der „Reformation“ zeitlich nachfolgenden Entwicklungen in der nunmehrigen römisch-katholischen Konfessionskirche bezeichnet.
D. MacCulloch, The Reformation: A History, New York etc., 2003, xvii. J. Tollebeek, De toga van Fruin. Denken over geschiedenis in Nederland sinds 1860, Amsterdam, 1990, 33 – 44; A. van der Zeijden, Katholieke identiteit en historisch bewustzijn: W.J.F. Nuyens (1823 – 1894) en zijn ‚nationale‘ geschiedschrijving, Hilversum, 2002. G. Marzot, L’Italia della Controriforma e la critica di Benedetto Croce, Milan, 1953; F. De Giorgi, La Controriforma come totalitarismo: nota su Croce storico, Brescia, 2013.
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3 Debatten im 20. Jahrhundert Diese konfessionell bestimmten historischen Narrative sind in den letzten fünf Jahrzehnten aus einer Reihe von Gründen grundlegender Kritik unterzogen worden. Angesichts von Ökumene und Säkularisierung sind konfessionelle Loyalitäten zwar nicht ganz verschwunden, haben aber stark nachgelassen. Der Aufstieg sozial- und kulturgeschichtlicher Ansätze führte im Bereich der Geschichtswissenschaft zu einer Verlagerung des Forschungsinteresses weg von der Genese kirchlicher Traditionen hin zur sozialen, ökonomischen und politischen Kontextualisierung religiöser Phänomene und damit zu mehr komparatistisch orientierten Perspektiven; wo langfristige Entwicklungslinien gezeichnet wurden, unterschieden sie sich häufig von den etablierten konfessionellen Deutungsmustern. Diese Historisierung frühneuzeitlicher Religiosität blieb nicht ohne Folgen für die traditionellen Begrifflichkeiten. Bereits unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges zeichneten sich Verschiebungen ab: Auf römisch-katholischer Seite sollten vor allem die Bemühungen Hubert Jedins (1900 – 1980), Reformbestrebungen im Katholizismus begrifflich sensibel wahrzunehmen, folgenreich werden. Jedin beanspruchte den Begriff der Reformation als Überbegriff für eine Vielfalt katholischer Reforminitiativen vom Mittelalter bis hinein in die Aufklärungszeit, und somit für ein lange vor Luthers Auftreten existentes plurales Phänomen. Auf der anderen Seite gab er dem Begriff der Gegenreformation, insofern er die legitime römisch-katholische Gegenmaßnahmen gegen protestantische Angriffe bezeichne, eine neue Bedeutung. Jedin zufolge sind Reformation und Gegenreformation einander wesensverwandt, da auch die Gegenreformation aus dem Geist der katholischen Reform erwachsen sei. Hier ging Jedins historische Arbeit von der für ihn selbstverständlichen theologischen Voraussetzung aus, dass es sich bei der lutherischen Bewegung um eine Häresie handle, deren Bezeichnung als „Reformation“ er stets durch Anführungszeichen in Frage stellte.³¹ Es ist daher trotz Jedins großen wissenschaftlichen Leistungen nicht zu verkennen, dass sein Beitrag zur hier verhandelten Frage nach der rechten Terminologie von einer überzeugt konfessionellen Grundposition her erfolgte. Dass seine Anregungen in der römisch-katholischen Geschichtswissenschaft vor allem durch Untersuchungen zu Phänomenen der Katholischen Reform, insbesondere auf bischöflich-diözesaner Ebene sowohl vor als auch nach dem Tridentinum, und kaum durch eine vertiefte
Jedin, Katholische Reformation oder Gegenreformation?, 27 („So konnte jene andere ‚Reformation‘ kommen, deren dogmatische Grundlage eine Häresie war…“), 32 („Aus der katholischen Reform zieht die Kirche die Kraft zur Abwehr der Neuerung. Alles was sie leistet, kommt indirekt der Abwehr zugute, ist aber in sich genommen nicht selbst Abwehr, sondern Entwicklung des eigenen Lebensgesetzes der Kirche. Um den Gegner abzuwehren, schafft sich die Kirche neue Methoden und neue Waffen“), und 35 („Die Kirche hat diesen brutalen Zwang nicht eigentlich gewünscht, aber auch nicht gehindert; das Odium fiel natürlich in erster Linie auf sie“). Vgl. die luzide Analyse dieses Textes von Jedin bei O’Malley in Trent and All That, 46 – 71, insbesondere 58 zu Jedins Auffassung von der Geschichte als sich fortentwickelnder Erlösung.
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Beschäftigung mit der Gegenreformation aufgenommen wurden, vermag angesichts dessen kaum zu überraschen. Auf protestantischer Seite setzte Heiko Augustinus Oberman (1930 – 2001) mit seinem Fokus auf die Verbindung zwischen Spätmittelalter und Reformation ebenfalls Akzente in Richtung einer Überwindung konfessionell geprägter Narrative. Der studierte Theologe und Kirchenhistoriker gelangte zu einer theologischen Wahrnehmung der (protestantischen wie altgläubigen) Reformvertreter des 16. Jahrhunderts im Licht spätmittelalterlicher theologischer Diskurse und Reformbestrebungen³² und brachte so eine Umwertung des Begriffs der Gegenreformation in die Debatte ein: „the Protestant Reformation deserves the title Counter Reformation insofar as the pre-Tridentine Reformation was rejected [by Luther]“.³³ In der durchgängig gegen überkommene Deutungsmuster gerichteten Lesart Obermans erscheint Luther weniger als Vertreter einer Erneuerung der Kirche als vielmehr als ein Prophet des nahenden Weltendes, der eine „Gegenreformation“ durch den Teufel provozierte. „Hence ‚Reformation‘ is not a human achievement at the beginning of the Modern Age but God’s action at the end of time“.³⁴ Auch wenn sich Obermans terminologische Vorschläge nicht durchsetzen konnten, zeitigte seine beharrliche Forderung, Luther voll und ganz in seinem zeitgenössischen mentalen wie physischen Kontext zu situieren, ebenso Früchte wie seine konsequente Verortung der protestantischen Theologie des 16. Jahrhunderts im Kontext lange zurückreichender Reformdiskurse, wie insbesondere die Arbeit seines Schülers Steven Ozment (geb. 1939) zeigt, der die protestantischen Bewegungen des 16. Jahrhunderts als das Ergebnis dreihundertjähriger Reformbestrebungen verstand.³⁵ Dass die Reformation in gleicher Weise wie die Gegenreformation hier als ein spätes Kapitel einer langen Geschichte aufgefasst wurde, deckt sich mit Jedins Vorstoß, auch wenn dessen spezifische theologische Grundposition weder von Oberman noch von seinen Schülern übernommen wurde. Von der grundsätzlichen Bereitschaft abgesehen, das historische Konzept der Reformation einer Neubewertung dahingehend zu unterziehen, dass die Reformation nicht als monolithischer Block, sondern als ergebnisoffenes Phänomen in erheblicher
Vgl. unter Obermans grundlegenden Werken insbesondere H. A. Oberman, The Harvest of Medieval Theology: Gabriel Biel and Late Medieval Nominalism, Cambridge, MA, 1963; Ders., Werden und Wertung der Reformation, Tübingen, 1977; Ders., Luther: Mensch zwischen Gott und Teufel, Berlin, 1982. Ders., Forerunners of the Reformation. The Shape of Late Medieval Thought Illustrated by Key Documents, New York / Chicago / San Francisco, 1966, 40. Entsprechend die Untersuchung durch B. Hamm, „An Opponent of the Devil and the Modern Age: Heiko Oberman’s View of Luther“, in: T. A. Brady, Jr., K. G. Brady, S. Karant-Nunn und J. D. Tracy (Hg.), The Work of Heiko A. Oberman. Papers from the Symposium on His Seventieth Birthday, Leiden/Boston, 2003, 31– 49, hier: 37– 38. Vgl. im gleichen Sammelband S. Hendrix, „‚More Than a Prophet‘: Martin Luther in the Work of Heiko Oberman“, 11– 29. S. Ozment, The Age of Reform, 1250 – 1550: An Intellectual and Religious History of Late Medieval and Reformation Europe, New Haven / London, 1980. Vgl. auch S. Chaunu, Le temps des Réformes. Histoire réligieuse et système de civilisation. La crise de la chrétienté. L’éclatement (1250 – 1550), Paris, 1975.
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Kontinuität zu vorherigen kirchenhistorischen Phänomenen in den Blick kam, verblieben indes sowohl Oberman wie Jedin durch ihre Fokussierung auf Fragen von Theologie, Ekklesiologie und Kirchenordnung insgesamt im Rahmen herkömmlicher Kirchengeschichtsschreibung. Erst die in den 1970er Jahren einsetzende Öffnung gegenüber neuen sozial-, politik- und kulturgeschichtlichen Fragestellungen führte daher zu einer entscheidenden Veränderung der reformationshistorischen Landschaft, die auch die historischen Begrifflichkeiten erfasste. Eine noch stärkere Einforderung von historischer Kontextualisierung, die Einbindung von Zugängen aus anderen Bereichen der Geschichtswissenschaft (genannt seien stellvertretend Sozialgeschichte, Anthropologie und Geschlechterforschung) und der zunehmende Einfluss komparatistischer Methoden resultierten darin, die religiösen Transformationen des 16. Jahrhunderts auf eine Weise neu zu bewerten, die nicht nur hergebrachte konfessionelle Bindungen hinter sich ließ, sondern auch weit über den spezifisch kirchenhistorischen Bereich hinausreichte. Auch wenn sie weiterhin verwendet wurden, so entwickelten die Begriffe „Reformation“ und „Gegenreformation“ doch ein von ihrem hergebrachten Referenzfeld erheblich differierendes Bedeutungsspektrum. Die vertiefte Beschäftigung mit der städtischen Reformation und mit der religiösen Vorstellungswelt breiterer Bevölkerungsschichten führte zu einer Ausweitung von bislang primär auf die als „führend“ geltenden Theologen fokussierten Reformationskonzepten, denen etwa Robert Scribner (1941– 1998) eine „mythological view of history“ zum Vorwurf machte,³⁶ hin zur Wahrnehmung einer größeren Bandbreite unterschiedlicher Reformationen – genannt seien die Unterschiede zwischen fürstlichen, städtischen und bäuerlichen Reformationen und die Spezifika der reformatorischen Tätigkeit der städtischen Unterschichten oder auch der Frauen – sowie weg von der bisherigen Monopolstellung Wittenbergs, Zürichs und Genfs. Auch die hegelianisch-philosophische Grundkonzeption als Basis der herkömmlichen Reformations- beziehungsweise Gegenreformationsterminologie wurde zunehmend einer Neubewertung unterzogen, indem beide Phänomene nunmehr als Teile eines gemeinsamen größeren historischen Geschehens in den Blick gerieten. So entwickelte etwa der Franzose Jean Delumeau (geb. 1923) die provokative These, dass sowohl die Reformation als auch die Gegenreformation eine gemeinsame Rolle in der „Christianisierung“ eines bis dato nur oberflächlich christlichen Abendlandes spielten, während Henry Outram Evennett (1901– 1964) und John Bossy (1933 – 2015) in Großbritannien die für die hegelianisch geprägte Reformationsdeutung grundlegende Identifikation der Reformation mit dem Beginn der Moderne in Frage stellten, indem sie die Gegenreformation als eine Form von Modernisierung präsentierten. Wolfgang Reinhard (geb. 1937) entwickelte diese Hypothese aus soziologischer Perspektive weiter, indem er 1977 darauf hinwies, dass die sich mit der Gegenreformation verbindenden Phänomene eines neuartigen päpstlichen Kirchenregiments und jesuiti-
R. Scribner, The German Reformation, Basingstoke, 1986, 2.
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scher Frömmigkeit modernen Vernunftvorstellungen entsprächen. Dies war ein erster Schritt dahin, die im Anschluss an Heinz Schilling (geb. 1942) und andere als Konfessionalisierung und Sozialdisziplinierung zu benennenden Entwicklungen für eine integrative Deutung der europäischen Reformationen fruchtbar zu machen.³⁷ Die Dimension dieser Veränderungen im Zugriff auf die Ereignisse und Entwicklungen des 16. Jahrhunderts und ihrer Folgen für die geschichtswissenschaftlichen Begrifflichkeiten lassen sich besonders gut am Werk Paolo Prodis (1932– 2016) und seiner Rezeption der Thesen Reinhards illustrieren. Als Schüler Jedins zeigte Prodi sich 1980 nach wie vor davon überzeugt, dass die Konzepte von Reformation und Gegenreformation in der Identifikation einander widerstrebender Kräfte der italienischen Religionspolitik des ausgehenden 16. Jahrhunderts hilfreich sein könnten, hatte jedoch in pointiertem Gegensatz zu seinem Lehrer Jedin realisiert, dass damit der Bereich der reinen Kirchengeschichte zugunsten einer breiteren allgemeinhistorischen Perspektive verlassen würde. Mit der Etablierung des Konfessionalisierungsparadigmas ein Jahrzehnt später zeigt sich Prodi bereit dazu, „definitiv die Bedeutung beider Begriffe [Reformation und Gegenreformation] in Frage zu stellen“ und schlug vor, sie entweder komplett zu verabschieden oder sie „an Kategorien, die sich besser dazu eignen, die Phänomene in ihrer Gesamtheit zu erfassen“, anzupassen,³⁸ wobei zu diesen Kategorien nach Prodi Christianisierung, Modernisierung, Sozialdisziplinierung und Konfessionalisierung gehörten. Mit diesen neuen Konzepten war das Bemühen eingeläutet, die europäischen Reformationen nicht nur als einander widerstreitende religiöse Bewegungen und Ideologien, sondern auch als Teile eines umfassenderen historischen Prozesses sozialer, politischer und institutioneller Dimension zu verstehen. Dagegen machten Teile der Forschung geltend, dass damit religiöse Konflikte und die Unterdrückung religiöser Minderheiten schöngeredet würden. Andere kritisierten, dass diese Ansätze durch ihre Ignoranz gegenüber religiösen Überzeugungen ihrerseits defizitär seien. Ungeachtet dieser kritischen Anmerkungen inspirierten die neuen Begriffe (wie alle weiterführenden etischen Konzepte) intensive weitere Forschung, wobei das Konfessionalisierungsparadigma und, in etwas geringeren Ausmaßen, auch das Paradigma der Sozialdisziplinierung sich als besonders fruchtbar herausstellten. Da der Chris-
Vgl. zu diesen Entwicklungen O’Malley, Trent and All That, 72– 117; S. Ehrenpreis und U. LotzHeumann, Reformation und konfessionelles Zeitalter, Darmstadt, 2002; W. de Boer, „An Uneasy Reunion: The Catholic World in Reformation Studies“, in: A. J. Schutte, S. C. Karant-Nunn und H. Schilling (Hg.), Reformationsforschung in Europa und Nordamerika. Eine historiographische Bilanz anlässlich des 100. Bandes des Archivs für Reformationsgeschichte, Archiv für Reformationsgeschichte / Archive for Reformation History 100, Gütersloh, 2009, 366 – 387 (der gesamte Band ist instruktiv). Paolo Prodi, „Il binomio jediniano ‚riforma cattolica e controriforma‘ e la storiografia italiana“, in: Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento, 6, 1980, 85 – 98; Ders., „Controriforma e/o Riforma Cattolica: superamento di vecchi dilemmi nei nuovi panorami storiografici“, in: Römische Historische Mitteilungen, 31, 1989, 227– 237, hier: 233; vgl. meine Ausführungen hierzu: W. de Boer, „Social Discipline in Italy: Peregrinations of a Historical Paradigm“, in: Archiv für Reformationsgeschichte/Archive for Reformation History, 94, 2003, 294– 307.
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tianisierungsbegriff auf einer potentiell willkürlichen Einschätzung des Ausmaßes, in dem die christliche Botschaft identitätsbestimmend wurde, beruhte, konnte er sich dagegen ebenso wenig durchsetzen wie der ebenfalls zu stark von intransparenten teleologischen Vorannahmen abhängige Modernisierungsbegriff. Das Paradigma der Konfessionalisierung erwies sich als hilfreich dafür, nachzuzeichnen, wie sich die protestantischen und römisch-katholischen Reformbewegungen im Verlaufe von etwas mehr als einem Jahrhundert institutionalisierten und wiedererkennbare Grenzen und Identitäten entwickeln konnten. Insbesondere die Wahrnehmung einander vergleichbarer sozialer Anliegen und Disziplinierungsanstrengungen mit den Zielen einer auf religiöser Homogenität ruhenden und durch die weltliche Obrigkeit notfalls gewaltsam gewährleisteten politischen Einheit, der Durchsetzung sozialer und moralischer Normen und der Formung gemeinsamer konfessioneller Identitäten führten zu zahlreichen Untersuchungen von Aspekten sozialer Disziplinierung und eröffneten komparatistische Zugänge. Die durch entsprechende Studien zutage geförderten komplexen Zusammenhänge voller Ausnahmen, Widersprüchlichkeiten und Einschränkungen bestätigten auf der einen Seite die scharfen Realitäten des konfessionellen Zeitalters, erschwerten es jedoch auf der anderen Seite zunehmend, langfristige Prozesse zu ermitteln. Religiöse Anliegen erwiesen sich als Deckmantel ökonomischer, politischer oder militärischer Vorhaben, zentral beschlossene Reformen verloren auf dem Weg an die Peripherie ihr ursprüngliches Konfliktpotential, indem sie in alltägliche Prozesse integriert wurden. Insbesondere in Grenzgebieten wurden nicht nur konfessionelle Konflikte ausgetragen: Häufig zeigten sich diese Gebiete auch als Orte intensiver Verhandlungen und wechselseitiger Anpassung. In ganz Europa ließen sich Städte und Landstriche auf komplexe Versuche bi- oder multikonfessioneller Koexistenz ein, häufig vermieden Einzelpersonen negative Folgen einer konfessionellen Festlegung durch Nikodemismus, Verheimlichung, Konversion und Rekonversion – was in einer zunehmend vernetzten und sich auf andere Kulturen und Religionen wie Islam und Judentum beziehenden frühneuzeitlichen Welt mit dazu beigetragen haben mag, dass sich relativistische oder quasi-säkulare Konzepte von Religion als System sozialer Konventionen entwickeln konnten.³⁹
Als neuere Beispiele für diese Neubewertung seien genannt U. Lotz-Heumann, „Confessionalization,“ in: A. Bamji, G. H. Janssen und M. Laven (Hg.), The Ashgate Research Companion to the CounterReformation, Farnham-Burlington, VT, 2013, 33 – 53; K. L. Luria, „Religious Coexistence“, in: ebd., 55 – 72; G. H. Janssen, „The Exile Experience“, in: ebd., 73 – 90; J. Pollmann, „Being a Catholic in Early Modern Europe“, in: ebd., 165 – 182. Als neuere reformationsgeschichtliche Darstellungen unter Berücksichtigung der terminologischen Entwicklung seien ferner genannt B. J. Kaplan, Divided by Faith: Religious Conflict and the Practice of Toleration in Early Modern Europe, Cambridge, MA / London, 2009; N. Terpstra, Religious Refugees in the Early Modern World: An Alternative History of the Reformation, Cambridge / New York, 2015; M. García-Arenal (Hg.), After Conversion: Iberia and the Emergence of Modernity, Leiden/Boston, 2016.
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4 Reform und Reformation Das Konzept der „Reformation“ hat in diesen Diskursen deutlich an begrifflicher Schärfe verloren. Auch wenn sich bestätigt hat, dass religiöse Identität im vormodernen Europa eine zentrale Rolle spielte, führten die hier beschriebenen Veränderungen der Forschungslandschaft zu einem vertieften Verständnis der Komplexität der mit den traditionellen Begrifflichkeiten wie „lutherisch“, „erasmianisch“ oder „katholisch“ bezeichneten Realitäten. Während das Konfessionalisierungsparadigma eine integrierte Perspektive auf das Zeitalter bietet, verblasst der Reformationsbegriff als Kennzeichnung des infragestehenden Zeitraums zunehmend. „Reformation“ erscheint nun in der Regel im Plural, um die Unterschiedlichkeit frühneuzeitlicher religiöser Reformbestrebungen zu verdeutlichen, wobei protestantische und römischkatholische Reformationen, in der Regel in ökumenischer Verbundenheit nebeneinander gestellt werden, auch wenn sich der komparative Zugang in jüngster Zeit selbst wieder abgeschwächt hat. Die damit einhergehende Gefahr der Verdunkelung tatsächlicher konfessioneller Unterscheide in Lehre, institutioneller Organisation, Ritus und geistlicher Kultur führte umgekehrt in Teilen der Forschung entweder zu einer Zurückweisung des Konfessionalisierungsparadigmas in seiner Gesamtheit oder dazu, die überkommenen wissenschaftlichen Zugänge der konfessionellen Geschichtsschreibung fortzuschreiben. Dass in diesen Zusammenhängen das alte Konzept von Reformation und Gegenreformation seine Wirkmächtigkeit erhalten konnte, vermag nicht zu überraschen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Erforschung der Häresie im Italien des 16. Jahrhunderts. Auf der Grundlage von Delio Cantomoris (1904 – 1966) 1939 veröffentlichter Darstellung Eretici Italiani del Cinquecento begann eine Hochkonjunktur dieses Forschungszweigs unter den Vorzeichen der aufsteigenden Sozial- und Kulturgeschichte, die sich im Kontext des Konfessionalisierungsparadigmas und neuen Interesses an den institutionellen Strukturen der römisch-katholischen Kirche fortsetzt. Die angesichts der Tatsache, dass häretische Bewegungen dort zumeist durch konsequente obrigkeitliche Maßnahmen schnell und wirkungsvoll unterdrückt wurden, ironische Blüte der Reformationsforschung in Italien zeigt, dass gegenwärtige Faszination mit (religiösen) Minderheiten ein altes Forschungskonzept zu neuem Leben erwecken kann, während zur gleichen Zeit das Paradigma der Gegenreformation durch zahlreiche neuere Studien zur Geschichte der Römischen Inquisition fortgesetzt wird.⁴⁰ D. Cantimori, Eretici Italiani del Cinquecento e altri scritti, hg.v. A. Prosperi, Turin, 1992; vgl. ferner, neben der Einleitung der Neuausgabe durch Prosperi: A. Jacobson Schutte, „Periodization of Sixteenth-Century Italian History: The Post-Cantimori Paradigm Shift“, in: Journal of Modern History, 61, 2, 1989, 269 – 284. Die Vitalität italienischer Reformationsforschung findet Berücksichtigung bei S. Caponetto, The Protestant Reformation in Sixteenth Century Italy, Kirksville, MO, 1999; J. A. Tedeschi und J. M. Lattis, The Italian Reformation of the Sixteenth Century and the Diffusion of Renaissance Culture: A Bibliography of the Secondary Literature, ca. 1750 – 1997, Modena/Ferrara, 2000; A. Prosperi, L’eresia del Libro grande: storia di Giorgio Siculo e della sua setta, Milan, 2000; M. Firpo, Juan de Valdés
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Dass sich die klassische Opposition von Reformation und Gegenreformation auch außerhalb der Apenninenhalbinsel in Lehrbüchern, Handbüchern und Sammelbänden weiter findet, weist darauf hin, dass diese Begriffe nach wie vor besonders dafür geeignet erscheinen, zentrale Entwicklungen in Religion und Gesellschaft umfassend zu charakterisieren.⁴¹ Mit teilweise erheblichen terminologischen Modifizierungen im Einzelnen prägen sie auch die seit Beginn des 21. Jahrhunderts vermehrt zu beobachtenden Versuche, die europäischen Reformationen global zu kontextualisieren, wobei gegenüber einzelnen Vergleichen mit anderen Religionen in der Regel die weltweite Ausbreitung des Christentums westeuropäischer Prägung das vorherrschende Forschungsinteresse bildet. Ursprünglich führte dies vor allem im Bereich des römisch-katholischen Christentums zu zahlreichen neuen Untersuchungen des „kolonialen Fußabdrucks“ von Mission und Bekehrung in der Neuen Welt;⁴² in jüngster Zeit etabliert sich jedoch auch der außereuropäische Protestantismus – auch abgesehen von seinem traditionell gut erforschten nordamerikanischen Kontext – als Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen.⁴³ Noch nicht abschließend geklärt ist, welche Orientierungsleistung die Begriffe von Reformation und Gegenreformation in diesen Zusammenhängen losgelöst von ihren ursprünglichen europäischen Entstehungskontexten zu erbringen vermögen. Die in Teilen der Forschung zu beobachtende Neigung, im Kontext der überseeischen Ausdehnung der römisch-katholischen Kirche den Begriff der „Erneuerung“ zu verwenden, weist darauf hin, dass die Schwierigkeiten in der begrifflichen Einordnung des europäischen frühneuzeitlichen Katholizismus sich auch für dessen außereuropäische Kontexte stellen. Der aus dem mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Re-
and the Italian Reformation, Farnham-Burlington, VT, 2015. Den aktuellen Stand der Inquisitionsforschung repräsentieren A. Prosperi,V. Lavenia und J. Tedeschi (Hg.), Dizionario storico dell’Inquisizione, 4 Bde., Pisa, 2010. Ein neueres Plädoyer für die Rückkehr zum Begriff der Gegenreform aus der Feder eines führenden italienischen Reformationshistorikers findet sich bei M. Firpo, „Rethinking ‚Catholic Reform‘ and ‚Counter-Reformation‘: What Happened in Early Modern Catholicism – A View from Italy“, in: Journal of Early Modern History, 20, 3, 2016, 293 – 312. Vgl. etwa R. Po-chia Hsia (Hg.), A Companion to the Reformation World, Malden, MA, 2004; A. Bamji, G. H. Janssen und M. Laven (Hg.), The Ashgate Companion to the Counter-Reformation; S. Marshall (Hg.), The Oxford Illustrated History of the Reformation, Oxford, 2015; U. Rublack, The Oxford Handbook of the Protestant Reformations, Oxford, 2016. Einem komparativen Zugang verpflichtet ist J. D. Tracy, Europe’s Reformations, 1450 – 1650, 2. Aufl., Lanham, 2006. Neuere Untersuchungen der Ausbreitung des römischen Katholizismus außerhalb Europas bieten unter anderem R. Po-chia Hsia, The World of Catholic Renewal, 1540 – 1770, 2. Aufl., Cambridge / New York, 2005; Ders. (Hg.), The Cambridge History of Christianity, Bd. 6, Reform and Expansion, Cambridge, 2007; S. Ditchfield, „Catholic Reformation and Renewal“, in: Marshall, The Oxford Illustrated History of the Reformation, 152– 185. Vgl. die Einleitung zu The Oxford Handbook of the Protestant Reformations, 15 Anm. 28 aus der Feder von U. Rublack; ferner M. Wiesner-Hanks, „Comparisons and Consequences in Global Perspective, 1500 – 1750“, in: ebd., 747– 764; J. Cañizares-Esguerra, Puritan Conquistadors: Iberianizing the Atlantic, 1550 – 1700, Stanford, 2006; C. Pestana, Protestant Empire: Religion and the Making of the British Atlantic World, Philadelphia, 2009.
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formdiskurs bekannte Begriff der renovatio findet sich vereinzelt in der älteren Forschung als Epitheton der römisch-katholischen Reformation. Er hat den Vorteil, die sich mit den Begriffen „Gegenreformation“ und „katholische Reform“ automatisch verbindenden Assoziationen zu vermeiden, birgt allerdings auch das Risiko, darüber hinwegzutäuschen, dass die Folgen der europäischen Konfessionalisierung sich auch auf die europäischen Kolonien in Übersee erstreckten, wie das Beispiel der Inquisition verdeutlicht.⁴⁴ Es ist ferner unumstritten, dass die sich in Europa im Zuge der Konfessionalisierung entwickelnden Unterschiede innerhalb des westlichen Christentums hinsichtlich Kirchenordnung, religiöser Identität und religiöser Kultur auch die religiöse Entwicklung in den Kolonien prägten, auch wenn der neue Kontext kolonialer Gesellschaften zu einer eigenständigen Rezeption und Entwicklung dieser konfessionellen Merkmale führte. Das Erbe der religiösen Auseinandersetzungen des 16. Jahrhunderts findet in den terminologischen Kontroversen, deren Verlauf im Vorstehenden skizziert wurde, ebenso seine mehr oder minder verhüllte Fortsetzung wie in den durch die Reformation hervorgerufenen fortgesetzten Bestrebungen konfessioneller, wissenschaftlicher oder andersartiger Erinnerungskonstruktion.⁴⁵ Es besteht aller Grund, anzunehmen, dass sich dies im 21. Jahrhundert fortsetzen wird.⁴⁶ Die Begriffe „Reformation“ und „Gegenreformation“ haben sich zu gängigen Bezeichnungen entwickelt; ihre stets aufs Neue wiederkehrende Problematisierung und Neufassung ist selbst ein Zeichen dafür, dass sie nach wie vor eine Schlüsselstellung dabei einnehmen, wie auch nach 500 Jahren an Luthers Rebellion mit ihren historischen Hintergründen und Folgen erinnert wird.
F. Bethencourt, The Inquisition: A Global History, Cambridge, 2009; G. Marcocci und J. P. Paiva, História da Inquisição portuguesa (1536 – 1821), Lissabon, 2013; G. Marcocci, W. de Boer, A. Maldavksy und I. Pavan (Hg.), Space and Conversion in Global Perspective, Leiden/Boston, 2014; M. Catto und A. Prosperi (Hg.), Trent and Beyond: The Council, Other Powers, Other Cultures, Turnhout, 2017. Vgl. B. Gordon, „History and Memory“, in: Rublack, Handbook of the Protestant Reformations, 765 – 785. Vgl. etwa den ökumenischen, freilich auch etwas unklar bleibenden Versuch, ein gemeinsames lutherisch-römisch-katholisches Verständnis der Reformation zu formulieren: Joint Statement on the Occasion of the Joint Catholic-Lutheran Commemoration of the Reformation, co-signed by Pope Francis and Bishop Munib Yunan, President of the Lutheran World Federation, Lund, 31 October 2016: „While we are profoundly thankful for the spiritual and theological gifts received through the Reformation, we also confess and lament before Christ that Lutherans and Catholics have wounded the visible unity of the Church. Theological differences were accompanied by prejudice and conflicts, and religion was instrumentalized for political ends“ (http://press.vatican.va/content/salastampa/it/bollettino/pubbli co/2016/10/31/0783/01757.html#ita [abgerufen am 6. Januar 2017]).
Matteo Al Kalak
Das tridentinische Zeitalter und das Zeitalter der Reformen 1 Was entstand zuerst? Für viele Jahrzehnte drehte sich die historische Auseinandersetzung um die Religiosität des 16. Jahrhunderts mit mehr oder weniger Intensität um die Wertigkeit, die man dem Protest Luthers bezüglich der Dringlichkeit von Reformen einräumen wollte, welche die westliche Christenheit seit dem Mittelalter bewegte. Das begann bereits mit dem Dilemma der Terminologie, wie Hubert Jedin es in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts umriss („Katholische Reform oder Gegenreformation?“).¹ Es ging darum, zu definieren, ob Luthers Protestaktion die Reaktion der römischen Kirche auslöste, oder ob nicht vielmehr der sächsische Mönch mit seinen Vorschlägen innerhalb eines historischen Prozesses stand, den die römische Kirche teilweise bereits mit reformerischen Maßnahmen eingeleitet hatte. Ohne hier die langanhaltende Diskussion nachzuzeichnen, die auf Jedins Darlegung folgte,² scheint es jedoch notwendig, die komplexen historischen Phänomene jener Zeit aufzuzeigen und die Schwierigkeit, sie in ein allzu enges Schema zu pressen. Auch wenn Luther keine abstrakte Person ohne Kontext war und auch kein „Erleuchteter“ ohnegleichen, kann man dennoch nicht seine erneuernde Kraft herabsetzen, indem man ihn (und seine Botschaft) mit nicht genauer definierten Reformvorschlägen relativiert, die schon in der mittelalterlichen Christenheit auftauchten. Und auch wenn der Drang nach Reformen schon vor Luther vorhanden war, zu seiner Ausbildung beitrug und in gewissem Ausmaß sogar seine Forderungen inspirierte,³ war in der römischen Kirche und der westlichen Christenheit nach dem Auftreten des Reformators dennoch nichts mehr wie vorher.
Übersetzung: Fried Rosenstock. H. Jedin, Katholische Reformation oder Gegenreformation? Ein Versuch zur Klärung der Begriffe nebst einer Jubiläumsbetrachtung über das Trienter Konzil, Luzern, 1946. Für eine Einordnung des Werkes und der Person Jedins siehe die ihm gewidmeten monographischen Ausgaben Annali dell’istituto italogermanico in Trento, 6, 1980, 23 – 367, welches die Verlautbarungen zu Ehren von Hubert Jedin auf dem in Trient vom 7.–8. November 1980 abgehaltenen Symposium enthält, und Cristianesimo nella storia, 22, 2001. Hierzu wird auf den Aufsatz von Wietse De Boer in diesem Band verwiesen. Um den Worten von Lucien Febvre zu folgen: Der junge Luther „nimmt das fehlgeschlagene Werk der großen Reformkonzile auf und lässt es in unaufhaltsamem Drang hervorbrechen“ (Zitat nach der italienischen Übersetzung: L. Febvre, Martin Lutero, Rom/Bari, 2003, 26). Zum von Luther übernommenen mittelalterlichen Erbe siehe den Aufsatz von Jon Balserak im vorliegenden Handbuch. https://doi.org/9783110498745-004
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In diesen Wettstreit um die Urheberschaft fügt sich unausweichlich die Problematik ein, wie das Konzil zu Trient⁴ einzuordnen sei, welches viele Historiker als Terminus a quo für die Entschlüsselung der kirchlichen Identität in der modernen Welt sehen. Zahlreich sind die in dieser Hinsicht geprägten Definitionen und lassen sich unter den Begriffen „tridentinisches Zeitalter“ und „tridentinischer Katholizismus“ zusammenfassen. Aus dieser Perspektive, welche den Einfluss Luthers und seiner Reformation zugunsten der Normenfindung der Konzilsväter abmindert, wäre der postlutherische Katholizismus nicht die Religion der Gegenreformation, also eine Religion, die in primis aus einer antiprotestantischen Reaktion herrührt, sondern ein Katholizismus, der aus dem antiken Schatz der Kirche eine eigene Reform hervorbrachte, die im Konzil von Trient gipfelte. Sich über die Eigenheiten, die effektive Konsistenz und den Erfolg des tridentinischen Katholizismus zu befragen, bedeutet, die Wertigkeit einer historiographischen Kategorie zu beurteilen und gleichzeitig das eigentliche Gewicht Luthers zu definieren – oder besser, was er repräsentierte und in der Neuzeit innerhalb der Christenheit hervorbrachte. Vereinfachend ausgedrückt: Es genügt, die Christenheit römischer Prägung, die in den Jahrzehnten nach dem Konzil eine erste Anwendung der Konzilsdekrete erlebte, zu sondieren, um die konkrete Auswirkung der Protestaktion Luthers und seines direkten oder indirekten Einflusses auf die Kirchenform nach dem Konzil zu ermessen.
2 Der Doppelsinn eines Wortes Als erstes muss die Terminologie geklärt werden Wie bereits angedeutet: Über einen tridentinischen Katholizismus zu reden bedeutet, dem Konzil eine erneuernde Funktion für die Kirche einzuräumen, welche die Kritik Luthers überholt oder zumindest mit einschließt und lange bestehenden Anliegen Abhilfe schafft. Abgesehen von der scheinbaren Klarheit einer solchen Definition kann man nicht vernachlässigen, dass das Konzil selbst – und damit auch das Konzept des „Tridentinismus“ – mehrfache Widersprüche enthält. Die ersten sind sozusagen genetischer Art, durch die Diskrepanz zwischen den Absichten, welche zur Einberufung des Konzils führten und dem, was am Ende erzielt wurde. Das berühmte Incipit der Istoria del concilio tridentino (Geschichte des Konzils zu Trient) von Paolo Sarpi⁵ klärt darüber auf, wie deutlich diese Widersprüche waren, zum Beispiel in der Rekonstruktion von Beobachtungen des scharfsinnigen venezianischen Servitenpaters:
Zur Rolle, die dem Konzil in der historischen Diskussion zugewiesen wird, siehe A. Prosperi, Il concilio di Trento: una introduzione storica, Turin, 2001, 165 – 185. Über Sarpi gibt es eine umfangreiche Bibliographie. Ich verweise auf die kürzlich erschienene Biographie von J. Kainulainen, Paolo Sarpi: A Servant of God and State, Leiden/Boston, 2014. Das folgende Zitat stammt aus P. Sarpi, Istoria del Concilio tridentino, Bd. 1, hg.v. C. Vivanti, Turin, 1974, 6.
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Denn dieses Konzil, welches von gutdenkenden Menschen mit weitaufregender Stimme verlangt und endlich zustande gebracht wurde, um die Kirche, welche zu zerfallen und sich zu zertheilen angefangen hatte, wieder zu vereinigen und in sich zu befestigen, machte im Gegentheil die Trennung der Parteien so vollständig, daß die Hoffnung einer Wiedervereinigung gänzlich dahinschwand. Was die Fürsten zur Reform der Klerisei zur Berathung kommen ließen, brachte mehr als je etwas anderes, seit der christliche Name bestand, Unordnung in die Kirche; was die Bischöfe hofften, daß die Würde der Prälaten in ihrer Unabhängigkeit wieder sollte hergestellt werden, da der römische Oberpriester ihnen dieselbe fast gänzlich entzogen und an sich gebracht hatte, das scheiterte aufs vollständige; was endlich der römischen Curie gehässig und furchtbar war, als das einzige augenscheinlich wirksame Mittel zur Mäßigung ihrer unbegränzten Macht, die von geringem Anfang im Laufe der Zeiten ins Unendliche gewachsen, das unterwarf sie sich so vollständig, und befestigte und stärkte ihre Macht in dem Maße, daß diese niemals so gewaltig und auf so unerschütterlicher Grundlage gestützt schien.⁶
Die Worte von Sarpi – dessen verführerische Prosa uns nicht der notwendigen Kontextualisierung⁷ entheben sollte – zeigen an, wie das Konzil als Sammelbecken der verschiedenen Bestrebungen wirkte und am Ende seines Weges zu Ergebnissen gelangte, die von den gesteckten Zielen abwichen. Für den venezianischen Historiker schien es eindeutig zu sein, dass das Konzil als Antwort auf Luthers Schisma entstand, um es zu überwinden und wieder Ordnung herzustellen. Es war letztendlich eine Reaktion auf ein „neues“ Faktum und neue Fragen, mit einer einfachen Wiederaufnahme von Änderungswünschen, die bereits vorhanden und seit Jahrhunderten bekannt waren. Nach Sarpis Analyse genügte zur Abwehr des Schismas die Erneuerung der kirchlichen Ordnung und die Überwindung des Verfalls, in dem sich die Kirche in allen Ecken Europas befand. Um wieder politischen und sozialen Frieden zu erlangen, musste die bestehende Situation verbessert werden. Dabei hätten die Bischöfe eine erstrangige Rolle spielen sollen. Sie waren in der Hoffnung zum Konzil gekommen, in vollem Umfang ihre pastoralen Rechte zurückzuerobern, sie vielleicht gar zu erweitern. Doch es kam zu einem anderen Epilog, wie Sarpi erkannte, und das Papsttum, das das Konzil gefürchtet und bekämpft hatte, ging aus ihm paradoxerweise gestärkt hervor, mit noch mehr Macht gegenüber den Bischöfen und örtlichen Kräften. Angesichts dieser Lage scheint es sinnvoll, sich zu fragen, was das Adjektiv „tridentinisch“ bedeutet, ob damit das Christentum gemeint ist, das in Reaktion auf die Anklage Luthers die Kirche mittels der pastoralen Funktion der Bischöfe restaurieren und sich mit den Protestanten aussöhnen wollte – im ursprünglichen Sinne des Konzils – oder ob das gelten soll, was aus den Arbeiten der Versammlung und ihren Verlautbarungen hervorgegangen ist. Doch das genügt nicht, um dieses Adjektiv zu verstehen, man muss sich über einen noch größeren Unterschied klar werden, den die Konzilsdekrete schufen, ei Aus: Paul Sarpi’s Geschichte des Konziliums von Trident. Ins Deutsche übersetzt von W. Winterer, Hospitalpfarrer in Mannheim, Mergentheim, 1839. Über die Faszination der Lektüre Sarpis bei der Interpretation des Konzils durch den italienischen Historiker siehe auch S. Ditchfield, „In Sarpi’s Shadow. Coping with Trent the Italian Way“, in: Studi in memoria di Cesare Mozzarelli, Bd. 1, Mailand, 2008, 585 – 606.
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nerseits in ihrer Anwendung in den verschiedenen Diözesen, andererseits in der Auslegung, die das römische Papsttum anbot oder erzwang. Diese Fragestellung interessierte auch Sarpi, und das ist kein Zufall. Nachdem er die Geschichte des Konzils geschrieben hatte, untersuchte er das weite Feld der Benefizvereinbarungen. Dabei stellte er fest, dass das Verbot der Anhäufung von Pfründen durch die Seelsorge – es war einer der Angelpunkte der tridentinischen Reform, dass die Bischöfe und Pfarrer zum Vorteil der Gläubigen vor Ort ansässig sein sollten – durch einen Kunstgriff behände umgangen werden konnte, welchen das kanonische Recht ermöglichte, nämlich die Pensionen.⁸ So erklärte es Sarpi: Ancora e molto più utile haver pensione che beneficio: prima molti beneficii ricercano l’ordine sacro e l’età di poterlo ricevere; per la pensione basta la prima tonsura & l’età di sette anni, anzi le pensioni danno anco a’ laici […] Delli benefici anco ne’ tempi chi ne teneva più d’uno vi era sempre, che dire, & era necessaria la dispensa che pur faceva spendere, & con tutto ciò li dottori mettevano anco in coscienza delle pensioni se ne può havere senza scrupolo in ogni numero, e non vi è pensione incompatibile […] Quello che sopratutto importa è che la pensione si può estinguere, il che in italiano vuol dire farne pecunia numerata, che ogni contratto fatto nel beneficio si reputa simoniaco […] È molto più utile e commoda la pensione, perciò fu facile eseguir il concilio, perché tornò anco commodo, ma il levare di commenda li monasterii, che parimente il concilio comandò, non s’ha posto in esecutione sino al presente.⁹
Der venezianische Historiker zögerte nicht, die Pensionen und ihre Verwendung als eine Umgehung der Vorschriften des Konzils auszulegen. Die Pensionen dienten dazu, alle Beschränkungen aufzuheben, die die strengen Vorschriften zu den Pfründen mit seelsorgerischer Absicht auferlegt hatten. Aber wenn es relativ einfach war, die Vorschriften zu den Pfründen einzuführen, weil man sie mit den Pensionen umgehen konnte, so gelang das nicht in gleicher Weise mit den Kommenden, die ebenfalls zugunsten der Seelsorge verboten worden waren. In Wirklichkeit gelang es niemals,
Von den Streitpunkten Sarpis ausgehend verweise ich auf: M. Rosa, „Curia romana e pensioni ecclesiastiche: fiscalità pontificia nel Mezzogiorno (secoli XVI-XVIII)“, in: Ders., La Curia romana, Rom, 2013, 57– 99 (und Bibliographie). Zitat aus folgender Ausgabe: P. Sarpi, Trattato delle materie beneficiarie, Mirandola, 1676, 192– 194. “È molto più utile possedere una pensione piuttosto che un beneficio: in primo luogo perché molti benefici richiedono che il loro possessore abbia ricevuto l’ordine sacro e abbia un’età minima; invece per avere una pensione è sufficiente avere ricevuto la prima tonsura e avere sette anni di età; anzi, le pensioni sono conferite anche ai laici […] Per quanto riguarda i benefici, persino in passato, sorgevano problemi per chi ne aveva più di uno e serviva una dispensa, per avere la quale bisognava spendere: a fronte di questa situazione, gli esperti di diritto affermavano che si potevano avere senza scrupolo infinite pensioni, e nessuna pensione è incompatibile con una qualche condizione di chi la possiede […] Ma ciò che importa più di tutto è che la pensione può essere estinta, che, concretamente, vuol dire ricavarne denaro, mentre invece ogni contratto che grava su un beneficio è ritenuto simoniaco […] La pensione è dunque molto più utile e comoda dei benefici; per questo fu facile eseguire le disposizioni del concilio, perché lo si poteva fare con facilità. Al contrario, fino a oggi non si è realizzata l’abolizione della commenda dei monasteri, nonostante il concilio abbia imposto anche quella.”
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die Kommenden abzuschaffen, weil es keinen „Ersatz“ für sie gab. Kurzum, neben dieser oder jener Problematik warf Sarpi die Frage der tatsächlichen Anwendung der tridentinischen Dekrete auf. Diese Aspekte werden auf den nächsten Seiten untersucht, zunächst seien jedoch die Widersprüche und Fallstricke hervorgehoben, voller historiographischer und interpretatorischer Konsequenzen, die auftauchen, wenn man versucht, die Natur und die Eigenheiten eines Konzils zu definieren und das Adjektiv, das seinen essentiellen Gehalt ausdrückt oder ausdrücken müsste. In der Tat, wenn man große Unterschiede zwischen den Absichten des Konzils und den Beschlüssen der in Trient vereinigten Konzilsväter feststellen kann, so gilt dies ebenso für die Konzilsdekrete und ihre konkrete Anwendung.
3 Trient überwinden Angesichts der bisherigen Betrachtungen dürfte nachvollziehbar sein, dass der Ausdruck tridentinischer Katholizismus alles andere als selbstverständlich ist. Die Geschichtsschreibung der letzten Jahre hat diesen Punkt mehrfach aufgegriffen, was beweist, dass seine Semantik nur teilweise als definitiv gelten kann und es vielleicht auch nie in vollständiger Weise sein wird. Eine grundlegende Stelle dieser Diskussion ist von den Gedankengängen Paolo Prodis über das sogenannte tridentinische Paradigma geprägt. In seinem Buch zu dieser Thematik¹⁰ hat der Historiker aus Bologna vorgeschlagen, das Konzil zu Trient nicht mehr als den Ausgangspunkt eines Zeitabschnitts zu sehen, sondern als den Mittelpunkt einer historischen Epoche. Laut Prodi sind die Reformation Luthers und das tridentinische Konzil verschiedene, aber in sich nicht divergierende Antworten auf dieselben Fragen und gehören deshalb zum gleichen historischen Prozess. Prodi sieht sich ausdrücklich in der Nachfolge Jedins und bringt einige von dessen Betrachtungen, wie sie sich in der Geschichte des Konzils von Trient wiederfinden, zu idealer Vollendung: Die Reformation und das Konzil von Trient – welches nur dreißig Jahre nach Luthers Protestaktion begann – stehen nicht […] am Beginn der Moderne, wie man es heute in vielen geschichtlichen Handbüchern nachlesen kann, sondern repräsentieren in gewisser Weise den Höhepunkt einer langanhaltenden Krise, nicht einen Ausgangspunkt, sondern den Gipfel oder sogar die Zielgrade eines Verwandlungsprozesses, sowohl in der neuen Beziehung des Individuums mit Gott als auch in der öffentlichen Beziehung zwischen dem Heiligen und der Macht, zwischen Kirche und Staat.¹¹
Dieses lange tridentinische Zeitalter, eingebunden in das längere moderne Zeitalter, welches mit dem westlichen Schisma beginnt, endet nicht mit der Französischen
P. Prodi, Il paradigma tridentino. Un’epoca della storia della Chiesa, Brescia, 2010. Ebd., 15.
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Revolution, sondern dauert bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil an. Danach beginnt tatsächlich eine neue geschichtliche Epoche mit einer neuen Offenheit, einer unterschiedlichen Konzeption und einem anderen Selbstverständnis der Kirche. Das Adjektiv „tridentinisch“ ist also nicht mehr ein Hinweis auf Dekrete und reformatorische Maßnahmen eines Konzils, sondern eine Haltung gegenüber der Moderne. In Trient fand laut Prodi das Konzil statt, mit dem die Kirche auf die Fragen der modernen Welt antwortete.¹² Diese Haltung erwies sich über einen langen Zeitabschnitt als verlässlich und funktionstüchtig, über die traditionelle Epocheneinteilung hinweg. Der Ansatz des Historikers aus Bologna war keine Neuigkeit, sondern eine Reaktion auf die katholische Geschichtsschreibung in der angelsächsischen Welt. Nach den Revisionen des Leitbildes Jedins, die aus den Diskussionen über die Disziplinierungsprozesse hervorgegangen waren, und nach den Vorlesungen von Michel Foucault¹³ haben sich mit Beginn des 21. Jahrhunderts verschiedene Historiker damit beschäftigt, diese Kategorien neu zu definieren. Unter ihnen sei, mit besonderem Bezug auf die Bedeutung, die dem Konzil von Trient eingeräumt wird, der Jesuit John O’Malley genannt, Autor des Bandes Trent and All That,¹⁴ mit dem sich Prodi auseinandersetzt. O’Malley schlägt darin vor, eine Terminologie anzuwenden, mit der man gleichzeitig auf das Fortbestehen und die Veränderung hinweisen kann, ohne angeben zu müssen, welcher der beiden Aspekte dominiert. Sie wurde in dem Begriff Early Modern Catholicism gefunden, ausgehend von Thesen des John Bossy und anderer angelsächsischer Historiker.¹⁵ Man brachte damit einen langen Zeitraum ins Gespräch, der von den letzten Jahrhunderten des Mittelalters bis zum 18. Jahrhundert und in einigen Fällen auch bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil reichte. Im Unterschied zu Prodi, der ein regelrechtes Paradigma zu identifizieren glaubt („die tragenden Elemente der Institution Kirche, wie sie sich nach dem Konzil von Trient historisch entwickelt hat“),¹⁶ sucht O’Malley nach einer ausreichend elastischen Kategorie, um Begriffe erfassen zu können, die zuweilen mit antithetischer
Dieses Thema wurde von Prodi und Wolfgang Reinhard während eines eintägigen Studienseminars diskutiert, veröffentlicht in Il Concilio di Trento e il moderno, Bologna, 1996 (deutsche Übersetzung: Das Konzil von Trient und die Moderne, Berlin, 2001). Über die Kategorie der Disziplinierung bezüglich des Katholizismus in moderner Zeit siehe W. de Boer, „Social Discipline in Italy. Peregrinations of a Historical Paradigm“, in: Archiv für Reformationsgeschichte, 94, 2003, 295 – 307 und R. Po-chia Hsia, „Social Discipline and Catholicism in Europe of the Sixteenth and Seventeenth Centuries“, in: A. Prosperi, P. Schiera und G. Zarri (Hg.), Chiesa cattolica e mondo moderno. Scritti in onore di Paolo Prodi, Bologna, 2007, 167– 181. Ein ausführlicher Überblick findet sich in F. Alfieri, „L’età della disciplina cristiana. Confronti e comparazioni“, in: E. Prinzivalli (wissenschaftliche Leitung) Storia del cristianesimo, Bd. 3, L’età moderna (secoli XVI – XVIII), hg.v. V. Lavenia, Rom, 2015, 321– 349. J. W. O’Malley, Trent and All That. Renaming Catholicism in Early Modern Era, Cambridge, MA / London, 2000. Man vergleiche beispielsweise J. Bossy, Christianity in the West 1400 – 1700, Oxford, 1985. Prodi, Il paradigma tridentino, 7.
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Bedeutung verwendet werden, wie eben Gegenreformation, katholische Reform (Catholic Reform/Reformation), tridentinische Reform und konfessionelles Zeitalter.¹⁷ Das Tridentine Age, dem ein ganzer Abschnitt gewidmet ist, fügt sich in diese weit gefasste Kategorie ein. Wie der amerikanische Historiker behauptet, wäre es nicht unangebracht, dem Konzil von Trient bei der Entstehung des Early Modern Catholicism eine wichtige Rolle zuzuschreiben, denn dessen „pervasiveness transcended the immediate influence of any single person or any other happening in the period“. Aber wenn man den Begriff in unreflektierter Weise verwende, so fährt er fort, würde die Definition Tridentine Age drei wichtige Punkte der katholischen Identität in der Neuzeit vernachlässigen, nämlich das Primat des Papsttums, den missionarischen Impetus des Katholizismus und die Umgehung der Vorschriften zur weiblichen Klausur, verkörpert in den erzieherischen Unternehmungen von Ordensgemeinschaften wie den Ursulinen.¹⁸ Kurz und gut, ja zum Konzil, aber ohne Überbewertungen.¹⁹ Zyklisch scheint der Begriff tridentinischer Katholizismus wieder aufzutauchen, wie Simon Ditchfield nachgewiesen hat: Die Diskussionen über das Zweite Vatikanische Konzil lösen ständig neue Reflektionen über Trient aus, wie in einem Spiel von Spiegeln zwischen weit voneinander entfernten Ereignissen.²⁰ Aber mehr, als in abstrakten Begriffen zu klären, was man unter tridentinischem Katholizismus versteht, lädt Ditchfield dazu ein, zu begreifen, was er wirklich war. Es geht darum, die globale Ausbreitung des Katholizismus in der frühen Neuzeit zu erkennen und sich über die Interaktion mit weltweiten Prozessen zu befragen. Die jüngste katholische Geschichtsschreibung, aus der wir bereits einige Beispiele zitiert haben, hat sich von der Überbewertung des Konzils zu Trient gelöst – Jedin sah in ihm noch den Triumph der bereits vorher existierenden katholischen Reform – und gelangte zur Individuation einer „long reformation“.²¹ In ihr ist der tridentinische Katholizismus mit eingeschlossen, so wie bei Prodi, wo das tridentinische Paradigma das Gerüst bildet. Dabei handelt es sich um eine Lesart, wenn auch mit Abweichungen und verschiedenartiger Sensibilität, die heute in den wissenschaftlichen Analysen vorherrscht. Das ist auch der prestigeträchtigen Cambridge History of Christianity zu verdanken, deren sechster Band, herausgegeben von Po-chia Hsia,²² das sogenannte Catholic Renewal neben die protestantische Reformation stellt. Darin ist ein Aufsatz Vgl. O’Malley, Trent and All That, 140. Ebd, 135 – 136. Zum tridentinischen „Mythos“ und seiner Bedeutung hat sich O’Malley kürzlich wieder geäußert und seine Thesen aus Trent and All That bekräftigt, vgl. J. W. O’Malley, What Happened at the Council, Cambridge, MA / London, 2013, 1– 22. S. Ditchfield, „Tridentine Catholicism“, in: A. Bamji, G. H. Janssen und M. Laven (Hg.), The Ashgate Research Companion to the Counter-Reformation, Farnham, 2013, 15 – 32. Ich übernehme eine geglückte Definition von P. G. Wallace, The Long European Reformation. Religion, Political Conflict, and the Search for Conformity, 1350 – 1750, Basingstoke/Palgrave, 2004. R. Po-chia Hsia (Hg.), The Cambridge History of Christianity, Bd. 6, Reform and Expansion 1500 – 1660, Cambridge, 2007.
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enthalten, der auf die Notwendigkeit hinweist, den Katholizismus in Überwindung von Trient neu zu definieren (Redefining Catholicism: Trent and beyond).²³ In letzter Instanz – auch wenn niemand die Bedeutung des Konzils zu Trient anzweifelt – geht die Tendenz dahin, seine Signifikanz bei der Profilierung der katholischen Kirche mittels zweier „Abwägungen“ zu erkennen, nämlich mittels der zeitlichen und der geographischen Ausweitung. Das bedeutet eine Erweiterung des Personenkreises, der Kontexte und, unvermeidlich, der Antworten durch die religiösen Instanzen. Dieser Erweiterungsprozess vermindert die Gewichtigkeit des Konzils und seiner Dekrete und schafft Raum für andere Dynamiken, die mit den tridentinischen Vorschriften nur teilweise (und zuweilen gar nicht) in Beziehung standen.
4 Trient neu bewerten Auf diese Versuche, die Kategorie tridentinischer Katholizismus zu überwinden, hat ein Teil der Historiker, insbesondere in Italien, mit einer kaum verhohlenen Rehabilitierung der katholischen Reform im Sinne von Jedin reagiert. Dabei wurde wieder der Terminus Gegenreformation hervorgeholt, um den Vorrang der disziplinarischen und repressiven Aspekte über die Reformvorschläge zu unterstreichen. Im Rahmen des vom Papsttum durchgesetzten Zentralisierungsprozesses wurde also die Bedeutung des Konzils durch die römischen Kongregationen und vor allem durch die vermehrte Macht der Inquisition unterhöhlt. Diese Problematik fasst sehr gut eine kürzlich erschienene Veröffentlichung von Massimo Firpo zusammen, der in offener Polemik mit den Hypothesen von O’Malley und Prodi und mit der Absicht, lange Zeiträume zu identifizieren und damit die Zäsur der protestantischen Reformation in ihrer Bedeutung zu mindern, die Gültigkeit der Kategorien katholische Reform und Gegenreformation in ihrer antithetischen Bedeutung wieder ins Spiel bringt.²⁴ Laut Firpo muss man „die konfliktreiche Dichotomie“ dieser Kategorien hervorheben, „anstatt der künstlichen Synthese, wie sie seinerzeit Jedin vorgeschlagen hat, der auf der absolut zentralen Rolle des Papstes und des Konzils bei der Erneuerung der Kirche beharrte“.²⁵ Vielmehr werde der Beitrag des tridentinischen Konzils ohne jeden Grund überbewertet, zum Schaden des wahren Protagonisten dieser schwierigen historischen Situation, nämlich des römischen Sant’Ufficio. Aus Firpos Perspektive spielte die Inquisition eine zentrale Rolle und gestaltete in Wirklichkeit den Charakter und die Identität der Kirche: Weder in Trient noch in den Kommissionen De reformatione Ecclesiae, die damals in Rom einander ablösten, wurden die Voraussetzungen und die Ziele für die Wende, die die Kirche voll-
So der Titel des Aufsatzes des Jesuiten Robert Bireley, in: ebd., 143 – 161. M. Firpo, La presa di potere dell’Inquisizione romana (1550 – 1553), Rom/Bari, 2014, hier: V – XIX. Ebd., VII.
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bringen musste, definiert, sondern in der von Gian Pietro Carafa und seinen getreuen Theatinern frühzeitig aufgenommenen Schlacht gegen jede Form von Häresie.²⁶
Die Überwindung des tridentinischen Gedankengutes, wie sie die katholische Geschichtsschreibung suggeriert, wird also zurückgewiesen, sei es, weil trotz aller gegenteiliger Erklärungen eine Zentralität des Tridentinums beibehalten wird, sei es, weil mit den jeweils vorgeschlagenen Kategorien der Beitrag der Inquisition unterschätzt wird. Dieser Linie folgen auch die Untersuchungen von Elena Bonora. In ihrer Synthese zur Gegenreform unterstreicht sie die Existenz einer „unnachgiebigen Politik der Verteidigung und Durchsetzung der Orthodoxie, der kirchlichen Autorität und des päpstlichen Primats“, welche das Sant’Ufficio betrieb und aus der die „historisch strukturierte Verbindung zwischen Gegenreformation und römischer Inquisition“ stammt. Durch eine den Zusammenhängen gegenüber dynamische Herangehensweise hebt die Historikerin den Transformationsprozess hervor, zu dem auch die Gegenreformation gehörte, in ihrer ständigen Konfrontation – nicht immer nur konfliktgeladen – mit der Gesellschaft und der kirchlichen Wirklichkeit. In diesem vorhersehbaren Rahmen findet sich kein Raum für Kategorien wie die katholische Reform oder eine hypothetische Zentralität des Tridentinums.²⁷ Um noch ein Beispiel ähnlicher Art zu zitieren, wählen wir die Untersuchungen von Gigliola Fragnito über die Zensur, eine typische Maßnahme der Gegenreformation, die eine explizite Richtungsänderung der römischen Würdenträger gegenüber den Vorschriften des Konzils bedeutet.²⁸ Emblematisch dafür ist die Lektüre der Bibel, einer Hauptforderung Luthers. Nach dem strengen Verbot unter dem Pontifikat Pauls IV. erlaubte der tridentinische Index 1564 wieder Übersetzungen der Bibel in die Volkssprachen. Aber nach wenigen Jahren wurde der summus inquisitor Michele Ghisleri Papst (als Pius V.), und erneut verloschen die wenigen Hoffnungsschimmer auf einen Zugang zu Bibelübersetzungen. In den letzten drei Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts kam es zum Untergang der „in Trient (noch) mehrheitlichen Mäßigung“ und des Versuchs, „gegen die Verbote des Index von 1558 bei der Ausbildung der Laien die Heilige Schrift ins Spiel zu bringen“. Oberhand gewann die „Marschrichtung der Inquisition“, was, so folgert Fragnito, eine „schwerwiegende Verletzung des Konzilsgeistes“ bedeutete.²⁹ In eindeutiger Polemik zum Mythos des Tridentinums bewegen sich die Untersuchungen von Michele Mancino und Giovanni Romeo über die Position des Klerus im
Ebd. E. Bonora, La Controriforma, 2. Aufl., Rom/Bari 2003, VII – VIII. G. Fragnito, Proibito capire. La Chiesa e il volgare nella prima età moderna, Bologna, 2005. Zum selben Thema siehe auch ders., La Bibbia al rogo. La censura ecclesiastica e i volgarizzamenti della Scrittura, 1471 – 1605, Bologna, 1997. Fragnito, Proibito capire, 25.
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modernen Italien.³⁰ Die Forschungsergebnisse der beiden Historiker versuchen zu beweisen, dass die Reform von Trient systematisch von den Zentralorganen der römischen Kirche zu Fall gebracht wurde. Man war nur um die Ehrenrettung der Geistlichen bemüht, nicht darum, deren Übergriffe anzuzeigen und zu bestrafen. Die Haltung der römischen Würdenträger vereitelte die Prinzipien der Reform, selbst wenn Bischöfe versuchten, konsequent den Vorschriftenkanon von Trient anzuwenden. Romeo und Mancino sprechen von einer „antitridentinischen Wende“ und einem „auf den Speicher verbannten Konzil“.³¹ Das liegt weit entfernt von der traditionellen Vorstellung eines Italien voller pflichtbewusster Priester und geordneter Kirchen, ganz im Gegenteil, ein ansehnlicher Prozentsatz des Klerus hätte sich demnach schwerster Verbrechen schuldig gemacht. Die genannten Beispiele beweisen, wie die Versuche der Überwindung des tridentinischen Mythos, wie sie die katholische Geschichtsschreibung vorantreibt, bei zahlreichen, insbesondere italienischen Historikern, eine andere Reaktion erzeugt, denn sie erinnern postwendend an die Rolle der Inquisition und heben den Begriff Gegenreformation hervor, mit seinem umfangreichen Erbe von politischen und philosophischen Bedeutungen. Auf der Grundlage der bisherigen Beobachtungen kann man abschließend bemerken, dass die Auslegung des Tridentinums und seiner geschichtlichen Bedeutung von der Entzifferung der Beziehung zwischen Konzil und Inquisition abhängt, einem Kompendium der Spannungen zwischen der auf seelsorgerischen Kriterien gegründeten Kirche mittels der in den Diözesen ansässigen Bischöfe – deren Kriterien von Mal zu Mal definiert und angepasst werden – und der unerbittlichen römischen Zentralisierung.
5 Eine Kirche zwischen Konzil und Inquisition An diesem Punkt wäre es angebracht, zu einer Synthese zu gelangen. Man muss allerdings feststellen, dass die bisher wiedergegebenen Hypothesen alle starke Argumente enthalten, die in Betracht gezogen werden müssen. Dazu sei Prodi zitiert: „Die Tatsache, dass die römische Gegenreformation im Zeichen von Zentralismus und Inquisition unter dem Drang und der Brutalität des religiösen Kampfes den Sieg davongetragen hat, […] darf nicht verhindern, auch verschiedenartige Wege der Spiritualität und des religiösen Lebens zu erkennen, die in der Minderheit blieben“.³² Im Mittelpunkt unserer Untersuchungen steht das Zeitalter des Konzils von Trient, deshalb kann man sich nicht einen Ausblick auf das gesamte Szenario und seine Protagonisten verweigern. Das Tridentinum war ein Moment der Kodifizierung und, unter M. Mancino und G. Romeo, Clero criminale. L’onore della Chiesa e i delitti degli ecclesiastici nell’Italia della Controriforma, Rom/Bari, 2013. Ebd., VII, 39. Prodi, Il paradigma tridentino, 32.
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vielen Aspekten, der erneuten semantischen Untersuchung der mittelalterlichen Institute, und mit Sicherheit katalysierte es die bereits in der Versammlung vorhandenen Reformvorstellungen. Gleichzeitig wird aber auch evident, dass bei der Interpretation und Anwendung der Konzilsdekrete viele Faktoren beitrugen, die oftmals die Absichten der Konzilsväter verfälschten, manchmal sogar in ihr Gegenteil verkehrten oder umgingen, oder, im besten Falle, an Zusammenhänge anpassten, die das Konzil in keiner Weise in Betracht gezogen hatte, man denke nur an die zu missionierenden Gebiete. Unter den „Auslegern“ des Konzils spielte, vor allem in Italien, das Sant’Ufficio eine erstrangige Rolle. Es verfolgte eine Politik der Zentralisierung und Kontrolle der römischen Kurie, wobei oftmals der Geist des Konzils verdreht oder übergangen wurde. Als 1542 das Sacro Tribunale (die Inquisition) auf den Plan trat, veränderten sich die Gleichgewichte und Dynamiken innerhalb der kirchlichen Institution, es zeigte sich, dass die protestantische Reformation, Voraussetzung für eine Kongregation von Kardinälen, die angetreten war, um die Ausbereitung der Häresie einzudämmen,³³ ein Ereignis epochaler Art war, das eine zeitliche Zäsur setzte. Wenn also Luthers Reformation eine einschneidende Wende bedeutete, die man kaum in einer long reformation verwässern kann, muss man andererseits anerkennen, dass der tridentinische Katholizismus, gewollt oder ungewollt, einen Gegenpol zu den Forderungen des sächsischen Mönches und denjenigen bildete, die sein Gedankengut vertieften. Doch kann man auch nicht die Hegemonie der Inquisition und den römischen Zentralismus als einzige Kriterien für die Beurteilung des Katholizismus hinstellen, so als handelte es sich um eine monolithische Struktur, wie auch Firpo bestätigt, wenn er die Machtzunahme der Inquisition und die Gültigkeit der Kategorie Gegenreformation beschreibt: Letztere war keine Reaktion ad extra, gegen die Protestaktion der deutschsprachigen Welt, sondern ad intra, innerhalb des katholischen Lagers, das Reformen wünschte, was sich aus verschiedenen Gründen nicht mit der Logik der Inquisition vereinbaren ließ. Diese Feststellung beweist, wie kompliziert die Situation der tridentinischen Kirche war, es gab Reformvorstellungen, die niemals ganz unterdrückt, aber dennoch heftig bekämpft wurden, neben anderen Optionen, die sich mehr oder weniger dem Diktat der Inquisition angepasst hatten. Aus der historischen Diskussion, die hier in großen Linien angerissen wurde, geht außerdem hervor, dass auch die Inquisition nicht mehr vor das Konzil zu Trient zurückkehren konnte. Selbst wenn sie einen anderen, womöglich gar antithetischen Weg verfolgten, mussten das Sant’Ufficio und die obersten römischen Organe sich mit den Vorschriften des Konzils und den reformatorischen Leistungen der Bischöfe – soweit es dazu kam – messen und Lösungen erarbeiten, die zumindest formal gesehen nicht in offenem Konflikt mit den Vorschriften des Konzils standen.
Davon löste sich die römische Inquisition nach wenigen Jahrzehnten und erweiterte ihre Vorrechte, um auch andere Phänomene und soziale Kategorien zu kontrollieren. Vgl. A. Prosperi, Tribunali della coscienza. Inquisitori, confessori, missionari, Turin, 1996.
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Das sei an bereits erwähnten Beispielen verdeutlicht. Die Lesung der Bibel in der Volkssprache, wie sie der tridentinische Index 1564 unter bestimmten Bedingungen erlaubt hatte, konnte durch den darauffolgenden clementinischen Index von 1596 nicht einfach zurückgenommen werden. Um den entgegengesetzten Kurs einzuschlagen, bedurfte es formal gesehen eines Index’, der den vorherigen tridentinischen wieder zitierte und „auf den letzten Stand brachte“, wie aus der Betitelung hervorgeht.³⁴ Das änderte zwar nichts am Inhalt der Änderung, zeigte aber, dass entsprechend des theologischen und doktrinären Stetigkeitsprinzips die Kirche dazu gezwungen war, sich tridentinisch zu nennen, auch wenn die Öffnungen dieses Konzils überdacht und zurückgezogen wurden. Ähnliches gilt für das Verbot der Anhäufung von Pfründen und die Residenzpflicht, auf die bereits Sarpi den Blick gerichtet hatte, als er die Ungereimtheiten der Kirche nach dem Konzil anprangerte. Wie der venezianische Servitenpater ausführte, hatte man das Rechtsgebilde der Pensionen vorgeschoben, um das Verbot der Anhäufung von Pfründen und die Residenzpflicht für Seelsorger zu umgehen. Die Kommenden waren nicht abgeschafft worden. Dennoch gab es unter den zahlreichen Bischöfen und Kardinälen mit Kommenden einige, die wenigstens versuchten, die Umgehung der Vorschriften mit dem Geist des Konzils zu erfüllen. Das war zum Beispiel bei Carlo Borromeo der Fall, man hatte ihm als Kommende die alte Benediktinerabtei Nonantola in der Poebene übertragen, seit Jahrhunderten dioecesis nullius. Er richtete dort ein Seminar ein, veranstaltete eine Synode und anderes mehr.³⁵ Obwohl er sich im Grunde dort nicht aufhielt, versuchte er wenigstens, seine Rolle mit Gewissenhaftigkeit zu erfüllen, in Übereinstimmung mit den Vorschriften des Konzils. Es sei zugestanden, dass es nicht an entgegengesetzten Beispielen fehlt, wahrscheinlich die Mehrzahl, aber die komplizierte Situation führte dazu, dass man in einigen Fällen „tridentinisch“ aussehen ließ, was in eindeutigem Gegensatz zu den Verordnungen des Konzils stand. Bei Untersuchungen zu den Verbrechen des Klerus fand man heraus, dass die Kongregationen und die römischen Tribunale einerseits damit beschäftigt waren, die Verfahren der Bischöfe wieder rückgängig zu machen – das hebt also die reformatorischen Bemühungen der Bischöfe hervor, auf die die Kongregationen dann auf ihre Weise reagierten –, andererseits war die große Anzahl dieser Prozesse Anzeichen für eine weit verbreitete Korruption, aber auch einer beachtlichen Anstrengung von Seiten der bischöflichen Gerichtsbarkeit, diese einzudämmen.³⁶
Index librorum prohibitorum, cum regulis confectis per patres a Tridentina synodo delectos, auctoritate Pii IIII primum editus, postea vero a Syxto V auctus, et nunc demum Clementis VIII iussu, recognitus, & publicatus. Instructione adiecta, Rom/Bologna, apud haered. Io. Rossi, 1596. G. Pistoni, „Il sinodo nonantolano di S. Carlo Borromeo del 1565“, in: Atti e memorie della Accademia nazionale di Scienze, Lettere e Arti di Modena, 7, 1, 1983 – 1984, 165 – 193. Eine genaue und systematische Untersuchung hierzu findet sich in M. Cavarzere, La giustizia del Vescovo. I tribunali ecclesiastici della Liguria orientale (secc. XVI – XVIII), Pisa, 2012. Wie Cavarzere
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Die dargelegten Argumente zielen nicht darauf ab, dem Konzil implicite vel explicite einen exemplarischen Wert zuzuweisen, oder die starken, gegen das Konzil gerichteten Kräfte zu verharmlosen. Aber sie verweisen auf eine formale Ebene und in vielen Fällen auf einen gewissen Grad von Verinnerlichung der tridentinischen Vorschriften und des Modells der Amtsführung, die durch das Konzil umrissen wurden, die ein grundlegendes Element für die Ausbildung und Tätigkeit ganzer Generationen von Bischöfen und Geistlichen darstellten, ebenso wie für Wahrnehmung und Selbstdarstellung der Kirche. In diesem Sinne war die Kirche der Neuzeit tridentinisch und fand im Konzil ein Identifikationselement, von dem man nicht absehen konnte. Man beachte aber, welche Bedeutung man diesem Adjektiv geben will. Die zur Verfügung stehenden Untersuchungen laden dazu ein, ihm keine starre, statische oder gar transzendentale Wertigkeit zu verleihen, sondern es dynamisch einzusetzen, innerhalb einer Gegenüberstellung von verschiedenen Instanzen und Ekklesiologien. Man muss sein Ergebnis bewerten, im Sinne von kultureller Auswirkung, auf perzeptiver, repräsentativer und rhetorischer Ebene. Man muss versuchen, zu begreifen, auf welche Weise das Konzil und seine Lehren für diejenigen, die der römischen Kirche angehörten, ein effektiver Bezugspunkt war, mittelbarer oder unmittelbarer Art.
6 Von den Worten zu den Fakten: Ein Zeitalter der Reformen? Die Schwierigkeit, in abstrakten Begriffen das Profil der tridentinischen Kirche zu definieren, entsteht aus der vielleicht banalen, aber historisch unumgänglichen Feststellung, dass die konkrete Anwendung des Konzils nicht wenige Widersprüche und einen hohen Grad an Varianten mit sich brachte. Um zu verstehen, ob das tridentinische Zeitalter auch ein Zeitalter der Reformen war, muss man drei Ebenen in Betracht ziehen. Es gab in erster Linie eine Ebene von Vorschriften, an die sich die Diözesanbischöfe anpassen mussten. Die von den Konzilsvätern erlassenen Maßnahmen, um die Reform voranzutreiben, sahen die Organisation von Synoden in den Diözesen und Provinzen, seelsorgerische Besuche sowie die Einrichtung von Seminaren für die klerikale Ausbildung vor. Die Mehrzahl der katholischen Diözesen reagierte ziemlich schnell, schon in den ersten Monaten nach dem Abschluss des Konzils stieg die Anzahl der Synoden vor Ort, um die Entscheidungen der Konzilsväter zu verwirklichen.³⁷
hervorhebt, gelang es der kirchlichen Gerichtsbarkeit nur sehr langsam, auf das Betragen des Klerus einzuwirken, erst im 18. Jahrhundert werden Folgen sichtbar. Als Hinweis auf die umfangreiche Bibliographie zum synodalem Wirken vgl. J. T. Sawicki, Bibliographia synodorum particularium,Vatikanstadt, 1967 (und folgende Anhänge); für Italien: S. Da Nadro, Sinodi diocesani italiani. Catalogo bibliografico degli atti a stampa 1534 – 1878, Vatikanstadt, 1960 (und
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Als Beispiele seien genannt: Im Jahr 1564, wenige Monate nach dem Abschluss des Konzils von Trient, kam es zu Synoden in Mailand, Palermo, Venedig und Haarlem; 1565 lud der Konzilspräsident Giovanni Morone in seiner Diözese Modena zu einer Synode ein; den gleichen Schritt unternahm in Prag der ehemalige kaiserliche Repräsentant von Trient, Anton Brus von Müglitz; im darauffolgenden Jahr schlossen sich so bedeutende Städte wie Bologna, Augsburg und Konstanz an, gefolgt von einer ganzen Reihe kleinerer und größerer Diözesen. Erfreulich entwickelten sich auch die Provinzialsynoden (Direkt auf das Konzil folgend sei z. B. auf die Synoden von Cambrai, Granada, Mailand, Toledo, die zweite Synode in Mexico et cetera verwiesen, die 1565 stattfanden), weit verbreitet waren auch die ziemlich regelmäßigen seelsorgerischen Besuche der Bischöfe während des gesamten modernen Zeitalters.³⁸ Als komplizierter erwies sich, wegen der wirtschaftlichen Konsequenzen, die Einrichtung von Priesterseminaren. Es kam zu Verspätungen, denn es mussten Renditen und Geldmittel gefunden werden, dennoch wurden sie in vielen Diözesen gegründet.³⁹ Wenn man sich allerdings ansieht, welche Wirkungen diese Maßnahmen zeitigten, ändert sich die Bewertung. Auch wenn es schwierig ist und in vielen Fällen unangebracht erscheint, allgemeine Urteile zu fällen, so brauchte es dennoch Jahrzehnte, bis Ergebnisse der tridentinischen Maßnahmen spürbar wurden, und vielleicht erst im 18. Jahrhundert konnte man die Früchte der in der Mitte des 16. Jahrhunderts ausgebrachten Saat erkennen. Die Einrichtung der Seminare, entscheidendes Instrument für die Anhebung der Qualität des Klerus, spricht für sich. Viele Diözesen versahen sich mit Einrichtungen, in denen man die zukünftigen Geistlichen ausbilden konnte, aber die wirkliche Aufnahmefähigkeit war sehr begrenzt und gegenüber den Jahr für Jahr geweihten Priestern unterproportioniert. In der Toskana zum Bespiel bildeten die Seminare erst gegen Ende der Neuzeit in angemessener Weise aus. Wie Kathleen Comerford nachgewiesen hat, zählte man im gesamten ersten Jahrhundert ihrer Einrichtung (etwa 1563 – 1660) in den toskanischen Kollegien eine vernachlässigbare Anzahl von Schülern, und nur
folgende). Zum Institut der Synode: Il sinodo diocesano nella teologia e nella storia, Verlautbarungen des Studienseminars (Catania, 15.–16. Mai 1986), Acireale, 1987 (insbesondere der Aufsatz von A. Longhitano, „La normativa sul sinodo diocesano dal concilio di Trento al Codice di diritto canonico“, ebd., 33 – 87). Zu den seelsorgerischen Besuchen und den zahllosen Untersuchungen im Umfeld einzelner Diözesen siehe U. Mazzone und A. Turchini (Hg.), Le visite pastorali. Analisi di una fonte, Bologna, 1990; C. Nubola und A. Turchini (Hg.), Fonti ecclesiastiche per la storia sociale e religiosa d’Europa (XV – XVIII secolo), Bologna, 1999. Über die Seminare und die italienischen Maßnahmen siehe M. Guasco, „La formazione del clero: i seminari“ und X. Toscani, „Il reclutamento del clero (secoli XVI – XIX)“, beide in: R. Romano und C. Vivanti (Hg.), Storia d’Italia, Annali 9, La Chiesa e il potere politico dal Medioevo all’età contemporanea, hg.v. G. Chittolini, G. Miccoli, Turin, 1986, 631– 715 und 573 – 633. Siehe auch X. Toscani, „Recenti studi sui seminari in età moderna“, in: Annali di storia dell’educazione e delle istituzioni scolastiche, 7, 2000, 281– 307.
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eine kleine Minderheit von Pfarrern mit seelsorgerischen Aufgaben folgte den Seminaren, noch dazu mit dürftigen Ergebnissen.⁴⁰ Zuletzt muss noch eine dritte Ebene bewertet werden, und dabei ist es notwendig, den Katholizismus nicht als kompakte und zentral gesteuerte Entität zu sehen. Bei der Definitionsfrage, ob man von Reformbestrebungen mit tridentinischer Inspiration reden kann, darf man nicht die zahlreichen geographischen Gegebenheiten vernachlässigen, in denen die kirchlichen Einrichtungen in moderner Zeit tätig waren. Es geht nicht so sehr um eine tridentinische Kirche, sondern um eine Vielzahl tridentinischer Kirchen und verschiedene Modalitäten, mit denen die Dekrete des Konzils auf nationaler und regionaler Ebene angewendet oder auch nicht angewendet wurden. Wie man nachlesen kann, kam das Konzil von Trient in Amerika und in vielen anderen Orten der Welt mittels der Acta Ecclesiae Mediolanensis an.⁴¹ Nochmals andere Szenarien ergaben sich in den europäischen Monarchien oder den italienischen Kleinstaaten, und das nicht nur wegen der geopolitischen Unterschiede, sondern auch wegen der Wandelbarkeit der innerkirchlichen Geographie. Während in weiten Teilen Italiens die römische Inquisition Druck ausüben und ihre zentralisierende Aktion durchsetzen konnte, blieben große Teile der Welt unter dem Einfluss der iberischen Halbinsel und mussten sich mit der spanischen und der portugiesischen Inquisition auseinandersetzen, mit deren unumschränkter Gewalt und Prioritäten, die von denen des Sant’Ufficio abwichen. Uneinheitlich waren auch die Privilegien, welche die Bischöfe in den verschiedenen Kontexten bewahren konnten, und dem entsprach auch die Wirkung eventueller Reformen. Ein italienischer Bischof hatte gegenüber einem französischen ein wesentlich begrenzteres Wirkungsfeld oder, um noch ein Beispiel zu nennen, ein Bischof im Königreich Neapel konnte Fälle von Häresie aburteilen, wozu ein Bischof in Norditalien keine Macht hatte. In diesem Sinn kann man schwerlich von dem tridentinischen Zeitalter als einer Zeit der Reformen tout court reden, aber man kann behaupten, dass es nach Trient in der Kirche zu Veränderungen kam. Zunächst hatten sie nur eine formale, dann, sehr viel langsamer, eine effektive Wirkung, aber das Konzil und noch viel mehr der Mythos des Konzils bildete einen Bezugspunkt und einen Rahmen, in den man sich einfügen konnte. Mit dieser Signifikanz gab es ein tridentinisches Zeitalter und eine reformerische Instanz, die mit Widersprüchen und Kehrtwenden verändernde Maßnahmen einführte und die in Trient eine ideale Zielsetzung erwählt hatte, von der man nicht mehr absehen konnte.
K. M. Comerford, Reforming Priests and Parishes. Tuscan Dioceses in the First Century of Seminary Education, Leiden, 2006. Vgl. S. Ditchfield, „San Carlo Borromeo in the Construction of Roman Catholicism as a World Religion“, in: Studia Borromaica, 25, 2011, 3 – 23. Der Einfluss der Acta Ecclesiae Mediolanensis und, allgemeiner, der borromäischen Vorschriften ist noch eindeutiger, was die „Tridentisierung“ der heiligen Orte betrifft; siehe z. B. folgende Fälle: A. Spicer (Hg.), Parish Churches in the Early Modern World, Farnham, 2016 (in einer vergleichenden und überkonfessionellen Sicht) und J. M. DeSilva (Hg.), The Sacralization of Space and Behavior in the Early Modern World, Farnham, 2015.
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In diesem Prozess verlor die Figur Luthers allmählich an Profil, auch wenn sie eine zentrale Position bei der Entstehung des Konzils einnahm, das auf seine Doktrin und im Allgemeinen auf seine Protestaktion eine Antwort geben sollte. Die Erweiterung des Katholizismus bis in die entferntesten Regionen der Welt und der geringe missionarische Eifer der Reformation machten es der Kirche leicht, sich ein siegreiches und triumphierendes Auftreten anzueignen und Teile des verlorenen Einflusses zurückzugewinnen. Der sächsische Mönch behielt zwar eine ehrenvolle Position, endete aber abgeschlagen in der reichhaltigen Liste der Feinde, die versuchten, die katholische Kirche zu belagern, welche ihrerseits ihren Blick längst auf andere Kontinente und Grenzen gerichtet hatte.
Christopher M. Bellitto
Ecclesia semper reformanda
Mittelalterliche Ideen und Versuche von Kirchenreform
1 Das Konzept: semper reformanda Reform ist eine der wenigen Konstanten in der Kirchengeschichte. Religiöse Reform ist von Natur aus verwurzelt in der essentiellen Vorstellung einer geistlichen Denkart: metanoia ist die Grundlage der freien Entscheidung, ein irdisches Leben gemäß den Werten einer anderen Welt im Streben nach einem ewigen Ziel in der nächsten Welt zu leben.¹ Das Konzept der metanoia konzentriert sich auf die individuelle Seele, während Reform ein langjähriges Konzept, Ziel und Vorgehen der institutionalisierten Kirche war.² Für die Menschen des Mittelalters war die Vorstellung von Reform eine alltägliche.³ Die Idee der Reform und Reformbestrebungen von ihren patristischen Wurzeln über das Hochmittelalter bis hin zum Beginn der Zeit Martin Luthers zu
Übersetzung: Magnus Rabel. Für einen interreligiösen Ansatz zum Thema Reform siehe die Beiträge in Pier Cesare Bori, Mohamed Haddad und Albertoni Melloni (Hg.), Réformes: Comprendre et comparer les religions, Berlin, 2007. Zwei Arbeiten aus den 1950er Jahren verdienen besondere Aufmerksamkeit, da sie effektiv Reform als eigenes Forschungsfeld innerhalb der Kirchengeschichte und der historischen Theologie etabliert haben. Die erste ist Yves M.-J. Congar, Vraie et fausse réforme dans l’Église, Paris, 1950, 1968. Der Großteil der zweiten Auflage ist nun via Paul Philibert (Übersetzer) verfügbar, True and False Reform in the Church, Collegeville, 2010. Die zweite ist Gerhart B. Ladner, The Idea of Reform: Its Impact on Christian Thought and Action in the Age of the Fathers, Cambridge, 1959; New York, 1967. Für eine Auswertung von Ladners Einfluss siehe die Artikel von dreien seiner Doktoranden, Lester L. Field Jr., Louis B. Pascoe und Phillip H. Stump, die den ersten Teil von Christopher M. Bellitto und David Zachariah Flanagins (Hg.), Reassessing Reform: A Historical Investigation into Church Renewal, Washington, 2012, 17– 57, umfassen. Für eine Kritik an Ladners Kategorien siehe Michael Vargas, Administrative Change in the Fourteenth-Century Dominican Order: A Case Study in Partial Reforms and Incomplete Theories, ebenfalls in Reassessing Reform, 84– 104. Gerald Strauss, „Ideas of Reformatio and Renovatio from the Middle Ages to the Reformation“, in: Thomas A. Brady, Jr., Heiko A. Oberman und James D. Tracy (Hg.), Handbook of European History 1400 – 1600. Late Middle Ages, Renaissance and Reformation, Bd. 2, Visions, Programs and Outcomes, Leiden, 1995, 3: „Mindestens für den Historiker ist es von höchster Bedeutung, den Platz dieser Ideen in der kollektiven Erfahrung der Europäer und ihre Relevanz in Bezug auf manche große Geschehnisse und prominente Gruppen und Personen, deren Selbstwahrnehmung und Weltanschauung sowie ihrer Rolle in der Welt substantiell von ihrem Verständnis und Blick auf Reform und Erneuerung als Imperative, Normen und Befugnisse geformt wurden, auszumachen.“ Für eine historische Studie dieser Periode im Kontext der Diskussion der Europäischen Union über die Frage, ob ihre Charta Bezug auf ein christliches Erbe nehmen sollte, siehe Ovidio Capitani, „Reformatio Ecclesiae: a proposito di unità e identità nella costruzione dell’Europa medievale“, in: Studi Medievali, 47, Juni 2006, 1– 27. https://doi.org/9783110498745-005
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verfolgen ist die Absicht dieses Kapitels. Dieser Überblick soll als ein Führer durch eine weite und sich stetig erweiternde Thematik für die Kirche, soziologische Historiker, Theologen, Liturgen und Wissenschaftler aus einer wachsenden Zahl von Disziplinen fungieren.⁴ Wir beginnen, indem wir zwei Sätze betrachten. Der erste, der schon im Titel dieses Kapitels verwendet wurde, typischerweise in das 16. Jahrhundert zurückverfolgt wird und vielleicht von Johannes Calvin stammt, ist ecclesia semper reformanda. ⁵ Dieser Satz kann – wie Historiker und Linguisten deutlich machen – sowohl als „die Kirche [wird] immer reformiert werden“ (futurisch-passiv) als auch als „die Kirche [ist] immer [dabei] zu reformieren“ (präsentisch-aktiv) wiedergegeben werden. Jenes indiziert, dass jemand anderes – vermutlich Gott – die Arbeit tut (oder in der Zukunft tun wird), während dieses indiziert, dass die Gläubigen die Zügel in die Hand nehmen und gerade dabei sind, dieses zu tun. Die Unterscheidung ist in se wichtig, und doch nehmen beide Übersetzungen an, dass die Kirche in der Tat reformiert und deshalb auch in irgendeiner Weise deformiert werden muss. Dass Luther und seine Gefährten solch einen dramatischen Einfluss hatten, ist in sich schon der Beweis, dass Jahrzehnte und Jahrhunderte lang die spätmittelalterliche päpstliche und episkopale Führung es nicht geschafft haben, eine Reform durchzuführen, wenngleich sie die Notwendigkeit hierfür erkannt hatten. In neuzeitlicher Geschichte lassen sich diese Einstellungen bezüglich Reformen durch zwei Päpste kontrastieren, um diesen Punkt deutlich zu machen. Papst Gregor XVI. schrieb 1832, während Europa und die traditionellen Monarchien immer noch von der Revolution benommen waren: „Es ist offensichtlich absurd und beleidigend, so etwas wie eine Wiederherstellung oder Regeneration [der Kirche] vorzuschlagen, als ob das notwendig wäre für ihre Sicherheit und ihr Wachstum, wie wenn sie Gegenstand eines Mangels oder einer Verheimlichung oder eines anderen Unglücks sei“ (Mirari Vos, Nr. 10). Über ein Jahrhundert später sagte Papst Paul VI. in einem komplett Die Forschung zu Reform ist im letzten halben Jahrhundert aufgeblüht, Studien setzen sich allerdings typischerweise mit einer spezifischen Periode, Gegend, Person oder einem Reformziel auseinander. Für einen Überblick siehe Christopher M. Bellitto, Renewing Christianity: A History of Church Reform from Day One to Vatican II, New York, 2001, welcher sich hauptsächlich mit römischen Katholizismus beschäftigt, und Craig D. Atwood, Always Reforming: A History of Christianity Since 1300, Macon, 2001, welcher über den Katholizismus und Europa hinausgeht. Atwood wird chronologisch ergänzt von Paul Amargier, Une Église du renouveau: Réformes et réformateurs, de Charlemagne à Jean Hus 750 – 1415, Paris, 1998. Ein paar Zusammenstellungen von wissenschaftlichen Aufsätzen, die die Kirchengeschichte umspannen, sind Roger Aubert (Hg.), Progress and Decline in the History of Church Renewal, Concilium 27, New York, 1967 und Derek Baker (Hg.), Renaissance and Renewal in Christian History, Studies in Church History 14, Oxford, 1977. Für Beispiele, wie Reform sozialen und kulturellen Wandel beeinflusst, und als ein Beispiel unter vielen, wie sich das Feld der Erforschung von Reform erweitert, siehe Martha G. Newman, The Boundaries of Charity. Cistercian Culture and Ecclesiastical Reform, 1098 – 1180, Stanford, 1996 und John Howe, Church Reform and Social Change in EleventhCentury Italy: Dominic of Sora and His Patrons, Philadelphia, 1997 und ders., Before the Gregorian Reform: The Latin Church at the Turn of the First Millennium, Ithaca, 2016. Hans Küng, The Council, Reform, and Reunion, übers. v. Cecily Hastings, New York, 1962, 9.
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anderen Kontext während des zweiten Vatikanischen Konzils: „ Eine lebendige und lebhafte Selbsterkenntnis auf Seiten der Kirche führt unausweichlich zu einem Vergleich zwischen dem idealen Bild der Kirche, wie sie sich Christus vorgestellt hat, seine heilige und unbefleckte Braut, und dem eigentlichen Bild, das die Kirche heute der Welt präsentiert. Aber das eigentliche Bild der Kirche wird niemals solch einen Grad an Perfektion, Schönheit, Heiligkeit und Pracht erreichen, dass man sagen kann, dass es perfekt mit der ursprünglichen Konzeption im Kopf dessen, der es gestaltet hat, korrespondiert“ (Ecclesiam Suam, 1964, Nr. 10). Für Gregor XVI. war die bloße Vorstellung, dass die Kirche deformiert werden könnte und konsequenterweise eine Reform brauchen könnte, unmöglich. Paul VI. andererseits hielt es für selbstverständlich, dass die Kirche immer deformiert werden würde und deshalb Reform ein permanenter Prozess sei.
2 Reformatio in capite et in membris Der zweite Satz, den wir in der Geschichte der Reform antreffen, ist reformatio in capite et in membris, was im 16. Jahrhundert zu einem gebräuchlichen Satz geworden war. Seine Ursprünge als feststehender Satz stammen wohl aus päpstlichen Korrespondenzen und juristischen Dokumenten im Hochmittelalter, womöglich sogar schon aus dem frühen 13. Jahrhundert. In diesem Kontext jedoch handelte dieser Satz weniger von Reform innerhalb der Kirchengemeinde oder im Leben der Laien, als vielmehr von Fragen der formellen Autorität und Jurisdiktion zwischen dem Papst und dem Kollegium der Kardinäle oder Bischöfen oder – wenn man in der Hierarchie abwärts schaut – zwischen einem einfachen Bischof und den Mitgliedern seines Domkapitels.⁶ Mittelalterliche Reformer hätten Reform wohl als Eheschluss zwischen Haupt und Gliedern gesehen, wenngleich sich Individuen – achtet man auf die Durchführbarkeit und darauf, was einer Reform bedarf – von Natur aus entweder auf das Haupt oder auf die Glieder fokussieren.⁷ Aus einer eher institutionellen Perspektive betrachtet, ist die sogenannte Gregorianische Reform die vielleicht bekannteste Reformbewegung, die typischerweise als ein Versuch in capite gesehen wird. Dies stimmt bis zu einem gewissen Punkt: Die Reformer ersuchten Gregor (obwohl dies vor der Wahl Hildebrands 1073 zu Gregor VII. passiert war), das Papsttum von seiner engen und umstrittenen Beziehung zu kö-
Karl Augustin Frech, Reform an Haupt und Gliedern: Untersuchungen zur Entwicklung und Verwendung der Formulierung im Hoch- und Spätmittelalter, Frankfurt, 1992. Siehe für eine Studie, die sich nur auf das Spätmittelalter und besonders auf das Streben nach der Reform in capite et in membris fokussiert, Christopher M. Bellitto, „The Reform Context of the Great Western Schism“, in: Joëlle Rollo-Koster und Thomas M. Izbicki (Hg.), A Companion to the Great Western Schism (1378 – 1417), Leiden, 2009, 303 – 331. Siehe für Beispiele dieses Satzes als gebräuchlichem rhetorischem und literarischem Topos Renate Blumenfeld-Kosinski, Poets, Saints, and Visionaries of the Great Western Schism, 1378 – 1417, University Park, 2006.
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niglicher Macht zu lösen. Die gregorianischen Päpste versuchten eine vergangene goldene Zeit der ecclesia primitiva wieder zu errichten und aufleben zu lassen, stets darauf bedacht, jede Reform mit einem normativen Präzedenzfall zu verknüpfen, hierin der Aussage folgend, die Stephanus I., Bischof von Rom 254– 257, zugeschrieben wird: „Lasst nichts erneuert werden, außer dem, was Teil der Tradition ist“. Die Herausforderung bestand darin, zwischen schlechten neuen Gepflogenheiten und guten alten zu unterscheiden. Für die gregorianischen Reformer, die in gewisser Weise eine päpstliche Revolution einleiteten, indem sie eine den königlichen Kurien nachempfundene Monarchie errichteten, war weltliche Einmischung in episkopale und kirchliche Angelegenheiten eine neue, schlechte Gepflogenheit, die sich von den Normen der ersten Gemeinde entfernte.⁸ Wir notieren jedoch, dass das Reformproblem der Investitur – was die Übergabe von Symbolen zeitlicher und geistlicher Macht an einen Abt oder Bischof durch einen weltlichen Herrscher meint – nicht nur die höchsten Ränge des Papsttums und der Erzbistümer betraf, sondern sich bis ganz nach unten in der Hierarchie erstreckte, bis hin zum einfachen Priester, der von einem weltlichen Herrn eingesetzt wurde. Die gregorianischen Reformer waren bestrebt, ein leuchtendes Beispiel am oberen Ende dieser Rangordnung zu etablieren, weshalb die Kardinäle während des Mittelalters letztlich das exklusive Recht erhielten, den Papst zu wählen, aber das Reformziel, die Freiheit der Kirche (libertas ecclesiae) durchzusetzen, ihren eigenen Bischof und Abt zu benennen, betraf alle Ebenen der kirchlichen Behörden vom Haupt bis zu den Gliedern. Die gregorianische Reform war in der Tat einer der ersten umfassenden, von oben herab kommenden, auf einer breiten Basis stehenden institutionellen Versuche einer Reform, wenngleich sie auf Präzedenzen in membris fußte, wie der Tradition der Mönche und Nonnen, ihre Äbte und Äbtissinnen zu wählen, und Bistümer ihren Bischof. Ein großes Vorbild für die gregorianischen Reformer war die Gründungserklärung von Cluny im Jahr 909, die ausdrücklich weltliche Einmischung in die Wahl des Abtes durch die Mönche verbat. Die korrumpierenden Probleme der Simonie, des Konkubinats und des Absentismus, der Ämterkumulation, waren durchweg Elemente dieses Hauptproblems der Freiheit im Leib der Kirche. Die Flut an Sammlungen von kanonischem Recht während dieser Zeit, die in Gratians Decretum 1040 und den folgenden päpstlichen Supplementen gipfelte, fachte die Reform in Haupt und in den Gliedern an und verstärkte sie.⁹ Der weltliche Einfluss verschwand natürlich nicht einfach, und ein Jahrhundert nach Gregor VII. sollte der Streit zwischen dem Erzbischof von Canterbury Thomas Becket und dem König von England, Heinrich II., nicht nur als eine fehlgegangene Freundschaft, sondern viel wichtiger als ein Fallbeispiel der gregorianischen Revolution gesehen werden. Becket wurde ein Märtyrer für das Reformziel der libertas ecclesiae; gerade weil seine Rolle ein Symbol des Widerstandes Ken A. Grant, „‘He Does Not Say, I Am Custom,’: Pope Gregory VII’s Idea of Reform“, in: Reassessing Reform, 61– 83. Harold J. Berman, Law and Revolution, Bd. 1, The Formation of the Western Legal Tradition, Cambridge, 1983, 47– 269.
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gegen die königliche Herrschaft war, veranlasste Heinrich VIII., dass Beckets Grab 1538 zerstört wurde.
3 Reform zwischen Konzilien und bischöflicher Supervision Das mittelalterliche Generalkonzil war der Ort, wo die Reform in Haupt und Gliedern zusammenkam, welches eigentlich eine päpstliche Veranstaltung war, und doch gleichzeitig ein Forum für Bischöfe bot, um ihre Probleme und Lösungen auf lokaler und regionaler Ebene auszutauschen. Die vier Laterankonzile (1123, 1139, 1179, 1215) wurden mehr und mehr unter dem Papsttum zentralisiert; in der Geschichte der Generalkonzilien, beginnend mit Nicaeum I 325, waren diese die ersten, die in Rom stattfanden. Sie zielten auf eine Reform der Simonie, des Konkubinats, der Ämterkumulation, des Absentismus und der Investitur ab; sie ordneten episkopale Visitationen an, um die Durchsetzung sicherzustellen. Viele dieser Probleme waren in der einen oder anderen Weise mit der Investitur verbunden, was der Hauptgrund für die Einberufung des 1. Laterankonzils im Jahr 1123 war: um das Konkordat von Worms aus dem Vorjahr um zu ratifizieren und zu verbreiten. In dieser Vereinbarung gab Kaiser Heinrich V. sowohl sein Recht auf, kirchliche Amtsträger zu ernennen, wenngleich sein Delegierter bei ihrer Wahl anwesend sein konnte, als auch das Recht, Bischöfen und Äbten die Amtszeichen ihrer geistlichen Autorität zu verleihen. Für seinen Teil erlaubte Papst Kalixt II., dass ein weltlicher Herr einem kirchlichen Amtsträger die Insignien der weltlichen Autorität verleihen konnte. Die Situation wurde auf dem Papier gelöst, wenn auch nicht umfassend in der Praxis; beinahe ein Jahrhundert später befasste sich das 4. Laterankonzil erneut mit offensichtlichen Übergriffen, indem Laien verboten wurde, vom Klerus Steuern zu verlangen oder in den Kauf oder Verkauf von kirchlichem Grund involviert zu sein. Die Laterankonzile repräsentierten nicht nur den wachsenden Einfluss des Papstes, sondern die Verbreitung von Reformideen aus der Peripherie ins Zentrum und zurück. Das 3. Laterankonzil zog Bischöfe aus italienischen, spanischen, deutschen, englischen und irischen Diözesen an, jedoch waren auch ein ungarischer Bischof, ein Däne, sieben Bischöfe aus dem Heiligen Land und einige griechische Beobachter anwesend. Generalkonzilien waren Erfahrungen, die ab 1050 oftmals dutzenden Synoden folgten, die auf lokaler Ebene stattfanden, von denen manche jährlich gehalten wurden. Wir finden viele Anweisungen für lokale Bischöfe, ihr Amt der Reform und Korrektur auszuüben, besonders, wenn es um die Überwachung der Moral und des Zölibats (und damit verbunden Erbstreitigkeiten) ging, und für diese Aufgaben Vikare zu ernennen. Auch Bischöfe wurden überwacht. Das 4. Laterankonzil beispielsweise machte es zur Auflage, dass ein Priester, der mit einer Frau zusammenlebte, suspendiert werden musste, wie auch der Bischof, der zugelassen hatte, dass diese Übertretung passiert war.
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Reformbestimmungen auf mittelalterlichen Generalkonzilien zielten hauptsächlich auf eine Reform auf der Ebene der Diözesen. Beispielsweise wies das 3. Laterankonzil an, dass Geld zur Ausbildung von Gemeindepriestern zur Seite gelegt werden sollte, zumindest in den Städten, ohne dass dies Kosten für den Kandidaten mit sich bringen durfte, wobei kein Lehrplan vorgeschrieben war. Das 4. Laterankonzil erteilte nun, nachdem festgestellt worden war, dass die Bestimmungen des letzten Laterankonzils nicht umgesetzt worden waren, spezifischere Vorgaben für die universitäre Bildung: Geld sollte für einen Lehrmeister gesammelt werden, um „Grammatik und andere Fächer des Studiums“ zu unterrichten. Diese Ausstattung sollte „nicht nur in jeder Kathedrale, sondern auch in anderen finanziell ausreichend versorgten Kirchen“ etabliert werden. In größeren Zentren musste die Metropolitankirche „einen Theologen [bezahlen], Priester und andere die Schrift zu lehren und sie besonders in den Dingen zu unterrichten, die die Heilung der Seelen betreffen“. Bischöfe wurden angewiesen, entweder persönlich oder durch einen Vikar Ordinationskandidaten vorzubereiten, zu unterweisen und zu prüfen „in göttlichen Diensten und den Sakramenten der Kirche“. Jeder Kandidat, der als ignaros et rudes erachtet wurde, war abzuweisen.¹⁰ Wie der kontinuierliche Ruf auf lokalen und regionalen Konzilien sowie auf Generalkonzilien an den Klerus, Lebensgefährtinnen zu verlassen, und an die weltlichen Herren, aufzuhören, sich in die Angelegenheiten der Kirche einzumischen, zeigt, blieb der Reformbedarf bestehen.
4 Reform und die Laien Diese Konzilreformen hatten offensichtlich die Intention, die Kirche von den höchsten Ebenen bis hinunter zu städtischen und ländlichen Gemeinden zu reformieren. Aus Sicht des kanonischen Rechts ist es richtig, dass die Person auf der Kirchenbank nicht involviert war: Er oder sie war nicht aktiv beteiligt, sondern eher Objekt der Reform, oder besser gesagt, Nutznießer guter Gesetze. Das heißt jedoch nicht, dass christliche Laien nicht bei der Reform aktiv waren – das waren sie, obgleich auf der individuellen Ebene ihrer Moralität und metanoia, welche, wie wir vorher gesehen haben, die eigentliche Essenz einer religiösen Erfahrung darstellt. Es ist die lokale Erfahrung einer persönlichen Reform, die uns – zurückgehend auf ihre patristischen Wurzeln – in die Renaissance und ihre evangelische Erweckung auf individueller Ebene im 12. Jahrhundert bringt, mitten in institutionelle Anstrengungen, die moderaten Erfolg erreichten.¹¹ Dies ist der Ort, an dem von oben herab eine Reform in capite und von
Norman Tanner (Hg.), Decrees of the Ecumenical Councils, Bd. 1, London / Washington DC, 1990, 220, 240, 248. Diese Konzeption der Epoche wurde beleuchtet von Charles Homer Haskins, The Renaissance of the Twelfth Century, Cambridge, 1927, dessen Beitrag erneut evaluiert wurde in Robert L. Benson und Giles Constable mit Carol D. Lanham (Hg.), Renaissance and Renewal in the Twelfth Century, Cambridge, 1982, Nachdruck Toronto, 1991. Siehe auch Giles Constable, The Reformation of the Twelfth Century,
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unten nach oben eine in membris stattfand, wenngleich nicht immer in freundschaftlichem Verhältnis. Im Grunde war die Konzilsbewegung eine Reformbewegung, die sich danach ausstreckte, sich Jesus und das Leben der Kirche der frühesten Jahrhunderte neu anzueignen. Im Großen und Ganzen kann man diese Bewegung als einen im 12. Jahrhundert stattgefundenen Vorläufer von protestantischer Kritik und Umformulierungen der kirchlichen Strukturen im 16. Jahrhundert ansehen.¹² Historisch gesehen konnte diese Neuaneignung nun geschehen, da die Überreste des arianischen Streites, in welchem Jesus von einer Seite zwar als besonderer Mensch, aber doch nicht ganz als göttlich angesehen wurde, endlich überwunden waren. Um dem Arianismus entgegenzuwirken, rückte im ersten Jahrtausend die Vorstellung von Christus als allmächtigem, endgültigem Richter – einem strengen Pantocrator – ins Zentrum, die nun zur Seite treten konnte, um Platz zu machen für einen zugänglicheren Jesus, dem man sich durch die Erzählungen der Evangelien in seiner Menschlichkeit nähern konnte: ein Mann, der aß, weinte, litt, mit Freunden sprach, schlief, in Armut und Demut lebte und an Land und über Wasser reiste. Diese Vorstellung diente auch dazu, die päpstliche Monarchie und die lokale episkopale Weltlichkeit, die ein Nebenprodukt der Herausforderungen der Gregorianischen Reform an die weltliche Obrigkeit waren, zu kritisieren, und sogar, um ihr entgegenzutreten. Als einen Zeugen hören wir Bernard von Clairvaux, wie er einen seiner früheren Zisterzienserschüler, nun Papst Eugenius III. (1145 – 1153), der den Ratschlag seines alten Abts ersucht hatte, in De consideratione warnt, er habe durch die Wahl zum Papst nicht den Auftrag zur Herrschaft, sondern zum Dienst erlangt. „Geh hinaus in [die Welt] nicht als Herr, sondern als Diener“, schrieb Bernard. „Dieser ist Petrus, der bekannt dafür war, dass er nie geschmückt mit Juwelen oder Seide, bedeckt mit Gold, getragen von einem weißen Pferd, bewacht von einem Ritter oder umgeben von lärmenden Dienern in die Prozession ging… In dieser Pracht bist du nicht der Nachfolger Petri, sondern Konstantins“.¹³ Diese Kritik kehrte die Wendung libertas ecclesiae um und wurde dafür benutzt, zu argumentieren, dass man sich von Weltlichkeit und Materialismus in capite befreien müsse, um freimütig zu predigen und das Evangelium radikaler zu leben. In den Worten Peter Cantors, einem scholastischen Theologen, der ungefähr 50 Jahre nach Bernard schrieb, sind manche Traditionen, Regeln und Bräuche so zahlreich und
Cambridge, 1996. Zum Thema der evangelischen Erweckung beachte man M.-D. Chenu, Nature, Man, and Society in the Twelfth Century, hg. u. übers. v. Jerome Taylor und Lester K. Little, Chicago, 1968, besonders 239 – 69; dieser Band ist eine unvollständige Übersetzung von Chenu, La théologie au douzième siècle, Paris, 1957. Katherine van Liere, Simon Ditchfield und Howard Louthan (Hg.), Sacred History: Uses of the Christian Past in the Renaissance World, Oxford, 2012, insbesondere Euan Cameron, „Primitivism, Patristics, and Polemic in Protestant Visions of Early Christianity“, 27– 51. Bernard of Clairvaux, Five Books on Consideration: Advice to a Pope, übers. v. John D. Anderson und Elizabeth Keenan, Kalamazoo, 1976, 60 (II, 6.12), 117 (IV, 3.6).
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umständlich, „dass sie schwer auf denen, die sie einhalten und auf denen, die sie übertreten, lasten; wenn solche Traditionen nicht kurz und wenige bleiben und aus den offensichtlichsten und nutzvollsten Gründen eingeführt worden sind, werden sie zu einem Stolperstein, während man den göttlichen Prinzipien gehorsam ist. Sie schränken die Freiheit des Evangeliums ein“.¹⁴ Umherwandernde Prediger und deren Nachfolger, die wir grob unter die Armutsbewegung zählen (mit ihren Zentren vornehmlich in der Lombardei und in Lyon, mit den Waldensern als einer der größeren und organsierteren Gruppen), hoben Jesu Gebot aus Mt 25,42– 45 hervor, dass, was auch immer jemand für einen der geringsten Brüder oder eine der geringsten Schwestern tut, er für Christus persönlich getan hat. Dieser aktive, apostolische Lebensstil – die biblisch gesprochene Höherstellung der Art Marthas über die Marias¹⁵ – heizte nicht nur soziale Armenversorgung und Gerechtigkeitsanstrengungen an, sondern erhob Kritik an religiöser Hingabe, die berechnend, hohl und mit ohne praktische Relevanz war, Kritik, die insbesondere von Erasmus und Luther im frühen 16. Jahrhundert wiederholt wurde. Diese „armen Kleinen Christi“ erfreuten sich ihrer eigenen Armut, während sie sich anstrengten, die Leben derer, die sie umgaben, zu verbessern. Da sie glaubten, dass ein evangeliumszentriertes Leben es nicht erfordere, ordiniert zu werden oder religiöse Gelübde abzulegen (was dafür sorgte, dass sie manch kirchlichem Amtsträger eher suspekt erschienen, wohl auch weil deren eigener luxuriöser Lebensstil damit verspottet wurde), strebten diese pauperes Christi danach, so zu leben, wie es die ersten Jünger Jesu getan hatten, mit besonderem Bezug auf die normative Passage in Apg 4,32– 35, wo berichtet wird, dass die Gemeinschaften cor unum et anima una miteinander lebten, indem sie ihre wenigen Ressourcen zusammenlegten und teilten. Die Welt sollte als Ort für Evangelisation und Heiligung wahrgenommen werden, im Gegensatz zum monastischen Ansatz des contemptus mundi des frühen Mittelalters. Wir sehen diesen Willen zur persönlichen Reform in der verbreiteten Frömmigkeit dieser Zeit am Werk, wenngleich scholastische Humanisten in universitären Umgebungen zur selben Zeit die intellektuelle Unterstützung für diese religiöse Hingabe boten, sogar wenn sich beide Richtungen nicht einigen konnten. Es ist hilfreich, den Blick auf diese Perspektive als Humanismus der Reform zu bezeichnen. Die hochmittelalterliche Wiederentdeckung des menschlichen Jesus aus der Patristik ließ das positive Selbstbild, dass alle Männer und Frauen als imago Dei geschaffen sind, wieder aufleben, und betonte so die dignitas homini. So wie Gott die Welt in der Rolle des Deus faber schuf, so schufen die Menschen Produkte, Familien und das Handwerk, wodurch jedes Individuum zu einem homo faber oder homo artifex wurde. Die Menschen konnten sich nicht nur bemühen, in den herrlichen, prälapsarischen Stand des Lebens im Garten Eden zurückzukehren, sondern aufgrund des Heilhandelns Christi auch, zu erreichen, was Augustinus von Hippo und andere westlich-lateinische
Zitiert in Chenu, Nature, Man, and Society, 256. Giles Constable, Three Studies in Medieval Religious and Social Thought, Cambridge, 1995, 1– 141.
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Kirchenväter als reformatio in melius bezeichnet hatten. Dieser Ansatz passte besonders in eine Zeit wirtschaftlicher Revolution, die Mitglieder von Zünften dazu veranlassten, nicht nur den Handel und ihr Handwerk zu regulieren, sondern auch Bruderschaften für karitative Zwecke und apostolische Dienste ins Leben zu rufen. Dies kehrte die von oben nach unten ausgerichtete institutionelle Gregorianische Reform um und machte einzelne Christen zu Akteuren ihres persönlichen Wandels und nicht zu passiven Objekten einer hierarchischen Reform. Indem er die „anthropozentrische Theologie“ dieser Zeit zitiert, die in einem erneuerten Interesse am Humanismus der Patristiker gegründet war, beschreibt der Historiker Charles Trinkaus den Optimismus der Gläubigen, die „lebendig, aktiv selbstsicher, geschickt berechnend, die Pforten des Himmels erstürmend“¹⁶ waren. Mit persönlicher Reform verbundene religiöse Überzeugungen, aufgeladen mit diesem optimistischen Sinn des Humanismus, ermutigten den Einzelnen, so viel wie möglich den Vorbildern Christus, Maria und den Heiligen nachzueifern. Marias Reiz war wie der des menschlichen Jesus: Hier war eine Person, die gelitten hatte und eine Heldin besonders für Frauen und Eltern gewesen war. Diese religiösen Überzeugungen waren nicht begrenzt auf Gebete: Die vita apostolica wurde durch ein Netzwerk von zunftbezogenen, gemeindeähnlichen Bruderschaften ausgelebt, die Feste, Prozessionen, und karitative Aktivitäten direkt nach dem Vorbild der frühen Kirche ausrichteten und finanzierten: die Pflege von Witwen und Waisen, die Bereitstellung von Essen und Unterkunft und die Verbreitung des Glaubens. Hinzu kam, dass das Ehren der Heiligsprechung nicht mehr nur für Märtyrer und Missionare aus dem ersten Jahrtausend reserviert war. Im Mittelalter wurde zunehmend einfaches, mittelalterliches Volk, darunter mehr Frauen und besonders Laien, heiliggesprochen.¹⁷
5 Reform in den Klöstern Monastische Gemeinschaften von Frauen und Männern erlebten im Laufe des Mittelalters eine Reihe von Reformerfolgen. Traditionelle religiöse Orden, die auf die Benediktsregel aus dem 6. Jahrhundert zurückgingen, erlangten durch Anstrengungen, die heute als Observantenbewegung bekannt sind, ihre Ursprünge zurück. Wie es ein Autor Mitte des 12. Jahrhunderts auf poetische Weise ausdrückte, „sieht man [monastische Gemeinschaften] wieder aufblühen [reflorere] und, nachdem sie beinahe vom Winterfrost überwältigt und durch die ständigen Nordwinde ausgetrocknet worden waren, durch die neue Sonne und von lauen Lüften gewärmt wiederhergestellt
Charles Trinkaus, In Our Image and Likeness: Humanity and Divinity in Italian Humanist Thought, 2 Bde., Chicago, 1970, Bd. 1, xiv – xxiv und Bd. 2, 761– 64. Hierzu in Kontrast stehend beschrieb R. W. Southern das frühe Mittelalter mürrisch als eine Zeit, die fixiert war auf „eine tiefe Erkenntnis der Kleinheit und Schwäche des Menschen“: Medieval Humanism and Other Studies, Oxford, 1970, 32. Zur Veränderung der Auffassung von Heiligkeit beachte man Donald Weinstein und Rudolph M. Bell, Saints and Society: The Two Worlds of Western Christendom, 1000 – 1700, Chicago, 1982.
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[revertuntur] in ihren ursprünglichen Zustand… In den Kreuzgängen wie auch in den Bäumen sind rare Früchte herangereift. Eine Werkstatt vollkommener Heiligkeit wurde ans Licht gebracht durch das von oben herabgesandte Feuer und angefacht durch gewaltige Winde“.¹⁸ Hier scheint eine bestimmte Ironie am Werk zu sein. Cluniazensermönche und -nonnen sahen sich selbst als reformierte Benediktiner des 10. Jahrhunderts, die versuchten, die ursprüngliche Reinheit des unabhängigen Lebensstils und der unabhängigen Leitung ihrer Vorfahren aus dem 6. Jahrhundert wiederherzustellen, welche durch säkulare Einmischung verdorben worden war. Clunys ursprüngliche Charta beinhaltete ein Modell von Freiheit vor säkularer Einmischung, das gregorianische Augen aus Rom angezogen hatte, wie oben schon kurz erwähnt. Im Laufe der Zeit hatte sich jedoch selbst das reformierte Modell der Unabhängigkeit hin zu häufigen politischen Intervention bei der Ernennung von Äbten und Äbtissinnen gewandelt. Als Folge von schwacher Führung waren geistliches Leben und Disziplin dramatisch schlechter geworden. Insbesondere die Sakralisierung körperlicher Arbeit, die so entscheidend für die ursprüngliche Regula gewesen war, ging durch die Delegation an Brüder und Schwestern, die Laien (conversi) waren, verloren, was die essentielle Demokratisierung der Klöster durch eine elitäre Gruppe von Chornonnen und ordinierten Chormönchen untergrub, die von ihrer körperlichen Arbeit befreit wurden, die nun von einer Unterschicht aus Brüdern und Schwestern, die kein Gelübde abgelegt hatten, erledigt wurde. Zu Beginn des 11. Jahrhunderts erhob sich eine zweite Generation von reformierenden Benediktinern als Reaktion auf das, was sie als schwindende und kompromittierte Treue zur Benediktsregel wahrnahmen, und das sogar innerhalb der Gemeinschaften von Cluny, die zuerst auf Reform aus gewesen waren. Nach ihrem Gründungsort Cîteaux Zisterzienser genannt, reagierten sie auf Cluny mit einer zentralen Forderung für alle Reformbemühungen: der Rückkehr zu den Quellen (reditus ad fontes). In anderen Worten: zisterziensisch-benediktinische Reformer reformierten cluniazensisch-benediktinische Reformer. Die Zisterzienser standen auf gegen die sukzessive Klerikalisierung von Cluny, den Verlust geistlicher Aspekte in der körperlichen Arbeit, die Verflechtung mit der feudalen Welt (was angesichts der Größe zisterziensischer Besitztümer in nicht allzu ferner Zukunft nicht einer gewissen Ironie entbehrt) und zu ausladende liturgische Rituale, Gefäße und Gewänder. Bernard von Clairvaux (1090 – 1153) pries die Rückkehr der reformierenden Zisterzienser zu ihren benediktinischen Wurzeln mit paulinischen Begriffen persönlicher Reform: „Und so, indem sie die Integrität der Regula über den ganzen Tenor ihres Lebens malten – liturgische Beachtung genauso wie das tägliche Leben – folgten sie ihm treu auf dem Weg und, nachdem sie das alte Ich ausgezogen hatten, jubelten sie, das neue Ich
Zitiert in Giles Constable, „Renewal and Reform in Religious Life: Concepts and Realities“, in: Renaissance and Renewal in the Twelfth Century, 43; für eine ausführlichere Behandlung von neuen und reformierten Orden siehe Constable, The Reformation of the Twelfth Century, 44– 124.
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angezogen zu haben.“¹⁹ Martin Luther war wohlgemerkt Mitglied observanter Augustinergemeinschaften in Erfurt und Wittenberg. Als kurz danach die landwirtschaftliche Revolution des 10. und 11. Jahrhunderts den Weg für die kommerzielle Revolution im Hochmittelalter bereitet hatte, verfolgten Bettlerorden einen neuen Weg, religiöses Leben in städtischer Umgebung auszuleben. Die Einstellung als Bettler mag zunächst als Innovation anstatt als Wiederentdeckung gesehen werden, doch die Bettler wollten die Idee des versprochenen religiösen Lebens für einen apostolischen Dienst adaptieren, was sie in eine Reihe mit der evangelischen Erweckung des frühen Kirchenlebens stellte, die nun in der Renaissance des 12. Jahrhunderts sehr lebendig war. Die Observantenorden der monastischen Orden und der Mendikanten führten Reformversuche während der gesamten Epoche des Mittelalters mit einem speziellen Blick auf die Abschaffung von Exemptionen und Dispensationen durch, während sie gleichzeitig Einsamkeit, Armut und vereinfachtes Gebet für Männer und Frauen im Kloster und apostolische Dienste, die im Falle der Bettelorden die Begegnung mit Laien beinhalteten, betonten. Die Praxis, vergangene Reformen zu untersuchen, war ein Verhaltensmuster, das bei den Bettelorden, wie schon bei den monastischen Orden, weitergeführt wurde. Unter diesen observanten Mendikanten ergaben sich besonders für weibliche Reformer Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen.²⁰ Franziskanische Reformer aus dem 15. Jahrhundert, darunter auch Bernardino von Siena und Johannes von Capistrano, deren Nachfolger sich von den Konventualen distanzierten und schlussendlich als normale OFM-Observanten agierten. Auf Seite der Dominikaner wurden die Observanten von Katharina von Siena und Raymond von Capua geleitet.
6 Einheit von Kirche und Reform Spätmittelalterliche Reformen, zumindest wenn sie von der Kirchenhierarchie verordnet wurden, bedeuteten zumeist aufgeschobene Entscheidungen. Das Papsttum verbrachte das 14. Jahrhundert in Avignon und musste dann das Abendländische Schisma (1378 – 1417) überstehen, als zwei, dann sogar drei Päpste, jeder mit seiner eigenen, ihm loyalen Kurie und politischer Unterstützung, nach der Oberherrschaft strebten. Diese drei päpstlichen Linien kämpften nicht nur gegeneinander, sondern auch gegen Vertreter des Konziliarismus, die argumentierten, dass nicht etwa der
Pauline Matarasso (Hg. u. Übers.), The Cistercian World: Monastic Writings of the Twelfth Century, London, 1993, 6. Die Passage stammt aus Bernards Exordium Parvum und weist auf Kol 3, 9 – 10 und Eph 4, 22– 24 hin. Anne Winston-Allen, Convent Chronicles: Women Writing About Women and Reform in the Late Middle Ages, University Park, 2004. Für ein Beispiel einer Äbtissin, die die Reform ihres Ordens leitete, siehe Adam S. Cohen, „The Art of Reform in a Bavarian Nunnery around 1000“, in: Speculum 74, 1999, 992– 2010.
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Papst, sondern das Generalkonzil die höchste Autorität der Kirche sei.²¹ Die päpstliche Führung verlor den letzten Rest an Glaubwürdigkeit und Effektivität als Akteur der Reform, den es noch gehabt hatte. Bei der Verwirrung und den internen Kämpfen zwischen den Anwärtern auf das Papstamt war es schwierig, einen umfassenden Plan für Reform – geschweige denn eine pragmatische Strategie zu deren Einführung, Koordination und Beurteilung – zu entwickeln, insbesondere, da das Papsttum selbst ein zentraler Ansatzpunkt der Reform war. Reformversuche im Spätmittelalter, besonders auf Generalkonzilien wie in Konstanz (1414– 1418), blieben weit weg von Fragen der Einheit, obwohl es eine bedeutsame Debatte in Konstanz gab, die sich damit befasste, ob das Konzil Einheit oder Reform priorisieren sollte. Nichtsdestotrotz wurden manche Reformvorschläge im Bereich der päpstlichen Vorschriften und des klerikalen Missbrauchs in Konstanz verabschiedet, wenngleich – wie sich herausstellte – diese nicht effektiv verfolgt wurden.²² Mit Sicherheit blieb der Bedarf einer Reform nicht unbeachtet. Als Beweis hierfür wenden wir uns Katharina von Siena (1347– 1380) zu, deren Briefe an Papst Urban VI. (1378 – 1389) zu Beginn des Abendländischen Schismas die Auffassung demonstrieren, dass reformatio in capite et in membris Hand in Hand gingen. Nachdem sie ausdrücklich die persönliche Unmoral des Klerus verurteilt hatte, rief Katharina den Papst auf, tugendhafte Männer zu finden, um die Reform anzuführen. Aber in aller Wahrheit, heiligster Vater, ich kann nicht sehen, wie diese Angelegenheit recht getan werden kann, wenn ihr nicht den Garten eurer Braut mit guten und tüchtigen Pflanzen komplett reformiert. Nehmt euch in acht, eine Gemeinschaft von Männern zu finden, in welchen man Tugend findet, heilige Männer und furchtlos angesichts des Todes. Und schauet nicht auf ihre Bedeutung, sondern [stellt sicher], dass sie Hirten sind, die ihre Herde mit Umsicht regieren. Dann [wählt] eine Gemeinschaft von guten Kardinälen, die wahre Stützen für euch sind und – mit göttlicher Hilfe – euch helfen mögen, die Last eurer vielen Arbeiten zu tragen.
Die Führung solle darauf abzielen, nicht nur auf der höchsten Ebene zu reformieren, sondern im ganzen Leib der Kirche. In Katharinas Bild soll die Reform nach unten durchsickern, sobald sie in capite erfolgt, wenngleich wir anmerken sollten, dass Priester eine Zwischenstellung einnahmen – sie gehörten zum Klerus und waren strenggenommen Teil der Hierarchie, obgleich im niedrigsten Rang, aber ihr alltäg-
Brian Tierney, Foundations of the Conciliar Theory: The Contributions of the Canonists from Gratian to the Great Schism, überarb. Ausg., Leiden, 1998. Phillip H. Stump, The Reforms of the Council of Constance, Leiden, 1994; zum Thema des Prioritätenstreits, siehe 22– 23 und 31– 44, wie auch Stump, „The Council of Constance (1414– 18) and the End of the Schism“, in: Rollo-Koster und Izbicki (Hg.), A Companion to the Great Western Schism (1378 – 1417), 395 – 442. Zum Thema der spätmittelalterlichen Reform auf Konzilien siehe Johannes Helmrath, „Reform als Thema der Konzilien des Spätmittelalters“, in: Giuseppe Alberigo (Hg.), Christian Unity: The Council of Ferrara-Florence 1438/9 – 1989, Leuven, 1991, 75– 152, sowie Jürgen Miethke und Lorenz Weinrich (Hg.), Quellen zur Kirchenreform im Zeitalter der Großen Konzilien des 15. Jahrhunderts, Bd. 1, Darmstadt, 1995.
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liches Leben glich mehr dem eines Gemeindemitgliedes im Leib der Kirche als dem eines Bischofs, Kardinals oder des Papstes im Haupt der Kirche. Wenn dies passiert, habe ich keinen Zweifel, dass die Laien ihre Wege bessern werden: sie werden es notgedrungen tun, sobald sie durch die heilige Lehre und die aufrichtigen Leben [des Klerus] dazu gezwungen werden. Dies ist nichts, worüber man schlafen darf, sondern etwas, dem man nachjagen muss mit allem, was in eurer Macht steht bis zum Tod, mit Eindringlichkeit und ohne etwas zu vernachlässigen, zur Ehre und zum Preis des Namens Gottes.²³
7 Devotio moderna Zu erwähnen ist, dass im Spätmittelalter nicht alle der Meinung waren, dass Reform hierarchischer Leitung bedarf. Wie schon im Hochmittelalter kehrten Reformer während einer Zeit, die sich als der Vorabend Luthers herausstellen sollte, zur Idee der libertas ecclesiae nicht mit der gregorianischen Vorstellung von Freiheit vor der Einmischung von Laien zurück, sondern mit dem Modell der pauperes Christi, das danach strebte, das Evangelium ohne die Fesseln eines weltlichen Klerus zu leben. Manche dieser Reformer dürfen jedoch nicht als Dissidenten gesehen werden. In Nordeuropa beispielsweise war die devotio moderna in laien- und quasiklerikalen Formeln wie die religiösen Observantenorden, die danach strebten, ad fontes zurückzukehren, in ihrem Fall zum Evangelium, was an die evangelische Erweckung im 12. Jahrhundert erinnert.²⁴ Sie fokussierten sich auf die frühe Kirche als Modell, blieben jedoch gleichzeitig im Kontext des Gehorsams gegenüber der Machtstrukturen des Katholizismus. Wenn sie den Klerus kritisierten, war dies deshalb der Fall, weil sie höhere Ansprüche an Priester und Bischöfe hatten, und nicht, weil sie anti-klerikal waren. Wie der geistige Vater der devotio moderna, der Däne Geert Groote (1340 – 1384) predigte: „Ich ehre und liebe den Priester sehr. Ich hasse und verabscheue regelrecht den Unzüchtigen“.²⁵ Laien (vielleicht desillusioniert durch die schismatischen und zankenden Hierarchien, besonders während des Abendländischen Schismas) stellten ihre persönliche Reform und ihr inneres Leben in den Mittelpunkt, was eine Wiederentdeckung patristischer Konzepte und frühmonastischer Praktiken, die auf eine Wiederbelebung des imago Dei abzielten, darstellte. Für die Anhänger der devotio moderna jedoch war ihre Anstrengung eine apostolische, die mit kollegialer Ermutigung im Kontext von Arbeits Zitiert in Julius Kirshner und Karl F. Morrison (Hg.), Readings in Western Civilization, Bd. 4, Medieval Europe, Chicago, 1986, 427– 28. John Van Engen (Übers.), Devotio Moderna. Basic Writings, New York, 1988 und ders., Sisters and Brothers of the Common Life:The Devotio Moderna and the World of the Later Middle Ages, Philadelphia, 2008. John Van Engen, „Late Medieval Anticlericalism: The Case of the New Devout“, in: Peter A. Dykema und Heiko A. Oberman (Hg.), Anticlericalism in Late Medieval and Early Modern Europe, Leiden, 1993, 19 – 30, Zitat auf 29.
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und Familienleben vollzogen wurde.²⁶ Der Materialismus des emporkommenden kapitalistischen Systems, im Falle der Niederlande die Textilindustrie, war geistlich abzuweisen, sogar wenn Anhänger der devotio moderna als Eltern oder Zunftmitglieder lebten. Sie ehrten die Evangelien durch angeleitete Meditation in privatem und gemeinsamem Studium und Gebet. Ihre Praktiken der imitatio Christi oder vita Christi stammten von hochmittelalterlichen Vorbildern ab und sammelten sich in der Imitation Christi, die Thomas à Kempis (ca. 1380 – 1471) zugeschrieben wird, obgleich diese nur eine der vielen meditativen Anleitungen war, die sich bis in die monastische Praxis der Meditation über biblischen Gedanken zurückverfolgen lässt.²⁷ Diese Praxis bleibt natürlich durch die Geschichte der Spiritualität hinweg erhalten; man denke beispielsweise an Ignatius von Loyolas Geistliche Übungen aus dem 16. Jahrhundert, die den Ausübenden einladen, sich in eine bestimmte Begebenheit in den Evangelien hineinzuversetzen und mit den Charakteren zu interagieren, als seien sie anwesend.
8 Interpretationen der Reform: Wyclif und Hus Stärkere und programmatischere Stimmen für eine Reform wurden durch John Wyclif (ca. 1330 – 1384) und Jan Hus (1369 – 1415) laut.²⁸ Wie die Waldenser einige Jahrhunderte früher, ihre Zeitgenossen in der devotio moderna und später Erasmus reagierten Anhänger Wyclifs und Huss’ Wyclifiten und Hussiten stark auf die berechnende, äußerliche Frömmigkeit, die sie als ohne jede geistliche Authentizität wahrnahmen; auf die mechanische Wiederholung von Gebeten; und auf eine sklavische Faszination für die Anhäufung von Luxus, Reliquien, Statuen,Vigilien, Fasten und anderen Praktiken der Besinnung. Erneut sehen wir das Verlangen, zur frühen Kirche als Norm zurückzukehren, obwohl dies nicht als pauschale Aussage aufzufassen ist, da sich manche Reformer für einen legitimen Fortschritt in kirchlichen Strukturen angesichts neuer Zeiten und Umstände einsetzten. Für diese schärferen Kritiker jedoch war der historische Rubikon die Konstantinische Schenkung aus dem frühen 4. Jahrhundert, die die Kirche, die einst arm, rein und verfolgt war, zu einer machte, die über die Jahrhunderte hinweg einen kontinuierlichen Verfall in Richtung Verweltlichung durchlief.²⁹ Nikolaus Staubach, „Memores pristinae perfectionis. The Importance of the Church Fathers for Devotio Moderna“, in: Irena Backus (Hg.), The Reception of the Church Fathers in the West, Bd. 1, Leiden, 1997, 405 – 469. Constable, Three Studies, 143 – 248. Die Literatur hierzu ist kaum zu überblicken. Als neuere Einstiegspunkte siehe Ian C. Levy (Hg.), A Companion to John Wyclif Late Medieval Theologian, Leiden, 2006; J. Patrick Hornbeck II et al., A Companion to Lollardy, Leiden, 2016; František Šmahel und Ota Pavlíček (Hg.), A Companion to Hus, Leiden, 2015; und Thomas A. Fudge, Jan Hus: Religious Reform and Social Revolution in Bohemia, London, 2010, und ders., Heresy and Hussites in Late Medieval Europe, Aldershot, 2014. Glenn Olsen, „The Idea of the Ecclesia Primitiva in the Writings of the Twelfth-Century Canonists“, in: Traditio, 25, 1969, 61– 86; Louis B. Pascoe, „Jean Gerson: The Ecclesia Primitiva and Reform“, in:
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Wyclif und Hus gingen dazu über, Praktiken, die sich entwickelt hatten, nicht reformieren zu wollen, sondern ihre Abschaffung zu fordern, da sie nicht explizit von Jesus während seines irdischen Dienstes eingeführt worden waren. Beide werden weshalb oft als Wegbereiter oder Vorläufer des protestantischen Glaubens gesehen.³⁰ Wyclifs Nachfolger, bekannt als Lollarden, verwarfen die Realpräsenz Christi in der Eucharistie, manche oder alle der sieben Sakramente, die Gültigkeit von Sakramenten angesichts klerikaler Unmoral (im Grunde moderner Donatismus), die Legitimität des Papsttums als institutionalisierte Autorität und dessen Recht, Eigentum zu besitzen (Ruf nach Einziehung von Kirchengütern), die Nebeneinanderstellung von kanonischem („menschlichem“) Gesetz und göttlichem Gesetz gemäß der Heiligen Schrift, und die Kontrolle der Hierarchie über die korrekte Interpretation der Schrift gegenüber ihrer eigenen Betonung der individuellen Interpretation. Hus’ Position war gleich der Wycliffes. Christus allein, und nicht der Papst, war das wahre Haupt der Kirche. Die Rolle des Papstes war ausschließlich geistlich, denn päpstlicher Besitz und päpstliche Macht gingen nicht auf Christus zurück, sondern auf die unsägliche Konstantinische Schenkung. Die vertikale Hierarchie sollte durch die ursprüngliche Kollegialität der Kirche ersetzt werden. Es ist keine Überraschung, dass die Erinnerung an Hus in katholischen Kreisen weiter getrübt wurde, sein Ansehen in protestantischen jedoch stieg, als Luther erklärte, „wir sind alle Hussiten“. Zu bemerken ist jedoch, dass Papst Johannes Paul II. 1999 mit Anerkennung über Hus als einem mutigen Reformer sprach und es bedauerte, dass Hus auf dem Konzil von Konstanz exekutiert wurde.³¹
9 Ergebnisse der mittelalterlichen Reform Es ist klar, dass, als das 16. Jahrhundert begann, Reform in der Kirche bereits während des ganzen Mittelalters versucht und praktiziert worden war, wenngleich es nicht immer erfolgreich. Mehr Erfolg wurde in der Peripherie und nicht im Zentrum, an der Basis und nicht an der Spitze verzeichnet, doch mit Sicherheit war der Bedarf einer Reform deutlich. Christen waren nicht blind gegenüber ihren eigenen Problemen,
Traditio, 30, 1974, 379 – 409, und Pascoe, „Gerson and the Donation of Constantine: Growth and Development within the Church“, in: Viator, 5, 1974, 469 – 85. Zu diesem oft diskutierten Thema siehe Heiko A. Oberman, Forerunners of the Reformation: The Shape of Late Medieval Thought, Philadelphia, 1981; Oberman, The Harvest of Medieval Theology: Gabriel Biel and Late Medieval Nominalism, Cambridge, 1963; und Oberman (Hg.), The Dawn of the Reformation: Essays in Late Medieval and Early Reformation Thought, Grand Rapids, 1986. Als Versuch, die Diskussion zur Kenntnis zu nehmen, ohne von ihr überwältigt zu werden: siehe Erika Rummel, „Voices of Reform from Hus to Erasmus“, in: Handbook of European History, Bd. 2, Visions, Programs and Outcomes, 61: „[W]e may examine prominent voices of reform without losing sight of the fact that the Reformation of the sixteenth century blended the voices of ‘forerunners’ in a manner that ultimately precludes an analysis into separate intellectual genealogies“. Rummel, Voices of Reform from Hus to Erasmus, 63; Papst Johannes Paul II., „Address of the Holy Father to an International Symposium on John Hus,“ 17 December 1999.
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selbst wenn sich ihre Führer der Kritik an ihrer hohen Stellung in der Hierarchie widersetzten, was eine institutionelle Führung bei der Reform erschwerte. Dennoch gab es lokale Synoden von Bischöfen und Priestern, die sich für eine Reform einsetzten, obgleich mit gemischten Resultaten, und die Laien hielten ihre Priester und Bischöfe zu höheren und nicht zu niedrigeren Standards an – was ihre Frustration gegenüber den Gegnern der Reform nur anfachte. Wir müssen auch darauf bedacht sein, zu erkennen, dass viele Wege der Reform im Gange waren, von denen aufgrund von Umständen, Kontexten und manchmal politischen Überlegungen nicht alle mit maximaler Effizienz verfolgt werden konnten. Kirchenhistoriker und historische Theologen stellen nun die Dynamik des Reformgeistes heraus, anstatt der Verschwendung dieser Zeit, insbesondere unter Laien. Wie Marie-Dominique Chenu es formulierte, war diese Epoche gezeichnet von einem lebhaften Wettstreit zwischen Vorstellungen von Bewahrung und Innovation, zwischen Tradition und Fortschritt. Wenngleich diese Reformbemühungen nicht vereint waren, so waren sie dennoch präsent in einer großen Vielfalt. Heiko Oberman spricht von der „bedeutungsschwangeren Pluralität“ dieser mittelalterlichen Epoche, besonders im Spätmittelalter. John Van Engen sah das Jahrhundert direkt vor Luther im Lichte dezentraler, „multipler Optionen“, die von Diversität geprägt waren, besonders auf lokaler Ebene, wo echte Fortschritte in mystischen wie auch in pragmatischen Angelegenheiten gemacht wurden, eher auf persönlicher als auf institutioneller Ebene und über allem anderen im apostolischen Dienst.³² Reformbemühungen überschnitten sich und waren miteinander verflochten, so wie sie manchmal auch aufeinanderstießen und sich gegenseitig korrigierten.Was sich herauskristallisiert, ist ein Blick auf diese Periode mittelalterlicher Kirchenreform nicht als einer Periode der Dekadenz oder des Scheiterns, sondern als Schmelztiegel an wohlmeinenden Ideen und Versuchen, aus dem Martin Luther schöpfte.³³
Chenu, Nature, Man, and Society, 310 – 330; Heiko A. Oberman, „Fourteenth-Century Religious Thought: A Premature Profile“, in: Speculum, 53, 1978, 80 – 93; John Van Engen, „Multiple Options: The World of the Fifteenth-Century Church“, in: Church History, 77, 2, 2008, 257– 284. Siehe auch Lawrence G. Duggan, „The Unresponsiveness of the Late Medieval Church: A Reconsideration“, in: Sixteenth Century Journal, 9, 1978, 3 – 26; N. Nowakowska, „Reform Before Reform? Religious Currents in Central Europe, c. 1500,“ in: H. Louthan, G. Murdock (Hg.), A Companion to the Reformation in Central Europe, Leiden, 2015, 121– 26, 140 – 42. Über Luthers katholisches Umfeld ist kürzlich ein neuer Band erschienen: Philip D.W. Krey und Peter D.S. Krey (Hg.), The Catholic Luther: His Early Writings, Mahwah NJ, 2016, besonders über Luthers persönliche Hingabe und Spiritualität; sowie Scott Hendrix, Martin Luther: Visionary Reformer, New Haven, 2015.
Euan Cameron
Religion, Vernunft und Aberglaube von der Spätantike bis zu Luthers Reform Wissenschaftler, die sich in der mittelalterlichen Theologie nicht auskennen, könnten versucht sein anzunehmen, dass die Antithese zwischen „Religion“ und „Aberglaube“ und der Gebrauch der „Vernunft“, um die Beziehung der beiden zu bestimmen, eine Denkweise bildete, die nur für die im 18. Jahrhundert stattgefundene Aufklärung und die Zeit seither charakteristisch war. Tatsächlich reicht die Beziehung dieser drei Ausdrücke und die Meinungsverschiebung derselben zurück in die Spätantike und wurde durch das ganze christliche Mittelalter hinweg im Westen diskutiert. Der Gebrauch des Ausdruckes „Religion“ hat sich über die Zeit hinweg weiterentwickelt. Im ersten Jahrhundert nach Christus gebrauchte der römische Poet und Philosoph Lucretius den Ausdruck „Religion“ in einer Weise, die womöglich von Voltaire akzeptiert worden wäre. Er benutzte diesen Begriff, um ein zutiefst falsches System von Glaubenssätzen zu bezeichnen, das bei den Menschen Angst vor Terror in der natürlichen Welt, die keine spezifischen Gründe zur Basis hatte, und Furcht vor der Intervention böser Gottheiten hervorrief, denen – so argumentierte er – die menschlichen Angelegenheiten gleichgültig seien.¹ Die „Religiösen“ wendeten sich diesem fehlgeleiteten Glauben zu, wenn ihnen unerklärtes Unglück drohte oder es sie ereilte. Danach – auch bedingt durch das Aufkommen christlicher Philosophie in der Spätantike – wurden mit „Religion“ die Epitheta „wahr“ und „orthodox“ als normativ verknüpft. Der Ausdruck „Superstition“ (erg. Aberglaube) kommt aus dem Lateinischen: Seine Etymologie ist hoffnungslos undurchsichtig, jedoch kann man sagen, dass er in der Spätantike und im Mittelalter weit verbreitet war. Er übersetzt zwei griechische Worte, die jeweils eine spezielle Bedeutung tragen. Deisidaimonia, wie es beispielsweise in Plutarchs Essay Περὶ δεισιδαιμονίας benutzt wird, wies auf eine morbide und obsessive religiöse Praxis hin, die der Autor als schlimmer als den Atheismus beurteilte.² Auch dem Apostel Paulus war dieser Begriff bekannt. In Apg 17,22 beobachtete Paulus, wie die Athener mit ihrer gewaltigen Aufreihung von Altären am Straßenrand „äußerst religiös […] in jeglicher Hinsicht“³ waren. Der manchmal als „äußerst religiös“ übersetzte Begriff bei Paulus, δεισιδαιμονεστέρος, könnte gleichermaßen auch
Übersetzung: Magnus Rabel. Siehe Stuart Gillespie und Philip Hardie, Hg., The Cambridge Companion to Lucretius (Cambridge, UK/New York, 2007), 10; John Colman, „Lucretius on Religion,“ Perspectives on Political Science 38/4 (2009): 228 – 239. Siehe Hugh Bowden, „Before Superstition and After: Theophrastus and Plutarch on Deisidaimonia,“ Past and Present 199/3 (2008): 56 – 71; Dale B. Martin, Inventing Superstition: from the Hippocratics to the Christians (Cambridge, MA/London, 2004). Ἄνδρες ᾿Aθηναῖοι, κατὰ πάντα ὡς δεισιδαιμονεστέρους ὑμᾶς θεωρῶ. https://doi.org/9783110498745-006
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als „äußerst abergläubisch“ wiedergegeben werden. Zweitens wurde der griechische Begriff ethelothreskia in der griechischen Antike benutzt, um die Tendenz, Kreaturen der eigenen Wahl und Erfindung anzubeten, auszudrücken. Das paulinische Schriftenkorpus benutzte exakt diesen Ausdruck gleichermaßen in Kol 2,23, wo der Apostel (oder wahrscheinlicher einer seiner Nachfolger) von detaillierten rituellen Vorschriften als „einen Schein von Weisheit durch selbst erwählte Frömmigkeit und Demut habend“ spricht.⁴ Der lateinische Begriff superstitio assimilierte all diese Assoziationen von deisidaimonia und ethelothreskia, um Praktiken zu inkludieren, die aus dem Feld der streng christlichen Orthodoxie herausfielen, besonders die, die durch eine fehlende Basis in der Schrift und im Verstand als haltlos erschienen. Wie genau christliche Theologen „Aberglaube“ definierten, wird ein Teil des Themas dieses Kapitels darstellen. Der Begriff „Vernunft“ verlangt ebenfalls ein paar Überlegungen. Wissenschaftler aus der Zeit nach der Aufklärung setzen manchmal „Vernunft“ mit der modernen Skepsis in Bezug auf Religion in jeglichem Aspekt gleich. Mittelalterliche Wissenschaftler nahmen die Dinge anders war. Besonders nach der Wiederentdeckung der aristotelischen Logik in Westeuropa im 12. Jahrhundert schätzten Theologen die „Vernunft“ als ein Werkzeug, um zu entscheiden, was angemessene Folgerungen des Glaubens in theologische Lehrsätze waren und was nicht, besonders hoch. Thomas von Aquin argumentierte, dass ein rechter Verstand, so er denn recht angewandt würde, zu Konklusionen über die Ökonomie des Göttlichen führte, die allermindestens mit der geoffenbarten Wahrheit kompatibel wären (besonders in der Summa gegen die Heiden). Später wurde die Scholastik etwas vorsichtiger gegenüber dem weitreichenden Vertrauen des Thomas in Bezug auf die Rationalität der göttlichen Ordnung. Nichtsdestotrotz wurde das lateinische Adverb „rationabiliter“ als ein Kriterium angewandt, um zwischen zulässigen und unzulässigen religiösen Handlungen zu unterscheiden: so zum Beispiel, als das zweite Diktum der Pariser theologischen Fakultät von 1389 beschloss, dass „eine Befolgung, die einen bestimmten Effekt erzielen soll, der nicht vernünftig erschlossen werden kann, weder indem Gott wundersam handelt noch durch natürliche Gründe unter Christen als abergläubisch angesehen werden muss und ein geheimer Pakt mit Dämonen, sei es implizit oder explizit, vermutet werden muss“.⁵ So trieb Luther, als er seinen berühmten Ausspruch 1521 in Worms tat, er könne nicht widerrufen, „nisi convictus fuero testimoniis scripturarum aut ratione evidente“, kein protomodernes Argument für die Vorherrschaft des vernünftigen Erwägens voran, sondern er wandte die sehr vertraute intellektuelle Selbstdisziplin an, die er als Theologiestudent gelernt hatte.⁶
λόγον μὲν ἔχοντα σοφίας ἐν ἐθελοθρησκίᾳ καὶ ταπεινοφροσύνῃ. Jean Gerson, Joannis Gersonii Doctoris Theologi & Cancellarii Parisiensis Opera Omnia, Hg. Ludovicus Ellies du Pin, 5 Bde. (Hagae-Comitum, 21728), 1:210 – 219. WA 7,838,4.
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Die geerbten Weisheiten „Abergläubische“ Glaubenssätze und -praktiken existierten in einem komplexen, vielschichtigen Kontext an Ideen, Annahmen und Weisheiten unter den Völkern eines prämodernen Europas. Jede Sprache und jedes Volk hatte einen eigenen Schatz an solchen Weisheiten, der sich von Kultur zu Kultur unterschied, aber auch manche Gemeinsamkeiten teilte. Nur wenige allgemeine Themen können hier behandelt werden. Erstens, traditionelle Weisheiten boten eine ganze Bandbreite an Untersuchungen für Unglück, Erkrankung und Krankheit. Manche Erkrankungen waren vollständig natürlich; manche konnten ihrer Art nach natürlich sein, jedoch durch Hexerei auferlegt; manche konnten recht übernatürlich sein, und diese konnten – so argumentierten manche – durch solche Anomalien wie das Vorkommen unerklärbarer fremder Substanzen, die im Körper des Patienten auftauchten, erkannt werden. Das bekannteste und meist diskutierte dieser Phänomene war der sogenannte „böse Blick“, welcher bis weit in die Antike und in vielen Teilen der Welt bezeugt ist. Die, die eine andere Person, besonders ein Kind, mit Bosheit anblickten, waren als solche bekannt, so glaubte man, die in der Lage waren jemanden erkranken zu lassen. Westliche Theologen berichteten von diesem Glauben an den bösen Blick recht breit im Spätmittelalter und nahmen in der Frage, wie die Übertragung dieser bösen Intentionen funktioniere und wie man am besten dagegen geschützt sei, eine Vielzahl an Positionen ein.⁷ Ein wichtiger Aspekt der Weisheiten des prämodernen Europas war das große und weitreichende Spektrum an nicht-menschlichen intelligenten Wesen, die nach damaligem Glauben im Universum existierten. Aus theologischer Perspektive war dieses Problem ein recht einfaches. Gott schuf inkorporale Engel, spirituelle Wesen mit Intelligenz und einem freien Willen. Manche fielen durch Auflehnung gegen Gott in den ersten Tagen der Schöpfung, und ihnen wurden viele (jedoch nicht alle) ihrer speziellen Fähigkeiten und Attribute genommen. Nach dem Fall der bösen Engel (die mit den Dämonen, oder in der klassischen Antike daimonia, gleichzusetzen waren) konnten diese nichts Anderes wollen, als den Menschen zu schaden. Dennoch empfand die traditionelle Volkskultur diesen einfachen Binär als viel zu primitiv. Volkstümliche Weisheiten postulierten die innerweltliche Existenz einer Vielzahl an sichtbaren oder halbsichtbaren Geistwesen, die mit Emotionen, psychologischen Bedürfnissen und der Möglichkeit, sich im Falle einer Misshandlung angegriffen zu fühlen, ausgestattet waren. Derartige Kreaturen existierten in Verbindung mit einer
Siehe beispielsweise Thomas von Aquin, Summa Theologica, Ia q. 117 a. 3 ad 2; zitiert von Martín von Arles und Andosilla, Tractatus insignis et exquisitissimus de superstitionibus in Tractatus Universi Juris, xi, pt. 2 (Lyon, 1584), fol. 402v-408r, sect. 35 – 36. Der ὀφθαλμὸς βάσκανος wird zum Beispiel erwähnt bei Plinius dem Älteren, Historia Naturalis, VII.2, wo die Macht zu ‚faszinieren‘ gewissen barbarischen Völkern zugeschrieben wird. Für eine Ausführung über manch klassische Weisheit siehe Matthew W. Dickie, „Heliodorus and Plutarch on the Evil Eye,“ Classical Philology, 86/1 (1991): 17– 29.
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Vielzahl an verschiedenen Umwelten. Manche verstand man als häusliche Geister, halbsichtbare Diener, die hier und da bei der Hausarbeit halfen (wie der Geist „Hutgin“ oder „Hudeckin“, der vermutlich in der Küche des Bischofs von Hildesheim 1132 arbeitete);⁸ oder sie konnten helfen, oder zumindest so tun, als ob sie den Minenarbeitern in Deutschland helfen konnten.⁹ Sie konnten auch zu Flüssen oder Wäldern gehören. Sehr überraschend mag vielleicht erscheinen – oder vielleicht auch nicht –, dass eine beachtliche Menge an volkstümlichen Geschichten existierte, die von romantischen und sexuellen Beziehungen zwischen Geistwesen und Menschen erzählten. Manche der bekanntesten Moralfabeln, die um dieses Themenfeld konstruiert waren, beinhalteten die Geschichte der Melusine, einem weiblichen Wassergeist, die einen menschlichen Ehemann unter der Bedingung, er dürfe sie nicht während ihres wöchentlichen Bades, wenn ihr Unterköper wieder Fischgestalt annahm, beobachten, heiratete; oder die verwandte, jedoch zu unterscheidende Erzählung von Peter von Stauffenberg und dem Wassergeist, von der einige Quellen aus dem 16. Jahrhundert sprechen. Eine tschechische Version jener zweiten Geschichte fand Einzug in Jaroslav Kvapils Libretto für Dvořáks Oper Rusalka. ¹⁰ Tief begründet in der volkstümlichen Kultur war der Glaube, dass Zeichen, Symbole und Formen von Worten, sogar (oder besonders), wenn ihre Bedeutung unklar war oder aus einer unbekannten Sprache entstammte, protektive Effekte in Form von Amuletten oder heilende Wirkungen in Form von Formeln und Zaubersprüchen hätten. Diese Amulette konnten eine große Anzahl an Formen annehmen. Manche kamen aus zutiefst orthodoxen Quellen der Hilfe und Unterstützung, die man in der katholischen Kultur Europas finden konnte, beispielsweise war ein Amulett aus geweihtem Wachs hergestellt und als agnus dei bekannt.¹¹ In gleicher Weise orthodox waren andere geweihte „Sakramentale“ wie heiliges Wasser, Salz, Wachs oder andere
Johannes Trithemius, Joannis Trithemii […] Annalium Hirsaugiensium, 2 Bde. (St. Gallen, 1690), 1:395 – 397. Johann Weyer, Witches, Devils, and Doctors in the Renaissance, Hg. George Mora und Benjamin Kohl, übersetzt von John Shea, Medieval & Renaissance texts & studies 73 (Binghamton, NY, 1991; Nachdruck 1998), 72– 74. Zu den Märchen von Mélusine siehe Donald Maddox und Sara Sturm-Maddox, Hg., Melusine of Lusignan: Founding Fiction in Late Medieval France (Athens, GA/London, 1996) und Claudia Steinkämper, Melusine – vom Schlangenweib zur „Beauté mit dem Fisch-Schwanz“: Geschichte einer literarischen Aneignung (Göttingen, 2007); zu Peter von Stauffenberg und Johann Fischart (Hg.), Ernewerte Beschreibung der wolgedenckwirdigen Alten und warhafften wunderlichen Geschicht Vom Herren Petern von Stauffenberg, genant Diemringer aus der Ortenaw bey Rhein, Rittern: Was wunders ihme mit einer Meervein oder Meerfähe seye gegegnet. Darzu ein außführlicher Bericht und Vorred […] (Magdeburg, 1588; andere Ausgabe Straßburg, 1588). Man beachte die Diskussion in Euan Cameron, „Angels, Demons, and Everything in Between: Spiritual Beings in Early Modern Europe,“ in: Clare Copeland und Jan Machielsen, Hg., Angels of Light? Sanctity and the Discernment of Spirits in the Early Modern Period (Leiden, 2013), 1– 36, besonders 8 – 11. Luther veröffentlichte einen bekannten Reim zum Thema Agnus, mit einem ernsthaften und kritischen Kommentar in einem kleinen Pamphlet mit dem Titel Von dem geweihten Wasser und des Papsts Agnus Dei, veröffentlicht in WA 50,668 – 673.
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Substanzen. Es gab keine klare Grenze zwischen einer Exorzismusformel, um einen bösen Geist von einem Ort oder einer Person zu vertreiben, und dem volkstümlichen Reim, der zur Heilung einer spezifischen Krankheit intendiert war.¹² Am exotischsten waren wohl Physiker wie der notorische Theophrastus Paracelsus, der den Gebrauch eines Medaillons mit eingeritzten Symbolen, Zeichen und verschiedenen Alphabeten, die oft genug keine offensichtliche Bedeutung hatten, empfahl, um gegen Krankheit, Unvermögen und Unglück anzukämpfen.¹³ Letztlich für die Gründe dieses kurzen Überblicks erfreuten sich prämoderne Kulturen an einer Reihe an Methoden, um die Zukunft vorherzusagen. Hellseher behaupteten, den Ausgang von Reisen und Ehen vorhersagen zu können, besonders jedoch verlorene Dinge wiederzufinden und den möglichen Dieb identifizieren zu können. Hellseherei verband sich mit anderen Formen von kultischer Weisheit insofern, als dass ein Hellseher eine Krankheit, die durch eine Kombination von menschlicher und geistgewirkter Aktivität hervorgebracht wurde, diagnostizieren und dann eine traditionelle Art der Heilung empfehlen konnte. Oft nahmen Techniken der Hellseherei entweder die behauptete Transparenz mancher Dinge für sich in Anspruch (eine Schüssel voll Wasser, ein Kristall oder ein polierter Spiegel) oder aber die symbolische Reinheit und Klarheit, die mit Jungfräulichkeit assoziiert wurde (durch den Gebrauch eines Kindes als Seher, das gebeten wurde, in Wasser oder in einen Kristall zu sehen und dann zu berichten, was es dort gesehen hatte).¹⁴ Wie die heilende Zauberei, so arbeitete auch die Hellseherei parasitär in dem System der offiziellen und anerkannten Religion. Eine der offensichtlichsten Arten dies zu tun, war es, die Tage des kirchlichen Kalenders als Ausgangspunkte zu benutzen, künftiges Wetter und gutes Schicksal vorherzusagen. Dieser oder jener Tag eines Heiligen wäre gut für eine bestimmte Aktivität; oder das Wetter an einem anderen Tag eines Heiligen könnte das Wetter für die restliche Saison vorhersagen.¹⁵
Frühchristliche Kritiken Die Kritik an „abergläubischen“ Handlungen reicht zurück bis in die frühe christliche Antike, in eine Zeit, als das Christentum sein Existenzrecht gegen Glaubenssätze und Für eine Betrachtung der Elision zwischen Exorzismen und Zaubersprüchen siehe Felix Hemmerli, „Tractatus I de exorcismis,“ in Malleus Maleficarum, Hg. Henricus Institoris et al. (Frankfurt, 1588): 378 – 397; „Tractatus Secundus exorcismorum seu adiurationum,“ in ebd.: 397– 421. Zu Paracelsus’ Empfehlung von Amuletten siehe Theophrastus Bombast von Hohenheim [Paracelsus], Opera Omnia, 3 Bde. (Genf, 1658), 2:695 – 718. Zum Gebrauch von Kindern als Seher siehe Weyer, Witches, Devils, and Doctors, 378 – 380. Zu Hellseherei siehe Caspar Peucer, Commentarius de Praecipuis Divinationum Generibus: in quo a` prophetijs diuina autoritate traditis, et physicis praedictionibus, separantur diabolicae fraudes & superstitiosae obseruationes, & explicantur fontes ac causae physicarum praedictionum, diabolicae et superstitiosae confutatae damnantur (Wittenberg, 1553; erweiterte Auflagen 1560 und 1593); Weyer, Witches, Devils, and Doctors, 134– 150.
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-praktiken griechisch-römischer Religion und den Volksglauben des Reiches zu rechtfertigen hatte. Christliche Dämonologie wurde entwickelt, um die Götter und Halbgötter des paganen Umfeldes in die christliche Weltanschauung einzuordnen und um eindeutig zu argumentieren, dass die andauernde Anbetung dieser Wesen für einen Christusgläubigen nicht länger eine Option darstellte. Dennoch sollte man nicht von dieser Tatsache abgeleitet annehmen, dass die Themen des Volksglaubens im Mittelalter in irgendeiner bedeutungsvollen Weise „Überreste“ des antiken Heidentums repräsentierten. Die Argumente, die es in eine spätere Periode geschafft hatten, sind wohl in einer Stimmung von heidnischer Opposition und Abstoßung entstanden; dennoch war „Aberglaube“ im mittelalterlichen Kontext vornehmlich eine christliche Angelegenheit, die durchdrungen und gesättigt war von der Kultur der vorherrschenden Religion und ihrem System. Einer der ersten, wenngleich keinesfalls der einzig wichtige Autor, der sich mit diesen Themen auseinandersetzte, war Augustinus von Hippo. In seinem gigantischen Werk voller prochristlicher und antiheidnischer Polemik, Vom Gottesstaat, widmete Augustinus weite Teile seines zweiten und dritten Buches, um aufzuzeigen, dass die heidnischen Götter keine Geschöpfe der Imagination, sondern böse Geister waren, die sich den Menschen als Götter vorgestellt hatten.¹⁶ Die Legenden um das griechischrömische Pantheon lieferten Augustinus nützliche Munition, um die Götter als unmoralische, unkeusche Zerstörer der Menschheit darzustellen: Sie hätten sogar Legenden um falsche Taten verbreitet, die sie zwar getan haben könnten, jedoch nicht getan hatten, um den guten Ruf ihrer Gottesdienste voranzutreiben. Daraus resultierte die Einsicht, dass solche die moralischen Standards pervertierten und damit nicht moralisch neutral, sondern aktiv böse seien. Augustinus vom Neuplatonismus beeinflusste Metaphysik der Geister war weniger scharf abgegrenzt als die seiner mittelalterlichen Nachfolger. Er hielt es für möglich, dass Dämonen eine sexuelle Beziehung mit Menschen haben könnten, was die Frage nach der vollständigen Körperlosigkeit jener aufwarf.¹⁷ Trotz alledem gab Augustinus eine klare Leitlinie für die vor, die Zaubereiglaube und volkstümliche Weisheiten in den Jahrhunderten bis hin zu Luther untersuchen würden. Augustinus war eindeutig darin, dass Dämonen geschaffene Wesen waren, gefallene Engel, dämonische Geister, die kein göttliches Vorwissen besaßen oder die Macht, die Naturordnung zu untergraben. Als Konsequenz daraus ergab sich die Haltung, dass jegliches scheinbar wunderbare Geschehnis, das von Dämonen gewirkt worden war, kein wahres Wunder hatte gewesen sein können. Allerhöchstens hätten sie ihr höheres Verständnis der Potenzialitäten in der natürlichen Welt genutzt und damit ein überraschendes, jedoch in seiner Basis rein natürliches Geschehnis hervorgerufen. Wenn Dämonen für sich selbst in Anspruch nahmen, die Zukunft vor Für eine moderne Übersetzung siehe Augustinus, The City of God against the Pagans, hg. und übersetzt von R. W. Dyson (Cambridge, 1998). Augustinus, City of God, ii passim, besonders die Abschnitte ii. 10.14.17– 22.24– 25 in Dyson (Cambridge, 1998): 61.66 – 67.69 – 82.84– 88.
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herbestimmen zu können (wie beispielsweise durch ein Orakel, das womöglich die Zerstörung des Tempels der Serapis in Alexandria vorausgesagt haben soll), so benutzten sie dementsprechend ausschließlich ihren natürlichen Scharfsinn und manchmal ihre physische Schnelligkeit, um von bestimmten Dingen zu berichten, die gerade kurz davor waren sich abzuspielen, gegründet auf ihrer Fähigkeit, Dinge aus der Ferne zu beobachten.¹⁸ Diese beiden Argumente zu den „natürlichen“ Fähigkeiten von dämonischen Geistern wurden während der gesamten mittelalterlichen Analyse verschiedener Volksglauben wiederholt und erneut überdacht. Darüber hinaus stellte Augustinus – wenngleich eher in rhetorischer als in präziser Art – eines der Hauptargumente, das die rationalistische mittelalterliche Analyse über die Effekte von abergläubischen Praktiken unterstützte, heraus. Augustinus argumentierte, dass jeder Aberglaube auf „eine Art von verderblichem, gewissermaßen auf einer treulosen und verschlagenen Freundschaft beruhendem Übereinkommen zwischen Menschen und bösen Geistern“ beruhe.¹⁹ Der Gedanke, dass magische und abergläubische Aktivität auf einer Art Agreement, einer Art intentioneller Kollaboration zwischen Menschen und Geisterwesen basierte, sollte als eines der Hauptargumente gegen Zaubersprüche und Formeln im christlichen Mittelalter artikuliert und konstruiert werden. Was Augustinus wahrscheinlich als rhetorische Ausschmückung intendiert hatte, wurde von den Scholastikern zu einer hoch spezifischen und detaillierten Behauptung entwickelt: Manche Agreements wären in gegenseitiger Übereinstimmung intendiert und explizit gemacht; einige, vielleicht die meisten, wären implizit und damit aus Versehen. Fehlgeleitete und naive Menschen verrichteten Taten, die – wie sie dachten – moralisch neutral seien, jedoch in Wahrheit unwissentlich eine Anrufung böser Geister darstellte. So wichtig die Schriften des Augustinus zu diesem Thema auch waren, gab es in der Spätantike und im frühen Mittelalter ein großes Erbe an Schriften über diese Themen. Die Leben und Schriften von Heiligen und Bischöfen der Kirche boten ein überwältigendes Material mit Berichten über die Kämpfe gegen dämonische Kräfte. Sulpicius Severus beschrieb in seiner nicht lange nach dem 4. Jahrhundert und damit nach der Karriere des gallischen Bischofs erschienenen Biografie über Martin von Tours zahlreiche Begegnungen zwischen Martin und den Kräften des Pelagianismus, wo die Heiligkeit dieses heiligen Mannes über die dunklen Mächte triumphierte.²⁰ Bischöfe der Spätantike wie Caesarius von Arles und Martin von Braga sprachen sich in ihren Abhandlungen und Predigten gegen die verschiedenen Arten des Volks-
Augustinus, „De divinatione daemonum liber unus,“ in Patrologiae Cursus Completus. Series Latina, Hg. Jacques Paul Migne: 40:581– 591. Augustinus, De Doctrina Christiana, ed. and trans. R. P. H. Green, Oxford Early Christian Texts (Oxford/New York, 1995), ii. xxiii (36): „ex quadam pestifera societate hominum et daemonum, quasi pacta infidelis et dolosae amicitiae constituta.“ Sulpicius Severus, Vie de Saint Martin, Bd. 1: Introduction, Texte et Traduction, Hg. Jacques Fontaine Sources Chrétiennes 133 (Paris, 1967), besonders Kapitel xii – xiii; siehe zudem Clare Stancliffe, St. Martin and his Hagiographer: History and Miracle in Sulpicius Severus (Oxford/New York, 1983).
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glaubens aus (womit sie zufällig auch dieselben dokumentierten), die mittlerweile in großen Teilen der ländlichen Gebiete, weit weg von den lateinisch-christlichen Städten, Einzug gehalten hatten.²¹ Einer der überzeugendsten Beweise für die Heiligkeit eines pastoralen Bischofs oder eines asketischen Anführers war es, dass solche Menschen durch die Illusionen der Dämonen hindurchsehen konnten. Einige dieser hagiografischen Legenden blieben bis ins Ende des Mittelalters in der klerikalen Kultur erhalten. Eine Vielzahl an späteren Schreibern zitierten diese Geschichte, die eingebettet wurde in die Goldene Legende, nach der Germanus von Auxerre, der Bischof und Theologe des vierten Jahrhunderts, die Erscheinung mancher Dämonen, die auf einem nächtlichen Fest in einem Dorf in der Gestalt einiger Dorfnachbarn auftraten, durchschaute.²² Gleichermaßen erzählte Palladius in der Historia Lausiaca die Geschichte einer jungen Frau, die dem heiligen Macarius von Ägypten vorgeführt wurde, nachdem sie offensichtlich durch Zauberkünste in ein Pferd verwandelt wurde. Der Heilige konnte diese Illusion der Dämonen durchschauen, musste jedoch die anderen davon überzeugen, dass die junge Frau noch immer komplett menschlich war.²³ Martin Luther fand diese Idee, dass die Macht der Dämonen vornehmlich darin bestünden, Illusionen hervorzubringen, die die Menschen abirren lassen sollten, unwiderstehlich attraktiv. Er zitierte die Geschichte des Macarius von Ägypten und der jungen Frau mehrere Male, wobei er jedoch unerklärlicherweise berichtete, die junge Frau wäre in eine Kuh anstatt eines Pferdes verwandelt worden.²⁴ Ein endgültiges schriftstellerisches Genre, in der die Beweise für abergläubische Glaubenssätze zusammengetragen wurden, war eine frühe Sammlung von Texten, die das Korpus des kanonischen Rechtes werden sollte. Neben Augustinus (von dem einige seiner Dicta im Korpus enden würden) leisteten die enzyklopädischen Schriften Isidors von Sevilla einen Beitrag zum Erbe, besonders im Gebiet der Hellseherei. Regino von Prüm, Burchard von Worms und Ivo von Chartres spielten eine Rolle bei William E. Klingshirn, Caesarius of Arles:The Making of a Christian Community in Late Antique Gaul, Cambridge Studies in Medieval Life and Thought 4/22 (Cambridge, 1994), Kapitel 7– 8 und besonders 210 – 226; Martin von Braga, Martin von Bracaras Schrift De Correctione Rusticorum, zum ersten Male vollständig und in verbessertem Text herausgegeben, Hg. Carl Paul Caspari (Christiania, 1883). Zu diesen Texten siehe außerdem Dieter Harmening, Superstitio: Überlieferungs- und theoriegeschichtliche Untersuchungen zur kirchlich-theologischen Aberglaubensliteratur des Mittelalters (Berlin, 1979). Jacobus de Voragine, The Golden Legend; or, Lives of the saints, übers. v. William Caxton, 7 Bde. (London, 1900), 3:205 – 206; Siehe Bernadette Filotas, Pagan Survivals, Superstitions and Popular Cultures in Early Medieval Pastoral Literature (Toronto, 2005), 63. Palladius of Aspuna, The Lausiac History, übers. v. John Wortley (Athens, OH/Collegeville, MN, 2015), Kapitel 17.6. Die Geschichte ist auch bezeugt in Rufinus, „Vitae Patrum,“ Kapitel 28, in Patrologiae Cursus Completus. Series Latina, Hg. Jacques Paul Migne: 21:451. William Harmless, Desert Christians: an Introduction to the Literature of Early Monasticism (Oxford/New York, 2004), 297, erwähnt, dass zwei variierende Versionen der Geschichte vorhanden seien, wobei in der einen die Transformation nur eine Illusion war, in der anderen die Transformation jedoch real passiert war. Martin Luther, Luther’s Works: American Edition, Hg. J.J. Pelikan, H.C. Oswald und H.T. Lehmann, 55 Bde. (Philadelphia/St. Louis 1955 – 1986), 24:75, Notiz 46; siehe auch Bd. 26, wo Luther Galater 3,2 auslegt.
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der Sammlung der Texte, die die Antwort der Kirche auf Aberglaube beeinflusste: Viele ihrer Schriften fanden ihren Weg in Gratians Decretum in der Mitte des 12. Jahrhunderts. Kanonisches Recht leistete einen Beitrag zu dem Gesammelten vorwiegend durch die Klassifizierung und Organisierung der Phänomene, besonders verschiedene Arten von sortilegium (was ursprünglich das Zusammensammeln von einzelnen Stücken beschrieb, letztlich aber die Wurzel des Wortes „sorcery“ wurde) und verschiedene Typen verbotener Zukunftsvorhersagen. In einem Gebiet formte das kanonische Recht den Glauben und die rechtliche Praxis für Jahrhunderte. Das Korpus beinhaltete ein irrtümlicherweise dem Konzil von Ankara zugeordnetes Dekret aus dem Jahre 314, das Bischöfe dazu anwies Frauen von dem Glauben abzubringen, sie könnten in der Begleitung von heidnischen Göttinnen Reisen außerhalb ihres physischen Körpers erleben. Es insistierte, dass solche Dinge nur in der eigenen Vorstellungskraft möglich wären. Angemessene Bestrafung sollte angewandt werden.²⁵ Erst in der Mitte des 15. Jahrhunderts wurde die Autorität dieses Kanons angegriffen, und zwar von solchen, die behaupteten, Hexen könnten tatsächlich fliegen.
Die scholastische Analyse des Aberglaubens Die Erwägung des kanonischen Rechts bringt uns zum Beginn der scholastischen Analyse von Religion und Aberglaube, wie sie sich ab dem 12. Jahrhundert entwickelte und immer noch am Vorabend der Reformation verbreitet diskutiert wurde. Die scholastische Theologie entlehnte ihre Form und viele ihrer Debatten aus der ersten, großen systematischen Abhandlung ihrer Zeit, Petrus Lombardus’ Libri sententiarum. Die Sentenzen boten eher eine Art Gesprächsleitfaden und eine Reihe von vorgeschlagenen Annäherungen an das Thema als ein vollständig ausgearbeitetes theologisches Programm. In diesem Aspekt liegt seine Genialität: Die Arbeit konnte interpretiert, kommentiert, debattiert und in viele Richtungen gedrängt werden. Daher ist es nicht verwunderlich, dass beinahe jeder große Theologe des Spätmittelalters einen Kommentar dazu schrieb und jeder Theologiestudent dieser Zeit sich intensiv mit jenem beschäftigte. Der Titel des Buches definierte die verschiedenen Rollen in der mittelalterlichen theologischen Ausbildungsstätte: ein Sententiarius war ein Examinierter des zweiten theologischen Grades in der theologischen Fakultät und durfte als Mitglied derselben die Sentenzen unterrichten.²⁶ Die Struktur des Werkes von Lombardus limitierte den Einfluss auf die Frage nach Aberglaube auf ein einziges großes Feld und auf einen äußerst wichtigen, jedoch auch
Gratian, Decretum, in Corpus Juris Canonici, Hg. Aemilius Ludouicus Richter und Aemilius Friedberg (Graz, 1959), 1:1030 – 1031. Siehe John Marenbon, Later Medieval Philosophy (1150 – 1350): An Introduction (London, 1987; 1991), 22. Der Text der Sentenzen ist erschienen in Petrus Lombardus, Sententiarum libri quatuor, per Joannem Aleaume […] pristino suo nitori vere restituti, 4 Bde. (Paris, 1853) und in elektronischer Form in der Reihe CLCLT–2: CETEDOC library of Christian Latin texts (Turnhout, 1994).
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sehr kleinen Abschnitt seines Buches. Zuerst diskutierte er in seinem zweiten Buch die Herkunft und das Wesen von Engeln auf eine Art und Weise, die die detaillierte und ausgearbeitete mittelalterliche Angelologie vorausschattete. Er drückte das aus, was zur standardisierten Perspektive auf dieses Thema wurde: Dämonische Geister waren gefallene Engel, die gut geschaffen worden waren, aber durch Auflehnung gegen Gott in Form von Stolz in der frühen Anfangszeit der Schöpfung gefallen waren. Böse Geister waren nach ihrem Fall unwiederbringlich und unheilbar dazu geneigt Böses zu tun und Unheil anzurichten. In einem kurzen Kapitel der Distinktion VII insistierte Lombardus, dass die Zauberkunst ihre Effizienz von der Macht und dem Wissen der Dämonen ableitete: Ihre Mächte wären ihnen von Gott gegeben, die Schlechten zu verführen und die Guten zu warnen und zu testen.²⁷ In einem anderen, recht vernachlässigten Abschnitt des vierten Buches der Sentenzen diskutierte Lombardus das Sakrament der Ehe. Hier hob er auf das Problem derer ab, die durch Zauberei behindert waren und dadurch keinen Geschlechtsverkehr haben konnten.²⁸ Der Kontext dieser Ausführung war es, sich Gedanken zu machen über verschiedene Arten von Behinderungen, die die Ehe nichtig machen würden: Doch hatte Lombardus dadurch unwissentlich Raum für allerlei Diskussion zum Thema der Zauberei eröffnet und über legitime Mittel diese abzulehnen und ihr zu widerstehen. Thomas von Aquin erforschte einige dieser Themen in einer Reihe von größeren und kleineren Schriften. Er war offensichtlich fasziniert von Angelologie und von der Theorie, wenngleich nicht allzu sehr von den damit verbundenen praktischen Details, der Magie und des Aberglaubens.²⁹ Neben seiner Summa Theologica und Summa contra Gentiles, in denen Thomas Engel und Dämonen nur im Zuge einer größeren systematischen Ausarbeitung besprach, schrieb Thomas von Aquin zwei weitere kleine Abhandlungen, die Quaestio disputata de spiritualibus creaturis (Disputierte Fragen zu kreatürlichen Geistern) und die Quaestiones disputatae de malo (Disputierte Fragen zum Bösen) gegen Ende seines Lebens, in welchen er sich speziell dieser Probleme annahm.³⁰ Macht man sich bewusst, dass die große Mehrheit derjenigen, die sich im Spätmittelalter mit der Fragestellung des Aberglaubens beschäftigten, Dominikaner waren, ist es nicht überraschend, dass dem Dominikaner Thomas ein hoher Einfluss auf die Literatur als Ganzes zukam. Thomas ersehnte seine Disziplin zu stabilisieren, indem er die Konvergenz von Vernunft – so sie denn auf rechte Weise und in ihrem Raum benutzt würde – und Offenbarung durch die Begründung seiner Prinzipien der Theologie darstellte. Im
Lombardus, Sentenzen, Buch II, Distinktion VII, Kapitel 6 (manchmal auch als Kapitel 38 aufgeführt). Lombardus, Sentenzen, Buch IV, Distinktion XXXIV, Kapitel 3 (manchmal auch als Kapitel 200 aufgeführt). Thomas von Aquin, Opera Omnia, online http://www.corpusthomisticum.org/iopera.html = Corpus Thomisticum, Hg. Enrique Alarco´n (Pampilonae, 2000 – 2009). Zugängliche Texte dieser beiden kleineren Werke sind abrufbar unter http://www.corpusthomisti cum.org/qds.html und http://www.corpusthomisticum.org/qdm01.html (21.04. 2017).
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Falle der Engel hieß dies, mit immer wachsender Präzision ihre Attribute, Fähigkeiten und Begrenzungen zu bestimmen. Engel waren alle Kreaturen Gottes, ohne Leib, physisch stabil und unsterblich. Dennoch war ihr kreatürlicher Stand mit manchen Limitationen verbunden. Sie konnten nicht wahrhaftig die Zukunft vorhersagen, noch die tiefsten Geheimnisse des menschlichen Herzens ergründen. Sie konnten keine wahren Wunder tun: All diese meisterlichen Großtaten konnten nur von Gott getan werden. Dennoch hatten Engel – und das galt vor allem für gefallene Engel – die Macht Illusionen zu generieren, entweder indem sie Materie manipulierten und umherbewegten (sodass etwas wahrhaftig für die menschlichen Sinne so aussah, was nicht war, wie es schien) oder indem sie die Sinne der menschlichen Wahrnehmung manipulierten (sodass der Mensch etwas wahrgenommen hat, das nicht wahrhaft da war).³¹ In seinem Werk Summa contra Gentiles fügte Thomas von Aquin ein interessantes Gegenargument in Bezug auf Formeln und Talismane, die in der Zauberei gebraucht wurden, hinzu. Er argumentierte, dass die Riten, die in magischen Praktiken vollzogen wurden, ein Ansprechen an ein intelligentes Wesen darstellen mussten. Da magische Riten oft benutzt wurden, um sündige oder unzüchtige Dinge hervorzurufen, und da sie irrationale, illusionäre und trügerische Behauptungen beinhalteten, konnten sie keine Anreden oder Anfragen an gute Geister, das heißt gesegnete Engel sein. Daher mussten sie Anfragen an Geister darstellen, die durch Ungehorsam aus der Gnade Gottes gefallen sein mussten. Von der Existenz magischer Sprüche leitete Thomas den Fall der Engel ab.³² Im zweiten Teil des zweiten Buches der Summa Theologica behandelte Thomas von Aquin die Themen der Religion und ihre Gegenteile, Unglaube und Aberglaube. In einem Satz, der später zu einer klassischen Formulierung in Bezug auf den Aberglauben werden sollte, definierte er denselben als „Religion, fehlerhaft durch Exzess“, in dem Sinne, dass Anbetung einem unangemessenen Objekt oder durch ein Spektrum an rechtswidrigen Praktiken entboten wurde. Thomas unterteilte „Aberglaube“ in drei Kategorien: Götzendienst, Hellseherei, und was er als „abergläubische Observanzen“ beschrieb. Das letzte definierte Thomas als Rituale und Zeichen, die keine vernünftigen Zusammenhänge mit dem beobachteten Objekt haben. Daher waren sie „supervacua signa“, Zeichen, die in sich selbst nichts bezeichneten.³³ Thomas’ Behandlung dieses potentiell exotischen Themas – wenngleich es in seiner Metaphysik recht definiert war – erschien äußerst willkürlich und mangelhaft in der Hinsicht, dass echte Beispiele und beobachtete Praktiken fehlten. Eine Ausnahme, die sich als enorm einflussreich herausstellen sollte, beschrieb das Gebiet der Amulette.³⁴ Amulette – physische Objekte, die am Körper getragen oder mitgenommen wurden, um den Träger vor Unglück zu schützen oder um spirituellen Schutz zu erhalten – stellten eine Art Problem für Theologen dar. Auf der einen Seite waren viele Amulette in alltägli
Thomas von Aquin, Summa Theologica, Ia q. 50, a. 57. Thomas von Aquin, Summa Contra Gentiles, 3: 105 – 9. Thomas von Aquin, Summa Theologica, IIa–IIae q. 96 a. 1. Thomas von Aquin, ebd., IIa –IIae q. 96 a. 4.
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chem und regelmäßigem Gebrauch, was ihnen entweder stillschweigende Zustimmung gewährte oder aber explizite Unterstützung von Seiten der Kirche. Die Wachsfigur Agnus Dei wurde ausdrücklich von den höchsten, kirchlichen Autoritäten vermarktet. Dem ersten Kapitel des Evangeliums nach Johannes wurde landläufig eine sehr hohe schützende Macht zugeschrieben, allein aus dem Grund seiner wirkmächtigen und gewaltigen Verkündigung der Inkarnation.³⁵ Auf der anderen Seite stellten Amulette eine gelegene Möglichkeit für diejenigen dar, die es sich zum Ziel gemacht hatten, trügerische oder „gefährliche“ Sprüche und Formeln zu erzeugen, oder für die, die es wünschten, Formen und Muster hervorzubringen, die – wie sie behaupteten – magische Kraft besaßen, jedoch ohne eindeutige Aussage waren. Solche „supervacua signa“ erweckten in theologischen Kreisen stets die Angst, Derartiges könnte ein Zeichen für Dämonen sein. Thomas zufolge waren Amulette prinzipiell akzeptabel, doch nur insofern, als dass sie keine unbekannten Zeichen oder Namen, keine Unwahrheiten und keine bedeutungslosen Symbole, sondern ausschließlich die autorisierten Gebete und Symbole der Kirche tragen durften. Diese Passage sollte nicht nur regelmäßig in fallspezifischeren Abhandlungen in Sachen Aberglaube rezitiert werden; sie sollte in manchen Fällen als generelle Schablone für den Umgang und die Regulierung aller potentiell abergläubischer Aktivitäten fungieren.³⁶
Spätmittelalterliche pastorale Applikationen Ab ungefähr 1350 begann immer mehr und immer spezialisiertes Gedankengut in Form von Abhandlungen zum Thema „Aberglaube“ veröffentlicht zu werden – oft genau mit diesem Titel (tractatus de superstitionibus). Diese applizierten die scholastischen Analysen auf reale Verhältnisse, zumindest wurde von den Autoren behauptet, solche Begebenheiten entdeckt zu haben. Die Ausarbeitungen zum Aberglauben gehörten einer Vielzahl an Genres an. Manchmal wurden volkstypische Glaubenssätze und -praktiken als ein Teil einer katechetischen Auslegung der Zehn Gebote erforscht, wie z. B. in den Werken von Nikolaus von Dinkelsbühl, dem anonymen Autor der mittelenglischen Flugschrift Dives and Pauper und Martin Luther.³⁷ Wie die Luthers wurden manche dieser pastoralen Ausarbeitungen in Form von zir-
See for instance Silvestro Mazzolini Prierias, De Strigimagarum Demonumque Mirandis Libri iii (Rom, 1521), fol. ff iir. Johannes Nider, Preceptorium Divine Legis (Basel, ca. 1470), prec. 1, Kapitel 11, Abschnitt 26; Martín von Arles und Andosilla, Tractatus insignis et exquisitissimus de superstitionibus, Abschnitt 40. Nikolaus von Dinkelsbühls Werke sind herausgegeben worden von Karin Baumann, Aberglaube für Laien: zur Programmatik und Überlieferung spätmittelalterlicher Superstitionenkritik, 2 Bde. (Würzburg, 1989); Dives and Pauper, Hg. Priscilla Heath Barnum, 3 Bde., Early English Text Society 275, 280, 323 (London, 1976 – 2004); Martin Luther, Decem Praecepta wittenbergensi predicata populo. Per P. Martinum Luther Augustinianum (Wittenberg, 1518).
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kulierenden Predigten für eine breitere Öffentlichkeit zugänglich gemacht.³⁸ Einige dieser Texte warteten mit einer recht anschaulichen, enzyklopädischen Zusammenfassung verschiedener Formen von Aberglaube und Zauberei auf, die verknüpft waren mit pastoralen Appellen diese zu meiden, wie es in den Schriften der beinahe zeitgleich wirkendenden spanischen Geistlichen Martín de Arles y Andosilla, Martín de Castanega und Pedro Ciruelo bezeugt ist.³⁹ Manche umfassten recht kurze „Gewissensfälle“, worunter verstanden wurde, dass ein Theologe eine sehr spezifische, dubiose Praktik beschrieb und seine Meinung dazu äußerte, wie es manchmal mit überlegter Scharfsinnigkeit zum Beispiel in Texten Henriks von Gorcum und Jean Gersons aus dem 15. Jahrhundert der Fall ist. Manch andere, so beispielsweise das zusammengewürfelte und anekdotische Kompositum des schwatzhaften Dominikanermönchs Johannes Nider mit dem Titel Formicarius, entziehen sich jeglicher Kategorisierung.⁴⁰ Nichtsdestotrotz teilten all diese Ausarbeitungen eine gemeinsame, in der Analyse der Scholastik – wovon sie auch genommen war – gegründete Basis. Auch variierten sie voneinander in gewissen Schlüsselaspekten. Das üblichste und bekannteste gemeinsame Argument, das in diesen Werken gefunden wurde, beschäftigte sich mit der Art, wie Formeln und abergläubische Zaubersprüche funktionieren sollten. Zuerst insistierten Theologen, dass Sprüche und Formeln, die in abergläubischen Praktiken gebraucht wurden, nicht allein durch natürliche Mittel die ihnen zugeschriebenen Resultate bewirken könnten. Wie einige herausstellten, seien Formeln nur Tinte auf Pergament oder Papier, gesprochene Worte nur vibrierende Luft: Es gab also keine rationalen Gründe, warum solche Materialien heilen oder Leid zufügen könnten, mit Sicherheit jedoch nicht, wenn Tinte in einer bestimmten Form und nicht in einer anderen auf das Papier gebracht wurde.⁴¹ Dieses Argument erscheint uns als selbsterklärend: Dennoch vertraten Mediziner und andere Schriftsteller dieser Zeit nicht unbedingt einen solch rigiden Rationalismus. Es wurde in manchen Ecken argumentiert, dass die Umrisse und Muster, die in Amuletten benutzt, oder die Worte, die in Formeln gebraucht wurden, womöglich im Zusammenspiel mit natürlichen kosmischen Kräften stehen und daher Auswirkungen auf die reale Welt haben könnten. Pastorale Theologen widersetzten sich jedoch dieser Denkweise.
Johannes Geiler von Kaysersberg, Die Emeis, dis ist das büch von der Omeissen (Strasbourg, 1517). Martín von Arles und Andosilla, Tractatus insignis et exquisitissimus de superstitionibus; Marti´n de Castañega, Tratado de las supersticiones y hechizerias y de la possibilidad y remedio dellas, 1529 (Madrid, 1946); Pedro Ciruelo, Reprouacion delas supersticiones y hechizerias: Libro muy utile y necessario a todos los buenos christianos, etc. (Salamanca, 1539). Heinrich von Gorkum, Tractatus de supersticiosis quibusdam casibus (Esslingen, 1473); eine frühe moderne Ausgabe des Formicarius findet sich in Johannes Nider, De visionibus ac revelationibus: opus rarissimum historiis Germaniæ refertissimum, anno 1517, Argentinæ editum (Helmstedt, 1692). Martin Plantsch, Opusculum de sagis maleficis (Pforzheim, 1507) fol. b viv–viiv; Pedro Ciruelo’s A treatise reproving all superstitions and forms of witchcraft: very necessary and useful for all good Christians zealous for their salvation, übers. v. E. A. Maio und D. W. Pearson (Rutherford, NJ, 1977), 205.
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Als Konsequenz dessen entwickelte die große Mehrheit der Theologen, die sich mit dem Thema des Aberglaubens auseinandersetzten, mit mancher Gelehrsamkeit die bereits von Augustinus und Thomas von Aquin angeführten Argumente weiter. Sie argumentierten, dass jemand, der einen Zauberspruch oder eine Formel benutzte, „wusste, oder wissen sollte“, dass solche Formeln per se ineffektiv waren.⁴² Daher konnte die einzige Funktion einer solchen Zauberformel darin bestehen, eine Botschaft an ein anderes intelligentes Wesen zu übermitteln. Doch gab es nur zwei Kategorien von intelligenten Kreaturen: Menschen und engelhafte Geister. Da Zauberformeln gewöhnlich mit physischem Verlangen und Wünschen verbunden waren, was nicht das Aufgabenfeld guter Engel tangierte, konnten durch das Ausschlussverfahren nur böse Engel oder Dämonen angesprochen werden. Indem sie einen Zauberspruch von sich gab, erbat die abergläubische Person implizit und stillschweigend dämonische Kräfte, für sie zu intervenieren. Solch ein Verhalten wurde als „implizierter Pakt“ angesehen, der – wenngleich nicht in gleicher Weise verurteilungswürdig wie der explizite Pakt eines sich mit Dämonen verbindenden faustischen Zauberers oder einer solchen Hexe – trotzdem eine ernsthafte religiöse Straftat darstellte. Dabei war es weder ein Unterschied, ob der „Zaubernde“ einen rein wohltätigen Zweck für sich selbst oder für andere erzielen wollte, noch, ob eine explizite Involvierung eines bösen Geistes intendiert war oder nicht. Durch das reine Faktum, eine Zauberformel zu benutzen, involvierte und rief man Dämonen an. Die Dämonen würden dann oft in der Form antworten, dass sie den Zauberspruch als effektiv erscheinen ließen, mit der Intention, die abergläubische Person tiefer und tiefer in die dämonische Magie hineinzuziehen. Wie der nachreformatorische, katholische Autor Friedrich Förner, Weihbischof von Bamberg, in einer 1626 veröffentlichten Predigt anmerkte, war Aberglaube das „Erlernen des ersten Alphabets in ‚Dämonolatrie‘ [Verehrung von Dämonen]“: Menschen, die eine diabolische Technik erlernen und akzeptieren, werden dann zu etwas Tieferem fortschreiten; Aberglaube ist des „Teufels Noviziat“.⁴³ Es war – wie man vermuten würde – extrem schwierig, einfache Menschen davon zu überzeugen, dass ihre schützenden Formeln und heilenden Zaubersprüche, die dazu intendiert waren, gute Auswirkungen herbeizubringen, in irgendeiner Form Teil der dunklen Mächte waren. Das Problem wurde noch schwieriger durch die Tatsache, dass mittelalterliche Zauberei ständig viele Formen von Worten, Elementen und Materialien inkludierten, die von traditionell religiösen Praktiken entlehnt worden waren. Hätte man die spätmittelalterliche religiöse Kultur mit den Augen eines Soziologen betrachtet, hätte man aller Wahrscheinlichkeit nach ein nahtloses Spektrum religiöser Praktiken beobachtet: von gänzlich orthodoxen Ritualen über das, was als
Jacobus van Hoogstraten (ca. 1460 – 1527), Tractus magistralis declarans quam graviter peccent querentes auxilium a maleficis; Contra petentes remedia a maleficis (Köln, 1510), Kapitel 1. Friedrich Förner, Panoplia armaturae Dei, adversus omnem superstitionum, divinationum, excantationum, demonolatriam, et universas magorum, veneficorum, et sagarum, et ipsiusmet Sathanae insidias, praestigias et infestationes (Ingolstadt, 1626), 62.
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„folklorisierte“ Rituale⁴⁴ bezeichnet wurde, und lokalen Varianten an Anbetungspraktiken, bis hin zu exotischen und inoffiziellen Formen des Exorzismus und offensichtlich magischen Sprüchen, die begehrten, die Namen Gottes (oft abgeleitet von kaum verstandenen hebräischen Worten) für die Manipulation kosmischer Kräfte zu benutzen. Wie vor Jahren Eamon Duffy beobachtete, findet man in ansonsten orthodoxen Stunden- und Primärbüchern Zauberformeln eingetragen.⁴⁵ Pastorale Theologen zeigten sich dieser Herausforderung bewusst. Menschen würden fragen – wie sie berichteten – „wie könnte etwas, das das Vaterunser und das Ave Maria oder das Zeichen das Kreuzes beinhaltet, schändlich sein?“ Die nüchterne, doch rationale Antwort der Theologen war es, zu sagen, dass solcher Missbrauch heiliger Worte oder Gegenstände lediglich dem Verbrechen des Aberglaubens noch die Schandtat der Entweihung hinzufügte. Solche parareligiösen Riten konnten als „Sakramente des Teufels“, falsche Hingaben oder „Verfluchung“ gesehen werden.⁴⁶ Die pastorale Theologie schien in vielerlei Hinsicht entschieden zu sein zu versuchen, die weniger Gebildeten davon zu überzeugen, dass die Dinge, die sie für möglich erachteten, im Vermögensbereich der Magie tatsächlich gar nicht möglich waren oder nur durch Illusion und Täuschung so erschienen. Zwei Beispiele werden dieses Phänomen illustrieren. Erstens wurde im Volksglauben und in der poetischen Vorstellungskraft der klassischen Literatur viel aus der Möglichkeit des Menschen gemacht, in Tiere oder andere Wesen verwandelt zu werden. Die Theologie insistierte kategorisch, dass es eines göttlichen Wunders bedarf und nicht eines niedrigeren Geistes, um ein Objekt in ein anderes zu verwandeln. Daher erschienen alle scheinbaren Verwandlungen – von Frauen in Katzen oder Pferde oder von Männern in Wölfe oder Schweine – nur als Illusionen, die die Sinne der Verwandelten und die der beobachtenden Menschen, die der scheinbaren Verwandlung beiwohnten, verwischten. In der europäischen Vorstellungskraft jener Zeit waren die Geschichten von zoomorphen Verwandlungen überreich und allgegenwärtig. Dieses Argument trieb Theologen soweit, dass sie nicht nur landestypische Märchen aus Vernunftgründen wegargumentierten, sondern auch klassische Fabeln wie Ovids Metamorphosen. Wie vielleicht manchen überraschen wird, wurde dieses Repertoire an klassischen Legenden anscheinend nicht etwa wie dekorative Fiktion, sondern vielmehr, als ob sie tatsächlich, wirklich geschehen seien, behandelt. Zweitens wurden alle literarischen und ausgedachten Referenzen auf romantische und sexuelle Liaisons zwischen Menschen und Geistern – mit der damit verbundenen Eifersucht und Habsucht auf beiden Seiten – energisch neu uminterpretiert. Dämonen, als inkorporale Wesen, könnten keine leiblichen Leidenschaften wie Lust oder Eifersucht empfinden. Die einzigen möglichen Emotionen waren Stolz und Bosheit. Siehe beispielsweise R. W. Scribner, Popular Culture and Popular Movements in Reformation Germany (London, 1987), 17– 18. Eamon Duffy, The Stripping of the Altars: Traditional Religion in England, ca. 1400 – ca. 1580 (New Haven, CT/London, 1992; 22005) Kapitel 8, 266 – 300. Plantsch, Opusculum de sagis maleficis, fol. b viiv – c ir; Weyer, Witches, Devils, and Doctors, 98 – 99.
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Dazu kam, dass die unendliche Menge an volkstümlicher Weisheit über dämonischmenschliche Hybridwesen, über Kinder, die aus diesen Begegnungen hervorkamen, falsch war. Wie Thomas von Aquin argumentierte und dem beinahe jeder andere folgte, war der einzige Weg, durch den dämonischer Sex fruchtbar sein könnte, wenn der gleiche Dämon in weiblicher Gestalt dem männlichen begegnen würde, dann die Samen des männlichen Dämons stehlen würde und dann dem Dämon wieder in weiblicher Form erscheinen würde, der sie dann mit dem Diebesgut befruchten würde. Unter diesen Umständen wäre das daraus entstandene Kind vollkommen menschlich, auch wenn es auf diesem widernatürlichen Weg zustande gebracht worden wäre.⁴⁷ Dieses Argument, das mit der Öffentlichkeit beispielsweise in Predigten Johann Geilers von Kaysersberg in Straßburg geteilt wurde, zog zwingend die Schlussfolgerung nach sich, dass einer der großen europäischen Weisheitserzählungen über das „wechselnde Kind“, das durch dämonische Intervention in menschlicher Sexualität gezeugt wurde – wie man annahm –, entweder ein Mythos oder eine komplette Illusion war. Dies hinderte jedoch viele religiöse Schreiber wie William von Auvergne bis hin zu Martin Luther nicht, dieses Phänomen zu beschreiben.⁴⁸ An letzter Stelle zu nennen ist die historische Tatsache, dass theologische Schreiber viel Zeit und Energie in einen recht erfolglosen Versuch steckten, die einfachen Menschen davon zu überzeugen keine Gegen-Zauberei zu benutzen, um feindselige Zauberei abzuweisen oder zu beseitigen. Es war – zumindest berichten uns dies die noch verfügbaren Zeugnisse – recht verbreitet, dass Menschen die Schuld an dem ihnen widerfahrenen Unglück, besonders scheinbar abnormale Krankheiten der Kinder, Milchlosigkeit von Kühen, unerwartete Stürme, die die Ernte zerstörten oder sogar die Impotenz der Männer, feindseligen Zauberpraktiken zurechneten. Volksheiler diagnostizierten Probleme als von „schlechter“ Magie verursacht und boten „gute“ Magie an, um damit die Konsequenzen zu beseitigen. Manche der detailliertesten Schriften von dominikanischen Theologen befassten sich mit dieser Frage. Zum Beispiel hatte die Ausarbeitung mit dem Titel „Wie schwer diese Menschen sündigen, die Hilfe bei Zauberern suchen“, die 1510 vom Kölner Theologen Jacob van Hoogstraten (ca. 1460 – 1527) veröffentlicht wurde, das Ziel, die Leute zu überzeugen, keine GegenZauberei zu gebrauchen.⁴⁹ Stattdessen, wie beispielsweise Silvestro Mazzolini von Priero argumentierte, sollten Menschen die komplett zugänglichen Ressourcen und Thomas von Aquin, Summa Theologica, Iª q. 51 a. 3 ad 6. Für eine detaillierte Diskussion dieses Themas siehe Walter Stephens, Demon lovers: witchcraft, sex, and the crisis of belief (Chicago, 2002), 61 ff. Geiler von Kaysersberg, Die Emeis, sermon 34; William of Auvergne, De Universo, Teil 2, Abschnitt 3, Kapitel 25, in Guilelmi Alverni […] Opera Omnia, 2 Bde. (Aureliae/London, 1674), 1:1072– 1073; zu einer detaillierten Geschichte über solche Kinder mit der Betonung des Aspekts der literarischen und theologischen Übertragung siehe C. F. Goodey and Tim Stainton, „Intellectual Disability and the Myth of the Changeling Myth,“ Journal of the History of the Behavioral Sciences 37/3 (2001): 223 – 240; Luther, Decem Praecepta, fol. c ir. Jacobus van Hoogstraten, Tractus magistralis declarans quam graviter peccent querentes auxilium a maleficis; Contra petentes remedia a maleficis (Köln, 1510).
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Techniken der Kirche nutzen. Manche Prediger und pastoralen Schreiber listeten diese Techniken peinlich genau auf. Martin Plantschs Liste, umfassende Buße, Exorzismus, Weihwasser, Salz, Kerzen, Palmwedel, Kräuter und Reliquien oder andere heilige Dinge, die mit den Heiligen assoziiert wurden, wurde beinahe wortwörtlich von Geiler von Kaysersberg in seinen zirkulierenden Predigten zu Straßburg kopiert.⁵⁰ Nichtsdestotrotz konnten diese unverbesserlich rationalen Spätscholastiker nicht darauf verzichten, die Menschen davor zu warnen, dass die Auswirkungen dieser kirchlichen Gegenmittel nicht garantiert werden könnten und dass diejenigen, die sich derselben bedienten, es erwarten sollten, dass der Ausgang allein der Gnade Gottes unterworfen sei – der allerlei gute Gründe haben könnte, ansonsten guten Menschen Unglück oder andere Plagen widerfahren zu lassen.⁵¹
Instabilitäten in der scholastischen Antwort Bedenkt man die scholastische Eigenart, so gut wie alles zu diskutieren, disputieren und zu hinterfragen, ist es nicht weiter überraschend, dass die pastorale Antwort auf den Aberglauben bedingt durch die Techniken einer erlernten, spekulativen Theologie viele Differenzen und Uneinigkeiten mit sich bringen würde. Nicht alle diese Uneinigkeiten sind von gleicher Wichtigkeit: Die Theologen stritten darüber, ob göttliche Macht tatsächlich in den sakramentalen Worten verortet war, oder aber über die Frage der genauen Limitationen der göttlichen Vorsehung und „Erlaubnisse“, die dadurch den Dämonen zuteilwurden. Der kumulative Effekt der Diversitäten in den erlernten Antworten machte die Botschaft der Kirche gegenüber dem Aberglauben unnötig verschwommen und ungewiss, was dazu beitrug, die ohnehin schon sehr geringen Aussichten auf eine erfolgreiche Veränderung im Leben des einzelnen Menschen noch zu schmälern. Sehr öffentliche Diskussionen brachen aus über dem zuletzt diskutierten Thema, nämlich der Frage, wo die Grenze zu ziehen sei zwischen „Gegenmitteln“, die von der Kirche erlaubt waren, und solchen, die es nicht waren. Gewisse franziskanische Theologen, unter anderem Duns Scotus und Petrus Aureolus, wurden verdächtigt, den Menschen die Erlaubnis zu geben, Methoden anzuwenden, die als nicht weit von der verbotenen Gegen-Zauberei beschrieben werden konnten. Die Empfehlung von Duns Scotus, man solle, wenn man ein magisches Objekt gefunden hatte, das Impotenz erzeugen konnte – vielleicht in der Form einer gebogenen Nadel, die im Bett versteckt war –, dasselbe dem Gesetz gemäß zerstören, fand generelle Akzeptanz. Petrus Aureolus begab sich schon in gefährlichere Gebiete, als er angeblich vorschlug, dass man die Bereitschaft eines Zauberers, zu seinem eigenen Wohle Gegen-Zauberei anzuwenden, durchaus nutzen dürfe, solange der Zauberer ohnehin
Plantsch, Opusculum de sagis maleficis, fol. f ir – g iiiv; Geiler von Kaysersberg, Die Emeis, sermones 30 – 32. Plantsch, Opusculum de sagis maleficis, fol. c vv – e iiiiv.
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willentlich Zauberei benutzt hätte und er dadurch keine weitere Sünde verüben würde, indem er diese Intention ausnützte.⁵² Diese Position führte zu weit, jedoch entwickelten viele andere Schreiber, inklusive mancher Dominikaner, eine überraschend milde Haltung gegenüber einem ganzen Spektrum an protektiven Methoden, durch die – wie Mazzolini vorschlug – man mit „einem nichtigen Ding einem anderen nichtigen Ding“ widerstehen konnte.⁵³ In gleicher Weise argumentierten von Johannes Nider beeinflusste Theologen in die Frage, ob die Heiligenverehrung durch spezielle Hingaben, wobei manche von diesen erst kürzlich ersonnen worden waren, unter vollständiger Garantie die spirituellen oder gar materiellen Wohltaten, die ihnen zugeschrieben waren, auch erfüllen würden oder nicht. Manche wie Gerson tendierten dazu, solch sektiererischem Verhalten kritisch gegenüberzustehen; Nider jedoch fand Ausreden, um dieses zu rechtfertigen.⁵⁴ Bedenkt man diese Uneinigkeit unter den Theologen mit ihren gelehrten Ratschlägen, ist es einfach anzunehmen, dass sogar der äußerst gut informierte Laie versucht war, den Weg einzuschlagen, der ihm und seiner Situation am besten passte. Ein Priester, der ihren Praktiken zustimmte, war immer ausfindig zu machen.
Luther, Religion und Aberglaube vor der Reformation: das Auslegen des ersten Gebotes Martin Luther wurde in eine Zeit zweier kultureller Welten geboren. Auf der einen Seite wuchs er in einer sächsischen Kleinstadt auf, wo die landwirtschaftlichen Verhältnisse durch das rasante Aufkommen der Minenindustrie komplett verändert wurden. Luthers eigener Vater erwarb, und verlor, als Arbeitnehmer in den äußerst komplexen finanziellen Strukturen, die das Geschäft mit den Minen unterstützten, ein Vermögen.⁵⁵ Aus anderen Quellen wissen wir, dass die Minen Norddeutschlands ihren eigenen Volksglauben generierten. Der Gedanke, Minen seien von Geisterwesen besetzt – die Zwerge der Legenden und Märchen –, kann bis in das 16. Jahrhundert, wenn nicht sogar um einiges früher zurückverfolgt werden.⁵⁶ Auf der anderen Seite trank Luther aus dem Brunnen der Spätscholastik. Er erlernte die Theologie des Mittelalters, bevor er weite Teile davon im Lichte seines Verständnisses des Evangeliums vehement
Petrus Aureolus (ca. 1280 – 1322), Commentariorvm in primvm [‐quartum] librvm Sententiarvm, 2 Bde. (Rom, 1596– 1605) zu den Sentenzen Buch 4, Abschnitt 34, Unterabschnitte 2– 3, und Angelus [Carletti] de Clavasio, Summa Angelica, Artikel ‚Maleficium‘: dass es dem Gesetz entsprechend ist, einen Zauberer aufzusuchen, der bereit ist, Zauberei mit Zauberei zu bekämpfen. Diese wurden nachbearbeitet und herausgegeben in Martinus Delrio SJ, Disquisitionum Magicarum Libri Sex, 3 Bde. (Louvain, 1599 – 1600), 2:193 ff. Silvestro Mazzolini Prierias, De Strigimagarum Demonumque Mirandis, fol. ff iiiv. Nider, Formicarius, Buch 4 Kapitel 2, in De visionibus ac revelationibus, 415 – 424. Siehe Lyndal Roper, Martin Luther: Renegade and Prophet (London, 2016), Kapitel 1. Weyer, Witches, Devils, and Doctors, 72– 74.
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ablehnte. Er verwarf niemals in Gänze die von William von Ockham erlernten Lektionen über den disziplinierten Zugang zur Logik. Daher ist es von äußerster Wichtigkeit, dass Luther selbst eine Auslegungsreihe zu den Geboten geschrieben und gehalten hatte, worin in seiner ausführlichen Besprechung des ersten Gebotes seine ganz eigene Ausarbeitung zum Aberglauben enthalten ist. Diese Predigtreihe über den Dekalog soll ab dem 29. Juni 1516 gehalten worden sein, wenngleich das Skript für die Publikation erweitert wurde. Es erschien als lateinisches Pamphlet veröffentlicht von Johannes Rhau-Grunenberg mit dem Datum des 20. Juli 1518.⁵⁷ Die Predigtreihe fällt unmittelbar vor die Zeit der öffentlichen Reformation und kann daher als Teil des „Hintergrundes“ der Reformation diskutiert werden, wenngleich Luther auch hier schon mit einigen schwerwiegenden Problemen kämpfte, die später großen Ausdruck in seinen Schriften 1517 finden würden. Er zitierte verschiedene etablierte Autoren zu diesem Thema, mit eingeschlossen die frühe Predigtreihe Johann Geilers von Kaysersberg. Womöglich aus zweiter Hand erworben, zeigte er ein Bewusstsein für die Geschichten, die im Malleus Maleficarum berichtet worden waren. Dennoch betonte Luther darunter eines besonders: Er glaubte, dass die Haupttätigkeit der Dämonen die war, die Menschen zu täuschen. Das Gefühl des nächtlichen Fliegens war eine Täuschung; so waren auch viele der Krankheiten, die scheinbar von Dämonen erzeugt worden waren, Täuschungen. Sogar die Geisterwesen, von welchen viele Hauseigentümer glaubten, sie brächten Glück, waren „Illusionen der Dämonen“. Weil Luther die täuschenden Kräfte der Dämonen betonte, war er in der Lage eine Verbindung herzustellen zwischen diesen relativ großen und krassen Formen von Täuschung der „fleischlichen Sinne und der Vorstellungskraft, die niedrigsten Bestandteile eines Menschen“⁵⁸ und größeren Täuschungen, welche die Menschen abbrachten von der wahren Religion und dem wahren Glauben. Daher attackierte Luther in einem späteren Teil seiner Auslegung des ersten Gebotes mit einer etwas weiter ausgeholten Kritik die Heiligenverehrung und falsche Glaubensüberzeugungen bezüglich des menschlichen Verdienstes.⁵⁹ Der Teufel würde am effektivsten täuschen, wenn er die Köpfe der Menschen mit falscher Theologie füllte.
Zusammenfassung: Wie die Argumente über den Aberglauben in der Reformation verändert wurden Die „Vernunft“ konnte offensichtlich für viele verschiedene Effekte gebraucht werden, ganz davon abhängend, welche die Prämissen des Nachdenkenden in diesem und
Der Text der Predigten ist mit manchen Veränderungen nachzulesen in WA 1,398 – 521; das ursprüngliche Pamphlet wurde veröffentlicht unter dem Titel Decem Praecepta wittenbergensi predicata populo. Per P. Martinum Luther Augustinianum (Wittenberg, 1518). Luther, Decem Praecepta, fol. C ir-v. Luther, Decem Praecepta, fol. C ivr – E ivv.
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anderen Gebieten waren. Der Scharfsinn der scholastischen Antwort auf den Volksglauben bot dem Gelehrten eine Erklärung der Phänomene einer volkstümlichen Kultur. Diese Erklärung, die auf einer rationalen Dämonologie basierte, verschob diese Erscheinung in den Bereich der Metaphysik, jedoch mit dem Nachteil, dass die Glaubenssätze und -praktiken einfacher Menschen „dämonisiert“ wurden, was extrem schwer zu predigen war. In der Reformation wurden die dämonologischen Argumente, die ursprünglich gegen den mittelalterlichen Aberglauben gebraucht wurden, auf neue Ziele ausgerichtet. Protestantische Theologen entdeckten, dass das kultische System der alten Kirche – nicht weniger als der Glaube der Zauberer und Volksheiler – eine Täuschung und Perversion des Satans war. Behauptungen, heiliges Wasser, Salz, Wachs oder andere Materialien für den menschlichen Nutzen zu weihen, waren eigentlich abgeleitet von der gleichen Quelle wie das Böse, das sie behaupteten zu heilen. Die Teufel ermutigten die Kirche und ihre Hingegebenen zu jeglichen Arten von falschen Praktiken, bis dahin zu behaupten, man würde die Substanz des Brotes und Weines in den Leib und das Blut Jesu Christi verwandeln. Lutherische Thesen zum Thema „Zauberei“ argumentierten, dass katholisch-religiöse Praktiken auf dieselbe Weise magisch waren wie die der Volksheiler.⁶⁰ Oder wie der energische, englische Pamphletist Reginald Scot es formulierte: „Ich sehe keinen Unterschied zwischen diesen und papistischen Beschwörungen; denn sie stimmen in Reihenfolge, Worten und Arten überein und differieren in keinem Falle, nur dass die Papisten es ohne Scham öffentlich tun, die anderen es in Verwirrung geheim tun.“⁶¹ Die Tragik dieses Zuganges für die Beziehungen zwischen den Kirchen bestand darin, dass die mittelalterliche Kirche die weniger Gelehrten und Privilegierten „dämonisiert“ hatte, wogegen nun die rivalisierenden Konfessionen der frühen Zeit der „Moderne“ sich gegenseitig „dämonisierten“. Die Kirchen haben eine lange Zeit gebraucht, um den Konsequenzen dieses rhetorischen Schrittes zu entkommen.
Siehe beispielsweise Jacobus Heerbrandus, De Magia Disputatio ex cap. 7. Exo., […] praeside reverendo et clarissimo viro Jacobo Heerbrando […] Nicolaus Falco Salueldensis […] respondere conabitur (Tübingen, 1570), 13 – 16. Reginald Scot, The Discoverie of Witchcraft: wherein the lewde dealing of witches and witchmongers is notablie detected (London, 1584), Buch XV, Kapitel XXII. Vergleiche auch Kapitel XXIX.
Wolf-Friedrich Schäufele
Luther als Kirchenvater
Kann man Luther als einen Vater der protestantischen Kirchen oder womöglich sogar als einen Vater der universalen christlichen Kirche bezeichnen? So sehr der Reformator in vergangenen Jahrhunderten von seinen Anhängern verherrlicht und in übermenschliche Dimensionen erhoben wurde – als „Kirchenvater“ ist er im Protestantismus eigentlich nie ausdrücklich bezeichnet worden. Es waren vielmehr einzelne römisch-katholische Theologen, die während der letzten Jahrzehnte Luther als „Vater im Glauben“ entdeckt haben. Tatsächlich haben sich die Beurteilung Luthers und die Prädikate, die man ihm beigelegt hat, bei Protestanten wie Katholiken im Lauf der Geschichte stark gewandelt. Meist sagen sie mehr über ihre eigene Zeit aus als über den Reformator selbst. Es erscheint daher lohnend, die verschiedenen Antworten auf die Frage „Wer war Luther?“ in historischer Perspektive zu analysieren.
1 Luthers Selbstverständnis So etwas wie ein reformatorisches Selbstverständnis Luthers¹ wird erstmals im Zusammenhang mit seinen 95 Thesen zum Ablass vom 31. Oktober 1517 sichtbar, als er seinen berühmten Brief an Kardinal Albrecht von Mainz mit der neuen Namensform Luther (statt bisher Luder) unterschreibt. Die neue Schreibweise erinnert an das griechische Eleutherius, „der Freie“, mit dem Luther wenig später einen Brief an Georg Spalatin unterzeichnet.² Damit nimmt Luther für sich selbst symbolisch die evangelische Freiheit in Anspruch, die im Zentrum seiner theologischen Neuorientierung steht.³ Erhellend ist der Zusatz zu Luthers Unterschrift im Brief an Albrecht von Mainz. Er bezeichnet sich dort nämlich als „Doctor S Theologie vocatus“ („berufener Doktor der heiligen Gottesgelehrtheit“).⁴ Damit berühren wir den eigentlichen Kern von Luthers Selbstverständnis. Als Doktor und Professor der Theologie war er legitimiert, zur Verteidigung und Reform der Kirche beizutragen. Eine besondere Rolle spielte für ihn in dieser Hinsicht der Doktoratseid, den er bei seiner Promotion 1512 hatte ablegen müssen. Durch ihn wusste er sich verpflichtet, die Heilige Schrift unverfälscht zu verkündigen, und durch diese Verpflichtung auf die Heilige Schrift war er mit dem
Zum Folgenden vgl. J. Schilling, „Geschichtsbild und Selbstverständnis,“ in Luther Handbuch, Hg. A. Beutel (Tübingen, 2005): 97– 106. WA B 1,118,16. B. Moeller, K. Stackmann, Luder, Luther, Eleutherius. Erwägungen zu Luthers Namen (Göttingen, 1981). WA B 1,112,70 f. https://doi.org/9783110498745-007
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Papst in Konflikt geraten.⁵ Was Luther zum Reformator machte, war sein Selbstverständnis als „geschworener Doktor der Heiligen Schrift“,⁶ wie er selbst gern formulierte. Die spätere lutherische Kontroverstheologie des 17. Jahrhunderts hat gegen die römisch-katholischen Kritiker Luthers diesen Gedanken seiner vocatio (Berufung) stark betont: Luther sei zur Reform der Kirche nicht nur vom Heiligen Geist auf außerordentliche Weise berufen worden, sondern auch auf ordentliche Weise als geweihter Priester und als Professor.⁷ Mit dem Selbstverständnis als Lehrer und Verkünder der Heiligen Schrift verband sich die ebenfalls häufige Selbstdeutung Luthers als „Evangelist“, d. h. als Verkünder des Evangeliums Christi. Den Erfolg seiner Ablassthesen verstand er als eine Offenbarung des Evangeliums: Gottes Wort selbst habe sich durchgesetzt, ohne dass er selbst etwas dazu beigetragen hätte.⁸ In dem berühmten Brief, den er am 5. März 1522 von der Wartburg an Kurfürst Friedrich von Sachsen schrieb, berief er sich in Worten, die an den Apostel Paulus (Gal 1,10 f.) erinnern, ausdrücklich darauf, sein Evangelium nicht von Menschen, sondern allein vom Himmel durch Jesus Christus empfangen zu haben, was ihn eben zu einem Evangelisten mache.⁹ In demselben Sinn konnte er im gleichen Jahr schreiben, Christus selbst habe ihn seinen Evangelisten genannt; denn seine Verkündigung sei nicht seine eigene Erfindung, sondern das Evangelium von Christus.¹⁰ Gegen andere, schon zu seinen Lebzeiten aufkommende Überhöhungen seiner Person hat sich Luther dagegen ausdrücklich verwahrt. In seiner Rede vor dem Wormser Reichstag 1521 beteuerte er, sich nicht selbst zum Heiligen machen zu wollen,¹¹ und 1531 lehnte er die Bezeichnung „Prophet der Deutschen“ als anmaßend ab.¹² Er selbst sei und habe nichts, sein einziger Stolz sei vielmehr, ein Christ zu sein.¹³ Dass seine Kollegen 1539 mit der Herausgabe seiner gesammelten Schriften begannen, sah Luther ungern. Im Vorwort zum ersten Band der deutschen Schriften der Wittenberger Lutherausgabe gab er an, er hätte es lieber gehabt, dass alle seine Bücher nie entstanden oder verloren gegangen wären, um nicht, wie ehedem die Bücher der Kirchenväter und die Sammlungen von Konzilsentscheidungen, vom Studium der Heiligen Schrift abzulenken.¹⁴ Vollends erschien ihm die Vorstellung unerträglich, dass
WA 30/III,386,14– 17. WA 6,405,1; 7,162,8. So bei den Dogmatikern Johann Gerhard und Johann Andreas Quenstedt. Vgl. K.-H. zur Mühlen, „Wirkung und Rezeption I.-IV.,“ in Luther Handbuch, Beutel: 462– 488, hier: 472. WATR 2,567,13 f. WA B 2,455,39 – 43. WA 10/II,105,19 – 106,5. „Neque enim me sanctum aliquem facio, neque de vita mea, sed de doctrina Christi disputo“ (WA 7,834,6 f.). WA 30/III,290,28 f. „Ego vero nihil habeo et sum, nisi quod Christianum esse me prope glorier“ (WA 18,786,25 f.). WA 60,657,2– 11.
Luther als Kirchenvater
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sich seine Anhänger nach seinem Namen – also „Martinianer“ oder später „Lutheraner“ – nennen sollten: … man wolle meines Namens schweigen und sich nicht lutherisch, sondern Christen nennen.Was ist Luther? Ist doch die Lehre nicht mein. Ebenso bin ich auch für niemand gekreuzigt (…). Wie käme denn ich armer stinkender Madensack dazu, dass man die Kinder Christi sollte mit meinem heillosen Namen nennen?¹⁵
2 Luther im Verständnis des Luthertums: Apokalyptische Gestalt und Lehrer der Kirche Trotzdem galt Luther seinen Anhängern bald als Prophet, seine Schriften wurden gesammelt und nachgedruckt, und „Lutheraner“ wurde zur stolz getragenen Selbstbezeichnung. Dahinter stand die allgemeine Überzeugung, dass dem Wittenberger Reformator eine besondere Rolle in der Heilsgeschichte zukomme, dass er der von Gott gesandte Botschafter der Endzeit und Wegbereiter der Wiederkunft Christi sei. Diese Urteile hatten durchaus Anhalt an Luthers eigenem Denken. Seit 1519 war er überzeugt, dass das Papsttum als Institution der Antichrist sei, jener endzeitliche Widersacher Christi, mit dessen Entlarvung die letzte große Auseinandersetzung vor dem Weltende beginnen würde.¹⁶ Luther verstand seitdem seine eigene Zeit als apokalyptische Endzeit – und die Reformation, die zur Entlarvung des päpstlichen Antichrists geführt hatte, als heilsgeschichtliches Ereignis. Auch viele Zeitgenossen teilten bald diese Auffassung und erkannten dementsprechend in Luther eine von Gott gesandte Figur der Heilsgeschichte.¹⁷ Vor allem sah man in ihm schon früh einen Propheten. Bereits Ende 1519 war dies in Humanistenkreisen in Süddeutschland und der Schweiz der Fall. Kein geringerer als der Zürcher Reformator Huldrych Zwingli, der wenige Jahre später in eine erbitterte Auseinandersetzung mit Luther verwickelt sein sollte, nannte den Wittenberger einen neuen Elia – also jenen letzten Propheten, der nach Mal 3,23 Vorläufer des wiederkehrenden Christus sein und in der Endzeit Gottes Wort verkünden sollte.¹⁸ An die alttestamentliche Elia-Erzählung knüpfte auch Philipp Melanchthon an, als er in
WA 8,685,4– 10. V. Leppin, „Antichrist,“ in: Das Luther-Lexikon, Hg. Ders. und G. Schneider-Ludorff (Regensburg, 2014): 62 f. Zum Folgenden R. Kolb, Martin Luther as Prophet, Teacher, and Hero: Images of the Reformer, 1520 – 1620 (Grand Rapids, 1999); Ders., „Luther’s function in an age of confessionalization,“ in The Cambridge Companion to Martin Luther, Hg. D. K. McKimm (Cambridge, 2003): 209 – 226; V. Joestel und J. Strehle, Luthers Bild und Lutherbilder. Ein Rundgang durch die Wirkungsgeschichte (Wittenberg, 2003). Brief von Zwingli an Oswald Myconius vom 04.01.1520, in: Huldreich Zwingli, Sämtliche Werke, Bd. 7: Zwinglis Briefwechsel (Leipzig, 1911): Nr. 113.250 – 252, hier: 250. Vgl. schon den Brief von Ulrich Zasius an Zwingli vom 13.11.1519: in ebd.: Nr. 100.218 – 222, hier: 222.
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seinem Wittenberger Hörsaal die Nachricht vom Tod Luthers erhielt und in einer kurzen Ansprache an seine Studenten den Vers 2 Kön 2,12 zitierte und eschatologisch erweiterte: „Gestorben ist Gespann und Wagen Israels, der die Kirche in dieser letzten Zeit der Welt geleitet hat“.¹⁹ Als wiedergekehrter Elia oder auch als „dritter Elia“ – wenn man Johannes den Täufer als den zweiten Elia zählte (vgl. Mt 11,13 f.) – wurde Luther noch bis weit ins 17. Jahrhundert hinein verstanden und verehrt. Doch auch mit dem ebenfalls in apokalyptischen Zusammenhängen bedeutsamen Propheten Daniel konnte Luther identifiziert oder ganz allgemein als Prophet qualifiziert werden.²⁰ Dass Luther sich selbst als Evangelisten verstanden hatte, gab Anlass dazu, ihn prominenten anderen Verkündigern des Evangeliums aus biblischer Zeit gleichzustellen, vor allem den Verfassern der neutestamentlichen Evangelienbücher und dem Apostel Paulus. Doch auch dieser Aspekt ließ sich ins Apokalyptische wenden, und in dieser Form hat er seine eigentliche Wirkung entfaltet. Es war Luthers süddeutscher Ordensbruder Michael Stifel (ca. 1487– 1567), der später als Mathematiker berühmt wurde, der Luther 1522 in einer Flugschrift nachdrücklich mit dem Engel des ewigen Evangeliums aus der Offenbarung des Johannes identifizierte (Offb 14,6).²¹ So, als endzeitlicher Engel des ewigen Evangeliums, ist Luther bis ins 17. Jahrhundert hinein bevorzugt verstanden worden.²² Insgesamt kann man sagen, dass die meisten populären Deutungen der Person Luthers ihn entweder biblischen Gestalten gleichstellten oder ihn als von Gott gesandten Protagonisten im heilsgeschichtlichen Enddrama interpretierten. Diese stark apokalyptisch aufgeladenen Deutungen trafen das Zeitempfinden Luthers und seiner Anhänger und erfreuten sich vor allem deshalb großer Beliebtheit. Doch es gab auch eine andere, weniger prominente Linie, die die Gestalt Luthers auf dem Hintergrund der irdischen Geschichte der Kirche deutete. Als klassisches Rollenmuster dieser Art würde sich der Heilige anbieten, und kurzzeitig, im Umkreis des Wormser Reichstags von 1521, ist Luther auf Holzschnitten auch wirklich als ein solcher abgebildet worden – als Mönch im Ordensgewand mit einem Heiligenschein und der Taube des Heiligen Geistes über seinem Kopf.²³ Dieses Deutungsmuster hatte indessen keinen Bestand, sicher auch wegen der veränderten reformatorischen Auffassung von Heiligkeit. Stattdessen konnte sich eine andere, im Wesentlichen auf Melanchthon zurückgehende Deutung etablieren, die auch besser an Luthers Selbstverständnis anschließt: Luther als der von Gott gesandte Lehrer seiner Kirche.
„Ach, obiit auriga et currus Israel, qui rexit Ecclesiam in hac ultima senecta mundi“: P. Melanchthon, Opera quae supersunt omnia, Hg. Carolus Gottlieb Bretschneider (Halle, 1839), 6:59. Joestel und Strehle, Luthers Bild und Lutherbilder, 9. M. Stifel, Von der Christfermigen, rechtgegründten leer Doctoris Martini Luthers, ain überauß schön kunstlich Lied sampt seyner neben außlegung. In bruder Veyten Thon (Augsburg, 1522), A2r-A3v und passim. H. Bornkamm, Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte. Mit ausgewählten Texten von Lessing bis zur Gegenwart (Heidelberg, 1955), 12; Joestel und Strehle, Luthers Bild und Lutherbilder, 15. Kolb, „Luther’s function“: 211.
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Bereits 1539 hatte Melanchthon in der kleinen Schrift De ecclesia et de autoritate verbi Dei den Gedanken entwickelt, dass die Kirche Christi abwechselnd Zeiten der Blüte und des Verfalls erfahre, doch immer wieder durch von Gott erweckte Lehrer (doctores) erneuert und wiederhergestellt werde. Als solche nannte er neben biblischen Figuren ausdrücklich Ambrosius, Basilius, Cyprian und Augustin.²⁴ In den folgenden Jahren hat Melanchthon diese Idee der series doctorum, der Abfolge der Kirchenlehrer, weiter ausgeführt. Als er am 22. Februar 1546 in der Wittenberger Schlosskirche die Leichenrede auf Luther hielt, reihte er auch den verstorbenen Freund unter die großen Lehrer der Kirche ein: Gemeinsam mit den Vätern des Alten Bundes und den Aposteln sowie mit Männern wie Polykarp von Smyrna, Irenäus von Lyon, Gregor Thaumaturgos, Basilius von Caesarea, Augustin, Prosper von Aquitanien, Maximus Confessor, Hugo von St. Viktor, Bernhard von Clairvaux und Johannes Tauler rechnete er Luther zu „jener großartigen Schar ganz vorzüglicher Männer […], die Gott gesandt hat, dass sie die Kirche sammeln und erbauen“.²⁵ Tatsächlich hatte bereits Luther selbst sich verschiedentlich auf Persönlichkeiten aus der Geschichte der Kirche berufen, in denen er Vorläufer seines eigenen Anliegens erkannte. Als einen solchen sah er seit der Leipziger Disputation von 1519 vor allem den 1415 verbrannten böhmischen Kirchenreformer Jan Hus an.²⁶ 1520 schrieb er in einem Brief: „Wir alle sind, ohne es zu wissen, Hussiten“,²⁷ und spätestens seit 1531 bezog er eine Legende auf sich, wonach Hus, dessen Name im Tschechischen „Gans“ bedeutet, prophezeit habe, dass hundert Jahre nach ihm ein Schwan kommen werde, den man nicht „braten“, d. h. verbrennen könne.²⁸ Auch in den spätmittelalterlichen Reformtheologen John Wyclif, Wessel Gansfort, Johann Pupper von Goch und Girolamo Savonarola sah Luther Vorläufer seines eigenen Wirkens. Gegenüber den Theologen der Universitäten Leuwen und Köln, die sich nach der Leipziger Disputation in einem Gutachten zu seinen Ungunsten ausgesprochen hatten, stellte er sich aber auch in eine Reihe mit den seiner Meinung nach ebenfalls zu Unrecht verurteilten Geistesgrößen William von Ockham, Pico della Mirandola, Lorenzo Valla und Johannes Reuchlin.²⁹ Anders als bei Melanchthon waren es bei Luther selbst also nicht so sehr die anerkannten Kirchenväter und Kirchen-
P. Melanchthon, Opera quae supersunt omnia, Hg. Carolus Gottlieb Bretschneider (Brauschweig, 1855), 23:595 – 642. P. Melanchthon, „Oratio in funere reverendi viri D. Martini Lutheri,“ in Opera quae supersunt omnia, Ders., Hg. Carolus Gottlieb Bretschneider (Halle, 1843): 11:726 – 734, hier: 728. Deutsche Übersetzung in: M. Beyer, S. Rhein und G. Wartenberg, Hg., Melanchthon deutsch, Bd. 2: Theologie und Kirchenpolitik (Leipzig, 1997), 156 – 168, hier: 159. Vgl. T. Kaufmann, „Jan Hus und die frühe Reformation,“ in Biblische Theologie und historisches Denken. Wissenschaftsgeschichtliche Studien, Hg. M. Kessler, M. Wallraff und R. Smend (Basel, 2008): 62– 109; wieder in: T. Kaufmann, Der Anfang der Reformation (Tübingen, 2012): 30 – 67. „sumus omnes Hussitae ignorantes“ (WA B 2,42,24). WA 30/III,378,6 – 10. Vgl. G. Seib, Hg., Luther mit dem Schwan. Tod und Verklärung eines großen Mannes (Berlin, 1996). WA 6,183,3 – 184,1.
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lehrer, unter die er sich einreihte, sondern Männer, die mit dem kirchlichen Lehramt in Konflikt geraten waren. Auf einer mittleren Linie lag die umfangreiche gelehrte Sammlung von Zeugnissen solcher vermeintlicher Vorläufer Luthers, die Matthias Flacius (1520 – 1575), ein Schüler Luthers und Melanchthons, 1556 mit dem Catalogus testium veritatis vorlegte. Dieser Katalog verzeichnete „Zeugen der Wahrheit“, die seit der Zeit der Apostel bis zur Wiederherstellung des Evangeliums durch Luther trotz der Tyrannei des Papsttums an der evangelischen Wahrheit festgehalten hatten.³⁰ Unter ihnen fanden sich wie bei Melanchthon die hoch geschätzten Kirchenväter und Kirchenlehrer des Altertums, aber auch die Oppositionellen des Mittelalters wie in den zitierten Äußerungen Luthers. Flacius verehrte Luther zu sehr, um ihn in seinem Werk einfach in die Reihe dieser „Zeugen“ einzuordnen – er kommt im Catalogus gar nicht erst vor. Dagegen erscheint der Reformator bei dem Straßburger Ludwig Rabus (1524– 1592) ausdrücklich unter den „auserwählten Zeugen und Bekennern“;³¹ Rabus nennt ihn auch „unseren lieben Vater und den Propheten der deutschen Nation“.³² Die lutherische Theologie der nachreformatorischen Periode³³ – die sogenannte „lutherische Orthodoxie“ – hat Luther, anknüpfend an sein eigenes Selbstverständnis wie auch an Melanchthons Konzeption der doctores der Kirche, in diesem Sinne vor allem als den von Gott gesandten Lehrer des Evangeliums und Wiederhersteller der reinen Lehre verstanden. Person und Leben Luthers traten hier ganz hinter seinem Werk zurück. Demgegenüber nahmen die Theologen des Pietismus Luther zusätzlich für ihre Vorstellungen von lebendiger christlicher Frömmigkeit in Anspruch und beschäftigten sich wieder stärker mit seinem Charakter, den sie in einzelnen Zügen durchaus auch kritisch beurteilten; gerne beriefen sie sich gegen den „alten“ auf den „jungen Luther“. Mit der Aufklärung gerieten das religiöse Anliegen und die Theologie Luthers dann aus dem Blickfeld auch der Theologen. Luther war nun in erster Linie der mutige Vorkämpfer für Gewissensfreiheit und Toleranz, der Wegbereiter der Moderne und Vertreter bürgerlicher Werte. Im Zeitalter des Nationalismus wurde aus ihm schließlich der prototypische Deutsche und der Kämpfer für Deutschlands Freiheit gemacht. Erst im 20. Jahrhundert kam es zu einer Wiederentdeckung von Luthers Theologie und
M. Flacius, Catalogus testium veritatis, qui ante nostram aetatem reclamarunt Papae (Basel, 1556). Eine zweite, erweiterte Auflage erschien 1562. – Vgl.W.-F. Schäufele, „Matthias Flacius Illyricus und die Konzeption der Zeugenschaft im Catalogus testium veritatis,“ in Matthias Flacius Illyricus – Biographische Kontexte, theologische Wirkungen, historische Rezeption, Hg. I. Dingel und L. Ilic (Göttingen, 2017). L. Rabus, Historien der Heyligen Außerwölten Gottes Zeügen / Bekennern vnd Martyrern, 8 Bde. (Straßburg, 1552– 1558). Kolb, „Luther’s function“: 213. Zum Folgenden vgl. E. W. Zeeden, Luther und die Reformation im Urteil des deutschen Luthertums, 2 Bde. (Darmstadt, 1950 – 1952); zur Mühlen, „Wirkung und Rezeption“: 461– 488.
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zu einer intensivierten Forschung, die im Lauf der Jahrzehnte ein historisch begründetes Lutherbild jenseits konfessionalistischer und ideologischer Verengungen entstehen ließ.
3 Luther als protestantischer Kirchenvater Bei allen für unser heutiges Empfinden maßlos überzogenen Stilisierungen und Lobpreisungen Luthers kommt ein Prädikat so gut wie nicht vor: Luther als „Kirchenvater“. Selbst die Bezeichnung Luthers als „Vater“ bei Rabus ist eine Ausnahme. Trotzdem kann man mit einem gewissen Recht davon sprechen, dass Luther so etwas wie ein protestantischer Kirchenvater sei. Das gilt vor allem für die Kirchen der lutherischen Konfessionsfamilie. Bereits der Parteiname „Lutheraner“ weist auf die zentrale Bedeutung des Wittenberger Reformators für diesen Zweig der reformatorischen Tradition hin.³⁴ Zwar hatte Luther selbst sich ursprünglich dagegen verwahrt, dass sich seine Anhänger nach ihm benennen sollten, und wirklich war die Bezeichnung Lutherani zunächst ein Ketzer- und Sektenname gewesen, den ihnen ihre papsttreuen Gegner beilegten; Luthers prominenter Gegner Johannes Eck hat ihn seit 1520 verwendet. Die damit belegten Anhänger Luthers nannten sich selbst dagegen vorzugsweise „Evangelische“. Erst seit den 1560er Jahren machten sie sich den einstigen Sektennamen als Selbstbezeichnung zu eigen, wobei die zunehmende Verehrung Luthers und die zunehmende Abgrenzung gegenüber der römischen Kirche und den Kirchen der reformierten Tradition zusammenspielten. Mit Blick auf die historische Prägung des Luthertums ist dem katholischen Lutherkenner Otto Hermann Pesch zuzustimmen, der konstatiert, dass „keine christliche Kirche in den grundlegenden theologischen Überzeugungen und in ihrer Frömmigkeit so von einem einzelnen Theologen geprägt ist und geblieben ist wie die lutherische“.³⁵ Bereits zu seinen Lebzeiten war Luther gemeinsam mit seinen Wittenberger Universitätskollegen zu einer zentralen Instanz für die Entscheidung theologischer, pastoraler und kirchenrechtlicher Fragen geworden. Mit ihren schriftlichen Gutachten traten sie an die Stelle, die in der römischen Kirche Papst, Bischöfe und Konzilien einnahmen.³⁶ In den Jahrzehnten nach seinem Tod hat sich die Rolle Luthers als zentraler Lehrautorität für das Luthertum dann weiter verfestigt. In den Auseinandersetzungen zwischen sogenannten Gnesiolutheranern, die das theologische Erbe Luthers unverkürzt behaupten wollten, und den Anhängern Philipp Melanchthons,
Zum Folgenden vgl. A. Schubert, „Luthertum/Lutheraner I. Konfessionskundlich: lutherische Kirchen in der Geschichte,“ in 4RGG: 608 – 613, hier: 608. O. H. Pesch, „Was hat Luther den Katholiken (noch) zu sagen? Eine Art Nachruf,“ in Martin Luther – Vorbild im Glauben. Die Bedeutung des Reformators im ökumenischen Gespräch, Hg. U. Hahn und M. Mügge (Neukirchen-Vluyn, 1996): 122 – 144, hier: 124. Kolb, „Luther’s function“: 212.
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die man Philippisten nannte, beriefen sich beide Seiten auf Äußerungen Luthers, die so faktisch eine quasi-kanonische Autorität erhielten.³⁷ Erst mit der Konkordienformel von 1577, die allerdings nicht von allen lutherischen Territorien übernommen wurde, gelang die Beilegung der innerlutherischen Lehrstreitigkeiten. Damit wurde zugleich der Rang von Luthers Lehre als unüberbietbarer und maßgeblicher Interpretation der Heiligen Schrift zementiert. Zusammen mit der Konkordienformel wurden 1580 die drei wichtigsten altkirchlichen Glaubensbekenntnisse sowie sechs reformatorische Bekenntnisschriften im sogenannten Konkordienbuch als maßgebliche Bekenntnisgrundlage des Luthertums zusammengefasst, darunter Luthers Großer und Kleiner Katechismus sowie die scharf antirömisch formulierten Schmalkaldischen Artikel, die ursprünglich nur als Privatbekenntnis Luthers gegolten hatten. In der sogenannten Solida Declaratio der Konkordienformel wurden die im Konkordienbuch enthaltenen Schriften ausdrücklich als „Summa und Vorbild der Lehre, welche D. Luther seliger in seinen Schriften aus Gottes Wort wider das Papsttum und andere Sekten stattlich ausgeführet und wohl gegründet hat, auf welches ausführliche Erklärungen in seinen Lehr- und Streitschriften wir uns gezogen haben wollen“, qualifiziert.³⁸ Damit war praktisch Luthers gesamtes hinterlassenes Oeuvre in den Rang einer kanonischen Bekenntnisgrundlage gerückt – wenn auch selbstverständlich nur unter dem ausdrücklichen Vorbehalt der Übereinstimmung mit der Heiligen Schrift als oberster Glaubensnorm. Nach 1580 war Luther so faktisch zum lutherischen Kirchenvater geworden.³⁹ Dieser faktische Rang Luthers als Kirchenvater wurde auch in den Bildprogrammen lutherischer Kirchen sichtbar. Seit dem 17. Jahrhundert gehörten hier großformatige Bildnisse Luthers nach Vorlagen von Lukas Cranach – häufig mit der Bibel als Attribut – zum regelmäßigen Inventar.⁴⁰ In den Kirchen der auf Zwingli und Calvin zurückgehenden reformierten Tradition wurde Luther nicht im gleichen Sinne als quasi-kanonische Autorität verehrt. Hier war vielmehr die Auffassung verbreitet, dass Luther in seinem Kampf für das Evangelium und gegen menschliche Traditionen nicht konsequent verfahren und nicht weit genug gegangen sei, so dass die von ihm begonnene Reformation noch einer Weiterführung und Vollendung, ja geradezu einer „zweiten Reformation“ bedürfe. Reformierte Theologen wie Zacharias Ursinus und Daniel Tossanus bestritten daher seine Autorität als Lehrer der Kirche.⁴¹ Andererseits wusste sich etwa Calvin dankbar Luthers Anregungen verpflichtet, und seine Kennzeichnung als „Luthers größter Schüler“⁴² durch
Ebd.: 217. I. Dingel, Hg., Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche (Göttingen, 2014), 1:1312,35 – 1314,4. Zeeden, Luther und die Reformation, 1:70. Joestel und Strehle, Luthers Bild und Lutherbilder, 21. Kolb, „Luther’s function“: 215. Hanns Rückert, „Calvin (1937),“ in Vorträge und Aufsätze zur historischen Theologie, Ders. (Tübingen, 1972): 165 – 173, hier: 167. – Tatsächlich geht dieses Urteil anscheinend bereits auf Karl Holl
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Hanns Rückert (1901– 1974) mag übertrieben sein, ist aber nicht falsch. Unter Calvins Einfluss wurde Luther schließlich auch im deutschen Reformiertentum als Bahnbrecher und Urheber der reformatorischen Erneuerung des Christentums und insofern auch als Vater der reformierten Kirchen anerkannt.⁴³ Tatsächlich ging auch die Initiative zum ersten deutschlandweit gefeierten Reformationsjubiläum im Jahr 1617, das mit dem Bezug auf Luthers Thesenanschlag eindeutig als Lutherjubiläum konzipiert war, von dem reformierten Kurfürsten Friedrich V. von der Pfalz aus.⁴⁴ Und zum dreihundertjährigen Jubiläum von Luthers Thesenanschlag im Jahr 1817 war es mit dem preußischen König Friedrich Wilhelm III. abermals ein Reformierter, der dieses Symboldatum zum Anlass seines Aufrufs zur Vereinigung von Lutheranern und Reformierten zu einer gemeinsamen, unierten evangelischen Kirche nahm.⁴⁵ Obwohl Luther demnach für das Luthertum ganz eindeutig und in einem weiteren Sinne auch für das Reformiertentum die Rolle eines protestantischen Kirchenvaters zukam, wurde er doch von keinem seiner Anhänger ausdrücklich so bezeichnet. Das ist im Grunde auch kaum überraschend. Denn die Berufung auf die Kirchenväter vor allem des Altertums, aber auch auf Theologen des Mittelalters, war damals eine wichtige Argumentationsstrategie der römisch-katholischen Kontroverstheologie im Rahmen ihres Traditionsarguments.⁴⁶ Vor allem seit dem Konzil von Trient waren die kirchliche Tradition und die Kirchenväter neben der Heiligen Schrift als maßgebliche Autorität etabliert. Angesichts dessen verbot es sich für die protestantische Theologie, in gleicher herausgehobener Weise von Kirchenvätern zu sprechen. Luther mag ein protestantischer Kirchenvater gewesen sein, so genannt werden durfte er nicht. Dazu kam ein Zweites: Während die römisch-katholische Ekklesiologie die Kirche, soweit sie auf Erden wandelte, mit der sichtbaren, hierarchisch gegliederten Institution der römischen Kirche gleichsetzte, blieb für die protestantische Ekklesiologie stets die augustinische Dialektik von sichtbarer und unsichtbarer Kirche bestimmend. Im eigentlichen Sinn war die Kirche demnach die Gemeinschaft der Glaubenden, die Gott allein bekannt waren und die in verschiedenen äußeren kirchlichen Organisationen und Konfessionen leben konnten. Es liegt nahe, dass ein derartiger Kirchenbegriff der Rede von „Kirchenvätern“ nicht zuträglich sein konnte.
zurück; vgl. G. Ebeling, Lutherstudien, Bd. 3: Begriffsuntersuchungen –Textinterpretationen – Wirkungsgeschichtliches (Tübingen, 1985), 534, Anm. 470. Bornkamm, Luther im Spiegel, 12, Anm. 1; zur Mühlen, „Wirkung und Rezeption“: 472. H.-J. Schönstädt, „Das Reformationsjubiläum 1617. Geschichtliche Herkunft und geistige Prägung,“ in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 93 (1982): 5 – 57. W. Elliger, Die evangelische Kirche der Union. Ihre Vorgeschichte und Geschichte (Witten, 1967), 30 – 65. Zur Verwendung der Bezeichnung „Vater“ bzw. „Kirchenvater“ im Allgemeinen vgl. B. Altaner, Patrologie (Freiburg, 51958), 2– 5.
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Auch wenn sich in neuerer Zeit etwa für Friedrich Schleiermacher das stehende Attribut eines „Kirchenvaters des 19. Jahrhunderts“ eingebürgert hat,⁴⁷ wurde auf Luther der Begriff des „Kirchenvaters“ nie in gleicher Weise angewendet. Eine Ausnahme bildet allein die neuere kunstgeschichtliche Forschung, die im Anschluss an Johannes Ficker einen von sieben Typen von Lutherbildnissen aus der Werkstatt Lukas Cranachs mit dem Terminus „Luther als Kirchenvater“ bezeichnet.⁴⁸ Wenn Luther im Protestantismus auch nicht als „Kirchenvater“ bezeichnet wurde, so hat man ihm in anderen Zusammenhängen durchaus das Prädikat eines „Vaters“ beigelegt. Im 19. Jahrhundert wurde Luther im wörtlichen Sinn als Familienvater und Vater seiner Kinder populär und als solcher zum Gegenstand rührseliger und volkspädagogischer Betrachtungen.⁴⁹ Die sentimentale (erfundene) Weihnachtsszene in Luthers Wohnzimmer mit dem Weihnachtsbaum und dem Laute spielenden Reformator, die von Carl August Schwerdgeburth 1843 erstmals ins Bild gesetzt wurde, fand damals weite Verbreitung und hat in manchen Kreisen bis heute das Bild Luthers beeinflusst.⁵⁰ In einem übertragenen Sinn wird Luther seit dem 19. Jahrhundert daneben vor allem auch als „Vater des evangelischen Kirchenliedes“ gewürdigt.⁵¹ Doch auch etwa als „Vater der allgemeinen Schulpflicht“ hat man ihn etikettiert.⁵² Nach Jahrhunderten einer ideologischen Instrumentalisierung der Person Luthers für wechselnde Zwecke und einer weithin kritiklosen Verehrung des Reformators hat der heutige Protestantismus eine historisch begründete, differenzierte Sicht auf Luther gewonnen, die neben seinen Verdiensten die Schattenseiten seiner Person und Probleme seiner Theologie nicht ausblendet und die Kontroversen des Reformationszeitalters in einem anderen Licht betrachtet. Auch theologisch stehen der heutige Protestantismus und das heutige Luthertum den Positionen des Reformators meist eher fern. Heutige Protestanten sind daher weniger denn je geneigt, Luther als einen „Kirchenvater“ zu feiern. C. Lülmann, Schleiermacher, der Kirchenvater des 19. Jahrhunderts (Tübingen, 1907), 1.Vgl. H. Jesse, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Der Kirchenvater des 19. Jahrhunderts (Berlin, 2002). Es handelt sich um Bildnisse der Jahre 1532– 1537 und 1543, die Luther in seinem fünften Lebensjahrzehnt mit Barett und Schaube zeigen und oft als sogenannte Freundschaftsbilder mit Porträts Melanchthons kombiniert wurden. Vgl. J. Ficker, „Die Bildnisse Luthers aus der Zeit seines Lebens,“ Lutherjahrbuch 16 (1934): 103 – 161, hier: 134– 140; G. Schuchardt, Hg., Cranach, Luther und die Bildnisse (Regensburg, 2015), 25.42– 45.51. Z. B. F. G. Hofmann, Katharina von Bora oder Dr. Martin Luther als Gatte und Vater. Ein Beitrag zur Geschichte der Priesterehe so wie des ehelichen und häuslichen Lebens des großen Reformators (Leipzig, 1845); M. Willkomm, Luther als Vater seiner Kinder (Zwickau, 1917). Joestel und Strehle, Luthers Bild und Lutherbilder, 49. Z. B. H. A. Köstlin, Luther als der Vater des evangelischen Kirchengesanges (Leipzig, 1881); G. Schleusner, Luther als Dichter insonderheit als Vater des deutschen evangelischen Kirchenliedes (Wittenberg, 1883); P. Althaus, Luther als der Vater des evangelischen Kirchenliedes (Leipzig, 1917). E. Zeißig, Luther, der treue Diener seines Volkes – als erster Prediger der Glaubensfreiheit, als Schöpfer der neuhochdeutschen Schriftsprache und als Vater allgemeiner Schulgedanken (Langensalza, 1917).
Luther als Kirchenvater
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4 Luther als gemeinsamer Kirchenvater? Es erscheint bemerkenswert, dass die Stimmen, die Luther als einen Kirchenlehrer oder Vater der Kirche würdigen, heute von katholischen Theologen stammen. Zwar ist ihnen die Kategorie des Kirchenlehrers oder Kirchenvaters aus ihrer eigenen Tradition heraus vertrauter als den Protestanten. Doch das über Jahrhunderte vorherrschende katholische Lutherbild stand einer solchen Würdigung diametral entgegen. Geprägt war das ältere katholische Lutherbild namentlich von Johannes Cochlaeus (1479 – 1552).⁵³ Der humanistisch gebildete Domherr hatte in seinen häufig nachgedruckten Commentaria de actis et scriptis Martini Lutheri von 1549 Luther als einen Erzketzer und Zerstörer der Kirche geschildert, durch den nicht der Heilige Geist, sondern Satan gesprochen habe. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts attestierten der Dominikaner Heinrich Denifle (1844– 1905) und der Jesuit Hartmann Grisar (1845 – 1932) Luther, mit seinem reformatorischen Auftreten und seiner Theologie habe er lediglich sein persönliches Scheitern als Mönch und sein unmoralisches Leben kompensieren wollen.⁵⁴ Nachdem sich bereits der Würzburger Kirchenhistoriker Sebastian Merkle (1862– 1945) für eine Versachlichung der Urteile eingesetzt hatte, wurde Joseph Lortz (1887– 1975) zum eigentlichen Bahnbrecher des neuen katholischen Lutherbildes. In seiner zweibändigen Darstellung der Reformationsgeschichte⁵⁵ räumte er freimütig Missstände in der Kirche des Spätmittelalters ein und würdigte Luthers gute Absicht, auch wenn dieser keine zutreffende Einsicht in die wahre katholische Lehre gehabt habe. Im Vorfeld und im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils haben die Impulse der von Lortz inaugurierten katholischen Lutherforschung dann zu einer bemerkenswerten Neuentdeckung und Hochschätzung von Person und Werk des Reformators in bestimmten katholischen Milieus vor allem in Deutschland geführt. Eine quasi offizielle kirchenamtliche Anerkennung erhielt das neue Lutherbild durch die Rede, die Johannes Kardinal Willebrands (1909 – 2006), der Präsident des päpstlichen Sekretariats für die Einheit der Christen, 1970 vor der Fünften Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes in Evian hielt und in der er Luther wörtlich als „unseren gemeinsamen Lehrer“ würdigte.⁵⁶ Im Jubiläumsjahr 1983 legte dann die Gemeinsame Römisch-Katholische/Evangelisch-Lutherische Kommission eine Erklärung vor, die Luther bereits im Titel als „Zeugen für Christus“ qualifizierte.⁵⁷
A. Herte, Das katholische Lutherbild im Bann der Lutherkommentare des Cochläus, 3 Bde. (Münster, 1943). H. Denifle, Luther und Luthertum in der ersten Entwicklung quellenmäßig dargestellt, 2 Bde. (Mainz, 1904– 1909); H. Grisar, Luther, 3 Bde. (Freiburg, ²1911– 1912). J. Lortz, Die Reformation in Deutschland, 2 Bde. (Freiburg, 1939/40). Sent Into the World. The Proceedings of the Fifth Assembly of the Lutheran Wold Federation (Minneapolis, 1971), 62– 63. „Martin Luther – Witness to Christ,“ in Facing Unity. Models, Forms and Phases of Catholic-Lutheran Church Fellowship (Genf, 1985): 72– 80.
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Doch nicht nur als „Lehrer“ oder „Zeuge“ konnte Luther im nachkonziliaren Katholizismus gewürdigt werden, sondern auch als „Vater“. Im Kreis der Schüler und Mitarbeiter von Joseph Lortz am Mainzer Institut für Europäische Geschichte war es üblich geworden, wertschätzend von „Vater Luther“ zu sprechen.⁵⁸ Peter Manns (1923 – 1991), Schüler und Nachfolger von Lortz am Mainzer Institut, trat schließlich ab 1980 offen dafür ein, Luther als „Vater im Glauben“ für die gesamte Christenheit anzuerkennen.⁵⁹ Zwar leugnete er nicht die Berechtigung der ehemaligen kirchenamtlichen Verurteilung Luthers; dieser habe damals um der Wahrheit willen notwendig zum Ketzer werden müssen.⁶⁰ Dabei legte Manns Wert auf die Feststellung, dass das Prädikat „Vater im Glauben“ streng von 1 Kor 4,14 f. her zu verstehen sei. Keinesfalls dürfe man Luther „als ‚einen‘ neben oder unter ‚vielen Vätern‘“ begreifen oder ihn zu einem unter anderen Kirchen- oder Bekenntnisvätern verkleinern. Als „Vater im Glauben“ im biblischen Sinne sei er nur noch mit Abraham und Paulus, Augustinus und Bernhard von Clairvaux zu vergleichen.⁶¹ Im Vorfeld des Reformationsjubiläums 2017 mündeten die neuen Einschätzungen Luthers von katholischer Seite vereinzelt in konkrete kirchenpolitische Vorschläge. Der an einer evangelisch-theologischen Fakultät lehrende katholische Dogmatiker Otto Hermann Pesch (1931– 2014) forderte bereits 2008 die Aufhebung des Kirchenbannes gegen Luther – eine Forderung, die auch von anderen Katholiken erhoben wurde.⁶² Noch weiter ging der Tübinger Dogmatik-Professor Bernd Jochen Hilberath (geb. 1948), der 2011 vorschlug, der Papst solle Luther förmlich zum „Lehrer der Kirche“ ernennen.⁶³ Kann man also heute Luther als einen Vater der universalen christlichen Kirche bezeichnen? Ganz so weit wird man nicht gehen dürfen. An dem Wittenberger Reformator scheiden sich auch heute noch die Geister. Doch an die Stelle der schroffen konfessionellen Gegensätze ist ein gemeinsames Fragen nach der Wahrheit des Glaubens getreten. Dabei bewährt sich auch im Blick auf Luther das Wort des Apostels: „Prüft alles, und das Gute behaltet!“ (1 Thess 5,21).
P. Manns, „Was macht Martin Luther zum ‚Vater im Glauben‘ für die eine Christenheit?,“ in Martin Luther „Reformator und Vater im Glauben“. Referate aus der Vortragsreihe des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Hg. Ders. (Stuttgart, 1985): 1– 24; wieder in: Ders., Vater im Glauben. Studien zur Theologie Martin Luthers (Stuttgart, 1999): 400 – 423, hier: 400. P. Manns, Martin Luther, Ketzer oder Vater im Glauben? (Hannover, 1980). Ebd., 19. Manns, „Was macht Martin Luther zum Vater im Glauben“: 401– 405. M. Schuck, „Luther rehabilitieren? Ein katholischer Theologieprofessor will den Reformator vom Bann befreien,“ Sonntagsblatt. Evangelische Wochenzeitung für Bayern 28 (2008). Vgl. Pesch, „Was hat Luther den Katholiken (noch) zu sagen?“: 130 f. – Vgl. W. Michaelis, „Die Kontroversen um die Bannaufhebung,“ Concilium 12 (1976): 525 – 532. G. Facius, „Warum Luther nicht rehabilitiert werden wird,“ Die Welt (17.11. 2011).
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Was bleibt von Luther? 1 Die Frage
Verblüfft von der unerwarteten Frage, was eigentlich heute noch die christlichen Kirchen trennt, müsste man sich erst einmal fragen, ob denn die theologischen Gegensätze im 16. Jahrhundert – so tiefgreifend und berechtigt sie auch gewesen sein mögen – tatsächlich Religionsgemeinschaften hervorbringen mussten, die in Konflikt miteinander lebten. Heute, nach Jahrhunderten von Polemik und Friedensangeboten, von Glaubensstrenge und Toleranz können die Trennungsgründe nur schwerlich auf einen Schlag ausgelöscht werden. Sind sie ein längst verschlissenes Erbe der Vergangenheit? Wer versteht noch ihre Substanz? Wer wäre noch in der Lage, sie mit der gleichen Entschiedenheit wie damals auszudrücken, als sie, zusammen mit historischen Fakten anderen Ursprungs, Begriffsstreitigkeiten und Kämpfe um die Vorherrschaft auslösten? Es ist Aufgabe der Kirchen, sich dazu zu befragen, zumal in dem aktuellen, religionsübergreifenden Kontext. Bei der Ausbildung muss geklärt werden, inwieweit diese auseinanderstrebenden Tendenzen noch interessieren, wie aus den damaligen Unterschieden noch Lehren zu vermitteln sind, nicht weil sie als unvergänglich gelten, sondern weil sie in einer neuen Epoche als Anreiz und Mahnung dienen könnten. Die Kontroverse begann 1517 und hatte mit dem zu tun, was Luther seit 1512 in seinen Vorlesungen ausgearbeitet hatte. Der Disput entsprach den theologischen Leitlinien, die Luther bekannt gegeben und vertreten hatte. In seinen Vorlesungen bestimmt der Reformator für den Menschen einen Ausgangspunkt, der in großer Höhe liegt, außerhalb jeder Zeitlichkeit. Der Mensch wird praktisch in die Ewigkeit hineingeboren, aber nicht aus sich selbst heraus, sondern als Hörer einer frohen Botschaft, die festigend und befreiend wirkt. Daher wird der Mensch von vornherein frei sein, jenseits der Anlagen oder Tätigkeiten, über die er bereits verfügt. Um frei zu sein, muss sich der Mensch auf etwas anderes gründen, etwas Unabhängiges und Befreiendes. Diesen äußeren Faktor nennt Luther Verbum, Wort, einen Ausdruck, den er aus der biblischen Tradition übernimmt und unermüdlich in seine Weltsicht einfließen lässt. Das Geheimnis des Verbums ist, frei zu sein und zu befreien. Die Anwendung dieser These auf die Kirche musste zu unvorhersehbaren Ergebnissen führen. Als Luther die aus seiner Sicht zentrale Frage formulierte, flammten sofort Diskussionen auf. Er hatte behauptet, „Petrus kann nicht vor Christus die Ab-
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solution erteilen“¹ (das heißt so viel wie: Christus kam vor Petrus). Das bedeutet, der wahre Kern des Evangeliums, mit seiner befreienden Wirkung, kommt direkt von Gott und geht jeder menschlichen Autorität voraus, selbst wenn sie noch so stark legitimiert ist. Das ist eine in sich unangreifbare und katholische These. Man hielt ihm aber entgegen, auf diese Weise habe er die Autorität des Papstes in Frage gestellt. Luther fuhr fort, seine Ansicht zu vertreten, und erklärte, dass der Papst lieber daran denken solle, seine Pflicht zu tun. Luthers Gegner wehrten sich mit ihren Argumenten gegen seine Thesen, die ihnen unannehmbar und extravagant erschienen. Aber die Thesen hatten Bestand, da es Menschen gab, die sie nicht inakzeptabel fanden, sondern sogar angebracht. Die antiautoritäre Schlussfolgerung, die in der Polemik eine immer stärker dominierende Gestalt annahm, war für Luther nicht ausschlaggebend. Das, was er immer wieder hervorhebt, befasst sich mit der Grundeinstellung, die das Menschenwesen gegenüber der befreienden Botschaft einnimmt. Luther gibt dem lateinischen homo – wir verstehen darunter den philosophischen Menschen – den Sinn eines Du, das vom Verbum beim Namen genannt wird und das nicht weniger Subjekt ist als das Selbst. Ein Sein, das immer bei sich selbst ist, steht auch immer dem Verbum als schöpferischem Wort gegenüber. Aus dieser Begegnung geht der Mensch als unabhängiges und freies Wesen hervor. Luther erklärt sogar, dass die Person dem Verbum ähnelt: Similis forma in verbo et in credente. ² Diese Übereinstimmung, die durch „ähnliche Form“ zustande kommt, macht die Person zum Subjekt, wenn wir es so ausdrücken wollen, aber einem glaubenden Subjekt. Das Adjektiv, das die Beziehung des Menschen mit seiner Freiheit qualifiziert, ist „glaubend“, denn seine Freiheit ist ursprünglich, kann nicht weiterführend bezeichnet werden. Wer mehr wollte, würde das Geheimnis dieser Freiheit entheiligen und sie in eine unrechtmäßige Pflicht verwandeln.Vielmehr kann man sagen, dass der Mensch unablässig von seinem Werden ausgeht und dass dieses Werden von ihm nur in zwei Elementen erkannt werden kann, die nicht übereinander anzuordnen sind: Der freie Ursprung und der Akt einer anschließenden Mobilisierung. Aber all dies muss eine Bedingung erfüllen, das Verbum kann keine Regel, kein Gesetz und kein Gebot enthalten, es muss rein und frei sein, damit es Reinheit und Freiheit geben kann. Die Wahrheit des Evangeliums, die aus der Vermittlung der Kirche hervorgeht, bleibt transzendent. Die Kirche und ihre Vertreter sind nicht
M. Luther, Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute [1518], These 7 (WA 1,542): „Non ergo prius solvit Petrus quam Christus, sed declarat et ostendit solutionem.“ „Eine identische Form gibt es im Wort und im Gläubigen“, Original der Vorlesungen zum Römerbrief [1515 – 1516]; WA 56,227,6 – 7. Die „Form“ ist hier nicht so zu verstehen, als wäre sie das gemeinsame Element von Wort und Gläubigem; sie ist das Mensch im Mensch sein, vom Verbum hervorgebracht. Die „Form“ ist nicht das Attribut des Subjektes, sondern „das“ Subjekt. Dieser Unterschied ist wichtig. In der zweiten Vorlesung zu den Psalmen finden wir „eodem verbo deus facit et nos sumus, quod ipse est, ut in ipso simus, et suum esse nostrum esse sit“ („mit dem Worte selbst erschafft uns Gott und wir sind, so sind wir in ihm und sein Sein ist unser Sein“), Operationes in Psalmos [1519 – 1521]; WA 5,21– 22,144).
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Wahrer (des Glaubens), sondern Amtsträger. Vicario non est opus, sed dumtaxat ministris ³ – nur Amtsträger der befreienden Botschaft. Unvermeidlich musste der Einwand kommen, dass, ganz im Gegenteil, das Verbum ein Gebot enthält, und indem sich der Mensch an diese Aufforderung anpasst, drückt er seine Beteiligung am Heilsgeschehen aus und an der fortschreitenden Rückkehr zu sich selbst, wie der verlorene Sohn, der nach einem langen Exil ins Haus des Vaters zurückkehrt.⁴ Die Kirche kann also Führung bei der Rückreise übernehmen. Der aufzulösende Knoten liegt in diesem Gegensatz.
2 Die Zielsetzung der Polemik Luthers Das Ziel von Luthers Polemik ist eher der religiöse Mensch als die kirchliche Gewalt an sich. Es geht um den Menschen, der das Christentum durch seine Tugend in sich selbst verwirklichen will. Dieser Mensch denkt, selbst nachdem er ins Taufwasser getaucht wurde (was Tod und Auferstehung symbolisiert), dass er sein Ziel nicht erreichen wird, bevor er nicht sich selbst seinen Wert bewiesen hat. Also wird er sich sinnlose Gesetze auferlegen und hochfliegende Ziele erreichen wollen, voller neuer Erfordernisse und neuer gefährlicher Illusionen. Er, der religiöse Mensch, ist – anders als der „Gläubige“ – auf der Suche nach dem „Beweis“, daher wählt er eine kleine Gemeinschaft von Personen aus, die diesen Beweis mit ihren Kräften erreichen werden, im Gegensatz zur verlorenen Welt, um sich dann immer wieder über die eigene Unvollkommenheit zu beklagen. Dazu erklärt Luther, dieser „Imperativ“ werde niemals zu einer Wirklichkeitsform. Ein christliches Leben, das auf der Pflicht aufbaut, ist ein falscher Schritt, der den Anspruch vor Augen hat, ein göttliches Gesetz zu erfüllen oder zu einem entgegengesetzten Gefühl der Ernüchterung führen wird, weil man es nicht geschafft hat. Luther kritisiert diese Haltung, sieht in ihr eine Gefahr. Wir können uns schnell davon überzeugen, angesichts eines schwer verständlichen Verses in einer komplizierten Argumentationsreihe des Apostels Paulus, der in seinem Brief an die Galater (in einer Gegend, die heute zur Türkei gehört) erklärte: „[…] Sollten wir aber, die wir durch Christus gerecht zu werden suchen, auch selbst als Sünder befunden werden – ist dann Christus ein Diener der Sünde? Das sei ferne!“⁵ „Ubi enim deus praesens est, Vicario non est opus, sed dumtaxat ministris“ (Ad librum eximii Magistri Nostri Magistri Ambrosii Catharini defensoris Silvestris Prieratis acerrimi, responsio, 1521; WA 7,742). [Wo Gott anwesend ist, braucht es keinen Statthalter, es genügen Amtsträger]. Lk 15. Gal 2,17. Siehe Luthers Kommentar in: In epistolam Pauli ad Galatas commentarius [1519]: Die Hinzufügung von Rechtsnormen, um dem Gläubigen mehr Sicherheit zu geben „lässt uns wieder zu Sündern und Gerechtigkeitsbedürftigen werden, was absurd ist und die vollständige Abschaffung von Christus bedeutet, so, als ob er für das Verschwinden unserer Sünden das Gesetz bemühen müsste. Das würde bedeuten, dass die Justiz bessere Werke vollbringt als Christus“ (WA 2,493: „peccatores fecit et legis iusticia egentes: quod est absurdissimum et Christum prorsus abolere, quia sic peccatum nobis ministrasset, quod per legem dilueretur, et iam esset legis iusticia melior quam Christi.“).
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Wir können nicht selber die Darsteller oder Anwender von Christi Gerechtigkeit werden, jener Gerechtigkeit, derentwegen wir errettet wurden. Wir würden in einen Teufelskreis zwischen Christus und uns geraten, in eine Staubwolke, in der es unmöglich wäre, zwischen ihm und uns zu unterscheiden oder zwischen unseren und seinen Handlungen, die uns retten. Wovon errettet er uns? Von unserem bisherigen Nichts, aber nicht von unserer Unfähigkeit, die Pflicht zu erfüllen. Die frohe Botschaft des Verbums bietet keine zweite Chance an, damit sich Adam von seinen guten Vorsätzen löst, sondern damit Adam ganz und gar erlöst wird. Luther vertieft in der Folge zwei Hauptargumente, einerseits – insbesondere mittels der Lehre (1512– 1521) – untersucht er das freiheitliche Fundament des Subjektes, in dem sich die evangelische Botschaft herausbildet – das können wir als das metamoralische Fundament des Subjektes definieren. Andererseits bemüht er sich in den folgenden Jahrzehnten – bei der Auseinandersetzung mit seinen Gegnern und durch den Dialog mit den ihn umgebenden Personen –, die Beziehung zwischen der Freiheit des Menschen und seinem Verhalten immer besser zu klären. Dabei erarbeitet er jene Ethik, die er zunächst mit Entschiedenheit als konstituierendes Element der menschlichen Person (traditionell „der Mensch“) ausgeschlossen hatte. Aus diesem Doppelbegriff, den er immer wieder aufgreift, aber nie zu einer Einheit verschweißt – denn damit hätte er ihn ausgelöscht – entstehen alle weiteren Antworten, sowohl seine eigenen als auch die weiterführenden Arbeiten seines Umfeldes, durch Freunde, Mitarbeiter und Reformatoren aus anderen europäischen Städten. Auch die Leitsätze des Konzils zu Trient wurden nicht ausgeschlossen. In der Folge kam es zu verschiedenen Versuchen, den Protestantismus von innen heraus zu verbessern, mit der Bildung verschiedener Theologien und „Kirchen“, im Sinne von regionalen kirchlichen Organisationen oder autonomen christlichen Gruppierungen. Das ist aber nicht der Gegenstand unserer Untersuchung. Uns interessiert vielmehr, was gleichzeitig in der Philosophie entstand. Jene Reinheit, ja fast Einsamkeit des Wortes, welche die Freiheit des Subjektes (des Menschen) garantiert, überträgt sich in die Philosophie, auch dort wird nach einem „reinen“ Ansatzpunkt gesucht. Die Ergebnisse sind mehr oder weniger überzeugend, auf jeden Fall aber mit der modernen Idee der Emanzipation verbunden. Das geht freilich über Luther hinaus.
3 Abriss über den Humanismus Die Idee eines logischen Absoluten, von der das reine Subjekt seinen Ausgangspunkt nimmt, reicht in die Philosophie hinein. Die Suche nach einem letzten Fundament innerhalb der Geschichte einerseits, die Suche nach einem realen Fundament des Menschen andererseits – und das in Gegenwart des Absolutismus politischer und religiöser Art in allen seinen Formen, von dem man sich emanzipieren muss, um frei zu sein – führen dazu, dass Geschichte und Philosophie die Religion ersetzen oder ihr eine Nebenrolle zuweisen wollen. Aber die Wiederaufnahme dieses Themas in der Philosophie zeitigt auch die folgende Frage: Wie kann man gewiss sein und gleich-
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zeitig frei? Die Logik muss uns eine korrekte Sprache zusichern, aber es bestehen Zweifel, dass sie uns den Zugang zu einer so bedeutenden Wahrheit bieten kann, dass daraus eine Ethik entsteht. Wenn man über die primären Prinzipien diskutiert, ergibt sich immer das Problem, eine Synthese zwischen dem Gründungsmotiv und der daraus folgenden Norm zu finden. Darüber diskutiert die gesamte moderne Welt. Wenn der Ausgangspunkt metamoralisch ist, wie kann man dann noch eine Verpflichtung oder ein Gesetz formulieren? In fünfhundert Jahren hat die westliche Gedankenwelt verschiedene Lösungen hervorgebracht. Auch hierzu muss man sich fragen, was übriggeblieben ist. Aber kommen wir zu den heutigen Ergebnissen. Weil wir für die Wahrheit keinen unbegrenzten Halt finden und nichts Überzeugendes, auch nicht in der Physik, der Mathematik oder im Recht, und da die politischen Versuche des Absolutismus abwegig in den Fakten und trügerisch in den Worten sind, und die Religion an den theologischen Disput verwiesen worden ist, wohin kann man sich noch wenden? Zu welchen Ausblicken gelangen die moderne Überführung von theologischen Themen in politische Materie, die Säkularisierung des Religiösen und die Übernahme der zentralen Position durch den Menschen, die früher der Schöpfer einnahm? Als Ergebnis erleben wir heute ein weitverbreitetes Misstrauen gegenüber der Politik und für viele eine Rückkehr zum Religiösen, wenn auch außerhalb der christlichen Dogmen. Heute liegt der Aufbruch in eine „neue Welt“ – das, wofür vor 500 Jahren Amerika stand – in den Händen der wissenschaftlichen Forschung, die ohne Skrupel gegenüber dem eigentlichen Sinn der Forschung (anders kann man keine Forschung betreiben) jeden Tag behauptet, in der Lage zu sein, ihre Theorien glaubhaft werden zu lassen, und dass es für die Menschheit ratsam sei, sich ihren Versprechungen anzuvertrauen. Wenn sie es aushalten, sollen ihr doch Juristen, Philosophen und Theologen, die ihr nachkommen, die Steigbügel halten. Das löst aber nicht die beunruhigenden juristischen und politischen Fragen einer neuen Ära. Wo findet sich der beruhigende Nachweis jener Freiheit, an die das politische Leben, der spirituelle Anspruch, die Kriterien der Gerechtigkeit und auch die wissenschaftliche Verantwortung anknüpfen könnten? Andererseits trifft es zu, dass sich die moderne Epoche nicht nur durch die Suche nach einem beständigen und sicheren Leitgedanken auszeichnet, mit dem entsprechenden Abgleiten der Vernunft oder des Gefühls anstelle des Dogmas oder der Gebote Gottes. Sie zeichnet sich in der Tat durch einen starken Drang zur Emanzipation aus. Die große Literatur quillt über von dieser Idee, die Eliten verspüren ihren Atem und die Völker den Bedarf danach, die Musiker feiern sie, die Konservativen schieben ihr Riegel vor, die einer nach dem anderen entfernt werden, und die Frauen tauchen immer in der ersten Schlachtlinie auf. Legen wir einmal auf die eine Waagschale das sichere Fundament des menschlichen Subjektes und auf die andere seine Emanzipation. Wenn wir die Verbindung zwischen diesen beiden Erfordernissen suchen, merken wir, dass sie ein wenig in Kontrast zueinander stehen, während sie sich bemühen, einen Schnittpunkt zu finden. Und wo steht Luther?
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Das fragte sich bereits Goethe, als 1817 die Feierlichkeiten für die Dreihundertjahrfeier der Reformation näher rückten und er einen Aufsatz über das Christentum ventilierte. Darüber schrieb er in einem Brief vom 14. November 1816 an den Komponisten Zelter, der seinerseits die Absicht hatte, für diese Gelegenheit ein Musikstück zu komponieren. Goethe erkennt an, dass Luther ein solides Bauwerk errichtet hatte und dass man sein grundlegendes Konzept jetzt ausarbeiten könne, sowohl in poetischer als auch musikalischer Weise. Aber welches Konzept? „Dieser Grund nun beruht auf dem entschiedenen Gegensatz von Gesetz und Evangelium, sodann auf der Vermittelung solcher Extreme“. Goethe fühlte sich autorisiert, andere fundamentale Gegensätze hinzuzufügen: „[…] Nothwendigkeit und Freyheit, mit ihren Synonymen, mit ihrer Entfernung und Annäherung […]“. „[…] so siehst du deutlich,“ schreibt er an seinen Korrespondenten, „daß in diesem Kreise alles enthalten ist, was den Menschen interessieren kann“.⁶ Wir verdanken Karl Löwith den Hinweis auf diese Worte Goethes.⁷ Löwith fügte noch eine weitere Betrachtung hinzu: Seiner Meinung nach haben alle Forschungen nach dem Absoluten, wie sie für die linke und rechte Politik typisch sind, und die von der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts abstammen, negative Ergebnisse hervorgebracht. Daher bleibt nur eine Neigung zu einer Philosophie und dann auch einer Politik übrig, die zwischen realen Möglichkeiten variiert. Goethe persönlich erkannte in Luthers Gedankengut die permanente Relation zwischen Gegensätzen, die so ausgeprägt sind, dass es niemals zu einer Synthese kommt. Dennoch müssen konkrete Anstrengungen in Richtung eines ehrlichen und solidarischen Humanismus unternommen werden.
4 Verbum, Subjekt, Authentizität Die gesamte Moderne sucht das a-priori, das wahrhaftige Verdikt, unkontrollierbar, weil absolut, das sichere Fundament des „so ist es“, an die Vernunft oder an den Willen gebunden. Luther versetzte es in das Paradox des Verbums, das zwar sowohl das Gesetz als auch das Evangelium enthielt, aber den Menschen „außerhalb des Gesetzes“ ansiedelt. Das Prinzip, das die menschliche Freiheit sichert, ist die Unabhängigkeit des Verbums. Aber bleibt auf diese Weise das Verbum nicht unverbindlich? Geht es nicht das Risiko ein, von jeder Wahrheit vereinnahmt zu werden, von jedem absoluten Anspruch, der sich mit überzeugenden Empfehlungen präsentiert? Diesem Einwand wusste der Protestantismus nichts Überzeugendes entgegenzusetzen, noch nicht einmal für seine Anhänger, die sich voller Zweifel in die Intimität ihres „Gewissens“
K. R. Mandelkow und Ch. Wegner (Hg.), Goethes Briefe, Bd. 3, Hamburg, 1965, 379 ff. K. Löwith, Da Hegel a Nietzsche, Turin, 1959, 322 (Von Hegel zu Nietzsche, Zürich/Wien, 1949).
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zurückzogen. Sie selbst tragen zuweilen jene „Zweifel“ als eine Form von „Freiheit“ vor sich her.⁸ Zwei Linien haben sich im gebildeten und volkstümlichen Protestantismus bis heute weiterentwickelt: die subjektive Persönlichkeit und die intuitive Praxis. Beide spiegeln mehr die ursprüngliche Prägung durch Ockham wieder als die Lehren Luthers.Von der gesamten Gründung des Subjektes im Verbum bleiben der Imperativ des Gewissens und die ihrer selbst absolut bewusste Person übrig. Der europäische Bürger, im Bewusstsein seiner selbst, lebt sein eigenes Leben. „Der Gerechte wird durch den Glauben leben“ entspricht „niemand kann ihn aburteilen“. Eine zweite Denkweise ist typisch für denjenigen, der eine wahre Übereinstimmung zwischen Glaube und Werk feststellt, und dass diese Entscheidungen absolut intuitiv sind. Das Absolute wird als Spontaneität, reine Großzügigkeit, integrale und intuitive Fähigkeit des „Gläubigen“ interpretiert, ohne Bedarf für Rechtfertigung oder Beweise. Der Mangel an Angemessenheit des Gläubigen wird, wie bereits gesagt, sofort in die Nichtbewertbarkeit seiner Entscheidungen und Handlungen verwandelt. Der Gläubige genügt sich selbst, er muss nur vor sich selbst und vor Gott Rechenschaft ablegen. Auf wunderbare Weise wird das Subjekt befähigt, das auszuführen, was es für richtig hält. In diesen beiden Sichtweisen bleibt fast nichts von Luther übrig. Da die Norm nicht vom Recht abstammt, entsteht sie aus der Improvisation, aus der Intuition oder dem guten Willen des Subjektes. Man hebt auf diese Weise Luthers Denkweise aus dem Sattel, dieser suchte seinerseits die Norm in den Exkursen zu Caritas und Spes, wie wir noch sehen werden. Diese beiden Sichtweisen (subjektive Denkweise und intuitive Praxis; Anm. d. Übers.) bedeuteten für Jahrhunderte die Alternative zum römischen Katholizismus, der Festung des autoritären Denkens und der Unbeweglichkeit. All dies erscheint uns heute veraltet und überwunden. Andererseits reißen die politischen und religiösen Absolutisten die Macht über das Verbum an sich, sobald man es „allein“ lässt. Es wäre allerdings keine Lösung, dass sich die Kirche des Verbums bemächtigt oder des individuellen, beziehungsweise kollektiven Gewissens. Die Lösung muss sein, dass das Verbum für alle so bleibt wie es ist. In gewissem Sinne kann man hier von „Mysterium“ sprechen, und im äußersten Fall kann die Kirche dieses Mysterium bewahren. Damit befänden wir uns auf einer Grundlage, die auf authentische Weise „ökumenisch“ sein könnte. Der frühe Luther hebt die Freiheit des Verbums als sicheres Fundament des Menschen hervor, bis dahin, dass er den Menschen kurzerhand zum „Gläubigen“ erklärt. Der spätere Luther, trotz aller Aufmerksamkeit, die er darauf verwendet, die Freiheit des Verbums und des Gläubigen zu wahren, muss zugeben, dass das Verbum ein Gesetz oder ein Gebot enthält, allerdings kein „neues Gesetz“. Sobald auch nur die Idee formuliert wird, dass das Verbum einen Befehl oder eine Notwendigkeit enthält – unmöglich für sein Konzept von der Freiheit oder für die Freiheitsvorstellung, die er
Man verwechselt das methodische Hinterfragen mit der psychologischen Unsicherheit des Zweifels.
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dem Gläubigen zusichert – oder dass auch nur eine Stimme auftaucht, die von einem Gebot spricht, welches etwa den Weg zum Gehorsam freigeben würde, muss man die Idee bekämpfen, dass das Verbum ein neues Gesetz enthalten könnte, noch feiner und fordernder als das, welches der Mensch aus Vernunft anerkannt hat. Das darf nicht sein. Gegenüber der menschlichen Vernunft gibt es ein höheres Recht, die „frohe Botschaft“ als solche. Luther sprach von einem geheimnisvollen Ereignis, das der Person oder dem Subjekt einen vitalen Anstoß gegeben hat, in der Moderne suchten fast alle Philosophien einen Fixpunkt über dem Menschen (oder auch im Menschen, aber dann in seiner höchsten Höhe oder Seelentiefe). Von diesem Punkt würde alles andere abstammen. Das ist wahrhaft eine Gefahr für den Menschen. Hätte man, nach Eroberung und Bändigung, aus ihm ein Gebot, eine Disziplin oder ein „Gesetz“ ableiten können? Welche Legitimität hätte jener Prozess haben können, der an den Anfang etwas Absolutes stellt, um daraus mit Sicherheit etwas Relatives zu machen? Welches endliche Gesetz entsteht aus dem Unendlichen? Im Unendlichen kann man auch Schiffbruch erleiden.⁹ Die Religion dient nicht dazu, sich der Wahrheit zu bemächtigen, sondern die Menschen daran zu erinnern, dass man der Wahrheit dienen kann, ohne sie mit den eigenen Absichten gleichzusetzen. Dieser unbedachten und gefährlichen Gleichsetzung sind die religiösen oder sozialen Einrichtungen und sogar die philosophischen Gedankengebäude ausgesetzt, das Menschenwort ersetzt das Wort Gottes. Das bedeutet nicht, dass man sich jeder menschlichen Institution widersetzen muss, aber es verhindert, dass man das Endliche dem Unendlichen überordnet. Zu lernen, der Wahrheit zu dienen, ohne sich der Illusion hinzugeben, sie zu repräsentieren, ist eine schwere Aufgabe, die Beständigkeit und Selbstbeherrschung erfordert. Hier kann Luther sich noch mit seiner Theorie rühmen, bei allen Beschränkungen, die zwangsläufig auch sie haben muss. Beim frühen Luther überwiegt die mystische Finsternis, Garantie für die Authentizität dieser Person. Konsequenterweise gewinnt die Negation die Überhand, eine Art Anklage gegen das, was ein jeder vorgibt zu sein. Die Fides (der Glaube), zu deren Beschützer Luther sich sehr bald erklärt, bewahrt in sich noch diese schützende Dunkelheit, diese Genauigkeit ohne Dimensionen. Was er dann sofort anhand der Angemessenheit des christlichen Glaubens erklärt. Der Glaube ist als eine dramatische und substantielle Bestätigung jener Dunkelheit zu verstehen und sein Wert liegt darin, dass man mit Authentizität vom Menschen sprechen kann. Nachdem die Ansprüche der spekulativen Intelligenz und die oberflächlichen Entwürfe einer tugendhaften Aktion verstummt sind, kann man endlich sein Ohr für das Verbum öffnen, welches spricht, zum Leben erweckt und in Bewegung versetzt. Erteilt es auch Befehle?
„E ’l naufragar m’è dolce in questo mare“, („Und Schiffbruch ist mir süß in diesem Meere“) wird der Dichter Giacomo Leopardi sagen: L’infinito, 1819.
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Luther hegt Vorbehalte gegen denjenigen, der denkt, auch ein „Gebot“ zu hören, außer der frohen Botschaft des Verbums –, und der meint, sofort gehorchen zu müssen, als Beweis dafür, dass er das Verbum gehört hat. Eine solche Person ist nicht aufrichtig gegen sich selbst. Noch schlimmer kommt es, wenn sie dieses Gebot anderen auferlegen will, dann kommt ihre Autorität ins Wanken! Die Idee, dass der Mensch nicht in der historischen Wahrheit, sondern in der Dunkelheit des Paradoxons geboren sei, ist nicht völlig verloren gegangen, aber sie hat sich in der Moderne auch nicht gut bewährt, mit allen Konsequenzen, die wir bereits erlebt haben und gerade erleben. In der Sprache Luthers sind Paradox, Dunkelheit und Freiheit Synonyme. Wenn man das menschliche Wesen in der Dunkelheit eines autonomen Beginns schützt, rettet man seine Freiheit. Das moderne Bewusstsein fragt sich an diesem Punkt: Was wird der nächste Schritt sein, wenn der erste Schritt dunkel bleiben muss, um als heilsbringend zu gelten?
5 Eine Theorie des Menschen Da er von Anfang an jeden Hinweis auf eine Pflicht unterdrückt hatte, musste Luther einen anderen Bezugspunkt finden, den er Verbum (das Wort) oder Evangelium nannte. Dieser Bezugspunkt hat erklärtermaßen keine Attribute. Sein einziger Zweck besteht darin, dem Menschen seine Freiheit zu garantieren. Der Mensch ist sein einziges Ergebnis. Die Fähigkeiten des Menschen als Subjekt werden für seine erste Handlung nicht benötigt. Diese Handlung geschieht nur durch das Wirken des Verbums. Diese erste Aktion des Verbums – als Auswirkung auf den Menschen – erhält den Namen Fides, der Mensch übernimmt vom Verbum als einzige Eigenschaft die Freiheit. Jede weitere Entäußerung, zu der das Menschenwesen fähig ist, erhält den Namen Caritas. Fides bleibt ohne Eigenschaften, Caritas besitzt davon viele. Das Subjekt hat bei seiner Geburt noch keine Attribute, kann aber Fähigkeiten und natürliche Begabungen erben. Diese sollte es aber allein der Caritas unterordnen und nicht Fides damit behelligen. Das ist die Solutio Luthers, die viele überzeugt, aber nicht allen gefällt. Luthers Konzeption des christlichen Humanismus beginnt mit dem Nichts oder dem Schweigen, und setzt sich in der Dimension der Freiheit fort, die mit ihr eng verbunden ist. Die Freiheit wird von allen Seiten angegriffen, wie eines der fröhlichen Loblieder besagt, deren Verfasser Luther ist, aber wir werden es schaffen. Niemand kann unsere Stellung einnehmen, auch wenn sie uns auf vielerlei Weise quälen.¹⁰ Luther interpretiert die evangelische Botschaft als eine das Ich befreiende, als jene Freiheit, die unverhofft erscheint (Psalm 81,6 [Luth. 81,7]). Gerade als Wort muss
Vgl. „Nun freut euch lieben Christen g’mein“ an, Luther 1523/1524: „und hüt dich vor der Menschen Satz, /davon verdirbt der edle Schatz: /das lass ich dir zur Letze“; ausdrücklicher im Lied „Ein feste Burg“.
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das Wort abstrakt bleiben. Hieraus folgen eine ganze Reihe von Einwänden beziehungsweise Vorwürfen, denn man könnte daran denken, statt Verbum jeden anderen absoluten Begriff einzusetzen. Gegenargumente sind möglich, können aber diese Positionen nicht eliminieren. Wenn Verbum, Fides und der Gläubige gut zueinander stehen, muss man im Licht der Caritas deren Ansprüche hören, anerkennen und zufriedenstellen. Auf diese Weise finden sich das Endliche und das Unendliche zusammen, in unüberwindlicher und unumgänglicher Weise. Gewiss, das Endliche und das Unendliche finden sich eines im anderen, aber die Empfindung dessen geschieht durch sola fide. Das Endliche und das Unendliche finden sich eines im anderen auf entgegengesetzte Weise, in einladender und gleichzeitig strenger Gegenseitigkeit, weil gleichzeitig konstant und diskontinuierlich. Wenn es sich um Konstanz handelt, dann ist es nicht eine Konstanz, die ab und zu Blitze schleudert oder einen Widerschein aufleuchten lässt. Es geht vielmehr um ein enges Zueinanderpassen zwischen Endlichem und Unendlichem, trotz der Distanz zwischen beiden. Das, was von Luther bleibt, liegt vor unseren Augen. Der religiösen Welt entzogen, ist für Luther die Vereinigung von endlich und unendlich eine Tatsache, die sich selbst in ein ewiges Werden überführt. Diese Tatsache fällt nicht unter die menschliche Verantwortung, und noch weniger gehört sie zu den menschlichen Möglichkeiten. Es geht um eine sich selbst genügende und unabhängige Tatsache, in ihrer Realität unveränderbar. Sie trägt in sich ihre eigene Dynamik. Eine Realität, die in sich selbst stattfindet und der von Seiten des Menschen nur ein lauteres Element wie die Fides entsprechen kann. In ihrem „Für-Sich“-Sein schließt sie auch das „Für-Uns“-Sein mit ein. Das Menschenwesen bewegt sich in dieser Vereinigung, vervollständigt und verbessert sie aber nicht, so wie sie ihn nicht verbessert. Die Vereinigung von endlich und unendlich steht jedem Ideal entgegen, das als Modell für den Menschen gelten könnte. Sie ist bereits real, ohne dass es nötig wäre, sie nochmals zu verbessern. Wie muss man sich also gegenüber dem menschlichen Umfeld und seiner Geschichte verhalten? Im menschlichen Umfeld zeitigt sich diese reine Vereinigung als Barmherzigkeit, in der menschlichen Zeit als Hoffnung. Wenn also das Endliche und das Unendliche in ihrer Unterschiedlichkeit und Entsprechung wirklich verbunden sind, wenn auch auf verborgene Weise, was kann noch geschehen? Wir fragen uns, was kann in dieser Welt von dieser doppelten Zugehörigkeit konkret feststellbar sein, wenn sie verborgen bleiben muss? Die Antwort weiß nicht „ganz allein der Wind“ (ohne Bob Dylan widersprechen zu wollen, es sei denn, er bezog sich auf Johannes 3,8). Das menschliche Wesen benötigt Kontinuität. Welche Ethik kann man mit der Fides verbinden? Das Werden entwickelt sich für Luther unter den beiden Begriffen Barmherzigkeit und Hoffnung, wobei die Barmherzigkeit sich im Raum ausdehnt und die Hoffnung in der Tiefe der Zeit. Luther besteht darauf, zu erklären, dass dies auf Augustinus zurückgeht und authentisches Christentum ist. Das Evangelium ist in keinem Fall eine Norm, aber die Norm kann als
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Caritas aus ihm hervorgehen. Mittels der Caritas ist das Ich in der Wechselwirkung mit anderen tief eingebunden, aber es kann nicht dominieren. Die Nicht-Evidenz (Obskurität) des Glaubens ist die Rettung der menschlichen Freiheit. Andererseits bleibt der Glaube auch nicht „müßig“. Man darf sich nur nicht der Illusion hingeben, dass das eigene moralische Verhalten mit einem Hinweis auf Gott gerechtfertigt werden könnte. Der rote Faden, der die Freiheit des Verbums mit seiner praktischen Konsequenz verbindet, findet sich in der spezifischen Dimension der Caritas. Das gesamte Handeln konzentriert sich in der Caritas. Sie bietet viele Möglichkeiten, ihre konkreten Anliegen in einer gewaltigen Arbeit auszuführen und für immer neue Notwendigkeiten offen zu bleiben. Diese Arbeit sollte nicht mit christlichem Stolz als Umsetzung eines göttlichen Willens dargestellt werden, sondern vom Prinzip allgemeiner Freiheit und der Universalität des Wohles aller Menschenwesen unterstützt sein, in gegenseitiger Anerkennung. Denn das ist im Grunde das authentische „göttliche Gesetz“. Luther tadelt denjenigen, der in seinem Handeln den Beweis seines eigenen Christentums finden will. Aber die Beglaubigung des eigenen Christentums findet sich nur in der Bedeutung Jesu Christi und dem, was in seiner Person und durch sein Werk konkret geworden ist. Dieses Werk ist vollendet, es wäre wünschenswert und notwendig, dass es in den Handlungen seines Schülers eine Folge fände, aber diese Taten sind nicht seine Vollendung. Die mittelalterliche Theologie sieht in den menschlichen Taten eine Form von Wettbewerb um die Errettung beziehungsweise um die praktischen Auswirkungen derselben. Aber hier eröffnet die Gnade einen von Adam und Eva abweichenden Weg, einen Weg der Buße und der Werke, der die erfahrene Errettung darstellt und wiedergibt. Luther lehnt es ab, die eigenen Taten in den Begriff der Errettung mit einzuschließen (als Auswirkung der Errettung oder als Teilhabe an ihr). Wenn dies geschieht, wird der Begriff der Errettung geschwächt, seiner Wirkung beraubt und damit unsicher. Luther senkt die christliche Wirklichkeit ins Innere der Geschichte, säkularisiert sie auf endgültige Weise und hebt gleichzeitig ihre reine Transzendenz hervor. Die reine Transzendenz kann nicht ein Zustand oder eine Umgebung der Heiligkeit sein, der den Menschen für ihre Anstrengungen versprochen wird. Und auch nicht eine unendliche Dimension, die noch entdeckt, oder, da sie vorübergehend verlorenging, wiederbelebt werden muss. Müsste also die Person Anstrengungen zur Assimilation und Unterordnung unter die Transzendenz einleiten, um zu ihr Zugang zu erhalten oder nachzuweisen, dass sie ihr angehört? Wer würde dann die für den Zutritt zu ihr zu erledigenden Aufgaben vorschreiben? Das menschliche Wesen ist souverän und bedarf keiner Vervollständigung. Die Werke müssen nicht seinen Glauben vervollständigen. Er ist ganz und gar im Besitz seiner selbst und seine Anstrengungen gehören zu seiner Person. Das Evangelium kann nicht als Ziellinie gesehen werden, die man erreichen muss, oder als eine zu erfüllende Pflicht; und noch viel weniger als eine Prüfung, die man bestehen muss, was viele Prediger leider oft wiederholen. Es ist ein reines, unverfälschtes Moment, dem nur die menschliche Existenz in ihrer Gesamtheit
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entspricht. Luther bekämpft die analoge Übertragung des Unsichtbaren in die sichtbare Welt, aber deshalb schwächt er noch lange nicht das Sichtbare, bis es durch ein anderes Unsichtbares ersetzt werden muss, das nur momentan besteht oder übernatürlicher Natur ist. Luthers Lehre bewahrt vielmehr die Eigenheit beider Elemente. Ihre Verbindung bleibt unsichtbar, aber ist „glaubhaft“. Durch den Glauben kann diese Verbindung in der spezifischen Greifbarkeit der Fakten gehandhabt werden, ohne zu verlangen, dass die Fides sich in Fakten verwandelt und ihre Besonderheit verliert. In diesem Sinne ist eine natürliche Greifbarkeit immer besser als eine illusorische Treue zu abstrakten Symbolen. In anderen Worten: besser ein guter Thomas von Aquin als ein schlechter Wilhelm von Ockham, aber nur „in diesem Sinne“.
6 Caritas und Hoffnung in der Welt Der Indikativ kann keinen Imperativ enthalten, ohne zu entarten. Das ist der frühe Luther. Er verspottet die Redewendungen, in denen der triumphierende Imperativ fragt: Wann wird der Indikativ am Horizont auftauchen? Man wartet vergeblich auf ihn, er erscheint nicht. Also muss man die Denkweise umkehren und den Indikativ an ihre Basis setzen. So ist es. Können wir dennoch einen Imperativ aus dem Indikativ gewinnen? Das ist der zweite Luther. Von hier ausgehend entsteht ein neuer Weg zur Freiheit, nicht des Gehorsams. Die passende Frage lautet: Welche Ethik ergibt sich aus sola fide? Die Frage hatte sich der Professor bereits seit den Jahren seiner Vorlesungen zum Römerbrief gestellt, mit der Frage, was die Beziehung des „Gesetzes“ zum „Evangelium“ wäre, des Baches mit der Quelle, eine Landschaftsmetapher über ein ursprüngliches Hervordringen und die Verbindung mit der anschließenden Kontinuität.¹¹ Die Antwort findet sich in einem anderen „Mysterium“, ohne die Kenntnis des Wortes „fleischgeworden“ gibt es auch keine Kenntnis des Verbums „an sich“. Erstens bleibt das Verbum nicht abstrakt, denn wenn es abstrakt wäre, könnte es nicht denen widerstehen, die sich an seine Stelle setzen wollen. Durch die Inkarnation verbirgt und offenbart es sich. Auch in diesem Sinne ist es ohne Zweifel ein Element für die „ökumenische“ Reflektion. Abschließend gesagt bleibt die Fides nicht unbeweglich und ohne Vitalität gegenüber der Außenwelt. Das Wort Caritas bleibt mit dem Wort Fides verbunden. Vor allem zählt der Unterschied zwischen den beiden. Die Caritas übernimmt niemals die grundlegende und primäre Funktion der Fides. Die Norm ist in keinem Sinne das Evangelium, vor allem, wenn sie als „evangelisch“ angepriesen wird. Die Caritas dagegen kann die Norm enthalten. In diesem Fall kann die Norm auch „evangelisch“ genannt werden, aber im Sinne einer Norm, die für das menschliche Zusammenleben notwendig ist. Ich kann nicht die Freiheit in Autonomie übertragen und das Evan-
Aus den Vorlesungen zum Römerbrief [1515 – 1516]: „Et iterum notandum Quomodo Apostolus fontem cum riuo copulet“, WA 56,308,25 – 26.
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gelium in Gesetz. Ich kann mir nicht selbst die Fähigkeit zuschreiben, das zu tun. Wenn ich diesen Weg einschlagen würde, unterzöge ich das Verbum der Gefahr, nicht mehr Verbum zu sein. Diese Behauptung sollte die große Kontroverse auslösen, die sich zwischen den verschiedenen christlichen Positionen entwickelte. Die Barmherzigkeit als Hauptbegriff enthält verschiedene Entwicklungen. Der „Gläubige“ bleibt nicht untätig und auch nicht allein, die Barmherzigkeit führt den Kampf für die Errichtung einer Welt nach Menschmaß, er besteht nicht darin, das Endliche an das Unendliche anzupassen. Die Religion möchte die Summe aus dem Endlichen und dem Unendlichen sein, sie nimmt den Platz des Unendlichen ein, dem sie vorgibt, Kultstätte zu sein, und verdrängt es schließlich von seinem Platz. Die Barmherzigkeit muss im räumlichen und sozialen Sinn verstanden werden, wo alle Menschenwesen gleich sind, und deshalb müssen auch alle dieselbe Behandlung erfahren, wie aus den modernen Verfassungen hervorgeht, welche stolz darauf sind, diesen uralten Traum der Menschheit zu verwirklichen. Der Ausblick ist nicht der eines geschlossenen Schafstalls, in den man eventuell auch „verlorene Schafe“ zurückbringt. Die gesamte menschliche Gemeinschaft ist der Raum, in dem vitale Beziehungen geknüpft und stets vorhandene Feindseligkeiten aufgelöst werden können. Die Caritas ist nicht ein Ausdruck für die Überlegenheit eines Subjektes über andere Subjekte. Es ist die zwischenmenschliche Beziehung selbst, die Menschheit als solche, die Individuen auf der Basis eines gemeinsamen Nenners verbindet und nicht, weil sie von ihrer Besonderheit determiniert sind. Die „Barmherzigkeit“ ist der Begriff, der im Unterschied zur Fides einen ethischen Hinweis widerspiegelt, den das Verbum eventuell enthält. Die Caritas kann die Norm zufriedenstellen und wird sogar zu diesem spezifischen Zweck eingesetzt, allerdings unter der Bedingung, dass die Norm von der Notwendigkeit und der Anerkennung des Nächsten ausgeht, und dass sie von seinen Bedürfnissen geleitet wird.¹² (Luther benutzt die Begriffe „Notwendigkeit“ und „Nutzen“ und noch nicht „Recht“, das er später verwenden wird). Die Ethik kann ein Gebot enthalten, wenn solch ein Gebot der Person anvertraut wird, die in der biblischen Sprache der „Nächste“ ist, dieser typisch evangelische Ausdruck, den man auch heute noch sofort versteht. Wenn das Gebot in den Händen des „Gläubigen“ läge, so nähme dies dem Evangelium seine Kraft, denn man vergäße, dass der „Gläubige“ ein unbelebtes Objekt ist, welches erst durch das Wort zum Leben erweckt wird. In den Händen des Nächsten wird das Gebot konkret, und es ist der Nächste, der das im Verbum enthaltene Gesetz verständlich werden lässt. Die großartige christliche Idee, nach der Gott unsichtbar bleibt – die einzig zugängliche Erscheinungsform des Göttlichen im Sinn von Evidenz und Erkenntnis ist die Bedürftigkeit des Nächsten –, ist auch die Quelle des lutherischen Gedankengutes.
Der Begriff Necessitas conscientiae wird ausdrücklich ersetzt durch Necessitas alterius (WA 2,562,35).
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Auf diese Unsichtbarkeit weist Luther ausdrücklich hin, während er der Caritas das unbegrenzte Feld sozialer Beziehungen überlässt. Calvin geht noch weiter und verwandelt den Dienst in eine Freiheit unter gleichen Personen, wobei die einen den anderen ihre Dienste anbieten. In seinen Gedankengängen dominiert der Begriff „Gegenseitigkeit“.¹³ Die gesetzliche Norm stammt von der Barmherzigkeit (Gegenseitigkeit) ab und nicht vom Glauben. So wie die Caritas von Fides abstammt, so entstammt aus beiden die Idee einer allgemeinen Unterstützung für den Kampf gegen die Ungerechtigkeit. Die Thesen Utrum opera faciant ad iustificationem (1520)¹⁴ beginnen damit, dass der Glaube den Menschen gerecht werden lässt, ohne die geringste Vollbringung von Werken „sine ullis etiam minimis operibus“. Die Gerechtigkeit ist nicht die Konsequenz von Fides, sie ist eine Voraussetzung – und unweigerlich wird ihr im Menschen die Fides gleichwertig sein. In der folgenden These wird angemerkt, es sei unmöglich, dass der Glaube nicht durch viele große und emsig ausgeführte Werke begleitet werde: „Impossibile est fidem esse sine assiduis, multis et magnis operibus“. Aber die 16. These bringt eine bedeutsame Umkehr: „Unsere Ungerechtigkeit verherrlicht die Gerechtigkeit Gottes, aber dennoch wird der Gerechte gegen die Ungerechtigkeit kämpfen“ („Iniquitas nostra iustitiam Dei commendat, et tamen iustus est vindex iniquitatis“).¹⁵ An der Gliederung dieser Thesen wird man feststellen, wie die Idee der Diskontinuität mit Radikalität behauptet wird, um sofort wieder zurückgenommen zu werden, und wie aus diesem Beginn die Idee des Gerechtigkeitskampfes auch auf menschlicher Ebene entsteht. Die Diskontinuität steht im Hintergrund des Kampfes gegen die „Ungerechtigkeit“. Gerade weil die Gerechtigkeit sich auf das Vertrauen gründet und nicht auf das Gesetz, gehört die Ordnung zur Hoffnung, deren Leitstern die Barmherzigkeit ist. Endlich kommen wir zur Hoffnung, im Sinne der Zeit, im Sinne des Kampfes gegen die Absurdität und das Leid. Die Welt der Hoffnung ist die des Kampfes gegen das Böse, die Ungerechtigkeit und den Schmerz. Die Erlösung setzt eine Gefangenschaft voraus, die Errettung eine totale Bedrohung. Man darf nicht die beunruhigende Seite des Bösen in der menschlichen Realität vergessen. Dennoch gibt es, nicht als käufliches Angebot, sondern als Anwesenheit Gottes, eine andere Realität. Die Hoffnung ist ein Kampf, das menschliche Wesen ist in seinen Entäußerungen nicht nur unvollkommen, sondern geradezu böse. Die Hoffnung bringt uns dazu, das Ausmaß der Ungerechtigkeit zu erfassen und dann unseren Blick weiterschweifen zu lassen. Was soll man über die Politik sagen? Wenn Luther Diskontinuität in die Theologie einbringt und wenn er diese Idee nutzt, um gleichzeitig die Freiheit und die Selbstkritik des einzelnen Subjektes und der gesamten Kirche neu zu gründen, können wir Inspiriert vom Apostel Paulus: Kapitel 12 des Römerbriefs und Philipperbrief. M. Luther, Utrum opera faciant ad iustificationem [1520], (Ob die Werke etwas zur Rechtfertigung beitragen), WA 7,231– 232. WA 7,231, vgl. Röm 3,5.
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nicht umhin, festzustellen, dass seine Rede über zivile Macht nicht immer ebenso kritisch ist. Die moderne Emanzipationsidee ist weit entfernt, es gibt einen kritischen Ansatz, aber bei den Handlungen fehlt es an Folgerichtigkeit. Wer denkt, dass die Freiheit in revolutionäre Verhältnisse verwandelt werden kann, wird als „fanatisch“ definiert. Für Luther sind wir durch die Taufe vor Gott „nackt“ (und folglich frei), während uns Gott im täglichen Leben „bekleidet“ und verschiedene Aufträge erteilt. Deshalb sind wir alle gleich, tragen aber unterschiedliche Kleidung. Die weltliche Autorität herrscht, der Untertan gehorcht. In diesem Punkt – wie in vielen anderen, die sehr kritikwürdig sind – überwindet er nicht die Grenzen seines Zeitalters.
7 Adam und Jesus Christus Das ist es, worauf es wirklich ankommt, die Lehre. Die Christologie ist der Kern dieser seiltänzerischen Gedankengänge. Die protestantische Reformation hebt vor allem hervor, dass die Gnade Gottes nicht eine zweite Chance ist, die Adam angesichts des Himmels angeboten wird, eine Chance, die man in Erfüllung einer Norm oder einer Gesamtheit von passenden Normen, die die Kirchenleute vorschreiben, realisieren kann. Für die Reformation erfüllt sich das Gesetz von selbst, wenn es ein Gesetz Gottes ist, und nicht der Menschen. Wenn es jemand erfüllen kann, dann nur der Sohn, Jesus Christus. Wenn er es einmal erfüllt hat, ist es nicht mehr notwendig, dass dies nochmals durch einen anderen geschieht. Das ist der Sinn von Solus Christus. Das Evangelium ist kein alternativer Weg, der Adam angeboten wurde, mit Hinblick auf Adam, den Sünder. Die Gnade ist nicht die Alternative zur Sünde. Es geht um Adam selbst, der von der Sünde befreit wird. Die Distanz ist gegenwärtig, wird in der Figur von Jesus Christus verherrlicht und in ihm versöhnt. In diesem Sinne ist der Gebrauch der theologischen Sprache nicht unerheblich oder überflüssig. Die Sünde ist besiegt, aber nicht ausgelöscht. Der Kampf gegen die Sünde geht weiter, aber „um den Menschen der Sünde zu entreißen, nicht die Sünde aus dem Menschen zu reißen“.¹⁶ Gott tritt der Sünde entgegen, da sie die Freiheit bedroht. Das Kreuz ist kein Sühneopfer, sondern ein Sieg über die Macht des Bösen.¹⁷ „Die Sprache des Apostels und die metaphysische Sprache stehen im Kontrast zueinander. Der Apostel gibt zu verstehen [auf dem Rand: gibt uns zu verstehen], dass der Mensch weggetragen wird, während die Sünde bleibt [auf dem Rand: die Sünde wird dort gelassen] und der Mensch wir aus der Sünde gezogen [eher als das Gegenteil]. Der gewöhnliche Sinn ist: die Sünde herausziehen und den Menschen dort lassen und dass der Mensch geläutert werde“, WA 56,334,14– 18. Wenig später fügt er hinzu: Der Gläubige „ist nicht zum Müßiggang aufgerufen, sondern zur Arbeit gegen die Leidenschaften“, WA 56,350,5 – 17. Bei Luther fehlt die Idee der Sühne. Es gibt vielmehr die Idee des Stellvertreters: Jesus Christus erleidet anstelle des Menschen die Verdammnis und gewinnt den Sieg über die Sünde, den er auf den Sünder überträgt. Der Austausch zwischen Christus und dem Sünder ist eine der doktrinären und rhetorischen Formeln, die Luther immer wieder verwendet. Die christologischen Themen sind einzeln
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Luther war bereit, sich zu isolieren, wenn er mit seinen paradoxen Worten Widerspruch erzeugte. Aber letzten Endes hat er erreicht, was er wollte, eine neue Initiative, einen entschiedenen Schritt in eine neue Richtung. Das erreichte er mittels Kontrasten, die er bis zum Bruch vorantrieb, andere mussten dann mit Mäßigung vermitteln, auch wenn sie den Brüchen treu blieben, die er verursacht hatte. Im Paradox liegt die Kraft der strengen Gegenposition. Sie bleibt dabei allerdings immer offen, in ihrem Offenbleiben steht sie für einen Ausgleich bereit. Luther will keinen „guten“ Menschen schaffen, wenn das Adjektiv „gut“ bedeutet, dem Subjekt eine Eigenart (ein Attribut) zu verleihen, die dem Subjekt bereits zugehörig ist und es steigert. Luthers Problem ist das Subjekt als solches, der „Mensch“ der theologischen und philosophischen Tradition. Sein Thema ist das Fundament des Subjektes. Das menschliche Wesen gründet sich allein auf die evangelische Verkündigung und wird nur mittels der Verkündigung vom Verbum erkannt, nicht durch ein evangelisches Werk, das er sich zuschreibt, oder auf eine andere Art und Weise. Alle Religionen verlangen vom Menschen, das eine oder das andere zu tun. Luther verlangt vom Menschen nicht zu handeln, sondern sich nur auf das Verbum zu stützen, welches ihn zum Menschen werden lässt. Der Mensch muss zur Kreativität des Verbums nichts von sich selbst hinzufügen (und darauf beruht seine Freiheit). Das Verbum kommt durch sich selbst zum Ergebnis, die Person, das „ich bin“ oder das „Ego“ der Philosophen. Die Gewissheit dieses Seins ist grundlegend und bedingungslos. Sie hängt ihrerseits nicht von Konzepten oder Handlungen des Menschen ab, sondern der Mensch hängt – vertikal, wenn man es so sagen kann – von dieser Gewissheit ab. Hier stoßen wir aber auf eine Überraschung in der theologischen Untersuchung Luthers. Das Verbum ist das Wort Gottes, aber das Wort Gottes ist „Fleisch geworden“. Das Unendliche ist endlich geworden. Luther verbindet seine Position mit der klassischen Christologie der Antike. Nur in Christus findet sich das Band Gott und Mensch. Im Glauben ist dieses Band genauso wirklich wie in Christus, aber dann kann man es nur im Glauben als menschliche Realität beobachten. Die Gedankengänge schließen sich nunmehr nicht in sich selbst, obwohl sie eigentlich bereits ihr Ziel erreicht haben. Das, was einerseits einen Abschluss bedeutet, eröffnet andererseits einen neuen Ausblick: In der Tat, das Verbum ist incarnatum. Diese Tatsache leitet einen neuen Ablauf ein und öffnet die Person für eine zwischenmenschliche Beziehung, die Luther mit dem lateinischen Wort Caritas benennt. Der Algorithmus Luthers erscheint in gewissen konkreten Fällen überzeugend, in anderen ist er es weniger beziehungsweise nicht ganz. Es bleiben die Paradoxe, die heftigen Gegenreaktionen, die nach Reflektion verlangen. Goethe wies auf die Worte „Notwendigkeit und Freiheit in ihrer Entfernung und ihrer Annäherung“ hin. Man kann die Gedanken aufgreifen, die Löwith hervorgehoben hatte. In den Kirchengeschichten herrscht die Suche nach einem lebensfähigen
bewertet, aber nicht in ihrer Verbindung „durchdacht“ (auch in den ursprünglichen Quellen sind diese Themen unzusammenhängend).
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Ausgleich zwischen Freiheit und Ordnung mit Lösungen, die allmählich Eingang in unsere Demokratien finden. Die Schlacht gegen die Ungerechtigkeit wurde in vergangenen Zeiten wenig untersucht, oder sie traf auf Missverständnisse und Widerstände. Die Kirchen trugen dazu bei, diese Werte wachzuhalten, und ihre Minderheiten beteiligten sich an dem Verlangen nach Emanzipation und Solidarität zwischen den Völkern, mit ihren eigenen Initiativen, im ausgedehnten Umfeld von Epochen wie Aufklärung, Moderne, Romantik, Kapitalismus und Sozialismus. Es ist nutzlos, nur die Widersprüche und Verzögerungen sehen zu wollen. Es handelte sich um zweifache Forderungen wie Freiheit und Eigendisziplin, Kritik und Realismus. In den Kirchen fehlte es nicht an Personen mit der Maxime vindex iniquitatis. Dies ist immer noch ein offener Kampf, der niemals aufhören wird. Das darf aber nicht zu einer verlogenen Übereinkunft zwischen Glaube und Barmherzigkeit führen. Das menschliche Wesen empfängt das Verbum von Gott. Der Mensch findet seine Grundlage außerhalb von sich selbst, in Beziehung mit dem Verbum, dem schöpferischen Wort Gottes, und dieses ist nur deshalb zugänglich, weil es in der Person von Jesus Christus real und gegenwärtig wird. Nur Gottes Wort kann sich selbst Authentizität garantieren. Das ist die einzige Tatsache, die würdig erscheint, die Grundlage des Menschen zu bilden. Die Kirche ist Amtsträgerin, nicht Vikar Gottes. Man kann nichts Höheres finden als das Verbum. Und Luther spielt mit den Begriffen, bis er die „ähnliche Form“ des Menschen mit dem Verbum, dem Wort Gottes, verkündet. Auf diese Weise hält er die Diskussion über das Christentum und den Menschen auf parallelen Gleisen offen. Er konfrontiert den Christen mit sich selbst, findet einen kritischen Punkt heraus, versetzt die Kirche gegen sich selbst in ein Missverhältnis, nicht im Namen einer sichtbaren Reinheit, sondern im Namen ihres konstitutiven Elementes. Gleichzeitig entdeckt er ein zentrales kritisches Problem des Menschen und ruft den Humanismus dazu auf, seine Grundlagen neu zu überdenken. Der Mensch wird von seiner Leere weitergetrieben, will sie mit seinen Fähigkeiten und Initiativen anfüllen. Luther rät zu einem anderen Weg, der in einem ersten Moment die Leere der Mystik mit neuen Werten erfüllt, erst dann gelangt er zur Aktion nach außen. Als wahrer Augustinermönch findet er zwei fundamentale Quellen, über die zu meditieren lohnt. Im ersten Element dringt der Mensch mittels der frohen Botschaft zu seiner Existenz vor und konzentriert sich auf sie, in tiefer Absolutheit, die wie die Freiheit frei von Dimensionen ist. Sofort anschließend (aber eng verbunden) beginnt der Bezug zum Nächsten, aus dem man alle Kriterien der Ethik gewinnt. Hier öffnen sich endlose Dimensionen und die Probleme werden zahlreich. Aber der Weg ist sicher.
Luthers Leben
Unterschrift Martin Luthers, 1530 (Falkenstein Heinz-Dieter / Alamy Stock Photo)
Jon Balserak
Das mittelalterliche Erbe Martin Luthers Martin Luthers Verhältnis zum Mittelalter ließe sich mit dem Bild einer komplizierten Ehe beschreiben, in der das Paar echte Liebe füreinander empfindet und doch andauernd einer von ihnen versucht, den anderen zu verlassen. Ziel des Folgenden ist der Versuch, diese komplizierte Ehe in Kürze zu untersuchen, also Luthers Verhältnis zum Mittelalter zu ergründen. Luther ist nicht selten von Wissenschaftlern als der letzte mittelalterliche oder der erste neuzeitliche Mensch diskutiert worden. Die Behandlung, die er von dem Psychoanalytiker Erik Erikson in seinem Werk Young Man Luther und in jüngerer Zeit von Lyndal Roper in Martin Luther: Renegade and Prophet erfuhr, hat in vielerlei Hinsicht Luthers Neuzeitlichkeit vorausgesetzt und nahegelegt, als ob er, im Unterschied zu zahlreichen anderen historischen Persönlichkeiten, ein Mann wäre, den wir wie einen Zeitgenossen behandeln könnten, indem wir seine innere Einstellung in einer Weise untersuchen, wie Therapeuten das bei jemandem tun, der heute lebt. Andere Wissenschaftler haben ihre Lutherforschung mit ähnlichen Annahmen zu Luthers Neuzeitlichkeit fortgesetzt. So stellte sich beispielsweise Gerhard Ritter, wie er 1925 in seinem Werk Luther: Gestalt und Symbol schrieb, Luther als Propheten der nationalen Wiedergeburt und als den „ewigen Deutschen“¹ vor. Andere, wie Heinrich Bornkamm und Peter Althaus, dachten während der Lutherrenaissance in den 1920er Jahren ähnlich über Luther; in der Tat zitierte Bornkamm Ritter, um Luthers Funktion als Symbol der nationalsozialistischen Ordnung zu behaupten² – was überdies eine moderne Konzeptualisierung von Luther und seiner Bedeutung nahelegt. Diese Herangehensweise an Luther änderte sich jedoch um die Mitte des 20. Jahrhunderts. Unterschiedliche Faktoren ließen sich als bedeutungsvoll für die Einleitung dieser Veränderung herausstreichen; einer der entscheidenderen Faktoren aber war die Neuorientierung im Denken über das Verhältnis zwischen Mittelalter und Reformationszeit, die durch die Arbeit von Wissenschaftlern wie Heiko Oberman eingeleitet wurde. Oberman, der 1957 in Utrecht promoviert wurde, legte eine Reihe von Studien vor, in denen er bestrebt war, wissenschaftliches Denken neu auf das Verhältnis zwischen der mittelalterlichen und der frühneuzeitlichen Ära und in besonderer Weise auf das zwischen dem Mittelalter und Luther zu lenken. Hier richtete sich ein Teil seines Kampfes gegen von Menschen wie Etienne Gilson gestützte vorherrschende Konzeption, die den Höhepunkt des Mittelalters im Denken Thomas von Aquins (und seiner Harmonisierung von Vernunft und Glaube) sah und glaubte, dass Übersetzung: Lea Sophie Stolz. Gerhard Ritter, Luther: Gestalt und Symbol, München, 1925, 151. Vgl. Heinrich Bornkamm, Luther und der deutsche Geist, Sammlung gemeinverständlicher Vorträge und Schriften aus dem Gebiet der Theologie und Religionsgeschichte 170, Tübingen, 1934, 20. https://doi.org/9783110498745-009
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das 14. und 15. Jahrhundert einen Abstieg in die Unübersichtlichkeit eines Wilhelm von Ockham und den Aufstieg des Nominalismus erlebte. Im Überdenken der Frage nach Kontinuität und Diskontinuität zwischen diesen beiden Epochen argumentierte Oberman für eine sehr viel stärkere Kontinuität zwischen diesen beiden Epochen. Dies führte Oberman dazu, das gängige Narrativ zu modifizieren und das Verhältnis zwischen Spätmittelalter und Reformation neu zu bewerten. Dementsprechend stellte Oberman sehr viel mehr Kontinuität zwischen Luther und seinem spätmittelalterlichen Kontext fest. Luther hatte schließlich erklärt, Ockham sei sein Lehrer gewesen; er beschäftigte sich ausführlich mit mittelalterlicher Theologie und Exegese (letzteres lässt sich sehr gut anhand seiner Auseinandersetzung mit Nikolaus von Lyra in seinem Kommentar zur Genesis verdeutlichen). Diese Ansichten verbanden sich mit anderen Entwicklungen in der Wissenschaft, wie etwa einem gesteigerten Bewusstsein für die Rolle der Apokalyptik in der mittelalterlichen und besonders spätmittelalterlichen Kultur, und führten Oberman (und manche seiner Schüler wie David Steinmetz) dazu, Luther als sehr viel tiefer geprägt zu sehen von der Zeit, in der er lebte. Luther war, so erklärten diese Wissenschaftler, kein Reformator, der vom Himmel auf die Erde fiel. Er war vielmehr ein spätmittelalterlicher Theologe, der die Gedankensysteme, die zu seiner Zeit existierten, aufnahm und mit ihnen arbeitete. Er nahm zwar Änderungen an den Glaubenslehren, die er aufgenommen hatte, vor, aber er tat dies als spätmittelalterlicher Theologe. „For Luther“, meinte Oberman, „reformation was the beginning not of modern times but of the Last Days.“³ – Worte, die in jüngerer Zeit von Scott Hendrix in seiner Arbeit Martin Luther: Visionary Reformer wiederholt wurden: „ For him, the reformation was not the beginning of a modern era that kept time with numbers, but a harbinger of the world’s end when time no longer mattered“.⁴ Während die Neuzeitlichkeit Luthers (die in vielfältiger Weise gedeutet wird) wohl noch eine offene Frage ist, ist es sein völliges Aufgehen im Spätmittelalter nicht. Das ist bestens bekannt. Denn ohne Frage waren das Handwerkszeug und die Ausstattung (intellektuell, kulturell, spirituell etc.), mit der Luther während seines Erwachsenenlebens als Mönch, Akademiker, Schriftsteller und Reformator arbeitete, durch und durch mittelalterlich. Dennoch war es selten der Fall, dass er bloß übernahm, was ihm von seinen Vorfahren hinterlassen worden war, und es unverändert weiterverwendete. Vielmehr veränderte und hinterfragte er und gestaltete es so, dass es besser zu seinem Verständnis der Schrift passte, und gestaltete es dabei bisweilen um, bis es kaum noch erkennbar war – deswegen ist auch die Erforschung seines Verhältnisses zum Mittelalter so komplex.
Heiko Oberman, Luther: Man between God and the Devil, New Haven, 1986, 266. Scott Hendrix, Martin Luther: Visionary Reformer, New Haven, 2015, 4.
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1 Leben Martin Luther wurde am 10. November 1483 in Eisleben als Sohn von Hans und Margarethe Luther geboren. Er starb 1546 in Eisleben. Sein Vater arbeitete in der Bergbauindustrie und hatte ausreichend Geschäftssinn, um es zum Bergwerksbetreiber zu schaffen. Der junge Mann wuchs auf in den Städten, in die der Vater die Familie, seinen Verpflichtungen in der Bergbauarbeit folgend, mitnahm. Wissenschaftler haben jüngst 2016 (siehe dazu die Arbeit von Roper) vorgebracht, dass diese Erziehung ihn tiefgreifend geprägt hat, indem sie ihn insbesondere mit dem wesentlichen Handwerkszeug ausstattete, mit dem er später leben, arbeiten und kämpfen würde. Er war Mühsal gewohnt, bediente sich einer Fäkalsprache und wich selten, wenn überhaupt jemals, vor einer Auseinandersetzung zurück. Für gewöhnlich ergriff er die Initiative, wies außergewöhnlichen Mut auf und bahnte sich starrköpfig (wie er von vielen, besonders seinen Gegnern wahrgenommen wurde) seinen Weg vorbei an Hindernissen, an denen viele andere gescheitert wären. Alle diese Charakterzüge lassen sich berechtigterweise der mittelalterlichen Welt zuordnen, und besonders den Städten und Dörfern, der Zeit vorindustrieller Arbeit, in der er aufgezogen wurde und heranreifte. Martin „Luder“ änderte im Herbst 1517 seinen Namen zu „Luther“ und sogar für kurze Zeit zu „Eleutherius“, was vom Griechischen eleutheros stammt und frei bedeutet.⁵ Sein Ausdruck von Freiheit bedeutet, wie er signalisierte, eine Freiheit von den Fesseln scholastischer Theologie. Dies zeigte sich in seiner Disputatio contra scholasticam theologiam und selbstverständlich in den 95 Thesen.
2 Schule, Universität und Bewusstseinsbildung Um 1497 wurde Luther in die Schule nach Mansfeld und ein Jahr später nach Magdeburg geschickt. Die Ausbildung, die er in diesen Einrichtungen erhielt, war geprägt vom mittelalterlichen Erziehungsdenken des trivium, das Grammatik, Rhetorik und Logik umfasste und absolut grundlegend für mittelalterliche Konzeptionen des Lernens war. Als er 1501 in Erfurt sein Studium begann, zog Luther in eine Stadt, in der er für ein Jahrzehnt bleiben würde, vier Jahre an der Universität und sechs im Kloster. Luther geriet hier in eine Zeit radikalen Wandels für Universitäten und für Bildung überhaupt. Zwei maßgebliche Bewegungen sind erwähnenswert. Die europäische Renaissance, die in Italien im 15. Jahrhundert von Personen wie Francesco Petrarca, Giovanni Boccaccio und Lorenzo Valla angestoßen und von Erasmus von Rotterdam und Rudolph Agricola in den Norden weitergetragen wurde, konzentrierte sich in hohem Maße auf eine Bildungsreform. Als Antwort auf ihre Vgl. Bernhard Lohse, Martin Luther’s Theology. Its Historical and Systematic Development, Edinburgh, 1999, 101.
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Anliegen änderten in der Folge überall in Europa Universitäten ihre Curricula – ein Prozess, der über Jahrhunderte andauerte. Manche dieser Änderungen wurden von einer anderen Bewegung, der Scholastik, abgelehnt. Der Renaissance-Humanismus und die Scholastik kamen ungefähr zur gleichen Zeit auf, wie Wissenschaftler wie A. J. Minnis gezeigt haben (im Gegensatz zur älteren Forschung, die dazu tendierte, die Scholastik als durchweg etablierte Lehrmethode zu begreifen, bevor sich die Renaissance erhob, um gegen deren festgefahrenen Methoden zu kämpfen). Diese zwei Bewegungen wetteiferten um die Herzen aufstrebender junger Geister wie Luther. Nun sollte Luthers Erfahrung mit beiden zunächst in hohem Maße von der konkreten Universität, die er besuchte, und dem Studiengang, den er einschlug, bestimmt werden. Er ging zur Universität, um auf Veranlassung seines Vaters hin Jura zu studieren. Luthers Vater hatte für seinen Sohn das Jurastudium vorgesehen als Garantie für eine finanziell besser abgesicherte und einträglichere Existenz als seiner eigenen Arbeit im Bergbau. Doch all dies würde sich 1505 ändern. Im Juli dieses Jahres geriet Luther in ein schreckliches Gewitter, woraufhin er der Heiligen Anna (die im Übrigen die Schutzheilige der Bergleute ist) gelobte, er werde Mönch werden, wenn sie ihn bloß rettete. Nachdem er dieses Vorkommnis überlebt hatte, löste er sein Gelübde pflichtschuldig ein und trat im Juli 1505 in den Orden der Augustiner-Eremiten ein.Von da an lag sein Fokus auf der Theologie, die er an der Fakultät einer Universität studierte, die unter starkem Einfluss der Scholastik und der scholastischen Methode stand. Wir können an dieser Stelle etwas mehr über Luthers Universität sagen: Es handelt sich um die Universität Erfurt, wo er sich 1501 an der Artistenfakultät immatrikulierte und 1505 seinen Magister Artium begann. Sie war eine recht alte deutsche Einrichtung, die 1392 gegründet worden war. Als Luther dort ankam, gab es an der Fakultät eine Reihe bedeutender Humanisten wie Eobanus Hessus und Konrad Mutian. Zudem war die Universität Zu dieser Zeit voll mit Wissenschaftlern, die sich an der via moderna ausrichteten und sich den Nominalismus zu eigen machten (im Gegensatz zu anderen Universitäten wie der 1388 gegründeten Universität Köln, die eine Hochburg der via antiqua war). Diese unterschiedlichen philosophischen Schulen waren im Einklang mit Ansätzen zu einer Reihe grundlegender Fragen über die Natur des Wissens, die über Jahrhunderte entwickelt und diskutiert worden waren. Die via antiqua wurde mit Thomas von Aquin und Duns Scotus verbunden. Schlüssel dazu war die Überzeugung, dass menschliches Wissen von Einzelgegenständen auf der Überzeugung beruht, dass sie einzelne Exemplare von Universalien sind. Der Realismus konnte, abhängig davon, wer ihn vertrat, auf der Ansicht beharren, dass diese Universalien eine extramentale Existenz in einer vollkommenen Ideenwelt besitzen, wie der Platonismus lehrt. Der Nominalismus, der eine komplexe Herkunft hat und manchmal von Wissenschaftlern mit dem Ockhamismus gleichgesetzt wird, nahm eine Gegenposition ein. Der Nominalist glaubte, dass menschliches Wissen von Einzelgegenständen nicht auf vorhergehendem Wissen von Universalien, sondern vielmehr auf direkter menschlicher Begegnung mit den Einzelgegenständen selbst beruhte. Universalien waren dann in
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diesem Sinne schlichtweg Bezeichnungen. Manche Universitäten erlaubten ein Festhalten an der via antiqua wie auch an der via moderna, aber andere forderten sehr viel nachdrücklicher eine eindeutige, umfassende Erklärung der Zugehörigkeit. Immer mehr aber wurden beide „viae“ in die Statuten aufgenommen. In Basel erhält die via antiqua fünf Jahre nach der Gründung (1460) denselben Status wie die via moderna und in Tübingen (1477) sind gleich von Anfang an beide viae anerkannt. Wie wenig die Bezeichnung „moderna“ oder „antiqua“ hier mit den zeitlichen Kategorien zu tun hat, mag sich in der Tatsache zeigen, dass in Heidelberg (1386) die „via moderna“ als via Marsiliana bekannt war (nach Marsilius von Inghen, †1396) und dass in den Wittenberger Statuten von 1508 sogar drei viae anerkannt waren: die via Thomae, die via Scoti und die via Gregorii, die somit nach Gregor von Rimini (†1358) benannt war.⁶ Während Luther sich anscheinend mit den Zankereien über die formalen und speziellen Einzelheiten im Hinblick auf die eine oder die andere nicht besonders beschäftigte, erkannte er, wie schon erwähnt, seine Verpflichtung gegenüber der via moderna und speziell gegenüber Ockham an. Der Einfluss, den sie wohl auf ihn hatte, war eher methodisch. Selbstverständlich beschäftigte Luther sich mit seiner Hinwendung zum Kloster und dem Studium der Theologie während seiner Zeit an der Universität mit den großen theologischen Texten wie Petrus Lombardus’ Libri Quattuor Sententiarum, üblicherweise bezeichnet als die Sentenzen. Die Lehrmethode, die bei diesen jungen Doktoranden angewandt wurde, bestand darin, sie Vorlesungen über Lombardus’ Sentenzen abhalten zu lassen. Oft wurden diese Vorlesungen dann als Kommentare in Umlauf gebracht. Entsprechend studierte Luther den Kommentar Gabriel Biels, des Theologen aus dem 15. Jahrhundert, der an der Universität Tübingen lehrte. Dies ist durch Biels Identifikation mit dem Nominalismus nicht spurlos an Luther vorübergegangen. An einer etablierten Hochburg der via moderna zu studieren, wie es die Universität Erfurt war, bedeutete, dass Luther etliche ihrer Akzentsetzungen übernahm. Diese Akzentsetzungen schlossen die Überzeugung mit ein, dass die christliche Glaubenslehre und der christliche Glaube mehr auf göttlicher Offenbarung als auf Vernunft und natürlichem Wissen beruhten. Sie unterschieden klar zwischen Philosophie und Theologie, ohne jedoch erstere herabzuwürdigen. Zusätzlich zu Texten wie Lombardus’ Sentenzen und Biels Kommentaren studierte Luther Aristoteles’ Nikomachische Ethik und hielt auch Vorlesungen darüber. Aristoteles war an den Universitäten allgegenwärtig, nicht nur in Erfurt, sondern in weiten Teilen Europas (Aristoteles’ Verbindung mit den Dominikanern und im Speziellen mit Thomas von Aquin, der einer der frühen Meister aristotelischer Philosophie geworden war, sollte uns über diese Tatsache nicht hinwegtäuschen). Aristoteles’ Autorität
Vgl. Heiko Oberman, „Via Antiqua and Via Moderna: Late Medieval Prolegomena to Early Reformation Thought“, in Journal of the History of Ideas 48/1, Jan-Mar., 1987, 23 – 40. Siehe insb. 24.
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würde jedoch zu etwas werden, wogegen Luther rebellierte.Von Sachiko Kusukawa ist eingewandt worden, dass der Aristotelismus, gegen den Luther so entschlossen aufbegehren würde, eine bestimmte mittelalterliche Spielart war, die von islamischen Philosophen wie Avicenna oder Averroes entwickelt und geprägt worden war, ebenso wie durch die konkreten Debatten, die sie mit Albertus Magnus, Thomas von Aquin und anderen führten.⁷ Kusukawas Überzeugungen zu diesem Punkt entwickelten sich durch ihre Studien zum Werk von Luthers Schützling Philipp Melanchthon, der, trotz seiner Verehrung Luthers, im Zuge seiner Bemühungen, die Universität aufzubauen und zu stärken, die Verwendung der Texte Aristoteles’ an der Universität Wittenberg sogar ausweitete. Ein zusätzlicher erwähnenswerter Aspekt des Einflusses des Nominalismus (und besonders dem Ockhams) auf Luther betrifft die Unterscheidung zwischen Philosophie und Theologie und speziell die (sogenannte) Dialektik zwischen Gottes potentia absoluta und potentia ordinata. Die Unterscheidung war programmatisch für Wilhelm von Ockham und half, die Idee zu verdeutlichen, dass man nur die Wahrheit über Gott erfährt, wenn Gott beschließt, sie zu offenbaren. Die Unterscheidung zwischen Gottes Macht, die als absolut erachtet wird, und Gottes Macht, die anhand dessen, was er gefügt hat, wahrgenommen wird, führt dazu, so haben Wissenschaftler wie Philotheus Böhner und andere argumentiert, einen in Gänze von göttlicher Offenbarung abhängig zu machen, weil die Unterscheidung die Unmöglichkeit unterstreicht, sich durch den Einsatz menschlicher Schlussfolgerung und die Betrachtung der natürlichen Welt (das heißt dem, was Gott geordnet hat) gedanklich einen Weg zurück in die Gedankenwelt Gottes zu bahnen. Solche Versuche sind, wie Wissenschaftler zu recht eingewandt haben, vollkommen vergeblich, sobald klar wird, dass die gesamte geschaffene Ordnung hätte anders sein können, dass Gott eine komplett andere Welt hätte schaffen können und insbesondere einen ganz anderen Weg, um die Menschheit zu retten.⁸ Dies half Luther, wie vorgebracht wird, sich wieder voll auf die Bibel zu konzentrieren, um von dort sein Wissen über Gott zu gewinnen, und ermutigte ihn, dabei den menschlichen Verstand und insbesondere den mittelalterlichen Aristotelismus beiseite zu lassen. Dieser Einfluss auf den jungen Luther kam auf verschiedene Weise zum Tragen. Eine Folge davon kann nun diskutiert werden. Denn ein anderer Aspekt der via moderna, der Luther anfänglich beeinflusste, gegen den er aber schlussendlich heftig rebellieren würde, war ihr soteriologischer Standpunkt. Diejenigen, die sich die via moderna zu eigen machten, so wie insbesondere Gabriel Biel, vertraten eine Soteriologie, von der Luther glaubte, dass sie nicht nur semipelagianisch, sondern in Wirklichkeit schlimmer als die Pelagianer sei.⁹ Vgl. Sachiko Kusukawa, The Transformation of Natural Philosophy; the Case of Philip Melanchthon, Cambridge, 1995. Siehe dazu beispielsweise Heiko Oberman, „Some Notes on the Theology of Nominalism: With Attention to Its Relation to the Renaissance“, in: Harvard Theological Review 53/1, 1960, 47– 76. Vgl. WA 2, 394.
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Die Begriffe pelagianisch und semipelagianisch sind in der Forschungsliteratur auf verschiedene Weise diskutiert worden und sind extrem schwer präzise zu fassen. Es scheint, als ob sie bisweilen wie Verunglimpfungen verwendet worden sind, die einem Gegner an den Kopf geworfen wurden, ohne zwingend auf klare und kohärente Weise einen bestimmten Bestand soteriologischer Dogmen genau zu identifizieren. Dennoch enthielt im Falle Luthers der Semipelagianismus, der ihm in Theologien von Menschen wie Biel begegnete, tatsächlich Elemente, die leicht zu identifizieren waren. Eines der problematischeren war, soweit es den jungen Luther betraf, dessen (nach Luthers Urteil sündhafter) Glaube an und das Verlassen auf das menschliche Vermögen. Diskussionen darüber, was die Menschheit ex puris naturalibus leisten kann, also durch die naturgegebene Fähigkeit ohne die Mitwirkung göttlicher Gnade, waren im gesamten Mittelalter üblich, besonders im Spätmittelalter. Dies alles geschah in der Folge von Augustinus’ Unterscheidung von zuvorkommender Gnade und mitwirkender Gnade. Tatsächlich dient das gesamte Mittelalter als ein erweiterter Kommentar zu Augustinus und durchaus in vielfacher Hinsicht zu dieser Unterscheidung, wobei die via moderna weitgehend dazu diente, die Idee menschlicher Mitwirkung zu akzentuieren. Das Problem dabei war in den Augen mancher mittelalterlichen Denker – Luther rühmt hier im Speziellen Gregor von Rimini, das italienische Mitglied des Ordens der Augustiner-Eremiten, Luthers eigenem Orden – dass es ein Affront gegenüber Gott war, dass Menschen dachten, sie könnten mit Gott kooperieren, oder ihr Heil sei nicht von Anfang bis Ende das alleinige Werk Gottes und in irgendeiner Weise von etwas im Menschen abhängig. Mit solchen Anliegen im Kopf schrieb der Oxforder Universitätsdozent Thomas Bradwardine sein wohlbekanntes De causa Dei contra Pelagium et de virtute causarum, und auf ähnliche Weise begehrte Luther zugunsten der Sache Gottes gegen den vorherrschenden mittelalterlichen Gedanken auf, dass die Menschheit richtige und gottgefällige Entscheidungen ohne oder auch nur mit der Unterstützung göttlicher Gnade treffen kann. Obwohl Wissenschaftler sich über den genauen Zeitpunkt nicht einig sind, wird überlegt, dass Luther um 1510 dazu kam, jegliche Idee, dass die Menschen mehr als nur hoffnungslose Sünder sind, zurückzuweisen. Luthers Widerstand gegen das menschliche Vermögen richtete sich auf die mittelalterliche Idee, sein Bestes zu geben (facientibus quod in se est Deus non denegat gratiam), und natürlich schreib er auch 1525, dasselbe Problem in Angriff nehmend, De Arbitrio Servo (Vom unfreien Willen) gegen Erasmus. Eine weitere theologische Unterscheidung aus dem Mittelalter, die Luther beeinflusste, war die zwischen Verdienst nach Würdigkeit (de condigno) und nach Billigkeit (de congruo), also zwischen einem Verdienst, das wirklich verdienstvoll ist, sodass es unmoralisch wäre, es nicht zu belohnen, und vertraglichem Verdienst, wobei im letzteren Fall ein Lohn alleine dafür gewährt wird, dass die Vertragsbedingungen erfüllt wurden – unter Absehung davon, ob das Verhalten wesenhaft verdienstvoll war oder nicht. Diese Unterscheidung wird laufend in der mittelalterlichen Literatur diskutiert, besonders in spätmittelalterlichen Schriften. Dionysius der Kartäuser nahm sie beispielsweise häufig in seinen Bibelkommentaren auf. Und wie Wissenschaftler
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wie Tony Lane vorgebracht haben, war das Vorhandensein dieser Unterscheidung sehr wichtig für Luther. Sie half, den Weg für die Vorstellung eines Lohns zu ebnen, der jemandem gegeben wird, der ihn nicht verdient, d. h. nicht durch einen Verdienst nach Würdigkeit erhält. Dieser Gedankengang ließe sich recht problemlos weiterspinnen zu Luthers Idee, dass ein Christ simul justus et peccator ist, „Gerechter und Sünder zugleich“. So kam er zu der Einsicht, dass die Gerechtigkeit, durch die ein Christ gerecht wird, eine fremde ist, ein Geschenk Gottes an den Sünder.
3 Kloster und spätmittelalterliche Frömmigkeit Viel von Luthers Theologie ist im Kontext des Klosters entwickelt und gelebt worden. Er war nicht nur Mitglied der Augustiner-Eremiten in Erfurt und Wittenberg, sondern durchlief innerhalb dieser Gemeinschaft die verschiedenen Ränge. Die Lebensweise, die sich über Jahrhunderte der Entwicklung im mittelalterlichen Mönchtum etabliert hatte, verbunden mit dem Aufstieg von Bewegungen im Spätmittelalter, die darauf abzielten, diese verschiedenen klösterlichen Gemeinschaften zu reformieren – üblicherweise, indem sie strenger und stärker reglementiert wurden – forderte den Tribut des jungen Luther, wie er selbst bestätigte. Zusätzlich zu den üblichen Mühen, die man mit dem Kloster in Verbindung bringt, strebte Luther als junger Mönch danach, sich besonders strenge asketische Formen der Frömmigkeit aufzuerlegen und zu ertragen, um sich selbst in Demut, Unterordnung und Selbstkontrolle zu üben. Im Alter eines jungen Erwachsenen sog er dann im Kloster den reformerischen Geist des spätmittelalterlichen Mönchtums auf. In dieser Welt von Gedanken und Ideen muss der Charakter spätmittelalterlicher Frömmigkeit betrachtet werden. Die Bedeutung der Messe und im Speziellen des Abendmahls hatte infolge des Vierten Laterankonzils (1215) zugenommen und sich zweifellos in Luthers religiöses Bewusstsein eingebrannt, was seine extreme Reaktion zeigte, als er am 2. Mai 1507 seine erste Messe als Priester feierte. Sicherlich kann der Schrecken, den er offensichtlich erlebte und der ihn fast dazu bewegte, sich aus der Messe zurückzuziehen, ohne die Feier zu beenden, auf verschiedene Weise interpretiert werden, wobei manche ihn als eine Art Lampenfieber sehen und andere ihn so verstehen, dass Luther von der Majestät Gottes überwältigt war. Doch was auch immer der Fall ist, Luthers Verhalten ist charakteristisch sowohl für das Mittelalter als auch für Luther selbst. Wir sehen diesen Hang zur Entbehrung ebenfalls in den ausgedehnten und detailreichen Bekenntnissen, die Luther seinem Beichtvater Johann von Staupitz machte – die zermürbenden Stunden, die er damit zubrachte, seine Sünden, Zweifel und Sorgen zu beichten, ob er auch reuevoll genug gewesen sei, zeigen recht deutlich den Einfluss, den diese Ausprägung mittelalterlicher Frömmigkeit auf ihn hatte. Es ist sodann faszinierend zu sehen, wie er diese Ausprägungen von Frömmigkeit abwandelte, als er von einem pflichtbewussten römisch-katholischen Mönch zum Reformator wurde. Wichtig in diesem Übergang war seine Reise nach Rom 1510, bei
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der er die mittelalterliche Stadt in ihrer ganzen Verderbnis von Angesicht zu Angesicht erlebte. Die Erschütterung von Luthers Weltbild – dass die Ewige Stadt solch ein Sündenpfuhl sein könnte – ist jedem verständlich, der mit seinen Bemerkungen zu diesem Erlebnis vertraut ist. Obwohl man sich Luthers Reaktion auf diesen Vorfall aus heutiger Sicht als etwas naiv vorstellen könnte, sind solche vereinfachenden Interpretationen weder hilfreich noch, so scheint es mir, besonders zutreffend. Zu anderen Ereignissen, die für diesen Übergang von Bedeutung sind, gehören seine Reaktion auf die Reuchlin-Affäre und seine Antwort auf Tetzels Verkauf von Ablassbriefen. Luthers Fähigkeit, mittelalterliche Frömmigkeit an sein neues Verständnis von Gerechtigkeit anzupassen, könnte wohl teilweise von der spätmittelalterlichen Bewegung angestoßen sein, die als Brüder und Schwestern vom gemeinsamen Leben bekannt ist. Luther absolvierte einen Teil seiner Schulbildung in einem ihrer Häuser in Magdeburg.Wissenschaftler haben diese Tatsache üblicherweise so interpretiert, dass er von den reformerischen Idealen, die mit der Bewegung und der devotio moderna in Verbindung gebracht wurden, tief inspiriert worden war, aber das wird mittlerweile für unwahrscheinlich gehalten. Die Schule, die Luther besuchte, wurde eigentlich nicht von den Brüdern vom gemeinsamen Leben geführt, sondern diese stellten vielmehr für die auswärtigen Schüler Unterkünfte zur Verfügung und beaufsichtigten ihre Arbeit, während die Schüler dort lebten. Dennoch halten Wissenschaftler ihren Einfluss auf den jungen Luther immer noch grundsätzlich für spürbar. Die Entwicklung einer eher innerlich orientierten Form der Frömmigkeit der Devotio moderna, die hervorragend in Thomas von Kempens De Imitatione Christi deutlich wird, zeigt sich in dem von Luther entwickelten Verständnis von christlichem Leben, das manche Ähnlichkeiten mit dem aufweist, was man in Erasmus’ 1503 veröffentlichten Enchridion militis Christiani findet. Es war natürlich Erasmus, der mit seiner Aussage „monachatus non est pietas“ aus dem Enchiridion solchen Ärger erregte¹⁰. Luthers Frömmigkeitsansichten nährten sich schließlich dem knappen, aber markanten Gedanken Erasmus’ an und wuchsen darüber hinaus. Das bedeutet, dass Luther zu glauben begann, dass das Leben eines Mönchs, und deshalb das aller Christen, nicht notwendigerweise ein frommes Leben ist. Tatsächlich hielt Luther sogar recht früh in seinem Leben als Mönch die Äußerlichkeit mönchischer Frömmigkeitsformen wie die Stille bei den Mahlzeiten für bestenfalls sinnlos. Er entwickelte die Überzeugung, dass Frömmigkeit innerlich und aufrichtig sein müsse. Es konnte nicht einfach der Fall sein, dass allein die Stellung eines Mönchs oder einer Nonne jemanden fromm machte. Dabei ist es nicht unmöglich, sich vorzustellen, dass Luther wie auch Erasmus, der ebenfalls bei den Brüdern vom gemeinsamen Leben erzogen wurde, von deren Begleitung beeinflusst wurde. In vielerlei Hinsicht lässt sich diese Gestaltung, Umformung und Verinnerlichung der Frömmigkeitsformen, die Luther als junger Mann, sozusagen in voller Blüte, gelernt hatte, darin sehen, dass er am 13. Juni 1525 Katharina von Bora heiratete. Luther
Jean Leclerc (Hg.), Desiderii Erasmi Roterodami Opera Omnia, Bd. 5, Leiden, 1703 – 1706, 65C.
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tat dies trotz des schrecklichen Gespötts, dem er durch Katholiken wie Johannes Eck ausgesetzt war (tatsächlich schrieb Johann Hansenberg einen Spottdialog über ihre Heirat und Johannes Cochläus schrieb ein Theaterstück, das ebenfalls darauf abzielte, den ehemaligen Mönch und die Nonne dafür zu beschämen, dass sie heirateten). Dies geschah auch entgegen dem Mönchsgelübde, das er abgelegt hatte – eine Entscheidung, mit der er kämpfte; er schrieb sogar (auf Latein) einen Brief an seinen Vater, in welchem er die ganze Angelegenheit erörterte, als ob er sie vor seinem Vater und möglicherweise auch vor sich selbst rechtfertigen wollte (sein Vater konnte kein Latein).¹¹ Die Hochzeit war die logische Schlussfolgerung dessen, wo er mit seinen Ansichten angelangt war, sowohl im Hinblick auf die Sakramente (schließlich hatte er die Ansicht entwickelt, dass die Weihe kein Sakrament war, was er in De Captivitate Babylonica Ecclesiae Praeludium von 1520 äußerte), als auch im Hinblick auf die Klöster und mönchischen Frömmigkeitsformen, die er als junger Mann in Erfurt und Wittenberg so sorgfältig praktiziert hatte. So stellte Luthers Heirat seiner „Käthe“ auf vielen Ebenen ein bedachtes Überdenken und Umformen seiner tief verwurzelten mönchischen Verpflichtungen dar.
4 Patristische Einflüsse und christliche Tradition Luthers Anpassung mittelalterlicher Konzeptionen von Frömmigkeit, besonders in Bezug auf Ehe, Sexualität und menschliche Beziehungen, wird deutlicher, wenn wir den Einfluss des größten aller Kirchenväter, des nordafrikanischen Theologen und Bischofs Augustinus, auf das Mittelalter und Luther zum Vergleich und zur Gegenüberstellung heranziehen. Wer etwa Thomas von Aquins Theologiae II-II, 151– 154 durchgeht, wo Keuschheit, Begierde oder Jungfräulichkeit behandelt werden, findet eine hervorragende Weiterführung des mittelalterlichem Augustinismus im Hinblick auf wichtige Aspekte des christlichen Lebens – besonders das eines Geistlichen – angesichts des Fleisches und seiner Versuchungen. Während Thomas von Aquin in dieser Summa nicht erklärte, dass alle sexuelle Aktivität sündhaft ist (was bedeutet, dass er zugestand, dass Geschlechtsverkehr innerhalb der Ehe keine Sünde ist), sagte er doch, dass die reinere Form des Lebens für jeden Christen die des zölibatären Lebens ist. Ferner erinnerte er seine Leser auch daran, dass Hieronymus Jovian für den Irrtum tadelte, „zu meinen, dass Jungfräulichkeit der Ehe nicht vorgezogen werden sollte“.¹² Im selben Artikel zitierte Thomas von Aquin Augustins De Virginitate (Über die Jungfräulichkeit), der besagte, dass die Ehe weder der Ehelosigkeit noch auch nur dem Witwenstand gleichgestellt ist – sie ist beiden untergeordnet. Luther fand jedoch, obwohl er sich Augustinus für seine Ansichten über die menschliche Person tief
Die Details in diesem Abschnitt sind entnommen: Lyndal Roper, Martin Luther: Renegade and Prophet, London, 2016, 278 – 85. Thomas Aquinas, Summa Theologicae, Romae, 1886, II.152a4.
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verpflichtet fühlte, Gefallen daran, zu heiraten, und sah dies als ein Geschenk Gottes. Gewiss schrieb Augustinus De Bono Coniugali (Über den Vorzug der Ehe), also war er nicht gegen die Ehe. Dennoch sickerte Augustinus’ Beharren darauf, dass der Gläubige abgesondert von der Welt leben sollte, und insbesondere seine Sorge um die Gefahren der Begierde in das Mittelalter durch und wurde von Denkern wie Thomas von Aquin aufgenommen, angepasst und weitergegeben. Doch im Vergleich zu dem, was man in mittelalterlichen Konzeptualisierungen diesbezüglich findet, erscheint Luther bezüglich der Vorteile der Ehe und sogar des Geschlechtsverkehrs innerhalb der Ehe erstaunlich positiv. Er und Katharina hatten auch nach der Zeit, als sie schwanger werden konnte, noch Geschlechtsverkehr. Man könnte zu dem Schluss kommen, dass Luther einfach aufgehört hatte, Augustiner zu sein, aber eine solche Lesart der Situation erscheint extrem und ungerechtfertigt. Hinsichtlich anderer Aspekte des Augustinismus könnte man von Luther sicherlich sagen, dass er sich seine Betonung der geistigen Welt gerne zu eigen machte, besonders die Gegenwart und Wirksamkeit des Teufels innerhalb der Welt. Ob sich dies in seiner seltsamen Angewohnheit, den Teufel zu verfluchen, oder der Verwendung von Fäkalsprache, um sich über ihn lustig zu machen, oder der Warnung seiner Freunde und derer, die ihn predigen hörten, vor der echten Gefahr des Satans zeigt – es kann sicherlich nicht bezweifelt werden. Das übliche Motiv, dass dem Göttlichen vom Teufel zugesetzt wird (man denkt hier an Antonius), fand in Luthers Leben lebendigen Ausdruck. Gewiss schrieb Augustinus in Werken wie De Divinatione Daemonium über das Wesen der Versuchung und erörterte Fragen wie die, ob der Teufel die Gedanken eines Menschen lesen kann oder ob sie von den ausgesprochenen Worten des Menschen abhängig sind – Details, um die sich Luther große Gedanken machte. Die Überlegungen, die in den vergangenen Absätzen diskutiert wurden, werden teilweise durch die Tatsache verstärkt, dass Luther ein Mitglied der Augustiner-Eremiten war, was impliziert, dass der Einfluss des großen Kirchenvaters und Bischofs von Hippo auf ihn keine Überraschung sein kann. Wie schon erwähnt, warf Augustinus einen enormen Schatten auf die Zeit voraus, in der Luther geboren wurde, indem er Fragen aufwarf, die über Jahrhunderte bearbeitet wurden, und dem Mittelalter und Luther auf die meisten von ihnen Antworten lieferte. Luthers Theologie entwickelte starke augustinische Züge, als er lernte, die Größe und Unergründlichkeit Gottes und die Sündhaftigkeit der Menschheit zu betonen. Diese Punkte werfen die Frage nach dem Verhältnis zwischen Tradition (nämlich Augustinus und anderen uninspirierten, nachapostolischen Schriftstellern) und Schrift auf. Ein komplexes und konfliktbeladenes Erbe wurde vom Mittelalter Luthers Zeitgenossen im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert weitergegeben. Selbstverständlich hatten Luther und andere Reformatoren wie Ulrich Zwingli, Johannes Oecolampad, Johannes Calvin und Heinrich Bullinger trotz der bleibenden Existenz gegenteiliger Überzeugungen tiefen Respekt vor der kirchlichen Tradition. Luther war vollkommen anderer Meinung als die spöttisch als solche bezeichneten Täufer, von denen viele jedwede nach 325 entstandenen Schriften ablehnten (das Konzil von Nizäa von 325 wird von ihnen als Zeitenwende gesehen, die dem Satan die Kirche öffnete).
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Wenn Luther und andere vom Primat der Bibel sprachen, gaben sie daher nicht die Schriften aus der Tradition auf, sondern räumten vielmehr dem Wort Gottes eine Vorrangstellung ein, während sie die Tradition ebenfalls hochschätzten. Dies ist ein deutlicher Unterschied zu den Katholiken, deren Bewertung des Verhältnisses zwischen Schrift und Tradition schließlich in der Formel partim-partim auf dem Konzil von Trient Ausdruck fand, obgleich dies erst nach Luthers Tod 1546 geschehen würde. Luther bezeugte seine tiefe Wertschätzung der Tradition bei so vielen Gelegenheiten, dass man sich unwohl dabei fühlt, die Aufmerksamkeit nur auf eine oder zwei zu richten. Zwei weitere Einflüsse auf den deutschen Reformator entstanden in größerer zeitlicher und geographischer Nähe: Bernhard von Clairvaux und Nikolaus von Lyra. Letzterer schrieb seine zu Recht berühmte Postillae super Biblia, mit der sich Luther in seinem In Primum Librum Mose Enarrationes durchgehend auseinandersetzt. Ersterer war für Luther und viele andere Reformatoren ein spät geborenes Juwel und der letzte der Kirchenväter (Bernhard starb 1153).
5 Bibelauslegung Die Erwähnung von Nikolaus von Lyra wirft die Frage nach der Bibelauslegung auf. Auf dieses Thema wurde auch schon während unserer knappen Diskussion des Renaissance-Humanismus kurz angespielt. Das Mittelalter vererbte Martin Luther wie auch seinen Gefährten den vierfachen Sinn des biblischen Texts. Als Idee war die Quadriga nach dem Tod des letzten Apostels nicht wirklich in Stein gemeißelt. Der Apostel Paulus verweist bekanntermaßen im zweiten Kapitel seines Briefs an die Galater bei der Diskussion um Sarah und Hagar auf einen allegorischen Sinn des biblischen Textes. Andere frühe nachapostolische Autoren schrieben offen und durchdacht darüber, dass die Worte der Schrift drei Sinne hätten, die den drei Bestandteilen des Menschen entsprächen: dem Körper, der Seele und dem Geist. Isidor von Sevilla verweist auf viel mehr als drei Sinne, wie dies auch andere mittelalterliche Autoren tun. Dennoch wurde lange vor der Geburt von Nikolaus von Lyra 1270 die Idee, dass die Heiligen Schriften vier Sinne besitzen, festgeschrieben. Nikolaus von Lyra zitiert einen wohlbekannten Vers in einer der zwei Einleitungen zu seiner Postillae super Biblia. Littera gesta docet, Quid credas allegoria, Moralis quid agas, Quo tendas anagogia.¹³
Nikolaus von Lyra, Lyra Biblia Latina: Biblia Latina cum postillis Nicolai de Lyra et expositionibus … replicisque Matthiae Doering. Nürnberg, 1483, o.S.
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Nikolaus von Lyra fährt fort, indem er etwas von der Grundüberlegung hinter dieser Lehre erklärt. Weil, so erklärt Nikolaus von Lyra, Gott so groß ist, liegt es nur nahe, dass sein Wort seine Größe widerspiegelt. Und es spiegelt diese wider, indem es eine Fülle von Bedeutungen hat, die im Überfluss zum einzelnen Menschen sprechen. Es ist nicht bloß das Wort der menschlichen Autoren allein, das man liest, wenn man die Bibel liest. Es ist Gottes Wort. Dementsprechend hat die Bibel nicht weniger als vier Bedeutungen, die dem Zweck dienen, den diese Strophe angibt. Interessanterweise hinterfragte Nikolaus von Lyra, selbst als er diese Gedanken notierte, die ihnen zugeschriebene Standardlesart. Seit Thomas von Aquin in seiner Summa Theologica auf die Notwendigkeit einging, bei der Entwicklung von Allegorien und dergleichen nah am Literalsinn zu bleiben, begann sich die mittelalterliche Exegese von der unbekümmerten Verwendung des Spiritualsinns abzuwenden. Thomas gestaltete seine Kommentare diesbezüglich vor dem Hintergrund einer mittelalterlichen Tradition, die es sich, wie er und andere glaubten, zur Gewohnheit gemacht hatte, in alle möglichen Richtungen hin abzuschweifen, wenn sie verschiedene Aspekte des Spiritualsinns zusammenführte. Thomas’ Anliegen waren, wie Wissenschaftler schon seit den 1940er Jahren argumentiert haben, Teil der Auswirkungen der Wiederentdeckung Aristoteles’ im 13. Jahrhundert, mit der die Kirche zu kämpfen hatte und die unter anderem eine engere Verbindung zwischen dem menschlichen Körper und der Seele postulierte – eine engere Verbindung, die schließlich auch Konzepte zur Verbindung zwischen dem sensus literalis und dem sensus spiritualis zu beeinflusste.¹⁴ Nach diesem neuen Verständnis sind sie wesentlich miteinander verbunden und dürfen nicht getrennt oder auseinandergerissen werden, wie dies in einem mittelalterlichen Umfeld geschah, das von platonischen Auffassungen von Körper und Seele dominiert war, die als fundamental unterschiedliche und getrennte Einheiten gesehen wurden. Beginnend mit dem späten 13. Jahrhundert gab es eine Reaktion gegen diese Konzeptualisierung und ihren Einfluss auf die Bibelauslegung. Luther nahm diesen Akzent auf, tatsächlich konnte er ihn nicht ignorieren. Hinzu kamen die Anliegen der Renaissance-Humanisten wie beispielsweise seines Freunds Philipp Melanchthon, der philologische und literarische Interessen entwickelte, die sie auf die Interpretation der Texte anwandten. Dabei nahmen sie eine gründliche Analyse der Bedeutung von Worten in ihrem Kontext in biblischem Buch, Abschnitt, Vers und Sentenz vor, nicht zu vergessen der zeitlichen und erlösungsgeschichtlichen Zusammenhänge und der Absichten des menschlichen Autors. Seit dem 14. und 15. Jahrhundert strebten Bibelexegeten, Personen wie Nikolaus von Lyra, Faber Stapulensis und anderen folgend, nach dem germanus literalis sensus (dem wahren Literalsinn), der sich mehr und mehr auf die Absichten des menschlichen Autors ausrichtete. Dies war es, wonach Luther strebte: Eine Form biblischer Exegese von historischen Büchern zu entwickeln, die, obwohl er bisweilen eindeutig noch den
Vgl. Beryl Smalley, The Study of the Bible in the Middle Ages, Notre Dame, 1978, 292– 308.
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sensus allegoris ermittelte, besonders in seiner späteren exegetischen Arbeit dazu tendierte, ausgeglichenere Darstellungen hervorzubringen, die sich im Text recht nahtlos zwischen einer historischen Erklärung und einer moralischen (d. h. tropologischen) Bedeutung bewegten. Luthers exegetisches Erbe ist monumental und in vielerlei Hinsicht ein gewaltiges Zeugnis der verschiedenen mittelalterlichen Interessen, die ihn beeinflussten. Luther arbeitete mit den Originalsprachen und lernte Hebräisch und Griechisch, bis er in beidem fachkundig war. Dass Luther Achtung vor den Errungenschaften der Humanisten hatte, kann nicht bezweifelt werden; das lässt sich aufzeigen, wenn wir uns an die Antwort erinnern, die er auf Lorenzo Vallas De falso credita et ementita Constantini donatione declamatio (Über die konstantinische Schenkung) gab. Seine Arbeit mit dem Hebräischen ging Hand in Hand mit seiner Liebe zu den alttestamentlichen Büchern. Angesichts dessen ist Luthers Standpunkt in der Reuchlin-Affäre nicht überraschend. Doch obwohl Luther Johannes Pfefferkorns Bemühungen zu dieser Zeit ablehnte, sollte sich seine Einstellung gegenüber den Juden und ihren Büchern mit der Zeit ändern. Tatsächlich ist seine verhärtende Einstellung gegenüber dem jüdischen Volk wohlbekannt und stellt einen anderen Einfluss des Mittelalters auf ihn dar. Es ist eine Tatsache, dass die Empfehlungen Luthers in Von den Jueden und jren Luegen, ihre Synagogen abzureißen, ihren Talmud zu verbrennen etc., im Kontext der Zeit gelesen nicht besonders provokant erscheinen. Das ist so, weil sie es nicht waren. Europas Einstellung gegenüber den Juden hatte sich vollkommen klar gezeigt durch Geschehnisse wie Spaniens Vertreibung der Juden 1492.Wittenberg hatte die Juden 1304 aus der Stadt vertrieben. Was, wenn überhaupt etwas, Luther tatsächlich von seinem mittelalterlichen Kontext unterscheidet, ist der vorsichtige Ansatz, den er ursprünglich mit den Juden in seinen frühen Werken wie Dass Jesus Christus ein geborner Jude sei einschlug, in dem er die Kirche dafür tadelt, so hart und unzugänglich gegenüber den Juden zu sein. Ob seine Einnahme der grausamen, unnachgiebigen Haltung, die man in seinen späteren Arbeiten findet, von einer Art Rückkehr zu seinen mittelalterlichen Wurzeln oder einer Angst vor der kommenden Apokalypse oder aus irgendeinem anderen Grund verursacht wurde, wird diskutiert. Nichts davon hat Wissenschaftler davon abgehalten, bei diesem Thema eine Fülle verschiedener Positionen zu Luther einzunehmen.
6 Theologia crucis, die Verborgenheit Gottes und Luthers prophetische Berufung Nikolaus von Kues’ De Deo Abscondito (Vom verborgenen Gott) erschien 1444. Dieses Thema wurde auch von Moses Maimonides, Johannes vom Kreuz und zahlreichen anderen diskutiert. Es erscheint auch in der Arbeit des alternden Luther – die Verborgenheit und Andersartigkeit Gottes sind grundlegend für Luthers Annäherung an Gott.
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Als Luther von der Scholastik und ihrer Methode, Theologie zu betreiben, immer stärker enttäuscht war, begann er, eine Unterscheidung zwischen der theologia gloriae und der theologia crucis zu entwickeln.¹⁵ Erstere, die (wie er behauptete) als Vortäuschung von Theologie durch die Scholastik charakterisiert werden könne, war ein Affront gegenüber dem unergründlichen und allmächtigen Gott. Sie täuschte vor, dass die Menschheit Gott so erforschen könnte, wie ein Wissenschaftler forscht; sein oder ihr Forschungsgegenstand wird bearbeitet, hin- und hergeschoben und kontrolliert; die Wissenschaftlerin stellt ihre Fragen und hat vollkommene Kontrolle über ihren Forschungsgegenstand. Dies ist, was nach Luthers Urteil Gott für den Scholastiker ist, der Gott erforscht, um das eigene Vergnügen und die eigene Neugier zu befriedigen. Demgegenüber versteht Luthers theologia crucis, dass die einzige angemessene Haltung, die ein Mann oder eine Frau vor Gott einnimmt, eine von äußerster Ehrfurcht, Angst und Verehrung ist. Indem er dies in seinem Alltag lebte, wurde der Christ von Gott gelehrt, ihn besser zu verstehen, was bisweilen bedeutete, einem verborgenen Gott zu begegnen, der sich erst im Leiden und im Kreuz offenbart. In einer erschütternden Vorsehung lernte der Christ, so Luther, Gottes Liebe und Weisheit einzusehen. Gott spielte nicht mit der Menschheit, wie dies manchmal in der geläufigen Rede vom Deus ludens gesagt wurde. Vielmehr demütigte Gott den einzelnen Christen, die christliche Nation oder Gemeinschaft. All dies weist Einflüsse von Augustinus bis Johannes Chrysostomos und anderer Kirchenväter von Bernhard bis Ockham auf. Diese Vorstellungen vom Kreuz und der göttlichen Verborgenheit zeigen auch den Einfluss der mittelalterlichen Mystik und der Arbeit von Denkern wie Johannes Tauler, Meister Eckhart und die Theologia deutsch, einem volkssprachlichen theologischen Text, von dem Luther sagt, er habe ihn stark beeinflusst. Er erhob diesen Anspruch im Vorwort seiner Neuauflage des Werks von 1516. Der tatsächliche Einfluss der Mystik auf den reifen Luther wird von Forschern diskutiert und ist, wie wir vermuten, weniger ursprünglich angenommen. Dasselbe könnte auch für den Einfluss von Luthers Beichtvater Johann von Staupitz gelten. Während er zweifellos von großer Wichtigkeit für Luther war, scheint das Gefühl der Verpflichtung, das sich in seiner Beziehung zu Staupitz spiegelt, eher eines von Wertschätzung als von tiefer, grundlegender Abhängigkeit zu sein. Es muss weiter nach Einflüssen auf Luthers prophetisches Selbstverständnis gesucht werden. Obwohl es schwierig, wenn nicht unmöglich ist, spezifische Einflüsse ans Licht zu bringen, lässt sich ein mittelalterlichen Einfluss als allgemeine Idee recht leicht feststellen. Der mittelalterliche Prophet, dessen Bestimmung es nicht ausdrücklich war, neue (vorher unbekannte) Offenbarungen hervorzurufen, die dem biblischen Kanon hinzugefügt werden sollten, sondern in der Vermittlung von Unterweisung und moralischer Orientierung bestand, war eine im Mittelalter sehr typische
Die Erforschung dessen ging in der Moderne aus von: Walter von Loewenich, Luthers Theologia Crucis, München, 1929.
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Persönlichkeit, besonders im Spätmittelalter. Thomas von Aquin argumentierte beispielsweise in seiner expositio des Matthäusevangeliums: „Es wird gesagt, dass die Propheten aus zwei Gründen geschickt wurden: um Glaube zu wecken und Verhalten zu bessern: Spr 29,18: ‚Wo keine Offenbarung ist, wird das Volk wild und wüst (dissipabitur).‘ Um Glauben zu wecken, wie in 1 Petr 1,10 gesagt wird: ‚Nach dieser Seligkeit […] die Propheten‘“ Mit diesem Gedanken erläuterte Thomas, dass Prophetie ursprünglich zwei Zwecken gedient hatte. Er erklärte weiterhin, dass nun, wo „der Glaube begründet ist (iam fides fundata est), weil die Verheißungen sich in Christus erfüllt haben“, einer dieser Zwecke verwirklicht ist. Dennoch hat „Prophetie, die darauf abzielt, Verhalten (mores) zu bessern […] nicht aufgehört, noch wird sie jemals aufhören.“¹⁶ Zusätzlich zu Thomas sagte Dionysius der Kartäuser im Wesentlichen dasselbe: „Prophetie beinhaltet auch diese Dinge, die mit der Anleitung menschlichen Verhaltens zu tun haben, wie zum Beispiel ‚Brich mit dem Hungrigen dein Brot […]‘ und Micha sagt: ‚Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert.‘“¹⁷ Etwas Ähnliches beobachten wir in früheren Werken von karolingischen Kommentatoren wie Wilhelm von Auxerre, Rabanus Maurus und Herveus Burgidolensis. Zusätzlich zu dieser Behandlung dessen, was man als gewöhnliche Aspekte von Prophetie bezeichnen könnte, war die mittelalterliche Kirche auch voll von Propheten, die den Fokus auf das Apokalyptische richteten und dabei furchtbare Warnungen vor Zorn und Zerstörung verbreiteten. Hildegard von Bingen, Joachim von Fiore, Franz von Assisi, Birgitta von Schweden, Savonarola, Jan Hus und andere traten auf. Ihre Art unterschied sich beträchtlich, doch brachten sie häufig furchterregende Visionen mit, die sie den Herrschern und dem Volk verkündeten. In mancherlei Hinsicht lernte Luther davon und hatte den Eindruck, dass er die Berufung zu beiden Arten von Prophet empfangen hatte. Seine Ansprache der kirchlichen Führungspersonen seiner Zeit war nicht nur moralisch, sondern dogmatisch und (auf ihre eigene Art) zutiefst prophetisch. Er bezeichnete den Papst als den Antichristen, der am Ende der Tage kommen sollte. Allgemeiner ausgedrückt sprach er mit der Autorität eines Propheten, den Gott zum Predigen berufen hatte. Sein Mut gegenüber Königen, Päpsten und Kaisern wurde zum Stoff von Legenden.
Thomas von Aquin, S. Thomae Aquinatis … super Evangelium S. Matthaei Lectura, P. Raphaelis Cai (Hg.), O.P. Taurini, 1951, 145. Dionysius der Kartäuser, D. Dionysii Carthusiani insigne opus commentariorum in Psalmos omnes Davidicos, Köln, apud Haeredes J. Quentelii & G. Calenium, 1558, 2.
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Luthers mystische Wurzeln Martin Luthers Theologie verdankt sich zu guten Teilen der mystischen Theologie des Mittelalters: Unter ihrem Einfluss hat Luther seine Theologie in den Anfängen entwickelt, und auch die weitere Ausformung reformatorischer Theologie gestaltete sich zu guten Teilen als Transformation der vorhergehenden mystischen Theologie. Dass man dies erst seit gut eineinhalb Jahrzehnten wieder deutlich sieht, ist die Folge einer komplexen Forschungslage, in welcher theologische und zeitgeschichtliche Umstände ineinanderfließen.
1 Zur Forschungslage Der Begriff „Mystik“ ist ein moderner Kunstbegriff, der seit dem 18. Jahrhundert auftritt. Der Sache nach bezeichnet er alle jene Formen von Theologie, die um eine unmittelbare Begegnung mit Gott kreisen. In dieser Form lässt sie sich bis zum Apostel Paulus selbst zurückverfolgen.¹ Höhepunkt christlicher Mystik waren das Werk des Pseudo-Dionysius Areopagita in der Antike, Bernhard von Clairvaux im 12. und Meister Eckhart im 14. Jahrhundert. Dass das Luthertum zutiefst von mystischer Frömmigkeit geprägt war, steht außer Frage: Johann Arndts Vier Bücher vom wahren Christentum waren über weite Strecken von dem Eckhart-Schüler Johannes Tauler geprägt² und Philipp Jacob Spener empfahl in seiner Reformschrift Pia desideria neben der Bibel und Luther eben diesen Johannes Tauler zur Lektüre – mit der Begründung, dass aus diesem „nechst der Schrifft / unser theure Lutherus worden / was er gewesen ist“.³ Die Beschäftigung mit der Mystik intensivierte sich sogar noch, als Meister Eckhart selbst bekannt wurde, der aufgrund seiner 1329 erfolgten Verurteilung lange Zeit im Schatten seines Schülers Tauler gestanden hatte. Hegel lernte Meister Eckhart wohl durch den katholischen Religionsphilosophen Franz von Baader kennen und schätzen.⁴ Daraufhin wurde mystisches Denken in den von Hegel beeinflussten Strömen evangelischer Theologie prominent und immer wieder mit der Reformation verbun-
S. H.-C. Meier, Mystik bei Paulus. Zur Phänomenologie religiöser Erfahrungen im Neuen Testament, Tübingen, 1998, und immer noch: A. Schweitzer, Die Mystik des Apostels Paulus, Tübingen, 1954. A. Lexutt, Lutherisches Bekenntnis und Praxis pietatis. Untersuchung zum theologischen Profil Johann Arndts, Habilitationsschrift, Bonn, 2000. P. J. Spener, Die Werke Philipp Jakob Speners, Studienausgabe, hg.v. K. Aland und B. v. Tschischwitz, Bd.1/I, Gießen, 1996, 236,8 f. G. W. Fr. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Bd. 1, Hamburg, 1974 [1925], 257; vgl. I. Degenhardt, Studien zum Wandel des Eckhartbildes, Studien zur Problemgeschichte der antiken und mittelalterlichen Philosophie 3, Leiden, 1967, 116. https://doi.org/9783110498745-010
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den. Wilhelm Preger etwa erklärte in seiner Geschichte der Mystik: „So geht ein Geist evangelischer Freiheit durch Eckhart’s Sittenlehre“,⁵ und das Haupt der protestantischen Hegelschule, Ferdinand Christian Baur in Tübingen, stellte in ähnlicher Weise Meister Eckhart der Scholastik gegenüber und machte ihn so zum Gewährsmann der Reformation.⁶ Diese überaus wohlwollende Rezeption der Mystik im Protestantismus und der damit einhergehende Gedanke einer Verwurzelung der Theologie Luthers in ihr endete allerdings mit dem Aufkommen der Theologie Albrecht Ritschls: Im Zuge seiner Auseinandersetzung mit dem Pietismus wollte er die Mystik treffen – und tat dies, indem er sie als unprotestantisch diffamierte: Sie sei „… nur die prononcirte Stufe der katholischen Frömmigkeit“.⁷ Dass sich dem Adolf von Harnack anschloss,⁸ kann nicht überraschen. Folgenreich wurde allerdings, dass unter anderen theologischen Voraussetzungen sich auch Karl Barth dieser Auffassung anschloss: Gemessen an seiner Theologie des Wortes Gottes konnte er der Mystik keine positive Wertschätzung entgegenbringen, sondern wertete sie mit markanten Urteilen ab.⁹ Die Abweisung wurde aus verständlichen Gründen noch schärfer, als ausgerechnet die deutsch-christlich orientierten Theologen im Dritten Reich – Erich Seeberg, Erich Vogelsang und andere – eine Deutung Luthers entwickelten, die diesen in engen Zusammenhang mit Meister Eckhart stellte. Den Hintergrund hierfür bildeten weniger solide historische Forschungen als das Bemühen, die evangelische Theologie an den von Alfred Rosenberg gezeichneten Rahmen einer pseudomystischen Religiosität anzubiedern. Für die Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutete dies allerdings, dass der Themenkomplex Luther und die Mystik weitgehend tabuisiert war. Erst allmählich hat die katholische Forschung (Iserloh) wie auch die internationale evangelische Forschung (Oberman, Ozment) das Thema wieder in den Mittelpunkt gerückt. Seit nunmehr eineinhalb Jahrzehnten wird aber neu über die Frage der mystischen Wurzeln Luthers diskutiert. Der hermeneutische Horizont ist nun unter den Bedingungen des beginnenden 21. Jahrhunderts die ökumenische Theologie und die Entdeckung gemeinsamer überkonfessioneller Wurzeln der modernen Kirchen im Mittelalter.
W. Preger, Geschichte der deutschen Mystik im Mittelalter. Bd. 1, Leipzig, 1874, 452. F. Chr. Baur, Die christliche Lehre von der Dreieinigkeit und Menschwerdung Gottes in ihrer geschichtlichen Entwicklung. 2. Teil. Das Dogma des Mittelalters, Tübingen, 1842, 885. A. Ritschl, Geschichte des Pietismus. Bd. 1: Der Pietismus in der reformierten Kirche, Bonn, 1880 [Berlin, 1966], 28. A. v. Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte. Bd. 3: Die Entwicklung des kirchlichen Dogmas, Tübingen, 1909, 377. K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik. Bd. 2/1, 2. Aufl., Zollikon, 1946, 460 (§ 30), 531 (§ 31).
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2 Dionysius Areopagita und mystische Grenzerfahrungen Luther erwähnte in seinen Notizen zum Sentenzenkommentar mehrfach die Schrift De caelesti hierarchia von Ps.-Dionysius Areopagita,¹⁰ die zeitgenössisch in mehreren lateinischen Übersetzungen zugänglich war. Sie war Teil des im Mittelalter außerordentlich geschätzten Corpus Dionysiacum. Die Traktate De caelesti hierarchia (Die himmlische Hierarchie), De ecclesiastica hierarchia (Die kirchliche Hierarchie), De divinis nominibus (Die göttlichen Namen) und De mystica theologia (Die mystische Theologie) stammten zwar nach heutigem Kenntnisstand aus der Zeit um 1500, galten aufgrund der darin angelegten Fiktion der Nähe zu Paulus dem Mittelalter als Werke jenes Dionysius, der nach Apg 17,34 die Predigt des Apostels Paulus auf dem Areopag gehört hatte und hierdurch bekehrt worden war. Da er zudem – für historisch geprägtes Denken – kaum nachvollziehbar mit einem Pariser Märtyrerbischof des 3. Jahrhunderts gleichgesetzt wurde, besaß er eine durchaus mit Augustin vergleichbare Autorität, die noch dadurch gestärkt wurde, dass die Kirche von St. Denis, die Grablege der französischen Könige, den Namen dieses Mischheiligen trug. All dies mag Luther wenig bewusst gewesen sein, als er sich mit Ps.-Dionysius beschäftigt. Jedenfalls führte er aus dessen Werk die Auffassung an, „tres ordines angelorum esse (….). Sunt enim tres superiores, tres inferiores, tres medij“.¹¹ Dieser Gedanke, dass der Himmel in sich noch einmal hierarchisch strukturiert ist, gehört in der Tat zu den zentralen Überzeugungen des Ps.-Dionysius – und hatte für Luther nicht nur eine abstrakte Bedeutung, sondern auch eine höchst existentielle: 1543/44 erinnerte er sich in seiner Jesaja-Auslegung: „Nam fui et ego in ista schola, ubi putavi me esse inter choros Angelorum, cumtamen inter Diabolos potius sim versatus“.¹² Die negative Wertung ist der späteren Rückschau zuzuschreiben. Die in dieser Erwähnung enthaltene historische Erinnerung aber lässt annehmen, dass der junge Luther tatsächlich ekstatische Erfahrungen im Horizont einer dionysischen Himmelsvorstellung hatte – so wie er schon 1523, also um einige Jahre früher (WA 40/3,657,35 f), aber gleichfalls in der Rückschau auf das Klosterleben, erklärte: „Multos vidi monachos et clericos, qui incerti sunt, et ego semel raptus fui in 3 celum“ (WA 11,117,35 f). Die mystische raptus-Vorstellung war dabei, wie insbesondere die Rede vom dritten Himmel zeigt, nicht ausschließlich mit Ps.-Dionysius verbunden, sondern knüpfte auch an Paulus selbst an, der in 1 Kor 12,2 in der dritten Person, aber offenkundig autobiographisch von einem Menschen gesprochen hatte, der „bis in den dritten Himmel entrückt“ worden war.
AWA 9,425,10; 428,17; 430,10. Ebd. 425,10 f. WA 40/III,657,35 f.
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Den Gedanken reflektierte Luther auch in seiner Schriftauslegung: In Zusammenhang von Ps 65 (64Vg) sprach Luther in seiner ersten Psalmenauslegung, den Dictata super psalterium von einer Erfahrung „in raptu et extasi“, die er mit Ruhe und Stillschweigen gleichsetzte.¹³ Auch in diesem Zusammenhang rekurrierte er ausdrücklich auf Ps.-Dionysius, der durch die Präposition „hyper“ deutlich gemacht habe, dass Gott weit über das Verstehen hinausgehe.¹⁴ Zentrales Thema war in diesem Zusammenhang für Luther die gleichfalls mit dem Namen des Dionysius verbundene theologia negativa, die er als den perfektesten Weg der Gottesbewegung in mystischer Erfahrung, wie er sie selbst praktizierte, gipfeln sah – und die er dem leeren Disputationswesen der nostri theologi und ihrer affirmativen Theologie entgegenhielt.¹⁵ Man kann also von einer theologisch wie praktisch geprägten dionysisch-mystischen Phase beim jungen Luther ausgehen. Diese hielt allerdings nicht lange. Schon in der Römerbriefvorlesung erklärte er bei der Auslegung von Röm 5,2: „Hinc etiam tanguntur ii, Qui secundum mysticam theologiam in tenebras interiores nituntur omissis imaginibus passionis Christi“.¹⁶ Luther stellte also seiner bislang praktizierten spekulativ-ekstatischen Mystik dionysischen Gepräges eine stärker christologisch vermittelte Passionsmystik entgegen, wie er sie bei seinem Beichtvater Staupitz, aber auch durch die Lektüre von Johannes von Paltz oder Bernhard von Clairvaux kennengelernt haben dürfte. Noch schärfer wurde die Kritik an Ps.-Dionysius in der zweiten Psalmenvorlesung, den Operationes in psalmos. Hier warf Luther der dionysischen Mystik Irreführung vor: „ne quis se Theologcum mysticum credat, si haec legerit, intellexerit, docuerit seu potius intelligere et docere sibi visus fuerit. Vivendo, immo moriendo et damnando fit theologus, non intelligendo, legendo aut speculando“.¹⁷ Die damit von Luther vollzogene Kehrtwendung ist frappierend: Hatte er in der ersten Psalmenvorlesung noch die dionysische Theologie als das gepriesen, was „facit verum theologum“,¹⁸ so sah er nun in ihr ebenso wie in der scholastischen Theologie eine Selbstermächtigung des Menschen und ordnete sie mithin der falschen Form von Theologie zu. Es griffe allerdings viel zu kurz, zu meinen, dies bedeute, dass Luther nun mystischer Theologie ganz und gar eine Absage erteilt hätte. Das Gegenteil ist der Fall: Er stützte sich nun auf andere mystische Autoritäten, vornehmlich Bernhard von Clairvaux und Johannes Tauler.
WA 55/II,344,18 f. Ebd. 344,1– 3. Ebd. 344,14 f. WA 56,299,27– 300,1. WA 5,163,27– 29. WA 55/II,344,19.
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3 Monastische Traditionen Als Mitglied des Augustinereremitenordens wurde Luther mit vielen Traditionen monastischer Spiritualität konfrontiert. So hat er wohl im Herbst 1509 pseudobonaventurische Werke aus monastischem Kontext gelesen und darin insbesondere eine Stärkung seiner eigenen Entscheidung für die Existenz als Bettelmönch wahrgenommen. So markierte er durch Unterstreichungen das Lob der Armut¹⁹ und die Bezeichnung des Mendikantenstandes als status perfectior gegenüber anderen Ständen.²⁰ Die Lektüre zeigt auch Luthers Interesse an christologischer Vertiefung So strich er den Satz an: „quotidie pro nobis christus mystice immolatur“.²¹ Das mystische Opfer musste dabei nicht in einer Konkurrenz zum sakramentalen Opfergeschehen stehen, im Gegenteil: Der Satz steht in einem Traktat über die Vorbereitung auf die Messe, den Luther möglicherwiese genau zu diesem Zweck selbst gelesen hat. Aber er zeigt doch, dass die spirituelle Dimension eines christusbezogenen Lebens sich für Luther jedenfalls auf die Sakramente nicht beschränken kann. Ps.-Bonaventura war für Luther aber nicht nur wegen dieser einzelnen Aussagen wichtig, sondern vor allem dadurch, dass die Lektüre den jungen Mönch zu einem anderen Mystiker hinführte, der für ihn zeitlebens große Bedeutung haben sollte: Auf dem Titelblatt und der Innenseite des vorderen Einbanddeckels der Opuscula Anselmi, die Luther gleichfalls in der Erfurter Zeit studierte, notierte er sich eine Fülle von Zitaten Bernhards von Clairvaux, die zum größeren Teil aus Ps.-Bonaventuriana stammen.²² Der Franziskanergeneral also, beziehungsweise die unter seinem Namen stehende Tradition, führte zu dem großen Zisterzienserabt. Theo Bell hat gezeigt, in welcher Fülle Luther immer wieder auf Bernhard zurückgriff ²³ – gewiss nicht immer in spezifisch mystischem Kontext, aber eben doch in einer Weise, die erkennen lässt, dass dieser Mystiker die Spiritualität Martin Luthers tief geprägt hat. Franz Posset hat zeigen können, dass dies Teil einer im späten Mittelalter verbreiteten Bernhard-Renaissance ist,²⁴ was umso mehr zeigt, dass die tiefe Verankerung Luthers in mystischer Frömmigkeit nicht isoliert von der allgemeinen Frömmigkeitstheologie seiner Zeit betrachtet werden darf. Markant ist in diesem Zusammenhang ein Bericht Melanchthons in seiner Vorrede zum zweiten Band der lateinischen Werke Luthers von 1546, der deutlich macht, dass in der Wittenberger Erinnerungskultur kurz nach Luthers Tod die Anfänge der reformatorischen Theologie aufs Engste mit Bernhard verknüpft waren. Hiernach nämlich habe ein alter Mann Luther im Kloster mit Verweis auf einen Ausspruch Bernhards AWA 9,100,21 f. Ebd., 103,3 f. Ebd., 108,29. Ebd., 8 Anm. 7; 11 Anm. 11 f. Th. Bell, Divus Bernhardus. Bernhard von Clairvaux in Martin Luthers Schriften, VIEG 148, Mainz, 1993. Fr. Posset, The Real Luther. A Friar at Erfurt & Wittenberg, Saint Louis, 2011, 85 – 128.
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getröstet und Luther hierdurch erst an Paulus und die Gerechtigkeit aus dem Glauben erinnert, wie man sie aus Röm 3,28 erkennen könne.²⁵ Luthers intensive Bernhard-Rezeption, die, wie erwähnt, in Erfurt begann, lässt sich schon in den Dictata super Psalterium nachzeichnen. In diesen gewinnt Bernhard für Luther eine besondere Bedeutung als Seelenlehrer, der über die Anfechtungen schreibt, die den Menschen betreffen können und in denen sich die Versuchung Christi widerspiegelt.²⁶ Diese christologische Zentrierung verbindet Luther dann noch einmal ganz besonders mit Bernhard, „Quia secundum Bernardum, Anima non habet requiem nisi in Vulneribus Christi“.²⁷ Diese Stelle unterstreicht, wie tief die BernhardRezeption in die allgemeine Frömmigkeitsstimmung in Wittenberg Anfang des 16. Jahrhunderts eingebettet ist, denn in einigen Tischreden verbindet Luther genau den Hinweis auf die Wunden Christi mit Johann von Staupitz, insbesondere mit dessen berühmtem Prädestinationsratschlag: „Praedestinatio. Ego semel conquerebar de sublimitate praedestinationis Staupitio meo. Respondit mihi: In vulneribus Christi intelligitur praedestinatio et invenitur, non alibi, quia scriptum est: Hunc audite“.²⁸ Man täte also nicht gut daran, mystische Frömmigkeit von dem spirituellen Umfeld des jungen Mönchs Luther abzugrenzen: Beides fließt ineinander und gewinnt in den Jahren 1512– 1516 eine christologische Konzentration, die dann in der erwähnten Weise dem dionysischen Erbe entgegensteht. Positiv gewendet heißt dies: Das reformatorische Solus Christus formt sich in dieser Zeit der seelsorglichen Beratung durch Staupitz und der Bernhard-Lektüre. Diese prägte auch Luthers Auseinandersetzung mit dem Römerbrief: Im Scholion zu Röm 8,16 findet sich das ausführlichste Bernhard-Zitat im gesamten Werk Luthers: eine ausführliche Darlegung über die Wirkung des Heiligen Geistes aus Bernhards „Sermo in festo annuntiationis“.²⁹ Interessanterweise erscheint gerade hier jenes Zitat aus Röm 3, 28, das nach Melanchthons Bericht in der Deutung Bernhards einen so starken Eindruck auf Luther gemacht hat, und Bernhard bietet es sogar gnadentheologisch zugespitzt. Er ergänzt ein „gratis“, das Luther seinerseits nicht in sein Paulus-Zitat aufnimmt: „Sic enim arbitratur Apostolus iustificari hominem gratis per fidem“. Zugleich verstärkt Luther das Moment reiner Gnade noch gegenüber Bernhard, indem er in das Zitat einen kleinen Exkurs einflicht, in dem er die Nichtigkeit auch des Werke tuenden Menschen im Angesicht Gottes betont, also Grundgedanken der Mystik gnadentheologisch aufnimmt und ausführt: Für den Luther dieser Jahre bestand ein Gegensatz zwischen Mystik und paulinischer Theologie nicht – im Gegenteil: Beides bestärkte und intensivierte sich. Dies zeigt, wie unsinnig es wäre, die frühe Befassung Luthers mit der Mystik in das Schema von Kontinuität oder Bruch einzuzwängen: Die
CR 6,158. WA 55/II,712,410 – 713,419. WA 55/I,585,3 f. WA.TR 2, No. 1490. WA 56,369 f.
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Auseinandersetzung mit mystischer Theologie formte seine reformatorische Theologie zu guten Teilen mit und fand in dieser ihre Erfüllung. Das gilt auch für den Begriff der humilitas. Der Begriff erscheint bei Bernhard wie beim jungen Luther reichlich. Dies ist Luther bewusst, wie seine Ausführungen zu Ps 21,22 in den Operationes in psalmos zeigen, wo Luther sich zur Unterscheidung von humilitas und humiliatio auf Bernhard beruft, um das Wirken Gottes deutlich zu machen.³⁰ Die Wirkung Bernhards reichte auch bis in die Heidelberger Disputation hinein. Zwar zitiert Luther in den Thesen 19 und 20, die der Grundlegung der Theologie des Kreuzes dienen, nicht ausdrücklich Bernhard: „19. Non ille digne Theologus dicitur, qui invisibilia Dei per ea, quea facta sunt, intellecta conspicit, 20. Sed qui visibilia et posteriora Dei per passiones et crucem conspecta intelligit“.³¹ Aber die Gegenüberstellung zwischen dem, der Gott nur durch Rückschluss aus dem Irdischen erkennen will, und dem, der ihn aus seiner Passion erkennt, nimmt offenkundig eine Denkfigur Bernhards auf. Dieser nämlich hatte als Grund für den unsichtbaren Gott, die Inkarnation – und nach Bernhard damit den Beginn des Leidens – auf sich zu nehmen, genau dessen Wunsch angesehen, für die Menschen sichtbar zu werden.³² Dass die Konzentration auf das Leiden Christi, seine Wunden also, die Luther durch Bernhard und Staupitz gelernt hatte, eine erkenntnistheoretische Dimension gewinnt, hat wiederum seine Wurzeln in Bernhard – und begründet die für die weiteren reformatorischen Auseinandersetzungen so bedeutsame Unterscheidung von theologus gloriae und theologus crucis (These 21).³³ Die offenkundigste Nachwirkung bernhardinischer Theologie findet sich allerdings in der Freiheitsschrift von 1520, also in einem Text, den man im allgemeinen schon klar als Ausdruck von Luthers reformatorischer Theologie deutet: „Nit allein gibt der glaub ßovil, das die seel dem gottlichen wort gleych wirt aller gnaden voll, frey und selig, sondernn voreynigt auch die seele mit Christo, als eyne brawt mit yhrem breudgam“.³⁴ Es reicht nicht, diesen Satz als eine bloß mystische Einkleidung einer ansonsten von Mystik nicht tangierten augustinisch-paulinischen Rechtfertigungslehre zu deuten: Die prononcierte Rede von einer unio („voreynigt“) macht deutlich, dass hier mystisches Denken sehr unmittelbar und sehr aktiv fortlebt. Und das Bild, das Luther zur Ausmalung dieser unio verwendet, beruht in erster Linie auf der Deutung, die Bernhard in seinen Hohenliedauslegungen entwickelt hat. Von früh an hatten Judentum und Christentum Schwierigkeiten, die sehr drastischen Liebeslieder, die im Hohenlied versammelt sind, als Teil des kanonischen Textes zu deuten. Origenes hatte den Weg für die weitere Auslegung durch das Aufgreifen der allegorischen
WA 5,656,28 – 30. WA 1,354,17– 20. Bernhard von Clairvaux, Sämtliche Werke. Lateinisch/deutsch, hg.v. Berhard B. Winkler. Bd. 5, Innsbruck, 1994, 118,21– 26. WA 1,354,21 f. WA 7,25,26 – 28.
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Methode gewiesen und dabei einen Gedanken angedeutet, den Bernhard umfassend ausbaute: dass die liebende Braut die Seele des oder der Glaubenden sei, der Bräutigam aber Christus. Diese Bildlichkeit tendierte mit großer Selbstverständlichkeit zu einer mystischen, nämlich auf Einigung hinauslaufenden Deutung des Verhältnisses zwischen glaubendem Ich und Christus, und genau so hat Bernhard es auch entfaltet. Trotz der großen Bedeutung, die Bernhard in dieser Auslegungsgeschichte besitzt, ist allerdings auch hier die Möglichkeit in Rechnung zu stellen, dass Luther in der Aufnahme des Brautbildes mehr von seinem unmittelbaren Umfeld beeinflusst war als von Bernhard selbst: Staupitz hatte das Bild der geistlichen Hochzeit kurz vor Luthers Freiheitsschrift in seinem Libellus de praedestinatione c. 9 verwendet, so dass es dem Wittenberger auch hierdurch vertraut geworden sein kann. Wie immer es hiermit im Einzelnen bestellt sein mag: Luther ist auch 1520 noch in aller Deutlichkeit von mystischen Gedanken und Theologumena geprägt – sein reformatorisches Denken hiervon trennen zu wollen, geht an diesem sehr klaren Befund vorbei.
4 Mystische Bußfrömmigkeit als Impuls zur theologischen Neuorientierung Die fortdauernde Bedeutung der Mystik zeigt sich noch etwas später als in der Freiheitsschrift in der Wartburgpostille, also jenem Handbuch für Prediger, das Luther während seines erzwungenen Aufenthaltes auf der Wartburg nach dem Wormser Edikt verfasste. In der Predigt über die Perikope vom zwölfjährigen Jesus im Tempel heißt es hier: Da hatt der Euangelist aber eyn maltzeychen gesteckt, das er hie schweygt der namen Joseph und Maria, nennet sie vatter und mutter, uns ursach tzu geben an die geystliche bedeuttung.Wer ist nu Christus geystlicher vatter unnd mutter? Er selb nennet seyne geystliche mutter Marci. 4. Lu. 8: Wer da thut den willen meyniß vattern, der ist meyn bruder, meyn schwester und meyn mutter. S. Paulus nennet sich selb eynen vatter. 1. Cor. 4: Wenn yhr gleych zehen tausent schulmeyster habet yn Christo, ßo habt yhr doch nit viel vetter; denn ich hab euch yn Christo durchs Euangelium geporn oder getzeuget. So ists nu klar, das die Christliche kirche, das ist: alle glewbige menschen sind Christus geystliche mutter, und alle Apostel und lerer ym volck, ßo sie das Euangelium predigen, sind seyn geystlicher vatter. Und ßo offt eyn mensch von new glawbig wirt, ßo offt wirt Christus geporn von yhnen.³⁵
Auffällig ist schon der sehr freie Gebrauch von allegorischer Schriftauslegung, den Luther hier an den Tag legt. Noch bedeutsamer aber ist der Umstand, dass die zitierte Passage in die Beschreibung einer Geburt Christi aus dem Glauben eines jeden einzelnen Christen mündet – dies nimmt offenkundig den Gedanken von der Gottesgeburt in der Seele auf, der sich zu Beginn einer Sammlung von Predigten Johannes
WA 10/I/1,387,3 – 14.
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Taulers findet, die im Jahre 1508 in Augsburg gedruckt worden war,³⁶ und die Luther in den Jahren 1515/16 intensiv studiert hat. Der Band setzte nicht nur mit einer Predigt Taulers selbst zum Weihnachtstag ein, die über die drei Gestalten der Gottesgeburt – vor aller Zeit in der Dreieinigkeit, in der Zeit in Bethlehem und schließlich in der Seele der Gläubigen – handelte, sondern wurde fortgesetzt mit einem Zyklus von Predigten, die dieser Frage gewidmet waren. Philologisch lassen diese sich nach heutigem Stand Meister Eckhart zuschreiben. Nach dessen Verurteilung 1329 waren einige seiner Predigten anonymisiert oder unter andere Namen gestellt worden – recht häufig unter den Johannes Taulers. In dieser Gestalt lagen sie nun Luther vor – und der Grundgedanke der Gottesgeburt prägte ihn offenbar so nachhaltig, dass er ihn, eingezeichnet in einen glaubenstheologischen Zusammenhang, noch in das Predigthandbuch einbrachte, das dann auf Generationen hinaus, als Teil der Kirchenpostille, lutherische Predigten formen sollte. Die sich darin zeigende Hochschätzung Taulers äußerte sich schon früh bei Martin Luther, ja, er konnte den ganzen Anstoß zur reformatorischen Bewegung, die Publikation der Ablassthesen, letztlich als Konsequenz aus der Theologie Taulers darstellen, als er am 31. März 1518 an Staupitz schrieb: „Ego sane secutus theologiam Tauleri et eius libelli, quem tu nuper dedisti imprimendum Aurifabro nostro Christianno“.³⁷ Das kleine Büchlein, das er hier erwähnt, ist die Theologia deutsch, die gleichfalls dem 14. Jahrhundert entstammt und die in den Augen Luthers der Theologie Taulers recht ähnlich war. Mit dem Interesse an Tauler, das wahrscheinlich Staupitz selbst angeregt hatte, stand Luther in Wittenberg auch keineswegs allein, Wittenberg erweist sich geradezu als Zentrum der Tauler-Rezeption Anfang des 16. Jahrhunderts:³⁸ Neben Luther haben sich auch Amsdorff und Karlstadt dem Werk dieses Mystikers aus dem 14. Jahrhundert zugewandt. Luther lernte seine Predigten in der Zeit seiner Römerbriefvorlesung, wohl Anfang 1515, kennen – und war bald von ihnen begeistert. So empfahl er am 14. Dezember 1516 Spalatin Taulers Predigten mit fast sakramentalen Worten: „Gusta ergo et vide, quam suavis est dominus, ubi prius gustaris et videris, quam amarus est, quicquid nos sumus“ (WA.B 1,79,58 – 64). Luthers Lektüre lässt sich anhand seiner Randbemerkungen zu dem von ihm benutzten Tauler-Band nachvollziehen. So war er offenkundig an einer Passage besonders interessiert, in welcher Tauler über den mehrfachen Rückfall des Sünders sprach:
[Johannes Tauler], Sermones: des hoch| geleerten in gnaden erleüchten do|ctoris Johannis Thaulerii sannt | dominici ordens die da weißend | auff den nächesten waren weg im | gaist zu wanderen durch überswe| bendenn syn. Von latein in teütsch | gewendt manchem menschenn z | sliger fruchtbarkaitt, Augsburg: Hans Otmar 1508. WA.B 1,160,8 f. H. Otto, Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption. Annotationen in Drucken des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts, QFRG 75, Gütersloh, 2003.
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ob du des tags zu sibentzig mal fallest als offt soltu wiederkeren vnd kommen wider zu got. vnd dring dich wider in got also schwindiglichen dz dir dein sunde zu mal entpfallen. so du da mit zu der beicht kommest. das du jt nitt wissest zu sagen. Dis sol dich nit entsetzen. es ist dir nit aufgefallen zu schaden. sunder zu ainer bekentnuß deines nichtes.vnd zu ainer verschmehunge dein selber mitt ayner gelassenhayt. nicht mitt ainer schwärmutikait (….) Sant paulus spricht. Alle die got lieben den kommpt alle ding zu gut. Nu di gloß spricht. Auch dy sünd. Sunder schweig vnd fleühe zu got vnd sihe auf dein nicht.Vnd bleib innen. nit lauf zu hant da mit zu dem beichtiger.³⁹
Eben hier schrieb Luther an den Rand: „Hoc nota tibi“.⁴⁰ Es lässt sich also klar nachvollziehen, dass ihn an Tauler solche Ausführungen faszinierten, die die sakramentale Buße angesichts der immer wieder neu vor Gott gebrachten tiefen Herzensreue relativierten. Der Mystiker wurde ihm so zum Lehrer der Buße – und gerade darin wurde er sehr nachhaltig von ihm geprägt: Einen fernen Nachhall der zitierten Taulerworte bilden noch Luthers erste beiden Thesen gegen den Ablass vom 31. Oktober 1517: 1 Dominus et magister noster Iesus Christus dicendo ‘Penitentiam agite etc.’ omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit. 2 Quod verbum de penitentia sacramentali (id est confessionis et satisfactionis, que sacerdotum ministerio celebratur) non potest intelligi.⁴¹
Angesichts dieser deutlichen Entsprechung kann es nicht überraschen, dass Luther ein halbes Jahr später die oben angeführten Sätze an Staupitz schrieb, er sei nur Tauler und der Theologia deutsch gefolgt. Auch an anderen Stellen kann man beobachten, wie Luther bei der Lektüre Taulers Gedanken entwickelte, die für die Formierung seiner Theologie von grundlegender Bedeutung werden sollten. Bedenkt man, dass – wie es etwa die spätere Betonung der iustitia passiva zeigt⁴² – die Passivität des Menschen gegenüber der Aktivität Gottes für Luther eine ganz entscheidende Bedeutung hatte, so ist es bemerkenswert, dass Luther einen entsprechenden Satz bei Tauler las und kommentierte: „wann wenn zway sollnn ains warden / so muß sich dz ain haltnn leidend / daz ander wirckent“⁴³ – so hatte Tauler geschrieben, und Luther notierte hierzu: „Nota, quod divina pati magis quam agere oportet, immo et sensus et intellectus est naturaliter etiam virtus passiva“,⁴⁴ und im Blick auf die spätere Betonung des Sola fide im Rechtfertigungsgeschehen ist es interessant, dass Luther in einer längeren erläuternden Passage bemerkte: „Igitur tota salus est resignatio voluntatis in omnibus ut hic docet sive in spiritualibus sive temporalibus. Et nuda fides in deum“.⁴⁵ Damit hat die Lehre von der Rechtfertigung allein durch den Glauben noch nicht jene zentrale Funktion erlangt, die sie später für Luther hatte, und man wird auch im Blick
[Tauler], Sermones fol. 192v. WA 9,104,11. WA 1,233,10 – 13. WA 54,186,6 f. [Tauler], Sermones, fol, 2r. WA 9,97,12– 14. Ebd.,102,34– 36.
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auf den hier benannten nackten Glauben im Einzelnen nachzufragen haben, in welcher Weise er dem später von Luther als fides Gefassten entspricht. Wiederum wird durch die Begrifflichkeit deutlich, dass in Luthers Denkentwicklung Mystik nicht Paulus und Augustin entgegenstand, sondern sich hier ein umfassender gedanklicher Komplex eröffnete, den Luther auch in Lektüre der Theologia deutsch weiter entfaltete: Wohl aus dem Augustinereremitenkloster in Köln erhielt Luther eine unvollständige Handschrift dieses Textes, die er 1516 in Wittenberg veröffentlichte⁴⁶ – dies war, abgesehen von den Bibeltexten, die als Grundlage für seine Vorlesungen gedruckt worden waren, Luthers erste Veröffentlichung. Schon die Überschrift auf dem Titelblatt, die Luther dem namenlosen Buch gegeben hatte, machte deutlich, dass Luther den mystischen Text als Ausdruck jener Heilsvorstellungen las, die er auch beim Apostel Pauls finden konnte: „Eyn geystlich edles Buchleynn von rechter vnderscheyd vnd vorstand, was der alt vnd new mensch sey, Was Adams vnd was gottis kind sey vnd wie Adam ynn vns sterben vnnd Christus ersteen sall.“ Vor diesem Hintergrund wurden dann besonders zentral die Kapitel, die im vollständigen Text Kapitel 15 und 16 ausmachen und in denen der anonyme Autor die Abkehr von der Sünde unter dem Leitmotiv der Buße behandelte: Die Theologia deutsch bestätigte für Luther, was er bereits bei Tauler gelernt hatte – so kann man dann auch in dem Text Anklänge an später für Luther wichtige Theologumena finden, insbesondere die Unterscheidung von „innerem“ und „äußerem Menschen“, die 1520 für Luther zum Leitmotiv seiner Freiheitsschrift wurde.⁴⁷ Welche Bedeutung der Text für Luther gewann, geht nicht nur aus solchen literarischen Bezügen hervor, sondern auch aus Luthers ausdrücklicher Wertschätzung: Ihm sei „nehst der Biblien und S. Augustino“ kein Buch untergekommen, aus dem er mehr gelernt habe als aus der Theologia deutsch. ⁴⁸
5 Transformationen der Mystik Die beschriebene Aufnahme der Mystik durch den jungen Luther blieb, wie an mehreren Stellen angedeutet, nicht folgenlos. Tatsächlich kann man wesentliche Teile der reformatorischen Theologie Luthers als Transformation mystischer Überzeugungen erklären. Dies soll im Folgenden an drei Beispielen deutlich gemacht werden: der Lehre von Gesetz und Evangelium, der Lehre von der Rechtfertigung und der Lehre vom allgemeinen Priestertum.
Eyn geystlich edles Buchleynn. | von rechter vnderscheyd | vnd vorstand. was der | alt vnd new mensch sey. Was Adams | vnd was gottis kind sey. vnd wie Adam | ynn vns sterben vnnd Christus | ersteen sall, Wittenberg: Grundenberg 1516. Ebd., fol. A 2r. WA 1,378,21– 23.
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1. Die Dialektik von Gesetz und Evangelium ist bekanntlich ein Angelpunkt von Luthers Denken.⁴⁹ Eine klare Formulierung des theologischen Gebrauchs des Gesetzes in seinem Verhältnis zum Evangelium bietet Luther in der Kirchenpostille von 1522, die das Gesetz als eine Art Hinführung auf Jesus Christus beschreibt: Das ander, das der mensch sich alßo durchs gesetz erkenne, wie falsch und unrecht seyn hertz sey, wie fern er noch von gott sey, wie gar die natur nichts sey, das er seyn erber leben vorachte und erkenne, wie es nichts sey gegen dem, das tzu des gesetzes erfullunge gehoret. Und alßo gedemuettigt werde, tzum creutz krieche, Christum erfeufftze und sich nach syner gnaden sehne, an yhm selbs gar vortzage, alle seynen trost auff Christum setze.⁵⁰
Auffällig ist hieran, in welchem Maße die Nichtigkeit des Tuns des Menschen ausgesprochen wird: Die Nichtigkeit des Eigenen, die Erkenntnis der eigenen totalen Unzulänglichkeit im Angesicht Gottes ist Ziel der Gesetzesbotschaft, ganz in dem Sinne, wie es Luther bereits in den Operationes in psalmos formuliert hat: „deus humiles solum respiciat“.⁵¹ Luther hat schon hier eine Grundstruktur entfaltet, die er später worttheologisch in der Dialektik von Gesetz und Evangelium ausführt. Eben darin aber findet sich nun eine offenkundige Entsprechung zur Theologie Johannes Taulers: Als erste Stufe der Selbsterkenntnis bedarf auch und gerade der Mystiker der Reinigung, die mit einem Verzicht auf alles dem Menschen Eigene verbunden ist. So erklärt Tauler in seiner Predigt über Joh 5,1 ff: Die drite porte ist ain war wesenliche rew der sünde. Das ist ein wars abkeren von allem dem das nichtt war lautr got ist. oder des got nitt ain war sach ist, vnnd daz der mensch ainn waren gantzen kere zu got tu mit allem dem. Das er ist jnn wendig vnnd uß wendig.⁵²
Dass Luther diese Struktur bei Tauler bekannt war, zeigt die oben angeführte Stelle von der möglichen Hintanstellung der Beichte angesichts der tief empfundenen inneren Reue. Ebenso dürfte ihm auch bewusst geworden sein, dass schon in der mystischen Literatur auf diese Destruktion des Eigenen des Menschen die positive Auferrichtung folgte. Denn an der angeführten Stelle aus der Predigt über Joh 5,1 ff setzte Tauler fort, „der kerne. vnnd das marck des waren rewens“ sei: „mit ainr gantzen getrawung versincken in das lauter gutt. Das got selber ist.“⁵³ Der Vernichtung folgte die Auferbauung – und eben dieser Grundstruktur folgte nun Luther, wenn er der Destruktion allen menschlichen Eigensinns durch das Gesetz das Evangelium dialektisch entgegenstellte, das dem Menschen dennoch das Heil verheißt. Es ist offenkundig, dass Luther hier mystische Frömmigkeit nicht einfach ungebrochen fortgeschrieben hat: Die entscheidende Änderung liegt darin, dass er die beibehaltene
S. WA 7,502,34 f; 36, 9,224– 31; WA 39/I,361,1– 6; WA 40/I,207,3 – 5. WA 10/I/1,455,5 – 11. AWA 2,197,25. [Tauler], Sermones, fol. 29r. Ebd., fol. 29r.
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Dialektik von Vernichtung und Auferbauung in einen worttheologischen Rahmen eingezeichnet hat. Eben darin liegt die Eigenheit des Vorgangs der Transformation: dass Kontinuität in der Veränderung gewahrt wird. 2. Das gilt in gewisser Weise auch für die Rechtfertigungslehre. Dabei steht außer Frage, dass deren Formulierung sich zum größeren Teil der Auseinandersetzung mit Augustin und Paulus verdankt. Doch dürften schon die oben angeführten Hinweise auf die Passivität des Menschen deutlich gemacht haben, dass Luther diese Rechtfertigungslehre in einem Horizont entwickelt hat, in dem ein Gegensatz zwischen Augustin und Paulus auf der einen und der Mystik auf der anderen Seite gar nicht denkbar war: Die mystische Lektüre gab für ihn eben der Auffassung Ausdruck, die er auch beim Kirchenvater und beim Apostel fand. Dies konnte bis in explizite Formulierungen hineingehen: Unter ausdrücklicher Berufung auf Augustin erklärte Tauler in einer Predigt über Joh 6: „Wann die wirdigkayt kummpt nymmer von menschlichen wercken noch verdienen. Sunder von lauter gnad vnnd verdienen vnsers herren jesu christi. Vnd fleßt zumal von got an vns“.⁵⁴ Wiederum wird erkennbar, dass es sich bei dem, was sich dem jungen Luther eröffnete und was er in der Folgezeit fortführte, um einen augustinisch-mystischen Gesamtkomplex handelte, in dem die mystische Lektüre jedenfalls dazu beitrug, die Alleinigkeit der Gnade im Heilsgeschehen wahrzunehmen, mithin den Kern der Rechtfertigungslehre. Entsprechend sind gerade die ersten Anläufe zu deren Formulierung sehr stark von mystischer Begrifflichkeit und Vorstellungswelt geprägt. So heißt es in den Operationes in Psalmos: Vocatur autem iustitia dei et nostra, quod illius gratia nobis donata sit, sicut opus dei, quod in nobis operatur, sicut verbum dei, quod in nobis loquitur, sicut virtutes dei, quas in nobis operatur, et multa alia […] ut eadem iustitia deus et nos iusti simus, sicut eodem verbo deus facit et nos sumus, quod ipse est, ut in ipso simus et suum esse nostrum esse sit.⁵⁵
Zieht man die Linie weiter, so kann es nicht überraschen, dass die oben angeführten mystischen Passagen der Freiheitsschrift genau dem einen Zweck dienen: das Gnadenhandeln Gottes durch Christus am Menschen auszuführen – also das, was auf andere Weise durch die explizite Rechtfertigungslehre beschrieben wird. 3. Kaum weniger frappierend ist die Bedeutung der mystischen Theologie für die Formulierung der Lehre vom allgemeinen Priestertum. Sie stellt eine klare Veränderung und Korrektur der Vorstellung vom Weihepriestertum dar, das die Kleriker rechtlich und theologisch vom Volk abhob. Die Aufbrechung dieser sozialen und kirchenorganisatorischen Scheidelinie aber findet sich, mindestens metaphorisch, schon bei Johannes Tauler, der in der Auslegung der Perikope von Zacharias in Lk 1 das Priesterverständnis radikal spiritualisierte: Er deutete den Namen Zacharias etymologisch als „an gott gedencken oder gottes gedechtnuß“ und folgerte hieraus: „Dieser gtlich mensch der sol ain priester sein vnnd sol eingeen in sancta sanctorm Ebd., fol. 85v. AWA 2,259,1– 3.12– 14.
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vnnd das volck alles darfauß bleiben“.⁵⁶ Was hier noch als einfache Etymologisierung des einen hervorgehobenen Priesters erscheinen mag, erweist sich im Folgenden sogleich als allgemeine Aussage über die Andacht Gottes: In diesem Sinne nämlich könne geistlich jeder Mensch, ausdrücklich auch eine „frawen person“, Priester sein und geistlich das Opfer vollziehen: „das ist das sy mit ainem gesameten gemte sol in sich selber geen. Vnnd alle synnliche ding da außen lassen. Vnnd das opfer opffern dem himlischen vatter“.⁵⁷ Eben diese Spiritualisierung hat Luther nun radikalisiert, indem er das allgemeine Priestertum nicht auf eine bestimmte Frömmigkeitspraxis bezog, sondern auf die Taufe als das christliche Grundsakrament: Die weyl dan nu die weltlich gewalt ist gleych mit uns getaufft, hat den selben glauben unnd Evangely, mussen wir sie lassen priester und Bischoff sein, und yr ampt zelen als ein ampt, das da gehore und nutzlich sey der Christenlichen gemeyne. Dan was ausz der tauff krochen ist, das mag sich rumen, das es schon priester, Bischoff und Bapst geweyhet sey, ob wol nit einem yglichen zympt, solch ampt zu uben,⁵⁸
so heißt es in der Adelsschrift von 1520 – und das Zitat markiert schon gleich den Kontext: Das allgemeine Priestertum dient dazu, dem weltlichen Stand das Recht zur Kirchenreform auch ohne und gegen den geistlichen Stand zuzusprechen. Damit wurde das allgemeine Priestertum zu dem entscheidenden Scharnier, durch welches aus den theologischen, in der Mystik verwurzelten Überlegungen Luthers kirchenpolitisches Handeln wurde. Der Impuls dabei führt wiederum Mystik nicht einfach fort: Der Bezug des Priestertums auf die Taufe statt auf spezielle Frömmigkeitspraxis stellt eine erhebliche Radikalisierung dar. Aber der Impuls entstammt dem Schranken öffnenden mystischen Denken – und führte unmittelbar in die reformatorische Gestaltung. Ohne Mystik hätte es keine Reformation gegeben.
[Tauler], Sermones, fol. 173v. Ebd., fol. 173v. WA 6,408,8 – 13.
Franz Posset
Luthers Inspiratoren und Sympathisanten Von Professor Johann von Staupitz bis zu den Kreisen von Nürnberg und Augsburg In den frühen Jahren der Reformation in Deutschland, vor der Confessio Augustana von 1530, gab es keine klaren konfessionellen Abgrenzungen, und selbst danach zunächst nicht. Luther hatte Sympathisanten, die starben, bevor klar wurde, dass Luthers Bewegung auf eine Kirchenspaltung hinauslaufen würde, und die dementsprechend Zeit ihres Lebens den Rahmen der römisch-katholischen Glaubensregeln nie verließen. Teil einer ökumenischen Suche nach dem „historischen Luther“ muss daher sein, die Aufmerksamkeit auf die frühe Anerkennung Luthers durch Kirchenmänner zu richten, die im Katholizismus verblieben. Zudem muss bedacht werden, dass Luther selbst seine Anhänger 1522 ermahnte, sich nicht „Lutheraner“ zu nennen.¹ Er zog den Begriff „evangelisch“ für seine Bewegung vor, den er 1519 in der Leipziger Disputation verwandte.² Diesen Ratschlag beherzigend zielt der vorliegende Beitrag darauf ab, einige der Persönlichkeiten zu untersuchen, die, obgleich sie nie mit Rom brachen, dennoch voller Hoffnung und Respekt auf Luther schauten. Ausgangspunkt wird Luthers Lehrer Johann von Staupitz (ca. 1465 – 1524) sein, anschließend wird der Blick auf weitere Figuren gerichtet, die, bei allen Unterschieden in ihren persönlichen Lebenswegen, in Luther etwas sahen, das nicht notwendigerweise – zumindest noch nicht – mit ihrem Verbleib in der römischen Kirche im Widerspruch stand.
1 Staupitz – Wegbereiter Luthers? Die Inschrift auf dem Grabstein von Johann von Staupitz erinnert an ihn Gelehrten der Bibel.³ Staupitz hatte die Bibel zum Mittelpunkt seines Lebens und seines Werks gemacht und war zu einem herausragenden Bibeltheologen und Prediger geworden, zu dem Luther aufschaute. Die Romreise des jungen Luther wird oft als Pilgerfahrt charakterisiert. Wesentlich überzeugender ist die These, dass Luther im Auftrag seines
Übersetzung: Nico Huhle. WA 8,685,4– 6. Stephen E. Buckwalter und Bernd Moeller (Hg.), Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch, Gütersloh, 1998, 481. In der Abtei St. Peter in Salzburg. Das Jahr seines Todes ist nicht 1534, wie es in Volker Leppin und Gury Schneider-Ludorff mit Ingo Klitzsch, Das Luther-Lexikon, Regensburg, 2014, 659 aufführt ist. https://doi.org/9783110498745-011
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Generalvikars Staupitz ausgesandt wurde, um ein führendes Mitglied ihres Ordens nach Rom zu begleiten. Seit etwa 100 Jahren war die Darstellung Heinrich Boehmers (1869 – 1927) in Luthers Romfahrt (Leipzig 1914) bezüglich der Datierung der Reise auf 1510 – 1511 akzeptierter Forschungsstand.⁴ Für die neue Datierung auf 1511– 1512 muss der unmittelbare Kontext berücksichtigt werden: Staupitz hatte am 16. September 1511 eine „Synode“ von Ordensbrüdern in Wittenberg einberufen, auf der der Beschluss gefasst wurde, eine Delegation nach Rom zu entsenden, um ihre Interessen dort zu vertreten. Staupitz wählte Johann von Mecheln (Johannes de Ratheim) für diese delikate Aufgabe. Dieser war der Verhandlungsführer; der junge Luther war sein Assistent und Reisegefährte. Ordensbrüder reisten stets zu zweit. Luther war erst Ende zwanzig und kam daher nicht als Verhandlungsführer gegenüber den römischen Autoritäten infrage. Aus dieser Perspektive auf Luthers Romreise erscheint Luther von Beginn an als Staupitzianer, und nicht als Vertreter der Gegner Staupitz’. Nach seiner Rückkehr aus Rom wurde Luther am 18. Oktober 1512 die Doktorwürde verliehen und er wurde zu Staupitz’ Nachfolger als Professor für biblische Theologie in Wittenberg berufen. Zudem berief Staupitz Luther 1511 oder 1512 zum Ordensprediger. Ohne Staupitz’ Einfluss auf Luther hätte es die lutherische Reformation, wie sie in die Geschichte eingegangen ist, wohl nie gegeben. Staupitz’ Bedeutung kann kaum überschätzt werden. Protestantische Forscher tendieren dazu, die theologische Originalität Luthers herauszustellen, Staupitz erscheint dadurch lediglich als „Wegbereiter“ der Reformation, bestenfalls als „Reformer in the wings“,⁵ der zu Beginn einigen Einfluss auf Luther als dessen Beichtvater hatte. Über diese Sicht hinausgehend – ohne die essentielle pastorale Komponente in ihrem Verhältnis zu bestreiten⁶ – könnte man tatsächlich fragen: Ist Staupitz die Reformation?⁷ Die Antwort ist ja, denn Staupitz repräsentiert eine Form der reformatio in der Zeit bis 1520, als es noch keine formale Unterscheidung zwischen katholischer und protestantischer Reformation gab.
Hans Schneider und Franz Posset weichen von Boehmers Position ab; Hans Schneider, „Martin Luthers Reise nach Rom – neu datiert und neu gedeutet“, in: Studien zur Wissenschafts- und zur Religionsgeschichte, hg. von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Berlin/New York, 2011, 1– 157; Franz Posset, „Luther’s Journey to Rome in 1511– 1512. In Commemoration of its 500th Anniversary and in Search of the Historical Luther – A Sequel to The Real Luther“, in: Luther Digest. An Annual Abridgment of Luther Studies, vol. 20 Supplement (The Luther Academy [USA]), 2012, 9 – 24. David C. Steinmetz, Reformers in the Wings, Philadelphia, 1971. Markus Wriedt, „Johann von Staupitz“, in: Christian Möller (Hg.), Geschichte der Seelsorge in Einzelporträts, Bd. 2, Göttingen, 1995, 45 – 64. Richard Wetzel, „Staupitz und Luther“, in: V. Press und D. Stievermann (Hg.), Martin Luther: Probleme seiner Zeit, Stuttgart, 1986, 75 – 87; Berndt Hamm, „Johann von Staupitz (ca. 1468 – 1524) – spätmittelalterlicher Reformer und ‚Vater‘ der Reformation“, in: Archiv für Reformationsgeschichte 92, 2001, 6 – 42.
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Kirchlich-organisatorische Reformen betreffend und im Hinblick auf die kirchliche Autorität (das Papsttum) erhielt sich Staupitz seine kritische Loyalität zur Universalkirche bis zu seinem Tod.⁸ Er starb als (umstrittener) Benediktinerabt der Erzabtei St. Peter in Salzburg. Aus diesem Grund, und insbesondere mit Blick auf seine spezifische Theologie der Frömmigkeit, wird er als „Front-Runner of the Catholic Reformation“⁹ bezeichnet. Wer die Reformation in Deutschland in erster Linie als institutionelle Reform auffasst, wird Staupitz nicht als Reformator ansehen. Nichtsdestotrotz war er ein „Evangelical Catholic Reformer“¹⁰ unter den „Masters of the Reformation“.¹¹
2 Konvergenzpunkte: Die Ablasslehre nach Staupitz und Luther Ein aussagekräftiges Beispiel für den bedeutenden Einfluss, den Staupitz auf Luther hatte, und zugleich für den Respekt des Lehrers für den Schüler, findet man in einer Episode von 1516. Staupitz und sein Schüler Luther sowie ihr Mitbruder Wenzeslaus Linck (1483 – 1547) sprachen sich ab dem Frühjahr 1516 wechselweise öffentlich für ein korrektes Verständnis vom Ablass und gegen dessen Missbrauch aus. Das gleichgesinnte Trio von Augustinermönchen arbeitete, wahrscheinlich im April 1516, an einer Stellungnahme gegen das vulgäre Konzept des Ablasshandels, einem anonymen Text mit dem Titel Tractatus de indulgentiis. Der Titel gibt lediglich an, dass Luther den Text editiert (editus) hatte. Kritik am Ablass war schon lange vor Luthers 95 Thesen (Propositiones) aufgekommen.¹² Staupitz äußerte seine Kritik am Ablass in einer Adventspredigt 1516 in Nürnberg und in einer Predigt Anfang 1517. Unter dem Einfluss Staupitz’ kritisierte Luther den Ablass bereits in einer Predigt am 31. Oktober / 1. November 1516.¹³ Anfang 1517 hielt Staupitz eine Predigt in Nürnberg über die wahre und rechte Reue, die von Lazarus Spengler aufgezeichnet wurde. Staupitz erklärte: „Der Klang des Guldens, der in den Kasten fällt, wird den Sünder nicht von seinen Sünden befreien.“ Ohne all den Ablass, sondern durch echte Reue könne man die Vergebung der Sünden erlangen.
WA.B 3,264 (Nr. 726); Heiko A. Oberman, „Captivitas Baylonica: Die Kirchenkritik des Johann von Staupitz“, in: Andreas Mehl und Wolfgang Christian Schneider (Hg.), Reformatio et reformationes. Festschrift für Lothar Graf zu Dohna zum 65. Geburtstag, Darmstadt, 1989, 97– 106. Franz Posset, The Front-Runner of the Catholic Reformation: The Life and Works of Johann von Staupitz, Aldershot, 2003. Heiko A. Oberman im Vorwort zu Bd. 2, Lateinische Schriften II. Libellus, IX. Heiko A. Oberman, Masters of the Reformation. The Emergence of a New Intellectual Climate in Europe, Cambridge/London, 1981. Franz Posset, The Real Luther. A Friar at Erfurt and Wittenberg. Exploring Luther’s Life with Melanchthon as Guide, Saint Louis, 2011, 81– 83. WA 1,94– 99 = WA 4,670 – 674.
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Staupitz stellte die korrekte theologische Auffassung von Buße, Reue und Ablass klar, indem er sein strikt Christus-zentriertes Konzept der Reue entwickelte.¹⁴ Die päpstliche Ansicht zum Ablass sei eine „römische Pest“, wie Staupitz 1518 an Spalatin schrieb.¹⁵ Am 6. August 1517 diskutierten Staupitz und Luther den Ablass im Kloster von Himmelpforten.¹⁶ Weitere Kritik am Ablass findet sich in Luthers Predigten, zum Beispiel zu Mariä Aufnahme in den Himmel am 15. August 1517.¹⁷ Die Predigten von Staupitz und Luther proklamieren beide dieselbe Gegnerschaft zum falsch verstandenen Ablass. Wir wissen jedoch nicht, ob Staupitz selbst Luthers 95 Thesen tatsächlich gelesen hat. Die beiden Männer vertraten jedoch eine so einheitliche Haltung, dass sie sich bei verschiedenen Gelegenheiten gegenseitig verteidigten.¹⁸ Diese Solidarität miteinander entsprang zumindest zum Teil auch dem gemeinsamen Interesse der beiden Augustiner für die Werke von Bernhard von Clairvaux. Auf das Drängen Staupitz’ hin – der Bernhards Hingabe für das Kreuz teilte und lehrte, dass es notwendig sei, „die Augen stets auf den Mann namens Christus gerichtet zu halten“ – sollte Luther später eine Theologie des Kreuzes entwickeln, die klare Ähnlichkeiten mit Werken Bernhards wie Fasciculus Myrrhae aufweist, und die offensichtlich auch eine Revision von Lehre und Praxis des Ablasses notwendig machte.¹⁹
3 Luther als discipulus von Staupitz Kurz vor dem Treffen des Ordens in Heidelberg am 26. April 1518 schrieb Luther Staupitz in einem Brief vom 31. März 1518 offen, dass er zu einem Gegner der Scholastiker geworden war. Er versicherte Staupitz, dass er im Sinne von dessen Denken und Theologie arbeitete, ebenso wie er sich an Johannes Tauler (ca. 1300 – 1361) orientierte: „Ich bin freilich der Theologie Taulers gefolgt […]. Ich lehre, dass die Menschen nicht auf irgend etwas Anderes vertrauen sollen als allein auf Jesum Christum, nicht auf ihre Gebete und Verdienste oder auf ihre Werke“.²⁰ Lange Zeit war angenommen worden, dass der Generalprior des Ordens in Rom, Gabriel della Volta (ca. 1468 – 1537), schon am 3. Februar 1518 Staupitz angewiesen
Posset, The Front-Runner, 213 – 214. Alfred Jeremias, Johannes Staupitz. Luthers Vater und Schüler. Sein Leben, sein Verhältnis zu Luther und eine Auswahl aus seinen Schriften, Sannerz/Leipzig, 1926, 44. WA.B 1,101– 102 (Nr. 43). WA 4,645 – 650. Zum Beispiel sandte Luther ein Gesuch zugunsten von Staupitz an Friedrich den Weisen, als dieser den Generalvikar der Augustiner einbestellte, um sich für die von diesem geäußerte Kritik an dem Ablass zu rechtfertigen, der Besuchern der kurfürstlichen Reliquiensammlung gewährt wurde. Vgl. WA.B 1, 119 – 120; Posset, The Front-Runner, 220. Siehe hierzu F. Posset, Pater Bernhardus. Martin Luther and Bernard of Clairvaux, Kalamazoo, MI / Spencer, MA, 2000, hier: 252– 253. WA.B 1,160 (Nr. 66); Übersetzung: WA2 21,94 (Nr. 67).
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hatte – vermeintlich veranlasst durch ein Breve von Papst Leo X. –, sicherzustellen, dass Luther bei der nächsten Versammlung des Kapitels erschien, um sich zu erklären. Das päpstliche Schreiben drängte darauf, dass der Augustinerorden etwas unternähme, um Luther unter Kontrolle zu bringen, der mit seinen Neuerungen „neue Dogmen zu unserem Volk“ predige. Die päpstliche Breve ist jedoch eine Fälschung.²¹ Staupitz hatte mit Sicherheit eine Vorahnung von solchen Kontroversen gehabt und lud Luther nach Heidelberg ein, wo dieser es de facto vermied, das Thema anzuschneiden. Nach seiner Rückkehr aus Heidelberg schrieb F. Martinus Luther discipulus bezüglich seiner Resolutionen zum Ablass an Staupitz.²² Er bat ihn, die Resolutionen an den Papst weiterzuleiten. Offenbar ging Luther in enger Kooperation mit seinem Vorgesetzten vor. Als treuer Schüler dankte er Staupitz, dass er für ihn das Problem der „Buße“ gelöst habe. Die Buße erscheine ihm nun „süß“ und Christus als sein „süßester Erlöser“. „Die göttlichen Gebote werden süß, wenn sie nicht nur in Büchern gelesen werden, sondern auch in den Wunden des süßesten Erlösers.“ Dieser Brief ist eine prägnante Zusammenfassung des Einflusses, den Staupitz auf Luther ausübte. Mit diesen von Staupitz ausgehenden geistigen und theologischen Einsichten fühlte sich Luther bestärkt darin, „den neuen Kriegshörnern des Ablasses“ entgegenzutreten, und die Lehren der Ablassprediger für „zweifelhaft“²³ zu erklären. Staupitz war für Luther der Entdecker der wahren Theologie der Buße.²⁴ In einem Brief vom 7. September an Spalatin am sächsischen Hof bestätigte Staupitz, dass er und Luther ein Herz und eine Seele gegen die „pestis romana“ seien. Staupitz sorgte sich um das Schicksal seines Schülers. Eine Woche, nachdem er mit dem sächsischen Hof korrespondiert hatte, schrieb er Luther am 14. September, dem Fest der Kreuzerhöhung: „Soweit ich sehen kann, hast du nur das Kreuz zu erwarten, also den Märtyrertod. Verlasse Wittenberg, solange noch Zeit bleibt, und komm zu mir, so dass wir zusammen leben und zusammen sterben können.“²⁵ Luthers Flucht nach Salzburg wäre auf die Zustimmung des Fürsten von Salzburg, Erzbischof Leonhard von Keutschach (gest. im Mai 1519) getroffen, einem guten Freund von Staupitz.²⁶
Hans Schneider, „Die Echtheitsfrage des Breve Leos X. vom 3. Februar 1518 an Gabriele della Volta. Ein Beitrag zum Lutherprozeß“, in: Archiv für Diplomatik 43, 1997, 455 – 488; Ders., „Gabriele della Volta“, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 36, 2015, 445 – 450. WA 1,525, 1– 3. WA 1,525 – 527. Posset, The Front-Runner, 233. WA.B 1,267, 9 – 14 (Nr. 119); Walch Bd. 15, 2424, Nr. 15b. Johann Sallaberger, „Die Einladung Martin Luthers nach Salzburg im Herbst 1518“, in: H. Paarhammer und F.-M. Schmölz, Uni Trinoque Domino: Karl Berg. Bischof im Dienste der Einheit. Eine Festgabe Erzbischof Karl Berg zum 80. Geburtstag, Tirol, 1989, 445 – 467.
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4 Staupitz an Luthers Seite Zwar hatte Staupitz Friedrich den Weisen überzeugt, Luther nicht den römischen Autoritäten auszuliefern, Friedrich bestand jedoch darauf, dass Luther auf dem anstehenden Reichstag in Augsburg durch den päpstlichen Legaten Kardinal Cajetan (gest. 1534) vernommen wurde. Staupitz drängte Friedrich, den Kardinal dazu zu bringen, Luther zuzuhören.²⁷ So begleitete der geistliche Vater den geistlichen Sohn zu seiner Begegnung mit dem Kardinal. Der dritte Bruder des Trios, Linck, stand ebenfalls an Luthers Seite. Das Verhör brachte kein Ergebnis. Cajetan beauftragte dann Staupitz, Luthers Widerruf zu beschaffen.²⁸ Der listige Staupitz widerstand jedoch und erklärte, er habe dies schon viele Male zuvor versucht. Der Kardinal solle es selbst einmal versuchen und Luther mit biblischen Argumenten überzeugen (die natürlich nicht existierten). Das Treffen nahm nun eine Wendung zum Bösen, als Cajetan drohte, sowohl Luther als auch Staupitz ins Gefängnis werfen zu lassen.²⁹ Die Drohung war erst genug, um Staupitz zu veranlassen, Vorbereitungen für die Flucht der beiden aus der Stadt zu treffen. Staupitz arrangierte das Pferd von Bruder Martin Glaser (und Geld) für Luthers Flucht in das Augustinerkloster in Paris, was Luther jedoch ablehnte. Staupitz hatte zum zweiten Mal versucht, Luther in Sicherheit zu bringen, erst nach Salzburg, nun nach Paris.³⁰ Der Kardinal beklagte sich bei Friedrich dem Weisen, dass Luther und Staupitz heimlich geflohen waren.³¹ Luther informierte Staupitz, dass sogar der Kardinal ihre gemeinsame Haltung bemerkt hatte und schreckliche Anschuldigungen gegen sie beide und weitere „socios“ erhob.³² Es gibt einen Brief an Staupitz in Salzburg vom 14. Januar 1521, der auf den Vorfall mit Cajetan in Augsburg Bezug nimmt: Staupitz erinnert Luther daran, dass er alles im Namen Jesu begonnen hatte.³³ Generalprior Aegidius de Viterbo (1469 – 1532) schrieb in seiner Informatio von 1521, dass Luther die Entbindung vom Gehorsam gegenüber seinen Vorgesetzten erhalten habe³⁴ – ohne Staupitz’ Namen zu erwähnen. Wie verlässlich sein Eintrag ist, ist schwer zu beurteilen. Luther fühlte sich jedenfalls nie von Staupitz „exkommuniziert“ in einem rechtlichen Sinne. Staupitz’ Akt, ihn von der Gehorsamspflicht zu entbinden, bedeutete nicht, dass er Luther aus dem Orden ausschloss und dass er fortan nicht mehr „Martin Luther, Augustiner“ gewesen wäre,
Luther retrospektiv: WA 51,543,29 – 544,1 (1541). WA.B 1,217, 60 (Nr. 100). Acta Augustana, WA 2,17,34. Posset, The Front-Runner, 238 – 239. Posset, The Front-Runner, 238. WA.B 1,256, 8 – 20 (Nr. 114). WA.B 2,245,1– 8 (Nr. 366); WA.B 2,245,2– 6 (Nr. 366). Hermann Tüchle, „Des Papstes und seiner Jünger Bücher“, in: Remigius Bäumer, Erwin Iserloh und Hermann Tüchle, Lutherprozess und Lutherbann: Vorgeschichte, Ergebnis, Nachwirkung, Münster, 1972, 52, Anm. 12; Posset, The Front-Runner, 239.
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wie gelegentlich vertreten wird.³⁵ Auch nach 1518 fuhr Luther fort, seine Briefe mit „Martin Luther, Augustiner“ zu unterschreiben.³⁶ In den folgenden Jahren nahm die Intensität ihrer Beziehung ab, Staupitz verleugnete jedoch trotz ihrer Differenzen nie die Nähe zu seinem Schüler. In seinem letzten Brief vom 1. April 1524 ermahnte der ehemalige Vorgesetzte den Schüler, essentielle und nicht-essentielle Angelegenheiten nicht zu verwechseln. So sah Staupitz die Frage der mönchischen Gelübde nicht als essentiell an, während Luther sie als Werkgerechtigkeit verdammte. Diese Meinungsverschiedenheit konnte sie jedoch nicht entzweien. Luther war nach wie vor Staupitz’ „bester Freund und Diener Christi“, den Staupitz, in den Worten von 2 Sam 1,26, mehr liebte, als eine Frau lieben kann. Staupitz ging so weit, sich als Luthers „Bruder und Schüler“ zu bezeichnen: Man muss nicht das Wesen einer Sache verwerfen wegen eines zufälligen Übels, welches sich bei einigen findet. […] In den Dingen aber, welche dem Glauben widerstreiten, schreie, lass nicht ab. Wir verdanken dir vieles, lieber Martin, der du uns zurückgeführt hast von den Träbern der Säue zu der Weide des Lebens, zu den Worten des Heils. […] euch sind wir Dank schuldig, weil ihr gepflanzt und begossen habt, und lassen Gott die Ehre, dem allein wir die Macht beilegen, Gottes Kinder zu machen. Ich habe genug geschrieben, wollte doch Gott, dass ich mit dir nur eine einzige Stunde mich unterreden dürfte und dir die Geheimnisse meines Herzens offenbaren. Es mögen meine unwürdigen Bitten bei euch etwas gelten, der ich ehemals ein Vorläufer der heiligen evangelischen Lehre gewesen bin, und, wie ich auch noch heutzutage tue, die babylonische Gefangenschaft gehasst habe.³⁷ Luther war so glücklich über Staupitz’ Brief, dass er ihn mit Spalatin teilen wollte, und leitete ihn sogleich an diesen weiter.³⁸ Unter Berücksichtigung dieser letzten Korrespondenz zwischen Staupitz und Luther gibt es keinen Grund zu der Annahme, dass sie getrennte Wege gegangen wären, oder dass sich Staupitz als Abt von Luther abgesetzt hätte. Luther hatte sich von Staupitz und seiner gelasseneren Haltung gegenüber den mönchischen Gelübden distanziert.
5 Weitere Unterstützer Luthers: die Nürnberger Elite Wie bereits erwähnt, hatte Luther nicht nur Staupitz’ langanhaltende Zustimmung, sondern auch die Unterstützung vieler weiterer Persönlichkeiten, die ihn schätzten, ihre Loyalität zur römischen Kirche jedoch deswegen nicht aufgaben. Eine Beispiele
Siehe Richard D. Balge, „Martin Luther, Augustinian“, in: Edward C. Fredrich, Siegbert W. Becker und David P. Kuske, Luther Lives: Essays in Commemoration of the 500th Anniversary of Martin Luther’s Birth, Milwaukee, 1983, 15. Siehe Briefe Nr. 245, 286, 431, 478, 478. Übersetzung nach Walch, Band 21, 606 – 608 (Nr. 723); WA.B 3,263 – 64 (Nr. 726). Es ist gut möglich, dass Staupitz hier auf Luthers Text von 1520 anspielt, Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche. WA.B 3,280,10 – 13 (Nr. 735).
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werden im Folgenden genannt, mit besonderem Fokus auf die Gegenden Nürnberg und Augsburg. Was Nürnberg betrifft, so ist es sinnvoll, kurz die Biographien dreier Persönlichkeiten zu skizzieren, die sich, wie sich auch Staupitz ein Stück weit genötigt sah, von Luther erst später distanzierten: Ratskonsulent Christoph Scheurl (1481– 1542), der Berater des Kaisers Willibald Pirckheimer (1470 – 1530) und der Künstler Albrecht Dürer (1471– 1528). Alle drei waren älter als Luther. Der Anwalt und Humanist Dr. Scheurl war ein Bewunderer von Staupitz. Er schrieb Luther am 2. Januar 1517, Staupitz werde hochgeschätzt für seine Bibelpredigten als „Stimme des Apostels Paul“, als „Herold des Evangeliums“ und als „wahrer Theologe“.³⁹ Scheurl war der erste Nürnberger Empfänger von Luthers 95 satzung (Sätze, Äußerungen, Argumente; erst später als „95 Thesen“ bekannt). Er war der Organisator der Sodalitas Staupitziana und unterstützte die frühen Reformbemühungen.⁴⁰ Scheurls freundschaftliche Beziehung mit Luther verblasste in den 1520er Jahren. Sein letzter Brief an Luther ist auf den 3. August 1519 datiert. Er freundete sich mit Georg Witzel (1501– 1573) an, der sich ebenfalls von Luther zu distanzieren begann.⁴¹ Ab 1530 stellte er sich der Reformation sogar entgegen. Ähnlich verlief die Entwicklung bei Willibald Pirckheimer, einer der ersten Sympathisanten Luthers in Nürnberg, der seine Freundschaft mit Luther als allgemein bekannt bezeichnete.⁴² Dem berühmt-berüchtigte Theologieprofessor im nahegelegenen Ingolstadt, Dr. Johann Eck, (1486 – 1543), Luthers erbittertem Gegner, war, ebenso wie dem päpstlichen Nuntius Hieronymus Aleander (1480 – 1542), die Vollmacht übertragen worden, der päpstlichen Bulle Exsurge Domine („Erhebe dich, Herr“) Namen von Freunden Luthers hinzuzufügen. Die Bulle drohte Luther die Exkommunikation an. Eck hatte keine Skrupel, die Namen von Pirckheimer und fünf weiteren reformgesinnten Männern anzufügen.⁴³ Als Pirckheimer von der Bulle erfuhr, Christoph Scheurls Briefbuch, ein Beitrag zur Geschichte der Reformation und ihrer Zeit. Erster Band: Briefe von 1505 – 1516; Zweiter Band: Briefe von 1517 – 1540, hg. von Franz von Soden und Joachim Karl Friedrich Knaake, Potsdam, 1867 und 1872; Nachdruck: Aalen, 1962, Bd. 2, 1– 2 (Nr. 114). Posset, The Front-Runner, 164– 165. Rolf Decot, „Scheurl, Christoph,“ in: Lexikon der Reformationszeit, Freiburg, 2002, 672– 673. Karl Hartfelder, Philipp Melanchthon als Praeceptor Germaniae, Monumenta Germaniae paedagogica 7, Berlin, 1889, 138. Brief an Hutten aus dem November 1521: „Die Freundschaft Luthers hat mir nicht so sehr geschadet wie die Reuchlins, dessen Feinde vor allem mich angreifen,“ in: Willibald Pirckheimers Briefwechsel, Bd. IV, hg. von H. Scheible, München, 1997, 513 – 515 (Nr. 759). Namentlich Andreas Bodenstein aus Karlstadt (1486 – 1541), Johann Dölsch (ca. 1485 – 1524) aus Feldkirch, der Zwickauer Prediger Sylvius Egranus (gest. 1535), Lazarus Spengler (1479 – 1534) aus Nürnberg, und Domherr Bernhard Adelmann (ca. 1458 – 1523) aus Augsburg. Siehe Peter Fabisch, „Johannes Eck und die Publikationen der Bullen ‚Exsurge Domine‘ und ‚Decet Romanum Pontificem‘“, in: Johannes Eck (1486 – 1543) im Streit der Jahrhunderte. Internationales Symposion der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum aus Anlaß des 500. Geburtstages des Johannes Eck vom 13. bis 16. November 1986 in Ingolstadt und Eichstätt, Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 127, hg. von Erwin Iserloh, Münster, 1988, 74– 106, hier: 96 – 97.
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unternahm er große Anstrengungen, um Absolution zu erreichen. Im Laufe der Zeit distanzierte sich Pirckheimer sowohl von Luther wie von Eck. Berühmt wurde sein Satz, „Ich bin weder Lutheraner noch Eckianer, sondern Christ“ (Eckius dedolatus, 1520).⁴⁴ Ein weiteres wichtiges Mitglied der höheren Nürnberger Gesellschaft, das mit Luther sympathisierte, war schließlich Albrecht Dürer.⁴⁵ Er war mit der Sodalitas Staupitziana verbunden und stiftete Staupitz bei jeder Abendsitzung des Gesprächskreises ein ihm gewidmetes Porträt. Es gibt erkennbare Parallelen zwischen Dürers religiösen Werken und Staupitz’ Christus- und Kreuz-zentrierten Predigten und Veröffentlichungen.⁴⁶ Es darf angenommen werden, dass Dürer eine Pirckheimer ähnliche Einstellung hatte, da die beiden eng befreundet waren.⁴⁷ Es scheint jedoch nicht, als habe Luther von dem berühmten Künstler sonderlich Notiz genommen. Nach Luthers Verschwinden auf dem Heimweg vom Reichstag in Worms 1521 fürchtete Dürer, dass Luther umgebracht worden war: „Oh Gott, wenn Luther tot ist, wer soll uns zukünftig so klar die heiligen Evangelien darlegen?“⁴⁸ Es gibt kaum weitere, ähnlich emotionale Reaktionen auf Luther aus den frühen Jahren der Reformation. Es muss jedoch offenbleiben, ob Luther in späteren Jahren „Lutheraner“ geblieben ist.
6 Prominente Unterstützer Luthers in Augsburg Unter die Unterstützer Luthers aus der Augsburger Gegend können viele Mitglieder des Klerus gezählt werden, von denen einige unten genannt werden sollen. Katholische Sympathisanten Luthers in den Frühjahren der Reformation hatten oft nur von seinen Ideen gelesen, ihn aber nicht notwendigerweise getroffen oder persönlich predigen hören. Unter diesen war Veit Bild,⁴⁹ ein typischer Renaissancemönch, der in der Benediktinerabtei von Augsburg lebte. Wie viele Humanisten seiner Zeit verfolgte auch er das Ideal des trilingualen Menschen (Latein, Griechisch, Hebräisch). Er war sehr an Luthers Werk interessiert. Während der Reichstag im Sommer 1518 in Augsburg tagte, korrespondierte Bild mit Georg Spalatin (1484 – 1545), der als
Franz Machilek, „Pirckheimer, Willibald“, in: Lexikon der Reformation, 594– 595. B. Möller, „Dürer, Albrecht“, in: V. Leppin, G. Schneider-Ludorff und I. Klitzsch (Hg.), Das LutherLexikon, 177– 178. Rudolf K. Markwald, A Mystic’s Passion. The Spirituality of Johannes von Staupitz in his 1520 Lenten Sermons. Translation and Commentary, New York / Bern/Frankfurt/Paris, 1990, 16 – 17. Thomas Noll, „Albrecht Dürer und Willibald Pirckheimer. Facetten einer Freundschaft in Briefen und Bildnissen“, in: Pirckheimer-Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung 28, 2014, 9 – 56. Erwin Panofsky, The Life and Art of Albrecht Dürer, (2 Bde., 1943), mit einer neuen Einleitung von Jeffrey Chipps Smith, Princeton, 2005; http://monoskop.org/images/d/d0/Panofsky_Erwin_The_Life_ and_Art_of_Albrecht_Duerer_1955.pdf, 198 (Abruf am 05.09. 2017). Ulrich Köpf (Hg.), Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung, Bd. 3: Reformationszeit 1495 – 1555, Stuttgart, 2001, 186. F. Posset, Unser Martin: Martin Luther aus der Sicht katholischer Sympathisanten, Münster 2015, 107– 134, fig. 11, 120.
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Sekretär von Kurfürst Friedrich dem Weisen von Sachsen auf dem Reichstag zugegen war, in erster Linie über Luthers Werke, die er beschaffen wollte. Er informierte Spalatin, dass er bereits im Besitz eines Büchleins des päpstlichen Theologen Silvester Prierias (1456 – 1527) „gegen unseren Luther“ sei. Er wünsche Kommentare dazu, jedoch nur in privater Unterhaltung. Bild erhielt von Spalatin Luthers unveröffentlichte Asterici, die ihm gefielen. Bild entschloss sich, ein Vorstellungsschreiben an Luther zu schicken, das Spalatin weiterleiten sollte, in der Hoffnung, dass Luther so gnädig sein würde, mit einer kurzen Note zu antworten, um so eine Korrespondenz in Gang zu setzen. Luther antwortete nicht auf Bilds Avancen. Spalatin hielt ihn jedoch informiert, was in Wittenberg vor sich ging und womit Luther sich beschäftigte. Bild versuchte am 16. April 1520 erneut, mit Luther in Kontakt zu treten, über Johannes Frosch (ca. 1480 – 1533), den Prior der Karmeliten in Augsburg, und über Spalatin. Eine Antwort von Luther sei ihm ein kostbares Zeichen von Freundschaft.⁵⁰ Luther antwortete ihm endlich am 5. Mai 1520, das Schreiben, das einem Brief an Spalatin angehängt war, ist jedoch verschollen.⁵¹ Im August 1522 drückte Bild seine Dankbarkeit für die Lehren Luthers gegenüber Spalatin wie folgt aus: „Das Evangelium, das Gott mich durch Martin lehrt, den treuesten Diener in seinem Weinberg, ist so fest in meinem Herzen verankert, dass mir alles, womit ich bisher meine Tage verbrachte, nun abscheulich erscheint“.⁵² Mit Bild in Kontakt war noch eine weitere erwähnenswerte Persönlichkeit, Bernhard Adelmann von Adelmannsfelden, führender Domherr in Eichstätt und Augsburg. Adelmann stimmte mit Luthers Kritik am Ablass überein, wie er im Januar 1518 an Pirckheimer schrieb. Schon früh war er von Luthers Predigten beeindruckt gewesen, die in Augsburg und anderswo gedruckt erschienen. Eine von diesen könnte durchaus Luthers Predigt zum Ablass und zur Gnade gewesen sein, die Adelmann und Bild austauschten und die beide sehr schätzten.⁵³ Adelmann sandte Luther die verhängnisvollen handgeschriebenen Notizen von Johann Eck über Luthers 95 Thesen, die unter dem Namen Obelisci bekannt wurden. Luther reagierte im Mai 1518 mit seinen Asterici (der Text war nicht zur Veröffentlichung vorgesehen), und er ließ Eck wissen, dass er solcherlei Kommentare nicht von einem Freund erwartet hätte. Eck hoffte, dass ihre Differenzen bald überwunden werden konnten. In einem Brief vom 8. März 1519 warnte Adelmann Luther vor Eck. Als Eck von Adelmanns Sympathien für Luther erfuhr, war er so erzürnt, dass er Adelmanns Namen der päpstlichen Bulle vom 15. Juni 1520, Exsurge Domine, hinzufügte. Konkret verdächtigte Eck Adelmann, der Autor des Pamphlets mit dem Titel Canonici indocti Lutherani gegen ihn zu sein. Die öffentliche Meinung in Augsburg verstand Ecks Handlung als Akt privater Vergeltung. Am Ende gelang es Adelmann, durch die In
WA.B 2,84– 85 (Nr. 279). WA.B 2,98,4 (Nr. 284). Posset, Unser Martin, 134 und 25 – 49. Posset, Unser Martin, 25 – 49.
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tervention von Herzog Wilhelm IV. von Bayern (1493 – 1550), seinen Namen von der Liste nehmen zu lassen. Ein weiterer Geistlicher, der unter Luthers Unterstützer gezählt werden kann, war der Augustiner Kaspar Amman (gest. 1524).⁵⁴ Er war Prior des Augustinerklosters in Lauingen an der Donau in der Diözese Augsburg. Luther war für ihn „unser Apostel“, was sich auch in seiner berühmten Bibliothek zeigt, in der er neben einer Vielzahl hebräischer Texte auch viele zeitgenössische Pamphlete gesammelt hatte, insbesondere von Luther. Insgesamt besaß er etwa 30 von Luthers Texten aus der Zeit von 1519 – 1524, wenn auch auffällt, dass zwei Kerntexte von 1520 fehlen: An den christlichen Adel deutscher Nation und De Captivitate Babylonica Ecclesiae Praeludium. Schwerpunkt von Ammans Sammlung waren die deutschsprachigen Luthertexte, insbesondere seine Predigten zu Taufe, Heirat, guten Werken und dem Bann, aber auch Daß Jesus Christus ein geborner Jude sei. Trotz des Versuchs wollte Amman mit Luther über die Interpretation von Mt 16,18 („Du bist Petrus…“) diskutieren. Dieser war jedoch offenbar nicht interessiert. Es kann angenommen werden, dass Luther nicht über Ammans Sympathien für ihn wusste, oder dass dieser ab November 1523 für etwa sechs Monate eingekerkert wurde, weil er sich weigerte, die päpstliche Bulle gegen Luther zu verlesen.⁵⁵ Trotz allem blieb Amman seinen Ordensgelübden treu. Sein Name verblieb durchgehend im Mitgliederverzeichnis des Ordens. Schließlich ist unter Luthers Unterstützern, die nie den Gehorsam gegenüber der römischen Kirche aufgaben, der Prediger Kaspar Haslach zu erwähnen, demzufolge Luther ein „apostolischer Mann, der sehr wahre Predigten predigte“ war. Er sei der „ehrlichste Verkünder der evangelischen Wahrheit“.⁵⁶ Haslach hatte eine sehr wichtige Predigerstelle in Dillingen inne, der Residenzstadt der Bischöfe von Augsburg. In einer Notiz auf der letzten Seite eines Buches über den böhmischen Häretiker Jan Hus (1369 – 1415) schrieb Haslach: „Ich danke Gott, meinem Vater, und seinem Sohn Jesus Christus und dem heiligen Tröster, dass ich diese Zeit erleben darf, da die evangelische Wahrheit wieder erblüht. In unserer Zeit ist es das Erscheinen ihres Verkünders Martin Luther, dem vorzüglichsten Mann, dessen Seele von dem, der die Menschheit durch sein Blut erlöst hat, bewahrt werden möge. Amen.“⁵⁷ Er machte offenbar kein Geheimnis aus seinen Sympathien für geistliche Reformen und wurde deswegen angezeigt und vor Bischof Christoph von Stadion zitiert.⁵⁸ Er konnte sich jedoch gegen die Vorwürfe verteidigen und zog in eine andere Pfarrgemeinde im Süden der Diözese, nahe der Schweizer Grenze.
Posset, Unser Martin, 51– 105. Siehe Anm. 1 des Abdrucks von Ammans Brief an Luther, WA.B 2,609 (Nr. 543). Vgl. Posset, Unser Martin, 135 – 158. Haslachs Kopie des Buches De causa boemica steht in der Bibliothek der Nikolaikirche in Isny; Immanuel Kammerer und Ulrich Weible, Bibliothek der Nikolaikirche Isny, München/Zürich, 1976, 9. A. Schröder, „Untersuchung gegen Mag. Kaspar Haslach, Prediger in Dillingen, wegen Verdachtes der Häresie (1522)“, in: Jahresbericht des Historischen Vereins Dillingen, 8, 1895, 11– 25.
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Franz Posset
Die biographischen Skizzen der Freunde Luthers, die katholisch blieben, zeigen, dass es nicht gefahrlos für sie war, für ihren Verkünder des Evangeliums, ihren Apostel oder einfach ihren Martin einzustehen. Einige von ihnen mussten Leid dafür erdulden, dass sie mit Luther sympathisierten, anderen gelang es, unbeachtet zu bleiben und Konsequenzen zu entgehen.
Patrizio Foresta
Der Thesenanschlag Geschichte eines Mythos
1 Einleitung Zwischen 1962 und 1968 veröffentlichte Erwin Iserloh seine beiden berühmten Beiträge zur Historizität des Thesenanschlags, dem er jede geschichtliche Grundlage absprach. Zunächst fragte er sich, ob es sich um eine historische Tatsache handle oder nicht vielmehr um eine Legende, und kam dann ohne zu zögern zu dem Schluss, dass der Thesenanschlag niemals stattgefunden habe.¹ In denselben Jahren verursachte seine Provokation, die von ihm keineswegs als solche gedacht war, eine lebhafte akademische Auseinandersetzung, die nach den Berechnungen Marc Lienhards von mehr als 300 Veröffentlichungen zu diesem Thema am Leben gehalten wurde, die wiederum von der „deutschen Genauigkeit bei wissenschaftlichen Diskussionen, aber auch die Komplexität der Lutherforschung“ zeugen.² Die Entschiedenheit von Iserlohs Schlussfolgerung mag übertrieben und vielleicht naiv erscheinen, muss aber im Licht seines historischen Urteils über Luther verstanden werden. Abgesehen von einer gewissen „klammheimlichen Freude“ über die Auflistung einer ganzen Reihe von Gegenargumenten, die man wegen ihrer Qualität und Quantität schwerlich ignorieren konnte und kann,³ war es die Absicht Iserlohs, mit aller hier gebotenen Vorsicht mit seinen Veröffentlichungen sowohl zum Thesenanschlag als auch zur ökumenischen Bedeutung Luthers und der Reformation die Figur des Reformators für das neuaufgekommene ökumenische Klima des Konzils und der nachkonziliaren Zeit zu gewinnen: Wenn der Thesenanschlag niemals stattgefunden hatte, dann war der Mönch und Professor aus Wittenberg auch nicht der Hauptverantwortliche für den Bruch in der lateinischen Christenheit und für die Entstehung der verschiedenen europäischen Konfessionen, und wenn der Thesen-
Übersetzung: Fried Rosenstock und Antje Foresta. E. Iserloh, Luthers Thesenanschlag. Tatsache oder Legende?, Wiesbaden, 1962 (Neudruck: Ders., Kirche – Ereignis und Institution. Aufsätze und Vorträge, Bd. 2, Geschichte und Theologie der Reformation, Münster, 1985, 48 – 69); Ders., Luther zwischen Reform und Reformation. Der Thesenanschlag fand nicht statt, 3. Aufl., Münster, 1968. Eine Edition der beiden Schriften erschien in U. Wolff, Iserloh. Der Thesenanschlag fand nicht statt, Freiburg, 2013, 169 – 238. Erstaunlicherweise weist die dritte und letzte Ausgabe der Schrift von Iserloh nicht auf die apostolische Konstitution Pauls VI., Indulgentiarum doctrina vom 1. Januar 1967, hin; im Gegenteil dazu macht sie H. Bornkamm, Thesen und Thesenanschlag Luthers, Berlin, 1967, zum Ausgangspunkt für seine Untersuchungen. M. Lienhard, Martin Luther. Un temps, une vie, un message, 3. Aufl., Genf, 1991, 395 – 402, hier: 396. V. Leppin, Martin Luther, Darmstadt, 2006, 125. https://doi.org/9783110498745-012
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anschlag einen symbolischen Wert angenommen hatte, der die Christen trennte, dann hatte ihn unter umgekehrten Vorzeichen auch seine Widerlegung. Iserloh verwandelte ein Detail, das Kuriosum eines Ereignisses, in eine grundlegende Frage zur Natur der Reformation, indem er eine nicht zuletzt wegen jenes angenommenen Aktes öffentlicher Rebellion von der kirchenhistorischen Forschung katholischer Prägung traditionell gegen Luther vorgebrachte Anschuldigung umkehrte. Aus seiner gregorianischen und tridentinischen Sichtweise, die er von seinen beiden Lehrern Joseph Lortz und Hubert Jedin geerbt hatte, wurde Luther somit ein Reformator, der im Unterschied zu Franz von Assisi und Dominikus de Guzmán bei der damaligen römischen Kurie und der katholischen Hierarchie, welche sich beide für das dringende Bedürfnis nach Reformatio als taub erwiesen hätten, kein Gehör gefunden habe. Aus ebenfalls gregorianischer und tridentinischer Sicht müsse man auch und vor allem ihnen die Hauptschuld für den Bruch anlasten, der die gewünschte Reform der Kirche („Reform“) in die protestantische Reform („Reformation“) verwandelt habe, und nicht dem Augustiner, der sich noch in der Schwebe zwischen beiden befunden habe.⁴ Der zentrale Punkt Iserlohs bestand gerade im eindeutigen Unterschied zwischen diesen beiden; ein Unterschied, der im aktuellen historiographischen Panorama zugunsten von unschärferen und gegenüber konfessionellen Besonderheiten weniger aufmerksamen Interpretationen an Wert verloren hat, auch wenn er in der theologisch-systematischen Forschung zum Ökumenismus immer noch seinen hermeneutischen Wert besitzt.⁵ Die Polemik, welche auf die Veröffentlichungen Iserlohs folgte, bekräftigt, was Volker Leppin zur „Legende des Thesenanschlags“ geschrieben hat. Der Wahrheitsgehalt der Handlung an sich, über die viel debattiert worden sei und werde, könne als nebensächliche Frage angesehen werden. Einer historischen Untersuchung wert sei vielmehr die Beziehung zwischen „historischer Betrachtung“ und „symbolischer
Vgl. u. a. die folgenden zwischen 1965 und 1969 veröffentlichten Schriften: E. Iserloh, „Der Gestaltwandel der Kirche. Vom Konzil von Trient bis zum Vaticanum II“, in: ders., Kirche, Bd. 1, Kirchengeschichte als Theologie, 388 – 404, hier: 404; ders., „Reform – Reformation“, in: ebd., Bd. 2, Geschichte und Theologie, 1– 13, hier: 6; ders., Luthers Thesenanschlag, 33 (vgl. auch ders., Luther zwischen Reform und Reformation, 82; ders., Geschichte und Theologie, 64; Wolff, Iserloh, 149). Zu diesem Punkt vgl. M. Bendiscioli, „Nuovi indirizzi della storiografia tedesca della Riforma: E. Iserloh“, in: E. Iserloh, Lutero tra riforma cattolica e protestante, Brescia, 1970, 11– 23, hier: 18. Man beachte die Distanz, die allein schon in der Wahl der historiographischen Begriffe als Grundlage ihrer jeweiligen Untersuchung zwischen dem Zugang von H. Jedin, Katholische Reformation oder Gegenreformation? Ein Versuch zur Klärung der Begriffe nebst einer Jubiläumsbetrachtung über das Trienter Konzil, Luzern, 1946, und dem von T. A. Brady Jr., German Histories in the Age of the Reformations, 1400 – 1650, Cambridge, 2009, verläuft. Zu „Reform“ und „Reformation“ aus einer theologischen Perspektive vgl. G. Thomas, „Reform und Reformation. Systematisch-theologische Perspektiven auf ein theologisches Ereignis“, in: W. Damberg, U. Gause, I. Karle und T. Söding (Hg.), Gottes Wort in der Geschichte. Reformation und Reform in der Kirche, Freiburg im Breisgau / Basel/Wien, 2015, 280 – 297.
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Bedeutungszuweisung“ des Thesenanschlags.⁶ Letzterer wurde zu einem solch hartnäckigen kulturellen und identifikationsstiftenden Mythos, dass jegliche Infragestellung Verwunderung angesichts des Widerstands gegen seine Entmythologisierung hervorruft, insbesondere wenn man die offensichtliche historische und theologische Bedeutungsloskigkeit des Ereignisses an sich, wo auch immer es stattgefunden haben mag, mit der unendlich größeren Bedeutung vergleicht, die einem historischen Phänomen wie der Reformation zugeschrieben wird, das wiederum nicht zu verleugnen ist und das in den Thesen selbst seinen Ursprung hat. Tatsächlich bestätigt gerade dieser Widerstand gegen die Entmythologisierung, dass der Thesenanschlag „auf besondere Weise im Bewusstsein der Bevölkerung eingewurzelt, ja mit der Reformation als solcher gleichgesetzt worden [ist]“.⁷ Auch in diesem Fall trifft zu, was Friedrich Wilhelm Graf über den biblischen Bericht zur Einsetzung der Zehn Gebote geschrieben hat: Die historischen Feinheiten der Exegeten können sehr wenig gegen die „frommen Fiktionen“ der Gläubigen ausrichten, denn diese sind „diamanthafte geschichtliche Machtfaktoren“.⁸ Wenn der Vergleich zwischen dem Thesenanschlag und dem Dekalog aus einem historischen und exegetischen Blickwinkel überzogen erscheinen mag, so ist er es keineswegs, wenn man seine Wirkungsgeschichte betrachtet, denn die durch die Entmythologisierung des Thesenanschlags hervorgerufenen Gefühle der Gläubigen gesellen sich zu den Gefühlen, die von den exegetischen Vorschlägen Bultmanns provoziert wurden.⁹ Von diesen allgemeinen Betrachtungen ausgehend und nur einige Momente von besonderer Bedeutung beleuchtend verfolgt dieser Beitrag die Mythenbildung zum Thesenanschlag und zu seinen historisch-philosophischen Pendants seit den Anfängen in den 1540er Jahren bis hin zu den jüngsten, ab 2007 entstandenen wissenschaftlichen und publizistischen Diskussionen infolge der Entdeckung einer Aufzeichnung des Luthersekretärs und -mitarbeiters Georg Rörers durch Martin Treu, welche die Historizität des Thesenanschlag zu bestätigen scheint, allerdings ohne die gleichwohl zum Scheitern verurteilte Absicht zu hegen, die gesamte Bibliographie zu diesem Thema aufzuarbeiten oder gar die nach wie vor unlösbare Frage abschließend zu klären, ob der Thesenanschlag tatsächlich stattgefunden hat oder nicht.
V. Leppin, „‚Nicht seine Person, sondern die Wahrheit zu verteidigen‘. Die Legende vom Thesenanschlag in lutherischer Historiographie und Memoria“, in: H. Schilling (Hg.), Der Reformator Martin Luther 2017. Eine wissenschaftliche und gedenkpolitische Bestandsaufnahme, Berlin/München/Boston, 2014, 85 – 107, hier: 85 – 86. K. Aland, Die 95 Thesen Martin Luthers und die Anfänge der Reformation, Gütersloh, 1983, 7. F. W. Graf, Moses Vermächtnis. Über göttliche und menschliche Gesetze, 3. Aufl., München, 2006, 38 – 40. F. Lau, „Die gegenwärtige Diskussion um Luthers Thesenanschlag“, in: Lutherjahrbuch, 34, 1967, 11– 59, hier: 14; Wolff, Iserloh, 226; V. Pfnür, „Die Bestreitung des Thesenanschlags durch Erwin Iserloh. Theologiegeschichtlicher Kontext – Auswirkung auf den katholisch-lutherischen Dialog“, in: J. Ott und M. Treu (Hg.), Luthers Thesenanschlag – Faktum oder Fiktion, Leipzig, 2008, 111– 126, hier: 112.
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2 Schuldig oder unschuldig? Eine gerichtliche Lesart des Thesenanschlags Die historische Erinnerung des Luthertums gipfelt in der Fünfhundertjahrfeier „des ursprünglichen Ereignisses der Reformation“, also der Verfassung der 95 Thesen zum Ablasshandel vom 31. Oktober 1517. In ihnen sah Luther selbst den Beginn seines öffentlichen Wirkens. Es ist allerdings auch richtig, dass – abgesehen von einem nüchternen Trinkspruch des Reformators in Wittenberg 1527 zur Feier, zehn Jahre vorher „den Ablasshandel mit Füßen getreten zu haben“, und obwohl die Erinnerung an das Jahr 1517 im deutschen Protestantismus durch ein dem zweiten Band der lateinischen Werke Luthers vorangestelltes Widmungsschreiben Melanchthons gegenwärtig war – das erste Jubiläum zur Feier des Reformationsbeginns am Vorabend von Allerheiligen erst 1617 auf Initiative des pfälzischen Kurfürsten Friedrich V. begangen wurde. Er wollte den konfessionellen Konflikt im protestantischen Lager überwinden, der durch den Ausschluss des Calvinismus im Religionsfrieden von Augsburg (1555) institutionalisiert worden war, indem er eine historische Erinnerung ins Leben rief, die sowohl von den Lutheranern als auch von den deutschen Reformierten geteilt werden konnte. Auf diese Weise wollte er die verschiedenen evangelischen Lager angesichts eines immer wahrscheinlicher und unvermeidlicher werdenden Krieges gegen den Kaiser und die kaisertreuen katholischen Reichsstände wieder aneinanderschweißen.¹⁰ Daher verwundert es nicht, dass die zeitgenössischen Chroniken aus der Lutherzeit den Thesenanschlag nicht erwähnen, denn im akademischen Normalbetrieb hatte er keinen besonderen Stellenwert. Auch die frühe lutherische Geschichtsschreibung legte den Anschlag auf gleiche Weise aus.¹¹ Erst im 19. Jahrhundert, dem
V. Leppin, „‚…das der Römische Antichrist offenbaret und das helle Liecht des Heiligen Evangelii wiederumb angezündet‘. Memoria und Aggression im Reformationsjubiläum 1617“, in: H. Schilling (Hg.), Konfessioneller Fundamentalismus. Religion als politischer Faktor im europäischen Mächtesystem um 1600, München, 2007, 115 – 131, hier: 115 – 116; zum Jubiläum von 1617 siehe H.-J. Schöstädt, Antichrist, Weltheilgeschehen und Gottes Werkzeug. Römische Kirche, Reformation und Luther im Spiegel des Reformationsjubiläums 1617, Wiesbaden, 1978, 10 – 15. Vgl. WA.B 4,275,25 – 27 (Nr. 1164): „Wittenbergae, die Omnium Sanctorum anno decimo Indulgentiarum conculcatarum, quarum memoria hac hora bibimus utrinque consolati, 1527“. H. Volz, Martin Luthers Thesenanschlag und dessen Vorgeschichte, Weimar, 1959, 28, 92– 94; J. Sleidanus, Warhaffte, eigentliche und kurtze Beschreibung, Frankfurt am Main, 1581, 1, berichtet von der Episode des Thesenanschlags, widmet aber den Briefen und den Thesen Luthers sehr viel mehr Raum, so wie auch die Straßburger Ausgabe (1557), während die Basler Ausgabe (1557) den Thesenanschlag nicht einmal erwähnt; sehr kurz fasst sich auch der Bericht von V. L. von Seckendorff, Commentarius historicus et apologeticus de lutheranismo sive de reformatione religionis, Frankfurt/Leipzig, 1692, 24, und der von G. Arnold, Unparteyische Kirchen- und Ketzer-Historie: von Anfang des Neuen Testaments biß auff das Jahr Christi 1688, Bd. 2, Frankfurt am Main, 1699, 43, die zwar auf den Thesenanschlag hinweisen, aber nur, um die öffentliche Diskussion über den Ablass, vor allem aber über die Thesen
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Jahrhundert des „zweiten konfessionellen Zeitalters“ und des Aufstiegs des protestantischen Preußen, den Reden an die deutsche Nation von Fichte und der Gründung des Kaiserreichs entstand das heroische, nationalistische und virile Lutherbild, das seither vertraut, aber so weit entfernt von dem des „Vaters“ der lutherischen „Kirche“ der vorhergehenden Jahrhunderte und der geschichtlichen Realität ist. In diesem Zusammenhang ist ein anderes Detail interessant: Bis zum Jubiläum von 1817 war es nicht Luther in Person, der die Thesen anschlug, sondern ein einfacher Pedell der Universität Wittenberg.¹² Nachdem die Entstehung des Mythos geklärt ist, erweist sich die Frage nach dem Thesenanschlag aus rein ereignisorientiertem Gesichtspunkt als unlösbar, weil sie antilogisch ist: Beide Thesen, ob dafür oder dagegen, können mit gleichem Recht vertreten oder abgestritten werden. Dies ist auch der Tatsache geschuldet, dass die wissenschaftliche Diskussion über jenen 31. Oktober 1517 auf einer Ebene höchster wissenschaftlicher Qualität geführt wurde. In Anbetracht der Belesenheit der Teilnehmer ist die Wahl, welche Richtung angesichts der Aporie des Thesenanschlags einzuschlagen sei, keine Frage, die einzig und umso weniger vor allem die Tatsachenermittlung betrifft – für die es zwei gegenüberstehende, aber legitime Lesarten gibt –, sondern die historische, theologische und philosophische Bedeutung, die ihr verliehen wurde. Das Hereinbrechen der Reformation in die scheinbar stillen, ja fast unbeweglichen Fahrwasser des christlichen Mittelalters, dieses Erdbeben von epochaler Intensität in der Tektonik der Geschichte, ist in den Vorkommnissen von 1517 ausfindig gemacht worden, und zwar von einem großen Teil derer, die sich mit ihrer Ablehnung oder Befürwortung der Historizität des Thesenanschlags und seiner Betrachtung als auslösendes Element der Reformation und der Moderne – die in ihr somit ihren Ursprung hat – innerhalb einer Geschichtsphilosophie hegelscher Prägung bewegt haben. Darin treten „welthistorische Individuen“ auf und verkörpern den Weltgeist so entscheidend, dass sie im Dienst der „List der Vernunft“ den Geschichtsverlauf mit einer dramatischen und einschneidenden Handlung verändern können. Wenn mit Gottfried Wilhelm Leibniz und Giambattista Vico bis hin zu den französischen Enzyklopädisten die Geschichte immer mehr zur magistra vitae wurde, wird den Historikern nicht allein die Aufgabe zu lehren anvertraut, sondern vor allem ein Urteil über die Geschichte zu sprechen, gleich einem Richter, der die Zeugen angehört und ihre Wahrhaftigkeit bewertet hat. Aus diesem Grund können „welthistorische Individuen“ wie Luther für schuldig oder unschuldig befunden werden, weil sie die Tat begangen
einzuleiten; auch F. Myconius, Historia Reformationis vom Jahr Christi 1517 bis 1542, Leipzig, 1718, 16 – 23, hier: 22– 23, berichtet über die Thesen, aber nicht über ihren Anschlag. H. Holsing, „Luthers Thesenanschlag im Bild“, in: Ott und Treu (Hg.), Luthers Thesenanschlag, 141– 172. Zum zweiten konfessionellen Zeitalter des 19. Jahrhunderts vgl. O. Blaschke, „Das 19. Jahrhundert: Ein zweites konfessionelles Zeitalter?“, in: Geschichte und Gesellschaft, 26, 2000, 38 – 75; Ders. (Hg.), Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970: ein zweites konfessionelles Zeitalter, Göttingen, 2002.
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oder nicht begangen haben, derer sie vor dem Gericht der Geschichte, d. h. vor dem „Weltgericht“ bzw. dem „Jüngsten Gericht“ angeklagt sind; einem Gericht prophetischen und alttestamentlichen Ursprungs, das jedoch mit Georg Wilhelm Friedrich Hegel in der Universalgeschichte säkularisiert wurde.¹³ Diese Veränderung des epistemologischen Statutes der Geschichtsschreibung setzte sich am Ende des 18. Jahrhunderts durch, als es vor allem dank der Werke Edward Gibbons „evident wurde […], dass Gelehrsamkeit und Philosophie nicht unvereinbar waren. Die Verbindung von Geschichtsphilosophie und antiker Quellenforschung wurde zu einem Zweckbündnis, dem sich viele der besten Historiker des 19. Jahrhunderts verschrieben“:¹⁴ Die Historiker untersuchen die Quellen kritisch und interpretieren sie, wobei sie sich zwischen antiquarischer Gelehrsamkeit und Geschichtsphilosophie bewegen. Gegen Luther wurde die Anklage erhoben, das gemeinsame europäische Haus entzweit und in letzter Konsequenz die moderne Welt begründet zu haben. Deshalb wurde er im Prozess gegen die Moderne auf die Anklagebank gesetzt und von Mal zu Mal vom Gericht der Geschichte für schuldig oder unschuldig befunden.¹⁵ Typisch für diese neue Art der Geschichtsschreibung ist die Rekonstruktion des Romantikers Leopold von Ranke in seinem Lutherfragment, das er 1816 – 1817 verfasste: „Da glühte in der zerknirschten Brust eines Bettelmönchs… der Gedanke auf von Vergebung der Sünde aus Gnade“, der ihn sich gegen den Ablasshandel auflehnen ließen: „Da trug er den Jammer nicht länger und stand auf und schlug die 95 Sätze wider den Mißbrauch an der Schloßkirche zu Wittenberg an, den Allerheiligenabend 1517“. Er war „wie ein
C. Ginzburg, Il giudice e lo storico. Considerazioni a margine del processo Sofri, Mailand, 2006, 17, 84, 92 Fußnote 10. Ginzburg bezieht sich auf einen berühmten Vers von Friedrich Schiller („die Weltgeschichte ist das Weltgericht“) aus dem Gedicht Resignation von 1784, den Hegel in den folgenden Werken anführte: G.W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1989, 45 – 46, 49, 559; Ders., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830, Bd. 3, Die Philosophie des Geistes. Mit den mü ndlichen Zusätzen, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1986, 347; Ders., Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, mit Hegels eigenhändigen Notizen und den mü ndlichen Zusätzen, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1989, 503. Vgl. R. Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1995, 56 – 57; K. Löwith, Significato e fine della storia. I presupposti teologici della filosofia della storia, Mailand, 2010, 33. Ein Teil dieser Diskussion ist zusammengefasst in I. Melani, Il tribunale della storia. Leggere la „Methodus“ di Jean Bodin, Florenz, 2006, 29 – 33. Für eine theologische Lesart von Schillers Vers siehe E. Jüngel, „‚Die Weltgeschichte ist das Weltgericht‘ aus theologischer Perspektive“, in: ders., Ganz werden. Theologische Erörterungen V, Tübingen, 2003, 323 – 344. A. Momigliano, „Storia antica e antiquaria“, in: ders., Sui fondamenti della storia antica, Turin, 1984, 3 – 45, hier: 39, und ders., „Il contributo di Gibbon al metodo storico“, in: ebd., 294– 367, hier: 296 – 302. D. MacCulloch, Riforma. La divisione della casa comune europea, Vorwort von A. Prosperi, Rom, 2010. Zur sogenannten Tribunalisierung der Geschichte seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und zur Theodizee als Kennzeichen der Moderne siehe O. Marquard und A. Melloni, La storia che giudica, la storia che assolve, Roma/Bari, 2008.
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Fels im Meere“, der „an sich die unsteten brausende Wogen, die ihn verschlingen wollten, [anschlagen ließ] und stand“.¹⁶ Noch typischer und im Sinne der sich zwischen der Philologie des „wie es eigentlich gewesen“ und der Geschichtsphilosophie Hegels in der Schwebe befindlichen Geschichte des 19. Jahrhunderts ist jedoch die Beschreibung, die Ranke von Luther und dem Thesenanschlag in Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation gibt: Schon 1515 – 1516 sei Luther von der Doktrin der Rechtfertigung durch den Glauben durchdrungen gewesen; gewiss, er habe noch in vielen Details geschwankt und habe sich widersprochen, doch „allein in allen seinen Schriften athmet […] zugleich ein gewaltiger Geist, ein noch durch Bescheidenheit und Ehrfurcht zurückgehaltener, aber die Schranken überall durchbrechender Jugendmuth, ein auf das Wesentliche dringender, die Fesseln des Systems zerreißender, auf neuen Pfaden, die er sich bahnt, vordringender Genius“. Im Jahr 1517, auf der Höhe der „weltlichen Bestrebungen“ und der „geistigen Omnipotenz“ Leos X. habe es allerdings einen Menschen gegeben, der es gewagt habe, den päpstlichen Kommissaren die Stirn zu bieten. Luther habe die Thesen angeschlagen und damit gezeigt, welch ein „kühner, großartiger und fester“ Geist in ihm wohne. Seine Gedanken sprühten „wie unter dem Hammerschlag die Funken“ hervor; „es war aber dies Unternehmen wie ein gewaltiger Schlag, der Deutschland aufweckte“.¹⁷ Im darauffolgenden Jahrhundert überspitzte Ritter diese Form der Interpretation mit noch größerer Dramatik: Ohne zu wissen, welche Tragweite sein Handeln haben könne, sei Luther plötzlich durch den Thesenanschlag an der Schlosskirche zu Wittenberg in das Zentrum der Auseinandersetzungen seiner Zeit gestoßen worden. Zu Beginn schien das, was er gewagt habe, nur ein „schmaler, kaum sichtbarer Einschnitt in einen hohen und starken Damm“ gewesen. Doch „die Wasser stürzten sogleich mit elementarer Gewalt nach und rissen eine Bresche, die keine Gewalt der Erde mehr zu stopfen vermochte“.¹⁸ Das von Hegel und Ranke geerbte Paradigma befindet sich heute in der Krise, jedenfalls in den jüngsten und methodisch bewussten Beiträgen, in denen eine genau ausgearbeitete Interpretation der Ereignisse auf historisch-religiöser, politischer und institutioneller Ebene versucht wird. Trotz alledem scheiden sich die Geister der Historiker immer noch hinsichtlich des Wahrheitsgehalts des Thesenanschlags und, dem hier vorgeschlagenen Blickwinkel nach, folglich auch hinsichtlich der Unschuld oder Schuld Luthers. Laut Bernd Moeller beruht die Idee, dass der Reformator die Thesen am Schlosskirchenportal von Wittenberg angeschlagen habe, offenbar auf einem Irrtum. Bei der Besprechung der letzten 28 Biographien über den Reformator
L. von Ranke, Aus Werk und Nachlass, Bd. 3., Frühe Schriften, hrsg. von W. P. Fuchs, unter Mitarbeit von G. Berg und V. Dotterweich, München-Wien 1973, Nr. 12, Fragment über Luther (1817), 329 – 466, hier: 400. L. von Ranke, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, 7. Aufl., Leipzig 1894, 201, 207– 208, 210, 212. G. Ritter, Die Neugestaltung Europas im 16. Jahrhundert. Die kirchlichen und staatlichen Wandlungen im Zeitalter der Reformation und der Glaubenskämpfe, Berlin, 1950, 77.
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hat Moeller dann bemerkt, dass alle über den Thesenanschlag und die entsprechende historiographische Kontroverse sprechen, mehrheitlich jedoch ohne eine klare Position zu beziehen. Vielmehr werde ein verschleiernder und zweideutiger Begriff verwendetet, der nur auf den ersten Blick ein Licht auf das Problem zu werfen scheine; in Wahrheit würden die Dinge aber noch unklarer, denn „Veröffentlichung“ könne sowohl bedeuten, dass die Thesen verschickt, als auch, dass sie öffentlich ausgehängt worden seien, selbst wenn es bei genauer Betrachtung nur im zweiten Fall eine wirkliche Veröffentlichung oder vielmehr eine öffentliche Bekanntmachung der Thesen gegeben hätte, worauf sich die Historiker nach Iserloh allerdings nicht unbedingt hätten festlegen wollen. Da dieser Vorschlag nur eine „Scheinlösung“ biete, müsse die Frage offen bleiben. Moeller selbst spricht sich entschieden dafür aus, den Thesenanschlag als wirkliches Ereignis des 31. Oktober 1517 anzusehen, denn Luther hätte keinen „passenderen Termin“ wählen können. In der Tat kann man zu Recht die Hypothese aufstellen, dass die beiden Hauptvertreter der theologischen Debatte an der Universität Wittenberg, Luther und Karlstadt, fast „einer Strategie“ folgten und anlässlich der Ausstellung der Reliquien in Wittenberg zum Misericordias Domini am 26. April und zu Allerheiligen am 1. November 1517 zwei Disputationen abhalten wollten, die jedoch nie stattfanden¹⁹. Die von Moeller ans Licht gebrachte Mehrdeutigkeit lässt sich nicht ausrotten; man konnte sie beispielsweise bis vor Kurzem auf zwei wohlbekannten Webseiten finden, die dem Jubiläum von 2017 gewidmet sind (und man könnte noch viele andere zitieren): Refo500 zögerte nicht, den Thesenanschlag mit dem „Beginn der Reformation“ gleichzusetzen, fügte auch eine englische Übersetzung hinzu und wies mit keinem Wort auf die Kontroverse hin. Im dazugehörigen Faltblatt zur Vorstellung der Webseite wurde hingegen daran erinnert, dass Luther 1517 „seine 95 Thesen in Wittenberg öffentlich verkündete“.²⁰ Auf gleiche Weise bleibt auch die Website der Lutherdekade in der lexikalischen Ambiguität gefangen, wenn sie von der „Veröffentlichung der 95 Thesen Martin Luthers“ spricht, die er „laut Überlieferung an die Schlosskirche zu Wittenberg schlug“.²¹ Die Stellungnahme von Heinz Schilling versucht die Tatsachen zu retten und den Mythos zu dekonstruieren: „Ein revolutionärer Thesenanschlag, wie sich das die Nachwelt spätestens seit der ersten Jahrhundertjahrfeier 1617, vor allem aber im revolutionsversessenen 19. Jahrhundert vorstellte, fand daher nicht statt“. Als Luther im Spätsommer 1517 begann, seine Thesen gegen die Ablasspredigten des Dominikaners Johannes Tetzel auszuarbeiten, dachte er in keiner Weise, dass er damit die päpstliche
B. Moeller, Deutschland im Zeitalter der Reformation, Göttingen, 1977, 55; Ders., „Thesenanschläge“, in: Ott und Treu (Hg.), Luthers Thesenanschlag, 9 – 31, hier: 10, 12, 30 – 31. Beide Aussagen waren jeweils auf folgenden Webseiten zu lesen: www.refo500.nl/calendars/63/ 1940/beginning-of-the-reformation; www.refo500.nl/pages/132/martin-luther-s-95-theses.html; www.refo500.nl/content/files/Files/Overige/General_Flyer_Refo500_Juli_2013_EN.pdf (letzter Zugriff: 18. November 2016). www.luther2017.de/de/2017/reformationsjubilaeum (letzter Zugriff: 18. November 2016).
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Autorität angreifen würde. Die Thesen sollten nur dazu beitragen, eine Wahrheit zu beleuchten, die in erster Linie Gegenstand einer akademischen und theologischen Diskussion war, und er wollte dabei auch seine persönlichen Überzeugungen darlegen. Wenn die Thesen wirklich angeschlagen wurden, dann in einem ganz anderen Zusammenhang als dem von der lutherischen Rhetorik beschriebenen, die sich einen hammerschwingenden Mönch vorstellte, der fast an eine germanische Gottheit denken ließ. Laut Schilling handelte es sich hingegen um einen Akt akademischer Mitteilung, wie er an den europäischen Universitäten üblich war, nämlich der Ankündigung einer akademischen Disputation und der Einladung, die Thesen mit ihrem Verfasser zu diskutieren. In jedem Fall sei es nicht Luther gewesen, der die Thesen angeschlagen habe, das sei Aufgabe des Universitätspedells gewesen. Der Thesenanschlag müsse Luther selbst als ein derartig normaler Vorgang erschienen sein, dass er ihm keinerlei Bedeutung zugemessen habe.²² Für Martin Brecht, den großen Biographen Luthers, ist der springende Punkt nicht, ob oder wann die Thesen angeschlagen wurden, das bleibe ein zweitrangiger Aspekt. Die Thesen selbst, ihre historische und theologische Ausarbeitung und ihre Verbreitung durch verschiedene Kommunikationswege und -mittel seien das wichtigste Ereignis jenes Herbstes gewesen.²³ Die Position Brechts verbindet ihn mit vielen anderen Wissenschaftlern, wie Heiko Oberman, Berndt Hamm, Bernd Moeller, Dorothea Wendebourg und Luise Schorn-Schütte, welche angesichts der verschiedenen Stellungnahmen und ihren unendlich vielen Verästelungen davon ausgehen, dass das Herzstück der Reformation ihre theologische Sinngebung sei, mit der alles menschliche Handeln verbunden und von der es ableitbar bleiben müsse; es sei daher unmöglich, die Geschichte der Reformation ohne die Reformatoren und ohne ihre Ideen und ihre Lehren nachzuzeichnen.²⁴ Thomas Kaufmann kehrt die klassische und kanonisch gewordene Ranke’sche Interpretationsweise um: Die Reformation habe demnach nicht mit einem bestimmten Ereignis und an einem bestimmten Datum begonnen und geendet; nicht am 31. Oktober 1517, als Luther seine Thesen versandte und wahrscheinlich an die Türen der Wittenberger Kirchen anschlagen ließ, um eine Disputation anzukündigen, die niemals stattfand; und auch nicht am 25. September 1555, als denjenigen Staaten und Reichsstädten, die sich zur Confessio Augustana von 1530 bekannten, eine Art konfessionelle Toleranz garantiert wurde. Die Reformation sei vielmehr ein „Prozess der theologischen Infragestellung, der publizistischen Bekämpfung und der gestaltenden Veränderung des überkommenen Kirchentums“ gewesen. Während seines Prozesses vom Sommer 1518 bis zum Winter 1520 – 1521 sei Luther die Rolle des Opfers und des
H. Schilling, Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs, 3. Aufl., München, 2014, 164– 165. M. Brecht, Martin Luther, Bd. 1, Sein Weg zur Reformation 1483 – 1521, Stuttgart, 1981, 173 – 230. H. Oberman, Die Reformation. Von Wittenberg nach Genf, Göttingen, 1986; B. Hamm, B. Moeller und D. Wendebourg (Hg.), Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, Göttingen, 1995; L. Schorn-Schütte, Die Reformation. Vorgeschichte – Verlauf – Wirkung, 2. Aufl., München, 2000.
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Täters zugefallen. Nicht so sehr der umstrittene Thesenanschlag von 1517 als vielmehr das Scheitern des Wormser Ediktes vom 8. Mai 1521 im Reich und die misslungene Lösung der religiösen Frage hätten den Beginn der Reformation in Deutschland verursacht, denn wenn das Edikt umgesetzt worden wäre, so hätte dies das Ende der Reformation bedeutet. Das tatsächliche Erfolgen des Thesenanschlags wird laut Kaufmann zur Hypothese mit der relativ größeren Plausibilität und garantiert somit dessen Historizität: Luther gab am 31. Oktober 1517 ein Manifest mit seinen 95 Thesen bei Johann Gruneberg in Auftrag, ein Drucker, der seine Werkstatt in der Nähe des Wittenberger Augustinerklosters hatte, und ließ es mittels Anschlag an den Portalen der Allerheiligenkirche und vielleicht auch an denen anderer Kirchen Wittenbergs veröffentlichen. Melanchthon und Rörer, die ersten, die davon sprachen, bezogen sich in ihren Berichten also auf eine mündliche Überlieferung. Und nicht nur das, auch die Briefe, die Luther an den Erzbischof von Mainz und Ablasskommissar Albert von Brandenburg und seinen Ordinarius, den Bischof von Brandenburg Hieronymus Schulz (Scultetus) schickte, lassen vermuten, dass es ein Exemplar princeps der in Wittenberg gedruckten Thesen gegeben haben muss, das verlorenging. Es ist ferner anzunehmen, dass Luther nicht die Antworten der beiden Prälaten abwartete, um seine Thesen drucken zu lassen, sondern dass der Druck gleichzeitig mit der Versendung der Briefe erfolgte; auch, weil es an der Wittenberger Universität üblich war, zur Diskussion stehende Thesen zu veröffentlichen. Schlussendlich ist es wahrscheinlich, dass Luther den Statuten der Universität entsprechen wollte, die einen Anschlag der für die Disputation vorgesehenen Thesen an den Kirchenportalen Wittenbergs vorsahen, und nicht das Gegenteil, vor allem anlässlich eines besonderen Ereignisses des Kirchenjahres: Am Vorabend und über den gesamten Allerheiligentag erhielten alle, die sich in der Kollegiatkirche Wittenbergs büßend versammelten, die volle Vergebung ihrer Sünden auf die gleiche Weise wie diejenigen, die sich zur Portiunkula bei Assisi begaben.²⁵ Im Gegensatz dazu stimmt es nach Guido Dall’Olio, dass Luther zwar von dem Skandal des Ablasshandels dazu getrieben wurde, eine entschiedene öffentliche Position einzunehmen, aber das sei keineswegs eine impulsive, hastige Handlung gewesen: Man denke nur an die Disputatio contra scholasticam theologiam vom September 1517, in der schon viele zentrale Themen der späteren lutherischen Theologie vorweggenommen worden seien. Der Thesenanschlag, ein für sich genommen wahrscheinliches Ereignis, für das es allerdings keine sicheren Beweise gebe, sei eine „faszinierende Legende“,²⁶ welche benötigt werde, um die außergewöhnliche Verbreitung der Thesen entgegen der vermutlichen Absichten Luthers zu erklären. Für Volker Leppin schließlich ist das wahre Ereignis im Herbst 1517 nicht der Thesenanschlag, der sich so stark im Bewusstsein des Luthertums festgesetzt hat,
T. Kaufmann, Geschichte der Reformation, Frankfurt am Main, 2009, 21– 22, 182– 184, 226 – 299, hier: 226 – 228, 298 – 299. G. Dall’Olio, Martin Lutero, Rom, 2013, 61– 69, hier: 67.
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sondern die geistige Befreiung Luthers von der scholastischen Theologie und vom dogmatischen Bezugssystem, wie es in der theologischen Ausbildung überliefert wurde, um alles in die „unmittelbare Nähe Christi“ zu leiten, der seinerseits den Christen erst frei werden lässt. Die Reformation sei demnach nicht auf lärmende und impulsive Weise unter „demonstrativen Hammerschlägen“ ausgebrochen, sondern sehr vorsichtig und unter Herausbildung einer neuen Theologie, die frei von den Fußangeln der theologischen Tradition sei: nicht mehr „Luder“, sondern „Luther“ und „Eleutherius“, der Befreite und Befreier.²⁷ Aus diesem Grund und auch unter der Voraussetzung, dass eine Disputation nach dem Thesenanschlag, wie es in den Statuten der Universität vorgesehen war, wirklich stattgefunden hätte, könne die Vorstellung von Luther nicht mehr die eines Reformators sein, der angesichts einer Menschenmenge vor der Wittenberger Schlosskirche den Hammer geschwungen und ein neues Zeitalter ankündigt habe.²⁸ Freilich muss die ikonoklastische Sichtweise Leppins auch unter einem anderen Gesichtspunkt gesehen werden. Es ist wichtig, dass die Identität und kollektive Erinnerung des Luthertums auf dem felsigen Untergrund der Thesen ruht und nicht auf dem sandigen des Thesenanschlags. Erstere sind eine Bastion, die mit Leichtigkeit die Angriffe der Kämpfer des gegnerischen Heers abweisen kann, letzterer eine Geste, die großzügig formuliert höchstens einer banalen Episode aus dem Universitätsleben gleichkommt. Um die Erinnerung an die Reformation zu stärken und nicht auszulöschen, muss man den Thesenanschlag in das Reich der frommen Legenden verweisen, denn nur durch dessen Entmythologisierung werden die 95 Thesen wieder ins Zentrum der Reformationsgeschichte gestellt.
3 Der Luther Iserlohs: Freispruch wegen fehlenden Tatbestands Seit den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts hat das Werk von Joseph Lortz eine entscheidende Veränderung im katholischen Bewusstsein bezüglich Luther und der Reformation geprägt. Für ihn ist der Angeklagte Luther unschuldig, denn er habe niemals die für die Frühe Neuzeit typische Spaltung der westlichen Christenheit verursachen wollen, ganz im Gegenteil.Wenn von Rom eine angemessene Antwort auf die entscheidenden Fragen Luthers gekommen wäre, hätte dieser ein weiterer großer Reformator (in) der katholischen Kirche werden können. Zwar war Lortz ein unerwünschter Autor, weil er zunächst dem Nationalsozialismus anhing, aber sein Beitrag ist umso bedeutender, wenn man in Betracht zieht, dass seine Stellungnahme zur
B. Moeller und K. Stackmann, Luder – Luther – Eleutherius. Erwägungen zu Luthers Namen, Göttingen, 1981. Leppin, Martin Luther, 124– 126.
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gemeinsamen Schuld an der Spaltung der Konfessionen in das dritte Kapitel des ökumenischen Konzildekrets Unitatis redintegratio übernommen worden ist.²⁹ Die Gedankengänge Iserlohs sind ohne Zweifel eine Weiterentwicklung der Äußerungen seines Lehrers Lortz in Die Reformation in Deutschland und in verschiedenen kleineren Veröffentlichungen: Wenn Rom in angemessener Weise reagiert hätte, wie es dringend notwendig erschien, wäre es nicht zur Kirchenspaltung gekommen. Folglich könne Luther die Thesen nicht angeschlagen haben, weil er in jenem Augenblick nicht einmal daran gedacht habe, sich von der katholischen Kirche zu trennen, ganz im Gegenteil: Die Art und Weise seines Handens enthülle, dass er sich noch als treuer Sohn seiner Kirche gefühlt habe, schließlich habe er die Thesen an den Ablasskommissar und an den Ordinarius seiner Diözese geschickt. Und nicht nur das: Es sei das unmittelbare Ziel Luthers gewesen, dass Albert von Brandenburg seine Instructio summaria zum Ablass zurückzöge, denn diese habe den theologischen Missbrauch des Ablasses durch Tetzel verursacht. Dessen Lehre habe Luther mittels seiner Thesen widerlegen und beweisen wollen, dass die gesamte Materie gegen die Willkür der theologischen Positionen seiner dominikanischen Gegner einer dogmatischen Klärung durch die Kirche bedürfe, deren Urteil sich der augustinische Doctor theologiae unterworfen hätte.³⁰ Wegen einer merkwürdigen Heterogonie der Zwecke fand sich Iserloh mitten in der akademischen und öffentlichen Diskussion wieder, jedoch nicht aus eigener Initiative, sondern mittels Hans Volz, einem der Herausgeber der Weimarer Ausgabe, der 1957 im Deutschen Pfarrerblatt seine überraschende Hypothese aufstellte, dass der Thesenanschlag nicht am 31. Oktober, sondern am 1. November 1517 geschehen sei.³¹ Volz erhielt postwendend eine Antwort von dem berühmten Exegeten Kurt Aland, der im Deutschen Pfarrerblatt des folgenden Jahres das traditionelle Datum des 31. Oktober verteidigte.³² Iserloh wurde wider seinen Willen von seinem Freund Konrad Repgen, in dessen Hände das Buch von Volz geraten war, in die Auseinandersetzung J. Lortz, Die Reformation als religiöses Anliegen heute. Vier Vorträge im Dienste der Una Sancta, Trier, 1948, 104, und E. Iserloh, „Die Entwicklung der ökumenischen Bemühungen in Deutschland bis zum Vaticanum II“, in: ders., Kirche, Bd. 2, 489 – 505, hier: 499 – 500. Vgl. Conciliorum Oecumenicorum Generaliumque Decreta, Bd. 3, The Oecumenical Councils of the Roman Catholic Church. From Trent to Vatican II (1545 – 1965), Turnhout, 2010, 362, Z. 79 – 82. Zu dieser Frage siehe: M. Marcocchi, „Prefazione all’edizione italiana“, in: J. Lortz, La Riforma in Germania, Bd. 1, Mailand, 1971 (eigentlich 1979), xxviii-xxx; B. Ulianich, „In memoriam Joseph Lortz“, in: Rivista di storia e letteratura religiosa, 11, 1975, 508 – 511; M. Patti, Chiesa cattolica tedesca e Terzo Reich (1933 – 1934). Il caso di M. Schmaus, J. Lortz, F. Taeschner, J. Pieper, F. von Papen, Brescia, 2008, 195 – 218. W. Borth, Die Luthersache (Causa Lutheri). 1517 – 1524. Die Anfänge der Reformation als Frage von Politik und Recht, Lübeck/Hamburg, 1970, 20 – 24. Der Artikel erschien dann auch als kurzes, aber kompaktes Buch: Volz, Martin Luthers Thesenanschlag, insbesondere 28 – 37. Die Debatte zum Thesenanschlag wird von R. Bäumer, Die Diskussion um Luthers Thesenanschlag. Forschungsergebnisse und Forschungsaufgaben, in A. Franzen (hrsg. von), Um Reform und Reformation. Zur Frage nach dem Wesen des „Reformatorischen“ bei Martin Luther, Münster i. W. 1968, S. 53 – 95, zusammengefasst. Seine Beweggründe griff er dann in erweiterter Form in: Aland, Die 95 Thesen, 113 – 135, auf.
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verwickelt. Repgen fragte sich, ob es nicht besser wäre, neben dem Datum auch den Thesenanschlag selbst anzuzweifeln, für den es im Grunde nur spärliche Nachweise in den Quellen gab. Er teilte seine Idee Iserloh mit, der sich mit großer Gewissenhaftigkeit daranmachte, dem Vorschlag seines Freundes nachzukommen, um schließlich am 8. November 1961 seinen berühmten Vortrag im Auditorium Maximum der Universität Mainz zu halten, in dem er zum ersten Mal ernsthaft die Historizität des Thesenanschlags anzweifelte.³³ In der ersten Spiegel-Ausgabe des Jahres 1966 erschien ein sarkastischer Artikel, der sich nicht gerade wohlwollend über die Diskussion der „drei Weisen“ (Volz, Aland und Iserloh) ausließ, die fast als Sturm im akademischen Wasserglas beschrieben wurde; zumindest, bis das Organ der Geschichtslehrer Deutschlands, die Zeitschrift Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, in ihre Ausgabe von 1965 die Beiträge der „drei Weisen“ zusammen mit denen von Heinrich Steitz und Irmgard Höss aufgenommen hätte. Laut dem Spiegel zeigten sie, wie über diese „Sternstunde der evangelischen Menschheit“ die größte Zwietracht herrschte. Die einzigen Punkte, über die sich die fünf Wissenschaftler einig waren, betrafen die „Vorgeschichte der Thesenverkündigung“ und die Tatsache, dass „das Datum wie das Faktum des Thesenanschlags völlig bedeutungslos sind“.³⁴ Aber wie kann man angesichts „der historischen und theologischen Belanglosigkeit“ der Frage, ob Luther die Thesen nun angeschlagen hatte oder nicht, oder vielmehr seiner Reduzierung auf die bloße Geste des Anschlags, die „Emotionalität“ erklären, mit der sie diskutiert wurde und immer noch wird? Wahrscheinlich findet man einen Teil der Erklärung im erwähnten Spiegelartikel: Wenn der „Reformator ohne Hammer“ bleibt, dann werden sein heroisches Bild, das vor allem seit dem 19. Jahrhundert so fest in der lutherischen historischen Erinnerung verankert ist, und das Gebäude seiner „Monumentalisierung“ unwiederbringlich in ihren Grundfesten erschüttert. In diesem Sinn ist der Thesenanschlag nicht die Ursache der „Monumentalisierung“, sondern ihre Auswirkung: Sein Mythos konnte nur in einem Zusammenhang entstehen, in dem es notwendig war, „das Luthergedächtnis zu kanonisieren“, um mit einem ätiologischen Mythos das charismatische Erbe Luthers in den Institutionen, die aus seinem reformatorischen Wirken hervorgegangen waren, in Sicherheit zu bringen.³⁵ Unter diesem Blickwinkel hört das Problem des vermuteten Thesenanschlags auf, eine ereignisgeschichtliche Kuriosität zu sein. Indem er den „hammerschwingenden Luther“ zu einem protestantischen „Stück Folklore“ werden ließ, entzog Iserloh dem vermuteten rebellischen Gestus gegen die Kirche von Seiten Luthers jede Glaubwürdigkeit und befreite sich von etwas, was als Stolperstein auf dem Weg zur Ökumene
K. Repgen, „Ein profangeschichtlicher Rückblick auf die Iserloh-Debatte“, in: Ott und Treu (Hg.), Luthers Thesenanschlag, 99 – 110, hier: 100 – 101. Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 16, 1965, 661– 699. Den Artikel des Spiegels findet man unter: www.spiegel.de/spiegel/print/d-46265199.html (letzter Zugriff: 18. November 2016). V. Leppin, „Die Monumentalisierung Luthers. Warum vom Thesenanschlag erzählt wurde – und was davon zu erzählen ist“, in: Ott und Treu (Hg.), Luthers Thesenanschlag, 69 – 92, hier: 69 – 72.
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wahrgenommen wurde, einer für ihn ohnehin belanglosen Angelegenheit, ganz im Gegensatz zu anderen „Fragen an Luther“ (in erster Linie zur Natur der Kirche und ihrem „lebendigen Lehramt“ bei der Interpretation der Heiligen Schrift und außerdem die zur eng mit der ersten Frage verbundenen „Vollmacht“ in Glaubensfragen). Er bewegt sich hier auf derselben Linie wie die ersten Kritiken, die von Silvestro Mazzolini in seinem Dialogus de potestate papae an den 95 Thesen angebracht wurden. Auch für ihn betrafen die „Fragen an Luther“ nicht so sehr den Ablass an sich oder seine Rechtfertigungslehre, als vielmehr die Ekklesiologie.³⁶ Mazzolinis Intuition war durchaus fruchtbar: Das „Verhältnis von Wort Gottes und kirchlicher Lehre sowie die Lehre von der Kirche, von der Autorität in ihr, von ihrer Einheit, vom Amt und von den Sakramenten“ befinden sich immer noch unter den Punkten im Kapitel 43 der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre vom 31. Oktober 1999, die „weiterer Klärung bedürfen“.³⁷ Der Luther Iserlohs wird damit wieder zu einem guten Christenmenschen, einem nicht erhörten Reformator, der vor Liebe für seine Kirche brannte und den sich die Katholiken nach der lutherischen „Beschlagnahme“ wieder würden aneignen können.³⁸ So bricht der Thesenanschlag, das zentrale Ereignis jenes Allerheiligentages, mit seiner geballten Symbolträchtigkeit in die Geschichte des Ökumenismus herein, umhüllt die Thesen mit einem mythenbildenden Schleier und wird zum letzten Bollwerk gegen etwas, was zum Teil als widerrechtliche Aneignung eines Gründungsmythos der lutherischen Identität vonseiten der Katholiken – vor allem vonseiten der deutschen Katholiken – angesehen wurde, dessen Bedeutung über seine historische Realität hinausging und -geht.³⁹ Damit versteht man auch die protestantischen Reaktionen auf seine Entmythologisierung besser, die entgegen aller Versuche, Luther in das Pantheon eines mehr gefürchteten als akzeptierten Ökumenismus einzufügen, seine exklusive Zugehörigkeit zur Welt der Reformation bekräftigen.
Wolff, Iserloh, 150; E. Iserloh, „Martin Luther. Fragen an uns – Fragen an ihn“, in: ders., Kirche, Bd. 2, 138 – 144, hier: 140 – 144; Ders., Luther in katholischer Sicht gestern und heute, in: ders., Kirche, Bd. 2, 233 – 247, hier: 247. Iserloh gab die Schrift Mazzolinis zusammen mit Peter Fabisch heraus, in: P. Fabisch und E. Iserloh, Dokumente zur Causa Lutheri (1517 – 1521), Bd. 1, Das Gutachten des Prierias und weitere Schriften gegen Luthers Ablaßthesen (1517 – 1518), Münster in Westfalen, 1988, 33 – 201. http://www.vatican.va/roman_curia/pontifical_councils/chrstuni/documents/rc_pc_chrstuni_doc_31101999_cath-luth-joint-declaration_ge.html (letzter Zugriff: 18. November 2016). G. Alberigo, „Martin Lutero nella coscienza cattolica dopo il Vaticano II“, in: A. Agnoletto (Hg.), Martin Luther e il Protestantesimo in Italia. Bilancio storiografico. Atti del Convegno Internazionale in occasione del quinto centenario della nascita di Lutero, 1483 – 1983, Mailand, 1983, 210 – 222, hier: 222. Wolff, Iserloh, 100 – 102.
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4 Der Mythos vergeht nicht: Die Entdeckung von 2007 Am 19. Februar 2007 präsentierte Martin Treu, damals Bereichsleiter für Ausstellungen und Vermittlung der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, dem im Konferenzsaal der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek in Jena versammelten Publikum eine anscheinend sensationelle Entdeckung: eine Notiz Georg Rörers, Sekretär und enger Mitarbeiter Luthers, die das bestätigen würde, was Melanchthon erst zwei Jahre später und weniger genau notiert hatte. Demnach hätte Luther am 31. Oktober 1517 an den Portalen der Kirchen von Wittenberg die berühmten Propositiones de indulgentiis angeschlagen. Volker Leppin, damals Professor für Kirchengeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena, beteiligte sich an der Diskussion und zeigte sich ziemlich skeptisch bezüglich der Verlässlichkeit von Rörers Zeilen.⁴⁰ Es lohnt sich allerdings, den scharfsinnigen Argumenten Treus und Leppins zu folgen, denn sie offenbaren zwei grundlegende Haltungen, die man in vielen Stellungnahmen zum Thesenanschlag wiederfinden kann. Sie reproduzieren nahezu die Plädoyers zweier Juristen, die ihre Positionen vor einem Richter vertreten, wenngleich in einem Indizienprozess.⁴¹ Treu hatte die Aufzeichnung Rörers, die wahrscheinlich auf den Spätherbst 1544 zurückgeht, gegen Ende des Jahres 2006 im Kolophon der von Luther angefertigten deutschen Übersetzung des Neuen Testamentes gefunden, die in der Bibliothek der Universität Jena aufbewahrt wird. Damit wurde die Aufzeichnung zum ersten dokumentarischen Nachweis des Thesenanschlags. Sie erfolgte mindestens zwei Jahre früher als jene äußerst berühmte, die Melanchthon dem Widmungsschreiben vom 1. Juni 1546 beifügte, welches dem zweiten Band der ebenfalls 1546 veröffentlichten lateinischen Werke Luthers vorangeht. Die Zeilen Rörers und Melanchthons sind zwar ähnlich, enthalten jedoch in den Details zwei wichtige Unterschiede: Während Rörer von den Türen der „Kirchen“ in Wittenberg spricht , schreibt Melanchthon nur von der Wittenberger Schlosskirche; für Rörer hat Luther die Thesen „veröffentlicht“, vielleicht mittels des Anschlags durch einen Pedell, während für Melanchthon Luther die Thesen eigenhändig „anschlug“.⁴²
M. Treu, „Der Thesenanschlag fand wirklich statt. Ein neuer Beleg aus der Universitätsbibliothek Jena“, in: Luther, 78, 2007, 140 – 144, und die Entgegnung von V. Leppin, „Geburtswehen und Geburt einer Legende. Zu Rörers Notiz vom Thesenanschlag“, in: ebd., 145 – 150. Eine kürzere Fassung der Texte, ohne Fußnoten, aber mit einigen Bildern (darunter eines mit der Handschrift Rörers), kann auf der Website des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Projektes Sammlung Georg Rörer der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek eingesehen werden: http://projekte.thulb.unijena.de/roerer/georg-roerer/thesenanschlag.html (letzter Zugriff: 18. November 2016). Moeller, Thesenanschläge, 14. Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena, Ms. App. 25. Das zitierte Exemplar ist: M. Luther, Das Newe Testament D. Mart. Luth., Wittenberg, 1540 (VD 16 B 4429) und kann auf folgender Webseite eingesehen werden: archive.thulb.uni-jena.de/hisbest/receive/HisBest_cbu_00010595 (letzter Zugriff: 18. November 2016).Vgl. Treu, „Der Thesenanschlag fand wirklich statt“, 141: „Anno Domini
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Der Praeceptor Germaniae kam elf Jahre später (1557) in einer sonntäglichen Lesung zu Mt 5,17 über den Wert des Gesetzes auf die Geschichte des Anschlags zurück und erinnerte dabei daran, dass vor vierzig Jahren „die Lehre des Evangeliums am Vorabend von Allerheiligen korrigiert wurde“. Er lud seine Zuhörer dazu ein, das Ereignis zu feiern und über das damals Geschehene nachzudenken. An jenem Tag, schreibt Melanchthon, seien die Thesen von Dr. Martin Luther über den Ablass öffentlich gemacht worden, und 1557 werde man den vierzigsten Jahrestag ihres Anschlags an der städtischen Allerheiligenkirche und ihrer Veröffentlichung begehen. Die Thesen hätten zwar in einer „banalen Sache“ ihren Ausgangspunkt genommen und für viel Zwietracht gesorgt, aber ihretwegen habe man schließlich wichtige Fragen diskutiert.⁴³ Melanchthon maß offenbar den Thesen und ihrer Veröffentlichung größeres Gewicht bei, als dem Anschlag als solchem, was so viel heißt wie: Das erinnerungswürdige Ereignis ist nicht die konkrete Handlung, sondern der sichere und eindeutige historische Beginn der „verbesserten“ evangelischen Lehre mit den von ihr aufgeworfenen wichtigen theologischen Fragen. Eigentlich war die Schrift von Rörer schon 1972 in der Weimarer Ausgabe veröffentlicht worden, ohne jedoch größere Diskussionen ausgelöst zu haben. Es lohnt sich vielmehr hervorzuheben, dass der Herausgeber des Bandes, jener Hans Volz, der einer der Protagonisten der Auseinandersetzung mit Aland und Iserloh gewesen ist, den Irrtum beging zu vermuten, dass Rörer sich auf den von Melanchthon in seiner Einleitung zu den lateinischen Schriften Luthers erwähnten Hinweis bezog. Melanchthon käme dem Wissenschaftler zufolge im Vergleich zu den nachfolgenden Aussagen somit die Primogenitur zu.⁴⁴ Ob nun Rörer die Quelle von Melanchthon gewesen ist oder umgekehrt: Keiner der beiden Texte kann als endgültiger Beweis dafür angesehen werden, dass der Thesenanschlag an jenem besonderen Datum und Ort erfolgte, denn keiner von beiden weilte bereits 1517 in Wittenberg (Melanchthon traf 1518 ein, Rörer 1522). Der einzige sichere Augenzeuge, und zwar Luther, blieb stets zurückhaltend und gab keinen Hinweis, der den Anschlag bestätigen oder abstreiten würde.
1517 in profesto omnium sanctorum Witemberge in valuis templorum propositae sunt propositiones de Indulgentiis a Doctore Martino Luther“. CR VI, Nr. 3478, cc. 155 – 170, hier: 161– 162, und MBW XV, Nr. 4277, 296 – 311, hier: 304, 186 – 189: „[Lutherus,] studio pietatis ardens, edidit Propositiones de Indulgentiis…, et Has publice Templo, quod arci Witebergensi contiguum est, affixit pridie die festi omnium Sanctorum anno 1517“. CR XXV, c. 777: „Ultimus autem dies Octobris, id est, profestum omnium sanctorum, est dies ille, quo primum propositae sunt propositiones D. Lutheri de indulgentiis, quae fuerunt initium emendationis doctrinae. Et hoc anno 1557, erunt anni completi 41… ab initio isto affixarum propositionum, et editionum illarum. Fuerunt affixae templo Arcis ad vespertinam concionem. Eius templi appellatio fuit Omnium Sanctorum; […] et tamen ex illa futili questione indulgentiarum, est orta tanta dissentio, in quo postea magnae res agitatae sunt, et adhuc agitantur. Mementote ergo hunc diem, et simul cogitate de rebus ipsis“. WA 48,116, mit Anm. 3, Revisionsnachtrag.
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5 Schluss Der Widerspruch zwischen der Bedeutung der Thesen und der Irrelevanz ihres Anschlags markiert eine wichtige Wegkreuzung der Reformationsgeschichte. Aufgrund des Extensionalitätsprinzips, wonach der Wahrheitsgehalt zusammengesetzter Aussagen vollständig von den Aussagen abhängt, aus denen sie jeweils bestehen, scheint die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit eines revolutionären Thesenanschlags die Wahrhaftigkeit des Phänomens, das jene revolutionäre Geste in Bewegung gesetzt hat, mit sich zu bringen: Wenn die Voraussetzung des Ereignisses falsch ist, ist auch die welthistorische Schlussfolgerung falsch. Im Übrigen meinte die Kritik, die Henri-Irénée Marrou gegen die hegelsche Geschichtsphilosophie vorbrachte, genau dies: Wenn der Weg des Weltgeistes sich auf einem Pfad von Fakten fortbewegt, von denen man nicht sagen kann, ob sie sich jemals ereignet haben, dann muss man den Weg an sich in Frage stellen. Daher rührt, wie von Arnaldo Momigliano beleuchtet, die enge Verbindung zwischen Philologie und Philosophie in der modernen Geschichtsschreibung seit Gibbon. Und daher rührt auch die Unzufriedenheit Marrous über das mangelnde Interesse Hegels an der historischen Methodologie.⁴⁵ Wenn die scharfe Diskussion über die Historizität der Thesen wie eine Übung positivistischer Spitzfindigkeit erscheinen mag, so bedenke man die Konsequenzen auf allgemeiner methodischer Ebene. Die Kritik, die Marrou gegen die hegelsche Geistesgeschichte vorbringt, in der sich die einzelnen Ereignisse nicht in der von der Vernunft vorgegebenen Richtung bewegen, aber geschickt ein gewaltiges Fresko entwerfen, das jedoch einer empirisch-geschichtlichen Überprüfung nicht standhält, kann auch – um nur ein Beispiel zu nehmen, das kürzlich eine weitgefasste akademische und publizistische Diskussion ausgelöst hat – auf den seinsgeschichtlichen Antisemitismus Martin Heideggers angewendet werden. Wie kann man den Weg des Seins ernst nehmen, wenn seine einzelnen Schritte, vom schonungslos ereignisorientierten Gesichtspunkt aus betrachtet, nicht den vom Philosophen vorgestellten Weg genommen haben? Dann ist Heideggers Antisemitismus nämlich nicht nur ein Problem, das allein die Philosophie, die Theologie und ihre jeweilige Geschichte betrifft, sondern auch und vielleicht vor allem ein historisches Problem und ein Problem der historiographischen Methode.⁴⁶ Der Thesenanschlag, ursprünglich nur eine Episode unter anderen in der mündlichen Lutherhagiographie (vom Turmerlebnis zum Wormser Reichstag, von der Verbrennung der päpstlichen Bulle Exsurge Domine bis hin zur Übersetzung des Neuen Testaments auf der Wartburg), ist aber auch der Abschluss eines frommen ätiologischen Paralogismus, in dem die beschreibende mit der vorschreibenden Ebene vermengt wird. Luther hat die 95 Thesen verfasst (wahre Prämisse), aber er war
H.-I. Marrou, De la connaissance historique, Paris, 1954, 18. D. Di Cesare, Heidegger e gli ebrei. I „Quaderni neri“, Turin, 2014 (neue, erweiterte Auflage: Turin, 2016); P. Trawny, Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung, Frankfurt a. M., 2014.
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Professor in Wittenberg, und die Statuten der Universität sahen vor, dass die Quaestiones disputandae an den Kirchenportalen der Stadt ausgehängt wurden. Also musste Luther die Thesen an den Portalen der Schlosskirche zu Wittenberg angeschlagen haben oder hat sie anschlagen lassen müssen, vielleicht auch an den anderen Kirchen. Gleichzeitig hat sich im kollektiven Gedächtnis der Thesenanschlag sozusagen der Thesen selbst bemächtigt und sie mit einer revolutionären Bedeutung versehen, die sie damals noch nicht besitzen konnten, um sie dann in den Hintergrund zu verbannen. Sie wurden so zu den „bekanntesten Grenzsteinen der Weltgeschichte“ und verliehen einer Geste den „Stempel des Besonderen und Einmaligen“, die „wider jedes Erwarten so weltweite Kreise zog“.⁴⁷ Um die Sprache Hegels zu verwenden, hat der Thesenanschlag die Züge des καιρός der Reformation angenommen, des fatalen und höchsten Moments, in dem der Geist eines jeden Volkes seine Wirklichkeit entsprechend seinem besonderen Prinzip entwickelt und Geschichte wird, um sich dann im Weltgeist aufzulösen.⁴⁸ Wenn andererseits der Sonderweg, das besondere Schicksal Deutschlands, das viel vom jüdischen Exodus an sich hat, den für das Abendland und insbesondere für das nationalistische 19. Jahrhundert fundamentalen Mythos des politischen und religiösen Auserwähltseins mit dem Bild des sächsischen Mönchs beginnt, der seine Thesen vor den Gläubigen anschlägt, die für den Allerheiligen-Ablass von 1517 nach Wittenberg gekommen sind, dann kann für die Erinnerung des Luthertums das Ereignis auch die biblischen Züge der Allianz zwischen Israel und Jahwe auf dem Berg Sinai angenommen haben, die von den Gesetzestafeln besiegelt wurde.⁴⁹ In der Strahlkraft des Bildes wirkt Luther fast wie ein „zweiter Moses“, als ein Befreier der wahren Kirche aus der pharaonischen Gefangenschaft und als Gesetzgeber einer erneuerten religiösen und politischen Gemeinschaft.⁵⁰ Seine Geschichte „wird nicht als einmaliges historisches Ereignis begriffen, sondern als eine Erinnerungsfigur, deren Wahrheit sich im Akt des Erinnerns und in jeder sich erinnernden Gegenwart erweist“, und als solche ist sie der historischen Untersuchung entzogen und wird zum „Mythos im vollen Sinne des Wortes“.⁵¹ Gewiss, für einige war es gerade der Sonderweg als Geschöpf der „drei Gewaltigen“ des deutschen Geistes (Luther, Goethe, Bismarck), der
Bornkamm, Thesen und Thesenanschlag, 1; Volz, Martin Luthers Thesenanschlag, 28. Vgl. auch G. Alberigo, La Riforma protestante. Origini e cause, 2. Aufl., Brescia 1988, 17. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 559. J. Assmann, Exodus. Die Revolution der Alten Welt, München, 2015, 397– 399; M. Ponso, Una storia particolare. „Sonderweg“ tedesco e identità europea, Bologna, 2011, 65 – 102. Zum Verhältnis zwischen biblischer Auserwähltheit und deutschem Nationalismus siehe H. Lehmann, „The Germans as Chosen People. Old Testament Themes in German Nationalism“, in: German Studies Review, 14, 1991, 261– 274. Schöstädt, Antichrist, 206 – 208, 261– 265. Vgl. auch ders., „Das Reformationsjubiläum 1617. Geschichtliche Herkunft und geistige Prägung“, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte, 93, 1982, 5 – 57, hier: 45 – 46, und ders., „Das Reformationsjubiläum 1717. Beiträge zur Geschichte seiner Entstehung im Spiegel landesherrlicher Verordnungen“, in: ebd., 58 – 118. Assmann, Exodus, 105.
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unvermeidlich zum Holocaust führte.⁵² Für andere stellt die Reformation als Ursache und Wirkung des Sonderwegs die Weggabelung dar, an der sich die Wege der lateinischen und der germanischen Völker trennten und somit die Einheit und den Universalismus des Mittelalters unterbrachen und den verschiedenen europäischen Nationen zum Leben verhalfen.⁵³ Der Widerhall des Hammers am Kirchenportal von Wittenberg wäre also der Grund für Webers confessional divide, dem soziologischen Sohn des deutschen Weges in die Moderne, obwohl, wie Weber selbst in Erinnerung ruft, die religiöse Idee, die im Begriff des Berufes durchklingt, ihren Ursprung nicht einer ethnischen oder linguistischen Besonderheit der Völker verdanke, die der Reformation anhingen, und auch kein Ausdruck eines „germanischen Volksgeistes“ sei und noch weniger vom „Geist des Originals“ abstamme, als vielmehr vom „Geist des Übersetzers“, das heißt in diesem Fall von Luther selbst.⁵⁴ Wie Philip Roth in dem an seine literarische Nemesis Nathan Zuckermann gerichteten Brief schrieb, kann man „die Erfahrung bloßlegen, die Erfahrung verschönern, der Erfahrung eine neue Ordnung geben und sie ausweiten, bis sie sich in eine Art Mythologie verwandelt […] Die Tatsachen präsentieren sich niemals einfach so wie sie sind […] Die Erinnerungen an die Vergangenheit sind nicht Erinnerungen an Fakten, sondern Erinnerungen wie du sie dir vorstellst“.⁵⁵ Für Jahrhunderte leitete der Protestantismus seine ursprüngliche Identität aus der Bekanntmachung von Luthers theologischen Positionen zum Ablass am Portal der Wittenberger Schlosskirche ab, das somit zu einem wichtigen Moment der „Sozialisation von Generationen von Protestanten“ und der Kultur der lutherischen Konfession wurde.⁵⁶ Auf diese Weise wurde eine gewaltige Bewegung, die die Geschichte des Christentums in der ganzen Welt veränderte, für die Sinne der Gläubigen durch eine effektvolle Geste eines Mönches auf der Suche nach dem Weg zum ewigen Heil – sei sie nun wirklich erfolgt oder nur imaginär gewesen – greifbar und konkret.
T. Mann, „I tre colossi“, in: ders., Nobiltà dello spirito e altri saggi, Mailand, 2015, 375 – 385; Z. Bauman, Modernità e olocausto, Bologna, 1992; siehe eine vollständige Rekonstruktion der historischen Debatte in Ponso, Una storia particolare, 313 – 357. Man beachte hierzu folgende Beispiele: Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 497– 501, insbesondere 499 – 501; L. von Ranke, Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514, 3. Aufl., Leipzig 1885, v-vii; G. Droysen, Geschichte der Gegenreformation, Berlin, 1893, 6 – 7; G. Ritter, „Die Ausprägung deutscher und westeuropäischer Geistesart im konfessionellen Zeitalter“, in: Historische Zeitschrift, 149, 1934, 240 – 252, hier: 241; Ders., Die Neugestaltung Europas, 88. M.Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Tübingen, 1920, 17– 206, hier: 63 – 65. P. Roth, Die Tatsachen. Autobiographie eines Schriftstellers, München, 1991 (I fatti. Autobiografia di un romanziere, Turin, 2013, 7– 8). Schorn-Schütte, Die Reformation, 28, 32; T. Kaufmann, „Lutherische Konfessionskultur in Deutschland – eine historiographische Standortbestimmung“, in: ders., Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts, Tübingen, 2006, 3 – 26.
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Luther unter den Humanisten
Die alte Frage, ob Luther ein „Humanist“ war, geht ins Leere;¹ schon Lucien Febvre hat sie als Schubladendenken dekonstruiert.² Bisherige Antwortversuche beruhen in der Regel auf einem vorausgesetzten, nicht ausreichend differenzierten Humanismusbegriff auf der einen und konfessionellen Loyalitäten oder kulturellem Präferenzen auf der anderen Seite. William Bouwsmas Aussage, dass es sich bei der Reformation im Wesentlichen um die konsequente Durchführung von der Renaissance inhärenten Tendenzen handle, wobei Luther den Höhepunkt dieses Prozesses darstelle, sagt faktisch mehr über seine eigene Renaissance-Konzeption und seine Vorstellung von der Reformation aus als über die solcherart beschriebenen historischen Vorgänge.³ Die Auseinandersetzung darüber kann, wie Lewis Spitz, der selbst eine sorgfältige Untersuchung von Luthers Kenntnis der Klassiker und seiner Empfänglichkeit für den Humanismus durchgeführt hat, betont, ihrerseits auf eine lange Geschichte zurückblicken: Im 19. Jahrhundert waren es Jacob Burckhardt und Ernst Troeltsch, die zwischen Reformation und Renaissance trennen zu können meinten, während Wilhelm Dilthey Parallelen betonte.⁴ Unabhängig von der jeweils eingenommenen Perspektive hinsichtlich der grundsätzlichen Frage nach dem Verhältnis von Humanismus und Reformation dürfte es sich schwerlich als weiterführend erweisen, Luther in derselben Weise wie etwa Erasmus, Budaeus, Pirckheimer, Polizianos, Valla oder Vives als „Humanist“ zu bezeichnen. Diese als „Renaissance-Humanisten“ bezeichneten Intellektuellen des 15. und 16. Jahrhunderts suchten als christliche Gelehrte in den Literaturen der klassischen griechisch-römischen Antike und in der Kultur des Hellenismus, in welcher auch die Kirche sich herausgebildet hatte, nach Impulsen für Bildung und Regierung sowie für soziales und religiöses Leben. Einen besonderen Schwerpunkt bildete dabei
Übersetzung: Tobias Jammerthal. Siehe hierzu ausführlich Franco Buzzi, „L’Umanesimo a Wittenberg“, in: Luisa Rotondi Secchi Tarugi (Hg.), Rapporti e scambi tra umanesimo italiano ed umanesimo europeo, Mailand, 2001, 23 – 37, insbes. 30. L. Febvre, „Aux origines de la Réforme française: une question mal posée“, in: Revue historique 161, 1929, 1– 73, hier: 71. W. J. Bouwsma, „Renaissance and Reformation: an essay in their affinities and connections“, in: Heiko Augustinus Oberman (Hg.), Luther and the Dawn of the Modern Era: papers for the Fourth International Congress for Luther Research, Studies in the History of Christian Thought, 8, Leiden, 1974 127– 49, insbes. 129 und 149. Unmittelbarer Widerspruch kommt von B. Hägglund, „Renaissance and Reformation“ in: Luther and the Dawn of the Modern Era, 150 – 157. L. W. Spitz, „Humanism and the Protestant Reformation“, in: A. Rabil (Hg.), Renaissance Humanism: foundations, forms, and legacy, Bd. 3, Philadelphia, 1988, 380 – 411, hier: 380. Wiederabgedruckt in der Aufsatzsammlung L. Spitz, Luther and German Humanism, Aldershot, 1996, 69 – 94. https://doi.org/9783110498745-013
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die Wiederentdeckung und interpretative Erschließung antiker Texte, wobei die Renaissance-Humanisten wie die meisten christlichen Denker – einschließlich der von ihnen häufig verspotteten Scholastiker mit ihrer vor allem auf Aristoteles bezogenen Denkweise – von einer grundsätzlichen Harmonie von Glaube bzw. Offenbarung und Vernunft ausgingen: Eine Dissonanz zwischen ihren christlichen und ihren antiken Vorbildern sahen sie nicht.⁵ Luthers Ansätze und Blickrichtung waren anderer Natur: Inspiration suchte er ausschließlich in christlichem Schrifttum, die Philologie und insbesondere die Edition von Texten lag ihm ferner als den Humanisten, und Rhetorik und Stilistik hatten für ihn trotz seines unverwechselbaren Prosa-Stils keine Priorität. Zwar kommentierte auch er Texte, anders als bei den Humanisten handelte es sich dabei jedoch fast ausschließlich um biblische Texte, wobei er durchaus auf philologische und (text‐)kritische Fragen eingehen konnte, ohne jedoch dadurch seinen exegetischen Schriften einen humanistischen Charakter zu verleihen. Und auch wenn Luther alles andere als „anti-intellektuell“ war, lag ihm der Gedanke einer grundsätzlichen Harmonie zwischen Glaube und Vernunft fern, vielmehr sah er diese stark in Spannung. Insofern war Luther ein Theologe und kein Humanist. Damit ist freilich weder Feindschaft noch Gleichgültigkeit impliziert: Luther verbrachte seine Studienjahre in Erfurt in einem humanistisch geprägten Milieu, und auch in Wittenberg finden sich durchaus humanistische Einflüsse.⁶ Dass er sich in seiner theologischen Arbeit gründlicher Kenntnisse des Lateinischen, Hebräischen und Griechischen befleißigte, vermag seine Unterstützung des von führenden Humanisten seiner Zeit propagierten Ideals des vir trilinguus ebenso zu illustrieren wie seine entschiedene Unterstützung von Studienreformbestrebungen in Wittenberg, dem Ort seiner akademischen Karriere.⁷ Allgemeiner Konsens der Forschung ist daher, dass Luther mit der intellektuellen Strömung des Humanismus vertraut war, ohne in ihrer Mitte zu schwimmen:⁸ zwar würde es zu weit führen, schon 1520 in ähnlicher Weise wie 1550 von einer allgemeinen kulturellen Prägung durch den Humanismus zu sprechen, langfristig erwies sich der Renaissancehumanismus jedoch als eine unwiderstehliche kulturelle Bewegung, der sich Luther, ungeachtet seiner anders gelagerten intellektuellen Prioritäten, nicht entgegenstellte. Lohnender als eine Auseinandersetzung über Realität oder Umfang von Luthers humanistischer Prägung erscheint eine Untersuchung seiner Beziehung zu huma Treffend beschrieben von G. K. Chesterton in Bezug auf die Künstler der italienischen Renaissance: „They paraded before the world a wild hypothetical pageant of what old Greece and Rome would have been if they had not been pagan.“ G. K. Chesterton, „The Truth of Medieval Times“, 18. Januar 1930. Wieder abgedruckt in: G. K. Chesterton, The Illustrated London News, hg.v. L. J. Clipper (11 Bde., San Francisco, 1986 – 2012, The Collected Works of G. K. Chesterton: 27– 37), Bd. 9, 238 – 243, hier: 240. Maria Grossmann, Humanism in Wittenberg, 1485 – 1517, Nieuwkoop, 1975. Max Steinmetz, „Die Universität Wittenberg und der Humanismus“, in: Kurt Aland u. a. (Hg.), 450 Jahre Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Bd. 1, Halle, 1952, 103 – 139. Vgl. etwa James Atkinson, Martin Luther and the Birth of Protestantism, Harmondsworth, 1968, 88 – 89; Marc Lienhard, Martin Luther: un temps, une vie, un message, Paris, 1983, 22 oder auch W. von Loewenich, Martin Luther: the man and his work, übers. v. L.W. Denef, Minneapolis, 1986 [1982], 29 – 34.
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nistischen Zeitgenossen. Bernd Moellers Diktum „ohne Humanismus keine Reformation“ behält auch ohne vereinfachende Konstruktionen eines monokausalen Abhängigkeitsverhältnisses sein Recht.⁹ Eine feine Verschiebung der Schlagrichtung dieser These ergibt sich, wenn der Ausgangspunkt zutreffender in der Beobachtung gewählt wird, dass die ersten Anhänger Luthers Humanisten waren. In der Tat handelte es sich bei den ersten zustimmenden Rezipienten Luthers nicht nur um diejenigen unter den Humanisten, welche sich später selbst der Reformation anschließen sollten, sondern um Humanisten, die später zu seinen stärksten Gegnern zählen sollten. Auch wenn humanistische Reaktionen auf Luther sich im Laufe der Zeit veränderte, war doch Luthers Verständnis des „Evangeliums“ auf vielfältige Weise vom durch Erasmus und andere im frühen 16. Jahrhundert geprägten, bisweilen kontroversen, zumindest aber lebhaften intellektuellen Klima beeinflusst.
Luther und die humanistischen Kontroversen Zwei öffentliche und für das Christentum der 1510er Jahre zentrale Auseinandersetzungen prägten die Rezeption der Ideen Luthers in besonderer Weise. Zunächst ist hier die zu Beginn des Jahrzehnts ausgebrochene Kontroverse zwischen dem oberdeutschen Humanisten Johannes Reuchlin (1455 – 1522) und dem zum Christentum konvertierten früheren Juden Johannes Pfefferkorn (1469 – 1523) zu nennen: Nach seiner Konversion trat Pfefferkorn aggressiv für Verbot und Zerstörung jüdischen Schrifttums ein, insbesondere des Talmuds aufgrund seiner jesuskritischen Passagen. Reuchlin, der sich führend gegen diesen Vorschlag ausgesprochen hatte, wurde in einer von den Dominikanern – ihrerseits intellektuelle Erben des wohl bedeutendsten Scholastikers, Thomas von Aquin – geführten Kampagne der Häresie bezichtigt. Nicht zuletzt deshalb nahm der Streit Züge einer frontalen Auseinandersetzung zwischen Humanismus und Scholastik an, wobei die meisten führenden Humanisten Reuchlin unterstützten. Weniger die der Auseinandersetzung an sich zugrundeliegende Sachfrage als die Beteiligung von Humanisten an ihr macht diese Kontroverse zu einer sinnvollerweise als „humanistisch“ zu bezeichnenden: Die Dunkelmännerbriefe, in denen Reuchlins scholastische Widersacher brillant und erbarmungslos der Lächerlichkeit anheimgegeben werden, gelten als eine der schärfsten Satiren einer Zeit, in der diese Gattung besondere Konjunktur hatte.¹⁰ Als zweite große Kontroverse gelten die 1520 beginnenden Auseinandersetzungen um die Veröffentlichung des griechischen Neuen Testaments durch den „Humanistenfürsten“ Desiderius Erasmus von Rotterdam (1466 – 1536). Seit der 1516 erschie Im Rahmen seiner differenzierten Analyse der Beziehungen zwischen Humanismus und deutscher Reformation: Bernd Moeller, „Die deutschen Humanisten und die Anfänge der Reformation“, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 70, 1959, 46 – 62, hier: 59. Aus der zahlreichen Literatur sei verwiesen auf die neuere Studie von Erika Rummel, The Case against Johann Reuchlin, Toronto, 2006.
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nenen ersten Auflage seines Novum Instrumentum hatte sich die Sorge über seine Anwendung textkritischer Ansätze auf die als Vulgata bekannte herkömmliche lateinische Übersetzung des Neuen Testaments vor allem in Predigten und im informellen Diskurs akkumuliert. Doch erst die 1519 veröffentlichte zweite Auflage führte zu öffentlicher Kritik in Form von Druckschriften, welche sowohl Ansatz als auch Ausführung des erasmianischen Unternehmens angriffen. Federführend unter den Gegnern des Erasmus war Edward Lee (1482– 1544), ein englischer Gelehrter minderen Ranges, der Erasmus zeitweilig in seinem Editionsprojekt assistiert hatte, bevor er sich gegen ihn wandte – Gerüchten zufolge, weil einige seiner eigenen Vorschläge keine Berücksichtigung fanden.¹¹ Von seinem intellektuellen Werdegang her ist Lee selbst mehr als Humanist denn als Scholastiker zu bezeichnen; seine gegen Erasmus gerichteten Annotationes, die ihm selbst durch ihren gereizten und spitzfindigen Charakter keine Ehre machten, galten englischen Humanisten, die sich zuvor in der europaweit enthusiastischen Rezeption der Utopia des Thomas Morus gesonnt hatten, als peinlich. Auch wenn seine Patrone ihn recht schnell zum Schweigen bringen konnten, fungierte Lee in der Folge als Pappkamerad für zahlreiche humanistische Glossen und Schmähschriften, etwa aus der Feder des Helius Eobanus Hesse (1488 – 1540).¹² Wie die Auseinandersetzungen um Reuchlin galt auch diese Kontroverse den humanistischen Zeitgenossen als klarer Fall eines Konflikts zwischen humanistischem Fortschritt und scholastischem Obskurantismus. Als Luther Anfang 1518 die Bühne der Öffentlichkeit betrat, hatte der ReuchlinStreit gerade seinen Höhepunkt erreicht, in dessen grundlegendem Narrativ sich Luther schnell verortete: in seinen zu Beginn des Jahres verfassten und im Juli als Verteidigung seiner 95 Thesen erschienenen Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute stellte sich Luther in eine Reihe mit Giovanni Pico della Mirandola, Lorenzo Valla, Jacobus Faber Stapulensis und vor allem Reuchlin als Opfer einer „puerorum et effeminatorum tyrranis“, als welche er die zeitgenössische Kirche charakterisierte.¹³ Auch in seiner Antwort auf die erste gegen ihn gerichtete Druckschrift,
Vgl. zum Streit zwischen Erasmus und Lee Cecilia Asso, La teologia e la grammatica: la controversia tra Erasmo ed Edward Lee, Florenz, 1993. Vgl. die zahlreichen Beiträge des Hesse zur Sammlung der In Eduardum Leeum … Epigrammata (Erfurt: J. Knapp, 1520. USTC 668987). Mit Roger Ascham (1514– 68) erfreute sich einer der führenden jüngeren englischen Humanisten der Förderung durch Lee, dessen Gelehrsamkeit er aus unmittelbarer Nähe beobachten hatte können. Ungeachtet seiner vom Konservativismus seines Patrons abweichenden protestantischen Neigungen erwog er in den 1540er Jahren, eine der Schriften Lees zum Pentateuch zu veröffentlichen, um den Schaden, der seiner Reputation zwei Jahrzehnte zuvor zugefügt worden war, wiedergutzumachen, von dem er erst zu diesem Zeitpunkt Kenntnis erhalten hatte. Vgl. seinen kurz nach Lees Tod am 13. September 1544 verfassten, jedoch im übrigen undatierten Brief an einen namenlosen Freund: J. A. Giles (Hg.), The Whole Works of Roger Ascham, Bd. 1, London, 1865, ep. XXIV, 57– 60, hier: 59 – 60. Martin Luther, „Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute“ [1518],WA 1,522– 628, hier: 574. Dass Luther Erasmus in diese Liste der Unterdrückten nicht aufnimmt, ist vor dem Hintergrund dessen zu sehen, dass die Angriffe gegen den Humanistenfürsten im Frühjahr 1518 noch ausstanden.
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verfasst von Silvestro Mazzolini (1456 – 1527), genannt Prierias, der als Magister Sacri Palatii päpstlicher Haustheologe war, findet sich dieses Moment, wenn Luther auf der Grundlage der Zugehörigkeit des Prierias zum Dominikanerorden, von dem die Angriffe gegen Reuchlin ausgegangen waren, eine Verbindung zwischen sich und Reuchlin zieht.¹⁴ Durch diese Charakterisierung seiner frühesten Gegner empfahl sich Luther erfolgreich den Humanisten: als Philipp Melanchthon, selbst ein aufsteigender Humanist, im August 1518 nach Wittenberg kam, ermutigte er Luther zur Kontaktaufnahme mit dem bekannten Hebraisten.¹⁵ Auf Parallelen zu Reuchlin sollte Luther in den Folgejahren mehrfach hinweisen. Anfang 1519 schrieb Luther in vergleichbarer Weise an Erasmus und suchte unter anderem durch überbordendes Lob – freilich vergeblich – Bestätigung durch den Humanistenfürsten.¹⁶ In Luthers erstem im Druck erschienenen Psalmenkommentar findet sich der pointierte Rückgriff auf Griechisch und Hebräisch, die auf März 1519 datierende Vorrede aus der Feder Melanchthons stellt Luther in eine Reihe mit Erasmus, Reuchlin und anderen Humanisten.¹⁷ Noch deutlicher zeigt Luthers erster Galaterkommentar vom September 1519, dass der Wittenberger die Unterstützung der Humanisten suchte: Durchgängig finden sich hier ab der Auslegung von Galater 1,1 zustimmende Verweise auf „ERASMUS“ (stets in Kapitalien), dessen Annotationes in Novum Testamentum allgemein verbreitet seien; das Vorwort weist darauf hin, dass Luther lieber einen Kommentar zu dieser biblischen Schrift aus der Feder des Erasmus lesen würde, als selbst einen solchen in Druck zu geben.¹⁸ Diese Strategie war wohldurchdacht und nicht ohne Erfolg: Luthers Kritik am Ablasswesen passte sich ein in die unter Humanisten weitverbreitete Kritik inhaltsloser zeremonieller Observanz, wie sie sich bereits bei Jakob Wimpfeling (1450 – 1528) findet und ihren Höhepunkt im Economion moriae des Erasmus erreichte. Die 95 Thesen verbreiteten sich Anfang 1518 schnell in den humanistischen Netzwerken von Nürnberg, Augsburg, Basel und an-
Zum Zeitpunkt, ab dem die biblischen Arbeiten des Erasmus problematisiert wurden, vgl. Richard Rex, „Humanist Bible Controversies“, in: Euan Cameron (Hg.), The New Cambridge History of the Bible, Bd. 3, From 1450 to 1750, Cambridge, 2016, 61– 81, insbes. 73 – 74. Luther, „Ad Dialogum Silvestri Prieratis de Potestate Papae Responsio“ [1518], WA 1,647– 86, hier: 682. Luther an Reuchlin, 14. Dezember 1518, WA.B 1,268 – 269 (Nr. 120). Luther an Erasmus, 28. März 1519, S. S. und H. M. Allen (Hg.), Opus Epistolarum Des. Erasmi Roterodami, Bd. 3, Oxford, 1906 – 58, ep. 933, 516– 19. Zuerst gedruckt in: Erasmus, Farrago nova epistolarum, Basel: Froben, 1519, 135 – 36. Luther war zu diesem Zeitpunkt also schon bekannt genug, dass Erasmus sowohl diesen Brief als auch seine zurückhaltende Antwort (30. Mai 1519, 136 – 37) in diese Sammlung aufnehmen konnte. Luther, „Operationes in Psalmos“ [1519 – 1521], WA 5,24. In Epistolam Pauli ad Galatas F. Martini Lutheri Augustiniani, Commentarius, Leipzig: [Lotther], 1519, sig. A5v und fol. 1r. Der Abdruck in der WA unterschlägt die Kapitalien.
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deren Städten und sorgte, wie etwa der Briefwechsel Christoph Scheurls aus dem Januar 1518 für Nürnberg zeigt, für erhebliches Aufsehen.¹⁹
Humanistische Lutherlektüre Die Korrespondenz des Humanisten Beatus Rhenanus (1485 – 1547) aus Schlettstadt, der vor allem durch die Edition antiker und mittelalterlicher Originaltexte für den Basler Drucker Johannes Froben hervortrat, zeigt, dass humanistische Leser Luther schnell zu den Ihren zählten: Eine erste Erwähnung Luthers findet sich dort in einem Brief Martin Bucers (1491– 1551), seinerzeit Dominikaner, Student in Heidelberg und im April 1518 Augenzeuge der später als „Heidelberger Disputation“ bekannten ersten öffentlichen Darstellung von Luthers Theologie auf dem Generalkapitel der Augustinereremiten. Fasziniert berichtete Bucer Rhenanus über die von Luther, den er als „Verspotter des von uns bisher in der Tat zu sehr geduldeten Ablasses“ bezeichnet, in dieser Disputation vertretenen Ansichten. Offenbar kannten sowohl Bucer als auch Rhenanus die 95 Thesen bereits, Bucers enthusiastische Formulierung, dass Luther „in allen Dingen mit Erasmus übereinstimmt, abgesehen davon, dass Luther das, was Erasmus nur andeutet, frei und offen bekennt“ steht pars pro toto für viele frühe humanistische Reaktionen auf Luthers Hervortreten.²⁰ Zugleich zeigt Bucers Formulierung, dass zu diesem Zeitpunkt der Humanistenfürst Erasmus den Leitstern markierte, nach dem Luthers Werdegang beurteilt wurde. Die erste Erwähnung Luthers durch Rhenanus selbst findet sich in einem fast sechs Monate danach verfassten Brief an Ulrich Zwingli (1484– 1531), der sich offenbar nach Luthers Verhör durch den päpstlichen Legaten Cajetan in Augsburg im Oktober 1518 erkundigt hatte. Die lakonische Antwort „mir liegen derzeit keine verlässlichen Nachrichten über ihn vor“ signalisiert kein gesteigertes Interesse, auch wenn sich Rhenanus auf ihn bezieht, wenn er Zwingli schreibt, dass dessen Bericht über einen unglücklichen Ablasshändler ihn zum Lachen gebracht habe. Seine Formulierung „wie albern sind derlei Dinge, und wie unwürdig eines päpstlichen Legaten!“ eröffnet jedoch keine Ausführungen über Luther oder den Ablass, sondern die typisch erasmianische Klage darüber, dass die einfachen Christen durch sinnlose Zeremonien und verblödete Geistliche vom rechten Weg abgebracht würden.²¹ Die Lutherrezeption des Rhenanus ist zunächst durch die für ihn nahelegende Einordnung von Luthers Ablasskritik in den erasmianischen Kontext des Economion moriae als humanistischer Angriff auf den durch den Ablasshandel geförderten Aberglauben und sittlichen Verfall charakterisiert. Christoph Scheurl, Briefbuch, hg.v. F. F. von Soden und J. K. F. Knaake, Bd. 1, Potsdam, 1867– 72, Nr. 156 – 58, 40 – 42; Nr. 160, 42– 43 (8. Januar 1518). Briefwechsel des Beatus Rhenanus, hg.v. A. Horawitz und K. Hartfelder, Leipzig, 1886, Nr. 75, Bucer an Rhenanus, 1. Mai 1518, 106 – 15, hier: 107. Briefwechsel des Beatus Rhenanus, Nr. 81, an Zwingli, 6. Dezember 1518, 123 – 24, hier: 123.
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Die späten 1510er Jahre waren geprägt von der Philosophia Christiana des Erasmus.²² In diesem Konzept, welches Erasmus zum Zeitpunkt von Luthers Auftreten zu weiterer Bekanntheit brachte, findet der Geist des christlichen Humanismus seinen besten Ausdruck: es wendet sich einerseits gegen jede Art von Antiintellektualismus oder – im religiösen Bereich – reinen Fideismus (daher philosophia) und betont auf der anderen Seite, dass christliche Philosophie dezidiert christlich (christiana) sein müsse, letzteres eine implizite Kritik an der Scholastik, deren Vertreter als fälschlich so bezeichnete christliche Philosophen Aristoteles der Bibel vorzögen.²³ Die philosophia christiana zeichnet sich, so Erasmus in seiner zu den Vorarbeiten des Novum Instrumentum gehörenden Paraclesis, durch ihre Verwurzelung in der Kenntnis der Bibel, insbesondere des Neuen Testamentes, als der schriftlichen Quelle des christlichen Glaubens aus. Mit der philosophia christiana mag sich das im gleichen Zeitraum beliebte Konzept der respublica christiana als christliches Gemeinwesen verbinden: Beide Vorstellungen eint ein universalistischer Ansatz, der sich charakteristisch von der im frühen 16. Jahrhundert in Europa verbreiteten zunehmenden Betonung nationaler Identitäten abhebt. Der Brief des Rhenanus an Zwingli entfaltet im Anschluss an die Erwähnung Luthers eine klassisch erasmianische Version des Christentums: Christus kommt vor allem als Vorbild in den Blick, Rhenanus betont die hohe Wichtigkeit von Frieden und Eintracht und spricht sich für eine Aufteilung weltlicher Güter aus, die sich an Platons Politeia orientiert, deren Verfasser er in erasmianischer Manier als einen der „großen Propheten“ apostrophiert. Es liegt nahe, anzunehmen, dass diese Anklänge an die Politeia sich der Tatsache verdanken, dass Rhenanus mit der im März 1518 bei Froben in Basel erschienenen zweiten Auflage der Utopia des Thomas Morus (1478 – 1535) gerade erst einen der anderen großen Texte des christlichen Humanismus erasmianischer Couleur lektoriert hatte. Dieser Text, dessen von Rhenanus betreute zweite Auflage den internationalen Charakter des christlichen Humanismus in besonderer Weise manifestierte, mag den Hintergrund für die Vision bilden, die Rhenanus Zwingli entfaltet und die er im Preis derer zusammenfasst, welche „die reinste Philosophie Christi [predigen], geschöpft aus den Quellen selbst, und nicht durch scotistische oder gabrielistische Deuteleien verderbt, sondern so ernsthaft und ordentlich, wie es Augustin, Ambrosius, Cyprian und Hieronymus taten“.²⁴ Seinen Anschluss an den christlichen Humanismus des Erasmus sollte Rhenanus in den Folgejahren wiederholt zum Ausdruck bringen: er betonte die Nähe des Platonismus zum Christentum und schrieb etwa Zwingli, dass er die Paraclesis des Erasmus in ihrer Funktion als Vorrede
Vgl. für die philosophia christiana des Erasmus J. K. McConica, Erasmus, Oxford, 1991 und Marcel Bataillon, Érasme et l’Espagne: recherches sur l’histoire spirituelle du 16ème siècle, Paris, 1937, 77– 82 Brendan Bradshaw, „The Christian Humanism of Erasmus“, Journal of Theological Studies 33, 1982, 411– 447. Briefwechsel des Rhenanus, Nr. 81, an Zwingli, 6. Dezember 1518, 123 – 4.
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zu einer Neuausgabe des Ratio Verae Theologiae (1519) „quasi als Einladung zur Philosophie Christi“ ediere.²⁵ Es war in humanistischen Kreisen in den Jahren um 1520 üblich, Luther und Erasmus unter ein Joch zu spannen, wie es etwa Bucers briefliche Bitte um Neuigkeiten über Luther und Erasmus zeigt.²⁶ Im März 1519 glaubte Bernhard Adelmann (1459 – 1523) zu wissen, Erasmus habe einen Brief „voll des Lobes für Martin“ nach Wittenberg gesandt, eine Nachricht, der er ein Lob der von ihm gerade gelesenen Ratio Verae Theologiae beifügte.²⁷ Noch ein Jahr später zeigte sich Adelmann überzeugt, gleichzeitig Anhänger des Erasmus und Anhänger Luthers sein zu können.²⁸ Und auch der bekannte humanistische Rechtsgelehrte Ulrich Zasius (1461– 1536) hatte zu Anfang Erasmus und Luther als Einheit gesehen, wenn er sie als die besten Ausleger des Apostels Paulus seit über 600 Jahren lobte – wofür Luthers Galaterkommentar von 1519 als Inspirationsquelle nicht unplausibel ist –, und pries Erasmus als Vorläufer einer „besseren Philosophie“.²⁹ Ebenso konnte Zwingli innerhalb eines Satzes sowohl berichten, dass Luther die Zustimmung aller Intellektuellen in Zürich gewonnen habe, als auch die Ratio Verae Theologiae des Erasmus, das von ihm bis dato zur Kenntnis genommene Buch, loben.³⁰ Mitte 1519 erreichte die Begeisterung des Rhenanus für Luther ihren Höhepunkt: er fungierte angesichts seiner Stellung auf dem Basler Buchmarkt beinahe als Agent des Wittenbergers, über den er seinen großen Freundeskreis mit Neuigkeiten, Auszügen aus Neuerscheinungen und Nachdrucken auf dem Laufenden hielt. Das Zentrum seines intellektuellen Kosmos bildete indes nach wie vor Erasmus, den er gegen Ende des Jahres als die Spitze eines Triumvirats beschrieb, dem außerdem noch Luther und Melanchthon als Anführer im Kampf um die Erneuerung der respublica christiana angehörten. Der aufstrebende Gelehrte Melanchthon (1497– 1560) dürfte seinen Platz in dieser Reihe dem Basler korrigierten Nachdruck seiner Anfang des Jahres zuerst in Wittenberg erschienenen Rhetorik verdanken, in deren Widmungsrede sich ein ähnliches Triumvirat der wahrhaft gelehrten, von der Rotte der Sophisten beneideten Männer Erasmus, Reuchlin und Luther
Briefwechsel des Rhenanus, Nr. 86, an Jean Grolier, 12. Januar 1519 (= Widmung von: Maximi Tyrii Philosophi Platonici Sermones, Basel, 1519), 133 – 35, hier: 134; Nr. 88, an Zwingli, 13. Februar 1519, 136. Die Veröffentlichung der Paraclesis (Basel: Froben, 1520. USTC 689844) erfolgte gesondert von der des Ratio seu methodus (Basel: Froben, 1520. USTC 689843). Briefwechsel des Rhenanus, Nr. 95, von Bucer, 10. März 1519, 142– 23, hier: 143. Adelmann an Pirckheimer, 8. März 1519, Willibald Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 4, München, 1997, Nr. 592, 31– 32. Adelmann an Pirckheimer, Augsburg, 11. Juni 1520, Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 4, Nr. 697, 258. Briefwechsel des Rhenanus, Nr. 168, von Zasius, 5. Juni 1520, 229 – 31, hier: 230, ursprünglich veröffentlicht in: Epistolae aliquot eruditorum virorum, Basel: Froben, 1520 gegen Edward Lee. Zasius irrt freilich, da Erasmus sein Bemühen ingesamt als philosophia kennzeichnete, während Luther zwischen theologia und philosophia scharf trennte. Briefwechsel des Rhenanus, Nr. 90, von Zwingli, 22. Februar 1519, 137– 38, hier: 138: „Caeterum Luther doctis omnibus Tyguri probatur et Erasmi Compendium, hoc vero mihi, ita ut non meminerim tam parvo libello tantam alicubi frugem invenisse.“
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findet.³¹ Der aus der Gegend von Straßburg stammende Kartäuser Otto Brunfels (1488 – 1534), ein anderer Korrespondent des Rhenanus, weitete das Triumvirat aus, indem er den von Seiten der Humanisten üblicherweise zur Charakterisierung der scholastischen Gegner verwendeten Begriff der „Sophisten“ scharf auf alle anwandte, „die Erasmus, Melanchthon, Dorp, Luther und Reuchlin verachten“.³² Martin Dorp (1485 – 1525) fand seinen Platz in dieser Reihe wohl deshalb, weil er durch eine Verteidigung der Sache der bonae literae – sprich: des Humanismus – erst jüngst öffentlich deutlich gemacht hatte, dass er seine kritischen Position, die er gegenüber dem Economion moriae des Erasmus 1515 eingenommen hatte, aufgegeben hatte. Kurz darauf hatte Bucer sich bei Rhenanus für die Zusendung von Dorps entsprechender Rede sowie eines Exemplars von Luthers als erklärt erasmianisch wahrgenommenem Galaterkommentar bedankt und seinerseits mitgeteilt, dass es bezüglich des ReuchlinStreits keine Neuigkeiten gebe.³³ Der Zirkel um Rhenanus betrachtete Luthers Aktivitäten als einen Teil des vielfältigen humanistischen Reformdiskurses. Dieser Situierung Luthers im humanistischen Kontext sollte eine lange Nachwirkung beschieden sein: mehr als eine Generation später konnte ein Prediger in England seinen Zuhörern feierlich mitteilen, dass alle wichtigen Gelehrten des 16. Jahrhundert „zu uns“ gehörten – sprich: Protestanten und keine „Papisten“ seien: I tell them the great … scholars of all Christendom are ours, and on our side. Pico [della] Mirandola of a miraculous wit and abundant learning, was ours; Erasmus, the worship of the world, and Melanchthon the Phoenix of Germany, John Reuchlin, the Hebrew father, and William Budé, the Greek father, were ours.³⁴
Dass vier der fünf Genannten im Frieden mit der römischen Kirche starben, tat seiner Überzeugung keinen Abbruch. Die Zusammenschau der philosophia christiana mit Luthers letztlich scharf antiphilosophischer Botschaft ist ein wiederkehrendes Charakteristikum dieser frühen Jahre. In seiner Eröffnungsrede anlässlich der Leipziger Disputation markierte der Inhaber der Griechischlektur an der Universität Leipzig, Petrus Mosellanus (1493 – 1524) seinen Standpunkt deutlich, indem er mehrmals auf die „Philosophie Christi“ rekurrierte und die Disputanten mahnte, sich nicht in aristotelischen Spitzfindigkeiten zu verlieren.³⁵ Seine etwa ein halbes Jahr später entstandenen Charakterisierungen der Teilnehmer der Disputation beschreiben Johannes Eck (1486 – 1543) als
Philip Melanchthon, De rhetorica libri tres, Basel: Froben, 1519, 4. Die Widmung an Bernard Maur datiert auf Januar 1519. Das Colophon der Froben-Ausgabe datiert auf Mai 1519. Briefwechsel des Rhenanus, Nr. 158, von Brunfels, 18. März 1520, 213 – 14, hier: 214. Briefwechsel des Rhenanus, Nr. 160, von Bucer, 19. März 1520, 216 – 17, hier: 217. Thomas Drant, Two Sermons, London, n.d. [ca. 1570]. STC 7171, sig. D.ii.r-v (modernisierte Rechtschreibung). Aufgrund seines akademischen Werdegangs (MA in Cambridge, dort zeitweilig Fellow im St John’s College) ist Drant durchaus als angesehener Gelehrter zu bezeichnen. Petrus Mosellanus, De ratione disputandi, Leipzig: Lotther, 1519, USTC 631252, B1r-v, B2v sowie B3r gegen scholastische Sophisterei; A4r und B3v für ‚Christi philosophia‘.
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hochgewachsene und wohlgenährte Gestalt, einem Schlachter ähnlich, der auf Mosellanus den Eindruck eines Prahlers und Rüpels erweckte, während Luther, der als Außenseiter nach Leipzig gekommen war, als angenehm im Umgang dargestellt wird, wenngleich Mosellanus ihn als für einen Theologen unangenehm polemisch und in Urteil und Beweisführung verbesserungsfähig einschätzte. Dennoch schien Luther Mosellanus durch die Suche nach der Wahrheit motiviert, während Eck nach Ruhm suche.³⁶ Sein erasmianisches Koordinatensystem prädisponierte Mosellanus für Luther, auch wenn er bis zu seinem Tod 1524 in Leipzig blieb und sich den religiösen Vorstellungen seines Dienstherrn, des Herzogs Georg von Sachsen, anpasste, der seit der Leipziger Disputation ein entschiedener Gegner Luthers war.
Humanistische Neubewertung Luthers Im Gefolge der Leipziger Disputation begannen etliche Humanisten, an Luther zu zweifeln. Der langjährige Sekretär und Ratgeber Herzog Georgs von Sachsen, Hieronymus Emser (1477– 1527), sollte sich zu einem der erbittertsten Widersacher Luthers entwickeln. Dank Luthers Verachtung für ihn erscheint er in den meisten Reformationsdarstellungen – wenn überhaupt – lediglich als Witzfigur, als „Bock Emser“, und somit unter der Bezeichnung, mit der Luther ihn dafür verspottete, dass er die Deckblätter seiner Veröffentlichungen mit seinem Wappen, das einen Ziegenkopf enthält, kennzeichnete. Doch obwohl ihn so eine Aura von Obskurantismus und Kleingeistigkeit umgibt, handelt es sich bei Emser um einen ernstzunehmenden Humanisten der zweiten Reihe, dessen Vorlesungen über Reuchlins lateinische Komödie Sergius Luther möglicherweise selbst 1504 in Erfurt gehört hatte. Der des Lateinischen und Griechischen kundige Emser hatte mit seinen Opuscula (1516) für Lateinschüler ein klassisches Beispiel humanistischer Alltagsdidaktik publiziert und konnte 1515 eine durch lateinische Verse und eine blumige Widmung verzierte Edition des Enchiridion militis christiani des Erasmus veröffentlichen.³⁷ Zahlreiche Nachdrucke beider Schriften sorgten dafür, dass Emser zum Zeitpunkt, als Luther die Bildfläche betrat, bereits einen Namen hatte. Luthers Ablasskritik hatte er wie viele Zeitgenossen zunächst mit einer gewissen Sympathie wahrgenommen. Als Luther am 25. Juli 1518 in
Mosellanus an Julius Pflug, 6. Dezember 1519. Da direkt dem inzwischen verlorenen lateinischen Autographen entnommen, ist die beste Textwiedergabe die bei Johann Schilter, De Libertate Ecclesiarum Germaniae, Jena: Bielck, 1683, 840 – 52. Vgl. 847– 48 zu Luther und 848 – 49 für Eck. Lutherbiographen zitieren für gewöhnlich im Anschluss an Dr. Martin Luthers Sämmtliche Schriften, hg.v. J. G. Walch (23 Bde. in 25), Bd. 15, St Louis, 1880 – 1910, Sp. 1194– 1204, hier: Sp. 1200. Die hier gebotene Übersetzung geht jedoch auf einen minderwertigen Ausgangstext zurück und überspielt die kritischen Töne des Mosellanus, auch in Bezug auf Luther, etwa seine spitze Bemerkung ‚Judicium fortasse & utendi rationem in eo desideres‘. Erasmus, Enchiridion Erasmi Roterodami Germani de milite Christiano, hg.v. H. Emser, Leipzig, Schumann, 1515. USTC 650287, Titelseite sowie sig. A1v-A2r.
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Dresden predigte, lud Emser ihn daher zum Essen ein. Dass Luther bei dieser Gelegenheit die Fassung verlor und sich mit einem der anderen Gäste über Thomas von Aquin stritt, empfand Emser jedoch als zutiefst peinlich. Seine Befürchtungen, dass Luthers mangelnde Selbstbeherrschung und Mäßigung im Ton einfache Christen in die Irre führen könnte,³⁸ sollten sich durch Luthers Verhalten im Rahmen der Leipziger Disputation im Juni 1519 verschärfen, als Emsers Bitten um Mäßigung ihm wüste Beschimpfungen einbrachten. Wie viele andere Augenzeugen der Disputation zeigte sich Emser zudem entsetzt darüber, dass Luther sich von Eck dazu verleiten ließ, Sympathien für die von Papst und Konzil ein Jahrhundert zuvor als Häretiker verurteilten böhmischen Hussiten zu äußern – eine unvorsichtige Äußerung Luthers, die nicht nur Emser dazu brachte, sich von ihm abzuwenden. Bald nach der Leipziger Disputation begann Emser, zunächst auf Latein und danach zunehmend auf Deutsch gegen Luther zu schreiben. Er sollte einer der produktivsten Widersacher des Wittenbergers werden. Auf der anderen Seite zeigt der Briefwechsel zwischen den beiden Humanisten Hieronymus Artolphus und Ulrich Hugwald (1496 – 1571), dass die erasmianische philosophia christiana auch in eine libertas christiana im Gefolge Luthers umschlagen konnte: Als Artolphus seinen Freund Hugwald um dessen Stellungnahme zu seinem eigenen Eindruck, dass Luthers Kritik an Kirchenrecht, Zeremonien und an der herkömmlichen Sakramentenlehre und –praxis zu scharf sei, bat,³⁹ antwortete ihm Hugwald im September 1520, dass er für sich beschlossen habe, Christus selbst Familie und Freunden vorzuziehen, weswegen er Luther, der lediglich Betrug und Hochstapelei aufdecke, energisch verteidigte: Die Kirche müsse gereinigt und neugeboren werden, in Rom verehre „man“ Götzen. Obgleich Hugwald also die frühreformatorische Sprache über „menschliche Traditionen“ und „christliche Freiheit“ miteinander verbunden hatte, zeigt sein Appell an das mit dem Freund geteilte „Bemühen um die christliche Philosophie“ doch seine intellektuelle Herkunft. Er steht damit pars pro toto für die unter seinen Zeitgenossen weit verbreitete Entwicklung vom christlichen Humanisten erasmianischer Prägung hin zu einem Anhänger Luthers oder der Reformation:⁴⁰ Als Adam Petri in Basel 1521 Luthers Operationes in Psalmos nachdruckte, steuerte Hugwald eine überbordende Widmungsvorrede bei, bedeutungsschwer an die „deutsche Nation“ adressiert. Sein zuvor üblicher Briefbeginn, das antikisierende „salutem“, ersetzt er durch die ab diesem Jahr auch bei Luther und ihm
Zu Emsers Hintergrund und seinen ersten Begegnungen mit Luther vgl. H. Emser, De Disputatione Lipsicensi, quantum ad Boemos obiter deflexa est [1519], hg.v. F. X. Thurnhofer, Corpus Catholicorum 4, Münster in Westfalen, 1921, 9 – 13. Vgl. Hugwald an Artolphus, September 1520, in: Tres eruditae Udalrichi Hugualdi epistolae, ohne Ort und Datum, sig. A2r-A4r. Vgl. zu Hugwald ausführlich: Thomas Kaufmann, Der Anfang der Reformation, Tübingen, 2012, 238 – 59.
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nachfolgend bei vielen Reformatoren der ersten Generation zu findende „evangelische“ Formulierung „pacem et salutem in Christo“. ⁴¹ Als Lees Kritik der Annotationes in Novum Testamentum des Erasmus Anfang 1521 im Druck erschien, stellte sich die Diskussionslage für viele Gelehrte als eine Auseinandersetzung der Humanisten mit Reuchlin, Erasmus und Luther an der Spitze auf der einen mit ihren obskuranten Gegenspielern auf der anderen Seite dar. Der Hintergrund der Kontroversen um den Humanismus und seine Ziele mit den die Jahrzehnte vor dem Auftreten Luthers prägenden größeren und kleineren akademischen Auseinandersetzungen um humanistische Initiativen, bei denen die Grenzen zwischen Humanismus und Scholastik keinesfalls immer a priori festgelegt waren, wie der 1516 und 1517 geführte Streit zwischen Erasmus und Faber Stapulensis über die Übersetzung des Hebräerbriefes durch den Ersteren zeigt,⁴² prägte die Wahrnehmung der Auseinandersetzungen um Luther. 1520 zeigten sich indes schon die ersten Konfliktlinien zwischen Luther und Erasmus und somit zwischen Reformation und Humanismus, was die beiden Protagonisten selbst als erste wahrnahmen. Luther hatte schon vor seinem öffentlichen Auftreten Unbehagen über den Bibelzugang des Erasmus, dessen in der Erstausgabe des Novum Instrumentum erkennbare Bevorzugung der Autorität des Hieronymus vor der Augustins in Luthers Augen von ungutem Einfluss auf die Hermeneutik des Humanistenfürsten war, weil Erasmus so die paulinische Erbsündenlehre nicht in ihrer Tiefe erfasst habe. Als er seine Bedenken Anfang 1518 Georg Spalatin (1484 – 1545) mitteilte, bat er ihn jedoch, sie für sich zu behalten, und als 1519 die zweite Auflage des Novum Instrumentum erschien, wäre offene Kritik am großen Humanisten strategisch unklug gewesen.⁴³ Vielmehr war Luther, wie dargestellt, in diesem Zeitraum daran gelegen, auf möglichst große Gemeinsamkeiten zwischen sich und Erasmus zu weisen. Der diskursive intellektuelle Ansatz des Erasmus prädisponierte ihn nicht für die Ansichten Luthers, auch wenn er ihm eine differenzierte Wahrnehmung derselben nahelegte. Freilich fühlte sich der zeitlebens um Mäßigung bemühte Humanistenfürst durch die von ihm als aggressiv und extrem empfundene Rhetorik Luthers schon früh abgestoßen, was ihm auch den Ansatz Luthers zweifelhaft machte und ihn von einer Verbindung mit dem Wittenberger Nachteile für sein Ansehen und seine eigenen Interessen befürchten ließ. Wie er im Verlauf der Auseinandersetzungen über den freien Willen betonen würde, stellte sich ihm Luthers assertorisch-argumentativer, dogmatisch-unterscheidender Stil, dem es eher um Überwindung eines Andersdenkenden als um den Konsens mit ihm zu gehen schien, schon zu einem relativ frühen Zeitpunkt
Luther, Operationes F. Martini Lutheri in Psalmos, Basel: Petri, 1521, sig. a2r-a4v. Vgl. hierzu Erasmus, Apologia Erasmi Roterodami ad eximium virum Iacobum Fabrum, Löwen: Martens, [1517]. Luther an Spalatin, 16. Oktober 1516 sowie 18. Januar 1518, WA.B 1,70 – 71 (Nr. 27), und 133 – 34 (Nr. 57), ferner seinen Brief an Johannes Lang vom 1. März 1517,90 (Nr. 35).
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als eher der Scholastik als dem Humanismus verwandt dar.⁴⁴ Mit Lucien Febvres in den 1920er Jahren erschienener und zu Unrecht wenig beachteter Studie Martin Luther: a destiny liegt eine hervorragende Analyse der schwierigen Beziehung zwischen Luther und Erasmus vor, daher erübrigt sich eine weitere Vertiefung dieser Frage.⁴⁵
Spaltungen im Humanismus über Luther Auch wenn Erasmus früh misstrauisch gegen Luther gewesen sein mag, erkannten andere Humanisten wie Aleander, Cochläus, Emser und Morus deutlich vor ihm die schlechthinnige Unvereinbarkeit von Luthers Ansätzen mit der Lehre der spätmittelalterlichen Kirche: Hatte Luther Recht, dann war ihm auch darin zu folgen, dass die römische Kirche Babylon und der Papst der Antichrist sei – war andererseits die kirchliche Hierarchie im Recht, so handelte es sich bei Luther eindeutig um einen Ketzer, der im Begriff stand, auf dem Boden seiner spezifischen und sperrigen Auslegung des Neuen Testaments eine neue Religion zu errichten. Während dies Luther von Anfang an bewusst war und ihm viele in der Erkenntnis, dass entweder die eine oder die andere Seite im Recht sei, schnell folgten, weigerte sich Erasmus lange, diese Folgerung zu ziehen, wobei sein positives Menschenbild eine Rolle gespielt haben mag. Als er sich endlich äußerte, hatte sein langes Zögern seine Autorität bereits entscheidend beschädigt: Während eine klare Stellungnahme des Humanistenfürsten noch 1521 zu einer eindeutigen intellektuellen Diskreditierung Luthers geführt haben könnte, war Erasmus 1524 in keiner vergleichbaren Position mehr. Die Veröffentlichung der drei reformatorischen Hauptschriften im Jahre 1520 führte immer mehr Humanisten dazu, ihre ursprüngliche Unterstützung Luthers zu überdenken. Johannes Cochläus (1479 – 1552), der 1516 Ulrich von Hutten (1488 – 1523) zu dessen Studien nach Bologna begleitet hatte und dessen antikisierender Name für seine Anerkennung in humanistischen Kreisen bürgt, gehörte zunächst zu den zahlreichen Humanisten, die sich gegen eine vorschnelle Verurteilung Luthers aussprachen und in seiner Kritik an Missständen ein gewisses Recht erblickten. Es ist aufschlussreich, seine Lutherrezeption mit der Albrecht Dürers (1471– 1528) und Willibald Pirckheimers (1470 – 1530) zu vergleichen, mit denen er bei der Veröffentlichung der Passio Christi (Nürnberg 1511), einem Paradebeispiel spätmittelalterlicher Passionsfrömmigkeit, in bescheidenem Rahmen zusammengearbeitet hatte. Dürer, ein früher Anhänger Luthers, dessen Werke im Verlauf der 1520er Jahre eine kontinuierliche
siehe Erasmus, Controversies: De Libero Arbitrio ΔΙΑΤΡΙΒΗ sive Collatio; Hyperaspistes I, hg.v. C. Trinkaus, Collected Works of Erasmus 76, Toronto, 1999. Auf Luthers dogmatistische Art spielt Erasmus mehrfach an in De Libero Arbitrio (vgl. 7, 19 – 20 sowie 85); deutlicher im Hyperaspistes I (etwa 128, 183, 193), wo sich auch sein Verweis auf sophistische Methoden bei Luther mit dem Ziel, den Gesprächspartner zu überwältigen, findet (etwa 120, 123, 134), ebenso wie Kritik an Luthers Emotionalität (passim, v. a. 295). Lucien Febvre, Martin Luther: a destiny, London, 1930, Kap. 6.
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Parteinahme für die reformatorische Bewegung zeigen, erstellte für dieses Werk Holzschnitte, die in der Regel lateinische Verse humanistischen Stils des Benediktinermönchs Benedictus Chelidonius illustrierten, während Cochläus und Pirckheimer weitere Verse beisteuerten, die den Raum zwischen dem letzten Holzschnitt (Das jüngste Gericht) und dem Colophon füllten. Auch Pirckheimer erblickte in den Auseinandersetzungen um Luther zunächst nur eine weitere in der Reihe der vor 1520 um Erasmus, Reuchlin, Faber Stapulensis und Ulrich von Hutten tobenden humanistischen Kontroversen,⁴⁶ was ihn schon früh in dem Maße für Luther einnahm, dass Eck seinen Namen mit in die von ihm als päpstlichem Legat im Heiligen Römischen Reich zu promulgierende Bannbulle gegen Luther aufnehmen sollte, woraufhin Pirckheimer um Absolution bitten musste, wie er sich überhaupt im Verlauf der 1520er Jahre immer mehr von der sich radikalisierenden und von inneren Auseinandersetzungen geplagten Reformation zurückzog.⁴⁷ Bis in den Sommer 1520 zeigte sich Cochläus ebenfalls offen für Luthers Ansichten, ihn beeindruckte insbesondere Luthers Reaktion auf die Lehrverurteilungen der Universitäten zu Köln und Löwen. Als er Pirckheimer von einer dreitägigen Disputation mit Dominikanern, möglicherweise über Reuchlin, schrieb, versicherte er seinem Korrespondenzpartner, dass er, falls die Sprache auf Luther gekommen wäre, ihn selbstverständlich verteidigt hätte.⁴⁸ Erst Luthers Angriff auf die Siebenzahl der Sakramente in De captivitate Babylonica Ecclesiae Praeludium brachte ihn zum Zweifeln; die verächtliche Weigerung des Wittenbergers, die Frage in einer öffentlichen Disputation zu verhandeln, entfremdete ihn Cochläus vollends und führte dazu, dass dieser mit Eck zu einem der hartnäckigsten und eifrigsten Gegner Luthers wurde. Auch Zasius zog sich zurück. Ende 1520 schrieb Rhenanus an Bonifatius Amerbach (1495 – 1562): Du weißst, wie günstig Zasius Luther bisher gesonnen war. Seit Luther aber vorgeschlagen hat, dass die Priester statt Huren lieber Ehefrauen nehmen sollen, hat auch er seine Meinung geändert.⁴⁹
Zasius entwickelte sich zu einem unerschütterlichen Gegner der reformatorischen Bewegung. Und auch Jakob Wimpfeling, ein weiterer Humanist der ersten Stunde, hatte Luther zunächst wohlwollend als zwar lauten, aber von besten Absichten geleiteten Kritiker kirchlicher Missbräuche und als starke Stimme für das Evangelium wahrgenommen, und sogar die deutschen Bischöfe aufgefordert, sich beim Papst für
Pirckheimer an Erasmus, 30. April 1520, Pirckheimers Briefwechsel 4, Nr. 687, 229 – 40, hier: 233. Zu Pirckheimer vgl. zusammenfassend Jeanne Peiffer, „Willibald Pirckheimer“, in: C. Nativel u. a. (Hg.), Centuriae Latinae II. Cent une figures humanistes de la Renaissance aux Lumières, Travaux d’Humanisme et Renaissance, 484, Genf, 2006, 677– 84. Vgl. 681– 82 zu seinem Verhältnis zur Reformation. Cochläus an Pirckheimer, Frankfurt, 12. Juni 1520: Pirckheimers Briefwechsel 4, Nr. 698, 261. Briefwechsel des Rhenanus, Nr. 181, an Amerbach, 8. November 1520, 250 – 51, hier: 251.
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eine schonende Behandlung Luthers einzusetzen.⁵⁰ Unmittelbar vor Luthers Auftritt in Worms schrieb er jedoch bereits, dass er sich weigere, Luther, von dessen Orden er selbst vor einigen Jahren angegriffen worden sei, zu unterstützen.⁵¹ 1523 sah er in Luther nicht mehr als einen weiteren Wyclifiten, der die Kirche nicht reformieren, sondern spalten wolle.⁵² Entsetzt musste Pirckheimer beobachten, wie sein gelehrter Freundeskreis, um dessen Zusammenhalt er sich bemühte, auseinanderbrach. Als er im Januar 1520 eine Übersetzung von Lukians Orator veröffentlichte, widmete er die Ausgabe Emser. Um den mit der Leipziger Disputation von 1519 aufgebrochenen Riss zwischen Leipzig und Wittenberg zu kitten, pries er sowohl Kurfürst Friedrich den Weisen als auch Herzog Georg als Mäzene der bonae literae und lobte Wittenberg im Besonderen dafür, dass die dortigen Theologen sich um die Entfernung schlechter Philosophie aus guter Theologie bemühten – nur um am Ende des Sommers zu erfahren, dass Luther dieses Vorgehen nicht sehr wohlwollend aufgenommen habe,⁵³ woran seinen Anteil gehabt haben mag, dass Pirckheimer zwar die Wittenberger Theologen im Allgemeinen lobte, eine namentliche Erwähnung Luthers jedoch vorsichtshalber vermied, oder auch, dass Luther die vorherige Widmung der LukianÜbersetzung an Emser, der ihm in Druckschriften entgegentrat, missbilligte. Bereits zu diesem Zeitpunkt stand für Luther fest, dass, wer nicht auf seiner Seite stand, auf die Seite seiner Gegner gehörte. Seine anfänglichen Bedenken gegen Erasmus konnte Luther, nachdem er aufgrund eigener Schriften Bekanntheit und Ansehen erlangt hatte, nunmehr offen bekennen. 1520 begab sich Albert Burer, ein Freund und früherer Angestellter des Rhenanus, voll frühhumanistischer Begeisterung für Luther zum Studium nach Wittenberg. Im Sommer 1521 jedoch musste Burer seinem früheren Dienstherrn schreiben, dass die andernorts als modern angesehene Theologie des Erasmus in Wittenberg zunehmend an Einfluss verliere: Erasmus gelte als Schöntuer, vor allem wohl, so Burer, weil er sich nicht so deutlich wie Luther zu äußern pflege. Insbesondere seine Paulusauslegung, aber auch seine Übersetzung der paulinischen Briefe seien umstritten, über den christlichen Platonismus des Enchiridion militis christiani sage man, dass er Erasmus mehr als Platonist denn als Christ und darüber hinaus als Pelagianer entlarve, so Burer, der freilich dem Erasmianismus des Rhenanus die Treue hielt, wenn er über die Kritiker des Humanistenfürsten schrieb, dass sie ihre Kompetenzen
Jakob Wimpfeling, Briefwechsel, hg.v. O. Herding und D. Mertens, Bd. 2, München, 1990, Nr. 345, Wimpfeling an Christoph von Utenheim (Bischof von Basel), 1. September 1520, 846 – 48. Dieser Brief ist selbst die Widmungsvorrede zu einer Ausgabe eines Schreibens des Erasmus über Luther an den Erzbischof von Mainz. Wimpfeling an Jakob Spiegel, 18. Mai 1521, Briefwechsel 2, Nr. 348, 857– 59, hier: 858. Wimpfeling an Wolfgang Capito, September / Oktober 1524, Briefwechsel 2, Nr. 354, 873 – 74, hier: 874. „Luciani Rhetor a Bilibaldo Pirckaimero in latinum versus“, Hagenau: Anshelm, 1520, sig. A1v-A4r, at A3r-v. Abgedruckt in: Pirckheimers Briefwechsel 4, Nr. 645, 141– 45; Pirckheimer an Heinrich Stromer, September 1520, Pirckheimers Briefwechsel 4, Nr. 708, 286.
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überschritten und insbesondere Augustin im Vergleich zu Origenes und Hieronymus zu viel Gewicht beimäßen.⁵⁴ Mit dieser scharfsinnigen Kritik an Luther bewegte sich Burer auf den Bahnen des Erasmus selbst, der seine Vorliebe für Hieronymus und Origenes gegenüber den trockenen und spalterischen Gewissheiten des Bischofs von Hippo offen bekannte. Ein Spiegelbild üblicher humanistischer Reaktionen auf Luther kommt mit der impulsiven Gestalt des Reichsritters Ulrich von Hutten in den Blick, der als Heranwachsender erfolgreich gegen die ursprünglich für ihn vorgesehene monastische Karriere aufbegehrte und die charakteristischen Eigenschaften seines Standes für eine spektakuläre Karriere als Autor insbesondere von Satiren einsetzte. 1517 hatte er sich Erasmus als seinem Lehrmeister verschrieben und ihm in schwärmerischen Briefen seiner Verehrung und Dienstbereitschaft versichert.⁵⁵ Als nach einiger Zeit Luther in den Fokus seiner Aufmerksamkeit rückte, verfolgte er das Ziel, seine beiden Vorbilder im Kampf für Deutschlands Ruhm und Ehre – letzteres ein von Franz von Sickingen, mit dem er seit 1519 bekannt war, übernommener Topos – zu vereinen. Trotz seiner lautstarken Bewunderung für Luther zählte von Hutten weder zu dessen frühsten Anhängern noch zu denjenigen, die Luthers theologisches Anliegen erfasst hatten. Mitte der 1510er Jahre, als er in Diensten des im Übrigen als Mäzen der Humanisten geltenden Erzbischofs von Mainz, Albrecht von Brandenburg (1490 – 1545), stand, der die von Luther kritisierte Ablasskampagne autorisiert hatte, hatte Ulrich den Ablassstreit, den er infolge seines Antiklerikalismus wahrscheinlich als mönchisches Gezänk abgetan hätte, nicht wahrgenommen.⁵⁶ Auch als er im Herbst 1518 zeitgleich zu Luthers Verhör vor Cajetan in Augsburg war, machte er keine Anstalten, den Wittenberger zu treffen. Erst im Sog der Leipziger Disputation erregte Luther seine Aufmerksamkeit und durch zunehmend scharfe antipapalistische Polemik seine Bewunderung. Ulrich interpretierte die Auseinandersetzungen zwischen Luther und seinen Gegnern, die, wie einst im Fall Reuchlins, seine offizielle Verurteilung durch Rom betrieben, im Kontext einer quasi-nationalistischen Selbstbehauptung deutscher Identität, die seit der humanistischen Wiederentdeckung der Germania des Tacitus im 15. Jahrhundert neuen Auftrieb erhalten hatte,⁵⁷ und zu der die Entgegensetzung germanischer Tugendhaftigkeit und welscher Verschlagenheit als fester Bestandteil gehörte. Die Neuausgabe der Germania, einschließlich eines Ulrich Zwingli gewidmeten Kommentars durch Froben, im Jahre 1519 unterstützte den für die Folgejahre charakteristischen Schulterschluss von Antiromanismus und Unterstützung für Lu-
Briefwechsel des Rhenanus, Nr. 206, von Burer, 30. Juni 1521, 280 – 81, hier: 281. Die hier gebotene Auffassung vom Verhältnis zwischen Luther und Erasmus folgt der Darstellung durch Monique Samuel-Scheyder in ihrer hervorragenden Einleitung zu: Ulrich von Hutten, Expostulatio, Turnhout, 2012, 9 – 133. Vgl. 22– 23, 27, 31– 33 für Luthers frühe Beziehung zu Erasmus. Hutten, Expostulatio, hg.v. Samuel-Scheyder, 50. Hutten, Expostulatio, hg.v. Samuel-Scheyder, 57 und 61 für Ulrichs Wende zu Luther 1519 – 20.
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ther.⁵⁸ In einem Brief an Mosellanus vom Herbst 1520, in dem er die Fälle Reuchlins, Erasmus’ und Luthers erörterte, stimmte beispielsweise Pirckheimer im Zuge seiner Kritik an Eck ein Loblied auf den deutschen Antiromanismus an.⁵⁹ Auch Ulrich von Hutten sah es als selbstverständlich an, dass Erasmus als eine weitere deutsche Geistesgröße an der Seite Luthers gegen die Übergriffigkeit und Verderbtheit Roms Partei ergreifen werde. Der nur zögerlich den Fahnen Anderer folgende Humanistenfürst reagierte, indem er Ulrich Thomas Morus als alternatives Vorbild vor Augen stellte.⁶⁰ Hutten, der diesen Fingerzeig nicht verstanden hatte, zeigte sich Ende 1520 enttäuscht, dass Erasmus seine Erwartungen nicht erfüllt hatte. Den Text der päpstlichen Bannandrohungsbulle Exsurge Domine gab er in einer durch scharfe kritische Anmerkungen ergänzten Ausgabe heraus, wobei er aus der verkürzten Darstellung der Theologie Luthers in 41 Sätzen, wie sie die Bulle bot, lediglich das rezipierte, was mit dem Papsttum und dem Ablasshandel in unmittelbarer Beziehung stand,⁶¹ während er die weiterführenden Konsequenzen von Luthers Glaubens- und Sakramentenlehre sowie seiner Lehre vom freien Willen, welche bei vielen anderen Humanisten zum Bruch mit Luther führten, offenbar nicht zur Kenntnis nahm. Ulrichs humanistische Germanitas erblickte in Luther einen Kämpfer gegen Machtmissbrauch und Korruption, und somit eine Verkörperung des Kampfes zwischen Italien und Deutschland – in einem Gespräch mit dem päpstlichen Nuntius Hieronymus Aleander (1480 – 1542) auf der Ebernburg offenbarte sich die Vertrautheit des Ritters mit der Theologie Luthers als nicht sehr weitreichend.⁶² Erasmus seinerseits versuchte in den frühen 1520er Jahren, den religiösen Frieden zu wahren, indem er auf der einen Seite eine eindeutige Verurteilung Luthers vermied
Tacitus, De moribus & populis Germaniae, Basel: Froben, 1519. USTC 682145. Frobens ganz im Stil des deutschschweizerischen Humanismus gehaltene Widmung, 43 – 44, datierend wohl wie das Colophon (98) auf Mai 1519. Vgl. auch Hutten, Expostulatio, hg.v. Samuel-Scheyder, 31– 35. Zum Nationalismus Huttens vgl. ferner Martin Treu, „Hutten, Melanchthon und der nationale Humanismus“, in: M. Beyer und G.Wartenberg (Hg.), Humanismus und Wittenberger Reformation: Festgabe anlässlich des 500. Geburtstages des Praeceptor Germaniae Philipp Melanchthon am 16. Februar 1997, in Zusammenarbeit mit H.-P. Hasse, Leipzig, 1996, 353 – 66, insb. 364– 65. Pirckheimer an Mosellanus, 31. Oktober 1520, Pirckheimers Briefwechsel 4, Nr. 720, 325 – 336, hier: 328 – 30. Erasmus an Hutten, 23. Juli 1519, Opus Epistolarum Des. Erasmi Roterodami, 4, Nr. 999, 12– 23. Vgl. auch Hutten, Expostulatio, hg.v. Samuel-Scheyder, 54. Vgl. U. Hutten (Hg.), Bulla Leonis Decimi, contra errores Martini Lutheri, Straßburg: Schott, 1520. Hutten kommentiert die Vorrede des Papstes ausführlich und bissig (sigs. a2r-b2r), während die einzelnen Verdammungssätze nur oberflächlich behandelt werden (b2v-b4v), und erst die ihnen folgenden Ausführungen des Papstes wieder größere Aufmerksamkeit erhalten. Rhenanus ist das Werk schon im November bekannt, vgl. Briefwechsel des Rhenanus, Nr. 181, an Amerbach, 8. November 1520, 250 – 51, hier: 251. Aleander hatte es im Januar zur Kenntnis genommen, vgl. Aleander an Giulio de Medici (zwei Jahre danach Papst Clement VII), ca. 14 Januar 1521, in: S. Balan (Hg.), Monumenta Reformationis Lutheranae, Regensburg, 1884, 27– 34, hier: 33. Aleander an Giulio de Medici, Worms, 13. April 1521, in: Monumenta Reformationis Lutheranae, 159 – 66, hier: Sp. 159 – 60.
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und auf der anderen Seite ebenfalls eine Unterstützung des Reformators umging, ohne sich auf den von beiden Seiten kommenden Druck, Farbe zu bekennen, einzulassen. Viele Anhänger der reformatorischen Bewegung waren wie Bucer 1518 der Überzeugung, dass Erasmus schlicht nicht den Mut aufbrachte, sich offen zu Luther zu bekennen – weswegen auch Ulrich von Hutten weiterhin Hoffnungen auf eine Übereinkunft hegte, bis der Humanistenfürst 1522 einem persönlichen Gespräch in Basel gewitzt aus dem Wege ging.⁶³ Auf Ulrichs darauf reagierende, Expostulatio überschriebene Philippika vom April 1523 antwortete Erasmus mit den Spongia adversus aspergines Hutteni (Juli 1523), einem betont unterkühlt-höflichen Text mit dem Ziel, sich von der reformatorischen Bewegung möglichst klar zu distanzieren, ohne dabei auf die Linie der „Dunkelmänner“ einzuschwenken, welche nach einer weit verbreiteten Meinung nach wie vor die treibenden Kräfte unter Luthers Gegnern waren. Während von Hutten starb, bevor er seinerseits replizieren konnte, ergriff mit Otto Brunfels ein anderer enttäuschter Erasmianer zum Ärger des Humanistenfürsten die Feder.⁶⁴ Inzwischen jedoch hatte Erasmus mit Rücksicht auf seine altgläubigen Mäzene, zu denen unter anderem König Heinrich VIII. von England und sein Ratgeber Kardinal Wolsey gehörten, nicht mehr länger auf eine eindeutige Positionierung verzichten können, die er mit der Schrift De libero arbitrio diatribe sive collatio im September 1524 vornahm. Die komplexe Beziehung zwischen Erasmus und Ulrich von Hutten untereinander sowie ihre jeweilige nicht minder komplexe Beziehung zu Luther entzieht sich indes vereinfachenden Erklärungsmustern. Die Beobachtung, dass der christliche Humanismus des frühen 16. Jahrhunderts für Luthers frühe Erfolge entscheidend war, schmälert dessen eigene Verdienste in keiner Weise, weist jedoch darauf hin, dass seine Anstöße in einem anderen Kontext auf taube Ohren gestoßen wären. Auch John Wyclif (ca. 1320 – 1384) hatte zeitgenössische kirchliche Praxis einer scharfen Kritik unterzogen und ihre auf einer eigenartigen Amalgamierung von Platonismus und Aristotelismus beruhende intellektuelle philosophische Basis als Konstrukt entlarvt. Seine polemisch-antiklerikalen volkssprachlichen Schriften hätten um 1400 erheblich größeren Erfolg in England erzielen können. Die weniger polemische Adaption seiner Gedanken durch Jan Hus (ca. 1369 – 1415) vermochte es ebenso nicht, außerhalb Böhmens Fuß zu fassen. Während also weder Wyclif noch Hus eine mit Luther vergleichbare Rezeption erfuhren, hatte der christliche Humanismus um 1520 in Verbindung mit der neu erfundenen Technik des Drucks durch bewegliche Lettern Netzwerke und Mentalitäten auf eine Weise geprägt, die Luthers Gedankengut ein umfangreicheres, einflussreicheres und offeneres Publikum verschafften, als es den sogenannten „Vorreformatoren“ vergönnt war. Luther selbst war vom Humanismus nicht unbeeinflusst und befürwortete nicht zuletzt deshalb die intensive Beschäftigung mit den biblischen Sprachen. Zu Recht jedoch bestritten Luthers Kritiker eine intrinsische Verbindung der von ihm angestoßene
Hutten, Expostulatio, hg.v. Samuel-Scheyder, 83 – 86, 96 – 99. Hutten, Expostulatio, hg.v. Samuel-Scheyder, 113 – 14, 128 – 29.
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Bewegung mit dem Humanismus, und seine Anhänger gingen zu Unrecht von einer solchen Verbindung aus. Dieses Missverständnis freilich hatte Luther selbst zu Beginn seines öffentlichen Wirkens gefördert, weil es ihm entscheidend dabei half, die überkommene mittelalterliche Kirche aufzubrechen, bevor sie ihn brechen konnte.
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Luthers Bibel Hermeneutik, biblische Theologie und Übersetzung
1 Einleitung Der Gedanke einer „Wiederentdeckung“ der Bibel durch Martin Luther und die protestantische Reformation bildet bis heute einen der zentralen Aspekte der allgemeinen Vorstellung von der Kirchengeschichte des 16. Jahrhunderts.¹ In der Tat verstand Luther selbst seine Arbeit in dieser Weise,² aber eine derartige Perspektive gibt die historische Realität nur dann wieder, wenn präzisiert wird, was genau „wiederentdeckt“ wurde. Am Vorabend der Reformation des 16. Jahrhunderts war die Bibel in der westlichen Kultur omnipräsent. In den Kirchen, aber auch außerhalb von ihnen wurden die Inhalte der Heiligen Schrift mittels vielfältiger kultischer, liturgischer, literarischer und existenzieller Darstellungen vergegenwärtigt.³ Sogar die ersten gedruckten Bücher aus den Jahren 1454– 1456 waren Bibeln (zunächst die lateinische Vulgata und nur kurze Zeit später auch eine Version in deutscher Sprache); die Tatsache, dass davon beachtliche Auflagen produziert wurden, und noch dazu die kontinuierlichen Nachdrucke, zeigen den Erfolg der Bibel auf dem Markt.⁴ Die Autorität der Schrift wurde auch von der wissenschaftlichen Theologie der Zeit anerkannt, das heißt von der Scholastik, trotz gewisser Differenzierungen, die das Verhältnis des biblischen Textes zu seiner normativen Interpretation durch die Kirche betrafen. Um das Jahr 1500 wurde eine erneuerte Aufmerksamkeit für den Wortlaut der
Übersetzung: Irene Askani. Siehe zum Beispiel einen Beitrag aus dem Jahr 2013 von Irmgard Schwaetzer, Präsidentin der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), (http://www.luther2017.de/en/news/praeses-schwaetzer-wir-feiern-2017-die-wiederentdeckung-von-bibel-und-wort, 09/10/2016) und die Internetseite der italienischen Enzyklopädie Riforma protestante (http://www.treccani.it/enciclopedia/riforma-protestante/, 09/10/2016): „riscoperta del Vangelo“. Vgl. eine Tischrede des Jahres 1538: WA 3,598 – 599 (Nr. 3767): „ante 30 annos nullus legit bibliam, eratque omnibus incognita“; kurz darauf definiert Luther die Jahre ab 1517 bis zu seiner Verurteilung als „initio Evangelii“. Vgl. G. Ebeling, „Wiederentdeckung der Bibel in der Reformation – Verlust der Bibel heute?“, in: E. Jüngel (Hg.), Das Neue Testament heute: Zur Frage der Revidierbarkeit von Luthers Übersetzung, Tübingen, 1981, 1– 2. Vgl. U. Neddermeyer, Von der Handschrift zum gedruckten Buch. Schriftlichkeit und Leseinteresse im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Quantitative und qualitative Aspekte, Bd. 1, Wiesbaden, 1998, 454, 461. https://doi.org/9783110498745-014
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Bibel, die seit dem 14. Jahrhundert im Gange war, zudem durch die Entwicklung der humanistischen Philologie bestärkt.⁵ Zugleich wurde die Bibel aber auch als Risikofaktor betrachtet. Von dem Theologen Bartholomäus von Usingen, bei dem er an der Universität Erfurt studiert hatte (1507– 1511), gibt Luther die folgende Bemerkung wieder: „die Bibel gibt Anlass zu allen Arten von Aufruhr.“⁶ Diese Bemerkung weist auf die Nähe der Heimat Luthers zu Böhmen hin: John Wyclif hatte die „Suffizienz“ der Bibel für die kirchliche Ordnung verteidigt, indem er das gesamte kanonische Recht⁷ auf die Ebene einer menschengemachten Rechtssetzung zurückstufte und es auf diese Weise relativierte. Die Übernahme dieses Gedankens durch Jan Hus und seine Nachfolger hatte die „hussitische Revolution“, das heißt eine Umwälzung der kirchlichen und sozialen Ordnung, inspiriert. Auf die antihussitischen Feldzüge reagierend waren die revolutionären Truppen in die benachbarten Gebiete eingefallen, auch in Sachsen. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts hatte sich in Böhmen sogar eine neue religiöse Gemeinschaft gebildet, die sich vollkommen von der hierarchischen Institution losgelöst und eine Rückkehr zum ursprünglichen apostolischen Leben angestrebt hatte: die Böhmische Brüderunität.⁸ Die Zensuren und Verbreitungsverbote von Bibelausgaben in Volkssprache⁹ lassen sich angesichts der Befürchtung erklären, dass die Bibel gegen die bestehende Ordnung angewendet werden könnte. Luther erwarb seine theologische Bildung in einer Zeit und in einem geographischen Raum, in dem die Hingabe für die Bibel und eine intensive, auf das Heil ausgerichtete Frömmigkeit sich mit einem Gefühl der Gefahr verbanden. Dieser Beitrag ist in zwei Teile aufgeteilt: zunächst soll die inhaltliche Bedeutung beschrieben werden, die die Bibel für Luther von den ersten Jahren seines Unterrichtens in Wittenberg an besaß; daraufhin soll ein Gesamtbild seiner Arbeit als Übersetzer und Herausgeber von Bibelausgaben gegeben werden.
Vgl. H.A. Oberman, Spätscholastik und Reformation, Bd. 1, Der Herbst der mittelalterlichen Theologie, Zürich, 1965, 335 – 382; L. Smith, „Nicolaus of Lyra and Old Testament Interpretation“, in: M. Sæbø (Hg.), Hebrew Bible. Old Testament. The History of Its Interpretation, Bd. 2, From the Renaissance to the Enlightenment, Göttingen, 2008, 49 – 63; A. Vanderjagt, The Early Humanist Concern for the Hebraica veritas, hier: 154– 189; E. Rummel, The Textual and Hermeneutic Work of Desiderius Erasmus of Rotterdam, hier: 215 – 230. WA.TR 2,6 (Nr. 1240): „omnium seditionum occasio“. Vgl. T. Shogimen, „Wyclif’s Ecclesiastical and Political Thought“, in: I. C. Levy (Hg.), A Companion to John Wyclif. Late Medieval Theologian, Leiden/Boston, 2006, 211– 212. Vgl. F. Šmahel, Husitská revoluce, 4 Bde., Prag, 1993 – 1996. Vgl. H. Wansbrough, „History and Impact of English Bible Translations“, in: Hebrew Bible. Old Testament, Bd. 2, 536 – 552, hier: 541 (Verbot des Jahres 1407 in England); M. Seckler, „Bibelverbote“, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 1, Tübingen, 1998, 1515 – 1516.
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2 Eine Frage der Wahrheit: die Bedeutung der Bibel für Luther In seinen Tischreden wiederholt Luther einige Male ein autobiographisches Schema, demzufolge er seine erste Begegnung mit der Bibel in der Bibliothek während seines Studiums in Erfurt hatte. Für ihn hatte diese Erfahrung eine doppelte Wirkung: auf der einen Seite entdeckte er die Erzählung Annas, der Mutter des Propheten Samuel (1 Sam 1); auf der anderen Seite stellte er fest, dass die Bibel nicht mit dem Lektionar der sonntäglichen Messe identisch ist.¹⁰ Es handelt sich um eine Entdeckung, die mit der immer weiteren Verbreitung von Bibeln infolge des Buchdrucks verbunden ist, einer Technik, die Luther selbst als eschatologisch gedeutete Gabe Gottes betrachtete.¹¹ Folgt man dem autobiographischen Schema der Tischreden, hatte Luther erst nach seinem Eintritt in das Kloster der Augustinereremiten die Möglichkeit, die ganze Bibel zu studieren, wo er bald ein „guter localis biblicus“ wurde, das heißt eine Person, die in der Lage war, intuitiv einen Bibelvers auf der richtigen Seite zu finden. Es scheint aber nicht, dass sein Eintritt ins Kloster primär durch den Wunsch, die Schrift zu lesen, motiviert war. Auch wenn Luther berichtet, sich in diesem Moment von fast allen Büchern in seinem Besitz befreit und sich der Schrift zugewandt zu haben, stellt er zwischen dem Eintritt ins Kloster und dem Bibelstudium eine chronologische und nicht eine motivationale Verbindung her.¹²
2.1 Die Revision der theologischen Begriffe in den Vorlesungen von 1513 – 1516 In seinen in den Jahren 1513/16 in Wittenberg gehaltenen Vorlesungen über die einzelnen Bücher der Bibel, insbesondere über die Psalmen und den Römerbrief, entwickelt Luther die Grundbegriffe seiner Theologie. Er steht dabei innerhalb einer Schule, die an die Observanz des Ordens der Augustinereremiten gebunden war und durch seinen Vorgänger und Förderer Johann von Staupitz geprägt wurde. Neben der
WA.TR 1,44– 45 (Nr. 116); WA.TR 3,598 – 599 (Nr. 3767) (wo der „technische“ Aspekt hervorgehoben ist); WA.TR 5,75 – 76 (Nr. 5346). WA.TR 1,523 (Nr. 1038). Nr. 116 der Tischreden, WA.TR 5. Bezug nehmend auf die Rede Nr. 5346, erklärt Th. Kaufmann, „Bibeltheologie: Vorreformatorische Laienbibel und reformatorisches Evangelium“, in: ders., Der Anfang der Reformation. Studien zur Kontextualität der Theologie, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung, Tübingen, 2012, 87, Luther habe aus Verzweiflung über sich selbst („desperans de me ipso“), wie es direkt vor der in Betracht gezogenen Stelle heißt, eine Bibel erbeten. Syntaktisch muss dieser Ausdruck aber nicht auf die Frage nach der Bibel bezogen werden, sondern auf die Aufgabe seines ganzen Besitzes mit seinem Eintritt ins Kloster.
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reformerisch motivierten Rezeption der deutschen Mystik¹³ orientierte sich diese Schule am antipelagianischen Augustin, insbesondere an seinem Werk De spiritu et littera, das die Dialektik hervorhebt zwischen dem Buchstaben der Bibel und ihrer inspirierten und erleuchteten Interpretation, die nicht durch menschliches Bemühen realisierbar ist, zum Glauben an Christus und in der Folge zur Rechtfertigung führt (vgl. Röm 3,28).¹⁴ In der philosophischen Fakultät der Universität Wittenberg war neben den zwei klassischen „viae“ – der via antiqua (thomistisch) und der via moderna (ockhamistisch) – als dritte Alternative eine via Gregorii vorgesehen, die sich auf den Antipelagianer Gregor von Rimini aus dem 13. Jahrhundert zurückbezog. Dieser hatte die zu seiner Zeit weit verbreitete Maxime abgelehnt, nach der Gott seine Gnade demjenigen nicht verweigert, der tut, „was er kann“ (quod in se est).¹⁵ Genau über diese Formel eröffnete Staupitz im Jahre 1516/17 eine Debatte mit seinem Kollegen Johannes Eck an der bayrischen Universität Ingolstadt, der später der bedeutendste antilutherische Polemiker der ersten Generation werden sollte. Staupitz stellte dabei seine Position im Sinne einer biblischen Theologie dar, die auf jegliche ausdrückliche Bezugnahme auf die Theologen des Mittelalters verzichtete.¹⁶ In dieser Hinsicht erwies sich die wittenbergische Theologie auf der Höhe ihrer Zeit, wenn man bedenkt, dass auch Erasmus von Rotterdam die den apostolischen Schriften entnommene „Philosophie Christi“ der scholastischen Theologie gegenüberstellte.¹⁷ Innerhalb der wittenbergischen Schule zeichnete sich die Theologie Luthers durch ihren innovativen philologischen Zugriff aus. Bereits in seinen Vorlesungen über den Psalter in den Jahren 1513 – 1515 machte er vom damals neu erschienenen Psalterium quincuplex des französischen Humanisten Jacques Lefèvre d’Étaples Gebrauch und übernahm von ihm das Konzept eines einzigen Literalsinns der Bibel, der identisch ist mit der Intention ihres wahren Autors, das heißt des Heiligen Geists. Es handelt sich daher um einen pneumatischen Literalsinn, der von einem rein fleischlichen zu unterscheiden ist. Mit Formulierungen, die auf Augustins De spiritu et
Vgl. L. Vogel, „Realistische und illusorische Theologie bei Martin Luther (bis 1518)“, in: „Lateranum“ 83, 1, 2017, 42– 46. Vgl. M. Wriedt, Gnade und Erwählung. Eine Untersuchung zu Johann von Staupitz und Martin Luther, Mainz, 1991; in einem Brief im Mai des Jahres 1517, der an seinen Kollegen Johannes Lang adressiert war, schreibt Luther von der „Theologia nostra et S. Augustinus“: WA.B 1,99 (Nr. 41). Vgl. U. Köpf, „Martin Luthers theologischer Lehrstuhl“, in: I. Dingel und G. Wartenberg (Hg.), Die Theologische Fakultät Wittenberg 1502 bis 1602. Beiträge zur 500. Wiederkehr des Gründungsjahres der Leucorea, Leipzig, 2002, 71– 86. J. von Staupitz, Libellus de exsecutione aeternae praedestinationis, hg. von L. zu Dohna und R. Wetzel, Berlin/New York, 1979. Vgl. den Brief von Erasmus an Paul Volz, veröffentlicht als Vorwort zum Enchiridion militis christiani in der Ausgabe des Jahres 1518: E. von Rotterdam, Ausgewählte Schriften, hg. von W. Welzig, Bd. 1, Darmstadt, 1968, 8 – 10; laut Luther erkannte Staupitz in seinem Kollegen Konrad Summenhardt aus Tübingen einen Mitstreiter in der Gegenüberstellung einer biblischen zu der scholastischen Theologie: WA.TR 5,99 (Nr. 5374).
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littera zurückgreifen, wird beschrieben, wie derselbe Buchstabe, der an sich „tot“ ist, dort zum Zeugnis des Geistes wird, wo dieser es zulässt,¹⁸ und genau dieses pneumatologische Fundament des Literalsinns rechtfertigt die Berücksichtigung der Philologie im theologischen Diskurs. Das zweite Hilfsmittel, das Luther bereits in der Psalmenvorlesung benutzte, war die lateinische Übersetzung der sieben Bußpsalmen auf der Grundlage des hebräischen Textes, die von Johannes Reuchlin 1512 veröffentlicht worden war und die jene Revision der theologischen Terminologie inspirierte, die entscheidend für Luthers Theologie werden sollte. In der Auslegung von Psalm 32,1 („Wohl dem, dem die Übertretungen vergeben sind, dem die Sünde bedeckt ist“) gibt Luther, Reuchlin folgend, den ersten Teil des Verses mit „fiens levatus crimine“ wieder, was übersetzt so viel bedeutet wie: „wohl dem, der von seiner Straftat gelöst wird“, und den zweiten Teil mit „fiens opertus peccato“, was übersetzt heißt: „der bedeckt wird in Bezug auf die Sünde“. Die Bedeutung dieser Übersetzung für Luthers Theologie wird anhand zweier Aspekte deutlich: Zum einen drückt das Wort „fiens“, das zwei passivische Partizipien des Hebräischen wiedergibt, die „mere passive“ empfangene Seligkeit aus, wie Luther bereits zu diesem Zeitpunkt feststellt; darüber hinaus verweist Luther auf Psalm 51,7, wo sich die beiden von Reuchlin mit „crimen“ und „peccatum“ übersetzten hebräischen Begriffe auf dieselbe Sache beziehen. Damit bestreitet er die traditionelle Lesart des Verses, nach der sich der erste Teil auf die Sünden vor der Taufe bezieht, die vollkommen gelöscht werden, und der zweite Teil auf diejenigen nach der Taufe, für deren Erlass im Anschluss an ihre Vergebung die poena notwendig sei, das heißt die gerechte Bestrafung. Zugleich interpretierte Luther die beiden Teile von Psalm 32,1 jedoch nicht als univok, sondern betonte die Unterscheidung zwischen der „Straftat“, von welcher der Selige freigesprochen ist, und der „Sünde“, die „bedeckt“ wird, ohne wesenhaft vernichtet worden zu sein. Auf diese Weise rechtfertigt der Rekurs auf den hebräischen Text die Behauptung einer Kontinuität der Sünde auch in dem Zustand, der dem Empfang der Vergebung nachfolgt. Im ersten Teil des Psalmzitats evozieren der Hinweis auf die Vergebung und dazu der in der Vulgata verwendete Begriff iniquitas („Ungerechtigkeit“) bereits die Idee einer Gerechtigkeit, die auf dieselbe Person anwendbar ist, die trotz allem Sünder bleibt – auch wenn das Wort „Gerechtigkeit“ nicht explizit im biblischen Text geschrieben steht.¹⁹ Es ist also die Philologie des hebräischen Textes, die Luther die Instrumente an die Hand gab, um ein Gerechtigkeitskonzept zu entwerfen, in dem die Gerechtigkeit dem Glaubenden zugerechnet wird, der „simul iustus et peccator“ ist. Die von Gott zugesprochene Gerechtigkeit und das Verbleiben der Sünde betreffen immer den ganzen Menschen und beschreiben nicht nur Teilaspekte von ihm: Der „selige“ Mensch ist vollkommen freigesprochen und ist zugleich einer, dessen Sünde nur „bedeckt“ ist.²⁰ Das Verhältnis zwischen
WA 55/I,6 – 11. WA 55/II,177. So in der Vorlesung, die Luther über den Römerbrief hielt in den Jahren 1515/1516: WA 56,271.
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Gerechtigkeit und Sünde ist daher nicht ontologisch, sondern perspektivisch: Der Mensch ist gerecht in den Augen Gottes und Sünder in seinen eigenen Augen. Es ist bemerkenswert, dass Luther diesen Gedanken in jenen Jahren als Apologie der Katholizität gegen das entwickelte, was er als die Heuchelei der Böhmischen Brüder auffasste.²¹ In demselben Rahmen hob Luther auch hervor, wie die hebräische Bibel von einem „seltsamen“ und „fremden“ (vgl. Jes 28,21) Werk spricht, mittels dessen Gott sein „eigentliches“ Werk der Erlösung der der Sünde verfallenen Menschheit vollbringt. Auf diesem Wege bekräftigte der Wittenberger Theologe exegetisch den Gedanken der Offenbarung „sub contraria specie“, das heißt einer Heilstat Gottes, die sich nicht in einer greifbaren Demonstration seiner Macht manifestiert, sondern in der „Versuchung“, das heißt in der auferlegten Loslösung von materiellen Gütern oder religiösen Gewissheiten im Leiden und in der Erfahrung der Abwesenheit Gottes – Erfahrungen, die Jesus paradigmatisch am Kreuz erlebt – bis dahin, dass sich der versuchte Gläubige in der Weise selbst als Sünder erkennt, dass er seine eigene Vernichtung als gerechtfertigt annimmt.²² Das Zeugnis der Schrift ist damit einer Religiosität entgegengestellt, die sich – aus Luthers Sicht – illusorisch auf die Erwartung eines Eingriffs der göttlichen Macht in die menschliche Sphäre konzentriert. Ebenso überarbeitete Luther bereits in den Vorlesungen zu den Psalmen und dann in denen zum Römerbrief den Begriff der „Gerechtigkeit Gottes“ (Röm 1,17). Seiner Ansicht nach – und im Ganzen fällt es schwer, ihm hier zu widersprechen – tendierte die scholastische Theologie dazu, den Begriff „Gerechtigkeit“ so zu interpretieren, wie es spontan auch der heutige Leser tun würde, nämlich als Tugend der Unparteilichkeit im Sinne der Nikomachischen Ethik des Aristoteles. Aus dieser Perspektive wäre die „Gerechtigkeit Gottes“ die von ihm im Gericht ausgeübte Tugend, die in einer Dialektik zu seiner „Barmherzigkeit“ stünde. In der Erwartung eines Endgerichts, das sich gemäß dieser Vorstellung der göttlichen „Gerechtigkeit“ vollzieht, hat die Scholastik den soteriologischen Prozess als ein unverdientes Ausgießen (vgl. Röm 5,5) eines tugendhaften Gerechtigkeits-habitus interpretiert – während nach Aristoteles ein solcher habitus durch die eigene Praxis erworben werden müsste. Allerdings muss der Glaubende im Anschluss an seine Begnadung diesen habitus anwenden, um schließlich als gerecht gelten zu können.²³ Bei der Interpretation von Röm 1,17 (in Christus „wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben“) nimmt Luther Bezug auf die von Augustin in De spiritu et littera gegebene Definition der „Gerechtigkeit Gottes“: Indem Gott uns die Gerechtigkeit zuteilt, lässt er uns zu Gerechten werden, so wie die Rettung Gottes diejenige ist, mit der er uns zu Geretteten macht („quod impertiendo eam [Deus] justos facit; sicut Vgl. Vogel, Realistische und illusorische Theologie, 49 – 52. Ebd., 42– 46. Vgl.V. Grossi und B. Sesboüé, „Grazia e giustificazione: dalla testimonianza della Scrittura alla fine del Medioevo“, in: B. Sesboüé (Hg.), Storia dei Dogmi, Bd. 2, L’uomo e la sua salvezza, Casale Monferrato, 1997, 281– 284.
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Domini est salus […], qua salvos facit“).²⁴ Diese Definition wird von Luther wie gewöhnlich mit einer philologischen Argumentation bekräftigt: Den interpretativen Schlüssel dazu bildet hier der Bezug auf Hab 2,4 („der Gerechte aber wird durch seinen Glauben leben“), gelesen im Lichte von Röm 3,28, wo der Glaube von Paulus als exklusives Kriterium der Rechtfertigung des Menschen in einen sich ausschließenden Gegensatz zu den Werken gestellt wird. Folgt man dem Apostel, erfolgt die Rechtfertigung also in reiner Passivität und nicht in der Verwirklichung einer tugendhaften Veranlagung. Folglich ist das Verständnis von Gerechtigkeit, wie es im Römerbrief dargestellt wird, ein grundlegend anderes als das aristotelische. Genauer betrachtet beschreibt der Begriff „Gerechtigkeit Gottes“ nicht eine Tugend, sondern einen relationalen Aspekt: „Im Evangelium ist die Gerechtigkeit Gottes offenbart, wer gerecht ist und wer gerecht wird vor Gott und wie dies geschieht: man wird gerecht allein durch den Glauben, mit dem man an das Wort Gottes glaubt“ („Sed in solo euangelio reuelatur Iustitia Dei [i. e. quis et quomodo fit et fiat Iustus coram Deo] per solam fidem, qua Dei verbo creditur“).²⁵ Nach Luther bezieht sich Paulus daher, wenn er in Röm 1,17 von der Manifestation der Gerechtigkeit Gottes im Evangelium Christi spricht, auf das Sich-Erweisen seiner heilsbringenden Macht und nicht auf ein erneuertes und, wenn man an die Bergpredigt denkt, möglicherweise zugespitztes Urteilskriterium. Auch aus menschlicher Perspektive ist die Gerechtigkeit Gottes keine Tugend, die als Kriterium der eigenen Taten zu verstehen wäre, sondern sie ist den Menschen „fremd“ (wie Luther später sagen wird).²⁶ Diese Externalität der Gerechtigkeit ist theologisch durch den Bezug auf Christus begründet, welcher die Gerechtigkeit des Sünders am Kreuz konstituiert. So verlaufen die philologisch-theologische Methode und die Befreiung von einer Idee von Gerechtigkeit, die der Glaubende vor Gott realisieren muss (und die auch von Zeitgenossen Luthers, die der römischen Kirche treu blieben, als erdrückend empfunden wurde)²⁷, parallel.
2.2 Das biblische Kriterium im Ablassstreit Unter den von Luther kritisch beobachteten kirchlichen Praktiken sticht bereits vor 1517 der Ablass hervor, der als Ersatz der zur Buße auferlegten Strafen im Zusam-
[Augustin], De spiritu et littera 11,18, in: Migne Patrologia Latina, XLIV, 211c. WA 56,171– 172. Vgl. das Zeugnis aus dem Jahre 1545 über die „Entdeckung“ der Bedeutung der „Gerechtigkeit Gottes“: WA 54,186. Vgl. H. Jedin, „Un’ ‚esperienza della torre‘ del giovane Contarini“, in: ders., Chiesa della fede, chiesa della storia. Saggi scelti, Brescia, 1972, 606 – 623; I. di Loyola, Le récit du pèlerin ou Autobiographie, Namur, 2006, 45, Anmerkung 22 und 51, Anmerkung 29 – 30).
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menhang des sakramentalen Erlasses der Sünden gedacht war.²⁸ Im Lichte einer Theologie, die Gott in der „Versuchung“ und im Leiden am Werke sah, mussten diese Praktiken und die gesamte Verwaltung der Buße als höchst oberflächlich erscheinen. In den 95 Thesen, die Luther am 31. Oktober 1517 an den Erzbischof Albrecht von Mainz sandte, ist die Kritik am Ablass als Auslegung des Bußrufs Jesu zu Beginn seines öffentlichen Auftretens (Mt 3,2) gestaltet. Die erste These erklärt, dass diese Buße für „das ganze Leben der Glaubenden“ gelten muss. Die Bedeutung dieser Feststellung, die auf den ersten Blick konventionell erscheint, gewinnt ihr Profil im Lichte der folgenden drei Thesen, die zwei Arten von Buße umschreiben, welche nach der Meinung Luthers mit dieser Definition unvereinbar sind. Zuallererst stimmt die Buße, die Jesus fordert, nicht mit einer sakramentalen Verwaltung der Buße überein – ein Angriff gegen das soteriologische Herz der damaligen Ekklesiologie. In den Resolutiones, das heißt den „Auflösungen“ und dem Kommentar zu den 95 Thesen, die Luther im Jahre 1518 veröffentlichen sollte, erklärt er diese Behauptung näher, indem er unterstreicht, dass es unmöglich sei, das gesamte Leben im Beichtstuhl zu verbringen. Die zweite, ebenfalls defizitäre Art von Buße ist jene, welche auf den ersten Blick eine Alternative zum sakramentalen Akt darstellen könnte, nämlich eine kontinuierliche innerliche Bußhaltung, die nicht von äußerlichen Akten der „Kasteiung des Fleisches“ begleitet wird, welche die Annahme der gerechten Strafen Gottes darstellen. Das Verständnis der Buße, das Luther vorschlägt, zeichnet sich hingegen dadurch aus, dass in ihr die Dimension der Dauerhaftigkeit („bis zum Eintritt in das Himmelreich“) und die äußerlichen Handlungen Hand in Hand gehen.²⁹ Erneut bietet die Analyse des biblischen Textes Luther den hermeneutischen Schlüssel, um diesen Gedanken auszuarbeiten. In den Resolutiones wendet er sich der Bedeutung des griechischen Imperativs metanoeíte zu, mit welchem Jesus zur Buße aufruft, und er gibt diesen Ausruf im Lateinischen mit transmentamini wieder, was so viel bedeutet wie „lasst euch euren Geist wenden“.³⁰ Die Evangelien verstehen die metánoia als einen augenblicklichen Wandel (Bekehrung), auf den ein entsprechendes Verhalten folgt, welches allerdings nicht in diesem Begriff integriert ist. Die Argumentation Luthers hingegen setzt die gesamte (post‐)augustinische und mystische Reflexion in Bezug auf die Sünde voraus, um den aktiven Imperativ des biblischen Griechisch mit einer passiven Form zu übersetzen und die Buße als einen dauerhaften Zustand zu umschreiben. So wie jede andere Exegese auch, ist die Luthers nicht „objektiv“, sondern bewegt sich in einem hermeneutischen Zirkel zwischen Vorverständnis und Interpretation. Dies schmälert nicht die Tatsache, dass seine Bestreitung einer ari-
Über die Kritik Luthers am Ablass bis zum Jahre 1517, vgl. L. Vogel, „Zwischen Universität und Seelsorge. Martin Luthers Beweggründe im Ablassstreit“, in: „Zeitschrift für Kirchengeschichte“, 118, 2, 2007, 194– 196. WA 1,233 (die ersten Thesen) und 530 – 534 (Resolutiones). Ebd., 530.
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stotelischen Lesart der biblischen Terminologie einen Fortschritt darstellt, von dem die heutige Exegese aller Konfessionen stark profitiert.³¹ Zusammenfassend kann man die Position Luthers in der Debatte um den Ablass als eine Konsequenz seiner exegetischen Herangehensweise verstehen. Anschließend sicherten ihm allerdings auch verschiedene außertheologische Umstände den Rückhalt des Kurfürsten von Sachsen und der öffentlichen Meinung.³² Luther selbst, der in einem autobiographischen Rückblick des Jahres 1545 die „Entdeckung“ der Bedeutung von „Gerechtigkeit Gottes“ als den Moment erinnern sollte, in dem er in den Heilszustand eintrat,³³ sah sich durch sein Gewissen an seine Interpretation der Schrift gebunden. Als er nach seiner Verurteilung von Seiten der kirchlichen Autorität vom Bann bedroht war, verweigerte er auf dem Wormser Reichstag 1521 jeglichen Widerruf, sofern er nicht durch Zeugnisse der „klaren“ Schrift oder durch eindeutige Gründe der Vernunft widerlegt werden sollte.³⁴ Der zweite Punkt verdient Aufmerksamkeit, da er eine Auffassung der Vernunft bezeugt, welche nicht im Gegensatz zur biblischen Wahrheit steht, die sich mittels des Heiligen Geistes „offenbart“. In der Exegese Luthers nehmen die vernunftgeleiteten Argumente, insbesondere philologischer Art, eine wichtige Rolle ein. Die Interpretation von Röm 4,7, wo Psalm 32,1– 2 zitiert wird, ist in dieser Hinsicht beispielhaft. Hier nimmt Luther die Gelegenheit wahr, polemisch gegen den Theologen Gabriel Biel des 15. Jahrhunderts zu argumentieren, den Autor des Lehrbuches, mit dem er selbst Theologie studiert hatte. Biel hatte vorgeschlagen, die Maxime des Tuns quod in se est in der Weise zu lesen, dass sie zu einem Gehorsam gegenüber dem göttlichen Gesetz im Sinne einer materiellen Einhaltung der Gebote ermahnt. Dies solle im Bewusstsein geschehen, dass ein solcher Gehorsam nicht mit dem Willen des göttlichen Gesetzgebers, wie er in der Bergpredigt offenbart wird, übereinstimme, da Jesus dort das Vorhandensein eines innerlichen Impulses, der im Gegensatz zu den Geboten steht, als Verletzung des Gesetzes beschreibt (Mt 5 – 7). In den Augen Luthers setzt der Gedankengang Biels voraus, dass die „Gnade“ des Evangeliums eine weitere Verschärfung des Gesetzes bedeutet hätte, welche allein erst den Eingriff der Gnade zur Rettung des Menschen notwendig gemacht hätte.³⁵ Dreißig Jahre später, im Jahre 1545, taucht das gleiche Argument eines scheinbaren Widerspruchs im Evangelium – welches eine „gute Nachricht“ sein möchte, aber die Kriterien der göttlichen Gerechtigkeit zu verschärfen scheint – in der bereits zitierten autobiographischen Rückschau Luthers wieder auf. Neben einem geistlichen Leiden löst seine „Entdeckung“ also auch ein Gefühl der Inkohärenz und theologischen Unstimmigkeit auf und muss als ein Moment ver-
Eine Bewertung aus exegetischer Sicht ist gegeben in M. Wolter, Der Brief an die Römer, Bd. 1, Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament VI/1, Neukirchen-Vluyn / Ostfildern, 2014, 119 – 125. Eine kurze Zusammenfassung in Vogel, „Zwischen Universität und Seelsorge“, 188 – 189. s. oben Fußnote 26. WA 7,838. WA 56,274– 275.
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standen werden, in dem die exegetische Erkenntnis zusammen mit der Erleuchtung ein Ganzes bilden, was methodologisch ganz und gar dem Konzept des pneumatischen Literalsinns nach Lefèvre d’Étaples entspricht. Im autobiographischen Zeugnis von 1545 wird die rationale Dimension der Exegese Luthers durch jenes Stück bestätigt, in welchem der Reformator behauptet, dass er seine Lesart von Röm 1,17 anhand der gesamten Schrift verifiziert habe (dies könnte eine Anspielung auf das Dossier biblischer Stellen über „Sünde“ und „Gerechtigkeit“ sein, das Luther in seiner Vorlesung über den Römerbrief genau zu Röm 4,7 einfügte).³⁶ Das „Schriftprinzip“ der Reformation, wie es aus Luthers Denken hervortritt, ist also nicht identisch mit einem intuitiven Eintauchen in die Schrift: die Art und Weise, wie die Reformation die Zentralität der Schrift unterstreicht, zeichnet sich durch eine Kritik an spontanen Interpretationen aus und hebt die Alterität des biblischen Textes hervor, die eine wohlunterrichtete und vernünftige exegetische Herangehensweise erfordert. Diese Charakteristika der Bibelexegese haben auch eine ekklesiologische Seite, wenn Luther der Gemeinde der Glaubenden die Aufgabe anvertraut, die Unterweisung ihrer Prediger zu „beurteilen“³⁷ – eine Aufgabe, die einzig auf der Grundlage vernünftiger Kriterien erfüllt werden kann. Gleichzeitig erkannte Luther die Nützlichkeit außerbiblischer Diskurse und Terminologien (auch der aristotelischen Kategorien) für alle Bereiche des Lebens an, die außerhalb des durch den Glauben konstituierten Verhältnisses des Gewissens zu Gott standen. Sein Interesse an der Bibel hatte einen klaren soteriologischen sowie christologischen Focus, und deshalb war die Relevanz der verschiedenen biblischen Texte daran zu messen, „ob sie Christum treyben“.³⁸ In Übereinstimmung mit diesem Kriterium können nach Luther, was den Sinn der Bibel betrifft, zwei Dimensionen unterschieden werden: das Gesetz, das den Menschen als Sünder verurteilt, um ihn zur Buße zu rufen, und das Evangelium, welches die Vergebung in Christus verkündet. Die richtige Unterscheidung dieser beiden Dimensionen des göttlichen Wortes ist wiederholt von Luther als die wichtigste Aufgabe des Theologen definiert worden.³⁹ Auf der einen Seite betonte Luther die Notwendigkeit, die promissio des Evangeliums mit lauter Stimme zu verkünden, was insbesondere die Einsetzungsworte des Abendmahls betraf; andererseits stellte er sich jeglichem Versuch entgegen, die Notwendigkeit der Gesetzespredigt im Sinne eines ständigen Aufrufs zur Buße und somit auch als Anweisung für einen gelebten Glauben zu relativieren.⁴⁰
Zum autobiographische Zeugnis s. Fußnote 26; Vorlesung über Röm: WA 56,287– 288. An den christlichen Adel (1520): WA 6,412; Daß eine christlich Versammlung (1523): WA 7,409. WA.DB 7,384 (Vorwort zum Brief des Jakobus). Der locus classicus ist WA 40/I,207 (Kommentar zu Gal 1531– 1535). Vgl. die Disputationen gegen die „Antinomer“: WA 39/I,334– 584.
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2.3 Die Vollendung der biblischen Hermeneutik Luthers in den zwanziger und dreißiger Jahren In der Auseinandersetzung mit Erasmus über den freien Willen in den Jahren 1524– 1525 sah sich Luther genötigt, in seiner Schrifthermeneutik einige Präzisierungen vorzunehmen. Aus den vielen biblischen Ermahnungen, sich Gott zuzuwenden, hatte Erasmus einen „frommen Skeptizismus“ abgeleitet, der sich durch die Anstrengung auszeichnete, positiv auf diese Ermahnungen zu antworten, ohne dabei zu verleugnen, dass die Schrift auch die Unzulänglichkeit des Menschen in dieser Hinsicht offenbare. Den Spuren der Hermeneutik Augustins folgend begründete er seine Sichtweise, indem er behauptete, dass die unverständlichen oder uneindeutigen Stellen der Bibel Ausdruck der Unerkennbarkeit Gottes selbst seien.⁴¹ In seiner Antwort an Erasmus in De servo arbitrio zeigt sich Luther als Philologe, wo er erklärt, dass die Bibel in ihrer Eigenschaft als Buch ein linguistisches und kreatürliches Produkt sei, dessen Unverständlichkeit einzig den mangelnden philologischen Kenntnissen der Ausleger geschuldet sei. Die rettende Botschaft der Schrift – die Inkarnation und das Leiden des Gottessohnes – gewinne man jedoch aus ihr in aller Klarheit. Genau was diese Klarheit angeht, führt Luther eine Unterscheidung ein: es gibt eine unbestreitbare „äußere Klarheit“ der Botschaft des Evangeliums, aber durch die äußerliche Verkündigung allein kann in demjenigen, der sie hört, nicht jene „innere Klarheit“ hergestellt werden, die von der Erleuchtung durch den Geist abhängt und sich im Glauben erschließt, das heißt im Vertrauen auf die Botschaft des Evangeliums, in dessen Licht jede Idee einer Selbsterlösung als unannehmbare Einschränkung der göttlichen Allmacht erscheint.⁴² Die Verborgenheit Gottes sub contraria specie gilt somit auch für die Bibel: Auch wenn sie ein ganz und gar kreatürliches Produkt ist, ist sie zugleich das ausschließliche Mittel, durch welches das Wort Gottes „von außen“ den Menschen erreicht. Dieser Beweggrund stand hinter Luthers Polemik gegen die „Spiritualisten“, die seiner Meinung nach auf gefährliche Art und Weise das geschriebene und gepredigte „äußere Wort“ entwerteten, dessen Verkündigung die Aufgabe der Kirche als Institution ist.⁴³ Die von Lefèvre d’Étaples übernommene christologische Akzentuierung seiner Hermeneutik brachte Luther auch dazu, gegen Hebraisten wie Sebastian Münster zu polemisieren, die eine neutralere Interpretation der hebräischen Bibel vortrugen, und noch schärfer gegen die Juden.⁴⁴ Die Bedeutung und ebenso die Grenzen seiner philologischen Methode kann man bereits aus seiner im Jahre 1523 erschienenen Vorrede
E. da Rotterdam, „De libero arbitrio ΔIATΡIBΗ sive collatio“, in: ders., Ausgewählte Schriften, hg. von W. Welzig, Bd. 4, Darmstadt, 1969, 10 – 16. WA 18,606 – 609. Vgl. L.Vogel, „Schwärmer“, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 11, Stuttgart/Weimar, 2010, 968 – 970. Siehe Th. Kaufmann, Luthers „Judenschriften“. Ein Beitrag zu ihrer historischen Kontextualisierung, Tübingen, 2011; D. Garrone, „Lutero, la Riforma e gli ebrei: alcuni cenni“, in: Protestantesimo, 70, 1, 2015, 5 – 33.
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zum Pentateuch entnehmen. In Bezug auf die Juden stellte Luther fest: „es ist unmöglich ihren Glossen und Interpretationen zu vertrauen (wie ich es versucht habe zu tun), und ich glaube, dass, wenn die Bibel hervortreten soll, das wir Christen tun müssen, die wir das Wissen um Christus haben, ohne welches jegliche Kenntnis der Sprache nichtig ist“.⁴⁵ Im Endeffekt wird also die Christologie auch zum Kriterium für die Erschließung der hebräischen Grammatik.
3 Luther als Übersetzer der Bibel 3.1 Die Editionen der Deutschen Bibel Abgesehen von einigen Bibelpassagen, die in Publikationen der Jahre 1517– 1520 in deutscher Sprache wiedergegeben sind, war die erste Bibelübersetzung Luthers das im September 1522 erschienene Neue Testament. Es war das Ergebnis einer während seines Aufenthaltes auf der Wartburg (1521– 1522) begonnenen Arbeit, die Luther nach seiner Rückkehr nach Wittenberg in Zusammenarbeit mit Philipp Melanchthon, Johannes Lang und anderen vollendete. In der Rückschau sollte Luther die Übersetzungsarbeit in der Gruppe aus methodologischen Gründen propagieren: seiner Meinung nach sollte eine Übersetzung nicht allein erarbeitet werden, „da einer Person allein nicht immer die richtigen und passenden Worte einfallen“.⁴⁶ Die Wahl, mit der Übersetzung des Neuen Testaments zu beginnen, war der geringeren Komplexität der Texte sowie der Dringlichkeit geschuldet, einen Zugang zu den Briefen des Apostel Paulus zu schaffen, die als Dreh- und Angelpunkt der zu bezeugenden und zu verbreitenden Theologie betrachtet wurden. Verschiedene Charakteristika des Septembertestaments – da heißt jener ersten Übersetzung vom September 1522 – deuten eine Zäsur gegenüber den bereits zuvor erschienen deutschen Bibelausgaben an. Die Arbeit hat den griechischen Text zur Grundlage, mit Bezugnahmen auf die zweite Edition des Instrumentum, also des von Erasmus im Jahre 1519 herausgegebenen griechischen Neuen Testaments. Unbestreitbar jedoch sind die Einflüsse der Vulgata, der neuen lateinischen Übersetzung des Erasmus und vorangegangener deutscher Versionen. Die gewohnten Einleitungen des Hieronymus zu den einzelnen biblischen Büchern sind durch neue Vorworte ersetzt – so wie es auch Erasmus selbst im Instrumentum gemacht hatte.⁴⁷ Sogar der Kanon der neutestamentlichen Schriften weicht zum Teil vom Vorbild der Vulgata ab: Der Hebräerbrief, der Jakobusbrief (von Luther aufgrund des Mangels an christologischem Gehalt als „stroherne Epistel“ definiert),⁴⁸ der Brief des Judas und die Johannesoffenbarung erscheinen in einer Art Anhang, ohne im Inhaltsverzeichnis, wie die übrigen Schriften, nummeriert zu werden. Die Veröffent
WA.DB 8,30; vgl. auch WA 44,510 (Vorlesungen zur Genesis). WA.TR 1,486 (Nr. 961). WA.DB 6; Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften, hg. von W.Welzig, Bd. 3, Darmstadt, 1967. WA.DB 6,10.
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lichung erschien ohne Angabe des Herausgebers oder des Jahres unter dem Titel Das Newe Testament Deutzsch. Der Ort Wittenberg wurde allerdings hervorgehoben, um den theologischen Charakter der Arbeit zu unterstreichen.⁴⁹ Trotz eines relativ hohen Verkaufspreises wurde das mit Holzstichen versehene (s. Paragraph 3.2) und in Folioformat produzierte Septembertestament ein verlegerischer Erfolg, der jedoch nicht unbedingt zum Vorteil für den Buchdrucker Melchior Lotter in Wittenberg ausschlug. Tatsächlich gab es mehrere nicht autorisierte Nachdrucke in Basel, Augsburg, Leipzig und Grimma, das heißt außerhalb der Grenzen des Kurfürstentums Sachsen. Auch um auf diese Plagiate zu reagieren, veröffentlichte Luther bereits im Dezember desselben Jahres eine überarbeitete Version mit hunderten Verbesserungen (das Dezembertestament).⁵⁰ Obgleich die nicht autorisierten Nachdrucke auf ihre Art zur Verbreitung seiner Lehre beitrugen, wandte sich Luther in den Vorreden zu den einzelnen Ausgaben wiederholt mit heftigen Beschimpfungen gegen diejenigen, die einen ökonomischen Gewinn aus der Arbeit anderer schöpften.⁵¹ Im Unterschied zu der Schnelligkeit, mit der er die Übersetzung des Neuen Testaments unternommen hatte, nahm sich Luther für die Übersetzung des Alten Testaments mehr als ein Jahrzehnt Zeit.Von Beginn an plante er auch aus kommerziellen Gründen eine Veröffentlichung in verschiedenen Teilen.⁵² Im Jahre 1523 veröffentlichte er die Übersetzung des Pentateuchs, deren Titelseite deutlich sichtbar den Namen des Reformators trug. In der Vorrede schrieb Luther der Übersetzung einen Mehrwert über die Zugänglichkeit des Textes in deutscher Sprache hinaus zu, da sie den biblischen Text besser verständlich mache: „… wage ich doch zu sagen, dass diese deutsche Bibel an vielen Stellen luzider und gewisser ist als die lateinische“.⁵³ Im Jahr darauf wurden die Geschichtsbücher und poetischen Bücher in den Druck gegeben, die als Zeichen der Authentizität sein Monogramm ML trugen; im Jahre 1534 folgten die Propheten und die „apokryphen“ Schriften, die in der Vulgata enthalten sind (diejenigen also, von denen es kein hebräisches Original gibt). Auch in dieser Phase kann die Übersetzung der Bibel in Wittenberg nicht als Arbeit einer einzelnen Person beschrieben werden. Es handelte sich um das Engagement einer ganzen Mannschaft, zu der neben Luther und Melanchthon Caspar Cruciger, Justus Jonas und andere gehörten. Zu dieser Zeit kamen im Übrigen Überarbeitungen der bereits publizierten Übersetzungen heraus, insbesondere des Neuen Testaments und der Psalmen.⁵⁴ In der Zwischenzeit waren andernorts jedoch bereits komplette Bibeln in deutscher Sprache verfertigt worden: 1529 erschien in Mainz ein Bibeldruck, der Über-
Ebd., 12. H. Volz, „Die mittelalterlichen deutschen Bibelübersetzungen“, in: M. Luther, Die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Wittenberg 1545. Letzte zu Luthers Lebzeiten erschienene Ausgabe, hg. von H. Volz, Bd. 1, München, 1972, 58*-61*. Ebd., 69*, vgl. WA.DB 6,1– 2. WA.B 2,614 (Nr. 546). WA.DB 8,30 – 32. Volz, „Die mittelalterlichen“, 64*-92*.
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setzungen Luthers mit der ursprünglich durch die Spiritualisten Ludwig Hetzer und Hans Denck veröffentlichten Übersetzung der Propheten und der Wiedergabe der Apokryphen durch den Prediger Leo Jud aus Zürich kombinierte. Ebenfalls im Jahre 1529 wurde eine andere komplette Bibel, die sich mehr oder weniger der gleichen Materialien bediente, in Straßburg zum Druck gebracht, und zwei Jahre später erschien die erste Zürcher Bibel, der neben der Verwendung der bereits existierenden Versionen ein originales, an der von Zwingli ins Leben gerufenen Zürcher Schule (Prophezey) gepflegtes exegetisches Bemühen zugrunde liegt. Diese Bibel wurde zum Archetyp eines zweiten großen Zweiges deutscher Übersetzungen, der neben der Lutherbibel bis heute fortgeführt wird.⁵⁵ Im Jahre 1534 gelang es schließlich in Wittenberg, eine komplette Bibel in deutscher Sprache zu verfertigen, die sich gänzlich auf die von der Mannschaft um Luther erarbeiteten Versionen stützte. Wie alle zuvor veröffentlichten Übersetzungen verwendete auch diese ein Hochdeutsch, das für alle verständlich sein sollte und das die Verwendung von geographisch begrenzten mundartlichen Begriffen vermied. Luther erklärte, dass er die Sprache der sächsischen Kanzlei verwende, die seiner Meinung nach in ganz Deutschland verständlich war.⁵⁶ Dennoch erschien in Lübeck nur wenige Monate vor der kompletten Bibel in Hochdeutsch bereits eine Bibelausgabe in Niederdeutsch. Herausgegeben wurde sie von Johannes Bugenhagen, einem aus Pommern stammenden Universitätskollegen Luthers.⁵⁷ Der Erfolg der Bibel des Jahres 1534 ergibt sich nicht nur aus den wittenbergischen Nachdrucken der Jahre 1535, 1536 und 1539 – 40, die mit sichtlicher Hast und zahlreichen Fehlern hergestellt wurden (es war noch nicht möglich, den Seitensatz zu bewahren), sondern auch aus weiteren nicht autorisierten Nachdrucken. In Wittenberg arbeitete parallel dazu eine aus Luther und seinen Mitarbeitern bestehende Kommission an einer Revision der gesamten Übersetzung; die Protokolle ihrer Arbeit sind erhalten geblieben.⁵⁸ Auf der Grundlage des überarbeiteten Textes erschien die Medianbibel des Jahres 1541, zu der parallel ebenfalls eine Version in Niederdeutsch erschien, die diesmal in Wittenberg gedruckt wurde. Von Anfang an waren die Bibeln aus Wittenberg mit Holzstichen versehen und erschienen in einem aufwendigen Folioformat. Es handelte sich also um hochwertige Produkte, die auf eine vermögende Klientel zielten, und nicht um populäre Ausgaben, die zu einem niedrigeren Preis hätten verkauft werden können. Die Medianbibel hatte ein noch größeres Format und
Ebd., 76*; T. Himmighöfer, Die Zürcher Bibel bis zum Tode Zwinglis (1531). Darstellung und Bibliographie, Mainz, 1995; vgl. H. Zwingli, „Vorrede zur Prophetenbibel. 1. März 1529“, in ders., Sämtliche Werke, Bd. 6/2, Zürich, 1968, 289 – 312. WA.TR 1,524– 525 (Nr. 1040). Über die Lutherbibel in Niederdeutsch vgl. H. Reinitzer, Biblia deutsch. Luthers Bibelübersetzung und ihre Tradition, Wolfenbüttel, 1983, 166 – 168, 184. Volz, „Die mittelalterlichen“, 103* – 106*; vgl. WA.DB, 3 – 4,1911– 1923.
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war auf noch aufwendigere Art und Weise verziert. Die Nachdrucke der Jahre 1545 und 1546 beweisen den Erfolg, den sie auf dem Markt hatte.⁵⁹ Zeitgleich wurden auch im deutschsprachigen Katholizismus Übersetzungen erstellt, unter ihnen das Neue Testament von Hieronymus Emser, das zum ersten Mal 1527 erschien. Eine zweite Ausgabe wurde bereits 1528 veröffentlicht und ein Jahr später gab Johannes Dietenberger eine Überarbeitung dieses Textes heraus. Die Übersetzung Emsers zog den Vorwurf des Plagiats auf sich, da sie der Version Luthers sehr ähnelte, auch wenn sie linguistisch in einem südlicheren Hochdeutsch geschrieben war; an einigen Stellen weist die Übersetzung Anlehungen an die Vulgata auf. Im Jahr 1534 ließ auch Dietenberger eine komplette Bibel erscheinen, die der Zürcher Bibel ähnelte; darüber hinaus veröffentlichte Eck 1537 eine Übersetzung, die im Ganzen einen geringen Erfolg hatte, weil sie dem bayrischen Dialekt zu nahe war. Es war deshalb die Version Dietenbergers, die sich mit einer Überarbeitung des Jahres 1537 in katholischen Kreisen durchsetzte und bis ins 18. Jahrhundert neu aufgelegt wurde.⁶⁰ Indirekt hatten also die Übersetzungen Luthers und die Zürcher Bibel bedeutende Auswirkungen auch in der katholischen Welt. Folgt man einer jüngeren Schätzung, rechnet man damit, dass bis 1569 in ganz Mitteleuropa (das bedeutet für eine Bevölkerung von circa 15 Millionen Menschen⁶¹) gut 800.000 Bibeln auf Deutsch im Umlauf waren, einschließlich jener, die in katholischen Gebieten produziert wurden, wo die Zahlen jedoch geringer waren. Dieser Unterschied verstärkte sich noch ab 1540, offensichtlich aufgrund der theologischen Weichenstellungen, die die Epoche der Konfessionalisierung herbeiführten.⁶²
3.2 Einige Kennzeichen der Lutherbibel Unter den wesentlichen Kennzeichen der Lutherbibel sind vor allem die Vorworte zu nennen. Dasjenige zum Römerbrief, das den Brief als „das Hauptstück des Neuen Testaments“ definiert, bildet gleichsam eine Zusammenfassung der von Luther erarbeiteten soteriologischen Terminologie (Gesetz, Sünde, Glaube, Gerechtigkeit, Fleisch und Geist).⁶³ Was die Übersetzung des Römerbriefs angeht, war die Entscheidung Luthers viel diskutiert, die Antithese zwischen Gesetz und Evangelium in Röm 3,28 mittels einer Übersetzung zu unterstreichen, laut welcher die Rechtfertigung „allein durch den Glauben“ geschehe, ohne dass das Wort allein eine wörtliche Entsprechung
Volz, „Die mittelalterlichen“, 104* – 118*. S. Sonderegger, „Geschichte der deutschsprachigen Bibelübersetzungen in Grundzügen“, in: W. Besch, A. Betten, O. Reichmann et al. (Hg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, Bd. 1, Berlin/New York, 1998, 231– 235. Vgl. J. Ehmer, „Bevölkerung“, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 2, Stuttgart/Weimar, 2005, 104. Neddermeyer, Von der Handschrift, 533 f. WA 7,2– 27 (Ausgaben der Jahre 1522 und 1546).
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im griechischen Text besäße.⁶⁴ Diese Übersetzung, die der Reformator in seinem Sendbrief vom Dolmetschen des Jahres 1530⁶⁵ verteidigte, wurde bis zu den jüngsten Versionen der Lutherbibel beibehalten. Dieselbe Übersetzung von Röm 3,28 findet sich auch in der ersten Ausgabe der Zürcher Bibel von 1531.⁶⁶ Die aktuellen Versionen der Zürcher Bibel weisen das Wort allein nicht mehr auf. Ein anderes Resultat der exegetischen Arbeit Luthers ist die Einführung des zuvor selten benutzten Begriffs „gottlos“, um die Dimension des Sünderdaseins zu verdeutlichen. Frühere deutsche Übersetzungen hatten sich Begriffen wie Sünder oder Böser bedient.⁶⁷ Auf diese Weise vermittelte Luther den nicht ausschließlich moralischen, sondern relationalen Sinn des Übels, das sich in der biblischen Terminologie ausdrückt. Die christologische Deutung des Alten Testaments, von der in den vorausgehenden Paragraphen bereits die Rede war, äußert sich deutlich in der Übersetzung von Gen 4,1, wo Eva die Geburt Kains mit den Worten kommentiert: „Ich habe einen Mann gewonnen mit Hilfe des HERRN“ (Vulgata: „possedi hominem per Deum“; mit Hilfe übersetzt angemessen die hebräische Präposition את.) Luther hingegen gibt den Abschnitt wieder mit: „Ich hab uberkomen den Man des Herren“ und zeigt am Rande einen Bezug zum klassischen „Protoevangelium“ von Gen 3,15 an (Bestrafung der Schlange durch die Ankündigung, dass der Nachfahre des ersten Paares der Menschen „der schlangen kopff zu tretten wurde“).⁶⁸ Mittels der erzwungenen Interpretation einer Präposition verwandelt sich also Evas Ausruf von Dankbarkeit für den soeben geborenen Sohn in ein Bekenntnis des Glaubens an Christus. Dieses Detail ist ein Paradigma dafür, wie das christologische Kriterium gegenüber den in der Ursprungssprache ausgedrückten grammatikalischen Konstruktionen vorherrschend werden konnte. In den neueren Ausgaben wurde die Übersetzung Luthers in Übereinstimmung mit dem philologischen Befund korrigiert. Aufmerksamkeit verdienen ebenso die Holzstich-Illustrationen, mit denen die Lutherbibeln versehen waren. Insgesamt ist ihre Zahl gering, wenn man sie mit zuvor gedruckten deutschen Bibeln vergleicht. Es erstaunt jedoch, dass gerade das von Luther geradezu marginalisierte Buch der Apokalypse von einem aufwendigen Zyklus von 21 Illustrationen begleitet ist, der in der Werkstatt von Lucas Cranach hergestellt wurde und den verschiedenen Visionen des Buches gewidmet ist.⁶⁹ Unter diesen Abbildungen verdient die „Hure Babylon“ (Offb 17– 18) besondere Aufmerksamkeit: Bereits im Septembertestament des Jahres 1522 trug sie eine aus drei Diademen zu-
Ebd., 38. WA 30/II,627– 646. Siehe http://www.e-rara.ch/zuz/content/pageview/1930441 (01/11/2016). Vgl. M. Müller, „Die Gottlosen bei Thomas Müntzer – mit einem Vergleich zu Martin Luther“, in: Lutherjahrbuch 46, 1979, 97– 119. WA.DB 8,46 f. Luther verteidigt diese Übersetzung in den Vorlesungen zur Genesis: WA 42,179 f. Ich danke dem Kollegen Daniele Garrone, mich auf diese Stelle aufmerksam gemacht zu haben. Volz, „Die mittelalterlichen“, 52* – 59*; Ph. Schmidt, Die Illustrationen der Lutherbibel. 1522 – 1700. Ein Stück abendländische Kultur- und Kirchengeschichte, Basel, 1962.
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Abb. 1
sammengesetzte Krone – eine deutliche polemische Anspielung auf die Papstkrone (Abb. 1). Exegetisch konnte dies dadurch begründet werden, dass das „Babylon“, welches als Ort der Abfassung des 1. Petrusbriefes (5,13) erscheint, traditionell mit Rom identifiziert wurde. Im nur wenige Monate später gedruckten Dezembertestament wurde der gleiche Holzstich benutzt, nur dass mittels eines eher handwerklichen als künstlerischen Eingriffs zwei der drei Diademe entfernt wurden, offenbar um die polemische Note abzuschwächen (Abb. 2). In noch stärker betonter Weise tauchte die Papstkrone dann in der kompletten Bibel des Jahres 1534 auf (Abb. 3).⁷⁰ Ebenso erscheint auch die Krone des „Biestes“ in den einzelnen Editionen auf unterschiedliche Weise, auch wenn schwer einzuschätzen ist, inwieweit Luther einen Einfluss auf diese
Volz, „Die mittelalterlichen“, 92* – 101*.
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Abb. 2
Abb. 3
verlegerischen Entscheidungen hatte. Interessant ist überdies die Darstellung der Arche Noah, die traditionell als eine Art Schiff dargestellt wurde (Abb. 4). Der Holzstich, der in die Lutherbibel eingefügt wurde, nimmt hingegen die Beobachtung auf, dass die Arche im biblischen Text als eine „Kiste“ bezeichnet wird (Gen 7,1). Als solche ist sie auch dargestellt (Abb. 5), was wiederum die Wirkkraft der göttlichen Gnade unterstreicht, die eingreift, um diejenigen zu retten, die sich in ihrem Inneren befinden.
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Abb. 4
Abb. 5
4 Rückblick Die Reformation des 16. Jahrhunderts führte zu einer Verbreitung der Bibel in einem zuvor schon aufgrund der technischen Bedingungen undenkbaren Ausmaße. Dank dieser günstigen Rahmenbedingungen erreichte Luther, was die Zugänglichkeit der Bibel betraf, einen Entwicklungssprung, und dies nicht nur in quantitativer Hinsicht, sondern auch im Sinne einer Erschließung der Schrift als Ressource des Glaubens und interpretativem Schlüssel für die menschliche Existenz. Die Bibel auf diese Art fruchtbar zu machen erforderte allerdings eine Bereitschaft, auf der Grundlage des biblischen Textes die eigenen vorgefassten theologischen Urteile zu überprüfen, auf diese Weise die Alterität des Schriftzeugnisses hinsichtlich des eigenen Vorverständnisses zu akzeptieren und dann den reformatorischen Antrieb, der sich daraus ergab, aufzunehmen. In diesem Sinne kann man auch heute von einer „Wiederentdeckung“ der Bibel zur Zeit der Reformation reden.
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Im deutschsprachigen Umfeld erwiesen sich die Übersetzungen Luthers als über die lutherischen Konfessionen hinaus wirksam. Dennoch wurde die Bibel kein „Volksbuch“: die Bibeln wurden hochwertig gedruckt und ihr Besitz blieb ein Privileg der gesellschaftlichen Elite. Dieses Phänomen wurde durch die Tendenz der Buchdrucker noch verstärkt, die Ausgaben aufwendig auszustatten. Erst im 18. Jahrhundert sollten die Bedingungen einer verbreiteteren Alphabetisierung und eines weiteren technologischen Fortschrittes des Buchdruckes die Herstellung der Bibel zu Preisen erlauben, die für die gesamte Bevölkerung zugänglich waren.⁷¹
Vgl. M. Brecht, „Die Bedeutung der Bibel im deutschen Pietismus“, in: H. Lehmann (Hg.), Geschichte des Pietismus, Bd. 4, Göttingen, 2004, 102– 120.
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Luther und die Obrigkeit
1 Eine auf Gegensätzen basierende Methode „Christianus est duplex persona“.¹ Diese Aussage findet sich oft bei Luther, teilweise auch mit anderen theologischen Nuancierungen (beispielsweise „Christianus homo dupliciter consideratur“²). Noch häufiger jedoch wird dieses Verständnis durch die Entwicklungen eines Gedankenganges wie in Von der Freiheit eines Christenmenschen ausgedrückt, dessen berühmtes incipit den gesamten Inhalt mittels einander entgegengesetzter Bilder prägnant zusammenfasst: „Das wir grundlich muegen erkennen, was eyn Christen mensch sey […] will ich setzen dyße zween beschluß: Eyn Christen mensch ist eyn freyer herr ueber alle ding und niemandt unterthan. Eyn Christen mensch ist eyn dienstpar knecht aller ding und yderman unterthan“.³ Der Leitgedanke der Duplizität beziehungsweise der Ambivalenz (womit natürlich weder Doppelung noch Ambiguität gemeint sind) ist für die lutherische Theologie von grundlegender Bedeutung. Ihre Wurzeln liegen in der contraria species, unter welcher Gott sein Handeln verbirgt; gerade darin zeigt sich die tiefsinnige Eigenart seiner Absicht und, im Wesentlichen, seiner Natur: Es handelt sich um einen Gott, der Mensch wird, um seinen Geschöpfen nahe zu sein, einen Allmächtigen, der sich töten lässt, um sie zu erlösen. Da nun Gott diesen Modus der Selbstoffenbarung (Ein Sich-Verstecken unter einer Gestalt, welche auf das Gegenteil hinweist) erkoren hat, ist in Luthers Denken die gesamte Wirklichkeit mit dieser schwierigen Situation konfrontiert. Der Weg, den man für eine Interpretation nicht nur Gottes und seines Handelns, sondern auch der Geschichte der Menschen, in die sich Gott eingemischt hat, gehen muss, kann nicht der einer Autobahn mit festgelegten Fahrstreifen, Leitplanken und im Voraus festgelegten Ein- und Ausfahrten sein; vielmehr sind es wohl Pfade, auf denen man in der Mitte oder am Rand gehen kann, von wo aus man auf kleine seitliche Fußwege abbiegen oder Abkürzungen nehmen kann, auf denen man andere Leute trifft oder überholt. Um in diesem Bild zu bleiben: Das einzige, um das man in den Augen Luthers beim Voranschreiten auf diesem Weg nicht umhinkommt, sind gute Beine, womit die Schrift gemeint ist. Auf diese kann man nicht verzichten, will man verstehen, was Gott gesagt hat und auf welche Weise man versuchen kann, ihm zu folgen. Bei näherer Betrachtung allerdings waren Luthers Meinung nach selbst die Lektüre und die Interpretation der Bibel instrumentalisierte Hilfsmittel, die dem VerÜbersetzung: Benedikt Jetter. WA.TR 4,237,11. WA.TR 1,356,13. WA 7,20,25 – 27 und 21,1– 4. https://doi.org/9783110498745-015
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schleiß und den Neuerungen der Zeit unterlagen. In einer eher ungewöhnlichen Auslegung des Gleichnisses von den Arbeitern im Weinberg⁴ (Mt 20,1– 15) schrieb der Reformator, dass, wie jeder Stunde eine andere Arbeit entspricht, jede Epoche über andere Werkzeuge verfügt, und zwar auch über wissenschaftliche Werkzeuge zur Interpretation der biblischen Texte. Demnach hing selbst die einzige Autorität, die ihm zufolge in der Kirche Geltung haben sollte, also die Schrift, von diversen Bewegungen und Schwierigkeiten ab. Es handelte sich daher keineswegs um eine geschlossene und monolithische Autorität, sondern der Zusammenhang der verschiedenen Schichten musste erst gesucht werden. Hierfür müssen die zahlreichen Zeugnisse und die vielen Arten und Weisen, mit ihnen umzugehen, vom Dreh- und Angelpunkt der Schrift (Jesus Christus) her betrachtet werden. Diese Duplizität der Wirklichkeit war für Luther so grundlegend, dass sie regelrecht zu einer forma mentis und schließlich zu einer Form der Kommunikation wurde. Luthers Sprache (sogar in ihrer äußeren Gestalt, nämlich zumeist einer Mischung aus Deutsch und Latein), seine Rhetorik, seine Verwendung von Bildern und seine Art, Vorstellungen und Begriffe sprachlich darzustellen, wiesen Spuren nicht etwa von Vagheit oder Unbestimmtheit auf, sondern von dem Versuch, die Unbegreiflichkeit der Fülle Gottes wiederzugeben. So erklärt sich der häufige Gebrauch von Paradoxa und Oxymora (wie im oben zitierten Ausschnitt aus Von der Freiheit eines Christenmenschen) und von Ausdrücken, die zwar ausführlicher Erläuterungen bedürfen, um wenigstens teilweise – und nicht etwa vollständig – die möglichen Implikationen vor Augen zu führen, die aber dank ihrer knappen Form zu Leitsprüchen geworden sind. Darunter sind die unglücklicherweise so genannten ‚drei sola‘, die ja keineswegs für sich alleine stehen, da sie mindestens drei (sola gratia, sola Scriptura, sola fide), noch korrekter aber eigentlich vier (solus Christus) sind. Daneben stehen das simul iustus et peccator oder das pecca fortiter. Nicht zu vergessen ist das sacerdotium universale, das zwar keine Formulierung von Luther selbst ist, diesem aber gerade aufgrund des darin steckenden Widerspruches sehr gefiel: Priester sein besteht eben genau darin, über ein Wissen zu verfügen, das nicht jedem gegeben ist, also in einem Zustand, der eine Gruppe vom Rest unterscheidet. Ein Zustand, der allen eignet, ist kein Priestertum mehr. Die Wendung wurde, wie erwähnt, nicht von Luther geprägt, wohl aber die Vorstellung. Dies passte sehr gut zu dem Widerspruch, den Luther übernahm, auflöste und wiederum aufnahm: niemand ist mehr Priester nach dem Priestertum Christi, aber just um des Priestertums Christi willen sind alle Priester für den Dienst am Anderen. Wie man sieht, ergibt sich dieses Merkmal des lutherischen Denkens aus der Gestalt, welche die Offenbarung annimmt (also aus dem, was der Mensch von Gott ‚sehen‘ kann), welche wiederum den Willen Gottes in Bezug auf den Menschen widerspiegelt: ein Geschöpf zu rechtfertigen, das ebendies nicht verdient. Dieses Cha-
WA 17/II,135 – 141.
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rakteristikum wirkte sich auch auf andere Bereiche von Luthers Lehre aus, inklusive den der Politik.
2 Ein Missverständnis Die Wendung, von der wir ausgegangen sind – „christianus est duplex persona“ – verwendete Luther auch in einem Zusammenhang, in dem es um das Verhältnis des Christen zur Politik ging: „scilicet fidelis et politica. Fidelis omnia patitur; non edit, non bibit, non gignit. Sed politicus legibus et iuri est subiectus et cogitur se defendere et pacem tueri“.⁵ Der letzte Teil des Zitats lässt sich damit erklären, dass Luther sich an dieser Stelle mit der Frage nach der Legitimität oder Illegitimität eines (womöglich bewaffneten) Widerstandes vonseiten der protestantischen Fürsten gegen den voraussehbaren Angriff Karls V. beschäftigte. Dieser sollte im weiteren Fortgang die religiöse Spaltung, die sich nunmehr in einigen Staaten des Reiches gefestigt hatte, mit Waffengewalt – da es ihm auf andere Weise nicht gelungen war – zu lösen versuchen. Möglicherweise hat Luthers Beharren auf der Duplizität zu einem Missverständnis – oder wenigstens zu einer irreführenden Vereinfachung – geführt, welches die Interpretation der lutherischen Lehre bezüglich der Politik in entscheidendem Maße beeinflusst hat. Dieses Missverständnis kann ein Stück weit dadurch gerechtfertigt werden, dass Luther diese Duplizität mehrfach als Dualität beschrieben hat; um nur ein Beispiel zu nennen: „Hie muessen wyr Adams kinder und alle menschen teylen ynn zey teyll: die ersten zum reych Gottis, die anderen zum reych der welt“.⁶ Der Gebrauch solcher Begriffe und Wendungen kann allerdings auch mit dem Kontext oder dem eigentlichen Skopus des Schriftstücks erklärt werden; so kann man aufweisen, dass die sogenannte ‚Zwei-Reiche-Lehre‘ weder eine Lehre war, noch die Welt in zwei Reiche aufteilte (wie sie jedoch üblicherweise verstanden worden ist). Nicht zufällig stammt diese Begriffsdefinition aus dem vergangenen Jahrhundert, und Luther selbst hätte sie wohl nicht benutzt. Insbesondere gegenüber dem Begriff ‚Lehre‘ hatte er seine Vorbehalte. Es darf bei all dem nicht vergessen werden, dass Luther bei seiner Arbeit keine systematische Absicht verfolgte. Seine Bücher, seine Predigten und erst recht die Aussagen in der Sammlung der Tischreden sind allesamt Antworten auf explizite Fragen oder aber sie gehen auf geistliche Bedürfnisse der Gesprächspartner ein.Wenn etwas im systematischen Zusammenhang dargestellt werden sollte – wie im Falle der Abfassung eines Bekenntnisses, zum Beispiel des auf dem Reichstag zu Augsburg präsentierten –, wurde diese Aufgabe von Melanchthon übernommen, wobei Luther den jeweiligen Ergebnissen im Wesentlichen (aber nicht voll und ganz) zustimmte.Wir werden an späterer Stelle sehen, dass Luther es bei der Beschäftigung mit der Politik
WA.TR 4,237,11– 14. WA 11,249,24– 25.
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als sinnvoll erachtete, einem gegen die Sakramentstheologie der Schweizer polemisierenden Text ein eigenes Bekenntnis beizufügen. Der Kontext, also die Schrift Von weltlicher Obrigkeit, welche die Hauptreferenz für die Interpretation der ‚Doktrin‘ von den zwei Reichen ist, kann zur Klärung dessen beitragen, was Luther wirklich mit dem Ausdruck „zwei Reiche“ gemeint hat. Geschrieben wurde das Buch für Johann von Sachsen, Landgraf von Thüringen, Bruder des Kurfürsten Friedrich und ab dessen Tod im Jahre 1525 selbst Kurfürst. Der vollständige Titel, Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei, lässt die Zweifel erahnen, die Johann plagten, und der Schluss der Widmung zeigt, welche Absicht Luther verfolgte: „Ich hoffe aber, die Fürsten und die weltliche Obrigkeit so zu unterrichten, dass sie Christen und Christus ein Herr bleiben sollen“. Was nun war denn eigentlich das Problem? Seit hunderten von Jahren hatte man versucht, Perikopen der Schrift zusammenzuhalten, die einander zu widersprechen schienen. Auf der einen Seite standen all die Abschnitte des Alten Testaments, welche eine Bestrafung des Übeltäters für rechtens erklären: „Wenn aber jemand an seinem Nächsten frevelt und ihn mit Hinterlist umbringt, so sollst du ihn von meinem Altar wegreißen, dass man ihn töte“ (Ex 21,14) oder gar das Talionsrecht aufstellen: „Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brandmal um Brandmal, Wunde um Wunde, Beule um Beule“ (Ex 21,23 – 25). Auf diese Seite gehören nun aber auch diejenigen neutestamentlichen Abschnitte, welche die alttestamentlichen explizit aufnehmen: „Da sprach Jesus zu ihm […]: wer das Schwert nimmt, der wird durchs Schwert umkommen“ (Mt 26,52) und natürlich auch diejenigen, welche die Macht der politischen Autorität festlegen: „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, ist sie von Gott angeordnet. Darum: Wer sich der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Anordnung; die ihr aber widerstreben, werden ihr Urteil empfangen“ (Röm 13,1– 2); „Seid untertan aller menschlichen Ordnung um des Herrn willen, es sei dem König als dem Obersten oder den Statthaltern als denen, die von ihm gesandt sind zur Bestrafung der Übeltäter und zum Lob derer, die Gutes tun“ (1 Petr 2,13 – 14). Auf der anderen Seite stehen all die Abschnitte des Neuen Testaments, welche stattdessen die Liebe predigen – durchaus auch in ein und demselben Buch: „Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen“ (Mt 5,44); „Vergeltet nicht Böses mit Bösem oder Scheltwort mit Scheltwort“ (1 Petr 3,9); „Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben (5. Mose 32,35): ‚Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr‘“ (Röm 12,19). Hier also war es, das Problem. Wie kann man Anweisungen befolgen, die derart wenig miteinander zu tun zu haben scheinen? Und hält der Fürst (beziehungsweise die politische Obrigkeit im Allgemeinen) zu Recht das Schwert, das Symbol nicht nur der Herrschaft, sondern auch der zu ihrer Ausübung notwendigen Macht, in der Hand? Im Jahre 1523 antwortete Luther auf diese Frage am ausführlichsten, aber auch schon früher hatte er sich dazu geäußert.
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3 Das theologische Fundament Hinter all dem, was Luther über die politische Gewalt gedacht haben könnte, steht die zentrale These seiner Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation von 1520. Darin hatte er auf der Grundlage des Prinzips, dass alle Getauften, auch wenn sie verschiedene Funktionen ausüben, in der Kirche das gleiche ius haben, die bürgerlichen Obrigkeiten zu einer Reform aufgerufen, da die kirchlichen Autoritäten offensichtlich dazu nicht in der Lage oder nicht willens waren. Ich hab unserm furnehmen nach zusammen tragenn etlich stuck Christlichs stands besserung belangend, dem Christlichenn Adel deutscher Nation furtzulegen, ob got wolt doch durch den layen standt seiner kirchen helffen, seintemal der geistlich stand, dem es billicher geburt, ist gantz unachtsam worrden.⁷
Als eine erste Erkenntnis für die Rekonstruktion von Luthers Lehre von der Politik kann folgendes festgehalten werden: Die Verantwortlichkeiten im Bereich der Macht, seien es die politische oder die kirchliche, sind in gewisser Weise austauschbar. Selbstverständlich jedoch kann die Verantwortung nicht einfach der anderen Seite übertragen werden: Ein Fürst hat in der Regel nicht Theologie studiert (wobei das damals durchaus auf so manchen zutraf), und konsequenterweise ging man nicht davon aus, dass man diesen zum Predigtdienst beauftragen könnte. In diesem Sinne entschuldigte sich auch Luther selbst dafür, dass er es gewagt habe, als „vorachter, begebner mensch solche hohe unnd grosse stende thar anreden in szo trefflichen grossen sachen, als were sonst niemant in der welt, dan Doctor Luther, der sich des Christlichen stands annehme, unnd szo hochvorstendigen leutten radt gebe“.⁸ Im vorliegenden Fall konnte Luther der unrechtmäßigen Einmischung in Angelegenheiten, die ihn nichts angingen, angeklagt werden, denn unter seinen Vorschlägen waren – neben den im strengeren Sinne kirchlichen und theologischen – auch solche, die an den Bereich des Zivilen grenzten: Schulreformen oder das Abschaffen des Bettels beispielsweise. In Wirklichkeit nahm man diese Grenzen nicht als solche wahr. Wenn Luther von der notwendigen Besserung des „christlichen Standes“ sprach, dachte er an nichts anderes als an das alltägliche Leben sämtlicher Untertanen des Kurfürstentums Sachsen (und des übrigen Deutschland). Religiöse Erfahrung, das Leben (in) der Kirche, Arbeit und soziale Beziehungen, all dies betrachtete man als eine einzige Realität, als die sichtbare Wirklichkeit der Lebensgeschichte der jeweiligen Generation. Im vorliegenden Fall jedoch fügte man, um die Forderung nach einem Eingreifen der weltlichen Obrigkeit auch in streng genommen kirchliche Angelegenheiten zu rechtfertigen, eine theologische Begründung an.
WA 6,404,12– 16. WA 6,404,19 – 22.
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Man hats erfunden, das Bapst, Bischoff, Priester, Kloster volck wirt der geystlich stand genent, Fursten, Hern, handwercks und ackerleut der weltlich stand, wilchs gar ein feyn Comment und gleyssen ist, doch sol niemant darub schuchter werden, unnd das ausz dem grund: Dan alle Christen sein warhafftig geystlichs stands, unnd ist unter yhn kein unterscheyd, denn des ampts halben allein.⁹
In dieser ‚Erfindung‘, welche das christliche Volk gespalten hatte, sah man die Grundlage für sämtliche Missbräuche der Kirche von Rom. Sie ermöglichte es dem Klerus, vermittels der Verwaltung der Sakramente die Verwaltung der Gnade an sich zu reißen – mit all den negativen, für das geistliche Leben geradezu desaströsen Implikationen. Davon war Luther fest überzeugt. Dem stand folgende Aussage gegenüber: „Den was ausz der tauff krochen ist, das mag sich rumen, das es schon priester, Bischoff und Bapst geweyyet sey, ob wol nit einem yglichen zymt, solch ampt zu uben.“¹⁰ Der eigentliche Unterschied besteht folglich im – je und je verschiedenen – officium, nicht im für alle gleichermaßen geltenden ius. Eine kleine Schrift aus dem Jahre 1523, Dass eine christliche Versammlung oder Gemeinde Recht und Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen, reagierte auf die Anfrage einer Gruppe von Christen in Prag, wie man auf rechtem Wege zu Pfarrern kommen könne, wenn man sich von Rom getrennt habe und somit nicht mehr in der apostolischen Bischofssukzession stehe. Hierbei handelte es sich um eine ausschließlich die interne kirchliche Organisation betreffende Angelegenheit. Die Versammlung der Laien darf einen Pfarrer wählen und ordinieren: „Verum haec communio iuris cogit, ut unus, aut quotquot placuerint communitati, eligantur vel acceptentur, qui vice et nomine omnium, qui idem iuris habent, exequantur officia ista publice“. Wenn diese Vorgehensweise, die „turpis […] confusio in populo dei“ vermeidet, nicht anwendbar ist, das heißt, wenn man sich in einer Notsituation und „in necessitate“ befindet, darf dieses Recht (iure) benutzen, „quicunque voluit“.¹¹ An späterer Stelle präzisiert Luther dies dahingehend, dass die Obrigkeit zur Not als „Notbischof“ intervenieren darf und kann – wohlgemerkt nach wie vor auf der Grundlage des ius commune cristianorum. Im Jahre 1520 wurden die weltlichen Autoritäten auf der Basis ebendesselben Prinzips dazu ermutigt, Reformen vorzunehmen, um welche sich die kirchliche Seite nicht kümmerte. Diese Obrigkeiten konnten sich auf das ius commune berufen, das ihnen als Getauften eignete. In diesem Fall ging es also darum, sich gegen die „römische“ Anmaßung, allein der kirchlichen Hierarchie die Leitung der Kirche vorzubehalten, zur Wehr zu setzen.
WA 6,407,10 – 15. WA 6,408,11– 13. WA 12,189, 21– 26.
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4 Befohlen, empfohlen, gestattet Zwei Jahre später hatte man mit anderen Widrigkeiten zu kämpfen. Luther versteckte sich auf der Wartburg: Er wurde auf Wunsch von Kurfürst Friedrich dem Weisen von Wittenberg ferngehalten. Dieser wollte verhindern, dass der geächtete, in der päpstlichen Bulle Exsurge Domine als Häretiker verurteilte und somit vogelfreie Reformator der Reichsgerichtsbarkeit würde ausgeliefert werden. Von der Wartburg aus pflegte Luther einen engen Briefkontakt mit seinen Freunden. Am 13. Juli 1521 schrieb er Melanchthon einen Brief, in welchem er diesem – neben zahlreichen anderen Dingen – eine Frage bezüglich der weltlichen Autorität beantwortete.¹² Offenbar hatte Melanchthon in einem früheren Brief einem Bedenken Ausdruck verschafft: Er hatte in der Schrift kein explizites göttliches Gebot für die Einsetzung einer politischen Obrigkeit ausfindig machen können. Wie man Luthers Worten entnehmen kann, scheint es sich zwar um eine exegetische Frage (die Suche nach einer biblischen Begründung) vonseiten Melanchthons zu handeln, sie bereitete diesem jedoch ethische Sorgen, in etwa so: Wenn die politische Macht in der Bibel nicht explizit als Gebot Gottes verzeichnet wird, wie soll dann der Christenmensch geleitet und gemaßregelt werden? Melanchthon zog nicht die Gehorsamspflicht der Christen (die an einigen Stellen begegnet) in Zweifel, sondern vielmehr die Legitimität des persönlichen Gebrauches einer Macht, die einer göttlichen Einsetzung entbehrt. Hier sind wir schon ganz nahe an der Frage, auf die Luther in der Schrift Von weltlicher Obrigkeit antworten sollte. Luther beginnt seinen Brief in einem Tonfall, der ihn etwas genervt wirken lässt: „De gladii iure sic sentio, ut prius“. Offensichtlich hatte man darüber schon gesprochen. Was Luther jedoch im Anschluss daran schreibt, ist äußerst interessant: Er schweift in eine komplizierte Klassifizierung einiger Aspekte des menschlichen Lebens anhand dreier Qualifikationen ab. Eine erste Kategorie bilden die ‚befohlenen‘ Dinge (praecepta). Diese betreffen den Glauben, oder besser: Sie sind im Wesentlichen der Glaube selbst, die „lex voluntariorum et liberiorum“. Diese ‚Freien und Freiwilligen‘ sind eine Anspielung auf die freien Bürger und auf die Soldaten, die ohne Wehrpflicht Militärdienst leisteten. Das Evangelium ist ihr Gesetz, das heißt, es bindet nicht und verpflichtet nicht. Und doch ist es das Einzige in der Bibel, was als praeceptum et consultum, als befohlen und bestimmt, begegnet. Die Vorstellung dahinter ist, dass alles, was man in der Schrift und im Besonderen im Neuen Testament findet, Evangelium ist, das man einem zwar nicht aufzwingen kann, das aber das Einzige ist, das zählt. Man kann beispielsweise nur mittels des Glaubens in Beziehung treten; auch diesen Glauben kann man zwar niemandem aufdrängen, aber er ist trotzdem geboten – im Sinne einer Einsetzung durch Gott. Die politische Autorität gehört nicht in diese Kategorie. Daher, so Luther, gebe es in der Schrift „neque praeceptum neque consultum […] huiusmodi ius in evangelio“. WA.B 2,356 – 359.
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Es gibt jedoch nicht nur befohlene, sondern auch ‚empfohlene‘ Dinge: „nec prohibitum est eius ius, imo confirmatum et commendatum“. Es finden hier Begriffe mit einer vielschichtigen Bedeutung Verwendung: confirmatum ist das, was als gültig betrachtet wird, was bekräftigt wird und was somit in seiner Existent bestätigt wird; commendatum ist das, was als nützlich angesehen wird, was anvertraut oder in Gewahrsam gegeben und somit empfohlen wird. Luther schiebt hinterher: „sicut ius matrimonii“. Mit anderen Worten: Die großen menschlichen Institutionen sind eben menschlich, und exakt aus diesem Grund wird ihre Einsetzung nicht in der Schrift erwähnt, die ja dazu geschrieben wurde, das Evangelium zu lehren (praecipere). Dass jedoch Autoritäten (oder die Ehe oder die Wirtschaft) zu den gestatteten Dingen gehören – und sogar empfohlen werden –, das zeigt sich an der Abwesenheit von Verboten und noch mehr daran, dass man oft in einer Weise über sie spricht, wie man über Dinge spricht, die notwendig und nützlich für die Bewahrung des Geschaffenen sind. Die Wichtigkeit dieser Systeme – in dem Sinne, dass Gott sie als für den Menschen essenziell wichtig betrachtet, wenngleich sie stets anderer Natur sind als das Evangelium – zeigt sich daran, dass sie von einer dritten Kategorie, nämlich dem, was „neque praeceptum neque consultum“ ist, unterschieden werden können, und stattdessen der freien Entscheidung jedes Einzelnen überlassen werden und zu den Dingen gehören, „quae solus spiritus in sua libertate disponit“. ‚Das äußerliche Fasten und Zeremonienmachen‘, also jene adiafora, welche die Kirche üblicherweise, wie Luther zu sagen pflegte, mittels unnützer Pflichten und Verbote den Leuten aufbürdete und so ‚die Gewissen zu Gefangenen‘ machte, all dies wollte Luther unbedingt der Kirche entreißen. Das alles ist gestattet, aber nicht geboten und nicht einmal empfohlen: „Roman. 13.18 et 1. Petri 3.19 […] Verba Dei sunt et magnum sonantia, ubi dicit: ‚Potestas a Deo est, et ordinationi Dei resistit, qui potestati resistit‘ […] Non invenies hoc dici in rebus permisis tantum“. Mit diesem recht verworrenen, aber sehr interessanten Brief, der uns eine Ahnung davon vermittelt, wie Luther die Welt und ihr Verhältnis zum Absoluten sah, befinden wir uns schon mitten in der Argumentation für die Wichtigkeit der politischen Obrigkeit, oder besser: für ihre Unabdingbarkeit: „Ablato enim gladio (quum necesse sit malos plures esse), quamdiu stabit ecclesia Dei in hoc saeculo, cum nullus neque vita neque rerum usu, prae malorum licentia, potiri queat?“¹³ Die Aufgaben der Autorität und die Grundlage ihrer Macht bildeten die zentralen Themen für die komplexe Analyse in der weniger als zwei Jahre davor entstandenen Schrift Von weltlicher Obrigkeit.
WA.B 2,357,44– 47.
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5 Die weltliche Obrigkeit Die Fragen, die hinter der Schrift von 1523 (die Abfassung geschah in den letzten Wochen des Jahres 1522) standen, waren folgende: Ist politische Macht legitim? Worin gründet ihre Legitimität? Wo stößt ihre Ausübung an Grenzen? Welche Ziele hat sie zu verfolgen? Im Hintergrund stand zudem noch immer die Perplexität angesichts der oben zitieren biblischen Texte, die offensichtlich miteinander im Widerspruch standen. Auf diese uralten Zweifel hatte die Tradition eine vorläufige Antwort gegeben: Die Unterweisungen der Bergpredigt (wo es beispielsweise heißt: „dass ihr nicht widerstreben sollt dem Bösen“, Mt 5,39) waren einer beschränkten Zahl von ‚Vollkommenen‘ vorbehalten, während für alle anderen nur die Banalität der unausweichlichen alltäglichen Gewalt übrigblieb. Die Predigt Luthers aber hatte diese Unterscheidungen beseitigt: Alle Christen sind aus Gnaden gerechtfertigte Sünder, alle befinden sich Gott gegenüber in der gleichen Situation. Die Fürsten konnten sich also aus gutem Grund die Frage stellen, was denn angesichts der in Deutschland aufkommenden Unruhen ihre Aufgabe und Pflicht sei. Immer zahlreicher wurden die Proteste der Bevölkerung, bis sie schließlich in Aufstände mündeten. Ausgerechnet die Ritter Ulrich von Hutten und Franz von Sickingen, die Luther ihren Schutz angeboten hatten, wagten es, eine Revolte anzuzetteln. Der Ausgang der Sache war wegen der spannungsreichen Beziehungen zum Kaiser völlig offen. Luther versuchte mehrfach, auch in Predigten, die Grundzüge der politischen Macht zu beschreiben. Über die Resultate dieser seiner Überlegungen schreibt er folgendes: „Denn ich mich schier rhuemen moechte, das sint der Apostel zeit das weltliche schwerd und oberkeit nie so klerlich beschrieben und herrlich gepreiset ist“.¹⁴ In dieser Einschätzung mag eine Prise Selbstironie stecken, dennoch war er von den Schlussfolgerungen wohl überzeugt. Er hatte auch mehrfach über diese Angelegenheiten gepredigt, und treffenderweise ließen zwei am 24. und am 25. Oktober 1522 in der Weimarer Schlosskirche gehaltene Predigten in Landgraf Johann den Wunsch nach einem ausführlicheren, schriftlich fixierten Text entstehen. So schrieb Luther die Abhandlung Von weltlicher Obrigkeit. Weil Luther in diesem Buch von „zwei Reichen“ spricht, ist dieser Ausdruck zu einer Formel geworden, die für viele eine Art Zusammenfassung von Luthers Weltsicht darstellt. Die Welt wäre demnach klar in zwei Bereiche aufgeteilt: Religion und Politik, Kirche und Staat, Papsttum und Kaiserreich. Wir haben aber gesehen, was Luther eigentliches Ziel war. Er war nicht daran interessiert, Einflussbereiche zu unterscheiden und sie in ein Gleichgewicht zu bringen; es ging ihm einzig und allein darum, den Ursprung und die Aufgaben einer neben anderen Institutionen bestehenden Institution eingehend zu untersuchen. Die weltliche Obrigkeit ist eine der gottgewollten Ordnungen zur Bewahrung der Schöpfung, in diesem Fall für die Bestrafung der Bösen und den Schutz der Guten, genauso wie die Kirche eine Ordnung
WA 19,625,15 – 16.
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zur Weitergabe des Evangeliums ist und die Familie eine Ordnung zur Sicherung der Abfolge der Generationen und der materiellen Güter. Somit war eine erste Antwort unmittelbar gegeben: Christen dürfen sich unter keinen Umständen aus Respekt vor der ihnen anvertrauten repressiven Funktion um die Ausübung der weltlichen Herrschaft drücken. Dieser Punkt macht recht gut die oben angedeutete Eigenart von Luthers Arbeitsweise deutlich: Er ging auf zu einem bestimmten Zeitpunkt auftretende Probleme ein. In diesem Fall schien es nicht nur geboten, auf die verunsicherten Fürsten einzugehen, sondern auch, sich einer innerreformatorischen Bewegung zu widersetzen, welche wieder an die althergebrachten Vorstellungen von einer Trennung von der Welt anknüpfte. Luthers Denken, welches jegliches Vertrauen in besondere Formen von Lebensentwürfen zur Sicherung des Heils verbannte, verortete die Christen wieder im alltäglichen, wechselvollen gesellschaftlichen Leben. Sie sollen sich nicht nur zivilen Aufgaben nicht entziehen, sondern sollen sich vielmehr, wo immer dies nötig ist, selbst dafür zur Verfügung stellen. Mit der Ausübung von Macht solle man zudem statt andere Personen lieber einen guten Christen betrauen, da ein solcher die Macht mit Zurückhaltung und Unvoreingenommenheit gebrauchen könne. Selbst bei einem Henker sei es besser, er wäre Christ und nicht etwa ein Gottloser. Dies gilt ebenso für den Bereich des Gerichtswesens oder der öffentlichen Ordnung, also für sämtliche Bereiche, in denen die jeweilige Autorität Zwangsmaßnahmen anwenden muss: „wenn du sehest, das am henger, buettell, richter, herrn oder fursten mangellt und du dich geschickt fundest, solltistu dich datzu erbieten und darumb werben […] und thettest nicht der meynung, das du dich rechen oder boeßes umd boeßes geben wollist, sondern deynem nehisten zu gutt unnd zur halltung schutz unnd frids der anderen“.¹⁵ Die Gang der Welt kann nicht dadurch in der am Laufen gehalten werden, dass man darauf hofft, sie „Christlich und Evangelisch“ regieren zu können, denn „die wellt und die menge ist und bleybt unchristen“. Das wäre, als wollte man die Wölfe im selben Stall halten wie die Schafe – letztere würden zwar durchaus dem Gebot, in Frieden leben, gehorchen, „aber sie würden nicht lange leben“.¹⁶ Stattdessen muss die Obrigkeit ihre rechtmäßige Macht (das „schwerd“) ausüben, um Verbrechen zu verhindern oder wenigstens dafür zu sorgen, dass man sie nicht „on furcht noch mit fride unnd glueck“ begeht.¹⁷ Luther beschreibt eine Welt, in der „die Christen wonen (wie man spricht) fern von eynander“,¹⁸ in der sie also gegenüber der Mehrheit der Ungerechten nur eine kleine Minderheit sind. „Darumb hatt Gott die zwey regiment verordnet, das geystliche, wilchs Christen unnd frum leutt macht durch den heyligen geyst under Christo, unnd
WA 11,255,1 ff. WA 11,251,35 – 35.35 – 36; letztes Zitat: 252,10. WA 11,251,7. WA 11,251,37– 252,1.
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das welltliche, wilchs den unchristen und bießen weret, daß sie eußerlich muessen frid hallten und still seyn on yhren danck“.¹⁹ Diese Beschreibung scheint im Widerspruch zu dem zu stehen, was Luther bis dato gesagt und getan hatte. Sie zeichnet eine Welt, in der Christen „duerffen keyns welltlichen schwerds noch rechts“.²⁰ Diese unterscheiden sich so deutlich von allen anderen, dass man „Adams kinder und alle menschen [kann] teylen ynn zwey teyll: die ersten [gehören] zum reych Gottis, die anderen zum reych der welt“.²¹ In diesem Sinne kann man sogar, per absurdum, die These aufstellen, dass, wenn alls welt rechte Christen, das ist, recht glewbigen weren, so were keyn furst, koenig, herr, schwerd noch recht nott odder nuetze. […] sie den heyligen geyst ym hertzen haben, der sie leret unnd macht, das sie niemant unrecht thun, yderman lieben, von yderman gerne und froelich unrecht leyden, auch den todt. […] da ist kein zanck, hadder, gericht, richter, straff, recht noch schwerdt nodt.²²
Die Hypothese wird nur deswegen für unhaltbar erklärt, weil die Christen wenige sind. Was daran so absurd ist, ist die Unmöglichkeit, sich eine ausschließlich aus „veri cristiani“ bestehende Welt vorzustellen, nicht etwa die Unmöglichkeit, ein ‚wahrer‘ Christ werden zu können. Wenn das so ist, dann erweist sich die hiesige Überlegung tatsächlich als Widerspruch zur Lehre vom simul iustus et peccator. Es ist aber bekannt, wie viel Luther diese Lehre bedeutete. Auch wenn sie nicht auf den einfachen Gehalt der Formulierung reduziert werden konnte, so konnte er sie dennoch – und gerade auch, weil sie so komplex und reich an Bedeutungsnuancen ist – nicht leichtfertig auf einmal über den Haufen werfen. Wir müssen also eine andere Erklärung suchen. Der Schlüssel zur Interpretation des ganzen Buches liegt im korrekten Verständnis dessen, was Luther mit dem Ausdruck ‚zwei Reiche‘ meint. Wir haben schon festgestellt, dass es dabei nicht um das Wortpaar Staat-Kirche geht. Es handelt sich vielmehr um ein „reich der Welt“ und ein „reich Gottis“. Es ist leicht nachzuvollziehen, dass die Menschen allesamt, Christen eingeschlossen, „in der Welt“ sind. Schließlich ist die Welt der Ort, an dem diese Christen zusammen mit allen anderen Leben; sie befinden sich nicht anderswo, erst recht nicht in einen abgegrenzten und geschützten Bereich. Das Reich „Gottis“ hingegen ist Gottes. Es ist jener Raum, in welchem Gott die Menschen als seine Kinder anspricht und sie zu solchen macht, in welchem er diese trotz deren Sünde dadurch als gerecht betrachtet, dass er ihnen seine (Gottes) Gerechtigkeit zueignet. Dieser Raum ist weder sichtbar noch ein für alle Mal fest im Leben jedes einzelnen Christen verankert: „volkommenheyt unnd unvolkommenheyt steht nicht ynn wercken, macht auch keynen sondern eusserlichen standt unter den Christen, sondern steht ym hertzen, ym
WA 11,251,15 ff. WA 11,249,36. WA 11,249,24. WA 11,249,37– 250,6.
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glawben und liebe […] liebe und glawbe machen keyne secten noch unterscheyd eußerlich“.²³ Das Reich Gottes ist somit eine Frage der Innerlichkeit; nicht jedoch im Sinne einer Innerlichkeit des Menschen (sie besteht daher nicht in menschlichen affectus, auch wenn der Christ sie mit „seinem hertzen“ erkennt), sondern im Sinne einer Wirklichkeit, die nicht extern und sichtbar ist, die nicht von ihm beherrscht werden kann. Es sind vielmehr die Dinge aus dem „reich der Welt“, in die er eingreifen kann. Christen können sogar „viel mehr […] von yhn selbs, denn alle recht unnd lere foddern muegen“.²⁴ Sie können; aber Luther war sehr wohl bewusst, dass sie dies nicht immer tun. Sie sind nicht nur deswegen simul peccatores, weil ihnen die Möglichkeit verwehrt ist, selbst vor Gott als gerecht dazustehen, sondern auch, weil sie wegen ihrer sündigen Veranlagung verständlicherweise immer wieder und de facto fehlen. Es gilt daher: „Nu aber keyn mensch von natur Christen odder frum ist, sondern altzumal sunder und boese sind“.²⁵ Des Menschen Natur ist hartnäckig und beeinflusst auch den Christen bis an sein Lebensende. Diese Präzisierung ist von großer Wichtigkeit; andernfalls liefe man Gefahr, Luther zu unterstellen, er sei der Meinung, eine – absurderweise – komplett ‚christianisierte‘ Welt könne direkt durch göttliches Recht regiert werden. Luther würde so zu einem Fundamentalisten, zu einem von denen, die doch – gerade auch in jenen Jahren – seine gefürchtetsten Gegner waren, weil sie Teil ebenderselben Bewegung waren. Vielmehr nun ist die als Ort der Bestrafung des Bösen oder der Ausübung von Macht beschriebene Welt die einzige, in der die Christen (eben diejenigen, die per absurdum – und zwar nur per absurdum – dies nicht nötig hätten) versuchen können, als gerechtfertigte Christen zu leben. Und dies geht so weit, dass sie sich dieser Autorität sogar zur Verfügung stellen und sie „[für] die anderen, das sie beschuetzt und die boesen nicht erger werden“, ausüben sollen.²⁶ Das von Luther hier benutze Schema einer sehr kleinen Gruppe „wahrer“ Christen, die innerhalb der großen Masse der „Bösen“ verstreut sind, so kann man wohl guten Gewissens sagen, ist Frucht seines häufigen Gebrauches von Paradoxa zu rhetorischen Zwecken, mithilfe derer er das Wesen der politischen Macht möglichst verständlich darstellen möchte. Man sollte nicht vergessen, dass Luthers Arbeit – in diesem Fall – darauf abzielte, „das welltlich recht und schwerd wol [zu] gruenden, das nicht yemand daran zweyffel, es sey von Gottis willen und ordnung ynn der wellt“.²⁷ Es ging ihm, wie schon erwähnt, nicht darum, die Existenz der Kirche oder ihr Verhältnis zur politischen Macht zu begründen und darüber Rechenschaft abzulegen. Es ging ihm nicht einmal darum, eingehend das „reich Gottis“, diesen Ort ohne äußer
WA 11,249,18 ff. WA 11,250,7. WA 11,250,26 – 27. WA 11,254,1– 2. WA 11,247,21 ff.
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liche Gestalt, der unsichtbar ist und in welchem der Mensch vor Gott steht, das heißt, zusammengefasst, die Rechtfertigung durch Glauben, zu untersuchen: „Darumb muß man dise beyde regiment mit vleyß scheyden und beydes bleyben lassen: eyns das frum macht, Das ander das eusserlich frid schaffe und boesen wercken weret“.²⁸ Mit meiner Kursivsetzung möchte ich hervorheben, was Luther unter dem „reich Gottis“ verstand: nicht die Kirche im Gegenüber zum Staat, sondern die Rechtfertigung aus Gnade. Auf der einen Seite ist also das „geistliche reich“, auf der anderen das „weltliche reich“. Da aber mit Christus das Reich des Geistes in das Reich der Welt gekommen ist, um es zu erlösen, existieren im Leben der Menschen beide Reiche nun nebeneinander, ohne dass es möglich wäre – außer in der Theorie –, ihre genauen Grenzen zu bestimmen: „Keyns [der beiden Reiche] ist on das ander gnug ynn der wellt“.²⁹ Jeder Christ ist als Person Träger sowohl der Rechtfertigung als auch ihrer Konkretisierung im gesellschaftlichen Leben, sowohl des ‚Befohlenen‘ als auch des ‚Empfohlenen‘: „Darumb solltu das schwerd oder die gewalt schetzen gleych wie den ehlichen stand oder ackerwerck oder sonst eyn handwerck, die auch Gott eyngesetzt hatt. […] sei du nicht ßo frevel, das du wolltist sagen, Eyn Christ muege das nicht fueren, das Gottis eigentlich werck, ordnung unnd creatur ist“.³⁰ Exakt aus diesem Grund muss für den Christen gelten: dupliciter consideratur [est]: 1. Internus in fide; ibi neque mas neque femina neque dominus neque servus est. 2. Externus et politicus; sic est coniugatus, artifex, dominus, servus. Illi licet uti legibus forensibus, suum repetere, quia non sibi, sed proximo vivit, sicque caesari est subiectus et iuri gentium, denn er sol dem keyser sein recht helffen stercken und nicht schwechen.³¹
Dasselbe Ineinander (und dieselbe Unterscheidung) findet sich auch im Brief an Melanchthon. Schon da konnte man erkennen, wie das Fehlen einer göttlichen Einsetzung der zivilen Obrigkeit in der Schrift zu erklären ist: „Neque conveniebat ullo modo, cum euangelium sit lex voluntariorum et liberorum, quibus nihil commune cum gladio aut gladii iure“.³² Diese Erklärung steht, anders als man auf den ersten Blick vermuten könnte, nicht im Widerspruch zur Aufforderung an die Christen, sich an der ‚öffentlichen Sache‘ zu beteiligen. Es handelt sich dabei vielmehr um einen Hinweis auf das andere „reich“, auf das Evangelium, auf das, was zum Bereich des Heils gehört. Einzig und allein das, was zu diesem Bereich hinzugehört, ist im Neuen Testament „institutam“ geworden: „Cum ergo Christus in euangelio res divinas et coelestes instituere debuerit, quid mirum, so gladium non instituerit, qui humanis creaturis facile ordinari potest“. Auch hier ist die Kursivsetzung von mir; herausstellen
WA 11,252,12– 14. WA 11,252,14. WA 11,258,3 – 5 und 257,19 – 21. WA.TR 1,356,13 – 18. WA.B 2,357,35 – 36.
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möchte ich damit die klare Betonung der geschichtlichen – und nicht der göttlichen – Natur der Macht. Im Brief heißt es weiter: „et tamen [Christus] sic eum tractat, ut, nisi euangelio repugnaret, eum a se instituti, vellet instituere, dum commendat et confirmat institutum, umo dum plane asserit divinitus ordinatum“.³³ Einerseits also wird bestätigt, dass sich die politische Autorität von Natur aus von den Dingen „des Reiches Gottes“ unterscheidet; andererseits ist sie eine Anordnung, eine gottgewollte Ordnung, divinitus ordinatum (wobei ordinatum ‚aufgestellt‘ oder ‚in Ordnung gebracht‘ meint, nicht etwa ‚angeordnet‘, was praeceptum wäre). Auch hier ist zu sehen, dass die politische Organisation als eine Parallele zu anderen menschlichen Einrichtungen wie Familie und Wirtschaft betrachtet werden muss. Diese sind also notwendige und wohltuende, aber doch menschliche Gegebenheiten: „ego tot modis confirmatam, commendatam, honorandem, oratione Deo commendandam habeo potestatem huius mundi, nis quod ab euangelio neque imperata neque consulta sit, quod nec metrimonium, nec domus, nec disciplina domus aut civitatis, aut ulla rerum corporalium administratio et cura“.³⁴
6 Drei heilige Ordnungen Dieses letztgenannte Zitat ist dem Brief aus dem Jahre 1521 entnommen. 1528 kam Luther am Ende einer wichtigen Abhandlung über das Abendmahl wieder auf die Gleichwertigkeit von der „potestatem huius mundi“ und einer „ulla rerum corporalium administratio et cura“ zu sprechen. Sehr ungewöhnlich ist der Umstand, dass er in diese Liste auch die Kirche einreihte: „die heilligen orden und rechte stiffte von Gott eingesetzt sind diese drey: Das priester ampt, Der Ehestand, Die weltliche oeberkeit“.³⁵ Es kann an dieser Stelle nur in groben Zügen dargestellt werden, was Luther üblicherweise unter dem Begriff ‚Kirche‘ verstand. Er gebrauchte ihn in teilweise sehr verschiedenen Bedeutungen, die je und je in ihrem Kontext zu interpretieren sind. Im Genesiskommentar (1535) beispielsweise beschrieb er „Kirche“ als Beziehung zwischen Gott und dem soeben erschaffenen Menschen. Fundament dieser Beziehung ist die Verheißung des Lebens in Vers 2,16: „Du darfst essen“: „Haec est institutio Ecclesiae, antequam esset Oeconomia et Politia […] Nam Dominus concionatur hic Adae et proponit ei verbum“.³⁶ Wie man sieht, begegnet auch hier die Unterteilung in drei „ordines sacri“. Vor dem Fall ist die Kirche „verbum, cultum et religionem […] nudissimam, purissimam et simplicissimam, in qua nihil laboriosum, nohil sumptuosum fuit“.³⁷ Nun aber „loquimur de his bonis, tanquam de thesauro perdito“,³⁸ wel
WA.B 2,358, 90 – 92. WA.B 2,359,100 – 104. WA 26,504,30 – 31. WA 42,79,3 – 80,2. WA 42,80,41– 81,1.
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chen der Mensch nicht mehr aus eigener Kraft zurückerlangen kann. Nur auf Gottes Initiative hin kann – wenn auch nicht dieselbe „purissimam“ Beziehung, da der Mensch trotz allem immer simul Gerechtfertigter und Sünder bleibt – so doch wenigstens die Verheißung der Erlösung, in welcher der Mensch lebt, wiederhergestellt werden. Damit ist das „reich Gottis“ gemeint, von dem Luther 1523, zusammen mit dem „reich der Welt“, gesprochen hatte. Dies bestätigt die Vermutung, dass die beiden „Reiche“ nicht Staat und Kirche entsprechen; es handelt sich nicht um zwei Dinge, die jeweils verschiedene Attribute – wenn auch auf parallele Weise und in einer Art Gleichgewicht – auf ihrer Seite haben, wie etwa zwei Hälften eines Apfels; stattdessen sind sie je für sich ganz und vollständig. Sie befinden sich auf zwei verschiedenen Ebenen und sind doch durch die Verflochtenheit der Existenz des Glaubens mit der des gesellschaftlichen Lebens, dem jeder Christ unterworfen ist, miteinander in Kontakt. So zumindest die Abhandlung Von weltlicher Obrigkeit. Die Kirche aber, die – zusammen mit der politischen Regierung und der Wirtschaft – eine „heilige Ordnung“ ist, ist nicht das Reich Gottes. Luther verortet sie nicht in der Unterscheidung der beiden Reiche von 1523, sondern identifiziert sie des Öfteren, wie wir gesehen haben (und wie man es noch mit weiteren Zitaten belegen könnte), mit einer der drei Ordnungen. Er beschreibt sie als „Alle die, so ym pfarampt odder dienst des worts funden werden, sind ynn einem heiligen, rechten, guten, Gott angenemen orden und stand, als die da predigen, sacrament reichen, dem gemeinen kasten furstehen, kuester und boten odder knechte so solchen personen dienen.“.³⁹ In anderen Worten: es ist die sichtbare Kirche, in der den Gerechtfertigten das Wort gepredigt wird (in welcher also die Verheißung des Lebens, das heißt das Wesen des Reiches Gottes, erneuert wird), zu der aber auch eine menschliche Organisationsform gehört, deren Gestalt zwar je nach Zeit und Kontext variiert, die aber doch stets in Übereinstimmung mit dem Zweck ihrer eigenen Einrichtung bleiben muss. Soviel zur Kirche, nur, um – aus Gründen der Einheitlichkeit – die Eigenschaften der politia, der zivilen Regierung, die selbst auch eine gottgewollte (nicht göttliche!), aber ganz im Rahmen der Geschichte zu verortende Einrichtung ist, herauszustellen. „Sihe, das heiszen alles eitel gute heilige werck, Dennoch ist keiner solcher oerden ein weg zur seligkeit […] Denn es ist gar viel ein anders heilig und selig sein. Selig werden wir allein durch Christum, Heilige aber beide durch solchen glauben und auch durch solche Goettliche stiffte und orden“.⁴⁰ In Luthers Sprachgebrauch und im Sinne der biblischen Vokabel ist die Heiligkeit das Handeln des Menschen, der ‚beiseitegenommen‘ oder für das Befolgen des Willens Gottes ‚bereitgehalten‘ wurde. Sie ist die Ethik dessen, der gratis die Erlösung empfangen hat. Die sichtbare Kirche, die Familie (Vermehrung und Produktion der Güter, also Wirtschaft) und die zivile Regierung bilden die Welt ab, in welcher der Christenmensch sich in Heiligkeit übt.
WA 42,80,35. WA 26,504,32– 35. WA 26,505,15 – 20.
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7 Staat und Kirche Das Nebeneinander der drei Ordnungen wirft a latere die Frage nach ihrem Verhältnis zueinander und im Speziellen die nach der kirchlichen und der politischen Organisation, also nach Kirche und Staat, auf. Für Luther bestand kein Zweifel daran, dass die Zuständigkeitsbereiche der beiden klar voneinander unterschieden bleiben müssen. An Melanchthon, der gerade dabei war, für die Confessio Augustana einen Artikel über die Person des Fürstbischofs zu schreiben (wieder einmal also aus konkreter Notwendigkeit heraus), schrieb er folgendes: „Primum cum sit certum, duas istas administrationes esse distinctas et diversas, nempe ecclesiasticam et politicam, quas mire confudit et miscuit Satan per papatam, nobis hic acriter vigilandum est, nec committendum, ut denuo confundatur, ne culli cedendum aut consentiendum, ut confundat“.⁴¹ Die Figur des Fürstbischofs vereinte zwei mögliche Missbräuche in sich, die es zu vermeiden galt. Einer davon war die geistliche Unterdrückung der Versammlung der Gläubigen durch die Hierarchie: „episcopus ut episcopus nullam habet potestatem super ecclesiam suam ullius traditionis aut ceremoniae imponendae, nisi consensu ecclesias vel expresso vel tacito. Quia ecclesia est libera et domina, et episcopi non debent dominari fidei ecclesiarum, nec invitas onerare aut opprimere“. Als jemand, der eine politische Funktion innehat, „multo minus potest super ecclesiam imponere quicquam, quia hoc est prorsus confundere has duas potestates“. Weiter heißt es: „Loquor de ecclesia ut ecclesia, distincta iam a civitate politica“. Dennoch kann der Fürstbischof sehr wohl im zivilen Bereich Gesetze erlassen – allerdings nur in der Funktion des Fürsten: „Obediunt enim tunc non ut ecclesia, sed ut cives“.⁴² Die Confessio Augustana datiert auf das Jahr 1530. Als wenige Jahre zuvor einige Staatsbeamte und Militärs im Rahmen ihrer dienstlichen Tätigkeiten zwinglische Lehren verbreiteten, riet Luther dem Kurfürsten (der sich Sorgen machte und ihn um Rat gebeten hatte), diese daran zu hindern, tat dies aber nicht mit dem Ziel, die lutherische Orthodoxie zu verteidigen, sondern ausschließlich um der Abgrenzung der Rollen voneinander willen: „Si, inquit, publicum ministerium non est ei commissum, dicat princeps illi, ut taceat et abstineat publice aliquid vel in conviis vel in caupona vel in conventu hominum ea de re loqui, quia hoc non est sui officii; pro se autem et apud se potest credere, quidquid vult. Neque ipse sibi officium docendi sumere debet, est enim officium divinum“. Noch deutlicher, und die Dreiteilung wieder aufnehmend, warnte er davor, dass „probe discernendum inter officia ecclesiastica, politica, oeconomica“.⁴³ Wenn der Inhaber einer staatlichen Funktion sich nicht öffentlich zu theologischen Themen äußern darf, so darf seinerseits der Theologe ebenso wenig Stellung zu
WA.B 5,492,10 – 14. WA.B 5,492– 493, passim. WA.TR 1,425 – 426, passim.
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den zivilen Rechtsbestimmungen beziehen. Die protestantischen Obrigkeiten, die sich der Bedrohung ausgesetzt sahen, der Kaiser könne militärisch gegen sie vorgehen, diskutierten viel über die Frage, ob es zulässig sei, Gegenwehr zu planen und in die Tat umzusetzen, und zogen Luther hierfür mehrfach zu Rate. „Interrogaremus, an non etiam sui officium sit iudicare de illis legibus“, so fragte ein Gast in seinen Notizen über seine Gespräche mit Luther. Dieser antwortete: Non. Theologus tantum docet credendum Christo, deinde generaliter adhortatur unumquemque, ut suum officium faciat in fide; ut: Sutor suat calceum etc.; quomodo autem calceus suendus, quomodo venendus sit, hoc non est mei officii praescribere. […] Sic etiam com de civilibus docet theologus, tantum generaliter docet. Dicit: Non furare! Sed iuristae postea docent, quomodo fiat furtum. […] Sic ego generaliter doceo in hac quaestione de caesare, quod sint sequendae leges; quae autem illae leges sint et quales, hoc neque scio neque scire volo, quia non est officii mei.⁴⁴
8 Gehorchen und ungehorsam sein Die unmittelbare Gefahr einer militärischen Intervention gegen die protestantischen Fürsten mit dem Zweck, diese per Gewalt wieder in Gehorsam gegenüber Rom zu bringen, ist, zusammen mit der daraus folgenden Entscheidung für einen organisierten Widerstand, ein Beispiel dafür, wie überzogen die weit verbreitete Meinung ist, Luther habe gelehrt, dass die politische Obrigkeit eine solch unbeschränkte (da von Gott befohlene) Macht habe, dass sie keinen Ungehorsam erlaube. Es ist hier in aller Kürze darauf hinzuweisen, dass man aufgrund dieser verzerrten Auslegung in der deutschen Reformation die Wurzel für den totalitären Staat zu erkennen meinte. Wir müssen an dieser Stelle darauf verzichten, die Entfaltung dieser Interpretation sowohl zu den verschiedenen Zeiten als auch in den Kulturräumen der unterschiedlichen Länder nachzuvollziehen; stattdessen beschränken wir uns darauf, einen kurzen Aufsatz zu zitieren, welchen der renommierte italienische Historiker Luigi Firpo in der Mitte des vorigen Jahrhunderts einem Band von Texten Luthers unter dem Titel Scritti politici voranstellte. Einerseits muss darauf hingewiesen werden, dass dieser von UTET (Unione Tipografico-Editrice Torinese) veröffentlichte Band (zusammen mit den nachfolgenden Band unter dem Titel Scritti religiosi) faktisch die einzige Sammlung lutherischer Quellen war, die dem italienischsprachigen Leser zur Verfügung stand. Ein verdienstvolles Werk also. Aus demselben Grund jedoch trug die in der Einleitung dargebotene Interpretation der „dottrina politica luterana“ dazu bei, dass den italienischen Lesern eine vollkommen falsche Vorstellung dieser Themen vermittelt wurde, was sowohl für die Auslegung der lutherischen Quellen als auch für das Verständnis der Entstehung (der Gründe und Funktionen) und auch der Entwicklung der deutschen evangelischen Kirchen galt. Dies ist der Grund dafür, dass wir die Schrift hier,
WA.TR 1,40,23 ff.
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nach 60 Jahren, wieder zitieren: als Beispiel für das Missverständnis, das sich im italienischen Raum verbreitet hat und noch immer längst nicht ausgeräumt ist. Luigi Firpo schrieb: L’insistenza sul carattere interiore dell’esperienza religiosa determinò un atteggiamento quietistico, un conformismo passivo ai voleri dell’autorità; nella sottomissione remissiva e nel tiepido misticismo delle chiese luterane la Germania esprimeva le proprie manchevolezze politiche, la tipica soggezione individuale, l’irresponsabilità nella subordinazione, l’insensibilità agli ideali democratici e liberali che stavano per fiorire nella coscienza europea. Si foggiava così quel popolo supinamente compatto, povero di forti contrasti individuali, che di tempo in tempo era destinato a riaccendersi di violenti entusiasmi e di orgoglio dissennato nel riudire da altre labbra i nazionalistici appelli gettati da Lutero, primo banditore del messianesimo della razza e della missione provvidenziale del grande impero tedesco.⁴⁵
Es muss freilich darauf hingewiesen werden, dass dieser Text im Jahre 1949, also kurz nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Nationalsozialismus, veröffentlicht wurde. Wegen der geschichtlichen Ereignisse, die Europa gerade erst hinter sich gebracht hatte, wäre es unfair, dem Autor nicht ein gewisses Maß an Übertreibung zuzugestehen. Es ist offensichtlich, dass er an eben diese geschichtlichen Begebenheiten dachte, wenn er Anspielungen an „altre labbra“ machte, die „nazionalistici appelli“ von sich gaben, oder an den „messianesimo della razza“ und die „missione provvidenziale del grande impero tedesco“. Völlig unangemessen erscheint hingegen, dass er dies nahezu unmittelbar mit einem angeblichen Nationalsozialismus Luthers in Verbindung bringt. Es stimmt zwar durchaus, dass Luthers Sorge um seine „cari tedeschi“ beziehungsweise sein Interesse an ihrer Selbstständigkeit „nazionale“ war (im Sinne der das Heilige Römische Reich bildenden Nationen), darin steckte aber nicht Nationalistisches (im Sinne des 19. und 20. Jahrhunderts – dies nämlich kann unmöglich um vier Jahrhunderte vordatiert werden). Im Übrigen ist auch der Gebrauch des Rassenbegriffs im Sinne eines Antisemitismus vor dem positivistischen Wissenschaftsverständnis des ausgehenden 19. Jahrhunderts undenkbar. Dass diese Vorstellung von Luther als dem Vater des Nationalsozialismus besonders in Ländern wie Italien, die wenig oder gar nicht mit der Reformation vertraut sind, kursierte und dort noch immer weiterwirkt, ist zum Teil (und nur zum Teil) – auch das muss beim Namen genannt werden – mit der zweckentfremdeten Verzerrung einiger lutherischer Schriften durch die Nationalsozialisten zu erklären. Bei all dem erkannte doch sogar Firpo an, dass Luther der politischen Obrigkeit mit der individuellen Gewissensfreiheit eine Grenze gesetzt hatte: „Resta al credente, intatta, ma esclusivamente interiore, la libertà della fede“. Diese Formulierung allerdings erweist sich nicht nur als oberflächlich, sondern auch als falsch, wenn man auch nur einige wenige der Abschnitte zu Rate zieht, in denen Luther erklärte, wie mit dieser Gewissensfreiheit umzugehen sei. Luther schrieb nämlich nicht nur: „hie [ist] L. Firpo, Introduzione a Scritti politici di Martin Lutero, hg.v. G. Panzieri Saija, Turin, 1949, 9 – 22. Alle nachfolgenden Zitate beziehen sich auf diese Seiten.
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klar die seele auß aller menschen hand genommen und alleyne unter Gottis gewallt gestellet“,⁴⁶ sondern auch: „Wenn denn eyn furst unrecht hette, ist yhm seyn volck auch schuldig zu folgen? Anttwortt: Neyn. Denn wider recht gepuert niemant zu thun, Sondern man muß Gotte (der das recht haben will) mehr gehorchen denn den menschen“.⁴⁷ Dies ist eine Aussage, die nun nicht unbedingt zu „un conformismo passivo ai voleri dell’autorità“ führt. Wie gesagt spiegeln die Voraussetzungen, die zur Bildung eines Bundes der deutschen Fürsten gegen den Kaiser führten, gut die Haltung Luthers wider – die im Übrigen komplex war und auch Veränderungen durchmachte. In der Tat wurde er nun – im Rahmen der für ihn unanfechtbaren gegebenen Situation, die vorsah, dass der Niedrigere dem Höheren Gehorsam leistete – vor eine ganz neue Herausforderung gestellt. Von den Juristen – die ihrerseits ebenso um Stellungnahmen gebeten wurden – lernte er, dass die Macht des Kaisers über die die Kurfürsten nicht einfach auf einer hierarchischen Überlegenheit basierte, sondern dass auch letztere über eine eigene politische Autorität verfügten. Somit also war die Frage in gewisser Weise schon gelöst. Dennoch sah sich Luther in jenem Kontext dazu veranlasst, einige wichtige Dinge festzuhalten, darunter beispielsweise Folgendes (was im Übrigen die Aussage ist, von der wir ausgegangen sind): „Ideo necessaria est disctinctio, scilicet quod christianus est duplex persona, scilicet fidelis et politica. Fidelis omnia patitur; non edit, non bibit, non gignit. Sed politicus legibus et iuri est subiectus“, und zwar nicht nur, wie man erwarten könnte, im Sinne eines schlichten Gehorsams ihnen gegenüber, sondern auf aktive Weise, das heißt so, dass man einen Beitrag dazu leistet, dass sie gehalten werden: „cogitur se defendere et pacem tueri“. An dieser Stelle des Argumentationsganges hat Luther noch diejenigen im Blick, die über politische Gewalt verfügen, und fragt nach deren Möglichkeit „pacem tueri“. Sehr bald aber sollte sich sein Denken hin zum Menschen an sich verschieben: „Ita si me conspiciente quis uxorem et virgines stuprare vellet, da wolde ich den christuanum zu rucke setzen et politicam personam gebrauchen, in erwurgen in ipso facto oder umb hulfe schreien“.⁴⁸ Hier scheint es sich um einen Hinweis auf die persönliche Verantwortung dessen zu handeln, der Beihilfe zu einem Verbrechen leistet, dieses aber stattdessen zu verhindern suchen sollte. Dieser Text darf jedoch nicht losgelöst von dem Text betrachtet werden, in welchem nicht Gehorsam, sondern Ungehorsam gegenüber einem Fürsten gefordert wird, „che abbia torto“. Somit wird man kaum die „tipica soggezione individuale“ oder „l’irresponsabilità nella subordinazione“⁴⁹ auf Luther zurückführen können.
WA 11,263,14– 15. WA 11,277,28 – 31. WA.TR 4,237,10 – 16. http://docplayer.it/28639180-Luigi-firpo-introduzione-in-martin-lutero-scritti-politici-a-cura-digiuseppina-panzieri-saija-torino-utet-1949-pp.html (Zugriff: 12.06. 2017).
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Was für uns an diesem Text nun aber von ganz besonderer Bedeutung ist, das ist die kurze Passage „da wolde ich den christianum zu rucke setzen et politicam personam gebrauchen“. Wie könnte man auf bessere Weise die dialektische Spannung ausdrücken, in der sich der Gläubige von damals wiederfand? Nicht zufällig handelt es sich hierbei um einen der wenigen Sätze in dieser langen Tischrede über öffentliche Angelegenheiten, in denen sich unter das Lateinische auch Deutsch mischt. Welche der beiden Sprachen wohl die des Christen und welche die der „politicam personam“ sein mag? Noch eine Bemerkung zu den Grenzen des Gehorsams: laut Firpo il potere, anche male impiegato, conserva la sua intera legalità ed esige dal suddito, in ogni caso, sottomissione totale, attiva e fervida, nella particolare sfera pratica cui esso sovrintende. Resta al credente, intatta, ma esclusivamente interiore, la libertà della fede.
In Wirklichkeit gibt es, wie wir gesehen haben, im Denken Luthers keine solche Trennung zwischen innen und außen (es gibt sie nur als Unterscheidung, mit einer anderen Bedeutung wohlgemerkt). Diese zwei Christen, die in jedem Christen zu finden sind, machen diesen, wie schon festgestellt, zu einem zweifachen, aber nicht zu einem doppelten, zu einem ambivalenten, aber nicht zu einem ambigen. Der Grund dafür ist, dass alle beide letzten Endes das eine und einzige Bewusstsein ausmachen, das durch keine irdische Autorität verletzt werden kann. Wenn das Gewissen des Christenmenschen Luther zufolge nicht notwendigerweise der Obrigkeit Gehorsam leisten muss, bedeutet dies, dass man ihm viel – und nicht wenig, schon gar nicht rein innerlichen – Handlungsspielraum zugesteht. Was das Gewissen ausmacht, reicht sehr weit: Wo es aber keme, wie offt geschicht, das weltlich gewalt und ubirkeit, wie sie heyssen, wurden einen unterthanen dringen widder die gebot gottis odder dran hyndernn, da gaht der gehorsam ausz, unnd ist die pflicht schon auff gehabenn. Hie musz man sagen, wie sanct Peter zu den fursten der Juden sagt: Man musz gott mehr gehorsam sein, dan den menschen. Er sprach nit ‚man musz den menschenn nit gehorsam sein‘, dan das were falsch, sondern ‚gotte mehr dan den menschenn‘. Als wen ein furst wolt kriegenn, der ein offentliche unrecht sach het, dem sol man gar nit folgen noch helffen […] Item szo er hiesse ein falsch getzeugnis geben, rauben, liegen odder betriegen, und des gleichen. Hie sol man ehe gut, ehr, leyp unnd leben faren lassen, auff das gottis gebot bleybe.⁵⁰
Selbstverständlich geht es nicht darum, im eigenen Gewissen oder Gemüt den Glauben angesichts von Anfeindungen möglichst intakt zu halten, sondern darum, Tag für Tag neu zu entscheiden, wie man sich seinen Mitmenschen beziehungsweise der Gesellschaft gegenüber verhalten soll – in voller persönlicher Verantwortung, wenn nötig auch im Widerstand gegen eine ungerechte Obrigkeit.
WA 6,265,15 – 26.
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9 Ein Herrscher ohne Grenzen „In questa dottrina l’umana raccomandazione erasmiana rivolta ai prìncipi, perché si dedicassero al bene dei popoli, si risolve in tendenziosa apologia dell’assolutismo e finisce collo sciogliere da ogni vincolo il potere secolare: il sovrano è libero da ogni norma, sordo a ogni consiglio, ignaro di ogni diritto“. Noch einmal dient uns Firpos Einleitung – unter Hinzuziehung von Originalquellen, wenn auch in aller gebotener Kürze – dazu, einige Aussagen Luthers klarzustellen, die in starkem Kontrast zu dieser noch immer so verbreiteten Auffassung stehen. In diesem Fall urteilt Firpo nicht nur über Luther, sondern auch ganz allgemein über die Verfügungsgewalt des modernen Staates, den dieser als vollkommen ungebunden und somit als rein unterdrückerisch versteht. Als Startpunkt kann der Vergleich mit Erasmus dienen. Der Gegensatz zwischen den beiden wird hier zwar hinsichtlich des literarischen Genres der Anweisung an die Fürsten durchdekliniert, lässt sich aber prinzipiell auf viele weitere Themen beziehen: Vernunft, Freiheit, Universalismus, Reformismus und so weiter. Nirgends allerdings ist diese Gegenüberstellung derart unbegründet wie in unserem Fall. Der dritte Teil der Abhandlung Von weltlicher Obrigkeit ist ja eben gerade eine Art Handreichung für christliche Fürsten, die in verschiedene Aufgabenbereiche unterteilt ist (sie müssen auf die Untergebenen Rücksicht nehmen; sie müssen ihre Berater mit Bedacht auswählen; sie müssen darauf achten, wie mit Missetätern umgegangen werden kann; sie müssen sich Gott unterwerfen u.s.w.), woraus klar hervorgeht, dass Luther ganz dezidiert daran gelegen war, dass die Fürsten sich um das Wohl der Bevölkerung bemühen. Und dies gilt für Luther umso mehr, als ein jeglicher potenzieller Aspekt des Verhaltens der Obrigkeit in der religiösen Berufung zu einem Leben in der Welt gründet, welche die Verantwortlichen der Politik mit jedem anderen Christen gemeinsam haben. „[W]eltlich hirschafft ist ein mitglied worden des Christlichen Corpers, unnd wie wol sie ein leyplich werck hat, doch geystlichs stands ist“.⁵¹ Die politische Macht, von der Luther spricht, ist alles andere als grenzenlos. Sie steht im Widerspruch zu Willkür und zu einer außer Kontrolle geratenen gebieterischen Haltung. Laut Firpo hingegen la dottrina politica luterana si conclude in uno squallore senza speranza: l’ordine vigente è raggelato in una staticità negatrice di ogni progresso, misconosciuti appaiono gli elementari diritti della persona umana, il principe è giustificato in perpetuo, se non come governatore saggio, come flagello di Dio; il mondo si riduce a una turba di dannati perversi duramente coatti entro costrizioni esteriori.
Wir haben aber gesehen, dass eine erste grundlegende Grenze der politischen Machtausübung in der Berücksichtigung der inneren Gewissensfreiheit liegt. Die WA 6,410,3 – 5.
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Staatsgewalt hat keinen Zugang zu dieser Freiheit, was ein Zeichen dafür ist, dass sie einer besonderen Instanz gegenübersteht, die sie zu respektieren hat und durch welche sie in eine dialektische Spannung gebracht und von ihr verwandelt wird. Diese Grenze trägt also dazu bei, einen konkreten Umgang mit politischer Macht zu finden. Auch eine andere Grenze – wenn wir uns an diesen Begriff halten wollen – funktioniert auf dieselbe Weise: Die Pflicht der Obrigkeit, das Leben der Untertanen zu beschützen, indem sie Verbrechen unterbindet und für das Leben und das Hab und Gut der Aufrichtigen einsteht, führt tendenziell zu einer Weiterentwicklung der Aufgaben der Obrigkeit selbst im Sinne einer Besserung der Gesellschaft. Man denke nur an den vollständigen Titel des Schreibens, mit dem Luther die weltlichen Fürsten zu einer Reform der Kirche aufforderte: An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung. Für Luther war es eine reale Möglichkeit, dass ein von klarer Vernunft begleiteter politischer Wille nicht nur die Kirche, sondern die Bedingungen des Lebens der Untertanen überhaupt verbessern könne: Abschaffung des Bettels, Bildungsreformen etc. Im Traktat Von weltlicher Obrigkeit heißt es: „[Ein Fürst soll sagen: Ich] will yhn auch alßo dienen mit meynem ampt, sie schuetzen, verhoeren und verteydigen und alleyn dahyn regirn, das sie gut unnd nutz davon haben und nicht ich“.⁵² Dieses letztgenannte Zitat, das sich in allgemeiner Manier auf sämtliche Aufgaben der politischen Autorität bezieht, scheint in besonderer Weise dazu geeignet zu sein, zu beschreiben, wie sich Luther die Beziehung zwischen Macht (der Fürsten oder der Regierungen im Allgemeinen) und der Kirche vorstellte. Einer der Vorwürfe, die man der lutherischen Reformation – üblicherweise im Vergleich mit der schweizerischen – oft macht, ist der, dass sie einer neuen Form solcher Beziehungen zwischen Politik und Kirche Vorschub geleistet habe: der ‚Staatskirche‘. Dieses Argument begegnet sehr häufig; als Beispiel hierfür sei – der Einfachheit halber – noch einmal auf Firpo verwiesen: Cadute le gerarchie cattoliche, la concentrazione dei due poteri, che Lutero aveva condannato con sì dure parole negli ecclesiastici, si ricostituisce per via inversa; la delega del sacerdozio apre la via al conferimento dell’autorità religiosa ai prìncipi secolari, aspiranti ormai a un assolutismo tanto più esoso quanto più libero dalla contrapposizione di un’autorità religiosa indipendente.
Wieder ist von Absolutismus die Rede: In diesem Fall wird er mit einer Schwächung der kirchlichen Institution in Verbindung gebracht. Dies erkenne man an Luthers „preoccupazioni opportunistiche“ und an der „necessità di trovare autorevoli appoggi al moto ormai dilagante della Riforma“. Dass Luther – trotz seiner ungestümen Art – ein vernünftiger Mensch war, der sehr wohl um die Bedeutung einer Unterstützung (oder, andersherum, einer Beeinträchtigung) seiner reformatorischen Bewegung vonseiten der Obrigkeit in den Territorien, wo sie sich immer weiter ausbreitete, wusste, das ist wohl wahr. Das Problem nun WA 11,273,18 – 20.
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besteht in der Notwendigkeit, zwischen einer Unterstützung – oder auch den daraus folgenden Eingriffen – in diesem Sinne und einer Verwechslung oder gar Verschmelzung der beiden Bereiche zu unterscheiden. Man hatte der politischen Obrigkeit seit eh und je die Aufgabe übertragen, die Kirche zu verteidigen, und zu Luthers Zeiten galt dies in gleicher Weise für Heinrich Bullingers Zürich und Calvins Genf. Dies muss nun keineswegs heißen, dass man, wie Firpo schreibt, versuchte, „codificare l’intervento principesco in materia religiosa“. Vielmehr ging es um eine Anwendung des Gesetzes und, im Falle der lutherischen Territorien, um den Umgang mit und die Verwaltung der Finanzen. Infolge der Einziehung der kirchlichen Besitztümer durch die weltliche Obrigkeit hatte die evangelische Kirche nichts mehr, was ihren Unterhalt sicherte.Wie sollten die Pfarrer versorgt werden? Wie sollten Gebäude gebaut und erhalten werden? Wie sollten neue Schulen eingerichtet werden? Mehrfach empfahl Luther, die Mittel hierfür aus den Erträgen ebendieser Besitztümer zu gewinnen. Zudem versuchte er, die Gläubigen dazu zu bewegen, ihren Beitrag zum Unterhalt der Pfarrer zu leisten. Er musste diesbezüglich aber immer wieder Enttäuschungen einstecken und spielte wenige Monate vor seinem Tod sogar mit dem Gedanken, Wittenberg u. a. wegen des mangelnden Interesses der Gläubigen an Beitragsleistungen zu verlassen. In den meisten Fällen wurden Pfarrer und Bischöfe, aber auch Küster und Lehrer, deren Gehalt aus öffentlichen Geldern gezahlt wurde, zu so etwas wie staatlichen Beamten. So kam es, dass sie vom Fürsten nominiert wurden, genau wie ein Angestellter von einem Unternehmer ins Lohnbuch aufgenommen wird. Es war allerdings die Kirche, von der sie designiert wurden. Wenn dies auch nicht in der von Luther 1523 vorgeschlagenen demokratischen Art und Weise geschah (wo die zum Gebet zusammengekommene Versammlung der Ortskirche über die Berufung zur Verkündigung des Wortes entschied), so erfolgte dies doch wenigstens im Einvernehmen mit Pfarrern, Bischöfen und Theologen. Daher konnte man auch nicht davon sprechen, dass den Fürsten eine „autorità in materia religiosa“ übertragen wurde – sofern damit der Bereich der Theologie gemeint war. Die ‚Staatskirche‘ der lutherischen Reformation unterlag hinsichtlich der Inhalte des Glaubens und der Ethik weniger externen Einflüssen als vergleichbare Institutionen in formal separatistischen Regierungssystemen.
10 Dialektik versus Gemeinschaft Laut Luther gründet Macht auf Recht und Gesetzen, und für ihre Ausübung muss stets zwischen diesen vermittelt werden: „[E]yn furst [muss] das recht ja so fast ynn seyner hand haben als das schwerd“. Außerdem muss dies alles im Rahmen der Vernunft geschehen, womit er die „klaren Vernunftgründe“ meinte, auf die er sich in Worms berufen hatte. Dort hatte er gefordert, ihn mithilfe dieser Vernunftgründe zu widerlegen und diese auch auf die Lektüre der Bibel anzuwenden. Es handelt sich also um
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eine verantwortungsbewusste und gläubige Vernunft. Der Satz aus Von weltlicher Obrigkeit fährt nämlich fort wie folgt: muß eyn furst das recht ja so fast ynn seyner hand haben als das schwerd unnd mitt eygener vernunfft messen, wenn unnd wo das recht der strenge nach zu brauchen odder zu lindern sey, Also das alltzeyt uber alles recht regiere unnd das uberst recht unnd meyster alles rechten bleybe die vernunfft.⁵³
Macht und Recht entstehen zusammen. Es kann also nicht um eine Obrigkeit bar jeder Kontrolle gehen, da ein und dieselbe Vernunft des Rechts auch die Grenze des souveränen Willens markiert. Recht und Schwert bilden gemeinsam den Nährboden für die ersten Keime moderner Zivilisation. Durch eine Verbindung beider wird der umfassend-monolithische Charakter mittelalterlicher Vergemeinschaftungsformen in Frage gestellt. Sicherlich kann man in Bezug auf die Formen des mittelalterlichen Christentums von einer Machtkonzentration sprechen: Die Mauern, welche die verschiedenen Körperschaften und Zünfte voneinander trennten, in denen die gemeinschaftlichen Keimzellen der mittelalterlichen Gesellschaft organisiert und eingesperrt waren, fallen nun ein. Was in Frage gestellt wird, ist ebendieser übergreifende Sinn des corpus christianum; es sind die Macht und die Einzelnen, die einander gegenüberstehen. Jene aber bilden nicht etwa die „turba di dannati perversi coatti“, von denen Firpo sprach. Für Luther ist der sündige Mensch nicht verdammt, sondern aus Gnade gerechtfertigt, was ihn frei und verantwortlich macht. Die politische Führung tritt mit diesen je und je einzelnen Freiheiten und Verantwortlichkeiten nunmehr direkt in Kontakt, was gleichsam ein Gegenbild zum Sinn und Zweck derjenigen Vermittlungsinstanzen ist, denen Luther von Anfang an ihren Nutzen abgesprochen und die er stattdessen als für die Beziehung zwischen Mensch und Gott schädlich bezeichnet hatte. Wahrlich bemerkenswert ist es, in welch außergewöhnlichem Gleichschritt ein Laienhistoriker wie Firpo und, viele Jahre später, ein katholischer Jurist wie Paolo Grossi den komplexen Übergang von der mittelalterlichen zur modernen Gesellschaft beurteilen. Die alte Welt – „incredibilmente articolato e sfaccettato, certamente alluvionale per quell’incessante generarsi integrarsi stratificarsi delle più disparate dimensioni comunitarie, dove l’individuo è un’astrazione giacché il singolo è pensabile soltanto all’interno della salda rete di rapporti offerta da quelle dimensioni“ – endet und „il vecchio sovrapporsi e integrarsi di fonti – leggi, consuetudini, opinioni dottrinali, sentenze, prassi – cede il passo alla fonte unica immedesimata nella volontà del Principe“.⁵⁴ Zusammengefasst erscheint die Neuzeit hier als Auflösung der übergreifenden Gesellschaftsstrukturen, welche die Machtausübung in Grenzen hielten. Wenn man jedoch der einstmaligen ausgeglichenen Komplexität nachtrauert, wird man wohl dem Umstand nicht gerecht, dass sich mit der Reformation und der Neuzeit WA 11,272, 13 – 17. P. Grossi, Mitologie giuridiche della modernità, Mailand, 2007, 21, 33.
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im europäischen Bewusstsein der konfessionelle Pluralismus entwickelt, welcher Grundlage und Vorzeichen für die Dynamiken der späteren zivilen Gesellschaft ist. Nach Luthers Predigttätigkeit begegneten sich der Einzelne und die Obrigkeit als einander Gegenüberstehende, da das Individuum von Luther vorher als Einzelner ohne Vermittler coram Deo gestellt worden und sich in diesem Zustand seiner Sünde und seiner Erlösung, das heißt, seiner selbst und seiner Berufung in der Welt, bewusstgeworden war. Den Einzelnen der Obrigkeit gegenüberzustellen bedeutet nicht nur, dass dieser in Bedrängnis gebracht wird, sondern auch, dass die beiden Pole in eine dialektische Spannung gebracht werden: Die Staatsgewalt ist durchaus Macht über das Leben, aber sie ist auch Macht, weil sie ebendieses Leben bewahren muss. So wie Gott richtet, aber auch wieder aufrichtet. Aus dieser Spannung entsteht die moderne Gesellschaft – nicht etwa durch die „alluvionale“ Überlagerung der mittelalterlichen Gemeinschaften. Stattdessen wurden diese nach und nach durch andere Formen ersetzt: von Repräsentativität und Teilhabe bis hin zu Konstitutionalisierung und so weiter. Zunächst aber, vor 500 Jahren und bevor sich dies alles ereignete, lehrte Luther, man solle die Obrigkeit respektieren, aber keine Angst vor der Staatsgewalt haben. Man kann schwerlich bestreiten, dass dieser Ansatz bereits nach vorne, auf einen sicherlich nicht ganz einfachen Übergangsprozess verweist, der jedoch viele neue Möglichkeiten mit sich bringt. In einem Text, der ganz andere Perspektiven eröffnet als die der beiden hier zitierten, bietet Gabriella Cotta einen Vergleich mit dem hobbesschen Modell: theologischer Pessimismus bei Luther, anthropologischer Pessimismus bei Hobbes; beide aber haben Interesse am Schutz des menschlichen Lebens. Diese Verknüpfung mit dem Modell, das am Beginn der Neuzeit steht, scheint deutlich mehr Anhalt in den lutherischen Quellen zu haben: La metafisica della volontà, come viene delineata da Lutero, fondata a partire dal divario incolmabile e oppositivo esistente tra volontà divina e umana, preconizza e spiega ciò che verrà raccolto e portato a compimento in seguito da Hobbes […] È proprio questo punto a rappresentare il nodo cruciale che ci permette di valutare l’influenza di Lutero sulle prospettive della politica „moderna“.⁵⁵
G. Cotta, La nascita dell’individualismo politico. Lutero e la politica della modernità, Bologna, 2002, 60.
Bradley A. Peterson
Luther und das Mönchtum
Martin Luthers Haltung zum Mönchtum war, wie viele seiner theologischen Ansichten, eine Reaktion auf praktische Umstände. Zwar kritisierte er das Mönchtum zunächst generell in seinen Abhandlungen von 1520, doch erst 1521 unternahm er eine gründliche Überprüfung der mönchischen Gelübde, nachdem seine Hochschulkollegen in Wittenberg, Andreas Bodenstein, genannt Karlstadt, und Philipp Melanchthon, eigene Lösungen für das spezifische Problem des Bruchs von Gelübden vorgelegt hatten. Das Ergebnis war Luthers De votis monasticis. ¹ Wie bei Karlstadt und Melanchthon unterschied sich auch Luthers Kritik von der früherer Jahre. Zwar zeigten die Wittenberger Reformatoren, wie frühere Kritiken auch, Missstände in der Praxis des Mönchtums auf, doch ihr Fokus lag besonders auf der Frage, ob ewige, verbindliche Gelübde eine theologische Gültigkeit besäßen. Im Unterschied zu Karlstadt und Melanchthon bestand Luther auf der Gültigkeit der Gelübde, jedoch identifizierte er Umstände, unter denen sie nicht eingehalten werden konnten – und daher auch nicht sollten. Obwohl er Sympathie für ein religiöses Leben zeigte, misstraute Luther dem Anschein höherer Heiligkeit des Mönchtums und lehnte ewige, verbindliche Gelübde ab.
1 Luther im Jahr 1520 Im Jahr 1520 erarbeitete Luther seine Forderungen nach Kirchenreformen in drei großen Abhandlungen, von denen zwei das Mönchtum direkt betreffen. Zwar hatte er nicht vor, eine Analyse des Mönchtums und seiner Gelübde durchzuführen, doch wir können hieraus ein Bild von Luthers erster öffentlicher, wenn auch nicht systematisch überprüfter, Haltung zum Mönchtum zeichnen.
1.1 An den christlichen Adel deutscher Nation In An den christlichen Adel deutscher Nation ² zählt Luther Missstände in kirchlichen Praktiken auf sowie die Reformen, die zu deren Korrektur nötig wären. Der Text enthält Hinweise auf die Ablehnung guter Taten zur Rechtfertigung, doch offen kritisiert er nur die Praxis. Als Teil seiner umfassenden Kritik beschwert er sich in drei Punkten über das Mönchtum, wie es zu seinen Zeiten gelebt wurde: Das Umherwandern und Übersetzung: Irene Reinhold. WA 8,573 – 669. WA 6,404– 469. https://doi.org/9783110498745-016
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Bradley A. Peterson
Betteln der Bettelorden, der Umstand, dass Klosterzugehörige ihren Beichtvater nicht selbst wählen durften, und die Verbreitung dessen, was er als unaufrichtige Fürsprachen und Weihgaben ansah. Luther zufolge standen Bettelorden per Definition im Widerspruch zur Ordnung sowohl der Kirche als auch der Stadt. Die seelsorgerische Arbeit der Bettelmönche kollidierte mit der der säkularen Gemeinde, und ihre Bettelei sowie die der Pilger lenkten die Seelen ab von den Armen der eigenen Stadt. Die Bettelorden brachten sowohl Zwietracht als auch Belastungen für die örtliche Gemeinde und sollten daher abgeschafft werden. Wie jeder andere auch sollten Mönche für ihren Lebensunterhalt körperlich oder seelsorgerisch arbeiten. Auf ähnliche Weise sollten diejenigen, die keine Armut lebten, sondern Pfründe erhoben, sich mit einem einzigen zufriedengeben. Luther missbilligte aber auch die übermäßigen Auflagen für Klosterzugehörige. Als tyrannisch prangerte er an, dass Ordensvorsteher sich selbst die Vergebung bestimmter eigener Sünden vorbehielten. Zwar sind seine Gedankengänge und seine Lösungsempfehlung nicht ausdifferenziert, doch zeigt sich hier Luthers Sorge um die Eingrenzung des Gehorsams, den ein Ordensvorsteher von den Klosterzugehörigen fordern konnte. Luthers größte Beschwerde gilt der übergroßen Zahl von Toten- und Votivmessen, durch die sich so viele Orden finanzierten. Sein hauptsächlicher Kritikpunkt ist, dass sie unaufrichtig seien, aus Geldgier schnell „heruntergebetet“ würden sowie fälschlich gehalten wurden, um denjenigen zugute zu kommen, für die sie abgehalten werden. Letzterer Kritikpunkt ist theologischer Art, aber er gründet sich nicht ausdrücklich auf eine Ablehnung der Rechtfertigung durch gute Werke. Eher basiert er auf einer Ablehnung der Bevorteilung Dritter durch das Sakrament. Luthers Empfehlung ist die Konsolidierung solcher Gaben zu einem einzigen, aufrichtigen Gedenken: Es were mir lieber, ja got angenehmer und viel besser, das ein stifft, kirche odder kloster alle yhre jerliche meß und vigilien auff einen hauffen nehmen, und hielten einen tag ein rechte Vigilien und Messe mit hertzlichem ernst, andacht unnd glauben fur alle yhre wolthater, dan das sie yhr tausent und tausent alle Jar einem yglichenn eine beßondere hielten on solch andacht und glauben. O lieben Christen, es ligt got nicht an viel, ßondern an wol betten […]³
Zusätzlich zu dieser Kritik und den Empfehlungen zur Korrektur zeigt Luther auch, wenngleich kurz, einen guten Zweck auf, dem Klöster dienen können. Während er für den Profit gelesene Messen kritisiert, sagt er ausdrücklich, dass er sich nicht auf die Stiftungen bezieht, die für die Versorgung adliger Nachkommen geschaffen wurden: Ich rede aber hie mit nicht von den alten stifftenn unnd thumen, wilch on zweyffel darauff sein gestifft, das, die weyl nit ein yeglich kind vom Adel Erbs besitzer und regierer sein sol nach deutscher nation sitten, in den selben stifften mocht vorsorgt werden, und al da got frey dienen, studirn, und geleret leut werden unnd machen. Ich rede von den newen stifften, die nur auff gepet
WA 6,444– 445.
Luther und das Mönchtum
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und meßhalten gestifft sein, durch wilcher exempel auch die alten mit gleychem gepet und Messen beschweeret werden, das die selben kein nutz sein odder gar wenig […]⁴
Zu beachten ist, dass hier die Betonung auf dem Nutzen für eine bestimmte Gesellschaftsschicht liegt und nicht auf der Sache der christlichen Bildung oder Erziehung, wie an anderen Stellen der Abhandlung. Interessanterweise ist dies möglicherweise die einzige Erwähnung des Mönchtums als nützlicher Einrichtung für den Adel in den Schriften der Reformatoren. Im selben Werk wendet sich Luther den Gelübden zu, vor allem dem Keuschheitsgelübde. Zwar beschäftigt ihn vor allem der säkulare Klerus, doch er befasst sich auch kurz mit der mönchischen Keuschheit, wobei er die für ihn berühmte Unterscheidung zwischen säkularen Priestern und Ordensmitgliedern, die das Gelübde abgelegt haben, macht. Luther sagt, da das Keuschheitsgelübde menschlichen und nicht göttlichen Ursprungs sei, sollte die Kirche dies für die Priesterschaft, das göttlich eingerichtete Amt des Wortes und der Sakramente, nicht verlangen. Von den Priestern wurde die Keuschheit praktisch im selben Atemzug mit ihrer Weihe gefordert. Mönche und Nonnen hingegen haben sich für die Keuschheit als besondere Lebensführung aus freiem Willen entschieden, wenngleich diese nicht von Gott begründet worden ist. Doch da sie ihr Gelübde ganz freiwillig abgelegt haben, sollten sie es auch einhalten. Dennoch empfiehlt Luther ausdrücklich, nicht einmal aus freiem Willen ewige mönchische Gelübde abzulegen. Eher sollten die Klöster sich auf das zurückbesinnen, was Luther als ihren Ursprung ansieht. Dies ist der zweite gute Zweck eines Klosters: Schulen zur christlichen Bildung und Erziehung, zu denen die Mitglieder freien Zutritt haben, an deren Leben sie eine Zeit lang teilhaben können und die sie ebenso freiwillig wieder verlassen können, wenn sie zu etwas anderem berufen werden, vor allem als Kirchenvorstände und Prediger – und all dies ohne Zwang. Interessanterweise wendet sich Luther direkt nach der Erörterung des Kirchenvorstands und des Predigens dem Reichskapitel der adligen Stiftsdamen zu Quedlinburg zu, das als gutes Beispiel einer solchen Klosterschule aufgeführt wird (und weniger als Beispiel für Residenzen der Adligen), obwohl die Mitglieder aufgrund ihres Geschlechts nicht für das Priesteramt in Frage kamen: Dan was sein stifft und kloster anders geweßen, den Christliche schulenn, darynnen man leret schrifft unnd zucht nach Christlicher weyße, unnd leut auff ertzog, zu regieren unnd predigen? wie wir leßen, das sanct Agnes in die schule gieng, und noch sehen in etlichenn frawen klostern, als zu Quedlingborg unnd der gleychen.⁵
Ich behaupte nicht, dass Luther hier als eine Art „Vorreiter des Feminismus“ spräche. Doch die Nähe der zwei Sätze in seinem Gedankengang trifft den modernen Leser unerwartet. Ganz bestimmt lobt er die Lebensart der Stiftsfrauen zu Quedlinburg, WA 6,452. WA 6,439 – 440.
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deren Fürstäbtissinnen innerhalb der Kirchenstrukturen regierten und, so darf wohl gesagt werden, durch ihre Schriften, ihre Stiftsführung sowie ihr gelebtes Beispiel „gepredigt“ haben. Luther beklagt eindrucksvoll die Überbewertung der Gelübde im Mönchtum, die, wie er sagt, die Klostermitglieder gefangen hielten und höher geschätzt würden als Taufgelübde. Weiterhin stellt er fest, dass die Gelübde in keinem Fall eingehalten werden, vor allem nicht das Keuschheitsgelübde. Schließlich bemerkt Luther, dass Keuschheit nicht biblisch belegt sei: Christus habe sie nicht gefordert, und sowohl Christus als auch Paulus sagten, dass die Gabe des Zölibats nur wenigen gegeben sei. Wenngleich Luther höchst harsch von den Bettelorden spricht – diese sähe er gern zusammengelegt und in ihrer Zahl radikal gemindert, wenn nicht sogar aufgelöst –, gilt seine Kritik dem Klosterleben allgemein.
1.2 De captivitate Babylonica ecclesiae In De captivitate Babylonica ecclesiae ⁶ beschäftigt sich Luther mit den Sakramenten. Die Frage nach den mönchischen Gelübden stellt er nur als Teil seiner Diskussion um die Taufe. Hier identifiziert Luther erstens das göttliche Heilsversprechen und zweitens den Glauben an dieses Versprechen als die erforderlichen Elemente für eine wirksame Taufe. Weiterhin wäscht die Taufe zum Zweck der Erlösung die Sünde ab, nimmt die Täuflinge in Tod und Auferstehung auf und befreit sie von allen Pflichten und Gesetzen, damit sie sich allein der Taufe hingäben, „id est, morti et resurrectioni“.⁷ Diese Befreiung von allen anderen Erfordernissen ist Luthers Sprungbrett für seine Diskussion der Gelübde. Zunächst scheint Luther sich nicht auf mönchische Gelübde zu beziehen, sondern er erklärt, dass jede Art von Gelübden abgeschafft oder ignoriert werden sollte, da sie von der Taufe ablenkten und deren Wert negieren würden. Gelübde seien Gesetze oder Verpflichtungen, und daher widersprächen sie dem Glauben und setzten sich an dessen Stelle. Luther nennt Gelübde widerwärtig für das christliche Leben und sagt, sie seien „lex quaedam ceremonialis et humana traditio seu presumptio, a qua Ecclesia per baptismum liberata est“.⁸ Anschließend jedoch bezieht er eine Erörterung der mönchischen Gelübde ein und stellt fest, dass deren Inhalte nicht durch die Schrift gegeben seien; hierbei nennt er besonders die ewige Keuschheit, Gehorsam und Armut, die drei Evangelischen Räte, auf denen die traditionellen mönchischen Gelübde beruhten. (Bemerkenswerterweise erklärt er hier nicht weiter den Status dieser Ratschläge, noch kommentiert er die traditionelle Unterscheidung zwischen ihnen und den Geboten, die für jeden gelten.) Bezüglich der Freiheit, Gelübde abzulegen, macht
WA 6,497– 573. WA 6,535. WA 6,540.
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er Zugeständnisse: „Opera enim quaedam spiritus in paucis operatur, quae in exemplum aut vivendi modum nequaquam sunt vocanda.“⁹ Eigene Gelübde dürfen abgelegt werden im Gegensatz zu öffentlich etablierten und institutionalisierten Gelübden. Dabei drängt er aber darauf, dass alle „qui volunt securius salvi fieri, ut sibi ab omnibus votis, praesertim magnis et perpetuis, temperent“,¹⁰ da solche Gelübde nicht in der Schrift zu finden seien und nur solche Werke Gott gefielen, die aus dem Glauben heraus getan würden. Luther schließt seine Passage über die Taufe mit den Worten: „Verum haec interim de Baptismo et libertate eius satis. Suo forte venient tempore vota latius tractanda, ut sunt revera tractatu vehementer necessaria.“¹¹ In seinen Veröffentlichungen von 1520 sehen wir, dass Luthers öffentliche Haltung zum Mönchtum bereits negativ ist: Das Mönchtum basiere nicht auf der Schrift, es sei anfällig dafür, eine Art Rechtfertigung seiner selbst zu werden und den Wert der Taufe herabzusetzen; es werde so schlecht gelebt, dass es in den meisten Fällen aufgelöst werden sollte. Dennoch gesteht er ausdrücklich zu, dass es reformiert werden könne, und lobt sogar die Stiftsdamen zu Quedlinburg (die als Stiftsdamen keine ewigen Gelübde abgelegt hatten) als positives Beispiel.
2 Karlstadt, Melanchthon und Luther 1521 Im Jahr 1520 lenkte eine Kontroverse um die Problematik der Gelübde die Aufmerksamkeit von Melanchthon und Karlstadt auf sich. Drei Priester aus nahegelegenen Diözesen hatten geheiratet und ihre Bischöfe wollten sie verhaften lassen, da sie ihre Ordensgelübde gebrochen hatten. Einer von ihnen, Bartholomäus Bernhardi, ein früherer Schüler Luthers, lebte unter der politischen Herrschaft des Kurfürsten Friedrich III. von Sachsen, der Luther unter seinen Schutz gestellt hatte. Karlstadt unternahm eine Verteidigung seiner Sache. Im Juni 1521 veröffentlichte er sieben Thesen zur Disputation des Zölibats und weitete sie dann aus zu einer größeren Arbeit unter dem Titel Super coelibatu monachatu et viduitate axiomata perpensa vvittenbergae; darin argumentierte er, dass alle Priester heiraten sollten, und, gemäß der Schrift, keinem unter 60 Jahren erlaubt sein sollte, dem Mönchtum beizutreten; ebenso sollte weder Mönchen noch Nonnen unter 60 Jahren die Heirat verboten werden. Zölibatsgelübde erklärte er keineswegs für ungültig,¹² weder die klerikalen noch die mönchischen. Vielmehr schlug er eine Hierarchie der Sünden vor: Ein Bruch
WA 6,540. WA 6,540. WA 6,543. Im Gegensatz zu Luther, der den Begriff „Keuschheit“ gebrauchte, entschied sich Karlstadt für „Zölibat“.
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eines Gelübdes durch Heirat blieb zwar eine Sünde, doch diese verhindere die größere Sünde des sexuellen Fehlverhaltens.¹³ Anstatt Bernhardi an den Bischof auszuliefern, berief Kurfürst Friedrich eine Kommission ein, die den Fall untersuchen sollte. Melanchthon sandte eine Mitteilung zur Verteidigung des Priesters an die Kommission, die ebenfalls im Juni erschien.¹⁴ Wenngleich diese Verteidigung, ebenso wie seine spätere deutsche Version von 1522, Das die preester eeweyber nemen mögen und sollen, nur klerikale, nicht aber mönchische Gelübde behandelte, könnte sein Gedankengang auf beide anwendbar sein: Melanchthon vertrat die Meinung, dass Bernhardi aus menschlicher Schwäche nicht fähig war, sein Gelübde einzuhalten, und dass sogar die kanonische Gesetzgebung Ausnahmen machte, falls ein Gelübde nicht einhaltbar war.¹⁵ So verteidigten beide Reformatoren die Entscheidung der Priester zur Heirat, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.¹⁶ Beide Dokumente waren für spezielle Lesergruppen und Zwecke bestimmt, doch später im selben Jahr veröffentlichten beide Reformatoren noch Abhandlungen, die für ein breiteres Publikum geschrieben waren: Melanchthon veröffentlichte im April die erste von mehreren Ausgaben seiner Loci communes ¹⁷ und Karlstadt im November Von gelubden unterrichtung. ¹⁸ Allerdings teilt Luther in Briefen vom August und
E. J. Furcha (Hg. u. Übers.), The Essential Carlstadt: Fifteen Tracts by Andreas Bodenstein (Carlstadt) from Karlstadt, Waterloo, 1995, 51. CR 1,421– 422. James Atkinsons Einleitung zu Luthers De votis monasticis, LW 44,245. Siehe auch 44,245 – 249 sowie P. Melanchthon, Melanchthon on Christian Doctrine: Loci communes 1555, hg. u. übers. v. Clyde L. Manschreck, New York, 1965, 70 – 81. Ich hatte keinen Zugang zu einer veröffentlichten Version von Super coelibatu monachatu et viduitate axiomata perpensa vvittembergae, obwohl Freys und Barge vier Manuskripte in deutschen Archiven nennen (Verzeichnis der gedruckten Schriften des Andreas Bodenstein von Karlstadt, hg.v. E. Freys und H Barge. Nieuwkoop, 1965, 32– 35), ebenso wenig zu Melanchthons Das die preester eeweyber nemen mögen und sollen, obwohl die lateinischen Dokumente Melanchthons über die Kontroverse einschließlich einer späteren lateinischen Übersetzung von Das die preester… in CR 1,418 – 442 zu finden sind. Interessanterweise arbeiteten beide Reformatoren auch basierend auf derselben Annahme, dass die Männer, die sie verteidigten, nicht fähig waren, aus eigenem Willen heraus ihr Gelübde zu befolgen. Beide nahmen an, dass der sexuelle Trieb die Priester zwingen würde, ihr Gelübde durch inakzeptables sexuelles Verhalten zu brechen, wenn ihnen eine Heirat verwehrt bliebe. Die Akzeptanz, ein Gelübde im Sinne einer minderen Sünde zu brechen (Karlstadt) oder das Gelübde durch pauschale Befreiung aufzulösen (Melanchthon), um sexuelles Fehlverhalten zu vermeiden, setzt voraus, dass der sexuelle Trieb (zumindest der betreffenden Männer) nicht an sich sündhaft, sondern normal ist, und sich der bewussten Entscheidung oder Kontrolle entzieht. Ob diese Annahme einen kulturellen Wandel im Verständnis der menschlichen Natur im frühen 16. Jahrhundert aufzeigt oder die Problematik die momentane, eigene Lebenseinstellung der Reformatoren betraf (Melanchthon selbst heiratete im November), muss hier nicht erörtert werden. CR 2,181– 227. Der vollständige Titel lautet Von gelubden unterrichtung Andres B. von Carolstadt Doctor Auslegung des XXX. capitel Numeri, wilches von gelubden redet. Furchas Übersetzung ins Englische, die ich zitiere,
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September¹⁹ Melanchthon mit, dass er weder mit dessen noch mit Karlstadts Argumenten zufrieden sei und selbst nicht sicher, wie mönchische Gelübde annulliert werden könnten, wenngleich er dies zum Ziel habe: Vellem enim et ego monachis et monialibus succurrere, ut nihil aliud aeque. Adeo me miseret miserabilium hominum, pollutionibus et uredinibus vexatorum iuvenum et puellarum.²⁰
Im Oktober 1521 veröffentlicht Luther 280 Thesen zu mönchischen Gelübden.²¹ Zum Ende des Jahres stellt er De votis monasticis fertig, eine gründliche Überprüfung mönchischer Gelübde, die im Januar oder Februar 1522 in lateinischer Sprache erscheint; im Juni folgt eine zweite, verbesserte Auflage und eine deutsche Übersetzung bereits im Juli.²² Wie auch in Karlstadts und Melanchthons Veröffentlichungen ist das Ziel von Anfang an die praktische Umsetzung der Lösung der Fesseln mönchischer Gelübde. Dennoch ist in Luthers Werk zu spüren, dass er bereit ist, der Richtung zu folgen, in die seine Argumentationskette ihn leiten möge.
2.1 Karlstadt: Von gelubden unterrichtung Karlstadts Von gelubden unterrichtung ²³ stellt auf vollständigste Weise seine Gedanken über mönchische Gelübde dar – im Übrigen war es seine letzte Stellungnahme zum Thema, bevor er Wittenberg im Jahr 1523 verließ. Allerdings vermischt Karlstadt eher ungeordnet Aussagen, dass Gelübde gültig blieben, mit anderen, die eine Tendenz zeigen, sie für ungültig zu erklären, sowie mit der Befürwortung der Ehe und einer Kritik an mönchischen Gebetspraktiken. Des Weiteren erklärt er dem Leser zwar, was ein Gelübde sein sollte, ist aber mehr damit befasst, was es nicht sein sollte. Sein Anfang scheint logisch und er bietet eine positive Beschreibung der Gelübde. Er sagt, korrekte Gelübde würden nur vor Gott abgelegt, nicht aber vor anderen Göttern oder Kreaturen, vor allem nicht vor Heiligen, da Gelübde vor Heiligen Gefahr liefen, zum Götzendienst zu werden, sie aber der Schrift entsprechen sollten. Ohne illustrierende Beispiele bleiben diese Beschreibungen allerdings schwer fassbar und vage. Auf deutlichere Weise empfiehlt Karlstadt die Ehe. Wie in früheren Thesen zu diesem Punkt stellt Karlstadt fest, dass das Zölibatsgelübde gebrochen werden müsse, wenn dadurch eine größere Sünde vermieden würde, das Gelübde an sich bliebe aber gültig. Der Bruch des Keuschheitsgelübdes zur Kanalisierung des Sexualtriebs im ist Instruction by Dr. Andreas Bodenstein from Karlstadt: Exposition of Numbers 30 which Speaks of Vows. Siehe Furcha, Carlstadt, 52– 99. Zwei Briefe an Melanchthon: WA.B 2,370 – 372,373 – 378 und 382– 386. WA.B 2,371. Luthers Themata de votis, WA 8,323 – 335. Siehe Einleitung des Herausgebers, WA 8,565 – 566. Siehe Fußnote 18 weiter oben.
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Eheleben sei ein kleiner Fehler im Vergleich zu einem Leben in Unzucht. Wenn außerdem jemand nach dem Ablegen eines Gelübdes erkenne, dass er etwas Falsches gelobt hat, bliebe das Gelübde zwar gültig, doch man dürfe es nicht weiter ausführen, sobald es als Übel erkannt wurde. So nimmt Karlstadt nicht nur seine Hierarchie der Sünden wieder auf, sondern schreibt auch die korrektive Handlung vor – in diesem Fall die Ehe – sowie die Strafe – Reue und Gabe von Almosen. Karlstadt fordert allerdings nicht den Bruch des Gelübdes, weil das Gelübde dem Willen Gottes entgegenstünde und somit Gott missfiele – was wir vermuten könnten, zumal Karlstadt die Keuschheit als göttliche Gabe auffasst und nicht als etwas, das man sich aussuchen könne²⁴ –, noch weil es dem göttlichen Ursprung der Ehe und dem Gebot, sich zu vermehren, entgegenstünde, wenngleich dies Gründe seien, den Menschen das Ablegen von Zölibatsgelübden zu verbieten. Es sei eher die Vermeidung größerer Sünden, die eine kleinere erfordert. Auf ähnliche Weise kritisiert Karlstadt jedwedes Gelübde, dessen Erfüllung den Nächsten schädigen oder vernachlässigen würde.Wiederum erfordert die Vermeidung größerer Sünden eine kleinere, d. h. den Bruch des Gelübdes. Hier jedoch fügt Karlstadt ausdrücklich hinzu, dass in diesem Falle Gott das Gelübde nicht gutheiße. Doch wenn Gott das Gelübde nicht gutheißt, ist es dann gültig? Von gelubden unterrichtung scheint zu reflektieren, wie Karlstadts Position zu Gelübden sich entwickelt. Wie in seinen früheren Thesen stellt er ausdrücklich fest, dass Gelübde gültig seien, doch er beginnt, sich von einer Position der absoluten Gültigkeit zu entfernen. Im Verlauf seiner Diskussion um die Zölibatsgelübde ermittelt Karlstadt bestimmte formelle Erfordernisse für die Gültigkeit von Gelübden. Offenbar versucht er, die Definition von ungültigen Gelübden zu erweitern. Karlstadt sagt sogar, dass er gern davon ausgehen würde, dass alle Gelübde fehlerhaft seien, es sei denn, ein kluger Pfarrer oder Priester fände heraus, dass sie aufrichtigen Gemüts abgelegt worden seien. Er nimmt jedoch an, dass es keine solcherart weise Kleriker gäbe. Schließlich schlägt er vor, dass es kein Gelübde gebe, das nicht zurückgenommen werden könne, die Zurücknahme jedoch möglicherweise ihren Preis habe. Er verteidigt die Möglichkeit, sich selbst oder seine (minderjährigen) Kinder von mönchischen Gelübden loszukaufen. Er zitiert den Loskauf von erstgeborenen Jungen sowie das Befreien der eigenen Seele von einem Gelübde, wie es in der Schrift beschrieben ist.
Furcha, Carlstadt, 67. Die Annahme über den Sexualtrieb aus früheren Werken wird hier explizit gemacht.
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2.2 Melanchthon: Loci Communes Im Jahr 1520 veröffentlichten Schüler Melanchthons einige Notizen seiner Vorträge über die Schrift. Das Werk, das unter dem Namen Lucubratiuncula ²⁵ bekannt ist, zeigt auf, dass Melanchthon bereits die Frage nach der Unterscheidung zwischen Rat und Gebot diskutiert hatte. Er stellt fest, dass Christi Worte in Mt 5 tatsächlich Gebote seien, und somit von allen gefordert würden, und keine freien Ratschläge für einige, die nach höherer Vollkommenheit strebten, wie frühere Theologen sie bezeichneten. Melanchthon nennt eine Ausnahme: Er räumt ein, dass die Befürwortung der Jungfräulichkeit²⁶ in Mt 19,12 und 1 Kor 7,25 kein Gebot ist, sondern nur für diejenigen gilt, die dazu berufen sind, und sie bedeutet keinesfalls ein perfekteres Leben. So nimmt er die Jungfräulichkeit als Rat an, aber hat hiermit auch den Begriff „Rat“ neu besetzt. Im Jahr darauf veröffentlichte Melanchthon die erste Ausgabe seiner systematischen Abhandlung der Theologie, die Loci communes. ²⁷ Das Werk beinhaltet zwei Abschnitte mit den Titeln De consiliis und De monachorum votis. Wie in den Lucubratiuncula lehnt Melanchthon eine Kategorie des freiwilligen Rats ab, sondern reserviert den Begriff „Rat“ ausschließlich für die Keuschheit,²⁸ indem er argumentiert, dass Jesus wie auch Paulus ausdrücklich lehren, dass nur wenige zur Keuschheit berufen sind, und Paulus die Ehe ebenso anrät wie die Keuschheit – wenngleich er nicht so weit geht, die Ehe als „Rat“ zu betiteln. Melanchthon fügt nun noch die praktische Überlegung hinzu, dass es leichter sei, die Sünde des Ehebruchs – wobei das Verlangen danach ebenso sündhaft ist wie die Tat – durch die Ehe zu vermeiden als durch Ehelosigkeit und Keuschheit. Dies impliziert, dass der sexuelle Trieb in der Ehe auf den Ehepartner gelenkt werden kann. Melanchthon widmet sich auch dem Thema des Ablegens mönchischer Gelübde. Er überlegt wie folgt: Erstens heiße Gott nur gut, was Gott befohlen hat: die Gebote. So werde bereits alles gefordert, was Gott gefällt, und ein Gelübde dessen wäre überflüssig. Zweitens würden Gelübde in der Schrift weder gefordert noch empfohlen. Die mosaischen Gesetze erlaubten sie zwar, forderten sie aber nicht. Das Evangelium kenne sie nicht in der ihm eigenen Freiheit des Geistes – Melanchthon sagt sogar, dass das Ablegen von Gelübden der Freiheit noch eher als dem Glauben widerspreche. Somit seien Gelübde bestenfalls überflüssig, schlimmstenfalls verletzten sie die Freiheit.²⁹
CR 21,11– 48. Ich konnte keine Angaben über den Ursprung des Titels finden. Die beste Übersetzung, die ich anbieten kann, lautet „Lamplight Studies“ [Studien bei Lampenlicht] – als möglicher Verweis auf die Tageszeit, zu der die Studenten die Punkte zusammentrugen. Die Schüler nutzen in ihren Aufzeichnungen den Begriff „virginitas“. CR 21,81– 227. In Loci communes benutzt Melanchthon überwiegend den Begriff „castitas“. Erst in den späteren Ausgaben schließt Melanchthon einen Abschnitt ein, in dem er seine mehrwertige Theologie der christlichen Freiheit ausführt. Für den Zweck dieser Arbeit ist die Betrachtung
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In späteren lateinischen Ausgaben von 1535³⁰ und 1543³¹ strukturiert Melanchthon seinen Text neu und überarbeitet seine Gedanken zur Keuschheit. Nun lehnt er jede Unterscheidung zwischen Geboten und Ratschlägen ab; sogar die Keuschheit wird nun zum Gebot. Früher klassifizierte Melanchthon die Keuschheit als den einzig verbleibenden „Rat“ für diejenigen, die die Gabe dazu hatten. Nun definiert er dies anders. 1535 sagt er: „Est autem castitas non solum virginum, sed etiam coniugum.“³² Noch klarer formuliert er dies 1543: Castitas autem est aut consuetudo coniugalis aut puritas vitae coelibis in his, qui sunt idonei ad coelibatum, ut in aetate immatura, aut in iis, qui singulari dono praediti sunt.³³
Da durch diese Definition die Keuschheit nun jeden betrifft – sei es als Zölibat für Ledige oder als sexuelle Exklusivität in der Ehe – steht sie auf dem Rang eines Gebots. Mit dieser Überarbeitung ordnet Melanchthon alle „Ratschläge“ neu als Gebote ein. (Die deutsche Version von 1555 folgt den Ausführungen von 1543 ohne neuere Entwicklungen.)
2.3 Luther: De votis monasticis Kurz nach Anfang September 1521 kam Luther auf die einfache Lösung, die er erhofft hatte, zum Dilemma der Mönche und Nonnen, die für ihr Gelübde untauglich waren.³⁴ Seine Lösung umging Karlstadts Annahme, dass alle Gelübde gültig seien, ebenso wie Melanchthons These, dass alle Gelübde ungültig (oder zumindest auflösbar) seien, und sogar seine frühere Meinung, dass mönchische Gelübde im Gegensatz zu klerikalen Gelübden gültig seien, da sie auf Freiwilligkeit beruhten.Vielmehr fragte Luther nun nach, welche Gelübde, d. h. welche Art von Gelübden, gültig seien und welche nicht: „Non disputari, sitne prestandum votum, sed quae vota vere vota sint.“³⁵ Anfangs räumt Luther ein, dass das Ablegen und Einhalten von Gelübden durch die Schrift verbürgt ist. Er fährt fort, indem er das Ablegen und Einhalten der mönchischen Gelübde seiner Zeit überprüft, sowohl in Hinblick auf deren Attribute –
der Unterschiede zwischen Melanchthons und Luthers Konstruktionen der christlichen Freiheit nicht notwendig. CR 21,333 – 558. CR 21,601– 1106. Diese Ausgabe ist interessant, da Melanchthon von seiner vorangegangenen Vorgehensweise des ausschließlichen Zitierens aus der Schrift abweicht und auch klassische Mythen, Geschichte und Philosophie mit einbezieht; siehe vor allem Abschnitt De castitate, CR 21,729. CR 21,411. CR 21,729. Luther drückt seine Unzufriedenheit mit Karlstadts und Melanchthons Denkansätzen zu mönchischen Gelübden und seinen eigenen anfänglichen Stellungnahen in Briefen vom 1., 3., und 6. August sowie vom 9. September 1521 aus. Siehe WA.B 2,370 – 378, 382– 386. WA 8,577.
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verbindlich, ewig – als auch bezüglich ihrer traditionellen Inhalte – Armut, Gehorsam und Keuschheit. Er untersucht sie im Licht der Schrift, der Lehren von Rechtfertigung und Freiheit, der Gebote und der Vernunft. Seine Kritik zu diesen speziellen Kategorien kann in zwei Teilen zusammengefasst werden. Erstens, wenn Gelübde als Rechtfertigung aufgefasst würden, stünden sie im Widerspruch sowohl zur Rechtfertigung des Glaubens als auch der daraus resultierenden Freiheit eines Christen. Zweitens stünden Gelübde, so wie sie damals verstanden und praktiziert wurden, inhaltlich im Widerspruch zum Willen Gottes. Diesen beiden Punkten zufolge seien mönchische Gelübde im Gegensatz zu anderen Gelübden unbestreitbar ungültig.
2.3.1 Absicht im Widerspruch zu Glauben und Freiheit Luther beginnt mit seinen evangelischen Grundsätzen, dass die Rechtfertigung allein aus dem Glauben in Christi Werke und Versprechen komme und dass daher die Gläubigen von der Fessel des Wortlauts der Gesetze befreit seien zum freien Dienst im Geiste des Gesetzes. Diese zwei Lehren annullieren und verbieten zwingend jegliches Gelübde, das zum Erlangen oder Verdienst (meritum) der Rechtfertigung abgelegt wurde – denn dies stünde im Widerspruch zum Glauben – und ebenso jegliches Gelübde, das absolut verbindlich oder lebenslänglich ist – denn dies stünde im Widerspruch zur Freiheit. Wenngleich Luther diesen Gedankengang recht ausführlich über zwei Abschnitte darlegt – und im Rest des Dokuments an zahlreichen Stellen wiederholt und wieder aufnimmt – kann seine theologische Kritik an mönchischen Gelübden auf zwei Zitate zusammengefasst werden: Qui ergo ea opinione vovent, ut per hoc vitae genus boni et salvi fiant, peccata deleant et operibus bonis ditescant, nonne manifestum est, impios et Iudaeos esse, a fide apostatare, im[m]o fidem blasphemare et abnegare? dum hoc tribuunt legibus et operibus suis, quod proprie solius fidei est.³⁶
Und obwohl Luther dieses erste Argument allein für genügend befindet, um die meisten Gelübde aufzulösen und zu verwerfen, fährt er fort: Finiamus ergo tandem hanc disputationem concludendo, quod paupertas, obedientia, castitas perpetuo servari potest, voveri, doceri, exigi non potest. Quia in servando manet libertas Euangelica, in docendo, vovendo, exigendo non manet […]³⁷
Weiterhin, erklärt uns Luther, stehe das Ablegen und Einhalten von Gelübden zur Rechtfertigung eines Verdienstes nicht nur im Widerspruch zum Evangelium, sondern auch zu den Geboten. Im Abschnitt Vota adversari praeceptis dei stellt Luther fest,
WA 8,595. WA 8,616.
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dass das Vertrauen in die eigenen Gelübde sowie deren Einhaltung und Verdienst zur Rechtfertigung Christus als Retter ersetzt und daher Götzendienst darstellt. All diese Argumente bedeuten nicht nur, dass solche Gelübde aufgegeben werden dürfen, sondern dass sie aufgegeben werden müssen – auch wenn sie inhaltlich gut sind. Insofern, als dass sie die wahre Wirksamkeit des Glaubens verleugnen, der Freiheit entgegenstehen und Götzendienst darstellen, seien sie eine Gefahr für die Seelen derer, die sie ablegen. Somit leben die meisten Mönche und Nonnen in einem Zustand der Häresie, wenngleich Luther zugibt, dass Gelübde manchmal nicht aus dem Wunsch eines Verdienstes heraus, sondern aus freiem Willen und somit in rechtmäßigem Glauben abgelegt werden: Aliquando fiunt per Christum in nobis spiritu libertatis, dum voventur et servantur gratis, ut nec peccati per ea satisfiat, nec iustitia nec salus quaeratur.³⁸
Bei der Erarbeitung seiner theologischen Kritik moniert Luther auch den Irrtum des Transfers von Verdiensten. Er klagt über regelrechte Verkäufe von Verdiensten: Vendunt enim et communicant sua bona opera, merita et fraternitates aliis, quasi ii sint, qui non solum meliore via incedant, sed et ex abundantia sua alios quoque secum salvos facer possint.³⁹
Luther beklagt zudem, dass sogar die Kleidungsstücke der Mönche zu vermeintlichen Heilsbringern geworden seien: Denique nuper ad finem insaniae venerunt, promittentes hominibus introitum coeli, qui morituri cucullum induerint. Quid est abominatio, si haec non est abominatio? Vides ergo, im[m]o palpas hic, non modo discessisse eos a fide, sed mendaciis illorum abominandis seductum quoque et orbem. Sua enim cuiusque fides et necessaria et satis est ad remissionem peccatorum et ad salute […]⁴⁰
2.3.2 Inhalte im Widerspruch zu Gottes Willen Luthers Herangehensweise an die Inhalte der drei traditionellen mönchischen Gelübde – Armut, Gehorsam und Keuschheit – ist tatsächlich dieselbe wie in seinen Abhandlungen von 1520. Diese Kritik findet sich vor allem im ersten Abschnitt, Vota non niti verbo dei, immo adversari verbo dei, und in den letzten beiden, Vota adversari praeceptis dei sowie Adversari rationi monasticen. Wiederum erklärt er, dass Armut und Gehorsam eigentlich Gebote seien, die allen obliegen, und keine wählbaren „Ratschläge“. Darüber hinaus steht die Art, auf die die Ordensbrüder Armut und Gehorsam üben, eigentlich im Widerspruch zu dem, was Gott in der Schrift befohlen
WA 8,609. WA 8,598. WA 8,598 – 599.
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hat, und sollte daher abgelehnt und durch dem Evangelium entsprechende Verhaltensweisen ersetzt werden. Dennoch entwickelt Luther zwei interessante Wendungen in De votis monasticis. Erstens scheint er Keuschheit als Gebot zu reklassifizieren (wie Melanchthon dies explizit in der Ausgabe von 1535 seiner Loci communes tut). Zweitens nimmt Luther die Kritik auf, die er früher schon gegenüber Melanchthons Stellungnahme in Loci communes geäußert hat, nämlich dass die Gebote ebenso wie Gelübde verworfen werden könnten. Als Luther in De votis monasticis zum ersten Mal die Keuschheit erwähnt, sagt er explizit, dass dies nur ein „Rat“, nicht aber ein Gebot sei. Keuschheit definiert er offenbar als sexuelle Abstinenz, zumal er das zugrundeliegende Gebot als den Befehl non concupiscendum esse identifiziert. Zudem versichert Luther, dass der Rat der Keuschheit eine nützliche Option zur persönlichen Pietät oder zum Dienste anderer sein könne, da hierdurch die Zahl der miteinander wetteifernden Verlangen reduziert würde, und setzt ihn mit dem Status der Ehelosigkeit gleich. Später allerdings scheint er die Keuschheit zu den Geboten zu zählen, dafür aber nun mit mehreren Möglichkeiten zur Ausübung: „[S]i continere non potest […] ducat uxorem, et facilis erit ei lex castitatis.“⁴¹ Luther nennt die Ehe sogar „inferior castitas coniugii“;⁴² somit scheint er hier die Kategorie des Rats insgesamt aufgelöst zu haben und einen übereinstimmenden Ansatz für alle drei traditionellen Gelübde vorzuschlagen. Diese Wendung, wenn auch gering, verstärkt Luthers Kritik an der Annahme, das mönchische Leben sei dem Laientum überlegen, was zu Brüchen innerhalb der Kirche führen würde. Die interessantere Wendung ist aber Luthers Adaption dessen, was er vorher als Schwäche in Melanchthons Werk angesehen hatte. Luther zufolge würde Melanchthons Gedankengang, dass ein Gelübde ungültig sei, wenn man es nicht einzuhalten imstande sei, auch zur Entkräftung des Gebotes führen, und in einem Brief an Melanchthon stellt Luther dessen Schlussfolgerung in Frage.⁴³ Dennoch zieht er in De votis monasticis die mögliche Entkräftung sowohl von Gelübden als auch von Geboten in Betracht, jedoch in einer Schlussfolgerung, die den Status der Gebote aufrechterhält. Für Luther sind Gelübde eine Art Gesetz und gleichrangig mit Geboten, und er bestätigt, dass die Gebote Gottes unabänderlich seien. Dennoch sagt Luther, dass man nicht immer verurteilt wird, wenn man ein Gebot nicht ausführt. In mehreren seiner Beispiele zeigt er, inwiefern das Nichteinhalten keine Sünde sei, wenn man verhindert ist, ein Gebot zu befolgen – sowohl durch externe als auch interne Mächte. Gott verlange nicht das Unmögliche. Daher seien Gelübde und sogar Gebote immer nur bedingt gültig. Er sagt: „vota semper excipere impossibilitatem, sicut et externa opera mandatorum dei.“⁴⁴ Auf diese Weise kann Luther Gelübde und Gebote in ähnlicher
WA 8,632. WA 8,654. WA.B 2,383. WA 8,630.
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Weise behandeln. Er vermeidet Melanchthons Dilemma der absolut zurückgewiesenen Gelübde, indem er vorsieht, dass Gebote gleich wie Gelübde gültig, aber nicht auf alle Umstände übertragbar sind.
2.3.3 Auflösung von Gelübden? In De votis monasticis erklärt Luther Gelübde für ungültig (und sogar für schädlich!), sofern sie aus theologischem Irrtum heraus abgelegt wurden: Vota monastica extra fidem facta et servata sunt peccata, per hoc et irrita, damnabilia, revocanda et omittenda, aut aliter denuo vovenda et servanda.⁴⁵
Müssen jedoch alle Gelübde zurückgenommen werden? Nein. Aus irriger Absicht heraus abgelegte Gelübde für ungültig zu erklären, impliziert natürlich die Gültigkeit solcher, die in rechter Absicht abgelegt wurden. Wenn ein Gelübde aus freiem Willen abgelegt wurde und sich ohne Zweifel nur auf den Glauben begründet, dann ist es gültig und sollte eingehalten werden. Luther gibt ein Beispiel im Sinne der evangelischen Lehre: Voveo tibi hoc vitae genus, quod natura sua non est necessarium nec fieri potest necessarium ad iustitiam.⁴⁶
Darüber hinaus verbietet die in der Schrift verbürgte Freiheit ein Gelübde, das ewig bindet oder unauflösbar ist. Kein Gebot, und noch viel weniger ein freiwillig abgelegtes Gelübde, kann jemanden binden, der sich auf den Glauben gründet. Luther illustriert dies mit einem weiteren Gelübde: Voveo tibi obedientiam, castitatem, paupertatem servandam cum tota regula S. Augustini usque ad mortem libere, hoc est, ut mutare possim, quando visum fuerit.⁴⁷
Im Vergleich ist der Inhalt des Gelübdes nicht das Problem. Luther wiederholt seine korrigierte Interpretation von Armut, Gehorsam und Keuschheit und fügt eine pauschale Befreiung von unhaltbaren Gelübden sowie eine Hermeneutik der Liebe für Konflikte zwischen Gelübden und Geboten hinzu: Ita si voveas religionem, ut cum hominibus eiusmodi vivas, ea conscientia, ut nihil hinc commodi vel incommodi petas apud deum, sed quod vel casus hoc vitae genus obtulerit amplectendum, vel ita visum tibi sit vivere, nihilo te meliorem hinc arbitratus eo, qui vel uxorem duxerit, vel agri-
WA 8,593. WA 8,606. WA 8,614.
Luther und das Mönchtum
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culturam apprehenderit, neque male voves neque male vivis, quantum ad voti rationem attinent. Nam quo casu charitas exigat cedere votum, non sine peccato in voto pertinax fueris […]⁴⁸
Luther ist besonders deutlich bezüglich der Notwendigkeit, dass das Zölibat freiwillig und nicht unter Zwang eingehalten wird. Zweimal formuliert er Gelübde mit Vorbehalten (wenngleich er irreführenderweise den Begriff „castitas“ verwendet): Voveo castitatem, quam diu possibilis fuerit, si autem servare nequiero, ut liceat nubere.⁴⁹
Und: Voveo castitatem, quantum fieri potest absque periculo corporis et animae.⁵⁰
Er tritt sogar für zeitlich begrenzte Gelübde ein – vor allem, wenn es sich bei den Konventen um christliche Schulen handelt.⁵¹ Wiederum schlägt er eine Gelöbnisformel vor: Voveo regulam temporaliter ad arbitrium praesidentis.⁵²
Da die Gebote bedingt gültig sind, sind Gelübde ebenso bedingt gültig.
3 Sympathie für das religiöse Leben Trotz Luthers theologischer Ablehnung von falsch abgelegten Gelübden und jeglicher Note von Verdienst in Gelübden verteidigte Luther die Konvente sowie ihre Mitglieder, die (zumindest Luther zufolge) einen evangelischen Glauben in religiöser Gemeinschaft lebten.⁵³ Lobend erwähnt hatte er bereits insbesondere die Stiftsdamen zu Quedlinburg in An den christlichen Adel deutscher Nation. In einem Brief von 1524 empfahl er drei Nonnen, die ihn um Rat gefragt hatten, ihren Konvent zu verlassen, allerdings sagte er auch, sollten eines Tages die Klöster in evangelischer Freiheit neu ausgerichtet werden, dann sollten diejenigen, die dazu begnadet waren und den
WA 8,610. WA 8,633. WA 8,663. Wiederum bestätigt Luther seinen Glauben, dass die Klöster ihren historischen Ursprung als Schulen zur christlichen Bildung und Erziehung hatten, wie auch 1520. Siehe WA 8,614– 615, 641. WA 8,641. Für eine umfassendere Übersicht über Luthers Schriften nach 1521, in denen er Klöster befürwortet, siehe J. Halkenhäuser, Kirche und Kommunität. Ein Beitrag zur Geschichte und zum Auftrag der kommunitären Bewegung in den Kirchen der Reformation, 2. Aufl., Paderborn, 1978, 60 – 73 und H.-M. Stamm, Luthers Stellung zum Ordensleben, Wiesbaden, 1980, 58 – 94.
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Bradley A. Peterson
Wunsch nach einem Klosterleben hatten, dort eintreten dürfen.⁵⁴ Im Jahr 1528 versicherte er Heino Gottschalk dem Älteren, Benediktinerabt zu Oldenstadt nahe Uelzen, der sein Kloster gemäß der evangelischen Lehre reformiert hatte, dass der Abt im Kloster erhalten bleiben sollte.⁵⁵ In den frühen 1530er-Jahren überprüfte und bewilligte er die Sittenregeln⁵⁶ der Brüder vom Gemeinsamen Leben zu Herford und bewahrte sie vor der gewaltsamen Auflösung durch die reformierten Pfarrer und den Stadtrat zu Herford. Die Korrespondenz enthält zahlreiche Briefe, darunter Luthers eigene Briefe, in denen er die Brüder vor dem Stadtrat verteidigte, sowie die an die Fürstäbtissin der Reichsabtei Herford, deren Herrschaft die Brüder unterstanden.⁵⁷
4 Schlussfolgerung Im Jahr 1521 stand Luther nicht für die völlige Abschaffung von Gelübden und Mönchtum, doch ebenso wenig würde er sie einfach befürworten. Gelübde seien wie die Gebote in der Schrift verankert und dürften daher abgelegt werden, doch sie seien weder unter allen Umständen noch für die Ewigkeit bindend. Er bleibt überzeugt, dass das mönchische Leben, wenngleich es auch mit Bedacht erwählt und gelebt wird, allzu leicht vom evangelischen Glauben und der Freiheit wegführe. Seine in De votis monasticis dargelegte Position nahm er als endgültige Haltung zum Mönchtum an und verwies andere Menschen später im Leben auf dieses Dokument.
5 Literatur über Luther und das Mönchtum Luthers Haltung zum Mönchtum wurde, im Gegensatz zu vielen seiner Denkansätze, nicht umfassend untersucht, aber oft erwähnt. Allerdings sind zwei Bücher nennenswert, eines von Bernhard Lohse⁵⁸ und das andere von Heinz-Meinolf Stamm,⁵⁹
WA.B 3,328. WA.B 4,390 – 391. Die Ordens- oder Sittenregeln (consuetudines) der Brüder vom Gemeinsamen Leben waren das Gegenstück dieser Gemeinschaft zu den Ordensregeln eines Klosters. Die Briefe zwischen Luther und den Brüdern vom gemeinsamen Leben erstrecken sich auf die Zeit von 1523 bis 1534, siehe WA.B 3 – 7. Zu Luthers Briefen an den Stadtrat und die Fürstäbtissin siehe WA.B 6,254– 255 und 300 sowie WA.B 7,113 – 114. Eine detaillierte Analyse zu Luthers Beziehung zu den Brüdern vom Gemeinsamen Leben zu Herford findet sich auch bei R. Stupperich, „Luther und das Fraterhaus in Herford“, in: H. Liebing und K. Scholder (Hg.), Geist und Geschichte der Reformation: Festgabe Hanns Rückert zum 65. Geburtstag dargebracht von Freunden, Kollegen und Schülern, Berlin, 1966, 221– 238. B. Lohse, Mönchtum und Reformation: Luthers Auseinandersetzung mit dem Mönchsideal des Mittelalters, Göttingen, 1963. H.-M. Stamm, Luthers Stellung zum Ordensleben, Wiesbaden, 1980.
Luther und das Mönchtum
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sowie ein Artikel von Heiko Oberman.⁶⁰ Lohse versucht, eine historische Entwicklung von den Wurzeln des westlichen Mönchtums bis zur Haltung Luthers im Jahr 1521 nachzuzeichnen, ebenso wie einen stufenweisen Prozess in der Entwicklung von Luthers Denkweise von 1515 bis 1521. Stamm konzentriert sich allein auf die Entwicklung von Luthers Haltung, geht hier aber weiter als Lohse, indem er Luthers persönliche Korrespondenz und Pfarrbriefe einbezieht, die seine fortwährend freundliche Gesinnung zum Mönchtum nach 1521 zeigen.⁶¹ Stamms recht offener Plan ist es, zu zeigen, wie Luthers Position mit dem gegenwärtigen katholischen Mönchtum übereinstimmt, wenngleich er zu dem diskutierbaren Schluss kommt, dass Luther die immerwährenden Gelübde nicht ablehnt, sondern eher in besonderer Weise versteht. Obermans Artikel behauptet, dass Luthers Haltung zum Mönchtum sich bis 1528 immer weiter in Richtung einer völligen Ablehnung des Mönchtums entwickelte. Er zitiert Luthers Zögern beim Ablegen seiner Mönchskutte, was er erst 1524 in die Tat umsetzte, und seine Veröffentlichung von 1528, Das clauster leben vnchristlich vnd schedlich sey. Allerdings ist dieses Werk nicht dringlicher in seiner Ablehnung des Mönchtums als die Vermutung, die bereits in De votis monasticis präsent ist; es erscheint im selben Jahr wie Luthers sympathischer Brief an Abt Gottschalk und noch vor der Verteidigung der Herforder Brüder vom Gemeinsamen Leben, und auch noch vor seinen eigenen Verweisen auf De votis monasticis als seiner endgültigen Meinung.
H. Oberman, „Martin Luther contra Medieval Monasticism: A Friar in the Lion’s Den“, in: T. Maschek, F. Posset und J. Skocir (Hg.), Ad fontes Lutheri: Toward the Recovery of the Real Luther: Essays in Honor of Kenneth Hagen’s Sixty-Fifth Birthday, 183 – 213, Milwaukee, 2001. Stamm bietet einen ausgezeichneten Überblick über Arbeiten zu Luthers Haltung zum Mönchtum; siehe Stamm, Luthers Stellung, 1– 9.
Michele Lodone
Erasmus und Luther Der freie und der unfreie Wille
Über die Diskussion zwischen Erasmus und Luther zur Freiheit oder Unfreiheit des menschlichen Willens ist sehr viel veröffentlicht worden und nicht selten bediente man sich schematischer Interpretationen, die es verhinderten, die historische Wirklichkeit mit ihren Besonderheiten und in ihrer Komplexität zu verstehen. Wenn es zutrifft, dass die Bedeutung der beiden Kontrahenten und der von ihnen behandelten Thematik bald dazu führte, dass die Auseinandersetzung einen paradigmatischen Wert annahm, so ist damit noch nicht gerechtfertigt, dass die Historiographie immer wieder der Versuchung erlag, den Zusammenstoß zwischen den beiden zum Symbol für den Bruch zwischen Reformation und Humanismus hinzustellen – als wenn diese nicht viel feiner gegliederte Phänomene wären, die man nicht auf zwei, wenn auch noch so berühmte, Persönlichkeiten reduzieren kann. Die Bedeutung der Thematik und ihrer Implikationen kann andererseits nicht die Komplexität der Auseinandersetzung verbergen, die sich auf verschiedenen Ebenen entwickelte. Eine zentrale Rolle spielte sicherlich die theologische Ebene, denn hier trafen zwei unterschiedliche Auffassungen von Gott und Christus aufeinander ,signum contradictionis‘ bei Luther und ‚signum conciliationis‘ bei Erasmus.¹ Aber jenseits des Streitgegenstandes ging es auch um die Kriterien, welche die theologische Konfrontation bestimmten und auf einer weiter gefassten kulturellen Ebene um das schwierige Verständnis zwischen der philologisch motivierten Skepsis Erasmus’ und der fideistischen Assertorik Luthers.² Bei einem theologischen und kulturellen Konflikt dieses Ausmaßes können einem außerdem nicht die politischen Beweggründe und Voraussetzungen entgehen – einerseits die Ideale universalistischer Natur, die Kontinuität gegenüber der Tradition und die Übereinstimmung mit der kirchlichen Autorität bei Erasmus, das nationale Ideal, die Bereitschaft zur Radikalität und der Oppositionswillen Luther.³
Übersetzung: Fried Rosenstock. Zur Natur und Bedeutung des Kontrastes zwischen Erasmus und Luther siehe die gesammelten Untersuchungen in F. De Michelis Pintacuda, Tra Erasmo e Lutero, Rom, 2001. Siehe M. OʼRourke Boyle, Rhetoric and Reform. Erasmusʼ Civil Dispute with Luther, Cambridge, 1983; E. Pasini, „Dubbio e scetticismo in Erasmo da Rotterdam“, in: E. Pasini und P. B. Rossi (Hg.), Erasmo da Rotterdam e la cultura europea. Erasmus of Rotterdam and European Culture, Florenz, 2008, 199 – 250, insbesondere 202– 208. Siehe C. Asso, „La stoltezza e la follia. Erasmo ‚catholicus‘ e altri equivoci“, in: A. E. Baldini und M. Firpo (Hg.), Religione e politica in Erasmo da Rotterdam, Rom, 2012, 111– 128, insbesondere 114– 115. Einige nützliche allgemeinere Hinweise in diesem Sinne finden sich in J. W. O’Malley, „Erasmus and Luther, Continuity and Discontinuity as Key to Their Conflict“, in: The Sixteenth Century Journal, 5, 2, 1974, 47– 65. https://doi.org/9783110498745-017
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Die Tatsache, dass die beiden Protagonisten der Diskussion in einer Reihe von intellektuellen und moralischen Voraussetzungen übereinstimmten (insbesondere dem Primat der Heiligen Schrift gegenüber der Abstrusität der Scholastik und der Ablehnung der in der Kirche verbreiteten Korruption) machte die Lage noch komplizierter. Auf den folgenden Seiten wird in erster Linie versucht, die Entwicklung der Beziehung zwischen Erasmus und Luther nachzuvollziehen, und wie diese auf die Zeitgenossen wirkte. Nach der Kontextualisierung dieses Disputes in seinen Ursprüngen werden in den zentralen Abschnitten die Traktate De libero arbitrio und De servo arbitrio analysiert, während der letzte Abschnitt und die Schlussworte sich auf einige der Hauptimplikationen und Folgen der Konfrontation und, kurzgefasst, auf einige Momente der Rezeption konzentrieren werden.
1 Erasmus und Luther: Übereinstimmungen und Gegensätze Erasmus und Luther haben sich niemals persönlich kennengelernt. Es ist wahrscheinlich, dass Luther die Werke des bereits berühmten holländischen Humanisten gelesen hatte, aber die ersten Anzeichen einer gegenseitigen Aufmerksamkeit gehen auf das Jahr 1516 zurück. Am 19. Oktober dieses Jahres schrieb der Reformator an Georg Spalatin und wies darauf hin, dass er das gelehrte und philologische Werk Erasmus’ zu schätzen wisse und er insbesondere dessen griechisch-lateinische Ausgabe des Neuen Testamentes benutze, welche unter dem Titel Novum Instrumentum im Februar 1516 erschienen war. Doch Luther äußerte gegenüber Erasmus auch erste theologische Vorbehalte. Diese frühen, aber deutlichen Hinweise auf Meinungsverschiedenheiten sollten sich in der durchaus polemischen Diskussion um den freien Willen verschärfen. Die Kritik Luthers richtete sich gegen die Erasmus Interpretation des Römerbriefs des Apostels Paulus. Der Mönch aus Wittenberg war der Meinung, dass bei Erasmus hinsichtlich der Rechtfertigung des Christen die Bedeutung der guten Werke zum Nachteil des Glaubens überbewertet werden.⁴ Luther war sich bewusst, dass er Augustin bevorzugte, während Erasmus Hieronymus höher einschätzte.⁵ Die Kritik daran kommt auch später in der Korrespondenz
Vgl. WA.B 1,70 (Nr. 27). Für eine genaue Analyse des Textes siehe C. Asso, „Erasmo e il battesimo: materiali di lavoro e spunti di riflessione“, in: A. Prosperi (Hg.), Salvezza delle anime e disciplina dei corpi. Un seminario sulla storia del battesimo, Pisa, 2006, 255 – 311, insbesondere 257– 266. Zur Ausgabe des Neuen Testaments durch Erasmus, mit besonderem Bezug auf die Paulusbriefe, siehe G. Pani, Paolo, Agostino, Lutero: alle origini del mondo moderno, Soveria Mannelli, 2005, 38 – 44; und ausführlicher die kürzlich veröffentlichten Beiträge in M.A. Pena Gonza´lez und I. Delgado Jara (Hg.), Revolucio´n en el Humanismo cristiano. La edicio´n de Erasmo del Nuevo Testamento (1516), Salamanca, 2016. Siehe, neben dem bereits erwähnten, auch den Brief an Spalatin vom 18. Januar 1518, WA.B 1,133 (Nr. 57).
Erasmus und Luther
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Luthers zum Vorschein, zusammen mit der Idee, worauf wir noch zurückkommen werden, dass der Humanist die menschlichen Dinge höher einschätzte als die göttlichen.⁶ Der sächsische Mönch hütete sich allerdings davor, Erasmus öffentlich anzugreifen, denn er sah in ihm einen Verbündeten im Prozess der intellektuellen und moralischen Reform der Kirche. Die Erneuerung der kirchlichen Kultur und ihrer Gebräuche bildete eine Gemeinsamkeit zwischen den beiden, deren sich auch Erasmus bewusst war. In diesem Sinne erklärt sich auch die Toleranz und die Dialogbereitsaft mit Luther, wie sie der Humanist zu Beginn des Jahres 1519 zeigte.⁷ Gegenüber seinen Korrespondenzpartnern blieb Erasmus vorsichtig, machte deutlich, dass er Luther nicht kenne und nur einige wenige seiner Werke überflogen habe. Es handelte sich nicht nur um eine taktische Maßnahme, um den Wunsch, sich nicht zu exponieren, denn Erasmus hegte bereits gegenüber Luther und anderen Reformatoren Vorbehalte. Statt des Ungehorsams gegenüber Rom und dem Bruch mit der Kirche bevorzugte er eine andere Form der Erneuerung, eine mit Ausgewogenheit geführte theologische Diskussion. Als Luther im Frühjahr 1519 an Erasmus einen im Großen und Ganzen freundlichen Brief schrieb und ihn um seine Unterstützung bat, antwortete der Humanist ebenfalls mit Wohlwollen. Aber er verbarg auch nicht seine Absicht, eine neutrale Haltung einnehmen zu wollen und sich von dogmatischen Zusammenstößen fernzuhalten, in der Hoffnung, dass die Möglichkeit einer auf der Wirksamkeit der Argumente basierenden Auseinandersetzung erhalten bliebe.⁸ Die Bulle Exsurge Domine, mit der 1520 Papst Leo X. den sächsischen Mönch offiziell verdammte, bestätigte Erasmus’ Befürchtungen, der Zusammenstoß war damit offen und unvermeidlich geworden. Noch dazu beförderte die Koinzidenz einiger Probleme, die Instrumentalisierung durch andere und die unklare Grenze zwischen den Parteien viele Zeitgenossen dazu, Erasmus mit den Reformierten zu verbinden. „Luther und Erasmus sind in allem einig“ schrieb Martin Bucer am 1. Mai 1518, „außer dass Erasmus nur fallen lässt, was Luther frei und offen lehrt“.⁹ Und Melanchthon vereinigte im Jahr darauf Erasmus, Luther und Reuchlin darin, dass sie von den scholastischen Theologen gemeinsam (und auf ungerechte Weise) verfolgt würden.¹⁰
„Ich fürchte, er setzt nicht ausreichend Christus und die Gnade Gottes in den Vordergrund“, schrieb Luther an Johann Lang bezüglich Erasmus am 1. März 1517, denn „in ihm überwiegen die Dinge der Menschen über denjenigen Gottes“ (WA.B 1,90 (Nr. 35): „timeo ne Christum et gratiam Dei non satis promoveat […]; humana praevalent in eo plus quam divina“). Vgl. auch unten, Fußnote 28. Siehe De Michelis Pintacuda, Tra Erasmo e Lutero, 42– 43. Der Brief Luthers ist vom 28. März 1519, WA.B 1, 361– 363 (Nr. 163); Erasmus antwortete am 30. Mai, Opus epistolarum Desiderii Erasmi Roterodami, hg.v. P. S. Allen, H. M. Allen, H. W. Garrod et al., Bd. 3, Oxford, 1913, 605 – 607 (Nr. 980). „Cum Erasmo illi conveniunt omnia, quin uno hoc praestare videtur, quod quae ille duntaxat insinuat, hic aperte docet et libere“, Briefwechsel des Beatus Rhenanus, hg.v. A. Horawitz und K. Hartfelder, Hildesheim, 1886, 107. Siehe E. Rummel, The Confessionalization of Humanism in Reformation Germany, Oxford, 2000, 22– 29 – aber das gesamte Kapitel I ist wichtig: „Humanists and Reformers as Allies. A Constructive Misunderstanding?“.
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Unter den Reformierten selbst wurden die Positionen erst Anfang der zwanziger Jahre klarer, vor allem nach den Auseinandersetzungen über den freien und unfreien Willen. Sowohl Bucer als auch Melanchthon änderten danach ihre Meinung zu den Übereinstimmungen zwischen Erasmus und Luther. Aber noch gefährlicher für Erasmus war die Insistenz, mit der ihn seine katholischen Kritiker mit Luther verbanden, in einer tendenziösen Vorliebe für eingängige Sentenzen: „Entweder Erasmus lutherisiert oder Luther erasmisiert“;¹¹ Erasmus hat das Ei gelegt, Luther hat es ausgebrütet. Der Humanist versuchte mehrfach, sich gegen Anklagen dieser Art zu verteidigen, indem er hervorhob, selbst wenn er ein Ei gelegt haben sollte, hätte Luther ein völlig anderes Huhn ausschlüpfen lassen.¹² Wie Jacobus Latomus, einer seiner katholischen Gegner, äußerte: „In der lutherischen Frage gab es keinen Platz für Neutralität“.¹³ Luther in Person wies auf die sich nachteilig auswirkende neutrale Haltung Erasmus’ hin, der mit großer Kunst zwischen Szylla und Charybdis navigierte, ohne eine klare Position für oder gegen die römische Kirche oder die Reformation zu beziehen.¹⁴ Eine neutrale Haltung war inzwischen unmöglich geworden. Wie Erika Rummel für Deutschland nachgewiesen hat,¹⁵ waren Erasmus und mit ihm weitere Humanisten seit den zwanziger Jahren dazu gezwungen – in verschiedener Weise und mit verschiedenen Ergebnissen – für das eine oder das andere Lager der gespaltenen Christenheit Stellung zu beziehen. Die letzten Briefe zwischen Luther und Erasmus im Frühjahr 1524, kurz vor ihrem öffentlichen Disput, bezeugen, dass ihre Beziehung sehr angespannt, wenn nicht sogar unversöhnlich geworden war. Der Zwiespalt hatte sich bereits in den Jahren 1521 bis 1523 gezeigt, als einige Briefe Erasmus’ und Luthers, ohne deren Autorisierung, nachgedruckt und in Umlauf gebracht wurden.¹⁶ Im April 1524 schrieb der Reformator einen ziemlich schroffen Brief an Erasmus, in dem er diesem seine religiöse und moralische Unterlegenheit vor Augen hielt und ihn gleichzeitig darum bat, neutral zu bleiben, sich nicht mit den papistischen Gegnern zu vereinen und vor allem nichts „aut Erasmus luterizat, aut Luterius erasmizat“, J. L. Stunica (Diego Lopez De Zúñiga), Libellus trium illorum voluminum praecursor quibus erasmicas impietates ac blasphemias redarguit, Rom, 1522, f. Gvr; zit. in S. Cavallotto, Santi nella Riforma. Da Erasmo a Lutero, Rom, 2009, 95. Zu diesen Auseinandersetzungen siehe die umfangreichen Studien von E. Rummel, Erasmus and his Catholic Critics, 1515 – 1536, 2 Bde., Nieuwkoop, 1989, insbesondere Bd. 2, 1– 28, 116 – 121 und ad indicem. Vgl. Opus epistolarum Desiderii Erasmi Roterodami, Bd. 5, Oxford, 1924, 609 (Nr. 1528), an Johannes Caesarius, 16. Dezember 1524, „Ego posui ovum gallinaceum, Lutherus exclusit pullum longe dissimillimum“; zit. in De Michelis Pintacuda, Tra Erasmo e Lutero, 39 – 40. „non igitur in hac re locus est neutralitati“, J. Latomus, „Adversus Erasmi librum de sarcienda Ecclesiae concordia opus inabsolutum“, in: ders., Opera adversus horum temporum haereses, Lovanii, 1550, f. 172v. Erasmus benutzte die Metapher von Szylla und Charybdis in seiner Antwort an Hutten vom September 1523 (vgl. M. Brecht, Martin Luther, Bd. 2, Shaping and Defining the Reformation, 1521 – 1532 [1986], übers. v. J. L. Schaaf, Minneapolis, 2. Aufl. 1994 [1990], 217– 218); Luther bezog sich in polemischer Weise darauf in De servo arbitrio. WA 18,600 – 787, hier: 612. Rummel, The Confessionalization of Humanism. Siehe De Michelis Pintacuda, Tra Erasmo e Lutero, 48.
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gegen ihn zu schreiben.¹⁷ Erasmus’ Antwort war teilweise ausweichend, ohne Luther einen reineren Glauben anzuerkennen, deutete das Schreiben die Möglichkeit oder sogar die Opportunität einer öffentlichen Diskussion an, die der Humanisten für nützlich hielt, um die auf dem Spiel stehenden Fragen besser zu verstehen. Die Dinge nahmen ihren Lauf, aber nicht, wie Erasmus es sich vorgestellt hatte.
2 Erasmus’ Publikation von De libero arbitrio Erasmus ließ seinen Text De libero arbitrio diatribé sive collatio in Basel von seinem Freund Johann Froben Ende August, Anfang September 1524 drucken.¹⁸ Zwischen dem 2. und 6. September schickte er das Büchlein an verschiedene römische, englische und deutsche Persönlichkeiten, mit denen er in Briefverkehr stand. Er erklärte, es geschrieben zu haben, nachdem er von höherer Stelle dazu gedrängt worden sei, und dass er sich mit Mäßigung und ohne heftige Polemik zu einer Thematik geäußert habe, die er nicht als die seinige empfinde. Er habe das Werk niemandem gewidmet, damit keiner annehmen könne, er hätte einen anderen Beweggrund als den, der Wahrheit zu dienen. Außer der verfänglichen Anschuldigung, er sei ein Komplize der Reformierten, brachte das Drängen von mächtigen Zeitgenossen wie dem holländischen Papst Hadrian VI., König Heinrich VIII. von England und dem gerade erst gewählten Papst Clemens VII. Erasmus zu seiner Stellungnahme gegen Luther. Die Themenwahl ist jedoch allein Erasmus zu verdanken. Erasmus betrachtete den lutherischen Protest als unnötig hart und aggressiv und zielte auf den zentralen Kern der Reformbemühungen Luthers, die direkte Konsequenz aus der Lehre von der Rechtfertigung allein durch den Glauben: Die Bedeutung des menschlichen Willens für das Ziel der Errettung. Luther selbst musste anerkennen, dass sein Gegner die grundlegende Frage erkannt hatte, mit der sich auch der Reformator noch nie so systematisch auseinandergesetzt hatte. Indem er die literarische Form der Diatribe (Disput) oder Collatio (Textvergleich) wählte, wollte Erasmus ein theologisches Thema mit humanistischer Methodik behandeln. Direkte Vorläufer stammten aus der klassischen Rhetorik und Philosophie, von den Tusculanae diputationes Ciceros bis zu den Diatribae Epiktets, letzteren sah Erasmus als einen Vorläufer der Philosophia Christi. Sie waren auch seine Vorbilder für gemäßigten Ton, pädagogische Intention und moralisches Interesse. Mit anderen Worten, er fragte sich, welches die beste Lebensführung sei, ohne sich in Haarspalterei und doktrinären Unverständlichkeiten zu verlieren.¹⁹ Die Collatio, also der Bibelver-
WA.B 3,270 (Nr. 729), datierbar auf April 1524, möglicherweise den 15. Die aufmerksamsten und am besten dokumentierten Rekonstruktionen der verschiedenen Phasen des Disputes finden sich in Brecht, Martin Luther, Bd. 2, 213 – 238, und in De Michelis Pintacuda, Tra Erasmo e Lutero, 51– 76. Siehe OʼRourke Boyle, Rhetoric and Reform, 6 ff.; J. F. Tinkler, „Erasmus’ Conversation with Luther“, in: Archiv fü r Reformationsgeschichte, 82, 1991, 59 – 81.
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gleich, war eine beiden geläufige Disziplin, die Luther ohne Mühe akzeptieren konnte. Aber aus der gemeinsamen Anerkennung des Primats der Heiligen Schrift folgten für Luther und Erasmus exegetische und theologische Prinzipien von großer Unterschiedlichkeit. Die von dem holländischen Humanisten gewählte literarische Form beinhaltete auch den Versuch, den Reformator von der Sicherheit seiner Behauptungen abzubringen, von seiner Pervicacia asserendi, um eine offene Diskussion zu erreichen, die für Erasmus von Anfang an ausdrücklich von Skepsis geprägt war: Andererseits habe ich wenig Neigung dazu, mich auf dogmatische Behauptungen kategorischer Art einzulassen, viel lieber bliebe ich bei meiner skeptischen Haltung, jedes Mal, wenn ich dazu von der Heiligen Schrift oder von den Entscheidungen der Kirche autorisiert werde. Unter deren Willen ordne ich mich und mein Gefühl stets gerne und freiwillig unter, ob ich das nun verstehe oder nicht verstehe, was sie mir da befehlen.²⁰
Ausgehend von der schroffen Antwort Luthers, und bis hin zur klassischen History of Scepticism von Richard Popkin, sah man in Erasmus’ Skepsis eine rückständige Haltung, so als wolle er gegen die Reformation auf eine mehr oder weniger verschwiegene Weise die gesamte Kirchentradition akzeptiert wissen. Bei genauerem Hinsehen handelte es sich aber eher um die vorsichtige Aussetzung eines Urteils, das er für nicht notwendig und gleichzeitig auch für gefährlich hielt. In anderen Worten, Erasmus glaubte nicht, dass man einige theologische Fragen –darunter die Willensfreiheit – in unanfechtbarer Weise definieren könne, und dass sie sich daher auch nicht dazu eigneten, unter das Volk gebracht zu werden. Wegen ihres Schwierigkeitsgrades könnten sie höchstens unter Gelehrten in einem nüchternen und gemäßigten Dialog verhandelt werden.²¹ Das erklärt den mit Erasmus’ Skepsis verbundenen Hang, sich in unauflösbaren Fragen wie dem freien Willen der Autorität der Kirche und der Übereinstimmung mit der Tradition zu unterwerfen, und daher rührt auch die theologische Loslösung des Autors von De libero arbitrio, indem er sich selbst als einfachen Philologen hinstellte, der den Sinn, aber nicht den Wert der Heiligen Schrift zu klären versuchte.²² Für Erasmus liegt der Schlüssel für die Interpretation der Schrift in der Nachahmung der Verhaltensweise Christi und damit in der Moral. Aber da es keine Moral ohne individuelle Verantwortung geben kann, muss man daraus zwangsläufig auf einen gewissen Grad an menschlicher Willensfreiheit schließen. Der Text De libero arbitrio setzt sich aus vier Teilen zusammen, nach der Einleitung sind die beiden zentralen Abteilungen der Analyse von Bibelstellen gewidmet, die für den freien Willen sprechen (er wird als „eine menschliche Willensmacht“
„Et adeo non delector assertionibus, ut facile in Scepticorum sententiam pedibus discessurus sim, ubicumque per divinarum scripturarum inviolabilem auctoritatem et ecclesiae decreta liceat, quibus meum sensum ubique libens submitto, sive assequor quod praescribit sive non assequor“, E. von Rotterdam, De libero arbitrio diatribé sive collatio (1524), hg.v. J. von Walter, Leipzig, 1910, 19. Siehe G. Remer, Humanism and the Rhetoric of Toleration, University Park, PA, 1996, 90 – 97; Pasini, „Dubbio e scetticismo in Erasmo“, 207– 209. Rummel, The Confessionalization of Humanism, 54– 58.
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definiert, „derentwegen sich der Mensch all dem widmen kann, das zur ewigen Rettung führt, als auch, im Gegenteil, sich davon zu entfernen“)²³ und denjenigen Stellen, die dagegen sprechen. Es folgt ein abschließender Teil, in dem er, für das Ziel der Errettung, das Zusammenwirken zwischen der Gnade Gottes und dem menschlichen Willen hervorhebt, wobei erstere die Hauptursache ist und die zweite von geringerer Bedeutung bleibt. Um diese Schlussfolgerung besser zu erklären, verwendet Erasmus eine erbauliche Familienszene, in der er Gott mit einem liebevollen Vater vergleicht: Der Vater hebt sein Kind, das noch nicht richtig laufen kann, auf, weil es gefallen ist, und zeigt ihm eine Frucht, um es abzulenken. Aber wegen der Schwäche seiner Glieder würde es sofort wieder fallen, wenn der Vater es nicht hielte und seine Schritte unterstützte. Vom Vater geführt, erreicht das Kind die Frucht, die der Vater ihm gerne gibt, als Belohnung für seinen Spaziergang. Das Kind hätte sich nicht aufrichten können, wenn der Vater ihm dabei nicht geholfen hätte, es hätte die Frucht nicht gesehen, wenn der Vater sie ihm nicht gezeigt hätte, es hätte nicht vorwärtsgehen können, wenn der Vater es bei seinem unsicheren Gang nicht ständig unterstützt hätte, und es hätte schließlich nicht die Frucht nehmen können, wenn sein Vater sie ihm nicht in die Hände gelegt hätte. Was kann also das Kind sich selbst zuschreiben? Zwar hat es etwas getan, aber es kann sich nicht seiner Kraft rühmen, denn alles, was es ist, verdankt es seinem Vater.²⁴
Der Vergleich ist bedeutungsvoll für den menschlichen (und vermenschlichenden) Bezug, in den Erasmus seine theologische Reflektion einfügt. Deren Ideal orientiert sich an einer Philosophia Christi, welche den absoluten Vorrang der moralischen Dimension des Evangeliums anerkennt (deren evidente Wahrheiten nur jene sind, die „die Normen betreffen, die dazu bestimmt sind, unser Leben zu ordnen“).²⁵ Unter diesen Voraussetzungen konnte die Zentralität der Heiligen Schrift keine ausreichende Gemeinsamkeit mehr zwischen Erasmus und Luther sein. In der Tat, Luthers Antwort erfolgte auf einer radikal anderen Ebene als derjenigen, die der holländische Humanist vorgeschlagen hatte.
„[…] vim humanae voluntatis, qua se possit homo applicare ad ea, quae perducunt ad aeternam salutem, aut ab iisdem avertere“, E. von Rotterdam, De libero arbitrio diatribé sive collatio (1524), 19. „Pater infantem nondum ingredi potentem collapsum erigit utcumque adnitentem et pomum ex adverso positum ostendit; gestit puer accurrere, sed ob imbecillitatem membrorum mox denuo collapsurus esset, ni pater manu porrecta fulciret regeretque gressum illius. Itaque patre duce pervenit ad pomum, quod pater volens dat illi in manum veluti cursus praemium. Erigere se non poterat infans, nisi pater sustulisset, non vidisset pomum, nisi pater ostendisset, non poterat progredi, nisi pater invalides gradus perpetuo adiuvisset, non poterat attingere pomum, nisi pater dedisset in manum. Quid hic sibi vindicabit infans? Et tamen egit nonnihil, nec habet tamen quod de suis viribus glorietur, cum se totum debeat patri“, ebd., 83 – 84. „Quaedam voluit nobis esse notissima, quod genus sunt bene vivendi praecepta“, ebd., 7.
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3 Luthers Antwort: De servo arbitrio Zwischen Ende 1524 und zu Beginn des Jahres 1525 durchlebte Luther vielleicht die schwierigste Zeitspanne seiner reformatorischen Existenz. Der Bauernaufstand, die Auseinandersetzungen mit Andreas Bodenstein und bald darauf mit Zwingli über die wahrhaftige Gegenwart Christi beim Abendmahl, die Anstrengungen bei der Exegese der prophetischen Bücher und seine Heirat mit Katharina von Bora,²⁶ alle diesen öffentlichen und privaten Ereignisse führten dazu, dass er Erasmus erst nach mehr als einem Jahr antwortete. Ab September 1525 schrieb Luther wie aus einem Guss De servo arbitrio, das im September desselben Jahres in Wittenberg durch den Verleger Hans Lufft veröffentlicht wurde. Es handelt sich um eine umfangreichere Schrift als die Diatribe des Erasmus, deren Argumente Luther genau und systematisch aufgriff, nicht ohne sie um eine Überfülle von Richtigstellungen zu erweitern. Der Titel verweist implizit auf Augustin, der in seinem Contra Iulianum (2,8,23) den Ausdruck „servum arbitrium“ verwendet hatte. Die radikale Option für eine augustinische Vision von der Rolle der Gnade bei der christlichen Errettung brachte Luther dazu, Erasmus als einen modernen Pelagius zu bezeichnen, oder als noch etwas Schlimmeres als das – wobei Luther diese Anklage nicht nur versteckt aussprach, angefangen mit einer vorsichtigen Verteidigung von Pelagius gegenüber dem noch größeren Extremismus von Duns Scotus hinsichtlich des freien Willens.²⁷ Luther war schon seit längerer Zeit davon überzeugt, dass Erasmus „an Gott auf zu menschliche Weise dachte“, wie er auch in De servo arbitrio wiederholte,²⁸ und dass er deshalb auch unfähig sei, die Unermesslichkeit der göttlichen Gerechtigkeit gegenüber der menschlichen zu erkennen: „Nicht über die Natur, sondern über die Gnade disputieren wir“, verdeutlichte der Reformator, und fügte hinzu: „noch fragen wir, wie wir auf der Erde sondern wie wir im Himmel vor Gott beschaffen sind“.²⁹ Wenig weiter heißt es: Aber da Gott der Wahre, der Eine ist, dazu ganz unbegreiflich und unzugänglich für die menschliche Vernunft, so ist es billig, sogar notwendig, daß auch seine Gerechtigkeit unbegreiflich ist, wie es Paulus auch ausruft, wenn er sagt: „O welch eine Tiefe des Reichtums, beides,
Siehe S. H. Hendrix, Martin Luther. Visionary Reformer, New Haven, 2015, 161– 168. Siehe R. Torzini, I labirinti del libero arbitrio. La discussione tra Erasmo e Lutero, Florenz, 2000, 50 – 59; Ders., „Volere e fare. Una strategia antiagostiniana“, in: F. Adorno und L. Foisneau (Hg.), L’efficacia della volontà nel XVI e XVII secolo, Rom, 2002, 27– 55, insbesondere 44– 47. „Nimis enim humana cogitas de Deo“, WA 18,622. Siehe auch oben, Fußnote 6. „Nos non de natura, sed de gratia disputamus, nec quales simus super terram, sed in coelo coram Deo, querimus“ (WA 18,781). Dt. Übers.: Martin Luther, „Vom unfreien Willen“, Ökumenisches Heiligenlexikon, https://www.heiligenlexikon.de/Literatur/Martin_Luther_unfreier_Willen.htm (Zugriff am 02.06. 2017).
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der Weisheit und Erkenntnis Gottes! Wie gar unbegreiflich sind sein Gerichte und unerforschlich seine Wege!“ (Röm 11,33).³⁰
Mit polemischer Härte setzte Luther gegen die ausgewogenen Argumente Erasmus’ eine Theologie der absoluten Macht Gottes. Ihr gegenüber kann die menschliche Freiheit nur verschwinden und erst Dank des Gnadenopfers des gekreuzigten Christus wieder zurückkehren. Die gemäßigte Philosophia Christi des Erasmus wurde von der lutherischen Theologie des Kreuzes hinweggefegt, indem er das Paradox vom Opfer Christi auf die Spitze trieb. Für Luther war es blasphemisch, dessen Wert durch das Gegengewicht des menschlichen Willens mindern zu wollen.³¹ Das war für Luther die Bedeutung der Heiligen Schrift, er sah in ihr – im Unterschied zu Erasmus – nicht nur einen Text mit mehr oder weniger klaren Textstellen, sondern das Wort Gottes, das nur für die Sünder schwer verständlich war. Die vermutete Claritas Scripturae trug in sich eine antiskeptische Botschaft, denn die Skepsis Erasmus’ tat aus dem Blickwinkel Luthers nichts anderes, als das kirchliche Monopol der Bibelinterpretation zu rechtfertigen. Doch für ihn war die Bibel für jedes authentisch christliche Bewusstsein verständlich. Deshalb konnte jeder Christ aus einer korrekten Bibelinterpretation seine unbezweifelbaren Überzeugungen gewinnen. Und es waren diese theologischen Assertiones, welche laut Luther den zentralen Kern des Christentums bildeten und die er angesichts der Skepsis Erasmus’ für richtig hielt: Laß uns Menschen sein, die feste Meinungen haben, sich darum bemühen und an ihnen Freude haben. Du magst es mit Deinen Skeptikern halten, bis Christus Dich auch wird berufen haben. Der heilige Geist ist kein Skeptiker, er hat nichts Zweifelhaftes oder unsichere Meinungen in unsere Herzen geschrieben, sondern feste Gewißheiten, die gewisser und fester sind als das Leben selbst und alle Erfahrung.³²
Unter diesen Voraussetzungen war der Dialog in der Substanz unmöglich geworden. Abschließend setzte Luther gegen das menschliche Gottesbild Erasmus’ eine andere, sehr beunruhigende Vorstellung vom Menschen, die der Definition des freien Willens als der Fähigkeit, autonom zwischen zwei Gegensätzen entscheiden zu können, widerspricht.
„At cum sit Deus verus et unus, deinde totus incomprehensibilis et inaccessibilis humana ratione, par est, imo neccessarium est, ut et iustitia sua sit incomprehensibilis, sicut Paulus quoque exclamat, dicens: ‚O altitudo divitiarum sapientiae et scientiae Dei; quam incomprehensibilia sunt iudicia eius et investigabiles viae eius‘“ (WA 18,784). Dt. Übers.: Ökumenisches Heiligenlexikon, Lutherbibel 2017. Siehe B. Lohse, Martin Luther’s Theology: Its Historical and Systematic Development [1995], hg. u. übers. v. R. A. Harrisville, Minneapolis, 2006, 162– 168; M. Wriedt, „Luther’s Theology“, in: D. McKinn (Hg.), The Cambridge Companion to Martin Luther, Cambridge, 2003, 86 – 114, insbesondere 110 – 111. „Sine nos esse assertores et assertionibus studere et delectari, tu Scepticis tuis et Academicis fave, donec te Christus quoque vocaverit. Spiritus sanctus non est Scepticus, nec dubia aut opiniones in cordibus nostris scripsit, sed assertiones ipsa vita et omni experientia certiores et firmiores“ (WA 18,605). Dt. Übers.: Ökumenisches Heiligenlexikon.
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So ist der menschliche Wille in die Mitte gestellt (zwischen Gott und Satan) wie ein Zugtier. Wenn Gott sich darauf gesetzt hat, will er und geht, wohin Gott will […] Wenn Satan sich darauf gesetzt hat, will und geht er, wohin Satan will. Und es steht nicht in seiner freien Entscheidung, zu einem von beiden Reitern zu laufen oder ihn sich zu verschaffen zu suchen, sondern die Reiter selbst kämpfen miteinander, ihn zu erlangen und zu besitzen.³³
Man darf allerdings nicht vergessen, dass die Schrift Luthers vor allem theologischer Art war. Die Untüchtigkeit und Nichtigkeit des menschlichen Willens betrafen nicht das weltliche Leben und seine Verantwortung.³⁴ Der menschliche Willen war aus der Sicht des Reformators von Wittenberg nur vor Gott ein Knecht, nicht gegenüber den Menschen und den ‚niedrigen Dingen‘. Auch aus diesem Grunde kann Luthers Sichtweise nicht insgesamt als unverträglich mit der humanistischen gelten.³⁵ Aber der Bruch mit Erasmus war deshalb nicht weniger tief.
4 Aufnahme und Interpretationen Beunruhigt hatte Erasmus die Antwort Luthers erwartet, deren Härte erahnend. De servo arbitrio bestätigte seine Befürchtungen. Der holländische Humanist entgegnete bald mit einer weiteren Stellungnahme, wesentlich länger und entschiedener im Ton, Hyperaspistes genannt. Der erste Band wurde von Froben bereits im Januar 1526 veröffentlicht (knapp drei Monate nach der Publikation von De servo arbitrio). Den zweiten Band schickte Erasmus ebenfalls durch Froben im September 1527 hinterher. In diesem stellenweise etwas zu wortreichen Werk klärte der Autor verschiedene Aspekte seiner Haltung, nahm Stellung zu einigem, das er in De libero arbitrio mit Absicht nicht erwähnt hatte, und griff mit Entschiedenheit die extremen Konsequenzen der lutherischen Theologie an.³⁶ Luther antwortete nicht, die Disputation war abgeschlossen und die Beziehung zwischen den beiden endgültig gestört.³⁷ Aber die Diskussion war damit natürlich nur zwischen den beiden Protagonisten beendet.
„Sic humana voluntas in medio posita est, ceu iumentum: si insederit Deus, vult et vadit quo vult Deus […]. Si insederit Satan, vult et vadit quo vult Satan, nec est in eius arbitrio ad utrum sessorem currere aut eum quaerere, sed ipsi sessores certant ob ipsum obtinendum et possidendum“ (WA 18,635). Dt. Übers.: Ökumenisches Heiligenlexikon. Siehe R. Saarinen, Weakness of Will in Renaissance and Reformation Thought, Oxford, 2011, 128 – 133. Dies bestätigt richtigerweise auch G. Dall’Olio, Martin Lutero, Rom, 2013, 122. Hyperaspistes diatribae adversus servum arbitrium Martini Lutheri I-II, in: Desiderii Erasmi Roterodami Opera omnia emendatiora et auctiora, Bd. 10, Leiden, 1703 – 1706, 1249 – 1336 und 1336 – 1536 (eine englische Übersetzung kann man lesen in: Erasmus and Luther, The Battle Over Free Will, hg.v. C. H. Miller und P. Macardle, Einleitung v. J. D. Tracy, Cambridge, IN, 2012, 127– 216 und 217– 346). Über das Werk siehe Brecht, Martin Luther, Bd. 2, 236 – 238; Torzini, Volere e fare, 30 ff. Siehe De Michelis Pintacuda, Tra Erasmo e Lutero, 42– 43.
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Im Vergleich zu der äußerst umfangreichen Bibliographie über die Auseinandersetzung zwischen Erasmus und Luther gibt es relativ wenige Untersuchungen über deren Aufnahme und Wirkung. Dennoch ist es möglich, einige Hinweise zu geben. Der Disput machte vielen Reformierten, die Erasmus als einen Gleichgesinnten betrachtet hatten, deutlich, dass er Positionen bezog, welche von den ihrigen stark abwichen. Aber wenn die Zwiespältigkeit von De libero arbitrio Luther und seine Anhänger entrüstete, so befriedigte die übertriebene Behutsamkeit auch nicht die Katholiken. Die Protestanten beschuldigten den Humanisten, ein Heuchler zu sein, wie auch ein volkstümlicher Holzschnitt beweist (um 1524), der Erasmus darstellt, während er den Schwanz eines die päpstliche Tiara tragenden Fuchses streichelt.³⁸ Für die Katholiken blieb er in jedem Fall ein Ketzer. Schon lange, bevor seine Bücher auf den Index kamen, wurde Erasmus von seinen katholischen Kritikern wiederholt angegriffen. Sie zeigten sich von seiner Stellungnahme gegen Luther wenig überzeugt und er wurde von Noel Béda bis hin zu Alberto Pio di Carpi mit Luther assoziiert.³⁹ „Erasmus war der Meister und Luther enthüllte sich als diesem Lehrer ebenbürtiger Schüler“, so konnte man, 1525 lesen, nachdem Erasmus gegen Luther aufgetreten war. „Das, was Erasmus über einen langen Zeitraum säte, hat Luther geerntet. […] Luther predigt systematisch all das, was ihm Erasmus beigebracht hat“.⁴⁰ Vergeblich versuchte der Humanist sich zu rechtfertigen, er hätte „so viel mit Luther gemeinsam wie der Kuckuck mit der Nachtigall“.⁴¹ Seine Lehre wurde sogar für viel gefährlicher gehalten als die der Protestanten, gerade weil er sich dem Papst unterworfen hatte, was die katholischen Kritiker für eine Simulation hielten. Was den Erfolg von De libero arbitrio betrifft, fanden die darin behandelten Themen eine weitere Verbreitung durch eine Predigt, die Erasmus selbst wenige Monate vor der Diatribe veröffentlicht hatte: De immensa Die misericordia, die mehr-
Siehe R. W. Scribner, For the Sake of Simple Folk. Popular Propaganda for the German Reformation, Cambridge, 1981, it. Übers.: Per il popolo dei semplici. Propaganda popolare nella Riforma tedesca, Mailand, 2008, 96 – 97. Dieses Urteil fand einen wirkungsvollen Ausdruck in Pasquillus ecstaticus von Celio Secondo Curione, wo Erasmus an einem Seil zwischen zwei Pfählen hängt, mit Hirschgeweih auf dem Kopf und einer Tasche voller Münzen an den Füßen, während er sich wie eine Wetterfahne dreht, „je nachdem wie der Wind weht“, vgl. Pasquillus ecstaticus, Genf, per Ioan. Girardum, 1544, 170 – 171; Pasquino in estasi, o.O., o. N., [1542?], f. 41r – von dort stammt das vorherige Zitat, „secondo il soffiar del vento“. Siehe Rummel, Erasmus and his Catholic Critics, Bd. 2, ad indicem; F. Forner, „L’eretica ironia“, in: A. E. Baldini und M. Firpo (Hg.), Religione e politica in Erasmo, 171– 186, insbesondere 181– 182. Zu seiner Index-Setzung siehe S. Seidel Menchi, Erasmo in Italia, 1520 – 1580, Turin, 1987, 310 ff.; Dies., „Sette modi di censurare Erasmo“, in: U. Rozzo (Hg.), La censura libraria nell’Europa del secolo XVI, Udine, 1997, 177– 206. Godefridus Ruysius Taxander, Apologia in eum librum quem ab anno Erasmus Roterodamus de confessione edidit. Eiusdem libellus quo taxatur delectus ciborum, sive liber de carnium esu ante biennium per Erasmum Roterodamum enixus, Antwerpen, 1525, f. Aiiv und ebd., Appendix, f. Gviiir-v. „sic mihi convenit cum Luthero, quemadmodum convenit coccyci cum luscinia“, Supputatio errorum in censuris Beddae, in: Desiderii Erasmi Roterodami Opera, Bd. 9, 519 – 520.
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fach übersetzt und in Italien und in der Schweiz gedruckt wurde.⁴² Einen noch geringeren Erfolg hatte wahrscheinlich die Schrift Luthers, auch wenn sie sofort ins Deutsche übersetzt wurde, und das, obwohl ihr Autor noch Jahre später behauptete, sie sei sein wichtigstes Werk, zusammen mit dem Katechismus.⁴³ Seine Weitschweifigkeit, die Schwierigkeit des Lateins und der theologische Diskurs an sich verhinderten, dass De servo arbitrio ein Bestseller wurde. Dennoch muss die Breitenwirkung des Textes immer noch untersucht werden, ausgehend von La tragedia del libero arbitrio des aus Bassano emigrierten Francesco Negri,⁴⁴ bis hin zu Spaccio della bestia trionfante und Cabala del cavallo pegaseo von Giordano Bruno. Letzterer nahm gegenüber Luther einen sehr kritischen Standpunkt ein, der allerdings nicht mit dem des Erasmus übereinstimmt. Während es den anderen beiden Kontrahenten um die Erlösung und die Prinzipien der Heiligen Schrift ging, interessierte sich Bruno vor allem für die ethische Problematik.⁴⁵ Während des Pietismus und der Aufklärung gehörte das Werk nicht zu den für die lutherische Forschung interessanten Wissensgebieten – eine Theologie, die sich auf der Unerforschlichkeit der Allmacht Gottes und dem Paradox der Kreuzigung gründete, passte nicht in diese Zeit. Das gleiche gilt für die sogenannte liberale Theologie, die den Protestantismus seit dem Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in die Moderne integrieren wollte.⁴⁶ De servo arbitrio wurde in gewisser Weise erst nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland ‚wiederentdeckt‘, mit der Forderung von Theologen nach einem eigenen, separaten Forschungsgebiet neben dem der Geisteswissenschaften – und auch Dank der Studien eines Walter von Loewenich über Luthers Theologia crucis. ⁴⁷ Die Voraussetzungen für eine so lang anhaltende geringe Beachtung hatte bereits Melanchthon gelegt, erst mit der Confessio Augustana von 1530, dann mit einer Folge von Auflagen der Loci theologici – von 1535 bis 1559 – wo er das Konzept des freien Willens mit neuer Definition in die Systematik der lutherischen Dogmatik einfügte, einem Gebiet, dem er sich nunmehr gewidmet hatte.⁴⁸
Vgl. die Einführung zu Erasmus von Rotterdam von P. Terracciano (Hg.), La misericordia di Dio, Pisa, 2016, 19 – 21; L. Felici, „L’immensa bontà di Dio. Diffusione e adattamenti dell’idea erasmiana in Italia e in Svizzera“, in: A. E. Baldini und M. Firpo (Hg.), Religione e politica in Erasmo, 129 – 158. Die Übersetzung von Justus Jonas, Vom unfreien Willen, wurde im Januar 1526 in Wittenberg gedruckt; man kann sie heute lesen in K. Aland (Hg.), Luther Deutsch. Die Werke des Reformators in neuer Auswahl für die Gegenwart, Bd. 3, Stuttgart/Göttingen, 1961, 151– 334. „Keines meiner Bücher […] erkenne ich als richtig an, wenn nicht vielleicht De servo arbitrio und den Katechismus“, schrieb Luther an Wolfgang Capito am 9. Juli 1537, WA.B 7,99 (Nr. 3162): „Nullum enim agnosco meum iustum librum, nisi forte de Servo arbitrio et Catechismum“. F. Negri da Bassano, Tragedia intitolata Libero arbitrio. 1546/1550, hg. von C. Casalini und L. Salvarani, Rom, 2014. De Michelis Pintacuda, Tra Erasmo e Lutero, 259 – 271. Ebd., 276 – 278. W. von Loewenich, Luthers Theologia crucis, München, 1929. Siehe R. Ramberti, „Il dibattito sul libero arbitrio nel pensiero filosofico e teologico tra Rinascimento e Riforma“, in: M. De Caro, M. Mori und E. Spinelli (Hg.), Libero arbitrio. Storia di una contro-
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5 Abschließende Bemerkungen Abschließend ist es nicht schwierig, die substantiellen Verständnisschwierigkeiten zwischen den beiden Gesprächspartnern zu erkennen. Weniger eindeutig sind die Gründe dafür. Es heißt, Erasmus war mehr an den moralischen Implikationen als an den theologischen Behauptungen interessiert, während für Luther die soteriologischen Fragen (bezüglich der ewigen Erlösung) von fundamentaler Bedeutung waren.⁴⁹ Man hat auch versucht, die kommunikative Ausweglosigkeit mit Erasmus’ Vorliebe für eine beratende Rhetorik gegenüber Luthers Hang zu einer Rhetorik in der Art der Gerichtssprache zu erklären – oder, weniger überzeugend, aus dem Gegensatz zwischen der Skepsis Erasmus’ und dem vermuteten Stoizismus Luthers.⁵⁰ Diese Deutungen haben zweifellos einen gewissen Wahrheitsgehalt. Unbeschadet der Komplexität und der Bedeutung sowie des hohen Einsatzes, um den es für die beiden Protagonisten ging, kann man feststellen, dass die Konfrontation von den Historikern überbewertet worden ist, wenn schon nicht wegen ihres Wertes, so doch wegen des Gewichtes, das ihr zugemessen wurde. Trotz der theologischen Bedeutung dieser Auseinandersetzung hatte sie eine relativ geringe Auswirkung auf das Leben von Erasmus oder Luther, und auch nicht auf die reformatorische Initiative des letzteren.⁵¹ Luther musste De servo arbitrio nicht einsetzen, um seine Autorität innerhalb der Reformationsbewegung zu konsolidieren. Erasmus konnte weder mit De libero arbitrio noch mit Hyperaspistes verhindern, dass seine katholischen Widersacher ihn als einen Komplizen der lutherischen Ketzerei ansahen.
versia filosofica, Rom, 2014, 223 – 260, insbesondere 251– 253 (und ebd., 253 – 256; eine Befassung mit Calvin zu den Begriffen Berufung und Prädestination würde den Rahmen dieser Veröffentlichung sprengen). Man beachte beispielsweise sehr verschiedene Gesichtspunkte wie die von R. Bainton, Here I Stand. A Life of Martin Luther, Nashville, 1950, ital. Übers. Martin Lutero, Einleitung von A. Prosperi, Vorw. von D. Cantimori, 3. Aufl., Turin, 2013, 188 – 190; und E. De Negri, La teologia di Lutero. Rivelazione e dialettica, Florenz, 1967, 77– 82. Siehe M. OʼRourke Boyle, Rhetoric and Reform. Siehe S. H. Hendrix, Martin Luther, 171.
Jonathan D. Trigg
Kontroversen über Taufe und Abendmahl 1521 – 1532 1 Einführung
Die zentralen Aussagen in Luthers Abendmahlslehre aus dem Zeitraum von 1521 bis 1532 sind klar zu erkennen. Zwei große Linien sind zu verzeichnen. Die erste ist eine Reaktion auf Rom: Die Messe ist kein Opfer, sondern ein Sakrament, durch welches uns Gottes Gnade und Barmherzigkeit zugeeignet werden; die letztwillige Verfügung Christi, die Verheißung Gottes, ist hierbei grundlegend. Die Verweigerung des Laienkelches ist zwar ein Vergehen an der gottgegebenen Freiheit eines Christenmenschen, aber dies kann von den Betroffenen guten Gewissens ertragen werden. Was jedoch keineswegs toleriert werden darf, ist das Verschleiern des göttlichen Verheißungswortes und das Vernachlässigen des Evangeliums im Rahmen der als priesterliches Opfer durchgeführten Messe. Das zweite Thema kommt bereits in den frühen 1520er Jahren auf, gewinnt aber an Bedeutung, als Luther sich in langwierigen und manchmal hitzigen Debatten mit den entgegengesetzten Ansichten anderer, besonders mit den Schweizer Reformatoren Zwingli und Oekolampad, auseinandersetzt: Christi Leib und Blut sind wahrhaftig gegenwärtig in Brot und Wein, die freilich zugleich Brot und Wein bleiben. Bedeutend schwieriger ist es, die Hauptthemen in Luthers Tauftheologie in diesen Jahren im Gesamtzusammenhang darzustellen. Hierzu steht weniger Quellenmaterial zur Verfügung, insbesondere für die Jahre vor 1527. Hinzu kommt, dass für diese Jahre eine Entsprechung zu der gegen die Schweizer gerichteten ununterbrochenen Reihe polemischer Traktate über das Abendmahl oder zu der persönlichen Konfrontation im Marburger Religionsgespräch fehlt. Dennoch sind auch hier Spuren heftiger Wortgefechte zu erkennen: Luther wehrt denen, die Wiedertaufe lehren und praktizieren,¹ denen, die Kindern die Taufe verwehren,² denen, die ein falsches Verständnis von der Beziehung zwischen Sakrament und Glauben haben³ und denen, die bloßes Wasser schlechterdings verschmähen, indem sie das damit verbundene Verheißungswort missachten.⁴ In der anstößigen Lehre der Letzteren erkennt Luther die Wurzel aller anderen Ärgernisse. Übersetzung: Benedikt Jetter. WA 26,144– 174. BC, 442– 444 [The Book of Concord. The Confessions of the Evangelical Lutheran Church. hg. u. übers. v. Theodore G. Tappert, Philadelphia, 1959]. BC, 440 – 441. BC, 438. https://doi.org/9783110498745-018
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2 Wort und Zeichen Die Beziehung zwischen Wort und Sakrament ist bei Luther komplexer, als es beim Blick auf seine dezidierte Wertschätzung der augustinischen Definition Accedat verbum ad elementum et fit sacramentum wirken mag.⁵ Und doch gibt dieses Prinzip Augustins nicht nur einen Hinweis auf die Struktur von Luthers Sakramententheologie, sondern es wirft zudem Licht auf eine Reihe damit verbundener Motive in seinem Denken.
2.1 Verachtet nicht das Äußerliche, das Gewöhnliche Da das Taufwasser mit dem göttlichen Wort verbunden wird, darf es nicht als bloß äußerlich abgetan werden, als Wasser von so geringem Wert wie dasjenige, das ein Rind trinkt. Luther verweigert denen die Akzeptanz, die das Wasser diskreditieren, entweder schlicht und einfach aufgrund seiner physischen Beschaffenheit oder weil es gewöhnlich und unscheinbar ist. Gleiches gilt für das Brot und den Wein des Abendmahls.⁶ Die Gewöhnlichkeit der Sakramente ist mitnichten das einzige Beispiel dafür, dass Gott seinen Ruhm unter einer unrühmlichen Hülle verbirgt; der äußerste Ausdruck dieses Schemas ist das Kreuz. Die Gewöhnlichkeit von Wasser, Brot und Wein ist ein Charakteristikum von Luthers theologia crucis;⁷ dies entspricht zudem der nicht gerade imposanten äußerlichen Gestalt der wahren Kirche, der die äußerliche Herrlichkeit der falschen fehlt. Luther vergleicht den protzigen Gottesdienst und die Eindruck schindenden Bräuche der falschen Kirche mit dem Turm zu Babel.⁸ Das Taufwasser beziehungsweise das Brot und den Wein des Abendmahls zu verachten oder schlechtzumachen, heißt, die von Gott auserwählten Gnadenmittel abzulehnen. Dementsprechend antwortet Luther auf Karlstadt in der Schrift Wider die himmlischen Propheten, von den Bildern und Sakrament (1525): […] das er diesen orden umbkere und eynen widdersynnischen auffrichte aus eygenem frevel und fueret die sache der massen: Erstlich, was Gott eusserlich ordenet zum geyst ynnerlich, wie gesagt ist, Ach wie hoenisch und spoettisch schleg er das ynn wind und will zuvor hyneyn ynn den geyst. Ja, spricht er, sollt mich eyne hand vol wassers von suenden reyn machen? Der geyst, der geyst, der geyst mus es ynnwendig thun, Sollt myr brod und weyn helffen? Sollt das hauchen uber das brot Christus yns Sacrament bringen? Neyn, neyn, man mus Christus fleisch geystlich essen, Die
BC, 438. Die Bedeutung dieser Gewöhnlichkeit hat sich möglicherweise zu einer Grundlage entwickelt, auf der Luther mit Beharrlichkeit davon sprechen kann, dass Brot und Wein im Abendmahl Brot und Wein bleiben, WA 11,441. Dass dies wohl jedoch nicht der Ausgangspunkt für sein beharrliches Insistieren gewesen ist, geht aus der Argumentation in Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche hervor, WA 6,508 – 512. Jonathan D. Trigg, Baptism in the Theology of Martin Luther, Leiden, 1994, 2001, 28. WA 42,411.
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Wittemberger wissen nichts drumb, Sie [Karlstadt und seine Anhängerschaft] stelen den glauben aus den buchstaben, Und der prechtigen wort viel, das, wer den teuffel nicht kennet, moecht wol meynen, sie hetten fuenff heylige geyste bey sich […] […] wie er dyr mit den worten geyst, geyst, geyst das maul auff sperret und doch die weyl, beyde brucken, steg und weg, leytter und alles unbreysst, dadurch der geyst zu dyr kommen soll, nemlich, die eusserlichen ordnung Gotts ynn der leyplichen tauffe zeychen und muendlichen wort Gottes und will dich leren, nicht wie der geyst zu dyr, sondern wie du zum geyst komen sollst.⁹
Das Verachten des Äußerlichen findet sich in anderer Form in Oekolampads wiederholter Bezugnahme auf Joh 6,63 („Der Geist ist’s, der da lebendig macht; das Fleisch ist nichts nütze“); obwohl der übergeordnete Zusammenhang eigentlich der Streit über Luthers Lehre von der Realpräsenz des Leibes und Blutes Christi im Abendmahl ist, behauptet Luther, dass seine Gegner meinen, es muege da nichts geistlichs sein, wo etwas leiblichs ist, geben fur, fleisch sey kein nuetze, So das widderspiel wahrhafftig ist, Das der geist bey uns nicht sein kann anders denn ynn leiblichen dingen als ym wort, wasser und Christus leib und ynn seinen heiligen auff erden.¹⁰
Auch wenn die Gegner hier mehr an der Körperlichkeit von Leib und Blut als an der von Brot und Wein Anstoß nehmen – Luthers Antwort ist in beiden Fällen die gleiche: Gott wirkt durch körperliche Mittel. Das Element zu verschmähen heißt, das mit ihm verbundene göttliche Wort zu missachten oder abzulehnen.
2.2 Das mit dem Zeichen verbundene Wort Hier offenbart sich die potenzielle Mehrdeutigkeit des Begriffs ‚Wort‘. Luthers Ansicht nach ist das mit dem Taufwasser verbundene Wort Gottes auf ein Ziel gerichtet: „Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden“; es ist für ihn von gleichem Rang wie die Einsetzung des Abendmahls durch den Herrn.¹¹ Das mit den Elementen im Abendmahl verbundene Wort ist ebenfalls die Einsetzung des Herrn: „Dies ist mein Leib … dies ist mein Blut“. In anderen Kontexten hingegen kann ‚Wort‘ das gepredigte Wort oder das geschriebene Wort der Schrift sein und als solches gilt es als eines der Gnadenmittel neben Taufe und Abendmahl. Eine weitere Bedeutung, die von diesen beiden zu unterscheiden und als ihnen übergeordnet zu betrachten ist, ist das Evangelium selbst, das Wort Gottes an sich. Als Luther 1528 in seiner Vorlesung über 1
WA 18,136 – 137.Vergleiche die Parallele mit Luthers Angriff auf die als ein Opfer dargebrachte Messe; sowohl die Papisten als auch Karlstadt verkehren die Bewegungsrichtung um und machen Gott zum Objekt anstatt zum Subjekt des Handelns. WA 23,193. Mk 16,16.
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Tim 2,6 erneut mit Karlstadts Lehre vom Heil unabhängig von Heilsmitteln konfrontiert ist, antwortet er: Sie sagen, dass weder Wasser noch Brot uns retten, sondern der gekreuzigte Christus. Aber dies ist zu nichts nütze, außer wir empfangen es in dem Wort, das in der Taufe, im Sakrament des Altars und im Evangelium ist und diesen Christus zu mir bringt. Und wo auch immer das Wort des Evangeliums ist, da ist Vergebung der Sünden. Somit hat uns Christus einmal mit einem einzigen Werk erlöst, aber Er hat es nicht in einem einzigen Medium verteilt: Er hat es durch das Medium der Waschung in der Taufe, durch das Medium des Essens im Sakrament des Altars, durch die Media des Tröstens der Brüder, des Lesens im Buch ausgeteilt, auf dass die Frucht Seiner Passion überall ausgebreitet werde.¹²
Beachtung finden hier das geschriebene Wort, das gesprochene Wort, die Sakramente und sogar weitere, weniger klar definierte Gnadenmittel (die Erbauung der Brüder),¹³ die sämtlich als Mittel verstanden werden, durch die das Wort des Evangeliums, die Vergebung der Sünden, zugeeignet wird. Obwohl Luther die konkreten Worte der Vollmacht und der Verheißung des Herrn als das mit dem Wasser und Brot und Wein verbundene Wort ansieht, ist dennoch unmissverständlich klar, dass das, was zugeeignet wird, das erlösende Wort des Evangeliums selbst ist. Wo ein solches Wort fehlt, da verweigert Luther die Anerkennung als wesenhaftes Sakrament.¹⁴
2.3 Wort und Zeichen zusammenhalten Auf der einen Seite widersetzte sich Luther denen, welche die Zeichen ihrer bloßen Körperlichkeit wegen verachteten; er tat, als kennten sie das mit den Zeichen verbundene Wort nicht. Auf der anderen Seite jedoch steht die scheinbar diametral entgegengesetzte Gefahr, das Zeichen als solches und um seiner selbst willen zu überhöhen. Dies zeigt sich in Luthers Abhandlung Vom Anbeten des Sakraments des heiligen leichnams Christi von 1523, die an die Böhmischen Brüder gerichtet ist. Freilich
WA 26,40 – 41: „Non, dicunt, aquam, panem nos salare sed Christum crucifixum; sed nihl prodest, nisi in verbo accipimus, quod est in baptismo, sacramento, Euangelio adferend hunc mihi Christum. Et ubicumque est verbum Euangelii, est remissio peccatorum. Ergo Christus semel uno opere nos redemit, sed uno usu non distribuit: tradit per medium lavachri in baptismo, per medium cemedendi in altari, per medium consolandi fratres, legendi in libro, ut unidque esset diffusus fructus passionis.“ Es gibt noch weitere ‚Zeichen‘, die mit dem göttlichen Verheißungswort verbunden sind; siehe zum Beispiel WA 31/II,350, wo Luther die Gedanken zu Taufe und Abendmahl mit der geforderten Ehre der Eltern umrahmt. Luthers sprachliche Darstellung der Gnadenmittel ist ein Stück weit generalisierend und unpräzise, was an seiner Betonung von Gottes Gebrauch des Äußerlichen liegt. Es besteht indes kein Zweifel daran, dass das Wort (geschrieben wie gepredigt), die Taufe und das Abendmahl, unmissverständlich die Dinge sind, die das Evangelium, also das heilsbringende Wort Gottes an sich, vermitteln. WA 11,454.
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gibt es diejenigen, sagt er, die „wollen zwingen, [das Sakrament] nicht anzubeten, als were Christus gar nicht da“, aber es gibt auch andere, die „auffs sacrament fallen unnd die wort faren lassen. Da wirt denn eyn lautter werck drauß, und der glawbe gehet unter.“¹⁵ Zwar ist Luthers Verbot von Monstranzen, Fronleichnamsprozessionen etc. nicht absolut, aber ihr Gebrauch muss dort unterlassen werden, wo man das mit den Zeichen verbundene Wort weder hört, noch beachtet; es käme Götzendienst gleich. In dieser Abhandlung verweist der Reformator auf die unbefangene Freiheit in solchen Angelegenheiten, die Freiheit, die in denen aufscheint, die sich dem Wort vertrauensvoll zuwenden. Die scheinbar gegensätzlichen Fehler, nämlich das Missachten des Zeichens auf der einen Seite und des Wortes auf der anderen, ergeben sich beide aus der Weigerung, Gott dort zu suchen, wo er sich finden lassen möchte, und aus dem Versäumnis, im Glauben auf das Wort zu hören, das Gott mit dem Zeichen verbunden hat.
3 Glauben und Sakrament Bei Luther tritt seit Mitte der 1520er Jahre die wechselseitige Beziehung von Glauben und Sakrament immer klarer hervor. Der Glauben allein versteht und empfängt das Sakrament angemessen; und doch bringt nicht Glauben das Sakrament hervor. Dem Gleichgewicht der Beziehung zwischen diesen beiden entsprechen jene Fehler, die sich dort ergeben, wo Wort und Zeichen getrennt werden.
3.1 Nichts wird ohne Glauben empfangen Nur durch Zuwendung zum mit dem Taufwasser verbundenen Wort – indem man es im Glauben hört – wird die Neugeburt empfangen. Lediglich sein eigenes Getauftsein zur Schau zu stellen, ist gehaltlose Prahlerei. Der späte Luther vergleicht derartige Anmaßungen mit Esau, der sein Erstgeburtsrecht verschmäht.¹⁶ Gleichermaßen beteuert Luther, dass derjenige, der die Eucharistie empfängt und […] nicht glaubt, der hat nichts, als der’s ihm läßt umsonst vortragen und nicht will solches heilsamen Gutes genießen. Der Schatz ist wohl aufgetan und jedermann vor die Tür, ja auf den Tisch gelegt; es gehört aber dazu, daß du sich auch seiner annehmest und gewißlich dafürhaltest, wie dir die Worte geben.¹⁷
WA 11,448. Trigg, Baptism, 58. BC, 450. Deutsch: Lutherische Bekenntnisschriften, M. Luther, Großer Katechismus, Von dem Sakrament des Altars, Abschnitt 35.
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Die Natur des Wortes der Verheißung oder Verfügung, welches mit dem Zeichen verbunden ist, bestimmt die Art und Weise, in der das Sakrament empfangen werden muss: im Glauben. Während Luther in einer früheren Phase durchaus den Rückgriff auf den gemeinschaftlichen Glauben der Kirche, das heißt der Gemeinschaft der Heiligen, als notwendiges Gegenstück zum demütigen und bußfertigen Empfang der Sakramente durch den Einzelnen zur Geltung bringen konnte, gilt die Mahnung ab etwa 1520 jeder Person: Alßo mustu hie fur allen dingen deyniß hertzen warnehmen, das du den worten Christi glaubist und lassist sie war seyn, da er tzu dir und allen sagt ‚das ist meyn bluet, eyn news testament, damit ich dir bescheyde vorgebung aller sund unnd ewiges leben‘.¹⁸
Schon in der Abhandlung Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche scheint die ausdrückliche Isolation des Einzelnen im Kontext von Taufe und Abendmahl weitestgehend vollzogen: Darum soll nun diese unumstößliche Wahrheit feststehen: Wo eine göttliche Verheißung ist, da steht ein jeder für sich selbst; sein eigener Glaube wird gefordert; jeder wird für sich selbst Rechenschaft ablegen und jeder wird seine eigene Last tragen [Gal 6,5], wie Markus im letzten Kapitel sagt [16,16]: ‚Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden; wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden.‘ So kann ein jeder sich die Messe zunutze machen durch seinen eignen Glauben.¹⁹
In späteren Jahren sollte Luther nicht durchweg an dieser radikalen Betonung festhalten. Als er einmal die Kindertaufe verteidigen musste, konnte er – obwohl er sich nicht scheute, auf Seiten der Kinder Glauben zu postulieren – durchaus in Erwägung ziehen, dass sie „[im Glauben] auch der andern“ zum Sakrament kommen.²⁰ Obwohl die radikale Einsamkeit des Individuums vor Gott auch beim späten Luther von Bedeutung bleibt, verliert mit der zunehmenden Betonung des Vorranges des unumstößlich mit dem Zeichen verbundenen göttlichen Gebotes und der göttlichen Ver-
WA 6,360. WA 6,521: „Stet ergo insuperabilis veritas: ubi promissio divina est, ibi unusquisque pro se stat, sua fides exigitur, quisque pro se rationem reddet et suum onus portabit, sicut dicit Marci ult. Qui crediderit et baptisatus fuerit, salvus erit: si autem non crediderit, condemnabitur. Ita et Missam unusquisque tantum sibi potest utilem facere fide propria et pro nullis prorsus communicare […].“ Siehe bei Thomas J. Davis, This is My Body: the Presence of Christ in Reformation Thought, Grand Rapids, 2008, 20 – 31, eine hilfreiche Darstellung der Entwicklung von Luthers Gedanken im oben genannten Sinne während der Jahre 1518 – 21, welche sein Abendmahlsverständnis als Bund mit der immer deutlicher werdenden Betonung des individuellen Glaubens verbindet. Ein Einspruch aber sollte erhoben werden: Davis tendiert dazu, das Element oder Zeichen als dem Wort eindeutig nachgeordnet zu betrachten, und zwar auf eine Art und Weise, die zumindest der frühe Luther so nicht gutgeheißen hätte. In anderen Worten: Er tendiert dazu, zu unterschätzen, wie fest das Band ist, mit dem Gott Wort und Zeichen verbunden hat. WA 30/I,219,15; BC, 443.
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heißung zwar nicht die Unentbehrlichkeit des Glaubens, wohl aber die Frage nach der Qualität und sogar die Frage nach der Verortung dieses Glaubens an Klarheit.²¹
3.2 Taufe und Abendmahl hängen am Glauben – bezogen auf den Gebrauch, nicht die Gültigkeit Bei all dem lässt Luther es allerdings nicht zu, dass die Gültigkeit der Taufe oder die Realpräsenz im Abendmahl durch die Abwesenheit von Glauben kompromittiert werden. Der Glaube bewirkt nicht das Sakrament; er empfängt es. Anders zu denken ist nicht nur ein Affront gegen das Wort und Werk Gottes, sondern es verkehrt das Wesen des Glaubens ins Gegenteil. Als Luther sich 1528 mit den Argumenten derer auseinandersetzt, die eine zweite Taufe für diejenigen fordern, die als Kinder getauft wurden und später zum Glauben gekommen sind, beharrt er darauf, dass diese in Wahrheit Gottes Wort vom Glauben abhängig machen: Ich setzt aber gleich, das die erste tauffe on glawben sey, Sage mit, welchs unter den zweien das groesseste und furnemest sey, Gottes wort odder der glawbe? Ists nicht war? Gottes wort ist groesser und furnemlicher denn der glawbe, Sintemal nicht Gottes wort auff den glawben, sondern der glawbe auff Gottes wort sich bawet und gruendet, Dazu der glawbe ist wanckelbar und wandelbar, Aber Gottes wort bleibet ewiglich [Isa. 40:6– 9; I Pet. 1:24]. Weiter sage mir, wenn eins unter diesen zweien sol ander weit werden, Welchs sol billicher anderweit werden? Das unwandelbar wort odder der wandelbar glawbe? Ists nicht also, das billich der glawbe ander weit werde, und nicht Gottes wort? Es ist ja billicher, das Gottes wort einen anderen glawben mache (so zuvor kein rechter da gewesen ist), denn das der glawbe ander weit das wort mache,Weil sie denn bekennen mussen, das ynn der ersten tauffe nicht an Gottes wort, sondern am glawben mangele, und nicht ein ander wort, sondern ein ander glawbe not sey. Warumb handeln sie denn nicht viel mehr, das ein ander glawbe werden und lassen das wort unverendert?²²
Gleiches gilt für das Abendmahl: Luther besteht darauf, dass „Christus fleisch nicht allein kein nuetz, sondern auch gifft ist und der tod sey, so es on glauben und wort wird geessen“.²³ Die Abwesenheit von Glauben kann das Wort Gottes nicht beeinträchtigen, auch wenn seine Anwesenheit unverzichtbare Bedingung dafür ist, dass das Essen heilbringend und nütze ist.
Trigg, Baptism, 85 ff. WA 26,172. WA 26,353, Vom Abendmahl Christ, Bekenntnis, 1528.
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3.3 Der Glaube wird verkehrt, wenn er grundlegend wird Dass es problematisch ist, die Sakramente auf den Glauben zu gründen, zeigt sich ganz besonders bei der Taufe, weil die Infragestellung ihrer Gültigkeit zum Ausschluss von Menschen aus der Kirche führen kann. Obwohl die Argumente für die Kindertaufe seit den 1520er Jahren den Großteil des zur Verfügung stehenden Materials ausmachen – wohl aus dem Grund, dass die Kindertaufe das eindrücklichste Beispiel für eine Taufe ohne Glauben darstellt –, haben die Themen eine darüberhinausgehende Gültigkeit. Eine hilfreiche Quelle für die Beziehung zwischen Taufe und Glauben ist der Brief Von der Widdertauffe an zween Pfarherrn von 1528.²⁴ Die Wiedertäufer bestehen darauf, dass der Glaube für die Taufe notwendig ist und unbedingt schon vorher gegeben sein sollte. Luther hält dem u. a. entgegen, dass niemand beweisen könne, dass Kinder keinen Glauben hätten. Und in der Tat gibt es angesichts der Begebenheit, dass Johannes der Täufer im Leibe seiner Mutter hüpfte, allen Grund zu der Annahme, dass Kinder Glauben haben können und auch haben.²⁵ Luther fährt fort mit einer Reihe weiterer Argumente unterschiedlicher Überzeugungskraft, wovon die meisten sich schlicht darauf stützen, dass die Kirche fortbesteht: Wäre Kindertaufe eine Häresie, hätte Gott sie nicht so lange geduldet; die Ausgießung des Geistes auf so viele, die auf diese Weise als Kinder getauft wurden; die nicht zu akzeptierende Schlussfolgerung, dass es in der Kirche jahrhundertelang keine Taufe gegeben hätte, wenn die Kindertaufe keine legitime Taufe wäre. Luther versuchte zudem vom Papst her, der als Antichrist im Tempel Gottes sitzen muss, und von der bloßen Existenz des Christentums her, das nur dann Christentum sein kann, wenn Menschen auf gültige Weise getauft sind, zu argumentieren. Schließlich bringt er den Bund der Beschneidung, der Kinder nicht ausgrenzte, mit dem neuen Bund und dem Taufbefehl, der niemanden ausschließt, in Verbindung.²⁶ Freilich sind derlei Argumente in Luthers Ansatz eher von sekundärer Bedeutung. Seine Grundannahme ist, dass das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von Glauben (im Taufenden wie im Getauften) niemals sicher ist. Daher ist es sinnlos, die Gültigkeit des Sakraments davon abhängig zu machen. Das zweifelnde Gewissen wird einen immer wieder plagen, auch nach einer zweiten Taufe; am Schlimmsten aber wäre es, man würde den Vorrang des Wortes Gottes nicht anerkennen: War ists, das man glewben sol zur tauffe, Aber auff den glawben sol man sich nicht teuffen lassen. Es ist gar viel ein ander ding, den glawben haben uns sich auff den glawben verlassen und also sich drauff teuffen lassen. Wer sich auff den glawben teuffen lest, der ist nicht allein ungewis, sondern auch ein abgoettischer verleucker Christ, Denn er trawet und bawet auff das seine, nemlich auff eine gabe, die yhm Gott geben hat, und nicht auff Gottes wort alleine, gleich wie ein ander bawet und trawet auff seine stecke, reichtum, gewalt, weisheit, heilickeit, welchs doch auch geben sind von Gott yhm geben. Welcher aber getaufft wird auff Gottes wort und gebot, wenn da
WA 26,144– 174. WA 26,156. WA 26,466 – 469.
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gleich kein glawbe were, dennoch were die tauffe recht und gewis, denn sie geschicht, wie sie Gott geboten hat, Nuetze ist sie wol nicht dem unglewbigen teufflinge umb seines unglawbens willen, Aber drumb ist sie nicht unrecht, ungewis odder nichts, Wenn das alles sollt unrecht odder nichts sein, was den unglewbigen nich nuetze ist, so wurde nichts recht noch gut bleiben.²⁷
Luther zufolge führt das Vertrauen auf den eigenen Besitz von Glauben zwangsläufig zurück zur Häresie der Galater, also zu einer selbstbestimmten und selbstsicheren Werkefrömmigkeit (obschon in einer neuen Form) und weg von der Gerechtigkeit Gottes.²⁸ Glaube jedoch ist weder selbstbestimmt noch sich seiner selbst bewusst, kann weder gemessen noch geschätzt werden. Alle Aufmerksamkeit richtet sich auf das Verheißungswort. Glaube ist schlicht „ein beständiger Blick, der auf nichts schaut außer Christus“.²⁹
4 Gnade: Was die Sakramente bewirken Die schwerwiegendste Verletzung, die der Kirche zugefügt wurde, ist – was das Abendmahl angeht – die Umwandlung des Geschenkes und des Vermächtnisses Christi in eine Opfergabe an Gott, wodurch die Richtung der sakramentalen Handlung umgekehrt wird. Luther versteht die Messe so wie das Neue Testament selbst: Christus ist der Erblasser; wir Christen sind die Erben; die Herrenworte legen den letzten Willen fest; das Siegel ist das Brot und der Wein, unter denen Christi lebendiger Leib und lebendiges Blut gegenwärtig sind; die Erbschaft selbst ist die Vergebung der Sünden und das ewige Leben; und am Schluss steht das dazugehörige Denkmal der Dankbarkeit, der Liebe und des Segens.³⁰ Das Geschenk der Liebe Gottes in eine an diesen gerichtete Opfergabe zu verkehren, ist eine Beleidigung Gottes; dabei besteht ein enger Zusammenhang mit dem Verschleiern, dem Unterdrücken und dem Murmeln der Einsetzungsworte, des Verheißungswortes.³¹ Es gibt darüber hinaus noch weitere Verletzungen: Der Entzug des Laienkelches ist die offensichtlichste, die oben genannte aber ist die bei weitem schlimmste.Wo Gottes Verheißung nicht ist, da ist auch seine Gnade nicht – und Werke (und Vertrauen auf Werke) werden eilends ihren Platz einnehmen. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei der Verletzung der Taufe in der damaligen Praxis der Römischen Kirche für Luther nicht um Pervertierung, sondern um Unterdrückung oder Verdrängung. Das Verheißungswort wird hier – zumindest bei Erwachsenen – von einem „zweiten Brett“ der Buße und von all den anderen selbsterwählten Werken menschengemachter Religion überlagert. Die dauerhafte
WA 26,164. WA 26,162. WA 40/I,545: „sed habet in conspectu solum Christum“. WA 6,359 f, Ein Sermon von dem neuen Testament, das ist von der heiligen Messe, 1520. WA 8,508, Vom Mißbrauch der Messe, 1521.
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Verheißung Gottes, die in der Taufe eigentlich vernommen werden sollte, wird überlagert und zum Schweigen gebracht. In den 1520er Jahren und danach sollte Luther das Evangelium und die Freiheit eines Christenmenschen immer mehr im Lichte der Taufe auslegen.³²
5 „Das ist mein Leib“ … „Das ist mein Blut“ Von 1526 an bestimmt die Aussage, „das ym brod und wein warhafftig Christus leib und blut ist“,³³ Luthers Polemik, zumindest was den Bereich der Sakramententheologie angeht. In Umrissen begegnet dieses Argument jedoch schon etwas früher: in seiner an die Böhmischen Brüder gerichteten Abhandlung Vom Anbeten des Sakraments des heiligen leichnams Christi vom Frühjahr 1523: […] haben nicht mehr davon gehallten den: das brott bedeutte den leyb unnd der weyn bedeutte das blutt Christi, gleych als wenn man eyn figure auß dem alten testament nehme und spreche: Das hymel brod, das die Juden ynn der wuesten assen, bedeutt den leyb Christi odder das Euangelion, Aber das hymel brott ist nicht Euangelion noch der leyb Christi. Alßo, wenn ich von der tauffe spreche: Die tauffe ist ein baed der seele, das ist, die tauffe badet nicht die seel, sondern bedeutt das baed der seele, da sie mit dem wortt gottis ym glauben gebadet wirtt. Solche ehre heben nu diße dem sacrament gethan, das sie sagen, Es sey nicht da der leyb Christi, ßondern bedeutte yhn wie eyn tzeychen. Da huett dich nur fuer, laß vernunfft und witze faren, die sich bekumert vergeblich, wie fleysch und blutt da seyn muege, und weyl sie es nicht begreyfft, will sie es nicht gleuben. Fasse das wortt, da Christus spricht: ‚Nempt hyn, das ist meyn leyb, das ist meyn blutt‘. Man muß nicht ßo freveln an gottis wortten, das yemandt on außgedruckte klare schrifft eym wortt wilt eyn ander deutten geben denn seyn natuerlichen deutten ist […].³⁴
Schon hier also lässt sich Luthers spätere entschlossene Hartnäckigkeit zumindest teilweise nachvollziehen: Luther kann nicht zulassen, dass die Sakramente bloße Zeichen von Gottes gnädigem Werk in der menschlichen Seele sind, welches sich eigentlich unabhängig von ihnen vollzieht. Der Vergleich mit der Taufe ist aufschlussreich: In beiden Fällen geht es Luther darum, die Wirkung des mit dem Zeichen verbundenen Wortes Gottes zur Geltung zu bringen. Nicht aber allein dieser bedeutende Aspekt seiner Motivation lässt sich hier erkennen, sondern auch die Hauptargumentationslinie, die Luther in den nachfolgenden Diskussionen mit den Schweizern, das heißt mit Oekolampad und Bucer, vor allem aber mit Zwingli, entwickeln sollte.
Trigg, Baptism, 144 f. Sermon von dem Sacrament des leibs und bluts Christi, wider die Schwarmgeister, WA 19,482. WA 11,434.
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5.1 Der wörtliche Sinn der Schrift Luther sollte in den späteren Diskussionen nicht darum herumkommen, zur Verteidigung seiner befürwortenden Haltung gegenüber der Realpräsenz verschiedenartigen Argumentationslinien nachzugehen; der maßgebende Grund aber, auf den er sich stellte, ist schon früher hinreichend deutlich: Ausschlaggebend sind für ihn die Einsetzungsworte. Vor allem aber gilt, dass Luther keine wie auch immer geartete Abweichung von der ursprünglichen Bedeutung des „Ist“ zuzugestehen bereit ist, sei es im Sinne von „bedeutet“ (Zwingli), sei es im Sinne von „repräsentiert“ (Oekolampad). Luther spekuliert nicht über das „Wie“ dieser Gegenwart von Leib und Blut, etwa durch Gebrauch der Begrifflichkeit von „Substanz“ und „Akzidenz“. Es geht ihm schlicht und einfach darum, das schriftgemäße „Dass“ zu akzeptieren: „Brod sehen wir mit den augen, Aber wir hoeren mit den oren, das der leib da sey“.³⁵ Das Beharren auf der wörtlichen Bedeutung des „Ist“ bleibt für seine Position durchgängig bestimmend; dennoch gibt es noch weitere Argumentationslinien, die sorgfältig voneinander unterschieden werden müssen.
5.2 Christologie Zunächst ist sich Luther darüber im Klaren, dass er seine These gegen diejenigen verteidigen muss, die darauf bestehen, dass Christi Leib im Himmel zur Rechten Gottes ist und demzufolge nicht auch im Brot des Abendmahls sein kann. Zwinglis Ansicht nach muss die leibliche Menschheit Christi an einem gewissen Ort im Himmel sein. Luther hält dagegen, dass die rechte Hand Gottes überall ist, […] wilchs ist nicht anders, Denn das er, auch al sein mensch, vber alle ding ist. alle ding vnter sich hat, vnd druber regiert, Drumb mus er auch nahe da bey drynnen vnd drumb sein, alles ynn henden haben, Denn nach der Gottheit ist yhm nichts vbergeben noch vnter die fusse gethan; so ers zuuor alles gemacht vnd erhellt, Sitzen aber zur rechten, ist so viel als regiern vnd macht haben vber alles Sol er macht haben vnd regiern mus er freylich auch da sein gegen wertig vnd wesentlich, durch die rechte hand Gotts, die allenthalben ist.³⁶
Die These von Christi Gegenwart in Brot und Wein lässt sich somit nicht aufgrund der Vorstellung, dass Christi Platz zur Rechten Gottes ist, widerlegen. Man könnte die Debatte über die Realpräsenz zwischen Luther und Zwingli als in Ursprung und Art durch und durch christologisch bezeichnen.³⁷ Luther bindet
WA 23,87, Daß diese Wort Christi „Das ist mein leib“ noch fest stehen, wider die Schwärmgeister, 1527. WA 23,144. Siehe beispielsweise Hermann Sasse, This is My Body: Luther’s Contention for the real Presence in the Sacrament of the Altar, Eugene, Oregon, 2001 [Minneapolis, 1959]. 148 – 155. Siehe auch Bruce A. Ware, „The Meaning of the Lord’s Supper in the Theology of Ulrich Zwingli“, in: Thomas R. Schreiner und Matthew R. Crawford (Hg.), The Lord’s Supper: remembering and proclaiming Christ until He Comes,
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Menschheit und Gottheit in einer Person so eng aneinander, dass all das, was die Schrift von der einen aussagt, auch der anderen zugeschrieben werden kann. Dem gegenüber steht Zwingli, der mit Chalcedon darauf beharrt, dass die zwei Naturen in Christus unvermischt koexistieren und dass die wahrhaftige Menschheit Christi die Ubiquität des Leibes ausschließt.³⁸ Obwohl beide Männer sich der Grenzen der Orthodoxie der Glaubensbekenntnisse gewahr sind, unterscheiden sich ihre Herangehensweisen und ihre Gewichtungen bei der Interpretation der orthodoxen Christologie radikal. Auch besteht kein Zweifel daran, dass es zwischen Luthers Sakramententheologie und seiner Christologie viele Verknüpfungen gibt: sein Verständnis von Gott als einem, der in oder unter seinem Gegenteil verborgen ist, sei es in der Finsternis eines Stalles, in der Schmach des Kreuzes, unter dem gewöhnlichen Wasser der Taufe oder im Brot und Wein. Nichtsdestominder hat die christologische Thematik – wie aus einer Reihe von Luthers Antworten auf Zwingli und andere im Jahre 1526 hervorgeht – den Anschein eines Kampfplatzes, den Luther in dieser Phase zu betreten gezwungen ist. Hierzu wird er eher durch die Argumente seiner Widersacher genötigt als durch ein seiner Lehre von der Realpräsenz vorausliegendes Grundprinzip.³⁹
5.3 Fleisch und Geist Luther muss im Streit mit Oekolampad sowie mit Zwingli auch auf eine zweite Diskussionslinie eingehen, da die beiden vom Gegensatz zwischen Fleisch und Geist her argumentieren und so bei der geistlichen Nießung im Abendmahl landen, welche keinen Raum für das leibliche Essen lässt. Die Schweizer rekurrierten üblicherweise auf Joh 6,63 als Belegtext: „Der Geist ist’s, der da lebendig macht; das Fleisch ist nichts nütze“. In Marburg sollen sowohl Zwingli als auch Oekolampad dies direkt auf das Abendmahl angewandt und die Trennung der geistlichen Speisung von jedwedem körperlichen Essen gefordert haben.⁴⁰ Dieses Argument war Luther keineswegs unbekannt.⁴¹ Seine Antwort beinhaltet eine Vielfalt von Begründungen: Er insistiert darauf, dass seine Gegner zu Unrecht von folgender Bedeutung des Textes ausgehen: „mein Fleisch ist nichts nütze“;⁴² demgegenüber rekurriert er wiederholt auf Joh 6,55,
Nashville, 2010, 234 für eine Darstellung dessen, wie sich Zwingli darüber entsetzt, dass Luthers Behauptung der Ubiquität Christi diesen seiner vollen Menschheit beraubt. Z. B. in Marburg, WA 30.III.135,9 – 21 (= LW 38,47): „Si omnia similis nostril, est et in habitu nostro inventus et nos in diversis locis esse non possumus. Ergo nec ipse poterit, nimirum similis nobis existens.“ So auch Davis, This is My Body, 42. Auf Grundlage einer Analyse der Predigten Luthers aus den 1520er Jahren folgert Davis, dass die Ubiquität des Leibes Christi keineswegs ein Eckpfeiler von Luthers Abendmahlslehre ist, sondern „part of the way Luther explained his eucharistic teaching, but […] not an integral part of the structure itself.“ Siehe beispielsweise Collins Anmerkung in LW 38,53 und 38,55. WA 23,157 = LW 37,71 f. WA 23,170 = LW 37,81.
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wo das verbum externum gewisslich gegenwärtig ist: „mein Fleisch ist die wahre Speise, und mein Blut ist der wahre Trank“;⁴³ und er klagt darüber, dass Zwingli und Oekolampad mit Grammatik, Pronomen und Artikeln spielen.⁴⁴ Diese Geplänkel aber, die auf von seinen Gegnern vorgegebenem Boden stattfinden, den Luther zur Verteidigung seiner Position betreten muss, bringen nicht in vollem Umfang zum Ausdruck, was in diesem Streit um „Fleisch“ auf dem Spiel steht. Die Schwierigkeiten ergeben sich aus der zweifachen Bedeutung, in der das Wort gebraucht werden kann: „Fleisch“ kann durchaus korrekterweise „Geist“ gegenübergestellt werden. Luther erkennt dies unter Bezugnahme auf den paulinischen Gebrauch in Röm 8 und Gal 5 an. Das Fleisch beziehungsweise den Leib jedoch nur aufgrund seiner Leiblichkeit oder seiner Körperlichkeit zu verachten und dem Geist entgegenzusetzen, das möchte Luther nicht gestatten. Seine Widersacher denken, dass da nichts geistlichs sein, wo etwas leiblichs ist, geben fur, fleisch sey kein nuetze, So das widderspiel warhafftig ist, Dass der geist bey uns nicht sein kan anders den ynn leiblichen dingen als ym wort, wasser und Christus leib und ynn seinen heiligen auff erden.⁴⁵
Dies führt wiederum zu Luther, der daran festhält, dass das Zeichen in seiner gewöhnlichen Körperlichkeit keineswegs zu verachten ist. Mit ihm ist untrennbar die Verheißung Gottes verbunden. Das Geringschätzen des Fleisches führt implizit zu einer weiteren Schlussfolgerung, welche auf eine Form von theologia gloriae, auf eine Theologie der Herrlichkeit, hinausläuft. Luther wirft Oekolampad etwa vor, er schrecke wegen Christi Würde vor den Implikationen der Realpräsenz zurück, indem er „spricht, Es musse ia ein fein konig der ehren sein, der seinen leib auff dem alter, auch von gotlosen buben, so lasse hin und her werffen.“⁴⁶ Luthers Antwort führt geradewegs zur Theologie des Kreuzes: Es ist war, nach Ecolampads klugheit, hat Christus kein ander ehre, denn das er zur rechten hand gotts sitze auff eym sammet polster, und lasse yhm die engel singen, geygen, klingen und spielen und sey unbeladen mit der muhe des abendmahls. Aber nach unser armen sünder und narren glauben ist seine ehre manichfeltig das sein leib und blut ym abendmal ist. Erstlich die das er da mit die hochgelerten und klugen schwermer zu narren macht und lesse sie sich ergern und verstocken an seinen worten und wercken, die er so nerrisch redet und wirckt, das sie nicht konnen gleubig werden wie S. Paulus sagt, 1 Cor. 1[:23]: Wir predigen Christum, ein ergernis den Juden, und eine torheit den Heyden. Und aber mal [1:25]: die torheit Gotts ist kluger denn die menschen.⁴⁷
Z. B. WA 26,376 – 377 = LW 37,251. Z. B. WA 26,360 – 362 = LW 37,242. WA 23, 193,30 – 33 = LW 37,94 f. WA 23,154 = LW 37,70 f. Ebd.
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5.4 Ist die Realpräsenz für Luther unentbehrlich? Luthers kompromissloses Insistieren auf der Realpräsenz ist unmissverständlich und beharrlich. Aber wodurch genau wird seine vehemente Hartnäckigkeit befördert? Die Grundlage seiner Argumentation ist seine mangelnde Bereitschaft, selbst die kleinste Abweichung vom wörtlichen Sinn des biblischen Textes zu gestatten. Dieser Widerwille verstärkt sich in besonderen Kontexten wie bei den Einsetzungsworten des Herrn oder bei einem Schlüsseltext zur Taufe wie Mk 16,16. Gründet aber Luthers Beweggrund – im Gegensatz zu seinem Argument – wesentlich in seiner Herangehensweise an die Schrift? Es ist eine starke Konzentration auf nur ein paar wenige Schriftworte zu verzeichnen: auf die mit den Zeichen verbundenen Verheißungsworte. Hier kann Luther keine Zugeständnisse machen. Hinter der biblischen Argumentationsgrundlage steckt, wie wir gesehen haben, sein Bestreben, die Sakramente als Gnadenmittel zu bewahren und ihre Bewegungsrichtung von Gott zum Menschen zu sichern. Ist seine Angst berechtigt, dass seine Widersacher diese Richtung umkehren und das Abendmahl zu einem Ausdruck menschlicher Frömmigkeit machen könnten? Und falls dies der Fall ist: inwiefern ist wirklich ihre Verneinung beziehungsweise ihre radikale Neuinterpretation der Gegenwart Christi der Grund für die Umkehrung? Für Zwingli beispielsweise scheint es keinen Zweifel daran zu geben, dass menschliches Handeln, insbesondere der Akt des Gedächtnisses, für das Sakrament unabdingbar ist: […] in the Holy Eucharist, i. e., the supper of thanksgiving, the true body of Christ is present by the contemplation of faith. This means that they who thank the Lord for the benefits bestowed on us in His Son acknowledge that he assumed true flesh, in it truly suffered, truly washed away our sins by His blood; and thus everything done by Christ becomes as it were present to them by the contemplation of faith.⁴⁸
Zwar wird die Gegenwart Christi beteuert, aber der Glaube ist das aktive Prinzip, von dem diese abhängt. Das körperliche Essen und Trinken als solches ist zu nichts nütze. Es ist die dazugehörige Kontemplation des Todes Christi, die für den rechten Gebrauch der Elemente sorgt und zu „a contemplative faith that remembers, cherishes and trusts in the fullness of the accomplished work of Christ“ führt.⁴⁹ Die Eucharistie ist zugleich eine Handlung, durch welche die Kirche sich selbst als Leib Christi zu erkennen gibt, und ein Akt der Verkündigung, der sich gleichermaßen an Glaubende wie an nicht Glaubende richtet – sie ist eine Verkündigung des Kreuzes.⁵⁰ Menschliches Handeln
Ulrich Zwingli, „An Account of the Faith of Zwingli“, in: The Latin Works of Huldreich Zwingli, Bd. 2, On Providence and Other Essays, hg.v. William John Hinke und Samuel McCauley Jackson, Philadelphia, 1922, 49 (Zwingli, Huldrych Sämtlich Werke, Bd. 6.2, Emil Egli et al. (Hg.), Berlin/Leipzig/Zürich, 806) Ware, „The Meaning“, 230. Davis, This is My Body, 158, 163.
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steht am Beginn des Sakraments mitsamt seinen Wohltaten und bewirkt seine weitere Entfaltung. Im Falle der zwinglianischen Herangehensweise an die Taufe gilt derselbe faktische Vorrang menschlichen Handelns. Zwingli unterscheidet klar zwischen der innerlichen Taufe des Geistes (die für das Heil wesentlich ist) und dem äußerlichen Ritus der Wassertaufe (der nicht wesentlich ist).⁵¹ Wie das Abendmahl für Zwingli ein Akt der Erinnerung und der Kontemplation ist, so kann die Taufe zu einer öffentlichen Loyalitätsbekundung werden. Gelegentlich vergleicht der Soldaten-Theologe die Taufe mit einer Plakette oder mit einem Abzeichen, das man beim Militär als Zeichen der Loyalität trägt.⁵² Möglicherweise hat Luther ihn derselben Kritik unterzogen wie die Wiedertäufer, denen er die folgende Behauptung unterstellte: „wir bringen und geben der Tauffe alles zuvor, damit sie nicht sey denn ein ein blos unnoetig zeichen, dabey man solche heilige leute kennen muege“.⁵³ In der Sache geht es folglich um dasselbe: Sowohl bei der Taufe als auch beim Abendmahl unterscheidet Zwingli zwischen Wort und Zeichen, zwischen Sakrament und heilbringender Wirkung. Luther bindet beide eng aneinander. In Bezug auf das Zeichen ist allerdings eine bedeutende Differenzierung auszumachen: Manchmal betont Luther die Gewöhnlichkeit des Wassers, in anderen Situationen hingegen betrachtet er die leibliche Gegenwart Christi als für sein Verständnis wesentlich. Die unscheinbare äußere Erscheinung der Elemente spielt in Luthers Ansatz durchaus eine Rolle, was sich daran zeigt, dass er die Transsubstantiation ablehnt, indem er daran festhält, dass Brot und Wein beim Abendmahl erhalten bleiben.⁵⁴ Brot und Wein sind, wie das Taufwasser, Schleier oder Masken, unter denen Gott sich selbst verbirgt; es sind gewöhnliche Dinge, die man gerne allzu leichtfertig missachtet, unter denen aber die Gegenwart Gottes verborgen ist. In der Leugnung der Realpräsenz durch seine Widersacher sah Luther eine Auffassung vom Abendmahl, die dieses zu einer menschlichen Handlung machte, und zwar als menschliches Erinnern, Kontemplieren und Glauben. Letztlich steckt dahinter dieselbe üble Trickserei wie bei der Römischen Kirche, welche die Messe als Opfer verstand: Sie beseitigte das Sakrament als Gnadenmittel und ersetzte göttliches Handeln durch menschliches. Hatte Luther recht? War ein Kompromiss unmöglich, der einerseits die Objektivität des Sakramentes bewahren (Christi Sich-selbst-Geben) und andererseits ohne sein rechthaberisches und Spaltung hervorrufendes Insistieren
Zwingli, Huldrych Sämtlich Werke, Emil Egli et alia (Hgg.), Berlin, Leipzig, Zürich, 224 f. W. P. Stephens, The Theology of Huldrych Zwingli, Oxford, 1986, 185. Luther stellte dies im Kontext des Abendmahls ebenso fest: „Sie sagen, es soll nur ein zeichen sein, dar bey man die Christen erkennen und richten sole, das wir ja nichts davon haben sollen den die hulfen. Da komen sie zusamen, essen und trincken darumb das sie seinen tod bedencken. Inn dem bedencken sol die krafft gar stehen, das brod und wein nicht mehr sey denn ein malzeichen und farbe, dar bey man erkenne, das wir Christen sind.“ WA 19,503 f. Luthers Kommentar zu Ps 117, 1530: WA 31/I,257,10 – 18. WA 11,441.
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auf der eigenen Interpretation der Einsetzungsworte auskommen würde? Gelegentlich finden sich bei Luther Hinweise auf eine Mäßigung des Tonfalls: in seiner an die Böhmischen Brüder gerichteten Abhandlung Vom Anbeten des Sakraments des heiligen leichnams Christ von 1523 beispielsweise, wenngleich auch dort in etwa die gleichen Argumente begegnen wie die, die er später gegen die Schweizer anbringen sollte. Auch hält sich Luther im Blick auf dogmatische Versuche, das Wie der Realpräsenz zu erklären oder Theorien darüber aufzustellen, zurück. Es muss uns genügen, einfach hinzunehmen, dass Christus in Brot und Wein gegenwärtig ist. ⁵⁵ Betrachtet man indes die Art der Argumente seiner Gegner, so kann man sich kaum vorstellen, welche Gemeinsamkeiten Luther mit ihnen denkbarerweise hätte finden können. Deren Verständnis des Abendmahls als einer im Endeffekt menschlichen Frömmigkeitspraxis gab ihm überhaupt keinen Grund, sich in Zurückhaltung zu üben. Die wörtliche Bedeutung der Einsetzungsworte entspricht so sehr dem Wesenskern des Evangeliums, dass Luther keinerlei Handlungsspielraum sieht.⁵⁶
6 Die Sackgasse Auf den ersten Blick ist das Maß der Übereinstimmung bezüglich der Marburger Artikel in allen Punkten außer einem – der leiblichen Gegenwart des wahren Leibes und Blutes Christi – beeindruckend. Zwar ist es verlockend, diese große Nähe aufzuzeigen, doch ist sie nur eine vordergründige und führte zu einer Ausweitung und Vertiefung der Divergenz zwischen der lutherischen und der reformierten Konfession. Luther selbst kann wegen seiner unnachgiebigen Weigerung, seinen Gegnern in Freundschaft entgegenzukommen, recht leicht als der allein Schuldige abgestempelt werden. Hermann Sasse verteidigt ihn energisch: „For more than four centuries, the clever diplomacy of Philip of Hesse, and the wishful thinking of all friends of a Protestant union, were able to deceive Christendom as to the real outcome of the days of Marburg.“⁵⁷ Sasse ist der Meinung, dass in Marburg die Bereitschaft zur Zustimmung von Seiten der Schweizer eine radikal verschiedene Einschätzung der Verortung und der Bedeutung der Sakramententheologie, ja auch der Sakramente selbst, verschleiert hat. In den Augen Zwinglis „the Sacrament, and the doctrine on the Sacrament, did not belong to those essentials of the Christian faith concerning which there must be unity within the church.“⁵⁸ Allein schon dessen Bereitschaft, zu verhandeln und Kompromisse einzugehen, impliziere eine tiefe Kluft zwischen ihm und Luther, welcher Evangelium und Sakrament für untrennbar hielt, wie es sich nicht zuletzt in seiner konsequenten Unnachgiebigkeit widerspiegelt.
Sasse, This is My Body, 100 – 108. „To destroy or extenuate these words was for Luther a violation of the Gospel itself.“ Ebd., 109. Ebd., 275 f. Ebd., 282.
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Ihre fundamental verschiedene Herangehensweise an die Lehre von den Sakramenten bestimmte auch den Umgang der Reformatoren mit ihren Meinungsverschiedenheiten untereinander. Luther schien sich durchaus fortbestehende Gemeinschaft zu wünschen: „Quodsi cordari non possunt, ut agendum, quod pro fratribus habentur, in fine de hoc loquemur.“⁵⁹ Dass er sich aber weigerte, auf Zwinglis emotionalen Appell am Ende des Religionsgespräches einzugehen, passt zu der Annahme, dass es sich bei der hier erkennbaren Trennung zwischen „the church of the pure sacrament and the churches that had lost, together with the Real Presence, the sacrament of Christ“ nicht um eine bloße Differenz zwischen theologischen Schulen bzw. theologischem Denken handelte, wie es bei Zwingli und seinen Freunden der Fall war, und „which might [therefore] be tolerated within one and the same church“, sondern um „the difference between church and heresy“.⁶⁰ Auf Philipp von Hessens Forderung gegenseitiger Anerkennung angesichts des Dissenses in puncto Abendmahl konnte Luther unmöglich eingehen. Die in Marburg aufgedeckten Verwerfungslinien blieben auch in der Folgezeit ein wirkungsvoller trennender Faktor zwischen den Kirchen der Reformation. Der Bruch ist tief und komplex: Einige lutherische Kirchen sind offen für volle ökumenische Beziehungen – inklusive gegenseitiger Zulassung zum Heiligen Abendmahl – mit einer Reihe anderer Kirchen, von denen manche ihre Wurzeln im Reformiertentum haben; andere sind es nicht. Mit seiner Weigerung, in Sachen Realpräsenz Kompromisse einzugehen, hat Luther ein schwieriges Erbe hinterlassen. Demgegenüber muss jedoch festgehalten werden, dass dieses Anliegen Luthers durch alle Streitigkeiten jener Phase hinweg eng mit seinem Verständnis des Evangeliums – auch mit der Frage, wie man es hören und empfangen soll – und mit seinem entschiedenen Widerstand gegen alles, was das kostbare Wort von der Gnade Gottes zugunsten einer bestimmten Praxis oder eines Zurschaustellens menschlicher Frömmigkeit preisgibt, verbunden war. Die innere Logik seines theologischen Standpunktes ließ ihm keine andere Wahl, als die Gegenwart der Gnadenmittel in den Schweizer Kirchen zu bestreiten, zumindest, was das Abendmahl anging.⁶¹
Ebd., 239. WA 30/III,188 – 199. Sasse, This is My Body, 290. Dass Sasse damit meint, dass das Volk Gottes der Gnadenmittel beraubt wurde, geht aus seiner lebhaften Schilderung der allerletzten (und gut besuchten) Messe im Zürcher Großmünster vor der Einführung des neuen Gottesdienstes am Gründonnerstag des Jahres 1525 klar hervor: „An unconscious feeling of this profound change must have been in the souls of the people of Zurich, for, before they took part in the new celebration, they crowded the Great Minster on Wednesday of that memorable Holy Week, April 12, 1525, when mass was said for the last time – as if they wanted to take leave of him whose blessed presence in the Sacrament of the Altar had accompanied their lives and those of their fathers throughout the centuries. Henceforth they would never again receive the true body and blood of their Saviour. This great loss was not their fault, but the fault of those who, by making the Sacrament of the body and blood of Christ a human sacrifice and a beautiful spectacle, had already destroyed the Sacrament as the gift of God’s sola gratia.“ (ebd.)
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7 Intention: Suche nach Gewissheit? Luther ist ein Theologe der Gnadenmittel: für Zweifel daran, dass man in ihnen wirklich Gott begegnen kann, ist kein Platz. Die Leute sollten sich aufmachen, „zu dem Ort, da das Wort erklingt und die Sakramente gereicht werden“ und sie sollen ganz sicher sein, dass sie dort „die PFORTE GOTTES“ finden werden.⁶² Sorge um die Heiligkeit des den Gottesdienst leitenden Priesters oder um das Zunehmen oder Abnehmen des Glaubens, in dem das Wort gehört und das Sakrament empfangen wird, dürfen der Gewissheit keinen Abbruch tun. Viele der Bemühungen Luthers haben das Ziel, diejenigen Zweifel beiseite zu räumen, die entstehen, wenn irgendwelche menschliche Gegebenheiten dem göttlichen Verheißungswort übergeordnet werden. Befördert aber nicht auch seine Position – so man konsequent an ihr festhält – wiederum auf andere Weise Sorgen und Unsicherheiten, wenn in der einen oder anderen Form das Augenmerk auf die Intention gelegt wird? In welchem Maße hängt die Gültigkeit eines Sakraments als Mittel der Gnade Gottes (man könnte sagen: die leibliche Gegenwart Christi in Brot und Wein) von der Lehre des Pfarrers, vom konkreten Wortlaut der Liturgie und/oder vom formalen Bekenntnis der Kirche ab? Oder hängt sie allein am Willen Christi selbst? Man könnte die Frage auch folgendermaßen formulieren: Inwieweit war Luther samt seinen Nachfolgern in der Lage, auf Seiten derjenigen, mit denen er im Streit lag, das Sein der wahren Kirche – und damit auch die Gnadenmittel, welche erst das Sein der Kirche konstituieren – zu erkennen?“ In der Schrift Vom Abendmahl Christ, Bekenntnis wiederholt Luther seine Überzeugung, dass, „ob gleich die priester, so es reichen, odder die, so es empfangen, nicht gleubeten odder sonst misbrauchten“, im Brot und Wein des Abendmahls der wahre Leib und das wahre Blut Christi gegessen und getrunken werden. Allerdings möchte er dies nicht zugestehen, wenn dem Sakrament Priester vorstehen, die „Gottes wort und ordnung endern und anders deuten“. Diese haben dann in der Tat nur Brot und Wein.⁶³ Sie handeln nicht gemäß der Bestimmung der Kirche, das heißt gemäß dem Wort und „der meinung Christi selbs im himel“.⁶⁴ Später empfiehlt er den Gemeinden nachgerade, die persönliche Intention ihrer Pfarrer zu untersuchen: Wer seinen seelsorger oeffentlich weis, das er Zwinglisch leret, den sol er meiden und ehe sein lebelang des Sacraments emperen, ehe ers von jm empfahen solt, ja auch ehe drueber sterben und alles leiden. Ist aber sein seelsorger der zweizungigen einer, das mit dem maul furgibt, Es sey im Sacrament der leib und blut Christu gegenwertig und wahrhafftig, Und doch verdechtig ist […]
WA 43,599, Luther über die Jakobsleiter („ubi sonat verbum, et administrantur Sacramenta: Atque ibi adscribe titulum: PORTA DEI.“ WA 26,506. WA 38,216.
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anders meine, wedder die wort lauten, So gehe odder sende frey zu jm und las die deudlich heraus sagen, Was das sey, das er dir mit seinen henden reicht und du mit deinem munde empfehest.⁶⁵
Je mehr die persönliche Intention des Priesters oder Pfarrers zur Debatte steht, desto größer ist die Gefahr, dass keine Abendmahlsfeier jemals gewiss sein kann, da die Stiftungsgemäßheit seiner jeweiligen Einsetzung nicht überprüft werden kann. (Gleichermaßen gilt: je stärker die qualifizierenden Begriffe ‚rein‘ und ‚recht‘ im Kontext der Verkündigung des Wortes und der Verwaltung der Sakramente als eindeutige Hinweise auf die Gegenwart der Kirche hervorgehoben werden, desto mehr geraten die Klarheit und die Gewissheit, die Luther dem Sünder zusprechen möchte, in Gefahr.) Dass Luther sich mit der Frage nach der Intention, insbesondere mit der nach der Intention der Kirche, auseinandersetzen musste, geht aus der Abhandlung Von der Winkelmesse und Pfaffenweihe von 1533 hervor.⁶⁶ Unbeschadet all der denkbar möglichen Gründe für Zweifel und Ungewissheit beharrt Luther dennoch auf der Meinung, dass das Gebot Christi eindeutig ist, unabhängig davon, ob man es einhält oder nicht. So kann – zu Luthers eigenem Trost und zur Beruhigung seiner Brüder und Schwester in Christus – Gottes Wort und Werk nicht in Frage gestellt oder gehindert werden.⁶⁷
Den Erbarn und fursichtigen, dem Rat und Gemeine der Stad Franckfort am Meyn, meinen guenstigen herrn und freunden, 1533, WA 30/III,561. WA 38,195 – 226, siehe insbesondere WA 38,202 f.: Luther, der selbst zahlreiche Privatmessen gefeiert hatte, rekonstruiert die Argumente, die er gebraucht haben könnte oder womöglich auch gebraucht hat, um diese eingeübte Praxis in der Auseinandersetzung mit seinem Anklagevertreter, dem Teufel, zu verteidigen. Er überlässt dem Teufel hierbei das beste Argument. Luther unterscheidet drei ‚Intentionen‘: die des Priesters, die der Kirche und die Christi. Seine eigene persönliche Intention mag möglicherweise missverstanden oder als defizitär angesehen worden sein, und doch konnte er zu seiner Verteidigung anbringen, dass er im Einklang mit der Intention der Kirche handelte. Aber der Einwand des Teufels, nämlich, dass in dieser Hinsicht die Intention der Kirche nicht die Christi sei, ist ein Totschlagargument. Defizitäre Intention ist etwas spezifisch Öffentliches, und so kann Luther immer wieder einwenden, dass ein ‚Wandel‘ weder durch die Zwinglianer noch durch die Messpriester bewirkt wird, da diese nicht im Einklang mit der Einsetzung des Sakraments durch den Herrn handeln. WA 38,265.
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Der Reichstag zu Worms und das Heilige Römische Reich 1 Einleitung Am 17. April 1521 trat ein Augustinermönch und Theologieprofessor der Universität Wittenberg in Sachsen mit Namen Martin Luther vor den Kaiser des Römischen Reichs und eine Versammlung von Delegierten, um auf Fragen nach der Rechtgläubigkeit seiner religiösen Schriften zu antworten. Seit nunmehr fünfhundert Jahren ist Luthers Auftritt vor dem Reichstag zu Worms der Stoff von Legenden, ein Schlüsselmoment in der Entwicklung der protestantischen Identität, der fast schon mythische Ausmaße angenommen hat. Manche sahen ihn als einen wesentlichen Akt religiöser Renitenz, welcher ihre Gemeinden dazu inspirieren könnte, im Angesicht von Verfolgung ihrem Glauben wahrhaftig treu zu bleiben.¹ Andere, wie Ernst Rietschel, Gestalter eines Lutherdenkmals in Worms im 19. Jahrhundert, haben Luthers Auftreten vor dem Reichstag zum „Beginn der Reformation“² erhoben. Ebenso haben sachkundige Historiker Worms häufig als den Wendepunkt der westlichen Christenheit geschildert. Ein zeitgenössischer Forscher drückte es so aus: „Mit [Luthers] Worten [in Worms] wurde der Protestantismus geboren“.³ 1521 waren jedoch die Bedeutung und die Tragweite der Ereignisse, die sich in der rheinischen Stadt Worms zugetragen hatten, weniger eindeutig. Wegen des Schauspiels um die Angelegenheit Luther, oder die Causa Lutheri, wie sie zu jener Zeit bezeichnet wurde, ist der Reichstag zu Worms der meist erforschte und wahrscheinlich bekannteste unter allen Reichstagen des 16. Jahrhunderts. Der Umfang an Forschungen über den Reichstag und sein Platz in der populären Fantasie verdunkeln häufig die Tatsache, dass die Angelegenheit Luther nur eine unter vielen Belangen war, mit denen sich die Mitglieder des Heiligen Römischen Reiches konfrontiert sahen, als sie sich von Januar bis Mai 1521 in Worms versammelten. Tatsächlich ist Luther erst vor dem Reichstag erschienen, als jener bereits für fast drei Monate getagt hatte. Angelegenheiten bezüglich imperialer Steuern, Kontroversen über die Betätigung von Marktmonopolen und Verhandlungen über die Reorganisation der Reichsregierung nahmen weite Teile der Reichstagsberatungen ein. Für viele Zeitgenossen
Übersetzung: Elise Eckardt. S. Landry, Ecumenism, Memory, and German Nationalism, 1817 – 1917, Syracuse, NY, 2014, 38. Zitiert in W.Weber, „Das Luther-Denkmal in Worms“, in: F. Reuter (Hg.), Der Reichstag zu Worms von 1521, Worms, 1971, 493. M. Noll, Turning Points: Decisive Moments in the History of Christianity, Grand Rapids, 2002, 154. https://doi.org/9783110498745-019
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des Reichstages fügte sich die Causa Lutheri in einen größeren Kampf bezüglich der Frage ein, wieviel Einfluss die Mitgliederterritorien des Reiches, bekannt als Reichsstände, auf die Führung und die Geschäfte des Reiches ausüben könnten. Man muss die Beschäftigung des Reichstages mit der Causa Lutheri durch diese Linse betrachten. Das hilft, zu verstehen, warum die Konfrontation auf dem Reichstag so ablief, wie sie abgelaufen ist, und warum das Edikt von Worms, in welchem Luther verurteilt wurde, sich in vielen Teilen des Reiches als so unwirksam erwies. Indem die Causa Lutheri in diesem Komplex verortet wird, erhellen die sich überlappenden Verhandlungen in Worms, wie die Rufe nach imperialer und religiöser Reform zusammengespielt haben, um den politischen Hintergrund der frühen Reformation zu schaffen.
2 Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation Die Causa Lutheri entwickelte sich in enger Wechselwirkung mit den politischen Dynamiken des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation. Das Reich umfasste Hunderte von semiautonomen Territorien, miteinander verbunden durch Eide der Treue gegenüber dem Oberhaupt des Reiches, dem römisch-deutschen Kaiser. Der Kaiser wurde, weil er ein gewähltes Amt bekleidete, von den sieben Kurfürsten gewählt, den mächtigsten Fürsten des Reiches. Um die Kaiserwahl zu gewinnen, mussten aufstrebende Fürsten häufig große Geldsummen an die Wahlberechtigten zahlen, um deren Unterstützung zu sichern. Dies war auch 1519 der Fall, als Kaiser Maximilian I. starb und sein Enkel, Karl V., die Wahl zum neuen Kaiser gewann. Karl, gerade einmal neunzehn Jahre alt, investierte aufwändig, um die Stimmen der Wähler zu gewinnen. Seine Strategie hatte Erfolg im Erlangen des Kaiserthrones, sie verschuldete ihn jedoch gleichwohl schwer bei städtischen Bankiers in Süddeutschland, welche seine Wahlkampagne finanziert hatten. Darüber hinaus musste Karl angesichts seiner Jugend die Unterstützung der Wähler bewahren, um in den Jahren nach seiner Wahl effektiv zu regieren, eine Situation, welche die Wähler auszunutzen versuchten, um neue Begrenzungen der kaiserlichen Macht durchzusetzen⁴. Diese beiden Faktoren beeinflussten die Verhandlungen während des Reichstages in Worms 1521 und prägten die Art, in welcher der junge Kaiser die verschiedenen politischen und religiösen Krisen behandelte, denen sein Reich gegenüberstand. Die einzelnen Mitgliedsstaaten des Reiches, die Reichsstände, bewegten sich in Größenordnungen zwischen kleinen, selbstregierten Städten bis hin zu den grandiosen Kurfürstentümern und allen Arten von Gebietsordnungen dazwischen. Jeder Stand übte ein großes Maß an Autonomie innerhalb seiner territorialen Grenzen aus und schützte sich vor auswärtigen Einmischungen in seine lokalen Angelegenheiten. Die Bedeutung, welche die Fürsten lokaler Unabhängigkeit und fürstlichen Privilegien
J. Whaley, Germany and the Holy Roman Empire, Bd.1, Maximilian to the Peace of Westphalia 1493 – 1648, Oxford, 2012, 158 – 161.
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zumaßen, wurde bekannt als „Teutsche Libertät.“⁵ Dieser Wert prägte die Entwicklung der Reformation in vielfacher Weise und beschränkte den Kaiser in seinen Möglichkeiten, Luthers Ansichten zu bekämpfen, da die Reichsfürsten behaupten konnten – und behauptet haben –, dass Edikte gegen Luther und seine Schriften ihre territorialen Rechte und Freiheiten verletzten. Solche Befürchtungen prägten beispielsweise die Maßnahmen von Luthers Landesherrn, Kurfürst Friedrich des Weisen von Sachsen, welcher sich in den Turbulenzen des Reichstages zu Worms als wichtigster Beschützer des Mönches erwies.⁶ Wenngleich die Reichsstände innerhalb ihrer territorialen Grenzen eine erhebliche Autonomie ausübten, waren sie dennoch keine unabhängigen Staaten. Vielmehr schwor jeder lokale Herrscher einen Treueeid gegenüber dem Kaiser, welcher alle Stände miteinander zu einem gemeinsamen politischen System verband, dem Heiligen Römischen Reich.⁷ Auf Reichsebene gestalteten einzelne Regierungsorgane Foren, in denen die Stände ihre Lehenspflicht ausübten, gemeinsame Strategien formulierten und nach rechtlichen Abhilfen für Schäden suchten, die ihnen von anderen Ständen zugefügt wurden. Einige dieser Institutionen, wie beispielsweise das Reichskammergericht, waren rechtsprechende Organe, welche in Konflikten zwischen den Ständen vermittelten, in der Hoffnung, Eskalationen in einen ausgewachsenen Krieg zu verhindern. Andere, wie der Reichstag, waren gesetzgebende Organe, die sich darum bemühten, Grundsätze zu erlassen, die für alle Stände nominell bindend waren. Zusammengesetzt aus Repräsentanten aller verschiedenen Stände des Reiches traf sich der Reichstag während des 16. Jahrhunderts unregelmäßig an verschiedenen Orten. Er war kein ständiges Gremium. Vielmehr musste der Kaiser den Reichstag einberufen, um sich an einem spezifischen Ort zu einer spezifischen Zeit zu treffen. Darum wurde jeder Reichstag unter dem Namen der Stadt, in der er sich versammelte, bekannt. Das Verfahren des Reichtages entwickelte sich im Laufe des Spätmittelalters und bekam 1495 eine konkrete Gestalt, ebenfalls auf einem Reichstag in Worms. In den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts wurde der Reichstag zu einem wichtigen Verhandlungsort für politische Entscheidungsfindungen des Reiches. Der Reichstag wirkte, wenn er sich versammelte, als das höchste politische Gremium des Reichs. Hier wurde das Reich sichtbar, und hier führten seine verschiedenen Mitglieder ihre symbolische Rolle als Glieder eines imperialen Leibes auf, wie Barbara Stollberg-Rilinger argumentierte.⁸ Während der Tagung traf sich der Reichstag in drei unterschiedlichen Kollegien, den Kurien: eine für die sieben wahlberechtigten Kurfürsten, eine für weitere Adlige und eigenständige kirchliche Amtsträger, und eine für die Reichsstädte, selbstregierte
Zu der Idee der Teutschen Libertät siehe G. Schmidt, oder Deutungsstrategien im Kampf um den evangelischen Glauben und die Reichsverfassung (1546 – 1552), in: L. Schorn-Schütte (Hg.), Das Interim 1548/50, Gütersloh, 2005, 166 – 191. Zu Friedrich siehe I. Ludolphy, Friedrich der Weise. Kurfürst von Sachsen 1463 – 1525, Göttingen, 1984. Für einen exzellenten Überblick über das Reich in der Frühen Neuzeit siehe Whaley, Germany. B. Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider, München, 2008.
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Stadtstaaten, die keinem territorialen Herrscher Gefolgschaft schuldeten, ausgenommen dem Kaiser. Über das 16. Jahrhundert fochten die Fürsten das Recht der Städte auf volles Wahlrecht im Reichstag an, eine Konfrontation, die in tieferen Spannungen innerhalb des Reichstages wurzelte, die aus der Vielfalt seiner Mitglieder herrührte. Beratungen erfolgten im Normalfall getrennt innerhalb der einzelnen Kurien, der Reichstag versammelte sich im Plenum, um die Vorschläge zu erwägen, die aus den einzelnen Kollegien oder aus der Arbeit gemeinsamer Komitees eingebracht wurden. 1521 machte der Reichstag häufiger Gebrauch von solchen interkurialen Komitees, in welchen sich Mitglieder aller drei Kurien um den Entwurf einer Strategie bemühten, die im allgemeinen Reichstag einen breiten Rückhalt finden würde.⁹ In der Woche nach Luthers offiziellem Auftritt vor dem Reichstag vom 17.–18. April 1521 versuchte ein solches Komitee den Mönch aus Wittenberg mit der Römisch-Katholischen Amtskirche zu versöhnen. Entscheidungsfindungen des Reichstages wurden durch Mehrheitswahlen getroffen, jede Kurie wählte individuell in den jeweiligen Angelegenheiten. Diese Regelung brachte die Städte in eine prekäre Situation, da die Legitimität ihrer Stimme nicht voll anerkannt wurde und die Fürsten stets die Reihen schließen konnten und sie ohnehin überstimmten.¹⁰ Die Spannungen zwischen den städtischen und den fürstlichen Herrschern prägten viele der Verhandlungen in Worms, besonders, als der Reichstag einen Gesetzentwurf zur Regulierung der großen Bankenhäuser des Reiches in Erwägung zog, welche in den Städten angesiedelt waren. Dieser Kampf um die sogenannten Marktmonopole setzte sich in fast allen Reichstagesverhandlungen der 1520er Jahre fort. Er schürte dieselbe Frustration, die viele Funktionsträger mit Luthers Angriff auf Reichtum und Korruption der kirchlichen Amtsträger sympathisieren ließ.¹¹ Die Auseinandersetzung des Reichstages mit religiösen Fragen überschnitt sich häufig mit dem größeren Bereich imperialer Politik. Besonders in den frühen Jahren seiner Laufbahn standen die Einstellungen, die viele Fürsten gegenüber Luther und seinen Ideen an den Tag legten, mit ihren Positionen in anderen politischen Angelegenheiten in Einklang.
Über das Verfahren des Reichstages siehe H. Neuhaus, Reichsständische Repräsentationsformen im 16. Jahrhundert, Berlin, 1982; W. Schulze, „Majority Decision in the Imperial Diets of the Sixteenth and Seventeenth Centuries“, in: The Journal of Modern History, 58, Dezember 1986, 46 – 63. Schulze, „Majority Decision“. T. Brady, Turning Swiss, Cambridge, 1985, 119 – 150; B. Mertens, Im Kampf gegen die Monopole, Tübingen, 1996.
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3 Der Reichstag zu Worms und das Reichsregiment Der Reichstag zu Worms 1521 markiert den ersten Reichstag, der während der Regierung des jungen Kaisers Karl V. abgehalten wurde.¹² Karl, Mitglied des Hauses Habsburg, war zum Zeitpunkt seiner Wahl gerade einmal neunzehn Jahre jung, und doch bereits einer der mächtigsten Regenten in ganz Europa. 1516 bestieg er den Thron eines vereinten Spanien und aller dazugehörigen Territorien in Übersee. Ebenso trug Karl den Titel des Herzogs von Burgund, welcher ihm die Herrschaft über die reichen Niederlande bescherte, in welchen er geboren und aufgewachsen war. Als Kaiser des Heiligen Römischen Reiches regierte Karl nun über mehr Länder als jeder andere europäische Monarch. Dennoch blieb er für die gewaltige Mehrheit der Reichsfürsten ein Unbekannter, zudem sprach er kaum Deutsch. In Kombination mit seiner Jugend ließ dieser Umstand das Ausmaß seiner Autorität innerhalb des Reiches unsicher erscheinen. Als Karl den Reichstag zu Worms einberief, war es somit sein Ziel, seine imperiale Macht zur Schau zu stellen und allen Reichsfürsten persönlichen Treueeide abzunehmen.¹³ Seine persönliche Teilnahme machte den Reichstag zu einem gewaltigen Ereignis. Sie garantierte, dass viele der Reichsfürsten persönlich anwesend waren, statt einen bevollmächtigten Repräsentanten zu senden. Dies erlaubte ihnen einen höchstpersönlichen Blick auf Karl, wie auch auf den abtrünnigen Mönch aus Wittenberg. Eines der Hauptanliegen, mit denen der Reichstag zu Worms konfrontiert wurde, war die Gründung eines neuen Reichsregimentes, welches während der Abwesenheit des Kaisers vom Reich dessen Pflichten ausführen konnte. Aufgrund der Tatsache, dass Karl über Spanien regierte und daher einen Großteil seiner Zeit in spanischen Territorien verbrachte oder Kämpfe in anderen Teilen Europas ausfocht, wurde die Schaffung eines neuen Reichsregiments zu einem wesentlichen Ziel vieler Fürsten. Karl hatte bei seiner Wahl 1519 versprochen, ein neues Reichsregiment einzurichten, jedoch herrschte zwischen ihm und den Reichsfürsten Uneinigkeit über die Form, die jenes annehmen sollte. Karl wünschte ein Regiment, das allein in Zeiten der Abwesenheit des Kaisers aktiv wurde, und dessen Mitglieder er einsetzte. Die Reichsstände in Worms hingegen schlugen ein Regiment vor, das kontinuierlich arbeitete, auch dann, wenn der Kaiser sich in den Grenzen des Reiches aufhielt. Zudem sah ihre Version des Regiments vor, dass seine Mitglieder fast ausschließlich von den Kurfürsten, Fürsten, Prälaten und Reichsstädten eingesetzt wurden und nur einige wenige Sitze an Nominierte des Kaisers entfielen.¹⁴ Diese Divergenzen hinsichtlich der
Für eine Einführung zu Karl siehe A. Kohler, Karl V. 1500 – 1558. Eine Biographie, München, 2000; J. Tracy, Emperor Charles V, Impresario of War, Cambridge, 2002. H. Schilling, Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs, München, 2012, 202– 204; Whaley, Germany, 156 – 161. R.Wohlfeil, „Der Wormser Reichstag von 1521“, in: F. Reuter (Hg.), Der Reichstag zu Worms von 1521, Worms, 1971, 124– 126.
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Zusammensetzung und Arbeitsweise des Reichsregiments sprachen für die unterschiedlichen Prioritäten der Stände und des Kaisers. Karl begehrte eine starke, zentrale Kontrolle durch den Kaiser, während viele Stände ein System schaffen wollten, welches den einzelnen Fürsten mehr Macht in die Hände spielte und den Kaiser verstärkt an den Willen der Stände band. Diese konkurrierenden Vorstellungen bezüglich der Zukunft des Reiches beeinflussten den Umgang des Reichstages mit der Causa Lutheri, welche für viele Autoritäten untrennbar mit dem Kampf um den Einfluss der Reichsstände auf die Reichsregierung verbunden war. Die verschiedenen Herangehensweisen der Stände und des Kaisers waren besonders bedeutsam für die Nachwirkungen des Reichstages, wie auch für das Scheitern der Durchsetzung des Wormser Edikts in vielen Territorien. Die Verhandlungen über das Reichsregiment zogen sich durch den Verlauf des Reichstages. Sie erreichten ihren Höhepunkt in der zweiten Aprilhälfte, exakt in jenem Moment, in dem Luther in Worms erschien.¹⁵ Am selben Tag, an dem auch Karl V. seine persönlichen Vorbehalte gegen Luthers Überzeugungen vor dem Reichstag darlegte, lehnte der Kaiser den Entwurf der Stände betreffend der Reichsregierung als undurchführbar ab, da er, neben weiteren Gründen, einer Majestät „bei andern frembden Nationen ain verklainung brächte „.¹⁶ Die Gleichzeitigkeit der Causa Lutheri und der Debatte um das Reichsregiment lässt die Komplexität der politischen Verhandlungen auf dem Reichstag erkennen. Vertreter der Versammlung mussten mit mehreren Debatten gleichzeitig jonglieren, und für viele Einzelpersonen war die Causa Lutheri nicht die Hauptsache. Die Verflochtenheit der Causa Lutheri mit anderen Belangen des Reichstages wurde zum Charakteristikum des reichstäglichen Umganges mit religiösen Reformen durch die 1520er Jahre hindurch, bis hin zum Augsburger Reichstag im Jahr 1530. Nach monatelanger Diskussion einigten sich Kaiser und Reichstag am 21. Mai endlich auf eine Verordnung des Reichsregiments, kurz vor dem Ende des Reichstages. Während sich Zusammensetzung des Reichsregiments an die Reichsfürsten anlehnte, stellten Karl und seine Gehilfen sicher, dass das Regiment nur in der Abwesenheit des Kaisers wirksame Macht besaß. So hatten beide Parteien durch die Verhandlungen etwas erreicht, und der Erlass über das Reichsregiment enthielt alle Kennzeichen einer Kompromisslösung.¹⁷ Dieses Ergebnis mag erklären helfen, warum das Reichsregiment keine große Wirksamkeit entfalten konnte und nach nur wenigen Jahren aufhörte zu existieren, aber es war charakteristisch für die Arbeitsweise des Reichstages. Die hohe Anzahl anwesender Vertreter auf jedem Reichstag, zusammen mit dem Gebrauch von Subkomitees zum Brückenschlagen zwischen den Ständen der drei Kurien, bedeutete, dass viele der vom Reichstag erlassenen Gesetzte aus einem langen Prozess von Kompromissen erwachsen waren, welcher ihnen das Erlangen einer breiten Unterstützung ermöglichte. Manchmal erzeugte dieses Vorge-
Wohlfeil, „Wormser Reichstag“, 125 – 128. A. Wrede (Hg.), DRTA, Bd. 2, Gotha, 1896, 203. Wohlfeil, „Wormser Reichstag“, 129 – 130.
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hen Politiken, die ziemlich schnell im Sand verliefen, und manchmal erzeugte es Ergebnisse von erstaunlicher Dauerhaftigkeit. Im Gegensatz zur Kurzlebigkeit des Reichsregiments überdauerte eine neue Reichssteuerliste, welche ebenfalls 1521 in Worms entworfen wurde, mehrere Jahrhunderte. Die Reichssteuerliste, oder Reichsmatrikel, aufgesetzt im Bemühen um eine bessere Finanzierung des Reichsregiments und anderer staatlicher Organe, legte die finanzielle Verantwortung der einzelnen Stände gegenüber dem Reich fest. Durch die Festlegung der Zugehörigkeit der Stände zum Reich und der Höhe ihrer reichssteuerlichen Verpflichtung installierte die Reichsmatrikel von 1521 eine Niederschrift der Namen all derjenigen Autoritäten, die zur Teilnahme am Reichstag berechtigt waren.¹⁸ Für die nächsten dreihundert Jahre wurde sie zur Grundlage für die Mitgliedschaft im Reichstag und behielt symbolische Bedeutung bis zum Niedergang des Reichs zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Wenn sie den Privilegien einer breiten Mehrheit der Stände dienten, konnten Reichstagserklärungen durchaus Langlebigkeit beweisen.
4 Der Reichstag zu Worms und die Causa Lutheri Die Verhandlungen über das Reichsregiment und die Reichsmatrikel bildeten den unmittelbaren Kontext der Umgangsweise der Stände zu Worms mit Luther. Als der Reichstag Ende Januar eröffnet wurde, hatte die offizielle Papstbulle bezüglich der Exkommunikation Luthers gerade erst begonnen, im Reich zu kursieren. Die Verantwortung einer Durchsetzung der päpstlichen Deklaration trug Kaiser Karl V. Anfangs sträubte sich Karl gegen eine Vorladung Luthers nach Worms, in der Befürchtung, dass sie dem Mönch aus Wittenberg eine Bühne zur Verteidigung seiner Ideen bieten könnte und sich neue Anhänger fänden. Der päpstliche Abgesandte auf dem Reichstag, Girolamo Aleander, befreite Karl von seiner Angst. Aleander hielt dagegen, dass der Papst ja bereits über Luther gerichtet habe und der Reichstag dieses Dekret nun ausführen müsse.¹⁹ Mitte Februar 1521 versuchten daher Karl und seine Gehilfen ein Edikt im Reichstag durchzusetzen, das Luther als Häretiker verurteilte und den Reichsständen die Durchsetzung der päpstlichen Entscheidung gegen Luther verordnete.²⁰ Während Aleander wünschte, dass der Kaiser dieses Dekret ohne eine Einbeziehung der Stände erließ, bemerkte das kaiserliche Lager, dass die verschiedenen territorialen Herrscher des Reiches wohl kaum ein Mandat unterstützen würden, an welchem sie nicht mitgewirkt hatten.²¹ Die Strenge des Edikts und die Einsicht, dass es Luthers Recht auf eine faire Anhörung verletzte, ließen das Dokument zum Brandstifter werden. Im Reichstagsauschuss kam es beinahe zu einer körperlichen Auseinandersetzung darüber, als Friedrich der Weise von Sachsen, Luthers Pa
Wohlfeil, „Wormser Reichstag“, 134– 135. DRTA, Bd. 2, 505 – 506. DRTA, Bd. 2, 505 – 506. A. Kohnle, Reichstag und Reformation, Gütersloh, 2001, 90 – 92.
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tron, und sein Gegner, Kurfürst Joachim von Brandenburg, voneinander getrennt werden mussten.²² Schlussendlich verweigerte das Komitee die Annahme des Edikts, mit der Begründung, dass eine gedrängte Verurteilung Luthers zu Unruhen im Volk führen könnte. Stattdessen bat es den Kaiser, Luther beim Reichstag vorzuladen und ihm eine Verhandlung durch „etlich gelerte und der sach verstendige“²³ zu erlauben. Knapp einen Monat nach Eröffnung des Reichstages wurde also deutlich, dass die Stände nicht gegen Luther vorgehen würden, bis jener eine formale Anhörung erhielt. Viele Fürsten begründeten ihre Position mit der Angst vor einem Volksaufstand. Friedrich der Weise hatte dem Kaiser bereits seit Monaten zu einer Anhörung Luthers geraten, mit der Begründung, dass nur auf diese Weise die Situation beruhigt und ein umfangreicher Aufstand verhindert werden könne.²⁴ Andere Herrscher griffen diese Befürchtung auf, als sie über das vorgeschlagene kaiserliche Mandat berieten.²⁵ Die Angelegenheit wurde weiter verkompliziert durch die Tatsache, dass auf dem Reichstag viele Stände mit Luthers Botschaft gegen Rom sympathisierten. Seit Mitte des 15. Jahrhunderts hatten zahlreiche Einzelpersonen ein kirchliches Generalkonzil auf deutschem Boden gefordert, um die Missstände der Kirche zu verringern. Angespornt von den nördlichen Humanisten, welche die päpstliche Korruption attackierten und die vermeintliche italienische Dekadenz der deutschen Tugend gegenüberstellten, erreichte die antirömische Gesinnung ihren Höhepunkt gerade zu der Zeit, als Luther in den späten 1510er Jahren mit der Veröffentlichung seiner Papstkritik begann.²⁶ Aleander fasste die Stimmungen im Reich zusammen, als er im Februar 1521 an Rom schrieb: „ich bin überzeugt, dass tausende der Landsleute nur auf einen Narren gewartet haben, der einen Angriff auf Rom anführt.“²⁷ Ein kaiserliches Mandat, welches die päpstliche Verurteilung Luthers durchsetzen würde, stellte für Aleander den einzigen Weg dar, Luthers Unterstützer zum Schweigen zu bringen. Da „die Deutschen allen Respekt verloren haben und sogar Exkommunikationen verspotten“, musste der Kaiser intervenieren, um die päpstliche Entscheidung umzusetzen.²⁸ Die Schwierigkeiten um den häretischen deutschen Mönch brauchten, so proklamierte der Abgesandte, eine deutsche Lösung, wenngleich eine solche, deren Parameter weiterhin von Rom diktiert würden. Für die Reichsstände, von denen viele sich über die römische Einmischung in deutsche Angelegenheiten ärgerten, sah die Sache ganz anders aus. Im Reichstag fand die gegen römische Korruption gerichtete Strömung ihren Ausdruck in einer Liste von Beschwerden, bekannt unter der lateinischen Bezeichnung Gravamina. Die Gravamina attackierte die Fiskalpolitik des Pontifikats und forderte ein Ende des päpst-
P. Kalkoff (Hg.), Die Depeschen des Nuntius Aleander vom Wormser Reichstage 1521, Halle, 1886, 65. DRTA, Bd. 2, 515 – 516. S. Hendrix, Martin Luther: Visionary Reformer, New Haven, CT, 2015, 100. DRTA, Bd. 2, 515 – 516. T. Brady, German Histories in the Age of Reformations, Cambridge, 2009, 136 – 139. Kalkoff, Depeschen, 69. Kalkoff, Depeschen, 44.
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lichen Eingriffs in die kirchliche Jurisdiktion des Reiches. Viele deutsche Autoritäten waren besonders über die Vermögensmenge verärgert, die in Form von Kirchensteuern nach Rom floss.²⁹ 1521 legten in Worms die Reichsstände Karl V. 102 Artikel der Beschwerde vor, von denen viele über den finanziellen Missbrauch und die Gier des Papstes klagten.³⁰ Glaubt man Aleander, wurde die Situation sogar so schlimm, dass „neun Zehntel zum Kampfschrei ‚Luther‘ anhoben, während die Parole des übrigen Zehntels, das gegenüber Luther gleichgültig war, lautete: ‚Tod der römischen Kurie!‘“³¹ Während Aleander diese Zahlen zu seinem eigenen Nutzen übertrieb, fiel Luthers Kritik am Papst auf fruchtbaren Boden bei vielen Ständen in Worms, die einen potenziellen Verbündeten in ihrem Kampf gegen den römischen Einfluss erahnten. Nur wenige Stände waren bereit, eine vollständige Verurteilung Luthers zu unterstützen, da eine Konfrontation zwischen Luther und seinen Anklägern die Begehren der Gravamina möglicherweise voranbringen konnte.³² Als der Reichstag am 19. Februar in seiner Antwort an den Kaiser eine Anhörung Luthers verlangte, betonte das Komitee sogar „was beschwerd und missbrauch itzt dem heiligen römischen Reich obligen und von dem stul zu Rom in vil weg begegen“.³³ Ein Administrator aus der Diözese Passau bemerkte, dass „seind etlich guet auf seiner seyten, etlich nit; doch alle send sy al ainig, das man mit babstlicher heyligkait sol handlen, das man nostram provinciam nit also gravier“.³⁴ Da die Mehrheit der Stände folglich nicht gewillt war, das im Februar erlassene kaiserliche Edikt zu unterstützen, und intendierte, eine Wiedergutmachung durch das Papsttum zu erzielen, entschied Karl sich für ein kompromissbereites Vorgehen. Anfang März willigte er ein, Luther nach Worms vorzuladen und ihm freies Geleit zu gewähren. Luthers Erscheinen vor dem Reichstag sollte dennoch nicht in Form einer Debatte stattfinden. Es sollte sich vielmehr in Form einer Auseinandersetzung mit einem berüchtigten Häretiker ereignen. Dies bedeutete, dass Luther keine Gelegenheit bekam, seine Überzeugungen eingehend darzulegen oder zu begründen. Stattdessen sollte ihm die päpstliche Verdammung seiner Schriften präsentiert und er gefragt werden, ob er seine häretischen Ideen widerrufe.³⁵ Ende März traf der kaiserliche Herold Kaspar Sturm in Wittenberg ein, um Luther vor den Reichstag zu laden. Eingedenk des Schicksals, welches der böhmische Reformer Jan Hus unter ähnlichen Umständen etwas mehr als ein Jahrhundert zuvor auf dem Konzil von Konstanz erlitten hatte, rieten einige Freunde Luthers ihn von einer Teilnahme ab, doch letztlich entschied sich Luther zu gehen. Wenn er fernbleiben würde, so be-
A. Grundmann und R. Aulinger (Hg.), DRTA, Bd. 21, Berlin, 2015, 42– 44. DRTA, Bd. 2, 670 – 704; DRTA, Bd. 21, 46 – 47. Siehe auch H. Scheible, „Die Gravamina, Luther und der Wormser Reichstag 1521“, in: Gerhard May and Rolf Decot (Hg.), Melanchthon und die Reformation. Forschungsbeiträge, Mainz, 1996, 393 – 409. Zitiert in A. Pettegree, Brand Luther, New York, NY, 2015, 135. Wohlfeil, „Wormser Reichstag“, 89 – 90, 104– 105. DRTA, Bd. 2, 517. DRTA, Bd. 21, 65. Kohnle, Reichstag, 92– 94.
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gründete Luther, würde er in Abwesenheit verdammt und für seine Feigheit verspottet werden.³⁶ Nur bei einer Teilnahme konnte er darauf hoffen, die Richtigkeit seiner Ideen darzustellen und seine Pflicht vor Gott zu erfüllen. Luthers Reise nach Worms rief an fast jeder seiner Stationen große Menschenmassen hervor. Die Menschen drängten sich, um einen Blick auf die „Wittenberger Nachtigall“ zu erhaschen, wie der Nürnberger Dichter Hans Sachs ihn einige Monate später nannte. In Erfurt, wo Luther zuvor gelebt hatte, tobte eine Menge Schaulustiger, um seinen Einzug in die Stadt anzusehen. Mit seinem typisch trockenen Sinn für Humor verwies Luther später auf diesen Moment als „mein Palmsonntag“.³⁷ Als er an diesem Sonntag in der Kirche des Augustinerklosters Erfurt eine Predigt hielt, drückten sich hunderte Menschen in das Gebäude, um Luther zu hören. Als die Reise voranging, fühlte Luther sich krank von der Belastung der Reise, obgleich er sich bis zum Eintreffen in Worms beinah erholt hatte.³⁸ Bei seiner Ankunft in der Stadt am Dienstag, den 16. April, wurde er durch Trompetengeschmetter von den Stadtmauern begrüßt.³⁹ Zeitgenössischen Schätzungen zufolge versammelten sich ungefähr zweitausend Menschen, um Luthers Einzug in Worms zu beobachten und ihn zu seinem Quartier zu begleiten.⁴⁰ Dutzende Einzelpersonen, darunter einige der mächtigsten Fürsten des Reiches, standen Schlange, um Luther vor seinem Erscheinen vor Kaiser und Reichstag persönlich zu treffen.⁴¹ Am Morgen seiner ersten offiziellen Anhörung am 17. April nahm Luther einem kranken Edelmann sogar die Beichte ab und spendete ihm das Abendmahl, da dieser ausdrücklich Luthers Dienst gewünscht hatte.⁴² Ungeachtet der Ansprüche, die an ihn gestellt wurden, schien Luther laut dem Augsburger Stadtschreiber Konrad Peutinger „güter Ding“ zu sein.⁴³ Der Theologieprofessor einer Provinzuniversität war zur bedeutenden Berühmtheit des Reichstages geworden. Er war im symbolischen und rituellen Herzstück des Reiches angekommen, wo viele Luthers Leidenschaft, Hartnäckigkeit und Gelehrsamkeit zum ersten Mal begegneten.
Hendrix, Luther, 101; Schilling, Luther, 206 – 211. Zitiert in Hendrix, Luther, 102. M. Brecht, Martin Luther. Sein Weg zur Reformation 1483 – 1521, Stuttgart, 1981, 427– 429; Hendrix, Luther, 102– 103; Schilling, Luther, 213. DRTA, Bd. 2, 863. DRTA, Bd. 2, 850 – 851. Brecht, Luther, 429 – 431; Hendrix, Luther, 103 – 104; Wohlfeil, „Wormser Reichstag“, 112. DRTA, Bd. 2, 859. DRTA, Bd. 2, 862.
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5 Luther vor dem Reichstag Luther hatte zwei offizielle Audienzen vor Kaiser und anderen Beamten, die mit dem Erwirken seines Widerrufs betraut worden waren.⁴⁴ Sein Verhör führte Johann von der Ecken, ein Offizial der Diözese Trier, welcher wenige Monate zuvor Luthers Schriften öffentlich verbrannt hatte. Gegen vier Uhr am Nachmittag des 17. April erschien Luther vor den versammelten Würdenträgern in den kaiserlichen Kammern, welche vorübergehend im örtlichen Bischofspalast untergebracht worden waren. Von der Ecken verwies auf einen Tisch, auf dem 22 Bücher lagen, in Größenordnungen zwischen langen Ausführungen und kurzen Flugschriften, auf denen Luthers Name stand. Aleander und von der Ecken hofften durch die Auslage diverser Traktate, Luthers Schriften repräsentativ darstellen zu können. Keines der von ihnen zusammengetragenen Bücher war auf der offiziellen Liste der durch die päpstliche Bulle ein Jahr zuvor verurteilten Schriften Luthers, worin sich ihre Strategie zeigte, die Eskalation Luthers häretischer Gedanken wie auch seinen Unwillen, das Schreiben im Angesicht päpstlicher Verdammung zu beenden, aufzuzeigen.⁴⁵ Sobald Luther in die Halle geleitet worden war, stellte von der Ecken dem Mönch zwei Fragen: Erkennt Luther seine Autorenschaft der anstößigen Texte an? Welche der anstößigen Texte wünscht er nun zu widerrufen? Luthers Anwalt, ein Berater von Kurfürst Friedrich dem Weisen, bat von der Ecken, die Namen der Bücher laut vorzulesen. Da er anscheinend eine Art Disputation erwartet hatte, schien Luther auf von der Eckens Forderung nach schnellen und definitiven Antworten nicht gefasst zu sein.⁴⁶ Dementsprechend gab Luther, in einem leisen Ton, der es erschwerte, von allen gehört zu werden, an, dass er die fraglichen Bücher tatsächlich geschrieben hatte, er aber mehr Zeit brauche, um einen Widerruf zu überdenken. Der Kaiser gewährte ihm vierundzwanzig Stunden. Die Sitzung wurde vertagt und Luther kehrte in sein Quartier zurück.⁴⁷ Als Luther am nächsten Tag erneut erschien, war die Anzahl der Versammlungsmitglieder derart angestiegen, dass die Sitzung in eine größere Halle verlegt werden musste. Von der Ecken fragte Luther erneut, was dieser zu widerrufen wünsche. Luther rezitierte aus dem Gedächtnis eine vorbereitete, zehnminütige Erklärung, welche er zuerst in Deutsch und anschließend in Latein vortrug. Luther ordnete seine Schriften in drei Kategorien ein. Zuerst die Bücher, welche „die gute des glaubens und der siten so ewangelisch und schlechtlich gehandelt hab“ behandelten. Nicht einmal der Papst hatte etwas gegen diese Werke einzuwenden. Als zweites seine Traktate, die das Papsttum und die Korruption der römischen Kurie attackierten, „welche die
Für eine Beschreibung von Luthers Auftritt vor dem Reichstag siehe u. a. Brecht, Luther, 431– 442; Hendrix, Luther, 104– 107; Schilling, Luther, 219 – 223; Wohlfeil, „Wormser Reichstag“, 112– 119. B. Moeller, „Luthers Bücher auf dem Wormser Reichstag von 1521“, in: J. Schilling (Hg.) LutherRezeption. Kirchenhistorische Aufsätze zur Reformationsgeschichte, Göttingen, 2001, 123 – 132. Brecht, Luther, 433. DRTA, Bd. 2, 863 – 864.
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christliche Welt verwüsteten“. Als drittes seine Abhandlungen gegen seine Kritiker und solche, die das Papsttum verteidigten. Während Luther zugab, dass er in machen seiner polemischen Schriften übermäßig harsch gewesen war, verleugnete er die inhaltlichen Anschauungen der drei Textsorten nicht. Stattdessen drückte er seine Zufriedenheit darüber aus, „das von wegen des gotlichen worts parteien, misshellung und uneinickeit werden“.⁴⁸ Daraufhin drängte von der Ecken, vor allen Anwesenden Luthers Hartnäckigkeit hervorhebend, die kirchlichen Konzilien und das Papsttum dogmatischer Fehler anzuklagen, Luther zu einer definitiven Antwort, ob er gewillt sei, seine Schriften zu widerrufen, oder nicht. Luther erwiderte bekanntermaßen, dass: „es sein dann das ich durch gezeugnuss der Schrift oder aber durch scheinlich ursachen (dann ich glaub wider dem babst noch den concilien) allein, weil es am tag ist, das dieselben zu mermaln geirrt und wider sich selbs geredt haben uberwunden werd, ich bin uberwunden durch die schriften, so von mir gefurt, und gefangen im gewissen an dem wort gottes, derhalben ich nichts mag noch will widerruffen, weil wider das gewissen zu handeln beschwerlich, unheilsam und ferlich ist. Gott helf mir! Amen.“⁴⁹ Luthers Erklärung dramatisierte einen zentralen Konflikt der frühen Reformation: persönliche Überzeugung gegen empfangene Autorität und Tradition. Bis zur Konfrontation in Worms hatte nahezu jeder die Causa Lutheri als eine innerkatholische Debatte angesehen, welche innerhalb der kirchlichen Grenzen gelöst werden konnte. Die Ausdrücke, die Luther in seiner Wormser Rede aufgeführt hatte, eröffneten jedoch die Möglichkeit eines kompletten Zerwürfnisses seiner Bewegung mit der Kirche. Von der Ecken erkannte die Beschaffenheit der lutherischen Anklagen und versuchte den Mönch aus Wittenberg mit einer Bandbreite vergangener häretischer Gruppen in Verbindung zu bringen, vor allem den Hussiten des 15. Jahrhunderts. Er beschuldigte Luther des Anspruchs, „der eine und einzige Mann mit Bibelkenntnis“ zu sein, und ermahnte Luther „dein Urteil nicht vor das Urteil so vieler Männer höchsten Ranges zu stellen“.⁵⁰ Es entstand der Eindruck, dass eine Einzelperson gegen die akzeptierte Lehre einer ganzen Generation von Theologen stand. Dies waren die Parameter der Debatte, die aus der Konfrontation zwischen Luther und von der Ecken entstand. Luther blieb, ohne Reue zu zeigen, bei seiner Behauptung, und der Reichstag wurde vertagt. Als Luther sich in seine Gemächer zurückzog, rief er erleichtert: „Ich bin hindurch! Ich bin hindurch!“⁵¹ In der Überzeugung, dass der Teufel ihn versucht hatte, seinen Glauben in Worms zu verlieren, fühlte Luther diese Last von seiner Schulter fallen.⁵² Nichtsdestotrotz blieb seine unmittelbare Zukunft alles andere als sicher.
DRTA, Bd. 2, 577– 580. DRTA, Bd. 2, 581– 582. Der Zusatz „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ wurde Luthers Rede später hinzugefügt und wurde während der Konfrontation in Worms 1521 nicht geäußert. Hendrix, Luther, 300 n. 25. LW, Bd. 32, 129. DRTA, Bd. 2, S. 853. H. Oberman, Luther: Man Between God and the Devil, E. Walliser-Schwarzbart (trans. by), New Haven, CT, 1989, S. 197– 199.
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Im Folgenden wird die Struktur gezeigt, mit der sich der Reichstag gegen eine schnelle und öffentliche Verdammung Luthers aussprach. Manche Fürsten, unter ihnen zum Beispiel Kurfürst Joachim von Brandenburg, sahen in Luther einen Häretiker und befürworteten ein kaiserliches Dekret auf Linie des vorgeschlagenen Mandats vom Februar.⁵³ Andere waren beeindruckt von Luthers Auftreten und warnten vor einem raschen Vorgehen.⁵⁴ Friedrich der Weise fand Luthers Darbietung vortrefflich, wenngleich er befürchtete, sein Universitätsprofessor habe „vil zu kune“⁵⁵ gesprochen. Georg Vogler, ein Beamter aus Brandenburg-Ansbach, schlug einen schärferen Ton an und prangerte das Gesehene als einen Anschlag von „Caiphas und Annas, …, den frommen Luther zu kreuzigen“⁵⁶ an. Karl V. versuchte seinerseits die Trennungen zwischen den Ständen zu überwinden, indem er seine kaiserlichen Privilegien geltend machte. Am 19. April, dem Tag nach Luthers Ablehnung eines Widerrufs, eröffnete Karl dem Reichstag in einer von ihm selbst verfassten Rede, dass er sich verpflichtet fühlte, „den heiligen katholischen Geboten“ zu folgen, die seine Vorfahren seit Generationen bewahrt und weitergegeben hatten. Die Kirchengeschichte zeige, dass „es gewiss ist, dass ein einzelner Ordensbruder irrt mit seiner Meinung, die gegen die ganze Christenheit ist, sowohl während der vergangenen tausend und mehr Jahre als auch in der Gegenwart; dieser Ansicht nach wäre die ganze genannte Christenheit immer im Irrtum gewesen und würde es (noch heute) sein.“⁵⁷ Karl würde Luther eine Abreise unter freiem Geleit bewilligen, kurz danach beabsichtigte der Kaiser jedoch „gegen ihn wie gegen einen notorischen Häretiker vorzugehen“.⁵⁸ Wie die Aussage Luthers vom Vortag adressierte Karls Erklärung die zentrale Spannung, die durch Luthers Angriff auf die römisch-katholische Kirche aufgekommen war. Wenn Luther im Recht war, so erwiderte der Kaiser, wären unzählige Generationen von Christen einem falschen Glauben gefolgt und wären also auf ewig verdammt. Diese Situation war jedoch eine Unmöglichkeit, da Gott die kirchliche Rolle in der Welt angeordnet und Karls Vorfahren mit deren Verteidigung betraut hatte. Demzufolge gebot die Logik, dass Luther der Irrende war, da er gegen die empfangene Autorität und Tradition der Kirche und ihrer Lehre stand. Indem er so argumentierte, hob Karl gegenüber „der noblen und berühmten deutschen Nation“
DRTA, Bd. 2, S. 596 – 598. Kohnle, Reichstag, S. 95 – 96. DRTA, Bd. 2, S. 550 n. 1. DRTA, Bd. 2, S. 853 n. 1. Übersetzung aus H. Wolter, „Das Bekenntnis des Kaisers“, in: F. Reuter (Hg.), Der Reichstag zu Worms von 1521, Worms, 1971, 227 (orig. „car y lest certain que ung seul frère erre en son opinion, laquelle est contre toute la crestiennité, tant du temps passé mille ans et plus que du présent, selon laquelle oppinion toute ladite crestienité seroit et auroit tousiours esté en erreur“ „et procéder à l′ encontre de luy comme contre notoire érétique (…).“) Ebd. Die französische Originalversion erschien in DRTA, Bd. 2, 594– 596. Für eine detaillierte Analyse der kaiserlichen Rede siehe H. Wolter, „Das Bekenntnis des Kaisers“, in: F. Reuter (Hg.) Der Reichstag zu Worms von 1521, Worms, 1971, 222– 236.
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hervor, was er Luther als Arroganz beimaß, und betonte die kaiserliche Rolle als Beschützer der „heiligen Riten, Dekrete, Verordnungen und heiligen Sitten“ der Kirche.⁵⁹ So kraftvoll Karls Ansprache auch war, so konnte sie die Rangeleien über den Umgang des Reichstages mit Luther nicht beenden. Viele Stände befürchteten weiterhin, dass ein zu schnelles und harsches Verfahren des Kaisers einen Aufstand „des gemainen mans, so dem Lutter anhangt“⁶⁰ verursachen könnte. Deshalb rief der Reichstag ad hoc ein Komitee zur Verhandlung mit Luther zusammen, in der Hoffnung, irgendeinen Kompromiss erreichen zu können. Am 24. und 25. April traf sich Luther mit Mitgliedern des Komitees in den Quartieren des Erzbischofs von Trier, welcher Luther dazu ermutigte, seine Anklage gegen die päpstliche Autorität im Interesse einer Aussöhnung mit den kirchlichen Amtsträgern fallen zu lassen. Die Unterstützer der Verhandlung hofften, dass die Angelegenheit sich als ein nützlicher Weg zur Realisierung der Gravamina erweise könne, falls irgendeine Art der Versöhnung zwischen Luther und dem Papst erreicht würde. Luther weigerte sich jedoch, nachzugeben, und wiederholte seinen Standpunkt vom 18. April. Weder ein Kompromiss noch eine Übereinstimmung standen bevor. Da die Diskussionen sich festgefahren hatten, verließ Luther Worms am 26. April in Richtung Wittenberg, noch immer unter dem Schutz des kaiserlichen Boten Kaspar Sturm.⁶¹
6 Das Wormser Edikt Der Reichstag führte seine Beratung mehrere Wochen fort. Luthers Weigerung, in den Verhandlungen der Subkomitees einen Kompromiss einzugehen, bewegte viele Fürsten auf dem Reichstag zu einer Billigung des kaiserlichen Mandats gegen den Mönch. Bis zum 8. Mai hatte das kaiserliche Lager ein formelles Edikt zusammengestellt, welches Luther für geächtet erklärte und den päpstlichen Gesandten Aleander zum Erstautor hatte. Um eine größtmögliche Verbreitung zu garantieren, wartete Karl V. mit dem Erlass des Wormser Edikts bis zum 25. Mai, an dem er dessen Inhalt vor den versammelten Fürsten laut vorlas. Das Edikt verhängte über Luther eine Aufhebung des reichsrechtlichen Schutzes und verordnete einen Druck- und Verkaufsstopp seiner Werke. Einwohnern des Reiches wurde verboten, Luther zu Hilfe zu kommen oder seine Ideen zu verbreiten. Abschließend forderte das Edikt Luthers Festnahme und seine Auslieferung in die Hände des Kaisers zwecks Bestrafung.⁶² Obwohl das Edikt nach dem Reichstag benannt wurde, auf dem Karl es erließ, war es kein Reichstagserlass. Das Edikt nahm mehr die Form eines kaiserlichen Dekrets an, dass den Ständen zur Ausführung vorgelegt wurde, als die einer von den versammelten Ständen als Gesetzgeber verkündete Entscheidung. Dieser Status gab dem
LW, Bd. 32, 114 Nr. 9. DRTA, Bd. 2, 869. LW, Bd. 32, 115 – 123. Siehe auch Brecht, Luther, 442– 447; Kohnle, Reichstag, 96 – 99. Der Text des Edikts findet sich in DRTA, Bd. 2, 640 – 659.
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Edikt das Gewicht eines Gesetzes, erschwerte jedoch seine Durchsetzung. Diejenigen Autoritäten, die eine Umsetzung der Bestimmungen des Edikts zu vermeiden wünschten, konnten sie als einen Versuch kaiserlicher Intervention in lokale Angelegenheiten darstellen und sie als Verletzung deutscher Freiheit missachten. Karl selbst untergrub die Wirksamkeit des Edikts, indem er bestimmte Fürstentümer von dessen Geltungsbereich ausnahm. Die wichtigste dieser Ausnahmen war Sachsen, Luthers Heimat. Kurfürst Friedrich der Weise erbat und erhielt die Befreiung seiner Gebiete vom Edikt, eine Maßnahme, die dem grundlegenden Anliegen des Edikts widersprach, die jedoch Karls Bedürfnis entsprang, die gute politische Beziehung zu dem mächtigen Kurfürsten zu bewahren.⁶³ Das Edikt scheiterte also darin, die Verbreitung von Luthers Ideen zum Stillstand zu bringen, wenngleich es Luthers Bewegungsfreiheit einschränkte und sie auf die Gebiete, die eine Ausführung des Edikts verweigerten, begrenzte. Diese Restriktionen behielten für Luthers restliches Leben ihre Gültigkeit. Die Schwierigkeiten der Durchsetzung des Wormser Edikts traten in der direkten Folge des Reichstages deutlich zutage. Friedrich machte von seiner Ausnahme Gebrauch, versteckte Luther in der Wartburg und veröffentlichte das Edikt nie innerhalb seiner Territorien.⁶⁴ Manche Autoritäten gingen gegen Herausgeber der lutherischen Schriften vor, und das Edikt wurde zum Sammelpunkt einer Gruppe antilutherisch gesinnter Fürsten. Andere jedoch fuhren einfach fort, als ob es das Edikt nicht gäbe. Die Entscheidung Kaiser Karls V., das Reich kurz nach Schließung des Reichstages in Richtung Spanien zu verlassen, verschlimmerte die Situation. Karls Abwesenheit, die bis 1530 anhielt, bedeutete, dass der Aussteller des Edikts dessen Realisierung nicht persönlich überwachen konnte, und überließ dessen Durchsetzung dem Belieben der einzelnen Stände.⁶⁵ Diese Umstände eröffneten den Ständen Spielraum, ihre eigenen Politiken fortzusetzten und die Vereinbarungen des Edikts zu umgehen. Die ungeordnete Vorgehensweise beim Erlass des Wormser Edikts sorgte dafür, dass die Causa Lutheri in den Beratungen des Reichstages über die folgenden Jahre eine zentrale Rolle behielt, anstatt als reichspolitische Angelegenheit in den Hintergrund zu treten.
7 Fazit Insgesamt betrachtet, legte der Reichstag von Worms 1521 die Tagesordnungen der Reichstagsberatungen der 1520er Jahre fest. Der Reichstag versammelte sich nicht weniger als sieben Mal in den Jahren 1521– 1530, eines der betriebsamsten Jahrzehnte seiner ganzen Geschichte. Die Anliegen der Stände auf den jeweiligen Versammlungen spiegelten die anfänglich in Worms debattierten Bedenken. Marktmonopole, die Kohnle, Reichstag, 99 – 103. Ludolphy, Friedrich, 437– 438. M. Brecht, „Das Wormser Edikt in Süddeutschland“, in: F. Reuter (Hg.), Der Reichstag zu Worms von 1521, Worms, 1971, 475 – 89.
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Dynamik des Reichsregiments, Steuern und die Finanzierung der Reichskriege sowie, am berühmtesten, der Status der religiösen Reform dominierten die Reichstage in den Jahren nach Worms und gipfelten 1530 im epochemachenden Augsburger Reichstag. Auf vielerlei Weise ereigneten sich die voranschreitenden Verhandlungen über all diese Themen in dem Rahmen, der in Worms abgesteckt worden war. Das Zusammenspiel der Vorstellung einer deutschen Freiheit, antirömischer Empfindungen und der religionspolitischen Implikationen der lutherischen Ansichten blieb im Zentrum der Reichstagsaktivitäten, noch lange nachdem das Treffen in Worms vertagt worden war. In diesem breiteren Kontext betrachtet, liegt das Erbe des Reichstages zu Worms mehr in den Aufgaben und Komplikationen, die er in die imperiale Politik einbrachte, als in einer möglichen Lösung der vor ihn gebrachten Probleme.
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Luthers Verhältnis zu Bauern und Fürsten 1 Die Entwicklung bis 1525 1.1 Forschungslage Bis zum 19. Jahrhundert fanden die Bauern in der Historiographie kaum Aufmerksamkeit. Dies hing nicht zuletzt am mangelnden Interesse der Historiographen, lag aber teilweise auch im Mangel an literarischen Quellen begründet. Noch an der Wende zum 20. Jahrhundert berücksichtigten Theologen und Luther-Biographen dieses Thema äußerst selten. Erst im 20. Jahrhundert rückte – besonders durch die weit beachteten Forschungen und Dokumentationen von Günther Franz und Peter Blickle – der Bauernkrieg in den Fokus der Historiographie. Verstärkt durch die Konkurrenz der politischen Systeme stand bis 1989 die Kontroverse um die Deutung der Bauernaufstände zu Beginn des 16. Jahrhunderts an: inwieweit die Ereignisse – auf dem Hintergrund der Interpretationen von Friedrich Engels und M.M. Smirin – als „frühbürgerliche Revolution“ bzw. als „Volksreformation“ gedeutet werden könnten, oder alternativ als „Revolution des gemeinen Mannes“. In der Kirchengeschichtsschreibung sind seit den Untersuchungen von Karl Holl in den 1920er Jahren die Bauern und die sie betreffende Forschung, die besonders in den letzten Jahrzehnten durch Peter Blickle und seine Schule auf neue Füße gestellt worden ist, zunehmend differenzierter und angemessen berücksichtigt worden. Das Konzept und der Begriff des schon vorreformatorisch entwickelten „Kommunalismus“ wurde breit rezipiert. Allerdings ist festzustellen, dass das Thema in den letzten zwei Jahrzehnten aus dem Fokus der Forschung eher an den Rand gerückt ist. Dennoch besteht Forschungsbedarf, insbesondere im Hinblick auf die Reformation auf dem Dorf. Hierzu wird die bevorstehende Edition der reformationszeitlichen Dorfpredigten des siebenbürgisch-sächsischen Pfarrers Damasus Dürr wohl einen wesentlichen Erkenntnisgewinn bringen¹.
1.2 Der gemeine Mann Menschen, die keinen Anteil an Herrschaft und Verwaltung hatten und auch nicht zum Adel oder zum Klerus gehörten, wurden im frühen 16. Jahrhundert mit dem Be-
U. A. Wien, „Reformation in Siebenbürgen. Aktuelle Forschungen und Desiderate am Beispiel der Predigten Damasus Dürrs und der Synodalprotokolle der evangelischen Superintendentur Birthälm“, in: Jahrbuch des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 22, 2014, S. 37– 66. https://doi.org/9783110498745-020
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griff „gemeiner Mann“ (allgemeine, einfache, niedrige Bevölkerung) bezeichnet.² Darunter fielen die nicht ratsfähigen Schichten einerseits in den Städten, die dem städtischen Typus (landsässige Stadt, Reichsstadt) zugerechnet wurden, oder die andererseits dem ruralen Typus (Landgemeinde, Dorf) angehörten: Vor allen Dingen waren dies mehrheitlich die Bauern, die – je nach Region in sehr verschiedenen Rechtsstellungen – überwiegend auf dem Land und von der Landwirtschaft lebten. Die Mehrzahl der Bauern war einem Grundherren abgaben- und dienstpflichtig; sehr unterschiedlich war der Grad der bis zur Leibeigenschaft reichenden persönlichen Abhängigkeit. Im Reich stellten freie Bauern die Ausnahme dar. Allgemein war deren schwierige ökonomische Lage, denn die klimatisch bedingt schwankenden Ernteerträge und die vielfach ansteigenden Abgabenlasten bildeten trotz einer Agrarkonjunktur ungünstige Voraussetzungen für materielle und soziale Veränderungen. Für den gemeinen Mann stellte die „Gemeinde“ mit ihren genossenschaftlichen Elementen, in der die Sozialbeziehungen und gemeinschaftlichen Anliegen geordnet und nach für alle verbindlichen Werten und Normen ausgerichtet waren, den Lebensrahmen dar. Je nach regionalen und lokalen Gegebenheiten erschienen Dorfgemeinde und Pfarrgemeinde oft als deckungsgleich. Peter Blickles These des „Kommunalismus“ hat in den vergangenen Jahren anregend gewirkt und in Handbüchern Zustimmung erfahren. Gemäß der spätmittelalterlichen Entwicklung, wie dies diverse Einzelstudien belegen, schritt die Kommunalisierung der kirchlichen Verhältnisse auf dem Lande voran, da „die religiöse Versorgung der Gemeinde ebenso zentralen Stellenwert erhielt wie die wohlfeile Kirche und die Rückführung des Zehnten auf seine ursprüngliche Funktion, weil das alles im Evangelium und damit im ‚göttlichen Recht‘ verankert sei“.³ Diese Argumentationsstruktur begegnet uns vor allen Dingen in den Forderungen der Bauern in den Jahren 1524/1525 in Südwestdeutschland und den angrenzenden Gebieten während des Aufstands beziehungsweise der „Revolution des gemeinen Mannes“, also den Ereignissen des Bauernkriegs. Bis dahin war die kollektive Mentalität des gemeinen Mannes fast ausschließlich nur durch seine Handlungen zu bestimmen, denn der gemeine Mann war in der Regel „sprachlos“ und konnte sich demgemäß auch nicht schriftlich äußern.⁴ Die zumeist anonymen Flugschriftendrucke und besonders die fiktiven Reformationsdialoge aus den frühen 1520er Jahren, die vorgeblich von Bauern geschrieben waren, wie der „Neue Karsthans“ (1521), oder aber, wie die Aufwertung des traditionell als ungebildet, grob und tölpelhaft verachteten Bauern im ‚Speyerer‘ Reformationsdialog⁵ exemplarisch auf-
E. Wolgast, „L’homme du commun entre 1525 et 1555“, in: J.-P. Cahn und G. Schneilin (Hg.), Luther et la Réforme 1525 – 1555. Le temps de la consolidation religieuse et politique, Paris, 2001, 151– 161, hier: 151. F. Konersmann, „Die Kirche im Dorf“, in: R. Kießling, F. Konersmann und W. Troßbach (Hg.), Grundzüge der Agrargeschichte, Bd. 1, Vom Spätmittelalter bis zum 30-jährigen Krieg (1350 – 1650), Köln/Weimar/Wien, 2016, 228 – 242, hier: 233. E. Wolgast, „L’homme du commun“, 151. U. A. Wien, „Mündiges Christsein am Anfang des 16. Jahrhunderts. Aspekte der anonymen Flugschrift ‚EIn vast schoner Dialogus oder gesprech Büchlein‘ zwischen einem Bauern zu Dudenhofen und
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zeigt, die volkstümlichen, als Werbung unter den Illiterati konzipierten Reformationsdialoge zwischen den Dialogpartnern, meist einfachen Laien und Repräsentanten der traditionellen Kirche: beide Gattungen signalisieren eine veränderte Einstellung der gebildeten und privilegierten Stände gegenüber dem „gemeinen Mann“ – unter anderem auch die Sicht als Adressat der reformatorischen Ideen, nicht aber eine veränderte Bildungsbasis im Bauernstand. Dementsprechend ist die Programmatik der bäuerlichen Forderungen im Jahre 1525 zwar von den Bauern verbindlich approbiert, wohl aber überwiegend nicht vom einfachen Volk formuliert worden. Dessen ungeachtet ist die Rezeption reformatorischer Ideen auf dem Hintergrund eines weit verbreiteten Antiklerikalismus (besonders gegen wohlhabende Klöster und Stifte) unter den Bedingungen der Kommunalisierung von Religion und Kirche in den jeweiligen Gemeinden plausibel nachgewiesen worden. Als Ergebnis kann festgehalten werden, dass die streng religiös-eschatologisch profilierten Reformideen im kommunalen Kontext konkretisiert wurden zu sozialethischen Konsequenzen und Zielen. Seelenheil und „Verchristlichung“ des Alltags miteinander zu verknüpfen, wie dies auch – stärker monastisch akzentuiertes – Anliegen im Milieu der „Frömmigkeitstheologie“ war, dafür stellte die Gemeinde einen an Bedeutung zunehmenden Resonanzraum dar. Die Bauern, die vernahmen, dass das Gotteswort Nächstenliebe, Sorge um Sittlichkeit und um die christliche Betreuung der Gemeindemitglieder verlangte, mussten zu der Auffassung gelangen, dass das Leben und die Mitarbeit in der Dorfgemeinde der Weg sei, Gott zu gefallen und selig zu werden. Irdische und übernatürliche Zielsetzung ihres Lebens standen nicht mehr im Widerspruch; an den Menschen als Erdenbürger und Christen wurden die gleichen Erwartungen gestellt. Die neue Heilslehre, wie die Bauern sie verstanden, bedeutete eine Anerkennung des in die irdische Realität eingebundenen Christen, eine Integration seines Alltags in die Gott-MenschBeziehung.⁶
Auch wenn diese Interpretation der reformatorischen Ideen nur sehr beschränkt den Konzepten Zwinglis oder Luthers entsprach: „Maßstab war für sie die Realisierung der Nächstenliebe im Alltag, die ihrerseits die Ehre Gottes fördern sollte“.⁷
1.3 Rezeption reformatorischer Ideen im reichsritterschaftlichen Adel Thomas Kaufmann hat darauf hingewiesen, dass „gegenüber typologischen Reformationskonzeptionen“ (einer ursprünglich städtischen, dann bäuerlichen und schließlich besonders wirkungsreichen territorialstaatlich-landesherrlichen Refor-
einem Glöckner zu Speyer (1522)“, in: Kaiserslauterer Jahrbuch für pfälzische Geschichte und Volkskunde 16, 2016, 79 – 96. F. Conrad, Reformation in der bäuerlichen Gesellschaft, 105 – 106. F. Konersmann, „Die Kirche im Dorf“, 233 – 234.
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mation) „auf der Priorität eines eigenständigen ritterschaftlichen Reformationstypus zu insistieren“⁸ sei. Kaufmann kommt zu dem Schluss: „Die Anliegen Sickingens und seiner reichsritterschaftlichen Verbündeten wurden in der Flugschriftenpublizistik auf unauflösliche Weise mit der ‚Sache Luthers‘ und des Evangeliums verquickt. In dieser dichten Verbindung eigener politischer und religiöser Anliegen ist ein charakteristischer Grundzug der sogenannten ritterschaftlichen Reformation zu sehen. Keine soziale Gruppe hat sich in der Frühzeit der Reformation die Forderungen des Wittenberger Reformators nachdrücklicher und umfassender, aber auch in eigenwilligerer Interpretationsgestalt zu eigen gemacht und auf ihre eigenen Fahnen geschrieben als die Vertreter der Reichsritterschaft“.⁹ Nach Auffassung Kaufmanns könne man in Sickingens Fehdeangriff auf den Trierer Kurfürsten Richard von Greiffenklau 1522 und in „ihrem Ausgang eine erste, maßgeblich von Hutten angeregte politische Aktualisierung des Allgemeinen Priestertums sehen“.¹⁰ So erscheint die Ebernburg zeitweilig als das wohl „regsamste publizistische Aktionszentrum Oberdeutschlands“,¹¹ wenngleich diese erste „Adelsreformation“ als gescheitert zu betrachten ist. „Die literarische Imagination eines Bundesschlusses von Karsthans und Sickingen führte Gewaltfantasien in den reformationszeitlichen Diskurs ein, die in Bezug auf die Vorgeschichte des Bauernkrieges nicht unwichtig gewesen sind“. Erstmals kam nämlich im Hutten-Sickingen-Kreis die Vorstellung einer gewaltsamen Veränderung des Kirchenwesens auf. Mit dem späteren Bauernkrieg verbindet die Sickingensche Adelsreformation, ungeachtet aller ‚revolutionären‘ Momente, einen Zug ins Restaurative. Denn es galt, eine bessere alte, durch Modernisierungskrisen erschütterte Ordnung wiederherzustellen, ein ‚altes Recht‘ zu restituieren, die ‚alte Herrlichkeit‘ wiederzugewinnen. Luther und der frühreformatorischen Bewegung kam in Bezug auf die Adels- und die bäuerliche Reformation im Ganzen also eine katalysatorische Wirkung zu: sie beschleunigten Konflikte und Entwicklungen, die lange vorher eingesetzt hatten. Ihr Scheitern stärkte und bestätigte im Ergebnis jene dominanten Modernisierungstendenzen der frühmodernen Staatlichkeit und der frühkapitalistischen Ökonomie, denen sich Bauern und Ritter entgegenzustemmen versuchten. Jenseits der großen Kämpfe, im Kleinen, glückten freilich auch bäuerliche und ritterschaftliche Reformation.¹²
Dennoch war angesichts der Verweigerungshaltung in der Kirchenhierarchie für Luther primär die gesellschaftlich führende Schicht, die weltlichen Vertreter des Adels, Adressat seiner Reformaufrufe. Huttens antirömische Kritik und deren Resonanz in Luthers Adelsschrift sowie wiederum deren Rezeption durch Hutten, Sickingen und weitere Vertreter des reichsritterschaftlichen Adels signalisieren eine brisante Rezi-
T. Kaufmann, „Sickingen, Hutten, der Ebernburg-Kreis und die reformatorische Bewegung“, in: Blätter für pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde 82, 2015, 235 – 290, hier: 242. Ebd. Ebd., 254 – mit Verweis auf Hajo Holborn, Hutten, 117. Ebd., 290 sowie die folgenden Zitate. Ebd., 290.
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prozität hierarchie- und kirchenkritischen Potentials in unterschiedlichen Milieus der frühen reformatorischen Bewegung.
1.4 Luthers Bild der Bauern im Kontext des allgemeinen Priestertums der Gläubigen Luthers Theologie des allgemeinen Priestertums der Gläubigen wertete wohl auch den gemeinen Mann theologisch auf; das antiklerikal motivierte Kontrastprofil gegenüber dem wegen seiner unsittlichen Lebensweise und bezüglich seiner mangelnden Bildung verachteten, verweltlichten Klerus konnte in den Publikationen der frühen Reformationsbewegung ein Bild des schlichten, aufrechten und frommen Bauern konstruieren. So kam es zu einer gewissen Respektsbezeugung gegenüber dem Bauern in Luthers Frühschriften (WA 7,315,4– 7.635,2– 3.684,32 – 685,2).¹³ Dennoch ist dieses Bild nicht eindeutig und nicht nur von Hochschätzung gekennzeichnet, denn Luther äußerte sich auch schon in der Frühzeit abwertend und pejorativ über die groben, betrügerischen und rohen Bauern (WA 1,502,27– 28). Ergänzt wird diese Hochschätzung der Gemeinde durch das Zutrauen Luthers, dass diese mithilfe der Bibelübersetzung und der evangelischen Verkündigung in die Lage versetzt werden könne, mündig den eigenen Glauben zu entfalten und demgemäß auch die Lehre zu beurteilen. Folgerichtig formulierte er diese Gemeinde-Kompetenz schon im Titel seiner 1523 erschienenen Schrift „Dass eine christliche Versammlung oder Gemeine Recht und Macht habe, Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen, Grund und Ursache aus der Schrift“.¹⁴ Hierin wird festgehalten, dass aufgrund des allgemeinen Priestertums der Gläubigen die Gemeinde befugt ist, geeignete und begabte Personen für das höchste Amt in der Christenheit, den Predigtdienst und die Lehre, zu berufen. Um dieses Amt auszuüben, ist diese Berufung zwingend vorausgesetzt. Schließlich wird umsichtig dargelegt, dass und weshalb die Schafe Christi (die Gemeinde, die durch die Evangeliumsverkündigung konstituiert wird,) berechtigt und verpflichtet
WA 7,315,4– 7: „Also spricht Hiere v. das er bey den ubirsten weniger vorstandt unnd recht funden habe den bey den leyen unnd gemeynem volck. Alszo ists auch itzt, das arm pawrn unnd kinder baß Christum verstan den Bapst, Bischoff und doctores, und ist alles umbkeret“. Aus: Grund unnd ursach aller Artickel D. Marti. Luther, szo durch Romische Bulle unrechtlich vordampt seyn (WA 7,309 – 457). WA 7,635,2– 3: „Wilch bawr unnd kind sihet und greyffet dasselb nit?“ Aus: Auff das ubirchristlich, ubirgeystlich und ubirkunstlich Buch Bocks Emszers zu Leypczick Antwortt D.M.L. Darynn auch Murnarrs sinß geselln gedacht wird (WA 7,621– 688). WA 7,684,32– 685,2:“Ist das nit klar gnug, lieber Murner und Emser? Last sehen, was wolt yhr hie wider sagen? Sein hie nit die kinder und paweren gelereter denn der Bapst, Cardinel, bischoff, pfaffen und munch? Wo seyt yhr junckern, die yhr euch anmasset die schrifft außzulegen, der glauben vorkleren und rufft fast, der gemeyn man vorstehe nichts drynnen? Es sind sich hie anders, das der Bapst und seyne Bischoffe mit yhrem anhang weytt nit ßo viel kunnen als die groben pawrnn und kindle.“ Aus: Auf das überchristlich …, ebd. WA 11,401– 416.
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sind, die Lehre, ja, sogar die falsche Prophetie, zu beurteilen. Nachdem Bischöfe und Äbte die in diesem Sinne geforderte Verkündigung des Wortes Gottes verhindert hätten, sei es nun an der Gemeinde selbst, die Wahl und Bestellung von Predigern des Evangeliums vorzunehmen. Diese Publikation wurde breit rezipiert: Der Wunsch und die nach dem Gemeindeprinzip erhobenen Forderungen nach freier Wahl eines Pfarrers, der das lautere und unverfälschte Evangelium verkündigen sollte, erfuhren so intensive Resonanz, dass „sich daran geradezu die Stärke der Reformationsbewegung von unten ablesen lässt“.¹⁵ Dieses Begehren fand sich schließlich – manchmal sogar prominent an den Anfang gestellt – in den Forderungen der Bauern 1525.
1.5 Luthers konsequente Haltung zum Aufruhr Auf dem Hintergrund der Erfahrungen des Jahres 1521, erwähnt seien die studentische Militanz während des sogenannten ‚Erfurter Pfaffenstürmens‘ und der ‚Wittenberger Bewegung‘, fand Luther zu einer immer eindeutigeren und klareren Haltung hinsichtlich der Verneinung gewaltsamer Auseinandersetzungen. Seine Position artikulierte er in der zu Jahresbeginn 1522 veröffentlichten Schrift „Eine treue Vermahnung zu allen Christen, sich zu hüten vor Aufruhr und Empörung“ (WA 8,676 – 687). Da Luther seit dem Wormser Reichstag mit der Möglichkeit eines Aufstands gerechnet hatte, er sich aber gewiss war, dass Gott für die Gerechten in Aktion trete, müsse man bis dahin stillhalten. Die Institution der Oberkeit respektierte er als Christ ausdrücklich, selbst die kirchlichen Reformen sollten einvernehmlich mit ihr durchgeführt werden. „Der Gott des Friedens erregt eben nicht eine schädliche blutige Empörung, sondern eine friedliche“.¹⁶ Eine Revolution gegen die alte Kirche kam für Luther nicht in Betracht. Die Oberkeit besaß das Strafamt, und deshalb durfte nur sie eingreifen.¹⁷ Da Aufruhr von Gott untersagt sei, könne Empörung nur teuflischen Ursprungs sein, um die Reformation zu diskreditieren. Es gelte darum, den gemeinen Mann über die Gefahren eines Aufstands zu informieren und vom Aufruhr, der das Seelenheil gefährde und nichts bessern könne, abzuhalten. Gegen bestehende Missstände, die auch als Strafe Gottes interpretiert wurden, könne man nur zu Gott beten. Auch bessere Argumente könne man ins Feld führen, allerdings dürfe man nicht zur Gewalt greifen. M. Brecht, Martin Luther, Bd. 2, Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521 – 1532, Stuttgart, 1986, 76. M. Brecht, Martin Luther, Bd. 2, 40. Vgl. WA 8,50,10 – 30; 216 – 17. WA 10/I/1,59,23 – 25. WA 8,676 – 687: „Aber dem gemeinen Mann ist sein Gemüt zu beschwichtigen und zu sagen, dass er sich enthalte, auch des Begehrens und der Worte, die auf Aufruhr zielen, und dass er in der Sache nichts unternehme ohne Befehl der Obrigkeit oder Zutun der rechtmäßigen Gewalt. […] Deshalb ist die Obrigkeit und das Schwert eingesetzt, zu strafen die Bösen und zu schützen die Gerechten, damit Aufruhr verhütet werde wie St. Paulus sagt, Röm 13,1– 7, und 1 Petr 2,13 – 14. Aber wenn Herr Omnes aufsteht, der vermag dieses Unterscheiden der Bösen und Gerechten weder zu treffen noch zu halten, schlägt in den Haufen, wie es trifft; und es kann nicht ohne großes, greuliches Unrecht zu gehen. Darum achte auf die Obrigkeit!“ (M. Luther, Ausgewählte Schriften, Bd. 4. Frankfurt/M. 1982, 24– 25.)
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1.6 Das Bild der Bauern bei Luther Besonders in den Tischreden verweist Luther ohne Scheu¹⁸ auf seine Abstammung aus dem Bauernstand (in Möhra bei Eisenach) und lässt deren Stilisierung erkennen. Dennoch ist seine Distanz zum Bauernstand und seine ambivalente Haltung zu diesem eindeutig zu erkennen. In seinen Aussagen tritt darüber hinaus eine gewisse „Hochschätzung seines sozialen Aufstiegs“¹⁹ zutage. In seinen Schriften und in den Tischreden benutzt Luther folgende Termini: Agricola, Rusticus, Bauer, Pöbel oder auch gemeiner Mann,²⁰ wenn er von der bäuerlichen Bevölkerung spricht. Er verwendet den zeitgenössischen Sprachgebrauch; so verbindet er mit dem Bauern die Vorstellung des Ungebildeten, Geringen und Schlichten. Meist legt er den Bauern das Attribut „grob“²¹ zu. Vor 1525 werden die Bauern – weitgehend analog zu den Argumentationsstrukturen anderer Flugschriftenautoren – von Luther in seinen Schriften im Kontrast gegenüber den Repräsentanten der römischen Kirche, ihres Klerus und ihrer Theologen dargestellt; sie werden neben anderen Gruppen niederen gesellschaftlichen Ranges den hochgestellten, meist kirchlichen Hierarchien gegenübergestellt: Nicht diese, sondern die Bauern und Kinder sind einsichtiger und gelehrter, denn sie verstehen das Evangelium besser als jene. Gerade die einfachen Menschen stellt Luther als Kontrastfolie dem Klerus gegenüber, wenn er das allgemeine Priestertum der Gläubigen propagiert. Selten hat Luther schriftlich die Bauern in dieser Zeit negativ gezeichnet. Die Predigten dieser Jahre entsprechen mit einer Ausnahme 1516/17²² seinen sonstigen schriftlichen Äußerungen. Der Anteil der traditionellen Elemente aus dem literarischen Bauernbild des Spätmittelalters dürfte „auch bei Luthers Äußerungen über die Bauern beträchtlich sein“²³. Erst 1525, dem gewaltsamen Aufstand des gemeinen Mannes („Bauernkrieg“), ändert sich seine Diktion schlagartig und akzentuiert die traumatisch nega-
WA.TR 1,421,3 – 8 [855; 1,418 – 421]: „Ich habe oft mit Philippum davon geredt, und ihm ordentlich erzählet mein ganzes Leben, wie es nach einander ergangen ist, und ichs getrieben habe. Ich bin eins Bauern Sohn, mein Vater, Großvater, Ahnherr, sind rechte Baurn gewest. Da sagte er drauf: Ich würde ein Oberster, Schultheiß, Heimbürger, und was sie mehr für Aemter im Dorfe haben … worden seyn. Darnach, sprach ich, ist mein Vater gen Mansfeld gezogen, und daselbst ein Berghauer worden; daher bin ich.“ – WA.TR 4,624,27 [5035; 4,624,22– 625,5]: „ … et ego rusticus loco natus interdum intersum maximus consiliis“. – WA.TR 5,255,8 – 11 [5573; 5,254,17– 255,13]: „Contrarium est verum! Ich bin eines bauren son. Baurn sind König und Kaiser worden.“ – WA.TR 5,558,11– 17 [6250; 5,557,31– 558,22]: „Ego sum rusticus filius; proavus, avus meus, pater sein rechte pauren geweßt. … Daher bin ich.“ S. Bräuer, „Luthers Beziehungen zu den Bauern“, in: H. Junghans (Hg.), Leben und Werk Martin Luthers von 1526 – 1546, 2 Bde., Berlin, 1983, 457– 472 (Anm.: 875 – 882), hier: 461. Vgl. die Registereinträge zu Bauer: WA 69,259 – 262. – Gemeiner Mann: WA 70,394. – agricola: WA 64,84. – paganus: WA 67,130. – rusticus: WA 67,747– 749. S. Bräuer, „Luthers Beziehungen zu den Bauern“, 461. WA 1,502,27– 29 (Druck 1518). S. Bräuer, „Luthers Beziehungen zu den Bauern“, 470.
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tiven Erfahrungen. Dennoch kann von einem „regelrechten Bruch in Luthers Verhältnis zu den Bauern“²⁴ nicht gesprochen werden. Das ergiebigste Reservoir bieten die Tischreden als Quellenbasis für Luthers Äußerungen über die Bauern ab 1526, dazu tritt der Briefwechsel mit einigen Belegen; am häufigsten werden die Bauern in seinen Predigten erwähnt. In den publizierten Bibelauslegungen sind wohl polemische Äußerungen Luthers gegen die Bauern meist getilgt worden:²⁵ „Neben vielen harten Worten gegen die Bauern (vor allem Undankbarkeit gegenüber dem Evangelium) trifft man etwas häufiger als in anderen Quellengattungen auch auf verständnisvolle Bemerkungen“.²⁶ In den sonstigen Druckschriften, Erbauungsschriften oder theologischen Lehrschriften tritt der Bauer verhältnismäßig selten in Erscheinung, in den Streitschriften figuriert der Bauer als Exempel, in der kleinen Gattung der antiklerikalen Pasquille sind „gewisse Berührungspunkte mit der Bauerndarstellung in der frühen Flugschriftenpolemik“²⁷ zu erkennen.
1.7 Luthers Haltung im Bauernkrieg Von den Zeitgenossen wurde der Bauernkrieg überwiegend als „Aufruhr des gemeinen Mannes“ bezeichnet. Die im März 1525 verfassten Zwölf Artikel der oberschwäbischen Bauern,²⁸ die in zwei Monaten mit 28 Auflagen rasch weit verbreitet waren, zogen soziale Konsequenzen aus der reformatorischen Predigt. Geographisch reichte der Aufstand in einem großen Teil des Reiches vom Trentino bis nach Thüringen sowie von Salzburg und Tirol bis ins Elsass und die Pfalz. Verbunden war der Aufstand mit der Einnahme von Adelssitzen und der Besetzung vieler Klöster, die teilweise auch in Brand gesetzt wurden. Die Bauern wurden schließlich in vier regionalen Schlachten von den Fürsten besiegt. Diese Ereignisse sind namengebend für den „Bauernkrieg“ geworden. Die von den Bauern approbierten Artikel wurden unter Berufung auf Bibelstellen legitimiert, worin sich ihre „enge Verknüpfung mit der reformatorischen Bewegung zeigt“.²⁹ Die in Oberschwaben erarbeitete sogenannte Memminger Bundesordnung fasste die in mehreren regional strukturierten „Haufen“ agierenden Menschen zu einer Ebd., 471. Ebd., 460. Vgl. dazu Luthers Bemerkung, die seine Erfahrungen während der Visitation bündeln, dass, abgesehen von ein oder zwei frommen, alle Bauern in einem Dorf an den Galgen gehören (WA 31/II,732); WA 40/I,460,2– 3. – S. Bräuer, „Luthers Beziehungen zu den Bauern“, 460. Ebd., 460. „Die gründlichen und rechten Hauptartikel aller Bauernschaft und Hintersassen der geistlichen und weltlichen Obrigkeiten, von welchen sie sich beschwert vermeinen“, in: A. Laube und H.W. Seiffert (Hg.), Flugschriften der Bauernkriegszeit, Berlin, 1975, 26 – 31. P. Blickle, „Bauernkrieg“, in: V. Leppin und G. Schneider-Ludorff (Hg.), Das Luther-Lexikon, Regensburg, 2014, 100 – 104, hier: 100.
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„Christlichen Vereinigung“ zusammen. Solche nach kommunal-bündischem Verfassungsmodell organisierten Vereinigungen entstanden in Schwaben, Franken und im Elsass. Weil „Evangelium“ bzw. „reines Evangelium“ gewissermaßen „das Codewort der reformatorischen Bewegung“³⁰ gewesen war, gewannen die Bauern daraus die Überzeugung, aus dem „göttlichen Wort“ in Altem und Neuem Testament ließe sich sozialethisch eine gottgewollte und gerechte Ordnung als „göttliches Recht“ ableiten. Die Reformatoren Luther, Melanchthon, Zwingli und Zell wurden in einer gedruckten ‚Richterliste‘ gewissermaßen zu Schiedsrichtern berufen, um die bäuerliche Programmatik zu prüfen, denn die Autoren hatten ihre Korrekturbereitschaft auf der Basis des Evangeliums erklärt. Sollten Sie mit dem Evangelium weitere Forderungen begründen können, behielten sie sich auch die Ergänzung ihres Forderungskatalogs vor. Prominent stand an der Spitze die Forderung, die Predigt des reinen Evangeliums zu ermöglichen, was dem Schriftprinzip der Reformation entsprach. Gemäß Luthers Vorschlägen von 1523 nahmen sie in Anspruch, rechte oder falsche Lehre beurteilen zu können, weswegen sie als mündige Gemeinde verlangten, den Ortspfarrer nach dieser Norm selbst wählen oder absetzen zu können. Sie spitzten die von Luther dialektisch begründete „Freiheit eines Christenmenschen“ von dem dort auf die religiöse Dimension beschränkten Zusammenhang auf die Freiheit von Fremdbestimmung sozial zu, d. h. sie forderten Abmilderung der Folgen der Leibeigenschaft, ja sogar ihre Abschaffung. Hinzu kam die Forderung, die Verfügungsgewalt über den Zehnten zu erlangen und feudale Belastungen, die mit der Bibel nicht vereinbar schienen, zu beseitigen. Einige Bestimmungen zielten auf die institutionelle Stärkung der Gemeindeautonomie. Radikalere Bauernprogramme forderten eine umfassende Verchristlichung der Gesellschaft, die vor allem über das Gleichheitspostulat erreicht werden sollte.³¹ Thomas Müntzer wurde schließlich unter dem Zeichen des Regenbogens der theologisch-intellektuelle Anführer der Aufständischen in Thüringen. Seine mystisch-apokalyptisch geprägte Theologie und ihre Vergesellschaftung in Form des „Bundes der Auserwählten“ hat er mit der Aufstandsbewegung theoretisch und praktisch verbinden können.³² Damit hat Müntzer den gemeinen Mann als Volk Gottes identifiziert und die Schar der Erwählten (in deren Nähe er die armen Bauern rückte), die gemäß der Prophezeiung von Dan 7,27 die Gottlosen (Fürsten) auszurotten und danach die Macht in der Welt zu übernehmen hatten,³³ revolutionär – derart sind seine Ideen zum Teil rezipiert worden – legitimiert³⁴. Mehrfach äußerte sich Luther schriftlich zu den Forderungen und Vorgängen im Bauernkrieg. Die Ereignisse in Südwestdeutschland konnte er nur ungenau wahrnehmen und beurteilen, da die geographische Distanz eine direkte Erfahrung aus-
P. Blickle, „Bauernkrieg“, 101. E. Wolgast, „L’homme du commun“, 152. P. Blickle, „Bauernkrieg“, 101. E. Wolgast, „L’homme du commun“, 152; S. Bräuer und G. Vogler, Thomas Müntzer. Neu Ordnung machen in der Welt. Eine Biographie, Gütersloh, 2016, 338 – 345; 356 – 369. P. Blickle, „Bauernkrieg“, 101.
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schloss sowie den Informationsfluss zeitlich erheblich verzögerte. Luthers Stellungnahmen kamen sämtlich jeweils zu spät und haben direkt keinen Einfluss auf den Fortgang des Bauernkriegs ausgeübt, allerdings waren sie nach dem Sieg der Fürsten über die Bauern in mehrfacher Hinsicht folgenreich. Erstmals nahm Luther Ende April 1525 Stellung zu den zwölf Artikeln in seiner Schrift „Ermahnung zum Frieden auf die zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben“.³⁵ Luther kritisiert beide Seiten in diesem Konflikt, weil sie jeweils gegen göttliches Gebot handelten.³⁶ Weil die Fürsten und Herren, diesen wendet er sich bewusst zuerst zu, das Evangelium unterdrücken und den gemeinen Mann schinden, wirft ihnen Luther eine Mitschuld am Aufruhr vor. Bestimmte Teile der bäuerlichen Forderungen seien berechtigt. Gott strafe durch die Bauern diese Herren, denen Luther ihre Willkürherrschaft (Tyrannei) und Verschwendungssucht drastisch vor Augen hält. Den Hauptakzent legt Luther allerdings auf die Frage nach der Legitimität der Forderungen und des gewalttätigen Aufruhrs der Bauern. Er, der immer die Sache Gottes zu vertreten meinte, „hatte wenig Verständnis für den Versuch einer gezielten Artikulation der Interessen eines Standes. Doch das führte ihn nicht dazu, die im Eigeninteresse formulierten Forderungen als der Sache nach illegitim abzuweisen“.³⁷ Luther hat aber keinen Augenblick daran gedacht, diesen Aufstand zugunsten der Reformation zu instrumentalisieren. Im Gegenteil: Er lehnt den Aufstand prinzipiell und theologisch ab, weil die Bauern seiner Meinung nach die christliche Freiheit fehlinterpretiert hätten,³⁸ sie für ihre eigennützigen weltlichen Ziele missbrauchten,³⁹ damit die Aussagen des Evangeliums
WA 18,291– 334. WA 18,329,18 – 25;29: „WEyl nu, lieben herren, auff beyden seytten nichts Christlichs ist, […] sondern beyde, herrn und bawrschafft, umb Heydenisch odder welltlich recht und unrecht und umb zeytlich gut zu thun habt, Dazu auff beyden seyten wider Gott handelt und unter seynem zorn stehet, wie yhr gehoert habt, So lasst euch umb Gottes willen sagen und raten und greyfft die sachen an, wie solche sachen anzugreyffen sind, Das ist mit recht und nicht mit gewallt noch mit streyt, Auff das yhr nicht eyn unendlich blutvergiessen anrichtet ynn Deutschen landen. […] Yhr herren habt widder euch die schrifft“. V. Leppin, Martin Luther, Darmstadt, 2006, 230. WA 18,301,32– 35: „Erstlich, lieben brueder, yhr fueret den namen Gottes und nennet euch eyne Christliche rotte odder vereynigung und gebt fur, yhr woellet nach dem goettlichen recht faren und handeln. Wolan, so wisset yhr ia auch, das Gottes name, wort und titel soll nicht vergeblich noch unnuetze anzogen werden“. WA 18,314,30 – 35: „Aber den Christlichen namen, den Christlichen namen, sage ich, den lasst stehen und macht den nicht zum schanddeckel ewrs ungedultigen, unfridlichen, unchristlichen furnehmens“. WA 18,324,35 – 36: „was sind myr das fur Christen, die umbs Evangelion willen reuber, diebe und schelcke werden und sagen darnach, sie sind Evangelisch?“. WA 18,303,19 – 22; 30 – 32; 34– 304,19: „Wie kuendet ihr doch fur diesen Gottes spruechen und rechten uber, die yhr euch rhuemet, goettlichem recht nach zu faren und nemet doch das schwerd selbs und lehnet euch auff widder die oberkeit von Gotts recht geordenet? […] Das die oberkeit boese und unrecht ist, entschuldigt keyn rotterey noch auffrur, Denn die bosheyt zu straffen, das gebuert nicht eym iglichen, sondern der welltlichen oberkeyt, die das schwerd furet […] So gibts auch das natuerliche und aller wellt recht, das niemand solle noch muege seyn eygen richter seyn, noch sich selbs rechen […] Nu muegt yhr ia nicht leucken, das ewer auffrur sich dermassen hellt, das yhr euch selbs zu richter
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verfälschten und der evangelischen Bewegung schadeten.⁴⁰ Abschließend appelliert er an beide Seiten, die Gewalt zu beenden und den friedlichen Austrag durch Verhandlungen anzustreben.⁴¹ Ende April bis Anfang Mai 1525 war Luther im Mansfelder Land und Thüringer Gebieten unterwegs. Hier konnte er die revolutionäre Stimmung wahrnehmen, versuchte vergeblich mittels Ansprachen dämpfend zu wirken, und wurde durch die Nachrichten über die gewaltsame, kriegerische Entwicklung unter Beteiligung mehrerer ‚Haufen‘ von Bauern, aber auch durch die verzagte Haltung des im Sterben liegenden Kurfürsten Friedrich und seines Bruders, Herzog Johann, beunruhigt. Anfang Mai ergänzte Luther seine erste Stellungnahme durch den Anhang „Wider die stürmenden Bauern“. Dieser erschien auch als Separatdruck unter dem Titel „Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern“.⁴² Deren Einsatz von Gewalt erschien Luther nun die unaufrichtigen Absichten der Bauern zu beweisen, die sich ursprünglich erboten hatten, sich durch Argumente aus der heiligen Schrift belehren zu lassen. Er wirft den Bauern vor, sich gegen ihre rechtmäßigen Herren aufzulehnen, als öffentliche Straßenräuber und Mörder zu rauben und zu plündern, und dies sogar mit dem Evangelium zu rechtfertigen. Angesichts dieser Situation ist jeder, nicht nur die Oberkeit, verpflichtet, dem Aufruhr entgegenzutreten. „Darum soll hier zerschmeißen, würgen und stechen heimlich oder öffentlich, wer da kann, und daran denken, dass nichts Giftigeres, Schädlicheres, Teuflischeres sein kann als ein aufrührerischer Mensch. Wie wenn man einen tollwütigen Hund totschlagen muss: schlägst du nicht, so schlägt er dich und ein ganzes Land mit dir“.⁴³ Nach Luthers
macht und euch selbs rechen und kein unrecht leyden woellt, Das ist nicht allein widder Christlich recht und Euangelion, sondern auch widder natuerlich recht und alle billickeyt.“ WA 18,313,32– 34: „Nu fallet yhr myr dreyn, woellet dem Evangelio helffen und sehet nicht, das yhrs damit auffs aller hoehest hyndert und verdruckt.“ WA 18,332,30 – 35: „Sehet euch fur, lieben herren, und seyt weyse. Es gillt euch allen beyden, Was hilffts euch, das yhr euch selbs ewiglich und mutwilliglich verdampt und dazu eyn wuost und zerstoeret bluetig land hinder euch ewern nachkomen lasst, So yhr der sachen bey zeyt wol besser radten kuend durch busse gegen Gott und freundlichen vertrag odder willigem leyden fur den menschen?“. WA 18,357– 361. M. Luther, Ausgewählte Schriften, Bd. 4, Frankfurt/M. 1982, 139. Eingerahmt von folgenden Originalzitaten: WA 18,358, 2– 6;10 – 23: „ Zum andern, das sie auffrur anrichten, rauben und plundern mit frevel kloster und schlosser, die nicht yhr sind, da mit sie, als die offentlichen strassen reuber und morder alleyne wol zwyffeltig den tod an leib und seele verschulden, […] denn auffrur ist nicht eyn schlechter mord, sondern wie eyn gros feur, das eyn land anzundet und verwustet, also bringt auffrur mit sich eyn land vol mords, blutvergissen und macht widwen und weysen und verstoret alles, wie das allergrossest ungluck. Drumb sol hie zuschmeyssen, wurgen und stechen heymlich odder offentlich, wer da kan, und gedencken, das nicht gifftigers, schedlichers, teuffelischers seyn kan, denn eyn auffrurischer mensch, gleich als wenn man einen tollen hund todschlahen mus, schlegstu nicht, so schlegt er dich und eyn ganz land mit dyr. Zum dritten, das sie solche schreckliche, grewliche sunde mit dem Evangelio decken, nennen sich Christliche bruder, nemen eyd und hulde und zwingen die leutte, zu solchen greweln mit yhnen zu halten, da mit sie die aller grosten Gottslesterer und schender seynes heyligen namen werden und ehren und dienen also dem teuffel
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Auffassung ist Aufruhr gegen Gottes Willen und göttliche Ordnung, weswegen die Aufständischen ihr Seelenheil gefährdeten, mehr noch, im Begriff stünden, dieses zu verwirken. Denn die Taufe macht nicht äußerlich frei, sondern die Seelen.Wer jetzt als Fürst, als göttlich legitimierte Ordnungsmacht, mit Sanktionen zögert, verweigert seine Aufgabe (Amt).⁴⁴ Noch schärfer konnte Luther formulieren angesichts der Nachrichten, dass die Bauernhaufen, also die bewaffneten, marodierenden Gruppen der Aufständischen, nicht nur Freiwillige angeworben, sondern auch zögernde Männer zur Teilnahme am Aufstand genötigt hätten. Weil die Bauern unter Anwendung von Zwang auch deren Seelenheil gefährdeten, müsse nun die Obrigkeit mit gutem Gewissen einschreiten: Die Oberkeit müsse– unter Einsatz des Lebens, und damit eventuell als Märtyrer – diese Mitläufer retten: Darum, liebe Herren, erlöset hier, rettet hier, helft hier! Erbarmet euch der armen Leute! Steche, schlage, würge hier, wer da kann. Bleibst du darüber tot – wohl dir! Einen seligeren Tod kannst du niemals erreichen; denn du stirbst im Gehorsam gegen das göttliche Wort und den göttlichen Befehl Röm 13 und im Dienst der Liebe, um deinen Nächsten zu erretten aus der Hölle und aus den Fesseln des Teufels. So bitte ich nun: Es fliehe weg von den Bauern, wer da kann, wie vom Teufel selbst! […] Dünkt das jemanden zu hart, der bedenke, dass Aufruhr untragbar ist und dass jede Stunde die Zerstörung der Welt zu erwarten sei.⁴⁵
Diese dramatische Schlusspassage kann zwar nicht als Beleg von Luthers Fürstendienerei interpretiert werden, lässt sich aber aus dem „apokalyptischen Grundgefühl“⁴⁶ Luthers erklären.
unter dem scheyn des Evangelij“, steht das im Haupttext genannte Zitat – im Anmerkungstext fett markiert – in WA 18,358,14– 18. WA 18,361,1– 5; 12– 13: „Denn eyn Fuerst und herr mus hie dencken, wie er Gottes amptman und seyns zorns diener ist Ro. 13, dem das schwerd uber solche buben befolhen ist. Und sich eben so hoch fur Gott versuondigt, wo er nicht strafft und weret und seyn ampt nicht volfuoret, als wenn eyner moerdet, dem das schwerd nicht befolhen ist, […] So soll nu die oberkeit hie getrost fort dringen und mit gutem gewissen dreyn schlahen“. WA 18,361,7– 11; 16 – 17; 24– 29; 33 – 35: „Am ende ist noch eyne sache, die billich soll die oberkeyt bewegen, Denn die bawren lassen yhn nicht benuegen, das sie des teuffels sind, Sondern zwingen und dringen viel frumer leute, die es ungerne thun, zu yhrem teuffelisschen bunde und machen die selbigen also teylhafftig aller yhrer bosheyt und verdamnis, […] Nu solcher gefangener unter den bawrn sollten sich die oberkeyt erbarmen, […] Drumb, lieben herren, loset hie, rettet hie, helfft hie, Erbarmet euch der armen leute, Steche, schlahe, wuorge hie, wer da kan, bleybstu druober tod, wol dyr, seliglichern tod kanstu nymer mehr uberkomen, Denn du stirbst ynn gehorsam goettlichs worts und befehls Ro. am 13. und ym dienst der liebe, deynen nehisten zurretten aus der hellen und teuffels banden. So bitte ich nu, flihe von den bawren, wer da kan, alls vom teuffel selbs. […] Dunckt das yemand zu hart, der dencke, das untreglich ist auffruhr, und alle stuende der wellt verstoerung zu warten sey.“ M. Greschat, „Luthers Haltung im Bauernkrieg“, in: Archiv für Reformationsgeschichte 56, 1965, 31– 47, hier: 33.
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Wallmann hat mit guten Gründen Luthers Nachdruck des Weingartener Vertrags vom 22. April 1525, den dieser mit einer Vorrede und einer abschließenden Ermahnung herausgab,⁴⁷ zeitlich unmittelbar anschließend an die Abfassung der Schrift gegen die Rotten datiert. Luther hat ebenso wenig wie die schwäbischen Bauern den Trick dieser Abmachung durchschaut und plädierte analog zum Vertrag in Württemberg für eine friedliche Lösung auch in Thüringen. Er erneuerte zwar seine Kritik an den Bauern, appellierte aber an sie, eine friedliche und vertragliche Lösung herbeizuführen, um die Sünde zu beenden und ihr Seelenheil zu retten. Schließlich kommentierte Luther den Ausgang der Schlacht bei Frankenhausen (15. Mai 1525): Er deutet die Niederlage der Müntzer folgenden Bauern als ein Gottesgericht. Er identifiziert Thomas Müntzer als falschen Propheten und drängt die Bauern zu Frieden und Gehorsam. Umgekehrt wendet er sich an die Fürsten und fordert sie auf, den Bauern, die sich ergeben hatten, Gnade zu erweisen und nicht den militärischen Sieg zu missbrauchen.⁴⁸ Luthers zwar – im Blick auf seine Vorstellungen der Ordnungsfunktion von Oberkeit – in sich stringenten, aber rabiaten und unbarmherzigen Stellungnahmen zum Aufstand des gemeinen Mannes haben die Zeitgenossen entsetzt und irritiert, selbst wenn sie seine Hochschätzung der ständischen Ordnung und seine theologische Obrigkeitslehre prinzipiell billigten. Der Mansfeldische Rat Johann Rühel resümierte die Stimmung: „so ist es doch vielen euren günstigen seltsam, das von euch das würgen ohn Barmherzigkeit den Tyrannen und daß sie daraus Märtyrer werden können, zugelaßen, und wird offentlich zu Leipzigk gesagt, dieweil der churfürst gestorben, ihr fürchtet der Haut“.⁴⁹ So wurde ihm vor allem von altgläubiger Seite vorgeworfen, eine ursächliche Mitschuld am Aufstand zu tragen, ja, sogar doppelzüngig einerseits die Bauern aufgestachelt zu haben und opportunistisch – angesichts der absehbaren und faktischen Niederlage der Bauern – sich wieder bei den Fürsten eingeschmeichelt (denunziert als „Fürstenknecht“) zu haben.⁵⁰ Beides entsprach nicht der Wirklichkeit. WA 18,336 – 343: Vertrag zwischen dem löblichen Bund zu Schwaben und den zwei Haufen der Bauern vom Bodensee und Allgäu. – Johannes Wallmann, „Ein Friedensappell – Luthers letztes Wort im Bauernkrieg“, in: D. Henke et al. (Hg.), Der Wirklichkeitsanspruch von Theologie und Religion. Die sozialethische Herausforderung, Tübingen, 1976, 57– 75. WA 18,367– 374: Eine schreckliche Geschichte und ein Gericht Gottes über Thomas Müntzer. WA.B 3,515,64– 68, zitiert nach V. Leppin, Martin Luther, 235. So warfen in der Kontroverse zwischen Alt- und Neugläubigen beispielsweise Cochläus und Sylvius ihrem Gegner Luther Inkonsequenz und Aufstachelung zum Aufruhr vor: [J. Cochläus, P. Sylvius]: „Antwort zu Luthers Buch Wider die stürmenden Bauern“, in: A. Laube (Hg.), Flugschriften gegen die Reformation (1505 und 20 – 1530), Bd. 1, Berlin, 2000, 454– 463, hier: 454– 455; 458: [454– 455] „Es hat Mar. Luther von bawern in kuertz drey buchlin lassen ausgehen, unter welchen das erste den anderen zweyen ane seer vielen orten zuwidder ist, wie ich wieder das ander buechlein hab angetzeigt. Das aber auch gemeiner man mercke wie felschlich er die zungen nach dem glueckswind wende im letzsten buechlein, nach dem die bawern geschlagen sint, wil ich hie vertzelen etzliche seiner worte aus dem ersten buechlein, welchs er geschriben hat, ehe dann die bawern verloren haben. [… 455] Diße und dergleichen vilmehr wort hat Luther geschriben im ersten buechlein, wie er aber hernach in zweyen buechlein widder das arm bawers volck getobt und den fürsten geheuchelt hat und doch darneben auch wider die fürsten heimliche gifft ausschüttet, ist gut zu mercken aus seinen ey-
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genen Worten. […]“ – Moderne Fassung [U.W.]: „Es hat Martin Luther zu den Bauern in kurzer Zeit drei Büchlein ausgehen lassen, unter welchen das erste den anderen zweien an sehr vielen Stellen widerspricht, wie ich das bereits gegen das zweite Büchlein veröffentlicht habe. Dass aber auch der gemeine Mann merke, wie falsch er im letzten Büchlein die Zunge nach dem Glückswind wende, nachdem die Bauern geschlagen waren, deswegen will ich hier erzählen etliche seiner Worte aus dem ersten Büchlein, welches er geschrieben hat, ehe die Bauern verloren hatten. [… 455] Diese und dergleichen viel mehr Worte hat Luther geschrieben im ersten Büchlein, wie er aber hernach in zwei Büchlein wider das arme Bauersvolk getobt und den Fürsten geheuchelt hat und doch daneben auch wider die Fürsten heimliches Gift ausschüttet, ist gut zu merken aus seinen eigenen Worten. […]“– [Peter Sylvius verweist auf die Zitatzusammenstellung über Luthers Obrigkeitslehre bei Hieronymus Emser, Auf Luthers Gräuel wieder die heilige Stillmeß] [458] „wie, wo und mit welchen worten Luther in seinen buechern die geistlich und weltlich oberckeit mit yhrem gesetz, gebot, regiment und gehorsamleystung uffs hoechste vercleinet und verlestert, verachtet und verworffen und das gemein volck zu widerspenickeit und auffrur, zu sturm und empoerung ermanet, angereitzet, geschriben und getriben hat“. – Moderne Fassung [U. W.] „wie, wo und mit welchen Worten Luther in seinen Büchern die geistliche und weltliche Obrigkeit mit ihrem Gesetz, Gebot, Regiment und Gehorsam Leistung aufs höchste verkleinert und verlästert hat, verachtet und verworfen und das gemeine Volk zu Widerspenstigkeit und Aufruhr, zu Sturm und Empörung ermuntert, aufgereizt, geschrieben und getrieben hat.“ – Dagegen nahm der Eisenacher Reformator Jakob Strauß eindeutig Stellung: [Jakob Strauß]: „Christliche und wohlgegründete Antwort und herzliche Ermahnung auf das ungütige Schmachbüchlein Dr. Johannes Cochläus’ von Wendelstein über den Aufruhr“, 380 – 404, hier 389 und 400: „Und sagen für und für, die newe evangelische predig sei eyn ursach unfridens und auffruor. Es wirt sich aber gar anders finden, wo Gott den großmechtigen regierenden herrschaften das hertz wolte verleihen, das sie den aller schadehaffsten feynd, den eygen nuotz, mitt hoechstem ernst würden angreifen. Dann wo eyn jetlicher frommer fürst, das gemeyne recht dem armen als dem reichen, one verderblichen verzuog laßt widerfahren, und haltet mit starcker gewaoltiger hand ob seinen armen gehorsamen underthonen, damit sie von niemans mit frevel und wider billigkeyt beschwert werden, und legt ab allen wucher und schantlichen fürkauff, auch strafft von stund an (one auffmercken der person) die frevelen und eygennützigen, wie ist es dann müglich, das inn eym solchen loeblichen fürstenthumb nit frid und glück verharrlich bleiben würd, ja wann auch der Teufel selb dawider predig?“ – Moderne Fassung [U.W.]: „Und sagen für und für, die neue evangelische Predigt sei eine Ursache von Unfrieden und Aufruhr. Das wird sich aber ganz anders darstellen, wo Gott den mächtigen regierenden Herrschaften das Herz wollte verleihen, wenn sie den allerschädlichsten Feind, den Eigennutz, mit höchstem Ernst angreifen würden. Denn wo ein jeglicher frommer Fürst das allgemeine Recht dem Armen wie dem Reichen ohne verderblichen Verzug widerfahren lässt, und schützt mit starker gewaltiger Hand seine armen gehorsamen Untertanen, damit sie von niemandem mit Frevel und unangemessenem Verhalten beschwert werden, und beendet allen Wucherzins und schändliche Marktmanipulation, auch straft ab sofort (ohne Rücksicht der Person) die Frevler und Eigennützigen, wie ist es dann möglich, dass in einem solchen löblichen Fürstentum nicht Frieden und Glück beharrlich bleiben würden, ja wenn auch der Teufel selbst dagegen predigte?“ [400] „Nach dem aber die armen elenden leut inn der auffruor Gottes wort mit ungedult und allem onfuog geschmecht, und etliche falsch prediger sie under dem Schein evangelische ler gesterckt und gefürdert haben, darumb Gottes ungemeßne güttigkeyt, zuo erhalten sein Wort on allen deckmantel der boßheyt, dieselben verfürt mit den pauren eilens mit der that hat zu grund lassen gan. So haben nu die anhetzer (als sie meinen) gewunnen, und wer des evangelions gedenckt, der ist aufrürisch, und nur gehenct, ertrenckt oder sunst erwürgt, man bedarff keyns rechtmessigen proceß mer, die Prediger, die nit die alte irrung loben und preisen, die sind alle auffrürig; wie D.Wendelsteyns büchlin erfordert, flux mit dem schwert uber sie, das man sie inn keynen weg zu verhoere und antwort lasse kommen […]“ –
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Luther verteidigte allerdings seine Position nachträglich im Sommer 1525 mit dem „Sendbrief von dem harten Büchlein wieder die Bauern“.⁵¹ Mit Hinweis auf die Stringenz seiner Obrigkeitslehre rekapitulierte er seine Position und verwies darauf, dass im Reich der Welt das Schwert mit Strenge regiert. Wenn die Oberkeit die Unschuldigen vor Gewalt schützt, ist ihre Strenge Ausdruck der Barmherzigkeit. Außerdem habe er differenziert: Die Fürsten sollten unterscheiden zwischen halsstarrigen Bauern und solchen, die sich ergeben hätten. Die Strafe solle angemessen sein: Gegenüber letzteren sollten die Fürsten Milde walten lassen, und ihre Macht nicht missbrauchen. „Was wohlmeinende Freunde vielleicht erwartet hatten, wurde daraus nicht: keine Zurücknahme, kein Einlenken, nur ein trotziges Beharren auf seiner Position“.⁵² Wertungen von Luthers Äußerungen – sowohl die zeitgenössischen des 16. Jahrhunderts als auch in der aktuellen Forschung – fallen äußerst unterschiedlich aus. Während Kohnle zwar bedauernd, aber eher moderat formuliert: „Verständnis für die Nöte der Bauern äußerte er [Luther] aber auch jetzt nicht, sondern ließ die Gelegenheit verstreichen, ein deutliches Wort der Versöhnung zu sagen“,⁵³ kommt Blickle unter Rückgriff auf Ernst Troeltsch zu einem scharfen Urteil über Luthers mangelnde Stringenz in seinen Äußerungen zwischen 1520 und 1525 und deren einseitige Akzentuierung und Fokussierung auf die Rezeption von Röm 13: „Nicht theologische Schlüssigkeit und Konsistenz prägen Luthers Traktat [Ermahnung auf die zwölf Artikel, U. W.], sondern seine Obrigkeitskonzeption (Röm 13,1), die als von Gott gestiftete Notordnung gegen die Erbsündhaftigkeit des Menschen (natura corrupta) jeden Widerstand verbietet“.⁵⁴ Leppin erweitert diese Urteile mit einer psychologischen Deutung: „Es scheint doch so, dass insbesondere die neuerliche Konfrontation mit Thomas Müntzer und die Realisierung der von diesem ohnehin schon stets erwarteten aufrührerischen Gewalt Luther jedes Maß innerweltlicher Beherrschung und Selbstbeherrschung verlieren ließen“.⁵⁵
Moderne Fassung [U.W.]: „Nachdem aber die armen elenden Leute während des Aufruhrs Gottes Wort mit Ungeduld und allem Unfug geschmeckt, und etliche falsche Prediger sie unter dem Schein evangelischer Lehre (darin) bestärkt und gefördert haben, darum hat Gottes unermessliche Güte, um sein Wort ohne allen Deckmantel der Bosheit zu erhalten, dieselben mit den Bauern Verführten faktisch schnell zugrunde gehen lassen. So haben nun die Hetzer (nach ihrer Meinung) gewonnen: wer des Evangeliums gedenkt, der ist aufrührerisch; deshalb nur gehängt, ertränkt oder sonst erwürgt, man bedarf keines rechtmäßigen Prozesses mehr, die Prediger, welche nicht den alten Irrtum loben und preisen, die sind alle aufrührerisch; wie D. Wendelsteins Büchlein fordert, flugs mit dem Schwert über sie, dass man sie auf keinen Fall verhöre und zu Wort kommen lasse […]“. WA 18,384– 401. V. Leppin, Martin Luther, 235. A. Kohnle, „Luther und die Bauern“, in: A. Beutel (Hg.), Luther-Handbuch, Tübingen, 2005, 134– 139, hier: 137. P. Blickle, „Bauernkrieg“, 102. V. Leppin, Martin Luther, 235.
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2 Weiterentwicklung nach 1525 2.1 Luthers Haltung zu den Bauern nach dem Bauernkrieg Als wesentliche Faktoren für den Aufruhr des gemeinen Mannes hatte Luther die Kombination von antievangelischer und ökonomischer Repression erkannt. Dabei war ihm aber entgangen, dass die evangelische Predigt zumindest indirekt den Freiheitsdrang in den unterprivilegierten Schichten gestärkt hatte. Luthers Verhältnis zu den Bauern blieb nach deren Niederlage 1525 distanziert; sein Bild des Bauern ist danach tendenziell eher negativ. Wie bereits oben notiert, trat die Erfahrung im Bauernkrieg und das Bild der Bauern in Luthers Äußerungen nach 1525 stärker hervor; besonders die Tischreden und Predigten hat S. Breuer systematisch ausgewertet.⁵⁶ Luther teilte die traditionelle, zeitgenössisch weitverbreitete Vorstellung, der „Bauer“ sei ungebildet, gering und schlicht. Als Teil des dritten Standes waren seiner Auffassung nach dem Bauern innerhalb der göttlichen Ordnung ein fester Platz und bestimmte Funktionen zugewiesen. Er kritisierte an ihnen den bäuerlichen Wucher bei der Preisgestaltung von Nahrungsmitteln und mangelnde Bereitwilligkeit, die Pfarrer zu besolden, was er als Verachtung des Wortes Gottes interpretierte.⁵⁷ Sein Bauernbild war „überwiegend von Illusionslosigkeit und Enttäuschung geprägt“.⁵⁸ Seiner Einschätzung nach hatte der aus eigennützigen Motiven gespeiste Aufstand der Bauern der Reformation besonders deswegen geschadet, weil die altgläubige Restauration gestärkt worden war. Vehement bemühten sich Luther und seine Anhänger, den Vorwurf intensiver Verquickung von reformatorischer Bewegung und sozialem Protest zurückzuweisen und die reformatorische Predigt aus diesem brisanten Kontext zu lösen. Luther erlebte den Bauernkrieg als Anfechtung und Krise, blieb aber dennoch in der Rückschau von seinem Agieren und seiner Position überzeugt, wie beispielsweise seine Predigt am zweiten Advent (5. Dezember) 1528 belegt, in der er erneut die Selbstjustiz des gemeinen Mannes kritisierte: Gott will lieber leiden die Oberkeit so unrecht thut, denn den Poefel so rechte sache hat. Ursach ist die: Denn wenn der Herr Omnes das schwerd fueret und krieget unter dem titel und schein, das er recht thue, da gehets ubel zu. […] Wenn aber du Herr sein wilt und ein ander auch Herr sein will, so gehen die Koepffe alle weg und jungfrawen und frawen werden geschendet. Auff das nu solchem verkomen werde, saget Christus, das Petrus mit seinem besten schein des Rechtes unrecht habe, und widerumb das Pilatus und die gottlosen Phariseer mit irem boesen Unrechten fuernemen recht haben, was das Schwert und die Gewalt betrifft. Darumb soellen wir ehe Gewalt und Unrecht leiden denn das Schwert nehmen on Befelh und wider boese Oberkeit streiten. Es war ein grosser Schein, so die Bawern hatten in der Auffruhr vor vier jaren. Denn sie sagten: Ey Wer will das leiden? Die Fuersten regieren nicht recht, Wir muessen warlich wehren. Aber dahin
S. Bräuer, „Luthers Beziehungen zu den Bauern“, 462– 472. WA 28,627,10 – 628,8; WA.B 5,55,16 – 19. A. Kohnle, „Luther und die Bauern“, 138.
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kunden sie nicht komen, das sie gedacht hetten: Ists uns auch befolhen das Unrecht an den Fuersten zu straffen? […] Denn ob wol ein Bawer in seinem hause unrecht thut, kann ers dennoch nicht leiden, das ein knecht zufare und des Bawern Weib und Kind wider jn verteidinge. Er sey auch wie unrecht er wolle. Da kann ein jeder sehen, das es dem knecht nicht befolhen ist das unrecht an seinem Herrn im hause zu straffen. Aber wens ein andern angehet, so duenckt einen jeden, das es recht und gut sey zum Schwerd zugreiffen, auff das man nicht leiden duerffe. So sind wir feine gesellen: wenn wirs andern thun, so sols recht sein. Wenn aber andere mit uns eben desselbigen Rechts spielen, so mus es unrecht sein.⁵⁹
Noch jahrzehntelang verfolgte der „tumultus rusticorum“ sowohl die evangelischen Theologen wie auch die evangelischen Obrigkeiten. Luther verabschiedete sich bedauerlicherweise nach 1525 von seinem Konzept, die Gemeindekompetenz im Aufbau und bei der Leitung der Kirche hoch zu schätzen und zu fördern. Er misstraute nach den Erfahrungen im Bauernkrieg dem unkontrollierbaren „Herrn Omnes“, weswegen er beim Aufbau des evangelischen Kirchenwesens sich den weltlichen Obrigkeiten in Reichsstädten und Territorien zuwandte und sie unterstützte. Magistrat oder Fürst traten nun im „landesherrlichen Kirchenregiment“ in die Funktion eines „Notbischofs“ ein: An die Stelle mündiger, selbstverantwortlicher Laien und Einzelgemeinden rückte die durch Visitationen initiierte und kontrollierte Institution „Landeskirche“, mit dem jeweiligen Landesherrn/der Oberkeit als politische und administrative Leitung dieser Kirche.
2.2 Soziale und politische Folgen des Bauernkriegs 2.2.1 Die Folgen des Bauernkriegs auf die Haltung der Fürsten Für die Entscheidung eines Landesherrn während der frühen Fürstenreformation der 1520er Jahre war bedeutsam, in welchem Umfang das jeweilige Herrschaftsgebiet bereits von der reformatorischen Bewegung erfasst worden war. Nicht zuletzt war die Persönlichkeit des Landesfürsten bzw. der Landesfürstin, wenn sie als engagierte Laientheologen ihre im wesentlichen kontingenten Entscheidungen eigenständig zu begründen in der Lage waren, ausschlaggebend, sofern die reichspolitische Konstellation dem Fürsten das von ihm in Anspruch genommene Reformationsrecht (ius reformandi) erlaubte. Unter der Voraussetzung, dass bis zu einem angestrebten Konzil die Regelungen als vorläufige Zwischenlösung ausgegeben wurden, führten Albrecht von Brandenburg (für das Herzogtum Preußen), Johann von Sachsen (für das Kurfürstentum) und Landgraf Philipp (für Hessen) als erste die Reformation landesweit ein.⁶⁰ In anderen Landesherrschaften kam es erst aufgrund jahrelanger Entwicklun WA 28,245 – 254, Fassung P2 (Andreas Poach), hier: 250 – 252, Predigt zu Joh 18, 7– 11 am 2. Adventssonntag (5. Dezember 1528). E. Wolgast, Die Einführung der Reformation und das Schicksal der Klöster im Reich und in Europa, Gütersloh, 2014, 26 – 51.
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gen zur Einführung der Reformation. Im Unterschied zu den komplexen und spezifischen Aushandlungsprozessen der meisten Gemeinde- und Stadtreformationen „dominierte bei den fürstlichen Reformationen das Moment des obrigkeitlichen Oktrois“.⁶¹ Luther musste seinen Landesherrn – auf dem Hintergrund des Zusammenbruchs der Pfarrer- und Lehrerbesoldung – nachdrücklich zum Eingreifen mittels der Visitation ermuntern, „weyl sie dazu durch uns und durch die nott selbs, als gewislich von got, gebeten und gefodert wird“.⁶² Infolge der Visitationen setzten einige Territorien, wie zum Beispiel Kursachsen, Ansbach-Kulmbach oder Braunschweig-Lüneburg, normative Regelungen in Gestalt der Kirchenordnungen durch, welche die bereits vorhandenen pluriformen Erscheinungen der Reformation zu regulieren und zu uniformisieren suchten. Schließlich billigten Luther wie Melanchthon („De officio principum, quod mandatum Dei praecipiat eis tollere abusus Ecclesiasticos“ 1539) den Oberkeiten die Zuständigkeit und Kompetenz für beide Tafeln des Dialogs („utriusque tabulae“) zu, also nicht nur die Sanktionierung von Vergehen und Verbrechen gegen die Sozialethik, sondern auch die äußere Regelungskompetenz für die Kirche. Damit wurden die Landesfürsten – wenngleich ursprünglich nur als Übergangsregelung geplant – zu den wichtigsten Faktoren und Garanten der Einführung und Stabilisierung der Reformation in den Ländern des römisch-deutschen Reiches. Obwohl die Fürsten und Herren über die Aufständischen 1525 gesiegt hatten, blieben sie dauerhaft verunsichert. Das politische und soziale System blieb labil. Doch trotz der Niederlage der Bauern war den Obrigkeiten bewusst, dass sie nicht einseitig auf Repression setzen konnten. Der Reichstag von Speyer 1526 versuchte, in einer Doppelstrategie die Lage zu stabilisieren: Organisation gemeinsamer Solidarität sowie Berücksichtigung der Anliegen der Untertanen. Eine differenzierte und flexible Haltung fand keine Mehrheit, und so blieb der Reichsabschied allgemein gehalten: die Obrigkeiten sollten ihre Untertanen so behandeln, wie sie es mit ihrem Gewissen, mit dem göttlichen und natürlichen Recht sowie mit der Billigkeit vereinbaren könnten. Die Beschwerden des gemeinen Mannes waren damit dauerhaft vom Tisch, wogegen die nachfolgenden Reichstage die Warnungen vor Aufruhr und die Drohungen mit Repression unverändert wiederholten. So unbestimmt wie das Verhältnis zum gemeinen Mann entschied der Reichstag 1526 auch in der Religionsfrage, indem er – als dissimulierende Beschlussformulierung – die Verantwortungsformel einführte. Interpretierte man sie im Sinne des Wormser Edikts, musste die Reformation unterdrückt werden; interpretierte man sie unter dem Blickwinkel der Gewissensfreiheit, erlaubte sie die Festigung oder Einführung der Reformation. Lazarus Spengler nahm in diesem Sinn dazu Stellung.⁶³ Und die nachfolgenden Fürstenreformationen beriefen sich – legitimiert von den Reformatoren – ebenfalls darauf. T. Kaufmann, Geschichte der Reformation, 506. Wie WA. B 3; [Nummer 937, Luther an Kurfürst Johann am 31. Oktober 1525], 595,48 – 49. [L. Spengler], „Ein christlicher Ratschlag und Unterrichtung, wie sich alle Christen, Obere und Untertanen, verhalten sollen“, in: A. Laube (Hg.), Flugschriften vom Bauernkrieg zum Täuferreich (1526 – 1535), Bd. 1, 412– 432, hier: 412– 413.
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2.2.2 Die Lage der Bauern nach der Niederlage gegen die Fürsten In der Forschung wurden über viele Jahre die langfristigen Folgen des Bauernkriegs als katastrophal eingeschätzt. Seit den 1980er Jahren erarbeitete die Forschung eine sehr viel differenziertere Analyse. Die geschätzte Zahl der Toten wird zwischen 70 und 100.000 angegeben, was für die betroffenen Familien und Gemeinden einen Schock und ebenso viele Tragödien bedeutete. Teilweise wurden durch Strafzahlungen die Betroffenen ruiniert oder Haus und Hof verwüstet. Dennoch legten die meisten Herren, schon im eigenen Interesse an der fortbestehenden Leistungsfähigkeit ihrer Untertanen, die Höhe der Strafzahlungen maßvoll fest. Mancherorts wurden sogar die mit den Bauern abgeschlossenen Verträge respektiert. Zwar verfehlten die Bauern insgesamt ihr Ziel, die Gemeindeautonomie zu stärken, aber allgemein wurde die vor dem Aufstand bestehende Rechtslage meist unverändert beibehalten. Wenn die Bauern, wie in Tirol und Vorderösterreich sowie in den Hochstiften Salzburg oder Basel, verfassungsrechtlich als eigener Stand auf den Landtagen vertreten gewesen waren, blieb ihre Stellung erhalten. Selbst in den Städten, in denen sich der gemeine Mann erhoben hatte, erfuhr die Position der Zünfte und der unzünftigen Handwerker nur geringe Änderungen. „Auch auf der Ebene des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation änderte sich an der politischen Struktur durch den Bauernkrieg nichts Entscheidendes“.⁶⁴
2.3 Das Bild der Bauern in Luthers Predigten und deren Nachwirkung in der reformatorischen Dorfpredigt Während Luther Last und große Verantwortung der Oberkeit betonte, konnte er dazu kontrastierend – geradezu idealisiert – im bäuerlichen Leben sorgenfreie, paradiesische Zustände,⁶⁵ im Bauern zuweilen ein Gleichnis des Glaubens erblicken.⁶⁶ Manchmal war dies mit dem Hinweis auf die Dummheit und Engstirnigkeit der Bauern verbunden. Diese situationsbezogen unterschiedliche Wahrnehmung und ambivalente Haltung Luthers lässt sich auch an seiner jeweiligen Kritik ablesen. Sie wurde regionalspezifisch anverwandelt in der Dorfpredigt aufgegriffen und modifiziert fortgeführt.⁶⁷ Das Verhältnis Luthers und seiner Wittenberger Kollegen zum gemeinen
E. Wolgast, „L’homme commun“, 154. WA 28; 517,5 – 518,17 [ … „Sage mir, wie kann einer ein besser, rüglicher und friedlicher leben haben und füren, denn eines Bürgers oder Bauern leben?“]. – WA 28; 518, 12– 13: „Wie so? Die Bürger und Baur sitzen daheim sicher, hinter dem ofen, bey jrem Acker, hauß und hoff, das ire ist wol in gutem fride bewaret […]“. – WA 46; 505, 19 – 20: „Die baurn haben laborem, qui est eitel lust und paradisiacus labor“. WA 36; 125, 10 – 13. 36; 162,32– 163,8. ZAEKR 209-DA 175: Handschriftlicher Predigtband von Damasus Dürr (Predigt zu Epiphanias 1573), 284– 285: „Vonn denen ynn ſtedtenn, lernen darnach auch die Bawrenn, auff dörffernn. Die muſsenn
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Mann war schwierig und zwiespältig. Ob die Bauern so enttäuscht waren von Luther wie dieser von ihnen, lässt sich nur erahnen; eine prinzipielle oder dauerhafte Ablehnung der Reformation war damit nicht verbunden. Dementsprechend kam die obrigkeitliche Einführung der Reformation durch Magistrate und Fürsten in den nachfolgenden Jahren schließlich überwiegend der Erwartungshaltung der breiten Bevölkerung entgegen, selten wird nennenswerte Distanz, Resistenz oder nachdrücklicher Widerstand notiert.
ſich plagenn mit harter erbeyt, ſie haltenn ſchwere haushaltung, mit dem plug, mit akernn vnd ſeenn, das ein hausvater ſeyne generung onenn hülff ſchwerlich kann durchtreybenn. Dieſelbigenn laſsenn zumal wenig kinder auffwachſen ynn freyenn künſtenn, die ynn ſchulenn vnd ynn der kirchen kundtenn dienenn. Denn das muſt ir ſelbſt bekennen, ſeldenn iſt eyn Mann ynn eyner gantzenn gemeyn, der eynenn ſchuler aber priſteR zum Sonn hat, das ir euch mit denn irigenn ſollt behaltenn, ſondernn muſt frembdenn beruffenn, die ire ſchulmeyſter, kirchendieneR vnd pharherr werdenn. Solchs alles kompt auſs dem grund, das ir ewr generung vil höcher vnd beſser achtet, denn die ſeelenſelikeyt : Das iſt : Jr achtet eynenn Bawrenn edler, der euch hülfft generenn, vnd die güter ermehrenn, als eynen ſchuleR, der got dem hernn dienet, vnd denn weg zeygt, wie ein ieder ſoll ſelig werdenn. Drumb ſein alle hausveter, auff dörfernn vber eyne leyſtenn geſchlagenn“.
Giampiero Brunelli
Das Heilige Römische Reich und seine Reichstage, 1521 – 1546 Im Heiligen römischen Reich deutscher Nation gab es eine besondere Institution, die für die Entscheidung wichtiger Themen zuständig war, die die Gemeinschaft der 349 Reichsstände betrafen. Sie war es gewohnt, ermüdende Verhandlungen anzugehen, immer auf der Suche nach einem Kompromiss. Diese Institution war der Reichstag. Wie der Beitrag von Christopher Close¹ zeigt, musste sich die lutherische Reformation von Beginn an mit ihm auseinandersetzen. Es konnte nicht anders sein. In seinem radikalen Protest griff der Augustiner aus Erfurt zwar die christliche Theologie und Ekklesiologie in toto an. Er sprach jedoch aus dem Kurfürstentum Sachsen, einem der wichtigsten Stände des Reiches, und andere Fürsten und Städte waren sofort bereit gewesen, die Neuerungen seiner Lehre zu begrüßen. Daher waren die religiöse Einheit und die gesamte Ordnung des Heiligen Römischen Reichs stark gefährdet. Vor allem aus diesem Grund befasste sich der Reichstag mit Fragen des Glaubens und mischte sich nicht selten in doktrinäre Fragen ein. Auf der anderen Seite mussten sich am Ende auf der Suche nach einer Lösung für die konfessionelle Abspaltung auch die anderen beteiligten Protagonisten, Kaiser Karl V., sein Stellvertreter und späterer römischer König, Ferdinand von Habsburg sowie die römischen Päpste mit der Versammlung der Reichsstände auseinandersetzen. So wurde der Reichstag bis zum Ausbruch des Krieges gegen die reformierten Kurfürsten im Jahr 1546 einundzwanzigmal einberufen. Dazu kamen noch die Versammlungen des Kurfürstenkollegiums, eines der drei Kollegien, aus denen sich der Reichstag zusammensetzte (zusammen mit dem Reichsfürstenrat und dem Städterat), und die Versammlungen der Reichskreise, der Verwaltungsbezirke, in welche das Reich aufgeteilt war. Diese Zahlen sollten schon genügen, um die Vielschichtigkeit der Beteiligten in der Auseinandersetzungen um die Luther-Affäre von den zwanziger bis zu den vierziger Jahren des 16. Jahrhunderts zu betonen.
Übersetzung: Irene Askani. Vgl. den Beitrag von C. W. Close in diesem Band. https://doi.org/9783110498745-021
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1 Die ersten Reichstage nach Worms (1521 – 1526): Die institutionelle Schranke gegen die Verurteilung Luthers Der Verlauf des in Worms am 27. Januar 1521 eröffneten Reichstags machte es offensichtlich, dass die Berechnungen, die man in Rom gemacht hatte, nach denen eine päpstliche Exkommunikation und eine entschiedene exekutive kaiserliche Maßnahme der lutherischen Reform ein Ende gesetzt hätten, nicht nur falsch waren, sondern vor allem Roms vollkommene Unkenntnis der politisch-institutionellen Dynamiken des Reiches zeigte. Und in der Tat trat der Reichstag, sobald ihm das Wort erteilt wurde, wie alle repräsentativen europäischen Versammlungen des Mittelalters und der Frühmoderne, weder in gemäßigter noch unterwürfiger Weise auf. Zuerst legte der Reichstag dem Kaiser den langen Text Gravamina Nationis Germanicae vor, in dem er die schlechte Führung des kirchlichen Steuersystems auf deutschem Boden von Rom aus anklagte. Dann erreichte er, dass Luther, um auf dem Reichstag in Worms gehört zu werden, sicheres Geleit zugesichert wurde. Schließlich, nachdem Luther sich weigerte, seine Schriften zu widerrufen, versuchte der Reichstag eine Mediation, indem er veranlasste, dass Luther durch eine ad hoc zusammengestellte Kommission angehört wurde. Es muss betont werden, dass es sich auch bei Verlesung der Verurteilung am 25. Mai 1521 um ein vom Kaiser veranlasstes Edikt handelte, bei dessen Ausarbeitung der Reichstag in keiner Weise beteiligt war. Es unterschrieb dieses am 26. Mai nur der Kurfürst Joachim II. von Brandenburg, in der Privatgemächern Karls V., „consensu et nomine omnium“², als die Versammlung der Stände schon beendet war. Aus der Sicht der Rechtsordnung des Reichstages war also auch die Rechtmäßigkeit des Edikts von Worms keineswegs geklärt. Die Möglichkeit seiner Ausführung schien übrigens sofort unrealistisch. Nach der Abreise Karls V. aus Deutschland verurteilte das Reichsregiment, also der am 26. Mai 1521 eingerichtete stellvertretende Rat unter dem Vorsitz Ferdinands von Habsburg, mit Mandat vom 20. Januar 1522 die sich etablierenden Verstöße der Reformierten gegen die religiösen Bräuche – dies ohne jeglichen Verweis auf die bereits abgegebene Verurteilung und sogar unter der Annahme, dass zukünftige Räte oder Versammlungen der Reichsstände die zu dieser Zeit beanstandeten Veränderungen akzeptieren könnten. In diesem Rahmen wuchs die Hoffnung, dass man auf dem am 12. Februar 1522 in Nürnberg einberufenen Reichstag eine Lösung finden würde. Diese Gelegenheit wurde aber verpasst: Der am 26. März eröffneten Versammlung fehlte die nötige Beteiligung und das Thema Religion tauchte bei den Arbeiten der Versammlung nicht auf. Die Versammlung der Stände wurde Ende April geschlossen und auf den 1. September vertagt. Zit. in A. Kohnle, Reichstag und Reformation. Kaiserliche und ständische Religionspolitik von den Anfängen der Causa Lutheri bis zum Nürnberger Religionsfrieden, Gütersloh, 2001, 100.
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Explizit erwähnt wurde die religiöse Frage auch nicht im neuen Einladungsdokument. Dringender war die nötige Finanzierung der Maßnahmen, um der ottomanischen Bedrohung entgegen zu treten (Belgrad war im Sommer 1521 erobert worden). Jedoch machte sich im letzten Viertel des Jahres 1522 ein Komitee des Reichsregiments an die Arbeit. In diesem Komitee waren unter anderem der Erzbischof von Salzburg, Matthäus Lang und der Bischof von Trient, Bernhard von Cles, vertreten. Dieser Ausschuss hatte vor, einen Entwurf für zu treffende Maßnahmen zu verfassen, um diesen beim zukünftigen Reichstag vorzulegen, auf dem Luther auf Grundlage der Entscheidung des Papstes und des Kaisers der Ketzerei beschuldigt werden sollte. Tatsächlich wurde die Versammlung der Reichsstände am 17. November 1522 in Nürnberg mit einer zufriedenstellenden Teilnahme eröffnet. Nach den Diskussionen über den Krieg gegen die Türken, regte der päpstliche Nuntius, Francesco Chiericati, die Behandlung der religiösen Frage mit seinen Wortmeldungen am 10. Dezember 1522 und am 3. Januar 1523 vehement an. Er forderte zwar die Vollstreckung des Wormser Edikts, ließ aber auch die Anweisung von Papst Hadrian VI. vorlesen, welcher die Fehler des Klerus einräumte und indirekt eingestand, dass die Reformation nicht ganz unbegründet war. Die Diskussionen über die zu erteilende Antwort auf Chiericati erhitzten sowohl beim Reichsregiment wie auch auf dem Reichstag die Gemüter. Aus dem Reichstag wurde für diese Frage eine Sonderkommission ernannt. Daraus entstand am 15. Januar 1523 eine Stellungnahme, welche Grundlage für alle folgenden Entscheidungen dieser ersten Jahre war. Daraufhin erklärten die Stände ihren Beschluss, dem Papst und dem Kaiser zu gehorchen. Sie verteidigten sich gleichzeitig gegen den Vorwurf, noch nicht gegen den Augustiner aus Erfurt vorgegangen zu sein, indem sie erklärten, dass die Verstöße der römischen Kurie und der Geistlichen in Deutschland unbestreitbar waren. Dennoch wurde ein Lösungsvorschlag angeboten: Ein freies christliches Konzil, welches in einem Jahr eröffnet werden sollte (und an welchem auch Laien teilgenommen hätten), und den Erlass von Regeln für die Übergangszeit. Vor allem drei Regeln schienen zweckdienlich: Dass Luther und seine Anhänger aufhören sollten, die umstrittensten Lehren zu verkünden, dass die Priester sich ihrerseits verpflichten sollten, den Gläubigen keinen Grund zum Anstoß zu geben, und dass alle gedruckten Schriften einer Zensur unterworfen werden sollten. Die offizielle Antwort des Reichstages auf Chiericati am 5. Februar nahm weitgehend diese Themen auf: Da man einen Volksaufstand fürchtete, hatte man die Verurteilung des Papstes und des Kaisers nicht ausgeführt. Man forderte eine entschiedene Reform der römischen Kurie, die Beseitigung der gravamina und die Einberufung eines Konzils. Die Ablehnung des päpstlichen Nuntius war eindeutig. Der Reichsabschied vom 6. März 1523 ging jedoch explizit von den Dokumenten der Ausschüsse aus. Insbesondere strebte man, neben der Forderung nach Reformen der Kurie und nach geeigneten Antworten auf die gravamina, mit Entschiedenheit ein freies Konzil der deutschen Nation innerhalb eines Jahres an, entweder in Mainz, Köln, Konstanz oder Metz. Was die Übergangsregelung betraf, so ordnete der Reichsabschied an, dass nichts ohne vorherige Genehmigung gedruckt werden sollte.
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Darüber hinaus sollten sich die Predigten auf die Verkündigung des Evangeliums beschränken und der Interpretation der von der Kirche genehmigten und angenommenen Schriften entsprechen. Der Kurfürst von Sachsen, Friedrich III. (der Weise), hätte dann kontrollieren müssen, dass Luther und seine Anhänger bis zu dem Konzil nichts mehr verbreitet hätten, und alle Stände hätten die Geistlichen dazu ermahnen müssen, keine Diskussionen anzuregen, die Grund zum Skandal geben könnten. Die Aufsicht hierfür sollte den Bischöfen zufallen, die in eintretenden Fällen zu Ermahnungen geschritten wären und in den schlimmsten Fällen Bestrafungen ausgesprochen hätten, so zum Beispiel bei Priestern, die heirateten und Mönchen, die aus Klöstern austraten. Das Reichsregiment fügte sich diesen Verordnungen: Am 6. März sandte sie mit einem Mandat an alle Fürsten und an die anderen Stände eine detaillierte Zusammenfassung der Anordnungen. Mit diesen bedeutsamen Verordnungen, die im Übrigen keine sofortige Wirkung zeigen konnten, erklärte der Reichstag kurzum, dass der Fall Luther beileibe nicht beendet war, ungeachtet der Beschlüsse von Worms. Zu viele Themen anderer Art blieben jedoch noch ungelöst, so zum Beispiel die Finanzierung des Kampfes gegen die Bedrohung durch die Türken, die Reform des Strafgesetzes und die Frage der Münzprägung. Eine neue Versammlung der Stände wurde für den 13. Juli 1523 in Nürnberg einberufen. Allerdings waren Mitte August nur wenige Gesandte und ein Fürst (Herzog Georg von Sachsen) in der Stadt anwesend. Das Reichsregiment wiederholte die Einberufung für den 5. September. Bei dieser Gelegenheit diskutierte es, ob man die Religionsfrage zu den zu behandelnden Themen hinzufügen sollte. Man entschied zur Zufriedenheit von Luthers Sympathisanten dagegen, welche mit der Art und Weise, wie der Streit momentan geregelt war, gut leben konnten. Auf der anderen Seite gab es aber Spannungen unter denen, die der römischen Kirche treugeblieben waren. Tatsächlich war der österreichische Klerus aufgerufen worden, mit einer neuen Steuer (der Türkenterz) zum Kampf gegen die Türken beizutragen. Währenddessen unterstellten die Herzöge Wilhelm und Ludwig von Bayern den Klerus der weltlichen Strafgerichtsbarkeit. Als Reaktion wurde in Salzburg mit der Unterstützung des Erzbischofs Lang im November 1523 ein Treffen eröffnet. Bei dieser Zusammenkunft kam die Forderung nach einem nationalen Konzil auf, um die neuen Lehren unterzubinden und die Kirche zu reformieren. Dies war ein wichtiger Schritt: Man fing also auch auf katholischer Seite an, an eine innerdeutsche Synode zu denken. Der dritte Reichstag von Nürnberg, der Mitte Juli 1523 eröffnet werden sollte, tagte dann tatsächlich am 14. Januar 1524. Die religiöse Frage war anfangs aber wieder nicht auf der Agenda. Die Lesung der Proposition im Namen des Kaisers an die Stände am 4. Februar erregte dann jedoch deren Aufmerksamkeit. Karl V. kam nämlich auf das Thema zurück, indem er schlicht die Vollstreckung des Edikts von 1521 forderte, obwohl er mit den Konflikten auf europäischer Ebene beschäftigt war, welche ihn auf der einen Seite gegen den König von Frankreich, Franz I., stellten und auf der anderen Seite gegen den Sultan Süleyman I. Mittlerweile unterstützten dies allerdings nicht einmal mehr
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die katholischen Herzöge Wilhelm und Ludwig von Bayern, der Herzog Albrecht von Preußen oder sein Bruder Ferdinand diese Position. So kam der Reichstag, nachdem auch ein Versuch, dem Kurfürst von Sachsen eine Mediation aufzutragen, gescheitert war, zum Stillstand. Im Februar beschäftigte sich der Reichstag dann nur noch mit der Innenpolitik des Reiches. Mitte März traf Kardinal Lorenzo Campeggi als päpstlicher Legat von Clemens VII. ein. Bei seinem ersten Auftritt auf der Versammlung am 17. März 1524 forderte auch dieser, allerdings ohne das scharfe Register zu ziehen, dass die bereits verkündigte Verurteilung vollstreckt werde. Die Reaktion der Städte war feindselig und die Antwort der Stände eindeutig. Die Forderung nach einem allgemeinen Konzil repräsentiert den nächsten Schritt: Man diskutierte den dafür geeigneten Termin, die Teilnahme (oder Nichtteilnahme) von päpstlichen Vertretern und die notwendigen Übergangsregelungen. Der Herzog Ludwig von Bayern und seine Berater gingen sogar noch weiter. Sie nahmen die Forderung wieder auf, die im vorhergehenden Herbst in Salzburg aufgekommen war: die Einberufung eines rein deutschen Konzils. Daraus entstand eine hitzige Debatte. Allein dank der Arbeit eines Ende März 1524 ad hoc gebildeten Komitees und vor allem dank der Diskussionen, die im Rat der Fürsten stattfanden, gelang es der Versammlung, dem päpstlichen Legat am 5. April eine gemeinsame Resolution vorzulegen: Nach allgemeinen Versicherungen, dass das Wormser Edikt respektiert werden müsse, kehrte man zu der Forderung eines Konzils, sei es allgemein oder national, zurück. Trotz der zu erwartenden Ablehnung Campeggis hielt der Reichstag an seiner Forderung fest: Der Reichsabschied vom 18. April 1524, welchem mehrheitlich zugestimmt wurde, legte den Staaten, lediglich auf, den Beschlüssen des Wormser Edikts „sovil inen muglich“³ Folge zu leisten. Der Papst aber sollte, mit der Zustimmung des Kaisers, ein allgemeines Konzil in Deutschland einberufen. Darüber hinaus sollte schon am 11. November eine allgemeine Versammlung der Deutschen Nation in Speyer zusammenkommen, um über die gravamina zu sprechen und, so die Absicht Ferdinands, sogar über die von Luther beanstandeten Lehren. In der Zwischenzeit sollten sich die Predigten auf das Evangelium und an die von der Kirche genehmigten Auslegungen gründen, wie ein weiteres Dekret bestimmte, welches ebenfalls auf der Versammlung vom 18. April beschlossen wurde. Die umfangreichen gesetzgebenden Aktivitäten des Reichstags stellten eigentlich drei nicht zu vereinbarende Szenarien in Aussicht: Eine begrenzte Ausführung des Wormser Edikts, die neue nationale Versammlung von Speyer (Versammlung, nicht Reichstag genannt) und das allgemeine Konzil. Die Position der römischen Seite verhärtete sich: Bevor der päpstliche Legat im Juni 1524 nach Italien zurückkehrte, verabredete er sich mit dem Erzherzog Ferdinand und denjenigen Reichsständen, die auf dem letzten Reichstag der römischen Position am nächsten stehend gezeigt hatten, zu einem Treffen in Regensburg, also mit den Herzögen Bayerns, dem Erzbischof von
Ebd., 218.
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Salzburg, dem Bischof von Trient und den Vertretern der Bischöfe von Speyer, Augsburg und Straßburg, neben anderen. Daraus entstand am 6. Juli eine Allianz gegen die Reformierten, die sich dafür einsetzte, dass das Wormser Edikt respektiert wurde. Daraufhin fing in den altgläubigen Reichsständen eine gewaltsame Unterdrückung der Reformierten an. Zum Ende dieses Juli nahm auch der Kaiser Stellung gegen die Beschlüsse des dritten Reichstages in Nürnberg und lehnte die Einberufung eines nationalen Konzils in Speyer, welches er als „conciliabulum“⁴ bezeichnete, rundherum ab. Gleichzeitig versprach er jedoch erstmals, sich bei Clemens VII. für die Einberufung eines allgemeinen Konzils einzusetzen. Auch die reformierte Seite nahm eine eindeutigere Position ein. Im Kurfürstentum Sachsen folgte im Mai 1525 auf den unentschlossenen Friedrich III. dessen Bruder Johann, der gleich mit einer offen lutherfreundlichen Politik begann. Dabei stellte er sich auf die Seite des regen Landgrafen Philipp von Hessen. Auch Albrecht von Preußen begann, sich der Lehre Luthers anzunähern. Zur gleichen Zeit wurde Deutschland durch den Bauernkrieg erschüttert, welchen die verschiedenen Streitparteien ein jeweils zum eigenen Vorteil zu nutzen versuchten. Der Reichstag schwieg, aber nicht für lange Zeit: Die für den 11. November 1524 vorgesehene Versammlung in Speyer wurde, wie von Karl V. angeordnet, nicht eröffnet. Aber schon im März berief der Kaiser für den 29. September 1525 den Reichstag in Augsburg ein. Das Reichsregiment verlegte den Termin aber auf den 11. November. Es gab aber keine formale Eröffnung, da sich zum eigentlichen Termin nur wenige Fürsten und Repräsentanten in der Stadt vorfanden, und die Arbeiten verliefen schleppend. Deshalb ordnete ein Abschied vom 9. Januar 1526 an, den Reichstag auf den darauffolgenden 1. Mai nach Speyer zu vertagen. In der Frage der Predigt sollte man sich in der Zwischenzeit an den Beschluss des dritten Reichstages in Nürnberg halten. Karl V. sollte formell eingeladen werden, ein Konzil zu befördern: Nur so würde es Frieden geben. Der neue Reichstag wurde am 26. Juni 1526 mit der Lesung der kaiserlichen Proposition eröffnet. Die Religionsfrage stand diesmal an oberster Stelle auf der Liste der zu behandelnden Themen. Die Stände waren dazu angehalten, Lösungsvorschläge vorzulegen, durch welche die gefestigte Ordnung der Kirche bis zum nächsten Konzil erhalten werden konnte, und sie sollten Strafen für diejenigen vorschlagen, die die vorhergehenden Anordnungen des Kaisers missachtet hatten. Die Missstände und die gravamina wurden mit keinem Wort erwähnt. Karl V., der schon am 23. März von Sevilla aus die Fürsten und Herren des Reiches ermahnt hatte, dem alten Glauben treuzubleiben, kehrte zu dem Szenario von 1521 zurück. Auf diese Weise entfachte er aber gleichzeitig neue Debatten. Die Kurfürsten legten am 30. Juni ihre Position dar. Man war übereingekommen, dass es am wichtigsten war, Erneuerungen zu verhindern und dass die traditionellen Kultformen und die bewährten Praktiken erhalten werden
Zit. ebenda, 226.
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mussten. Allein die Missbräuche sollten soweit als möglich behoben werden. Man wollte darüber hinaus diejenigen, die sich vom katholischen Glauben entfernt hatten, nicht hart bestrafen, sondern diese zur Rückkehr zum Gehorsam gegenüber der Hierarchie überzeugen. Somit trat unter diesem Gesichtspunkt die Ausführung des Wormser Edikts in den Hintergrund. Der Reichsfürstenrat, in dem die kirchliche Hierarchie sehr aktiv war, konnte dies nicht zulassen. Dann warfen Mitte Juli auch die Städte ihre Bedenken ein: Was war unter dem Begriff „gute“ religiöse Bräuche zu verstehen? Gewiss konnte darunter doch nicht das zu verstehen sein, was gegen die Schrift verstoße. Außerdem stand für die Städte außer Frage, dass das Wormser Edikt nun endgültig nicht mehr anwendbar war. Man war an einem toten Punkt angelangt. So teilte sich der Reichstag in Ausschüsse auf, die sich erneut mit der Überprüfung der Missstände auseinandersetzten, welche die Reformation veranlasst hatten. Aus ihrer Arbeit entstanden konkrete und mitunter radikale Vorschläge, wie z. B. der gleichberechtigte Gebrauch der lateinischen und der deutschen Sprache in der Liturgie. So berief man im Juli 1526 ein interkollegiales Komitee, an welchem sich nicht wenige reformierten Fürsten beteiligten (wie der Landgraf Philipp von Hessen). Es hatte aber keine großen Möglichkeiten, etwas zu bewirken, denn am 1. August erhielt Erzherzog Ferdinand von Karl V. Anweisungen, die ein Verbot von Erneuerungen im religiösen Bereich aussprachen und auf der Notwendigkeit der Ausführung des Wormser Edikts beharrten. An diesem Punkt angelangt, teilten sich die Fürsten in zwei Parteien: Diejenigen, die die Diskussionen abbrechen wollten und diejenigen, die stattdessen im Rahmen des interkollegialen Komitees über die kaiserlichen Anweisungen diskutieren wollten. Die folgenschwere Übergangslösung kam schließlich durch den Rat der Kurfürsten, der auf der Suche nach einem Kompromiss den Vorschlag machte, dass, wenn man bei der Arbeit des Komitees mit religiösen Fragen konfrontiert wurde, jeder Staat sich so zu verhalten habe, dass er sich vor Gott, dem Kaiser und dem Reich verantworten konnte. Dies war die sogenannte „Verantwortungsformel“. So öffnete sich wieder eine Tür.Während die anderen auf der Tagesordnung stehenden Themen, wie die Hilfe gegen die Türken, der Erhalt des Friedens im Reich und seine Verfassungsordnung unbehandelt blieben, verharrte der Reichstag auf dem umstrittensten Thema. Eine Gesandtschaft an den Kaiser, welcher sich noch außerhalb Deutschlands befand, schien der geeignetste Weg, um ein Vereinbarung zu finden, dies auch mit der Aussicht auf ein allgemeines oder wenigstens nationales Konzil. Als man aber dazu überging, die diesbezüglichen Anordnungen abzufassen, zeigte sich die Schwierigkeit der Aufgabe. Zu guter Letzt forderte Erzherzog Ferdinand den Reichstag zum schnellen Abschluss der Arbeiten auf. Die Stände behandelten alle restlichen Themen innerhalb von zehn Tagen. Einige davon stellten überlebenswichtige Fragen dar, wie die Hilfe gegen die Türken, da Süleyman in Ungarn eingefallen war. Am 27. August 1526 wurde der ausformulierte Reichsabschied vorgelesen. Er nahm den Text des vorhergehenden Kompromisses auf. So legte der Reichstag fest, dass sich die Stände bei religiösen Fragen so zu verhalten hatten, dass sie sich vor Gott, dem
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Kaiser und dem Reich verantworten konnten. Die Notwendigkeit, ein allgemeines oder nationales Konzil innerhalb von einem, maximal zwei Jahren einzuberufen wurde erneut wiederholt. Aber der Unterschied zu den Abschieden des zweiten und dritten Reichstages von Nürnberg war diesmal, dass nun Karl V. aufgefordert wurde, diesen Schritt zu vollziehen. Der Reichstag kehrte aber mit seinem Urteil zum Bauernkrieg schlussendlich wieder zu den strittigsten Themen zurück. Die eigentlichen Gründe der jüngsten Unruhen lagen eben im religiösen Konflikt, welcher mit dem Edikt von 1521 in keiner Weise gelöst war. Nur fünf Jahre nach dem Reichstag in Worms ließ das kaiserliche öffentliche Recht zu, dass der Gehorsam der neuen Gläubigen von der subjektiven Einschätzung ihrer Herren abhing, was diese verantworten konnten. Mehr noch: Das Verhältnis zwischen religiöser und politischer Macht ließ sich – in dieser gesetzlichen Regelung – nicht mehr auf den Leitsatz „So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ (Mt 22,15 – 21) des Evangeliums reduzieren. Denn es war nun ein dritter Empfänger jenes verantwortlichen Gehorsams aufgekommen: Das Kaiserreich, also die Gesamtheit der Stände, die neben dem hohen Erbherrscher der römischen Souveränität im Reichstag saßen.
2 Auf der Schwelle zu den dreißiger Jahren: Rückkehr nach Worms, Protest, Kompromiss Die Beschlüsse des Reichsabschieds von Speyer mussten bis zum Konzil, ob nun allgemeinen oder deutsch, in Kraft bleiben. Dieses Konzil wollte man spätestens in anderthalb Jahren einberufen. Aber der Sieg der Türken am 29. August 1526 in Mohács veränderte die Situation. Mitte Dezember traf sich das Reichsregiment in Esslingen und berief für den kommenden April einen neuen Reichstag in Regensburg ein, um die Gewährung von Hilfsmitteln für den Krieg gegen Süleyman I. zu bewilligen. Allerdings fiel die Beteiligung an dieser Versammlung sehr spärlich aus, und so löste sich die Versammlung bereits am 18. März 1527 auf, ohne etwas Konkretes erreicht zu haben. Es wurden nicht einmal Vorkehrungen für eine Gesandtschaft der Stände zu Karl V. getroffen, was eigentlich seit dem vorhergegangenen Reichstag in Speyer vorgesehen war. Das Vorhaben wurde bald darauf fallengelassen. Für den 2. März 1528 wurde eine neue Versammlung einberufen, diese kam aber nicht zustande, was nicht verwundert, denn der Kaiser war in einen neuen Krieg gegen Frankreich verwickelt. Die Anhänger Luthers konnten mit dem, was in Speyer erreicht worden war, zufrieden sein, durch ein neues Treffen konnten sie nur verlieren. Auf der anderen Seite waren die Vorstellungen der Anhänger des alten Glaubens, die die Reichstage nutzen wollten, um ihre eigene Position wieder ins Gleichgewicht zu bringen, für den Moment vollkommen unrealistisch.
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So wurde das Jahr 1528 mit Versuchen zugebracht, den Reichsabschied von Speyer umzusetzen. In der Zwischenzeit wurde das Gemunkel um eine militärische Auseinandersetzung der beiden Konfessionen lauter. Am 10. November berief Karl V. erneut einen Reichstag in Speyer ein. Auch wenn die Eröffnung für den 2. Februar 1529 festgelegt worden war, fing man erst am 15. März mit der Arbeit an. Der Kaiser und sein Bruder Ferdinand erschienen zu diesem Termin mit zwei unterschiedlichen, ja sogar grundsätzlich entgegengesetzten Vorstellungen. Der kaiserliche Stellvertreter forderte strenge Maßnahmen gegen die Reformierten. Karl V., der sich im Krieg mit den Türken und überdies auch noch mit den Franzosen befand, bewahrte stattdessen eine gemäßigtere Haltung. Er hätte es vorgezogen, entweder die Religionsfrage während des Reichstages zu ignorieren oder den Reichstag für eine theologische Debatte als ersten Schritt für eine Wiederannäherung zu nutzen. Seine Proposition traf aber zu spät ein, und die Tagesordnung wurde von Ferdinand festgelegt. Das sofort eingesetzte interkollegiale Komitee, welches eine eindeutige katholische Mehrheit hatte, legte ein Programm vor, welches eine eindeutige und entschiedene Restauration vorsah: Eine umgehende Durchsetzung des Wormser Edikts in den Ständen, die es bereits angenommen hatten; in allen anderen Staaten keine Erneuerungen bei religiösen Fragen sowie die Einberufung eines allgemeinen oder allein deutschen Konzils durch den Kaiser. Die einzige Milderung war die Klausel, dass Veränderungen „so weit wie möglich und menschlich“ („sovil muglich und mentschlich“)⁵ vermieden werden sollten. Unter den in jedem Fall gestrichenen Reformen war unter anderem die Abschaffung des Sakraments der Eucharistie, das Verbot der Teilnahme an der Messe und natürlich die Lehre der Wiedertäufer, die von allen abgelehnt wurde. Die protestantischen Stände kritisierten die Wiederaufnahme des Wormser Edikts, welches ihrer Meinung nach durch den Abschied des vorhergegangenen Reichstages in Speyer zumindest bis zum nächsten Konzil außer Kraft gesetzt worden war. Sie erhoben sich sowohl im Plenum des Reichstages als auch im Reichsfürstenrat gegen die Abschaffung der Verordnungen von 1526. Zwar leiteten sie noch Mediationsversuche ein, aber noch in der ersten Hälfte des Monats April, kam es zum Bruch. Nachdem die Veränderungsvorschläge der Protestanten abgelehnt wurden, forderten Ferdinand und die anderen am Reichstag anwesenden kaiserlichen Vertreter am 19. April die Stände auf, zur Ausarbeitung eines Abschieds überzugehen. Die überwiegend katholische Mehrheit übernahm den Vorschlag des interkollegialen Komitees. Die Minderheit antwortete mit einem formalen Dissens: Und zwar unterschrieben am 19. April Johann d. J. von Sachsen, Markgraf Georg von Brandenburg, Ernst von Braunschweig-Lüneburg, Landgraf Philipp von Hessen, Prinz Wolfgang von
Zit. in E. Wolgast, Die Religionsfrage auf den Reichstagen von 1521 bis 1550/51, in ders., Aufsätze zur Reformations-und Reichsgeschichte, Tübingen 2016, 49 – 72, hier 59.
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Hessen und Prinz Wolfgang von Anhalt-Köthen jene Protestation, welche der gesamten lutherische Bewegung den Namen geben sollte. In dieser Protestation sprachen sie den neuen Entschlüssen die Gültigkeit ab. Dies nicht nur, weil diese Entschlüsse die Verantwortung der Träger der öffentlichen Ämter vor Gott verleugneten, welche erst drei Jahre zuvor verkündet worden war, sondern auch, weil die Entschlüsse nach dem Mehrheitsprinzip geschlossen worden waren und so die Stimmen der Minderheit in Entscheidungen unterdrückt wurden, die nach der konsolidierten „konstitutionellen“ Praxis als unbedingte Bedingung einen einstimmigen Konsens erforderten. Das Dokument wurde dann beim Reichstag vorgelesen. In den folgenden Tagen, gab es zwischen den zwei Parteien noch Treffen, diese hatten aber keine Auswirkung auf die endgültige Fassung des Abschieds, der auf den 22. April 1529 datiert wird. Am selben Tag machten Johann d. J. von Sachsen, Philipp von Hessen und die Städte Nürnberg, Straßburg und Ulm einen ersten Schritt in Richtung einer militärischen Allianz zur Verteidigung des Wortes Gottes, beziehungsweise des reformierten Glaubens. Gleichwohl provozierte die harte Auseinandersetzung keinen endgültigen Bruch, weil sich Ferdinand und die katholischen Staaten verpflichtet hatten, bis zum nächsten Konzil keine Gewalt wegen Glaubensfragen anzuwenden, auch wenn sie somit indirekt duldeten, dass das Beschlossene wieder einmal unausgeführt bleiben würde. Am 21. Januar 1530 berief Karl V. einen Reichstag für den 8. April in Augsburg ein. Bei diesem hätte er, nach einer langen Phase mit militärischen und politischen Verpflichtungen außerhalb Deutschlands, persönlich den Vorsitz gehabt. Mit seinem Akt der Einberufung, wollte der Kaiser „die Zwietracht hinlegen, vergangene Irrsal unserem Seligmacher ergeben und eines jeglichen Opinion in Liebe und Gütigkeit hören, verstehen und erwägen, und also alle in einer Gemeinschaft, Kirche und Einigkeit leben.“⁶ Dies waren versöhnliche Worte. Die Reformierten reagierten auf den Aufruf und verfassten die entscheidenden Dokumente der jeweiligen Glaubenslehren: Die Confessio Augustana der Wittenberger Theologen, die Tetrapolitana von Straßburg und drei anderen deutschen Städten (Konstanz, Lindau und Memmingen) und die Fidei Ratio von Ulrich Zwingli. Die offizielle Eröffnung war am 20. Juni. In seiner Proposition stellte der Kaiser seine drei Programmpunkte vor: Die Religionsfrage, die Hilfe gegen die Türken, die im vorhergehenden Herbst sogar Wien belagert hatten, und die Ordnung des Reichs. Zwischen dem 25. Juni und dem 9. Juli wurden die ersten beiden der oben erwähnten Dokumente vorgelesen, nicht jedoch das von Zwingli, das man überhaupt nicht in Betracht zog. Philipp Melanchthon, der eng mit Luther zusammenarbeitete, bemühte sich nach Kräften um eine Versöhnung. Dabei verhandelte er auch direkt mit dem zu diesem Anlass angereisten päpstlichen Gesandten, Lorenzo Campeggi. Die aufgeschlossene Stimmung zur Eröffnung sollte jedoch ziemlich bald verfliegen. Man kam
Zit. in K. Brandi, Kaiser Karl V. Werden und Schicksal einer Persönlichkeit und eines Weltreiches, 8. Aufl., Frankfurt am Main, 1986, 254.
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bei den Versuchen, Punkte der Übereinstimmung festzulegen, zu keinem Ergebnis, auch nicht durch kleinere Komitees von Fürsten, Juristen und Theologen. Daraufhin wurde dem Reichstag am 3. August die Confutatio der Confessio Augustana vorgelegt. Für den Kaiser hätte dies den Abschluss des Ganzes bedeuten sollen, stattdessen aber ging die Auseinandersetzung weiter, in immer schärferem Ton. Nach der Weigerung der Protestanten, ein zukünftiges Konzil anzuerkennen und dem kaiserlichen Befehl vom 7. Septembers zu gehorchen, nach welchem sie sich bis zu diesem Konzil zum alten Glauben bekennen sollten, verhärtete sich zum Ende des Sommers die katholische Position. Zu diesem Zeitpunkt waren die meisten Stände tatsächlich auf der Seite des alten Glaubens. Daraus erklären sich die Folgen am 22. September, als man in der Versammlung mit die Lesung des Artikels des Abschieds begann, der die Religion betraf: So wurde die Confessio Augustana für falsch erklärt. Man gewährte den Protestanten einen Zeitraum bis zum 15. April 1531, um wieder zum Gehorsam gegenüber der Kirche Roms zurückzukehren. An diesen Punkt angelangt, verließ der Kurfürst von Sachsen den Reichstag. Der Landgraf von Hessen hatte ihn gleich nach der Widerlegung der Confessio Augustana verlassen. Auf die noch in der Versammlung anwesenden Stände, vor allem Städte, wie Straßburg, Ulm, Frankfurt, Nürnberg und eben Augsburg, wurde Druck ausgeübt, dass sie dem Entwurf des Abschieds zustimmen sollten. Dennoch erneuerten diese am 13. Oktober ihren Dissens. So wurde der Text am 19. November nur von den Katholiken angenommen. Das Wormser Edikt rückte damit wieder in den Vordergrund, und die Gegner hätten sich somit außerhalb des Rahmens der konstitutionellen Rechtmäßigkeit des Reiches gestellt, weil sie gegen den Landfrieden verstießen. Einsprüche, eingelegte Berufungen und Beschlüsse anderer Reichsabschiede wurden für ungültig erklärt. Den Reformierten wurde, wie bereits erwähnt, bis zum 15. April 1531 Zeit gegeben, sich den Verordnungen des Abschieds zu beugen. Das Reichskammergericht hatte die Befugnis, gegen sie Verfahren zu starten. Es sah aus wie der Vorabend eines Krieges. Die Protestanten suchten sich zu verteidigen, indem sie sich im Schmalkaldischen Bund verbündeten, welcher am 27. Februar 1531 zwischen dem Kurfürsten von Sachsen, dem Landgrafen von Hessen, den Prinzen von Anhalt, Grubenhagen und Lüneburg, den Grafen von Mansfeld und den Gesandten verschiedener Städte (darunter Bremen, Magdeburg und Straßburg) unterzeichnet wurde. Aber es war wieder so, dass die politisch-finanziellen Bedürfnisse des Kaisers die Dinge in die entgegengesetzte Richtung lenkten. Um Hilfe gegen die Türken zu erhalten, brauchte Karl V. die Stände, aber vor allem brauchte er sie für die Wahl seines Bruders Ferdinand zum König der Römer, und somit zu seinem Nachfolger. Deswegen berief er für den 14. September einen neuen Reichstag in Speyer ein, der dann auf den 6. Januar 1532 verschoben und schließlich nach Regensburg verlegt wurde. Auf die Eröffnung musste man bis zum 17. April warten. An diesem Ort wurde die Religionsfrage nicht behandelt, in den parallelen Kolloquien in Schweinfurt und Nürnberg aber sehr wohl. Dort versuchten der Kurfürst von Mainz, Albrecht von Brandenburg, und der von der Pfalz, Ludwig V. von Wittelsbach, in der Rolle von
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Vermittlern, einen konfessionellen Waffenstillstand zu erreichen, indem sie mit Fürsten und Vertretern der protestantischen Städte zusammentrafen. Wegen dieser von März bis Juli 1532 geführten Verhandlungen sah der Reichstag zum ersten Mal seine Schlüsselrolle bei der Behandlung der Religionsfrage in Frage gestellt. Auch wenn sich zu Anfang die Positionen in jeder Hinsicht unversöhnlich gegenüberstanden, wurde dennoch am 24. Juli 1532 die Unterzeichnung eines Abkommens erreicht, welches einen Religionsfrieden vorsah. Dieses Abkommen ist als Nürnberger Anstand oder Nürnberger Religionsfrieden bekannt. Es handelte sich aber aus juristischer Sicht um eine sehr schwache Vereinbarung: Die Stände, die am alten Glauben festhielten, erkannten das Abkommen nicht an, und die Vereinbarungen blieben allein auf bilateraler Ebene, also zwischen Karl V. und den einzelnen reformierten Ständen. Nicht einmal der Regensburger Abschied vom 27. Juli 1532 erwähnte das Abkommen. Indessen erneuerte das Schlussdokument des Reichstages die Forderung nach der Einberufung eines Konzils innerhalb von anderthalb Jahren und dessen Beginn zwölf Monate später. Andernfalls sollte der Kaiser einen neuen Reichstag einberufen, welcher dann die Form eines nationalen deutschen Konzils annehmen sollte. So wurde, trotz des formell mangelhaften Charakters des Nürnberger Religionsfriedens, mit ihm und mit dem kaiserlichen Mandat vom 6. Novembers 1532, welches die vor das Reichskammergericht gebrachten Religionsfragen aussetzte, die Existenz der reformierten ekklesiastischen Ordnungen im Wesentlichen legalisiert. Nun öffnete sich ein neues Kapitel.
3 Die Reichstage in den vierziger Jahren: Schauplatz der letzten Kolloquien zur Maskierung des bevorstehenden Krieges Ungefähr zehn Jahre vergingen nach Nürnberg, ohne dass ein weiterer Reichstag (oder ein weiteres Konzil) abgehalten wurde. Der Kaiser war mit den Kriegen gegen die Türken und die Franzosen beschäftigt, und Ferdinand, der am 5. Januar 1531 zum König der Römer gewählt worden war, musste seine Position gegen die anhaltende Opposition einiger kaiserlicher, selbst katholischer Stände (wie Bayern) stärken. Der mühsam erreichte Kompromiss hielt stand: Wahrscheinlich fürchtete man, wie ein wenig später der päpstliche Legat Aleander schrieb,⁷ dass die Einberufung eines Reichstages den automatischen Verfall der Gültigkeit der Kompromisse bedeutet hätte. So gab es insgesamt nur drei kurze Zusammenkünfte der Stände im April, Juli und November 1535, und diese auf der Ebene der Reichskreise, und bei diesen sprach
Brief von Hieronymus Aleander an Alessandro Farnese, Linz, 9. September 1538, in: W. Friedensburg (Hg.), Nuntiaturberichte aus Deutschland, Bd. III,1, Legation Aleanders 1538 – 1539, Gotha 1893, 154.
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man über Religion nur im Zusammenhang des gemeinsamen Kampfes gegen die Wiedertäufer. Im Verlauf der dreißiger Jahre wurde offensichtlich, dass das von Rom gewollte Konzil nicht das Geringste mit dem zu tun hatte, was in den Reichsabschieden vorgesehen war. Konnte der Papst ein glaubwürdiger Mediator sein? Wo waren die erhofften „arbitratores pii et aequi“?⁸ In jedem Fall wurde das Konzil inmitten der verwickelten Politik Pauls III. (Farnese) sowieso nicht eröffnet. Nachdem dann am 10. Juni 1538 unter der Führung von Ludwig von Bayern und Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel die katholische Liga gegründet wurde, drohte eine militärische Auseinandersetzung zwischen den noch der alten Konfession folgenden Fürsten und den Reformierten. Aber niemand wollte einen Krieg, der teuer war und noch dazu einen ungewissen Ausgang hatte. Vor allem Ferdinand brauchte weiterhin die finanzielle Unterstützung aller Stände beim Kampf gegen die Türken. So traf man Ende Februar 1539 zur Konferenz in Frankfurt ein: An der Konferenz nahmen der kaiserliche Repräsentant, der Erzbischof von Lund, Johann von Weeze und die wichtigsten Vertreter des Schmalkaldischen Bundes, Philipp von Hessen und Johann Friedrich I. (der Großmütige) von Sachsen teil. Nach ermüdenden Verhandlungen, die von den Kurfürsten Joachim II. von Brandenburg und Ludwig V. von der Pfalz vermittelt wurden, wurde das Ziel einer Vereinbarung am 19. April erreicht. Das Abkommen, der Frankfurter Anstand, sah zum einen den Erhalt des Friedens innerhalb der Reichsgrenzen vor und zum anderen die Aussetzung der aufgenommenen Prozesse vor dem Reichskammergericht für sechs Monate (die Aussetzung konnte aber auf 15 Monate ausgedehnt werden). Die Bestätigung der Vereinbarungen aus dem Jahr 1532, diesmal auch von mehreren Parteien bestätigt, war ohne Zweifel ein positives Ergebnis, aber sie war ohne eine formale Versammlung der Stände verabschiedet worden. So legten die Herzöge Bayerns und Braunschweig-Wolfenbüttels wie auch die römische Kurie Einspruch ein. Karl V. gab von seiner Seite aus kein formales Einverständnis, aber er ließ die Vereinbarung im Wesentlichen für die vorhergesehenen sechs Monate in Kraft. Es begann eine Phase massiver Bemühungen zur Beilegung des religiösen Konfliktes. Zum Beginn des Jahres 1539 einigten sich die Theologen der beiden Seiten (Martin Bucer und Georg Witzel) in Leipzig, auf Anstoß Georgs von Sachsen, auf gemeinsame Formulierungen in wesentlichen Punkten (für den Glauben, die Werke und das Abendmahl). Während des Kolloquiums in Frankfurt wurde außerdem ein Treffen für den 1. August 1539 in Nürnberg einberufen, an welchem jeweils drei Laien und drei Theologen auf beiden konfessionellen Seiten teilnehmen sollten. Ein Schreiben Karls V. verschob die Eröffnung jedoch und es gab eine neue Einladung für den 6. Juni 1540 in Speyer. Der Ort, an dem sich Katholiken und Protestanten schließlich trafen, wurde aufgrund einer Epidemie jedoch Hagenau.
Zit. in Wolgast, Die Religionsfrage auf den Reichstagen, 63.
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Ende Juni fingen dann die Debatten an. Allerdings fehlte schon zu Beginn eine Einigung darüber, wie vorzugehen sei. Dies war keineswegs ein sekundäres Problem, da die Bedeutung der dann erreichten Vereinbarungen ganz entscheidend davon abhing. Innerhalb weniger Wochen scheiterte die Initiative. Ferdinand von Habsburg, der bei der Versammlung den Vorsitz hatte, verlegte sie nach Worms, wo sie am 25. November von Nicolas Perrenot von Granvelle eröffnet wurde. Die Anwesenheit des wichtigen Staatssekretärs des Kaisers und zweier päpstlicher Nuntii (Giovanni Morone und Tommaso Campeggi) ließ bereits einen Kurswechsel erwarten. Man erwartete insbesondere Entwürfe von Vereinbarungen, die dann vom zukünftigen Reichstag, der bereits für den 14. September vom Kaiser einberufen worden war, aufgenommen und umgesetzt werden konnten. Tatsächlich erreichten so die theologischen Diskussionen, auch wenn sie leidenschaftslos geführt wurden, wichtige Ergebnisse, in Form von ersten Entwürfen von Vereinbarungen zu diversen Themen. Für den 6. Januar war die Eröffnung einer neuen Versammlung der Stände in Regensburg geplant, bei der Karl V. den Vorsitz persönlich übernehmen sollte. Tatsächlich hielt man die erste offizielle Sitzung aber erst am 5. April 1541 ab, weil die Fürsten und Repräsentanten nur langsam eintrafen. Regensburg steht für den Höhepunkt der Verstrickung der Reichstagsinstitution in die Probleme, die die Reformation eröffnet hatte. In seiner Proposition erinnerte der Kaiser an die lauernde Gefahr durch die in Ungarn vorgedrungenen Ottomanen und ermahnte deshalb zu Einheit und Einstimmigkeit. Zu diesem Zweck musste also der konfessionelle Konflikt gelöst werden. Dafür musste dieser Reichstag allerdings in den Punkten erfolgreich sein, in denen alle anderen gescheitert waren. Es war nun die Aufgabe der Theologen, sich zu treffen, um einen klaren Entwurf vorzubereiten, den man dann den Ständen vorlegen konnte. Am 21. April wurden so auf katholischer Seite Johann Eck, Johann Gropper und Julius von Pflug ausgewählt und durch die Karl V. ernannt und von den Protestanten Martin Bucer, Philipp Melanchthon und Johannes Pistorius. Der Vorsitz, den Granvelle und der pfälzische Herzog Friedrich II. von Wittelsbach innehatten, sollte die notwendige Rechtmäßigkeit bei den Verhandlungen garantieren. Die Anwesenheit des päpstlichen Legats, Gasparo Contarini, welcher für die Argumente der Protestanten nicht unempfänglich war, stellte bei dem laufenden Versuch die Zustimmung von Rom sicher. Als Verhandlungsbasis wurde das sogenannte Regensburger Buch ausgewählt. Dies war ein Text von 23 Artikeln zu vereinbarten Lehren, der im Wesentlichen auf den Bemühungen Bucers und Groppers während der vorhergehenden Versammlung in Worms aufbaute. Ab dem 27. April schritten die Diskussionen zügig voran. Für die ersten vier Artikel des Buches kam man schnell zu einer Übereinkunft. In diesen waren wichtige Fragen enthalten: Die Unschuld des Menschen vor der Sünde, der freie Wille, die Erbsünde und die Gründe der Sünde. Für den Artikel De iustificatione hominis über die Rechtfertigung brauchte die Kommission mehr Zeit. Dem Artikel wurde schließlich am 3. Mai zugestimmt. Es fanden sich aber weitere Punkte, in denen ihre Meinungen übereinstimmten, insbesondere war dies bei der Lehre über die Sakramente der Fall.
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Allerdings änderte sich das Szenario völlig, als man zur Diskussion über die Eucharistie, die Ordnung der Kirche, die Messe und die Heiligenverehrung überging. Nun verhärteten sich die Fronten auf eine nicht wiedergutzumachende Weise. Sowohl der Kaiser als auch der päpstliche Legat hatten versucht, die Behandlung der schwierigsten Themen aufzuschieben, in der Hoffnung, dass man eine, wenn auch etwas begrenzte, Vereinbarung erreichen könnte. Damit lagen sie aber vollkommen falsch. Die Entscheidung lag nun bei den Ständen. Die Kurfürsten von Brandenburg, der Pfalz und Kölns waren gewillt, die zwischen April und Mai unterzeichneten Artikel zu ratifizieren. Hingegen waren die Kurfürsten von Mainz und Trier sowie die Herzöge von Bayern dagegen. Am 8. Juni 1541 wurde das Regensburger Buch, mit den Veränderungen, die in den vorhergehenden interkonfessionellen Kolloquien gemacht wurden, dem Reichstag vorgelegt. Nach etwa vier Wochen Verhandlung wurde der Entwurf für eine Einigung zurückgewiesen. In der Folge wurde die zweite Julihälfte mit Debatten gefüllt, die Reformierte und Anhängern des alten Glaubens weiter entzweiten. Erstere wollten die Bestätigung des Nürnberger Anstands von 1532, Letztere die Wiederherstellung der Gültigkeit des Augsburger Reichsabschieds von 1530. Da der Kaiser die Hoffnung auf eine Versöhnung aufgab, bemühte er sich nun, die Arbeiten abzuschließen: Er war nun eher an bilateralen Abkommen mit den protestantischen Fürsten interessiert, um gegen interne Unruhen und mögliche Allianzen der Fürsten mit dem König von Frankreich vorzusorgen. Exemplarisch steht hierfür das bilaterale Abkommen mit dem Landgrafen Philipp von Hessen vom 13. Juni. Nach weiteren Diskussionen und vorbereitenden Arbeiten stand am Ende der Reichsabschied vom 29. Juli. Nach der Bekräftigung der Notwendigkeit, geschlossen gegen die türkischen Gefahr vorzugehen, stellte dieser Text fest, dass die Verhandlungen gescheitert waren und kehrte zu den in den zwanziger Jahren angestoßenen Plänen zurück: Ein Konzil oder eine Generalversammlung der (Reichs‐)Stände. Karl V. verpflichtete sich insbesondere, ein Konzil auf deutschen Boden einzuberufen, falls ein allgemeines Konzil nicht stattfinden würde. Ansonsten sollte in anderthalb Jahren ein neuer Reichstag eröffnet werden. Was die Bestimmungen des Abschieds von Augsburg im Jahr 1530 anging, so verordnete man, dass diese in Kraft bleiben sollten, nicht jedoch der Artikel zur Religion. Es verschwand auch jegliche Erwähnung des Wormser Edikts. Die protestantische Seite wurde durch eine geheime kollaterale kaiserliche Erklärung, die auf den 28. Juli datiert wird, noch mehr begünstigt: So wurden die vorhergegangenen Säkularisierungen der kirchlichen Güter anerkannt, das Dasein von Protestanten innerhalb der katholischen Staaten geschützt und die Zusammenstellung des Reichskammergerichts reformiert. In jedem Fall sollten die bei diesem Gericht eingeleiteten Prozesse bis zum nächsten Konzil beziehungsweise bis zu den nächsten Versammlungen oder den nächsten Reichstag ausgesetzt werden. Es half wenig, dass eine ähnliche, etwas allgemeinere Erklärung zum Schutz ihrer Interessen an die katholischen Fürsten abgegeben wurde. Die Waage bei den getroffenen institutionellen Entscheidungen, welche
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die Grenzen der Rechtmäßigkeit überschritten hatten (weil sie tatsächlich nur zum Teil durch einen Reichstag verabschiedet wurden), verlagerte sich 1541 also deutlich auf die Seite der Protestanten. In den darauffolgenden Jahren, bis einschließlich 1546, wurden sechs weitere Reichstage gehalten. Der Zusammenhang zwischen den zwei zentralen Fragen im Reich – der Türkenbedrohung und dem konfessionellen Konflikt – zeigte sich noch einmal deutlich. Von Ferdinand von Habsburg wurde am 16. Oktober 1541 eine neue Versammlung der Stände einberufen, welche am 9. Februar 1542 eröffnet wurde. Als Gegenleistung für die bewilligten Hilfen gegen die Türken, welche am 29. August 1541 Buda erobert hatten, forderten die Protestanten Inklusion der Regensburger Erklärung vom 28. Juli 1541 in den endgültigen Reichsabschied und eine zehnjährige Waffenruhe. Dies war dann zu viel. Ihnen wurde nur eine neue Erklärung versprochen (datiert auf den 10. Juni 1542), welche die Gültigkeit der mittlerweile öffentlich gemachten Regensburger Erklärung vom 28. Juli 1541 verlängert hätte. Das Gesamtbild war mittlerweile geprägt von individuellen Abkommen mit den konfessionellen Parteien. Es wurden solche auch mit der katholischen Seite geschlossen, was die absolut widersprüchliche Politik der Habsburger zeigt. Bei dem darauffolgenden Reichstag in Nürnberg (vom 21. Juli bis zum 26. August 1542) ging es hauptsächlich um Hilfe für den Krieg gegen die Türken. Die protestantische Seite verweigerte allein schon die Teilnahme an den Gesprächen, wenn sie zuvor nicht Zusicherungen bezüglich eines dauerhaften Friedens erhielt. Um die anhaltenden Widerstände zu überwinden, verwies der römische König Ferdinand auf die unmittelbar bevorstehende Rückkehr des Kaisers nach Deutschland. Aber das gleiche Szenario wiederholte sich beim neuen Reichstag vom 30. Januar bis zum 23. April 1542 in Nürnberg. Dort weigerten sich die Reformierten, ihre Zustimmung zur Türkensteuer für die Finanzierung des Krieges gegen die Türken zu geben, wenn zuvor nicht ihre Forderung nach einem rechtlichen Schutz der Lehren der Reformation bewilligt wurde. Aber Ferdinand und die katholischen Staaten ließen dies nicht zu und stimmten am 23. April 1543 ohne die protestantische Seite dem Text des Reichsabschieds zu. Wie schon im Jahr 1529 griffen die Evangelischen zu dem Mittel des „Protestes“. Und nun drängten der römische König und Granvelle den Kaiser, zu den Waffen zu greifen. Allerdings war Karl V. zu diesem Zeitpunkt damit beschäftigt, der Usurpation des Herzogs Wilhelm von Jüttich-Kleve-Berg im Gelderland (in den Niederlanden) ein Ende zu bereiten. Dieser Herzog war Protestant und ein Alliierter der Franzosen. Ab Mitte August 1543 erzielte das kaiserliche Heer glänzende Erfolge. Als Düren und Jülich erobert waren und der Einfall in das Gelderland begonnen hatte, war Herzog Wilhelm gezwungen, dem Vertrag von Venlo (7. September 1543) zuzustimmen. In diesem Vertrag verpflichtete er sich, zum katholischen Glauben zurückzukehren und das umkämpfte Land sowie die Grafschaft Zutphen an die Habsburger abzutreten. Dies war kein unwichtiger Erfolg. Zum ersten Mal zwang Karl V. durch die Waffen
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einem Fürsten des Reiches seinen Willen auf. Konnte so auch der konfessionelle Konflikt gelöst werden? Der Kaiser hatte diese Idee schon seit den zwanziger Jahren immer wieder in Betracht gezogen. Aber er war stets auf die Unterstützung der Protestanten angewiesen gewesen, vor allem finanziell. Der am 27. Mai für den 30. November 1543 einberufene Reichstag in Speyer wurde mit großer Verspätung am 20. Februar 1544 eröffnet. Die kaiserliche Proposition enthielt Forderungen nach Hilfen gegen die Türken und gegen die Franzosen, die Karl V. erhielt. Mit diesen wurde die Anwerbung und der sechsmonatige Dienst eines Heeres von 24.000 Fußsoldaten und 4.000 Reitern finanziert. Die Unterstützung der protestantischen Staaten musste aber belohnt werden: Deswegen flossen in den Text des Reichsabschieds vom 10. Juni 1544 Inhalte der geheimen Erklärung vom 28. Juli 1541 mit hinein. Die dabei abgestimmten Zugeständnisse wurden bis zum nächsten Konzil eingehalten. Aber da das Konzil noch auf sich warten ließ, war vorgesehen, den Reichstag nochmals für den 1. Oktober einzuberufen. Der Zweck war, eine Reform voranzutreiben, die schlicht, aber bedeutungsvoll, als christlich bezeichnet wurde. Die katholischen Staaten stimmten aber einer solchen Anordnung nicht zu. Sie akzeptierten sie lediglich als direkten Ausfluss der kaiserlichen Macht. Bedenkt man aber die rasanten darauffolgenden Entwicklungen, erwies sie sich jedoch als den reformierten Staaten nicht besonders zugewandt. Dies zeigte sich durch das, was aus dem darauffolgenden Reichstag von Worms hervorging: Dieser arbeitete nach seiner Eröffnung am 15. Dezember 1544 zuerst unter der Präsidentschaft König Ferdinands und dann, vom 25. März bis zum 4. August 1545, unter Karl V. Nach der Unterzeichnung des Friedens von Crepy am 18. September 1544 waren die Beziehungen zum französischen Hof so gut, dass auch dieser der Notwendigkeit eines Konzils zustimmte, welches dann tatsächlich von Papst Paul III. für den 15. März 1545 in Trient einberufen wurde. Dort befand sich der Sitz des gleichnamigen kirchlichen Fürstentums, Mitglied des kaiserlichen Reichstags. Mit der eindeutigen Rückkehr des päpstlichen Hofes auf dem politischen Parkett begann der Spielraum für eine autonome deutsche Lösung des religiösen Konflikts, wie sie in Speyer angestrebt wurde, immer kleiner zu werden. Karl V. hatte zwar eine finanzielle Unterstützung vom Papst erhalten, um den Krieg gegen die Protestanten zu beginnen, aber der Zeitpunkt war noch nicht der richtige. Nochmals das volle Ausmaß seiner Macht ausschöpfend, ließ der Kaiser in den Abschied vom 4. August 1545 die Einberufung eines neuen religiösen Gesprächs in Regensburg miteinfließen, dies als Vorbereitung des Reichstages, der am 6. Januar, immer noch in Regensburg, eröffnet werden sollte. Die Versammlung von Protestanten und Katholiken wurde am 27. Januar 1546 unter der Präsidentschaft des Bischofs von Eichstätt, Moritz von Hutten, und Herzog Friedrich von Fürstenberg eröffnet. Die Confessio Augustana diente als Grundlage für die Verhandlungen. Am 5. Februar wurde begonnen, über das theologische Problem der Rechtfertigung zu reden, ohne jedoch irgendwelche Fortschritte zu machen. Im
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Gegenteil, das Gespräch war bei der Ankunft Karls V. am 10. April 1546 in Regensburg schon seit einem Monat unterbrochen. So hatte also der Anfang Juni in derselben Stadt versammelte Reichstag keine Materialien, auf deren Grundlage er verhandeln konnte. Dabei kam noch hinzu, dass der Kaiser, welcher zum gleichen Zeitpunkt die Vorbereitungen für den Krieg gegen den schmalkaldischen Bund vorantrieb, seine Absicht verbarg und die Verhandlungen des Reichstages benutzte, um Zeit zu gewinnen und seine eigene Position zu stärken. Und so ließen sich aus dem Teil seiner Proposition, der die religiösen Fragen betraf, seine kriegerischen Intentionen auch nicht herauslesen. Die katholischen Staaten appellierten an das Konzil, welches in Trient Mitte des Jahres 1545 eröffnet wurde, die Protestanten wiederholten ihre Sichtweise in einer Antwort am 13. Juni 1546. Die religiösen Verhandlungen, die seit 1523 abgehalten worden waren, und die Friedstände, die geschlossen worden waren, wurden bei der Gelegenheit zusammengefasst, um aufzuzeigen, wie lange die Reichsstände sich selbständig bemüht hatten, die religiöse Frage zu lösen. Hingegen erschien das als „papistisch“ angesehene Konzil von Trient eine unmögliche Option zu sein. Die Protestanten forderten im Grunde genommen die Rückkehr zu den Vorsätzen des Reichsabschieds von Speyer von 1544. Sie hofften, den Friedenszustand des Reiches aufrechtzuerhalten. Es blieb aber bei den Worten. Aufgrund der wachsenden militärischen Bedrohung, welche mittlerweile wegen der Vorbereitungen unübersehbar geworden war, verließen fast alle Gesandten der protestantischen Staaten Regensburg. Der Abschied vom 24. Juli 1546 vertagte den Reichstag auf den Februar 1547. Zu diesem Zeitpunkt hatte es aber schon die ersten offensiven Aktionen der Protestanten in Schwaben gegeben. Es begann der Schmalkaldische Krieg.
Marco Iacovella
Luther und die Religionsgespräche 1 Einleitung
Die Religionsgespräche oder theologischen Diskussionen, mit denen in der Moderne mehrfach der Versuch unternommen wurde, im Konflikt zwischen den Anhängern der evangelischen Glaubensrichtungen und den Vertretern des römischen Katholizismus zu vermitteln, sind oft als das äußerste Mittel beschrieben worden, um durch Dialoge die von Luther verursachte konfessionelle Spaltung beizulegen.¹ Im Laufe der Zeit ist diese Interpretation korrigiert worden, sei es dank der Forschungen über die verschiedenen Formen, die diese Diskussionen annahmen – sie wurden sowohl vor Ort als auch anlässlich der Reichstage innerhalb und außerhalb Deutschlands veranstaltet –, sei es, weil man besser verstand, aus welchen Gründen und mit welchen Absichten die Teilnehmer an diesen Versammlungen sich dazu bereit erklärten, ihre Glaubensvorstellungen zur Diskussion zu stellen.² Insbesondere haben die Forschungsarbeiten die Strategien der miteinander konkurrierenden Protagonisten von zwei berühmten Religionsgesprächen des 16. Jahrhunderts ans Licht gebracht – während der Reichstage in Worms (1540) und in Regensburg (1541). In Rom, vom kaiserlichen Hof oder von Wittenberg aus – und die Liste ließe sich verlängern – verfolgte man diese Treffen unter sehr unterschiedlichen Blickwinkeln. Je nach Situation sah man in den Diskussionen eine Gefahr für die Orthodoxie, eine Hoffnung für den Frieden oder ein rein politisches Spiel. Anhand dieser Erkenntnisse werden sich die folgenden Seiten auf die Rekonstruktion einer der Sichtweisen konzentrieren, unter der diese Ereignisse interpretiert wurden, nämlich der von Martin Luther. Um die kulturellen, historischen und biographischen Bestandteile zu verstehen, die sein Urteil über die Gespräche bestimmten, muss man sich verschiedene Ebenen vor Augen führen, von der Evolution seiner Glaubenslehre bis zur historischen Weiterentwicklung der protestantischen Bewegung, ohne zu vergessen, in welchem politischen Zusammenhang er versuchte, seine religiöse Reform durchzusetzen. Auch wenn er sich für die Durchführung der Gespräche einsetzte, hegte der Reformator keinerlei Erwartung hinsichtlich möglicher Ergebnisse. In seinen Augen hätte der Dialog mit dem Papsttum dazu beitragen
Übersetzung: Fried Rosenstock. Grundlegend ist in dieser Hinsicht das Urteil von R. Stupperich, Der Humanismus und die Wiedervereinigung der Konfessionen, Leipzig, 1936, 126 – 131; vgl. unten. Für einen Gesamtüberblick vgl. I. Dingel, „Reformationsgespräche. IV: Altgläubig-protestantisch und innerprotestantisch“, in: H. R. Balz, G. Kraus und G. Müller (Hg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 28, Berlin / New York, 1997, 654– 668, hier: 655 – 656. https://doi.org/9783110498745-022
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können, dass sich die evangelische Botschaft ausbreitete, indem die Seelen der einfühlsameren Katholiken mit dem wahren Wort Gottes in Berührung kamen, und vielleicht hätten die Gespräche auch bessere politische Bedingungen für das Überleben der Reformation erreichen können. Aber für ihn dürfte keine dieser Versammlungen jemals der bevorzugte Ort für Diskussionen um Glaubensthemen gewesen sein.
2 Von den zwanziger bis zu den vierziger Jahren des 16. Jahrhunderts Die Vorladung Luthers vor den Reichstag zu Worms (1521) bedeutete eine entscheidende Wende für die historische Einordnung der Reformation, nicht nur wegen der berühmten Worte, die er vor Karl V. äußerte. Schon einige Monate vorher hatte sich der Heilige Stuhl mit der Bulle Decet romanum pontificem offiziell für die Exkommunizierung des Augustinerpaters ausgesprochen. Aber der Kurfürst von Sachsen, Friedrich der Weise, erhielt für Luther die Zusicherung freien Geleits nach Worms, damit der Reformator seine Gründe dem Kaiser unterbreiten konnte. Die Entscheidung Karls V., diese Initiative zu ermöglichen, war ein erstes Anzeichen dafür, dass er die Lutherfrage selbst regeln wollte, selbst wenn er damit in die Kompetenzen der römischen Kirche eingriff. In diesem Sinn war der Reichstag von 1521 der erste, an dem sich die Voraussetzungen für Religionsgespräche ergaben, wie sie dann im Zeitalter der Reformation immer wieder versucht werden sollten: Die Definition einiger Thesen, welche zwischen Vertretern verschiedener religiöser Richtungen zur Diskussion standen, die dann in Gegenwart einer weltlichen Macht als Schiedsrichter des Streitgesprächs und unter einer ansehnlichen Beteiligung von Laien – sowohl zwischen den Diskussionsteilnehmern als auch im Publikum – stattfanden.³ Im Unterschied zur mittelalterlichen Disputation verwandte man in den Diskussionen des 16. Jahrhunderts nicht mehr das scholastische und kanonische Instrumentarium, sondern jede Glaubensfrage wurde anhand des Bibeltextes eingehend überprüft. In gewisser Weise hatte Luther persönlich seinen Beitrag für die Durchsetzung dieser besonderen Art von doktrinärer Konfrontation geleistet. In den folgenden Jahren zeigte sich jedoch bei mehreren Gelegenheiten seine Unduldsamkeit gegen sie. Mehr als an den unangenehmen Erfahrungen, die Luther in Worms gemacht
Vgl. O. Scheib, Die innerchristlichen Religionsgespräche im Abendland. Regionale Verbreitung, institutionelle Gestalt, theologische Themen, kirchenpolitische Funktion. Mit besonderer Berücksichtigung des konfessionellen Zeitalters (1517 – 1689), Bd. 1,Wiesbaden, 2009, 21– 22, 77– 78; außer den Gesprächen in Worms schlägt der Autor die Disputation von Zwingli im Jahr 1523 vor dem Stadtrat von Zürich als modellhaftes Ereignis für die folgenden Jahre vor. Er weist auch auf die Inquisitio de fide von Erasmus hin (1524), ein mögliches Vorbild für die Streitgespräche zwischen Katholiken und Lutheranern, vgl. ebd., 86.
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hatte,⁴ lag das an der eigentlich politischen Natur der Religionsgespräche. Sie waren zwar der päpstlichen Kontrolle entzogen, ermöglichten es aber gleichzeitig, dass komplizierte theologische Entscheidungen Kollegien überlassen wurden, die stark unter dem Einfluss von weltlichen Kräften standen. Im Verlauf der zwanziger Jahre dachte Luther über die autoritären Werte der Kirchentradition nach und kam zu dem Entschluss, die Konzilsdekrete nicht mehr anzuerkennen, auch nicht die aus apostolischer Zeit, sie konnten nicht mehr für die Definition der doktrinären Wahrheit bindend sein. Damit lehnte er ab, dass grundlegende Glaubensfragen einem Mehrheitsprinzip, das aus einer Abstimmung hervorgegangen war, unterzuordnen seien. Seiner Meinung nach durfte nur nach der Sola scriptura geurteilt werden, nicht nach der Übereinstimmung einer Versammlung. Jede religiöse Synode hätte sich allein auf die Liturgie oder das gemeinsame Leben der Gläubigen beschränken müssen, ohne die Substanz der christlichen Konfession anzurühren.⁵ Außerdem muss daran erinnert werden, dass mit der Reformation die Kirche zwar ihre theologische Einheit verloren hatte, es aber eine lange Zeit brauchte, ehe der konfessionelle Bruch auch von der römischen Kirche verschiedene, autonome institutionelle Formen hervorbringen konnte.⁶ Für Luther bedeutete dies, dass die Katholiken, obwohl sie eigentlich wegen ihres Götzendienstes zu verdammen waren, immer noch derselben Kirche angehörten wie die Reformatoren. Die Vorbehalte des sächsischen Mönches betrafen also nicht die politische oder sogar kirchliche Übereinkunft mit dem römischen Christentum, die er nicht von vorneherein ausschloss, sondern die eventuelle Akzeptanz von Kompromissen zur Ekklesiologie, die an der Basis seiner religiösen Gedankengänge standen. Mit anderen Worten, es war nicht seine angebliche Intransigenz,⁷ die ihn von der inzwischen anachronistischen ökumenischen Vision des christlichen Glaubens entfernte.⁸ Luthers Skepsis gegenüber dem Dialog mit den Katholiken beruhte auf der unüberbrückbaren Distanz zwischen den Kriterien seiner theologischen Überzeugungen – der ständige Bezug auf die
Vgl. V. Pfnür, „Die Einigung bei den Religionsgesprächen von Worms und Regensburg 1540/41: eine Täuschung?“, in: G. Müller (Hg.), Die Religionsgespräche der Reformationszeit, Gütersloh, 1980, 55 – 88, hier: 70. Vgl. C. Spehr, Luther und das Konzil. Zur Entwicklung eines zentralen Themas in der Reformationszeit, Tübingen, 2010, 323, 353, 391, 453. Vgl. H. Jedin, „An welchen Gegensätzen sind die vortridentinischen Religionsgespräche zwischen Katholiken und Protestanten gescheitert?“, in: Ders., Kirche des Glaubens, Kirche der Geschichte. Ausgewählte Aufsätze und Vorträge, Bd. 1, Freiburg/Basel/Wien, 1966, 361– 366, hier: 363. Vgl. dazu H. Jedin, Il Concilio di Trento, Bd. 1, 4. Aufl., Brescia, 2009 (Originalausg. 1949), 341, 390, 402. Für einen Aufruf, solche Positionen zu überwinden, siehe H. Scheible, „Melanchthon und Luther während des Augsburger Reichstags 1530“, in: ders., Melanchthon und die Reformation, hg.v. G. May und R. Decot, Mainz, 1996, 198 – 220, hier: 198 – 199. Zur Begrenztheit solcher Aussichten vgl. P. Manns, „Zum Vorhaben einer „katholischen Anerkennung der Confessio Augustana“. Ökumene auf Kosten Martin Luthers?“, in: Ökumenische Rundschau, 26, 1977, 426 – 450.
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Heilige Schrift – und den römischen Konzepten einer Kirche, die als einzige und letzte Autorität bei der Erklärung der Offenbarungslehre galt. Die Position Luthers entfernte sich allmählich auch von der Linie der deutschen Fürsten, auch wenn sie ihm nicht ihre grundsätzliche Unterstützung bei seiner religiösen Reform entzogen. Sie hatten an das Konzil appelliert – an das sich bekanntlich auch der Augustinermönch gewandt hatte, um sich gegen die Bulle Leos X. Exsurge Domine zu verteidigen – denn ihre politische Agenda verlangte ein „freies und christliches“ Konzil, befreit von der päpstlichen Kontrolle und nur die Autorität des Bibeltextes anerkennend. Nachdem Deutschland von dem blutigen Bauernkrieg erschüttert worden war, gelang es den Reformierten während des Reichstages zu Speyer (1526), Karl V. das Versprechen abzutrotzen, sich der Glaubensfrage in einem zukünftigen „Konzil“ zu stellen.⁹ Der geeignete Moment schien vier Jahre später gekommen, als der Sieg gegen Frankreich und die geschwächte Position von Papst Clemens VII. – der den schrecklichen Sacco di Roma (Plünderung Roms) hatte erdulden müssen – es dem Kaiser erlaubten, nach Deutschland zurückzukehren und eine Lösung für das religiöse Schisma zu finden. Die Reichsacht zwang Luther dazu, sich in Coburg aufzuhalten, der sächsischen Stadt, die am nächsten an Augsburg lag. Melanchthon übergab dort Karl V.¹⁰ im Namen der Deutschen evangelischen Glaubens die Confessio Augustana, ein Dokument, das die Lehre Luthers in einer auch für Katholiken akzeptablen Form darlegen sollte. Die Katholiken versuchten ihrerseits, die Anstrengungen des Humanisten mit allen Mitteln zu sabotieren. Der Versuch Melanchthons entsprang der Besorgnis, die kulturell engagierte Personen in ganz Europa, angeführt durch Erasmus von Rotterdam, hegten, dass die Unterbrechung des Dialogs eine schreckliche militärische Auseinandersetzung verursachen würde.¹¹ Erasmus sollte eigentlich an der Versammlung teilnehmen, zog es aber vor, sich nicht öffentlich zu exponieren, da er nicht ausdrücklich vom Kaiser eingeladen worden war.¹² Luther riet seinerseits dem Freund Melanchthon, nur politischen Frieden und Toleranz einzufordern, ohne eine theolo-
Über die Beziehung zwischen „Nationalrat“ und „Reichstag/Nationalversammlung“ vgl. Jedin, Il Concilio di Trento, Bd. 1, 245, 360, 363 und E. Laubach, „‚Nationalversammlung‘ im 16. Jahrhundert. Zu Inhalt und Funktion eines politischen Begriffes“, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, 38, 1985, 1– 48, hier: 11– 13, 18. Vgl. M. Brecht, Martin Luther, Bd. 2, Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521 – 1532, Stuttgart, 1986, 357– 362. Vgl. H. Immenkötter, „Reichstag und Konzil. Zur Deutung der Religionsgespräche des Augsburger Reichstags 1530“, in: Müller (Hg.), Die Religionsgespräche der Reformationszeit, 7– 19, hier: 14, 16, 18 und W. Janssen, „Wir sind zum wechselseitigen Gespräch geboren“. Philipp Melanchthon und die Reichsreligionsgespräche von 1540/41, Göttingen, 2009, 23, 32– 33. Vgl. B. Lohse, „Erasmus und die Verhandlungen auf dem Reichstag zu Augsburg 1530“, in: H. Immenkötter und G. Wenz (Hg.), Im Schatten der Confessio Augustana. Die Religionsverhandlungen des Augsburger Reichstages 1530 im historischen Kontext, Münster, 1997, 71– 83, hier: 73.
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gische Vermittlung zu versuchen.¹³ Obwohl Melanchthon anstatt der Brüche in der Glaubenslehre zwischen Katholiken und Reformierten vor allem die übereinstimmenden Punkte hervorhob, und er es außerdem vermied, die Autorität des Papstes zu erwähnen und vorschlug, die Gerichtsgewalt der Bischöfe beizubehalten, gelang es ihm nicht, den Schiffbruch der Verhandlungen zu verhindern. Das protestantische Lager klagte ihn an, zu viele Konzessionen gemacht zu haben, und er war auch nicht in der Lage, die Reformierten zusammenzuhalten (seine Confessio wurde von einer autonomen Erklärung der Städte Straßburg, Konstanz, Memmingen und Lindau begleitet, die sich auf Zwingli beriefen); er konnte schließlich nur die Zurückweisung seiner Thesen durch die Katholiken hinnehmen, während Karl V. alles auf ein zukünftiges Konzil verschob und die aus dem Reichstag zu Worms von 1521 hervorgegangene Situation bestätigte. Die Confessio Augustana und ihre misslungene Anerkennung durch den Kaiser bildeten die Grundlage für eine fortschreitende Konfessionalisierung der deutschen Politik, die evangelischen Gruppierungen statteten sich einstweilen mit einer synthetischen und konsequenten Doktrin aus. In Sorge vor Reaktionen durch die katholische Seite schlossen die protestantischen Fürsten 1531 ein Verteidigungsbündnis und gründeten den Schmalkaldischen Bund. Damit war Deutschland in zwei nach religiöser Zughörigkeit gespaltene Lager aufgeteilt. Luther erklärte sofort seine Unzufriedenheit gegenüber dieser Politik, welche die Gefahr mit sich brachte, dass der Konflikt mit Rom von der Theologie aufs Schlachtfeld verlagert wurde. Die auf den Kaiser Druck ausübende Gruppierung erreichte allerdings sofort konkrete Vorteile für die Reformation, denn der Herrscher brauchte die militärische Hilfe des deutschen Adels, da im Osten Europas die Türken auf dem Vormarsch waren. Innerhalb eines Jahres wurde in Nürnberg ein politischer und religiöser Frieden proklamiert, der bis zum nächsten Konzil gelten sollte. Während Erasmus in seinem De sarcienda Ecclesiae concordia von 1533 den Wunsch äußerte, dass der Disput zwischen Protestanten und Katholiken auf einen gelehrten Rat übertragen würde, der zwischen den wenigen Kernfragen zur Glaubenswahrheit und einer weitgefassten Liste von zweitrangigen Elementen zu unterscheiden hatte, über die die Geistlichen frei diskutieren konnten, verstärkte sich auch in Rom das Bedürfnis nach einem Konzil, das das lutherische Schisma beendete. Die Wahl von Papst Paul III. im November 1534 erschien vielen als Zeichen für eine Entwicklung in diese Richtung, nicht jedoch für Luther, wie man eindeutig an seinen ironischen Kommentaren erkennen kann, mit denen er das Consilium de emendanda Ecclesia kritisierte, ein päpstliches Reformprogramm von 1537. Der Reformator weigerte sich zu glauben, dass die Worte des Papstes dem aufrichtigen Willen entspra-
Vgl. den Brief Luthers an Melanchthon vom13. Juli 1530, WA.B 5,469 – 470 (Nr. 1642), hier: 470: „Tamen quando sic ludunt promissione Concilii fallaces isti diaboli, luderem et ipse simul cum eis, appellans a minis eorum ad illud nihili et nunquam futurum Concilium, ut interim pacem haberemus. Nihil adhuc metuo de vi aut manu eorum violentia“.
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chen, die Missstände der Kirche abzustellen.¹⁴ Die wiederholten römischen Proklamationen verdüsterten die Vision des ehemaligen Augustinermönches, immer mehr neigte er dazu, die Ereignisse auf apokalyptische Weise zu sehen. Gegen alle Erwartungen wurde für 1535 ein allgemeines Konzil in Mantua einberufen, was die Fürsten des Schmalkaldischen Bundes dazu veranlasste, bei Luther eine Aufstellung der Glaubenslehren anzufragen, die für den protestantischen Glauben nicht verhandelbar waren. Die Liste mit den sogenannten „schmalkaldischen Artikeln“ zeigte, dass in den wichtigsten Glaubensfragen wie dem Abendmahl und der Rechtfertigungslehre inzwischen eine radikale Trennung von der katholischen Theologie erfolgt war. Zwar fügte Melanchthon dem Schriftstück noch einen Anhang De auctoritate papae hinzu, in dem er eine gewisse Bereitschaft signalisierte, das Primat des Pontifex iure humano anzuerkennen, aber die Protestanten hatten inzwischen zu ihrer eigenen doktrinären Identität gefunden, die aus zwanzig Jahren evangelischer Praxis entstanden war. Die erneute Vertagung des Konzils zwang Karl V. und seinen Bruder Ferdinand, den römisch-deutschen König, dazu, andere Lösungen in Betracht zu ziehen. Die Schlüsselfigur für diese Wende sollte der Fürst Joachim II. von Brandenburg sein, der in der Lage war, in seinen Herrschaftsgebieten eine Kirchenreform einzuführen, die den geistigen Bedürfnissen seiner Gläubigen entsprach, ohne zum Bruch mit Rom zu führen. Luther persönlich akzeptierte dessen neue Kirchenordnung, in der die traditionellen katholischen Formen beibehalten wurden, aber unter der ausdrücklichen Einführung von Korrekturen in der Doktrin, insbesondere der Rechtfertigung nur durch den Glauben.¹⁵ Auf Rat von Joachim II. versuchte man es über den Weg der Religionsgespräche, die offiziell während des Reichstages von Frankfurt (1539) angekündigt wurden und im darauffolgenden Jahr beginnen sollten. Wie im Falle von Augsburg durfte und wollte Luther nicht an den kaiserlichen Versammlungen teilnehmen, zeigte sich aber von Anfang an wegen der politischen Vorteile, die daraus erwachsen konnten, interessiert. Er war bereit, die episkopale Hierarchie anzuerkennen, unter der Bedingung, dass die Bischöfe unter frommen und rechtschaffenen Personen ausgewählt würden, die formell gegen die päpstliche Lehre Stellung bezogen.¹⁶ Nach einem ersten Reichstag in Hagenau organisierte man Diskussionen über die Modalitäten, nach denen sich die eigentlichen Verhandlungen abspielen sollten, und im Dezember 1540 kam es zum ersten der zwei wichtigsten Religionsgespräche in Worms.
Vgl. Brecht, Martin Luther, Bd. 3, Die Erhaltung der Kirche 1532 – 1542, 192. Vgl. Brief Luthers an Joachim II. von Brandenburg, 4.–5. Dezember 1539, WA.B 8,620 – 624 (Nr. 3420). Vgl. Brecht, Martin Luther, Bd. 3, 204.
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3 Von Worms nach Regensburg: das kaiserliche Toleranzprojekt Bis zum Vorabend der Versammlung zweifelte Luther an der Aufrichtigkeit der Absichten und der religiösen Aktionen, die die Habsburger betrieben, eine Ungewissheit, die dieses Mal auch von Melanchthon geteilt wurde. Letzterer zollte dem Kaiser nach den enttäuschenden Erfahrungen der nächsten Vergangenheit nur geringes Vertrauen und hoffte, wie ihm schon zehn Jahre vorher geraten worden war, nur noch, dass der Ratgeber Nicolas Perrenot de Granvelle, dazu abgeordnet, die Arbeiten des Reichstags zu verfolgen, „sich für den politischen Frieden einzusetzen würde, wenn es sich als unmöglich erweisen sollte, eine religiöse Übereinstimmung zu erzielen“.¹⁷ Aber obwohl es inzwischen eindeutig erschien, dass Karl V. ein „Gefolgsmann des römischen Idols“ war,¹⁸ versuchte man in Wittenberg, die eventuellen Vorteile ausfindig zu machen, die aus den Reichstagen zu gewinnen waren: Es wundert mich, dass Karl so schnell eine so umfangreiche Versammlung vereinigt und ich beginne zu denken, dass diese Initiative über unsere Vorausschau hinausgeht, ähnlich wie jenes Mal, als unter meiner Gegenwart versucht wurde, 1521 ein Konzil in Worms einzuberufen. Allerdings nannte es sich nicht „Konzil“ und wurde ohne die Autorisierung des Papstes abgehalten. Und wenn auch dieses Mal der Kaiser, ohne das Wort „Konzil“ zu verwenden – verhasst in Substanz und Klang bei den Römern –, von unseren Anfragen angetrieben ein nationales Konzil einberufen hätte, ohne es so zu nennen und ohne Kontrolle durch den Papst? Wenn Gott beginnt, sein Herz zu bewegen, müssen anfangen, zu beten, dass er ihn in die richtige Richtung führt. […] Wenn der Fall eintreten sollte, dass jene Euch einige Zugeständnisse anbieten, damit auch Ihr Zugeständnisse macht, so habt Ihr wiederum ein Beispiel, dass Ihr mit aller möglichen Demut und Bescheidenheit antwortet: Was uns betrifft und in unserer Gewalt steht, sind wir bereit, nicht allein dem Kaiser, sondern einem jeden, der es begehrt, um des Friedens willen nachzugeben. Aber wenn von jenen ungerechterweise gefordert wird, dass wir Zugeständnisse in Bezug auf Dinge machen, die wahrlich in der Gewalt Gottes allein und nicht einmal bei der allgewaltigen Kirche stehen, welche nach Gott die höchste Gewalt hat und sogar das Gericht über die Engel (1 Kor 6,3), müssen wir erkennen, dass uns dies, wie selbst den himmlischen Engeln, unmöglich ist. Und wenn wir es täten, so wäre es nichtig und geschähe gegen den Willen Gottes.¹⁹
Brief Melanchthons an Luther, 14. November 1540, WA.B 9,269 – 270 (Nr. 3552), hier: 269: „sperant daturum operam, ut, etiam si concordia constitui non poterit, tamen de pace agatur“. Brief Luther an Melanchthon, 18. November 1540, WA.B 9,270 – 271 (Nr. 3553): „Nos scimus Caesarem, idolatram idoli Romani, perdidisse omnem suam fortunam in aeternum, postquam osculatus est non manum, sed pedem quoque monstri novissimi, sicut testatur dies haec, et postera magis declarabit“. Brief Luthers an Melanchthon, 21. November 1540, WA.B 9,271– 273 (Nr. 3554), hier: 271– 272: „Mirum, quid sit, quod Carolus tam numerosum repente faciat conventum istum. Et suspicari quidem incipio, rem fore praeter spem nostram et talem, qualis fuit, me agente Wormatiae, anno XXI, ubi concilium fuit sine nomine concilii, et sine Papae auctoritate illuc vocatus tentabar. Quid, si iterum Caesar omittens odiosum Romanis nomen concilii et re ipsa tamen et suo nomine, tandem nostris clamoribus motus, indixerit nationale concilium, sine nomine concilii et sine auctoritate Papae? Si coepit Dominus cor eius movere, orandum est serio, ut permoveat. […] Porro, si inciderit ratio, ut illi
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Auch bei der denkbar besten Ausgangsposition mit einem Karl V., der bereit war, sich in völliger Autonomie gegenüber päpstlichen Vorschriften zu verhalten und sich empfänglich gegenüber protestantischen Forderungen zeigte, blieb Luther unnachgiebig seinen Überzeugungen verhaftet und ließ es nicht zu, dass eine eindeutig politische Versammlung sich zum Inhalt des christlichen Glaubens äußerte. Der Unterschied zwischen dem kaiserlichen Verhandlungsschema, das vielleicht gewisse Konzessionen an die Protestanten hätte bewirken können, und dem des theologischen Disputes, den der Reformator von vorneherein ausschloss, begann sehr bald, Konflikte zu verursachen. Während das deutsche Verlagswesen fortfuhr, Broschüren herauszubringen, welche die Spannung zwischen den Parteien anstachelte, traf die Nachricht ein, dass der Kaiser ein Dekret zur Repression der Protestanten in Flandern erneuert hatte. Zwischen November und Dezember 1540 wurde das Lager der Reformierten von einer Empörungswelle über einen Herrscher erschüttert, der sich die Hände mit „unschuldigem Blut“²⁰ befleckt hatte, durch den Erlass dieses „schrecklichen Ediktes“.²¹ Damit verschwand auch das geringe Vertrauen, das die Protestanten gegenüber den Religionsgesprächen hegten. Um die unseligen politischen Folgen eines vollständigen Bruches zwischen der Reformation und den kaiserlichen Ministern zu vermeiden, versuchte Luther, den Brand zu löschen, indem er erklärte, die Affäre um das Edikt sei nur ein Manöver, um den Reichstages scheitern zu lassen und die Schuld seinen Glaubensbrüdern anzulasten.²² In diesem Klima von Verdachtsmomenten und Spannungen begannen in Worms die Arbeiten der Versammlung. Melanchthon war nicht mehr bereit, über die Grundlinien des evangelischen Glaubens zu verhandeln, legte der Versammlung eine abgeänderte Form der Confessio Augustana vor und verlangte, dass sie als Ausgangspunkt für die weiteren Religionsgespräche benutzt werde.²³ Granvelle hegte jedoch andere Pläne. Während die öffentlichen Diskussionen zwischen den Repräsentanten voranschritten und eine Übereinkunft bezüglich der Doktrin von der Erbvobis aliqua concedenda offerant, ut vicissim concedenda offeratis, havetis iterum exemplum, ut omni genere humilitatis et modestiae respondeatis: „Ea, quae nostra sunt et in nostra potestate, non modo Caesari, sed cuicunque petenti propter pacem cedere parati sumus, quae vero in potestate solius Dei, nec universalis Ecclesiae quidem sunt, cuius est summa post Deum potestas et iudicium etiam Angelorum, possible est, ab illis inique postulari, ut concedamus, sed nobis, imo Angelis coelestibus et re ipsa impossibile, et, si concedamus, irritum est, et Deo irascente concederentur““. Brief Luthers an Melanchthon, 24. November 1540,WA.B 9,277– 279 (Nr. 3557), hier: 278: „Ego neque de Caesare neque de Ferdinando quicquam boni spero, quia sanguis innocens, quo sunt illorum manus maculatae, clamat, et simulant fortasse aliquid aliud, quam re ipsa agunt, quodque etiam palam machinarentur“. Vgl. WA.B 9,258, Fußnote 10 und 282. Brief Melanchthons an Luther, 2. Dezember 1540, WA.B 9,281– 285 (Nr. 3559), hier: 283: „In Belgico editum est edictum atrocissimum […] Interim nostri Heroes putant, autores talium edictorum nobis multa largituros esse“. Vgl. den Brief Luthers an J. Jonas, 9.–10. Dezember 1540,WA.B 9,290 – 291 (Nr. 3562) und G. Kuhaupt, Veröffentlichte Kirchenpolitik. Kirche im publizistischen Streit zur Zeit der Religionsgespräche (1538 – 1541), Göttingen, 1998, 234– 238. Janssen, „Wir sind zum wechselseitigen Gespräch geboren“, 108, 118 – 119, 205, 290 – 291.
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sünde erzielt wurde, arbeitete der kaiserliche Ratgeber an einer parallelen Strategie. Im Dezember des Jahres 1540 bewirkte er Colloquia privata zwischen Vertretern der beiden Parteien, die sich gegenüber einem Kompromiss als besonders aufgeschlossen gezeigt hatten, und zwar dem elsässischen Reformator Martin Bucer und dem Kanoniker des Kölner Doms Johann Gropper, Verfasser eines friedfertigen Enchiridion christianae religionis. Das Ergebnis dieser diskreten Verhandlungen war die Abfassung des Wormser Buches, ein Text mit einer Reihe von Kompromissartikeln, die, mit einigen Änderungen, bald darauf als theologische Plattform für die Debatten während des nächsten Reichstags von Regensburg dienen sollten. In der Vergangenheit ist, ausgehend vom Wirken Groppers und Bucers, bei den Versuchen einer religiösen Einigung, wie sie in Worms und Regensburg angeregt wurde, die Dominanz der von Erasmus geprägten humanistischen Kultur hervorgehoben worden. Jenseits einer allgemeinen friedliebenden Tendenz suchte man nach dem roten Faden, repräsentiert von Gropper und seinem Enchiridion, dem theologischen Ansatz eines Erasmus und der Perspektive des Wormser Buches, mit besonderem Bezug auf die Doktrin der Duplex iustitia, welche dem Glauben und den Guten Werken den gleichen Rang bei der Rechtfertigung des Christen einräumte. Nach dieser Lesart hätten sich die Protagonisten der interkonfessionellen Wiederannäherung – und teilweise auch Melanchthon – dank ihrer humanistischen Sensibilität über die religiöse Kontroverse erhoben und, im Gegensatz zu Luther, eine Theologie erschaffen, die nicht auf Dogmen, sondern auf ethischer Praxis beruhte. Luther glaubte daher an kein Konkordieren mehr. Ihm galt es nur, in Geduld auszuharren und äußeren Frieden zu erlangen. […] Regensburg 1541 ist eigentlich schon der Endpunkt humanistischer Unionsversuche. Da tritt die Unmöglichkeit schon offen zutage, auf der Vergleichsbasis die Union durchzusetzen.²⁴
Die historiographische Interpretation des Reichtages von Regensburg als der großen „verpassten Gelegenheit“ löste sofort eine Reihe ausführlicher Widersprüche aus, die einerseits versuchten, die Zentralität der Rechtfertigungslehre in den Diskussionen herunterzuspielen, andererseits die wenig wahrscheinliche Genealogie ErasmusGropper-Duplex iustitia zu demontieren.²⁵ So wollte man die Hauptvertreter der Verhandlungen von einer übertrieben Abhängigkeit vom großen holländischen Intellektuellen emanzipieren, indem die Friedensbestrebungen nicht mit der humanistischen Kultur, sondern mit einem sogenannten europäischen „Evangelismus“ verknüpft wurden.²⁶ Obwohl für einige die Herkunft von Erasmus eindeutig war,²⁷ Stupperich, Der Humanismus, 131. Vgl. C. Augustijn, De godsdienstgesprekken tussen rooms-katholieken en protestanten van 1538 tot 1541, Haarlem 1967, 3, 102– 103 und R. Braunisch, Die Theologie der Rechtfertigung im „Enchiridion“ (1538) des Johannes Gropper. Sein kritischer Dialog mit Philipp Melanchthon, Münster, 1974, 419 – 421, 428 – 431. C. Augustijn, „Die Religionsgespräche der vierziger Jahre“, in Müller (Hg.), Die Religionsgespräche der Reformationszeit, 43 – 53, hier: 49 – 50.
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muss festgestellt werden, wie schwierig es häufig ist, zwischen „einer religiösen Politik oder einem an Erasmus inspirierten Friedenswillen“ und einem „Pragmatismus, der nur auf politischen Grundlagen beruhte, frei von jedweder konfessionellen Dimension“ zu unterscheiden.²⁸ Das gilt insbesondere für Bucer, der mehr als jeder andere Anstrengungen unternahm, um Kompromisse und Einigungen mit den Katholiken zu erzielen. Wie aus neuesten Studien hervorgeht, war es nicht die Suche nach einer christlichen Wahrheit jenseits der konfessionellen Brüche, die sein Handeln antrieb, sondern der Versuch, eine öffentliche Legitimation für die protestantische Lehre zu erreichen, um so viele Katholiken wie möglich anzuziehen.²⁹ In dieser Strategie, aber nicht in der Substanz, unterscheidet sich der Elsässer von dem Reformator aus Wittenberg. Die Ergebnisse der Arbeiten an den Dokumenten, die bei den Religionsgesprächen eingereicht wurden, und zu den einzelnen Personen, die daran teilnahmen, haben geklärt, dass es sich nicht so sehr um einen Moment theologischer Experimente handelte, sondern um den absoluten Vorrang politischer Interessen, die bei Verstärkung des konfessionellen Konfliktes in der Lage gewesen wären, der kaiserlichen Initiative eine gangbare Lösung vorzuschlagen, um Deutschland eine Zwischenzeit der Entspannung zu bieten. Dieselbe Ungeniertheit, mit der Granvelle dem starken Widerstand der Katholiken gegenüber gleichgültig blieb, während er die konzilianten Vorschläge von Bucer und Gropper für seine Ziele nutzte, spiegelt die überwiegend politische Perspektive wieder, mit der er die religiösen Fakten einordnete: Ein Gesichtspunkt, der in der Kirchenreform ein mögliches Instrument sah, um die öffentliche Ordnung zu garantieren und im Inneren des Reiches Konsens zu erzielen.³⁰ In diesem Sinne zielte das Toleranzprojekt der Ratgeber von Karl V. darauf ab, mittels der Akzeptanz des Wormser Buches durch beide Parteien eine institutionelle Struktur zu schaffen, die es erlaubte, den konfessionellen Riss in der deutschen Gesellschaft zu heilen, in der Hoffnung, dass eine formal interimistische Gesetzgebung sich mit der Zeit normalisiert hätte. Nach dem Scheitern des Reichstages von Augsburg war es für Granvelle eindeutig, dass man nicht mehr versuchen sollte, „die Evangelischen mittels einiger Zugeständnisse zur Mutterkirche zurückzuführen“, sondern dass man „eine einzige deutsche Kirche mit Einigkeit in Lehre und Zeremonien“ schaffen musste.³¹
Man denke an Julius Pflug, Bischof von Naumburg, dem Erasmus 1533 seine Veröffentlichung De sarcienda Ecclesiae concordia gewidmet hatte und der in Regensburg einer der drei Vertreter der katholischen Delegation war. Vgl. A. P. Luttenberger, Glaubenseinheit und Reichsfriede. Konzeptionen und Wege konfessionsneutraler Reichspolitik 1530 – 1552 (Kurpfalz, Jülich, Kurbrandenburg), Göttingen, 1982, 116. Vgl. ebd., 84– 85 und V. Ortmann, Reformation und Einheit der Kirche. Martin Bucers Einigungsbemühungen bei den Religionsgesprächen in Leipzig, Hagenau, Worms und Regensburg 1539 – 1541, Mainz, 2001, 88 – 89, 146, 165, 226 – 227. Vgl. Luttenberger, Glaubenseinheit und Reichsfriede, 233 – 235. Augustijn, „Die Religionsgespräche der vierziger Jahre“, 45 – 47.
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Um sein Ziel zu erreichen, versuchte der Ratgeber mit allen Mitteln, alle Protagonisten der Religionsgespräche für sein Projekt zu gewinnen, indem er die von Bucer gezeigte Verhandlungsbereitschaft ausnutzte (er beurteilte ihn als Kryptokatholiken)³² und jede Form von politischem Druck ausübte, um die Gunst von Melanchthon und Luther zu erlangen. Die kaiserliche Diplomatie schien in der Tat einen Erfolg nach dem anderen einzufahren, indem sie unter den Katholiken die aktivsten Gegner eines Kompromisses isolierte und in Rom erreichte, dass für den Reichstag von Regensburg der Kardinal Gasparo Contarini als Legat ernannt wurde. Letzterer war am päpstlichen Hof wegen seiner Gelehrsamkeit und der konzilianten Haltung gegenüber der Reformation sehr geschätzt, was gute Hoffnungen für das Gelingen der Initiative Karls V. entstehen ließ.³³ Mit der Redaktion des Wormser Buches wurden die Verhandlungen unterbrochen und an die nächste Versammlung verwiesen, an der auch der Kaiser persönlich teilnehmen sollte. Unter Anweisung Granvelles und des Landgrafen Philipp von Hessen schickte Bucer die Vermittlungsangebote an Joachim II. von Brandenburg, der Luther dazu auffordern sollte, sie „vetterlich und getrewlich“ zu lesen, um so seine Zustimmung zu gewinnen.³⁴ Im Februar 1541 stellte der Kurfürst das Wormser Buch dem Reformator vor und beschrieb es ihm als das Werk einiger gelehrter Männer, die noch der katholischen Seite angehörten, sich aber als nicht unempfänglich gegenüber den Fragen der Reformation erwiesen hätten. Er spielte an auf die Fürstentümer Köln, die Pfalz und Jülich, welche zu diesem Zeitpunkt eine vermittelnde Rolle zwischen den beiden konfessionellen Parteien einnahmen. Joachim II. versuchte außerdem, Luther hinsichtlich des Ediktes zu beschwichtigen, das der Kaiser in Flandern veröffentlicht
Vgl. Jedin, Il Concilio di Trento, Bd. 1, 428. Vgl. den Sonett des Benediktinermönches Pietro Massolo „Al cardinal Contarino, eletto legato in la Magna“ in: P. Massolo, Sonetti morali, Bologna, 1557, Nr. 255: „Va’ Contarino a questa santa impresa / che ’l Spirto Santo a te sia scorta et duce, / et col suo lume, che al cor dentro luce / andrai sicuro et lieto et senza offesa; / va’, che ’l bel nome de la santa Chiesa, / che solo salva et solo al ciel conduce, / per te fia sparso quanto il sol riluce / la piaga australe, et quella in pace resa; / va’, che la pace, ch’hor da quella è spenta / spenta la guerra col tuo gran sapere / rendendo a quella la rendrai contenta; / va’, che in quel spero che ’l tutto ha in potere, / che vedrai d’esta impresa un fin giocondo / et vivrai sempre chiar per fama al mondo“. („Gehe Contarino zu diesem heiligen Unternehmen / dass der Heilige Geist dir Schutz und Anführer sei / und (dich) mit seinem Licht und im Herzen erleuchte / gehe sicher, leicht und ohne Harm / gehe im Namen der Heiligen Kirche / die alleine rettet und zum Himmel führet / durch dich leuchte so viel Licht wie das der Sonne / in der südlichen Region dass sie in Frieden lebe / gehe, der du mit großer Weisheit den Krieg gelöscht / gib ihr den Frieden jetzt wo der Krieg gelöscht ist / sie wird dich zufrieden sehen / gehe und ich hoffe in ihn der alles kann / dass du in diesem Unternehmen ein frohes Ende siehst / und du wirst immer voller Ruhm in der Welt leben“. Brief von M. Bucer an Joachim II. von Brandenburg, 10. Januar 1541, in: M. Lenz (Hg.), Briefwechsel Landgraf Philipp’s des Grossmüthigen von Hessen mit Bucer, Bd. 1, Leipzig, 1880, 529 – 538, hier: 536.Vgl. Stupperich, Der Humanismus, 95, 103 und W. Delius, „Die Kirchenpolitik des Kurfürsten Joachim II. von Brandenburg in den Jahren 1535 – 1541“, in: Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte, 40, 1965, 86 – 123, hier: 113 – 114.
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hatte.³⁵ Sein Gegenüber äußerte zu letzterem Punkt umgehend, dass er sich dafür nicht interessiere, aber er habe gerade eine polemische Broschüre mit dem Titel Wider Hans Worst gegen die katholische Kirche beendet.³⁶ Hinsichtlich des Textes zur Einigung konnte Luther nur hervorheben, dass trotz des guten Willens, den die Verfasser gezeigt hätten, die Artikel „unmugliche furschlege“ enthielten und dass viele von ihnen nicht Teil der evangelischen Lehre seien oder werden könnten.³⁷ Nach dem Fehlschlag des Versuches, ihn an das kaiserliche Projekt anzunähern, war der Reformator überzeugte, dass es vollkommen nutzlos war, Melanchthon und Johann Cruciger als Repräsentanten der Lutheraner nach Regensburg zu schicken, er musste sie jedoch ziehen lassen, nachdem Fürst Johann Friedrich von Sachsen dies ausdrücklich von ihm verlangt hatte.³⁸ Bei der Eröffnung des Reichstages im April 1541 wurde bekanntgegeben, dass Karl V. die Gespräche mittels zweier eng begrenzter Gruppen von protestantischen und katholischen Theologen konzipiert hatte, auf der einen Seite Melanchthon, Bucer und Johannes Pistorius, auf der anderen Julius Pflug, Gropper und Johannes Eck. Trotz des Pessimismus im protestantischen Lager – Cruciger schrieb „es hat den Anschein, dass der Dialog zwischen den ausgewählten Repräsentanten nur mit Mühe drei Tage dauern wird, wie es schon in Worms geschehen ist“³⁹ – hatten die von Granvelle geleiteten Verhandlungen Erfolg, der sich allerdings als von geringem Bestand erweisen sollte. Contarini akzeptierte die Einheitsartikel, die Bucer und Gropper ausgearbeitet hatten, setzte ihnen jedoch zwanzig kurze, aber entscheidende Anmerkungen entgegen. Da er überzeugt war, die Protestanten könnten sich nicht den in vorherigen Konzilen gefällten Entscheidungen entziehen, fügte der Kardinal unter anderem einen ausdrücklichen Bezug auf die katholische Lehre der Transsubstantiation ein, die im protestantischen Lager mit am schärfsten bekämpft wurde.⁴⁰ Als zum Vorschein kam, dass das „Buch von Regensburg“ (das nach den Vorschlägen Contarinis ausgearbeitete Wormser Buch) und nicht die Confessio Augustana als Grundlage für die Diskussionen benutzt werden sollte, gewann Melanchthon einen äußerst negativen Eindruck, den er Luther sofort mitteilte. Dieser erkannte im Text die Artikel, welche ihm der Kurfürst von Brandenburg zugesandt hatte, und definierte ihn als ein Werk, „in dem alle Doktrinen umgestoßen werden, die bisher von den Papisten gelehrt wurden, indem sie eine falsche Bedeu-
Brief Joachims II. von Brandenburg an Luther, 4. Februar 1541, WA.B 9,322– 327 (Nr. 3573), hier: 325. Vgl. Brief Luthers an Joachim II. von Brandenburg, 13. Februar 1541, WA.B 9,329 – 330 (Nr. 3576). Brief Luthers an Joachim II. von Brandenburg, 21. Februar 1541, WA.B 9,332– 334 (Nr. 3578), hier: 333. Vgl. Brief Johann Friedrichs von Sachsen an Luther, 13. März 1541, WA.B 9,337– 338 (Nr. 3581). Brief von J. Cruciger an Luther und Melanchthon, 22. April 1541, WA.B 9,377– 379 (Nr. 3603), hier: 378: „apparet futurum, ut […] ipsa collactio inter delectos vix triduo, ut Vormatiae, duratura“. Vgl. Jedin, „An welchen Gegensätzen“, 365.
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tung erhalten und erträglich erscheinen. […] es ist klar, dass dieses Manöver darauf angelegt ist, ihren Götzendienst zu verbergen und am Leben zu erhalten“.⁴¹ Da sich Eck in einem schlechten Gesundheitszustand befand, wurden die Gespräche auf einen noch engeren Kreis von jeweils nur zwei Theologen pro Partei reduziert, Melanchthon, Bucer, Gropper und Pflug, die eindeutigsten Unterstützer einer friedlichen Lösung zwischen den Parteien. Durch Vermittlungen und Übereinkünfte war es dann Anfang Mai soweit, die kaiserlichen Unterhändler erreichten den Konsens zur Rechtfertigungslehre durch die Regelung der duplex iustitia. Diesem Ergebnis wurde von niemandem, der an den Gesprächen teilnahm, größere Bedeutung zugemessen, als ihm zustand, denn es handelte sich um einen momentanen Kompromiss, dessen Reichweite zusammen mit theologischen Fragen von tieferer ekklesiologischer Bedeutung geprüft werden musste, wie die Artikel zur Eucharistie und zur Kirchenhierarchie. In Italien dagegen löste die Nachricht begeisterte Reaktionen aus, auch wenn Contarini als zu nachgiebig gegenüber den Reformierten beurteilt wurde. Der Kardinal Pietro Bembo vergoss aufrichtige Freudentränen und begrüßte eine „so glücklich begonnene Einigung“.⁴² In Wirklichkeit war die Zustimmung zum Artikel über die Rechtfertigung bereits der höchste Gipfel, zu dem das diplomatische Geschick von Granvelle vordringen konnte. Es wurde immer schwieriger, zwischen den Ansprüchen der beiden Parteien zu vermitteln, und die Diskussionen über die entscheidenden theologischen Fragen zeigten, dass eine Einigung, selbst in Form eines Kompromisses, unmöglich war. Wie Melanchthon schrieb, indem er einer verbreiteten Unduldsamkeit Ausdruck verlieh, könne man nicht fortfahren, „die doppelsinnigen Floskeln und die falschen und betrügerischen Artikel“ zu ertragen, „mit denen die Wahrheit beiseitegeschoben wird. Anstatt die Kirche zu sanieren, zerstört man sie auf diese Weise“.⁴³ Auch mit seinen letzten taktischen Schritten konnte der Ratgebers Karls V. wenig ausrichten, er versuchte, den deutschen Humanisten von den Gesprächen auszuschließen, indem er ihm vorwarf, er habe, von Luther aufgehetzt, oder schlimmer noch, Instruktionen der französische Krone befolgend, die Verhandlungen scheitern lassen.⁴⁴ Man versuchte dann, die direkte Zustimmung des sächsischen Reformators für den Reichstag zu
Brief Luthers an Melanchthon, 12. Mai 1541, WA.B 9,410 – 411 (Nr. 3617): „librum illum […] in quo omnia ante a Papistis docta a falso sensu trahuntur et ornantur tolerabili. […] manifestum est, totam actionem eorum institutam esse ad fucanda omnia idola sua et retinenda“. Brief von A. Priuli an L. Beccadelli, 20. Mai 1541, C. Dionisotti, „Monumenti Beccadelli“, in: ders., Scritti di storia della letteratura italiana, hg. von T. Basile,V. Fera und S.Villari, Bd. 1, 1935 – 1962, Rom, 2008, 183 – 199, hier: 196. Brief Melanchthons an Albert von Preußen, 24. Mai 1541, CR IV, Nr. 2246, coll. 330 – 333, hier: 330 – 331: „Multa enim sunt, et vetera et recentia exempla, quae admonent in talibus conciliationibus plerumque decurri ad ambiguos flexiloquos, fucosos et fallaces articulos, quibus veritas obruitur, et non sanantur Ecclesiae, sed magis dissipantur“. Vgl. Brief Melanchthons an Luther, 19. Mai 1541, WA.B 9,413 – 415 (Nr. 3619), hier: 414, und Brief von Melanchthon an Karl V., 20 – 21 Mai 1541, CR IV, Nr. 2240, cc. 318 – 321, hier: 319.
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gewinnen, mit dieser Idee war auch Contarini einverstanden.⁴⁵ Granvelle ließ den venezianischen Kardinal wissen, Melanchthon habe ihm anvertraut, dass „Luther dringend die Einigung wünsche, und dass man mit ihm besser verhandeln könne, als mit vielen anderen dieser Theologen“.⁴⁶ So kam es, dass Anfang Juni in Wittenberg eine neue Botschaft eintraf, mit der dem Anführer der Protestanten die vier Artikel vorgelegt wurden, über die es eine Einigung gab und zehn weitere, die gerade diskutiert wurden.⁴⁷ Auch diese theologischen Kompromissversuche wies Luther mit Entschiedenheit zurück. Er war nicht allein mit dem Text über die Rechtfertigungslehre unzufrieden, sondern traute auch nicht der angeblichen Toleranz, mit der die Themen behandelt werden sollten, zu denen die beiden Parteien noch keine Einigung erzielt hatten.⁴⁸ Während er sein unwiderrufliches Urteil aussprach, versuchte er auch, dem Freund Melanchthon seinen Beistand auszusprechen, in der Hoffnung, dass der Reichstag schnell beendet würde. Leider habe der Humanist nur Zeit verloren, indem er sich um einen Dialog mit „jenen verdammten Männern“ bemühte.⁴⁹ Die Religionsgespräche erwiesen sich also in der Bilanz als vollkommener Fehlschlag: Wie ich im anfang gesaget, und noch sage, die erfarung auch gibt, Das die vergleichung in der Religion fürgenomen ein lauter Mentzische und papistische Teuscherey ist, Denn es ist unmüglich Christum zuvergleichen mit der schlangen, und ist nichts drinn gesucht, denn unser unglimpff, on Das ichs gern gesehen, das unser lehr nur wol disputirt, geleutert und erkandt würde, wie zu Augspurg (1530) geschehen.⁵⁰
A. P. Luttenberger, „Kaiser, Kurie und Reichstag: Kardinallegat Contarini in Regensburg 1541“, in: E. Meuthen (Hg.), Reichstage und Kirche, Göttingen, 1991, 89 – 136, hier: 122. Brief von G. Contarini an den Kardinal A. Farnese, 23. Mai 1541, L. Pastor, „Die Correspondenz des Cardinals Contarini während seiner deutschen Legation (1541), aus dem päpstlichen Geheim-Archiv. Teil II“, in: Historisches Jahrbuch, 1, 1880, 473 – 501, hier: 473; vgl. Ortmann, Reformation und Einheit der Kirche, 257– 258. Vgl. Brief Luthers an Johann Friedrich von Sachsen, 6. Juni 1541,WA.B 9, 433 – 436 (Nr. 3628) und H. Nestler, „Vermittlungspolitik und Kirchenspaltung auf dem Regensburger Reichstag von 1541“, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte, 6, 1933, 389 – 414, hier: 400 – 401. Vgl. Brief Luthers an die Fürsten Johann und Georg von Anhalt, 11.–12. Juni 1541, WA.B 9,436 – 445 (Nr. 3629), hier: 441. Brief von Luther an Melanchthon, 12. Juni 1541, WA.B 9,445 – 449 (Nr. 3630), hier: 446: „Spero vos redituros brevi. Nam frustra ibi fuistis et fecistis omnia cum istis perditis“. Brief Luthers und J. Bugenhagens an Johann Friedrich von Sachsen, 22. Juni 1541, WA.B 9,459 – 463 (Nr. 3637), hier: 460.
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4 Fazit: von Regensburg (1541) nach Regensburg (1546) Der Abschluss des Reichtages brachte keine Ergebnisse und hinterließ bei Luther viele Zukunftssorgen. Nicht allein schien es ihm, dass Deutschland in einen Krieg abzugleiten drohte, obwohl der Kaiser den Religionsfrieden von Nürnberg erneuert und sich wiederum dem Konzil anheimgestellt hatte. Tatsächlich sollte das Konzil von Trient bald beginnen.⁵¹ Die apokalyptische Vision des Reformators nahm jedoch immer düsterere Züge an und er war davon überzeugt, dass die politischen Mächte und der Antichrist sich verschworen hatten, seine Reformation zu vernichten. Von physischem Leid geplagt, fühlte er sein Ende nahen. Inzwischen wurde 1546 in Regensburg ein neuer Reichstag abgehalten, der im Reich eine Annäherung der Konfessionen bewirken sollte. In Wirklichkeit hatte Karl V. die Versammlung einberufen, ohne diplomatische Ergebnisse erzielen zu wollen. Es ging ihm nur darum, Vorbereitungszeit für den Schmalkaldischen Krieg zu gewinnen, den keines der vorhergehenden Religionsgespräche hatte verhindern können. Zum Glück sah Luther, der sein ganzes Leben lang versucht hatte, einen Krieg auf deutschem Boden zu verhindern, vor seinem Ende nur erste Anzeichen davon am Horizont heraufziehen.
Vgl. Brecht, Martin Luther, Bd. 3, 227, 361.
Herman Selderhuis
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1 Krankheiten Bedenkt man Luthers gesundheitliche Situation und die vielen Male, in denen er dem Tode nahe war, ist es mehr als bemerkenswert, dass er ein Alter von 62 Jahren erreicht hat, was sogar oberhalb der durchschnittlichen Lebenserwartung eines Mannes in dieser Zeit liegt. Luthers Beschwerden könnten problemlos ein medizinisches Lehrbuch füllen. Zwischen seiner Reise nach Augsburg 1518, als er zum ersten Mal ernsthafte Magenprobleme erwähnte, und seinem Tod 1546 äußerte sich Luther ununterbrochen über seine gesundheitlichen Probleme. Er hatte Probleme mit seinem Magen und seinem Darm, litt an Herzproblemen, Nierensteinen, einer Wunde am Bein, die nicht recht verheilte, Schwindelanfällen, Rheuma, endlosem Klingeln in seinen Ohren, verbunden mit Taubheit (Menière-Krankheit), Hämorriden, Kopfschmerzen, Gleichgewichtsstörungen und chronischem Stress, Schlaflosigkeit und Müdigkeit. Während dieser 30 Jahre war er beinahe ständig krank, und seine Frau besorgt. Im Jahr 1527, als Luther dem Tode nahe war, saß Katharina an seinem Bett. Sie sagte: Mein liebster Her Doctor, ist es so Gottes will, so will ich euch bey unserm Herr Gott lieber dan bey mir wissen. Es ist nicht allein umb mich und mein Kindt zuthun, sondern um viel frommer christenleutt, die eur noch dürffen; wolt euch meinet halben nicht kommern. Ich befeel euch seinem gottlichen wyllen. Es wird euch Gott erhalten.¹
Luther berichtete bis ins Detail von seinen Beschwerden, sogar von seinen Magenproblemen. Eine kleine Erwähnung wie „Ich musste 15 Mal in zwei Tagen die Toilette aufsuchen“² sagt genug. Zu diesen Problemen kamen die üblen Effekte seiner damals unbekannten Menière-Krankheit hinzu. Caput enim tinnitibus, imo tonitruis coepit impleri, et, nisi subito desiissem, statim syneopen fuissem lapsus, quam et aegre hoc biduo evasi. Itaque tertia dies est, quod ne literam quidem inspicere volui ne potui. […] Igitus iam plane otior et ferios. Paulatim autem residet capitis ille tumultus, medicamentis et auxiliis suis fotus.³
Übersetzung: Magnus Rabel. WA.TR 3, Nr. 2922b. WA.B 7,239 [Ego non annis, sed viribus decrepitus fio, ad labores antemeridianos paene totus inutilis factus] und 245. WA.B 5,316. Brief an Melanchthon 12.05.1530 [„Es geht los, wenn mein Kopf gefüllt ist von den Klängen der Uhr, in der Tat, wie Donner, und wenn ich nicht sofort aufgehört hätte zu arbeiten, wäre ich https://doi.org/9783110498745-023
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Mehrere Male berichtete Luther von solchen Attacken, ebenso wie von anderen physischen Beschwerden, die einen zunehmend negativen Einfluss auf seine Stimmung hatten. Luthers körperliches Leiden machte ihn umso eigensinniger, unerbittlicher und schärfer in seinem Reden und Schreiben als sonst. Melanchthon war oft sein Opfer, der sogar noch nach Luthers Tod erwähnte, dass er viel unter Luther gelitten habe. Sowohl Martin Bucer als auch Johannes Calvin sandten ihre Briefe stets zuerst zu Melanchthon, so dass dieser entscheiden konnte, ob Luther in der Stimmung war, ihn zu lesen. Trotz der ständigen medizinischen Probleme war Luther in der Lage, viel Arbeit zu erledigen. 1521 war er sieben Monate lang krank und veröffentlichte trotzdem dreißig Abhandlungen, schrieb einhundert Briefe und predigte sieben Mal. Im Jahr 1530 war er zehn Monate lang krank, und doch schuf er dreißig Abhandlungen, einhundertsiebzig Briefe und sechzig Predigten. Im Jahr 1536 wiederum war er acht Monate lang krank, erarbeitete jedoch zehn Abhandlungen, neunzig Briefe und fünfzig Predigten. Im Jahr 1545, in dem er wiederum zehn Monate krank war, schrieb er dessen ungeachtet dreizehn Abhandlungen, achtzig Briefe und fünfunddreißig Predigten. Seine Depressions- und Schlaflosigkeitsanfälle führten ihn zu Trinkgelagen. Luther war zuversichtlich, dass Gott, der ihm doch viele größere Sünden vergeben hatte, auch angesichts dieses Problems barmherzig begegnen würde: „Kan mir unser Herr Gott das schenken, das ich yhn wol 20 jar kecreuzigt und gemartert hab, so kan er mir ja das auch wol zu gut halten, das ich bey weylen ein trunk thu, yhm zu ehren, Got gebe, es lege es die welt aus, wie sie wolle und ist.“⁴ Luthers Bierkonsum jedoch war nicht exzessiv in einer Zeit, in der Bier und Wein oft reiner waren als die Wasserversorgung. Kaiser Karl der Fünfte zum Beispiel, der für sein spärliches Trinkverhalten bekannt war, trank drei Flaschen Wein bei seinem Mittagsmahl. Katharina, die ihre eigene Brauerei besaß, musste 60 bis 80 Liter Bier (15 bis 20 Gallonen) für einen Haushalt von 30 bis 40 Menschen bereitstellen. Das sind annähernd zwei Liter Bier pro Person und Tag, was auch Kinder miteinschloss. Luther warnte ausdrücklich vor exzessivem Trinken und meinte, dass junge Menschen zu viel Alkohol tränken und damit ihrer Jugend und Gesundheit schadenten,⁵ wobei auch die Eltern oft ein schlechtes Beispiel vorgaben.⁶ Er nannte Deutschland ein Land „gestrafft und geplagt mit disem Saufteüffel.“⁷ Dass Luther selbst manchmal exzessiv trank, war allseits bekannt und – seiner Meinung nach – notwendig. Als er 1532 in Torgau war, rechnete er dem örtlichen Bier seinen sieben Stunden langen Schlaf zu.
ohnmächtig geworden. Ich konnte keinen einzigen Buchstaben mehr erkennen […] Dies ist der Grund, weshalb ich hier liege, zitternd vor Kälte.“] WA.TR 1, Nr. 139. WA.TR 1, Nr. 139. WA 47,760 – 761. WA 47,761.
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Die Tatsache, dass er in einem Brief an Käthe anmerkte, dass er genauso nüchtern gewesen sei wie er auch in Wittenberg gewesen wäre, spricht Bände.⁸ Die Kombination von Bier und Gebet war gesund: „Ich bin nicht uber drei Tage hie gesund gewest, und ist bis auf diese Nacht vom ersten Sonntag an kein Tröpflin Wasser von mir kommen, hab nie geruget noch geschlaffen, kein Trinken und kein Essen behalten mögen.“ Er dachte, er würde sterben und seine Frau nie wiedersehen. „Nu hat man so hart gebeten fur mich zu Gott, daß vieler Leute Thränen vermocht haben, daß mir Gott diese Nacht der Blaßen Gang hat geöffnet, und in zwo Stunden wohl ein Stübigen von mir gegangen ist, und mich dünket, ich sei wieder von neuen geboren.“⁹ Fast genau zu der Zeit (1545), da es ihm wieder besserging, erhielt Luther ein italienisches Pamphlet, das seinen Tod bekundete. Es wurde behauptet, er hätte Anweisung gegeben, man solle seinen Körper verehren, die Menschen dies jedoch abgelehnt hätten. Um sein Grab herum sei so viel Lärm gewesen, dass er exhumiert werden sollte, aber als dies getan wurde, sei das Grab leer gewesen, da der Teufel seinen Körper gestohlen habe. Luther reagierte mit einem Faltblatt, in dem er klarstellte, dass, wenn ein lebendiger Luther schon eine Plage für den Papst gewesen ist, ein toter Luther seinen Tod bedeuten würde.¹⁰ Im Juni 1545 wurde er erneut von Nierensteinen geplagt. Im Januar 1546 beschrieb er sich selbst als „graubärtig, langsam, erschöpft, kahl und einäugig.“¹¹ Einen Monat später sollte er sterben.
2 Tod im Leben Luthers Der Tod war für Luther – wie für jeden anderen in seinen Tagen auch – eine konstante Bedrohung und täglich durch Krankheiten, Kriege, Raubzüge und eine hohe Kindersterblichkeitsrate präsent. In ihrer eigenen Familie mussten Luther und seine Frau den Verlust von Kindern erleben und waren sehr traurig darüber. Am Krankenbett seiner Tochter Margarethe im Jahr 1545 sprach er von seinem eigenen Wunsch, zu sterben. Passa est morbillos cum omnibus fratribus, sed illis iamdudum restitutis ipsam excepit febris satis dura et dira, fere 10 hebdomadibus, et adhuc dubia cum vita et valetudine conflictatur. Nec irascar Domino, si eam tulerit ex hoc Satanico tempore et Seculo, e quo cuperem et me et omnes meos eripi velociter, quia desdero illum diem et finem furentis Satanae et suorum.¹²
WA.TR 1, Nr. 144; WA.B 6,270; WA 40/II,115 – 116. Brief an Katharina, 27.02.1537, WA.B 8,51. WA 54,188 – 194. WA.B 11,199.263. Brief an Jakob Propst, ca. 17.04.1544, WA.B 10,554.
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Das Ereignis, vor dem er sich seit seiner Kindheit gefürchtet hatte, war nun nahe, und der Tod war es ihm sein ganzes Leben lang. Er schrieb viel über den Tod, denn er wusste, dass der Tod das größte Problem der Menschen war – nicht notwendigerweise das Sterben an sich, aber das Konfrontiert-Werden mit dem, was danach kommt. Wie kann ein sündiger Mensch vor einem heiligen Gott erscheinen? Im Jahr 1519 veröffentlichte er eine Predigt darüber, wie man sich auf den Tod vorbereiten könne.¹³ Die Predigt gehörte den ars moriendi des Mittelalters. Wörtlich bedeutet der Name die Kunst des Sterbens; derartige Predigten setzten ihren Fokus darauf, wie ein Mensch bestmöglich vor Gott erscheinen kann, während er so wenig wie möglich dem Teufel Raum gibt, der versucht, die Menschen im letzten Moment ihres Glaubens zu berauben. Das Totenbett war die letzte verdienstvolle Anstrengung. In Luthers Predigt jedoch wurde das Todeslager ein Ort der Hingabe und des Vertrauens. Beim Sterben ging es nicht darum, eine gute Figur zu machen, sondern auf Christus zu vertrauen. Den Frieden, der aus der Gewissheit kommt, dass man vor Gott gerecht ist, hatte er anderen gepredigt, selbst jedoch hatte Luther Schwierigkeiten, ihn zu erfassen. Der Tod blieb sehr bedrohlich. Aus seiner Perspektive, so Luther, sei „Unser Herre Gott [ist] der gröste ehebrecher.“¹⁴ Durch den Tod scheide Gott jede Ehe, wenngleich Luther glaubte, dass es eine Wiedervereinigung der verheirateten Paare im Himmel gebe.¹⁵ Kurz vor seinem Tod fragte ihn jemand, ob die Menschen sich im Himmel und auf der neuen Erde gegenseitig wiedererkennen würden. Luther antwortete, dass die, die in Christus sind, sich besser wiedererkennen würden als Adam und Eva im Paradies.¹⁶ Der Tod hatte keinen Platz in der Kirche, und die Toten gehörten auch nicht dorthin. Luther wollte die Tradition, Tote in und um die Kirche herum zu begraben, beenden. Seiner Meinung nach sollte ein Friedhof außerhalb der Stadt verortet sein, nicht um den Tod gänzlich aus dem Bild zu bringen, aber um den Todesgeruch auf Abstand zu halten, und um den Toten ihre Ruhe zu gewähren. Diese Ruhe sollte auch auf die Lebenden ausgeweitet werden, da ein Friedhof ein Platz der Ruhe, des friedvollen Gebetes und der stillen Erinnerung sein sollte. Deshalb entschied sich Luther dazu, seine geliebte Elisabeth außerhalb der Stadt zu begraben. Dies war das Vorgehen zur Zeit der Heiligen Schrift, und Luther fühlte sich verpflichtet, diese Praktik wieder einzuführen. Viele Städte folgten Luthers Beispiel und verlagerten ihren Friedhof vor die Tore der Stadt. Luthers eigener Tod nahte zur selben Zeit und er wusste: „Sane piger, fessus, frgidus, id est, Senex et inutilis sum. Cursum meum consummavi (2 Tim 4,7), reliquum est, ut congreget me Dominus ad patres meos (1. Kön 19,4) ac putredini ac vermibus tradatur portio sua.“¹⁷
Ein Sermon von der Vorbereitung zum Sterben, WA 2,685 – 697. WA.TR 4, Nr. 4787, Nr. 4709. WA.B 10,226 – 228. WA.B 6,212.300 – 302. Brief an Jakob Propst, ca 17.04.1544, WA.B 10,554.
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3 Todesort: Eisleben Anfang Oktober 1545 machte sich Luther gemeinsam mit Melanchthon auf den Weg nach Eisleben. Zweck dieser Reise zu seinem Geburtstort war es, die Grafen von Mansfeld, die Brüder Gebhard und Albrecht, miteinander zu versöhnen. Sie hatten sich darüber gestritten, wie sie ihre finanziellen Probleme lösen könnten. Fortschritte im Bereich der Minenarbeit erforderten neue Technik, und weil die Kosten der Investitionen höher waren als die Einnahmen, fand sich Gebhard am Ende verschuldet wieder. Die Brüder waren uneins darüber, wie man damit nun umgehen sollte, gerade auch, weil Albrecht Nutzen aus der Verschuldung seines Bruders gezogen und allmählich seine Ländereien und Rechte übernommen hatte. Luthers Wunsch, diese Beziehung wiederherzustellen, hatte viel mit seiner Familie in Mansfeld zu tun, da diese unter den Einschränkungen litten, die durch die Schulden verursacht worden waren. Die Reise erwies sich letzten Endes als vergeudete Zeit, da sie, als sie ankamen, erfuhren, dass sich die Brüder auf einen Feldzug gegen den Herzog von BraunschweigWolfenbüttel befanden. Luther und Melanchthon kehrten nach Hause zurück und feierten dort Luthers 62. Geburtstag, welcher sein letzter sein sollte. Am 6. Dezember reisten Luther und Melanchthon erneut nach Eisleben. Die Grafen waren zwar inzwischen wieder nach Hause zurückgekehrt, hatten jedoch kein Interesse an einer Versöhnung. Die Verhandlungen schritten nicht gut voran und Melanchthon erkrankte. Luther fühlte sich bereits schwach, und nach Weihnachten machten sie sich auf den Weg nach Wittenberg. Zu Beginn des neuen Jahres war Luther wieder zuhause. Luther kam nun seinem Ende näher. Am 17. Januar sandte er einen Brief an seinen Freund Jacob Praepositus in Bremen, in dem er ihn informierte, dass er „alt, verausgabt, müde, kalt und nun auch teilweise blind“ sei. Am selben Tag predigte er das letzte Mal in Wittenberg, und am 23. Januar machte er sich nun zum dritten Mal auf in Richtung Eisleben, um – wie er sich selbst sagte – diese „verdorbene“ Angelegenheit auszuräumen. Seine Söhne Johannes (19), Martin (15) und Paul (13) begleiteten ihn, um bei dieser Gelegenheit die Familie in Mansfeld wieder einmal zu besuchen. Melanchthon war immer noch krank und blieb in Wittenberg. Zur Reisegruppe hinzu kamen Ambrosius Rudtfeld, welcher der Privatlehrer und Aufseher von Luthers Söhnen war, und sein Assistent Johannes Aurifaber. Das winterliche Wetter war schlecht, und so kamen sie letztendlich nicht weiter als bis Halle. Die Saale war überflutet und Eis behinderte ihre Überfahrt. Nach Wittenberg zurückzukehren war aufgrund der ebenfalls überfluteten Mulde, die sie hätten überqueren müssen, keine Option. In einem Brief an Käthe verglich Luther die Saale mit einem Wiedertäufer. Was ihn anging, so bevorzugte er, seinen Durst mit Bier von der Torgau oder mit Wein vom Rhein zu stillen.¹⁸ Luther schrieb, dass sie in Halle festsäßen und dass sie die Zeit nützten, um in den Städten zu predigen, während sie die Menschen erneut ersuchten, dem WA.B 11,268 – 270.274.
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Worte treu zu bleiben und sich nicht mit der Verehrung von Heiligen und Reliquien zu beschäftigen. Am 27. Januar waren die Reisenden in der Lage, den Weg fortzusetzen, das Wetter war jedoch dermaßen schlecht, dass sie beinahe zwei Tage brauchten, um die Strecke von 40 Kilometern zwischen Halle und Eisleben hinter sich zu legen. Die Grafen sandten sogar eine Eskorte von 60 Reitern, die sie auf der anderen Seite der Saale trafen, was jedoch in keiner Weise ihre Reise beschleunigte. Da Luther sich an seine früheren mönchischen Bräuche hielt, ritt er auf keinem Pferde. Er wurde kränker und kränker und hatte sogar einen Herzinfarkt, wie er nach seiner Ankunft Melanchthon berichtete: In itinere me apprehendit et syncope mea simul et ille morbus, quem tu humorem ventriculi vocare soles. Ibam enim pedester, sed offendit frigus musculum sinistri brachii. Hinc illa compressio cordis et quasi suffocatio spiritus. Culpa est Stultitiae meae. Sed nunc belle satis Valeo: quam diu, id vere nescio, quia senectute nihil fidendum est, cum Iuventus minus …. tata ist.¹⁹
Es war schon spät, als die Reisenden am 28. Januar Eisleben erreichten. Seine drei Söhne, die sich während des Wartens in Halle schrecklich gelangweilt hatten, wurden sofort zur Familie nach Mansfeld geschickt. Luther blieb bei Johann Albrecht, dem Stadtrat, der beim Marktplatz wohnte, nicht weit vom Schloss der Grafen. Obwohl er sich nicht wohl fühlte, wollte er mit seiner Arbeit, die beiden Brüder zu versöhnen, beginnen. Das Leben war „fressend und saufend“ gut und das Naumburger Bier war eine Erleichterung für Luthers Verdauung: „Es gefellet mir wol, macht mir des morgens wol 3 stuel in dreien stunden.“²⁰ Am 31. Januar, am 2., 7. und 14. Februar predigte er in der Sankt-Andreas-Kirche in Eisleben und nahm zweimal am Abendmahl teil. Seine letzte Predigt war kürzer, da Luther körperlich nicht mehr in der Lage war, weiterzumachen, und doch ersuchte er die Menschen noch einmal: „bleibt bey meinem [Christi] Wort und kompt zu Mir.“²¹ In seinen Tischreden, die vor dieser Zeit aufgezeichnet worden waren, drückte Luther unablässig seine Überzeugung aus, dass das Wort Gottes unter Verfolgung nicht verloren gehen werde. Auch war er davon überzeugt, dass er bald sterben würde. „Wenn ich wieder heim gen Wittenberg komm, so will ich mich alsdann in Sarg legen, und den Maden einen feisten Doctor zu essen geben.“²² Die Verhandlungen mit den Grafen waren nicht fruchtbar, und laut Luther war die ganze Hölle leer und alle Teufel in Eisleben versammelt.²³ Nichtsdestotrotz war nach zwei Wochen der Diskussion ein Durchbruch erzielt. Luther war erleichtert und wollte sich auf den Weg nach Hause machen.
Brief an Melanchthon, 01.02.1546, WA.B 11,278. Brief an Katharina, 01.01.1546, WA.B 11,276. WA 51,194. WA.TR 6, Nr. 6975; WA 48,182. WA.B 11,286.
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Wir hoffen, diese wochen wider heim zu komen, ob Gott wil. Gott hat grosse gnade hie erzeigt, Denn die herrn durch ire Kethe fast alles verglichen haben, bis auff zwen Artikel oder drey, unter welchen ist, das die zween bruder G[raff] Gebhardt und G[raf] Albrecht widerumb bruder werden, welchs ich heute sol furnemen. Ich will sie zu mir zu Gast bitten, das sie auch miteinander rede, Denn sie bis daher stum gewest und mit Schrifften sich hart verbittert haben. Sonst sind die iungen Herrn frohlich, faren zu samen mit den Narren glöcklin auff Schlitten, und die Frewlin auch, und bringen einadnern Mummenschanz und sind guter ding, auch G[raf] Gebharts son. Also mus man greiffen, das Gott ist Exauditor precum.²⁴
Die Brüder waren bereit, sich zu versöhnen, und am 16. Februar waren die Vereinbarungen ausgearbeitet. Luthers letzte erhaltene Schrift, die nach seinem Tod auf einem Tisch gefunden wurde, war auf diesen Tag datiert. Es ist nur ein kleiner Fetzen Papier mit wenigen Sätzen: Vergilium in Bucolicis et Georgicis nemo potest intelligere, nisi quinque annis primum fuerit pastor aut agricola. Ciceronem in epistolis nemo secundo intelligit, nisi viginti annis sit versatus in republica aliqua insigni. Scripturas sacras sciat se nemo gustasse satis, nisi centum annis cum prophetis ecclesisas gubernaverit. Quare ingens est miraculum primum Iohannis Baptistae, secunum Christi, tertium apostolorum. Hanc tu ne divinam Aeneida tenta, sed vestigia pronus adora. Wir sein pettler. Hoc est verum.²⁵
Zusammenfassend drehten sich ihre Diskussionen um die Bibel, das Wort, das für ihn die Tore des Paradieses geöffnet hatte, aber das nicht von allen Menschen in Gänze verstanden wurde. Hör deshalb zu, sagte Luther; klopfe, bis du es hörst, wieder und wieder. „Wir sind pettler. Hoc est verum.“ Wenn wir uns Gott nähern, können wir nichts als unsere leeren Hände hochhalten; Er sorgt für uns, wir aber bekommen es niemals in die Hand.²⁶
4 Das Ende Justus Jonas und Michael Coelius (1492– 1559), Hofkaplane der Grafen, schrieben einen detaillierten Bericht über Luthers Ende in der Nacht des 17./18. Februars, da beide in dieser Nacht anwesend waren.²⁷ Am 17. Februar sollten die Verhandlungen abgeschlossen werden, wobei Luther sich nicht wohl fühlte und nicht involviert war. Gegen 22 Uhr ging er zu Bett und betete Psalm 31,6, eine bekannte Schriftstelle am Sterbebett. In diesem Gebet vergaß er nicht, eine kleine Fürbitte gegen den Papst und das Konzil von Trient einzuflechten. In dieser Nacht wurde er von einem erneuten Herzinfarkt geweckt. Obwohl seine Kammer die Brief an Katharina, 14.02.1546, WA.B 11,300. WA.TR 5,318, Nr. 5677. WA 48,241; WA.B 12,363. Diese Erzählung ist nachzulesen bei J. Bauer, Martin Luther. Seine letzte Reise, Rudolstadt, 1996, 54– 111.
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Nacht über beheizt worden war, verlangte er von seinem Diener, das Feuer in seinem Zimmer anzufachen, da er an Kältewellen litt, die mit seinem Herzinfarkt zusammenhingen. Massagen mit warmer Kleidung und erhitzten Kissen halfen nicht. Luther begann plötzlich zu schwitzen, und die Menschen um ihn herum (neben anderen die beiden Grafen und deren Frauen sowie die beiden Söhne Luthers, Martin und Paul) dachten, dies sei ein Zeichen der Besserung. Luther wusste es besser und sah, dass dies ein Zeichen war, dass er sterben würde. „Es ist der kalte Schweiß des Todes. Ich gebe den Geist auf, denn meine Krankheit wird schlimmer.“ Mit den Worten des Simeon (Lk 2,29) sprach er zu den Menschen, die um sein Bett standen: „Ich werde hingehen in Friede und Freude. Amen.“ Drei weitere Male wiederholte er die Worte aus Psalm 31,6, und war dann still. Gräfin Anna salbte ihn mit heilenden Ölen, aber Luther erholte sich nicht. Als er gefragt wurde, ob er sterben könne im Glauben an Jesus Christus und ob er bei den Dogmen blieb, die er bezeugt hatte in Seinem Namen, flüsterte er seine Zustimmung. Ein wenig später, gegen Viertel vor drei, nahm er seinen letzten Atemzug und starb nur ein paar hundert Meter entfernt von dem Ort, an dem er geboren worden war. Am Morgen sandte Justus Jonas unverzüglich einen Boten zu Kurfürst Johann Friedrich, welcher Melanchthon, Bugenhagen und Cruciger informierte. Melanchthon war gerade dabei, eine Vorlesung über den Römerbrief zu halten, als der Bote den Saal betrat und ihm die Botschaft von Luthers Tod übermittelte. Melanchthon antwortete mit den Worten aus 2 Kön 2,12: „Der, der auf Israels Wagen sitzt, er, der die Kirche in dieser Welt in diesen letzten Tagen geleitet hat, ist tot.“ Später, zusammen mit Bugenhagen und Cruciger, gingen sie los, um Katharina vom Tod ihres Ehemannes zu berichten. Sie war gewissermaßen die letzte, die vom Tod ihres Mannes hörte.
5 Begräbnis In Eisleben wurde Luther in einen Sarg aus Zinnblech gelegt und von seinem Gesicht eine Todesmaske angefertigt. Der Maler Lucas Furtenagel, ein Freund Luthers aus Halle, reiste rasch in die Stadt, um ein Portrait des Reformators zu fertigen. Am nächsten Tag hielt Justus Jonas einen Trauergottesdienst in der Andreaskirche. An diesem Tag waren aus Respekt alle Kinder Eislebens in weiß gekleidet.Vom 19. auf den 20. Februar wachten zehn Bürger in der Kirche, anschließend wurde eine weitere Predigt gehalten. Die Einwohner Eislebens wollten Luther dort begraben, doch der Kurfürst entschied, dass Luthers letzte Ruhestätte in Wittenberg sein sollte. Dementsprechend ging Luther am 20. Februar auf seine letzte Reise. Außerhalb der Stadt sangen die Kinder Eislebens auf ihren Knien, als ein Leichenzug von 45 Reitern den Reformer nach Wittenberg begleitete. Auf dem Sarg wurde ein schwarzes Seidentuch mit einem großen, weißen Kreuz darauf befestigt, welches von der Nachwelt bis in das 18. Jahrhundert bewahrt wurde. Am 21. Februar traf der Leichenzug in Bitterfeld auf eine Delegation von Repräsentanten der Stadtverwaltung und des Kurfürsten. In allen
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Dörfern, an denen der Leichenzug vorbeikam, wurden die Glocken geläutet. Die Berichte schweigen zwar über die eisige Kälte während der Reise, aber erwähnen die Vielzahl an Tränen, die vergossen wurden, als Luther vorbeizog. Als sie am Morgen des 22. Februar endlich am Elstertor angekommen waren, wartete eine Ehrendelegation aus Professoren, Studenten, Beamten und Bürgern zusammen mit Katharina und ihrer Tochter Margarethe. Während der Prozession passierte der Leichenzug Luthers Haus und überquerte die Collegienstraße bis hin zur Schlosskirche. Der Zinnblechsarg wurde in einen Holzsarg gelegt, der während der von Bugenhagen und Melanchthon geleiteten Gedenkpredigten neben der Kanzel stand. Am Grab beachtete Melanchthon die Maxime „sprich nicht übel von den Toten“ nicht. Er konstatierte, dass Luther ein Werkzeug Gottes gewesen sei und betonte, was er für die Erneuerung der Kirche bedeutet habe. Dennoch bemerkte er nachdrücklich, dass Luther einen schwierigen Charakter und ein schwieriges Temperament gehabt habe. Nach der Trauerfeier wurde der Sarg in das Grab in der Kirche hinuntergelassen. Luther war ein Verfechter der Beerdigung außerhalb der Stadt, um der Totenruhe willen, und doch kehrte diese Ruhe für ihn nicht ein: Sein Grab in der Kirche wurde zu einer Pilgerstätte. Dies hatte zumindest den positiven Aspekt, dass Luther weiterhin Leute in die Kirche zog. Einer der Besucher von Luthers Grab war im Jahre 1547 Kaiser Karl V., nachdem seine Armeen Wittenberg besetzt hatten. Der Mann, der gesagt hatte „Hier stehe ich, ich kann nicht anders,“ lag nun zu seinen Füßen. Nichtsdestotrotz berührte der Kaiser aus Respekt das Grab Luthers nicht. Das Bild eines lebenden Kaisers, der über dem toten Luther stand, war symbolisch, denn nach Luthers Tod war Roms Position deutlich besser als zur Zeit der Reformation. Während unter Lutheranern Streit über den rechtmäßigen Nachfolger ausbrach und protestantische Theologen weiterhin gespalten waren, stellte Rom durch das Konzil von Trient innere Einheit her. Der Kaiser war auf dem Zenit seiner Macht, und nach der Niederlage der protestantischen Herrscher gelang es ihm in vielen Städten und Regionen, die Messe wieder einzuführen.
6 Testament Nach Luthers Tod wurde deutlich, dass sein Mistrauen gegenüber Anwälten ungünstige Auswirkungen für seine Witwe mit sich brachte. Als Luther Anfang Februar 1546 spürte, dass sein Ende gekommen war, informierte er Katharina, dass sie sich nicht zu sorgen brauche, denn Gott sei in der Lage, „ihr zehn Doktor Martins zu beschaffen, wenn der eine sterben sollte.“ Er schrieb ihr: Meiner liben hausfrawen Katherin Ludherin, Doctorin, Gewmarckterin zu Wittenberg meiner gnedigen frawenn Zu handen und fussen. G H I ym herrnn! Ich hab einen bessern Sorger, denn du
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und alle Engel sind, der ligt ynn der krippen und henget an einer Jungfrawen Zitzen, Aber sitzet gleich wol Zur rechten hand Gottes des allmechtigen Vaters, Darumb sey zu frieden, Amen.²⁸
Das hörte sich wunderbar an, doch danach wurde klar, dass Luther sich um Käthes Versorgung mehr Gedanken hätte machen sollen. Nach seinem Tode waren keine zehn Martins vorhanden, nicht einmal ein neuer Martin Luther. Es gab kein Erbe; das Testament war ungültig. Katharina hatte kein Geld. Nachdem Luther nach Eisleben gegangen war, kurz vor seinem Tod, musste Katharina sich für die Wocheneinkäufe Geld von Melanchthon leihen. Luther hatte keinen Anwalt, dem er vertraute, und so hatte er sein eigenes, letztes Testament verfasst, das leider keinerlei legale Relevanz besaß. Der Kaiser wollte helfen und erklärte er das Dokument Luthers für legal, konnte jedoch weiter nicht helfen, da ihm aufgrund der Religionskriege, in die er verstrickt war, nur wenig Geld zur Verfügung stand. Die Tatsache, dass Luthers letztes Testament für legal erklärt wurde, war keine große Hilfe. Obwohl Luthers Drucker dank ihm viel Geld verdient hatten, konnte er in seinem letzten Willen nur schreiben: Ich bezeuge, dass es kein Bargeld gibt, außer den Bechern und den Wertgegenständen, die ich oben in der finanziellen Ausstattung aufgelistet habe. In der Tat kann so eine Kalkulation jedem gezeigt werden, da die Leute wissen, wie viel Einkommen ich hatte von meinem höchst gnädigen Herrn und darüber hinaus habe ich nicht einen Heller oder Kernel von irgendjemandem als Einkommen erhalten, außer was ein Geschenk war, das in der oberen Auflistung unter Wertgegenständen aufgeführt ist und teilweise an Schulden gebunden ist. Und doch habe ich mit diesem Einkommen und mit Spenden so viel gebaut und gekauft, und habe einen solch großen und aufwändigen Haushalt geführt, dass ich – unter anderen Dingen – bekennen muss, dass es ein außergewöhnlicher, bemerkenswerter Segen ist, den ich verwalten durfte. Das Wunder ist nicht, dass es kein Bargeld gibt, sondern dass es keine höheren Schulden gibt. Ich frage dies aufgrund der Tatsache, dass der Teufel – da er mir nicht näher kommen kann – zweifellos meine Käthe auf jede erdenkliche Weise verfolgen wird aus einem einzigen Grund, nämlich dass sie war und (Gott sei Dank!) es immer noch ist, die angetraute Hausfrau des Mannes Dr. Martin.²⁹
Der König von Dänemark sandte zwar 50 Dukaten pro Jahr, doch das war alles. Auch aus finanzieller Sicht konnte Katharina sagen: „Wir sind Bettler“, was das Ende traurig machte. Aufgrund der Bedrohung durch die Pest und des Kaisers Truppen musste sie Wittenberg verlassen. Während der Reise erschraken die Pferde, die ihren Wagen zogen, und bäumten sich auf. Katharina fiel vom Wagen und landete in einem Bach. Müde, arm und von einer Lungenentzündung geplagt, erreichte sie Torgau, die Stadt, in der sie 30 Jahre zuvor als entführte Nonne angekommen war. Sie starb am 20. Dezember 1552 und wurde in der Sankt-Marienkirche begraben. Die einzigen Worte, die auf ihrem Grabstein standen, waren: „Selig ruhend in Gott.“
WA.B 11,286 – 292. Für den gesamten Text des Testamentes: T. Fabiny, Martin Luthers letzter Wille. Das Testament des Reformators und Seine Geschichte, Bielefeld, 1983.
Reformen und Reformatoren
John Garrett, Gruppe von Reformatoren: Heinrich Bullinger, Girolamo Zanchi, John Knox, Ulrich Zwingli, Peter Vermigli, Martin Bucer, Jakobellus von Mies, William Perkins, Jan Hus, Philipp Melanchthon, Martin Luther, Johannes Calvin, Théodore de Bèze und John Wycliff, Stich, London, National Portrait Gallery, 17. Jh. (National Portrait Gallery, London / Scala, Florenz).
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Luther und Melanchthon 1 Die Anfangszeit Luther und Melanchthon – das waren die beiden wichtigsten, kongenialen Kollegen, die in ihren unterschiedlichen professionellen Begabungen und Charakteren entscheidend zum Erfolg der Wittenberger Reformation beigetragen hatten. In seiner Luther-Biographie hatte Heinz Schilling deren Verhältnis treffend charakterisiert und es beschrieben als „eine lebenslange Arbeitssymbiose und persönliche Verbundenheit, […] die ein gemeinsames Werk von weltgeschichtlicher Wirkung hervorgebracht hat.“¹ Danach sah es gleichwohl am Anfang noch gar nicht aus. Als Melanchthon im Jahr 1518 als 21-Jähriger auf die Griechisch-Professur der noch jungen Wittenberger Universität berufen wurde, kannte Luther ihn nicht. Auch hatte er dessen Berufung gar nicht unterstützt, sondern eher den Leipziger Gräzisten Petrus Mosellanus favorisiert. Als Melanchthon dann jedoch am 28. August 1518 seine Antrittsvorlesung unter dem Titel „De corrigendis adolescentiae studiis“ (Über die Notwendigkeit, die Studien der Jugend grundlegend neu zu gestalten)² hielt, war bereits nach wenigen Sätzen Luthers anfängliche Geringschätzung einer Bewunderung gewichen. Das in dieser Rede dargelegte Bildungsprogramm basierte auf einer Erneuerung der antiken „artes liberales“, vor allem des sprachlichen Triviums (Grammatik, Dialektik, Rhetorik), einschließlich der Kenntnis der griechischen Sprache. Melanchthon sah in ihr die Überwindung der vermeintlichen scholastischen Unbildung und die Förderung von echter Frömmigkeit. An Georg Spalatin schrieb Luther drei Tage später: „Er hielt eine grundgelehrte und stilistisch bestens ausgefeilte Rede.“³ Damit begann die Zeit ihrer Zusammenarbeit: Melanchthon studierte bei Luther Theologie und legte bereits am 9. September 1519 seine Thesen zur Erlangung des Grades eines Baccalaureus biblicus ab.⁴ Schon in diesen Baccalaureats-Thesen wurde sichtbar, wie sehr Melanchthon schon nach wenigen Monaten tief durchdrungen war von den theologischen Ideen Luthers, vor allem von der absoluten Priorität der Schrift-Autorität. Denn in den Thesen 16 und 17 hielt Melanchthon fest: „Für einen Christen ist es nicht notwendig, über die Dinge hinaus, die ihm durch die Schrift bezeugt werden, noch weitere zu glauben. Die Autorität der Konzilien ist geringer zu achten als die Autorität der Schrift.“ Luther selbst wiederum verbesserte durch seinen neuen, jungen Kollegen seine Griechisch-Kenntnisse. Sein Urteil über den „kleinen Griechen“ (graeculus) in H. Schilling, Martin Luther: Rebell in einer Zeit des Umbruchs (München, 2012), 137. Abdruck in: M. Beyer, S. Rhein und G. Wartenberg, Hg., Melanchthon deutsch, Bd. 1 (Leipzig, 1997), 41– 63. WA BR 1, 192. Abdruck in: M. Beyer et al., Melanchthon deutsch, Bd. 1, 9 – 11. https://doi.org/9783110498745-024
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dieser Zeit ist überschwänglich. An Johannes Reuchlin, der Melanchthon nach Wittenberg vermittelt hatte, schreibt Luther bereits am 14.12.1518: „Unser Philipp Melanchthon, ein wunderbarer Mensch, ja einer, an dem fast alles übermenschlich ist, er ist mir dennoch ganz vertraut und befreundet.“⁵ Und an den Erfurter Humanisten und Reformator Johannes Lang schrieb er ein Jahr später: „Dieser kleine Grieche übertrifft mich sogar in der Theologie.“⁶ Melanchthon wiederum bekundete über seinen Lehrer und Kollegen: „Ich würde lieber sterben als von diesem Manne getrennt werden.“⁷ Gleich in diesem ersten Jahr, in dem Melanchthon sich dem Studium der Theologie unter der Führung Luthers gewidmet hatte, geriet er auch in die ersten theologischen Auseinandersetzungen zwischen der reformatorischen Bewegung und der römischen Kirche. Vom sächsischen Kurfürsten hatte er die Erlaubnis erhalten, an der berühmten Leipziger Disputation teilzunehmen. Der Ingolstädter Humanist und Kontroverstheologe Johannes Eck disputierte hier vom 27. Juni bis zum 16. Juli mit Karlstadt und Luther. Zwar gelang es hier Eck, Luther vermeintlich häretische Sätze zu entlocken, so etwa, dass Jan Huss zu Unrecht auf dem Konstanzer Konzil verurteilt wurde und dass folglich auch Konzilien geirrt hätten. Aber in der Meinung der Öffentlichkeit ging Luther als Sieger aus dieser Disputation hervor. Dies lag vor allem an dem Bericht über diese Disputation, den Melanchthon gleich am 21. Juli an seinen Freund Johannes Oekolampad geschickt hatte und den er selbst gleich drucken ließ.⁸ Eck erschien in diesem Bericht als Repräsentant der von den Reformatoren bekämpften Scholastik, während Luther unbeirrt an der Wahrheit festhielt. Schon während der Disputation hatte Melanchthon Luther Zettel mit Argumenten zugeschoben, bis sich Eck die Einmischungen des „Grammatikers“ verbat. Melanchthon trat hier erstmals öffentlich an die Seite Luthers.
2 Melanchthon als Begründer der evangelischen Dogmatik Schon bald brachte Melanchthon die grundlegenden theologischen Einsichten, wie sie in diesen Jahren immer sichtbarer wurden, in eine erste systematische Form „Loci communes rerum theologicarum seu Hypotyposes theologiae“, die in den letzten Tagen des Dezembers 1521 erschien und die er 1535 und 1543 nochmals grundlegend erweiterte und umschrieb. Dabei griff Melanchthon in der methodischen Darstellung der Theologie auf eine alternative Wissensform zurück, die Aristoteles entwickelt
WA BR 1, 269. WA BR 1, 597. Heinz Scheible, Hg., Melanchthons Briefwechsel (Stuttgart-Bad Cannstatt, 1977 ff.) = MBW. Hier: 84.12. Robert Stupperich, Hg., Melanchthons Werke in Auswahl. Studienausgabe (Gütersloh, 1951 ff.) = MSA. Hier: MSA 1, 3 – 11.
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hatte und die – vermittelt über Cicero und Boethius – auch die mittelalterliche Theologie als Wissenschaft bestimmt hatte.⁹ Melanchthon hatte die Topik, die bei den Humanisten Dialektik hieß, von Rudolf Agricola kennengelernt. Topik wies in der Theologie eine breite Semantik zwischen Analytik, Enzyklopädik und Argumentationsheuristik auf. Unter der konsequenten Voraussetzung der Schrift-Autorität waren theologische Loci communes für Melanchthon kategorial verdichtete, analytisch gewonnene heilsgeschichtliche Grundbegriffe der Heiligen Schriften, wie sie dann in verschiedenen theologischen Loci entfaltet werden. In seiner ersten Edition aus dem Jahr 1521 entfaltete er 23 Loci, beginnend mit dem „locus de deo“ bis hin zum „locus de beatitudine“. In seiner letzten Ausgabe des Jahres 1543 entfaltete Melanchthon 32 Loci, die er mit dem „locus de libertate christiana“ abschloss. Das Prinzip jedoch, solche loci theologiae zu finden, war immer dasselbe: Loci können gefunden werden durch ein semantisch-analytisches Verfahren, in dem Grundbegriffe, besonders solche, die wesentlich für das Heil des Menschen sind, gefunden werden können aus der Heiligen Schrift, die dann kategorial verdichtet werden. Melanchthon wollte mit dieser theologischen Schrift vor allem jungen Menschen den Zugang zur Bibel eröffnen. Schon Zeitgenossen hatten diese Theologie mit Begeisterung aufgegriffen. Ihre theologische Methode selbst war höchst einflussreich, nicht nur in der Wittenberger Bewegung, sondern auch unter reformierten Gelehrten.
3 Bibelübersetzung Melanchthons Sprachenkenntnisse kamen auch Luthers Bibelübersetzung zugute. In seiner biographischen Würdigung, die er bald nach Luthers Tod 1546 verfasste, erwähnt Melanchthon Luthers Schriften und fährt dann fort: „An Nutzen und Mühe kommt diesen Werken gleich die Übersetzung des Alten und Neuen Testaments, die von solcher Klarheit ist, dass die deutsche Fassung als Kommentar dienen kann. Zudem bietet sie nicht nur den Text, sondern auch höchstgelehrte Anmerkungen und Inhaltsangaben der einzelnen Bücher, die sowohl den Sinn der göttlichen Lehre aufweisen als auch den Leser über die literarische Form belehren, sodass helle Köpfe zuverlässige Zeugnisse der Lehre aus den Quellen schöpfen können.“¹⁰ Dass diese Übersetzung ein Gemeinschaftswerk war, an dem auch Melanchthon eine besondere Rolle spielte, betonte Luther in seinem „Sendbrief zum Dolmetschen“ (Ein Sendbrieff von Dolmetschen und Fürbitte der Heiligen), den er während seines Aufenthalts in Coburg im Jahr 1530 verfasst hatte: „Und ist uns sehr oft begegnet, dass wir vierzehn Tage, drei, vier Wochen haben ein einziges Wort gesucht und gefragt, haben’s dennoch
Ausführlich hierzu: G. Frank, Topik als Methode der Dogmatik. Antike – Mittelalter – Frühe Neuzeit (Berlin, 2017); zu Melanchthon: 172– 177. MBW 4277.25. Übersetzung nach H. Scheible, Melanchthon. Vermittler der Reformation. Eine Biographie (München, 2016), 178.
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zuweilen nicht gefunden. Im Hiob arbeiteten wir also, Magister Philips, Aurogallus und ich, dass wir in vier Tagen zuweilen kaum drei Zeilen konnten fertigen.“ Tatsächlich kam die Anregung für Luther, auf der Wartburg mit der Übersetzung der Bibel zu beginnen, von Melanchthon. Luther bekundete dies selbst in einer seiner Tischreden: „Philippus Melanchthon coegit me ad novi testamenti versionem“ (Melanchthon nötigte mich, das Neue Testament zu übersetzen).¹¹ In nur zehn Wochen hatte Luther dann die erste Niederschrift seiner Übersetzung fertig gestellt. Mit Melanchthon, dem besten Gräzisten in Wittenberg, arbeitete er diesen Entwurf Wort für Wort durch. Melanchthon achtete vor allem auf die reale Wiedergabe von Sachzusammenhängen. Noch weitere auswärtige Experten wurden bei diesen Arbeiten zu Rate gezogen. Im September 1522 erschien die Erstausgabe in einem Folioband in 3000 Exemplaren, die sofort vergriffen war. Die weiteren Ausgaben desselben Jahres und der Jahre 1526 und 1527 erhielten einzelne Verbesserungen. Eine gründliche Neubearbeitung nahmen Luther und Melanchthon für die Ausgabe des Jahres 1530 vor. Nach Vollendung der Übersetzung des Neuen Testamentes ging Luther an die Übersetzung des Alten Testamentes. Auch hierbei kam ihm die Expertise Melanchthons zu Gute, der bei seinem Verwandten Johannes Reuchlin vorzüglich Hebräisch gelernt hatte. Dafür wurde dann auch der Lehrstuhlinhaber Matthäus Aurogallus hinzugezogen, auf den Luther auch in seinem „Sendbrief vom Dolmetschen“ verwiesen hatte. Dazwischen übersetzte Luther die Propheten und die nur griechisch überlieferten apokryphen Schriften. Ab 1531 wurden die Psalmen völlig neu bearbeitet. In der Kommission, die Luther für diese Aufgabe einberufen hatte, waren neben Melanchthon und Aurogallus noch weitere Mitarbeiter hinzugezogen worden. Georg Rörer, ein Geistlicher an der Wittenberger Stadtkirche, der später zum persönlichen Assistenten Luthers avancierte, protokollierte die Diskussionen dieses Übersetzungswerkes. Daraus lässt sich erneut Melanchthons Einfluss auf die Übersetzung nachweisen: Er präzisierte zumeist die sachliche Richtigkeit der Übersetzung, während Luther sich für die sprachliche Gestaltung verantwortlich zeigte.
4 Erste Irritationen: Luthers Hochzeit Erste Irritationen im Verhältnis Melanchthons zu Luther zeigten sich aus Anlass von dessen Hochzeit. Luther heiratete Katharina von Bora als letzte der am 4. April 1523 aus dem Zisterzienserinnenkloster Nimbschen entflohenen Nonnen am 13. Juni 1525. Die kirchliche Hochzeit fand am 27. Juni statt. Dass Melanchthon über Luthers Hochzeit entsetzt und bekümmert war, hatte der erste Melanchthonbiograph Joachim Camerarius, engster Freund Melanchthons, überliefert. „Darüber (über die Hochzeit) war Philipp Melanchthon sehr betrübt, jedoch nicht, weil er die Hochzeit etwa ver-
WA TR 1,487,961.
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urteilte, sondern weil er wohl sah, dass dadurch den Feinden und Übelwollenden, die Luther in großer Zahl und in mächtigen Stellungen hatte, die Gelegenheit gegeben würde, ihn selbst noch härter zu bedrängen und zügelloser zu beleidigen; […]“.¹² Wie die neuere Forschung in der Überlieferung dieser Nachricht belegt, hatte Camerarius die Nachricht selbst überzeichnet.¹³ Tatsächlich verteidigte Melanchthon die Ehe als etwas von der Natur Gegebenes; was ihn gleichwohl irritierte, war der Zeitpunkt: die Hochzeit fand mitten im Bauernkrieg statt, der insgesamt auch in Kursachsen für einen ziemlichen Aufruhr gesorgt hatte.
5 Zwischen den Fronten: Die Kontroverse über die Willensfreiheit Unter den Humanisten in Europa war die zweifellos überragende Gestalt Erasmus von Rotterdam.¹⁴ Erasmus hatte nicht nur mit seinem Ruf nach Reformen in Bildung und Frömmigkeit, der schon im 15. Jahrhundert weit verbreitet war, auf sich aufmerksam gemacht, sondern auch mit seiner neuartigen, philologischen Ausgabe des Neuen Testamentes, die auch Luther verwendet hatte, neue Standards in der biblischen Exegese gesetzt.¹⁵ Am Anfang hegten Erasmus und die Wittenberger Reformatoren durchaus große Sympathien füreinander. Die theologischen Kontroversen in der Wittenberger Bewegung nahmen dann allerdings einen Verlauf, dem Erasmus nicht mehr zustimmen konnte. Dies hing vor allem mit den Folgen der Rezeption der spätaugustinischen Gnadenlehre und der damit einhergehenden Anthropologie zusammen, die Luther in seinen Auseinandersetzungen um die Auslegung des Römerbriefes seit dem Wintersemester 1515/1516 zugespitzt hatte.¹⁶ Die unterschiedlichen theologischen und anthropologischen Grundanschauungen entluden sich schließlich im Streit um die Willensfreiheit des Menschen. Erasmus rückte seit März 1521 von Luther und besonders von den radikalen Lutheranern ab. Obwohl Erasmus zunächst gegenüber dem jungen Humanisten Melanchthon durchaus wohlwollend blieb, ruhte die Korrespondenz vier Jahre lang. 1523 erschien ein von Melanchthon publiziertes „Elogion de Luthero et Erasmo“,¹⁷ über das sich der „Humanistenpapst“ noch lange ärgern sollte. Das darin angedeutete Lob spricht gleichwohl dem Erasmus jegliche theologische Bedeutung ab und stellt diesen gleichzeitig unter die heidnischen Philosophen, wenn auch an erster Stelle. J. Camerarius, Das Leben Philipp Melanchthons, übersetzt von V. Werner (Leipzig, 2010), 98. H. Scheible, Melanchthon. Vermittler der Reformation, 182– 183. C. Augustijn, Erasmus von Rotterdam. Leben – Werk – Wirkung, München 1986. The Bible Translator 67/1 (2016). Ausführlich hierzu: J.L. Pereira, Augustine of Hippo and Martin Luther on Original Sin and Justification of the Sinner (Göttingen, 2013). C.G. Bretschneider, Hg., Corpus Reformatorum, Bd. 1– 28: Philippi Melanchthonis Opera quae supersunt omnia (1834– 1860) = CR. Hier: CR 20, 699 – 700.
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Schon in seiner ersten Ausgabe der „Loci“ von 1521 behandelte Melanchthon den freien Willen des Menschen.¹⁸ Noch ganz unter dem frühen Einfluss der Reformideen Luthers setzte er die christliche Lehre ganz im Gegensatz zur Philosophie und zur menschlichen Vernunft. Unter diesem Einfluss lehnte Melanchthon selbst die Begriffe „liberum arbitrium“ und die „ratio“ als Beschreibung des Menschen ab. Auch wenn eine gewisse Freiheit in äußerlichen Dingen durchaus nicht bestritten wird, mache die göttliche Prädestination eine Willensfreiheit unmöglich, wobei es hier im Kern um die Frage nach dem Zusammenwirken von göttlichem Rechtfertigungsgeschehen und den menschlichen Mitwirkungsmöglichkeiten ging. Erasmus’ Verteidigung der menschlichen Willensfreiheit war also nicht nur gegen Luther, sondern auch – wie er in einem Brief vom 6. September 1524 an Melanchthon schrieb¹⁹ – gegen diesen gerichtet. Luther selbst hatte dies klar gesehen. In seiner Vorrede zu „De servo arbitrio“²⁰ wies er darauf hin, dass es eigentlich überflüssig sei, auf die Argumente des Erasmus einzugehen, die schon zuvor durch Melanchthons theologische „Loci“ widerlegt worden seien, die nach Luthers Urteil nicht nur der Unsterblichkeit, sondern auch der kirchlichen Approbation würdig seien. Melanchthon konnte die literarische Fehde zwischen Luther und Erasmus nicht verhindern, aber er stand – zumindest theologisch, nicht immer jedoch, was den Stil anbelangte – hinter Luther. Erasmus schickte seine Schrift „De servo arbitrio“ nicht direkt an Luther, sondern mit einem Begleitschreiben vom 6. September 1524²¹, in dem er durchaus dessen erste theologische Schrift der „Loci“ würdigte und gleichzeitig deren Grenzen aufwies, an Melanchthon. Die Antwort an Erasmus in Basel verfasste dieser am 30. September 1524.²² Melanchthon versicherte dem Baseler Humanisten, dass sich Luther und er selbst von den Radikalen distanzierten und dass ihm Luther maßvoll antworten werde. Im Dezember 1525 erschien Luthers große, antipelagianische und gleichfalls gegen Erasmus gerichtete Schrift „De servo arbitrio“. In dieser Zeit fand auch Melanchthon seine eigene, in nicht geringer Hinsicht modifizierte theologisch-philosophische Position in der Frage der menschlichen Willensfreiheit, wie sie dann in seinem Kolosserbriefkommentar von 1527²³ und in den Visitationsartikeln zum Ausdruck kamen.²⁴ Melanchthon betont hier, wie sehr er die Angriffe auf Erasmus missbilligt und dessen Schriften schätzt. Vor allem aber rückt er hier von seiner früheren Abwertung der Willensfreiheit und der Betonung der Prädestination ab. Im Streit um die Willensfreiheit geht es nach Melanchthon nicht um die Wahlfreiheit in äußeren Dingen, sondern um die Rechtfertigung und Heiligung des
CR 21, 86 – 97. MBW 341. WA 18,600 – 787. MBW 341. MBW 344. MSA 4, 209 – 303. Vgl. hierzu ausführlich: T. Wengert, Human Freedom, Christian Righteousness. Philip Melanchthon’s Exegetical Dispute with Erasmus of Rotterdam (New York, 1998).
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Menschen. Aus den Heiligen Schriften gehe hervor, dass der Mensch nicht die Freiheit besitze, die geistliche oder christliche Gerechtigkeit hervorzubringen. Aber bei einer solchen Ablehnung eines jeglichen Pelagianismus ließ es Melanchthon nicht mehr bestehen. Denn die Willensfreiheit des Menschen beziehe sich nunmehr auch auf die bürgerliche Gerechtigkeit, wie sie in der zweiten Tafel des Dekalogs niedergelegt ist. Der Mensch könne deshalb ohne den Heiligen Geist im äußeren Sinn das Gesetz erfüllen. Diese Freiheit werde aber ständig durch die Erbsünde und durch den Teufel bedroht. Wie Melanchthon in der Vorrede betont, wollte er mit dieser Auslegung einen Beitrag zum Frieden in der Kirche leisten. Luther bat er daher inständig, nicht auf den im September 1526 erschienenen zweiten Teil seines „Hyperaspistes“, Erasmus’ Widerlegung der Schriften Luthers, zu reagieren. Mit der „Augsburger Bekenntnisschrift“ aus dem Jahr 1530 hatte Melanchthons Fassung der Lehre von der Willensfreiheit offizielle Geltung im Luthertum gefunden. Im Artikel 18 heißt es: „Vom freien Willen wird also gelehrt, daß der Mensch etlichermaß ein freien Willen hat, äußerlich ehrbar zu leben und zu wählen unter denen Dingen, so die Vernunft begreift; aber ohn Gnad, Hilf und Wirkung des Heiligen Geistes vermag der Mensch nicht Gott gefällig zu werden.“
6 Der Augsburger Reichstag Am 21. Januar 1530 hatte Kaiser Karl V. von Bologna her zum Reichstag nach Augsburg eingeladen. Er begann am 8. April mit dem Ziel, wie das Ausschreiben festhielt, „das Heilig Reich der Teuschen Nation in einigkeit auch wiederum bracht werden möchte“.²⁵ Melanchthon war zu dieser Zeit voll der größten Erwartungen. Am 2. Mai erreichten der Kurfürst und seine theologischen Berater (unter ihnen Melanchthon) die Reichsstadt Augsburg. Unterwegs hatte man Luther, durch die Reichsacht geächtet, auf der Veste Coburg zurückgelassen. Im Vorfeld publizierte Johann Eck seine „404 Artikel“, in denen er die Wittenberger Theologie indiziert hatte. Melanchthon bemühte sich seitdem um die Formulierung der Bekenntnisschrift der Wittenberger Bewegung, denen Luther am 15. Mai seine Zustimmung entgegenbrachte:²⁶ Am gleichen Tag schrieb er über die fast fertiggestellte „Confessio Augustana“ an den Kurfürsten, diese gefalle ihm sehr gut und er wisse nichts daran zu ändern. Dies würde „sich auch nicht schicken, denn ich so sanft und leise nicht treten kann“.²⁷ Am 22. Mai berichtete Melanchthon Luther in Coburg vom Fortschritt seiner Arbeit.²⁸ In den folgenden Tagen herrschte Schweigen zwischen Augsburg und Coburg. Melanchthon
K.E. Förstemann, Urkundenbuch zu der Geschichte des Reichstages zu Augsburg im Jahr 1530. Nach den Originalen und nach gleichzeitigen Handschriften, Bd. 1: Von dem Ausgange des kaiserlichen Ausschreibens bis zu der Uebergabe der Augsburgischen Konfession (Halle, 1833). Reprint 1966, 4. MBW 908. WA BR 5, 1568. MBW 915.
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entschuldigte in einem Schreiben vom 13. Juni sein Schweigen mit dem Hinweis, dass er verzweifelt auf den Anschluss Philipp von Hessens gewartet habe, der zwischen den Zwinglianern und Kursachsen hin und her schwanke.²⁹ Luther seinerseits brach dieses Schweigen in einem Brief vom 27. Juni,³⁰ voller emotionaler Vorwürfe und Beschimpfungen: „Deine erbärmlichen Sorgen, von denen Du, wie Du schreibst, aufgefressen wirst, hasse ich gewaltig. Dass sie so in Deinem Herzen herrschen, kommt nicht von der Größe der Sache, sondern von der Größe unseres Unglaubens.“ Im Hintergrund stand auch die Frage, die Melanchthon in Briefen vom 26. und 27. Juni zum Ausdruck gebracht hatte,³¹ worin man denn in den ausstehenden Verhandlungen mit der römischen Seite noch nachgeben könne, falls die Augsburger Bekenntnisschrift, die am 25. Juni verlesen worden war, von der römischen Seite abgelehnt werden solle, wie dies auch tatsächlich in der „Confutatio“ am 3. August geschah. Vor allem in der Frage des Laienkelches, der Priesterehe und der Privatmesse erbat Melanchthon von Luther Rat. Luther schrieb am 30. Juni einen weiteren Trostbrief an Melanchthon, in dem er erneut nicht mit Kritik an diesem sparte.³² Melanchthon solle seine Sorgen auf Christus, den Herrn werfen. Aber voller Resignation stellt Luther fest, dass er gegen Melanchthons Philosophie nicht ankomme. Melanchthon werde die Sache weiterhin mit Vernunft anpacken, dies sei aber nichts anderes als trotz aller Vernunft spinnen (cum ratione insanire). Melanchthon hat in der Folgezeit diese kritischen Briefe Luthers mit keinem Wort erwähnt. Auch blieb ihm nicht verborgen, dass sie aufgrund zirkulierender Abschriften bei seinen Kritikern für Häme sorgten. Dennoch hatte diese Verstimmung vom Juni keine weiteren Folgen für das Verhältnis zwischen Luther und Melanchthon. Am 3. Juli schrieb er an Melanchthon: „Ich habe gestern Deine Apologie [gemeint ist die „Confessio Augustana“] noch einmal sorgfältig und ganz gelesen, und sie gefällt mir gewaltig.“³³ Aber Luther hegte gleichzeitig keinerlei Hoffnung auf eine Verständigung auf eine gemeinsame Lehre. Melanchthon seinerseits hatte den ersten Teil der „Confessio Augustana“, der sich in 21 Artikeln mit den dogmatischen Lehrfragen beschäftigt hatte, beschlossen mit den Worten: „Weil nun diese Lehre in der Heiligen Schrift klar begründet ist und außerdem der allgemeinen christlichen, ja auch der römischen Kirche, soweit das aus den Schriften der Kirchenväter festzustellen ist, nicht widerspricht, meinen wir, daß unsere Gegner in den oben aufgeführten Artikeln mit uns nicht uneinig sein können.“ Viel schwieriger schien ihm und den Wittenberger Theologen eine Verständigung in den geänderten Bräuchen und Zeremonien, wie sie in den Artikeln 21– 28 dargelegt sind. Und tatsächlich scheiterte die Verständigung auf dem Augsburger Reichstag, wie der Entwurf des Reichtagsabschieds vom 22. November 1530 festhielt, an Artikeln, die eher auf Bräuche und Zeremonien zu beziehen sind:
MBW 927. MBW 944. MBW 940; 942. MBW 950. MBW 951.
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„der niessung des heiligen sacraments under beiderlay gestalt, der geistlichen Personen ehe, der restitucion der geistlichen entwenten gutter und der heiligen messen halben“.³⁴ Mit Melanchthons Verhandlungsposition war Luther grundsätzlich einverstanden. Was beide trennte, war die Frage der Chance einer Realisierung einer Verständigung. Luther hegte hier wenig Hoffnung, Melanchthon lotete in diesen Fragen alle Möglichkeiten aus.
7 Melanchthon in den innerprotestantischen Kontroversen Dass es zwischen Melanchthon und Luther manche Unstimmigkeiten gab, wird in ihrer Beziehung immer wieder deutlich. Diese Unstimmigkeiten hingen jedoch weniger mit den theologischen Streitfragen zusammen als mit dem Charakter der beiden Wittenberger Kollegen. Melanchthon hob dies selbst in einem Brief an Veit Dietrich, Prediger in Nürnberg, am 22. Juni 1537 hervor: „Wie Du weißt, formuliere ich manches weniger schroff: über die Prädestination, die Zustimmung des Willens zur Gnade, die Notwendigkeit unseres Gehorsams nach der Rechtfertigung, die Todsünde. Ich weiß, dass Luther über all dies tatsächlich derselben Meinung ist. Aber die Ungebildeten lieben zu sehr seine groben Formulierungen, weil sie nicht sehen, in welchen Zusammenhang sie gehören. Ich will mich mit ihnen nicht anlegen. Sollen sie an ihrem Urteil Freude haben. Nur sollen sie mir erlauben, als Aristoteliker, der die maßvolle Mitte liebt, zuweilen nicht so stoisch zu reden.“³⁵ Die feinsinnige und ausgleichende Art, in der Melanchthon in den theologischen Streitfragen seiner Zeit vermitteln wollte, wurde nicht von allen seiner innerprotestantischen Zeitgenossen verstanden. Dies brachte ihm schon seit den beginnenden 20er-Jahren von eigener Seite den Vorwurf von zu großer Sanftmut, mangelndem theologischen Tiefgang, Nähe zum Papsttum, Nachgiebigkeit in Lehrstreitigkeiten und Entfernung von Luthers Positionen ein – Vorwürfe, die sich in der Geschichte des Melanchthonbildes geradezu zu Stereotypen entwickeln sollten.³⁶ So polemisierte Nikolaus von Amsdorff ³⁷ nach dem Abschluss der Wittenberger Konkordie vom 26. Mai 1536, die eine Verständigung in der Abendmahlsfrage zwischen den Wittenbergern und den Schweizern und oberdeutschen Theologen erzielen sollte, die dieser jedoch heftig ablehnte, bei Luther gegen vermeintlich ablehnende Lehrmeinungen Melanchthons:³⁸ an der Universität behaupte Melanchthon, Werke seien zum ewigen
E. Honée, Der Libell des Hieronymus Vehus zum Reichstag 1530 (Münster, 1988), 349, 26 – 29. MBW 1914 (Übersetzung: H. Scheible, Melanchthon. Vermittler der Reformation, 195). Ausführlich hierzu B. Kobler, Die Entstehung des negativen Melanchthonbildes. Protestantische Melanchthonkritik bis 1560, Beiträge zur historischen Theologie 171 (Tübingen, 2014). J. Rogge, „Amsdorff, Nikolaus von,“ TRE 2 (21993): 487– 497. WAB 7,539 – 540 (14.09.1536).
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Leben nötig, während Luther gleichzeitig predige, dass die Wiedergeburt des Menschen rein passiv geschehe. Diese Denunziation zielte auf ein Ereignis, das sich wenige Wochen zuvor abgespielt hatte. Conrad Cordatus,³⁹ Pfarrer im benachbarten Niemegk, besuchte am 24. Juli 1536 die Vorlesung von Caspar Cruciger,⁴⁰ einem engen Freund Luthers und Melanchthons. Hier habe er gehört, dass zwar Christus allein die Ursache der Rechtfertigung sei, aber auch die Reue und der Glaube eine unabdingbare Ursache seien. Das Vorlesungsmanuskript war gleichwohl von Melanchthon verfasst worden. Auch monierte Cordatus die Neuformulierungen Melanchthons in der Lehre von der Notwendigkeit der Werke und vom freien Willen, die dieser in seiner Neubearbeitung der „Loci communes“ des Jahres 1535 vorgenommen hatte.⁴¹ In all diesen Angriffen gegen Melanchthon bleibt bemerkenswert, dass Luther selbst nie Kritik an seinem Wittenberger Kollegen geäußert hat. Seine Zustimmung zu dessen Lehrweise blieb zeit seines Lebens ungemindert. Schon in der von Luther verfassten Vorrede der deutschen Fassung von Melanchthons Kolosserbriefkommentar aus dem Jahr 1529 findet sich die häufig zitierte Meinung Luthers: „Ich hab […] solche Magistri Philipps Bücher lieber denn die meinen, sehe auch lieber dieselben beide im Lateinischen und Deutschen auf dem Platz denn die meinen. […] Ich bin dazu geboren, dass ich mit den Rotten und Teufeln muss kriegen und zu Felde liegen, darum meiner Bücher viel [= viele meiner Bücher] stürmisch und kriegerisch sind. Ich muss die Klötze und Stämme ausrotten, Dornen und Hecken weghauen, die Pfützen ausfüllen, und bin der grobe Waldrechter, der die Bahn brechen und zurichten muss. Aber Magister Philipps fähret säuberlich und stille daher, bauet und pflanzet, säet und begeußt mit Lust, nach dem Gott ihm hat gegeben seine Gaben reichlich.“⁴² Aber auch Melanchthons „Loci“ empfahl er seinen Studenten: „Ihr findet kein Buch unter der Sonnen, da die ganze theologia so fein beieinander ist als in locis communibus. […] Nach der heiligen Schrift gibt es kein besseres Buch als seine Loci.“⁴³ In einer Frage scheint es jedoch einen gewissen Dissens zwischen den beiden Wittenberger Reformatoren gegeben zu haben: in der Frage des Abendmahls.⁴⁴ Luther war in dieser Frage gegenüber den schweizer und oberdeutschen Theologen kompromisslos geblieben und vertrat eine reale Gegenwart Christi in den Elementen von Brot und Wein (in pane). Seit Oktober 1531 avancierte Martin Bucer zum ersten Sprecher der süddeutschen Evangelischen, die eine solche Annahme einer realen Gegenwart Christi in den Elementen von Brot und Wein ablehnten. Bucer ging es wie
H. Scheible, „Cordatus, Conrad,“ RGG 2 (41999): 459. M.H. Jung, „Cruciger, Caspar,“ RGG 2 (41999): 501. CR 21, 274– 282. WA 30/II,68 – 69. WA TR 5, 204,5511; WA TR 2, 163,1649. E. Sternhagen, „Melanchthons Abendmahlsverständnis unter besonderer Berücksichtigung der Confessio Augustana variata von 1540 und dessen Bedeutung für den Erhalt des Protestantismus,“ in: Fragmenta Melanchthoniana, Band 1: Zur Geistesgeschichte des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Hg. G. Frank (Heidelberg et al., 2003): 121– 134.
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Melanchthon in den Gesprächen über die Abendmahlsfrage um die Einheit der evangelischen Bewegung. Bucer hatte schon während des Religionsgesprächs in Konstanz (1534) diese Frage der Präsenz Christi im Abendmahl auf die Formulierung „cum pane“ zurückgeführt und damit deutlich gemacht, dass Jesu Leib mit dem Brot gegeben werde, also symbolisch gegenwärtig sei, das Brot sich jedoch nicht in Christi Leib verwandle. In der „Wittenberger Konkordie“ von 1536 hatte Melanchthon eine als Kompromiss verstandene Formulierung gefunden: „Itaque sentiunt et docent, cum pane et vino vere et substantialiter adesse, exhiberi et sumi corpus Christi et sanguinem.“⁴⁵ (So denken und lehren sie, Christi Leib und Blut ist mit Brot und Wein wahrhaft und wesenhaft anwesend, werde dargereicht und empfangen.) Über diese unterschiedlichen Nuancen in der Abendmahlsfrage gab es keinerlei Gespräche zwischen Luther und Melanchthon. Wie die neuere Forschung betont, beeinträchtigte diese unterschiedliche Sichtweise jedoch nicht ihre Zusammenarbeit. Als Ende September 1543 Luthers Schrift „Kurzes Bekenntnis vom heiligen Sakrament wider die Schwärmer“ erschien, zeigte sich darin, dass weder Melanchthon noch Bucer in ihr angegriffen wurden, sondern nur die Schweizer, die der Abendmahlskonkordie nicht zugestimmt hatten.
8 Melanchthon nach Luthers Tod Die Nachricht vom Tode Luthers erreichte Melanchthon am Morgen des 19. Februar 1546, bevor er zu seiner Vorlesung ging. An seine Studenten richtete er folgende Worte: „Wie Ihr wisst, haben wir eine grammatische Erklärung des Briefs an die Römer begonnen, in dem die wahre Lehre vom Sohne Gottes enthalten ist, die uns Gott zu dieser Zeit als einzigartige Wohltat durch unsern ehrwürdigen Vater und Lehrer Doktor Martin Luther erschlossen hat.“⁴⁶ Danach fuhr Melanchthon fort: „Als er einigemale so gebetet hatte, wurde er von Gott zur ewigen Schule und zu den ewigen Freuden abberufen, wo er sich der Gemeinschaft mit dem Vater, dem Sohn, dem Heiligen Geist, mit allen Propheten und Aposteln erfreut. Ach, dahin ist der ‚Wagen Israels und sein Reiter‘, der die Kirche lenkte in diesem letzten Alter der Welt! Denn nicht durch menschliche Weisheit ist die Lehre von der Vergebung der Sünden und vom Vertrauen in den Sohn Gottes erfasst, sondern von Gott durch diesen Mann erschlossen worden, der offensichtlich von Gott aufgerufen war. Wir wollen also das Andenken an diesen Mann und an die von ihm überkommene Lehre lieben. Seien wir bescheiden und lasst uns an die großen Schwierigkeiten und Umwälzungen denken, die diesem Unglücksfall folgen werden. Dich Sohn Gottes, für uns gekreuzigt und auferweckt, Emanuel, Dich bitte ich, dass Du Deine Kirche leitest, bewahrst und verteidigst.
Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, hg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930 (Berlin, 21978), 65. CR 6, 58 (Übersetzung: H. Scheible, Melanchthon. Vermittler der Reformation, 204).
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Amen.“⁴⁷ Diese Worte Elisas bei Elias Himmelfahrt (2 Kön 2,12) stellten einen Topos aus der Frühzeit der Reformation dar, in dem sich Melanchthon selbst als Gefolgsmann des reformatorischen Propheten Luthers stellte. Die Beisetzung Luthers fand am 22. Februar 1546 in der Schlosskirche zu Wittenberg statt. Melanchthon hielt die lateinische Grabrede (Oratio in funere Reverendi viri D. Martini Lutheri).⁴⁸ Darin stellte Melanchthon Luther in die Reihe der von Gott gesandten Lehrer, an deren Ende das Licht des Evangeliums wieder heller zum Leuchten gebracht worden sei. Auch weitere Vorreden der seit 1539 erscheinenden gesammelten Werke Luther stellen Melanchthons Würdigungen seines Wittenberger Kollegen dar, von dem er das „Evangelium gelernt“ habe. Seine berühmte Biographie (Historia Lutheri) aus dem Jahr 1546 stellt nicht nur eine wichtige Quelle zu Luthers Leben dar, sondern einmal mehr eine in humanistischer Eleganz verfasste Würdigung der Leistungen Luthers. Bekannter gleichwohl als diese vielfältigen Würdigungen Luthers aus der Feder Melanchthons wurde ein Satz aus einem Brief an Christoph von Carlowitz: „Ich ertrug auch vordem eine fast entehrende Knechtschaft, da Luther oft mehr seinem Temperament folgte, in welchem eine nicht geringe φιλονεικία (Streitsucht, Ruhmsucht) lag, als auf sein Ansehen und auf das Gemeinwohl achtete.“⁴⁹ Man hat in der Folge Melanchthon nichts übler genommen als einen solchen Satz, obwohl Luthers Heftigkeit allenthalben bekannt war. Dass dieses Urteil über Luther bei dessen Gegnern Häme auslösen würde, ist kaum überraschend. Dennoch darf nicht übersehen werden, dass ohne Melanchthons unermüdliches Bemühen in Schule, Universität und Kirche, sein intensives europaweites, humanistisches Netzwerk, sein diplomatisches Geschick auf Reichstagen und bei Religionsgesprächen die Wittenberger Reformation nicht das geworden wäre, was sie geworden ist, oder kurz: keine Reformation ohne Melanchthon.
CR 6, 59. Vgl. auch die Übersetzung in: M. Beyer et al., Melanchthon deutsch, Bd. 2, 156 – 168. MBW 3993.
Herman Selderhuis
Luther und Calvin 1 Luthers einziger Schüler Die Verbindung zwischen Calvin und Luther ist enger, als die Jahrhunderte langer und oft heftiger konfessioneller Debatten zwischen Lutheranern und Calvinisten nahelegen. Obwohl von lutherischer Seite die Äußerung kam, dass Calvinisten sogar noch gefährlicher seien als Muslime,¹ und Calvinisten und Spiritualisten dort oft als Synonyme gesehen wurden,² ist die Tatsache, dass kein protestantischer Theologe Luthers Denken so umfassend aufgenommen hat wie der Genfer Reformator, aus allen seinen Werken ersichtlich. Peter Meinhold formulierte die Überzeugung vieler Forscher, als er sagte, Calvin sei wahrscheinlich der größte und vielleicht sogar der einzige Schüler, den Luther jemals hatte. Calvin ist ihm zufolge der einzige Theologe, der Luthers Theologie richtig verstand und sie so weiterentwickelte, dass er dabei auf Luthers Arbeit aufbaute.³ Das Argument, dass Calvinisten im eigentlichen Sinne tatsächlich Lutheraner sind, wurde schon im 16. Jahrhundert vorgebracht,⁴ aber dieser Standpunkt wurde nie akzeptiert, zumindest nicht von der Mehrheit der Lutheraner und auch nicht von vielen aus der reformierten Tradition. Das Verhältnis zwischen diesen beiden Reformatoren umfasst weit mehr als nur die theologische Beziehung zwischen Calvin und Luther und beinhaltet auch Calvins Verhältnis zu Luthers Kollegen wie Melanchthon und Bugenhagen. Calvin hatte außerdem auch Kontakt zu weiteren Kollegen, die mit Luther in Verbindung standen, aber außerhalb Wittenbergs lebten, sodass hier auch Calvins Verhältnis zu den Lutheranern zur Sprache kommt. Es lässt sich unterscheiden zwischen persönlichen und theologischen Aspekten dieser Kontakte, obwohl diese Aspekte für Calvin in Wirklichkeit immer miteinander verbunden waren. Dieser Aufsatz beschränkt sich auf die
Übersetzung: Lea Sophie Stolz. Vgl. H. Zschoch, „Das Bild des Calvinisten, Zur polemischen Publizistik im konfessionellen Zeitalter“, in: Thomas K. Kuhn und Hans-Georg Ulrichs (Hg.), Reformierter Protestantismus vor den Herausforderungen der Neuzeit, Wuppertal, 2008, 19 – 46. 1618 wird in Wittenberg eine Disputation unter dem Titel „De communione nostri cum Christo, opposita tum Calvinianorum tum Fanaticorum quorundam erroribus“ (Wittenberg, 1618) abgehalten. „Calvin ist der grösste und wohl auch einzige ‚Schüler‘, den Luther wirklich gehabt hat, d. h. der ihn zutiefst verstanden, und von ihm ausgehend, das Werk der Reformation mit einer eigenen Durchdringung der Botschaft des Evangeliums fortgesetzt und zu einer eigenen kirchlichen Gestalt gebracht hat“, Peter Meinhold, „Calvin und Luther“, in: Lutherische Monatshefte 3.1964, 67– 96. Vgl. H. J. Selderhuis, „Luther totus noster est. The reception of Luther’s thought at the Heidelberg theological faculty 1583 – 1622“, in: Athina Lexutt, Volker Mantey und Volkmar Ortmann (Hg.), Reformation und Mönchtum, Tübingen, 2008, 173 – 188. https://doi.org/9783110498745-025
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schon erwähnten Verbindungen zu Lebzeiten Calvins. Es ist am naheliegendsten, sich dem Thema ‚Luther und Calvin‘ aus der Perspektive Calvins anzunähern, weil es keine Rezeption Calvins in Luthers Arbeit, umso mehr aber eine Rezeption der Theologie Luthers in Calvins Arbeit gibt. So sehr Calvin sich das gewünscht haben mag,⁵ hat er Luther nie persönlich getroffen. Geographisch und politisch lebten sie in vollkommen verschiedenen Welten. Wichtiger ist noch, dass Calvin ein Mann der zweiten Generation ist, der 26 Jahre nach Luther geboren wurde. Als Calvin 1536 mit der ersten Ausgabe seiner Institutio die theologische Bühne betritt, hat Luther noch zehn Jahre zu leben, seine wichtigsten Werke bereits geschrieben und die grundlegendsten Debatten mit Erasmus, Zwingli, Rom und den Täufern geführt. Und wie selbst heute noch die Reise von Genf nach Wittenberg einige Zeit und Zwischenhalte erfordert, hätte die Hin- und Rückreise zur damaligen Zeit sicherlich zwei Monate gekostet. Hinzu kommt die schlechte körperliche Verfassung, in der sich beide Reformatoren unentwegt befanden, welche die lange Reise für ein Treffen ebenfalls verhindert haben mag. Häufig verweist die Literatur auch auf sprachliche Gründe dafür, dass sie sich nicht trafen oder miteinander kommunizierten, weil Luther kein Französisch sprechen, lesen oder schreiben konnte und für Calvin dasselbe im Hinblick auf die deutsche Sprache galt. Doch da beide fließend Latein sprachen, hätten sie miteinander sprechen und diskutieren können, so viel sie wollten. Die einzige Möglichkeit zu einer Begegnung zwischen Calvin und Luther wurde durch Philipp Melanchthon verhindert, weil der es nicht wagte, den Brief, den Calvin im Januar 1545 an Luther geschrieben hatte, weiterzugeben: „Ich habe deine Briefe Perikles [d. h. Luther, Anmerkung des Verfassers] nicht gezeigt, denn er neigt zum Misstrauen und möchte nicht, dass seine Antworten zu solchen Fragen, wie du sie stellst, die Runde machen.“⁶ Man könnte davon ausgehen, dass es zwischen den beiden kaum eine Verbindung gab, weil Luther und Calvin den Namen des jeweils anderen nur wenige Male in ihrer Korrespondenz erwähnen. Doch diese liefert ausreichend Inhalt, um uns eine Vorstellung der Wertschätzung zu vermitteln, die sie füreinander hatten, und gleichzeitig den Einfluss zu verdeutlichen, den Luther auf Calvins Theologie hatte.Würde man in Calvins Werk nur nach dem Namen Luthers suchen, könnte man zu dem Schluss kommen, dass der Einfluss minimal war, doch jeder, der mit dem Inhalt der Werke Luthers vertraut ist, wird ihm auf beinahe jeder Seite der Bücher, Predigten und Kommentare Calvins begegnen, nicht selten in wörtlichen Zitaten.
Vgl. CO 12,7 CO = Opera Quae Supersunt Omnia. 59 volumes. Edited by Wilhelm Baum, Edward Cunitz, & Edward Reuss. Brunswick: Schwetschke and Sons, 1895. CO 12,61.
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2 Luther über Calvin Soweit wir das wissen, äußerte Luther seine Meinung zu Calvin sieben Mal. Am 14. Oktober 1539 ließ Luther über Martin Bucer Grüße an Calvin ausrichten, da er mit großer Freude zwei von Calvins Arbeiten gelesen hatte, nämlich seine Institutio, die kurz zuvor in einer zweiten, erweiterten Auflage veröffentlicht worden war, und seinen Brief an Kardinal Sadolet.⁷ „Lebe wohl! Grüße mir Johannes Sturm und Johannes Calvin. Ich habe ihre Büchlein mit größter Freude gelesen.“⁸ Calvin war beeindruckt, als er diesen persönlichen Gruß Luthers empfing, und als er von der Mitteilung hörte, dass Luther seine Bücher mit Freude gelesen hatte, hielt er es für im Vorwort seines Kommentars zum Römerbrief erwähnenswert, er habe etwas geschrieben, das Luther zugesagt hatte.⁹ Zur selben Zeit berichtete Melanchthon, dass jemand versucht hatte, Luther dazu zu bewegen, in einen Streit mit Calvin zu treten, weil Calvin manche Kritik an Luther geäußert hatte. Die Reaktion fiel jedoch eher gegenteilig aus und Luther erklärte seine Hoffnung, Calvin würde auch Gutes über ihn denken. Er sagte sogar, es sei angemessen zuzugeben, dass ein Mann von solcher Intelligenz Recht habe.¹⁰ Calvin war von diesen Worten Luthers recht beeindruckt und es scheint, dass er von diesem Moment an freundlich und mild über den Wittenberger Reformator sprach. 1545 wurde Calvin darüber informiert, dass Luther seine Rede an Kaiser Karl V. (Supplex exhortatio ad Caesarem, 1543) mit großer Freude gelesen hatte.¹¹ Und 1545 wurde Calvin noch einmal daran erinnert, mit welch großer Wertschätzung Luther seinen Brief an Sadoletus zur Kenntnis genommen hatte.¹² Alle diese Berichte steigerten Calvins Sympathie für Luther und veranlassten ihn dazu, ihn zu verteidigen, wenn andere Luther kritisierten. Als er von Luthers positiver Beurteilung seiner Publikation hörte, schrieb er an Farel: „Wir müssten ganz aus Stein gemacht sein, wenn dieses gewaltige Temperament uns nicht zerbräche.“¹³ Diese Worte zeigen, dass es eine Spannung zwischen den schweizerischen und den deutschen Theologen gab, aber sie zeigen auch, dass Genf gewissermaßen eine Brücke zwischen Zürich und Wittenberg war. Luther war recht offen für Calvins Konzept und zeigte ein gewisses Maß an Großzügigkeit gegenüber seinem jungen Kollegen in Genf, und dies resultierte in einer freundlichen Haltung von Calvins Seite.¹⁴ Luther hatte Calvins Ansichten zum
Vgl. Herminjard VI,73. WA.BR 8,569; siehe auch CO 10/2,432. Vgl. Herminjard VI,130, Calvin an Farel, 20. November 1539. „Spero quidem ipsum olim de nobis melino sensurum. Sed aequum est a bono ingenio nos aliquid ferre“ (Herminjard VI,130, CaIvin an Farel, 20. November 1539). Vgl. CO 12,127. „Profectio reverendo patri Luthero tua epistola qua Sadoleto respondes ita modis omnibus perplacet ac praedicatur ut nihil supra.“ (CO 12,40, Crodelius an Calvin, 6. March 1545). Herminjard, VI,131. Hinzuweisen ist hier auf zwei Erwähnungen in Luthers Tischreden WA.TR 5,461 (Nr. 6050) und WA.TR 5,51 (Nr. 5303), in denen Luther ein gewisses Misstrauen Calvin gegenüber zum Ausdruck bringt.
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Abendmahl zur Kenntnis genommen und es ist sehr wahrscheinlich, dass er sie in einer lateinischen Version des Petit traité de la Sainte Cène Calvins gelesen hatte, weil eine solche Übersetzung 1545, ein Jahr vor Luthers Tod, veröffentlicht wurde. Anlässlich dessen sagte Luther, es hätte keinen so langen Streit über das Abendmahl gegeben, wenn Zwingli und Oekolampad sich in derselben Weise geäußert hätten wie Calvin.¹⁵
2.1 Luthers Person Die Bedeutung, die Luther für Calvin hatte, lässt sich am besten anhand einer Aussage erwägen, die er 1556 in einer kontroversen Auseinandersetzung mit den Lutheranern zum Abendmahl machte. Er sagte, zu der Zeit, als er begann „sich aus der Dunkelheit des Papsttums zu befreien“,¹⁶ sei er so sehr von Luther beeinflusst gewesen, dass er sich von den Schriften Oekolampads und Zwinglis abwandte. Diese Worte drücken sowohl Calvins Unabhängigkeit als auch seine Position aus, mit der er Luther näherstand als Zwingli. Calvin wollte Luther nicht mit Elijah vergleichen, als ob nach Luther keine anderen Propheten hätten auftreten könnten, aber er brachte vor: „das Evangelium ging von Wittenberg aus.“¹⁷ Luther sei der Mensch, der das Papsttum ins Wanken gebracht habe.¹⁸ In dem Brief an Luther, den Melanchthon zurückbehalten hatte, wendet Calvin sich an ihn als „hochgelehrten Vater in dem einen Herrn.“¹⁹ Er schreibt, er flöge gerne zu Luther, um ein paar Stunden mit ihm zu verbringen und die eine oder andere Angelegenheit mit ihm zu diskutieren, aber wenn dies auf Erden nicht möglich sei, hoffe er, dass es bald in Gottes himmlischem Königreich die Möglichkeit dazu gäbe – in der Erwartung, sie könnten dort kommunizieren und sich miteinander unterhalten.²⁰ Doch Calvin brachte bisweilen auch seine Probleme mit Luthers Ideen zum Ausdruck. In Calvins Brief an Bullinger vom 25. November 1544 nennt er Luther „maßlos stürmisch und charakterlich dreist.“²¹ Luther hätte sein aufbrausendes Temperament besser kontrollieren und sich größere Mühe geben sollen, seine eigenen
Es gibt auch eine Erwähnung des Theologen Christoph Pezel (1559 – 1604), in der er auf eine Bemerkung Melanchthons zum Verhältnis zwischen Luther und Calvin verweist, aber die Überlieferung hierzu ist recht unsicher, siehe dazu: E. Mühlhaupt, „Luther und Calvin“, in: Ders., Luther im 20. Jahrhundert. Aufsätze, Göttingen, 1982, 175 – 189. Vgl. ebd., 176; Siehe auch B. A. Gerrish, „John Calvin on Luther“, in: J. Pelikan (Hg.), Interpreters of Luther. Essays in honor of Wilhelm Pauck, Philadelphia, 1968; Brian A. Gerrish, The Old Protestantism and the New. Essays on the Reformation Heritage, Edinburgh, 1982, 27– 48. CO 9,51. Herminjard IX, 223, Calvin an Pfarrer in Montbéliard, 8. Mai 1544. Vgl. CO 14,31, Calvin an Edward VI, 5. Februar 1551. CO 12,8. Vgl. ebd., 7 ff. Herminjard IX, 373.
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Schwachstellen zu erkennen. Calvin schreibt an Melanchthon, dass es Luther an Selbstkontrolle fehle und er es sich zu leicht vom Zorn packen lasse. Er sei damit eine Gefahr für die Kirche, und anscheinend gebe es niemanden, der sich traue, sich seinem Benehmen entgegenzustellen.²² Doch die Wertschätzung Luthers blieb, und er würde – so Calvin selbst – Luther auch dann noch ehren und ihn als besonderen Diener Gottes beschreiben, wenn Luther ihn als einen Teufel bezeichnete. Calvins Meinung von Luther änderte sich nicht, nicht einmal in den angespannten und mühsamen Debatten über das Abendmahl. Obwohl es so aussah, als könnte die Haltung Bullingers nach Luthers Tod eine gewisse Offenheit bezüglich Luther mit sich bringen, schien die Gesamtsituation in den 1540er-Jahren erneut zu explodieren. Calvin versuchte, Bullinger zur Befriedung zu ermahnen, auch wenn er dies auf eine bescheidene und freundliche Weise tat. In einem Brief, den Calvin im November 1544 an Bullinger sandte, ist seine Sichtweise auf Luther am besten beschrieben: Ich höre, dass Luther schließlich mit einem scharfen Angriff hervorgebrochen ist, nicht so sehr gegen dich, sondern gegen uns alle. In dieser Angelegenheit wage ich, dich darum zu bitten, Schweigen zu bewahren, weil es weder so ist, dass unschuldige Menschen so schikaniert werden sollten, noch, dass ihnen die Möglichkeit verwehrt werden sollte, sich selbst zu erklären. Doch es ist andererseits auch nicht leicht zu bestimmen, ob es für sie vernünftig wäre, das zu tun. Aber hier wünsche ich in erster Linie ernsthaft, dich zu erinnern, dass du bedenkst, was für ein angesehener Mann Luther ist und die außerordentlichen Gaben, mit denen er beschenkt ist, mit welcher Geistesstärke und welcher entschiedenen Standhaftigkeit, mit welch großem Können und welcher Macht von Glaubensaussagen er bisher seine ganze Kraft investiert hat, die Herrschaft des Antichristen zu stürzen, und zugleich nah und fern die Lehre der Erlösung zu verbreiten. Ich habe oft zu sagen gepflegt, dass ich, selbst wenn er mich als Teufel bezeichnete, ich ihn nicht weniger in solchen Ehren halten sollte, dass ich ihn als erhabenen Diener Gottes anerkennen müsste. Doch während er mit seltenen und außerordentlichen Tugenden ausgezeichnet ist, müht er sich zugleich unter gravierenden Fehlern ab. Hätte er doch gelernt, sein unstetes, ruheloses Temperament zu zügeln, das so gut darin ist, in alle Richtungen überzuschäumen. Ich wünschte außerdem, dass er die Früchte dieser Wucht eines natürlichen Temperaments den Feinden der Wahrheit zuteilwerden ließe und nicht seine Blitze auch auf die Diener des Herrn geschleudert hätte. Wäre er doch achtsamer und vorsichtiger in der Anerkennung seiner eigenen Untugenden gewesen! Schmeichler haben bei ihm großen Schaden angerichtet, weil er von Natur aus zu anfällig ist, mit sich selbst zu milde umzugehen. Es ist jedoch an uns, jegliche bösen Eigenschaften, die ihn befallen könnten, so zu tadeln, dass wir zur ihm zur gleichen Zeit im Hinblick auf die bemerkenswerten Gaben, mit denen er ausgestattet ist, gerecht werden können. Dies als erstes zu bedenken ersuche ich dich also neben deinen Kollegen, dass du es mit einem Diener Christi von hohem Rang zu tun hast, dem wir alle tief verpflichtet sind.²³
Calvin ist bereit, zu glauben, dass das, was viele über Luther sagen, wahr ist, nämlich, dass die Standhaftigkeit des Reformatoren mit Sturheit einhergeht.²⁴ Und Calvin ist ebenfalls ehrlich genug, um sich offen darüber zu beschweren, dass Luthers Stolz
Vgl. CO 12,99. CO 11, 772– 775, Herminjard IX,372– 74. „Esse ejus constantiae nonnihil pertinaciae admixtum“ (Herminjard, 9,342).
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keine Grenzen kennt.²⁵ Obwohl er ihm viel verdankt, verschließt er nicht seine Augen vor Luthers Fehlern, wie seiner unkontrollierten Wut, seiner Ungezügeltheit in Diskussionen und seiner Unnachgiebigkeit. Calvin weist ebenfalls darauf hin, dass nicht alles davon von Luther herrührt, gibt dem schlechten Einfluss, den manche von Luthers Freunden auf ihn hätten, die Schuld, und erwähnt insbesondere Nikolaus von Amsdorf als einen „Narren ohne Verstand“.²⁶ Gegenüber den Schweizern, die Calvin 1554 vorwarfen, zu mild über Luther zu schreiben, verteidigte er Luthers Vehemenz mit der Feststellung, dass dies nur ein Teil seines Wesens und der Mann außerdem von böswilligen Menschen angestachelt sei.²⁷ In seinem Traktat gegen Albertus Pighius über die Knechtschaft und Befreiung des menschlichen Willens (Defensio sanae et orthodoxae doctrinae de servitute et liberatione humani arbitrii, adversus calumnias Alberti Pighii Campensis, 1543) verteidigte Calvin uneingeschränkt die Position Luthers zu diesem Thema.²⁸ Er weist auf die schwierige Lage hin, in der Luther zu handeln hatte, und vergleicht sie mit den Umständen, unter denen die Apostel arbeiten mussten – mit der Ergänzung, für Luther sei es sogar noch schwieriger gewesen. Jegliche politische Instanz hatte Luther und seinen Reformatorenkollegen den Krieg erklärt.²⁹ Calvin verteidigt Luther, als Pighius diesem vorwirft, er wäre vom Teufel beeinflusst und dass der Teufel sich Luthers vielfältiger geistlicher Anfechtungen bediene. Nach Calvin ist vielmehr das Gegenteil richtig, da er diese Bedrängnisse Luthers als dessen Erwählung durch Gott und seine Heiligkeit beschreibt. Calvin widerspricht auch der Beschwerde, die Pighius gegen Luther vorbrachte, dass der Reformator den Wert guter Werke nicht wirklich anerkenne. Ohne zu zögern sagt Calvin, er würde der Aussage Luthers zustimmen, dass der freie Wille des Menschen nach dem Sündenfall nur eine hohle Phrase sei, weil wir gar nichts anderes tun könnten, als zu sündigen.³⁰ Luthers Perspektive von Sünde und Gnade wird von Calvin auf eine Linie mit der des Apostels Paulus und des Kirchenvaters Augustinus gestellt.³¹ An dieser Stelle verteidigt Calvin auch Luthers scharfe Art, diese Angelegenheit zu diskutieren. Tatsächlich, so räumt Calvin ein, bediene sich Luther harscher Worte und freimütiger
„Quis tamen non eam excuset prae insolenti, quam narrant, Martini ferocitate?“ (Herminjard, 9,343). CO 11,774. Vgl. CO 15,305, Calvin an den Klerus in Zürich. L. F. Schulze, Calvin’s Reply to Pighius, Potchefstroorn, 1971; G. Melles, Albertus Phigius en zijn strijd met Calvijn over het liberum arbitrium, Kampen, 1973. Der Traktat findet sich in CO,6, 225 – 404. Für eine neuere Übersetzung siehe: Johannes Calvin, The Bondage and Liberation of the Will. A Defence of the Orthodox Doctrine of Human Choice against Pighius, hg.v. A. N. S. Lane, übers. v. G.I. Davies, Grand Rapids, 1996. Vgl. CO 6,239. Vgl. CO 6,248 f.; These 13 in Luthers Heidelberger Disputation: „Liberum arbitrium post peccatum res est de solo titulo, et dum facit quod in se est peccat mortaliter“ (WA 1,354). Zur Beurteilung der These durch die Universität von Paris siehe F. T. Bos, Luther in het oordeel van de Sorbonne, Amsterdam, 1974, 96 ff.; 223 ff. Vgl. CO 6,264.
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Thesen, aber er sage schlicht die Wahrheit.³² Luther habe keine Wahl gehabt, und es seien seine Gegner gewesen, die seinen Ärger nicht nur provoziert, sondern ihn auch weiser gemacht und ihm durch ihren Widerstand weitere Einblicke gegeben hätten.³³ Zusammengefasst verteidigt Calvin Luther in seinen Ansichten und in der Art, in der er diese vorbrachte. Er will darüber niemanden im Zweifel lassen und erklärt: „Was Luther betrifft, gibt es keinen Grund für ihn [d. h. Pighius, Anmerkung des Verfassers] zu irgendwelchem Zweifel, wenn wir nun also, wie wir das schon zuvor getan haben, offen bezeugen, dass wir ihn für einen Apostel von hohem Rang halten, der mit seiner Arbeit und seinem Dienst in dieser Zeit am meisten dafür getan hat, die Reinheit des Evangeliums zurückzubringen.“³⁴ Pighius hatte sowohl Luther als auch Calvin angegriffen, was bedeutet, dass er richtig erkannt hatte, dass beide sich, was das Herzstück des Evangeliums betrifft, auf einer Linie befanden. Calvins Selbstverteidigung war identisch mit einer Verteidigung Luthers. Calvin war überzeugt, dass Gott selbst Luther dazu berufen hatte, den Weg zum Heil wiederzuentdecken. Deswegen trage Luther die Fackel weiter.³⁵ „Durch seinen Dienst wurden unsere Kirchen gegründet und geordnet.“³⁶ Mit diesen an Kaiser Karl V. gerichteten Worten aus seinem Traktat über die Einheit der Kirche bekannte Calvin, dass er fest von der Einheit des Protestantismus überzeugt war, obwohl es eine innere Verschiedenheit gab. Für Calvin blieb Luther ein hervorragender Diener Gottes, in dessen Schuld alle standen; es war nach Calvin die Pflicht eines jeden, Luther für seine Fehler nur so zu tadeln, dass es immer noch genug Raum dafür gab, seine brillanten Gaben zu schätzen.³⁷ Und was Luthers derbe Sprache betrifft, war Calvin der Überzeugung: „Lebte Luther heute, änderte er sicher einige seiner scharfen Formulierungen.“³⁸
2.2 Luthers Theologie Von größerem Interesse als die gegenseitigen Beurteilungen ist Calvins Sicht auf Luthers Gedanken und besonders der Einfluss Luthers auf Calvin. Dieser Einfluss ist unbestritten und wird auch in vielen Aufsätzen behandelt, von denen manche in der Bibliographie erwähnt werden; dennoch ist eine umfangreiche Studie zu Luthers Einfluss auf Calvins Theologie bisher nicht veröffentlicht worden. Luthers Einfluss
Vgl. CO 6,249. Vgl. CO 6,241. CO 6,250. „Quum Deus initio Lutherum et alios excitavit, qui nobis facem ad reperiendam salutis viam praetulerunt, et quorum ministerio fundatae sunt et institutae nostrae ecclesiae, dicimus ea doctrinae capita, quibus religionis nostrae veritas, quibus purus et legitimus Dei cultus, quibus salus hominum continetur, fuisse propemodum abolita“ (CO 6,459; vgl. CO 6,473). CO 6,459. Vgl. Herminjard IX, 313. CO 9,442; vgl. CO 15,501 und CO 11,705.
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lässt sich bis zu den allerersten Anfängen Calvins zurückverfolgen. Schon aus der Concio academica, der am 1. November 1533 gehaltenen Antrittsrede von Nicolas Cop als Rektor der Universität von Paris, die Calvin verfasst hatte – wie die jüngere Forschung bewiesen hat –, geht klar hervor, dass Calvin sich einer von Luther veröffentlichten Predigt bediente.³⁹ In dieser Rede werden die wichtigsten Themen der Reformation, wie die Rechtfertigung allein aus Glauben und die Gewissheit dieser Rechtfertigung fußend auf Gottes Versprechen, vorgestellt. Die Rede verweist auch auf die Wichtigkeit der Versicherung des Glaubens inmitten geistlicher Bedrängnisse, und all diese Standpunkte übernahm Calvin von Luther. Dies bedeutet, dass Luthers direkter Einfluss auf Calvin sich bis in dessen frühe 20er-Jahre zurückverfolgen lässt. Calvin selbst beansprucht, er habe seine Freiheit gegenüber Luther immer standhaft erhalten (me semper fuisse leberum).⁴⁰ Er scheute sich deshalb nicht, kleinere kritische Anmerkungen zu Luthers Hermeneutik zu machen, weil die Arbeit jedes Exegeten überflüssig und sinnlos sei, wenn es nicht erlaubt ist, sich mit Luther auseinanderzusetzen.⁴¹ Zu einer Predigt, die Luther 1522 hielt, meint Calvin 1562, dass Luther zu dieser Zeit noch nicht ganz mit der Bibel vertraut gewesen sei.⁴² Calvin fand auch, dass Luther in seiner Exegese von Jesaja den historischen Kontext zu sehr vernachlässigte.⁴³ Was das Abendmahl betrifft, war Calvin als Reformator in besonderer Weise in der Lage dazu, verschiedene Sichtweisen zu überblicken; so stellte er fest, dass es auf beiden Seiten Schwachpunkte gab. Calvin war der Meinung, der Mann aus Wittenberg sei in seinen Formulierungen und seiner Äußerung über andere zu weit gegangen. Nach Calvin war Luther in seinem Urteil zu harsch und zu undifferenziert und hatte Formulierungen verwendet, die zu kompliziert und ungeeignet waren.⁴⁴ Gleichzeitig sah Calvin, dass diese Fehler auch von Schweizer Seite begangen worden waren. Calvin schätzte die Tatsache sehr, dass Luther streng vor einer katholischen Sicht der Gegenwart Christi gewarnt hatte.⁴⁵ Nach seiner ursprünglichen Zurückhaltung im Hinblick auf die Wittenberger Konkordie (1536) begann Calvin, positiver über das Dokument zu denken – besonders nachdem er mit den Lutheranern auf dem Reichstag zu Worms Bekanntschaft gemacht hatte (1539). Eben weil diese Konkordanz – nach Calvin – bekennt, „dass im Abendmahl nicht nur Christi Leib und Blut gegenwärtig sind, sondern dass sie während des Gottesdiensts wahrhaft allen dargeboten und vor allen als gegenwärtig präsentiert werden“, erklärte Calvin, dass er diese Konkordanz nicht nur wollte, sondern auch versucht hatte, sie zu stärken.⁴⁶ So ist es
Concio academica nomine rectoris universitatis Parisiensis scripta. (CO 10b.30 – 36). CO 13,165, Calvin an Bullinger, 21. January 1549. CO 15,454, Calvin an Burckhard, 10. Juli 1554. CO 19,368, Calvin an Desprez, 29. März 1562. Herminjard VI, Calvin an Viret, 19. Mai 1540. CO 5,458. CO 5,458. Herminjard IV, 338.
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keine Überraschung, dass Calvin, der 1538 in Straßburg die Confessio Augustana invariata unterschrieben hatte, während der Religionsgespräche in Regensburg die Confessio Augustana variata unterschrieb. In einem Brief an Bucer vom 12. Januar 1538 erwähnt Calvin Luther das erste Mal. Er schreibt, dass er von seiner Frömmigkeit überzeugt, aber nicht sicher sei, was er sonst von ihm halten solle.⁴⁷ Calvin meint, Luther hänge so sehr an seiner Abendmahlslehre, dass er damit eine reformatorische Einheit verhindere. Es wird hier offenkundig, dass Calvin größere Probleme mit Luthers Charakter als mit seinem Denken hatte. Dass Calvin seine eigene Abendmahlslehre in wesenhafter Übereinstimmung mit der Luthers sah, ist klar. Die Lutheraner versuchten Luther anzustacheln, Calvins Abendmahlslehre zu kritisieren, wie er sie in seinem Brief an Sadoletus geäußert hatte. Doch stattdessen lobte Luther Calvin dafür, als er die entscheidenden Abschnitte las.⁴⁸ Mild, aber grundlegend war die Kritik Calvins an Luthers exegetischem Ansatz. In einem Brief an Pierre Viret lieferte Calvin eine Beschreibung der Art und Weise, wie Luther die Schrift erklärt, und verglich sie mit der Exegese Zwinglis, die er ebenfalls kritisierte: „Obwohl Zwingli keine angepasste und fertige Darstellung will, entfernt er sich doch, weil er sich zu viel Freiheit herausnimmt, oft von der Bedeutung des Propheten. Luther ist bei der Angemessenheit des Ausdrucks oder der historischen Genauigkeit nicht so gründlich; er ist zufrieden, wenn er eine ertragreiche Lehre daraus ziehen kann.“⁴⁹ Nach Calvin bedient sich Luther zu sehr einer spekulativen Art der Erklärung biblischer Texte.⁵⁰ Zu oft errate er die Bedeutung eines Wortes nur,⁵¹ und dies resultiere in Überlegungen zu einem Abschnitt, dem bisweilen jegliche Grundlage fehle.⁵² Calvin geht den Schritt vom Text zur Lehre nicht so schnell und achtet mehr auf die hebräische und griechische Bedeutung der Worte sowie auf den historischen Kontext.
2.2.1 Luther in Calvins Institutio Obwohl Calvin schon Jahre vor der Veröffentlichung der ersten Ausgabe der Institutio maßgeblich von Luthers Schriften beeinflusst war, erscheint Luthers Name in keiner der Ausgaben dieses wichtigsten Werks Calvins. Würde man sich auf diesen Namen konzentrieren, könnte die Schlussfolgerung sogar sein, dass Calvin überhaupt nichts von Luther wusste.⁵³ Die Situation ist jedoch gänzlich anders, und wer mit Luthers
Vgl. Herminjard IV, 338. Vgl. CO 10/2,432, Melanchthon an Bucer, 14. Oktober 1539. CO 11,36. Vgl. CO 23,113. Vgl. CO 23,170. Vgl. CO 23,193. „The casual reader of the Institutes, who is not skilled in identifying unacknowledged debts or anonymous opponents, could certainly be pardoned for concluding that Calvin had never heard of
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Arbeiten vertraut ist, wird leicht erkennen, wie Luther durchgehend präsent ist. Schon in der ersten Ausgabe von 1536 kommt Luther sogar in nicht als solchen gekennzeichneten Zitaten, Formulierungen und Begriffen vor und dies weitet sich in den späteren Ausgaben sogar noch aus. Calvins Institutiones zeigen insofern die Kontinuität zwischen Luther und Calvin, als der Genfer Luthers Gedanken nicht wiederholt, sondern weiterentwickelt.⁵⁴ Calvin reicht Luthers Erbe nicht nur weiter, sondern bringt es in eine Form, die in verschiedenen Kontexten gilt, und macht es auch anwendbar auf Kirche, Kultur, Gesellschaft, Politik und Bildung. Calvins Institutiones zeigen auf jeder Seite, dass sie von einem Schüler Luthers geschrieben wurden.⁵⁵ Konkreter ist es Luthers Kleiner Katechismus, der grundlegend für Calvins erste Ausgabe der Institutio war.⁵⁶ Dieser Katechismus diente ihm als Struktur für seine Arbeit, die er ursprünglich ebenfalls als katechetisches Hilfsmittel gedacht hatte. Neben seinem Kleinem Katechismus gibt es auch andere Veröffentlichungen Luthers, derer sich Calvin als Quelle bediente, beispielsweise De Libertate Christiana (1520), De Captivitate Babylonica (1520), Ein Sermon von den Sakrament des Leibs und Blutes Christi wider die Schwärmgeister – das 1527 ins Lateinische übersetzt worden war – der Sermon von dem hochwürdigen Sakrament des heyligen wahren Leichnames Christi (1519), das 1524 übersetzt worden war, sowie die 1521 veröffentlichte lateinische Ausgabe von Luthers Postillen. Aus dem Kleinen Katechismus übernahm Calvin beispielsweise die Reihenfolge, in der er die verschiedenen Themen des christlichen Glaubens abhandelte. Luthers Katechismus behandelt sie in dieser Reihenfolge: das Gesetz in Form der Zehn Gebote, der Glaube, wie er im Apostolicum zugrunde gelegt ist, das Gebet als Erklärung des Vaterunsers und schließlich die Sakramente.⁵⁷ Calvins Reihenfolge war 1536 genau dieselbe: De lege, De fide, De oratione, De sacramentis. Er fügte allerdings zwei Kapitel hinzu, nämlich eines über die fünf ‚falschen‘ Sakramente und ein Kapitel über die christliche Freiheit, die Autorität der Kirche und politische Macht. Es ist verständlich, dass August Lang schrieb, in der Ausgabe der Institutio von
Luther.“ (Gerrish, „John Calvin on Luther“, in: Interpreters of Luther, 67). Zu Luthers Einfluss auf Calvins Institutio siehe: W. van ′t Spijker, „The influence of Luther on Calvin according to the Institutes“, in: B. J. van der Walt, John Calvin′s Institutes. His Opus Magnum. Proceedings of the Second South African Congress for Calvin Research, Potchefstroom, 1986, 83 – 105. Vgl. ebd., 86. Vgl. A. Lang: „Ja, man darf sagen, er hat die Kernlehre Luthers von der Glaubensgerechtigkeit und der Wiedergeburt aus dem Glauben treuer bewahrt und theologischer schärfer zum Ausdruck gebracht als irgendein Dogmatiker der Reformation.“ (Zwingli und Calvin, Bielefeld/Leipzig, 1913). Siehe auch: A. Lang, Johannes Calvin, Ein Lebensbild zu seinem 400. Geburtstag, Leipzig, 1909, 70 f. A. Ganoczy, Le jeune Calvin. Genèse et évolution de sa vocation reformatrice, Wiesbaden, 1966, 139 – 150; J. Köstlin, „Calvins Institutio nach Form und Inhalt in ihrer geschichtlichen Entwicklung“, in: Theologische Studien und Kritiken, 1868, 7– 62;410 – 486; A. Lang, „Die Quellen der Institutio von 1536“, in: Evangelsiche Theologie 3, 1936, 100 – 112; W. Niesel, Calvins Lehre vom Abendmahl, München, 1935, 21– 28; F. Wendel, Calvin. Ursprung und Entwicklung seiner Theologie, Neukirchen, 1968, 109 – 113. Der Text des Kleinen Katechismus findet sich in: Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, Vollständige Neuedition, Göttingen, 2014, 852– 910.
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1536 trete Calvin als ein Lutheraner aus Südwestdeutschland auf.⁵⁸ Auch in der Einleitung zur Institutio, in der Calvin die cognitio Dei et hominis verknüpft, wird die direkte Verbindung zu Luther offensichtlich. In der Prädestinationslehre ist Calvin gleichermaßen ein Schüler Luthers, obwohl er Luthers Meinung dazu hauptsächlich von Martin Bucer gehört hatte.⁵⁹ Calvin definiert Prädestination nicht so freimütig, wie Luther das in seinem De Servo Arbitrio tat, aber es besteht hier kein substantieller Unterschied. Andere Themen, bei denen Luthers Einfluss sichtbar wird, sind die Verwendung der Begriffe foedus und testamentum, die klar aus Luthers De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium (1520) abgeleitet sind. Die Art und Weise, wie Calvin hier über die Korrelation von promissio und fides schreibt, reflektiert Luther in jeglicher Hinsicht.⁶⁰
2.3 Melanchthon Calvins Verhältnis zu Luthers Kollegen Philipp Melanchthon ist ein wesentlicher Teil desjenigen zwischen Calvin und Luther. Der recht intensive Kontakt zwischen Melanchthon und Calvin ist persönlicher wie auch theologischer Natur. Nachdem er Melanchthon einige Male getroffen hatte, schrieb Calvin, es täte ihm leid, dass sie nun so weit voneinander entfernt seien. Deshalb fügte Calvin hinzu, er und Melanchthon könnten Trost in der Erwartung finden, dass sie eines Tages im Himmel ihre gegenseitige Liebe und Freundschaft genießen können würden, wo sie für immer zusammenleben würden.⁶¹ Dass Melanchthon den Brief Calvins an Luther zurückhielt, ist vielsagend für das Verhältnis zwischen Calvin und Melanchthon. Schließlich versuchte letzterer, Konflikte zwischen den beiden Reformatoren zu vermeiden. Als Calvin ihn wissen ließ, die Lutheraner seien in ihrem Festhalten an manchen liturgischen Bräuchen beinahe jüdisch, antwortete Melanchthon, Luther habe einen hohen Respekt für die liturgische Nüchternheit in Genf. Als Luther vehement behauptete, dass die Anführer in Zürich die Kirchgänger in die Hölle führen würden und sie keine Verbindung zur Kirche Gottes hätten,⁶² drängte Calvin Melanchthon dazu, Luther zu beruhigen und damit Versöhnung zu stiften.⁶³ Calvin selbst empfand immer große Bewunderung für Melanchthon, obwohl es Punkte gab, an denen sie unterschiedlicher Meinung waren. Calvin hätte es gerne
„Zumal in der ersten Ausgabe der Institutie erscheint er daher fast wie ein oberdeutscher Lutheraner“ (Lang, Zwingli und Calvin, 106). Vgl. W. van ’t Spijker, „Prädestination bei Bucer und Calvin“, in: W. H. Neuser (Hg.), Calvinus Theologus, Neukirchen, 1976, 85 – 111. Vgl. Niesel, Calvins Lehre, 23. Vgl. CO 11,515, Calvin an Melanchthon, 16. Februar 1543. Vgl. WA.BR 10,387. Vgl. Herminjard IX, 201, Calvin an Melanchthon, April 1544.
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gesehen, wenn Melanchthon resoluter gewesen wäre.⁶⁴ Es störte ihn, dass Melanchthon zu schüchtern war, sich selbst in die kontroversen Debatten zum Abendmahl einzubringen, die nach Luthers Tod aufkamen, und hier klar Stellung zu beziehen. Es sei besser, Melanchthon aus seinem allzu lutherischen Umfeld zu befreien.⁶⁵ Sollte Melanchthon in seiner Nähe leben, könnte Calvin ihn öfter beraten, denn „in einem Gespräch von drei Stunden käme ich weiter als in hundert Briefen.“⁶⁶ Nach Calvin gehörte Melanchthon zu den besten Bibelexegeten.⁶⁷ Genauso gibt es eine Wertschätzung Calvins durch Melanchthon, wie aus seinen Bemühungen hervorgeht, Calvin in Worms zu halten, als dieser aufbrechen wollte, weil er sich nichts mehr von den Religionsgesprächen erwartete.⁶⁸ Nach Beza schrieb Melanchthon seitdem von „dem Theologen“, wenn er Calvin meinte.⁶⁹ Calvin unterschied sich von Melanchthon auch im Hinblick auf die sogenannten adiaphora. Nachdem Melanchthon das Leipziger Interim (21. Dezember 1548) akzeptiert hatte, in dem die Zeremonien als adiaphora bezeichnet wurden, vermerkte Calvin seine Unterscheidung von ihm und seine größere Einigkeit mit Magdeburg, wo Falcius Illyricus sich diesem Interim heftig widersetzte, als mit Wittenberg.⁷⁰ Ebenfalls gab es Uneinigkeit über das Thema des freien Willens und der Prädestination. Calvin widmete seine Schrift zu diesem Stoff, die sich gegen Pighius richtete, Melanchthon, der diese Geste sehr zu schätzen wusste. Entsprechend war Melanchthon recht angetan von dieser Arbeit, wies aber Calvins Determinismus zurück.⁷¹ Calvin seinerseits führte als Grund für seine Differenzen mit Melanchthon an, der Mann aus Wittenberg habe sich selbst zu sehr an die menschliche Auffassung angepasst, und spreche deswegen über diese Dinge mehr als Philosoph denn als Theologe. Doch war es nach Calvin ein Fehler, sie im Hinblick auf diese Differenz einander in Opposition gegenüberzustellen. Ihre Freundschaft war aufrichtig, und das hatte auch damit zu tun, dass beide Humanisten waren. Neben der großen Wertschätzung auf beiden Seiten bot dies Raum dafür, ihre Differenzen öffentlich auszutragen,⁷² aber Calvin sah sich trotzdem an der Seite Melanchthons,⁷³ wie er in einem Gruß an seinen Kollegen in einem seiner Briefe klarmacht: „Sei also gegrüßt, du Mann der höchsten Verdienste, und für immer in meiner Erinnerung und gelobt im Herrn! Möge der Herr dich lange in Sicherheit erhalten, zur Ehre seines Namens und zum Aufbau der Kirche.“⁷⁴
Vgl. CO 12,99, Calvin an Melanchthon, 28. Juni 1545. Vgl. CO 15,388, Calvin an Vermigli, 18. Januar 1555. CO 15,321, Calvin an Farel, 27. November 1554. Vgl. Herminjard VI, 414, Calvin an Farel, Dezember 1540. Vgl. Herminjard VII, 8, Calvin an Farel, 31. Januar 1541. Vgl. CO 21,62. Vgl. CO 13,593 – 596, Calvin an Melanchthon, Juni 1550. Herminjard VIII, 451, Melanchthon an Calvin, 12. Juli 1543. Vgl. CO 12,381, Calvin an den Stadtrat von Genf, 6. Oktober 1552. Vgl. CO 6,250. CO 11,516.
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2.4 Lutheraner Calvin hatte manchen Briefkontakt mit verschiedenen lutherischen Theologen wie Jacob Andreae, Veit Dietrich, Johann Marbach und Johannes Brenz. Charakteristisch für Calvins Haltung gegenüber den Lutheranern ist, dass er sich selbst auf einer Linie mit Luther sah, während er den Lutheranern vorwarf, sie hätten sich von Luther entfernt. Die Lutheraner verweigerten sich der Einheit, weil sie weiterhin das ‚Wie‘ der Präsenz Christi diskutierten, während Luther selbst Calvin zufolge diese Frage als zweitrangig betrachtet hatte. Aus diesem Grund nannte er die, die unter Luthers Namen argumentierten, „Fanatiker“.⁷⁵ Im Sommer 1554 hatte Calvin seinen GenesisKommentar den drei Söhnen des Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen gewidmet, der im März desselben Jahres gestorben war. Doch die Widmung wurde zurückgewiesen, da Calvin anscheinend von Luthers Abendmahlslehre abgewichen sei und Luther in seiner Exegese der Genesis wiederholt beleidige.⁷⁶ 1555 seufzte Calvin: „Oh, wenn nur Luther noch lebte. Er war sicherlich ungestüm, aber er ging nie so weit wie seine Anhänger, die nicht Schüler genannt werden sollten, sondern nur Nachahmer, ja Affen.“⁷⁷ Calvin war der Meinung, dass Luther, hätte er noch gelebt, nicht die Seite der Lutheraner gewählt hätte. Die intensivste Diskussion gab es mit Joachim Westphal (1510/11– 1574), einem Prediger in Hamburg. Als die Schweizer den Symbolismus durch ihren Consensus Tigurinus zurückgewiesen hatten, hoffte Calvin vergeblich, die Lutheraner wären dadurch eher bereit für eine Einheit. Westphal reagierte 1552 heftig auf die Veröffentlichung des Consensus Tigurinus – 1551, trotz Calvins Drängen mehr als eineinhalb Jahre nach seiner Fertigstellung 1549 – mit seinem Farrago confuseanarum et inter se dissidentium opinionum de Coena Domini ex Sacramentarium libris congesta per M. Joachimum Westphalum pastorem Hamburgensem. In dieser Arbeit führt er erstmals das Konzept des „Calvinismus“ ein, um Calvins Sicht auf das Abendmahl als menschliche Erfindung abzustempeln. Als Westphal ein Jahr später die Recta fides, ein ähnliches Werk, veröffentlichte, schrieb Calvin 1555 – auf Bullingers Beharren hin – seine Defensio sanae et orthodoxae doctrinae de sacramentis. ⁷⁸ Er erinnerte Westphal daran, dass es Luther war, der Calvin zuerst zu einem besseren Verständnis des Abendmahls verholfen hatte⁷⁹ und er berichtete Westphal auch, wie Luther über ihn gedacht hatte: „Es wäre nicht schwer für mich, durch verlässliche Zeugen zu beweisen, wie Luther über mich geurteilt hat, nachdem
CO 15,141, Calvin an Farel, 25. Mai 1554. Vgl. CO 15,260. CO 15,501, Calvin an Seidemann, 14. März 1555. CO 9,15 – 36. Vgl. CO 9,51.
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er in meine Arbeiten gesehen hatte. Aber ich denke, Philipp Melanchthon reicht mir als Stellvertreter der vielen anderen.“⁸⁰ Nach einer Defensio vonseiten Westphals schrieb Calvin eine Secunda Defensio,⁸¹ in welcher er sich wieder einmal darüber beschwert, die sogenannten Lutheraner träten nicht in Luthers Fußstapfen: „Ah, Luther! Wie wenige Nachahmer deiner Vorzüglichkeit du zurückgelassen hast und wie viele Affen deiner Streitlust!“⁸² Für den Pfarrer in Hamburg war diese Arbeit die Gelegenheit, eine Reihe an Schriften gegen Calvin zu richten. Andere lutherische Theologen stiegen ebenfalls in diese Diskussion ein und richteten ihre Angriffe speziell gegen die Schweizer. Calvin reagierte 1557 mit der Ultima admonitio ad Ioachimum Westphalum,⁸³ wohl das letzte Einzelstück in der polemischen Auseinandersetzung mit Westphal, auf dessen spätere Schriften Calvin nur noch in der letzten Ausgabe der Institutiones antwortete.⁸⁴ Westphal war auch verantwortlich dafür, dass Calvin in Kontakt mit den Lutheranern in Frankfurt am Main kam, weil Westphal dort 1555 den lutherischen Klerus gegen die Holländisch sprechende, reformierte Exilgemeinde aufbrachte, die es dort seit ein paar Jahren gab und die die Erlaubnis hatte, das Kirchengebäude der Lutheraner mitzubenutzen. In der Einleitung seines Kommentars zur Apostelgeschichte lobt Calvin das Konzil von Frankfurt dafür, den Flüchtlingen zu helfen.⁸⁵ Er teilt dem lutherischen Klerus mit, er wundere sich, wie Westphals Buch in Frankfurt erscheinen und so viel Unfrieden stiften könnte, während Reformierte und Lutheraner so einig seien.⁸⁶ Als die Situation sich durch Streitigkeiten mit der Exilgemeinde verschlechterte, reiste Calvin im September 1556 selbst nach Frankfurt. Die Reise war letztlich umsonst, weil das Zerwürfnis anhielt und die lutherischen Pfarrer sich weigerten, mit Calvin zu sprechen. 1561 beschlossen die Behörden, die Kirche für die Flüchtlingsgemeinde zu schließen, weil sie der Liturgie und Lehre der Lutheraner nicht zustimmten. Daraufhin kam die Frage auf, ob diese Reformierten ihre Kinder von einem lutherischen Pfarrer taufen lassen und ob sie das Abendmahl mit den Lutheranern feiern sollten. Calvin antwortet darauf, dass die Spendung der Sakramente nicht von dem abhänge, der sie spende, und dass die lutherischen Zeremonien, obwohl sie nicht unwichtig seien, auch nicht unentbehrlich seien. Solange man nicht gezwungen sei, sich zur lutherischen Sicht auf das Abendmahl zu bekennen, sollte man, nach dem Urteil des Klerus in Genf, frei zur Teilnahme sein.⁸⁷ Calvin gab hier im Wesentlichen
CO 9,52. Calvin verteidigt sich auch gegen Westphal, indem er ihn daran erinnert, dass Luther ihn grüßen hat lassen, was hinreichend deutlich macht, dass Luther Calvin nicht als Feind sah (CO 9,92). CO 9,41– 120. CO 9,105. CO 9,137– 252. Institutio IV.17.20 – 34. Vgl. CO 15,710 ff. Vgl. CO 16,53 ff. Vgl. CO 15,78 ff.
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den gleichen Rat, den er der Exilgemeinde in Wesel gegeben hatte, die 1553 durch den Stadtrat dazu gezwungen worden war, mit dem lutherischen Bekenntnis konform zu gehen. Anpassung und Erhaltung der Einheit der Kirche, in diesem Fall die Einheit mit den Lutheranern, sei besser als der Fortgang der reformierten Gemeinde. Als jedoch 1563 die verbleibende reformierte Gemeinde dazu gezwungen wurde, das lutherische Bekenntnis zu unterschreiben, schlug Calvin vor, dass in diesem Fall zunächst einige Korrekturen bezüglich Taufe und Abendmahl veranlasst werden müssten.⁸⁸ Die Ansicht, Calvins Austausch mit Lutheranern beschränke sich auf solche Diskussionen, ist einseitig. Die Verbindungen waren sicher wesentlich von den Kontroversen zum Abendmahl dominiert, aber Calvin hatte auch viele freundschaftliche Begegnungen mit Lutheranern.⁸⁹ Es bestand zum Beispiel eine Verbindung zu Justus Jonas (1493 – 1555), der anbot, Calvins zweite Abhandlung gegen Westphal zu übersetzen⁹⁰ – ein Angebot, das Calvin annahm.⁹¹
2.5 Luthers Einfluss auf calvinistische Länder Das Ergebnis der Sicht, die Calvin auf das Zentrum der Theologie Luthers einnahm und die er weiterentwickelte, ist, dass in Bereichen, in denen der Calvinismus zur dominierenden konfessionellen Position wurde, auch Luther präsent ist. Ein Beispiel dafür sind die Niederlande, eine Nation, die durch die Omnipräsenz des Calvinismus charakterisiert ist.
3 Fazit 1540 schrieb Calvin, er habe keinen größeren Wunsch oder kein größeres Anliegen, als das Evangelium Christi zusammen mit allen deutschen Kirchen zu verkündigen und in jeglicher Hinsicht die größtmögliche Harmonie zu erhalten.⁹² Er nahm diese Haltung zu Luthers Lebzeiten und auch noch weit nach Luthers Tod ein. Und es ist auch seine Haltung, die erklärt, dass die Polemik gegen Luthers Nachfolger nicht von ihm unterbrochen wurde, weil es Calvin war, der Luthers Theologie bewahren wollte. Er war überzeugt, auf dem Fundament aufzubauen, das Luther gelegt hatte, nicht Luther nachzuahmen oder nur zu wiederholen, was er gesagt hatte, sondern Luthers Theologie weiterzuentwickeln, ohne sie zu verändern. Der Einfluss Luthers auf Calvin bedeutet, dass sich die Nachwirkung Luthers, in einer viel breiteren als nur der lu-
Vgl. CO 19,619 ff., Calvin an die wallonische Gemeinde in Wesel, 11. Januar 1563. Vgl. Nijenhuis, W., Calvinus Oecumenicus. Calvijn en de eenheid der kerk in het licht van zijn briefwisseling, Den Haag, 1959, 160 f. Vgl. CO 16,137, Jonas an Calvin, 8. Mai 1556. Vgl. CO 16,283, Calvin an Jonas, 17. September 1556. Vgl. Herminjard VI,132, Calvin an Farel, 27. Februar 1540.
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therischen Tradition findet. Auch durch den internationalen Calvinismus findet sich Luthers Theologie weltweit wieder, weil seine Spiritualität, seine liturgischen Einsichten, seine Perspektiven auf das Predigen und Lehren und vieles mehr aus seinem Werk eine unzählige Menge an Calvinisten geprägt hat, weltweit und seit jeher bis heute.
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Luther und Zwingli 1 Einführung Heute kann niemand mehr der Ansicht sein, Ulrich Zwingli, der Reformator aus Zürich,¹ sei eine zweitrangige Person innerhalb des europäischen Protestantismus. Und dennoch, für lange Zeit erinnerte man sich an ihn vor allem aus einer schweizerischen und Zürcher Perspektive, erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann die wissenschaftliche Untersuchung seiner Werke und seines Handelns.² Schließlich erhielt er dann doch noch den Ruf als der „dritte Mann“ der Reformation, natürlich nach Luther und Calvin.³ Letzterer hat ihn in vielerlei Hinsicht von der Szene verdrängt (jedenfalls innerhalb der reformierten Überlieferung), allein mit Luther – auch aus rein biographischen Gründen – kam es für Zwingli zu einer persönlichen Konfrontation.⁴ Luther und Zwingli hielten nicht viel von einander, vielleicht ist es übertrieben, sie Feinde zu nennen, aber mit Sicherheit waren sie Gegner. Im Grunde hatten sie dasselbe Alter,⁵ aber noch ehe sie voneinander wussten, trennten sie bereits viele Dinge. Der erste war ein regulärer Theologe mit klösterlicher Ausbildung und Untertan eines Kurfürsten, der zweite ein Leutpriester mit humanistischer Ausbildung, der in einer freien Stadt der schweizerischen Konföderation tätig war.⁶ Auch sprachen sie sehr unterschiedliche Dialekte und als sie sich kennenlernten, konnten sie einander nur mit Mühe verstehen.⁷ Zwar waren sie beide der Meinung, dass die Kirche reformiert
Übersetzung: Fried Rosenstock. Zur Reformation in Zürich siehe A. Schindler und H. Stickelberger, Hg., Die Zürcher Reformation: Ausstrahlungen und Rückwirkungen, Wissenschaftliche Tagung zum hundertjährigen Bestehen des Zwinglivereins, Zürich, 29. Oktober bis 2. November 1997 (Bern et al., 2001), und die reichhaltige Synthese von E. Campi, „The Reformation in Zurich,“ in A Companion to the Swiss Reformation, Hg. A. Nelson Burnett und Ders. (Leiden/Boston, 2016): 59 – 125. Vgl. B. Moeller, „Der Zwingliverein und die reformationsgeschichtliche Forschung,“ Zwingliana 25 (1998): 5 – 20. Für die Akzeptanz Zwinglis siehe auch K. Guggisberg, Das Zwinglibild des Protestantismus im Wandel der Zeiten (Leipzig, 1934) und F. Büsser, Das katholische Zwinglibild. Von der Reformation bis zur Gegenwart (Zürich/Stuttgart, 1968). J. Rilliet, Zwingli. Third Man of the Reformation (London, 1964). Zu Zwingli und Calvin siehe F. Blanke, „Calvins Urteile über Zwingli,“ Zwingliana 11 (1959): 66 – 92. Aber vgl. R. Staats, „Ist Zwingli älter als Luther?,“ Zwingliana 16 (1985): 470 – 476. Zu Zwingli und der humanistischen Tradition siehe R. Stauffer, „Einfluss und Kritik des Humanismus in Zwinglis ,Commentarius de vera et falsa religione‘,“ Zwingliana 16 (1983): 97– 110. Vgl. z. B.: M. Luther, „Von dem Geist der Widerteuffer (1544),“ WA 54,118 – 119, insbesondere 118: „Denn Gott schickts zu unser zeit also, das der Teuffel mus nicht gut Deudsch reden, wie Carlstad und Zwingel musten reden, das mirs grosse erbeit war, jre rede zuverstehen“. Siehe aber auch S. Simpson, Life of Ulrich Zwingli. The Swiss Patriot and Reformer (New York, 1902), 190 – 191. https://doi.org/9783110498745-026
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werden müsste, aber ihre theologischen Vorstellungen stimmten nur teilweise überein.⁸ Für beide stand die Heilige Schrift im Zentrum, aber selbst das kam bei ihnen in völlig unterschiedlicher Weise zur Anwendung.⁹ Die geringste Übereinstimmung ergab sich allerdings bei der Auslegung des Abendmahlssakraments.¹⁰ Sehr bald kam es zu scharfer Polemik, und unter den vielen Streitpunkten, die in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts den Protestantismus erschütterten, hatte diese Kontroverse sicherlich die schwerwiegendsten Konsequenzen. Trotz der Vermittlungsversuche der anderen Reformatoren, allen voran Bucer,¹¹ konnte der Bruch nicht gekittet werden und der von Zwingli eingeschlagene Weg wurde zwar von dessen tragischem Tod auf dem Schlachtfeld unterbrochen, aber dann einige Jahre später von Johannes Calvin in aller Konsequenz fortgesetzt. Luther und Zwingli trafen sich im Jahr 1529 nur einmal persönlich,¹² dennoch ist es kein einfaches Unterfangen, die Beziehung zwischen den beiden zu untersuchen, denn man stößt dabei auf verschiedene Probleme. Die Begegnung fand nicht zufällig statt, und der Gedankenaustausch zwischen den beiden erfolgte nicht in der Form einer Korrespondenz zwischen weltabgewandten Humanisten oder in der Art stolzer Vertreter einer gemeinsamen Res publica Litterarum. Die Untersuchung muss in erster Linie auf persönlicher und theologischer Ebene erfolgen, aber auch verschiedene andere Aspekte berücksichtigen. Luther und Zwingli waren berühmte Personen und mit einer an bestimmte Orte gebundenen Reform beschäftigt, mit der sie aber sehr bald auch über die Mauern ihrer Städte hinausdringen wollten. Viel verdankte ihr Wirken den verschiedenen zwischenmenschlichen Beziehungen, die sie aufgebaut hatten – Freunde, Mitarbeiter, Vermittler, andere Reformatoren usw. – und den sich
Für eine Einführung in das theologische Ideengut Zwinglis siehe W.P. Stephens, Zwingli. An Introduction to His Thought (Oxford, 1992). F. Ferrario, La „Sacra Ancora“. Il principio scritturale nella Riforma zwingliana (1522 – 1525) (Turin, 1993); P. Opitz, „The Authority of Scripture in the Early Zurich Reformation (1522−1540),“ Journal of Reformed Theology 5 (2011): 296 – 309. In dieser Hinsicht ist von grundlegender Bedeutung: W. Köhler, Zwingli und Luther. Ihr Streit über das Abendmahl nach seinen politischen und religiösen Beziehungen, 2 Bde. (Leipzig/Gütersloh, 1924– 1953) (hier wird versucht, ihre Gemeinsamkeiten und nicht so sehr ihre Unterschiede hervorzuheben), man lese aber auch: T. Kaufmann, Die Abendmahlstheologie der Straßburger Reformatoren bis 1528 (Tübingen, 1992) (dort trennt sie eine unüberbrückbare Distanz). Man sehe hierzu wenigstens die übrigens nicht übereinstimmenden Veröffentlichungen von T. Kaufmann, „Streittheologie und Friedensdiplomatie. Die Rolle Martin Bucers im frühen Abendmahlsstreit“ und von R. Friedrich, „Martin Bucer – Ökumene im 16. Jahrhundert“, beide in C. Krieger und M. Lienhard, Hg., Martin Bucer and Sixteenth Century Europe, Actes du colloque de Strasbourg (28 – 31 août 1991), Bd. 1 (Leiden/New York/Köln, 1993): 239 – 256 und 257– 268. Vgl. E. Egli et al., Hg., Huldreich Zwinglis sämtliche Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke Zwinglis vom Zwingliverein, zusammen mit dem Institut für schweizerische Reformationsgeschichte und zum Teil mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (Berlin/Leipzig/Zürich, 1905 ff.) = Z. Hier: Z VI,2, 529 – 531; und J. Staedtke, „Eine neue Version des sogenannten Utinger-Berichtes vom Marburger Religionsgespräch 1529,“ Zwingliana 10 (1955): 210 – 216.
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daraus ergebenden Verflechtungen. Schließlich muss man auch die vielschichtige Rolle der politischen Machthaber bedenken, welche das Handeln der beiden beeinflussten, abschwächten, verstärkten oder zuweilen auch steuerten, allerdings für beide in sehr unterschiedlicher Weise. Noch nicht einmal die zeitliche Begrenzung ist bei näherem Hinsehen einfach. Die Untersuchung kann nicht mit dem Tod Zwinglis im Jahr 1531 enden und auch nicht mit dem 18. Februar 1546, als Luther in Eisleben starb, denn in den folgenden Jahrzehnten sollte die Erinnerung an ihren Konflikt von denen am Leben erhalten werden, die sich mit der Lehre des einen oder des anderen identifizierten.¹³ Die Beziehung zwischen Luther und Zwingli zu erforschen, bedeutet auch, die Aufnahme ihres Gedankengutes seitens ihrer Anhänger zu untersuchen – oder zumindest muss man sich dieses Aspektes bewusst sein. Mit der vorliegenden Veröffentlichung soll versucht werden, die Beziehung zwischen den beiden Reformatoren zu skizzieren. Nach einem kurzen Abriss zum Leben Zwinglis und einiger Aspekte der helvetischen Konföderation in der damaligen Zeit, konzentrieren wir uns auf Zwingli und Luther, um dann die Perspektive umzudrehen und von Luther und Zwingli zu sprechen. In der Tat ergeben sich aus den beiden Sichtweisen nur wenige Berührungspunkte.
2 Ulrich Zwingli Ulrich Zwingli wurde am 1. Januar 1484 in Wildhaus geboren, im Tal von Toggenburg, in jener Zeit der Abtei von Sankt Gallen zugehörig.¹⁴ Er war der Sohn eines wohlhabenden Bauern, der auch die Funktion eines Ammann (Vogtes) innehatte. Seine schulische Ausbildung erfolgte in Basel und Bern, und er nahm die höheren Studien an den Universitäten von Wien und Basel wahr, dort folgte er auch der Lehre von Thomas Wyttenbach.¹⁵ In Konstanz wurde er 1506 zum Priester geweiht und kurz darauf nach Glarus berufen.¹⁶ In diesen Jahren vertiefte er seine persönlichen Studien
Siehe hierzu beispielsweise B. Gordon, „Holy and Problematic Deaths. Heinrich Bullinger on Zwingli and Luther,“ in Tod und Jenseits in der Schriftkultur der Frühen Neuzeit, Hg. M. Kobelt-Groch und C. Niekus Moore (Wolfenbüttel, 2008): 53; 56. Die grundlegenden Studien zu Zwingli bleiben die Folgenden: G.R. Potter, Zwingli (Cambridge, 1976). Siehe außerdem M. Haas, Huldrych Zwingli und seine Zeit. Leben und Werk des Zürcher Reformators (Zürich, 11969; 31982); U. Gäbler, Huldrych Zwingli. Eine Einführung in sein Leben und sein Werk (Zürich, 11983; 32004); und P. Opitz, Ulrich Zwingli: Prophet, Ketzer, Pionier des Protestantismus (Zürich, 2015). Das kürzeste und beste Profil zeichnet C. Moser, „Zwingli, Huldrych,“ Historisches Lexikon der Schweiz 13 (Basel, 2014): 911– 913. H. Türler, „Dr. Thomas Wyttenbach 1472– 1526,“ Bieler Jahrbuch (1927): 107– 129; I. Backus, „Auf den Spuren des Denkers und Theologen Wyttenbach,“ in Pro deo. Das Bistum Basel vom 4. bis ins 16. Jahrhundert, Hg. J.-C. Rebetez et al. (Pruntrut, 2006): 293 – 294. H. Schneider, „Zwinglis Anfänge als Priester,“ in Schweizer Kirchengeschichte neu reflektiert, Festschrift für Rudolf Dellsperger zum 65. Geburtstag, Hg. U. Gäbler, M. Sallmann und Ders. (Bern/New York, 2011): 37– 62.
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und pflegte Verbindungen zu einigen Vertretern des schweizerischen Humanismus, insbesondere zu Vadian und Henricus Glareanus (Heinrich Loris). Im Jahr 1516 unternahm er eine Reise nach Basel, um Erasmus zu treffen.¹⁷ Als Militärkaplan begleitete er die Truppen des Kantons Glarus wenigstens zweimal auf ihren Feldzügen nach Italien und erlebte die Schlachten von Novara (1513) und von Marignano (1515). Im Jahr 1516 ernannte man ihn zum Leutpriester am Kloster von Einsiedeln (in Schwyz), wo er gegen den Ablassmissbrauch und den Söldnerdienst predigte. In Zürich, wohin er 1518 einen Ruf erhielt, predigte er ab dem darauffolgenden Jahr am Großmünster, ausgehend von einer lectio continua der Heiligen Schrift (vom Matthäusevangelium zur Apostelgeschichte übergehend, befasste er sich in der Folge mit den Apostelbriefen und schließlich mit dem Alten Testament).¹⁸ Zwingli begehrte nicht nur gegen das Mönchswesen auf, sondern griff auch den Zehnten und die Heiligenverehrung an.¹⁹ Das Jahr 1522 hatte für Zwingli eine grundlegende Bedeutung.²⁰ Er veröffentlichte eine Kritik am Söldnerdienst (Eine göttliche Vermahnung an die Eidgenossen zu Schwyz)²¹ und ließ seine erste reformatorische Schrift drucken (Von Erkiesen und Freiheit der Speisen).²² Darin verteidigte er eine Gruppe von Einwohnern Zürichs, die 1522 die Fastenregel gebrochen hatte und sich dabei offen auf die Predigten Zwinglis berief. In diesem Jahr verfasste er auch eine Bittschrift an den Bischof von Konstanz für die Abschaffung des Zölibats (Supplicatio ad Hugonem episcopum Constantiensem).²³ Da es in Zürich zu Streitigkeiten kam, ordneten die Oberen der Stadt eine theologische Disputation an, für die Zwingli im Januar 1523 67 Artikel schrieb, die er dann noch um Auslegen und Gründe der Schlußreden erweiterte.²⁴ Schon aus dieser ersten Disputation ergab sich von Seiten der städtischen Obrigkeit die offizielle Anerkennung der von Zwingli gepredigten Lehre. Im Oktober desselben Jahres diskutierte man die Anbetung der Heiligenbilder, deren Entfernung man dann verfügte, und die Abschaffung der
Für Zwingli und Erasmus siehe C. Christ, „Das Schriftverständnis von Zwingli und Erasmus im Jahre 1522,“ Zwingliana 16 (1983): 111– 123. Insbesondere zu diesem Treffen siehe: W.H. Neuser, Die reformatorische Wende bei Zwingli (Neukirchen-Vluyn, 1977), 57. Zu Zwingli als Exegeten siehe wenigstens: G. Hobbs, „Zwingli and the Study of the Old Testament,“ in Huldrych Zwingli (1484 – 1531). Legacy of a Radical Reform, Hg. E.J. Furcha (Montreal, 1985): 144– 178, und T. Himmighöfer, Die Zürcher Bibel bis zum Tode Zwinglis (1531). Darstellung und Bibliographie (Mainz, 1995). Vgl. P. Biel, „Personal Conviction and Pastoral Care. Zwingli and the Cult of Saints 1522– 1530,“ Zwingliana 16 (1985): 442– 469. Für die Entwicklung des theologischen Gedankenguts Zwinglis siehe die großartige Einführung von G.W. Locher, „The Shape of Zwingli’s Theology. A Comparison with Luther and Calvin,“ Pittsburgh Perspective 8/2 (1967): 5 – 26. Z I, 165 – 188. Z I, 88 – 136. Z I, 197– 209. Siehe auch Apologeticus Archeteles vom August desselben Jahres: Z I, 256 – 327. Z II, 14– 457.Von 1523 ist auch eine weitere grundlegende Schrift Zwinglis, das Traktat Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit, Z II, 471– 525.
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Messe.²⁵ Es folgten außerdem die Schließung aller Klöster und die Gründung eines Instituts für höhere Studien, Hohe Schule genannt. Stets unter der Mitwirkung von Zwingli, publizierte man eine Bibel in alemannischer Sprache, die sogenannte Zürcher Bibel. ²⁶ Die Opposition gegen Zwinglis Reformation bildete sich in zwei unterschiedlichen Strömungen heraus, zu der ursprünglichen, mit katholischer Ausrichtung, kam eine mit radikalen Tendenzen hinzu. Einige Mitbürger wie zum Beispiel Konrad Grebel, Felix Manz und Jörg Blaurock waren gegen den reformatorischen Ansatz Zwinglis und des Stadtrats, er erschien ihnen zu gemäßigt. Die Kritik Zwinglis gegen sie, die sich inzwischen zu Wiedertäufern gewandelt hatten, äußerte sich in Texten wie Antwort über Balthasar Hubmaiers Taufbüchlein von 1525 und der In catabaptistarum strophas elenchus von 1527.²⁷ Bereits 1525 ließ Zwingli sein bedeutendstes Werk drucken, Kommentar über die wahre und falsche Religion. ²⁸ Es handelt sich um eine systematische, bezeichnenderweise lateinische Schrift, eine Ausnahme innerhalb der meistens in der Volkssprache verfassten Produktion von Gelegenheitstexten. In den folgenden Jahren konzentrierte sich die Aktion Zwinglis auf vier Schwerpunkte: Die Erstarkung der Reformation in Zürich; die Ausbreitung von Zwinglis Reformation auf die anderen Kantone der Konföderation²⁹ und ihre Anerkennung in Europa;³⁰ der Kampf gegen die Pfründe und den Söldnerdienst im Ausland (Reislauf).³¹ Hinzu kam ein aus der Distanz geführter, heftiger Dialog mit Luther zur Abendmahlslehre. Seit 1526, als in Baden eine Disputation stattfand, unterstützte Zwingli eine aggressive Politik gegen jene Kantone, die der Reformation und der freien Verkündigung des Evangeliums feindlich gegenüberstanden, insbesondere die ursprünglichen Kantone Schwyz, Uri und Unterwalden, aber auch Luzern und Zug. Die Spannungen innerhalb der Konföderation und der komplexen Allianzen mit den Anliegerstaaten entluden sich in einem ersten Waffengang (1528) und 1531 in einem zweiten.³² Im zweiten Kappelerkrieg führten die fünf Kantone einen Überraschungsangriff gegen
M. Körner, „Bilder als ,Zeichen Gottes‘: Bilderverehrung und Bildersturm in der Reformation,“ Zwingliana 19 (1992): 223 – 232. Man vergleiche wenigstens: Himmighöfer, Die Zürcher Bibel. Antwort über Balthasar Hubmaiers Taufbüchlein, Z IV, 585 – 647; In catabaptistarum strophas elenchus, Z VI,1, 21– 196. Über Zwingli und die frühen Wiedertäufer siehe: H.Wayne Pipkin, „,They went out from us, for they were not of us‘: Zwingli’s Judgment of the Early Anabaptists,“ Zwingliana 19 (1992): 279 – 292. Commentarius de vera et falsa religione, Z III, 628 – 912. Wie zum Beispiel die Disputation von Bern (1528); M. Sallmann, „The Reformation in Bern,“ in A Companion to the Swiss Reformation, Burnett und Campi: 143 – 146. Wie zum Beispiel mit der Fidei ratio, 1530 an Karl V. gerichtet oder mit der Fidei expositio, im folgenden Jahr an Franz I. gewandt (Z VI,2, 790 – 817; Z VI,5, 50 – 163). Hierzu siehe C. Moser, H.R. Fuhrer, Der lange Schatten Zwinglis: Zürich, das französische Soldbündnis und eidgenössische Bündnispolitik, 1500 – 1650 (Zürich, 2009). Zu den Kappelerkriegen siehe B. Gordon, The Swiss Reformation (Manchester, 2002), 122 – 140.
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Zürich aus. Zwingli und verschiedene andere Geistliche reihten sich in das verteidigende Heer ein. Er fiel während eines nächtlichen Scharmützels bei Kappel.
3 Wittenberg von Zürich aus gesehen Zwingli ist, wie gesagt, der Reformator von Zürich, und man bedenke, dass sein Handeln immer innerhalb der Zürcher Dimension gesehen werden muss. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts hatte sich die Stadt zusammen mit Bern als die dominierende Macht der Konföderation durchgesetzt. Gerade in der Zeit, als Zwingli nach Zürich kam, durchlebte der Staatenbund jedoch schwierige Zeiten. Im Jahr 1515 waren die gefürchteten und bis dahin ungeschlagenen Truppen der Schweiz in der Schlacht von Marignano besiegt worden. Damit kam die schweizerische Expansion südlich der Alpen zum Erliegen.³³ Zwei Jahre vorher (1513) hatten die anderen Konföderierten Appenzell als dreizehnten Kanton aufgenommen (man musste bis zu den napoleonischen Kriegen warten, ehe neue Mitglieder aufgenommen wurden). Es war vor allem der religiöse Zwist, der dazu führte, dass man den Status quo nicht verändern wollte.³⁴ Die Anziehungskraft des Schweizer Modells verminderte sich dadurch nicht, und in den anschließenden Jahrzehnten versuchten nicht wenige Freistädte aus Süddeutschland in die Konföderation aufgenommen zu werden, allen voran Konstanz.³⁵ Sachsen lag 1516 noch an der Grenze Europas, die Schweiz dagegen befand sich im Zentrum, vor allem diente sie zwischen Norden und Süden als Drehscheibe von Handel,Waren und Menschen. Auf der Rückreise von seiner Pilgerfahrt nach Rom kam auch Luther über die Schweiz.³⁶ Außerdem stellte es sich in den Kriegen des 15. Jahrhunderts, insbesondere in denen von Burgund heraus, dass die Schweizer in der europäischen Politik eine determinierende Rolle spielten. Die Konzile von Basel und Konstanz, welchletzteres den Schweizern freundlich gesinnt war, erhöhten den Bekanntheitsgrad der Gegend, nicht nur auf militärischem Gebiet. Zum Beispiel hatte Poggio Bracciolini von Konstanz aus, wo er sich für das Konzil aufhielt, im Kloster Sankt Gallen unter vielen Handschriften einen vollständigen Quintilian und Pro Sexto von Cicero entdeckt. Die durch das Druckwesen ausgelöste Revolution und die Eröffnung mehrerer Verlage – ganz zu schweigen von Erasmus, der seinen Wohnsitz nach Basel verlegt hatte – festigten auch die kulturelle Bedeutung der Region. Hier trafen umgehend die wichtigsten Neuigkeiten aus dem Europa jener Zeit ein. Dank der
W. Schaufelberger, Marignano. Strukturelle Grenzen eidgenössischer Militärmacht zwischen Mittelalter und Neuzeit (Frauenfeld, 1993). Für die Reformation in der Schweiz, außer der kürzlich erschienenen Zusammenfassung von Burnett und Campi, A Companion to the Swiss Reformation, sei verwiesen auf Gordon, The Swiss Reformation und, für eine andersgeartete Sicht, auf O. Vasella, Reform und Reformation in der Schweiz (Münster, 1958). T.A. Brady, jr., Turning Swiss. Cities and Empire, 1450 – 1550 (Cambridge, 1985). Vgl. WA TR 2,484.
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Druckereien und dem dichten Netzwerk von Handelswegen, die das Land mit allen Teilen Europas verbanden, wurde die Konföderation auch zu einem Resonanzkörper für die neuesten Ideen. Daher ist es kein Zufall, dass die Informationen über Luther sehr bald eintrafen und dass in einer konföderierten Stadt wie Basel schon 1518 Werke des sächsischen Reformators vertrieben und gedruckt wurden. Bis zum Tode Zwinglis erschienen hier mehr als einhundert Veröffentlichungen von Luther.³⁷
4 Zwingli und Luther Die erste Erwähnung Luthers in den Briefwechseln Zwinglis erfolgte im Dezember 1518 von der Hand des Beatus Rhenanus.³⁸ Von Basel aus informierte dieser seinen Briefpartner Zwingli darüber, dass er über Luther nichts in Erfahrung gebracht habe.³⁹ Aber schon ab dem nächsten Brief Rhenanus wurde Zwingli von einer Flut an Zitaten und Texten Luthers überschüttet. Diese trafen vor allem aus Basel ein, aber auch aus einigen Städten Süddeutschlands.⁴⁰ Der Nachrichtenfluss setzte sich auch in den nächsten Jahren fort, zusammen mit jener intensiven Publizistik aus Basel, die bereits erwähnt wurde. Aber es trafen auch Schriften und Nachrichten direkt aus den kaiserlichen Ländern ein. Bezüglich Luther äußerte Zwingli im März 1519, dass er gerne einen Text von ihm lesen würde, den er von Rhenanus erhalten hatte.⁴¹ Im folgenden Monat behauptete er sogar, er wäre daran interessiert, mehrere Exemplare der Theologia Luthers zu erwerben, wenn ihn diese überzeugen sollte – er hatte sie noch nicht vorliegen. Bei genauerem Hinsehen wirkt der Ton des Zürcher Reformators etwas distanziert und vor allem scheint es, dass das Interesse für Luther im Zusammenhang der Abfassung
Im Allgemeinen siehe P.G. Bietenholz, „Édition et réforme à Bâle, 1517– 1565,“ in La réforme et le livre. L’Europe de l’imprimé (1517–v. 1570), Hg. J.-F. Gilmont (Paris, 1990): 239 – 268. Für einen Sonderfall vergleiche man mit S. Grosse, „Die Emergenz lutherischer Theologie in Basel: Capitos Lutherausgabe von 1518,“ in Basel als Zentrum des geistigen Austauschs in der frühen Reformationszeit, Hg. C. Christvon Wedel, S. Grosse und B. Hamm (Tübingen, 2014): 149 – 177. Im Chronicon von Konrad Pellicanus finden sich schon 1518 wertvolle Informationen über den Vertrieb von Werken Luthers in Basel und über die Reaktionen, die sie verursachten. B. Riggenbach, Hg., Das Chronikon des Konrad Pellikan (Basel, 1877), 74– 76; 85 – 86; 98. Beatus Rhenanus an Zwingli, am 6. Dezember 1518, Z VII, Nr. 49, 114– 116. Z VII, Nr. 49, 114: „Was Luther betrifft, so haben wir noch nichts entdeckt“ („De Lutherio nihil dum comperti habemus“). Siehe die Briefe von Beatus Rhenanus: (Basel, 26. Dezember 1518; 19. März; 24. Mai; 2. Juli 1529, Z VII, Nr. 53, 123; Nr. 66, 151; Nr. 79, 175 – 176; Nr. 88, 193); von Simon Stumpf: (Basel, 2. Juli 1519, Z VII, Nr. 89, 195); von Jacobus Nepos (Basel, 22. September 1519, Z VII, Nr. 94, 205); Oswald Myconius (Luzern, 28. Dezember 1519, Z VII, N. 109, 241); Ulrich Zasius (Freiburg, 13. November 1519, Z VII, Nr. 100, 218 – 220); Johannes Fabri (Konstanz, 17. Dezember 1519, Z VII, Nr. 108, 240). Zwingli an Beatus Rhenanus, Zürich, 21. März 1519, Z VII, Nr. 67, 152.
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seiner eigenen theologischen Schriften stand,⁴² insbesondere soweit es um die Heiligenverehrung ging.⁴³ Trotz der Kenntnis von der literarischen Produktion und Handlungsweise des Sachsen⁴⁴ gab Zwingli im Juni 1520 gegenüber Myconius zu, dass er in Wirklichkeit von Luther sehr wenig gelesen hatte, auch wenn er aus dem wenigen den Anschein gewonnen habe, dass jener „nicht irrt“.⁴⁵ Seit 1522, als Zwingli ganz offen die Reformation in Zürich vorantrieb, erscheint der Name Luthers in seinen Schriften. Diese Tatsache kann eigentlich nicht verwundern, auch wenn die Erwähnungen wenig mehr als allgemeine Hinweise sind. Das war auch der übertriebenen Rhetorik zu verdanken, die aus allen Gefolgsleuten der Reformation Lutheranhänger machte.⁴⁶ Dies geschah übrigens auch in Italien, in den Dokumenten der Inquisition wurde jeder Protestant als Lutheraner bezeichnet. Auch die Zuordnung von Luther zu Hus in einer Schrift von 1522⁴⁷ geht in diese Richtung, indem man das, was man in Zürich erreichen wollte, mit den Fakten verband, die im restlichen Europa bereits Wirklichkeit waren. Die Erwähnung von Hus, der im nahgelegenen Konstanz, in einer
Zwingli an Beatus Rhenanus, Zürich, 7. Juni 1519, Z VII, Nr. 82, 181: „Ich fürchte nicht, dass uns Luthers Traktat zum Vater Unser missfallen könnte, und auch nicht die ,Theologia‘ in der Volkssprache, von der Du mir ankündigst, dass sie bald veröffentlicht und vertrieben wird; wir werden davon reichlich kaufen, besonders wenn das Traktat ein wenig über die Anbetung der Heiligen im Vater Unser spricht“ („Orationis dominicae enarrationem Lutheri haud vereor nobis displicituram, sed nec vulgarem „Theologiam“, quam in diem absolvi vulgarique promittis; coememus magnum modum, praecipue si de adorandis divis oratione dominica non nihil tractet“). Siehe hierzu: Biel, Personal Conviction and Pastoral Care. Vgl. Zwingli an Beatus Rhenanus, Zürich, 22. Februar; 25. März; 25. Juni; 2. Juli 1519, Z VII, Nr. 60, 138 – 139; Nr. 70, 157– 158; Nr. 86, 189 – 190; Nr. 87, 191– 192; und an Oswald Myconius, Zürich, 31. Dezember 1519, Z VII, Nr. 110, 243 – 246. Die Bibliothek Zwinglis sollte schließlich fünfundzwanzig Texte von Luther enthalten: J.V. Pollet, Huldrych Zwingli et le zwinglianisme. Essai de synthèse historique et théologique mis à jour d’après les recherches récentes (Paris, 1988), 19. Zwingli an Oswald Myconius, Zürich, 24. September 1520, Z VII, Nr. 151, 341– 345, hier 344: „Von Luther habe ich bis heute fast nichts gelesen; und in dem das was wir bisher gesehen haben scheint es, dass er sich in der evangelischen Doktrin nicht irrt“ („Lutheri nunc ferme nulla legimus; at quae vidimus hactenus, in doctrina evangelica non putamus errare“). In dieser Hinsicht beachte man auch Pollet, Huldrych Zwingli, 16 – 18 und M. Brecht, „Zwingli als Schüler Luthers zu seiner theologischen Entwicklung 1518 – 1522,“ Zeitschrift für Kirchengeschichte 96 (1985): 308. Siehe dazu wenigstens Zwingli, Suggestio deliberandi super propositione Hadriani Nerobergae facta (1522), Z I, 434– 441; Handlung der Versammlung in der Stadt Zürich auf den 29. Januar 1523, Z I, 479 – 569. Vgl. ganz allgemein Brecht, Zwingli als Schüler. Zwingli, Eine freundliche Bitte und Ermahnung an die Eidgenossen (1522), Z I, 214– 248, insbesondere 224: „Man muoß got me gehorsam sin denn den menschen [Apg 5:29]. Wir sehend, das etlich grosse fürsten und herren, bischoff und prelaten, wiewol sy dem euangelio, als sy wellend xehen werden, nit widerstandind, machend sy doch die sach widerwertig und verdacht, so sy allen, so das euangelium predigend, hässig namen zuolegen, sy syind Lutherisch oder Hußisch oder kätzer, so doch der geleerten allenthalb so vil ist, die uß den waren brunnen schöpffende uns die himelischen leer harfür tragend, das man gheiner Hussen oder Luteren darff“.
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Diözese, die zu Zürich gehörte, bei lebendigem Leib verbrannt worden war, verminderte in gewisser Weise die revolutionäre Wucht Luthers.⁴⁸ Es ist kein Zufall, dass über den tatsächlichen Einfluss Luthers auf Zwingli lange diskutiert worden ist. Zwingli selbst behauptete, es habe eine derartige Beeinflussung nicht gegeben.⁴⁹ Wie er in der Tat 1523 geschrieben hatte, war er bereits 1516 zu der Gewissheit gelangt, dass sich ein Christ nur durch die Gnade Gottes (sola gratia) rettet.⁵⁰ Das sei allein durch die Lesung der Heiligen Schrift und Augustins (und unter dem Einfluss Erasmus’) geschehen.⁵¹ An derselben Stelle äußerte der Reformator empört, er habe seine Lehre nicht von Luther gelernt, sondern aus dem Wort Gottes.⁵² Wegen der wenigen Quellen, welche noch dazu immer erst später verfasst wurden, ist es fast unmöglich, das Problem der Priorität zu lösen. Kürzlich hat Emidio Campi als Wortführer einer langen Reihe von Untersuchungen geäußert, „es erscheint plausibel, die Entwicklung von Zwinglis Gedankengut als unabhängig von dem des Reformators aus Wittenberg zu sehen, wie auch seine Autonomie hervorzuheben“.⁵³ Bruce Gordon, in der Einführung zu einem Band mit Reflektionen zum Einfluss Zwinglis, hat dagegen hervorgehoben, dass „die anschließenden Erklärungen [Zwinglis], nach denen er zu diesen Stellungnahmen unabhängig von Wittenberg gelangt sei, keine große Bedeutung haben, mit großer Wahrscheinlichkeit entstanden sie aus der scharfen Polemik [mit Luther] über das Abendmahl unseres Herren“.⁵⁴ Ob sie nun richtig sind oder nicht, die Behauptungen Zwinglis von 1523 bezeugen den großen Abstand zwischen ihm und Luther, der schon eindeutig geworden war, und zwar – darauf sei hier hingewiesen – lange bevor es zu jenem unheilbaren theologischen Bruch kam, der das Verhältnis zwischen beiden ab 1525 bis zum Tode Zwinglis vergiften sollte. Die Polemik des Zürchers gegenüber Luther erfolgte allerdings nicht blindlings, im Gegenteil, er erkannte ihm an, was ihm als Verdienst zukam, auch wenn er als Theologe nicht seine Gedankenwelt teilte (und obwohl er sich nicht als sein Schuldner bei der Evolution seines Gedankengebäudes fühlte): Für ihn war er nach Hus der erste, der den Mut gehabt hatte, Rom herauszufordern, um die Kirche zu reformieren. Zum Beispiel 1527, mitten in der Polemik um die Abendmahlsauslegung und in einem Text,
Man bedenke aber, dass 1521, in Worms, der Nuntius Girolamo Aleandro/Hieronymus Aleander Luther aufgefordert hatte, zur Lehre von Hus, der vom Konzil mit dem Kirchenbann belegt worden war, Stellung zu beziehen. Luther hatte Hus’ Lehren als korrekt bezeichnet. Vgl. A. Rich, Die Anfänge der Theologie Huldrych Zwinglis (Zürich, 1949); Neuser, Die reformatorische Wende; G. Zimmermann, „Der Durchbruch zur Reformation nach dem Zeugnis Ulrich Zwinglis vom Jahre 1523,“ Zwingliana 17 (1986): 97– 120; und R. Hoburg, Seligkeit und Heilsgewissheit. Hermeneutik und Schriftauslegung bei Huldrych Zwingli bis 1522 (Stuttgart, 1994), 275 – 280. Z II, 144– 150. Z II, 186, 211, 217– 218, 314 und 370 – 371. Siehe aber auch Z V, 712– 713 und 721. Z II, 149: „denn ich die leer Christi nit vom Luter gelernt hab, sunder uß dem selbswort gottes“. Campi, „The Reformation in Zurich“: 69. B. Gordon, L. Baschera und C. Moser, „Emulating the Past and Creating the Present. Reformation and the Use of Historical and Theological Models in Zurich in the Sixteenth Century,“ in Following Zwingli. Applying the Past in Reformation Zurich, Hg. Dies. (Farnham, 2014): 22.
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der zum Teil auch aggressiv wirkte wie Amica Exegesis (bezeichnenderweise in Lateinisch, damit wollte Zwingli über das deutschsprachige Publikum hinaus Wirkungen erzielen) lobte der Zürcher Luther, indem er ihn „Herkules […] „ nannte, „der das römische Wildschwein tötete“.⁵⁵ Dieselbe Haltung spricht auch aus einer anderen Quelle, nämlich den Zürcher Ausgaben der Bibelübersetzungen Luthers. Die erste wurde 1524 gedruckt, mit dem Titel Das gantz Nüw Testament recht grüntlich vertütscht. Die hochdeutsche Übersetzung des Reformators aus Wittenberg wurde dort ins Alemannische verwandelt. Die Druckausgaben von Zürich, die unter der direkten Kontrolle Zwinglis erschienen, enthielten nicht mehr die Einleitungen, die marginalia und die Inhaltsverzeichnisse der Originale, es kam zu einer Art „Erosion“ von Luthers Einfluss in Zürich und dem dazugehörigen Territorium.⁵⁶ Die Arbeit Luthers wurde geschätzt, aber nicht wortwörtlich übernommen und in einem langsamem Prozess ging man auf Distanz, mit verschwiegener Korrektur.
5 Luther und Zwingli Wenige Monate nach dem Tode Zwinglis schrieb Luther an Albert von Preußen und äußerte sich erfreut über das Ende des Zürchers auf dem Schlachtfeld und sah es als eine Art Gottesurteil an. Gleichzeitig bedauerte er auch, dass die Papisten nicht die gesamte Häresie des Schweizer Reformators ausgelöscht hätten.⁵⁷ Kommentare dieser Art sind in den Werken des Reformators aus Wittenberg weder selten noch außergewöhnlich, viele davon gibt es zum Beispiel in den Tischreden. Abgesehen von den linguistischen Problemen, die diese Reden enthalten,⁵⁸ bezeugen sie auch sehr genau die Gefühle, welche die bloße Erwähnung von Zwinglis Namen im Umfeld von Luther hervorriefen. Anfang November 1531, gleich nach Bekanntwerden des Todes von Zwingli bei Kappel, kam Luther zu folgender Überlegung: „Wenn der Irrtum [von ihm] die Überhand gewonnen hätte, wären wir zu Grunde gegangen und unsere Kirche mit
Zwingli, Amica Exegesis, id est: expositio eucharistiae negocii ad Martinum Lutherum (1527), Z V, 562– 758, hier 722 (aber auch 708): „Tu unus fuisti Hercules, qui ubiubi discriminis aliquid esset, occurreres; aprum Romanum occidisti“. Gordon et al., „Emulating the Past“: 23; A. Fluri, „Luthers Übersetzung des Neuen Testaments und ihre Nachdrucke in Basel und Zürich 1522– 1531,“ Schweizerisches Evangelisches Schulblatt 57 (1922): 273 – 276; 282– 285; 292– 294; 301– 302; 313 – 316; 324– 326; 331– 334; 339 – 341; und H.R. Lavater-Briner, Die Froschauer-Bibel 1531, in Die Zürcher Bibel von 1531. Entstehung, Verbreitung und Wirkung, Hg. C. Sigrist (Zürich, 2011): 64– 170. Martin Luther an Albert von Preußen, April 1532, WA 30/III,547– 553, insbesondere 550 – 553. Im Allgemeinen für Reaktionen zum Tode Zwinglis siehe: J. Courvoisier, „Zwinglis Tod im Urteil der Zeitgenossen,“ Zwingliana 15 (1982): 607– 620. Vgl. zum Beispiel B. Stolt, Die Sprachmischung in Luthers Tischreden. Studien zum Problem der Zweisprachigkeit (Stockholm, 1964).
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uns“.⁵⁹ Einige Monate später behauptete er dagegen, dass „Zwingli wie ein Mörder gestorben ist“ – wahrscheinlich spielte er damit nicht so sehr auf den Tod an, sondern vielmehr auf das Gemetzel, das mit seinem Körper veranstaltet wurde.⁶⁰ Das Urteil Luthers war zwar sehr engherzig gegenüber dem Menschen Zwingli, sollte aber vor allem dessen religiöse Botschaft geißeln. Sehr bald überzeugte sich Luther davon, dass ihm mit Zwingli ein nicht-nizäischer Ketzer gegenüberstand – vor allem was die Christologie betraf. Für lange Zeit wurde er sogar angeklagt, ein Neonestorianer zu sein.⁶¹ Luther ging so weit zu behaupten, Zwingli sei gar kein Christ, er nannte ihn vielmehr einen „Unchristen“.⁶² Zu den theologischen Anklagen fügte er bald hinzu, er sei ein Sektierer, ein Schwärmer und habe unheilbare Trennungen innerhalb der Kirche verursacht.⁶³ Besonders bedeutsam erscheint, nicht nur in den Tischreden, die häufige Gleichstellung Zwinglis mit Karlstadt, vielleicht dem Verhasstesten unter den Gegnern Luthers,⁶⁴ natürlich außer dem rebellischen Thomas Müntzer.⁶⁵ Sicherlich erbitterte Luther außerdem die Überzeugung, dass Zwingli einen großen Teil seiner Reform ihm verdankte oder zumindest das wenige Gute, das der Sachse richtig fand.⁶⁶
WA TR 1, Nr. 94, 35: „Haec exempla adversariorum me Coburgi docuerunt, quid sit illud in decalogo: „Ego sum Deus zelotes. Non est tam crudele in illos supplicium quam necessaria pro nobis defensio. Sic Zinglium nunc periisse dicunt, cuius error si praevaluisset, periissemus nos cum nostra ecclesia. Est iudicium Dei. Ist all weg ein stoltz vold gewesen. Die andern, die papisten, wird unser Herr Gott auch vol finden“. Siehe auch WA TR 1, Nr. 2, 3; Nr. 100, 38; Nr. 157, 75; Nr. 140, 61; Nr. 291, 121; Nr. 322, 133; Nr. 461, 200; WA TR 2, Nr. 1451, 103. WA TR 2, Nr. 1793, 216: „Zwinglius ist gestorben wie ein morder“ (denselben Ausdruck verwendete er in WA TR 3, Nr. 3372b, 295). Man siehe auch WA TR 2, Nr. 1232, 3; Nr. 2660a, 390; WA TR 3, Nr. 2845°, 24; und WA TR 4, Nr. 4043, 97. Zum Tod Zwinglis siehe: Gordon, „Holy and Problematic Deaths“: 49 – 51. Gordon et al., „Emulating the Past“: 5. Man siehe dazu in detaillierter Form, J.A. Maxfield, „Luther, Zwingli, and Calvin on the Significance of Christ’s Death,“ Concordia Theological Quarterly 75 (2011): 91– 110, und T. Kaufmann, „Luther und Zwingli,“ in Luther Handbuch, Hg. A. Beutel (Tübingen, 2005): 152– 161. Wegen der christologischen Unterschiede (und deren Folgen, auch was Bullinger betrifft) sei verwiesen auf S. Strehle, „Fides aut Foedus. Wittenberg and Zurich in Conflict over the Gospel,“ Sixteenth Century Journal 23 (1992): 3 – 20. M. Luther, Vom Abendmahl Christi Bekenntnis (1528), WA 26,261– 509, hier 342: „Jch bekenne fur mich, daß ich den Zwingel fur einen unchristen halte mit aller seiner lere, denn er helt und leret kein stueck des Christlichen glaubens recht“. Man siehe dazu wenigstens W. Maurer, „Luther und die Schwärmer,“ Schriften des Theologischen Konvents Augsburgischen Bekenntnisses 6 (1952): 7– 37; A.M. Haas, Der Kampf um den Heiligen Geist – Luther und die Schwärmer (Freiburg, 1997) und (auch für weitere bibliographische Hinweise) A. Nelson Burnett, „Luther and the Schwärmer,“ in The Oxford Handbook of Martin Luther, Hg. R. Kolb, I. Dingel und L. Batka (Oxford/New York, 2014): 511– 524. Vgl. auch Zwingli, Früntlich verglimpfung über die predig Luthers wider die Schwermer (1527), Z V, 771– 794. A. Nelson Burnett, Karlstadt and the Origins of the Eucharistic Controversy. A Study in the Circulation of Ideas (Oxford, 2011). Siehe auch die Predigten zum 2. Psalm von 1532, wenige Monate nach dem Tod Zwinglis: WA 30/ II,209 und 210. Strehle, „Fides aut Foedus“: 7. Für die Sicht Luthers auf Zwingli vgl. außerdem M.U. Edwards, Luther and the False Brethren (Stanford, 1975): 82– 111 und 185 – 196.
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Wie wir gesehen haben, geht es um Überzeugungen, die von Zwingli scharf zurückgewiesen wurden. Es muss noch geklärt werden, wann genau Luther Gewissheit darüber gewann, dass die Kirchenreform, die sich auf dem Gebiet der Schweizer Konföderation herausbildete, auf Wegen verlief, die sich nicht mehr mit denen in Konvergenz befanden, die er selbst beschritten hatte. Die offene Polemik begann 1525 mit der Veröffentlichung von Zwinglis Kommentar über die wahre und falsche Religion. Von da an bis Ende 1528 kam es zu einem regelrechten „Krieg der Pamphlete“ zwischen Zürich und Wittenberg.⁶⁷ Hauptsächlicher Streitpunkt war die Abendmahlslehre. Für Luther bestand die Gegenwart Christi nach der Weihe in der Konsubstantiation – oder genauer gesagt in der Sakramentsunion. Beim Abendmahl werden für Luther Brot und Wein auch – und nicht wie für die Katholiken exklusiv – Substanzen des Körpers und Blutes Christi, obwohl gleichzeitig ihre physische Natur erhalten bleibt.⁶⁸ Zwingli dagegen bevorzugte eine symbolische Interpretation, für ihn ist Christus beim Abendmahl (welches Zwingli als Danksagung und Gedächtnisfeier verstand) im Sakrament tatsächlich gegenwärtig, aber nicht auf natürliche oder physische Weise.⁶⁹ Der Reformator aus Zürich „nahm die Worte der Abendmahlseinsetzung nicht mehr wortwörtlich: ‚Dies ist mein Fleisch‘ sondern im Gegenteil, als rhetorische Figur oder eine Metonymie: ‚Dies bedeutet mein Fleisch‘. Er zog eine klare Linie zwischen der Geste und dem was sie bedeutet und konsequenterweise wies er die Notion von der körperlichen Anwesenheit Christi zurück, also das alte Dogma von der Transsubstantiation ebenso wie die lutherische Lehre von der Konsubstantiation.“⁷⁰ Was diesen Streitpunkt angeht – unter der Begrenzung auf die Schriften Luthers und Zwinglis – verdienen eine Erwähnung: Die berühmte Amica Exegesis (1527)⁷¹ von Zwingli, Luthers Vom Abendmahl Christi Bekenntnis (1528),⁷² und schließlich, aus demselben Jahr, die Antwort Zwinglis (und Oekolampads) zu Über D. Martin Luthers Buch, Bekenntnis genannt. ⁷³ Die Polemik erreichte im Jahr 1529 den Punkt, an dem es kein Zurück mehr gab.
Campi, „The Reformation in Zurich“: 87. Für eine Einführung in die Haltung Luthers, auch in ihrer historischen Entwicklung, siehe V. Leppin, „Martin Luther,“ in A Companion to the Eucharist in the Reformation, Hg. L. Palmer Wandel (Leiden/Boston, 2014): 39 – 56. Eine nützliche Zusammenfassung der Ideen Zwinglis findet sich in C. Euler, „Huldrych Zwingli and Heinrich Bullinger,“ in A Companion to the Eucharist in the Reformation, Wandel: 57– 74. Campi, „The Reformation in Zurich“: 88: „Zwingli no longer interpreted the words of institution in a literal sense, ‘This is my body,’ but instead as a metonymy, a figure of speech, ‘This signifies my body.’ He drew a very sharp distinction between the sign and what it signifies, and accordingly rejected the notion of the bodily presence of Christ, the old doctrine of transubstantiation as well as the Lutheran teaching of consubstantiation.“ Z V, 562– 758. WA 26,261– 509. Z VI,2, 22– 248.
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Zwischen dem 1. und 4. Oktober desselben Jahres veranstaltete der Landgraf Philipp von Hessen in Marburg Religionsgespräche.⁷⁴ Daran nahmen die Exponenten der beiden wichtigsten theologischen Strömungen in deutschsprachigen Ländern teil. Das Zusammentreffen hatte eine derartig große Bedeutung, dass sowohl Luther als auch Zwingli nach Marburg kamen. Sie waren unter anderen in Begleitung von Philipp Melanchthon, Johannes Brenz, Stephan Agricola, Andreas Osiander, Johannes Oekolampad, Martin Bucer, Wolfgang Capito, Kaspar Hedio, Jakob Sturm und Justus Jonas. Es ging um das ehrgeizige Ziel, eine Übereinkunft zwischen den Positionen Luthers und Zwinglis zu erreichen. Die Einigung sollte dann eine politische und militärische Allianz zwischen schweizerischen und deutschen Protestanten einleiten.⁷⁵ Von fünfzehn theologischen Fragestellungen, die vorgestellt und diskutiert wurden, gab es nur bei der letzten, zur Abendmahlslehre, unterschiedliche Auffassungen.⁷⁶ Der grundsätzliche Misserfolg des Zusammentreffens, auch wenn es sich in einer Atmosphäre ohne offene Feindseligkeit abspielte, hatte unter anderem zur Folge, dass es zu keiner Schweizer Beteiligung an dem zu gründenden Schmalkaldischen Bund kam.⁷⁷ Die bereits geringe Sympathie, die Luther für Zwingli hegte, verstärkte sich in Marburg noch, er war sogar davon überzeugt, dass der Misserfolg dem Starrsinn des Zürchers anzulasten sei – inzwischen ein wohlbekannter Ketzer, der nicht in der Lage war anzuerkennen, dass er sich irrte (abgesehen von einigen Versuchen, die Zwingli nach 1529 unternahm, seine eigenen Ideen zu entschärfen, um sich den Meinungen von Luther und Bucer anzunähern).⁷⁸ Diese Überzeugung Luthers war der Nährboden für die bereits erwähnten Schmähungen. Die ständigen Beleidigungen von Luther und seinen Anhängern gegen Zwingli zwangen ironischerweise den Zürcher Nachfolger von Zwingli, Heinrich Bullinger dazu, von Luther Abstand zu halten, obwohl „die theologischen Gemeinsamkeiten zwischen beiden stärker waren, als die Differenzen“.⁷⁹ Das Religionsgespräch von Marburg hatte noch schwerwiegendere Folgen, wenn man von der Beziehung zwischen Luther und Zwingli absieht. Die Nachwirkungen zeigten sich bereits nach wenigen Jahren, aber auch noch nach Jahrzehnten. Zu einer ersten Folge kam es noch bald nach 1529, in einer Stellungnahme der gemäßigten Zwinglianhänger, deren Anführer Bucer war. Während des Reichstags von Augsburg (1530) verweigerten die Repräsentanten von Straßburg, Jakob Sturm und Mathis
W. Köhler, Das Marburger Religionsgespräch 1529. Versuch einer Rekonstruktion (Leipzig, 1929) und W.-F. Schäufele, Hg., Die Marburger Artikel als Zeugnis der Einheit (Leipzig, 2012). Campi, „The Reformation in Zurich“: 89. WA 30/III,160 – 171. Campi, „The Reformation in Zurich“: 89 und 106 – 107. Ebd., 88, Anm. 78. Für Zwingli und Bucer sei verwiesen auf F. Büsser, „Bucer und Zwingli,“ in Martin Bucer, Krieger und Lienhard: 395 – 402. Campi, „The Reformation in Zurich“: 108. Man sehe in detaillierter Form: P. Opitz, „Heinrich Bullinger und Martin Luther. Gemeinsamkeiten und Differenzen,“ Evangelische Theologie 64 (2004): 105 – 116.
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Pfarrer, ihre Unterschrift unter der eucharistischen Formel der lutherischen Confessio Augustana. Die straßburgischen Theologen Bucer und Capito verfassten daraufhin eine Konfession, die als Tetrapolitana („der vier Städte“) bekannt wurde, da sie im Juli dieses Jahres auch noch von Memmingen, Konstanz und Lindau unterschrieben wurde.⁸⁰ Die Tetrapolitana blieb ein kurzlebiger, vermittelnder Text, der nur geringe Zeit Gültigkeit haben sollte, aber gleichzeitig auch das Zeugnis einer ausdrücklichen Verweigerung war, gerade von den gemäßigten Parteigängern, gegen die Positionen Luthers. Der „orthodoxe“ Teil der Zwinglianer sollte, zwanzig Jahre nach Marburg, hinsichtlich der Eucharistie mit Calvin eine Einigung erzielen – den Consensus Tigurinus von 1549 –, mit dem jene allmähliche und sicherlich nicht einfache Konvergenz zwischen Zwinglis und Calvins Lehre eingeleitet wurde, aus der die letztlich siegreiche reformierte Tradition entstand.⁸¹ Will man die Perspektive noch erweitern, so lässt sich sogar nachweisen, dass der Bruch zwischen Zwingli und Luther auch wichtige geographische Folgen hatte. Der „Verlust“ für die Reformation wittenbergischer Art der von Zwingli und seinen Anhängern geprägten Schweiz⁸² machte wahrscheinlich die Empfängnisbereitschaft und die Ausbreitung derselben südlich der Alpen wesentlich schwieriger. Der heterogene und von der Lehre her fließende Charakter der italienischen Reformation hätte die Entstehung offener Spannungen verhindert, wie es sie in Süd- und Westdeutschland gab. Gerade die Ausbreitung des Ideengutes Zwinglis auf der italienischen Halbinsel, erleichtert durch die Nähe zu Zürich in erster Linie⁸³ und die positive Aufnahme der Lehre Zwinglis in der italienisch sprechenden Raetia in zweiter Linie,⁸⁴ helfen dabei zu erklären, wie es einerseits zu der ansehnlichen Bildung von radikalen Gruppierungen kam – und der vernachlässigbaren Durchdringung mit Lutheranern – und der
M. Lienhard, „Bucer et la Tétrapolitaine,“ in Un temps, une ville, une réforme, Ders. (Hampshire, 1990): 269 – 285. E. Campi und R. Reich, Hg., Consensus Tigurinus. Die Einigung zwischen Heinrich Bullinger und Johannes Calvin über das Abendmahl. Werden – Wertung – Bedeutung (Zürich, 2009). Der Bruch zwischen Luthertum und reformierter Tradition sollte in Deutschland nur von den Unionen des 19. Jahrhunderts überwunden werden, aber nicht ohne Schwierigkeiten, Trennungen und Schismata. Die Ausnahme machte Basel; H.R. Guggisberg, „Das lutheranisierende Basel: Ein Diskussionsbeitrag,“ in Die Lutherische Konfessionalisierung in Deutschland, Hg. H.C. Rublack (Gütersloh, 1992): 199 – 201. Die Überzeugung von einer lutherischen Komponente in Bern (wir verdanken sie C.B. Hundeshagen, Die Conflicte des Zwinglianismus, Luthertums und Calvinismus in der Bernischen Landeskirche von 1532 – 1558 [Bern, 1842]), kürzlich von A. Nelson Burnett, „The Myth of the Swiss Lutherans Martin Bucer and the Eucharistic Controversy in Bern,“ Zwingliana 32 (2005): 45 – 70. Man bedenke in dieser Hinsicht, dass 1525 und 1526, ein Mönch (es sei hervorgehoben: ein Augustiner), von Como aus an Zwingli schrieb, um ihm mitzuteilen, dass er und seine Mitbrüder sich zu seinem Glauben bekehrt hätten, indem sie seine Schriften lasen. F. Chabod, Lo stato e la vita religiosa a Milano nell’epoca di Carlo V (Turin, 1971), 307 und 357– 359. M. Taplin, The Italian Reformers and the Zurich Church, c. 1540 – 1620 (Aldershot, 2003).
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Leichtigkeit andererseits, mit welcher der Calvinismus (inzwischen in Konvergenz mit Zwinglis Ideen) hier Fuß fassen konnte.⁸⁵
S.F. Romano, „Riflessi zwingliani nella divulgazione della riforma protestante radicale nell’Italia settentrionale del Cinquecento,“ Memorie storiche forogiuliesi 64 (1984): 69 – 105.
Günter Vogler
Thomas Müntzers Erbe Eine Alternative im reformatorischen Prozess Als Martin Luther im Juli 1524 seinen Brief an die Fürsten zu Sachsen von dem aufrührerischen Geist publizierte, beabsichtigte er, die kursächsischen Regenten vor Thomas Müntzer zu warnen, einem Werkzeug des Teufels, denn er habe vernommen, „als wolle derselb Geist die Sache nicht im Wort lassen bleiben, sondern gedenke, sich mit der Faust drein zu begeben, und wolle sich mit Gewalt wider die Obrigkeit setzen, und daher stracks einen leiblichen Aufruhr anrichten“.¹ Müntzer fragte hingegen, warum der Wittenberger auf seine Lehre so heftig reagiere. In der Hochverursachten Schutzrede wider das geistlose und sanft lebende Fleisch zu Wittenberg gab er den Vorwurf, ein Werkzeug des Teufels zu sein, an Luther zurück. In seinen Augen ist dieser nicht nur ein „Schriftgelehrter“, der den toten Buchstaben gegen das innere Wort verteidige, sondern ein „Verfolger der Wahrheit“, des „Teufels Erzkanzler“ und das „gottlose Wittenberger Fleisch“.² Als sich in Thüringen Untertanen gegen ihre Obrigkeiten erhoben, reiste Luther Ende April 1525 nach Eisleben und predigte in mehreren Städten gegen den Aufruhr. Nach Wittenberg zurückgekehrt, fügte er der dritten Ausgabe seiner Schrift Ermahnung zum Frieden auf die zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben einen Text bei: Auch wider die räuberischen und mörderischen Rotten der anderen Bauern. Er warf den Aufständischen vor, sie würden rauben und töten wie die rasenden Hunde. „Kurzum, eitel Teufelswerk treiben sie, und insonderheit ist es der Erzteufel, der zu Mühlhausen regiert, und nichts denn Raub, Mord und Blutvergießen anrichtet“.³ Die Verteufelung von Gegnern war zu dieser Zeit nicht ungewöhnlich, doch Luther war der erste, der Müntzer als Werkzeug des Teufels diskreditierte. Was veranlasste den Reformator, seinen Kontrahenten als „Satan“ oder „Erzteufel“ anzuklagen? Und was bewog Müntzer, den Wittenberger mit ähnlichen Titulierungen zu bedenken? Die Antwort ergibt sich aus ihren unterschiedlichen Auffassungen über die als notwendig erkannte Reformation. In den konfliktträchtigen Jahren, als eine Reform von Kirche und Gesellschaft anstand, erregte der Prediger Müntzer Aufsehen, weil er eine radikale Reformation befürwortete, für die er von der Kanzel und in Schriften warb. Doch anders als Martin Luther oder Philipp Melanchthon, die von Wittenberg aus ihr Werk betrieben, musste Müntzer immer wieder nach einer neuen Wirkungsstätte suchen. Er nahm dieses Schicksal als gottgewollt an und verstand sich als „Knecht Gottes“, den dieser zur
H.-U. Delius (Hg.), Martin Luther. Studienausgabe, Bd. 3, Berlin, 1983, 92. Im Folgenden: StA 3. G. Franz (Hg.), Thomas Müntzer. Schriften und Briefe. Kritische Gesamtausgabe Gütersloh, 1968, 323, 326, 327, 329, 331, 332, 334, 336, 337, 342. Im Folgenden: MSB. StA 3, 142. https://doi.org/9783110498745-027
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Einbringung der Ernte auserwählt habe. Im Bild gesprochen: Der lebendige Gott schärfe jetzt seine Sense, um die roten Rosen und blauen Blümlein zu schneiden.⁴ Diese Botschaft wollte Müntzer als „williger Botenläufer Gottes“ den Menschen vermitteln.⁵
1 Müntzers frühe Jahre Thomas Müntzer wurde um 1489 in der kleinen fürstlichen Residenzstadt Stolberg am Südharz geboren.⁶ Einer Handwerkerfamilie entstammend, besuchte er vermutlich eine Lateinschule in Quedlinburg, wurde zum Wintersemester 1506 in Leipzig immatrikuliert, war dann als Hilfslehrer in Aschersleben und Halle tätig und wurde zum Wintersemester 1512 in Frankfurt an der Oder eingeschrieben. Da er bei der Immatrikulation jeweils die verlangten Gebühren zahlte, was auf eine materiell gesicherte Lage hinweist, war er berechtigt, akademische Prüfungen abzulegen. Wie lange er beide Universitäten besuchte und wo er akademische Grade erwarb, ist nicht bekannt. In einem Brieffragment vom Frühjahr 1521 bezeichnete er sich als „artium magister et sancte scripture baccalaureus“ ⁷ und beide Titel belegen auch mehrere seiner Korrespondenten. Müntzer erwarb an den beiden Universitäten eine solide Bildung, die er später durch ein eifriges Studium der Bibel sowie antiker, patristischer, mystischer, humanistischer und reformatorischer Schriften vertiefte. In der nach seiner Hinrichtung erschienenen, Philipp Melanchthon zugeschriebenen Histori Thome Muntzers wird ihm immerhin zugestanden, dass er in der Heiligen Schrift „wohl gelehrt“ gewesen sei.⁸ Durch die Ausbildung war sein Weg in den Schul- oder Kirchendienst vorgezeichnet. Nach der Priesterweihe im Bistum Halberstadt wurde ihm 1514 eine bescheidene Altarpfründe an der Michaeliskirche in Braunschweig übertragen. Hier pflegte er Beziehungen zu angesehenen Fernhändlern und Handwerkern, die nach einer vertieften Glaubengewissheit suchten. Seit 1515 war er einige Zeit Präfekt im Kanonissenstift Frose bei Aschersleben und dann Beichtvater im Kloster der Zisterzienserinnen in Beuditz bei Weißenfels. Auch hielt er sich einige Zeit in Wittenberg auf, wo er mit Luther und anderen Persönlichkeiten der frühen reformatorischen Bewegung bekannt wurde.
S. Bräuer und M. Kobuch (bearb. u. kommentiert von), Thomas Müntzer. Briefwechsel, Leipzig, 2010, 156 (Nr. 55). Im Folgenden: ThMA 2. Ebd., 157. Zur Biographie Müntzers vgl. S. Bräuer und G. Vogler, Thomas Müntzer. Neu Ordnung machen in der Welt. Eine Biographie, Gütersloh, 2016; zu den Schriften Müntzers vgl. M. Dammaschke und G. Vogler, Thomas-Müntzer-Bibliographie (1519 – 2012), Baden-Baden/Bouxwiller, 2013, 29 – 92. ThMA 2, 82 (Nr. 33). L. Fischer (Hg.), Die lutherischen Pamphlete gegen Thomas Müntzer, Tübingen, 1976, 28.
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An den Ostertagen 1519 predigte Müntzer vertretungsweise in Jüterbog, geriet aber mit den Franziskanern in Streit, so dass Pater Bernhard Dappen ihn beim zuständigen Bischof von Brandenburg verklagte. Da der Ingolstädter Theologe Johann Eck diesen Bericht zum Druck brachte, dürfte der Titel Articuli […] contra Luteranos auf ihn zurückgehen. Ob Müntzer jedoch als „Lutheraner“ bezeichnet werden konnte, ist fraglich, denn seine Predigt fiel nicht nur durch antiklerikale Töne auf. Müntzer kritisierte auch die scholastische Theologie und plädierte für die Rückbesinnung auf die biblischen Schriften. Richtschnur sollte nur das Evangelium sein. Ansatzweise zeichnete sich schon eine eigenständige Position ab Als Müntzer im Mai 1520 – von Luther empfohlen – in Zwickau an der Marienkirche die Vertretung für den humanistisch geschulten Prediger Johannes Egran übernahm und nach dessen Rückkehr an die Katharinenkirche wechselte, standen ihm erstmals Kanzeln in einer großen Handels- und Gewerbestadt zur Verfügung. Obwohl einflussreiche Bürger ihn unterstützten und am Evangelium orientierte Laien sich um ihn scharten, führten Auseinandersetzungen mit den Franziskanern, Streitigkeiten mit Egran und schließlich der Vorwurf, Aufruhr zu stiften, im April 1521 zu seiner Entlassung. Müntzers Sendungsbewusstsein dokumentiert die jetzt öfters gebrauchte Selbstbezeichnung „Knecht der Auserwählten Gottes“. Auch zeichnet sich in seinem Zeitverständnis erstmals eine apokalyptische Dimension ab.
2 Der Botenläufer Gottes Schon in Zwickau richtete Müntzer sein Augenmerk auf Böhmen, weil er überzeugt war, dass dort die „neue apostolische Kirche“ entstehen und sich über die Welt ausbreiten werde. In Prag, „der Stadt des teuren und heiligen Kämpfers Jan Hus“,⁹ predigte er 1521 in mehreren Kirchen und verfasste einen Sendbrief, der sein radikales Verständnis der Reformation zu erkennen gibt. Überliefert sind eine lateinische, eine kürzere und eine längere deutsche Fassung sowie eine unvollständige Übersetzung ins Tschechische,¹⁰ aber keiner dieser Texte wurde zu seinen Lebzeiten gedruckt. Angesichts des seit Jahrhunderten anhaltenden Verfalls der Kirche plädierte Müntzer für eine Erneuerung der Christenheit, ein Leben in der Nachfolge Christi und die Wiederherstellung der Ordnung, wie sie Gott ursprünglich geschaffen habe. Doch im November musste er angesichts einsetzender Repressalien Prag verlassen. Seine Mission war gescheitert, aber er war entschlossen, sein Werk fortzusetzen. Nach der Rückkehr aus Böhmen hielt Müntzer sich an verschiedenen Orten auf und suchte nach einer neuen Wirkungsstätte. Doch weder im Erfurter Peterskloster noch in der Reichsstadt Nordhausen oder an einem anderen Ort gelang es ihm, eine feste Anstellung zu erlangen. Die über ihn in Umlauf gesetzten Verleumdungen, gegen
MSB, 495. Ebd., 491– 511.
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die er sich in einem Brief an einen ungenannten Kritiker vom 14. Juli 1522 verwahrte,¹¹ zeigten offensichtlich Wirkung. Gegen Ende des Jahres 1522 wurde Müntzer schließlich als Kaplan im Nonnenkloster St. Georgen in Glaucha vor den Toren der Stadt Halle an der Saale angenommen, und er pflegte Kontakte zu Bürgern der nahen Kommune. Die Wirkung seiner Predigten belegt der Brief eines Hallensers,¹² in dem er sich bedankt, dass Müntzer ihm den Weg zum wahren Glauben gewiesen habe: Sein Glaube sei nicht fest verwurzelt gewesen, dann aber habe er verstanden, „daß der Mensch so leer aller Dinge sich zeigen müsse, […] als wenn er nicht wäre“.¹³ Die Glauchaer Stelle verlor Müntzer in der ersten Märzhälfte 1523, ohne dass die Gründe bekannt sind. Inzwischen zeichneten sich erhebliche Differenzen zu den Wittenbergern ab. In einem Brief an Philipp Melanchthon vom 29. März 1522¹⁴ warf Müntzer ihnen vor, einen stummen Gott anzubeten, doch den wahren Glauben pflanze der „redende Gott“ in die Herzen der Menschen. Auch verstehe er nicht, warum Luther mahne, Rücksicht auf die im Glauben noch Schwachen zu nehmen. Angesichts des erwarteten endzeitlichen Gerichts wollte er die Wittenberger bewegen, das Werk der Reformation zügig zu fördern. Müntzers Leben war bisher ruhelos verlaufen. Als Prediger und Seelsorger sammelte er an verschiedenen Orten Erfahrungen. Doch wo er auftrat, polarisierte er und setzte sich Anfeindungen aus. Niederlagen warfen ihn jedoch nicht aus der Bahn, denn ihn leitete die Überzeugung, dass ihn Gott zum Schnitter in der Ernte bestellt habe.
3 Müntzers Wirken in Allstedt Als Müntzer kurz vor Ostern 1523 in der kursächsischen Amts- und Ackerbürgerstadt Allstedt probeweise als Prediger an der Johanneskirche angenommen wurde, war das erstmals eine Gelegenheit, seine Vorstellungen umzusetzen. Mit seiner Reform der Liturgie lehnte er sich an die Tradition und an Vorschläge Luthers an, schuf aber mit den Sonntags- und Wochengottesdiensten unter Zugrundelegung des gregorianischen Chorals ein eigenständiges Werk (Deutsches Kirchenamt, 1523; Deutsch-Evangelische Messe, 1524).¹⁵ Müntzer übertrug alle lateinischen Texte in die deutsche Sprache, weil nicht hinzunehmen sei, den lateinischen Worten eine Kraft zuzuschreiben, „wie die Zauberer tun“.¹⁶ In einer kleinen Schrift, Ordnung und Rechenschaft des deutschen
ThMA 2, 139 – 140 (Nr. 48). Ebd., 157– 160 (Nr. 56). Ebd., 159. Ebd., 127– 139 (Nr. 47). MSB, 25 – 155, 157– 206. Ebd., 162.
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Amts zu Allstedt (1523),¹⁷ wies er Einwände gegen seine Reform zurück: Alle Völker würden die Messe in ihrer Sprache hören, denn wenn die Menschen verstehen sollen, was sie glauben, müsse ihnen das Evangelium auf verständliche Weise vermittelt werden. Hier in Allstedt brach Müntzer auch mit dem Zölibat, dem Priestern, Mönchen und Nonnen auferlegten Gebot der Ehelosigkeit. Im Frühjahr 1523 heiratete er die wahrscheinlich aus dem Kloster Wiederstedt in der Grafschaft Mansfeld entlaufene Nonne Ottilie von Gersen, die zu Ostern des folgenden Jahres einen Sohn gebar. Müntzers Gottesdienst fand viel Zuspruch, auch bei Gläubigen aus der näheren und weiteren Umgebung. Doch die Amtsstadt war von Territorien altgläubiger Fürsten umgeben. Vor allem Graf Ernst von Mansfeld und Herzog Georg von Sachsen waren bemüht, ihre Untertanen davon abzuhalten, Müntzers Gottesdienst zu besuchen, so dass Konflikte nicht ausblieben. Trotz der kritischen Haltung gegenüber den Wittenbergern riss Müntzers Kontakt zu ihnen nicht ab. In einem Brief an Martin Luther vom 9. Juli 1523¹⁸ verteidigte er ohne polemische Schärfe seine Auffassung, dass Gott seinen Willen nicht durch das tote Wort der Schrift vermittle, sondern in die Herzen schreibe. Er sah sich und Luther vor gleiche Aufgaben gestellt, letzteren aber auf dem falschen Weg bei deren Bewältigung. Luther dürfte bekannt gewesen sein, dass Müntzers Gottesdienst viele Zuhörer anzog. Deshalb ersuchte er Anfang August 1523 den Allstedter Amtmann Hans Zeiß, ihn zu veranlassen, „seiner Lehre wegen sich mit uns zu besprechen“.¹⁹ Damit war das Thema eines Glaubensgesprächs angesprochen, und es blieb seitdem aktuell. Da Graf Ernst von Mansfeld seinen Untertanen verbot, zum Gottesdienst nach Allstedt zu laufen, forderte Müntzer den Grafen auf, mit den Ordinarien des Bistums in Allstedt zu erscheinen und ihm zu beweisen, dass seine Lehre ketzerisch sei.²⁰ Daraufhin verlangte der Graf am 22. September vom Amtmann und dem Rat der Stadt die Festnahme des Predigers, was diese allerdings ablehnten, weil es das Wort Gottes, also eine geistliche Sache betreffe.²¹ Der Konflikt eskalierte, als Müntzer Graf Ernst androhte, ihn vor Juden, Türken und Heiden bloßzustellen, weil er die Menschen hindere, zum wahren Glauben zu finden.²² Der Mansfelder schaltete daraufhin den sächsischen Kurfürsten Friedrich den Weisen ein, und Müntzer erbot sich am 4. Oktober in einem Brief an den Landesherrn, seine Lehre prüfen zu lassen.²³ Wenn aber Graf Ernst die Verbreitung des Evangeliums durch menschliche Gebote aufhalte, werde das Volk in die Irre geführt.
Ebd., 207– 215. ThMA 2, 160 – 172 (Nr. 57). WA.B 3,120. ThMA 2, 203 – 204 (Nr. 64). C. E. Foerstemann (Hg.), Neues Urkundenbuch zur Geschichte der evangelischen Kirchen-Reformation Bd. 1, Hamburg, 1842, 228 – 229. ThMA 2, 194– 199 (Nr. 63). Ebd., 199 – 206 (Nr. 64).
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Sollten die Fürsten sich auch künftig so verhalten, werde ihnen das Schwert genommen und dem vom wahren Glauben ergriffenen Volk gegeben werden, um das gottlose Handeln zu unterbinden.²⁴ Unter Berufung auf Dan 7 („Aber das Reich, Gewalt und Macht unter dem ganzen Himmel wird dem heiligen Volk des Höchsten gegeben werden“) nahm Müntzer hier erstmals zur Rolle der Obrigkeit Stellung. Er unterschied zwischen „christlichen Regenten“ und „gottlosen Tyrannen“. Letzteren warf er die Missachtung des Evangeliums, die Verletzung weltlicher Rechte und den Bruch des Landfriedens vor. Wenn sie den „gemeinen Frieden“ verletzen, hätten sie die Legitimation für ihr obrigkeitliches Amt verloren und ihre Herrschaft verwirkt.
4 Müntzers Verteidigung seiner Lehre Gespräche mit kursächsischen Vertretern über Müntzers Lehre fanden vielleicht im November 1523 und im Februar 1524 auf dem Allstedter Schloss statt. Aus diesem Anlass wird Müntzer die zwei Schriften verfasst haben, die über sein Glaubensverständnis Auskunft geben (Protestation oder Erbietung Thomas Müntzers, […] seine Lehre betreffend, 1524;²⁵ Von dem gedichteten Glauben, 1524²⁶). In ihnen kritisierte er nicht nur die Lehrer der alten Kirche, sondern auch die Wittenberger. Für ihn ist der Glaube kein Geschenk Gottes, er muss vielmehr in der Nachfolge Christi auf dem bitteren Weg erworben werden. Mit dem Druck beider Schriften wurde über den Kreis der Predigthörer hinaus bekannt, was Müntzer vor der ganzen Christenheit zu verteidigen bereit war. Am 24. März 1524 brannte die nahe Allstedt gelegene Marienkapelle in Mallerbach ab. Als der Allstedter Rat, der die Täter ausfindig machen sollte, nach längerem Zögern Mitte Juni einige Personen festnehmen wollte, wurde in der Stadt Sturm geläutet, um „unrechter Gewalt zu widerstehen“.²⁷ Bei dieser Gelegenheit wurde wahrscheinlich insgeheim der Bund gegründet, der sich zum Ziel setzte, das Evangelium zu verteidigen. Der Bericht des Amtmanns vom 26. Juni, in dem der Vorfall geschildert wird, moniert auch die noch ausstehende Anhörung Müntzers. Erfolge sie nicht, werde er beim gemeinen Mann mit seiner Lehre, „die so mächtig angeht, einen solchen Anhang erlangen, dass es Mühe und Arbeit haben will“.²⁸ Da bot Müntzer sich am 13. Juli 1524 die Gelegenheit, vor dem sächsischen Herzog Johann und seinem Gefolge auf dem Allstedter Schloss zu predigen. Der Text des Propheten Daniel über den Untergang der Weltreiche ermöglichte es ihm, seine Auf-
Ebd., 205. MSB, 225 – 240. Ebd., 217– 224. C. E. Foerstemann (Hg.), „Zur Geschichte des Bauernkriegs im Thüringischen und Mansfeldischen“, in: Neue Mittheilungen aus dem Gebiet historisch-antiquarischer Forschungen 12, 1869, 159. Ebd., 166.
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fassung vom Wesen der Reformation in einer apokalyptisch-weltgeschichtlichen Perspektive vorzutragen. Er forderte die Fürsten auf, wie christliche Regenten zu handeln und sein Werk zu unterstützen. Widersetzten sie sich ihrer Pflicht, werde ihnen die Gewalt genommen und dem Volk gegeben. Die Predigt wurde sofort publiziert (Auslegung des anderen Unterschieds Daniels des Propheten, 1524).²⁹ Eine Reaktion der Fürsten ist nicht bekannt. Doch den Amtmann Hans Zeiß informierte Müntzer am 22. Juli, die in Dan 2 angekündigte Veränderung der Welt stehe jetzt bevor. Als Müntzer am 24. Juli in der Predigt seine Hörer aufforderte, einen Bund wie im Alten Testament zwischen König und Volk (2 Kön 23,3) zu schließen, da zogen mehrere hundert Besucher des Gottesdienstes zum Rathaus und ließen sich in die Bundesliste einschreiben. Mit diesem Schritt trat der bisher geheime Bund in die Öffentlichkeit. Den Amtmann informierte Müntzer, da die „gottlosen Regenten“ die Gläubigen wegen des Verlangens nach dem Evangelium verfolgen, sei ein Bund zum Schutz des Evangeliums nötig, der allen offenstehen solle, die bereit seien, die Machenschaften tyrannischer Obrigkeiten abzuwehren. Luther gewann jetzt den Eindruck, dass Müntzer es nicht bei Worten belassen, sondern seine Sache mit Gewalt betreiben wolle. Im Brief an die Fürsten zu Sachsen von dem aufrührerischen Geist ³⁰ forderte er deshalb die Landesherren auf, „Geister“ wie Müntzer und andere „Schwärmer“ aus dem Land zu weisen. Doch Hans Zeiß drängte weiter, Müntzers Angebot anzunehmen und seine Lehre zu prüfen. Vielleicht hat der Prediger für diesen Zweck das Manuskript Gezeugnis des ersten Kapitels des Evangeliums Lucae verfasst,³¹ das unverzüglich an den Hof nach Weimar übermittelt wurde. Am 1. August wurden dort Müntzer, der Amtmann, der Schultheiß und zwei Ratsmitglieder aus Allstedt vernommen. Gegenstand waren das Verbündnis und die verschleppte Bestrafung der Anstifter des Kapellenbrands. Den Allstedter Repräsentanten wurde aufgetragen, die Täter von Mallerbach zu bestrafen, den Bund aufzulösen und Müntzers Drucker zu entlassen. Als Müntzer darüber am 3. August unterrichtet wurde, protestierte er, dass ihm die Hände gebunden werden sollen, so dass er auf Luthers Brief an die Fürsten nicht öffentlich antworten könne. Dem Kurfürsten schrieb er noch am selben Tag,³² er predige einen anderen Christenglauben als Luther, und wenn er verhört werden solle, müsse das vor Gläubigen aller Nationen geschehen. Nur diese wollte er als Richter akzeptieren.
MSB, 241– 263. StA 3, 88 – 104. MSB, 267– 319. ThMA 2, 330 – 335 (Nr. 97).
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5 Konflikte in Mühlhausen Einer Ausweisung aus Kursachsen kam Müntzer zuvor, indem er Allstedt in der Nacht vom 7. zum 8. August 1524 heimlich verließ und Mitte August in der freien Reichsstadt Mühlhausen Schutz suchte, wo seit 1522 der ehemalige Benediktinermönch Matthäus Hisolidus und seit Februar 1523 der ehemalige Zisterziensermönch Heinrich Pfeiffer als reformatorische Prediger wirkten. Am 3. Juli 1523 zwang die oppositionelle Bewegung den Rat zur Annahme eines Rezesses, mit dem dieser einige reformatorische Forderungen und die Beteiligung der bürgerlichen Opposition am Stadtregiment akzeptieren musste. Luther warnte indes Rat und Gemeinde von Mühlhausen am 21. August 1524,³³ sich vor Müntzers Lehre zu hüten, denn er wolle Aufruhr stiften. Doch er wurde freundlich aufgenommen. Die Situation war indes gespannt, weil unklar war, ob der Rat sich an die Festlegungen des Rezesses halten würde. Ein Zwischenfall bei einer Hochzeitsfeier am 19. September löste schließlich einen Aufstand aus, der zur Flucht der beiden Bürgermeister führte. Unter Mitwirkung Pfeiffers und Müntzers wurden Elf Artikel erarbeitet,³⁴ in denen gefordert wurde, einen „ewigen Rat“ einzusetzen, Gerechtigkeit gemäß dem Evangelium zu üben, Geiz, Schinden und Schaben zu unterbinden und dem gemeinen Nutzen Rechnung zu tragen. Mit zahlreichen Bibelstellen wurde bekräftigt, dass diese Artikel dem „göttlichen Recht“ entsprechen. Dem Rat gelang es jedoch, unterstützt von Bauern des Landgebiets, die Aufständischen vorübergehend aus der Stadt zu drängen. Diese schufen jetzt mit dem „Ewigen Bund Gottes“ ein militärisches Verbündnis. Doch das Vorhaben, einen neuen Rat einzusetzen, schlug fehl, da die Mehrheit der Bürger sowie die Bauern des Umlands dafür nicht gewonnen werden konnten. Müntzer und Pfeiffer wurden ausgewiesen und verließen in den ersten Oktobertagen die Stadt. Eine dem Evangelium gemäße neue Ordnung war jedoch mit den Elf Artikeln in den Blick gekommen.
6 Müntzers Abrechnung mit Luther Müntzer suchte nach der Ausweisung den Buchführer Hans Hut in Bibra im südlichen Thüringen auf und übergab ihm das überarbeitete Manuskript des „Gezeugnisses“, das dieser in Nürnberg drucken ließ (Ausgedrückte Entblößung des falschen Glaubens, 1524),³⁵ während den Druck der Antwort auf Luthers Brief an die Fürsten zu Sachsen einige Wochen später ein „fremder Landfahrer“ ebenfalls in Nürnberg besorgte
Fischer, Die lutherischen Pamphlete, 14– 15. ThMA 2, 371– 383 (Nr. 105). MSB, 267– 319.
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(Hochverursachte Schutzrede, 1524).³⁶ Die meisten Exemplare wurden allerdings vom Rat beschlagnahmt. Müntzer selbst hielt sich nur kurze Zeit in der Reichsstadt auf und blieb unbehelligt, da er nicht öffentlich auftrat. Beide Schriften bekräftigten noch einmal Müntzers Standpunkt. Um die Ordnung Gottes wiederherzustellen, von der die Menschen abgefallen seien, sah er angesichts der ablehnenden Haltung der Fürsten im „armen Volk“ die Auserwählten, denen die Gewalt gegeben werde. Radikal war sein Reformationsverständnis, weil es ihm darum ging, die Übel an der Wurzel anzupacken, dem „lebendigen Wort Gottes“ und nicht dem toten Buchstaben der Schrift zu vertrauen, einen unverfälschten Glauben in der Nachfolge Christi auf dem „bitteren Weg“ zu gewinnen, den „gottlosen Tyrannen“ Widerstand zu leisten und im Zeichen eines apokalyptischen Zeitverständnisses die Erneuerung der Christenheit und die Veränderung der Welt jetzt zu vollziehen. Radikalität hatte demzufolge zwei Gesichter: Der Konflikt mit den Mönchen und Priestern führte zum irreparablen Bruch mit der alten Kirche und stiftete eine reformatorische Identität. Die innerreformatorischen Konflikte hatten hingegen die Alternative zur Folge, dass die Menschen sich von allem „Kreatürlichen“ lösen müssen, wenn Kirche und Gesellschaft erneuert werden sollen. Eine Rückkehr zum reformatorischen Konsens war für Müntzer nicht mehr denkbar. In der Hochverursachten Schutzrede forderte Müntzer Luther auf, er solle seine Fürsten an der Nase ziehen, denn „der Bauer möchte sonst dazwischen treten“.³⁷ Das war bemerkenswert, da bisher hauptsächlich Städte sein Erfahrungsraum und Wirkungsfeld gewesen waren. Nun wurde er mit Bauern konfrontiert, die sich zuerst im Südwesten des Reichs gegen ihre Herren erhoben. Denn von Nürnberg begab er sich nach Basel, wo er dem Theologen Johannes Oekolampad und dem Humanisten Ulrich Hugwald begegnete. Letzterer ebnete ihm wahrscheinlich den Weg zu den Aufständischen im Hegau und Klettgau. Eine zeitlang hielt er sich in der Gemeinde Grießen auf, predigte an verschiedenen Orten und – so seine Aussage im Verhör – verfasste „etliche Artikel, wie man herrschen soll aus dem Evangelium“.³⁸
7 Der Beginn der Aufstände in Thüringen Als Müntzer im Verlauf des Februars 1525 nach Mühlhausen zurückkehrte, wurde er als Prediger an der Marienkirche angenommen. Die Situation hatte sich zwischenzeitlich grundlegend verändert. Dem Rat war faktisch das Regiment aus der Hand genommen worden, und am 16. März entschied sich die in die Marienkirche gerufene Gemeinde nach einer heftigen Debatte mehrheitlich für die Absetzung des alten Rats.
Ebd., 321– 343. Ebd., 337. Ebd., 544.
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Am folgenden Tag wurde dann im Rathaus ein „ewiger Rat“ eingesetzt, wie es die Elf Artikel verlangt hatten. Als Symbol des „Ewigen Bundes Gottes“ ließ Müntzer ein weißes Fähnlein mit einem Regenbogen anfertigen. Darauf stand geschrieben: „Verbum domini maneat in etternum“ (Gottes Wort währt in Ewigkeit), und alle, die sich dem Bund anschließen, sollen unter das Fähnlein treten. Der Amtmann Sittich von Berlepsch im benachbarten Langensalza mahnte indes, wenn dem Treiben der Mühlhäuser nicht Einhalt geboten werde, werde das ganze Volk vom Thüringer Wald bis zum Harz sich verbinden. In dieser Region³⁹ wurden für die landwirtschaftliche Produktion übliche Kulturen sowie Wein und der Farbstoff Waid angebaut und verbreitet Schafzucht betrieben. Die Marktbeziehungen förderten das Eindringen von Kapital in die Dorfgemeinden, so dass viele Bauern sich verschuldeten. Das Gebiet war zudem politisch stark zersplittert. Neben dem Territorium der sächsischen Wettiner existierten zahlreiche Grafschaften und geistliche Besitzungen. Die Beschwerden und Forderungen, die aus dieser Situation resultierten, prägten die Aufstände im April und Mai 1525. Seit Mitte April bildeten sich mehrere Bauernhaufen, denen sich zahlreiche Einwohner der Städte anschlossen. Das Mühlhäuser Aufgebot trat erstmals in Aktion, als am 25. April in Langensalza ein Aufstand begann und die Mühlhäuser um Hilfe ersucht wurden. Als das Aufgebot am 26. April mit der Regenbogenfahne vor den Toren der Stadt erschien, wurde es indes nicht eingelassen, weil man die Sache allein ausfechten wolle. Müntzer, der nicht mit ausgezogen war, war inzwischen bemüht, angesichts des erwarteten Gottesgerichts die Auserwählten zu sammeln. Denn er war überzeugt, dass es nun zu einer allgemeinen Erhebung kommen werde. Deshalb forderte er seine Anhänger auf, die Menschenfurcht abzulegen und den „Streit des Herrn“ auszufechten.⁴⁰ Als auch die Frankenhäuser die Mühlhäuser um Hilfe baten, sagte Müntzer ihnen diese am 29. April zu, zumal dieser Zug ermöglicht hätte, Graf Ernst in Heldrungen abzustrafen. Doch die Eichsfelder im Lager der Aufständischen erwarteten ebenfalls Unterstützung, denn – so argumentierten sie – ehe man von Heldrungen zurückkomme, seien sie alle verloren. Nach einer kontroversen Debatte fiel am 1. Mai die Entscheidung zugunsten des Zugs in das Eichsfeld, der bis zum 5. Mai andauerte.
8 Die Niederlage bei Frankenhausen Inzwischen erhoben sich am 29. April die Frankenhäuser, und in kurzer Zeit bildete sich dort ein großes Lager. Der altgläubige Herzog Georg von Sachsen und der evangelische Landgraf Philipp von Hessen waren jetzt energischer bemüht, ihre Truppen zu mobilisieren. In Mühlhausen setzte Müntzer sich inzwischen dafür ein,
G. Vogler (Hg.), Bauernkrieg zwischen Harz und Thüringer Wald, Stuttgart, 2008. ThMA 2, 403 – 415 (Nr. 114).
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seine den Frankenhäusern gegebene Zusage einzulösen, stieß aber auf Widerstand. Erst am 10. Mai zog er mit 300 Mann und acht Karrenbüchsen nach Frankenhausen. Graf Albrecht von Mansfeld forderte an diesem Tag die dort lagernden Aufständischen auf, ihm ihre Beschwerden zu übergeben, wenn sie solche vorzutragen hätten. Die Hauptleute schlugen daraufhin für den nächsten Tag Beratungen vor, doch Albrecht schob den Termin hinaus. Müntzer wird nach seiner Ankunft im Lager davon Kenntnis erhalten haben und polemisierte am 12. Mai in einem Brief an Albrecht⁴¹ heftig gegen dessen lutherisches Obrigkeitsverständnis: Ob er nicht meine, dass Gott mehr an seinem Volk als an Tyrannen gelegen sei. Ob er nicht wisse, dass Gott die Gewalt der Gemeinde gegeben habe (Dan 7). Er solle im Lager erscheinen, um über seinen Glauben Rechenschaft zu legen. Rechtfertige er sich, solle er als „gemeiner Bruder“ angenommen werden, wenn nicht, wollten sie gegen ihn fechten wie gegen einen Erzfeind des Christenglaubens. Am selben Tag forderte Müntzer Albrechts Vetter Graf Ernst⁴² auf, er solle vor dem Haufen beweisen, dass er sein tyrannisches Wüten aufgebe und ein Christ sei. Folge er dieser Aufforderung nicht, werde er vor aller Welt angeklagt. Denn Gott habe befohlen, ihn vom Stuhl zu stoßen. Beide Grafen reagierten auf diese Schreiben nicht. Inzwischen rückten die fürstlichen Gegner heran. Am 14. Mai morgens unternahm ein hessischer Trupp einen ersten Angriff auf Frankenhausen, der abgewehrt wurde. Die Aufständischen verließen allerdings die schützenden Mauern der Stadt und errichteten auf dem nahe gelegenen „Hausberg“ eine Wagenburg, die von annähernd 7.000 Aufständischen besetzt wurde. Müntzer predigte vor ihnen, Gott wolle jetzt die Welt reinigen und habe der Obrigkeit die Gewalt genommen und seinem Volk gegeben. Er stehe ihnen bei, denn ihre Fahne zeige den Regenbogen, das Zeichen des Bundes mit Gott. Am Morgen des 15. Mai vereinigte Philipp seine Truppen mit denen Georgs und brachte das Geschütz in Stellung, so dass die Wagenburg beschossen und den Aufständischen der Rückzug abgeschnitten werden konnte. Währenddessen gab es Bemühungen, eine Waffenruhe auszuhandeln. Die Fürsten antworteten den Aufständischen, wenn sie den „falschen Propheten“ Müntzer samt seinem Anhang ausliefern und sich ergeben, sollten sie nachsichtig behandelt werden. Doch eine Mehrheit des Haufens lehnte die Auslieferung ab. Als sich um die Sonne ein Ring in den Farben des Regenbogens bildete, predigte Müntzer, das sei das Zeichen, dass Gott ihnen beistehen werde. Die Aufständischen, die sich offenbar um Müntzer versammelt hatten, wurden vom Geschützfeuer überrascht, und die Reiterei fiel in das Lager ein. Angesichts der entstehenden Verwirrung war Widerstand nicht möglich. Die meisten Flüchtenden, die sich in Frankenhausen in Sicherheit bringen wollten, wurden auf dem Weg dorthin erschlagen. Müntzer wurde in einem Haus entdeckt und vor die Fürsten geführt. Von ihnen befragt, ver-
Ebd., 464– 465 (Nr. 144). Ebd., 469 – 473 (Nr. 145).
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teidigte der Gefangene die Absicht, „die Fürsten zu strafen, dieweil sie dem Evangelium wider wären“.⁴³ Müntzer wurde nach dem Brauch der Landsknechte Ernst von Mansfeld als „Beutepfennig“ übergeben und nach Heldrungen verbracht. Dort begannen am 16. Mai die Verhöre. Das Bekenntnis Thomas Müntzers wurde kurze Zeit später in Abschriften und Drucken verbreitet. Nach seinen Zielen befragt, bekannte er unter der Folter, die Empörung habe er begonnen, weil die Christenheit gleich werden sollte und die Fürsten und Herren, die dem Evangelium nicht beistehen wollten, vertrieben und totgeschlagen werden müssten. Gleichheit hieß für Müntzer, Gerechtigkeit im Sinn christlicher Nächstenliebe zu üben, auch ständische Unterschiede einzuebnen, denn alle Menschen sollten „auf gleicher Erde stehen“. Das war aber nur möglich, wenn auch die Machtverhältnisse sich änderten. Deshalb war Müntzer überzeugt, Gott werde die Gewalt dem „gemeinen Volk“ übertragen. Die Niederlage setzte solchen Plänen ein Ende. Seinen letzten Willen bekundete Müntzer am 17. Mai in einem Brief an die Mühlhäuser: Das Volk habe ihn nicht verstanden, schrieb er. Deshalb „bin ichs auch herzlich zufrieden, dass es Gott also gefügt hat“.⁴⁴ Sie sollen sich so verhalten, dass sie nicht eine gleiche Schlappe erleiden, „denn solches ist ohne Zweifel entsprossen, dass ein jeder seinen eigenen Nutzen mehr gesucht hat als die Rechtfertigung der Christenheit“.⁴⁵ Die Niederlage dokumentiert in Müntzers Augen das Urteil Gottes über die dem Eigennutz verhafteten Menschen. Am 25. Mai wurden den inzwischen vor Mühlhausen lagernden Fürsten die Schlüssel der Stadt übergeben und die Bedingungen der Unterwerfung fixiert. Am 27. Mai wurden Müntzer und Pfeiffer im Feldlager nahe Görmar – ohne ein gerichtliches Verfahren – die Köpfe abgeschlagen. Ihre Häupter wurden auf Spieße gesteckt und zur Schau gestellt, zur Mahnung für alle, die noch an Aufruhr dachten
9 Thomas Müntzers Lehre Obwohl die Zahl der von Müntzer verfassten und zum Druck gebrachten Schriften begrenzt ist, kann aus diesen und seinen Briefen und Predigtfragmenten seine Lehre erschlossen werden.⁴⁶ Ihn beschäftigen dieselben Fragen wie Luther, doch er fand zu anderen Antworten. Seine Theologie „trägt den Stempel des reformatorischen Aufbruchs: herausfordernd und gesprächsbereit, kritisch und kommunikativ – dies alles
Fischer, Die lutherischen Pamphlete, 40. ThMA 2, 497 (Nr. 152). Ebd., 498. S. Bräuer und H. Junghans (Hg.), Der Theologe Thomas Müntzer. Untersuchungen zu seiner Entwicklung und Lehre, Berlin, 1989.
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im Erfahrungs- und Denkhorizont des auslaufenden Mittelalters“.⁴⁷ Die Beschäftigung mit Geschichte und Gegenwart der christlichen Kirche nährten bei Müntzer Zweifel an der tradierten Lehre. Das belegen schon seine ersten Predigten in Jüterbog und der Prager Sendbrief. Nach eingehendem Studium der biblischen Bücher sowie aufgrund seiner Erfahrungen erarbeitete Müntzer eine eigenständige reformatorische Theologie. Dabei beeinflussten apokalyptische Überlieferungen zunehmend sein Zeitverständnis. Den individuellen Prozess der Glaubensgewinnung beschrieb er in der Terminologie mystischer Frömmigkeit, und für die Schaffung einer Gemeinde der Auserwählten boten ihm die ersten Apostel das Vorbild. Die hauptsächlichen Themen seiner Theologie zeichneten sich bereits im Prager Sendbrief von 1521 ab. Später erläuterte er sie in einigen Schriften ausführlicher. Wandlungen ergaben sich am ehesten, wenn in der Praxis gewonnene Erfahrungen dazu Anlass gaben. Seine Schriften und Briefe sind ein anschauliches Beispiel für die Intensität seiner theologischen Arbeit. Müntzer fragte, wie der Verfall der Kirche, den nach seiner Auffassung falsche Hirten verursachten, zu überwinden und der „zerfallenden Christenheit“ zu helfen sei. Notwendig ist nach seiner Überzeugung eine radikale Reformation. Denn die Ordnung, die Gott allen Kreaturen gegeben habe, sei „verkehrt“ worden. Um sie wiederherzustellen, sei es folglich unumgänglich, die Welt zu verändern. Die Christenheit darauf vorzubereiten, war die schwere Aufgabe, der er sich verpflichtet sah. Sichtbares Zeichen dafür, dass der Geist Christi erstorben sei, war für ihn die Verbreitung eines falschen Glaubens. Ein Christ müsse hingegen wie Christus den „engen Weg“ wählen. Deshalb wurde Müntzer nicht müde, seinen Hörern und Lesern einzuhämmern, wer den „bittern Christus“ nicht annehme, werde sich am „süßen Honig“ totfressen, aber nicht zum wahren Glauben finden. Müntzers Mahnen und Drängen ergibt sich aus seinem apokalyptischen Zeitverständnis, aus der Einsicht, dass das letzte Gericht bevorstehe. Angesichts dieser Situation müssten die „Auserwählten“ von den „Gottlosen“ geschieden werden und sich zusammenschließen. „Gottlos“ waren für Müntzer alle, die das Evangelium verleugnen oder verspotten und den Menschen den Weg zum wahren Glauben versperren. Den „Auserwählten“ hingegen offenbare Gott seinen Willen. Müntzers Überzeugung, dass der wahre Glaube nur auf dem „engen Weg“ zu gewinnen sei, verweist auf die sozial-politische Dimension seiner Lehre. Er sieht „die Welt“ als verderbt an, weil die Christen sich der „Menschenfurcht“ unterworfen haben, dem Eigennutz frönen, sich nur um zeitliche Güter sorgen und nach Ehre, Reichtum und Macht streben. Um die Menschen wieder in die „Ordnung Gottes“ zu führen, müssen sie zuerst alles „Kreatürliche“ abwerfen. Müntzers Verhältnis zu den verschiedenen sozialen Schichten und deren politischen Repräsentanten wurde von seinen Erfahrungen diktiert. Da die frühe Refor-
H.-J. Goertz, Thomas Müntzer. Revolutionär am Ende der Zeiten, München, 2015, 281.
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mation zunächst eine städtische Bewegung war, knüpfte Müntzer an seinen Wirkungsstätten Beziehungen, die bis in die bürgerlichen Oberschichten reichten. Fürsten und andere Obrigkeiten traten in sein Blickfeld, als er sie für seine Sache zu gewinnen suchte, aber zur Kenntnis nehmen musste, dass viele von ihnen „tyrannisch“ handelten. Deshalb sah er sich und seine Anhänger legitimiert, gottlose und pflichtvergessene Obrigkeiten zu bekämpfen. Wenn sie sich nicht bessern, so lautete seine Schlussfolgerung, falle die Schwertgewalt an die Gemeinde der Auserwählten. Damit wurde das „Volk Gottes“ zu einer sozial bestimmten Größe: Es sind diejenigen, die mit der Bürde des Nahrungserwerbs belastet sind. Von den Bauern, die ihr Leben mit harter Arbeit zubringen und „den ertzgottlosen tyrannen den halß gefüllet haben“,⁴⁸ erwartete er jetzt, dass sie den Auftrag Gottes erkennen. Das allgemeine Ziel, die Welt zu verändern, konkretisierte sich in der Erneuerung der kirchlichen, sozialen und politischen Ordnung als Bedingung für das „Regieren Gottes“. Müntzers Lehre beruhte auf dem Evangelium, nicht auf gesellschaftlichen Normen und Werten, wenngleich die Erfahrungen mit seiner Umwelt in sie einflossen. Im produktiven Widerspruch zu den Wittenbergern vertrat er die Idee, eine Gemeinschaft der Brüderlichkeit zu schaffen.⁴⁹ Das „Regieren Gottes“ zielte darauf ab, den „Auserwählten“ die Gewalt zu geben, um die Normen des Evangeliums in der Gesellschaft zur Geltung zu bringen. In einer endzeitlichen Perspektive war das ein universaler Prozess, der nicht an einen Ort oder ein Land gebunden war. In der Praxis konnte er aber nur regional in Angriff genommen werden.
10 Eine Alternative zur Reformation der Wittenberger Am Beginn des reformatorischen Prozesses war die Situation noch offen. Zahlreiche Akteure konfrontierten die Öffentlichkeit mit jeweils eigenen Ideen, um die krisenhafte Situation zu überwinden, was „eine explosionsartige Vielfalt konkurrierender Theologien provozierte“.⁵⁰ Doch Luther und seine Mitstreiter traten entschieden dafür ein, Müntzer und anderen „Schwärmern“ keinen öffentlichen Raum zu geben. In der Schrift Protestation oder Erbietung schrieb Müntzer, er wolle die Lehre der evangelischen Prediger „in ein besseres Wesen führen“.⁵¹ Damit plädierte er für eine Reformation, die über die Absichten der Wittenberger hinausführt. In der Auslegung des andern Unterschieds Danielis des Propheten argumentierte er dann, der Geist Gottes offenbare jetzt vielen auserwählten Menschen, dass eine unüberwindbare zukünftige Reformation vollführt werden müsse. Denn Gott rede deutlich von der
MSB, 294. H.-J. Goertz: Thomas Müntzer, 237. Th. Kaufmann, Geschichte der Reformation, Frankfurt am Main/Leipzig, 2009, 146. MSB, 240.
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Veränderung der Welt, die in den letzten Tagen erfolgen werde.⁵² Das hieß für Müntzer, um den Schaden zu überwinden, den die Christenheit erlitten hat, ist die Veränderung der Welt erforderlich. Das solle nicht irgendwann, sondern jetzt geschehen. Die heftige Polemik zwischen Luther und Müntzer ergab sich aus den unterschiedlichen Positionen, die sie zu zentralen Themen vertraten. Luther und Müntzer trennte ihr Schriftverständnis. Der Wittenberger ließ allein die Schrift (sola scriptura) gelten, das heißt das verkündigte Wort, denn mit Christus und seinem Tod seien die Offenbarungen abgeschlossen. Müntzer war dagegen überzeugt, dass Gott seinen Willen ständig aufs Neue in die Herzen der Menschen schreibt. Er verwarf das Wort der Schrift nicht (wie ihm oftmals unterstellt wurde), aber er kritisierte, dass den Gläubigen nur der „tote Buchstabe“ vermittelt werde. Für Luther und Müntzer war die Glaubensfrage ein zentrales Thema. Für Luther hat Gott die sündigen Menschen allein aus Gnade (sola gratia) erlöst, während Müntzer die Auffassung vertrat, wer der Gnade Gottes gewiss sein wolle, müsse dem „bittern Christus“ folgen. Deshalb wähnte Müntzer Luther auf dem falschen Weg. Luther und Müntzer folgten einem unterschiedlichen Obrigkeitsverständnis. Für Luther war jede Obrigkeit von Gott eingesetzt und legitimiert, das weltliche Regiment auszuüben. Wer sich ihr widersetze, widerstrebe der von Gott geschaffenen Ordnung. Müntzer respektierte die Obrigkeiten, wenn sie ihrer Pflicht nachkamen, die Untertanen zu schützen. Doch angesichts der Erfahrung, dass viele Regenten tyrannisch handelten, Gläubige wegen ihres Glaubens verfolgten und das Evangelium missachteten, vertrat er ein Widerstandsrecht. Luther und Müntzer unterschied ihr Verhältnis zur Gewalt. Während Luther unter Berufung auf Röm 13,1– 2 das Gewaltmonopol der Obrigkeit rechtfertigte, erklärte Müntzer, gestützt auf Röm 13,3 – 4, das Schwert sei notwendig, um die Gottlosen zu vernichten. Damit das aber auf redliche Weise geschehe, sollen die Fürsten, „die Christum mit uns bekennen“, dieses Urteil vollstrecken. Sonst werde ihnen das Schwert genommen, wie es Dan 7 verheiße.⁵³ Widerstand ist folglich legitim, wenn es Gott so fügt.⁵⁴ Luther und Müntzer urteilten unterschiedlich über die christliche Freiheit. Luther unterschied unter Berufung auf den Apostel Paulus (1 Kor 9,19) die geistliche und leibliche Natur der Menschen und schlussfolgerte, dass sie innerlich frei, aber in den äußeren Dingen unfrei seien. Wenn Müntzer hingegen erklärte, die Wiedergewinnung der Gottesfurcht erfordere, die Menschenfurcht zu überwinden, so schloss das eine Befreiung auch in weltlichen Sachen ein. Seine einprägsame Formel lautete: „Es bezeugen fast alle Urteile in der Schrift, dass die Kreaturen frei werden müssen, wenn das reine Wort Gottes aufgehen soll“.⁵⁵
Ebd., 255. Ebd., 261. Ebd., 22, 335. ThMA 2, 479 (Nr. 147).
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11 Chancen und Grenzen Müntzers Müntzer hat von Luther Anregungen empfangen, aber er ist frühzeitig aus dessen Schatten getreten. Er erkannte bei diesem und seinen Mitstreitern Defizite: die einseitige Orientierung an der Schrift, die Unterschätzung des schweren Wegs zum wahren Glauben, die Vernachlässigung der Nöte des „gemeinen Mannes“ und die frühzeitige Anlehnung an die Obrigkeiten. In dieser Situation erwies sich Müntzers Theologie mit ihren Folgerungen als eine mögliche Alternative. Um seine Vorstellungen in die Tat umzusetzen, begann Müntzer in Allstedt und wohl auch in Mühlhausen unverzüglich mit der Reform des Gottesdienstes und der Begründung dieses Schritts in mehreren Schriften. Diese Reform war ein wesentlicher Bestandteil seines Programms, denn bisher wurden die Gläubigen entmündigt, weil die Messe ganz auf die Person des Priesters konzentriert war.⁵⁶ Diese reformierte Liturgie wurde in einigen Regionen über Müntzers Tod hinaus noch eine Zeit lang praktiziert. Um die Normen des Evangeliums zur Geltung zu bringen, griff Müntzer in Mühlhausen zudem in die Gestaltung der innerstädtischen Verhältnisse ein: Im September 1524, als er die gegen den Rat gerichtete oppositionelle Bewegung unterstützte und die Elf Artikel mit erarbeitete, und im März 1525, als ein neuer Rat eingesetzt wurde. Schließlich schloss er sich im April und Mai 1525 den aufständischen Bauern und Bürgern in Thüringen an. Er hat diese Aktionen nicht verursacht, aber durch sein Mitwirken geprägt. Wer seine Absichten umsetzen wollte, musste die Öffentlichkeit gewinnen.⁵⁷ Müntzer nutzte die Predigt und den Buchdruck, um Hörer und Leser mit seiner Lehre vertraut zu machen. Dass er damit Erfolg hatte, bestätigt der Zulauf zu seinen Predigten. Doch die Zeit, die ihm vergönnt war, war offensichtlich zu kurz, um eine Mehrheit zu überzeugen und Neuerungen institutionell abzusichern. Auch war die Verbreitung und Wirkung seiner Schriften begrenzt. Der Prager Sendbrief wurde nicht gedruckt, und erst 1523/1524 gelang es ihm, einige Schriften zum Druck zu bringen. Doch die meisten Exemplare der beiden Pamphlete, die im Herbst 1524 die Druckerpressen in Nürnberg verließen, fielen der Zensur zum Opfer. Insofern ist sein publizistischer Einfluss nicht mit dem anderer Reformatoren zu vergleichen. Luther stand als Professor der Leucorea zudem eine universitäre Institution zur Verfügung, und viele seiner Kollegen und Studenten trugen seine Lehre weiter. Müntzer verfügte nicht über ein solches Forum. Er war zwar bereit, öffentlich prüfen
W. Ullmann: „Die sprachgeschichtliche Bedeutung von Müntzers Liturgieübersetzungen“, in: ders., Ordo rerum. Die Thomas Müntzer-Studien, Berlin, 2006, 131. Th. Kaufmann, Geschichte der Reformation, 171– 174, 178 – 181; R. Wohlfeil, „Reformatorische Öffentlichkeit“, in: L. Grenzmann und K. Stackmann (Hg.), Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, Stuttgart, 1984, 41– 52.
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zu lassen, was er mündlich und schriftlich verbreitete, aber seine Lehre wurde verworfen, ohne dass eine substantielle Debatte diesen Schritt rechtfertigte. Luther wurde von Predigern und Gelehrten, von städtischen Räten und fürstlichen Obrigkeiten unterstützt. Müntzers Anhänger rekrutierten sich dagegen überwiegend aus dem Umland von Allstedt und Mühlhausen. Darüber hinaus bekannte sich nur eine begrenzte Zahl einflussreicher Persönlichkeiten zu ihm – einige Prediger, ehemalige Mönche und Handwerker, deren publizistische Tätigkeit sich allerdings bescheiden ausnahm. Die institutionelle und rechtliche Absicherung reformatorischer Neuerungen gelang am ehesten, wenn Obrigkeiten diese akzeptierten und legalisierten. Müntzer konnte zeitweilig mit dem Beistand von städtischen Räten rechnen, es gelang ihm aber nicht, sie dauerhaft für seine Sache zu gewinnen. In seiner Predigt über Dan 2 forderte er zwar die sächsischen Fürsten auf, sein reformatorisches Programm zu unterstützen, aber eine Antwort blieb aus. Müntzer war folglich gezwungen, einen anderen Weg einzuschlagen. Er gründete den Allstedter Bund und dann in Mühlhausen den Ewigen Bund Gottes zum Schutz des Evangeliums. Obwohl deren Mitglieder nicht nur in den beiden Kommunen ansässig waren, handelte es sich um Bündnisse von regionaler Bedeutung. Auch mobilisierten altgläubige und evangelische Fürsten bald ihre Truppen, um die Aufstände sowie Müntzer und seine Anhänger niederzuwerfen. Das war der entscheidende Faktor, der die von ihm vertretene Alternative zunichtemachte. Ob Müntzers Absicht, die ganze Christenheit radikal zu erneuern (so zuerst im Prager Sendbrief), realistisch war, muss bezweifelt werden. Partielle Neuerungen vermochte er nur in Allstedt und in Mühlhausen auf den Weg zu bringen. Auch hat er keine Kirche geschaffen, die seine Lehre bewahrte, verbreitete und verteidigte. Doch an dem Ziel, die Christenheit zu reformieren und eine Gemeinschaft der Brüderlichkeit zu schaffen, hielt er bis zuletzt fest. Müntzers Selbstverständnis als von Gott bestellter Schnitter in der Zeit der Ernte dürfte agitatorisch einprägsam gewesen sein. Doch die Gefahr lag nahe, seine Anhänger zu enttäuschen, wenn seine Prophezeiungen sich nicht erfüllten. Auch überforderte er die Menschen, wenn er erwartete, dass sie sich in kurzer Zeit im Sinn der Christusnachfolge und Abwerfung der Kreaturenfurcht ändern werden. Müntzer hat das gespürt, wenn er in seinem Brief an die Mühlhäuser vom 17. Mai 1525 schrieb, das Volk habe ihn nicht verstanden, sondern allein den eigenen Nutzen gesucht.⁵⁸ Dieser Brief dokumentiert eindrucksvoll seine Tragik.
ThMA 2, 497– 498.
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12 Thomas Müntzers Erbe Das Erbe, das Müntzer hinterließ, war seine Theologie. Doch keiner – einige Persönlichkeiten der frühen Täuferbewegung ausgenommen – wollte es annehmen, denn nach seinem Tod führten die Sieger das Wort. Für seine Gegner war und blieb er ein „falscher Prophet“, ein „Wolf im Schafspelz“, ein „aufrührerischer Geist“. Sein Bild wurde über Jahrhunderte von der Verurteilung des radikalen Reformators dominiert.⁵⁹ Aus protestantischer Sicht war er ein Aufrührer, der den Bauernkrieg in Thüringen und in anderen Regionen verursacht habe. Für katholische Autoren war er die Frucht von Luthers Reformation. Beschworen wurde von beiden Seiten der Häretiker, der das Wort der Bibel verachtet und daran geglaubt habe, dass Gott seinen Willen immer aufs Neue offenbare. Die meisten Autoren, die Müntzer verurteilten, gaben indes seine Lehre nach ihrem Gutdünken wieder. Sie stützten sich zumeist auf durch Quellen nicht belegte Informationen, die sie zum Beispiel der Histori Thome Muntzers entnahmen. Als Johannes Sleidan die Schrift De Statu et Reipublicae, Carolo Quinto, Caesare Commentarii (Straßburg 1555) veröffentlichte, die bald ins Deutsche und in andere Sprachen übersetzt wurde, übernahm er die Argumente der Histori Thome Muntzers, die auf diesem Weg weiteste Verbreitung fanden. Zahlreiche polemische Publikationen tradierten ein Gemisch von Halb- und Unwahrheiten. Der verteufelte Prediger und Seelsorger war zwar nicht vergessen, wurde aber hauptsächlich benutzt, um vor falscher Lehre zu warnen. Auch dafür hatte Luther den Anstoß gegeben. Als ihn der Altenburger Superintendent Georg Spalatin von einem geplanten Anschlag auf Erfurt am Neujahrstag 1528 informierte, sah Luther darin offenbar das Werk von Anhängern Müntzers und antwortete am 24. Januar: „Der Müntzer ist tot, aber sein Geist ist noch nicht ausgerottet“. ⁶⁰ Diese Warnung zitierten später Autoren, die sich herausgefordert sahen, gegen Andersdenkende zu polemisieren. Angesichts der Übermächtigkeit der auf die Verurteilung des „Aufrührers“ bedachten Tradition wagte es kaum ein Autor, ein anderes Bild Müntzers zu verbreiten. Respekt verdienen deshalb die wenigen, die – wenn auch nur verdeckt – eine davon abweichende Sicht in die Öffentlichkeit trugen, womit sie sich allerdings Anfeindungen aussetzten. Sebastian Franck stellte in seiner Chronica, Zeytbuch und Geschichtbibel (Straßburg 1531) erstmals Müntzers Lehre ausführlich dar und notierte: „Das sind seine wunderlichen Urteile und Ketzereien, die ich weder loben noch verurteilen kann“, das solle der Leser selbst tun.⁶¹ Der Zschopauer Pfarrer Valentin Weigel schrieb in seinem Dialogus de Christianismo von 1584 (der erst nach seinem Tod 1614 veröffentlicht
M. Steinmetz, Das Müntzerbild von Martin Luther bis Friedrich Engels, Berlin, 1971. WA.B 4,355. S. Franck, Chronica, Zeytbuch und Geschichtbibel, Straßburg, 1531, fol. 441.
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wurde), dass alles Predigen ohne das innere Wort vergebens sei. Müntzer habe davon viel gehalten, und er wollte „keine Schrift annehmen […], er hätte sie denn in seinem Herzen erfahren“.⁶² Die pietistische Bewegung mit ihrer Kritik am veräußerlichten Glauben, der Besinnung auf das innere Wort und der Einsicht, dass die Reformation erst noch vollendet werden müsse, öffnete dann neue Wege zur partiellen Korrektur des Müntzerbildes, wie Gottfried Arnolds Unparteyische Kirchen- und Ketzer-Historie (Frankfurt am Main 1699/1700) anzeigt. Unter dem Eindruck der Französischen Revolution und im Zeichen der liberalen, demokratischen und sozialistischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts erfolgte allmählich ein Umdenken und schließlich eine Versachlichung des Bildes. Müntzers Theologie wurde indes lange Zeit rationalistisch interpretiert und die Konfrontation Luthers und Müntzers zur Konstante des Geschichtsbildes. Für Friedrich Engels zum Beispiel war Luther „Repräsentant der bürgerlichen Reform“, Müntzer hingegen der „bäurisch-plebejischen Revolution“.⁶³ Eine andere Sicht brachte zuerst der Philosoph Ernst Bloch mit seiner Schrift Thomas Münzer als Theologe der Revolution (München 1921) in die Debatte ein. Eine Kategorie von Blochs Philosophie war das Noch-Nicht-Sein, und Müntzer war für ihn ein Exempel dafür, was gedacht wurde, aber noch nicht Realität war. Herausgefordert sahen sich nun Theologen, die zwar Luther verteidigten, aber neben ihm Müntzer als originellen Denker akzeptierten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden angesichts der stärker quellenorientierten Forschung allmählich nicht nur Müntzers biographische Stationen genauer erschlossen, sondern auch seine theologische Lehre und deren Wirkung eingehend erforscht. Das war das Ergebnis eines Prozesses, in dem Theologen und Historiker trotz unterschiedlicher weltanschaulicher Prägung allmählich zum Dialog fanden, an dem sich bald auch Sprachwissenschaftler und Philosophiehistoriker sowie Wissenschaftler in verschiedenen Ländern beteiligten. Die Verortung Müntzers im historischen Prozess blieb dennoch ein umstrittenes Thema. Da war vom „Wildwuchs der Reformation“⁶⁴ oder vom „Außenseiter der Reformation“⁶⁵ die Rede. Schlug er einen Irrweg ein? Nein, er vertrat in kritischer Auseinandersetzung mit den Wittenbergern eine Alternative. Aber was er anstrebte, wurde nicht eingelöst. Wer den Weg der Kirchen und der Gesellschaft in den Jahrhunderten nach Müntzers Tod verfolgt, wird feststellen müssen, dass seine Kritik weiterhin Aufmerksamkeit beanspruchen kann. Als die institutionelle Verfestigung der reformatorischen Lehren erfolgte, wurde das Leben der Gemeinden in konfessionelle Strukturen gezwängt, den Institutionen unterworfen, und Rituale gewannen die Oberhand. Von V. Weigel, Dialogus de Christianismo, Halle, 1614, 31. F. Engels, „Der deutsche Bauernkrieg“, in: K. Marx und F. Engels, Werke, Bd. 7, Berlin, 1960, 350. F. Lau, „Melanchthon und die Ordnung der Kirche“, in: W. Elliger (Hg.), Philipp Melanchthon. Forschungsbeiträge zur vierhundertsten Wiederkehr seines Todestages, Göttingen, 1961, 107– 108. W. Elliger, Außenseiter der Reformation: Thomas Müntzer, Göttingen, 1975.
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einer Kirche, die den Geist des Evangeliums in der Gesellschaft zur Geltung bringt, konnte nur bedingt die Rede sein. Doch Visionen ermöglichen, den Menschen in einer von Krisen und Kriegen erschütterten Welt Hoffnung zu vermitteln und eine Perspektive anzuzeigen. Insofern ist Müntzers Erbe immer noch relevant.
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Luther und die radikalen Reformer 1 Einleitung
Die „radikalen Reformer“ waren, wie vieles andere in der Reformationszeit, eine Erfindung Martin Luthers (oder vielleicht genauer: Martin Luther und Philipp Melanchthon haben die „radikale Reformation“ erschaffen wie sie auch die Lehre der evangelischen Kirche gebildet haben). Als Luther im März 1522 von der Wartburg nach Wittenberg zurückkehrte, schlug er in der Kirchenpolitik und Theologie einen unabhängigen Kurs ein. Andere Mitstreiter der reformatorischen Bewegung hatten drei Optionen: Luthers Autorität vollständig zu folgen (wie Philipp Melanchthon), einen eigenen Kurs einzuschlagen, dabei aber einen Bruch mit Luther zu vermeiden (wie Martin Bucer), oder Luther offen zu widersprechen. Letztere, weder politisch noch in der theologischen Lehre in sich einheitlich, sind erst durch die polemische Auseinandersetzung in den Schriften Luthers und Melanchthons zu einer eigenen Einheit geworden. Nur in diesem abgeleiteten Sinne sind die „radikalen Reformer“ eine historische Realität. Vor 1522 war Wittenberg keine lutherische Universität. Sie entwickelte sich dazu erst nach Jahren als das Resultat der Kontroverse um die 95 Thesen gegen den Ablasshandel vom 31. Oktober 1517. Als neue Universität, 1502 von Kurfürst Friedrich von Sachsen gegründet, erlebte Wittenberg eine humanistische Reform der Curricula zwischen 1516 und 1518. Selbst kein Humanist, favorisierte Luther die humanistische Studienreform, da er davon überzeugt war, dass die aristotelische Scholastik zum Verderbnis der Theologie im lateinischen Christentum beigetragen hatte. Die Berufung Philipp Melanchthons auf den Lehrstuhl für Griechisch 1518 machte Wittenberg zu einer trilingualen Universität vergleichbar mit Louvain und Alcalá.¹ Die ersten Wellen einer radikalen Reformation traten mehr oder weniger zeitgleich in Erscheinung mit Luthers erzwungenem Aufenthalt auf der Wartburg nach dem Reichstag zu Worms im April 1521.Während Luthers berühmten Auftritt vor Kaiser Karl V., sah er sich selbst nicht als theologischer Widersacher zu Andreas Bodenstein von Karlstadt, Thomas Müntzer oder Kaspar von Schwenckfeld, und diese betrachteten sich als nichts anderes als Mitstreiter von Luthers Reformation.
Charles G. Nauert, Jr., Humanism and the Culture of Renaissance Europe (Cambridge 1995), 133 – 36. https://doi.org/9783110498745-028
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2 Andreas Bodenstein von Karlstadt Obwohl Andreas Bodenstein von Karlstadt drei Jahre jünger war als Luther, gehörte er der Wittenberger Universität schon länger an. Karlstadt wurde an der Universität Köln in der traditionellen thomistischen Scholastik ausgebildet. 1511 zum Kanzler der Universität Wittenberg ernannt, verlieh Karlstadt Luther den Doktor der Theologie. 1515 – 1516 erwarb Karlstadt in Rom den Doktor beider Rechte. Anfänglich skeptisch gegenüber Luthers Position im Streit um den Ablass, übernahm er nach einem genauem Studium der Schriften Augustinus’ dann Luthers Ansichten. 1519 begann Karlstadt die Disputation mit Johannes Eck in Leipzig, später trat Luther zur Disputation hinzu, die ein erstes Anzeichen für den bevorstehenden Bruch zwischen den deutschen Reformern und der römischen Kirche wurde. Karlstadt wurde 1520 zusammen mit Luther in der Bannandrohungsbulle Exsurge Domine des Leo X. genannt. Während Luther im Mai 1521 auf der Wartburg Zuflucht fand, wurde Karlstadt zusammen mit Melanchthon der natürliche Anführer der reformatorischen Bewegung.² Die Wittenberger Bewegung von 1521– 1522 war als Umsetzung von Luthers Reformation gedacht. Karlstadt hielt an der Rechtfertigung durch den Glauben fest, aber er wertete es als natürlich, dass „der Glaube, wenn er nicht Werke hat, tot [ist] in sich selber“ (Jak 2,17). Mit anderen Worten, er betrachtete die Heiligung als natürliche Ergänzung zur Rechtfertigung. Luther und seine Gefährten stimmten darüber ein, dass der Anspruch der katholischen Priester, ein Sühnopfer während der Messe zu zelebrieren, ein Irrtum ist. Von den Stadtbewohnern unter Druck gesetzt, feierte Karlstadt während Weihnachten 1521 das Abendmahl zum ersten Mal unter Beteiligung der Laien in beiderlei Gestalt. Teils um Vorfälle von Bilderstürmerei etwas zu dämpfen, teils aus eigener Überzeugung veranlasste Karlstadt den Wittenberger Rat, Kruzifixe und Heiligenbilder und -statuen aus den Kirchen zu entfernen. Er stimmte mit Luther darüber ein, dass alle Christen Priester sind und dass sie direkt zu Gott beten sollten, ohne die nicht mehr notwendige Vermittlung durch Heiligenbilder. Beeinflusst durch Augustinus betonte er die Bedeutung der spirituellen res gegenüber dem materiellem signum. Kurfürst Friedrich, unter Druck gesetzt durch die kaiserliche Regierung, widersetzte sich äußerlichen Änderungen der religiösen Praxis. Am 24. Januar 1522 erließ der Wittenberger Rat – eingekesselt zwischen der Bevölkerung, die unmittelbare Änderungen wollte, und dem Kurfürst, der überhaupt keine Änderungen befürwortete – die Wittenberger Ordnung, verfasst teilweise von Karlstadt in Übereinstimmung mit seinen Prinzipien. Luther hatte Wittenberg im frühen Dezember heimlich einen Besuch abgestattet und ließ wissen, dass er mit den bevorstehenden Änderungen zufrieden sei. Philipp Melanchthon war ein früher Anhänger eines reformierten Abendmahls. Dennoch war er eher als Karlstadt geneigt, den Wünschen des kurfürstlichen Hofes Ulrich Bubenheimer, Consonantia Theologiae et Jurisprudentiae. Andreas Bodenstein von Karlstadt als Theologe und Jurist zwischen Scholastik und Reformation (Tübingen 1977).
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nachzukommen. Karlstadt war der Meinung, das die religiöse Praxis nicht in der Kompetenz der Landesregierung lag, sondern von Gemeinde zu Gemeinde, von Ort zu Ort entschieden werden sollte. Weiterhin waren am 27. Dezember 1521 Nikolaus Storch und Markus Stübner – Gemeindeglieder des Thomas Müntzer in Zwickau – nach Wittenberg gekommen, hatten Melanchthon aufgespürt und behauptet, dass sie direkte Offenbarung empfangen hätten, zudem griffen sie die Kindertaufe an. Melanchthon fand die Situation in Wittenberg beunruhigend und veranlasste den Kurfürsten, Luther von der Wartburg zurückzuholen.³ Am 6. März 1522 kehrte Luther nach Wittenberg zurück. In einer Reihe von Predigten bereitete er den Boden dafür, die Änderungen durch die „Wittenberger Bewegung“ wieder rückgängig zu machen. Luthers Entscheidung, die Reformation in ein etwas konservativeres Fahrwasser zu lenken, ist auf dem Hintergrund zu verstehen, dass ihm wohl bewusst war, dass Friedrich der Weise ihm nach dem Wormser Reichstag das Leben gerettet hatte. Das äußerliche Gepräge des Gottesdienstes mit Heiligenfiguren, Kruzifixen und Altären wurde erhalten. Bereits im Monat vor Luthers Rückkehr hatte Melanchthon mit einigen Getreuen begonnen, Karlstadt für die „Exzesse“ der Wittenberger Bewegung verantwortlich zu machen, seine Predigttätigkeit einzuschränken und Karlstadts Versuch zu unterbinden, auf Luthers neue Betonung der „Schonung der Schwachen“ mit einer eigenen Schrift zu antworten. Im Frühjahr 1523 beendete er seine Lehrtätigkeit an der Wittenberger Universität, zog aufs Land und nahm als „Bruder Andreas“ die Rolle eines einfachen Bauern an. Später, gegen Ende des Sommers 1523, siedelte er nach Orlamünde an der Saale um und übernahm die pfarramtlichen Pflichten in einer Gemeinde, die seinem Archidiakonat in Wittenberg unterstand. Als Pfarrer von Orlamünde sistierte Karlstadt die Kindertaufe, führte gleichwohl nicht die Erwachsenentaufe ein. Als im August 1524, mitten in den lebhaften Auseinandersetzungen, die bereits den Bauernkrieg ankündigten, Luther eine Visitationsreise in die Gegend unternahm, wurde er von der Orlamünder Gemeinde heftig angegriffen, die klar hinter Karlstadt stand. Im Gasthof zum Schwarzen Bären zu Jena kam es zu einem Streitgespräch zwischen Luther und Karlstadt, das zu keiner Einigung führte. Karlstadt wurde es durch die Wittenberger Universitätszensur nicht erlaubt, seinen Standpunkt schriftlich zu veröffentlichen. Im September wurde er zusammen mit seiner Frau aus Sachsen ausgewiesen.⁴
James S. Preus, Carlstadt’s Ordinaciones and Luther’s Liberty: A Study of the Wittenberg Movement, 1521 – 22 (Cambridge, MA 1974), 13 – 50. Preus, Carlstadt’s Ordinaciones, 73 – 77; Hans-Jürgen Goertz, „The Reformation of the Commoners,“ in A Companion to Anabaptism and Spiritualism, 1521 – 1700, hg. von John D. Roth und James M. Stayer (Leiden/Boston 2007), 8 – 9.
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3 Thomas Müntzer Ein anderer junger Mann im Wittenberg der aufregenden Jahre 1517/18, die geprägt waren von religiöser Kontroverse und der Reform des humanistischen Curriculums, war Thomas Müntzer. Aus Braunschweig, wo er eine kleinere Pfründe innehatte, kam Müntzer wohl 1517 nach Wittenberg und stand dort eher mit Karlstadt, Melanchthon und dem humanistischen Gastprofessor Johannes Rhagius Aesticampianus in Kontakt als mit Luther. Die plausibelste Berechnung bestimmt Müntzer als drei Jahre jünger als Karlstadt und sechs jünger als Luther. Schon vor seiner Ankunft in Wittenberg war er wohl auf dem Weg von der Scholastik hin zum Humanismus. Zu dieser Zeit hätte er sich als „biblischer Humanist“ bezeichnet, was in seinen Stellungnahmen Ausdruck findet, dass die Kirche sich seit 300 Jahren im Niedergang befinde, seit die Theologie der Kirchenväter durch die scholastische Theologie abgelöst worden sei. Müntzer nahm Luther sicherlich in seinen Wittenberger Jahren und kurz danach intensiv wahr, er war wahrscheinlich auch Augenzeuge der Leipziger Disputation zwischen Luther und Eck 1519. Johannes Tauler, der dominikanische Mystiker des 14. Jahrhunderts, war in Wittenberg am Vorabend der Reformation sehr im Schwange. Luther bezog sich auf ihn in seinen Römerbriefvorlesungen 1515 – 17 und edierte 1516 eine mystische Schrift aus dem 14. Jahrhundert, Theologia Deutsch, die er fälschlicherweise Tauler zuschrieb. Anfang 1519 vertiefte Müntzer wohl das schon vorhandene Wissen um Tauler in den Diskussionen mit Karlstadt – die Erlösungslehren Karlstadts und Müntzers greifen in ähnlicher Weise auf Tauler zurück.⁵ Es ist sehr plausibel, dass Müntzer die Betonung der persönlichen Heiligung im Erlösungsprozess von Karlstadt übernahm. Als im Mai 1520 die Stelle an der Marienkirche zu Zwickau vakant wurde – bedingt durch die zeitweilige Abwesenheit des biblisch-humanistischen Pfarrers Johannes Sylvius Egranus –, empfahl Luther Müntzer für diese. Als Egranus im Herbst zurückkehrte, wurde Müntzer an die Katharinenkirche versetzt. Hier geriet er in Kontakt mit dem Weber Nikolaus Storch, der ein prominentes Mitglied der Zwickauer Fronleichnams-Bruderschaft war. Müntzers eigenständige Theologie reifte in der Auseinandersetzung mit Egranus 1520/21 über die Natur des Bibelhumanismus. Egranus vertrat Erasmus’ Ideen auf eine zugespitzte Weise: er verfocht die beinahe vollständige Überlegenheit des Neuen Testaments über dem Alten und bestand darauf, dass die biblische Inspiration durch den Heiligen Geist mit der Zeit der Apostel zu Ende gegangen sei und infolgedessen die Anwendung biblischer Autorität gleichbedeutend sei mit der Textarbeit am Neuen Testament. Für Müntzer war dies eine Unterstützung der Häresie Markions, welcher nur die Offenbarung Gottes im Neuen Testament akzeptierte. Müntzer antwortete hingegen, dass die Offenbarung des Heiligen Geistes kontinuierlich weiterwirke, wie er etwas später in seiner Prager Epistel (1521) formulierte, dass er zu einem Goertz, „Reformation of the Commoners,“ 21; Goertz, Thomas Müntzer. Revolutionär am Ende der Zeiten – eine Biographie (München 2015), 32 und 221– 225.
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sprechenden Gott beten wolle, nicht zu einem stumm gewordenen. Die gesamte Bibel, Altes und Neues Testament, ist in ihrer Integrität zu respektieren durch den wechselseitigen Vergleich aller Teile auf Textebene (collation locorum). Gott offenbart sich im „Abgrund der Seele“ durch das menschliche Leiden, den Lesekundigen durch die Bibel, den Leseunkundigen durch das Leiden der Tiere in der Natur und durch menschliche Hand. Der Wille Gottes erfüllt sich im Laufe der Geschichte durch den Aufbau eines nahe herankommenden Königreiches Christi, welches durch die Verlautbarungen der Hussiten und Luthers angekündigt wird und dadurch die früheren Offenbarungen der Erzväter, Propheten und Apostel des Alten und Neuen Testament vollendet.⁶ Der Zwickauer Rat, beunruhigt durch den Streit zwischen Müntzer und Egranus, entließ Müntzer im April 1521, zur gleichen Zeit als Luther vor dem Wormser Reichstag auftrat. In den folgenden zwei Jahren führte Müntzer ein unstetes Leben, welches ihn nach Prag, Erfurt und Nordhausen führte. In Prag hoffte er, dass die utraquisten Erben von Jan Hus eine zentrale Rolle im Aufbau eines Königreiches Christi spielen könnten, musste aber erkennen, dass die Hussiten nur eine weitere Gruppe seien, die die Bibel studieren, sich aber nicht der Stimme des Heiligen Geist öffneten. In kurzen Aufenthalten in Erfurt und Nordhausen traf er auf Luthers enge Freunde Johannes Lang und Lorenz Süße und geriet mit diesen in persönliche und theologische Streitigkeiten, welche sicherlich Luthers Einschätzung von Müntzer weiter verschlechterte.⁷ Inzwischen kamen Müntzers Zwickauer Gemeindeglieder Storch und Stübner nach Wittenberg, wo sie nicht nur mit Melanchthon, sondern auch mit dem von der Wartburg zurückgekehrten Luther zusammentrafen. Ihr Besuch gab 1522 Luther den Anlass zu polemischen Schriften gegen die „Zwickauer Propheten“, ein Begriff, den Luther prägte. Es muss betont werden, dass es die „Zwickauer Propheten“ in Wirklichkeit nicht gab, sondern dass sie eine Erfindung der Polemik im 16. Jahrhundert und später der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts waren, wie durch die Forschung von Siegfried Hoyer 1986⁸ und kürzlich mit Nachdruck von Thomas Kaufmann 2010 aufgezeigt wurde. Kaufmann beschreibt die „Zwickauer Propheten“ als „relativ kurzlebige häresiologische Konstruktion,“ von Luther zwischen Januar und Mai 1522 verwendet: „Dauerhaftere historische Wirkungen konnten von dem als ‚Zwickauer Propheten‘ bezeichneten Personenkreis allein deshalb nicht ausgehen, weil sie keinerlei noch erkennbare Organisationsstruktur augebildet hatten, die Kohärenz ihrer religiösen und ideologischen Überzeugungen zweifelhaft war und die Intensität ihrer Aktivitäten und Interaktionen nach allem, was wir wissen, nicht über sehr vereinzelte
U. Bubenheimer, Thomas Müntzer. Herkunft und Bildung, Leiden/New York/Köln 1989, 216 – 229; J. M. Stayer, „Prophet, Apokalyptiker, Mystiker: Thomas Müntzer und die ‚Kirche‘ der Patriarchen, Propheten und Apostel,“ in J. M. Stayer, H. Kühne, Endzeiterwartung bei Thomas Müntzer und im frühen Luthertum, Mühlhausen i. Th. 2011, 5 – 25. Goertz, Müntzer, 77– 109. S. Hoyer, „Die Zwickauer Storchianer – Vorläufer der Täufer?,“ Jahrbuch für Regionalgeschichte 13 (1984), 60 – 78.
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Begegnungen mit außenstehenden Einzelpersonen oder Gespräche untereinander hinausging.“⁹ Dennoch irritierten Storch und Stübner ganz gewiss Luther und Melanchthon, und diese Irritation fiel auf Thomas Müntzer zurück. Der Stadtrat von Allstedt berief Müntzer im März 1523 auf eine Pfarrstelle an der Johanneskirche von Allstedt, dies geschah eigenmächtig, ohne den sächsischen Kurfürsten als eigentlich zuständigen Patron einzubeziehen. Allstedt war eine territoriale Enklave, die von altgläubigen Gebieten umgeben war, vor allem derer von Herzog Georg von Sachsen. Müntzer gelangt es, herzliche Beziehungen zu Simon Haferitz, dem anderen Pfarrer von Allstedt, aufzubauen wie auch zu Hans Zeiß, dem Vertreter der kurfürstlichen Verwaltung in der Enklave. Noch vor Ende 1523 führte Müntzer die Deutsche Evangelische Messe ein wie auch deutsche Liturgien für die Hochfeste des Kirchenjahres. Während die Einführung dieser Liturgien sich noch im Rahmen eines gemäßigten Ablaufs der Reformation bewegte (später schuf Luther seine eigene Deutsche Messe), machten Müntzers Übersetzungen der Bibelstellen innerhalb der liturgischen Texte seine eigenständige Lehrmeinung bezüglich der Erlangung des Glaubens durch spirituellen Kampf deutlich. In kleinen Schriften, die er 1523 veröffentlichte, äußerte Müntzer die Ansicht, dass die Einführung der Kindertaufe in den ersten Jahrhunderten ein Fehler war. Er achtete aber die Sache nicht als so bedeutend, dass er die Abschaffung der Kindertaufe forderte wie Karlstadt. Müntzer bemühte sich um freundschaftliche Beziehungen zu Luther und Melanchthon ungeachtet der gegenseitig bekannten Lehrunterschiede. Luther verwarf nicht wie Egranus das Alte Testament, gleichwohl hatte seine Theologie einen stärkeren Fokus auf das Neue Testament als Müntzer.Vielleicht schwerwiegender, Luther ging davon aus, dass die christliche Lehre auf Studium und Auslegung beruhe, während er die Idee der fortgesetzten Offenbarung durch den Heiligen Geist ablehnte. Luther verneinte direkte Inspiration durch den Heiligen Geist nicht absolut, er insistierte aber darauf, dass die direkte Inspiration sich durch die Fähigkeit authentifiziert, Wunder zu tun. Luther reklamierte für sich selbst keine direkte Inspiration und seine Haltung in dieser Frage war so eindeutig, dass er für die Propheten des Alten Testaments annahm, sie hätten ihre Erkenntnisse nicht direkt, sondern durch das Studium des Mose erhalten. Luther schien überzeugt davon, dass Persönlichkeiten wie Müntzer, die einem „sprechenden Gott“ folgten, bezüglich der Inspiration durch den Heiligen Geist in die Irre gehen. Luther glaubte im wörtlichen Sinne, dass sie nicht vom Geist, sondern vom Teufel inspiriert seien. Luthers eschatologische Ansichten waren konventioneller als die von Müntzer, er erwartete nicht die Bildung eines Königreiches Christi auf Erden und in der Geschichte. Die Wittenberger forderten Müntzer zu Lehrdiskussionen in Wittenberg auf, er aber wich diesem Druck aus. Allstedt geriet unter Druck, als Bauern der umliegenden katholischen Dörfer sich versammelten, um Müntzers Gottesdienste zu besuchen. Ihre Herrschaften erließen Verbote und bestraften ihre Untertanen. Münt-
T. Kaufmann, „Zwickauer Propheten“ und sächsische Radikale. Ein quellen- und traditionskritische Untersuchung zu einer komplexen Konstellation, Mühlhausen i. Th. 2010, 91.
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zer prangerte von der Kanzel aus den benachbarten Herrscher Graf Ernst von Mansfeld an. Schließlich bildeten die Allstädter Einwohner einen Bund, um sich selbst und ihre Nachbarn vor der Verfolgung um des Evangeliums willen zu verteidigen.¹⁰ Als die Gemeinde in Orlamünde aufgefordert wurde, sich diesem Bund anzuschließen, lehnten Karlstadt und seine Gemeinde es ab, das Evangelium mit Gewalt zu verteidigen.¹¹ Der öffentliche Bruch zwischen Luther und Müntzer begann im Juli 1524, als Luther seinen Brief an die Fürsten zu Sachsen von dem aufrührischen Geist veröffentlichte, in dem er Anstoß daran nahm, Müntzer habe „zu Allstett eyn nest gemacht, und denckt unter userm fride, schirm und schutz widder uns zu fechten.“¹² Beinahe zur selben Zeit, am 13. Juli 1524, hielt Müntzer im Allstedter Schloss eine Predigt zu Daniel 2 vor Herzog Johann und dessen Sohn Johann Friedrich. In ihr forderte er den Herzog auf, die Reformation in Allstedt gegen ihre katholischen Gegner zu schützen und drohte, sollte seine Obrigkeit ihn verlassen, würde die Gewalt von ihnen genommen und in die Hände des gemeinen Volkes gelegt. In den nächsten Wochen entwickelten sich die Dinge rasch. Die kurfürstlichen Autoritäten lösten den Allstedter Bund auf, verweigterten Müntzer den Zugang zu einem Drucker und vergewisserten sich der Loyalität des Schossen Hans Zeiß und des Allstedter Rates. Müntzer floh aus Allstedt in der Nacht vom 7. auf den 8. August 1524.¹³ Müntzer floh in die freie Reichsstadt Mühlhausen in Thüringen, wo die Reformation durch den radikalen Mönch Heinrich Pfeiffer angeführt wurde. Gleichzeitig konnte Müntzer die Publikation zwei seiner wichtigsten Schriften in Nürnberg sicherstellen: Ausgedrückte Entblößung des falschen Glaubens und Hochverursachte Schutzrede und Antwort wider das geistlose, sanftlebende Fleisch zu Wittenberg. Erstere enthielt eine substantielle Darlegung seiner Theologie, die zweite eine bittere Polemik gegen Luther.¹⁴ Der Verlauf der Reformation in Mühlhausen gestaltete sich nicht einfach. Müntzer und Pfeiffer wurden Ende September ausgewiesen. Pfeiffer kehrte im Dezember zurück, während Müntzer nach Wanderungen durch Süddeutschland im Februar 1525 Pfarrer an der Marienkirche wurde. Heinrich Bullinger berichtet, dass Müntzer von November 1524 bis Januar 1525 acht Wochen in Grießen im Klettgau verbrachte, wo er Augenzeuge der ersten Vorboten des Bauernkrieges wurde. Sollte Müntzer wirklich in Grießen gewesen sein, könnte er Balthasar Hubmaier begegnet
Goertz, Müntzer, 111– 138. S. Bräuer, „Der Briefwechsel zwischen Andreas Bodenstein von Karlstadt und Thomas Müntzer,“ in Querdenker der Reformation. Andreas Bodenstein von Karlstadt und seine frühe Wirkung, hg.v. U. Bubenheimer u. S. Oehmig, Würzburg 2001, 187– 210. WA 15,211,13 f. Stayer, „Prophet,“ 13 – 18. Ebd., 18 – 22.
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sein, der Pfarrer im nahen Waldshut war, sowie Konrad Grebel, welcher ihm in September 1524 über seine Vorbehalte gegenüber der Kindertaufe geschrieben hatte.¹⁵ Mühlhausen war kein sicherer Hafen für Müntzer, als er im Februar 1525 zurückkehrte. Die Reichsstadt hatte drei fürstliche Schutzherren: Landgraf Philipp von Hessen (lutherisch), Kurfürst Friedrich (der Weise) von Sachsen (lutherisch), und Herzog Georg von Sachsen (katholisch) – alle drei beteiligten sich daran, Müntzers Version der Reformation zu unterdrücken. Natürlich sah es Müntzer als ein Zeichen der Vorsehung, dass sich der Bauernkrieg im April 1525 nach Thüringen ausbreitete. Mühlhausen entsandte ein kleines Kontingent von 300 Männern unter Müntzers Führung, welches sich dem Thüringischen Bauernheer von 7.000 Mann in Frankenhausen anschloss. Müntzer wurde zu einem geistlichen Führer des Bauernheeres, welches am 15. Mai 1525 durch die vereinten Kräfte Hessens und des Herzogtums Sachsen vernichtend geschlagen wurde. Müntzer wurde gefangengenommen, als er dem Schlachtfeld entfliehen wollte, und nach Verhör und Folter am 27. Mai 1525 hingerichtet.¹⁶ Seitdem und sogar bis in seine Schriften gegen die Türken betrachtete Luther Müntzer als Inbegriff des Rebellen.
4 Diskussion der Sakramente und Luthers Begriff der „Schwärmer“ Karlstadt wurde im September 1524 etwa zur gleichen Zeit aus Sachsen ausgewiesen wie Müntzer aus Mühlhausen. Beide waren dem Chaos des beginnenden Bauernkrieges ausgesetzt. Karlstadt besuchte Straßburg, Basel und Zürich. Zeitweiligen Schutz fand er 1525 in Rothenburg ob der Tauber, einer Reichsstadt, die sich mit dem Taubertaler Haufen verbündet hatte und schwere Waffen bereitstellte. Später verneinte Karlstadt energisch jegliche Komplizenschaft mit dem Aufstand.¹⁷ Richtig ist, dass er kein Anführer der Rebellion wurde wie Müntzer. Sein Hauptanliegen waren seine Schriften gegen Luther, unterstützt durch seinen Schwager, dem Kölner Patrizier, Gerhard Westerburg. In Oktober/November 1524 ließ er 5.300 Exemplare von sieben antilutherischen Schriften bei Johannes Bebel und Thomas Wolf in Basel drucken. Diese Exemplare wurden durch den Buchhändler Andreas Castelberger und dessen Freund Felix Mantz erworben, beide Mitglieder der radikalen Reformergruppe in Zürich, welche am 21. Januar die ersten Erwachsenentaufen durchführten.¹⁸ Ulrich J. M. Stayer, „Sächsischer Radikalismus und Schweizer Täufertum: Die Wiederkehr des Verdrängten,“ in Wegscheiden der Reformation. Alternatives Denken vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, hg.v. G. Vogler, Weimar 1994, 174. Goertz, Müntzer, 181– 217. Goertz, „Reformation of Commoners,“ 10 – 11, 16. C. A. Pater, Karlstadt as the Father of the Anabaptist Movement. The Emergence of Lay Protestantism, Toronto-London 1984, 159 – 162, 290 – 294; in einigen Details besser: A. Zorzin, Karlstadt als Flugschriftenautor, Göttingen 1990.
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Zwingli, der führende reformatorische Pfarrer in Zürich, berichtete Ende 1524 von der großen Verbreitung von Karlstadts Pamphleten. Fünf dieser Schriften führten Karlstadts spirituelle Interpretation des Abendmahles fort. Der Umstand, dass die Schriften durch die Zensur in Basel genehmigt wurden, ließen Luther annehmen, dass Zwingli und Oekolampad gemeinsame Sache mit seinem Gegenspieler Karlstadt machten.¹⁹ In den Jahren nach seiner Rückkehr nach Wittenberg hatte Luther seine Lehre von der Realpräsenz von Leib und Blut Christi im Abendmahl ausgebaut. Er sah darin eine Rückkehr zur ursprünglichen christlichen Lehre, welche durch die Aristotelische und päpstliche Deutung der Transsubstantiation korrumpiert worden sei. Karlstadt vertrat ursprünglich eine ähnliche Abendmahlslehre wie Luther, hatte aber im Laufe seines Bruches mit Luther die Vorstellung der Realpräsenz zugunsten eines spirituellen/symbolischen Konzepts des Altarsakraments aufgegeben; dies war Teil seiner Hinwendung zu einer spiritualistischen Deutung von Taufe und Abendmahl.²⁰ Im Januar 1525 veröffentlichte Luther Wider die himmlischen Propheten, von den Bildern und Sakrament. Luther argumentierte, dass durch Karlstadts angebliche Unterstützung der Bilderstürmerei klar sei, dass Karlstadt „einen auffrürischen, mördischen, rottischen geyst bey sich“²¹ habe. Dies entspricht dem Muster, mit welchem Luther Karlstadt und dessen Gefolgsleute als „himmlische Propheten“, Enthusiasten, Fanatiker, Schwarmgeister, oder sein Lieblingsbegriff: als Schwärmer einstufte. Darin schloss Luther nicht nur Karlstadt ein, sondern auch Müntzer, Schwenckfeld, Oekolampad, Zwingli und jeden, der mit diesen übereinstimmte. Dieser Begriff ist weniger eine Erfindung als die „Zwickauer Propheten,“ da Luther ihn von 1525 an oft verwendete. Was auch immer Luther befürchtete, Andreas Karlstadt konnte keine große Schar an Gefolgsleuten um sich scharen. Karlstadt befand sich im Juni 1525 nach der Niederlage des Bauernheeres in Königshofen in großer Gefahr. Er kehrte nach Sachsen zurück und vertraute sich der Barmherzigkeit Luthers an. Dieser schütze ihn und seine Familie in der Tat, um den Preis, dass Karlstadt versprach, die Abendmahlslehre Luthers zu akzeptieren. Karlstadt durfte in der Nähe Wittenbergs wohnen, wurde aber de facto seines Pfarrerstandes enthoben und unter Aufsicht gestellt, er musste seinen Lebensunterhalt als Händler und Bauer fristen. Als er von seinem versprochenen Widerruf Abstand nahm und Verhaftung fürchtete, floh er 1529 abermals aus Sachsen. In Holstein unterstützte er den späteren Führer der Wiedertäufer, Melchior Hoffman, bei einer Disputation über Luthers Abendmahlslehre. In seinen letzten zehn Lebensjahren erfuhr Karlstadt eine erneute Anerkennung durch die Schweizer Reformatoren. 1530 verschaffte Zwingli ihm eine Stelle als Diakon am Großmünster in Zürich. 1534 siedelte er nach Basel über, wo er Pfarrer der Peterskirche und Professor für Altes Testament wurde. In U. Gäbler, Huldrych Zwingli. His Life and Work, Philadelphia 1986, 131– 132. A. Nelson Burnett, Karlstadt and the Origins of the Eucharistic Controversy. A Study in the Circulation of Ideas, Oxford 2011. WA 18,72,17.Vgl. auch R. J. Sider (Hg.), Karlstadt’s Battle with Luther. Documents in a Liberal-Radical Debate, Philadelphia 1978, 103.
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seinen letzten Jahren vor seinem Tod durch die Pest 1541, war Karstadt wieder ein geachteter Akademiker, wie er es in Wittenberg einst gewesen war.²² Als Karlstadt Ende 1524 mit den Basler Druckern zusammenarbeitete, versuchte er eine Polemik gegen Luthers Verteidigung der Kindertaufe zu veröffentlichen, wurde aber von Oekolampad und der Basler Zensur daran gehindert.²³ Felix Mantz und Andreas Castelberger verließen Basel und nahmen das unveröffentlichte Pamphlet Karlstadts mit. Man kann annehmen, dass Karlstadt für die Zürcher Radikalen wichtiger war als Müntzer, welcher mit Zwingli über die Vorzüge der Kinder- oder Erwachsenentaufe stritt. Konrad Grebel und Andreas Castelberger schrieben an Karlstadt, der mindestens einmal antworte und die Gruppe auch kurz im Oktober 1524 besuchte.²⁴ Grebel und seine Freunde äußerten in einem Brief an Müntzer vom September 1524 die Hoffnung, dass Karlstadt und Müntzer einig seien. Tatsächlich versicherte Müntzer zu dieser Zeit Oekolampad, dass er weiterhin die Kindertaufe ausübe, vermutlich weil er solche zeremonialen Angelegenheiten als sekundär und minder wichtig erachtete.²⁵ Die Gruppe, die am 21. Januar 1525 mit der Taufe von erwachsenen Gläubigen begann, sorgte sich mehr um die wörtliche Wiederherstellung der neutestamentlichen Praxis von Taufe und Abendmahl als dies Müntzer und Karlstadt taten.
5 Die Täufer Die Wiedertäufer in Süd- und Mitteldeutschland waren den Kontroversen von Luther, Karlstadt und Müntzer viel näher als die folgenden Auseinandersetzungen von Grebel und Mantz in Zürich. Sie akzeptierten und verbreiteten die Erwachsenentaufe in der Zeit nach dem deutschen Bauernkrieg 1525. Sie teilten die Ansichten Müntzers zum kontinuierlichen Wirken des Heiligen Geistes und sie waren nicht weniger biblizistisch am Neuen Testament orientiert als die Schweizer Täufer. Einige von ihnen waren persönlich intensiv in Müntzers dramatische letzte Tage in Mühlhausen und Frankenhausen involviert. Hans Denck tritt in die Geschichte der Reformation zuerst als ein an der Universität ausgebildeter Bibelhumanist und Korrektor im Basler Druckereigewerbe, gefördert durch Oekolampad. Auf dessen Empfehlung wurde er 1523 zum Rektor der St. Sebaldus Schule in Nürnberg berufen. Diese Stelle hatte er bis Januar 1525 inne, als er wegen Lehrabweichungen zur inzwischen in der Stadt etablierten Position Luthers ausgewiesen wurde. Denck hatte zu dieser Zeit seinen Humanismus mit mystischen Ideen Taulers und der Theologia Deutsch angereichert. Er lehnte Luthers gegen H.-J. Goertz, „Reformation of Commoners,“ 11. Ebd., 10. C. A. Snyder, „Swiss Anabaptism: the Beginnings, 1523 – 1525,“ in Companion to Anabaptism and Spiritualism, hg.v. Roth, Stayer, 59 – 60; Pater, Karlstadt, 141. Stayer, „Sächsischer Radikalismus,“ 262.
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Erasmus gerichtete Lehre der Prädestination ab und insistierte auf einem Element persönlicher Verantwortung im Heilsprozess. Für ihn gab es „etwas“, einen inneren Funken göttlichen Ursprungs, welcher es dem Menschen ermöglicht, das Gesetz der Liebe aus den Evangelien zu erfüllen. Die Erlösung kam durch Christus, kann aber nur angeeignet werden, indem man Christi Gebote folgt. Darüber hinaus betonte er die fortwirkende Tätigkeit des Heiligen Geistes in der menschlichen Geschichte, welcher notwendig ist, die Bibel zu verstehen. Genau genommen erfordert die Erlösung nicht, dass man die Heilige Schrift liest oder hört.²⁶ Nachdem er aus Nürnberg exiliert wurde, arbeitete Denck während des Bauernkrieges vermutlich als Schulmeister im thüringischen Mühlhausen, konnte aber im Mai 1525 vor der Kapitulation der Stadt fliehen. In Schwyz wurde er kurzzeitig inhaftiert wegen Stellungnahmen gegen die Kindertaufe, dann tritt er in täuferischen Kreisen in St. Gallen im September 1525 wieder in Erscheinung. Von dort ging er nach Augsburg, wo er bis Oktober 1526 blieb.²⁷ Es gibt keine genaue Information, wer Denck taufte oder ob er selbst überhaupt glaubte, dass er eine neue Erwachsenentaufe benötigte. Die erste klare Verbindung mit dem Wiedertäufertum ist seine Taufe des Hans Hut in Augsburg zu Pfingsten 1526.²⁸ Man kann vermuten, dass er die Erwachsenentaufe als adäquaten Ausdruck der radikalen Reformation ansah, nachdem die Augsburger Pfarrer eine Abendmahlstheologie übernommen hatten, die der in Straßburg und Zürich ähnlich war und die von der städtischen Elite akzeptiert wurde.²⁹ Denck übersiedelte von Augsburg nach Straßburg, welches zu dieser Zeit einen Schutzraum für alle Arten von Abweichlern gegenüber den offiziellen Kirchen der Reformation bot. Nach einer Disputation mit Martin Bucer, Straßburgs führendem Pfarrer, wurde Denck im Dezember 1526 ausgewiesen. Er wurde aus der Gruppe von Wiedertäufern herausgegriffen, weil er besonders gefährliche Lehren vertrat. Anfang 1527 ging er rheinabwärts nach Worms, wo er in Kontakt kam mit Pfarrer Jakob Kautz und dem gerade auf Wanderschaft befindlichen Bibelübersetzer Ludwig Hätzer. Bucer behauptete, dass Denck und Kautz in Worms versuchten, eine täuferische Gemeinde aufzubauen ähnlich der von Balthasar Hubmaier in Waldshut. Geoffrey Dipple hingegen meint, dass die Gruppe um Denck (in Worms) eher wie eine humanistische Bruderschaft mit gemeinsamen theologischen Interessen wirkt denn wie ein täuferischer Konventikel. Das bedeutendste Resultat dieser Gruppe war die gemeinsame Übersetzung der alttestamentlichen Prophetenbücher durch Denck und Hätzer. Lu-
Geoffrey Dipple, „The Spiritualist Anabaptists,“ in: Companion to Anabaptism and Spiritualism, hg.v. Roth/Stayer, 260 – 264; W. O. Packull, Mysticism and the Early South German-Austrian Anabaptist Movement, 1525 – 1531, Scottdale, PA, 1977, 35 – 61. G. Baring, „Hans Denck und Thomas Müntzer in Nürnberg 1524,“ Archiv für Reformationsgeschichte 50 (1959), 178 – 179. W. O. Packull, „Denck’s Alleged Baptism by Hubmaier. Its Significance for the Origin of South German-Austrian Anabaptism,“ Mennonite Quarterly Review 47 (1973), 327– 338. J. van Amberg, A Real Presence. Religious and Social Dynamics of the Eucharistic Conflicts in Early Modern Augsburg, 1520 – 1530, Leiden 2012.
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ther vermutete, dass bei dieser Übersetzung Juden mitgewirkt haben, was durchaus plausibel ist angesichts der bedeutenden jüdischen Gemeinde in Worms und dem Umstand, dass die Übersetzung der Propheten frei von tendenziösen christologischen Lesarten ist. Es gibt keinen Beweis, dass Denck seine heterodoxen Ansichten bis zum Anti-Trinitarismus weiterentwickelt hat, wie esbei Hätzer vor seiner Exekution in Konstanz 1529 der Fall war. Denck verließ Worms im Juli 1527 und nahm im August in Augsburg an einer Versammlung von mehr als 60 Wiedertäufern teil, die auch als „Märtyersynode“ bezeichnet wurde. Es hat den Anschein, dass zu diesem Zeitpunkt Denck Schwierigkeiten hatte, seine eigenen Ansichten mit den biblizistischen und separatistischen Meinungen der Wiedertäufer in Einklang zu bringen, die sich von der Schweiz nach Süddeutschland ausbreiteten. Er kehrte nach Basel zurück, wo er bei seinem früheren Fürsprecher Oekolampad Zuflucht suchte. Er traf im Oktober 1527 in Basel ein und starb im November an der Pest. Im Januar 1528 erschien posthum die Schrift Protestation und Bekenntnis (Widerruf), die unter Dencks Namen veröffentlicht wurde. Es ist viel diskutiert worden, ob Oekolampad diese posthume Schrift einer tendenziösen Bearbeitung unterzogen hat. Geoffrey Dipple hat die grundsätzliche Übereinstimmung zwischen Dencks Nürnberger Stellungnahme von Januar 1525 und der Schrift Protestation und Bekenntnis drei Jahre später hervorgehoben. Er zieht die Schlussfolgerung, dass die Schwierigkeiten Denck zu interpretieren daher rühren, dass man sein Denken zu sehr mit dem frühen Schweizer Täufertum in Einklang bringen wollte. Mit andern Worten: Bucer hatte zu Recht behauptet, dass es zwischen Denck und Michael Sattler eine große religiöse Differenz gab.³⁰ Michael Sattler ist am meisten bekannt für die Schleitheimer Artikel, nach einem Dorf im Kanton Schaffhausen/Schweiz benannt. Diese Artikel von Februar 1527 versuchten, eine einheitliche Lehre bei den Schweizer Täufern zu etablieren. Sie werden allgemein als der Beginn der Schweizer Brüder interpretiert, mit zwei Einschränkungen: (1) die Schleitheimer Artikel wurden nach Februar 1527 nicht uneingeschränkt von jedem anerkannt, der als Mitglied der Schweizer Brüder angesehen wird; (2) „konfessionelle“ Unterschiede waren im Täufertum vor März 1528 nicht greifbar, als eine Gruppe die Täufergemeinde in Nikolsburg (Böhmen) verließ und sich in Austerlitz niederließ. Davor (und außerhalb Böhmens noch viele Jahre danach) gehörten Unterschiede in Lehre und Praxis (wie wir sie zwischen den Täufern in Straßburg und Augsburg bemerkt haben) gerade zum Charakteristikum der „Täufer“. Einer der herausragendsten frühen Täufer war ohne Zweifel Hans Hut. Gottfried Seebaß, der ihn am besten untersuchte, betrachtete ihn als „Müntzers Erbe“.³¹ Hut war ein reisender Buchhändler, der Schriften Luthers vertrieb, gleichzeitig aber im engen Kontakt mit Müntzer war. Im September 1524 unterschrieb ein „Hans von Bibra“ den „ewigen Bund“, den Müntzer und Pfeiffer in Mühlhausen schlossen. Im Folgemonat
Dipple, „Spiritualist Anabaptists,“ 264– 271, besonders 268. G. Seebaβ, Müntzers Erbe. Werk, Leben und Theologie des Hans Hut, Gütersloh 2002; Packull, Mysticism, 62– 117.
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vertraute ihm Müntzer in Nürnberg die Publikation der Ausgedrückten Entblößung an. Im Mai 1525 nahm er als Nichtkombattant an der Schlacht bei Frankenhausen teil und konnte entfliehen. Zurück im heimatlichen Bibra unterstützte er weiterhin den bäuerlichen Widerstand. Selbst von Denck im Mai 1526 (wieder‐)getauft, gewann er Anhänger unter den Bauernkriegsveteranen seiner fränkischen Heimat. Man erwartete eine türkische Invasion, um die gottlosen Sieger der Schlacht 1525 zu strafen. Hut hatte eine apokalyptische Zeitrechnung entworfen, nach der die Niederlage der rebellischen Bauern von kosmischer Bedeutung war. Das Königreich Christi, welches Müntzer vorausgesagt hatte, würde tatsächlich kommen, aber ausgelöst durch eine übernatürliche Intervention, 42 Monate nach seinem Tod, wie in Offenbarung 11,1– 3 und 13,5 – 7 prophezeit war. Es scheint, dass Hut seine Taufmission als Teil der Versiegelung der 144.000 Auserwählten nach Offenbarung 7 und 14 ansah. Mit diesen Ideen wanderte Hut rasch durch Deutschland, Österreich und Böhmen und rekrutierte Mitstreiter, die auch Massentaufen durchführten. Seine Botschaft scheint er an die regionalen Gegebenheiten angepasst zu haben, so dass nicht alle seine Nachfolger gleich zu Rebellen gegen die behördlichen Autoritäten wurden. Auf der Augsburger „Märtyersynode“ im August 1527 hatte sich genug Opposition gegen Huts Ansichten gesammelt, so dass er versprach, seine apokalyptische Botschaft für sich zu behalten und sie als esoterische Wahrheit nur mit wenigen Auserwählten zu teilen. Im September wurde Hut von den Augsburger Behörden festgenommen. Im Verhör brandmarkte er ausdrücklich die Schweizer Regeln, nach welcher die Wiedertäufer das Tragen von Waffen und das Eidschwören ablehnten. Im Dezember schließlich starb er an den Folgen eines Feuers, welches er möglicherweise selbst legte, um aus dem Gefängnis auszubrechen. Das folgende Jahr 1528 sollte nach Huts Anhängern das Ende der Welt bringen. Hans Römers gescheiterter Versuch, die Stadtregierung von Erfurt am Neujahrstag 1528 zu stürzen, scheint durch Huts Zeitplan motiviert gewesen zu sein und war sicherlich auch dem Andenken Müntzers gewidmet.³² Die Enttäuschung der apokalyptischen Erwartung hat das sächsische spiritualistische Element im süddeutschen und böhmischen Täufertum vermindert, zugunsten einer stärkeren Verbindung mit dem neutestamentlichen Biblizismus, der das Schweizer Täufertum beherrschte. Nach Huts Verhaftung übernahm Augustin Bader die Führung der Täufergemeinde in Augsburg, immer noch in Hoffnung auf das Eintreten von Huts Vohersagen. Im August 1528 löste sich die Augsburger Täufergemeinde selbst auf ³³ – einer der wenigen Fälle, in der enttäuschte apokalyptische Erwartungen nicht auf irgendeine Weise rationalisiert wurden. In den folgenden Jahren bis 1535 herrschte im Schweizerisch-süddeutschen Täufertum das Ideal der Gütergemeinschaft, als Wiederherstellung der ursprünglichen neutestamentlichen Gemeinde nach Apostelgeschichte 2 und 4.
J. M. Stayer, Anabaptists and the Sword, Lawrence, KS, 1972, 190 – 193. A. Schubert, Täufertum und Kabbalah. Augustin Bader und die Grenzen der Radikalen Reformation, Gütersloh 2008.
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Freilich war dieses Ideal ausreichend ungenau, so dass es zu zahlreichen internen Schismen Anlass gab, vor allem in Böhmen, wo miteinander wettstreitende Bruderschaften dem Täufertum eine konfessionelle Heterogenität verliehen.³⁴ Die Spiritualisierung der Bibel nach Hut und Müntzer blieb unter den Austerlitzer und den Hutteren lebendig. Sie entwickelten eine Predigttradition, die auf der Geistinspiration von Laienpredigern beruhte und den toten Buchstaben der Bibel weit überlegen sei, die die Auslegung der ausgebildeten Pfarrer der von den Autoritäten unterstützen lutherischen und reformierten Kirchen prägte.³⁵
6 Kaspar von Schwenckfeld, Straßburg und Melchior Hoffman Eine weitere Persönlichkeit, die sich im Katalog der „falschen“ Theologen wiederfand und die Luther als Schwärmer verurteilte, war der schlesische Adlige Kaspar von Schwenckfeld. 1518 wurde er ein wichtiger Ratgeber von Friedrich II., Herzog von Liegnitz, dem er empfahl, die entstehende Reformation Luthers zu unterstützen. Gleichwohl verfasste er 1524 eine kritische Schrift gegen Luthers Theologie. Er argumentierte, dass Luthers Prädestinationslehre, seine Verurteilung der Werkgerechtigkeit sowie die Unterordnung des Gesetzes unter das Evangelium moralisch verderblich seien. 1525 beteiligte er sich an der Kontroverse um das Abendmahl. Die Einsetzungsworte Christi, so Schwenckfeld, seien wie folgt zu verstehen: „Mein leib / der für euch gegeben wird / IST daas / nemlich ein Brot“. Das Nahrungsmittel, welches die Christen im Abendmahl einnehmen, ist ein geistliches Nahrungsmittel, der verherrlichte Leib Christi. 1526 schlug Schwenckfeld vor, die Auseinandersetzungen um das Abendmahl zu vermeiden, indem die Abendmahlspraxis eingestellt würde (Stillstand), bis Gott die Wahrheit offenbare. Luther kritisierte Schwenckfeld energisch, der 1529 ins freiwillige Exil ging, um seinen Landesherren nicht zur Last zu fallen.³⁶ Ulrich Zwingli, ebenfalls einer von Luthers Schwärmern, starb im Oktober 1531 in der Schlacht von Kappel. Sogar die Straßburger Pfarrerschaft, die weitgehend sein Verständnis des Abendmahls unterstützte, sah darin ein Gottesurteil gegen einen Pfarrer, der zu den Waffen gegriffen hatte. Tatsächlich hatte Zwingli schon früher in diesem Jahr seine persönliche Beziehung zu Bucer abgebrochen, ausgelöst durch Bucers fortwährenden Versuche, mit Luther zu einem Kompromiss zu kommen.³⁷ Wie im Fall von Luthers Verhalten gegenüber der Wittenberger Bewegung 1522 kann man J. M. Stayer, The German Peasants’ War and Anabaptist Community of Goods, Kingston-Montreal 1991. M. Rothkegel, „The Living Word: Uses of the Holy Scriptures among Sixteenth-Century Anabaptists in Moravia,“ Mennonite Quarterly Review 89 (2015), 357– 404. P. C. Erb, „Schwenckfeld, Caspar von,“ Mennonite Encyclopedia, Bd. 5, Scottdale, PA-Waterloo, ON, 1990, 801. Gäbler, Zwingli, 147– 148, 150 – 151, 162.
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unmöglich übersehen, dass Bucers Verhalten in den 1530er Jahren auch eine politische Seite hatte. 1529 hatte Straßburg die Reformation übernommen, indem die katholische Messe unterdrückt wurde. Aber der Straßburger Bürgermeister Jakob Sturm hatte anfangs widerstrebt, seinen Pfarrern zu erlauben, in der Stadt eine neue religiöse Einheitlichkeit zu etablieren. Dies machte Straßburg zu einem Magneten für religiöse Dissidenten aller Couleur. 1531 hatte Straßburg sich dem Schmalkaldischen Bund angeschlossen, der antikatholischen Verteidigungsallianz, die von Hessen und Kursachsen ins Leben gerufen wurde. Der Preis für den Eintritt in den Bund war die Zustimmung zu Philipp Melanchthons Augsburger Konfession (1530), dem neuen Maß der Lutherischen Rechtgläubigkeit. Bucer erreichte die Zustimmung zu diesem förmlichen Luthertum nicht nur von seiner eigenen Stadtregierung, sondern mit viel Einsatz auch von einer Reihe weiterer gleichgesinnter süddeutscher Reichsstädte. Die Schweizer verfolgten ihren eigenen Weg, die Unterscheidung zwischen ihrer reformierten Kirche und dem Luthertum beibehaltend. Anlässlich der Unruhe, die durch das Münsteraner Täuferreich 1534 geschaffen wurde, beendete Straßburg seine geübte Toleranz gegenüber den religiösen Abweichlern. Schließlich reiste Bucer im Mai 1536 nach Wittenberg, um seine Differenzen mit Luther in der Abendmahlsfrage beizulegen.³⁸ Der junge Calvin, der sich 1538 bis 1541 aus Genf ausgewiesen in Straßburg aufhielt, lernte von Bucer (und Melanchthon), wie man Luther die Achtung gewährte, die er einforderte, ohne komplett mit ihm einer Meinung zu sein. Melchior Hoffman und Caspar von Schwenckfeld trafen in Straßburg in den Jahren 1529 und 1530 zusammen. Sie respektierten sich und lernten voneinander. In den 1520er Jahren war Hoffman, von Beruf Pelzhändler, als Missionar der Reformation in der baltischen Region unterwegs. Als er einige Schwierigkeiten mit lutherischen Pfarrern hatte, reiste er 1526 nach Wittenberg, wo Luther in einer Stellungnahme seine Rechtgläubigkeit attestierte. Dennoch sagte Hoffman bereits 1526 das Ende der Welt für 1533 voraus, eine Haltung, die er beibehielt trotz mancher Änderungen in seiner Lehre. Hoffmans Laienapostolat brachte Unordnung, Unruhen und Bilderstürmerei mit sich, was ihm Ärger mit der an der Universität ausgebildeten lutherischen Pfarrerschaft einbrachte, zumal die lutherische Reformation sich zunehmend im Baltikum durchsetzte. Hoffmans Rivalität mit den Pfarrern brachte ihn zunehmend in Zustimmung zu nicht-lutherischen Lehrpositionen. Die am meisten umstrittene lutherische Position betraf die Realpräsenz im Abendmahl. In der Flensburger Disputation fand sich Hoffman 1529 an der Seite Karlstadts, welcher gerade zum letzten Mal aus Sachsen ausgewiesen worden war, im Angriff auf Luther in dieser Frage. Im Ergebnis wurde Hoffman aus Skandinavien und dem Baltikum ausgewiesen, aber in Straßburg willkommen geheißen, wo die Pfarrer eine ähnliche Abendmahlslehre vertraten wie
M. Greschat, Martin Bucer. Ein Reformator und seine Zeit, 1491 – 1551, München 1990, 59 – 152.
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er. Hier traf Hoffman nicht nur Bucer und Capito, sondern auch Schwenckfeld und Täufer verschiedener Ausrichtung.³⁹ Schwenckfeld und die Täufer diskutierten natürlich in Straßburg über die Taufe. Schwenckfeld stimmte mit den Täufern darin überein, dass die Erwachsenentaufe eher in Einklang mit dem Neuen Testament stand. Dennoch sei die Kindertaufe, obwohl unbiblisch, zu erlauben (eine Position ähnlich der von Müntzer). Allein durch innere Reinigung verbinde sich der Gläubige mit dem Leib Christi. Als noch eigentümlicher und von großer Bedeutung für Hoffman, das täuferische Münster und die frühen Mennoniten erwies sich die Christologie Schwenckfelds. „Schwenckfeld bestand darauf, dass Jesu Menschheit nicht geschaffen, sondern von himmlischem Ursprung war, ein himmlisches Fleisch, in welchem sich die fortschreitende Vergöttlichung vollzog, die göttliche Natur immer weiter sich durchsetzte … In den Gläubigen eingepflanzt, entwickelt sich der Glaube parallel zu dem Weg, den das Göttliche in Jesu himmlischen Fleisch nahm, und führt den Gläubigen durch Leiden zur Herrlichkeit ….“⁴⁰ Obwohl Hoffman immer die Originalität und Überlegenheit seiner Christologie betonte, lag der einzige Unterschied zu Schwenckfeld in der Vereinfachung, dass Christi Fleisch vom Himmel herunter kam und in seine Mutter Maria eingepflanzt wurde.⁴¹ In beiden Fällen wurde die menschliche Natur Christi, die Lehre des Konzils von Chalcedon, erheblich abgeschwächt. Durch das 16. Jahrhundert hindurch und bis ins 17. Jahrhundert hinein blieb dies die Christologie der Niederländischen Mennoniten. Die andere Eigentümlichkeit von Hoffmans Straßburger Theologie bestand in einem wechselseitigen Bund zwischen Gott und dem einzelnen Menschen. Der Mensch ist von sich aus sündig und kann nur durch die Gnade des sündlosen Christus erlöst werden. Diese Gnade wird jedem zuteil und die erlöste Person ist vollständig in der Lage, auf Gottes Gnade durch ein wiedergeborenes Leben zu antworten. Wer aber diesen Bund wissentlich und mutwillig (mit etwas mehr als einem bloßen Stolpern oder Ausrutschen) verlässt, ist unwiderruflich verloren – von hier stammt die charakteristische Melchioritische Lehre von der unvergebbaren Sünde. Die Taufe des erwachsenen Gläubigen ist das wissentlich und verantwortlich eingegangene Siegel des Bundes; es ist sein Symbol, der Ring, den Christus seiner menschlichen Braut gab. Allerdings betonte Hoffman die Taufe nicht so sehr wie typische täuferische Führer: wie bei Hans Denck wissen wir nichts über seine eigene Taufe. Für Hoffman immer sein war Selbstverständnis nach Offenbarung 11 wichtig, einer der zwei Zeugen der letzten Tage zu sein: die Tradition verband diese zwei Zeugen mit Elijah und Enoch, die beiden lebendig in den Himmel Aufgenommenen. In Anschluss an die Straßburger Propheten war er überzeugt davon, der apokalyptische Elijah zu sein. Was genau in den letzten Tagen geschehen würde, blieb unklar, enthielt aber Anklänge von ge K. Deppermann, Melchior Hoffman. Soziale Unruhen und apokalyptische Visionen im Zeitalter der Reformation, Göttingen 1979, 36 – 138. Erb, „Schwenckfeld,“ Mennonite Encyclopedia, Bd. 5, 802. Deppermann, Hoffman, 186 – 191.
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rechtfertigter Gewalt. Die unmittelbare Gefolgschaft des Propheten würde alle Gewalt meiden, aber von Gott eingesetzte Herrscher wie die Straßburger Stadtregierung unterstützen, die dem Angriff des imperialen Drachen in der letzten Drangsal widerstehen würde.⁴² Melchior Hoffman, wie Hans Hut vor ihm, kombinierte seine Taufmission mit einer apokalyptischen Botschaft. Er begann 1530 in Emden Gläubige zu taufen, als er eine Reise von Straßburg nach Ostfriesland unternahm. Ostfriesland war eine unabhängige Region, die an die Habsburgischen Niederlande grenzten, welche damals ihre Hauptstadt in Brüssel hatten. Ostfriesland war offen für verschiedene Spielarten des Protestantismus, da seine Herrscher und Aristokraten dem Protestantismus freundich gegenüberstanden. Die niederländische Regierung versuchte katholische Rechtgläubigkeit durchzusetzen, war aber wenig erfolgreich wegen des hartnäckigen Unabhängigkeitsstrebens seiner Provinzen und Städte. Das ganze Land war von einer breiten Sympathie gegenüber der Reformation geprägt, sowohl unter den Laien wie bei den Klerikern. Als Hoffman in den Niederlanden zu taufen began, riskierte nur eine kleine Minderheit die Taufe, angezogen durch seine apokalyptische Botschaft. Einige seiner prominenten Anhänger wurden in Den Haag 1531 exekutiert. Hoffman war schockiert und erklärte einen zweijährigen Stillstand – die Taufe aussetzend bis 1533, für das er das Ende der Welt erwartete. Die apokalyptische Botschaft breitete sich in den Niederlanden und umgrenzenden Territorien im Untergrund aus.⁴³ 1533 wurde Hoffman in Straßburg verhaftet, welches nun weniger tolerant war. Seine verwaiste Bewegung fiel in die Hände des Jan Matthijs, einem Bäcker aus Haarlem, welcher sich selbst als der apokalyptische Enoch ansah.⁴⁴
7 Das Täuferreich in Münster, David Joris, Menno Simons und Pilgram Marpeck 1533 verband sich das von Hoffman begründete apokalyptische Täufertum mit einer radikalisierenden urbanen Reformation im nahen Münster/Westfalen. Die Stadt war eine teilweise unabhängige Stadt, welche von einem Rat und einer Versammlung der Gildenmeister regiert wurde, unter der Oberaufsicht eines Fürstbischofs. Seine Reformation wurde angeführt durch Bernhard Rothmann, einem lokalen Pfarrer mit starker Unterstützung durch die Gilden und die weniger privilegierten Stadtbürger. Unzufrieden mit dem Luthertum, welches die reformatorischen Territorien Deutschlands durchdrang, entschieden Rothmann und seine Pfarrerkollegen sich für eine symbolische Deutung des Abendmahls und für eine theoretische Unterstützung der Erwachsenentaufe (ohne sie tatsächlich in die Praxis umzusetzen). Die Präsentation
Ebd., 176 – 186, 191– 235. Ebd., 271– 288. Ebd., 288 – 293.
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des von Münsteraner Pfarrern verfassten Bekenntnis von beiden Sakramenten, Taufe und Nachtmahl vor einer Gruppe von Täufern in Amsterdam im Dezember 1533 gab Jan Matthijs die Gelegenheit, die Wiederaufnahme der Erwachsenentaufe zu proklamieren und das Ende der Welt für Ostern 1534 vorherzusagen.⁴⁵ Januar 1534 tauften zwei Gewährsmänner des Jan Matthijs’ Rothmann und seine Pastorenkollegen in Münster. Im Laufe der nächsten zwei Monate führten innere Kämpfe zur Flucht von Katholiken und Lutheranern aus der Stadt und zum Einzug von täuferischen Flüchtlingen aus der Umgebung. Ende Februar gewannen die Täufer und ihre Anhänger die regulären Ratswahlen. Der Bischof von Münster antwortete mit einer Belagerung der Stadt. Melchior Hoffman hatte nicht das Schweizer Prinzip der Täufer gelehrt, dass wahre Christen ein Regierungsamt vermeiden sollten. Die Münsteraner Täufer scheinen die Belagerung in einer Stimmung kommunaler Selbstverteidigung widerstanden zu haben. Der Prophet Jan Matthijs wurde beim einem Ausbruchsversuch am Ostersonntag, den 5. April 1534, getötet, dem von ihm als Ende der Welt vorhergesagte Tag.⁴⁶ In diesem Moment übernahm sein Stellvertreter, Jan Beukels von Leiden, die Führerschaft und etablierte ein theokratisches Regime, zunächst mit einem Rat der Zwölf Ältesten, und dann im September 1534 mit einem Königtum, welches behauptete, die einzige legitime Regierung der Welt zu sein. Die Täufer schlugen zwei Aufstände nieder und übten einen effektiven Widerstand aus, bis durch die Blockade die Versorgung der Stadt unmöglich wurde. Rothmann wurde zum Publizisten des Regimes, der die in Münster geübte Gütergemeinschaft sowie die Einordnung der weiblichen Überzahl in polygame Familien verteidigte. Er behauptete, dass König Jan van Leiden der neue David sei, wodurch die Vorhersagen der Schrift erfüllt seien und rief die Täufer der Umgegend auf, das Schwert der Rache für die Münsteraner Täufer zu ergreifen.⁴⁷ Das Spektakel des Münsteraner Täuferreichs stellte Material für eine zeitgenössische Pamphletliteratur bereit (Neue Zeitungen). Diese Täufer waren die ultimativen Schwarmgeister, die folgerichtige Frucht ihrer schlechten theologischen Samen. Noch vor dem Fall des Täuferreichs am 25. Juni 1535 begannen Rothmanns Schriften den finalen Kollaps vorwegzunehmen und das Ende der Welt in nochmals 42 Monaten vorherzusagen – auf gleiche Weise, wie Hut auf Müntzers Ende reagierte.⁴⁸ Im umliegenden Westfalen hielten tatsächlich viele Täufer diese Hoffnung auf ein Ende 1538 am Leben.⁴⁹ David Joris von Delft, der spiritualistische Führer der Melchioritischen Überbleibsel in den Niederlanden präsentierte sich selbst als der versprochene David, er mag apokalyptische Erwartungen für 1538 gehabt haben. 1539
W. de Bakker, M. D. Driedger, J. M. Stayer, Bernhard Rothmann and the Reformation in Münster, 1530 – 35, Kitchener, ON, 2009, 89 – 142. Ebd., 142– 169. Ebd., 169 – 201. Ebd., 201– 205. K.-H. Kirchhoff, „Die Täufer im Münsterland: Verbreitung und Verfolgung des Täufertums im Stift Münster, 1533 – 1550,“ Westfälische Zeitschrift 113 (1963), 1– 109.
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nahm Joris Zuflucht bei Unterstützern in Antwerpen, schließlich übersiedelte er 1544 unter einem angenommenen Namen nach Basel. Er wurde zunehmend zu einem geheimnisvollen Kultführer, der eine umfangreiche Korrrespondenz unterhielt.⁵⁰ Ab 1539 wurde der ehemalige Priester Menno Simons der Führer der Melchioriten. In der erste Auflage seines klassischen Fundaments (Dat fundament des christelycken leers, 1539/40) anerkannte Menno, dass zumindest einige seiner Anhänger für Münster gekämpft hatten: „Ich zweifle nicht dass unsere lieben Brüder, die einst ein wenig gegen den Herrn aufbegehrt haben, als sie ihren Glauben mit Waffen verteidigen wollten, einen gnädigen Gott finden.“⁵¹ Für weitere zwei Dekaden waren die täuferischen Mennoniten die sichtbare protestantische Minderheit in den Habsburgischen Niederlanden, die einer extremen Verfolgung ausgesetzt waren. Die Vielgestaltigkeit der täuferischen Lehre kann nicht besser illustriert werden als durch Pilgram Marpeck, dem Sprecher in Lehrangelegenheiten für die Austerlitzer Brüder in Böhmen. Rothmanns Bekenntnis von 1533 stellte die Basis für Marpecks Vermahnung von 1542 dar; aber in seinen Schriften gegen die täuferischen Spiritualisten verarbeitete Marpeck auch Material aus Luthers Wider die Himmlischen Propheten. Er präsentierte eine vollkommen rechtgläubige chalcedonische Christologie mit voller Betonung auf das Menschsein Christi, und mit Blick auf die Sakramente unterschied er zwischen dem Zeugnis des Heiligen Geistes und und dem zusätzlichen Zeugnis der Sakramentselemente Wasser, Brot und Wein, dies kommt Luthers Verständnis der Sakramente als Ausdruck des Wortes Gottes nahe. Marpeck und sein Mitarbeiter Leupold Scharnschlager formulierten einen Biblizismus, in welchem das Alte Testament als „Schatten“ auf das „Versprechen“ des Neuen Testaments weist. Einige von Marpecks Ideen wurden vermutlich von den Schweizer Brüdern im späteren Verlauf des 16. Jahrhunderts aufgenommen.⁵²
8 Die Täufer in Mitteldeutschland und Martin Luther In einem Verhör in Mühlhausen erklärte 1537 eine täuferische Frau, dass ihr Glauben auf den Lehren Müntzers und Pfeiffers beruhe.⁵³ Man kann davon ausgehen, dass sie nie von Konrad Grebel oder Michael Sattler gehört hat. Natürlich insistierte der Mühlhausener Rat im selben Moment, dass 1524 und 1525, als Thomas Müntzer Pfarrer der Stadt war, niemand etwas von Wiedertaufe gehört habe. Die Geschichte des
G. K. Waite, David Joris and Dutch Anabaptism, 1524 – 1543, Waterloo, ON, 1990. H. W. Meihuizen, Menno Simons, Dat Fundament des Christelyken Leers, opnieuw uitgegeven en van een engelse inleiding voorzien, Den Haag 1967. William Klaassen, Walter Klaassen, Marpeck. A Life of Dissent and Conformity, Scottdale, PA, 2008; M. Rothkegel, „Anabaptism in Moravia and Silesia,“ in Companion to Anabaptism and Spiritualism, hg. von Roth/Stayer, 163 – 215; C. A. Snyder, „The (Not-so) ‚Simple Confession‘ of the Later Swiss Brethren,“ Mennonite Quarterly Review 73 (1999), 677– 722; 74 (2000), 87– 122. Stayer, Anabaptists and the Sword, 189 – 190.
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Täufertums im sächsischen und thüringischen Heimatland Luthers, Karlstadts und Müntzers erfährt gegenwärtig erhöhte Aufmerksamkeit. Anders als in Böhmen, wo sich das Täufertum ab 1528 in kleinen Gemeinden entwickelte, reisten hier wiedergetaufte Anhänger von Dorf zu Dorf, ohne Fraktionen und Gruppen zu gründen, die einem bestimmten Täufer loyal waren. Die bedeutendsten geographischen Zentren des Täufertums in dieser Region befanden sich um Mühlhausen und Frankenhausen, was auf eine Verbindung des sächsisch-thüringischen Täufertums mit der Erinnerung an Müntzer und den Bauernkrieg hinweist. Einer der Führer, Jakob Storger, erklärte 1537: „Muntzers lere sey recht gewest … und bewerets damit, das er das euserliche Schwert mit dem innerlichen Wort gefurt habe.“⁵⁴ Die Komplexität der Herkunft der mitteldeutschen Täufer kann nirgends besser illustriert werden als an der Karriere von Thüringens prominentesten Täuferführer, Melchior Rinck. Nach Besuch der Universität wurde Rinck ein Unterstützer der Reformation, der ein Pfarramt im hessischen Echardtshausen inne hatte. 1524 nahm er Partei für Müntzer gegen Luther. Er nahm an der Schlacht von Frankenhausen teil, konnte fliehen und erklärte, ähnlich wie Hut, dass er Müntzers Werk fortsetzen würde. Zunächst verließ er die gefährliche Gegend von Mitteldeutschland und trat 1527 in Worms wieder in Erscheinung, wo er mit den spiritualistischen Täufern Hans Denck und Jakob Kautz verbunden war. Im darauffolgenden Jahr 1528 kehrte er wieder in die Grenzregion zwischen Hessen und Kursachsen zurück, wo er seine lange täuferische Karriere bis zu seinem Tod nach 1550 fortsetzte. Philipp von Hessen setzte ihn 1531 gefangen, lehnte aber die kursächsische Forderung nach Hinrichtung ab. In den folgenden 20 Jahren gab Rinck ein Beispiel von Durchhaltevermögen ab, indem er Gelegenheiten zum Widerruf ablehnte, die die Freilassung aus dem Gefängnis bedeutet hätte. Seine Ablehnung des Luthertums gründete auf der weitverbreiteten populären Meinung, dass die neuen Prediger keine moralischen Früchte hervorgebracht hätten. Er glaubte, dass die Taufe nur ausgeführt werden könne, wenn ein junger Mensch das Alter der moralischen Zurechnungsfähigkeit erlangt habe.⁵⁵ Einer der letzten großen Anstrengungen, Rinck zum Widerruf zu bewegen, wurde von Peter Tasch unternommen. In einem Marburger Kolloquium von 1538 hatte Bucer in seiner charakteristischen Flexibilität Tasch und eine Gruppe von hessischen Melchioriten überreden können, dem Täufertum abzusagen im Tausch für eine in der hessischen Kirche eingeführte Konfirmation, die den jungen Menschen die Bedeutung ihrer Kindertaufe einschärfen und so Kirchendisziplin herstellen würde.⁵⁶ So ein Kompromiss hätte auch für Rinck attraktiv sein können, aber seine bittere Erfahrung ließ ihn daran festhalten, dass nur eine wirklich christliche Kirche und christliche Regierung den
http://www.bauernkriege.de/verhoer.html. Vgl. auch K. Hill, Baptism, Brotherhood, and Belief in Reformation Germany: Anabaptism and Lutheranism, 1525 – 1585, Oxford 2015, 33 – 97, 204– 208, besonders 95. J. S. Oyer, Lutheran Reformers against Anabaptists. Luther, Melanchthon and Menius and the Anabaptists of Central Germany, Den Haag 1964, 52– 66, 75 – 113. Greschat, Bucer, 163 – 166.
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Menschen religiöse Freiheit bringen würde. Oder, wie John S. Oyer die Angelegenheit zusammenfasst: „Rinck brach eine Lanze gegen den weitverbreiten Gebrauch des Begriffs Schwärmer … für alle Personen, die nicht mit den lutherischen Fürsten und Theologen einverstanden waren.“⁵⁷ Martin Luther und Philipp Melanchthon gehörten zu den sächsischen Berühmtheiten, die Philipp von Hessen zu überzeugen suchten, Rinck hinzurichten. In Luthers Hauptwerk gegen die Täufer, Von der Wiedertaufe, an zwei Pfarrherrn, verfasst Anfang 1528 auf dem Höhepunkt der Hinrichtungswelle gegen Täufer, vor allem in katholischen Territorien, insistierte er darauf, dass der Glaube eine Sache des persönlichen Gewissens sei und dass es abscheulich sei, wenn Landesherren Menschen wegen Häresie exekutierten. Er schrieb weiter, dass er nicht viel über das Täufertum wisse, da es sich in Kursachsen nicht stark verbreitete habe, gleichwohl betrachtete er jeden, der die Kindertaufe ablehnte, als Schwärmer. Melanchthon hatte frühe Zweifel an der Kindertaufe, die noch auf den Besuch Markus Stübners in Wittenberg 1521 zurückgingen.⁵⁸ Luthers grundsätzliche Position war, dass die traditionellen Praktiken der katholischen Kirche gültig blieben. Taufe und Abendmahl, wie die Schrift und wie der inkarnierte Christus, sind materiale Ausformungen des Wortes Gottes. Wer dies verneinte, war grundsätzlich ein Schwärmer. Melanchthon konnte Luther bald davon überzeugen, dass obwohl die katholischen Hinrichtungen verwerflich seien, in den Gegenden, wo das Evangelium rein verkündet wurde, etwas gegen den Aufruhr getan werden müsse. Rincks Fall zeige, dass er in das Grenzland zwischen Hessen und Kursachsen zurückgekehrt sei, obwohl er ausgewiesen war. Dies sei ein klarer Fall von Ungehorsam. Weiterhin sei es Blasphemie, falsche Lehre zu verbreiten und Rincks Vergangenheit habe gezeigt, dass eines zum anderen führe und seine an sich friedliche Botschaft im Grunde an die Gewalt Müntzers und Münsters erinnere.⁵⁹ Tatsächlich war es allgemeine Praxis in den lutherisch geführten Territorien des Reiches, sich dem Reichstagsbeschluss von 1529 zu widersetzen, der die Todestrafe für Wiedertaufe vorsah. Ab 1531 beschützte der Schmalkaldische Bund jene Fürsten und Reichsstädte, die sich weigerten, Täufer hinzurichten. Die gefährlichsten Gegenden für Täufer innerhalb der protestantischen Gebiete waren die reformierte Schweiz und Kursachsen. Dennoch wissen wir, wie Claus-Peter Clasens Studie zum Täufertum darlegt, nur von 21 Hinrichtungen in Kursachsen angesichts von mehr als 2.000 täuferischen Märtyrern während der Reformationszeit. In der frühen Reformation, Luthers Wortschwall zum Trotz, waren es katholische Herrscher, die radikale Reformer töteten. Lutherische und Reformierte Führer schützten sie im Allgemeinen oder verschonten immerhin ihr Leben. Das Zentrum einer fortgesetzten protestantischen Brutalität war nicht das lutherische Sachsen, sondern das Schweizerische Bern.⁶⁰ Oyer, Lutheran Reformers, 64. Ebd., 116 – 124. Ebd., 140 – 178. C.-P. Clasen, Anabaptism. A Social History, 1525 – 1618: Switzerland, Austria, Moravia, South and Central Germany, Ithaca-London 1972, pp. 358 – 422; J. M. Stayer, „Numbers in Anabaptist Research,“ in
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Martin Luthers größte Leistung war, dass er seine persönliche Autorität über den deutschen Teil der Reformation bis zu seinem Tod 1546 aufrecht erhalten konnte, dem Vorabend des Schmalkaldischen Krieges 1546 – 47. Entgegen Luthers eigener Deutung und die späterer Generationen, ausgebaut durch die Lutherische Orthodoxie (Gottes Wort und Luthers Lehr, Wird vergehen nimmermehr) und wiederbelebt in der LutherRenaissance des 20. Jahrhunderts, beruhte seine Autorität nicht auf einer konsistenten und unwandelbaren Lehre. Luthers Schriften waren nicht systematisch, und De servo arbitrio (1525) war keine Ankündigung, von der er nie abrückte. Dennoch definierte er zeitlebens die Schwärmer als solche, die sich nicht seiner Position fügten. Sie seien Menschen, die dachten, vom Heiligen Geist inspiriert zu sein, in Wahrheit aber vom Teufel besessen sind. Als die Kategorie der Schwärmer im 20. Jahrhundert durch seriöse Wissenschaftler wieder in Anwendung kam, zuerst bei Karl Holl und später bei John Howard Yoder, war ihr Gebrauch nicht unähnlich der bei Luther. Auch wenn für Holl und Yoder nicht explizit der Teufel hinter den Schwärmern stand, so waren sie doch, wie für Luther, Menschen, die nicht dem Standard der wahren Religion entsprachen.⁶¹
C. A. Snyder (ed. by), Commoners and Community. Essays in Honour of Werner O. Packull, Scottdale, PAWaterloo, ON, 2002, 58 – 60. K. Holl, „Luther und die Schwärmer,“ in Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 1: Luther, 2. Ausgabe, Tübingen 1923, 420 – 467; H. Fast (Hg.), Der linke Flügel der Reformation. Glaubenszeugnisse der Täufer, Spiritualisten, Schwärmer und Antitrinitarier, Bremen 1962.
Guido Mongini
Die „dritten Sekten“ Die italienischen Häretiker und die Kritik an der protestantischen Reform (1530 – 1550)
1 Das Scheitern der Reform in Italien: Ein kurzer Überblick In der bekannten Schrift von 1552 gegen die Praxis der Simulation von Religiosität, Esortazione al martirio, des ehemaligen Augustinermönchs Giuliano Della Rovere (auch Giulio da Milano genannt), der ab 1543 aus religiösen Gründen in Graubünden in der Verbannung lebte, klagte er einige italienische Häretiker an, dass sie „mescolato il papesimo con l’anabatesimo“ [„Papsttum und Anabaptismus vermischt“] und so „cominciato a fare una terza setta“¹ [„begonnen hätten, eine dritte Sekte zu gründen“]. Ab 1546 war er calvinistischer Pastor der Kirche von Vicospano und ab 1547 von Poschiavo, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1581 blieb. Auch wenn Giulio da Milano in diesem Fall besonders die Bewegung der Täufer und die Doktrin des „satanischen Giorgio aus Sizilien“, oder genauer gesagt des Benediktinermönchs Giorgio Rioli (auf den wir später noch zu sprechen kommen), dem Haupt der „Sekte des Giorgio“, hatte treffen wollen, ging sein Aufruf doch weit über diesen Einzelfall hinaus. Unfähig, von seiner Position als unnachgiebiger Calvinist abzurücken, erkannte er doch beim Blick auf subversive religiöse Doktrinen ganz klar die Gefahr, die sie für die neue Orthodoxie der Calvinistischen Kirche darstellten, soweit sie es ihren Anhängern erlaubten, sich der klaren Wahl zwischen dem Antichristen von Rom und dem strengen neuen Jerusalem des Calvin aus Genf zu entziehen, und damit ein Hindernis für die triumphale Behauptung Calvins darstellten, dass es nur eine einzige „wahre Kirche“ gebe.² Abgesehen von der Polemik des ehemaligen Augustinermönches gegen den Nikodemismus muss man zusammenfassend feststellen, dass der Erfolg der Reformation in Italien sehr eingeschränkt war, Lassen wir die Polemik von Giulio da Milano
Übersetzung: Stephan Matthes. Vgl. G. da Milano (Giulio Della Rovere), Esortatione al martirio, 2. Aufl., o.O., 1552, 145; D. Cantimori, Eretici italiani del Cinquecento, 2. Aufl., Turin 1992, 72. Vgl. auch M. Firpo, Riforma protestante ed eresie nell’Italia del Cinquecento. Un profilo storico, Rom/Bari, 1993, 17– 18, 74– 75, 157 u. siehe Index der Namen; Ders., Juan de Valdés e la Riforma nell’Italia del Cinquecento, Rom/Bari, 2016, siehe Index der Namen; A. Prosperi, L’eresia del Libro Grande. Storia di Giorgio Siculo e della sua setta, Mailand, 2000, siehe Index der Namen. Vgl. bei Milano, Esortatione al martirio, 145, 147. https://doi.org/9783110498745-029
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gegen den Nikodemismus stehen. Doch muss man feststellen, dass sie bis zum Jahr 1580 keine Bedeutung mehr hatte, obwohl die Lehren Luthers schon seit den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts eine weite Verbreitung in Italien gefunden hatten, die besonders nach der Plünderung Roms 1527 und dem sich stark ausweitenden religiösen Dissens in den dreißiger und vierziger Jahren zu einer Zunahme von Gruppen, Gemeinden und echter protestantischer Kirchen bis in die sechziger Jahre des Jahrhunderts geführte hatte.³ Seit dem 18. Jahrhundert sind zahlreiche Untersuchungen über die „Reformation in Italien“ durchgeführt worden, die die Hauptgründe für ihr Scheitern aufzeigen, von denen wir uns auf die drei wichtigsten Punkte konzentrieren wollen.⁴ Vor allem ist die unterdrückende Aktivität der kirchlichen Gerichte, genauer gesagt, der Inquisition, herausgestellt worden, auf die sich die Forschungen nach der Öffnung der vatikanischen Archive des Heiligen Officiums im Jahr 1998 immer mehr konzentriert haben.⁵ Ein zweiter Punkt ist die durch die Kirche Roms selbst begünstigte Erneuerung, die Stück für Stück vorangetrieben wurde, sei es mit der schrittweisen Umsetzung des Konzils von Trient oder durch die Aktivitäten der neuen und alten Orden, insbesondere der Kapuziner und Jesuiten, und die Aktivitäten anderer miteinander verbundener Instanzen, die in die sogenannte katholische Reform einflossen (Das Konzil von Trient und die neuen Orden waren selbst ein Teil davon).⁶ Der letzte Punkt betrifft die fehlende Teilnahme der Adligen und Aristokraten, also der weltlichen und politischen Elite an der Reformation. Diese Ergebnisse sind in den letzten Jahren von der Geschichtsschreibung vertieft und bestätigt worden. Die Forschung hat auch dazu beigetragen, neue Erkenntnisse über die Verbreitung von Bewegungen und Ideen Heterodoxer in Italien zu gewinnen. Jüngste Forschungen,⁷ die die Reform in Frankreich mit der in Italien vergleichen, stellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Laiengerichten in Frankreich und den religiösen Gerichten Italiens in Bezug auf die sehr unterschiedlichen Ergebnisse ihrer Arbeit heraus. Die Gerichte in Italien waren bei der Unterdrückung der Heterodoxie sehr viel effizienter als die französischen. Außerdem muss hervorgehoben werden (hier ist die Forschung aber noch nicht abgeschlossen), dass nicht
Vgl. generell Firpo, Riforma protestante ed eresie, passim; weitere spezifische Untersuchungen werden im Folgenden zitiert. Siehe auch die Zusammenfassung von L. Felici, La Riforma protestante nell’Europa del Cinquecento, Rom, 2016, 147 ff. Für eine ausführliche Zusammenfassung der Geschichtsschreibung bezüglich des Arguments der Reform in Italien vgl. M. Firpo, „La Riforma italiana del Cinquecento. Le premesse storiografiche“, in: ders., „Disputar di cose pertinente alla fede“. Studi sulla vita religiosa del Cinquecento italiano, Mailand, 2003, 11– 66. Siehe auch Ph. Benedict, S. Seidel Menchi und A. Tallon (Hg.), La Réforme en France et en Italie. Contacts, comparaisons et contrastes, Rom, 2007, und L. Felici (Hg.), Ripensare la Riforma protestante. Nuove prospettive degli studi italiani, Turin, 2015. Vgl. für eine Gesamtübersicht A. Del Col, L’Inquisizione in Italia. Dal XII al XXI secolo, Mailand, 2006. Urheber dieser Ansicht in der Geschichtsschreibung ist der Band von H. Jedin, Riforma cattolica o Controriforma?, Brescia, 1957. Vgl. Benedict, Seidel Menchi und Tallon (Hg.), La Réforme en France et en Italie.
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nur die politische und staatliche Zersplitterung Italiens, genauer die politische Schwäche der italienischen Fürsten, ein Hindernis für die Verbreitung der Reformation auf der Ebene weltlicher Macht darstellte, sondern auch die weitreichenden feudalen Beziehungen zwischen dem Papsttum und der politischen Elite bei der Verwaltung größerer Güter und dem überwiegenden Teil kleiner Güter in ganz Italien (nicht nur im Vatikanstaat). Die großen Bistümer und die großen Klöster waren immer Apanagen der Mitglieder großer aristokratischer Familien oder des nicht vom Handel lebenden Großbürgertums und wurden direkt von den Päpsten im Konsistorium vergeben. Sie bildeten somit ein starkes Instrument, um die Adligen und die Eliten Italiens zu kontrollieren und abhängig zu machen, weil ihr Wohlstand und der ihrer Angehörigen direkt von den Entscheidungen des Papstes abhing. Sie vermieden deswegen alle die Kirche betreffenden offenen Auseinandersetzungen und Brüche, die direkt zum endgültigen Verlust ihres wirtschaftlichen Wohlergehens und ihres Ansehens geführt hätten.⁸ Außer diesen von der Geschichtsschreibung herausgestellten Hauptgründen hat die Forschung der letzten 30 Jahre zur religiösen Krise im Italien des 16. Jahrhunderts eine Vielzahl von neuen Quellen gefunden und zahlreiche neue geschichtswissenschaftliche Rekonstruktionen ermöglicht, die es erlauben, eine weitere These aufzustellen: Das Scheitern der Reformation in Italien wäre demnach auch darauf zurückzuführen, dass nicht nur den Mitgliedern hierarchisch kirchlicher und der römischen Kirche treuer politischer Strukturen ein kritisches Bewusstsein erlaubt war, sondern auch den heterodoxen Italienern. Anders ausgedrückt erscheint es möglich, anzunehmen, dass unter den Gründen für den Misserfolg der Reformation in Italien auch die vielfältige und umfangreiche Kritik an der Reform von jenseits der Alpen war, die auch aus den Reihen der häretischen antikatholischen Kreise in Italien kam. Hierbei handelt es sich um einen Gesichtspunkt, der zwar nur teilweise erforscht ist, aber durch die weitere Forschung genauer definiert und konkretisiert werden kann. Aus der Geschichtsschreibung ist seit dem großen Werk Eretici italiani del Cinquecento ⁹ von Delio Cantimori bekannt, dass die Kritik und der Widerspruch, den die verbannten Italiener religionis causa besonders gegen Calvin und die schweizerischen Kirchen nach der Verbrennung von Michele Serveto in Genf 1553 erhoben, und die weiteren Auseinandersetzungen und Konflikte mit Opfern wie Bernardino Ochino, der mit 76 Jahren mitten im Winter 1563 aus Zürich vertrieben wurde,¹⁰ oder Valentino Gentile, der 1566 in Bern hingerichtet wurde,¹¹ um nur zwei Beispiele zu nennen, eine
Vgl. Die klaren Beobachtungen von E. Brambilla, „La repressione dell’eresia in Francia e in Italia“, in: ebd., 498 – 509, insbesondere 502– 504. Vgl. Cantimori, Eretici italiani, passim. Über die religiöse Parabel von Ochino und das ihm angedrohte Exil vgl. M. Firpo, „‚Boni christiani merito vocantur haeretici‘. Bernardino Ochino e la tolleranza“, in: ders., „Disputar di cose pertinente alla fede“, 247– 320. Über Gentile siehe L. Addante, Valentino Gentile e il dissenso religioso nel Cinquecento. Dalla Riforma italiana al radicalismo europeo, Pisa, 2014.
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große Diskussion über religiöse Toleranz auslösten, die durch das Werk De haereticis an sint persequendi (1554) des bekannten Sebastiano Castellione eröffnet wurde. Abgesehen von neuen Forschungsergebnissen und der Neuinterpretation nach neusten Erkenntnissen von bereits bekannten Quellen gab es bezüglich der Reformation schon seit den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts sehr kritische Stimmen aus den Reihen der italienischen Häretiker und gleichzeitig Versuche, alternative Theologien und Kirchenlehren zu entwickeln. Das bedeutet, dass diese Kritik an der Reformation in Italien schon lange vor dem tragischen Rückschritt in den unnachgiebigen und intoleranten Kirchen existierte. Es handelt sich um eine rückläufige Entwicklung der Reform, eine echte Involution: die neuen reformierten Kirchen wurden intolerant, wie die tragische Verbrennung von Serveto beweist Der Rückschritt, der mit der Verbrennung von Serveto 1553 in Genf eingeleitet wurde, löste eine Diskussion in Europa aus. Weder die von Luther unterstützte erbarmungslose Unterdrückung des Bauernaufstandes 1525 noch die Zerstörung des „Neuen Jerusalems“ der Täufer 1535 in Münster hatten ähnliche Auswirkungen.¹² Wenn man die Überlegungen weiterentwickelt, stellen sich zu dem geschichtlichen Problem, das hier kurz zu umrissen wird, folgende Fragen: Existierte in den wirren Jahrzehnten der Religionskrise des 16. Jahrhunderts in Italien, außer der richtig oder falsch identifizierten, auch eine oder mehrere von Giulio da Milano so genannte „terze sette“ [dritte Sekten], also Kritik sowohl an der Kirche Roms als auch an den aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen? Und außerdem: Kann man annehmen, dass sie irgendeine Rolle beim Scheitern der Reformation in Italien spielten?
2 Die Kirche des Geistes und des Nikodemismus. Camillo Renato Paolo Ricci, besser bekannt unter dem Namen Camillo Renato (außerdem auch Lisia Fileno und Fileno Lunardi), wurde Anfang des 16. Jahrhunderts vermutlich in Palermo geboren. Er trat bei den Minderbrüdern ein und näherte sich mit seinen Ideen den protestantischen Doktrinen an. Von 1534 bis 1537 hielt er sich in Straßburg auf, wo er enge Kontakte zu Martin Bucer und besonders zu Volfango Capitone pflegte.¹³ Nach seiner Rückkehr nach Italien wurde er in Venedig der Häresie angeklagt und freigesprochen.Von dort ging er 1538 nach Bologna und dann zwischen Januar und Februar Vgl. zum „Reich“ der Täufer in Münster, an dessen Zerstörung viele katholische und lutherische Kräfte beteiligt waren, U. Gastaldi, Storia dell’anabattismo, Bd. 1, Turin, 1972, 504 ff. und N. Cohn, I fanatici dell’Apocalisse, Mailand, 2000, passim. Für Informationen über Renato vgl. neben der folgenden Anmerkung C. Ginzburg, Il nicodemismo. Simulazione e dissimulazione religiosa nell’Europa del ’500, Turin, 1970, 140, 165 – 166: Renato wohnte bei Capitone. Siehe auch G. H. Williams, „Camillo Renato c. 1500?-1575“, in: J. A. Tedeschi (Hg.), Italian Reformation Studies in honor of Laelius Socinus, Florenz, 1965, 103 – 183; A. Rotondò, Studi di storia ereticale del Cinquecento, Bd. 1, Florenz, 2008, 249 – 277.
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1540 nach Modena, wo er im Herbst verhaftet wurde. Nach seinem Abschwören im Dezember 1540 in Ferrara floh er nach Graubünden, wo er lange Zeit eine Schlüsselfigur für viele der radikalsten Häretiker Italiens darstellte, und bis zu seinem Tod 1575 mehrfach von den schweizerischen calvinistischen Pastoren der Häresie angeklagt wurde. Das wichtigste Dokument seiner Ideen stellt die Apologia dar, die er im Dezember 1540 im Kerker von Ferrara schrieb.¹⁴ Am Ende des Prozesses geht aus dem Widerruf ¹⁵ des Sizilianers hervor, dass er mit seinen Predigten eine Reihe von Häresien verbreitet hatte, wie zum Beispiel die Auffassung, das Konzept der Willensfreiheit sei ausschließlich dem Bösen zugewendet, die Ablehnung des Purgatoriums und die Leugnung der Fürsprache durch die Heiligen (in diesem Zusammenhang tauchte die Lehre auf, dass die Seelen nach dem Tod schliefen) sowie der Kommunion als Sakrament in Bezug auf die Vergebung der Sünden. Außerdem wurden alle kirchlichen Regeln in Bezug auf das vierzigtägige Fasten ignoriert, der Kult der Jungfrau Maria als sinnlos dargestellt, die religiösen Gelöbnisse abgelehnt und sogar die Konzeption der katholischen Messe als von „abominationes et superstitiones“ [Gräuel und Aberglaube] vergiftet betrachtet. Im Lauf des Prozesses hatte Renato vertreten, dass die „mandata ecclesiae“ nur beachtet werden müssten, wenn sie nicht „iniusta“ oder „contra ius divinum et contra aliquem partem sacrae Scripturae“ waren,¹⁶ was in der Tat einer kompletten Auflösung der Kirchenlehre und der Autorität des Papstes gleichkam. Eine Bestätigung dafür, wie diese Häresien in Modena verbreitet waren, kann man den Briefen des Vikars Sigibaldi an den Bischof Morone¹⁷ entnehmen (der mit diplomatischen Angelegenheiten in Deutschland beschäftigt war), der schreibt, „questi lutheranizanti […] me pare comprehendere che tendono ad esterminar l’autorità et potestà ecclesiastica et pontificia“¹⁸ [Mir scheint, dass diese lutheranisierenden […] die Autorität und Befugnis der Kirche und des Papstes auszulöschen gedenken]. Durch Renato wird es möglich, das Konzept der vollständig spiritualistischen Kirche und der in Modena und Umland über acht Monate gepredigten Religiosität zu dokumentieren.¹⁹ Die Auffassung, die gegen den „Aberglauben“ der Heiligenvereh-
C. Renato, Opere, documenti e testimonianze, hg.v. A. Rotondò, Florenz/Chicago, 1968, 33 – 89. Ebd., 189 – 191. Ebd., 184. Morone konnte die einzelnen Punkte tatsächlich aufführen, als er an den Heiligen Stuhl schrieb: Die öffentliche Diskussion betraf, natürlich um sie zu kritisieren, das Purgatorium, den Ablass, die Messe, die Fürsprache der Heiligen, die Autorität des Papstes und die Willensfreiheit; vgl. M. Firpo, „Gli ‚spirituali‘, l’Accademia di Modena e il formulario di fede del 1542: controllo del dissenso religioso e nicodemismo“, in: ders., Inquisizione romana e Controriforma. Studi sul cardinal Giovanni Morone (1509 – 1580) e il suo processo d’eresia, 2. Aufl., Brescia, 2005, 60. Ebd., 62, Brief vom 26. Oktober 1540; Renato wurde am 17. Oktober verhaftet. Über die Predigten von Renato in Modena und seine Beziehungen zur Bewegung der Heterodoxen in Modena vgl. G. Mongini, „Ludovico Castelvetro tra Modena e Chiavenna. Eterodossia, nicodemismo e indifferentismo confessionale“, in: L. Castelvetro, Filologia ed eresia. Scritti religiosi, hg.v. G. Mongini, Brescia, 2011, 5 – 155, insbesondere 25 ff.
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rung, die Zeremonien und die Vorschriften der Kirche kämpfte, verband die zentralen Gedanken der humanistischen Forschung mit der Idee der inneren Erneuerung durch den Geist sowie die Gemeinschaft der im Geist der Barmherzigkeit verbundenen Gläubigen, was ethisch in den politischen und sozialen Beziehungen, in der Familie wie auch der Gesellschaft als öffentliche Moral ihren Ausdruck fand.²⁰ Es ist wichtig, zu betonen, dass die Inhalte der Predigten von Camillo Renato für die kirchliche Lehre und die Theologie noch zersetzender waren als für die Institutionen der römischen Kirche, also subversiv gegenüber der Orthodoxie und damit gegenüber jeder konfessionellen Kirche. Man kann gerade auf den sizilianischen Häretiker die Verbreitung der Theorie über die Zulässigkeit der religiösen Simulation zurückführen, genauer gesagt, die reine Doktrin des Nikodemismus, nach der die Zugehörigkeit zu jeglicher Kirche rechtens war, was die Idee der „vera Chiesa“ [wahre Kirche] in einer einzigen historischen Institution sinnlos machte. Eine essentielle Voraussetzung für die Lehre des Renato – die sich auf einen unveröffentlichten Text von Martin Butzer stützte²¹ –, war eine absolute Verinnerlichung und die Subjektivierung des Glaubens, die sich vor allem in der unglaublichen Reduzierung der Dogmen des Christentums auf eines, nämlich die Anrufung des Namens Christus, ausdrückte. Dies reichte aus, um den Gläubigen als „Christi membrum“ zu definieren. Der wahre Gläubige, der Christus mit „nec hoc […] factis negat“ anruft, zeigt so seine „iusta vocatio“. Folglich war die wahre „ecclesia Christi“ nichts anderes als „societas eorum qui Christum vere invocant“,²² egal aus welcher Folg Ein Element, das den Amtsträgern mit Sicherheit nicht missfiel (wie z. B. den um die Akademie versammelten Häretikern in Modena). Sie waren an den Gerichten und in der Verwaltung der Stadt beschäftigt, und sie hatten aus der Kritik an der Korruption und der schlechten Verwaltung durch die Kirche eines ihrer Hauptargumente gemacht. Vgl. Rotondò, Studi di storia ereticale, Bd. 1, 252, und „l’Apologia di Renato“, in: ders., Opere, 48. Ohne dass es hier möglich ist, ins Detail zu gehen, muss man doch herausstellen, dass Renato einen Text besaß – von Ginzburg als „nikodemischer Brief“ bezeichnet (vgl. Ginzburg, Il nicodemismo, 139 ff.), identifiziert als ein verlorengegangener Brief von Capitone –, der in 43 Punkten, die den ersten 43 (von insgesamt 798; der einführende allgemeine Teil besaß 48) eines Werks von Martin Bucer entsprechen, dem Consilium theologicum privatim conscriptum, das bis 1988 unveröffentlicht blieb (vgl. M. Buceri, Opera latina, Bd. 4, Consilium theologicum privatim conscriptum, hg.v. P. Fraenkel, Leiden / New York / Kopenhagen / Köln, 1988). Dieses Werk wurde im Laufe des Jahres 1540 im Rahmen der Reichstage und Religionsgespräche in Hagenau und Worms geschrieben. In diesen geheimen Treffen diskutierten die katholischen Theologen Johannes Gropper und Georg Witzel wiederholt mit Bucer und Capitone sowie mit anderen protestantischen Theologen. Es gelang ihnen, einen gemeinsamen Nenner für die Versöhnung der Kirchen und für die Auflösung des Glaubensbruchs zu erreichen. Das Scheitern in Regensburg 1541 bedeutete das Ende dieser Diskussionen und friedlichen Auseinandersetzungen. Hier muss interessanterweise herausgestellt werden, dass die Ideen von Camillo Renato die Voraussetzungen des Consilium theologicum von Bucer/Capitone für das kommende Konzil ohne Einschränkungen übernahmen und überarbeiteten. Diese besaßen also eine andauernde generelle Gültigkeit, die nicht an Ort oder Zeit gebunden war. Und auf dieser Basis gründete er seine Lehre des Nikodemismus. Vgl. „La lettera nicodemitica di Capitone“, in: Ginzburg, Il nicodemismo, 207– 213, hier: 209, Abs. 1 e 6.
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samkeit oder Orthodoxie heraus. Auf der Basis dieser reduzierten Voraussetzungen rechtfertigte Renato das Verhalten der Anhänger, der „vera fides“, die „in Ecclesiis quae papae iugum adhuc sustinent“²³ leben mussten. Weit entfernt von der Pflicht, die Glaubenstreue bis zum Martyrium zu beteuern, bestand Camillo Renato auf dem Grundprinzip, auf das er jede mögliche Situation zurückführte, um die richtige Einstellung und das richtige Verhalten anzunehmen: das Prinzip, nach dem auch in der dem Papst unterstellten Kirche echte Gläubige lebten, aber vor allem, dass in allen Kirchen, auch in der römischen „verae Christi Ecclesiae, quamquam plus nimio errantes et superstitiosae“²⁴ waren. Also war die katholische Kirche nicht die Kirche des Antichristen, sondern die Kirche voller „superstitiosae caerimoniae“,²⁵ und nichtsdestoweniger erfüllt von „viva fides […] in Christum“, womit sie „primis fructibus fidei, timore Domini et charitate proximi“ zeigen.²⁶ Daraus leitet sich die Pflicht ab, „colere Ecclesiam et habere proximos pro fratribus ac membris in Christo“. Auf der Grundlage dieser Bedingungen wird klar, dass es nicht notwendig war, die römische Kirche zu verlassen oder zu bekämpfen, wie jede andere Kirche und Kirchenlehre auch, weil es keinen Sinn hatte. Denn damit wird die „mansuetudo“ Christi und die Pflicht der brüderlichen Barmherzigkeit verraten. In den Predigten von Renato wurde 1540 die Basis der theologischen Lehre, die die „privaten“ Seiten des Consilium von Bucer eröffnete, in das Konzept der radikalen Verinnerlichung und Spiritualisierung des Glaubens integriert und auf die Anrufung Christi reduziert, was die Garantie der Erleuchtung durch den Geist darstellte, dem einzigen wahren Interpreten der Schrift. Diese Auffassung des Glaubens besaß als einziges unverzichtbares Kriterium die permanente Suche nach der Übereinstimmung zwischen der Anrufung des Namens Christi und der Lebensmoral. Das absolut Neue war also der Bruch mit den Voraussetzungen, von denen nur eine einzige übrigblieb, auf deren Grundlage sich die Praxis des Nikodemismus legitimierte und gründete.²⁷ Die ethische Übereinstimmung war insgesamt das einzige objektive Kriterium für ein
Ebd., 209, Abs. 2. Ebd., 212, Abs. 36. Ebd., 209, Abs. 3. Ebd., für beide Zitate. Wie A. Biondi in seinem fundamentalen Werk „La giustificazione della simulazione nel Cinquecento“, in: Eresia e Riforma nell’Italia del Cinquecento, Florenz/Chicago, 1974, 5 – 68, nachgewiesen hat, ist das Problem der religiösen Simulation ein Teil des umfassenderen Problems der Bedeutung und der Rolle der Simulation / Dissimulation in der Kultur des 16. Jahrhunderts; außerdem hat Biondi die Auffassung von Ginzburg, Il nicodemismo, korrigierend dargestellt, wie neben den Schriften von Otto Brunfels und seines Kreises auch andere schon vorher die Zulässigkeit der Simulation thematisiert hatten. Unter ihnen ragt Erasmus heraus, der den Gelehrten der Universität in Modena gut bekannt war. Die Predigten des Camillo Renato erlauben damit die genaue historische Datierung und die Definition der Umstände, in denen die heterodoxen Mitglieder der Bewegung in Modena, im Speziellen die Gelehrten der Universität, mit der spiritualistischen Doktrin in Kontakt kamen, die bewusst und vollständig nikodemisch war, und die damit ihre Nähe zum Straßburger Umfeld zeigte. Brunfels hatte seine Überlegungen über den Nikodemismus erarbeitet, die Renato gut bekannt waren.
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religiöses Konzept, das radikal verinnerlicht und subjektivistisch von Prinzip aus war, und umgekehrt im wahren Gläubigen zum sichtbaren Zeichen seiner Erneuerung wurde, die äußere „Frucht“ seiner Anhängerschaft zu Christus und des „wahren Glaubens“. Dass sich schließlich alles in einem genauen religiösen und politischen Programm konkretisierte, hat Renato mit seinen Behauptungen in der Apologia bewiesen. Diese wurde im Dezember 1540 im Kerker verfasst. Sie zeigt inhaltliche Ähnlichkeiten zwischen dem von Camillo Renato verfolgten Programm und den Diskussionen auf europäischer Ebene im gleichen Jahr. Diese Diskussionen zwischen Bucer und Capitone und den katholischen Theologen Gropper und Witzel fußten auf der Basis allgemeiner Voraussetzungen, wobei die Probleme der kirchlichen Zeremonien, des Aberglaubens und der „abominationes“ [Gräuel] im Mittelpunkt standen. In den Gesprächen in Hagenau und in Worms waren diese Argumente aufgetaucht, bevor man sich 1541 in Regensburg versammelte. Besonders in diesem Zusammenhang wird klar, warum Renato, bezüglich des Punktes An in missa sint abominationes ²⁸ angeklagt, den wirklichen Sinn seiner Auffassung darlegte und gleichzeitig erklärte, dass er sich an Rom wenden wolle, um über eine Reform der Messe zu diskutieren:²⁹ Ita ex meis verbis, scilicet in missa multas contineri abominationes, nulla potest oriri suspicio abrogandae missae per se, sed abrogandarum superstitionum quae sunt in missa nostri temporis, de quibus putabam me Romae cum reverendissimis sed doctissimis cardinalibus consultaturum in rem Christianam et communem concordiam totius ecclesiae Dei.
Und wenig später betonte er, an der Befriedung der Religionskonflikte mitarbeiten zu wollen: Nihil enim aliud studeo, nihil cogor, nihil cogito quam ut meam operam in pacificanda Germania cum ecclesia Romana collocem atque omnino insumam si dabitur; iamque in hoc erat mihi animus ut Romam accederem et de hoc consultarem ut de Romana ecclesia etiam nos aliquid in gloriam Dei patri sed domini nostri Iesu Christi et in communem ecclesiae utilitatem bene meremur. Quamobrem non missa tolli, sed in suam dignitatem et integritatem restitui cupio, ut aedificetur tota ecclesia Dei.
Auch wenn es einerseits ziemlich wahrscheinlich ist, dass Renato so versuchte, seine Position im Prozess zu verbessern, muss man doch betonen, dass es sich andererseits nicht um einen Widerruf handelte. Tatsächlich war sein Projekt Teil einer weiten europäischen Diskussion über einen Frieden stiftenden Konsens, unter anderem auch, um einige reformierte Positionen bezüglich der „superstizioni“ [Aberglaube] aufzunehmen, die im Laufe der Zeit der katholischen Liturgie der Messe unterstellt wurden.
Siehe für einen deutlichen Vergleich die von Bucer dem Thema gewidmeten Seiten „De abominationibus missae“, in: Buceri, Opera latina, Bd. 4, Consilium theologicum privatim conscriptum, 94– 102. Renato, Opere, 74; kursiv ergänzt.
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All das entging den Inquisitoren (während die Häretiker in Modena das klar erkannten), wie auch die Tatsache, dass diese Ideen entweder eine Basis für ein Programm der Friedensstiftung in Hinsicht auf das kommende Konzil, oder andererseits auch die Grundvoraussetzung für eine alternative Kirchenlehre darstellen konnten, die vollkommen anders, spiritualistisch und nikodemisch orientiert war, die Auseinandersetzungen und Konflikte mied, und der die Ideen der Orthodoxie und der konfessionellen Kirche fremd waren, während bei ihr nur die Prinzipien des Glaubens an Christus durch die Anrufung seines Namens in Übereinstimmung mit der Lebensethik im Mittelpunkt standen.
3 Bartolomeo Fonzio und die egalitäre Kirche der Armen Ähnliche Gedanken wie bei Renato findet man in den Predigten von Bartolomeo Fonzio.³⁰ Sie stammen aus Venedig, wo er um 1502 geboren wurde. Er wurde Franziskaner-Minorit, nachdem er eine gute humanistische und theologische Ausbildung durchlaufen hatte. Bald machte er als Prediger auf sich aufmerksam. 1531 entzog ihm ein päpstliches Breve die Predigterlaubnis. Dann folgte ein weiteres, das anordnete, ihm den Prozess zu machen. Hiermit beginnt der komplexe Weg des Fonzio, der viele Parallelen mit dem des Renato hatte (auch dieser Franziskaner-Minorit). Zuerst ging er nach Augsburg, wo er wieder predigen durfte, und wo ihn die hitzigen Auseinandersetzungen über die Eucharistie, die die Anhängerschaft der Protestanten spaltete, abstießen. Danach ging er nach Straßburg. Er war eine Figur zwischen zwei Welten. Auch wenn er persönlich den Ansprüchen der Reformation nahestand, versuchte Fonzio, von seiner starken Neigung zur Eintracht und zum religiösen Frieden getrieben, zur Befriedung des Religionskonflikts zwischen Lutheranern und Katholiken wie auch Lutheranern und Anhängern Zwinglis beizutragen, auch wenn er theologische Streitgespräche nicht mochte, weil er sie als im Widerspruch zum Geist des Evangeliums stehend ansah. Er erhielt Unterstützung aus dem Kreis der römischen Kurie, über den man noch sehr wenig weiß, als er sich als Vermittler zwischen Rom und Deutschland anbot, wo er auf Unterstützer wie auch eifrige Gegner traf, wie zum Beispiel Gian Pietro Carafa, der ihn für den Hauptver-
Über Fonzio vgl. A. Olivieri, „Una polemica ereticale nella Padova del Cinquecento: l’‚Epistola Camilli Cautii ad Bernardinum Scardonium‘ di Bartolomeo Fonzio“, in: Atti dell’Istituto veneto di scienze, lettere ed arti, 225, 1966 – 1967, 489 – 535; Ders., „Il ‚Chatechismo‘ e la ‚Fidei et doctrinae…ratio‘ di Bartolomeo Fonzio eretico veneziano del Cinquecento“, in: Studi veneziani, 9, 1967, 339 – 452; Ders., „‚Ortodossia‘ ed ‚eresia‘ in Bartolomeo Fonzio“, in: Bollettino della Società di studi valdesi, 91, 1970, 39 – 55; E. Zille, Gli eretici a Cittadella nel Cinquecento, Padua, 1971, 143 – 221; wichtig der Beitrag von G. Fragnito, „Fonzio, Bartolomeo“, in: Dizionario biografico degli italiani, Bd. 48, Rom, 1997, 769 – 773; vgl. auch Mongini, Ludovico Castelvetro, 44 ff. Weder Fonzio noch Renato erschienen in M. Biagioni, M. Duni und L. Felici (Hg.), Fratelli d’Italia. Riformatori italiani nel Cinquecento, Turin, 2011.
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antwortlichen der Verbreitung der Häresie im Veneto hielt. 1533 besuchte er in Begleitung von Martin Bucer die schweizerischen Kirchen, blieb in Basel und dann in Straßburg, wo er bitter die Verhärtung der Positionen von Bucer gegenüber Kaspar von Schwenckfeld und den Täufern zur Kenntnis nahm, während 1531 Sebastian Franck aus der Stadt verstoßen worden war.³¹ Ende des Jahres war er wieder in Venedig, wo er bis in die ersten Monate des Jahres 1534 blieb, um die Kontakte zur lebhaften heterodoxen Ecclesia zu erneuern, die auf ihn zurückging, und häretische Bücher verbreitete, wie Unio dissidentium dogmatum von Hermann Bodenstein (Bodius) und eine Übersetzung und stark von ihm überarbeitete Fassung des Aufrufs Luthers An den christlichen Adel deutscher Nation, 1533 anonym in Straßburg erschienen³² unter dem Titel „Libro de la emendatione dil stato christiano“. Danach ging er mit dem Sohn des Dogen, Alvise Gritti, nach Konstantinopel, kehrte 1535 nach Venedig zurück, um dann nach Augsburg und schließlich nach Straßburg zu gehen, wo Bucer ihn feindselig behandelte. Ab 1537 verweilte er zur Untersuchung seines Falls bis 1540 – 1541 in Rom, wo Contarini ihn für unschuldig erklärte. Die Umstände sind aber noch zu klären. 1543 trat er in engen Kontakt mit den Gelehrten der Universität von Modena und hielt Predigten, die zu den subversivsten in diesen Jahren gehörten, bis ein Prozess der Inquisition gegen ihn eröffnet wurde. Nach 1544 zog er an verschiedene Orte, zum Beispiel von 1548 und 1551 nach Padua. In dieser Zeit blieb er immer in Kontakt mit radikalen heterodoxen Gruppen und den Täufern. Bis 1557 war er Schullehrer in Cittadella, als er, verfolgt durch einen Haftbefehl der Savi wegen Häresie, durch das Valtellina, Städte der Lombardei und des Veneto reiste, um die Kontakte zu verschiedenen häretischen Kreisen zu intensivieren. 1558 kehrte er nach Cittadella zurück und wurde noch einmal vom Volk zum Schullehrer ernannt, aber Mai/Juni wurde er verhaftet und nach Venedig überführt. Sein Prozess zog sich vier Jahre hin. Während der Zeit im Kerker schrieb er das reife Kompendium seiner Gedanken, Fidei et doctrinae Bartolomei Fontii ratio, bis er am 4. August 1562 in der Lagune ertränkt wurde, nachdem er den Widerruf aus Überzeugung abgelehnt hatte. Fonzio war zwischen 1543 und 1544 in Modena, wo er zu den Gelehrten der Universität schnell Kontakt aufnahm.³³ Hier muss betont werden, dass Fonzio in Venetien und in Modena einerseits seine guten und persönlichen Kenntnisse der Kirchen jenseits der Alpen, mit ihren Diskussionsthemen und ihren Brüchen, und andererseits seine Ideen einer radikal spiritualistischen Kirche verbreitete, die auf dem Modell der ersten evangelischen Gemeinschaft gründeten, einer Kirche gegen jede Hierarchie,
Über die Aktivität von Franck und von Schwenckfeld in Straßburg und ihre Auseinandersetzungen mit Bucer vgl. Ginzburg, Il nicodemismo, passim, und Gastaldi, Storia dell’anabattismo, Bd. 1, 273 ff. Über dieses Werk vgl. Die Beobachtungen von S. Seidel Menchi, „Le traduzioni italiane di Lutero nella prima metà del Cinquecento“, in: Rinascimento, s. II, 17, 1977, 31– 108, insbesondere 64– 80. Für die Kontakte mit den Gelehrten der Universität vgl. M. Firpo und D. Marcatto, Il processo inquisitoriale del cardinal Giovanni Morone, Bd. 1– 4, Rom, 1981– 1995, besonders Bd. 1 und 2, siehe Index der Namen.
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egalitär und pauperistisch, wobei er die Ideale der Franziskaner, des Ordens, aus dem er stammte, viel extremer ausgelegte. Fonzio war ein gelehrter Theologe, der Ekklesiologie unterrichtete, aber Diskussionen abgeneigt war. Außer den bekannten Eckpfeilern wie der totalen Abwertung der Eucharistie, der auf reine Symbolik reduzierten Taufe und der Beichte, führte er den Pauperismus, die Solidarität und den Nikodemismus in der revolutionären Konzeption einer Kirche der Armen zusammen, die im Gegensatz zur „Kirche der Päpste“ aus „armen und unbekannten Personen der Welt“ bestand, also eine spiritualistische und imminent nikodemische Kirche, in der sich das Antlitz der alten, wahren evangelischen Kirche Christi und von „Josef, Maria und Nikodemus“ zeigte.³⁴ Nikodemus war ein Sinnbild für die religiöse Simulation. Das bedeutete, dass die rechtmäßigen Mitglieder der spiritualistischen und egalitären Kirche die waren, die Formen des nikodemischen Verhaltens praktizierten und in einer Ecclesia der von Christus „electi“ zusammenfanden. Die Kirche war versteckt, weil sie für die Großen der Welt nicht sichtbar, arm und bescheiden war, und sie wurde von der Barmherzigkeit und der gegenseitigen Solidarität ihrer Mitglieder getragen. Bereits Renato hatte diese Ideen mit „charitatem in omnes pauperes“ gepredigt.³⁵ Die Ideen Fonzios waren im Sozialen voller Subversion und Bissigkeit gegenüber der Kirche der Mächtigen und Reichen, die er mit den Christusmördern, den Schriftgelehrten und Pharisäern, gleichsetzte.³⁶ In den letzten Jahren seines Lebens entwickelte er die Idealform einer zur römischen und zur reformierten alternativen Kirche, die nur den informellen Keim einer Hierarchie besitzen sollte.³⁷ Die Predigten und häretischen Lehren des Franziskanermönches vermittelten über längere Zeit vor allem dem gemeinen Volk im Veneto und in Modena eine tiefe Religiosität, die vom Volk noch lange praktiziert wurde. So fanden die ethische Strenge, die Barmherzigkeit und die gegenseitige Hilfe bei Schwierigkeiten für lange Zeit Eingang in die über 20 Jahre andauernde Häresie der Gemeinschaft der „Brüder“ in Modena.³⁸ Besonders, dass Fonzio auf der Armut als Zeichen der Auserwählten mit
Vgl. S. Peyronel Rambaldi, Speranze e crisi nel Cinquecento modenese. Tensioni religiose e vita cittadina ai tempi di Giovanni Morone, Mailand, 1979, 250 – 252. A. Rotondò, Studi di storia ereticale, Bd. 1, 252. Vgl. zum Beispiel, Olivieri, „Il ‚Chatechismo‘“, 353 – 354. Vgl. Peyronel Rambaldi, Speranze e crisi, 252, Anm. 103. Diese Lehre von Fonzio hinterließ bei den Heterodoxen in Modena und vielleicht auch in den Gedanken von Ludovico Castelvetro einige Spuren. Siehe z. B. (ohne dass es hier möglich ist, tiefer in das Problem einzusteigen) die Behauptungen von Castelvetro über die Armen und den vorausgesetzten moralischen Wert des Reichtums in L.A. Muratori, Opere varie critiche di Lodovico Castelvetro, Bern [Mailand], 1727, besonders Chiose intorno al primo libro del Commune di Platone, 199 („Se le ricchezze fanno buoni i possessori“, mit dem Kommentar: „Questa conclusione è […] contra l’evangelio“), Chiose intorno al terzo libro, 218 (moralische Kritik an Reichen), wichtige Gedanken auf 228 ff, in Chiose intorno il quarto libro, über das Argument, dass Reichtum mehr als die Armut der Stadt schadet, und 255, noch über Reiche und Arme (Chiose intorno al Protagora di Platone). Zur „Gemeinschaft der Brüder“ in Modena (zu betonen sind die Kontakte mit den Gelehrten der Universität über die 40er Jahre und
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allen daraus resultierenden sozialen Folgen bestand, unterscheidet ihn deutlich von den Anhängern des Valdés in Italien. Der Akzent lag eindeutig auf dem sozialen Faktor des Spiritualismus der Armut und der Gleichheit, aus denen die nikodemische Kirchenlehre des venezianischen Häretikers bestand. Hier muss daran erinnert werden, dass er in katholischen Landen 30 Jahre lang diese Ideen predigen und leben konnte, weil er einen gewissen Schutz vor weltlichen wie vor kirchlichen Kräften genoss.
4 Nikodemische Kirchenlehre und Kritik des religiösen Konflikts: Marcantonio Flaminio und die Anhänger des Valdés Zahlreiche Untersuchungen, besonders von Massimo Firpo, haben immer wieder die bewusste Distanz des Gedankens des alumbrado des im Exil lebenden Spaniers Juan de Valdés zur Reformation von Luther wie auch von Calvin aufgezeigt. Valdés war von Spanien nach Neapel geflohen, um sich dem Prozess der Inquisition zu entziehen, und dort 1541 gestorben. Er spielte in der Geschichte der Häresie in Italien eine zentrale Rolle.³⁹ Die verschiedenen Strömungen der Anhänger des Valdés in Italien und im restlichen Europa,⁴⁰ die ein Erbe seiner Gedanken waren, und besonders die radikalen Spielarten⁴¹ standen der Reformation fern. Ohne hier die ganze Forschung darlegen zu können, reicht es aus, die typische Haltung der „spiritualistischen“ Anhänger des Valdés in Italien aufzuzeigen, die sich um den Kardinal Reginald Pole scharten, und den bekannten Brief von Marcantonio Flaminio (Schüler von Valdés in Neapel, Hauptanreger von Pole und später von Kardinal Giovanni Morone) aufzuführen, der darin die reformierten Kirchen scharf kritisierte. Der Brief von Flaminio⁴² an Pietro Carnesecchi verteidigte die Gültigkeit der Eucharistie und der Messe nach katholischem Brauch und verwarf die Kritik von Luther, Zwingli und Bucer. Er schrieb seinem Freund mit der Absicht, ihm zu zeigen, wie „noi [dobbiamo] essere apparecchiati a render ragione della nostra fede a ciascuno“⁴³ [wir bereit sein [müssen], unseren Glauben jedermann zu erklären], und um
danach) vgl. M. Al Kalak, L’eresia dei fratelli. Una comunità eterodossa nella Modena del Cinquecento, Rom, 2011. Siehe auch: M. Firpo, Tra alumbrados e „spirituali“. Studi su Juan de Valdés e il valdesianesimo nella crisi religiosa del ’500 italiano, Florenz, 1990; Ders., Riforma protestante ed eresie nell’Italia del Cinquecento, insbesondere 115 ff, 129 ff.; Ders., Juan de Valdés e la Riforma nell’Italia del Cinquecento. Für einen Überblick über die Bewegung des Valdès in Europa vgl. Firpo, Tra alumbrados e „spirituali“, 104 ff; Ders., Juan de Valdés, 258 ff. Vgl. Firpo, Tra alumbrados e „spirituali“, 84 ff.; Ders., Juan de Valdés, 233 ff.; L. Addante, Eretici e libertini nel Cinquecento italiano, Rom/Bari, 2010. Vgl. M. Flaminio, Lettere, hg.v. A. Pastore, Rom, 1978, 133 – 138; der Brief ist datiert „Trient, 1 gennaio 1543“. Ebd., 133.
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ihn zu mahnen, sich „non lasciarci indurre da ragione alcuna, per verisimile ch’ella ne paresse, a separarci dall’unione della Chiesa catholica“ [nicht aus irgendeinem Grund verleiten zu lassen, sich von der katholischen Kirche zu trennen]. Ein Akt, der nach der Kritik des Kreises der Anhänger von Valdés um Pole an Luther bedeutet hätte, sich extra charitatem zu stellen.⁴⁴ Flaminio erhob hier eine klare Kritik an der Hartnäckigkeit der Reformierten, „verblendet von menschlichem Hochmut, das Neue liebend und feindlich gegenüber den gewöhnlichen Wegen“. Eine Überheblichkeit, die „sich hinter dem falschen religiösen Eifer versteckt,“ und Seine Täuschungen sind schwierig zu entdecken, wenn die Personen für solch Neues ihre Ehre, ihren Besitz und ihr Leben aufs Spiel setzen, weil sie sich schwer vorstellen können, vom Fleisch und vom Teufel betrogen worden zu sein: So werden sie mit jeder Stunde in der Unwahrheit härter und scharfe Richter des Nächsten. Sie verurteilen die Gottlosigkeit, den allgemeinen und ewigen Sinn der Kirche und jeden, der sich diesen Ideen unterordnet. Aus dieser Arroganz und aus diesem bitteren Eifer möge sie unser Gott befreien und ihnen Nächstenliebe, Sanftmut und Bescheidenheit schenken, damit sie von der Kritik und dem harten Verurteilen der Dogmen und Bräuche der Kirche und derer, die ihr mit Demut im Herzen folgen, ablassen. Und ich fange an zu glauben, dass die von ihnen verurteilten und für Heiden und Gottlose gehaltenen Personen, weil sie nicht dasselbe wie sie glauben, wirklich religiös sind, fromm und Gott wichtig, und dass sie hingegen ein Feind und von Gott gehasst sind.⁴⁵ In diesem außergewöhnlichen Abschnitt werden die theologischen Motive der Kirchenlehre des Valdés und seiner Anhänger zusammengefasst, nämlich Spiritualismus und die Ablehnung jeden Bruches mit den Institutionen. Es geht daraus ganz klar die Abneigung gegenüber dogmatischen Streitigkeiten hervor, nicht nur in Bezug auf die römische Kirche, sondern auf alle neuen Kirchen, insbesondere gegenüber denen, die seit einiger Zeit hinter der Maske des religiösen Eifers „arrogantia“, „presontione“ und „superbia humana“ nicht verbergen können, Eigenschaften, die alle im Widerspruch zu den Werten Barmherzigkeit, Bescheidenheit, und Sanftmut des
Diese Position wurde von Pietro Carnesecchi bei seinem letzten Inquisitionsprozess dargestellt (1567): vgl. M. Firpo und D. Marcatto, I processi inquisitoriali di Pietro Carnesecchi (1557 – 1567), Bd. 2, Vatikanstadt, 2000, 557– 558. „Allhora i suoi inganni sono sommamente difficili da scoprire, quando le persone per così fatte novità si mettono in pericolo di perdere l’honore, la robba et la vita; perché allhora non si possono imaginar d’essere ingannati dalla carne et dal diavolo: et così ogni hora più s’indurano nelle falsità et diventano acerbissimi censori del prossimo, condannando d’impietà l’universal senso et perpetuo uso della Chiesa, et chiunque non si fa servo delle loro opinioni. Da questa arrogantia et da questi amari zeli gli liberi nostro Signor Dio, et doni loro charità et dolcezza di spirito et tanta humiltà che s’astenghino dal giudicar temerariamente i dogmi et l’usanze della Chiesa, condannando rigidamente tutti quelli che con vera humiltà di cuore le riveriscono et seguitano; et comincino a credere che molti di coloro, che da essi son condannati et tenuti idolatri et impii, perché non credono quello che credono essi, sono veramente religiosi, pii et a Dio cari, et per contrario, nimico et odiato da Dio chiunque seguita questa loro superba presontione.“ Flaminio, Lettere, 136, auch für vorangegangene Zitate.
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Geistes⁴⁶ stehen; Werte, die all diejenigen charakterisieren mussten, die „eccellentissimi ritratti di Christo“ sein wollten.⁴⁷ Besonders Flaminio verurteilte die wahllos geäußerte Kritik derer, die sich zu scharfen Richtern des Nächsten aufspielend, die Tradition der römischen Kirche der Gottlosigkeit anklagten und alle als heidnisch und gottlos verurteilten, die nicht genau dasselbe glaubten wie sie. Es wäre falsch, aus den letzten Äußerungen des Flaminio zu schließen, dass er die katholischen Zeremonien und Dogmen kritiklos akzeptierte, die der Spiritualismus der Bewegung des Valdés vorbehaltlos delegitimierte und für inhaltslos befand. Als Mitglied der Bewegung betonte er vielmehr die Unvermeidbarkeit des Prinzips des Valdés, „la iglesia […] juzga lo exteriór“.⁴⁸ Es war in Wirklichkeit die Erkenntnis, dass die christliche Religionserfahrung nicht aus theologischen Diskussionen oder Lehrwissenschaften genährt wurde, wie zum Beispiel die Diskussion über die Eucharistie, die die reformierte Welt spaltete.⁴⁹ Auch die Verurteilungen und die gegenseitigen Interdikte stellten das Gegenteil der abgeschiedenen „confabulatione spirituale“ dar, die zur schrittweisen Entfaltung der inneren Erleuchtung nötig war, und die die einzige Garantie des wahren christlichen „lebendigen Glaubens“ darstellte, während Orthodoxie, Dogma, und konfessionelle Kirchenlehre nur Nebensache waren. Die radikalen Anhänger des Valdés waren bekanntermaßen noch stärker gegen die Idee der Orthodoxie und der konfessionellen Kirche. Einige von ihnen nahmen an den berühmten Synoden im Veneto zwischen 1550 und 1551 teil (collegia patavina e vicentina) und veranlassten die Kehrtwende der Täufer zum Antitrinitarismus, wie es schon im Königreich Neapel durch moderate Anhänger des Valdés geschehen war.⁵⁰ Die Zugehörigkeit zu irgendeiner konfessionellen Kirche durch die Anhänger des Valdés stellte, von seltenen Ausnahmen abgesehen, eine bewusste nikodemische Wahl oder eine Umsetzung der Grundgedanken der Lehre des Valdés dar, die das Konzept der Orthodoxie und der kirchlichen Lehre schon von Grund auf delegitimierten, so dass es prinzipiell möglich war, jeglicher Kirche anzugehören.
5 Giorgio Rioli zwischen Prophezeiung und der universellen Rettung Mit den religiösen Gedanken des sizilianischen Mönchs Giorgio Rioli, dessen Ideen zwar Parallelen zur Bewegung des Valdés hatten, inhaltlich aber nicht auf diese re Diese Ausdrücke finden sich ebd. Vgl. ebd., 141; der Abschritt findet sich in einem Brief an Galeazzo Caracciolo aus Viterbo, vom 14. Februar 1543, und stellt eine Grundidee der durch Flaminio verbreiteten Lehre des Valdés dar. Vgl. J. de Valdés, La epístola de san Pablo a los Romanos i la I. a los Corinthios. Ambas traducidas i comentadas por Juan de Valdés, Madrid, 1856, 190. Siehe zum Beispiel M. Firpo, „Marcantonio Flaminio, Pietro Carnesecchi e la questione eucaristica“, in: ders., „Disputar di cose pertinente alla fede“, 209 – 225. Vgl. Addante, Eretici e libertini, passim.
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duziert werden können, schließt unsere Übersicht. Um 1517 in der Provinz von Catania geboren, trat er 1534 in das Benediktinerkloster von San Nicolò l’Arena ein, wo 1537 Benedetto Fontanini aus Mantua, der Autor der ersten Auflage des berühmten Werks Beneficio di Cristo crocifisso (von Flaminio überarbeitet und 1543 gedruckt, wurde es das „Manifest“ des religiösen Angebots der Bewegung des Valdés), Zuflucht fand.⁵¹ Das Treffen stellte einen Wendepunkt für Giorgio Rioli dar, der danach in die norditalienischen Benediktinerklöster ging und in Riva di Trento verweilte, um das Konzil zu verfolgen. Hier versuchte er erfolglos, von Visionen und Eingebungen getrieben, die, wie er behauptete, direkt von Christus kamen, mit seinen Ideen zum Konzil beizutragen. Der Häresie beschuldigt, verließ er 1550 Riva di Trento und ging nach Ferrara und Bologna, wo er verhaftet und ihm 1551 der Prozess gemacht wurde. Im Mai des gleichen Jahres wurde er schließlich als unverbesserlicher Häretiker in Ferrara erdrosselt. Die religiösen Gedanken des Sizilianers fügen sich in die europäische Diskussion ein, die nach dem Tod des Häretikers Francesco Spiera entbrannt war. (Dieser hatte am Ende des Inquisitionsprozesses dem calvinistischen Glauben abgeschworen, und war so in der Überzeugung, dass er damit eine unverzeihliche Sünde gegen den Geist begangen habe und zur Verdammnis verurteilt sei, verzweifelt gestorben).⁵² Das führte zu einer harschen Kritik an der protestantischen Prädestinationslehre, die zur Verzweiflung und zum Leugnen der Gnade und des Erbarmens Gottes führte, wie es der Fall Spiera vor Augen geführt hatte. Der Fall erschien vor den Augen der Inquisitoren, die seine Bücher zum Druck genehmigten, wie eine Verteidigung der katholischen Orthodoxie in dieser Diskussion. Unter der sogenannten Bewegung der Antireformation verkündete der Sizilianer in Wirklichkeit die Voraussetzungen einer Doktrin der allgemeinen Rettung. Die Ideen des sizilianischen Mönchs, der sich an Protestanten wie Katholiken wandte und eine große Gefolgschaft unter ihnen fand, waren besonders subversiv und radikal. Sie beinhalteten nicht nur antikatholische Elemente wie die Leugnung der Autorität des Papstes, der Sakramente, des Purgatoriums, der Werke und der Messe, der Verehrung der Heiligen und der Jungfrau Maria, sondern auch Lehren gegen die Dreieinigkeit und Lehren der Täufer, die Leugnung der Unsterblichkeit der Seele und die Vorhersage des Sieges seiner Visionen und der von ihm selbst gepredigten Lehren. Die von dem Sizilianer gepredigte Kirche war prophetischer und nikodemischer Art und der absolute Gegensatz zu den konfessionellen Kirchen. Diese Kirche fand so weite Verbreitung, dass die Inquisition auch 20 Jahre nach dem Tod von Giorgio Rioli immer noch nach seinen Anhängern im Volk, aber auch unter reichen Händlern, Ärzten, Universitätsprofessoren, Studenten, humanistischen Gelehrten, Bischöfen, Theologen und Be Über die politische Bedeutung der Veröffentlichung von Beneficio di Cristo, über den Hintergrund der ersten Versammlungen des Konzils von Trient und die Erwartungen einer Versöhnung mit den Protestanten vgl. M. Firpo, „Il ‚Beneficio di Christo‘ e il concilio di Trient (1542– 1546)“, in: ders., Dal sacco di Roma all’Inquisizione. Studi su Juan de Valdés e la Riforma italiana, Alessandria, 1998, 119 – 145. Vgl. Prosperi, L’eresia del Libro Grande, insbesondere 102– 130.
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nediktinermönchen in Mittelitalien und im Nordosten zwischen Ferrara und dem Veneto suchte.
6 Von der Reformation in Italien zur italienischen Reformation: die „dritten Sekten“ Nach den Behauptungen der Inquisitoren fielen alle oben genannten Personen unter die allgegenwärtigen „Lutheraner“, und nur selten wurde bewusst, dass die „arcieretici“ oder die „eresiarchi“ in Wirklichkeit ganz andere Lehren verbreiteten als Luther. Nur wenige, wie Giovanni Domenico Sigibaldi,Vikar des Kardinals Morone von Modena, erkannten ganz klar die Neuheit und Einzigartigkeit dieser Ideen. Er beschreibt, nachdem er die heterodoxen Bewegungen klar erkannt hatte, dass die Stadt „infetta del contagio di diverse heresie come Praga“ [von verschiedenen Häresien wie Prag infiziert sei], und führte weiter aus, dass „Sono pegior questi de la setta qua che non è lutherani, perché mi pare di comprehendere c’habiano abrazato tutte le heresie germanice“⁵³ [diese schlimmer als die Lutheraner sind, weil sie die Häresien aller germanischen Sekten einschließen]. Hiermit zeigten sich die Auswirkungen der Predigten von Camillo Renato bei den Heterodoxen in Modena. Diese Worte lassen erahnen, dass die Heterodoxie in Modena etwas Anderes und wegen ihrer Radikalität etwas weitaus gefährlicheres war. Andererseits waren die Besonderheiten im Bekenntnis eines Großteils der Häresie in Italien bekannt, wie es sich in der harten Kritik Calvins und seiner Anhänger vor allem an Pole, Morone und an anderen namhaften Vertretern der Anhänger des Valdés ausdrückte. So bestand die von Pier Paolo Vergerio 1549 erhobene Kritik an den Anhängern des „spanischen Valdés“, oder auch die von Francesco Negri darauf, dass, wie letzterer schrieb, „una nuova scola d’un christianesimo ordinato alloro modo“ [eine neue, auf ihre Art geordnete Schule des Christentums] entstanden zu sein schien, in der es möglich war, „non niegare la giustificatione dell’huomo essere per Giesù Christo“ [die Rettung des Menschen durch Jesus Christus nicht zu leugnen], ohne die daraus resultierenden Konsequenzen zu tragen, nämlich weiter „sostentare il papato“ [das Papsttum zu unterstützten], und außerdem „havere le messe [e] mille altre papistice superstitioni et impietà“⁵⁴ [die Messen und tausend anderen päpstlichen Aberglauben und Gottlosigkeiten zu haben]. Weil viele Voraussetzungen und Folgen des Spiritualismus des Valdés und anderer ähnlichen Urteilen entgingen, musste sich eine paradoxe Schlussfolgerung ergeben. Negri stellte sie sarkastisch heraus, als er sagte, dass denjenigen, die weiterhin Gefangene der konfessionellen Religionspraxis blieben und in der Messe das Papsttum als Vikariat Christi bekannten,
Vgl. M. Firpo und D. Marcatto, Il processo inquisitoriale del cardinal Giovanni Morone, Bd. 1– 6, Rom, 1981– 1995, Bd. 2, 897, 982. Für die Zitate vgl. Firpo, Juan de Valdés, 221, 222.
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wie zum Beispiel Pole, Grimani, Sorano und andere, von der römischen Inquisition nicht der Prozess hätte gemacht werden dürfen, sondern dass sie ihnen „molto ben cari, dando essi questo esempio a tanti galanti huomini d’Italia, i quali da loro pendevano et andavano a messa et confessavano il papato per vicariato di Christo“⁵⁵ [zugeneigt hätten sein müssen, weil sie doch vielen edlen Herren in Italien ein Beispiel gaben]. Die Behauptungen von Negri bestätigen historisch, dass die Bewegung des Valdés die Ausbreitung der Reformation in Italien behinderte, so wie es die Meldungen des Giulio da Milano (und von Calvin) beweisen, der davon sprach, dass Italien voller „dritter Sekten“ war. Diese konnten in ihrer unbeugsamen Art gegenüber der Orthodoxie Roms wie auch Genfs wie „nove scole“ [neue Schulen] des Christentums, „ordinate alloro modo“ [auf ihre eigene Art organisiert], erscheinen. Deswegen wurden sie von beiden verfolgt. Nach diesen Erkenntnissen kann man die These aufstellen, dass – neben der Unterdrückung durch die Inquisition, der Mitarbeit alter und neuer Orden an der Teilerneuerung der römischen Kirche, der Schwäche der politischen Gewalten und dem Gewirr ihrer feudalen Abhängigkeiten vom Papsttum, mit den für sie resultierenden Vorteilen –, auch ein charakteristisches kritisches Bewusstsein in den Kreisen vielfältiger heterodoxer „dritter Sekten“ das Fußfassen der Reformation in Italien behinderte. Damit soll die Bedeutung der zahlreichen philoprotestantischen Gruppen, der Lutheraner und der Calvinisten nicht geschmälert werden, die manchmal wirkliche Kirchen in Italien gründeten. Rund 20 Jahre vor dem Todesurteil des Serveto kam diese Kritik auf und verbreitete sich. Mit der Verurteilung wurde die autoritäre Wandlung der Reformation jenseits der Alpen deutlich, die sich in der Veränderung der neuen calvinistischen Kirche zur Intoleranz und zur unnachgiebigen Orthodoxie zeigte und sich darin nicht mehr von der römischen Kirche unterschied. Aufmerksamen Beobachtern wie auch den von den Lehren der Reformation betroffenen, und besonders den theologisch Gebildeten wie Camillo Renato und Bartolomeo Fonzio, wurde klar, dass die Entwicklung mit dem Verrat an den ursprünglichen Ansprüchen der lutherischen wie auch der calvinistischen Reformation endete. Der Verrat hatte in Wirklichkeit schon lange vor den tragischen Ereignissen des Jahres 1553 in Genf oder Wittenberg Anfang der dreißiger Jahre in Straßburg begonnen. Die härter werdenden Positionen von Bucer gegenüber den Täufern und den Spiritualisten einerseits (wie z. B. Franck, 1531 in die Verbannung geschickt) und von Schwenckfeld andererseits wurde den beiden italienischen Häretikern früh bewusst. Die Reisen, die sie danach in den dreißiger Jahren in die lutherischen Gebiete und auch zu den jungen schweizerischen Gemeinden unternahmen, schienen den Rückschritt der reformatorischen Bewegung zu bestätigen. Diese schien ihnen besonders in den deutschen Landen zum Instrument und Pfand der Herrscher und der gelehrten Theologen geworden zu sein, bis hin zum Zersplittern in unnachgiebige Orthodoxien, in von unaufhörlichen Diskussionen zerrissene Kirchen, und zur fortschreitenden Kriminali-
Ebd., 227.
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sierung des Dissenses. Die ursprünglichen evangelischen Ideale hingegen, zu denen Eintracht, Toleranz, Frieden und die Suche nach einem gemeinsamen Einvernehmen bezüglich der Erneuerung des Bewusstseins auf der Basis der Botschaft des Paulus mit seiner zentralen Idee von der Gnade der Rettung gehörten, schienen rasch in Vergessenheit geraten zu sein. In diesem Zusammenhang erscheint ein Element von besonderer Bedeutung, nämlich die Ausgrenzung des Theologisch-Dogmatischen und die daraus folgende Ablehnung, einen strukturierten theologischen Rahmen zu schaffen, der das Fundament einer religiösen Gemeinschaft, der Kirche, bilden konnte, und das ganze durch eine mit rechtlichen und zwingenden Vollmachten ausgestattete Aufsicht über Lehre, Institution und pastorale Hierarchie überwachen zu lassen. Allen Kirchenlehren war der Versuch gemein, die Ethik besonders unter ihren konkreten Aspekten in den Mittelpunkt der christlichen Erfahrung zu stellen, sowie die Weigerung, die Glaubenswahrheiten in dogmatischen Positionen zu fixieren, an die man nach bestem Gewissen zu glauben hatte, wenn man nicht riskieren wollte, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, in die Verbannung geschickt oder zum Tode verurteilt zu werden. Das Experimentieren, die freie Suche und das Nachdenken über die Grundsätze des christlichen Glaubens charakterisierten die oben genannten Bewegungen und Personen, und in kürzester Zeit forschte man nach radikalen und extremen Perspektiven und Hypothesen von der Toleranz bis zur Gewissensfreiheit, vom Deismus bis zum Rationalismus, die die Lösungen und Ergebnisse der folgenden Zeiten vorwegnahmen. So wurden diese in den von der Reformation betroffenen Ländern erst zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert teils bestätigt, überdacht und angepasst, und es dauerte noch viel länger, bis diese Ideen auch in die römisch-katholische Welt Einzug fanden. Die Besonderheiten der italienischen Reformation, der alle erwähnten heterodoxen Bewegungen angehörten, haben zur Verlangsamung, Bekämpfung und Eingrenzung der Verbreitung der lutherischen und calvinistischen Ideen geführt. Und die „dritten Sekten“, die charakteristisch für die italienische Reformation waren, stellten eine Vielfalt von alternativen Kirchenlehren zu Rom, Wittenberg und Genf dar. Sie wurden deswegen, außer von Calvin und seinen engsten Anhängern, auch von Italienern wie Giulio da Milano, Pier Paolo Vergerio und Francesco Negri, die der Genfer Reformation angehört hatten, angegriffen. Bei diesen Kirchengemeinden standen die Ethik des Christentums und das unverzichtbare Prinzip im Mittelpunkt, dass die christliche Erfahrung auf dem individuellen Bewusstsein und dem persönlichen Zugang zum Geist und zum Glauben als innere Erleuchtung der Gnade gründete. Alle waren damit zur Vereinigung mit Christus aufgerufen, was durch ein Erstarren in einer konfessionellen Orthodoxie nicht möglich war, beziehungsweise keinen Sinn hatte.
Peter Walter
Erasmus von Rotterdam und sein Umfeld 1 Der Beitrag des Humanisten Erasmus zu Frömmigkeit und Theologie 1.1 Humanistische Anfänge Bevor Martin Luther ab 1517 einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurde, war Erasmus von Rotterdam (1466 – 1536)¹ der wohl bekannteste und berühmteste Gelehrte seiner Zeit. Sein Ruhm erreichte nicht zuletzt aufgrund der im Jahre 1516 in Basel erschienenen, von Erasmus besorgten Erstausgabe des griechischen Neuen Testamentes mit einer eigenen lateinischen Übersetzung seinen Höhepunkt. Erasmus hat diese Ausgabe keinem Geringeren als dem „Stellvertreter Christi auf Erden“, Papst Leo X. (1475/1513 – 1521),² gewidmet. Ein solch hohes internationales Ansehen war für das uneheliche Kind, das ebenso wie sein älterer Bruder Peter aus der illegitimen Verbindung eines Klerikers mit ihrer Mutter hervorgegangen war, nicht vorhersehbar gewesen. In welchem Jahr Erasmus geboren wurde, ist unsicher. Die Angaben schwanken zwischen 1466 und 1469. Manche vermuten, er habe später sein Geburtsjahr zurückdatiert, um noch vor dem Eintritt des Vaters in den Klerikerstand gezeugt worden zu sein. Gegen eine solche Vermutung spricht, dass die meisten Angaben des Erasmus auf das frühere Datum hindeuten. Nach der Lebensmitte scheint er sich bisweilen jünger gemacht zu haben, zum einen vielleicht, um seine frühen literarischen Erzeugnisse, die jetzt auf den Markt geworfen wurden, um die Berühmtheit des Verfassers auszunutzen, als „Jugendsünden“ erscheinen zu lassen. Zum andern aber könnte er dies getan haben, um den Eintritt in das Augustinerchorherrenstift Steyn bei Gouda (1487) und die Ablegung der Gelübde ein Jahr später als eine im jugendlichen Alter getroffene unreife Entscheidung zu relativieren, um so Dispens von seinen Ordensgelübden zu erlangen.³ Zumindest damit hatte er Erfolg, 1517 erfüllte Leo X. seinen Wunsch. Priester blieb der 1492 in Utrecht ordinierte Erasmus jedoch.
Zu ihm, gerade unter theologischem Gesichtspunkt, vgl. C. Augustijn, Erasmus von Rotterdam. Leben – Werk – Wirkung, München, 1986; C. Christ-von Wedel, Erasmus von Rotterdam. Ein Porträt, Basel, 2016. Für die im Folgenden genannten Personen vgl. P. G. Bietenholz und T. B. Deutscher (Hg.), Contemporaries of Erasmus. A Biographical Register of the Renaissance and Reformation, 3 Bde., Toronto/ Buffalo/London, 1985 – 1987. Vgl. H.Vredeveld, „The Ages of Erasmus and the Year of His Birth“, in Renaissance Quarterly 46, 1993, 754– 809. https://doi.org/9783110498745-030
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Erasmus führte ein unstetes Wanderleben, das ihn nur jeweils für ein paar Jahre an einem Ort hielt. Nachdem er wegen seiner schon früh ausgeprägten Begabung im Lateinischen zwei Jahre als Sekretär des Bischofs von Cambrai gewirkt hatte, ging er 1495 zum Theologiestudium nach Paris, das mit Unterbrechungen für zehn Jahre sein Lebensmittelpunkt blieb. Hier hat er zunächst, wie damals üblich, nicht nur selber studiert, sondern auch als Tutor für junge Mitstudenten gewirkt. Diese führte er hauptsächlich in die studia humanitatis ein. Einer seiner Schüler,William Blount, Lord Mountjoy (um 1478 – 1534), nahm ihn 1499/1500 nach England mit. Dort lernte er den künftigen König Heinrich VIII. (1491/1509 – 1547) kennen und schloss mit dem späteren Dekan der St.-Pauls-Kathedrale in London, John Colet (1467– 1519), und dem künftigen Lordkanzler Thomas Morus (1477/78 – 1535) Freundschaft. Seinem Schüler Lord Mountjoy widmete Erasmus sein erstes größeres Werk, mit dem er sich als Humanist bekannt machte, eine Sammlung von über 800 antiken Sprichwörtern (Adagiorum Collectanea, Paris 1500), die er bis zu seinem Tod auf über 4150 erweiterte. Auch die Nachweise der Herkunft der Sprichwörter und die Kommentare des Erasmus wurden immer differenzierter.⁴
1.2 Der Ruf nach Reform der einzelnen Glaubenden und der Kirche 1504 erschien in Antwerpen das Enchiridion militis Christiani (Handbüchlein eines christlichen Streiters), das den Ruf des Erasmus als geistlicher Schriftsteller begründete. Erasmus bietet eine Anleitung zur rechten Frömmigkeit, die für ihn keineswegs allein Sache des geistlichen Standes, sondern allen Christen aufgetragen ist. Entsprechend dem Topos vom menschlichen Leben als Kriegsdienst, der sich sowohl bei stoischen Philosophen wie Seneca und Epiktet als auch im Neuen Testament (etwa Eph 6,11– 17) findet, charakterisiert Erasmus das Leben als einen Kampf, der nur mit den richtigen Waffen – Gebet und Kenntnis der Heiligen Schrift – gewonnen werden kann. Voraussetzung dafür ist die bereits von den Weisen der Antike empfohlene Selbsterkenntnis, die den Menschen seine Zugehörigkeit zu zwei unterschiedlichen Bereichen wahrnehmen lässt: Dem Leibe nach gehört er zum animalischen, der Seele nach zum geistigen, letztlich göttlichen Bereich. Die ursprüngliche, durch die Sünde gestörte Einheit beider soll dadurch wiedergewonnen werden, dass die Vernunft als das Göttliche im Menschen, das durch die Sünde nicht zerstört wurde, wieder zur Herrschaft gelangt. Dazu gibt Erasmus zweiundzwanzig Regeln und weitere Ratschläge an die Hand, die zur Überwindung der Vorherrschaft des Äußerlichen im einzelnen Menschen wie in Kirche und Welt helfen sollen. Sie werden von einer Kurze Charakteristiken der meisten in diesem Beitrag genannten Werke des Erasmus sowie Angaben zur Überlieferung und die wichtigste weiterführende Literatur finden sich bei P. G. Bietenholz u. a., „Erasmus von Rotterdam“, in: F.-J. Worstbrock (Hg.), Deutscher Humanismus 1480 – 1520. Verfasserlexikon, Bd. 1, Berlin/New York, 2008, 658 – 804.
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teilweise heftigen Kritik begleitet, die sich vor allem gegen die Mönche richtet, denen Erasmus eine besondere Qualität in Sachen Christsein bestreitet: „Das Mönchtum ist nicht mit der Frömmigkeit identisch, sondern eine Lebensweise, die für den einzelnen je nach seiner körperlichen oder geistigen Anlage nützlich oder unnütz ist.“ (H S. 135, Z. 8 – 9). War das Handbüchlein zunächst in einem Sammelband mit dem typisch humanistischen Titel Lucubrationes zusammen mit anderen geistlichen und theologischen Texten des Erasmus erschienen, kam 1515 erstmals eine Separatausgabe heraus. 1518 trat diese, versehen mit einem umfangreichen Vorwort, ihren Siegeszug an. In den Jahren 1506 – 1509 besuchte Erasmus das Ursprungsland der humanistischen Bewegung, Italien. Auf der Hinreise erwarb er an der unbedeutenden Universität in Turin den theologischen Doktorgrad und wurde Zeuge der Rückeroberung Bolognas für den Kirchenstaat durch Papst Julius II. (1443/1503 – 1513). Dessen triumphaler Einzug in die eroberte Stadt, bei dem der Papst die Uniform eines Feldherrn trug, bildete für Erasmus den Tiefpunkt eines Papsttums, das seine religiöse Sendung verleugnet. Möglicherweise hat er diese Missbilligung in dem satirischen Dialog Iulius exclusus e coelis (Speyer 1517) zum Ausdruck gebracht, in dem der Himmelspförtner Petrus seinem Nachfolger Julius II. wegen dessen wenig apostolischer Lebens- und Amtsführung den Zugang zum Himmel verwehrt. Erasmus hat die Autorschaft beständig abgestritten.⁵ Höhepunkt seines Italienaufenthaltes war für Erasmus weniger der Aufenthalt in Rom und das Zusammentreffen mit den dortigen Humanisten als die Mitarbeit in der berühmten Offizin des Aldus Manutius (um 1452– 1515), des berühmtesten Druckers seiner Zeit, in Venedig. Die griechischen Texte, die ihm hier zur Verfügung standen, ermöglichten es Erasmus, seine Ausgabe antiker Sprichwörter in einer wesentlich erweiterten Fassung vorzulegen (Adagiorum Chiliades,Venedig 1508). Von Italien aus reiste Erasmus nach England, wo er bis 1514 blieb. Unterwegs hat er sich seine wohl originellste Schrift ausgedacht, Moriae encomium (Lob der Torheit), die er im Haus des Thomas Morus niederschrieb, dem er sie widmete (Paris 1511, wesentlich erweitert Straßburg 1514). Erasmus spielt im Titel mit dem Gleichklang des Namens seines Freundes mit dem griechischen Adjektiv μωρός (töricht, dumm). Er lässt die Torheit (μωρία) als Person auftreten und sich selbst loben. Zunächst zeigt sie, dass das Leben ohne sie nicht denkbar wäre, da der Schein den Menschen besser gefällt als die Wirklichkeit. Sodann nimmt sie die verschiedenen Stände und gesellschaftlichen Gruppen aufs Korn. Sie kritisiert besonders die eingebildete Weisheit und den Dünkel der Theologen, der Mönche und des hohen und niederen Klerus. Am Ende bekommt das scherzhafte Werk eine ernste Wendung, wenn die Torheit im Anschluss an Paulus (1 Kor 1,18 – 31) von der Torheit der radikalen Christusnachfolge und im Gefolge von Platons Phaidros vom Wahnsinn derer spricht, die über die sinnliche Welt Während P. Fabisch (Iulius exclusus e coelis. Motive und Tendenzen gallikanischer und bibelhumanistischer Papstkritik im Umfeld des Erasmus, Münster, 2008) Erasmus nur im Hintergrund agieren sieht, hält die Herausgeberin dieser Schrift in der Amsterdamer Ausgabe, S. Seidel Menchi (ASD Bd. I8, 28 – 34), Erasmus für den Autor.
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hinausgewachsen sind oder die künftige Seligkeit gekostet haben. Nach diesem Verwirrspiel aus Scherz und Ernst bricht die Torheit ihre Rede abrupt ab. Nicht mehr Italien war für Erasmus, wie er 1516 an Johannes Reuchlin schrieb, die führende humanistische Nation, sondern England (Allen, Nr. 457, Bd. 2, S. 331, Z. 58 – 59). In Erzbischof William Warham (um 1456 – 1532) von Canterbury hatte der Humanist, der kein festes Einkommen bezog und auf Mäzene angewiesen war, einen seiner treuesten Unterstützer, der ihm eine regelmäßige Pension auszahlen ließ. Gegen Ende seines Lebens musste Erasmus erleben, dass der von ihm wegen der Förderung der humanistischen Bildung geschätzte König Heinrich VIII. in der Auseinandersetzung um seine Ehescheidung und im Gefolge der Loslösung der englischen Kirche von Rom die Freunde Thomas Morus und John Fisher (1469 – 1535), den Bischof von Rochester, hinrichten ließ. 1514 ging Erasmus, der entlang des Rheins von den humanistischen Sodalitäten begeistert begrüßt wurde, nach Basel, um mit dem dort ansässigen Drucker und Verleger Johannes Froben (um 1460 – 1527) zusammenzuarbeiten. Dieser hatte bereits 1513 einen verbesserten Nachdruck der Venezianer Ausgabe der Adagia herausgebracht, auf dessen Titelblatt Erasmus als „Zierde Deutschlands“ bezeichnet wird.⁶ Eigentlich hatte Erasmus diese Veröffentlichung bei einem Pariser Drucker geplant und war zunächst verärgert über den hinter seinem Rücken vollzogenen Wechsel zu Froben. Dieser empfahl sich jedoch durch die umfangreichen griechischen Zitate für die Herstellung des von Erasmus geplanten Neuen Testaments. Und so wurde daraus eine lange, intensive Zusammenarbeit.
1.3 Humanistische Philologie als Grundlage einer erneuerten Theologie 1516 erschien bei Froben in Basel die Erstausgabe des griechischen Neuen Testamentes, die Erasmus in den vergangenen Jahren vorbereitet hatte.⁷ Der nach Art der Zeit recht ausführliche und umständlich beschreibende Titel lautet: Das gesamte Neue Testament, von Erasmus von Rotterdam sorgfältig durchgesehen und verbessert nicht nur nach dem griechischen Urtext, sondern auch nach dem Zeugnis vieler alter korrekter lateinischer sowie griechischer Handschriften, schließlich nach Zitaten, Verbesserungen und Auslegungen der zuverlässigsten Autoren, insbesondere Origenes, Chrysostomus, Cyrillus, Vulgarius [d.i. Theophylakt], Hieronymus, Cyprian, Ambrosius, Hilarius und Augustinus, zusammen mit Anmerkungen, die den Leser darüber informieren, was aus
[Erasmus], Erasmi Roterodami Germaniae decoris Adagiorum Chiliades […], Basel, 1513. Vgl. dazu F. Hieronymus (Hg.), Griechischer Geist aus Basler Pressen, Basel, 1992, 16 – 20. Vgl. M. Wallraff, S. Seidel Menchi und K. von Greyerz (Hg.), Basel 1516. Erasmus’ Edition of the New Testament, Tübingen, 2016.
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welchem Grund verändert wurde. ⁸ Der Titel umschreibt ziemlich exakt, was Erasmus hier vorgelegt hat: eine neue lateinische Übersetzung des Neuen Testamentes, welcher, damit jeder die Richtigkeit überprüfen kann, der griechische Urtext beigegeben ist. Dieser ist aus zahlreichen Handschriften und Zitaten bei den wichtigsten Kirchenvätern rekonstruiert. In einem umfangreichen Anhang werden die Abweichungen von der in der Spätantike entstandenen Vulgata begründet, der durch jahrhundertelangen Gebrauch in Liturgie und Theologie geheiligten lateinischen Übersetzung. Ziel dieses Werkes ist es, wie Erasmus in seiner Widmung an Papst Leo X. schreibt, den Christen, welche nach der Auffassung des Erasmus lange aus den Tümpeln einer oft ungenauen bzw. verderbten Übersetzung und aus den Rinnsalen der scholastischen Theologie schöpfen mussten, die reine Quelle der „christlichen Philosophie“ (philosophia christiana), wie er in Anlehnung an die Kirchenväter das Leben aus dem Glauben nennt, wieder zugänglich zu machen (Allen, Nr. 384, Bd. 2, S. 185, Z. 42– 55). Um auch den Ungelehrten die Lektüre zu ermöglichen, hat Erasmus muttersprachliche Übertragungen gefordert. Luther hat dies für die deutsche Sprache verwirklicht. Er griff für seine Übersetzung des Neuen Testamentes, die er 1522 während seiner Zeit auf der Wartburg anfertigte, auf die zweite Auflage der Ausgabe des Erasmus (Basel 1519) zurück. Erasmus hat der Textausgabe neben der schon genannten Widmungsvorrede an Papst Leo X. drei Einleitungsschriften vorangestellt: eine Aufforderung zur Bibellektüre (Paraclesis), eine Anleitung zur Schriftauslegung (Methodus) und eine Verteidigung gegen Kritiker (Apologia). Unter ihnen verdient v. a. die mittlere Beachtung, von der 1518 in Löwen eine wesentlich erweiterte und ihrerseits vielfach aufgelegte Separatausgabe Ratio seu methodus compendio perveniendi ad veram theologiam (Methodenlehre, um auf kürzestem Wege zur wahren Theologie zu gelangen) erschien. Ausgehend von der Einsicht, dass die Heilige Schrift als Text nicht nur grammatischen, sondern auch rhetorischen Regeln folgt, versucht Erasmus hier, die antike Rhetorik für die Schriftauslegung fruchtbar zu machen.⁹ Die Textausgabe, an deren Verbesserung er in weiteren vier Auflagen (1519, 1522, 1527, 1535) gearbeitet hat, wurde sowohl von Verfechtern der Vulgata als auch von Humanisten teilweise heftig und keineswegs nur unberechtigt kritisiert. Erasmus und seine Mitarbeiter haben überstürzt gearbeitet, um einem spanischen Konkurrenzunternehmen zuvorzukommen. Da ihm in den von ihm benutzten griechischen Handschriften die letzten Verse des letzten neutestamentlichen Buches, der Offenbarung des Johannes, fehlten, hat Erasmus diese kurzerhand aus der Vulgata zurückübersetzt. Dies und die genannten
[Erasmus], Nouum instrumentum omne, diligenter ab Erasmo Roterodamo recognitum et emendatum, non solum ad graecam ueritatem, uerumetiam ad multorum utriusque linguae codicum, eorum ueterum simul et emendatorum fidem, postremo ad probatissimorum autorum citationem, emendationem et interpretationem, praecipue, Origenis, Chrysostomi, Cyrilli, Vulgarii, Hieronymi, Cypriani, Ambrosii, Hilarii, Augustini, una cum Annotationibus, quae lectorem doceant, quid qua ratione mutatum sit, Basel, 1516. Vgl. P.Walter, Theologie aus dem Geist der Rhetorik. Zur Schriftauslegung des Erasmus von Rotterdam, Mainz, 1991.
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Flüchtigkeitsfehler hat Erasmus später verbessert. Es bleibt jedoch der von neutestamentlichen Textkritikern gern geäußerte Vorwurf, Erasmus habe aufgrund seiner Verwendung von ausschließlich späten byzantinischen Handschriften einen minderwertigen Text hergestellt. Die Gleichsetzung von spät und minderwertig wird heute jedoch relativiert: Späte Handschriften können durchaus einen Text präsentieren, dessen frühe Zeugnisse verloren gegangen sind, und alte Handschriften müssen nicht unbedingt einen besseren Text bieten. „It remains possible that the text which Erasmus produced 500 years ago is, at numerous passages, better than some of the more recent editions which have attempted to replace it.“¹⁰ Neben Text und Übersetzung des Neuen Testaments sind es die zahlreichen Ausgaben von Werken der Kirchenväter – von den Briefen des Hieronymus (um 347– 419), die Erasmus 1516 herausbrachte, bis zur lateinischen Gesamtausgabe des Origenes (um 184-um 253), an der er in seinem letzten Lebensjahr arbeitete –, mit denen er zur Erneuerung der Theologie beitrug.
1.4 Erasmus als Ausleger der Heiligen Schrift Erasmus hat jedoch nicht nur eine kommentierte Ausgabe des Neuen Testaments vorgelegt, sondern veröffentlichte zwischen 1517 und 1524 in regelmäßiger Folge Paraphrasen, zunächst zum neutestamentlichen Briefcorpus, beginnend mit dem Römerbrief, dann zu den Evangelien und schließlich zur Apostelgeschichte, somit zum gesamten Neuen Testament mit Ausnahme der Offenbarung des Johannes.Während es ihm in seiner lateinischen Übersetzung um eine möglichst getreue Wiedergabe des Textes ging, sollten die Paraphrasen, die Erasmus zur Gattung des Kommentars zählte, in freierer Weise den Inhalt der biblischen Texte wiedergeben. Während Übersetzungen wie die Vulgata, aber auch diejenigen von Erasmus und Luther, den Urtext bis in die Wortstellung im Satz nachahmen, kann die Paraphrase mehr den Gesetzen der lateinischen Sprache entsprechen und zugleich dunkle Aussagen erklären, um das Verständnis zu erleichtern. Die Paraphrase vermag das Gesagte anders auszudrücken, ohne dennoch anderes zu sagen (sic aliter dicere vt tamen non dicas alia [Allen, Nr. 710, Bd. 3, S. 138, Z. 30 – 31]). Es entsteht die Fiktion, als spräche der Autor selber (Paulus ipse loqui videatur [Ebd., Z. 47– 48]). Um seinen Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen, relativierte Erasmus später den damit gegebenen Anspruch und betonte den kommentierenden Charakter der Paraphrase (Allen, Nr. 1333, Bd. 5, S. 172, Z. 395 – 397; Nr. 1381, ebd., S. 322, Z. 420 – 424). Während der Kreis der Widmungsempfänger der übrigen Paraphrasen sich im üblichen Rahmen hielt, hat Erasmus die Paraphrasen zu den Evangelien und zur Apostelgeschichte den höchsten weltlichen und geistlichen Würdenträgern seiner Zeit
A.J. Brown, „The Manuscript Sources and Textual Character of Erasmus’ Greek New Testament“, in: Wallraff, Seidel Menchi und von Greyerz, Basel 1516, 125 – 144, hier: 142.
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zugeeignet. Die Matthäus-Paraphrase widmete er Kaiser Karl V., die zu Markus König Franz I. von Frankreich, die zu Lukas König Heinrich VIII. von England, die zu Johannes dem Bruder und späteren Nachfolger des Kaisers Ferdinand, die zur Apostelgeschichte Papst Klemens VII. Die theologischen Schwerpunkte seiner Auslegung entsprechen den im Enchiridion bzw. den Einleitungsschriften herausgearbeiteten, mit einem Wort der erasmischen philosophia Christi. Die Paraphrasen erreichten eine beachtliche Breitenwirkung sowohl in der lateinischen Originalfassung als auch in volkssprachlichen Übersetzungen, vor allem in England, wo laut königlichem Erlass von 1547 in jeder Pfarrkirche ein Exemplar der englischen Übersetzung der Evangelienparaphrasen zum allgemeinen Gebrauch aufliegen musste.¹¹ Im deutschsprachigen Raum wurde der Anfangserfolg der von Leo Jud (um 1482– 1542), einem engen Mitarbeiter Zwinglis, ins Deutsche übersetzten Paraphrasen der neutestamentlichen Briefe durch das Erscheinen von Luthers Übersetzung des Neuen Testaments gebremst, sodass die Evangelienparaphrasen erst spät übersetzt wurden.¹² Parallel zu seiner Ausgabe des Neuen Testaments und zu seinen neutestamentlichen Paraphrasen begann Erasmus seine Psalmenauslegung, die insgesamt elf Psalmen umfasst und sich unterschiedlicher Formen bedient. Zeitweise scheint er sich mit dem Gedanken getragen zu haben, den gesamten Psalter zu kommentieren oder zu paraphrasieren, hat aber nach dem Kommentar zu Psalm 4 die fortlaufende Kommentierung aufgegeben und sich, ohne erkennbares Prinzip, einzelnen Psalmen zugewandt. Insgesamt handelt es sich wohl eher um Gelegenheitsarbeiten. In drei Fällen verfasste Erasmus ausgehend vom Text eines Psalms Traktate zu aktuellen Fragen: über die Reinheit der Kirche (Psalm 14 [15]), über den Krieg gegen die Türken (Psalm 28 [29]), über die Wiederherstellung der Kircheneinheit (Psalm 83 [84]). Seine Auslegung von Psalm 28 (29) erschien kurz nach den ersten „Türkenschriften“ Luthers von 1529 unter dem Titel Utilissima consultatio de bello Turcis inferendo (Sehr nützlicher Ratschlag zum zukünftigen Krieg gegen die Türken, Basel, 1530). Die Türken sind, wie Erasmus unter Verwendung des zentralen Stichwortes dieses Psalms darlegt, eine vox Domini (Stimme des Herrn), um die Christen zur Umkehr zu rufen. Sie verdanken ihre Siege, wie zuletzt bei der Schlacht von Mohács (1526), der die Belagerung von Wien (1529) folgte, nicht ihrer eigenen Tugend, sondern den Untugenden der Christen, die der Schlechtigkeit ihrer Gegner in nichts nachstehen. Ein gerechter Krieg gegen die Türken kann nur erfolgreich sein, wenn die christlichen Völker und ihre Führer die Ursache überwinden, die Gottes Zorn in Gestalt der türkischen Invasion hervorgerufen hat, ihre Sündigkeit. Anders als Luther, der vor allem das Papsttum als Grund des göttlichen Zornes sah, suchte Erasmus die Schuld bei der gesamten Christenheit. Er schloss einen Krieg gegen die Türken, in dem freilich gewisse moralische Mindeststandards eingehalten werden müssten, nicht Vgl. J. Craig, „Forming a Protestant Consciousness? Erasmus’ Paraphrases in English Parishes, 1547– 1666“, in: H. M. Pabel und M.Vessey (Hg.), Holy Scripture Speaks. The Production and Reception of Erasmus’ Paraphrases on the New Testament, Toronto/Buffalo/London, 2002, 313 – 359. Vgl. H. Holeczek, Erasmus deutsch, Bd. 1, Stuttgart-Bad Cannstatt, 1983, 109 – 128.
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völlig aus, forderte aber die Christen auf, christlicher zu werden und auf diese Weise die Gegner zu bekehren. Da die Auslegung von Psalm 83 (84) sich auf die Auseinandersetzung mit den Reformatoren bezieht, wird sie im nächsten Abschnitt behandelt. Auch wenn Erasmus stets philologische und historische Details erklärte, war die Zielrichtung seiner Psalmenauslegung eine dezidiert geistliche. Mit fast der gesamten christlichen Tradition, nicht zuletzt auch Martin Luther, hielt er an der christologischen und ekklesiologischen Deutung der Psalmen fest. Im Vordergrund stand für ihn freilich die tropologische Auslegung, welche die zum Grundbestand des christlichen Betens, vor allem der Geistlichen, gehörenden Texte auf das christliche Leben bezieht und sie dafür fruchtbar machen möchte.
2 Erasmus und die Luther-Sache 2.1 Nähe und Distanz Zeitgenossen konnten Luthers Aufbegehren gegen den Ablasshandel als eine Fortsetzung der von Erasmus seit seinem Enchiridion geäußerten und im Lob der Torheit nochmals verstärkten Kritik insbesondere an den Mönchen, die sich für die besseren Christen hielten, und an einer veräußerlichten, auf Messhäufigkeit, Reliquienverehrung, Wallfahrten usw. konzentrierten Frömmigkeit sehen. Kölnische Franziskaner brachten diesen Eindruck auf den Punkt, als sie behaupteten, Erasmus habe das Ei gelegt, das Luther ausgebrütet hat (Allen, Nr. 1528, Bd. 5, S. 609, Z. 11). Sie waren keineswegs die ersten katholischen Kritiker, die einzelne Werke wie das Lob der Torheit oder das gesamte Vorhaben des Erasmus, die Theologie auf eine philologisch gesicherte Basis zu stellen und daraus zu erneuern, ablehnten.¹³ Erasmus hegte anfänglich durchaus Sympathien für Luther. Dessen Name, den er mit dem deutschen Wort „Läuterer“ zusammenbrachte, weil sein im Bergbau tätiger Vater bei der Erzschmelze mit dem Entfernen unerwünschter Bestandteile beschäftigt war, erschien ihm, wie er 1526 aus der Rückschau schreibt, als ein gutes Omen (Allen, Nr. 1672, Bd. 6, S. 275, Z. 44– 46). Diese Sympathie hinderte Erasmus nicht, bei seinem Basler Drucker zu intervenieren, nachdem dieser 1518 einen umfangreichen Sammelband mit lateinischen Schriften des Reformators herausgebracht hatte, da auch er an dem Geschäft teilhaben wollte, das der Verkauf von Werken Luthers eröffnete, die rasenden Absatz fanden. Froben stellte daraufhin diese Sparte seiner Buchproduktion schnell wieder ein. Luther war darauf ohnehin nicht angewiesen. Andere Basler Drucker sprangen gerne in die Bresche. Der aus Schlettstadt (Elsass) stammende Humanist Beatus Rhenanus (1485 – 1547), der mit Erasmus eng verbunden war und nach dessen Tod die erste Biographie des Verstorbenen sowie eine Gesamtausgabe
Vgl. E. Rummel, Erasmus and his Catholic Critics, 2 Bde., Nieuwkoop, 1989.
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seiner Werke herausgebracht hat (9 vol., Basel 1540 – 1542), betätigte sich hinter dessen Rücken als Propagandist für Luther, ebenso wie er sich für den Absatz der Schriften des Erasmus einsetzte.¹⁴ Das ist kein Widerspruch, denn Luther wurde in den ersten Jahren noch primär als Kirchenreformer im Geiste des Erasmus wahrgenommen. Dessen Intervention bei Froben bezog sich auch weniger auf den Inhalt der Lutherschriften als auf die ihm dadurch erwachsende Konkurrenz. Er befürchtete, „sich fortan mit Luther die Bühne teilen“¹⁵ zu müssen, konnte aber den steilen Aufstieg Luthers nicht verhindern. Persönlich sind Erasmus und Luther sich nie begegnet. Ihr direkter Kontakt bestand aus Briefen. Den Anfang machte Luther, zunächst noch indirekt. Ende 1516 hat er, ohne seinen Namen preiszugeben, durch die Vermittlung von Georg Spalatin (1484– 1545) Erasmus seine Bedenken zur Sicht der paulinischen Rechtfertigungslehre in dessen Anmerkungen zum Neuen Testament mitgeteilt. Vor allem missbilligte er, dass Erasmus die Interpretation Augustins von Röm 5,12 als Beleg für die Ursünde infrage stellte (Allen, Nr. 501, Bd. 2, S. 417, Z. 49 – 418, 72).¹⁶ Ende März 1519 ergriff Luther die Initiative und schrieb an Erasmus, den er überschwänglich als „unsere Zierde und unsere Hoffnung“ (Allen, Nr. 933, Bd. 3, S. 517, Z. 2– 3) bezeichnete und sich selbst als „kleinen Bruder in Christus“ (Ebd., S. 518, Z. 31). Erasmus antwortete nicht sogleich. Mitte April nahm er Luther in einem Brief an dessen Landesherrn Kurfürst Friedrich den Weisen (1463 – 1525) gegen den Vorwurf der Häresie in Schutz (Allen, Nr. 939, Bd. 3, S. 530, Z. 66 – 86) und bestärkte diesen später darin, Luther zu beschützen. Erst Ende Mai 1519 antwortete Erasmus Luther, den er mit „liebster Bruder in Christus“ (Allen, Nr. 980, Bd. 3, S. 605, Z. 1) anredete, und berichtete ihm, welche heftigen Reaktionen seine Schriften in der katholischen Hochburg Löwen, wo Erasmus seit 1517 lebte, auslösten, und zwar nicht nur gegen Luther, sondern auch gegen ihn selber (Ebd., Z. 4– 27). Erasmus wurde öffentlich, etwa in Predigten, angegriffen. Die „Luther-Tragödie“ sei, beklagte er in einem Brief vom Mai 1521 an Beatus Rhenanus, zu einem solchen Streit entbrannt, dass weder das Reden noch das Schweigen sicher sei. Alles, auch das in bester Absicht Geschriebene, werde in unterschiedliche Richtungen auseinandergerissen. Auch die Zeit, zu der etwas geschrieben worden sei, werde nicht beachtet. Was zu einer Zeit zu Recht geschrieben worden sei, werde in eine völlig unpassende Zeit verlagert (Allen, Nr. 1206, Bd. 4, S. 499, Z. 46 – 50). Erasmus machte die Erfahrung, dass einige seiner Briefe zur Luthersache zugespitzt veröffentlicht wurden, noch bevor sie ihren Adressaten erreichten. So im Falle eines Schreibens vom
Vgl. P. Walter, „Die Rückkehr des Erasmus nach Basel 1521 und Beatus Rhenanus“, in: J. Hirstein (Hg.), Beatus Rhenanus et une réforme de l’Eglise: engagement et changement. Actes du colloque international tenu les 5 et 6 juin 2015 à Strasbourg et à Sélestat, Turnhout, 2017 (im Erscheinen). C. Galle, Hodie nullus – cras maximus. Berühmtwerden und Berühmtsein im frühen 16. Jahrhundert am Beispiel des Erasmus von Rotterdam, Münster, 2013, 312. Das Konzil von Trient wird – in Übereinstimmung mit Luther – im 4. Kanon seines Dekrets über die Ursünde die philologisch falsche Interpretation Augustins verteidigen, indem es den 2. Kanon der Synode von Karthago von 418 zitiert. Vgl. DH Nr. 1514 im Vergleich mit Nr. 223.
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Juni 1519 an Kardinal Albrecht von Brandenburg (1490 – 1545), in dem Erasmus sich wohlwollend zu Luther geäußert hat.¹⁷ 1521 übersiedelte Erasmus nach Basel, wo er in der inzwischen von Anhängern der Reformation beherrschten Stadt zusammen mit einigen katholisch gebliebenen Bürgern relativ unbehelligt leben und arbeiten konnte. Zur Luthersache nahm er immer wieder Stellung. In seinem letzten Schreiben an Ulrich Zwingli (1484– 1531) vom 31. August 1523 etwa äußerte er sein Unverständnis für Luthers paradoxa („Paradoxe“), für die er nicht zu sterben bereit sei wie jene drei Augustiner, die jüngst in Brüssel verbrannt wurden (Allen, Nr. 1384, Bd. 5, S. 327, Z. 1– 6). Luther bestreite ihm den Besitz des Geistes. Er aber frage ihn, Zwingli, was das für ein Geist sei. Er habe alles gelehrt, was Luther lehre, aber nicht so atrociter („schrecklich“), weil er sich bestimmter Rätsel und Paradoxe enthalten habe (Ebd., S. 330, Z. 87– 91). Zu den Rätseln, die er aufzählt (Ebd., S. 327, Z. 10 – 13), gehört zentral die Bestreitung des freien Willens. Luther hatte diese These in der Heidelberger Disputation 1518 aufgestellt (WA 1, S. 354, Z. 5 – 6) und, nachdem sie in der Bannandrohungsbulle Exsurge Domine 1520 verurteilt worden war (Nr. 36: DH 1486) in seiner Assertio aus demselben Jahre verteidigt (WA 7, S. 142– 149).
2.2 Die Auseinandersetzung um den freien Willen Auf die Dauer konnte Erasmus sich der unter anderen auch von König Heinrich VIII. geäußerten Aufforderung, in der Luthersache Stellung zu nehmen, nicht entziehen. Er tat dies 1524 in seiner Schrift De libero arbitrio διατριβή sive collatio (Wissenschaftliche Unterredung oder Textvergleichung über den freien Willen), die nicht nur gegen die Position Luthers, sondern auch gegen diejenige anderer Reformatoren wie Andreas Bodenstein von Karlstadt (um 1480 – 1541) und Philipp Melanchthon (1497– 1560) gerichtet ist. Man kann Erasmus vorwerfen, dass er durch das Aufgreifen einer kirchlich verurteilten Aussage die Situation nur verschlimmert habe. Man kann aber auch, gerade wenn man seinen offenen Argumentationsstil betrachtet, darin den Versuch sehen, den abgerissenen Gesprächsfaden mit Luther neu zu knüpfen.¹⁸ Erasmus argumentiert in dieser Schrift in einer für ihn typischen Weise, die seine Kritiker, allen voran Luther, als Skeptizismus desavouierten. Er trägt die Bibeltexte zusammen, die für und gegen die Annahme eines freien Willens in Hinordnung auf das Heil sprechen, diskutiert das Für und Wider und überlässt am Ende den Lesern die Entscheidung. Er beschränkt sich auf die Bibel, da diese von Luther als einzige Autorität in theologischen Streitfragen anerkannt wird. In der Einleitung wirft Erasmus jedoch die Frage nach der rechten Auslegung der Heiligen Schrift auf, da die Dun Vgl. Allen, Nr. 1033, Bd. 4, 96 – 107. Dazu vgl. P. Walter, „Albrecht von Brandenburg und Erasmus von Rotterdam“ [1991], in: ders., Syngrammata. Gesammelte Schriften zu Theologie und Kirche am Mittelrhein, hg. von C. Arnold, Würzburg, 2015, 259 – 276, hier: 268 – 270. Vgl. M. O’Rourke Boyle, Rhetoric and Reform. Erasmus’ Civil Dispute with Luther, Cambridge, Massachusetts / London, 1983, 34– 38.
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kelheit mancher ihrer Aussagen, gerade auch in der diskutierten Frage, danach verlange. Er stellt die Frage, ob es nicht wahrscheinlich sei, dass Gott denen, welche er in der kirchlichen Hierarchie zu Nachfolgern der Apostel berufen habe, auch den Geist verliehen habe, die Schrift auszulegen (W S. 15, Z. 7– 13). Im ersten Hauptteil, der eigentlichen collatio, stellt er sodann die Bibeltexte zusammen, die für beziehungsweise gegen den freien Willen sprechen, um schließlich im zweiten Hauptteil, der diatribe, auf dieser Basis das Problem philosophisch und theologisch zu diskutieren. Allerdings beschränkt Erasmus sich im ersten Teil nicht auf eine Sammlung von biblischen Zitaten, sondern versucht, die traditionellerweise gegen den freien Willen des Menschen angeführten Bibelstellen zu entkräften, wobei er sich hauptsächlich auf den Kirchenvater Origenes stützt, der sich damit bereits auseinandergesetzt hat.¹⁹ Wie Luther schließt Erasmus jede Selbsterlösung des Menschen aus. Aber im Gegensatz zu dem Reformator sieht Erasmus den Menschen auch nach dem Sündenfall der ersten Menschen mit einem freien Willen begabt. Dieser ist durch die Ursünde keineswegs ausgelöscht, wie Luther annimmt, sondern lediglich geschwächt, durch die Erlösung in Jesus Christus aber wiederhergestellt. Die Leugnung des freien Willens im erlösten und glaubenden Menschen ist für Erasmus weniger ein Unrecht gegenüber den Menschen, deren Schwachheit er nicht bestreitet, sie ist vielmehr ein Unrecht Gott gegenüber, der die Menschen durch Christus erlöst und dadurch gleichsam neu geschaffen hat. Gottes Gnade und der freie Wille des Menschen verhalten sich nach Erasmus zueinander wie die Erst- zur Zweitursache. Gott kommt dem sündigen Menschen entgegen, regt den freien Willen an und führt ihn zur Vollendung, aber er nimmt ihm die Entscheidung nicht ab, das Heilsangebot anzunehmen oder dessen Annahme zu verweigern. Ohne einen solchen freien Willen wäre verantwortliches moralisches Handeln unmöglich. Unter den Beispielen, mit denen Erasmus dies verdeutlicht, findet sich auch dasjenige eines Vaters, der seinem Kind, das noch nicht richtig laufen kann, einen Apfel zeigt, und dieses, während es die ersehnte Frucht zu erreichen sucht, stützt und ihm schließlich als Lohn für seine Anstrengung den Apfel gibt (W S. 83, Z. 30 – 84, 11). Die Leugnung des freien Willens ist für Erasmus ein Paradox, das durch zahlreiche „Hilfsparadoxe“ wie die maßlose Übertreibung der Erbsünde gestützt wird (W S. 87, Z. 12– 25). Am Ende überlässt Erasmus, entsprechend der literarischen Gattung der diatribe, den Lesern die Entscheidung in der Streitfrage, die für ihn, im Gegensatz zu Luther, die Glaubensgemeinschaft nicht sprengen muss. In der Tat waren die von Erasmus und Luther bezogenen unterschiedlichen Positionen, die letztlich auf einer verschiedenartigen Augustinusinterpretation gründeten, auch im Spätmittelalter von Theologen aus dem Augustinerorden eingenommen worden, ohne dass dies zu einer Kirchenspaltung geführt hätte, etwa von Gregor von
Vgl. P. Walter, „Inquisitor, non dogmatistes. Die Rolle des Origenes in der Auseinandersetzung des Erasmus von Rotterdam mit Martin Luther“ [2012], in: ders., Syngrammata. Gesammelte Schriften zu Humanismus und Katholischer Reform, hg. von G. Wassilowsky, Münster, 2015, 187– 201.
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Rimini (um 1305 – 1358), dem die Position Luthers nahesteht, und Hugolin von Orvieto (um 1300 – 1373), dessen Auffassung Erasmus favorisiert.²⁰ Luther hatte schon früher Reserven gegenüber Erasmus empfunden, wie er in einem Brief vom 18. Januar 1518 an Georg Spalatin äußerte. Er unterstellte dem Humanisten einen rein philologischen Zugang zur Heiligen Schrift, während er einen geistlichen bevorzugte. Während Erasmus auf der Seite des Hieronymus stehe, sei Augustinus und insbesondere dessen Gnadenlehre seine theologische Basis (WA.Br, Nr. 57, Bd. 1, S. 133 – 134). Auf De libero arbitrio antwortete er ein Jahr später mit seiner kämpferischen Gegenschrift De servo arbitrio (Vom unfreien Willen: WA 18, [551] 600 – 787), in der er sich hauptsächlich mit der Einleitung der erasmischen Schrift auseinandersetzt. Positiv hebt er hervor, dass Erasmus quasi als einziger seiner Gegner den Kern der reformatorischen Lehre getroffen habe (WA 18, S. 787).²¹ Negativ bestreitet er rundheraus dessen Kompetenz, sich zu theologischen Fragen zu äußern, da er ihm entsprechendes Wissen abspricht und lediglich Eloquenz zugesteht (Ebd., S. 600 – 602), und formuliert die Vorurteile, die Erasmus noch heute anhängen, vor allem, er sei ein Skeptiker und scheue vor festen Aussagen zurück (Ebd., S. 603 – 605). Inhaltlich lehnt Luther das Vorgehen des Erasmus ab, die Schriftstellen, die gegen einen freien Willen sprechen, im Anschluss an die Kirchenväter Origenes und Hieronymus im übertragenen Sinn zu interpretieren. Wenn Gott im Buch Exodus sage: „Ich werde das Herz des Pharao verhärten“ (Ex 4,21; 14,4), dann sei das auch so gemeint und nicht umzudeuten (Ebd., S. 702– 705, 708). Erasmus antwortet auf Luther 1526/27 mit einer umfangreichen, zwei Bände umfassenden Verteidigungsschrift Hyperaspistes diatribae adversus servum arbitrium Martini Lutheri (Beschützer für die ‚Unterredung‘ gegen den ‚Unfreien Willen‘ Martin Luthers: LB X, Sp. 1249 A-1336C, 1337 A-1536F). Darin verteidigt er sich vor allem gegen den Vorwurf, er sei ein ungläubiger Skeptiker. In der Sache selber bringt er keine neuen Argumente. Luthers Bestreitung des freien Willens und Behauptungen wie die, dass auch die guten Werke Todsünden seien, bezeichnete Erasmus erneut als „Paradoxe“ (LB X, Sp. 1254DE und öfter). Deutlich ist seine Absage an Luther: „Von der katholischen Kirche bin ich niemals abgefallen. Danach, deiner Kirche anzugehören, stand mir niemals der Sinn, sodass ich, ein aus vielen Gründen sehr unglücklicher Mensch, mir gewiss aus dem Grund überaus glücklich erscheine, mich beständig von eurem Bündnis ferngehalten zu haben. Ich weiß, dass mir in der Kirche, die ihr die papistische nennt, vieles missfällt. Solches sehe ich aber auch in deiner Kirche. Man
Vgl. C. Burger, „Erasmus’ Auseinandersetzung mit Augustin im Streit um Luther“, in: Leif Grane, Alfred Schindler und Markus Wriedt (Hg.), Auctoritas Patrum. Contributions on the perception of the Church Fathers in the 15th and 16th century, Mainz, 1993, 1– 14. Erasmus ist freilich keineswegs der Erste, der die Position Luthers in der Frage der Willensfreiheit kritisiert hat. Vgl. den Überblick über die katholischen Kontroverstheologen, die sich zwischen 1519 und 1525 dazu geäußert haben, bei H. Jedin, Des Johannes Cochlaeus Streitschrift de libero arbitrio hominis (1525). Ein Beitrag zur Geschichte der vortridentinischen katholischen Theologie, Breslau, 1927, 17– 47.
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erträgt aber leichter die Übel, an die man sich gewöhnt hat. Ich ertrage also diese Kirche, bis ich sie gebessert sehe, und diese ist gezwungen mich zu ertragen, bis ich selber ein besserer geworden bin. Derjenige segelt nicht unglücklich, der zwischen zwei Übeln den mittleren Kurs hält.“ (LB X, Sp. 1257F–1258 A). An denen, „die sich fälschlicherweise für evangelisch halten“,²² störte Erasmus zweierlei: zum einen die Auffassung, den ursprünglichen Zustand des Christentums wiederherstellen zu können, und zum andern die Inkongruenz zwischen Anspruch und Verhalten. Erasmus ist sich sicher, dass Paulus, wenn er heute lebte, nicht den gegenwärtigen Zustand der Kirche missbilligen, sondern die Laster der Menschen anklagen würde. Die Laster des kirchlichen Führungspersonals, von denen auch in dieser Schrift vielfach die Rede ist, seien zu heilen, aber ohne Tumult, und man solle sich davor hüten, dass die Heilmittel mehr Schaden zufügten als die Krankheit. Aber wie will man zusammenkommen, wenn der eine Teil nichts erneuert sehen und der andere nichts belassen möchte? (ASD IX-1, S. 308, Z. 695 – 702). Angesichts der geschichtlichen Entwicklung der Kirche, in der vieles zum Besseren verändert wurde, hält Erasmus es für absurd, den Ursprungszustand wiederherstellen und das Rad der Geschichte zurückdrehen zu wollen. Das sei so, wie wenn man einen Erwachsenen wieder in die Wiege und in die Kindheit zurückrufen wolle (Ebd., S. 304, Z. 623 – 625). Statt die Kirche zu verbessern, hätten diejenigen, die sich fälschlicherweise Evangelische nennten, die bisherigen Reformbemühungen konterkariert. An erster Stelle nennt Erasmus den Bildersturm, der ihn 1529 aus Basel vertrieben hat, sodann die Abschaffung von Messe und Beichte und anderes mehr. Für wenig überzeugend hält er die grimmigen Gesichter derer, die von einer Predigt kommen (Ebd., S. 292, Z. 241– 270).
2.3 Verständigungsversuche Doch Erasmus gab die Hoffnung auf eine Versöhnung nicht auf. Drei Jahre später veröffentlichte er unter dem Titel Liber de sarcienda Ecclesiae concordia (Buch von der Wiederherstellung der Eintracht der Kirche, Basel, 1533) einen Kommentar zu Psalm 83(84), der um den Gedanken der concordia kreist, der für Erasmus den „Inbegriff der christlichen Religion“ (R. Stupperich, Einleitung, in ASD V-3, S. 247) darstellt.²³ Erasmus widmete dieses Werk dem humanistisch gebildeten Juristen und späteren Bischof von Naumburg Julius Pflug (1499 – 1564), der um einen Ausgleich zwischen den Religionsparteien bemüht war. Dieser hatte Erasmus im Januar 1533 gebeten, die Krankheit der Kirchenspaltung mit einer heilsamen, keineswegs bitteren Medizin, zu
[Erasmus], Epistola Des. Erasmi Rot. contra quosdam, qui se falso iactant Euangelicos, Freiburg im Breisgau, [1530]: ASD IX-1, 279. Vgl. P. Walter, „Humanismus, Toleranz und individuelle Religionsfreiheit. Erasmus und sein Umkreis“ [2007], in: ders., Syngrammata, hg. von G. Wassilowsky, 113 – 135, hier: 118 – 124.
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kurieren.²⁴ Erasmus greift dieses Bild auf, wenn er schreibt, dass die Krankheit der Spaltung noch nicht so weit fortgeschritten sei, dass sie nicht mehr geheilt werden könnte. Dazu bedarf es nach seiner Auffassung eines Aufeinander-Zugehens beider Lager, welches Erasmus mit einem aus dem Sprachgebrauch der griechischen Kirchenväter stammenden Begriff bezeichnet, der dort für die Inkarnation des Logos gebraucht wird (συγκατάβασις = Herablassung). Er fordert zum einen Reformen, die vor allem den geistlichen Charakter des kirchlichen Amtes wieder deutlich werden lassen, und warnt zum andern davor, Überkommenes leichtfertig aufzugeben. Er plädiert dafür, Gebräuche, die von den Lutheranern als Missbräuche gebrandmarkt werden, wie das Gebet für die Verstorbenen, die Anrufung der Heiligen, die Verehrung von Bildern und Reliquien, die Beichte usw. als Zeugnisse wirklicher Frömmigkeit anzuerkennen und entsprechend zu tolerieren. Seine Hoffnung für eine Einigung setzt er auf ein allgemeines Konzil (ASD V-3, S. 303 – 313). Diese Schrift erlebte noch zu Lebzeiten des Erasmus zahlreiche Nachdrucke. Auf Deutsch erschienen gleich zwei Übersetzungen, eine anonyme Teilübersetzung von Georg Witzel (1501– 1573) und eine vollständige von Wolfgang Fabricius Capito (1478 – 1541). Die Übersetzung des Straßburger Reformators Capito kam noch 1533 heraus und ist seinem früheren Vorgesetzten gewidmet, Kardinal Albrecht von Brandenburg, dem er Anfang der 1520er Jahre als Rat und Beichtvater gedient hat.²⁵ Erasmus und Capito hatten sich schon länger entfremdet, sodass man nach den Motiven für diese Übersetzung fragt. Heinz Holeczek kommt zu dem Schluss, dass ihr „Schwergewicht […] deutlich auf die Forderung nach Duldung des reformatorischen Glaubensverständnisses gelegt [ist] und nicht auf die Wiedervereinigung der zerrissenen Christenheit.“²⁶ Sie ordnet sich damit „in die Reihe der anderen deutschen Erasmusausgaben durch die Straßburger Reformatoren ein, die aus den verschiedenen Erasmustexten zur Ketzerbehandlung sowie zur Einheit und Reinheit der Kirchen die Gedanken herausarbeiteten und publizierten, welche die gewaltfreie Duldung insbesondere des Glaubensverständnisses der Reformation zu fördern schienen.“²⁷ Bevor die zweite Übersetzung in den Blick genommen wird, die deutlich eine andere Zielrichtung hat, soll die Reaktion aus dem Umkreis Luthers dargestellt werden. Luther lehnt den Vorschlag des Erasmus explizit ab. Er unterscheidet Eintracht im Glauben und Eintracht in der Liebe (WA 38, S. 276, Z. 16 – 17). Dass es letztere nicht gebe, sei Schuld der „Papisten“. Die Eintracht im Glauben sei keine Sache des Nachgebens, Glaubensgewissheit könne es nur auf der Basis der Heiligen Schrift, nicht aufgrund kirchlicher Lehrentscheidungen geben (Ebd., S. 278, Z. 8 – 10). Erasmus empfiehlt er, sich aus der Theologie herauszuhalten und auf die Rhetorik zu beschränken (Ivi, Z. 24– 25). Luther äußert dies im Vorwort zu der Schrift des luthe Julius Pflug, Correspondance, hg.v. J. V. Pollet, Bd. 1, Leiden, 1969, 288 – 289, Nr. 77. [W. F. Capito (Hg.)], Von der kirchen lieblichen vereinigung vnd von hinlegung diser zeit haltender spaltung in der glauben leer geschriben durch […] Des. Eras. von Roterdam, Straßburg, 1533. Holeczek, Erasmus, 265. Ebd., 266.
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rischen Pfarrers von Witzenhausen (Hessen) und Beraters des Landgrafen Philipp Antonius Corvinus (1501– 1553): Urteil darüber, inwiefern es hilfreich ist, dem jüngst von Erasmus dargelegten Weg zur Wiederherstellung der Eintracht der Kirche zu folgen, bis ein Konzil einberufen wird. ²⁸ Diese Schrift ist als Dialog gestaltet, wobei Corvinus seinen Partner wohl in Anspielung an Julius Pflug Julianus nennt. Corvinus kritisiert vor allem, dass Erasmus von der Sittenlosigkeit einiger Lutheraner auf die Falschheit ihrer Lehre schließe (fol. B2a-b). Wie Luther in seinem Vorwort macht auch Corvinus die Eintracht in Glaubensfragen von deren Schriftgemäßheit abhängig (fol. B3a). Wie um die Aufforderung Luthers an Erasmus, bei seinem Metier, der Rhetorik, zu bleiben, zu illustrieren, wirkt die Tatsache, dass Corvinus im selben Jahr eine für den Schulgebrauch gekürzte und thematisch geordnete Ausgabe der Apophthegmata des Erasmus von Rotterdam, einer Sammlung von antiken Weisheitssprüchen, vorgelegt hat.²⁹ Ebenfalls im selben Jahr hat er unter dem Pseudonym Sylvanus Hessus die Rückkehr Witzels zur katholischen Kirche satirisch kritisiert.³⁰ Georg Witzel hat im Verlauf seines Lebens zweimal die Seite gewechselt. Geboren als Sohn des Schultheißen von Vacha in der Rhön, kam er während seines Studiums in Erfurt über den dortigen Humanistenkreis um Eobanus Hessus (1488 – 1540) mit dem Denken des Erasmus in Berührung. Früh zum Priester geweiht, wirkte er in seiner Vaterstadt als Vikar und Stadtscheiber. Er begeisterte sich für Luther, heiratete mit 24 Jahren Elisabeth Kraus aus Eisenach (gest. 1554) und musste seine Stelle aufgeben. Seine erste lutherische Pfarrstelle erhielt er in Wenigen-Lüpnitz in Thüringen, die er aufgrund des Bauernkriegs verlassen musste. Mit Luthers Unterstützung wechselte er nach Niemegk bei Wittenberg. Wegen Kontakten zu dem Antitrinitarier Johannes Campanus (um 1500-nach 1574) geriet er selber in Verdacht, dieser Richtung anzugehören, und kam kurzzeitig ins Gefängnis. Über das Studium der Kirchenväter fand er zum alten Glauben zurück und verzichtete 1531 auf die Pfarrei. Es begann ein Wanderleben, das für die auf schließlich acht Kinder angewachsene Familie stets schwierig blieb. Luther, der von Witzels Wiederannäherung an den Katholizismus erfahren hatte, verhinderte seine Berufung als Professor des Hebräischen nach Wittenberg. Witzel zog sich daraufhin in das Territorium von Graf Hoyer von Mansfeld (1484– 1540) zurück, der ihn zum katholischen Prediger in Eisleben ernannte. In dieser Zeit übersetzte er auf den Rat seines Dienstherrn hin den Liber de sarcienda ecclesiae condordia des Erasmus ins Deutsche. Die Übersetzung erschien anonym 1534 und umfasst nur den letzten Teil der erasmischen Schrift, der vom Aufeinander-Zugehen der Religionsparteien handelt.³¹ Vorausgegangen waren zwei Briefe vom Herbst 1532 und Frühjahr 1533, in denen Witzel den überschwänglich von ihm gelobten
Antonius Corvinus, Quatenus expediat aeditam recens Erasmi de sarcienda ecclesiae concordia rationem sequi, tantisper dum adparatur synodus, iuditium, Wittenberg, 1534. [A. Corvinus, (Hg.)], Argutissima quaeque Apophthegmata ex Erasmi Roterodami opere selecta, Magdeburg, 1534. Das Apophthegmatum opus des Erasmus (Basel, 1532) umfasste über 3000 Sprüche. [A. Corvinus], Ludus Sylvani Hessi in defectionem Georgii Wicelii ad Papistas, Wittenberg, 1534. Von der einigkeyt der Kirchen durch Erasmum von Roterodam ytzt new ausgangen, Erfurt, 1534.
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Erasmus aufforderte, den „Sekten“ entgegenzutreten und sich für ein Konzil einzusetzen (Allen, Nr. 2716, Bd. 10, S. 94– 96; Nr. 2786, ebd., S. 187– 189). In einem Brief vom Frühjahr 1534 an den Metallurgen Georg Agricola (1490 – 1555), der ebenso wie Witzel zum Umkreis von Julius Pflug gehörte, entschuldigt Erasmus sich, dass er Witzel nicht geantwortet habe. Er hätte ihm geschrieben, dass er seinem Ärger über Luther keinen freien Lauf lassen sollte (Ebd., Nr. 2918, S. 372, Z. 6 – 373, 8). Mittlerweile hat Luther zu einem letzten Schlag gegen Erasmus ausgeholt. Er veröffentlichte im März 1534 einen Briefwechsel mit Nikolaus von Amsdorff (1483 – 1565) (WA.Br, Nr. 2086 und 2093). Dieser hat Luther aufgefordert, statt gegen Witzel gegen Erasmus einzuschreiten und dessen Schlechtigkeit zu entlarven. Luther spitzt seine Vorwürfe, die er in De servo arbitrio geäußert hat, nochmals zu. Er bezichtigt ihn der Zweideutigkeit (amphibologia) und scheut nicht davor zurück, ihn mehrfach als Teufel zu bezeichnen (WA.Br, Nr. 2093, Bd. 7, S. 37, Z. 305 – 314; S. 30, Z. 80 – 81; S. 32, Z. 109 – 111 und öfter). Erasmus antwortete darauf mit seiner Schrift Reinigungsmittel gegen den volltrunkenen Brief Martin Luthers. ³² Auch er reproduziert sein Lutherbild, wenn er wie im Hyperaspistes von dessen „Paradoxen“ spricht (ASD IX-1, S. 477, Z. 961). Auf dieser Basis war eine Verständigung nicht möglich. Es ist viel darüber gerätselt worden, warum Erasmus 1535 nach Basel zurückkehrte. Sollte er am Ende doch der oberdeutschen Reformation, die ihm so viel näherstand als Luther, den Zuschlag gegeben haben? Am wahrscheinlichsten ist die Annahme, dass Erasmus dies tat, um die Drucklegung wichtiger Werke zu überwachen. Die geplante Rückkehr in seine niederländische Heimat hat der Tod, der ihn in der Nacht vom 11. auf den 12. Juli 1536 ereilte, verhindert. Beigesetzt wurde Erasmus im Basler Münster.
3 Schlussbilanz Was Erasmus und Luther miteinander verband, war das Streben nach einer Reform der Kirche, die nicht primär auf die Institution, sondern auf die einzelnen Christen abzielte. Für Erasmus wurde dieses Anliegen auf die glückliche Formel gebracht: „Reform der Studien, Reform der Sitten, Reform der Kirche“.³³ Darüber hinaus waren Luther und Erasmus sich einig in der Ablehnung des scholastischen Formalismus und in der Bevorzugung einer auf die Heilige Schrift gestützten Frömmigkeitstheologie. Diese Gemeinsamkeiten wurden aber überlagert durch unterschiedliche Akzentsetzungen. Luther war ein stärker dogmatisch ausgerichteter Theologe, der seine Lehraussagen unmittelbar aus der Heiligen Schrift schöpfen zu können glaubte und der seine Überzeugung mit Vehemenz und bisweilen mit einer groben Sprache verteidigte.
Erasmus, Purgatio aduersus epistolam non sobriam Martini Lutheri, Basel, 1534. So der Untertitel der Studie von F. Bierlaire, Les Colloques d’Érasme : réforme des études, réforme des mœurs, réforme de l’Église au XVIe siècle, Paris, 1978.
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Erasmus hingegen war ein stärker philologisch orientierter Theologe, der auf die Spannungen innerhalb der Bibel und der kirchlichen Lehrentwicklung achtete und deshalb, nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit seinem Hauptkontrahenten, die Bedeutung der kirchlichen Lehrautorität zur Wahrung der Einheit der Kirche erkannte.
Abkürzungen Allen = Opus epistolarum Des. Erasmi Roterodami denuo recognitum et auctum, ed. P. S. Allen et alii, 12 vol., Oxford, 1906 – 1958. ASD = Opera omnia Desiderii Erasmi Roterodami recognita et adnotatione critica instructa notisque illustrata, Amsterdam, 1969–. CWE = Collected Works of Erasmus, ed. by P. G. Bietenholz et alii, Toronto-Buffalo 1975–. DH = H. Denzinger, Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, ed P. Hünermann, Freiburg-Basel-Wien 42. Auflage, 2009. H = Desiderius Erasmus Roterodamus, Ausgewählte Werke, in Gemeinschaft mit A. Holborn hg. von H. Holborn, München 1935; Nachdruck: ebd., 1964. LB = Desiderii Erasmi Roterodami Opera omnia emendatiora et auctiora, ed. J. Clericus, 10 vol., Lugduni Batavorum 1703 – 1706; Nachdruck: Hildesheim, 1961 – 1962. W = De libero arbitrio διατριβή sive collatio per Desiderium Erasmum Roterodamum, hg. von J. von Walter, Leipzig 1910; Nachdruck: ebd., 1935.
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Lutheraner vor dem Inquisitor: einer, keiner, hunderttausend 1 „Lutheraner“ – das Wort und die Sache Wenn vom 16. bis 18. Jahrhundert in Italien eine Person mit der Anklage, Lutheraner zu sein (weniger häufig sprach man von „luterino“, „lutheresco“ oder „martinista“), vor das Inquisitionsgericht kam, hatte er oder sie oftmals sehr wenig mit Luther zu tun. Eingeschlossen in einen Kerker Ferraras wurde der Benediktiner und Prophet Giorgio Siculo als „Ketzer und Lutheraner“ erdrosselt, obwohl er, mit einer entgegengesetzten religiösen Botschaft, gegen die „falsche Doktrin der Protestanten“ leidenschaftliche Seiten geschrieben hatte, allerdings nicht weniger radikal.¹ Eleonora Capelli aus Modena wurde angeklagt, eine „Abgefaulte Lutheranerin“ (luterana marza) zu sein, die lutherische Dinge öffentlich aussprach“, und das nur, weil sie es gewagt hatte, die Gemeinde während der Osterfeierlichkeiten zu verlassen. Für den Inquisitor war das ein eindeutiger Beweis dafür, dass sie sich der Beichtpflicht entziehen wollte.² Auch der Müller aus Friaul Domenico Scandella, Menocchio genannt, der sich selbst zum lutherischen Märtyrer ernannte und sich wünschte, dass bei seiner Hinrichtung „Lutheraner es erfahren würden, so daß sie kommen werden, um seine Asche zu holen“.³ Wie diese drei fast zufällig gewählten Beispiele beweisen, diente die Bezeichnung „Lutheraner/Lutheranismus“ (luterano/luteranesimo) dazu, jede Abweichung vom theologischen Kanon der Heiligen Römischen Kirche zu verdammen und jeden religiösen Antikonformismus anzugreifen. (Als eine jüngste Aneignung dieses Stereotyps sei auf die Lutherbriefe von Pier Paolo Pasolini hingewiesen.) Es geschah nicht zum ersten Mal in der Geschichte des Christentums, dass ein allgemein verbreiteter Begriff dazu diente, komplexen und vielfältigen Glaubensrichtungen ein einfaches Klischee anzuhängen, damit man sie umso besser verdammen konnte. Dennoch war die Reductio ad Lutherum etwas anderes, sie ging – wie alle Stereotypen – von einem wirklichen, aber entstellten Element aus, das sowohl die Gegner als auch die Befürworter auf die gleiche Weise empfanden: „Alles geht voran bei Luther“, schrieb am
Übersetzung: Fried Rosenstock. A. Prosperi, L’eresia del Libro grande. Storia di Giorgio Siculo e della sua setta, Mailand, 2000, 19. M. Al Kalak, Gli eretici di Modena. Fede e potere alla metà del Cinquecento, Mailand, 2008, 63. C. Ginzburg, Il formaggio e i vermi. Il cosmo di un mugnaio del ’500, Turin, 1976, 22; Dt. Der Käse und die Würmer: Die Welt eines Müllers um 1600, Frankfurt am Main 1979, 44. https://doi.org/9783110498745-031
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30. April 1525 in Wien der venezianische oratore (Botschafter) Carlo Contarini.⁴ Der Protonotar Pietro Carnesecchi erinnerte daran, wie er und der Bischof von Bergamo, Vittore Soranzo, „den erwähnten Luther den Ozean zu nennen pflegten: wie der [Ozean], von dessen Fülle alle anderen Ketzer bekommen haben, so wie die Flüsse Wasser vom Meer empfangen [sic!]“. Luther, der „außerhalb der Kirche stand, war folglich auch außerhalb der Caritas, und […] obwohl er in vielen Dingen wohl gesprochen und die Heilige Schrift gut ausgelegt hatte, konnte man nicht zu dem Schluss kommen, er habe den Geist Gottes empfangen, abgesehen von dem, was Gott ihm gegeben habe zum Vorteil und zur Erbauung seiner Erwählten“.⁵ Die Glaubensverschiedenheit zwischen Carnesecchi und Luther – und wieder geht es um die Abweichung zwischen Wort und Sachbestand – konnte nicht verhindern, dass 1570, nach einem zehnjährigen Prozess, Carnesecchi als „Lutheraner“ auf dem Scheiterhaufen endete. Wie man schon an diesen ersten Zeugnissen sieht, war der „Ozean“ Luther nur schwer schiffbar, denn im Mare magnum des Luthertums verschwindet die historische Figur Luthers, nicht nur wegen des Facettenreichtums, den jede Rezeption unvermeidlich mit sich bringt, sondern auch, weil sein Name in den Inquisitionsprozessen – ganz anders als Erasmus – nur relativ wenige Male zitiert wird.⁶ Wir werden uns auf diesen Seiten vor allem mit einem bisher unveröffentlichten und hier zum ersten Mal untersuchten Fall beschäftigen, dem ersten uns bekannten Prozess gegen die italienischen Anhänger Luthers, der 1524 in Florenz stattfand.⁷ Wir werden also unsere Augen auf Florenz richten, ein aus mehreren Gründen bevorzugter Beobachtungsposten, vor allem auch, weil die Stadt von den Medici beherrscht war und damit von dem Medici-Papst Leo X., mit dem Luther in Konflikt geriet, und von dem auf ihn folgenden Medici-Papst Clemens VII., der die ersten Repressionen gegen Luther einleitete. Von Florenz aus werden wir andere Orte und geschichtliche Momente ins Visier nehmen, bei dem Versuch, über die komplexe Lutherrezeption im O. Niccoli, „Il mostro di Sassonia. Conoscenza e non conoscenza di Lutero in Italia nel Cinquecento (1520 – 1530 ca)“, in: L. Perrone (Hg.), Lutero in Italia. Studi storici nel V centenario della nascita, Casale Monferrato, 1983, 21. M. Firpo und D. Marcatto, I processi inquisitoriali di Pietro Carnesecchi (1557 – 1567). Edizione critica, Bd. 2/2, Il processo sotto Pio V (1566 – 1567),Vatikanstadt, 2000, 558. Zur „Zwiespältigkeit der Gefühle“ gegenüber Luther seitens seiner italienischen Befürworter angesichts der Inquisition siehe die Schrift von S. Seidel Menchi, „‚Certo Martino è stato terribil homo‘. L’immagine di Lutero e la sua efficacia secondo i processi italiani dell’Inquisizione“, in: Perrone (Hg.), Lutero in Italia, 115 – 137, 125, die folgenden Seiten sind hierzu eine ideale Fortsetzung. Zu Erasmus und der Inquisition siehe S. Seidel Menchi, Erasmus als Ketzer: Reformation und Inquisition im Italien des 16. Jahrhunderts, Leiden, 1992. Archiv der erzbischöflichen Kurie, Florenz, Cause criminali 10, 14. Es handelt sich um ein sehr reichhaltiges Archiv, welches der Autor im Begriff ist, für eine Veröffentlichung über das religiöse Leben in Florenz im 16. Jahrhundert zu erforschen. Wegen der zahlreichen Zitate aus dem Prozess wurde entschieden, die aktuelle Lektüre nicht zu sehr durch Fußnoten zu erschweren. Der Leser kann bald die Prozessakten konsultieren, was eine bessere Kontextualisierung der Ereignisse um die erste Lutherrezeption in der Toskana gewährleisten wird.
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Bereich der Inquisition Zeugnis abzulegen, nicht nur, was Italien betrifft, sondern auch die anderen Inquisitionen in Spanien und Portugal.
2 Eine Affaire des placards in Arezzo (1524) Hier die Fakten: Im Juli 1524, als der frisch gewählte Papst Clemens VII., bis dahin unter dem Namen Giulio de’ Medici, Erzbischof von Florenz und Schiedsrichter der florentinischen Politik, in Arezzo den Ablass „pro pace obtinenda et peste delenda“ veröffentlicht hatte, wurden in der Nacht „cedulas aliquas continentes aliquid de confessione secundum opinionem hereticam Martini Luter [sic]“ (irgendwelche Zettel, die mit der Beichte nach den Meinungen des Ketzers Martin Luther zu tun haben) angeschlagen. Das war eine unerträgliche Provokation, die an das Ereignis erinnert, welches die Reformation auslöste, nämlich den Anschlag der 95 Thesen durch Luther an dem Portal der Schlosskirche zu Wittenberg vom 31. Oktober 1517. Es handelte sich jedoch um eine trügerische Ähnlichkeit. Wer jene Texte in Arezzo anheftete, kannte mit Sicherheit nicht die Hauptszene der Reformation, die, wenn sie jemals stattgefunden hat, noch nicht einmal seitens der Hauptperson dieser Handlung Erwähnung fand und zum ersten Mal erst spät bezeugt wurde (1546), und zwar noch nicht einmal von einem direkten Augenzeugen, sondern erst von Philipp Melanchthon.⁸ Ebenso trügerisch ist die Ähnlichkeit der Ereignisse von Arezzo mit der Affaire des placards, der Anheftung von Plakaten gegen die Messe (1534) in den wichtigsten französischen Städten und bis hinein in die Privaträume von Franz I., welche die ersten Hugenottenverfolgungen und die Religionskriege auslöste. Kurz, aus Gründen der Chronologie kann das aretinische Ereignis nicht von seinen berühmten „Verwandten“ abstammen. Das mindert gewiss nicht seine Bedeutung, im Gegenteil. Einerseits die erfundene Tradition, dass der Anschlag der 95 Thesen der erste Stoß war, der das Erdbeben der Reformation auslöste, und andererseits die realen Auswirkungen der Affaire des placards von 1534 beweisen, dass der Widerhall von religiösen Meinungen heterodoxer Art, abhängig von der Zurschaustellung an öffentlichen Orten, ein Problem voller Konsequenzen ist, welches der genauen Untersuchung vonseiten der Glaubensrichter bedurfte. Als der Aretiner Donato Angeli, der die Tat ausgeführt hatte, vor dem erzbischöflichen Vikar und seinen Helfern erschien, wurde ihm eine Kopie des Plakats gezeigt. Donato erkannte es und begann zu erzählen, warum er es ausgehängt hatte. Am vorhergehenden Sonntag gegen Abend war er dabei, sich „ex sua devotione“ (wegen seines Gelöbnisses) in die Kirche Vergine Maria delle Lacrime zu begeben. Aus dem Hause tretend hatte er seinen Nachbarn, den Notar Antonio del Giallo getroffen. „Wohin gehst du?“ hatte ihn dieser gefragt. Antonio antwortete, er wolle zur Madonna
E. Iserloh, Luther zwischen Reform und Reformation. Der Thesenanschlag fand nicht statt, Münster 1966.
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Abb. 1. Das Plakat (mit freundlicher Erlaubnis des Archivs der erzbischöflichen Kurie von Florenz)
gehen, woraufhin jener entgegnete: „Warte, ich will auch mitkommen“. Sie machten sich zusammen auf den Weg und hatten unterwegs begonnen, über Religion zu sprechen. Donato begann folgendermaßen: Wir müssen Gott danken, denn wir haben von unserem Papst diese Absolution von Schuld und Strafe erhalten, ohne deswegen Geld auszugeben.Wir sollten einen passenden Beichtvater finden. Daraufhin antwortete ihm Ser Antonius: „Ich kann euch beweisen, dass wir Gott beichten müssen und nicht Priestern oder Menschen“, und er zitierte den Psalm Davids Confitebor tibi in toto corde meo (Ich danke dem Herrn von ganzem Herzen, Ps 9,1 [Luth. 9,2]), und nachdem er ihn aufgesagt hatte, fügte Ser Antonius hinzu: „Wollen wir uns einen Streich erlauben?“ und der befragte sagte dazu: „Machen wir es“. Daraufhin sagte Ser Antonius: „Ich werde zu gewissen Schlüssen kommen und du wirst sie kopieren und anheften“, woraufhin derselbe keine weiteren Betrachtungen anstellte, sondern antwortete: „Ich werde es tun“.
Sie einigten sich auf ein Treffen am nächsten Tag, aber Donato zögerte, und in der Tat kam er nicht zur Verabredung. Als Motiv gab er an, er habe „zu tun gehabt“. Antonio reagierte verletzt, schlug aber vor, sich am folgenden Tag zu sehen. Angesichts der erneuten Verweigerung Donatos schien es so, als hätte sich die Angelegenheit in nichts aufgelöst, bis ihn Antonio Dienstagabend vor der Haustür sah „ad sgabellandam certam farinam“ (den Zoll vom Mehl aufheben). Donato war erstaunlich gefügig: „Oh Gott Donato, was machst du?“ und dieser antwortete: „Das was Sie wollen“ und also näherte sich Ser Antonius dem besagten Donato, und während er ein kleines Papier in der Hand hielt, sagte er: „Höre mir zu“. Er hatte ihm daraufhin den gesamten Text von dem Zettel abgelesen, und nachdem er sich „Tintenfass, Feder und Papier“ hatte geben lassen, diktierte er ihm den
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Inhalt mit dem Versprechen, abends eine weitere Kopie anzufertigen und eine „neben die baccherie (Metzgereien) zu hängen und eine neben die Pieve“. Donato hatte zugestimmt, aber vorgeschlagen, eine Kopie auch an den Canto de’ Bacci (der Ecke des Hauses der Familie Bacci) zu hängen. Das war nicht irgendein Ort; im Hause der Bacci, wo seine Mutter als Bedienstete arbeitete, hatte vor einigen Jahren ein Junge gewohnt, von dem es hieß, er sei „das erste Mal, dass er aus Arezzo hinauskam, geflohen, denn er hatte ein Sonett gegen den Ablass verfasst“.⁹ Jener Junge hatte dann jede Beziehung zu seiner Geburtsstadt abgebrochen, deren Name blieb aber an ihn gebunden, denn die Zeitgenossen und die Nachfahren nannten ihn Pietro Aretino. Letzterer kannte den Sohn von Antonio sehr gut, den Miniaturenmaler Jacopo del Giallo, den er einen „süßen Freund“ nannte und dessen Werk er lobte: „Alle Zeichnung und alles Relief […] zart und diffus, als wäre es in Öl gemalt“.¹⁰ Die Biographen von Aretino neigen dazu, die Notiz von seiner Flucht aus Arezzo wegen eines Sonetts gegen den Nachlasshandel als eine Erfindung seiner Feinde einzustufen, um nachzuweisen, dass diese Person schon in frühester Jugend ein Verleumder war.¹¹ Trotzdem hatte der Canto de’ Bacci in Arezzo eine besondere Bedeutung für das öffentliche Leben, denn es war einer der Orte, an dem sich die Patrizier der Stadt zu treffen pflegten.¹² Donato bewies also eine gute Aufmerksamkeit für die Wirkung, die sein Handeln bewirkt hätte. Das Machtverhältnis zwischen den beiden war inzwischen genau geklärt und Antonio – vielleicht weil er fürchtete, der „Streich“ könnte seiner Kontrolle entgehen und entdeckt werden, bevor es zu seiner Ausführung kam – erlaubte es ihm nicht. Die Nacht verging, ohne dass Donato den Mut aufgebracht hätte, zu handeln. Am Morgen, als Antonio entdeckte, dass sein Komplize nichts gemacht hatte, griff er ihn an: „Du hast nichts getan, wir blasen gleich alles ab“. Donato, der über die Insistenz Antonios erbittert war, gab endlich nach, und am Mittwochabend befestigte er ein Plakat an der Säule der Metzgerei bei der Kirche Madonna del Monte, doch er hatte Angst, das ander Plakat anzuschlagen, weil Personen anwesend waren. Am nächsten Morgen fragte Antonio nach, ob Donato noch das nicht ausgehängte Plakat habe, und als Donato antwortete: „Ich habe es“, sagte Ser Antonio: „Gib es mir“, aber jener antwortete: „Nein, ich will es zerreißen“, und der andere antwortete: „Zerreiß es“. Mit einem aufgehängten und einem zerrissenen Plakat schien diese aretinische Affaire des placards beendet.
G. Muzio, Lettere cattoliche, Venedig, 1571, 232. P. Aretino, Lettere sull’arte, hg.v. E. Camisasca, Bd. 1, Mailand, 1957, 45 (Brief vom 23. Mai 1537). Vgl. P. Larivaille, Pietro Aretino, Rom, 1997, 22– 25. Auch der satirische Dichter Giovan Santi Saccenti nennt ihn zwei Jahrhunderte später einen Ort, wo man sich „foppte“: Raccolta delle rime piacevoli di Giovan Santi Saccenti da Cerreto non mai per avanti pubblicate, Bd. 1, Roveredo, 1761, 110.
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3 Der Schatten Savonarolas auf Luther Am 29. Juli 1524 erschien Donato vor den Glaubensrichtern, denen er sich als ein guter Katholik vorstellte, der von dem schlechten Vorbild Antonios verführt worden sei. „ Als Zeugnis für seinen guten Glauben“ sprach laut der Verfügung des bischöflichen Vikars von Arezzo der Umstand, dass er sich aus freien Stücken gemeldet hatte, um die Exkommunikation zu vermeiden. Für ihn legten auch Don Mauro und Don Galeotto, zwei Benediktinermönche aus dem Kloster SS. Flora e Lucilla, wo Donato als Novize eingetreten war, Zeugnis ab. Don Galeotto erklärte, Donato habe erst kürzlich bei ihm gebeichtet, Don Mauro bezeugte die „gute Lebensführung“ dieses „guten Jungens mit gutem Gewissen“, aber er gab auch an, es bestünde eine gewisse religiöse Krise („wenn er noch bis zu diesem September anwesend gewesen wäre, hätten wir ihn ohne jeden Zweifel eingekleidet“). Aus welchem Grund er den Benediktinerorden verlassen hatte, wissen wir nicht, aber der Zeuge war sich sicher, dass Donato – der übrigens den Namen des Schutzpatrons seiner Stadt trug und daher mit Wahrscheinlichkeit eine orthodoxe religiöse Erziehung genossen hatte – seinen Fehler „mehr aus Einfalt denn aus Bosheit“ begangen habe. Sein Fall wurde von dem erzbischöflichen Vikar Giovanni de Statis, einem „integren und verständnisvollen Mann“,¹³ von dem Augustinermönch Jacopo da Montefalco, dem Dominikaner Cosimo Tornabuoni und dessen Ordensbruder Zaccaria di Lunigiana beurteilt. Wissenschaftler der Religionsgeschichte des frühen 16. Jahrhunderts kennen diese Persönlichkeiten, Jacopo da Montefalco hatte in Pisa Physik und Metaphysik unterrichtet und 1517 an der Synode von Florenz teilgenommen, Cosimo Tornabuoni und Zaccaria di Lunigiana dagegen gehörten zu den sogenannten „Piagnoni“ (Heulern), glühenden Anhängern des hingerichteten Fra Girolamo Savonarola.¹⁴ Ihre Gegenwart als Glaubensrichter ist ein Anzeichen für jene komplizierte Verbindung zwischen der Bewegung des Savonarola und der Verbreitung von ersten Nachrichten über die Reformation in Florenz. Bereits 1520 hatte ein Bewunderer Savonarolas wie Bartolomeo Cerretani im „Dialog über die Florentinische Geschichte“ (Storia in forma di dialogo della mutatione di Firenze) einem der beiden Dialogpartner seines Werkes ein Lob Luthers in den Mund gelegt, als einem „verehrungswürdigen Religiösen […], dessen Schriften in Italien und vor allem in Rom aufgetaucht sind und Argumente bringen, die glauben lassen, dass jener in seiner Haltung, seiner Lehre und Religiosität äußerst vortrefflich sein muss“.¹⁵ Luther hatte sich selbst in die Nähe Savonarolas gerückt und die weitere Verbreitung seiner Schriften gefördert, indem er 1523 dessen Kommentar zum Psalm Miserere nachdrucken ließ. Als Bestätigung einer in religiöser Hinsicht fließenden Situation befanden sich im nächsten Jahr zwei An-
B. Varchi, Storia fiorentina, Florenz, 1843, XII, 28. C.Vasoli, „La difesa di Savonarola di fra Zaccaria di Lunigiana“, in: ders., Civitas mundi. Studi sulla cultura del Cinquecento, Rom, 1996, 43 – 100. P. Simoncelli, „Preludi e primi echi di Lutero a Firenze“, in: Storia e Politica, 22, 1983, 674– 744.
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hänger Savonarolas auf der anderen Seite der Gerichtsschranken, und wir können uns vorstellen, dass sich während des Prozesses Fra Zaccaria – Autor einer Quaestio, in der er Savonarola gegen die Anklage der Ketzerei verteidigte, da dieser die Kirche nur reformieren und nicht neu gründen wollte – nur noch mehr von der Richtigkeit seines Standpunktes überzeugte. Bei der Beziehung zwischen den Anhängern Savonarolas und denen Luthers ging es jedoch nicht nur um Religion. Der Papst, gegen den Luther seine Revolte entfesselt hatte, war Leo X., mit weltlichem Namen Giovanni de’ Medici, Sohn von Lorenz dem Prächtigen und Onkel des Kardinals Giulio de’ Medici, seit 1524 Papst mit Namen Clemens VII. Natürlich war es ganz etwas anderes, ein Plakat gegen einen MediciPapst in Wittenberg auszuhängen, sondern in Arezzo, wo der Papst nicht als das Haupt einer als korrupt angesehenen und fremdartigen Kirche galt, sondern vor allem auch das politische Haupt einer Familie war, die seit fast einem Jahrhundert Florenz beherrschte. Nach der Rebellion in der Valdichiana von 1503 übten die Medici ihre Macht auch in Arezzo aus. Zwar waren keine nennenswerten politischen Motive hinter dem Streich der beiden Aretiner zu vermuten, aber immerhin löste die Figur Luthers in Florenz bereits nach wenigen Jahren Hoffnung auf Neuerungen aus – und nicht allein religiöser Natur.¹⁶ Das gilt auch für den Prozess von 1531 gegen den heterodoxen Arzt Girolamo Buonagrazia, welcher noch dazu ein Gegner der Medici war. Während derselben Pestepidemie, die Clemens VII. dazu veranlasst hatte, Arezzo den Ablass zu gewähren, beteiligte sich Buonagrazia an einer Versammlung des florentinischen Arztkollegiums, um einen Weg zu finden, wie man die Ausbreitung der Pest durch Ansteckung vermeiden könnte. Seine Meinung wurde am 16. Januar 1523 unter dem Titel Opera nuova della provisione et cura del morbo (Neues Werk zur Verhütung und Behandlung der Seuche) gedruckt. Nach fünfundzwanzig Seiten Consilia (Ratschlägen) in Latein für die Arztkollegen widmete er die nächsten zehn Seiten, in Übereinstimmung mit der Verbreitung von Luthers Ideen in Italien, „jenen, die vom Latein keine Kenntnis haben“.¹⁷ Während er seine Meinung zur Pest niederschrieb, überzeugte sich Buonagrazia davon, dass die üblen Kirchenprälaten die eigentlichen Antichristen waren („Alias probavi in anno 1523 vel circa Ecclesie prelatos malos esse Antichristos“).¹⁸ Vier Jahre später schritt er zur Tat und gab seinen heterodoxen Meinungen eine bewusst kämpferische Form. In den Tagen der Plünderung Roms durch die Landsknechte Karls V., als Clemens VII. in der Engelsburg eingeschlossen war, begann Buonagrazia
P. Simoncelli, „Lutero fra ‚Repubblica‘ e ‚Principato‘: ideologia politica e riforma“, in: Atti del simposio su Lutero e la Riforma, Vicenza, 26 – 27 novembre 1983, Vicenza, 1985, 63 – 73. A. Jacobson Schutte, „Buonagrazia, Girolamo“, in: Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 15, Rom, 1972, http://www.treccani.it/enciclopedia/girolamo-buonagrazia_(Dizionario-Biografico)/ (Zugriff am 29. Januar 2017). Die Zitate entstammen seiner Verurteilung, welche ihm von den Otto di guardia („Acht Wachhabenden“, florentinische Wahlrichter) angedroht wurde, veröffentlicht von L. Passerini, „Il primo processo per la Riforma luterana in Firenze“, in: Archivio storico italiano, 4, 3, 1879, 337– 345.
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einen Schriftwechsel mit Luther. Wir kennen dessen Inhalt nicht, können aber gewiss sein, dass diese Briefe seine Opposition „contra statum illum qui tunc vigebat“ erhöhten; „statum“ ist hier als „Stand der Dinge“ zu verstehen, wobei Religion und Politik – mit einem Medici auf dem Papstthron – ein und dasselbe bedeuteten. Im Jahr 1527 begann der Arzt damit, nicht allein Ratschläge gegen die Pest zu erteilen, sondern auch „contra illum statum et Pontificem“ (gegen jenen Stand der Dinge und den Papst): Er riet dazu, den verbannten Sympathisanten der Medici „armata manu“ (mit Waffengewalt) zu verbieten, in die Stadt zurückzukehren und den Palast der Medici „in potestatem populi florentini“ (unter die Gewalt des florentinischen Volkes) zu bringen. Während des Prozesses bereute Buonagrazia seine bisherige religiöse und politische Haltung, einerseits glaubte er „quodam miraculo“ (auf wunderbare Weise) wieder ans Fegefeuer, andererseits schrieb er den Bürgern von Florenz alle ihre Leiden – wegen ihrer Starrköpfigkeit – selbst zu, „qui crediderunt fratri Ieronimo [Savonarola]“ (da sie dem Pater Hieronymus geglaubt hatten). Seine angebliche Zuwendung zum Katholizismus schloss auch einen Sineswandel um Savonarola ein, zu dessen Gunsten er vor 35 Jahren an Papst Alexander VI. eine Petition unterschrieben hatte.¹⁹ Damit bewies er, dass auf politischer Ebene – und weniger in theologischer Hinsicht – der Dominikaner aus Ferrara und der sächsische Augustiner in einigen Punkten übereinstimmten. Buonagrazia kam mit einem Bußgeld von zweitausend Dukaten davon und wurde lebenslang nach Pisa verbannt. Endlich kam es, dieses Exil, welches Buonagrazia in gewisser Weise herbeigewünscht hatte, während ihn die Politik in Florenz festhielt: „Wenn ich verbannt worden wäre – so vertraute er es dem Kamaldulenser Domenico Bencivenni an –, ich wäre zu Martin Luther gegangen und hätte ihn angespornt […], und ich wäre auch zum Kaiser gegangen und hätte ihm gesagt, dass sein Beichtvater ein Schurke ist, der ihn betrügt“.²⁰ „Wenn ich verbannt worden wäre“ – es gab noch einen anderen Florentiner, der darüber nachdachte, wie die Geschichte von Florenz und die Geschichte Italiens (ein von ihm geprägter Ausdruck) verlaufen wäre, wenn man sich anders verhalten hätte: Den (gleichen) Rang, den ich mit mehreren Päpsten hatte und der mich zwang, für meine Besonderheit ihre Größe zu schätzen; wenn nicht diese Rücksichtnahme gewesen wäre, ich hätte Martin Luther geliebt wie mich selbst: nicht, um mich von den Gesetzen der christlichen Religion zu befreien, in der Art und Weise, wie sie im Allgemeinen interpretiert werden, sondern um diesen Haufen von Bösewichtern in der Weise behandelt zu sehen, wie sie es verdienen, das heißt, entweder ohne Laster zu bleiben oder ohne Autorität.²¹
S. Caponetto, „Lutero nella letteratura della prima metà del ’500“, in: Perrone (Hg.), Lutero in Italia, 51. Simoncelli, „Preludi“, 727 ignoriert diesen Umstand und macht aus Buonagrazia einen Gegner Savonarolas, obwohl seine Stellungnahme gegen Savonarola im Prozess vor allem einem taktischen Kalkül zu entspringen scheint. Die Erwartung einer politischen und kirchlichen Reform unter kaiserlicher Führung ist für die darauffolgende Zeit von E. Bonora, Aspettando l’imperatore. Principi italiani tra il papa e Carlo V, Turin, 2014 anaylsiert worden. F. Guicciardini, Ricordi, kritische Ausgabe von R. Spongano, Florenz, 1951, C28.
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Das vielfach zitierte Ricordo von Francesco Guicciardini, zusammen mit den noch bittereren Gedankengängen von Buonagrazia, zeigt, wie der Fehlschlag der Reformation in Italien – ein Thema, das für Jahrhunderte Patrioten und Wissenschaftler in den Bann geschlagen hat – nicht nur eine Folge der inquisitorischen Repression war, sondern auch der politischen und doktrinären Verwirrtheit der italienischen Lutheranhänger. Außerdem gab es zu viele „wenns“ und zu viele Rücksichtnahmen („rispetti“), welche die politischen und wirtschaftlichen Eliten des 16. Jahrhunderts an die Kirche banden.
4 Gerüchte, handgeschriebene Plakate und Bücher: Die Übertragungsmittel der „lutherischen Pest“ Nachdem wir die politischen Zusammenhänge der Inquisitionsrezeption Luthers verdeutlicht haben – im Fall Arezzos nur eine Hypothese, eindeutig im Fall Buonagrazias – kehren wir zurück zu den beiden aretinischen Unruhestiftern. Nach Donato wurde am selben Tag Antonio del Giallo verhört, der die Aussage seines Komplizen bestätigte. Er war es gewesen, der jene Zettel beschriftet hatte, aber für ihn handelte es sich nur um einen Streich: „Ad effectum faciendi, ut vulgo dicitur, una baia, et non quia ita crederet“ (Um, wie das Volk sagt, einen Scherz zu spielen, und nicht weil er das glaubte.). Man zeigte ihm den Text, den er anerkannte, aber er behauptete, dass zwei Dinge nicht von seiner Hand stammten, die Worte des Psalmes Confitebor Domino secundum iustitiam eius (ich danke dem Herrn um seiner Gerechtigkeit willen) wie erinnerlich, gerade diesen hatte ihm Donato zugeschrieben – und jene merkwürdige Signatur (ANCZOSZ) am Ende des Plakates. Darauf wurde wieder Donato vorgeführt, welcher zugab, dass diese Worte ihm nicht von Antonio diktiert worden waren, sondern dass er sie erst am Abend übertragen hatte „copiando et transcribendo cedulam sibi dictatam a dicto ser Antonio“ (indem er von dem Zettel kopierte und übertrug, den ihm der erwähnte Ser Antonio diktiert hatte). Er hatte sich durch Zufall („sorte“) an die Worte erinnert und erklärte, er habe sie „in Psalmis mortuorum“ (Totenpsalmen, d. h. Ps 7,18) gelesen. Da sie dazu passten, habe er sie nach eigenem Gutdünken hinzugefügt, unbesonnenerweise und nicht aus Überzeugung oder unter Diktat von Antonio (wir werden noch sehen, dass es sich auf andere Weise zugetragen hatte). Aus Donatos Kopf war auch jene bizarre Buchstabenkombination hervorgegangen, die nichts bedeutete und die Donato geschrieben hatte, „um den Leuten zu denken zu geben“ (per dare da pensare alle brigate). Auch in diesem Fall muss man die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Donato nicht spontan gehandelt hatte, denn zu Beginn der Reformation, wie es bei jeder revolutionären Bewegung geschieht (man denke nur an die Schrift W VERDI im italienischen Risorgimento), spielten auch Kommunikationsformen eine Rolle, die nur
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die Eingeweihten verstanden, so wie die Buchstabenkombinationen, die eine religiöse Botschaft in chiffrierter Form mitteilen.²² Und in der Tat, die „Brigate“ hatten nun etwas, um darüber nachzudenken, denn in ganz Arezzo wurde öffentlich („pubblice“) darüber gesprochen, es seien Plakate mit ketzerischem Beigeschmack („heresim sapientes“) angeheftet worden, obwohl Antonio del Giallo eiligst mitteilte, die von ihm gehörten Stimmen handelten nur von der Beichte und er hatte nichts von Ketzerei gehört). Als Donato ein Gerücht („murmurari“) gehört hatte, es handele sich um Ketzerei, in der Überzeugung zu Antonio gelaufen war, eine für ihre Reputation fatale Handlung ausgeführt zu haben („wir sind ruiniert“). Der Notar beruhigte ihn: „Zweifle nicht daran, wir haben es als Schabernack getan“, warf seine bessere Kenntnis des Rechts in die Waagschale und die vermutlichen Milderungsgründe für Fälle dieser Art. Auch der Rest seines Geständnisses bestätigte die Worte Donatos, außer einem Detail, Antonio hatte nicht ganz und gar spontan und aus dem Moment heraus gehandelt, sondern inspiriert „von einem Buch, das besagt, wir sollen Gott allein beichten“. Nachdem er diese Worte abgeschrieben und sie Donato diktiert hatte, fügte er „jene Worte von Martin Luther über die Beichte“ (Illa verba de confessione Martinus Luther [sic]) hinzu, denn er hatte gehört, dass jener diese Meinung vertrat („quia audivit dici illum talem opinionem tenere“). Luthers Polemik gegen bildliche Darstellungen wurde sofort von heterodoxen Italienern aufgegriffen, wie zum Beispiel dem Franziskaner Ludovico da Cremona, der „Martin lobte, wenn er behauptete, die Bilder seien nicht anzubeten und dürften in der Kirche nicht gemalt werden, denn der Bauer kommt und betet das Bild an, nicht das, was es darstellt“.²³ Damit wurden andere Formen des Kontaktes zwischen dem Gläubigen und Gott möglich, allen voran die Heilige Schrift, die zusammen mit der Rechtfertigung durch Glauben ein Grundpfeiler der lutherischen Theologie war. Dennoch, wenn man sich allein auf die Heilige Schrift konzentriert, geht man das Risiko ein, das komplexe Kommunikationssystem aus den Augen zu verlieren, welches die Durchsetzung der Reformation erst möglich machte. Die Erfindung der Druckpresse spielte gewiss eine entscheidende Rolle, wurde aber von anderen Kommunikationswegen begleitet. Das aretinische Beispiel zeigt in seiner scheinbaren Schlichtheit einen entscheidenden Aspekt der Verbreitung von religiösen Botschaften im 16. Jahrhundert, nämlich seinen multimedialen Charakter (in diesem Fall mündliche Übermittlung, Druck, Handschrift und nochmals mündliche Übermittlung). Antonio del Giallo hatte nämlich vom Protest Luthers gehört, brachte damit aber die Lektüre eines Buches in Zusammenhang, „quem habebat et habuit per multos annos in domo“ (das er seit vielen Jahren zu Hause aufbewahrte) und das sich offenbar mit Die bekannteste ist der Vers Verbum Dei Manet in Aeterno, vgl. dazu I. Ludolphy, „VDMIAE. Ein „Reim“ der Reformationszeit“, in: Jahrbuch der Hessischen Kirchengeschichtlichen Vereinigung, 33, 1982, 279 – 282. A. Biondi, „Streghe ed eretici nei domini estensi all’epoca dell’Ariosto“ (1977), in: ders., Umanisti, eretici, streghe. Saggi di storia moderna, hg.v. M. Donattini, Modena, 2008, 81.
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anderer Thematik befasste. Diese Überlagerung hatte er in ein handgeschriebenes Plakat einfließen lassen, unter Mitwirkung einer anderen Person, die sich zwar bemühte, ungebildet zu erscheinen, aber sich sehr wohl bewusst war, welche Möglichkeiten der ausgewählte Ort bot und wie man Signaturen, die nicht unmittelbar wirkten, einsetzen konnte. Ihr Handeln hatte dann erneut mündliche Botschaften ausgelöst, die sich in der Stadt verbreiteten. Die Verflechtung all dieser Medien ist für die Historiker interessant, den Inquisitionsrichtern ging es vor allem um das Buch. Bereits im Februar 1519 hatte der Buchhändler Francesco Calvo aus Pavia einige Schriften in das Gebiet von Mailand eingeschleust, die er in Basel vom Verleger Froben gekauft hatte.²⁴ Im Jahr darauf behauptete ein in Venedig ansässiger deutscher Franziskaner, die Schriften Luthers seien in der Lagunenstadt so beliebt, dass zehn seiner Bücher, die aus Deutschland eingetroffen waren, sich sehr schnell verkauft hätten.²⁵ In denselben Jahren, in denen der Prozess gegen Donato und Antonio geführt wurde, erprobte die Kirche erste Abwehrmaßnahmen gegen das gefährlichste Übertragungsmittel der „lutherischen Pest“, eben das Buch. Am 17. und 25. Januar desselben Jahres traf Clemens VII. die ersten Maßnahmen gegen die Verbreitung der Bücher Luthers an den Fürstbischof von Trient, Bernardo Cles, und den venezianischen Nuntius Tommaso Campeggi, um dem Verkauf in Brescia und Verona entgegenzuwirken (gleichlautende Anweisungen wurden gen Süden nach Neapel verschickt).²⁶ Am 12. März ordnete in Bologna der bischöfliche Vikar unter der Androhung der Exkommunizierung und hundert Dukaten Strafe an, „libros editos per Martinum Leuterium hereticum“ (vom Ketzer Martin Luther publizierte Bücher) dem Bischof zu übergeben.²⁷ Nach wenigen Monaten zogen die augustinischen Regularkanoniker von San Giovanni in Monte, dass die Anordnung nicht nutzlos gewesen war, denn sie übergaben dem Vikar eine ganze Reihe von Schriften Luthers. Diese waren zwar bereits 1518 erschienen und reagierten daher nicht auf die aktuelle religiöse Auseinandersetzung, aber immerhin handelte es sich um die Antworten Luthers an den Meister des Heiligen Palastes Silvestro Mazzolini (Prieriate) und Johannes Eck, um die Ablasspredigten, um die Gültigkeit der Exkommunizierungen, um die Vorbereitung auf die Eucharistie, um die Decem praecepta (Zehn Gebote) bis hin zur ins Lateinische übersetzten Verteidigung Luthers durch Melanchthon gegen die Theologen der Sorbonne.²⁸ In den folgenden Jahren erschienen Übersetzungen seiner Werke auch in der italienischen Volkssprache, allerdings oftmals unter anderen Namen, wie Erasmus von Rotterdam oder Kardinal Federico
F. Chabod, Lo Stato e la vita religiosa a Milano nell’epoca di Carlo V, Turin, 1971, 305. Vgl. P. F. Grendler, L’inquisizione romana e l’editoria a Venezia (1540 – 1605), Rom, 1983, 119. B. Fontana, „Documenti vaticani contro l’eresia luterana in Italia“, in: Archivio della R. Società romana di storia patria, 15, 1892, 77– 8, 81– 2. Vgl. G. Dall’Olio, Eretici e inquisitori nella Bologna del Cinquecento, Bologna, 1999, 55. Ebd., 56, Anm. 14. Auch die Benediktiner der Cassinensischen Kongregation in Padua und Venedig wiesen 1523 nach, dass sie die Werke Luthers kannten. (Vgl. B. Collett, Italian Benedictine Scholars and the Reformation. The Congregation of Santa Giustina of Padua, Oxford, 1985, 77, 102– 104, 186).
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Fregoso.²⁹ Zwischen 1523 und 1525 kam es in Venedig, Mailand, Lucca, Rom, Neapel, Siena und Florenz zu den ersten öffentlichen Verbrennungen „lutherischer“ Bücher.³⁰ Die Richter hatten sicherlich erwartet, Antonio im Besitz einiger Bücher Luthers zu finden, so war es aber nicht. Die Bücher – oder besser ein Buch, denn sie waren zusammengebunden – aus denen der Notar die Worte für das Plakat gewonnen hatte, hießen Fiore novello molto devoto, eine Lesebuch heiliger Geschichten aus den apokryphen Evangelien, und I viaggi di sir John Mandeville (Die Reisen von John Mandeville), ebenfalls ein mehr als hundert Seiten starkes Buch aus dem späten Mittelalter mit geographischen und enzyklopädischen Texten. Diese beiden Bücher sollten einige Jahre später auch dem bereits erwähnten Domenico Scandella einen Denkanstoß geben. Das erste Buch – das einzige, das der Müller gekauft hatte – brachte ihn auf den Gedanken, „dass so viele Menschen auf der Welt geboren wurden, und keiner ist von einer Jungfrau geboren worden“.³¹ Das andere hatte ihm den katholischen Glauben relativiert, da er nur eine unter den vielen Religionen der Welt ist, die Mandeville während seiner vorgetäuschten Reise besuchte.³² Ähnliches löste das Buch auch bei Antonio del Giallo aus, der, zumindest für die Zeit, in der er das Plakat erfunden und zusammengestellt hatte, die Religion, in die er hineingeboren war, relativierte und darüber nachdachte, die Dinge zu verändern. Als ihn die Richter drängten, er solle den Abschnitt finden, aus dem er seine ketzerische Idee über die Notwendigkeit, allein Gott zu beichten, gewonnen hatte, schrieb ihn Antonio, vom Titel ausgehend, nieder: Über die Gebräuche dieses Landes und die verschiedenen Arten Christen zu sein und ihre Riten und Gebräuche und wie sie zu beichten pflegen: Unter diesen Sarazenen leben viele Christen verschiedener Art und unter vielen Namen, aber alle getauft. Sie haben verschiedene Sprachen und verschiedenes Brauchtum, aber alle glauben an Vater, Sohn und Heiligen Geist, doch es fehlen ihnen einige Glaubensartikel. Einige nennen sich Jakobiten, denn der Heilige Jakob konvertierte sie und der Heilige Johannes der Täufer taufte sie. Diese sagen, man dürfe nur Gott die Sünden beichten, nicht einem Menschen, denn umgekehrt ist er es, der sie für schuldig befindet, weil er sich verletzt sieht. Und sie sagen auch, dass weder Gott noch die Propheten jemals anordneten, dass der Mensch sich an irgendjemand anderes als an Gott für die Beichte wenden müsse, wie auch Moses in der Bibel verkündet. Und deshalb hat David in seinem Psalter gesagt: Confitebor tibi Domine in toto corde meo.
Als auch der einzige Satz des Plakates, welcher ursprünglich Donato zugeschrieben wurde, als Ausarbeitung seines Komplizen nach dem Buch von John Mandeville erkannt wurde, ließ man den ehemaligen Benediktinernovizen laufen. Die Richter fuhren fort, Antonio zu verhören, ob ihn jemand anderes angestiftet oder überzeugt
S. Seidel Menchi, „Le traduzioni italiane di Lutero nella prima metà del Cinquecento“, in: Rinascimento, 28, 1977, 31– 107. C. De Frede, „Roghi di libri ereticali nell’Italia del Cinquecento“, in: L. De Rosa (Hg.), Ricerche storiche ed economiche in memoria di Corrado Barbagallo, Bd. 2, Neapel, 1970, 317– 328. Ginzburg, Der Käse und die Würmer , 55 Vgl. ebd., 50 mit Bezug auf den Abschnitt über die Beichte, der sofort danach zitiert wird.
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habe oder ob er andere Genossen außer Donato habe. Aus dem Verhör kamen keine weiteren Kontakte ans Licht und Antonio blieb auch unter der Folter seiner Aussage treu, er habe diese Taten begangen, „um ein Gerücht zu erzeugen und sich einen Scherz zu machen“. Der Prozess endete damit, wirkte aber wie ein Fanal für den drei Jahre später erfolgten Umsturz der Medici und die Wiedereinführung der Republik (1527– 1530), bei der, wie wir gesehen haben, die Botschaft Luthers eine erhebliche Rolle spielte.
5 Andere Inquisitionen Der Prozess gegen Donato Angeli und Antonio del Giallo ist ein außergewöhnliches Dokument, das wegen seiner frühen Datierung komplizierter erscheinen lässt, was wir bisher über die Repression von Luthers Ideen in Italien wussten. Normalerweise lässt man die Restauration der römischen Inquisition 1542 mit der Bulle Licet ab initio beginnen, die Paul III. erließ.³³ Offensichtlich suchte man in Florenz bereits früher als bisher angenommen nach einem Mittel gegen die Lutherana pestis, indem man die mittelalterlichen Bischofstribunale einsetzte oder, wie im Fall von Girolamo Buonagrazia, die staatliche Magistratur der Otto di guardia bemühte. Gleichzeitig ist dieses Dokument von „außergewöhnlicher Normalität“,³⁴ denn in ihm findet sich die komplizierte Luther-Rezeption im Bereich der Inquisition zusammengefasst, von seinem Bruch mit den Ansichten der Mehrheit (oftmals ganz abgesehen vom Gehalt der lutherischen Ideen) bis hin zu der im Grunde unklaren Vorstellung von seinem Bekanntheitsgrad auf der italienischen Halbinsel. Wenige seiner Schriften wurden, meistens in schlechter Qualität, in Italienische übersetzt. Seine Figur wurde von propagandistischen Flugblätter verbreitet, wo er als die Monstergeburt einer Kuh dargestellt wurde. Seine Porträts wurden von seinen Anhängern eifersü chtig in Innenräumen gehü tet, wie dasjenige, das der Maler Lorenzo Lotto fü r einen venezianischen Kunden angefertigt hatte.³⁵ Auf der iberischen Halbinsel verhielt es sich nicht sehr viel anders, auch wenn in Spanien die Inquisition schon 1478 eingerichtet wurde, lange vor der lutherischen Gefahr. Sie entsprach der Notwendigkeit, die religiöse Einheit gegen Juden und Muslime zu verteidigen und ähnelte darin der portugiesischen Inquisition, auch wenn diese erst 1536 entstand, mitten in der Auseinandersetzung mit Luther. Größere Wirkung als Luther hatten in Spanien die Predigten des Erasmus und die Spiritualität der
A. Prosperi, Tribunali della coscienza. Inquisitori, confessori, missionari, Turin, 1996. M. Firpo, La presa di potere dell’Inquisizione romana (1550 – 1553), Rom/Bari, 2014, setzt die endgültige Konsolidierung der Inquisitionsmaschinerie zehn Jahre später an. E. Grendi, „Micro-analisi e storia sociale“, in: Quaderni storici, 35, 1977, 512. Vgl. respektive: S. Seidel Menchi, „Le traduzioni“; Niccoli, „Il mostro di Sassonia“ und M. Firpo, Artisti, gioiellieri, eretici. Il mondo di Lorenzo Lotto tra Riforma e Controriforma, Rom/Bari, 2001, 3.
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Alumbrados. ³⁶ Auch dort hatte der sächsische Mönch zunächst Sympathisanten gefunden, wie vor der Inquisition der Sekretär des Bischofs von Toledo, der Humanist Juan de Vergara, berichtete: Zu Beginn, als Luther nur die Notwendigkeit einer Kirchenreform und die Artikel, die die Korruption der Sitten betrafen, anrührte, war alle Welt dafür und auch dieselben, die gegen ihn schrieben, geben in ihren Büchern zu, dass sie am Anfang auf seiner Seite standen […] aber nachdem das Volk begann, schamlos zu werden und sich abzuwenden, gingen die Weisen ab und verfolgten seine Lehre.³⁷
Die gemeinsame humanistische Ausbildung machte es möglich, dass zwei so verschiedene Persönlichkeiten wie Vergara und der Dominikaner Leandro Alberti aus Bologna einig in der Beurteilung Luthers waren, dessen mönchisches Ungestüm und, für Alberti, eine gewisse Käuflichkeit ihn dazu hingerissen hatten, von der berechtigten Kritik an den kirchlichen Sitten bis zum Schisma und der Häresie vorzudringen: Ein sehr gebildeter Mann, der in Sachsen mit einigen Predigern in Streit geriet, die für den Ablasshandel vom Papst in jene Länder geschickt worden waren, und nach vielen Wortgefechten und indem er sah (so habe ich es verstanden), dass er nicht auch verdienen konnte, begann er zu sagen, dass man diese Dinge nicht verkaufen könne und dass es übel sei, einen solchen Ablass zu geben, ging er schließlich (nicht zufrieden damit) so weit, dass er viele andere Dinge in derartiger Weise sagte, dass er für fast das gesamte Deutschland große Häresie und Irrtümer aussäte, die sich sogar bis nach Italien ausgebreitet haben. Und wenn Gott in seiner Gnade seiner Braut der Kirche nicht beisteht, wird sein Schifflein sehr in Bedrängnis geraten.³⁸
Sowohl Alberti als auch Vergara hatten bald ihre Meinung über Luther geändert, der erste war ein Inquisitionsrichter, der zweite schrieb an seinen Bruder Tovar aus dem Gefängnis verdammende Worte gegen den „Hund Luther, den Gott vertreibe“.³⁹ In Spanien, ebenso wie in Italien, waren die Werke Luthers heimlich im Umlauf. Wir haben bereits daran erinnert, dass sein Name in keinem der in Italien gedruckten Werke genannt wurde, entweder verbreitete man sie anonym oder unter dem Namen von Erasmus (1526, 1540, 1543) oder des Kardinals Fregoso (1545). Dasselbe geschah zu Beginn der dreißiger Jahre in Spanien:
S. Pastore, Un’eresia spagnola. Spiritualità conversa, alumbradismo, inquisizione (1449 – 1559), Florenz, 2004. M. Augustín Redondo, „Luther et l’Espagne de 1520 à 1536“, in: Mélanges de la Casa de Velázquez, 1, 1965, 109 – 165, hier: 115: „Al principio quando Lutero solamente tocava en la neçessidad de la reformaçion de la yglesia y en articulos concernentes corruptionem morum, todo el mundo lo approvava y los mesmos que scriven contra el confiessan en sus libros que al principio se le afficionaron […] mas despues que la gente se començo a desvergonçar y desacatar, apartaronse los cuerdos y persiguieronla“. Der Abschnitt aus Istoria di Bologna ist zitiert in Dall’Olio, Eretici e inquisitori, 63, Anm. 33. Zit. in Pastore, Un’eresia spagnola, 146.
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Als sie sahen, dass sie ihre Bücher und vergifteten Doktrinen nicht so frei verbreiten können wie sie gewollt hätten, haben Martin Luther und sein weiteres Gefolge und Anhänger seiner falschen Annahmen und Erfinder anderer neuer Irrungen, in aller Vorsicht und Intrige, viele ihrer schadhaften Annahmen unter den Namen und gefälschten Titeln anderer katholischer Autoren eingeführt sowie an anderen Stellen bekannte und geprüfte Bücher der richtigen Lehrmeinung um ihre falschen Ausführungen und Irrungen ergänzt und mit Anmerkungen versehen.⁴⁰
Derartige Bücher verursachten ähnliche Wirkung, wie wir sie in früher Form bei Antonio del Giallo gesehen haben und auch bei dem Augustiner Bernardo Costa. Auf dem Pilgerweg nach Santiago hatte er Salamanca durchquert und dort einem Autodafé (Ketzergericht) von Lutheranern beigewohnt, das ihn tief erschüttert hatte. In einem Friseurladen in Consuegra hatte er zufällig ein Buch Luthers gefunden „[der Text des Buches] predigte, dass es nicht mehr als nur einen Gott gäbe und es im Himmel keine Heiligen gäbe und das es keine Kleriker und Mönche geben sollte und dass die Mönche und Nonnen mit Nonnen verheiratet werden sollten und dass wir vor keinem Kleriker oder Mönch beichten sollten, sondern nur vor dem einen Gott.“⁴¹ Auch als jede konkrete Hoffnung einer Reformation auf der iberischen Halbinsel verflogen war, behielt Luther seine Faszinationskraft. Man denke nur an den Geistlichen aus Tomar, der in der ehemaligen Provinz Ribatejo (Portugal) zu Beginn der sechziger Jahre bei seinen Freunden als „Martinho Lutero“ bekannt war.⁴² Wer noch auf den Messias wartete, wie die Marranos, die zum Christentum bekehrten Juden, die in vielen Fällen heimlich immer noch ihre Religiosität praktizierten, konnte Luther sogar Objekt von millenaristischen Hoffnungen werden. Das war bei einer Gruppe von konvertierten Juden in Lissabon der Fall, die von dem Fischverkäufer Duarte Lopes angeführt wurden, welcher noch 1561 hoffte, „dass dieser Luther siegen würde und dass er hoffte, dass es so sein würde.“⁴³ Dieser Sieg sollte laut dem bereits zitierten Bernardo Costa von einem Heer, größer als die Karls V. und Franz’ I. zusammengenommen, errungen werden und in der Lage sein, zwanzigtausend Priester zu töten.⁴⁴ Solche Hoffnungen auf ein militärisches Eingreifen Luthers waren auch in Italien
Augustín Redondo, „Luther et l’Espagne“, 152: „Martin Lutero e otros sus sequaces e aderentes a sus falsas opiniones e ynventores de otros nuevos errores viendo que no pueden divulgar sus libros e ponçoñosa doctrina tan libremente como querrian, cautelosa e mañosa mente han ynserido muchas de sus dañadas opiniones debaxo de nombres de otros autores catholicos yntitulando los libros dellos falsamente y en otras partes glosando e adicionando libros conocidos e aprovados e de buena doctrina con falsas exposiçiones y errores“. Zu seinem Fall vgl. die Übersicht von J. E. Longhurst, Luther’s Ghost in Spain (1517 – 1546), Lawrence, KS, 1969: „que predicava que no abia mas de un solo dios e que no abia santo ni santa en el cielo e que no abia de aver clerigo ni frayre e que los clerigos frayres e monjas abian de ser casados con monjas e que no nos abiamos de confesar con clerigo ni frayie salvo a un solo dios“. P. D. Braga, „Os seguidores de Lutero no Portugal de Quinhentos“, in: Damião de Góis na Europa do Renascimento. Actas do congresso internacional, Braga, 2003, 199 – 208, hier: 202. G. Marcocci, I custodi dell’ortodossia. Inquisizione e Chiesa nel Portogallo del Cinquecento, Rom, 2004, 117: „que ho Luthero vencesse e que esperava que avia de ser asi“. Longhurst, Luther’s Ghost, 21.
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verbreitet, wie die Korrespondenz des Sekretärs des englischen Botschafters in Vendig, Baldassare Altieri, beweist, der den Schmalkaldischen Bund dazu aufforderte, die Alpen zu überqueren und behauptete, mit einem mailändischen Heerführer in Kontakt zu stehen, der bereit war, sechstausend Mann gegen den Papst zu führen.⁴⁵ Solche irrealen Heere wurden niemals angeworben und Luther, der 1525 nicht gezögert hatte, die deutschen Fürsten zum Krieg gegen die revoltierenden Bauern aufzurufen, blieb angesichts der Hoffnungen seiner italienischen und spanischen Anhänger stets das, was Machiavelli einen „unbewaffneten Prophet“ genannt hätte, und der als solcher zum „Ruin“ bestimmt war.
6 Nach dem Sturm In der Folge des Religionsfriedens von Augsburg (1555), der Aufteilung des Reiches in katholische und lutherische Staaten und der allmählichen Auslöschung der lutherischen Präsenz in den katholischen Ländern durch die Inquisition verblasste das Vorbild Luther mit der Zeit. Seinen Raum nahm Johannes Calvin ein, neue Zielscheibe der Polemik der katholischen Kirche und zu gewissen Teilen auch des Luthertums. Die mythische Anziehungskraft Genfs als einem neuen Jerusalem und der theologische und soziale Zusammenhalt des Calvinismus ließen diese Form des Protestantismus für die heterodoxen Zirkel in Italien in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts besonders anregend erscheinen. Sie waren vor allem in den Städten aktiv und ständig von der Inquisition bedroht.⁴⁶ Als der Calvinismus mit dem westfälischen Frieden (1648) auch politisch anerkannt war, besaßen weder die Lehren Luthers noch die Calvins jenen Notstandscharakter, den sie noch ein Jahrhundert vorher innehatten. Die römische Inquisition änderte sich in ihrer Funktion und wurde immer mehr zu einem normalen Gericht, das die Aufgabe hatte, lasterhaftes oder aufrührerisches Betragen gegen die von Gott gewollte Ordnung zu überwachen und zu bestrafen, wie zum Beispiel die Hexerei oder die Homosexualität.⁴⁷ Das bedeutet aber nicht, dass die Figur Luthers in der Bevölkerung an Attraktivität verloren hätte. Der am besten bekannte Fall ist Venedig, wo noch im gesamten 17. und 18. Jahrhundert „die Reformation für weite Teile der Bevölkerung eine faszinierende Perspektive bot, wenn auch als eine etwas konfuse und negative Reaktion auf einen Korpus von römischen Verboten und Vorschriften, welche als unerträglicher Zwang empfunden wurden“.⁴⁸ Damals wurde „Lutheraner“ immer mehr zu einem Synonym für Atheist – denn wer nicht an den katholischen Gott
A. Stella, „Utopie e velleità insurrezionali dei filoprotestanti italiani (1545 – 1547)“, in: Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance, 27, 1965, 133 – 182. Unter diesem Gesichtspunkt sind die lutherischen Gruppierungen im Friaul von Gemona und Buia, analysiert von Seidel Menchi, „‚Certo Martino è stato terribil homo‘“, eine Ausnahme. Zur Veränderung der Inquisitionsgerichte über einen längeren Zeitraum vgl. Prosperi, Tribunali. F. Barbierato, „Luterani, calvinisti e libertini. Dissidenza religiosa a Venezia nel secondo Seicento“, in: Studi storici, 46, 2005, 798.
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glaubte, der glaubte an nichts – und für Freigeist, denn die Abschaffung des kirchlichen Zölibats und der Fastengebote wurde als unverzeihliche Hingabe an die Wollust und Gefräßigkeit angesehen.⁴⁹ Dabei handelt es sich offensichtlich um Stereotypen, die in eineinhalb Jahrhunderten von der katholischer Streitkultur mit Eifer aufgebaut worden waren, aber manchmal unerwünschte Wirkungen erzielten, denn die Faszinationskraft dieser Irrungen konnte die Gläubigen auch anziehen, anstatt sie von ihnen abzuhalten.⁵⁰ Man darf niemals die Essensgewohnheiten und die schwierigen Lebensbedingungen der Unterschicht im damaligen Italien vergessen. Für viele von ihnen war die Vorschrift, am Freitag Fisch zu essen, eine schwere Belastung für die Finanzen der Familie, und daher konnte ihnen die Botschaft Luthers nicht nur in spiritueller, sondern auch in materieller Hinsicht entgegenkommen. So standen die Dinge zumindest in der Mitte des 16. Jahrhunderts für den Mützenmacher Battista Pavesi aus Bergamo: Über diese Abstinenz von Nahrung an den verbotenen Tagen […] sagte er, dass man essen könne, denn Gott habe es nicht angeordnet, denn die armen Menschen können keinen Fisch kaufen, wenn er teuer ist, sie können Fleisch kaufen für drei oder vier soldi pro Pfund, lieber als fünfzehn soldi oder so für einen Pfund Fisch ausgeben […]. Wenn der genannte Pferdehändler Giovanni diese Worte gehört hatte, sagte er diese oder ähnliche Worte: „Wer ist jener? Ist es Luther der diese Worte sagt? Und sobald ich in Bergamo bin, will ich es dem Inquisitionspater sagen“.⁵¹
Giovanni Sarazinoni ging tatsächlich zum Inquisitionsrichter, um Zeugnis abzulegen, Pavesi dagegen kam ins Gefängnis und musste in die Schweiz flüchten.⁵² „Lutheranismus“ war auch weiterhin ein Synonym für religiöse Abweichung, aber seit dem späten 16. Jahrhundert wurde es auch zu einem moralischen Urteil – im ethymologischen Sinn ein Urteil über die Mores – die Sitten und Gewohnheiten, so, als ob „Lutheraner“ zu sein fast ein anthropologisches Kennzeichen sei, neben einem nationalen.⁵³ Die religiöse Kontroverse fuhr fort, sich mit Bewertungen zu beschäfti-
G. Spini, „Ritratto del protestante come libertino“, in: T. Gregory et al. (Hg.), Ricerche su letteratura libertina e letteratura clandestina nel Seicento, Florenz, 1981, 177– 188. Siehe dazu die Untersuchungen von F. Barbierato, „Quel che resta di un’eresia. Presenze calviniste a Venezia nel Seicento“, in: L. Felici (Hg.), Ripensare la riforma protestante. Nuove prospettive degli studi italiani, Turin, 2016, 33 – 50, insbesondere 46 – 48. „De questa absinentia de cibi nelli giorni prohibiti […] disse che se ne poteva mangiare perché Iddio non lo haveva comandato, perché gli poveri homini che non ponno comprare pesce quando egli è caro ponno comprare della carne in spendere trei over quatro soldi la livra che spendere soldi quindeci vel circa in comprare una libra de pesce […] le quali audite il detto Gioanni cozzaro disse queste over simili parolle: „Chi è costui? Ell’è Luther a dire queste parolle? Et como son a Bergomo lo voglio dir al padre inquisitore“. M. Firpo und S. Pagano, I processi inquisitoriali di Vittore Soranzo (1550 – 1558). Edizione critica, Bd. 2, Vatikanstadt, 2004, 822. Über die nationalen Kennzeichen beim Gegensatz zwischen italienischen Katholiken und deutschen Lutheranern vgl. das Kapitel „La fede italiana“ in Prosperi, Tribunali, 16 – 34. Vgl. auch Seidel Menchi, „‚Certo Martino è stato terribil homo‘“, wo vor allem Zeugenaussagen der Inquisition gegen
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gen, die immer weniger mit der Theologie zu tun hatten und ein immer komplexeres Urteil über Luther und seine Gefolgsleute hervorbrachten, weswegen sie aber keineswegs weniger polemisch waren. Nehmen wir den Fall eines anderen Toskaners, Giovanni Battista Griselli, der im Januar 1598 von dem florentinischen Inquisitionsgericht beurteilt wurde, obwohl er aus Usigliano bei Lari, Diözese von Pisa, stammte. Seine Dienerin Chiara di Santi gegenüber zeigte er ein antireligiöses Betragen, das fast wahnsinnig zu nennen war: „Nach Hause kommend, voller Wut, ergriff er ein Kruzifix aus Papier und eine Madonna, ebenfalls aus Papier, zerriss alles und warf es weg“.⁵⁴ Der Pfarrer bestätigte den Bericht der Frau und fügte ein Detail hinzu, das er selbst erlebt hatte: „Im letzten August vor einem Jahr kam ich zur Zeit des abendlichen Ave Maria an seinem Haus vorbei, er warf einen Stein nach mir, traf mich und sagte: ‚Verflucht seist du und der Bischof von Lucca, der dich eingesetzt hat, alle die waren, und alle, die noch kommen werden.‘“ Interessant ist, dass der Priester sein Betragen mit der geringen Beteiligung an den Gottesdiensten und an der wohltuenden Wirkung des Gemeindelebens erklärte: „In den letzten fünf Jahren ist er noch nie zur Heiligen Messe oder den Gottesdiensten gekommen, noch habe ich ihn hier umhergehen gesehen, sondern er war fast immer zu Hause, melancholisch, so ähnlich wie die deutschen Lutheraner“. Gewiss, es handelt sich um eine sehr vage geographisch-anthropologische Typisierung. Für diese Art von Blasphemie wurde normalerweise ein anderer Ausdruck verwendet, der wesentlich geläufiger, allerdings auch ein wenig exotisch war: „Ich habe ihn fluchen hören wie einen Türken: ‚Bock von einem Priester, dass dich der Krebs erwische‘“.⁵⁵ Es wäre jedoch oberflächlich, das Urteil des Priesters von Usigliano als banal abzutun. Dass man im Italien am Ende des 16. Jahrhunderts wie ein Türke fluchte und deprimiert war wie ein Lutheraner, ist nicht als irrelevant anzusehen. Gerade daran, dass es von einem Geistlichen aus der Peripherie des damaligen Europas stammt, erkennen wir, wie verbreitet das Stereotyp der Lutheraner als Melancholiker war, denn sie lebten nicht mit den Tröstungen der kirchlichen Gemeinschaft. Vielleicht hatte der Pfarrer von Usigliano noch nie einen Lutheraner getroffen, aber seine klischeehafte Vorstellung könnte sich auf gewisse Werke gestützt haben, die im Großherzogtum der Toskana seit der Mitte des 16. Jahrhunderts Verbreitung fanden, wie zum Beispiel Discorso sopra lo stato, dottrina et costumi de’ lutherani (Rede über den Stand, Lehre und Sitten der Lutheraner) , eine Übersetzung des Dominikaners aus Lucca und Savonarola-Anhängers Paolino Bernardini, dreißig Jahre vorher von dem zum Katholizismus rekonvertierten Lutheraner Georg Witzel geschrieben.⁵⁶ Der Disc-
aus Deutschland kommende Ausländer analysiert werden oder Aussagen von Italienern, die einen direkten Kontakt mit Deutschland gehabt hatten. Archiv der Erzbischöflichen Kurie Florenz, Tribunale dell’Inquisizione, b. 3, f. 80r. Zeugnis der Chiara di Santi della Valdiserchio (12. Januar 1598). Ebd., 93r. Gedruckt am Ende von P. Bernardini, Concordia ecclesiastica contra tutti gli heretici, Florenz, 1552. Auf den Band verweist S. Cavazza, „‚Luthero fidelissimo inimico de Messer Jesu Christo‘. La polemica
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orso beginnt mit der gängigen Identifikation zwischen Luther und seinen Anhängern: „Alles Übel hängt von einem ab, das heißt, von dem Urheber dieses Schismas […], nach ihm kommen all die anderen ohne Urteilsvermögen“.⁵⁷ Dennoch, vielleicht wegen seiner deutschen Herkunft und der Lebensumstände des Autors, begnügte sich die Schrift nicht mit der üblichen theologischen Kontroverse, sondern öffnete sich schon mit dem Titel den „Gebräuchen“ und lud zu einer direkten Gegenüberstellung mit den Glaubensgrundsätzen und Verhaltensweisen der Lutheraner und ihres „Fürsten“ Luther ein: „Sie vereinigen und trennen Mann und Frau nach Gutdünken […], der Fürst hat mit großer Sorgfalt die guten Werke gekreuzigt. Jetzt, wo er sieht, es geht nicht gut aus, macht er einen Rückzieher und sagt: ‚Es ist besser, die Menschen dazu zu zwingen, Gutes zu tun, als dagegen zu schreien‘. […] Mache die Erfahrung, verbinde dich mit ihnen und du wirst sehen, wie sehr sie im Zweifel und unsicher sind“.⁵⁸ Die Thematik nahm fast ethnographische Züge an, so, als wären die Lutheraner mit den sogenannten Wilden vergleichbar, mit denen sich die Europäer in der Folge der Entdeckungsreisen beschäftigten. Die Polemik hatte noch den Vorrang und war omnipräsent, aber je mehr man von ihren Gebräuchen Abstand nahm, um so mehr sah man sie auch mit Distanz. Abgesehen von der derben Sprache gelangte auch der venezianische Priester Francesco Rusca (1719) zu einer solchen Position: „Jener Bock Luther hat all das angerichtet, was wir wissen, aber in bestimmten Dingen hatte er Recht“.⁵⁹ Jemandem Recht zu geben, den man für einen „Bock“ hält, und umgekehrt jemandem Unrecht zu geben, den man für einen Gründungsvater hält, das mag wenig erscheinen, aber dafür brauchte es zwei Jahrhunderte. Heute, da fünf Jahrhunderte vergangen sind, ist das noch immer kein leichtes Unternehmen, noch nicht einmal für die Historiker.
contro Lutero nella letteratura religiosa in volgare della prima metà del Cinquecento“, in: Perrone (Hg.), Lutero in Italia, 67– 94. Bernardini, Concordia ecclesiastica, 334. Ebd., 394. F. Barbierato, Politici e ateisti. Percorsi della miscredenza a Venezia tra Sei e Settecento, Mailand, 2006, 59 – 60.
Enrique García Hernán
Ignatius von Loyola: Der antilutherische Reformator Einleitung Martin Luther und Ignatius von Loyola werden aufgrund ihrer einzigartigen Lebensläufe als antithetische Symbolfiguren betrachtet: In einer Ära der kirchlichen und gesellschaftlichen Reformen repräsentieren sie zwei grundverschiedene Weltanschauungen und wurden so zu Prototypen, die die protestantische Reformation einerseits und die katholische Gegenreformation andererseits personifizierten. Diese Gegensätzlichkeit liegt nicht nur in Fragen des Gehorsams gegenüber dem Papsttum oder in theologischen Kontroversen; in ihr zeigt sich vielmehr ein tiefer politischer Zwiespalt auf der Suche nach der wahren christlichen Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens, denn jede religiöse Reform impliziert auch eine gesellschaftliche Reform.¹ Beide besaßen einen tiefen Glauben; der eine gab den Anstoß für die protestantische Reformation, der andere gründete die Gesellschaft Jesu. Jedoch sah sich ihr jeweiliger Lebensweg einem Prozess der Mythologisierung unterworfen, und unbeabsichtigt wurde einer zum Feind des anderen erklärt. Philipp Melanchthon veröffentlichte seine erste Lutherbiografie (Historia de vita et actis Lutheri, Heidelberg 1548) als Plädoyer für die Notwendigkeit dessen Lebenswegs für die Kirche und die Welt; später folgten die Schriften von Luthers Beichtvater Johannes Bugenhagen und des Lobredners Johannes Mathesius, der mit dessen Biografie sowie den „Tischreden“ das Bild Luthers weiter mythologisierte. So festigte sich ein Prozess der Glorifizierung der Person, die im Jahr 1617, zum 100. Jahrestag der Kontroverse um den Ablasshandel, ihren Höhepunkt fand. Seine Reliquien wurden wie die eines Heiligen verehrt, man sprach über seine Prophezeiungen und Wunder. Matthias Hoe war der erste, der ihn in Leipzig im Jahr 1610 kanonisierte, es folgten andere wie Johann Konrad Dannhauer
Übersetzung: Irene Reinhold. Dieser Beitrag ist Teil eines Projekts des spanischen Ministeriums, HAR2015 – 64574-C2– 1/2-P. Die Differenzen wurden herausgestellt durch: N. González Ruiz, San Ignacio-Lutero, Barcelona, 1945; F. Richter, M. Luther und I. von Loyola, Stuttgart, 1954 / Madrid, 1956; Rogelio García Mateo, Ignacio de Loyola ¿antilutero? Consideración ecuménica de su confrontación histórica, in: Manresa 57, 1985, 251– 259. G. Maron, „Martin Luther und Ignatius von Loyola“, in: Lichte der Reformation. Jahrbuch des Evangelischen Bundes 27, Göttingen, 1984, 31– 54; D.C. Steinmetz, „Luther and Loyola“, in: Ignacio de Loyola y su tiempo, Bilbao, 1992, 791– 800. https://doi.org/9783110498745-032
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1661 in Straßburg, Peter Kawerau 1695 sowie Johann Kraus 1716 in Prag. Sie alle betrachteten ihn als Heiligen, als Wundertäter – als Propheten Deutschlands.² Auch Ignatius durchlief einen Prozess der biografischen Überarbeitung, zunächst durch interne Quellen aus der Feder seines Sekretärs Alfonso de Polanco, von Pedro de Ribadeneira und Pater Jerónimo Nadal, später durch die autorisierten Lebensläufe wie den von demselben Ribadeneira (1572) und Giovanni Pietro Maffei (1585), die als Grundlage für seine Heiligsprechung 1622 dienten. Die späteren Ignatius-Biografien aus dem 17. und 18. Jahrhundert basierten allein auf diesen beiden offiziellen Biografien. Der erste, der neue Dokumente auswertete, war Pater Daniello Bartoli mit Della vita e dell’Instituto di S. Ignazio fondatore della Compagnia di Gesù, 1650 in Rom erschienen, wenngleich er selbst aussagt, er schreibe das Buch nicht „als historische Abhandlung sondern vielmehr als Apologie“. Interessant ist jedoch, dass er in Nr. 29 einen Teil des „Geistlichen Tagebuchs“ von Ignatius mit aufnimmt. Der Pilgerbericht des Ignatius hingegen war vor seiner kompletten Veröffentlichung im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert weitgehend unbekannt³.
Gemeinsame Lebenswelten Entgegen aller historiografischer Tendenz hin zur Antithetik ihrer Lebensläufe teilten beide denselben politischen und geistlichen Lebensraum, denn beide waren Priester, Untertanen von Karl V., beide schrieben Autobiografien, sie waren geistige Erben der Devotio Moderna und verehrten Jean Gerson; beide hatten ein Bekehrungserlebnis und machten die Erfahrung eines existenziellen Wandels, beide entschieden sich im Jahre 1522, im Moment einer geistlichen Krise, die sie bis vor den Suizid führte, ihr Leben zu ändern; der eine im Schlossturm von Loyola, der andere auf der Wartburg. Beide schrieben aus äußerster Überzeugung: Der eine übersetzte das Neue Testament ins Deutsche, der andere verfasste seine Geistlichen Übungen. Gegen beide liefen Prozesse der Inquisition und beide starben an Gallensteinen. Ebenso signifikant sind die Unterschiede. Luther tauschte seine Mönchskutte des Augustinerklosters gegen die Kleidung eines Laien, während Ignatius seine Ritterrüstung ablegte und dafür das Pilgergewand trug. Der eine brach sein Keuschheitsgelübde, der andere entschied sich dafür. Der Deutsche entsagte dem Priestertum, um seinen Gläubigen näher zu sein, der Spanier hingegen übte sich zunächst als Laienprediger, empfing die Priesterweihe um die Sakramente zu spenden, die der andere kaum wertschätzte. Luther baute auf einen Christus, den er authentisch im Text der Bibel finden konnte, Ignatius begegnete Jesus nicht in der Bibel, sondern in der mystischen Gestalt der Kirche, im Gebet und im „Zusammensein mit Jesus“ – daher der Name „Gesellschaft Jesu“.
Lyndal Roper, Martin Luther, Renegade and Prophet, London, 2016. Enrique García Hernán, Ignacio de Loyola, Madrid, 2013, französische Ausgabe Seuil, 2016.
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Über das Luthertum ist in Spanien viel geschrieben worden, ebenso über Ignatius und Luther, und scheinbar sind sich die Experten darüber einig, dass das Luthertum in Spanien kaum eindrang, dass eigentlich nur ein „Gespenst“ verfolgt wurde und die Jesuiten die ersten waren, die den Mythos des antilutherischen Ignatius schufen. Dank der Inquisition fasste das Luthertum in Spanien nicht Fuß und Ignatius gründete seinen Orden ohne Berücksichtigung der Problematik der Lutheraner. Mein Standpunkt für diesen Beitrag ist, dass es in der Realität sehr wohl lutherischen Einfluss in Spanien gab, wenn auch in verborgener und verschleierter Form, und dass Ignatius sehr wohl das lutherische Problem im Blick hatte, als er seine Bekehrungsstrategie gestaltete, obwohl man sagt, dass den Theologen nicht klar war, was das Luthertum eigentlich war, wer dazu gehörte und dass Ignatius gemäß den Statuten des Instituts von 1540 nichts mit ihm zu tun gehabt hätte, es also nichts als ein Mythos gewesen sei.⁴ Wahrhaftig behaupteten die ersten Jesuiten genau das Gegenteil, so Pater Jerónimo Nadal (Apologia de los Ejercicios), Alfonso de Polanco (Vita y Chronicon) y Pedro de Ribadeneira (Vida de Ignacio de Loyola).⁵ Tatsächlich stellt die von Julius III. im Jahr 1550 ausgestellte Bulle der Anerkennung (Exposcit debitum) klar, dass der Orden für die „Verteidigung und Verbreitung des Glaubens“ stehe, was den Gedankengang Nadals in seiner Apologia von 1554 und der Instrucción breve von 1563 für die nach Deutschland Reisenden erkläre, ebenso wie seine Dialogi pro Societate um 1562 (Ignatius als „Antagonist“), und noch deutlicher seine Exhortaciones um 1567, in denen er die Idee formuliert, dass Gott Ignatius in dem Moment gerufen hatte, in dem Luther vom Glauben abfiel, als er „nepharias nupticas contraxit“. Die „pestilenten“ Bücher Luthers von 1522 stellt er so in Bezug zur Konversion des Ignatius: „unde intelligere possumus peculiariter excitatam Societatem ad iuvandam Ecclesiam tum in Germania tum in India, etc. Eodem itaque anno, quo fit Lutherus a daemone vocatus, pater Ignatius a Deo“.⁶ Polanco (1564) bestätigt seinerseits, dass „etwa im Jahr 1521 die
Zum Gespenst des Luther siehe Werner Thomas, La represión del protestantismo en España, 1517 – 1648, Löwen, 2001; zu Ignatius: Miquel Batllori, „El Mito contrarreformista de San Ignacio anti-Lutero“, in: Julio Caro Baroja, Antonio Beristain (Hg.), Ignacio de Loyola, Magister Artium en París 1528 – 1535, San Sebastián, 1991, 87– 93; C. O’Neill, „Reforma“, in: C. O’Neill (Hg.), Diccionario Histórico de la Compañía de Jesús, Bd. 4, Madrid/Rom, 3305 – 3317. Nadal schreibt in seiner „Apologia“ (MHSJ, Fontes Narrativi, I) gegen die Zensur des Bruders Tomás de Pedroche, dass dieser sich im ganzen Leben gegen die Lutheraner gestellt hatte: „Summa eius vitae exponenda, et quod iam a principio litteras quaesierit, totumque institutum suum ordinasse contra lutheranos.“ Gewiss gibt es eine Verschiebung in diesem Sinne zwischen den Gründungsbullen, deren erste von 1540 aussagt, die Jesuiten seien „ad fidei propagationem“, während die Bulle von 1550 lautet: „ut ad fidei defensionem et propagationem“. In seiner Apologie schließt Nadal, das oberste Ziel der Gesellschaft sei es, mit den Lutheranern sowie den Alumbrados oder Abtrünnigen Spaniens Schluss zu machen: „in primis qui nostra aetate oblatran Ecclesiae lutheranos tum etiam derelictos hispanos“ und ein festes Band zur Römischen Kirche zu knüpfen. Cándido de Dalmases (Hg.), Fontes Narrativi, Bd. 2, MHSJ, 227, 404. Über Nadal siehe Selecta Natalis monumenta in eius epistolis commemorata, 4 Bde. (MHSJ 13, 15, 21, 27), Madrid, 1898 – 1905.
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Göttliche Vorsehung durch die bemerkenswerte Bekehrung des Paters Ignatius von Loyola ein Gegenmittel gegen dieses Gift [Luther] vorbereitet hatte“.⁷ In seinem Leben von 1574 zeigt er den Synchronismus auf und schreibt, Ignatius sei das „egregium antidotum“ gegen Luther.⁸ Pedro de Ribadeneira nimmt später die Parallele des antilutherischen Ignatius auf, allerdings nicht in der lateinischen Version von 1572, sondern in der spanischen von 1583 und der lateinischen von 1586, und von dort aus übernehmen sie die anderen, wie z. B. Juan Antonio Valtrino in Vida de Ignacio von 1591.⁹ Den Höhepunkt setzt Jean Bolland im Jahr 1640 mit Imago primi saeculi (Antwerpen, 552– 554). Simón Rodrigues konstatierte in seinen Comentarios von 1574, dass bereits die ersten Jesuiten im Jahr 1537 gegen die Lutheraner in Konstanz polemisierten, als sie, von Paris kommend und nachdem sie die übersetzte Lutherbibel gelesen hatten, Ignatius in Venedig trafen (Wittenberg 1534).¹⁰ Fraglich ist, ob die Gruppe sich zwischen 1535 und 1537 während ihres Aufenthalts in Paris, unter Abwesenheit von Ignatius, auf die Konfrontation mit der Reformation konzentriert hatte und gleichzeitig ihr Wunsch nachließ, ins Heilige Land zu pilgern. Angesichts der damaligen Ereignisse im Parlament und an der Universität von Paris lässt sich perfekt schließen, dass sie ganz sicher unter dem Eindruck der lutherischen Problematik standen, zumal ihr Lehrer, der Dominikaner Mateo Ory, Prior von St. Jakob, im August 1536 zum Inquisitor Frankreichs ernannt wurde und an den Septem scholiae contra haereticos arbeitete.¹¹ Allerdings ist zu beachten, dass Ignatius während dieser zwei Jahre nicht bei ihnen war, und obwohl sie keine Erlaubnis für die Pilgerfahrt bekamen, versuchten sie nicht, ihr Vorhaben auf andere Weise durchzusetzen oder wie zuvor vereinbart direkt in den Dienst des Papstes zu treten, sondern sie beteiligten sich an religiösen Auseinandersetzungen im Norden Italiens.¹² Polanco brachte diese schwerwiegende Entscheidung auf eine theologische Ebene, indem er bemerkte: „Dios Nuestro Señor, cuya providencia los regía, y quería guardar para más universal servicio suyo y bien de las ánimas, les estorbó esta jornada. [Gott unser Herr, dessen Vorsehung sie leitete und sie für umfassendere Dienste und zum Wohle der Seelen bestimmt hatte, verwehrte ihnen diese Reise.]“ Sie reisten jedoch nicht nach Rom, sondern teilten sich auf; Iñigo,
Cándido de Dalmases (Hg.), Fontes Narrativi, Bd. 2, MHSJ, 307, siehe J. E. Vercruysse, „Nadal et la Contre-Réforme“, in: Gregorianum 72, 1991, 289 – 315. Cándido de Dalmases (Hg.), Fontes Narrativi, Bd. 3, MHSJ, Rom, 1960, 523. Cándido de Dalmases (Hg.), Fontes Narrativi, Bd. 3, MHSJ, Rom, 1960, 344. Cándido de Dalmases (Hg.), Fontes Narrativi, Bd. 3, MHSJ, Rom, 1960, 55, „ali tiverao tambem os padres grandes emcontros com aquelles herejes e alegando os padres certas autoridades nao erao assi como elless dizaon, he viaon-nas em huma Biblia traslada per Lutero de latim em alemao, a qual tinha todos os lugares que faziao contra seus erros corrompidos e falsificados, ou de todo tirados do teisto da Escritura“. J. Quétif, J. Échard, Scriptores ordinis Praedicatorum recensiti, Lutetiae Parisiorum 1719 – 21 (I-II), I, 163; James F. Farge, Biographical register of Paris doctors of theology, Toronto, 1980, 353 – 356. James J. Farge, Religion, Reformation and Repression in the Reign of Francis I, Bd. 1, Toronto, 2015, 457.
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Fabro und Laínez gingen nach Vicenza (wohin ihnen die anderen später folgten), denn dort war gerade zum ersehnten Konzil einberufen worden, wenngleich das Projekt schließlich scheiterte. Dann kamen sie überein, sich auf einige Universitäten Italiens aufzuteilen, und gingen nach Padua, Ferrara, Bologna, Siena und Rom, während Ignatius entschied, nach Neapel zu gehen. Ihr Ziel war es, „ein paar Studenten an ihr Institut zu bekommen“.¹³ An jenen Orten mussten sie diversen Problemen mit den Lutheranern begegnen, und allerorts hatten sie Schwierigkeiten, doch ihre Rechtgläubigkeit stand den Zeugnissen nach, die sie später für den römischen Prozess 1538 einholten, außer Zweifel. Die Jesuiten waren jedoch nicht die einzigen Urheber der Geschichte der Synchronie und göttlichen Vorsehung: Auch ein Dominikaner, Fray Domingo de Baltanás, verbreitete den Mythos über Ignatius als Antilutheraner und Luther als Ausgeburt der Hölle in der ersten spanischsprachigen Lutherbiografie Vida del venenoso heresiarca Martín Lutero (Sevilla, Martín de Montedosca, 1555, 4., Blätter 20 – 27).¹⁴ Auf protestantischer Seite sagt Nikolaus Gallus 1551, die Gesellschaft sei eine Schöpfung des Teufels; später, im Jahr 1556, veröffentlichte der Theologe Johannes Wigand, einer der Direktoren der Magdeburger Zenturiatoren, einen Antikatechismus gegen die Jesuiten; in ähnlichem Wortlaut schrieben Martin Chemnitz und Flacius Illyricus und begründeten somit den Antijesuitismus aufgrund der Widersprüchlichkeiten zwischen Ignatius und Luther.¹⁵
Neues Bild des Ignatius im Jahr 1535 Meiner Meinung nach entsteht das Bild des Ignatius als Antilutheraner genau im März 1535, als dieser überstürzt und ohne offensichtlichen Anlass die Universität in Paris verlässt und die gerade geborene Gesellschaft Jesu kurz nach dem Gelübde von Montmartre am 15. August 1534 an Pedro Fabre übergibt, der vermutlich die lutherische Theologie besser als seine Mitstreiter kannte. Zu dieser Zeit, so wird vermutet, erarbeitete Ignatius einige der Reglas para sentir con la Iglesia, die Teil der Geistlichen
Cándido de Dalmases (Hg.), Fontes Narrativi, Bd. 1, MHSJ, Rom, 1943, 195. José Goñi Gaztambide, „La imagen de Lutero en España“, in: Scripta Theologica, 15/2, 1983, 469 – 528; Gianclaudio Civale, „Domingo de Baltanás, monje solicitante en la encrucijada religiosa andaluza: confesión, inquisición y Compañía de Jesús en la Sevilla del Siglo de Oro“, in: Hispania Sacra, LIX, 119, 2007; Melquiades Andrés, „Adversarios españoles de Lutero en 1521“, in: Revista Española de Teología, 19, 1959, 175 – 185. C.E. O’Neill, „Antijesuitismo“, in: DHCI, I, 178 – 189; Nathan Rein, The Chancery of God: Protestant Propaganda Against the Empire, Magdeburg 1546 – 1551 (= St Andrews Studies in Reformation History), Aldershot, 2008; Hartmut Voit, Nikolaus Gallus: Ein Beitrag zur Reformationsgeschichte der nachlutherischen Zeit, Neustadt an der Eich, 1977.
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Übungen werden sollten, besonders die Regel des Gehorsams gegenüber der Römischen Kirche.¹⁶ In Paris hatte Ignatius Kontakt mit klar antilutherischen Professoren, aber auch mit einigen, die unter dem Verdacht standen, zum Zirkel von Meaux zu gehören; vielleicht führte die Näherung an diese Gruppe dazu, dass in Paris zwei Prozesse gegen ihn geführt wurden, einer um 1529 aufgrund des spirituellen Wandels einiger seiner Schüler und der andere im Jahr 1534 aus Gründen des Verdachts gegen die Geistlichen Übungen, die er so engagiert unter Professoren und Studenten verbreitete.¹⁷ Er verkehrte mit Apologeten, darunter vor allem der Dominikaner Cipriano Benet, sowie Juan Gélida, Álvaro de Moscoso, Valle, Pedro de Garay – er verfasste ein Reformprogramm¹⁸ –, mit dem Franziskaner Alonso de Castro (Adversus omnes hereses), François Le Picart (der Jesuit sein wollte), mit den Dominikanern Mateo Ory (Alexipharmacon), Tomás Laurent – Sekretär des Inquisitors Lievin, der seine Übungen examinierte, Noel Beda (Adversos clandestinos lutheranos), Juan Benoist, Jean Adam, Pierre de Cornibus, Robert Wouchop, Jacques Aimery, Gilles Binet, Michael Foullon, Richard Du Mans und nicht zuletzt dem Dominikaner Ambrogio Catarino, Luthers großen Gegner. Zweifelhafter waren George Buchanan und Martial Mazurier, denen er die Geistlichen Übungen überreichte (zumindest ganz sicher dem Letzteren), und vielleicht kannte er auch Fray Miguel de Aranda, einen Freund Mazuriers, über den ebenfalls inquiriert wurde, den späteren Bischof von St. Paul Trois Chateaux, sowie die Spanier und späteren Lutheraner Juan Díaz und Francisco de Encinas.¹⁹ Während also Ignatius 1534 in die Polemik um die Übungen verwickelt war, geschah an der Universität einiges, was ihn betroffen haben könnte, wenn er denn in Verbindung zu Mazurier stand, dem er die Übungen vor März 1533 überreicht hatte, in jedem Falle vor seinem Abschluss an der Artistenfakultät. Die theologische Fakultät hatte bereits Maßnahmen gegen Briçonnet und Lefevre d’Étaples sowie den Zirkel von Meaux ergriffen; die Bücher von Berquin und Luther waren schon widerlegt worden; um 1524 erschienen Listen von verbotenen Büchern und im Jahr darauf wandte man sich gegen Pierre Caroli, Lefevre d’Étaples und Gérard Roussel. 1526 beschwerte sich Erasmus vor dem Parlament und dem König darüber, dass zwei Männer aus der theologischen Fakultät ihn beschuldigten, Pierre Cousturier und Noel Beda. Der erstere, Kartäuser, verortete Luther und Erasmus unter den Ketzern (De potestate Eccle-
Santiago Madrigal, Estudios de eclesiología ignaciana, Madrid/Bilbao, 2002, 171– 250. Diesem Autor zufolge sind die Regeln antilutherisch orientiert. Als Ignatius im Jahr 1545 Johann III. von Portugal über sein Leben berichtete, sagte er klar aus, dass ihm in Paris zwei Prozesse gemacht wurden, was nicht unbedingt zutrifft; es scheint eher, dass es nur einer war. Wie bereits gesagt, glaube ich, es war ein und derselbe Prozess in zwei unterschiedlichen Momenten. Archivo General de Siamancas, Estado, K. 1483. B.2. 1531. Er verfasste eine Abhandlung auf Spanisch und Lateinisch auf Bitte des Botschafters von Frankreich, De la Chambre. AGS. E. 851, 87. Garay a Carlos V, Paris 9. April 1530. Larissa J. Taylor, Heresy and Ortodoxy in Sixteenth-Century Paris, Leiden, 1999.
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siae in occultis, Paris 1535) und die naheliegende Schlussfolgerung, dass er die Lehrmeinung über die Kontemplation des Ignatius beeinflusst hatte, ist korrekt.²⁰ Um 1530 hatte der Protonotar Jean du Tillet Mazurier beschuldigt, lutherische Tendenzen zu zeigen und in diesem Jahr versprach Franz I., Frankreich von der Ketzerei zu befreien, weswegen das Parlament zwei Beauftragte einbestellte, die ketzerische Bücher suchen sollten. Die Lage spitzte sich derart zu, dass Ignatius im März 1535 zum Inquisitor Ory bestellt wurde. Kurz darauf verlässt Ignatius Paris, und im Juni desselben Jahres wird Mazurier vom Parlament verhört.²¹ Ignatius stand in besonderer Verbindung zu Mazurier, wie Polanco 1548 im Sumario de la Historia de la Compañía feststellt.²² Stand seine plötzliche Reise nach Spanien in Verbindung mit seinem Kontakt zu Mazurier? Ich denke ja; angesichts der unumkehrbaren Strömung musste er sich als absoluter Antilutheraner präsentieren. Ich behaupte also, dass Ignatius beschlossen hatte, sein Leben umzukrempeln, als er im März 1535 beschloss, Paris zu verlassen und als in Paris studierter und vollkommen orthodoxer Magister ohne schlechte Einflüsse der Alumbrados, und schon gar nicht der Lutheraner, in Spanien zu erscheinen. So äußerte sich feierlich Antonio de Araoz, erster Ordensprovinzial Spaniens, im Jahr 1572, in seiner Kritik der Biografie von Ribadeneira, da er sagte, Ignatius sei aus anderen als den von Ribadeneira genannten Gründen nach Spanien gekommen. Araoz sagt deutlich, dass er dies tat, um jeglichen Verdacht des Luthertums auszuräumen: Es war notwendig, dass er vor aller Augen nach Spanien zurückkehrte, denn nachdem er dort gefangen und wieder freigelassen wurde, nachdem er einige Jahre im Ausland und in Frankreich gewesen war und nachdem in Spanien die Irrungen der Alumbrados und in Deutschland die Ketzerei Martin Luthers begonnen hatte, wollte er, um sich selbst zu rechtfertigen, sich an den wichtigsten Orten Spaniens zeigen, denn auch wenn er öffentlich frei gesprochen war, fehlte es nicht an Böswilligen…²³
Aus diesem Grund halte ich es für unwahrscheinlich, dass es einen Zusammenhang gegeben hätte mit dem so strengen Bild, das Johannes Cochläus von Luther und den Jesuiten geschaffen hatte, eher könnte es umgekehrt gewesen sein – wenn es denn
Henri Bernard-Maître, Un théoricien de la contemplation: Pierre Cousturier, en Revue d’ascétique et mystique, 32, 1956, 174– 195. James K. Farge (Hg.), Religion, Reformation and Repression in the Reign of Francis I, Toronto, 2015, I, 415, 435. MHSJ, Fontes Narrativi, Bd. 1, 181. Polanco: „Tuvo amistad con el doctor Martial y el doctor Valle y Moscos, ayudándoles a todos con los Ejercicios; y con Martial pasó una gracia: que no siendo Iñigo aun bachiller en artes, le quería hacer doctor en teología, diciendo que pues enseñaba a él, que era doctor, que era justo tomase el mismo grado, y poniéndose en tratar el modo de doctorarle [Er war mit Doktor Martial, Doktor Valle und Moscoso befreundet und half ihnen allen mit den Übungen; und mit Martial kam es zu einer scherzhaften Situation: Obwohl Iñigo [Ignatius] noch kein Bakkalaureus war, wollte er ihn zum Doktor der Theologie machen, denn da er ihn, den Doktor, lehrte, sei es nur Recht, dass er den selben Grad besäße, und so müsse er ihn zum Doktor ernennen]“. MHSJ, Scripta I, Zensur von Araoz, 1572.
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Abhängigkeiten oder Einflüsse gab –, denn Cochläus war es, der vor der Veröffentlichung seiner Lutherbiografie im Jahr 1548 (Commentaria de actis et scriptis M. Lutheri) zusammen mit Pedro Fabro in Worms 1541 die Geistlichen Übungen durchgeführt hatte. Fabro erklärte ihm eindringlich den Unterschied zwischen dem Wissen und dem Gefühl für geistliche Dinge und er wurde so überzeugt, dass er bereits kurz danach als „Ignatianer“ gelten konnte, denn er selbst lehrte die Übungen. ²⁴ Zu Ignatius sagte Fabro: „Doktor Cochläus läuft schon hinter einigen Deutschen her, damit sie die Übungen machen, und er erzählte mir neulich, dass er glaubte, er müsse auch predigen, was er nie im Leben getan hatte oder zu tun erhofft hätte.“ Und so war es auch, denn wenig später lehrte Cochläus einen deutschen Bischof aus Meißen, Johannes von Maltitz, die Geistlichen Übungen. ²⁵ Andererseits muss berücksichtigt werden, dass der Alumbradismus, dessen Ignatius in Alcalá und Salamanca bezichtigt wurde, noch vor Luther als spirituelle Ausrichtung entstanden und durch die Konvertiten begründet wurde auf der Suche nach der reinen Liebe und in Ablehnung externer Werke, kirchlicher Lehre und der Bibel. Es gab gewisse Ähnlichkeiten mit dem Luthertum bezüglich der Ablehnung hierarchischer Autoritäten, vor allem der inquisitorialen Instanz in Bezug auf die Verfolgung der Konvertiten. In jenen Jahren, nach seinem Lebenswandel in Manresa, sprach Ignatius von einem inneren Licht, einer Vision oder Erkenntnis, und hatte außerdem in Arévalo und Nájera Kontakt zu einigen, die als solche nicht bekannt waren, vor allem Antonio de Medrano. Als die Kunde von der Reformation in Spanien ankam, wurde der Alumbradismus als gleichartige spirituelle Strömung verfolgt, namentlich durch das Edikt gegen die Alumbrados vom September 1525 durch den Großinquisitor Alonso Manrique, der in seinen Artikeln explizit erklärt, ihre Behauptungen seien lutherisch. In diesem Sinne glaubten die Inquisitoren, das Luthertum vom Alumbradismus unterscheiden zu können.²⁶ Hier ist es nötig, einige der 48 im Edikt aufgeführten lutherischen Merkmale näher zu betrachten. Punkt 6 besagt, „que le pesaba porque no había pecado más, e que conociendo la misericordia de Dios, quisiera haber pecado más, por gozar más de ella y porque aquel a quien Dios tenía más que perdonar aquel amaba más [er bereue es, nicht noch mehr gesündigt zu haben, und dass er in Erkenntnis der Gnade Gottes noch mehr zu sündigen gewünscht hätte, um mehr von ihr zu erfahren und weil Gott denjenigen mehr liebte, dem er mehr zu verzeihen hatte]“. Dies verweist uns zum „magnificare peccatum“ Luthers oder zu seinem Rat an Melanchthon, schwerer zu
M. Samuel-Scheyder, Johannes Cochlaeus, humaniste et adversaire de Luther, Nancy, 1993; die Biografie über Luther sowohl von Melanchthon als auch von Cochläus in Elizabeth Vandiver, Ralph Keen und Thomas D. Frazel (Hg.), Luther’s Lives: Two Contemporary Accounts of Martin Luther, Manchester/New York, 2002. MHSJ, Fabri Monumenta, 91, Fabro an Ignatius, Regensburg, 20. April 1541. A. Márquez, Los alumbrados. Orígenes y filosofla: 1525 – 1559, Madrid, 1972; M. Andrés Martin, Nueva visión de los alumbrados de 1525 …¸ V. Beltrán de Heredia, Miscelánea Beltrán de Heredia: colección de artículos sobre historia de la teología española, Bd. 2, Salamanca, 1972, 211– 234.
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sündigen. Punkt 8 besagt: „la confesión no es de derecho divino, sino positivo [die Konfession ist kein heiliges Recht, sondern ein positives“], woraus die Inquisitoren schließen, dass dies ein lutherisches Konzept sei und es klar so benennen. In Punkt 26 steht, die Heiligen seien ohne Bedeutung, und sie widersprechen der These, da „die Ablehnung der Lehre der Heiligen lutherischer Irrsinn“ sei. Punkt 27 über die Unnötigkeit päpstlicher Bullen sei „lutherischer Irrtum“. Diese Argumente zogen die Inquisitoren aus diversen Prozessen, vor allem dem gegen Pedro Ruiz de Alcaraz, in dem unter anderem steht, dass „zur Liebe und Erkenntnis Gottes keine Schrift notwendig“ sei. Genau hier lag eine der Schwachstellen in den Prozessen um den Alumbradismus gegen Ignatius in Alcalá und Salamanca, da er den Spiritualismus ohne Schrift lehrte und ihm deshalb das Predigen verboten wurde.²⁷ Ignatius war an einem Ansehen als völlig orthodoxer Mensch ohne jeglichen Bezug zu Alumbrados oder Lutheranern sehr interessiert. Sein neuer Lebensweg begann 1534 in Spanien, doch öffentlich verschrieb er sich ihm im Sommer 1538, als der römische Prozess um die Rechtgläubigkeit Loyolas eingeleitet wurde, und dies war für die Autoren der offiziellen Geschichte der Gesellschaft Jesu und des lutherischen Antijesuitismus überhaupt kein Thema. Daher schreibt Nadal in der Apologia von 1554, dass der römische Prozess so etwas wie eine neue Überarbeitung des Ganzen war. Nadal schafft eine Parallele zu Epheser 1,10, „damit er ausgeführt würde, wenn die Zeit erfüllt wäre: dass alle Dinge zusammengefasst würden in Christus, beides, was im Himmel und auf Erden ist“, indem er sagt „fuit haec sententia anacephaleosis quaedam actionum omnium“. Wie durch göttliche Vorsehung – wie Ignatius seiner Freundin Roser gegenüber sagte – trafen in Rom die meisten derer zusammen, die ihn irgendwann im Leben aufgrund seines scheinbaren Alumbradismus als möglichen Heterodoxen einschätzten. Nun gut: Unter den sechs Zeugen, die sich direkt auf die Person des Ignatius bezogen, waren drei, die explizit aussagten, Ignatius stelle sich mit seiner Lehre offen gegen Luther. Von größter Bedeutung ist hierbei, dass diejenigen, die so aussagten, aufrichtige Apologeten waren: Ambrosio Catarino, Pedro Ortiz und Doimi Nascio.²⁸ Die Schlüsselfrage lautet: Können wir wirklich diesen Zeugen glauben oder taten sie das nur, um ihren Freund vor den Anschuldigungen zu retten, mit denen ihn seine Feinde in Rom überschütteten? Meiner Meinung nach sagten sie die Wahrheit, dass Ignatius tatsächlich die lutherische Lehre gut kannte, und sie waren überzeugt, er wollte durch seine Vorgehensweise „semper oppugnare sectam Lutheri“ und „in omnibus contrariam (doctrinam) lutheranis“ sein.²⁹ Dies resultierte daraus, dass er in Rom des Luthertums beschuldigt wurde, wie Polanco (Chronicon I,79) aufzeichnet: „quie occulte lutherani dogmata Romae seminabat“. V. Beltrán de Heredia, Miscelánea, Bd. 2, 211– 234. Del Piazzo, M. und Dalmases, C. de, „Il processo sull’ortodossia di S. Ignazio e dei suoi compagni svoltosi a Roma nel 1538“, in: AHSI 38, 1969, 431– 453. C. Dalmases, M. Del Piazzo, Il processo sull’ortodossia di S. Ignazio e dei suoi compagni svoltosi a Roma nel 1538, in Archivum Historicum Societatis Iesu, 38, 1969, 431– 453, 448.
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Die ersten Jesuiten ließen sich durch die große Tragweite des Prozesses schwer beeindrucken und maßen ihm daher große Bedeutung zu, bis hin zu dem Punkt, dass Ribadeneira in Vida de Ignacio das Urteil des Freispruchs in seiner Gesamtheit wiedergab. Zweifellos beeinflussten die Arbeiten von Cochläus die kaiserlichen Berichterstatter, und diese festigten die Idee, dass jener der Anti-Luther schlechthin war. Nun diskutierten die Katholiken, die Ignatius am nächsten standen, wer denn der echte Anti-Luther war, Ignatius oder Karl V. Die königlichen Chronisten legten dem Kaiser Sätze in den Mund, wie „mucho erré en no matarle… por no le haber muerto yo, fue siempre aquel error de mal en peor: que creo que se atajara, si le matara [es war mein Irrtum, ihn nicht zu töten… da ich ihn nicht getötet habe, wurde die Verirrung immer schlimmer: Ich glaube, sie ist einzudämmen, indem ich ihn töte.]“ Doch als Ignatius Karl V. erklärt, was die Gesellschaft Jesu ist, um ihn dazu zu bringen, ihn bei der Gründung eines Kollegs in Löwen zu unterstützen, sagt er nichts von Luther, wenngleich er erklärt, eins der Ziele des Ordens sei „hereticorum conatibus pro virili sua resistendo“.³⁰ Weder in Ignatius’ Geistlichen Übungen, noch in den Constitutiones, noch im Geistlichen Tagebuch einschließlich seiner 9000 Briefe findet sich irgendeine persönliche Referenz zu Luther, sondern nur zum Luthertum. In den Schriften Luthers wiederum gibt es weder in den Werken noch in den 4500 Briefen etwas zu Ignatius. Trotzdem schreibt Ignatius an Johann III., um ihm zu versichern, dass er nichts mit den Lutheranern, Alumbrados oder Schismatikern zu tun habe, und dass er tatsächlich – wie überall offen erzählt wurde – acht diözesane und inquisitorische Prozesse über seine Rechtgläubigkeit durchlaufen musste, da er ohne Schriften predigte, wenngleich er am Ende immer freigesprochen wurde. Dennoch bleibt es Tatsache, dass er Kontakt mit den Alumbrados hatte, vor allem vor dem Edikt gegen die Alumbrados von 1525, ein Punkt, der eine nähere Betrachtung wert wäre. Könnte er in Paris auch Kontakt zu Lutheranern gehabt haben? Sicherlich nicht, aber dennoch erfuhr er, was die Apologeten der Universität über ihn dachten. Ignatius ließ sich nicht von einer vor-alumbradistischen Tendenz verleiten, die es in Form der Spiritualität der „Dejados“ gab: Diese vertraten eine stärkere Identifikation mit Gott über den Weg der Zuneigung unter Auslassung körperlicher Aspekte, so dass sie glaubten, ohne Sünde zu sein. Diese Gruppe wurde seit 1519 in Guadalajara von der Inquisition beobachtet und die ersten von ihnen ab 1525 als Ketzer eingestuft, als der Inquisitor Alonso Manrique bedeutende Informationen über sie im Libro de los alumbrados versammelte und in Toledo das Edikt mit 48 Artikeln gegen ihre Lehren erließ. Diese Reaktion resultierte möglicherweise nicht aus der Gefahr der Alumbrados oder Dejados, sondern vielmehr aus der Nähe beider Gruppen zum Luthertum mit Erscheinen der Bücher Luthers in Spanien in den Jahren 1521, 1523 und 1524, wenngleich dies ein viel diskutiertes und schwer verständliches Thema ist. Jedoch bleibt
Miquel Batllori, „Carlos V y la Compañía de Jesús“, in: Estudios Carolinos, Barcelona, 1959, 131– 148; MHSJ, Epistolae, Bd. 12, Rom, 257.
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kein Zweifel, dass Papst Hadrian und ein Teil des Adels im Jahr 1521 Karl V. ersuchten, das Luthertum in Spanien zu verfolgen, was Ignatius wissen musste.³¹ Im selben Jahr erleichterte Karl sein Gewissen bei seinem Botschafter in Rom, dem Herzog von Sesa, indem er angab, das Möglichste zur Vermeidung von „Unruhen, Ungehorsam und schlechten Werken“ bezüglich Luther getan zu haben. Außerdem ist zu beachten, dass Ignatius im schlechtesten Moment, 1523, nach Rom reiste. Vom theologischen Standpunkt aus gesehen konnte das Klima nicht schlechter sein. Im März war Doktor Johannes Eck in Rom angekommen, mit der Absicht, den Papst um eine echte katholische Reform in Deutschland zu ersuchen, die lutherische Universität in Wittenberg zu unterdrücken und eine neue Bulle gegen Luthers Lehre zu verfassen.³² Also konnte er auch mit dem Dominikaner Fray Cipriano Benet sprechen. Er hatte an der Pariser Universität und später in Barcelona studiert, wo er den Lehrstuhl für Logik zwischen 1514 und 1517 innehatte; später lehrte er an der Universität La Sapienza in Rom ebenfalls Logik. Er war sehr belesen und einer der ersten, die sich Luther entgegenstellten. Es war auch Benet, der am 12. Juni 1521 auf der Piazza Navona das Urteil gegen Luther verlas und anschließend seine Bücher verbrennen ließ.
War Ignatius wirklich ein Antilutheraner? Wir stehen hier also vor zwei historiografischen Strömungen zum Verständnis Ignatius’ als Antilutheraner. Einerseits bildete sich von Anfang an, sowohl unter Jesuiten als auch unter Nicht-Jesuiten, die Überzeugung, Ignatius sei zur Kirche gekommen, um Luther entgegenzuwirken; gleichzeitig verbreiteten die protestantischen Polemiker den Anti-Jesuitismus. Andererseits wiederum erschließt sich aus der gesamten neueren Historiografie, vor allem seit den modernen Biografien über Ignatius, dass dieser nichts mit Luther zu tun hatte, sondern alles ein Mythos war, wie Batllori korrekt darlegt. Meine Meinung ist, dass Ignatius sehr wohl etwas antilutherisch eingestellt war und nicht alles nur auf Mythen beruhte, wie man aktuell denkt. Die Nuance liegt darin, dass die Essenz seines Anti-Luthertums nicht dieselbe war wie die der Polemiker, Apologeten und Inquisitoren, sondern er bot sowohl Lutheranern als
AGS. E. 8, 91. Adriano, Admiral von Kastilien, Herzog von Gandía, Marquis von Astorga, Graf von Haro, Marquis von Denia, Graf von Miranda, etc. an Karl V., Tordesillas, 11. April 1521. Siehe auch Werner Thomas, La represión del protestantismo en España, 1517 – 1618, Löwen, 2001; er ist der Meinung, es sei nicht der Protestantismus gewesen, sondern interne Machtkonflikte am Heiligen Stuhl, Kämpfe zwischen Anhängern Ferdinands und Philipps, d. h. er wollte die Konvertiten reduzieren, die sich für eine Abschaffung der Inquisition aussprachen. Über das Edikt siehe M. Ortega Costa, „Las proposiciones del edicto de los Alumbrados. Autores y calificadore“s, in: Cuadernos de Investigación Histórica 1, 1977, 20 – 53; J. E. Longhurst, „Alumbrados, erasmistas y luteranos“, in: Cuadernos de Historia de España 27, 1958, 99 – 163; 28, 1958, 102– 165; 29 – 30, 1959, 266 – 292; 31– 32, 1960, 322– 356; 35 – 36, 1962, 337– 353; 37– 38, 1963, 356– 371 und ders., „Saint Ignatius at Alcalá“, in: AHSI, 26, 1957, 252– 259. Enrique García Hernán, Ignacio de Loyola, Madrid, 2013.
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auch Nichtlutheranern seine „Vorgehensweise“ und seine Geistlichen Übungen an, wie Cochläus in seinem Schriftverkehr mit Fabro gut erkennt. Drei Fragen müssen wir uns stellen: Welches ist der Ursprung des geistlichen Prozesses bei Ignatius und welcher ist es bei Luther? Bis zu welchem Punkt kannte Ignatius Luther und das, was er repräsentierte? Was wusste er über Luther nach seiner „Konversion“ während seiner Lernjahre in Spanien, in Frankreich und später in Italien vor der Anerkennung seines Ordens? Zur ersten Frage muss herausgestellt werden, dass seine Idee der „höchsten Erleuchtung“, die durch Jerónimo Nadal theologisiert wurde, während seiner Phase der Konversion und des Studiums 1522 in Manresa entstand und sich zu zwei historisch relevanten Zeitpunkten festigte: in seinem Geistlichen Tagebuch von 1545 und in seiner Autobiografie von 1555. Im Tagebuch sagt er, dass er, als er sie zu Papier brachte, „muy muchas intelligençias de la Sanctísima Trinidad“ hatte, „illustrándose el entendimiento con ellas, a tanto que me pareçía que con buen estudiar no supiera tanto, y después mirando más en ello, en el sentir o ver entendiendo me pareçía aunque toda mi vida estudiara;…“³³ Er hatte also so viel Kunde von Gott erhalten, dass er, auch wenn er sein ganzes Leben studiert hätte, nicht so viel hätte erkennen können. Selbiges ist ihm laut seiner Autobiografie im Jahr 1522 widerfahren, wenngleich er die wichtige Note hinzufügt, dass er an die Erleuchtung auch ohne Bibel glaube: „Estas cosas que ha visto le confirmaron entonces, y le dieron tanta confirmación siempre de la fe, que muchas veces ha pensado consigo: si no hubiese Escritura que nos enseñase estas cosas de la fe, él se determinaría a morir por ellas, solamente por lo que ha visto.“³⁴ Hier erscheint die wichtige Note, dass er auch ohne Bibel einen Glauben haben könne allein durch das, was er in seinem Inneren gefühlt habe. Dieses Bild wird auch durch die Schriften Ribadeneiras und anderer Jesuiten wiedergegeben. All dies lässt uns folgern, dass er mit Luther nichts zu tun hatte, zumal letzterer seine ganze Aufmerksamkeit der Heiligen Schrift widmet und die „Enthusiasten“ (oder Erleuchteten) vollständig ablehnt, die bei ihrer Empfängnis des Heiligen Geistes auf die Bibel verzichten wollten. Es sei hier an den lutherischen Anti-Alumbradismus erinnert, der sich in seinen Kommentaren von 1525 Wider die himmlischen Propheten, von den Bildern und Sakrament (WA 18,63 – 125) offenbart, paradoxerweise im selben Jahr, in dem die Alumbrados in Toledo verurteilt wurden. Auch muss hier daran erinnert werden, dass Luther in seinen Artikeln des Schmalkaldischen Bundes (1538) denselben Gedanken wiederholt, genau im selben Jahr, in dem Ignatius in Rom der Prozess gemacht wird (WA 50,192– 320). Als er seine Position über die Konfession definiert, sagt Luther: „wir uns bewaren fur den Enthusiasten, has ist geist zu haben, und dehnen ires gefalles…“ Eigentlich wollte Luther die taulerischen Mystiker Karlstadt und Müntzer angreifen, doch ohne es zu wissen – es sei denn, er hatte Kunde von den spanischen Alumbrados – kritisierte er auch diejenigen, die an der bloßen mys-
Diarium spirituale, MHSJ, Const. I, Nr. 18. Autobiographia, MHSJ, Fontes Narrativi, Bd. 1, Nr. 29.
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tischen Erkenntnis festhielten, und daher sagte er, der Papst sei ein „Enthusiast“, da er sich „rhühmet, [dass] alle recte sind im schrein seines hertzen“; mehr noch, er behauptet offen, die ersten Enthusiasten seien Adam und Eva gewesen, da sie durch die „geistliche Erleuchtung“ und eigene Fantasien verführt worden waren.³⁵ Er echauffierte sich über sie, da ihm zufolge der Heilige Geist sich durch die Heilige Schrift offenbart. Dennoch scheint es, als ob Luther gegen Ende 1518 eine „Erleuchtung“ erfährt, die er als „Turmerlebnis“ jenseits der Bibel nennt und in der er erkennt, dass der Mensch sich durch seinen Glauben definiert, und die in seiner Autobiografie im Vorwort seiner lateinischen Werke von 1545 steht: „Hic me prorsus renatum esse sensi, et apertis portis in ipsam paradisum intrasse“ (WA 54,186). Als Cochläus im Jahr 1519 erneut versucht, gegen Luther zu gewinnen, antwortet dieser ihm stets, durch sein Turmerlebnis „est mihi revelatum“, und Conrad Cordatus gibt die Worte Luthers im selben Sinne wieder: „Der Heilige Geist hat mir dies im Turm offenbart“.³⁶ Bezüglich der Frage, was Ignatius über Luther durch seine besonderen Verbindungen zum Königshof wusste, ist es möglich, dass ihn einige Informationen erreichten. Die Anwesenheit des Herzogs von Nájera 1520 in Rom während der Amtszeit Don Juan Manuels ist nicht absolut sicher. Diese wäre jedoch von Bedeutung, denn falls Ignatius ihn begleitete (da er in seinen Diensten stand), hätte er die ersten Spannungen rund um die inquisitorische Reform von Leo X. sowie die Gerüchte um Luther beobachten können. Sollte der Herzog von Nájera nach Rom gereist sein, so geschah dies zwischen März und Juli 1520, da er im Februar und August in Nájera gegen den Comuneros-Aufstand kämpfte. Bemerkenswerterweise sagte der Botschafter Juan Manuel ausgerechnet im Dezember 1520, der Bischof der Comuneros, Acuña, sei der Luther Spaniens, wenngleich seine Lehre als Comunero auch kaum lutherisch, sondern vielmehr ungehorsam gegenüber den Autoritäten war.³⁷ Kaum ein
„Denn das Bapstum auch eitel Enthusiasmus ist, darin der Bapst rhühmet, alle recte sind im schrein seines hertzen […]. Das ist alles der alte Teufel und alte Schlange, der Adam und Eva auch zu Enthusiasten machte, vom eusserlichen wort Gotts auff geisterey und eigen dünckel füret“ (WA 50,245). Hartman Grisar, Martín Lutero. Su vida y su obra, Madrid, 1934. Real Academia de la Historia, Salazar y Castro. Juan Manuel an Karl V., Rom, 31. Dezember 1520. „quanto a lo de Zamora dije al papa que allí tenía otro Martín Lutero, díjome que bien le placería su privación mas que pensaba que V.A. tenía por ventura necesidad de perdonarle y que quedarían corridos él y V.A., díjele que no quedarían corridos porque no había necesidad de perdonarle, así se perdonaría sino la vida a lo más paréceme que está en ello de buena manera. Yo tornaré a hablar de esto como es menester“. „Dije a S.S. lo de Martín Lutero y da muchas gracias a V.A., y ruégale mucho que en aquello se muestre su buen hijo y protector, y que si quisiera venir acá este Martín Lutero que pueda venir seguro con carta de V.A. y estar y tornar y que acá le darán personas con quien dispute y hable y será recibida su razón en lo que la tuviere y que de esto dará todas las seguridades necesarias“ [„Bezüglich Zamora habe ich dem Papst gesagt, er hätte dort einen zweiten Martin Luther, und er sagte mir, dass er ihn gern gefangen nähme, doch dass Eure Hoheit ihm möglicherweise verzeihen möge und er Eurer Hoheit nicht widersprechen wolle. Ich sagte ihm, dass er nicht widerspräche und es keine Notwendigkeit gäbe, ihm zu verzeihen, nur wenigstens sein Leben zu verschonen, mir scheint, dass dies angeraten sei. Davon werde ich wieder sprechen, sobald es nötig ist.“ – „Ich erzählte Euer Ehren das von Martin Luther und er dankt Eurer Hoheit sehr und bittet darum, sich in dieser Sache als guter
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Jahr später ordnete der inquisitorische Kardinal Adrian von Utrecht gegenüber dem Gelehrten Toribio de Saldaña, Inquisitor von Barcelona, an, er möge alle Bücher Luthers, die er fände, verbrennen, und genau zum selben Zeitpunkt musste Ignatius daselbst eintreffen.³⁸ Andererseits musste Ignatius gewusst haben, dass die Regenten, die sich im April 1521, in Abwesenheit Karls V., in Tordesillas versammelt hatten, ihn vor der Gefahr gewarnt haben, die seinen Reichen in Spanien durch Luther drohten; wahrscheinlich wusste er bereits von der Zensur an der Universität Löwen sowie den Reaktionen von Marliani und Cristophe de Longueil während ihres Aufenthalts in Spanien in jenen Jahren. Es ist sehr wahrscheinlich, dass das Echo des Edikts von Worms ihn ebenfalls erreicht hatte, zumal dort auch Spanier zugegen waren, z. B. Juan de Vergara, der in Verbindung mit Humanisten wie Vives und Erasmus stand. Ich glaube aber, dass er eigentlich mehr erfahren hatte durch die Nachrichten, die in Barcelona während seines Aufenthalts in der Stadt unter Magister Jerónimo de Ardévol kursierten, zumal der Inquisitor in der Zeit von Ignatius’ Anwesenheit alle Bücher Luthers finden und verbrennen musste.³⁹ Möglicherweise hatte Ignatius sich einmal gefragt, ob seine Erfahrungen im Turm von Loyola irgendetwas mit dem zu tun hatten, was Luther sagte. Dies ist jedoch unwahrscheinlich, da er kaum Deutsch konnte und somit kaum davon gewusst haben konnte; außerdem widersprachen seine Erlebnisse dem, was Luther verkündete, sogar 1522, als Luther sich Ambrosio Catarino widersetzte. Doch seine scheinbare Zugehörigkeit zum Alumbradismo war für ihn in keiner Weise vorteilhaft, die Ära Cisneros samt den Offenbarungen von Catalina de Siena und den Betschwestern war vorbei und nunmehr, seit dem Edikt von Toledo von 1525, wurde der Alumbradismus mit dem Luthertum in Verbindung gebracht sowie mit den Comuneros und Germanisierten, alles Feinde der Ordnung und Stabilität, nach denen der Kaiser in den Königreichen strebte, und Ignatius war absolut gegen diese Destabilisierung. Während seines Lebensabschnitts als Pilger in Rom, Jerusalem und später in Spanien, zwischen 1522 und 1526, hatte er mit Sicherheit Kenntnis von der lutheri-
Sohn und Beschützer zu zeigen, und sollte dieser Martin Luther hierher kommen wollen, dass er mit dem Brief Eurer Hoheit sicher kommen möge und bleiben und wieder zurückreisen und dass er ihm hier Persönlichkeiten stelle, mit denen er diskutieren und reden könne und seine Worte angehört werden, und dass er ihm hierzu alle nötigen Sicherheiten böte.“] Archivo Histórico Nacional, Inquisición, Buch 317, Blatt 223. Adrian an Saldaña, Logroño 8. Juli 1521. „S.S.Rvma. huvo placer de las diligencias que se han hecho sobre las obras de Martín Lutero, el cual fue ya condenado por hereje por sentencia escrita de mano de SMC., y si algunos libros se hallasen hágase de ellos conforme a la provisión de S.S.Rvma., ni dar lugar en manera alguna a los contrario, que así cumple al servicio de Dios“ [„Euer Ehren, die Maßnahmen um die Werke Martin Luthers haben Gefallen gefunden, derselbe wurde bereits als Ketzer verurteilt durch Seine Katholische Majestät und falls sich Bücher fänden, ist mit ihnen zu verfahren wie Euer Ehren verfügt haben, ohne Ausnahme, auf dass hiermit dem Herrn gedient sei.“] José Ignacio Tellechea Idígoras, „Reacción antiluterana en España. Dos cartas de Carlos V desde Worms (1521)“, in: Diálogo Ecuménico 8, 1973.
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schen Thematik, vor allem als er mit drei Schweizern nach Palästina pilgerte, mit Kapitän Johann Hünegg, Peter Füssli und Heinrich Ziegler, sowie mit drei Niederländern, darunter insbesondere Ritter Philipp Hagen aus Straßburg. Es sei darauf hingewiesen, dass ein Bruder Füsslis Zwinglischer Apologet war. Während seiner Prozesse in Spanien (Alcalá und Salamanca) stand außer Zweifel, dass er beschuldigt war, Alumbrado zu sein, wie Ignatius selbst einräumt, aber niemals Lutheraner. Doch inwiefern kannten die Alumbrados Luther? Eher wenig, obwohl die Einladung ans neue Kolleg von Salamanca durch Erzbischof Fonseca, selbst großer Anhänger von Erasmus, ebenso wie die Entwicklung dieser Institution, in gewissem Zusammenhang steht mit der Ablehnung Luthers.
Erste Kontakte mit dem Luthertum Ich vermute, Ignatius erhielt die ersten Kritiken zu Luther durch einen Freund, den er möglicherweise in Barcelona oder Rom kennengelernt hatte und später an der Pariser Universität traf. Die Rede ist vom Dominikanerlehrer Cipriano Benet. Er hatte an der Universität von Paris studiert, war Kaplan von Hadrian von Utrecht gewesen, Logikprofessor von Alexander VI. und Julius II. und nahm am Fünften Laterankonzil teil. Er stand Jerónimo Aleander sehr nahe.⁴⁰ In den 1520er-Jahren war er Professor in Rom an der Universität von Sapienza. Genau zu jener Zeit, 1522, als in Rom die Bücher Luthers öffentlich verbrannt wurden, hielt Benet die Oratio contra dogmata Lutheri, die im Prinzip dasselbe aussagte wie das Buch, das er in jenem Jahr gegen Luther veröffentlichte.⁴¹ Es war ein Plädoyer für die Vorherrschaft des Römischen Pontifikats durch die Heilige Schrift, die Konzile und die Heiligen Väter, klar parallel zu Marlianis In Martinum Lutherum oratio, die 1520 in Rom erschienen war. Vielleicht kannte Ignatius diese Bücher nicht, mit Sicherheit hatte er sie nicht gelesen, da er damals kaum Latein konnte, doch wir wissen, dass er in seiner Pariser Zeit guten Kontakt zu Cipriano Benet hatte. Die einzigen zwei Briefe, die von seinem Aufenthalt in Paris erhalten geblieben sind, enthalten Bezüge zu Benet. Im ersten,vom 10. November 1532, teilt er Isabel Roser mit, dass er ihre Briefe über Doktor Benet erhalten hatte, und im zweiten, vom 1. Juni 1533, schreibt er an Inés Pascual, um sie zu informieren, dass er ihren Brief durch Doktor Benet, der kurz zuvor verstorben war, bekommen hatte. Also hatte Ignatius mindestens zwischen 1532 und 1533 Kontakt zu Benet in Paris. Der Gedanke, Benet habe Ignatius über Luther erzählt, erscheint logisch, zumal der Dominikaner bei den Jakobiten Unterkunft nahm, ein Ort, den er häufig aufsuchte und an dem sich auch Ori, Leivin und Laurent aufhielten.Wir wissen, dass Benet unter anderem auch das Buch De fortitudine animi et de perfecta arte
Aleander an Benet, Rom, 23. Oktober 1526, in Lettres familières de Jerome Aleander (1510 – 1540), Paris, 1909, 119 – 120. Diese Rede findet sich in der Vatikanischen Bibliothek, wie bei Quétif-Echart II, 49 berichtet wird.
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militari (Roma, 1518; Lyon, 1550) veröffentlichte, es war Julius von Medici gewidmet. Sein wichtigstes Werk zum Thema Luther war jedoch De sacrosancto Eucharistie, das er 1521 überarbeitete, das er dem spanischen Botschafter in Rom, Don Juan Manuel gewidmet hatte und in dem er Luther kritisierte. Dort kündigte er ein ausführlicheres Werk an, in dem er die Vorherrschaft des Römischen Pontifikats gegen den Häresiarchen Luther behandelte. Den ersten Kontakt mit dem intellektuellen Luthertum hatte Ignatius wahrscheinlich während seines Studiums in Paris, da es dort bereits einige Protestanten gab, die die Bedeutung der Sakramente ablehnten, doch er dachte, dies sei eher eine vorübergehende Erscheinung. Am umfassendsten informierte ihn der dominikanische Theologe Ambrogio Catarino Politi. 1520 hatte er in Florenz einen schweren Angriff gegen Luther verfasst, weil dieser die Autorität des Papstes nicht anerkannte; das Werk widmete er Karl V. Im folgenden Jahr antwortete ihm Luther in einer überaus harten Responsio. ⁴² Als Catarino im berühmten römischen Prozess von 1538 über seine Verbindung zu Ignatius aussagte, erzählte er, dass er Kontakt mit den ersten Jesuiten in Paris hatte, vor allem mit Broet, Laínez und Salmerón. Er bestätigte, dass er mit ihnen allen häufig Konversationen über Theologie und die Heilige Schrift geführt hatte, und dass er in allen Fällen beobachtet hatte, dass sie der katholischen Lehre anhingen und „contra heréticos omnes, tan veteres quam recentes.“ Catarino wird in den Briefen des Ignatius relativ häufig genannt, er war Lehrer von Salmerón, mit dem er in guter Verbindung stand und er war es auch, der diesem, Broet und Jayo in Bologna den Doktortitel verlieh. Es ist bekannt, dass Ignatius im Kreis der ersten Jesuiten die Theologie des Catarino sehr gefiel und er sie beharrlich verteidigte. Laínez, Salmerón und sogar Martín de Olave, letzterer mit Vorbehalten, unterstützten die Lehre Catarinos. Es gab einen Moment, als es schlecht um den Dominikaner stand sowie als er bereits verstorben war, in dem Ignatius informierte, es sei nicht zwingend, dass die Gesellschaft Jesu die Lehre Catarinos von der doppelten Rechtfertigung verteidigt. Die andere Persönlichkeit, mit der Ignatius in Paris verkehrte, war der Professor Pedro Ortiz, und seine Aussagen im römischen Prozess belegen, dass seine Lehre dem Luthertum widersprach. Pedro Ortiz war eine wichtige Figur in den Kolloquien von Worms und Regensburg, er kannte die lutherischen Schriften und stand Pedro Fabro sehr nahe.Von besonderer Bedeutung ist, dass Ortiz die Übungen überprüfte, und dass sich einige Ratschläge erhalten haben, die er dem Ignatius zum Verständnis der Übungen zur Verfügung gestellt hatte.⁴³ Ortiz hält es für unbedingt nötig, an der Universität zu studieren, wenn man auf sichere Weise auf dem geistlichen Weg voranschreiten wolle, um so Ignatius zu rechtfertigen, der damals bereits den Magister-
Aaron C. Denlinger, Omnes in Adam ex pacto Dei: Ambrogio Catarino’s Doctrine of Covenantal Solidarity and Its Influence on Post-Reformation Reformed Theologians, Göttingen, 2010; Giorgio Caravale, Sulle tracce dell’eresia. Ambrogio Catarino Politi (1484 – 1553), Florenz, 2007; Giorgio Caravale, Forbidden Prayer: Church Censorship and Devotional Literature in Renaissance Italy, Farnham, 2013. MHSJ, Exercitia, Rom, 1969, 67– 70; Camilo Abad, Unas „Anotaciones“ del Doctor Pedro Ortiz y su hermano Fray Francisco sobre los Ejercicios Espirituales de San Ignacio, Comillas, 1956.
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grad der Künste und theologische Studien besaß, und vor allem, um zu zeigen, dass das Leben und Werk Ignatius’ sich klar gegen die Häresie Luthers und andere Ketzereien richteten: „doctrinam catholicam et in omnibus contrariam lutheranis.“⁴⁴ Das dritte Zeugnis, das klar die Idee von Ignatius als Antilutheraner spiegelt, ist Doimo Nascio: „Semper oppugnare sectam Luteri cum Ecclesia Romana Semper tenendo e inharendo“, was sich sehr ähnlich wie die Reglas para Sentir con la Iglesia ⁴⁵ anhört. An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass Nascio Kleriker aus Amelia war, Doktor beider Rechte, der durch den Gouverneur von Rom zum Zeugen erwählt wurde. Dass Nascio zugegen war, hatte den Grund, dass er Schüler Francesco Bandinis war, des Bischofs von Siena, und vor allem, da er sofort nach seiner Ankunft in Rom die Übungen mit Ignatius durchgeführt hatte und danach zur Gründung eines Kollegs in seiner Heimatstadt beitrug, jedoch aufgrund seines hohen Alters nicht dem Orden beitrat. Merkwürdig an seiner Zeugenaussage ist, dass er Ignatius durch Empfehlung des Kardinals Giampietro Carafa kennengelernt hatte, der selbst Zweifel an der Rechtgläubigkeit der Gruppe hatte „quod sapere contra fidem“. Ein weiterer wichtiger Zeuge um 1538 in Rom war Matthäus Ory. Dort sagte er aus, er kenne die gesamte Gruppe gut, vor allem, weil sie alle an seinen Lektionen in SaintJacques teilnahmen. Wichtig ist festzuhalten, dass er sagte, er kenne Ignatius „familiariter“ und dass er vor der Inquisition angezeigt wurde, weil er eine „novam sectam“ gegründet habe. Ory berief ihn ein, befragte und überprüfte ihn. Ignatius sagte aus, dass er tatsächlich in Alcalá „super novo modo vivendi“ vor Gericht gestanden hatte. Ory fand bei ihm keinen Verdacht der Häresie bestätigt, sondern nur Männer mit reinem Gewissen.
Der Plan des Ignatius Was Ignatius über Luther gewusst haben könnte, kam wahrscheinlich aus Informationen, die ihm Jesuiten wie zunächst Fabro und Nicolás de Bobadilla, später Nadal und Canisius zukommen ließen. Fabro erkennt an, dass Ignatius gut informiert ist, belegt ist dies spätestens durch seine Briefe aus Worms, vorher aber auch durch die Wahl Ignatius’ zum General. Fabro gibt an, dass Ignatius nicht mehr tut als Information über die Lutheraner zu erbitten, mehr noch, da Ignatius die Erlaubnis besitzt, verbotene Bücher zu lesen, bittet er, ihm in Rom die Apologia von Melanchthon sowie die Beichte der Augusta zu besorgen.⁴⁶
ES 70. Madrigal, S., „‚A las fuentes de la romanidad‘: nuestra sancta madre Yglesia hierárquica (quae romana est)“, in: Las fuentes de los Ejercicios espirituales de S. Ignacio, Bilbao, 1998, 513 – 534. Die Confessio Augustana wurde 1531 von Melanchthon geschrieben und war die Grundlage der Lehre der lutherischen Kirchen. Diese Konfession lehnt den Alumbradismus ab, d. h., sie erkennt nicht an, dass der Heilige Geist auch ohne die Schrift empfangen werden kann. Die Apologia veröffentlichte Melanchthon ebenfalls 1531 und fokussierte hier die Lehre der Rechtfertigung.
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Pedro Fabro war überzeugt, dass das Problem durch Fürsorge und Geduld beseitigt werden könne. Tatsächlich dachte er noch 1546, als er noch nicht wusste, dass Luther gerade gestorben war, dass dieser zum Katholizismus zurückkehren würde, und in seinem Geistlichen Tagebuch steht, er bete für die Konversion Luthers, Calvins und Melanchthons. Dies folgt daraus, dass er von Ignatius’ Idee der „Vorgehensweise“ („modo de proceder“) besessen war, und somit erklärt sich, dass Fabro sagte, er hoffe, in Deutschland „mit der Zeit große Früchte durch unsere Vorgehensweise hervorzubringen.“⁴⁷ In der Praxis jedoch wollte Ignatius die Lutheraner auf seine Seite holen. Wir wissen, dass im Oktober 1545 die Nachricht in Trient Kunde machte, dass der heterodoxe Kapuziner Bernardino Ochino mit seiner Schwester in Augsburg sei – es war ein guter Moment, um mit ihm zu sprechen. Unter größter Geheimhaltung schickte Ignatius Jayo dorthin, um ihn zu überzeugen, zur Versöhnung nach Rom zu kommen. Bereits im Vormonat hatte Jayo mit Genehmigung der Gesellschaft Jesu durch den Papst bei Ignatius um gesonderte Erlaubnis gebeten, Häretiker zu bekehren. Im September 1546 gelang es Laínez und Salmerón, möglicherweise mit Catarino als Mittler, ihn zu bekehren, wenn auch nur für kurze Zeit. Dem Briefwechsel nach informierte Laínez, unter größten Vorsichtsmaßnahmen, Ignatius über sämtliche Ereignisse. Die Versöhnung gelang durch die Beichte und sie waren autorisiert, ihn von der Sünde der Ketzerei zu erlösen. Nachdem das Konzil aufgelöst worden war, wurde Jayo mit einer ähnlichen Mission in Ferrara beauftragt, um die Herzogin Renata de Valois zu konvertieren, was sehr im Interesse Ignatius’ stand. Salmerón sollte im Dezember 1547 eine große Zahl „verborgener“ Lutheraner erlösen und dachte, gegen Ostern 1548 sollten es noch mehr werden, da viele der in Bologna lebenden Lutheraner Kontakt mit Freunden in Rom hatten, die wiederum unter dem Druck standen, die Namen ihrer Gefährten zu nennen. Sowohl Broet als auch Salmerón hatten vom Kardinal von Santa Cruz die Genehmigung erlangt, „di assolvere quelli heretici o lutherani che se vorrano redurre all’obedientia della santa Chiesa“.⁴⁸ Broet erzählte, dass er bereits zehn Lutheraner versöhnt hatte, allerdings ohne sie an die Inquisition weiterzureichen, weder auf regulärem Wege noch über den Inquisitor. Dies kam sofort dem Vize-Inquisitor zu Ohren, einem Dominikaner, der gemeinsam mit dem Bischof von Bologna den Fall vor dem Kardinal in Burgos anzeigte und vor dem Bischof einen neuen Gerichtsfall vorbrachte. Broet und Salmerón sagten, sie handelten mit Genehmigung der Apostolischen Autorität, doch da dies die Inquisition nicht zufrieden stellte, versprachen sie, keine weiteren Fälle von Lutheranern zu versöhnen, „per haber pace con tutti“. Sie beabsichtigten, Ignatius zu informieren, falls sich der Fall in Rom herumspräche, und sandten ebenso eine Kopie des Bescheids an den Kardinal von Santa Cruz.
MHSJ, Monumenta Fabri, 44– 51, 50, Worms, 27. Dezember 1540. MHSI, Epistolae Pascasii Broëti, 43 – 44.
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Dennoch trugen Salmerón und Broet effektiv dazu bei, Giovan Battista Scotti dazu zu bringen, vom Protestantismus abzulassen. Salmerón war es, der ihm die Beichte abnahm und ihn für den Katholizismus gewann, in Ausübung des Rechts, das Ignatius zur Bekehrung von Ketzern erlangt hatte und das Jayo und Salmerón von ihm beantragt hatten, da sie sich auf dem Gebiet der „Mission“ befanden. Dies verursachte einen schweren Konflikt mit den örtlichen Inquisitoren und der Fall spitzte sich außerordentlich zu; daher empfing Julius III. am Abend des 6. Mai 1551 Salmerón und seinen engen Freund Catarino nach dem Essen zu einer Privataudienz, bei der sie beide darum baten, Ignatius das Recht zu gewähren, im Fall von Ketzerei Vergebung auszusprechen sowie nach seinem Belieben Priester zu selbigem Zweck zu ernennen, was dieser ihnen zusagte. Dieses Zusammentreffen brachten Salmerón und der Dominikaner Ambrosio Catarino anschließend zu Protokoll und unterzeichneten das Dokument, das von Polanco eingeordnet wurde als „un vive vocis oraculo del papa Julio III“. Was den deutschen Fall betraf, gibt es bei Ignatius eine klare Entwicklungslinie: 1540 stößt er die Mission des Fabro in den religiösen Kolloquien an, 1549 ruft er ihn nach Rom, um gemeinsam zu besprechen, wie sie die katholische Reform in Deutschland ausführen wollen, doch Fabro erreichte die Stadt schwer krank und konnte kaum mit Ignatius reden. 1549 ermächtigt er Jayo, Canisius und Salmerón zur Mission in Deutschland, bittet um Verbreitung der Kollegs und dass sie junge Menschen nach Rom zur Erteilung der Übungen brächten. 1551 gründet er gemeinsam mit Kardinal Morone das Collegium Germanicum, wenngleich dies stets mit wirtschaftlichen Problemen kämpfte.⁴⁹ 1553 berät er den Nuntius Defino und erweitert dort seine Vision über die katholische Reform; er besteht auf den Schulen, guten Lehrern, guten Beichtvätern, einem Plan zum Druck guter Bücher und der Restaurierung der katholischen Theologie. 1554 nimmt Ignatius bereits an, dass Gott die Gesellschaft Jesu als ein Medium zur Restauration des katholischen Glaubens in Deutschland eingesetzt hat, wie er vertraulich Canisius mitteilt: „Pare che la Compagnia nostra, essendo accettata dalla Providentia Divina fra li mezzi efficaci debba essere sollecita e che possano molto estendersi, adoperandosi quanto più presto potrà a preservare quello che resta sano e a avivare quello che è già ammorbito dalla peste eretica massimamente nelle nazione settentrionali.“⁵⁰ Im selben Brief schickt er ihm einen Plan zur Reform, der als sehr streng aufgefasst wird, da er die Todesstrafe mit einschließt: „aliquando etiam morte mulctari posse“.⁵¹
J. Lortz, „Germanicum und Gegenreformation“, in: Erneuerung und Einheit, Wiesbaden, 1987, 485 – 539. MHSJ, Epp. Ign., XII, 259. Ignatius an Canisius, Rom, 13. August 1554. MHSJ, Epp. Ign. VII, 398 – 404.
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Schlussfolgerung Von einer Konstellation „Ignatius gegen Luther“ kann nicht die Rede sein, sondern von zwei Christen, die Gott auf parallelen Wegen gesucht und gefunden haben; sie sind Erben derselben kirchlichen Tradition, die durch ihr Leben und Werk auf der Welt tiefe Spuren hinterlassen haben. Sowohl das protestantische als auch das katholische Erbe haben zum Wohl der Menschheit beigetragen, indem sie auf die Gesellschaft aus heutiger Sicht notwendige Werte wie die politische Entwicklung und den christlichen Humanismus projiziert haben. Die knappen Biografien von Laínez und Nadal sowie die ausführlichere von Polanco blieben bis ins 20. Jahrhundert hinein unveröffentlicht, doch ihr Denken über Ignatius, das durch Manuskripte und mündliche Überlieferung weitergereicht wurde, hat bereits zu dessen Lebzeiten ein Bild von ihm geschaffen, das ihn vor der Zeit beschützt, in der er lebte, und eine geradlinige Biografie eines ehrbaren Mannes und treuen Dieners des Königs und Gottes hervorgebracht: Frei von Ketzerei, zu Diensten des Pontifikats, besonders gesegnet durch Gott als Instrument zur Verteidigung der Kirche vor ihren Feinden, namentlich Luther. Dieses Bild hatten sie nicht selbst geschaffen, sondern es resultierte aus dem Lebenswandel des Ignatius um 1534, vor allem durch den römischen Prozess und durch ordensfremde Persönlichkeiten wie Catarino, Ortiz und Nascio. Ignatius’ Programm zur Eindämmung des Protestantismus durchlief eine Entwicklung, die sich durch die sieben Instruktionen an die in Deutschland arbeitenden Jesuiten verfolgen lässt. Kernpunkt war die Vermeidung theologischer Kontroversen und die Durchführung der Geistlichen Übungen durch möglichst viele Menschen; die zivilen und kirchlichen Autoritäten sollten die Verbreitung häretischer Bücher unterbinden. Wie beschrieben bleibt ein Punkt im Dunklen: die Todesstrafe oder die Enteignung von Gütern, die sich im Kontext der Epoche erklären lässt, wenngleich er selbst sagt, dass er sich zur Todesstrafe nicht äußern möchte: „de extremo supplicio et de inquisitione ibe constituenda non loquor“.⁵² Kurz vor seinem Tode gründet Ignatius die Provinz Deutschland, mit Petrus Canisius als Ordensprovinzial; von da an konnten die Kollegs gegründet werden. Es stimmt, dass in den ersten Jahren der lutherischen Reform nicht klar war, wie sich das Luthertum, der Erasmismus oder der Alumbradismus definierten, doch zwanzig Jahre später, gegen 1540, als Ignatius den neuen Orden gründete, waren die Lehrmeinungen klarer. Keine der drei Bewegungen stand in Bezug zu einer anderen,
D. Bertrand, „De la décision politique. Lettre de Saint Ignace de Loyola sur la question allemande“, in: RAM 45, 1969, 47– 64; A. Birmele, „Ignace de Loyola et Martin Luther“, in: J. Plazaola (Hg.), Ignacio de Loyola y su tiempo, Bilbao, 1992, 771– 790; C. de Dalmases, „San Ignacio de Loyola y la Contrarreforma“, in: Studia missionalia 34, 1985, 321– 350; Ph., Endean, „Ignatius in Lutheran Light“, in: Month 252, 1991, 271– 278; H. Rahner, „Das letzte Arbeitsjahr des Ignatius für Deutschland“, in: I. von Loyola als Mensch und Theologe, Freiburg, 1964, 387– 398.
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es gab keine direkten Verbindungen. Ignatius näherte sich dem Erasmismus und dem Alumbradismus, was zweifellos viele Theologen störte, denn Ignatius und sein Orden ließen sich nicht den reformistischen Strömungen vor Trient unterwerfen. Ignatius war kein direkter Antilutheraner; sein Programm war allgemeingültig und richtete sich an jeden, egal ob katholisch oder protestantisch, vom Glauben abgefallen oder heidnisch. Ich ende mit einem Brief des Ignatius an Fabro, Ordensprovinzial von Frankreich, als 1554 die Pariser Universität sich der Präsenz von Jesuiten widersetzte. Ignatius war verwundert, dass gerade Paris sich dem Orden entgegenstellte, obwohl der Orden doch hier geboren wurde und man anderorts immer mehr Jesuiten wünschte, sogar in Deutschland.⁵³
MHSJ, Epp. Ign., VII, 661. Ignacio an Broet, Rom, 15. Oktober 1554. „…non possiamos bastare in Spagnia, Portogallo, in Italia, Sicilia et anch′in Germania agli desiderii et istanti petitioni de li prelati, quali recerchano alguni degli nostri per gli ministerio….“
Gesellschaftliche Debatten
Skulpturengruppe projektiert von den Architekten Christoph Zeller und Ingrid Moye mit Unterstützung des Künstlers Albert Weis, soll im Rahmen der weiteren Modernisierung des Platzes vor der St. Marienkirche in Berlin aufgestellt werden (VG Bild-Kunst Bonn, 2017)
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Vom Augsburger Interim bis zum Vertrag von Augsburg (1548 – 1555) Wenngleich die in diesem Kapitel behandelte Zeitspanne nur die kurze, achtjährige Periode von 1548 – 1555 umspannt, repräsentiert diese einen historisch bedeutsamen Moment, in welchem sich Europa einer signifikanten Transformation unterzog. Kaiser Karl V. besaß 1548 genügend Selbstbewusstsein, um dem Reichstag des Heiligen Römischen Reiches, der traditionellen Versammlung der Reichsstände, die sich zur jener Zeit in Augsburg versammelt hatte, ein Interim aufzuzwingen. Mit dieser, wie der Name bereits impliziert, zeitlich begrenzten Regelung traf der Kaiser Vorkehrungen für eine vollständige katholische Rekonversion des Reiches und für eine Kirchenreform, während er gleichzeitig versuchte, die lutherischen Parteien zu besänftigen, um nach den religiösen Tumulten der vergangenen Jahre Frieden und Ordnung wiederherzustellen. Daher sollte das Interim nur so lange andauern, „bis die Kirche wieder geeint sein würde“. Während des Augsburger Reichstages von 1548 agierte Karl V. sicherlich proaktiv, bestärkt von seinem in Mühlberg errungenen Sieg über den Schmalkaldischen Bund am 24 April 1547, ein Moment, der in Tizians Portrait des Kaisers zu Pferde glänzend eingefangen wurde. Manche Biographen sahen daher im Interim ein sehr persönliches, enthusiastisches Dokument, eine Bekundung der Religionspolitik des ruhmreichen Kaisers, während andere behaupteten, dass es nichts weiter als ein Pyrrhussieg gewesen sei.¹ Als der Reichstag 1555, acht Jahre später, ebenfalls in Augsburg einberufen wurde, verblieb ein niedergeschlagener Karl V. in Brüssel, wo er entschied, dass er lieber abdanken als weitere Konzessionen verabschieden würde, welche sein Bruder damals mit den protestantischen Parteien aushandelte. Zum Unglück des Kaisers geschah es jedoch, dass der Herold mit der Botschaft dieser Entscheidung zu spät auf dem Reichstag eintraf; dieser hatte bereits entschieden, dass Augsburg der letzte Regierungsakt unter Karls Leitung sein sollte.² Sehr zu seinem Unmut rechnete der Augsburger Religionsfrieden – wie die abschließende Einigung des Reichstages genannt wurde – das jus reformandi den territorialen und städtischen Landesherren zu, wodurch die Koexistenz von Katholizismus und Luthertum ohne eine klare zeitliche Begrenzung legalisiert wurde. Entsprechend den maßgeblichen historiographischen Übersetzung: Elise Eckardt. H. Schilling, „The Struggle for the Integrity and Unity of Christendom“, in: H. Soly (Hg.), Charles V and His Time: 1500 – 1558, Antwerpen, 1999, 285 – 365; W. Reinhard, „Die kirchenpolitischen Vorstellungen Kaiser Karls V. Ihre Grundlagen und ihr Wandel“, in: E. Iserloh (Hg.), Confessio Augustana und Confutatio. Der Augsburger Reichstag von 1530 und die Einheit der Kirche, Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 118, Münster, 1980, 62– 100. V. Soen, „Charles V“, in: D. Whitford (Hg.), Luther in context, Cambridge, 2018 (im Erscheinen). https://doi.org/9783110498745-033
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Erzählungen, maßgeblich gefärbt durch Karl Brandi, des Kaisers einflussreichstem Biographen, stellten das zeremonielle Abdanken des entmutigten Kaisers in Brüssel im Oktober 1555 sowie seine anschließend beinahe klösterliche Zurückgezogenheit in Yuste einen dramatischen Klimax seiner lebenslangen Rivalität mit Luther und dessen Anhängern dar.³ Anstatt jedoch jenes Drama den Ereignissen hinzuzufügen, will dieser Artikel illustrieren, wie die kurzfristigen Änderungen in der Politik des Reiches zwischen 1548 und 1555 langfristige Konsequenzen für die Umgestaltung der religiösen und politischen Landkarte, sowohl von Europa als auch der neuen Welt, während der Frühen Neuzeit bewirkten. Auch wenn die offizielle Erlaubnis der Ausübung des Protestantismus erst 1555, und hier mit einer Vielzahl an restriktiven Bedingungen und widersprüchlichen Klauseln, eingeführt wurde, so war dies doch die erste Zeit, in welcher die Einheit des Glaubens nicht länger als eine Bedingung für Frieden und Ordnung angesehen wurde.⁴
1 Häresiegesetze oder Interim? Im Deutschland des 16. Jahrhunderts war der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, Karl V. – und nicht der Papst – das Oberhaupt, welchem die Verantwortung der causa fidei übertragen wurde. Sein Bruder Ferdinand diente als Stellvertreter der deutschen Angelegenheiten und ab 1531 als König des Römischen Reiches (ein Titel, der eine gewählte, rechtmäßige Erbfolge auf die kaiserliche Krone implizierte). Gemäß der Regierungsstruktur des Heiligen Römischen Reiches, besaß der Reichstag, die Versammlung der Stände, welche die Kurfürsten, Reichsfürsten und Reichsstädte umfasste, in religiösen Fragen ein ebenfalls ein gewichtiges Stimmrecht. Der hochkomplexe Staatsapparat, welchen sowohl der Reichstag als auch der Kaiser im Zuge einer generellen Reichsreform lange zu reformieren erhofften, bot Deutschland einen fruchtbaren Grund für immer neu wechselnde Koalitionen, vor allem im religiösen Bereich.⁵ Während die Reformation einen weiteren Keil in das alte, zerrissene politische System schlug, war sie für ihren Erfolg ebenso von ihm abhängig: Der unregelmäßig tagende Reichstag debattierte ab 1521 darüber, wie am besten mit der wachsenden religiösen Spaltung innerhalb des Reiches zwischen den Verteidigern der
Noch immer beeinflusst von dem gebräuchlichsten Biographen des Kaisers: K. Brandi, Kaiser Karl V. Werden und Schicksal einer Persönlichkeit und eines Weltreiches, 2 Bde., München, 1937/1941. Siehe hierzu auch seinen bedeutsamen Artikel: K. Brandi, „Passauer Vertrag und Augsburger Religionsfriede“, in: Historische Zeitschrift, 95, 1905, 206 – 264. T. Brady, „Settlements: The Holy Roman Empire“, in: T. Brady, H. Oberman und J. Tracy (Hg.), Handbook of European History, 1400 – 1600. Late Middle Ages, Renaissance, and Reformation, Bd. 2, Leiden, 1995, 349 – 383; S. Dixon, „Charles V and the Historians: Some Recent German Works on the Emperor and his Reign“, in: German History, 21, 2003, 104– 124. H. Lutz, Das Ringen um Deutsche Einheit und kirchliche Erneuerung. Von Maximilan I. bis zum Westfälischen Frieden 1490 bis 1648, Frankfurt, 1987, passim.
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„alten“ katholischen Kirche und den Unterstützern der neuen protestantischen Lehre umzugehen wäre, und setzten bis 1555 die causa fidei mit der causa Lutheri gleich.⁶ Der Hintergrund dieses Konflikts wurde auf dem verhängnisvollen Reichstag zu Worms von Januar bis Mai 1521 festgelegt, als der neugewählte Kaiser Luther und seine Anhänger verdammte, indem er das offizielle Edikt von Papst Leo X. bekräftigte, das Luthers Lehre in der Bulle Exsurge Domine (Juni 1520) zur Häresie erklärte und seine Exkommunikation, wie sie in der Bulle Decet Romanum Pontificem (Januar 1521) erlassen wurde, unterstützte.⁷ Daher setzte das Edikt von Worms eine Anzahl an formalen, antihäretischen Edikten innerhalb des Reiches in Kraft, welche Karl innerhalb „seiner“ Niederlande unter direkter habsburgischer Herrschaft sogar noch strikter durchsetzen sollte.⁸ Dennoch führte der Reichstag zu Speyer 1526 Provisionen ein, welche die repressiven Maßnahmen wie Konfiskation und Todesstrafe, wie sie im Wormser Edikt festgehalten waren, entspannten, was wiederum dazu führte, dass Lutheraner nicht länger als Häretiker betrachtet wurden. Es ist wichtig, zu berücksichtigen, dass dies nicht nur als eine zeitliche Maßnahme, inspiriert von den gewalttätigen Unruhen, die während des Bauernkrieges auftraten, galt, sondern ebenso ein ernsthaftes Eingeständnis der Schwierigkeiten repräsentierte, das strikt antihäretische Edikt umzusetzen.⁹ Auf dem Augsburger Reichstag von 1530, welcher nach der ersten Episode der offenen Kriegsführung zusammenkam, fühlte sich die lutherische Partei – bestehend aus Reichsfürsten und freien Reichsstädten, auch wenn jene zu dieser Zeit weiterhin gespalten und uneins waren – stark genug, ihr eigenes, distinktes Glaubensbekenntnis, die bedeutsame Confessio Augustana, voranzubringen. Dadurch wurden die Verteidiger der Confessio Augustana nun offiziell als Protestanten identifiziert, welche gegen ihre Unterdrückung protestierten. ¹⁰ Über Jahre würden die fol-
P. Fabisch und E. Iserloh (Hg.), Dokumente zur Causa Lutheri (1517 – 1521), Bd. 2, Münster, 1991, passim. H. Lutz, „Das Reich, Karl V, und der Beginn der Reformation. Bemerkungen zu Luther in Worms 1521“, in: H. Fichtenau und E. Zöllner (Hg.), Beiträge zur neueren Geschichte Österreichs, Wien, 1974, 47– 70. V. Soen, „Arise, O Lord (Exsurge Domine)“, in: M. Lamport (Hg.), Encyclopedia of Martin Luther and the Reformation, Bd. 1, Lanham, Maryland, 2017, 38 – 39. G. Gielis und V. Soen, „The inquisitorial office in the sixteenth-century Low Countries. A dynamic perspective“, in: Journal of Ecclesiastical History, 66, 2015, 47– 66; A. Goosens, Les Inquisitions dans les Pays-Bas méridionaux à la Renaissance (1519 – 1633), Spiritualités Libres 7, 2 Bde., Brüssel, 1997– 1998; J. A. Fühner, Die Kirchen- und die antireformatorische Religionspolitik Kaiser Karls V. in den siebzehn Provinzen der Niederlande 1515 – 1555, Brill’s Series in Church History 23, Leiden/Boston, 2004. Für einzelne Regelungen innerhalb der Niederlande, siehe auch D. R. Doyle, „The Sinews of Habsburg Governance in the Sixteenth Century: Mary of Hungary and Political Patronage“, in: Sixteenth Century Journal, 31, 2000, 349 – 360. W. Friedensburg, Der Reichstag zu Speier 1526 im Zusammenhang der politischen und kirchlichen Entwicklung Deutschlands im Reformationszeitalter, Historische Untersuchungen 5, Berlin, 1887, passim. H. Rabe, „Befunde und Überlegungen zur Religionspolitik Karls V. am Vorabend des Augsburger Reichstags 1530“, in: E. Iserloh (Hg.), Confessio Augustana und Confutatio. Der Augsburger Reichstag 1530 und die Einheit der Kirche, Münster, 1980, 101– 112.
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genden Reichstage zaudern, ob sie häretische Edikte erlassen oder temporäre Maßnahmen des Miteinanders schaffen sollten. In beiden Fällen bestand jedoch die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung und Übereinkunft innerhalb der Lateinischen Kirche. Wie Heinrich Lutz überzeugend argumentiert, konzentrierte sich das langfristige Bestreben der Habsburger Dynastie nicht auf ihre Religionspolitik, sondern auf eine Reform des politischen, militärischen und finanziellen Systems des Reiches, mit dem Zweck, eine „Deutsche Einheit“ wiederherzustellen und einen permanenten Reichsfrieden einzurichten.¹¹ Der Kaiser und sein Bruder hielten beide eine imperiale Reform für notwendig, um eine bessere Verteidigung gegen die Bedrohung der Ottomanen aufzubauen, besonders, nachdem deren Angriff auf die Habsburger in Mohács 1526 die östliche Flanke des Reiches in eine sehr schwache und kostenaufwendige Grenze verwandelt hatte. Tatsächlich stellte die andauernde Türkengefahr den primären Diskussionsgegenstand der meisten Reichstage vor und nach 1555 dar, ein Punkt, zu dessen Unterschätzung die zeitgenössische historiographische Faszination über die Causa Lutheri manchmal neigt.¹² Um sowohl politische als auch finanzielle Unterstützung ihrer Kriege gegen die Ottomanen zu gewinnen, umging oder überging die Habsburgische Dynastie bei Bedarf die erst erlassenen „Häresieedikte“, indem sie Allianzen mit den protestantischen Fürsten einging.¹³ Die Angelegenheit wurde dadurch verkompliziert, dass der Kaiser die Situation innerhalb des Heiligen Römischen Reiches vor 1542 nicht zu priorisieren vermochte, da er hier nur für jeweils kurze Perioden in den Jahren 1521, 1530, 1532 und 1541 residierte. Dies ist ein Resultat der mannigfachen logistischen Herausforderungen, die mit der Regentschaft über das größte Reich jener Zeit einhergingen, einer gewaltigen Amalgamierung eines Territoriums, das sich vom Heiligen Römischen Reich und der Iberischen Halbinsel bis zu den entfernten Gebieten der Neuen Welt erstreckte. Als solches forderten seine Gebiete im Mittelmeerraum ebenso viel Geld und Aufmerksamkeit für die Abwehr der Ottomanen wie jene Gebiete des Heiligen Römischen Reiches.¹⁴ Auch wenn sowohl die internationalen als auch die örtlichen Vorgehensweisen die Religionspolitik der Habsburgischen Dynastie im Kontext des Reiches äußert ambivalent aussehen lassen, verfolgte Karl V., wie Heinz Schilling herausgestellt hat, Zeit seines Lebens die Wiederherstellung der „Integrität und Einheit des Christen-
H. Lutz, Christianitas afflicta. Europa, das Reich und die päpstliche Politik im Niedergang der Hegemonie Kaiser Karls V. (1552 – 1556), Göttingen, 1964, passim. E. Wolgast, „Die Religionsfrage auf den Reichstagen 1521 bis 1550/1“, in: W. Becker (Hg.), Der Passauer Vertrag von 1552. Politische Entstehung, reichsrechtliche Bedeutung und konfessionsgeschichtliche Bewertung, Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns 80, Neustadt, 2003, 11. A. Luttenberger, Glaubenseinheit und Reichsfriede. Konzeptionen und Wege konfessionsneutraler Reichspolitik (1530 – 1552), Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 20, Göttingen, 1982, 164– 184. R. Mackay, „Governance and Empire during the Reign of Charles V: A Review Essay“, in: Sixteenth Century Journal, 40, 2009, 769 – 799.
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tums“. Der Kaiser projizierte diese Bemühung auch über die Grenzen von Deutschland und Österreich hinaus und bezog sein gesamtes, globales Reich ein, „in welchem die Sonne niemals unterging“.¹⁵ Um dieses Ziel zu erreichen, strebte Karl zunächst nach einer Koalition mit dem Papst mittels einer Krönung (welche schließlich 1530 in Bologna stattfand), und anschließend nach einer Einberufung eines neuen ökumenischen Konzils, welches den zuvor auf dem Fünften Laterankonzil (1512– 1517) erlassenen Reformmaßnahmen folgen sollte, und um Luthers Gesuch nach einem freien, christlichen Konzil auf deutschem Boden nachzukommen.¹⁶ Während sie definitiv darum bemüht waren, eine Ausbreitung der Reformation zu unterbinden, unterstützten dennoch sowohl Karl V. als auch Ferdinand die Religionsgespräche nach 1530 zwischen Theologen und Fürsten katholischer und protestantischer Konfessionen, und sie unterstützten „konfessionell neutrale“ Politiken, um Alliierte für ihre Kriege gegen die Ottomanen und die Franzosen, ihre anderen fortwährenden Erzfeinde, zu gewinnen.¹⁷ Zwischen den Jahren 1543 und 1552 residierte der Kaiser regelmäßig im Reich, da er ab diesem Zeitpunkt die imperialen Reformen und die religiöse Eintracht priorisierte, in der Hoffnung, einen Reichsfrieden herzustellen. Seine Bemühungen wirken jedoch einigermaßen naiv und spiegeln sein Unvermögen im Erfassen der Herausforderungen, welche sowohl von den theologischen Debatten auf höchster Ebene als auch von der Mobilisierung des Volks ausgingen, die dieses Zeitalter bestimmten.¹⁸ 1543 kam es mit dem plötzlichen Übertritt von Herman von Wied, dem Erzbischof Kölns, zum Luthertum sowie der graduellen Bewegung des Herzogtums Braunschweig zum Protestantismus zu unmittelbaren Rückschlägen. Dennoch stieß auch der Schmalkaldische Bund, ein Zusammenschluss protestantischer Alliierter von 1531, auf ernsthafte Probleme: Erstens existierte ein feindseliger Antagonismus zwischen den Herrschern der Landgrafschaft Hessen und dem Kurfürstentum Sachsen; zweitens kollidierten die Bestrebungen dieser Fürsten mit den Interessen der ständig wachsenden Zahl der protestantischen Städte; und drittens resultierten unterschiedliche theologische und politische Interpretationen der Frage, wie nach einer Annahme der Confessio Augustana weiter fortzufahren sei, in genereller Untätigkeit. Aufgrund der vielen Schwächen innerhalb der protestantischen Partei fühlte sich der Kaiser daher darin bestärkt, den Krieg zu beginnen. 1543 unterwarf und besetzte er das Herzogtum Geldern, das letzte verbliebene Gebiet, das er benötigte, um seine Herrschaftsgebiete zu vereinigen und die Siebzehn Provinzen zu formieren, wodurch er seine Besitztümer entlang der Nordsee und innerhalb des burgundischen Reichskreises „eins und un-
H. Schilling, „The Struggle for the Integrity and Unity of Christendom“, 285 – 365. J. O’Malley, Trent: What Happened at the Council, London, 2013, 49 – 76. H. Rabe, „Abschied vom Ketzerrecht? Zur Religionspolitik Karls V“, in: I. Dingel, V. Leppin und C. Strohm (Hg.), Reformation und Recht, Festgabe für Gottfried Seebass, Gütersloh, 2002, 40 – 57. W. Blockmans, Emperor Charles V: 1500 – 1558, London, 2002; siehe auch W. Blockmans und N. Mout (Hg.), The World of Charles V: Proceedings of the Colloquium, 4 – 6 October 2000, Amsterdam, 2004.
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teilbar“ machte.¹⁹ Darüber hinaus besiegte er 1544 auf überzeugende Weise Franz I. und die Franzosen. Der Friedensvertrag von Crépy verlangte, unterstützt vom Papst, nach der Einsetzung eines allgemeinen Konzils der westlichen Christenheit und schrieb vor, dass jenes sich an einem Ort innerhalb des Reiches versammeln musste. Letzten Endes wurde durch eine Übereinkunft die kleine deutsch-italienisch sprechende Stadt Trient ausgewählt. Wenngleich Luther die Agenda dieses Konzils in großem Umfang ausgelöst hatte, wurde es in einer solchen Weise organisiert, dass ausschließlich katholische Bischöfe und Theologen 1545 in Trient zusammenkommen durften, da protestantische Beobachter während der ersten Periode ausgeschlossen wurden.²⁰
2 Das Interim von Augsburg Die Historiografie zeigt, dass die Jahre 1547/48 einige interessante Änderungen in das Machtgeflecht brachten.²¹ Nachdem Papst Paul III. das Konzil im Frühling 1547 dazu gebracht hatte, nach Bologna umzuziehen, schlussfolgerten die zeitgenössischen Beobachter mehrheitlich, dass eine Versöhnung zwischen Katholiken und Protestanten unmöglich geworden war, vor allem, da nun der Papst für die Festlegung von doktrinären und disziplinarischen Belangen verantwortlich zu sein schien.²² Nicht zufällig erklärte Kaiser Karl V. gleichzeitig dem Schmalkaldischen Bund der protestantischen Fürsten den Krieg. Er zwang den Bund nach seinem Sieg in Mühlberg, sich aufzulösen, während er rachsüchtig dessen Anführer, Johann Friedrich von Sachsen und Philipp von Hessen, einsperren ließ.²³ Der folgende Reichstag sollte Moritz von Sachsen, einen Verwandten von Johann Friedrich, der den Kaiser trotz seiner Zugehörigkeit zum Protestantismus unterstützt hatte, als neuen Kurfürsten Sachsens einsetzen, und ihn dadurch für viele Jahre zur Schlüsselfigur machen. Der Augsburger Reichstag von 1547/48 wurde schließlich als geharnischter Reichstag bekannt und war bereits Gegenstand wichtiger historischer Untersuchungen. Horst Rabes Dissertation fokussiert beispielsweise speziell auf den Eröffnungsakt von Augsburg, während eine besondere Ausgabe der Historischen Zeitschrift, ein von Luise Schorn-Schütte veran-
A. Duke, „The elusive Netherlands. The question of national identity in the early modern Low Countries on the Eve of the Revolt“, in: The Low Countries Historical Review, 119, 2004, 10 – 38. O’Malley, Trent: What Happened, 49 – 76. H. Schilling, „Veni, vidi, Deus vixit – Karl V. zwischen Religionskrieg und Religionsfrieden“, in: Archiv für Reformationsgeschichte, 89, 1998, 144– 166. O’Malley, Trent: What Happened, 121– 126. Dies geschah in der Wittenberger Kapitulation: J. Tracy, Emperor Charles V, Impresario of War, Campaign Strategy, International Finance and Domestic Politics, Cambridge, 2002; siehe auch J. M. Lies, Zwischen Krieg und Frieden. Die politischen Beziehungen Landgraf Philipps des Großmütigen zum Haus Habsburg 1534 – 1541, Göttingen, 2013; J. M. Lies, Dokumentenband zu Landgraf Philipp dem Großmütigen von Hessen, zum Haus Habsburg 1528 – 1541, Marburg, 2014.
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staltetes Symposium sowie aktuelle Publikationen von Irene Dingel cum suis bereits wertvolle Einsichten in den Reichstag geliefert haben.²⁴ Leider fallen zeitgenössische Texte des Augsburger Interims ziemlich rar aus, da der Kaiser von allen Beteiligten strikte Verschwiegenheit forderte.²⁵ Die Idee eines ‚Interim‘ wurde seit spätestens 1530 stufenweise erarbeitet, aber erst Ferdinand setzte sie während der Kriegsvorbereitungen im Februar 1547 durch. In einem gut dokumentierten Gutachten empfiehlt der König des römischen Reiches, dass sein Bruder den Theologen ein Interim verfassen sollte, das beendet werden würde, sobald das Konzil von Trient einen Kompromiss zwischen den rivalisierten Theologien fände.²⁶ Da die burgundischen Räte Nicolas Perrenot de Granvelle und sein Sohn Antoine das Interim verteidigten, während die spanischen Theologen Pedro de Soto und Pedro de Malvenda es ablehnten, kam es jedoch zu einer scharfen Spaltung darüber, ob ein solches Interim wünschenswert sei.²⁷ Aus Furcht vor der Macht des Reichstages fuhren der Kaiser und Ferdinand mit dem Interim fort, aber sie betonten bewusst, dass jenes erlöschen sollte, sobald das Konzil von Trient zu einer Lösung kommen würde. Dabei hegten sie die Hoffnung, dass das Konzil idealerweise zu einer Versöhnung mit den Protestanten führen würde. Die heikelsten theologischen Herausforderungen blieben die Fragen nach dem priesterlichen Zölibat (oder der Priesterehe) und der Erwünschtheit einer „Kommunion unter beiderlei Gestalt“ (der Frage des Laienkelchs), während die meisten praktischen Fragestellungen die Konfiskation und die Säkularisation der Kirchengüter sowie die erzwungene Konversion von Gläubigen betrafen. Obwohl der Reichstag nicht vor dem 1. September 1547 eröffnet werden sollte, kamen viele katholische Theologen bereits im Juli und August in Augsburg an und begannen, erste Überlegungen zu einer Kompromisslösung anzustellen. Dieser Kompromiss sollte nur so lange Bestand haben, bis ein künftiges Konzil über die Fragen der Lehre und Disziplin entscheiden könne. Sobald der Reichstag eröffnet wurde, begann die erste kaiserliche Kommission unmittelbar mit ihrer Arbeit und konnte im Dezember erste Vorschläge vorlegen. Dazu gehörten eine Reformatio in doctrina (welche jedoch hartnäckig auf dem priesterlichen Zölibat beharrte und eine
H. Rabe, „Zur Entstehung des Augsburger Interims (1547/8)“, in: Archiv für Reformationsgeschichte, 94, 2003, 6 – 104; L. Schorn-Schütte (Hg.), Das Interim 1548/50. Herrschaftskrise und Glaubenskonflikt, Gütersloh, 2005; I. Dingel (Hg.), Reaktionen auf das Augsburger Interim. Der Interimistische Streit (1548 – 1549), Controversia et Confessio 1, Göttingen, 2010. G. Pfeilschifter (Hg.), Acta reformationis catholicae ecclesiam Germaniae concernentia saeculi XVI. Die Reformverhandlungen des deutschen Episkopats von 1520 bis 1570, Bd. 4– 6, 1971– 1974. Allerdings hat Horst Rabe bemerkenswerte Beobachtungen darüber angestellt, dass in diesen Editionen wichtige Texte auf Deutsch nicht berücksichtigt worden sind: Rabe, „Zur Entstehung des Augsburger Interims 1547/8“, 7, Anm. 4; J. Mehlhausen, „Interim“, in:Theologische Realenzyklopädie (TRE), 16, 1987, 230 – 237. Ferdinand an Karl V, Dresden, 17 März 1547, in: Pfeilschifter, Acta, Bd. 5/13, 30 ff. K. De Jonghe und G. Janssens (Hg.), Les Granvelle et les anciens Pays-Bas, Leuven, 2000; M. Legnani, Antonio Perrenot de Granvelle. Politica e diplomazia al servizio dell’impero spagnolo (1517 – 1586), Mailand, 2013; V. Carro, El maestro fr. Pedro de Soto, O. P. (confessor de Carlos V) y las controversias político-teológicas en el siglo XVI, Salamanca, 1931.
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Kommunion unter beiderlei Gestalt ablehnte) und eine Reformatio in morum (welche einige der auf der ersten Sitzung in Trient festgelegten Maßnahmen aufnahm, jedoch klarere Richtlinien formulierte).²⁸ Der Kaiser stimmte diesen Dokumenten nicht zu, da sie in hohem Maße antiprotestantische Maßnahmen vorsahen, eine Wiederversöhnung aber kaum förderten. Vergeblich versuchte er unterdessen, das Konzil von Bologna zurück auf kaiserlichen Boden nach Trient zu verlegen. Die zweite Kommission, aus neu ernannten Mitgliedern zusammengestellt, entwarf ihren eigenen Vorschlag. Die Kommissare basierten das erstellte Dokument vermutlich auf der Arbeit der ersten Kommission, fanden aber auch wichtige Anregungen in der Vergleichsformelle, einem früheren Versuch der Versöhnung, welcher der fortschreitenden Vermittlungstheologie wichtige Aussagen lieferte, beispielsweise in Fragen der Rechtfertigung, der Soteriologie oder der Sakramente.²⁹ Die offiziellen Beratungen des Reichstages über das vom zweiten Komitee vorgeschlagene Interim begannen am 15. März 1548. Erwartungsvoll hatte der Kaiser bereits zu einem früheren Zeitpunkt der Verhandlungen die Unterstützung der Kurfürsten von Brandenburg und der Kurpfalz erhalten, wodurch er das Interim als Initiative des Reichstages, und nicht seiner eigenen kaiserlichen Gefolgschaft, vorstellen konnte. Auch Moritz von Sachsen, der neue Kurfürst, war gewillt, den Text in seinem Namen zu bestätigen, wollte aber nicht für seine Untertanen sprechen, da er versuchte, lokales Wohlwollen aufzubauen, da er sich weiterhin in einer prekären Situation befand. Schließlich willigte der Kaiser in eine Vorladung Martin Bucers aus Straßburg ein (im Gegensatz zu einer Einladung von Theologen aus Wittenberg),
Diese erste Kommission setzte sich zusammen aus Michael Helding, Weihbischof von Mainz, Balthasar Fannemann, Weihbischof von Hildesheim, Eberhard Billick, Provinzial der Karmeliten in Köln, sowie dem Hofprediger Pedro de Malvenda. Innerhalb dieser Gruppe vertrat nur Helding eine moderierende Position, wenngleich er nur wenig Möglichkeiten hatte, das Komitee von dem harten Kurs der Ablehnung einer Priesterehe und der Kommunion unter beiderlei Gestalt abzubringen. Obgleich der moderate Johann Gropper in Augsburg anwesend war, nahm er nicht an der ersten Planung eines Entwurfs teil. Horst Rabe konnte inzwischen die Tragweite des Vorschlags der ersten Kommission des Augsburger Interims vom Dezember 1547 aufzeigen, welches unter dem Legat des Bischofs von Hildesheim, Valentin von Tetsleben, verblieb. Ein weiterer Text des Kreises um Michael Helding findet sich im Staatsarchiv Würzburg. Das Dokument wurde ediert von Pfeilschifter (Hg.), Acta, Bd. 6/17, 258 – 301. Mitgelesen werden sollten die Bemerkungen von Rabe, Augsburger Interim, Anm. 98 – 100. Dieses zweite Redaktionskomitee, das sich zum ersten Mal im Februar 1548 traf, setzte sich zusammen aus Michael Helding, Julius von Pflug, Bischof von Naumburg, und Johannes Agricola, dem Hofprediger Brandenburgs. Später trat Petro de Soto der Kommission bei, gleichfalls wirkten Malvenda und Domingo de Soto mit und übten hinter den Kulissen bedeutenden Einfluss aus. Am Ende nahm auch Heinrich Mülich, Hofprediger Ferdinands, an der Kommission teil. J. V. Pollet, E. Neuss (Hg.), Pflugiana. Studien über Julius Pflug (1499 – 1564), Münster, 1990; J.V. Pollet, Julius Pflug (1499 – 1564) et la crise religieuse dans l’Allemagne du XVIe siècle, Leiden/New York/Kopenhagen/Köln, 1999; basierend auf früheren Editionen seiner Korrespondenzen: J. V. Pollet (Hg.), Julius Pflug, Correspondance, 3 Bde., Leiden, 1971– 1977. Der Vorschlag des zweiten Komitees vom März 1548 in Latein: Pfeilschifter, Acta, Bd. 6/19, 308 – 348; ebenso gab es einen entsprechenden Text auf Deutsch, der jedoch stark aus der lateinischen Version zusammengeschnitten wurde.
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wenngleich unklar bleibt, in welchem Ausmaß dessen Ratschläge in die endgültige Textfassung des Interims eingingen.³⁰ Dass der endgültige Text die Möglichkeit der Laienkelche sowie die Möglichkeit zur Priesterehe beinhaltete, ist ein Zugeständnis an die Protestanten, das allerdings nur so lange gültig sein sollte, bis das Konzil in diesen Angelegenheiten eine abschließenden Meinung bilden konnte. Die Lehre von den Sakramenten, der Rechtfertigung und auch der generelle Aufbau der katholischen Hierarchie blieb unberührt, auch wenn in den verschiedenen Punkten einige nuancierte Konzessionen gebilligt wurden. Daraufhin kam es zur Abdankung des kaiserlichen Beichtvaters, Pedro de Soto, da eine kompromisslose Lösung nun ausgemacht zu sein schien. Dennoch blieb der größte Erfolg des Dokuments, dass das Interim von 1548 die theologischen Streitfragen seiner Zeit herausforderte, insbesondere den interimistischen Streit, wie Irene Dingel herausgestellt hat.³¹ Die katholischen Reichsstände stimmten schließlich gegen das Interim, da sie seinem Inhalt nur wenige Vorteile für die verbliebenen Katholiken abgewinnen konnten und stattdessen die außerordentlichen Zugeständnisse an die protestantischen Territorien bemängelten. Schlussendlich stimmte der Kaiser, wenngleich nicht rückhaltlos, zu und bewilligte das Interim nach geringfügigen redaktionellen Änderungen, allerdings nur für die protestantischen Gebiete. Für die katholischen Gebiete wurde die Formula Reformationis ergänzt. In diesem Dokument werden Fragen der religiösen Praxis weit ausführlicher behandelt als in den Tridentinischen Beschlüssen, da es neue kirchliche Prozeduren einführt und gewisse alte Praktiken verwirft. Neben den allgemeinen Anweisungen zu Rigorosität und Reform betont die Formula die Notwendigkeit einer ständigen Organisation der (Diözesan‐)Synoden, welche dazu angehalten wurden, die religiösen Zustände innerhalb der spezifischen Diözese zu evaluieren. Der Kaiser setzte diese Reformmaßnahmen durch, indem er von seinen Bischöfen die öffentliche Bekanntmachung der Änderungen und Reformen einforderte. Er richtete seine Bestrebungen erst auf den Süden Deutschlands aus und führte sie nordwestlich in Köln und Reims fort. Ebenso drängte er auf eine Ausführung der Reformen in den Niederlanden, welche er in Augsburg zum Burgundischen Kreis vereint hatte, und ließ den Bischöfen von Cambrai und Tournai sowie dem Erzbischof von Utrecht Aufforderungen zur Umsetzung der Formula Reformationis zukommen.³²
Eine Edition basierend auf der Grundlage des verbliebenen Manuskripts wurde vorgelegt von J. Mehlhausen (Hg.), Das Augsburger Interim von 1548, Neukirchen, 1970. Mehrere damals gedruckte Ausgaben in Latein und Deutsch sind noch erhalten. I. Dingel, „The Culture of Conflict in the Controversies leading to the Formula of Concord (1548 – 1580)“, in: R. Kolb (Hg.), Lutheran Ecclesiastical Culture, 1550 – 1675, Leiden/Boston, 2008, 15 – 64; I. Dingel, „‚Der rechten lehr zuwider.‘ Die Beurteilung des Interims in ausgewählten theologischen Reaktionen“, in: L. Schorn-Schütte (Hg.), Das Interim 1548/50. Herrschaftskrise und Glaubenskonflikt, Gütersloh, 2005, 292– 311. Es arbeitete beispielsweise mit dem Gedanken einer doppelten Rechtfertigung, siehe J. Mehlhausen, Duplex justificatio. Die Rechtfertigungslehre des Augsburger Interims, Bonn, 1970. Robert de Croÿ, Bischof von Cambrai, damals kaiserliche Enklave, führte die Formula mit besonderem Eifer in seinem Bistum ein, welches sich zwischen Scheldt und Antwerpen erstreckte: V. Soen
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Nichtsdestotrotz trafen die Maßnahmen auf ernsthaften Widerstand, in protestantischen wie auch in katholischen Gebieten. Moritz von Sachsen versuchte etwa, ein Leipziger Interim einzuführen, und nötigte innerhalb seines Fürstentums viele dazu, seiner modifizierten Variante Folge zu leisten, während andere protestantische Fürsten das Interim deutlich ablehnten. Derweil versuchte Karl V. weiterhin, seine Doppelpolitik des Interims und der Formula Reformationis auf dem Augsburger Reichstag 1550 durchzusetzen, und zeigte dadurch seinen unerschütterlichen Einsatz für eine Umsetzung der Kompromisslösung.³³ Obwohl der Papst den Vorstellungen des Interims letztlich nachgegeben hatte, fühlte er sich davon angegriffen, dass der Kaiser in diesen wichtigen Angelegenheiten katholischer Reform den cavalier seul zu spielen schien.³⁴ Die provisorischen und zeitlich begrenzten Vereinbarungen des Augsburger Reichstages von 1547/48 waren also nicht mehr als ein weiterer Versuch einer Bewältigung der tiefen Spaltung, welche von der Lehre und der Theologie Luthers hervorgerufen worden war. Darin glichen sie den Diskussionen, die auf allen Reichstagen seit 1521 immer wieder aufgekommen waren.
3 Der Passauer Vertrag Drei spezifische Ereignisse führten zu einem frühen Niedergang der zweigleisigen Politik des Kaisers von Interim und Formula Reformationis. Erstens unterschrieb Karl im März 1551 den habsburgischen Erbfolgevertrag, in welchem er seine Zustimmung gab, dass die kaiserliche Krone sowie die österreichische Hausmacht zunächst an Ferdinand, und später an dessen Sohn Maximilian, übergehen sollte. Dadurch gab er zwar den Anspruch Philips, Karls eigenem Sohn und Erben, auf, allerdings sicherte er letzterem die Erbrechte an Spanien und ‚den Siebzehn Provinzen‘ der Niederlande.³⁵ Der Habsburger Erbfolgevertrag gewährte Ferdinand einen Handlungsspielraum, besonders hinsichtlich der Zugeständnisse an die Protestanten, und führte zu einer allmählichen Distanzierung des Kaisers von seinem Bruder. Die nachfolgenden Jahre führten zu einer eigentümlichen Kombination aus Hegemonie und Kollaps innerhalb
und A. Van de Meulebroucke, „Vanguard Tridentine Reform in the Habsburg Netherlands. The episcopacy of Robert de Croÿ, bishop of Cambrai (1519 – 1556)“, in: V. Soen, D. Vanysacker und W. François (Hg.), Church, Censorship and Reform in the early modern Habsburg Netherlands, Bibliothèque de la Revue d’histoire ecclésiastique 101, Turnhout, 2017, 121– 140; A. Jans, „De ‚Formula Reformationis‘ van Karel V en haar toepassing in het bisdom Kamerijk. I“, in: Provinciale commissie voor geschiedenis en volkskunde, 11, 2001, 318. J. Herrmann, Augsburg-Leipzig-Passau. Das Leipziger Interim nach Akten des Landeshauptarchivs Dresden 1547 – 1552, Leipzig, 1962. A. Koller, „Der Passauer Vertrag und die Kurie,“ in: W. Becker (Hg.), Der Passauer Vertrag von 1552. Politische Entstehung, reichsrechtliche Bedeutung und konfessionsgeschichtliche Bewertung, Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns 80, Neustadt, 2003, 124– 139. Lutz, Christianitas afflicta, 133 – 137.
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der Habsburgischen Dynastie.³⁶ Zweitens wurde das Konzil von Trient von 1551 bis 1552 wiedereröffnet und erließ wichtige Dekrete zum Abendmahl und anderen Sakramenten, wodurch viele Bemühungen der fortschreitenden Vermittlungstheologie hinfällig wurden.³⁷ Das dritte ausschlaggebende Ereignis war der Frontwechsel von Moritz von Sachsen, dem protestantischen Fürsten, der sich dem kaiserlichen Kampf gegen den Schmalkaldischen Bund angeschlossen hatte und für seinen Einsatz mit der Kurfürstenwürde belohnt worden war (wenngleich er nicht die gesamten ernestinischen Gebiete Sachsens erhalten hatte, wie er ursprünglich erhofft hatte).³⁸ Seine Abtrünnigkeit liegt möglicherweise sowohl in seiner Ehe mit Agnes von Hessen begründet, wie auch in der Tatsache, dass sein Schwiegervater nach dessen Niederlage in Mühlberg noch immer inhaftiert war. Auch hatte er das Interim in Sachsen nur verhalten eingeführt und zahlreiche Ausnahmen innerhalb seines Landes zugelassen. Als zudem der Kaiser ihn darum bat, Magdeburg einzunehmen, gehorchte er zwar, nutze jedoch diesen Akt, um seine eigenen Truppen zu versammeln und den Fürstenaufstand anzuführen. Dieser neue Bund hatte sich 1551 in Torgau formiert und erhielt zusätzliche Unterstützung von dem damals mächtigen Condottiere Albrecht Alcibiades von Brandenburg sowie dem neuen König von Frankreich, Heinrich II. Dass die Invasion 1552 im habsburgischen Tirol begann, veranlasste den Kaiser bekanntermaßen zur Flucht, zunächst nach Innsbruck und dann über die Alpen nach Villach.³⁹ Erste Unterredungen hatten mit der Lindner Verhandlung am 19. April 1552 bereits begonnen.⁴⁰ Wie Volker Drecoll aufzeigte, beinhalteten die fünf zentralen Punkte der Verhandlung, welche schließlich in Passau aufgegriffen wurden: (1) die Entlassung der Gefangenen, (2) einen Religionsfrieden entlang der vom Reichstag zu Speyer festgelegten Grenzen anstelle des Interim, (3) das Konzept der Gravamina, (4) die Stellung Frankreichs und dessen Inbesitznahme der drei Bistümer Metz, Toul und Verdun sowie (5) eine Aussöhnung, die zum Kriegsende führen sollte.⁴¹ Lazarus von Schwendi agierte als Vermittler zwischen Ferdinand und Karl, letztgenannter lehnte den Gebrauch der Bezeichnung ‚Nationalkonzil‘ ab. Ende April legte der Abschied von
A. Kohler, Karl V. 1500 – 1558, Eine Biographie, München, 1999; Lutz, Christianitas afflicta, 133 – 137. O’Malley, Trent: What happened, 145 – 158; W. François, V. Soen, „Het Concilie van Trente (1545 – 1563). Een tussentijdse balans na 450 jaar onderzoek“, in: Perspectief. Tijdschrift van de Katholieke Vereniging voor Oecumene, 23, 2014, 14– 20 (auch online). J. Hermann, G. Wartenberg (Hg.), Politische Korrespondenz des Herzogs und Kurfürsten Moritz von Sachsen, Berlin, 1978, Bd 3, passim. A. Kohler, „Kaiser Karl V. und der Passauer Vertrag,“ in: W. Becker (Hg.), Der Passauer Vertrag von 1552. Politische Entstehung, reichsrechtliche Bedeutung und konfessionsgeschichtliche Bewertung (Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns 80), Neustadt, 2003, 139 – 150. J. Hermann, Augsburg-Leizpig-Passau. Das Leipziger Interim nach Akten des Landeshauptarchives Dresden 1547 – 1552, Leipzig, 1962, 194– 203; Luttenberger, Glaubenseinheit, 574– 675. V. H. Drecoll (Hg.), Der Passauer Vertrag (1552), Einleitung und Edition (Arbeiten zur Kirchengeschichte 79), Berlin/New York, 2000. Er hat diese Thesen ebenfalls herausgegeben.
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Linz fest, dass die nachfolgenden Verhandlungen im Mai in Passau beginnen sollten, und erwirkte die Teilnahme aller Kurfürsten. Nachdem Karl nach Villach geflohen war, wurden die langwierigen und ermüdenden Schlussverhandlungen am 30. Mai im Lamberg-Palais zu Passau wiederaufgenommen. Hier beteiligten sich Moritz von Sachsen und die protestantischen Fürsten zusammen mit den neutralen Reichsständen an den Debatten, während Ferdinand als Mediator fungierte, vor allem, da es zwei Gesandten des Kaisers nicht gestattet worden war, Konzessionen zu machen. Erstmals hatten die protestantischen Fürsten nun Gelegenheit, durch einen Vertrag die Anerkennung eines temporären Status quo zu erwirken, welcher ihre Existenz im Reich formell genehmigte.⁴² Der Friedensvertrag erkannte überdies die Confessio Augustana an und fügte sie dem Reichsfrieden bei, wodurch das Wormser Edikt und das Interim als obsolet erachtet wurden. Die Fürsten strebten weiterhin eine Integration der Anhänger der Confessio Augustana in das Reichskammergericht sowie deren Anerkennung in der Reichsverfassung an, indem sie an die 1544 in Speyer gebilligten Zugeständnisse anknüpften. Dennoch lehnte der Kaiser diese Konzessionen ab und bat darum, dass Artikel zu Religionsfragen und der sogenannte fridstand nur bis zum nächsten Reichstag Gültigkeit besitzen sollten, von dem bereits festgelegt worden war, dass er innerhalb eines Jahres stattfinden sollte. Da beide Seiten militärisch zu einem Stillstand gekommen waren, hielt Moritz es für lohnenswert, einen Friedensvertrag zu schließen und die protestantischen Gewinne festzuschreiben. Ferdinand unterzeichnete, mit eingeschränkter Befürwortung von Karl V., den Passauer Vertrag gemeinsam mit Moritz von Sachsen am 2. August 1552. Er gewährte den Reichsfürsten formal ein Bekenntnis zum Luthertum, verpflichtete sie jedoch zur Unterstützung des katholischen Kaisers bei der Verteidigung des Reiches gegen die Ottomanen. Darüber hinaus wurden die Eigentumsrechte der katholischen Ländereien gesichert, sowohl der säkularen als auch der kirchlichen, wodurch künftige Konfiskationen oder Säkularisationen nach 1552 unmöglich wurden, jene jedoch, die bereits erfolgt waren, legalisiert wurden.⁴³ Die offizielle Beendigung des Interims war daher die Haupterrungenschaft des Passauer Vertrags, während die Möglichkeit zur Einberufung weiterer Religionsgespräche eröffnet wurde – für Ferdinand ein wichtiges Ergebnis. Der Kaiser verweigerte weiterhin eine Annahme der von seinem Bruder ausgehandelten Konzessionen und befristete die Vereinbarungen auf den nächsten Reichstag. Moritz stimmte dieser Beschränkung zu, verstarb allerdings noch innerhalb des Jahres. Während der Passauer Vertrag eine rechtliche Lösung für die wachsende religiöse Polarisation bot, welche Europa seit 1517 plagte, sollte er ebenso als eine kurzfristige Reaktion auf die neuerlichen militärischen Konflikte, die im Frühling 1552 begonnen hatten, verstanden werden. W. Becker (Hg.), Der Passauer Vertrag von 1552. Politische Entstehung, reichsrechtliche Bedeutung und Kompositionsgeschichtliche Bewertung, Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns 80, Neustadt, 2003. Davor, Lutz, Christianitas afflicta, 88 – 106 und 494– 496. E. Riegg, Konfliktbereitschaft und Mobilität: Die protestantischen Geistlichen zwölf süddeutscher Reichsstädte zwischen Passauer Vertrag und Restitutionsedikt, Leinfelden/Echterdingen, 2002, passim.
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4 Der Vertrag von Augsburg Der erforderliche Reichstag, wie er im Passauer Vertrag erläutert worden war, traf sich schließlich vom 5. Februar bis zum 25. September 1555.⁴⁴ Wenngleich jeder der vorangegangenen Reichstage von Schwierigkeiten geplagt worden war, wurde der Entscheidungsprozess durch die Kommunikationsprobleme zwischen Ferdinand und Kaiser Karl V. in Brüssel, die sich beide, sowohl wörtlich aus auch metaphorisch verstanden, von den Treffen distanzieren wollten, in besonderer Weise beeinträchtigt. Als er nach seiner Niederlage von 1552 in eine leichte Depression verfallen war, entschied Karl sich zum Rücktritt, um jegliche Verbindung mit der Übertragung von Rechten an Protestanten zu vermeiden, und übertrug seine Macht auf Ferdinand. Da jedoch, wie in der Einleitung bereits erwähnt, der Bote zur Bekanntgabe seiner Abdankung nicht pünktlich eintraf, wurde die Unterschrift des Kaisers unerlässlich.⁴⁵ Weitere unvorhergesehene Umstände traten ein, als während des Reichstages sowohl Papst Julius III. als auch dessen Nachfolger Marcellus II. verstarben und dadurch die Verhandlungen verlangsamt wurden. Der neue Papst, Paul IV., erkannte die historische Bedeutung des Treffens nur zum Teil und bevorzugte es, seine Legaten wegen einer trivialen Angelegenheit nach Polen zu schicken, statt nach Augsburg. Obwohl die katholischen und die protestantischen Parteien weiterhin heftig gespalten waren, führte Ferdinands geschickte Verhandlungsführung, wie mehr als ein zeitgenössischer Beobachter feststellte, zwischen den beiden Parteien zu einem endgültigen Erfolg. Als Ferdinand nach Karls Rücktritt Kaiser wurde, bekleidete er dieses Amt als strenggläubiger Katholik, der es ebenso geschafft hatte, unter der protestantischen Partei eine gute Reputation zu etablieren. Der vom Augsburger Reichstag verordnete Abschied beinhaltete 144 Artikel, von denen jedoch nur etwa zwanzig (Artikel 7– 30) religiöse Fragen behandelten. Die übrigen Artikel betrafen notwendige Reformen des Reichskammergerichts und der Reichskreise auf regionaler Ebene und bearbeiten lokale Fragen der Politik, der Finanzen und des Militärs. Alles in allem beinhalteten die Artikel zur Religionsfrage vielzählige Diskrepanzen und wiesen erhebliche Mehrdeutigkeiten auf, wobei ein Großteil der Unklarheiten das Bemühen reflektierte, theologische Differenzen zu versöhnen, die unversöhnlich geworden waren. Die wichtigste Vereinbarung behandelte den einstweiligen Status der Anhänger der lutherischen Confessio Augustana bis zu einer angemessenen Beilegung des religiösen Schismas durch die beiden Seiten. Wie schon der Passauer Vertrag übertrug auch dieses Abkommen das jus reformandi (‚Recht zur Reformation‘) auf die territorialen und kommunalen Regierungsebenen, was implizierte, dass regionale Fürsten von ihren Untertanen die Ausübung ihrer
H. Schilling, H. Smolinsky (Hg.), Der Augsburger Religionsfrieden 1555, Wissenschaftliches Symposium aus Anlass des 450. Jahrestages des Friedensschlusses, Münster, 2007, passim. V. Soen, „De troonsafstand van Karel V: Achter de schermen van een ceremonie“, in: Keizer Karel en Eeklo. Verslag van een colloquium over Keizer Karel, Eeklo, 24 September 2005, Eeklo, 2006, 67– 76.
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gewünschten Konfession erzwingen, oder, im Falle der Unterlassung, deren Emigration fordern konnten. Der Reichstag von Speyer brachte, wie bereits erwähnt, zunächst Veränderungen gegenüber dem Wormser Edikt ein, das jus reformandi war jedoch über die nächsten dreißig Jahre heiß umkämpft und nur mit strengen zeitlichen Begrenzung zugelassen. Auch wenn Joachim Stephan (1544– 1623), Juraprofessor in Greifswald, die berühmte Phrase ‚cuius regio, illius religio‘ („wessen Gebiet, dessen Religion“) erst Jahre nach dem Augsburger Reichstag offiziell prägte, erfasst dieser Ausdruck geschickt die Bedeutung der territorialen Macht für die Klärung der wichtigsten Religionsfrage der Frühmoderne. Der Augsburger Reichstag führte zudem aus, dass territoriale und kommunale Regierungsebenen nur zwischen der Zugehörigkeit zur Römisch-Katholischen Kirche oder zur Confessio Augustana, der wesentlichen Bekenntnisschrift des Luthertums, wie sie 1530 in Augsburg angenommen worden war, wählen konnten; alle andere Konfessionen oder Denominationen (wie beispielsweise der Calvinismus) galten weiterhin als häretisch und setzten ihre Anhänger der Gefahr der Verfolgung aus. Darüber hinaus wurde denjenigen, die das Bekenntnis ihres Landesherrn oder ihrer Stadt ablehnten, gestattet, umzusiedeln und ihren Besitz zu verkaufen (im Gegensatz zu früherer Kriminalisierung und Enteignungen). Dieses jus emigrandi galt allerdings nicht für die Einwohner der burgundischen Kreits, welche der Kaiser erst 1548 in die Siebzehn Provinzen vereinigt hatte, und wo er weiterhin die Verfolgung verlangte, wie sie im Edikt von Worms festgehalten war. Da die komplizierte Natur der territorialen (Ober‐)Hoheit innerhalb des Heiligen Römischen Reiches für die vielen säkularen und kirchlichen Reichsfürsten und Reichsstädte mannigfaltige Privilegien vorsah, wurden viele Klarstellungen für die Herrscher benötigt. Den neuerlich bikonfessionellen Reichsstädten erlegte der Vertrag einen status quo auf, wodurch die Regierungen der Städte eine Parität der beiden Konfessionen etablieren und gleichzeitig jedem Bürger die freie Ausübung des eigenen Glaubens erlauben konnten. Die Konfiskation und auch die De-facto-Säkularisation kirchlicher Güter durch lutherische Fürsten stellten ein unvermeidliches Problem dar, das aus dem Abkommen hervorging. Die Fürsten erhielten grundsätzlich die Eigentums- und Nutzrechte dieser Objekte, auch wenn der Vertrag nicht klar herausstellte, ob die Säkularisation vor dem Passauer Vertrag von 1552 oder erst vor 1555 stattgefunden haben musste.⁴⁶ Die am stärksten umstrittene Klausel betrifft jedoch das reservatum ecclesiasticum (den kirchlichen Vorbehalt), welcher es den geistlichen Fürsten (darunter Bischöfe, Äbte und Äbtissinnen) erlaubte, zum Luthertum überzutreten, allerdings nur, wenn sie Ambt, Würde und Einkommen an einen neu ernannten, katholischen Geistlichen abtraten. Die Protestanten lehnten diese Bestimmung ab und kämpften unnachgiebig gegen ihre Aufnahme in den Vertrag, da sie
A. Schindling, „Der Passauer Vertrag und die Kirchengüterfrage“, in: W. Becker (Hg.), Der Passauer Vertrag von 1552. Politische Entstehung, reichsrechtliche Bedeutung und konfessionsgeschichtliche Bewertung, Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns 80, Neustadt, 2003, 105 – 123.
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gewährleistete, dass der Katholizismus in einem signifikanten Teil des Reichs aufrechterhalten wurde. Um dem entgegenzuwirken, veröffentlichte Ferdinand I. höchstpersönlich die Declaratio Ferdinandea, welche es den eingesessenen protestantischen Rittern und Städten erlaubte, ihren Glauben auch unter der Herrschaft geistlicher Fürsten beizubehalten. Die Katholiken fochten die Rechtmäßigkeit dieser Vorschrift jedoch regelmäßig an und betrachteten sie als eine vollständige Missachtung des Augsburger Übereinkommens. Dadurch machten sie die Durchsetzung des Vertrags zu einer umstrittenen und gefährlichen Angelegenheit, besonders in den ersten Jahrzehnten nach dessen Verabschiedung. Wenngleich der Papst Augsburg weitestgehend ferngeblieben war (unter anderem den in die Zeit des Reichstages fallenden langen Phasen der sede vacante geschuldet), formulierte der Apostolische Stuhl ebenfalls eine Anzahl an Einwänden gegen den erarbeiteten Vertrag, von denen die meisten auf dem Gedanken beruhten, dass der Kaiser den päpstlichen Segen empfangen hatte, um sich im Gegenzug der Aufgabe einer Verteidigung des (katholischen) Glaubens anzunehmen. Der Augsburger Religionsfrieden war bis zu dessen offiziellen Auflösung im frühen neunzehnten Jahrhundert eines der bedeutendsten konstitutionellen Dokumente des Heiligen Römischen Reiches, auf einer Stufe mit der berühmten Goldenen Bulle von 1356 und später dem Westfälischen Frieden von 1648.⁴⁷ Da er den drängenden Religionsfragen jener Zeit eine definitive Antwort bot, verschwand die zentrale Bedeutung dieser Thematik bis zum Vorabend des Dreißigjährigen Krieges von der Agenda der Reichstage. Dennoch konnte kaum einer der damaligen Akteure den langanhaltenden Einfluss der 1555 in Augsburg geschlossenen Vereinbarungen vorhersehen. Sowohl der dritte als auch der zwölfte Artikel behaupteten beispielsweise, dass zukünftige Kompromisse weiterhin möglich waren. Bis solcherlei Abstimmungen stattfinden würden, sollte der Vertrag von Augsburg nichtsdestotrotz für ewig gelten. Kaiser Ferdinand beispielsweise hielt bis zu seinem Tod im Jahr 1564 an der Möglichkeit einer Aussöhnung fest. In dieser Überzeugung übte er seinen Einfluss aus und bewirkte dadurch, dass die dritte Sitzungsperiode des Konzils von Trient sich kurzzeitig mit den Desideraten der Reichsfürsten auseinandersetzte. Aufgrund der fragmentierten Beschaffenheit des Reiches war die Umsetzung des Augsburger Religionsfriedens größtenteils abhängig vom lokalen Zusammenspiel der Ereignisse,⁴⁸ blieb aber alles in allem bis 1618 unangefochten, ungeachtet der Religionskriege in den Niederlanden und Frankreich in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts sowie dem posttridentinischen Aufschwung in katholischen Territorien des Reichs nach 1563. Als die Bischöfe von Köln und Straßburg 1583 beide zum Protestantismus konvertierten, wurde anhand der resultierenden Gewalt der Katholiken sichtbar, dass Brady, „Settlements: The Holy Roman Empire“, 343 – 383. G. Graf, G. Wartenberg und C. Winter, Der Augsburger Religionsfrieden. Seine Rezeption in den Territorien des Reiches, Leipzig, 2006 diskutiert die Umsetzung in der Kurpfalz (Kohnle), Württemberg (Ehmer), Kursachsen (Wartenberg), den habsburgischen Ländern (Reingrabner), Schlesien (Schott), der Enklave Asch (Halla) und Magdeburg (Seehase).
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die Prinzipien des kirchlichen Vorbehalts sowie der Declaratio Ferdinandea äußerst umkämpft blieben. Diese Herausforderungen blieben unterschwellig bestehen, bis schließlich der Westfälische Friede mit der Reformierten Konfession die Repräsentanz einer dritten rechtmäßigen Konfession erlaubte und versuchte, das Recht der Herrscher, andersgläubige weltliche Untertanen des Landes zu verweisen, zeitweise abzuschwächen. Somit kam die 1555 vorgesehene Beilegung nie zustande, und das Schisma musste 1648 einmal mehr kodifiziert werden. Einige Historiker, besonders beachtenswert Heinz Schilling, haben überzeugend dargelegt, dass der Augsburger Religionsfrieden von 1555 genau genommen eher als ein unbefristeter Waffenstillstand betrachtet werden muss, und nicht als ein sicherer Frieden. Als solcher imitierte er wohl eher die Konversions-Denkweise des Interims von 1548 und bot keine radikale Neukonzeption von Kirche und Staat der Frühmoderne. Da der Augsburger Vertrag seine Reputation als Religionsfrieden bis in die heutige Zeit aufrechterhält, ist der Macht des pazifistischen Mottos eine größere Bedeutung zuzumessen als den häufig limitierenden Konditionen und widersprüchlichen Klauseln. Wenngleich dieser einflussreiche Vertrag formal das Luthertum anerkannte, liegt sein wichtigstes Erbe in der viele Jahrhunderte bestehenden, endgültigen Bindung der Konfessionswahl an die Fragen von Macht und Territorialherrschaft. Dass das Reich – und später Europa und seine Kolonien – sowohl territorial als auch konfessionell gespalten wurde, ist eine nachhaltige Folge. Kaiser Karl V. war der Meinung, dass der Vertrag aus seiner persönlichen Niederlage resultierte. Nach seiner Abdankung schrieb er, von seinem Palast neben dem Kloster Yuste aus, zahlreiche Regierungsschreiben zu Religionsfragen an seine Töchter und versuchte dadurch, einer möglichen Ausbreitung des Protestantismus in den Siebzehn Provinzen, der Iberischen Halbinsel und der Neuen Welt vorzubeugen. Somit verkörpert die Periode zwischen 1548 und 1555 eine für Historiker „‚endlose‘ Forschungsgeschichte“,⁴⁹ denn es bleibt über den Verlauf der Ereignisse während des Interims, sowie die gesamten Tragweite und Bedeutung seiner Nachwirkungen, noch immer vieles zu entdecken.
A. Kohler, „Ein Blick 500 Jahre zurück. Bilanz und Defizite einer ‚endlosen‘ Forschungsgeschichte“, in: A. Kohler, B. Haider und C. Ottner (Hg.), Karl V. 1500 – 1558. Neue Perspektiven seiner Herrschaft in Europa und Übersee, Zentraleuropa-Studien VI, Wien, 2002, 11– 21.
Luise Schorn-Schütte
Luther und die Politik
Luther war kein politischer Mensch, er war Theologe und Seelsorger. Aber die enge Verzahnung von Politik und Religion, die für die europäische Frühneuzeit charakteristisch war, führte dazu, dass die theologischen und geistlichen Positionen des Wittenberger Reformators in die zeitgenössische soziale Ordnung hinein, also auch politisch, wirkten. Sein geistliches Anliegen, die „Werkgerechtigkeit“ der römischkatholischen Kirche durch den „Glauben an die Gnade Gottes“ (sola gratia, sola fide) als Kernelement einer Sola-Theologie¹ abzulösen, führte zur Aufhebung der Trennung zwischen geistlichem und weltlichem Stand. Denn der Gläubige, der in unmittelbarer Beziehung zu seinem Schöpfer durch Gnade von seinen Sünden befreit wird, benötigt keinen Mittler mehr in Gestalt eines Priesters, einer Kirchenhierarchie. Stattdessen erfüllt jeder Mensch an der Stelle, an die ihn Gott gestellt hat, sein christliches Amt, seinen Beruf, es gibt keine Überordnung des sakralen über den weltlichen Dienst mehr. Diese Einbindung des Geistlichen in das Weltliche hatte weitreichende soziale und politische Folgen. Luther hat sie nicht vorhergesehen, geschweige denn beabsichtigt, aber er hat sich mit den Konsequenzen auseinanderzusetzen gehabt.²
1 Luthers Obrigkeitsverständnis Für Luther war der Mensch eine gute Schöpfung Gottes. Im Urzustand – dem Paradies – lebten alle Menschen in friedlicher Gemeinschaft miteinander; diese existierte „von Anfang an“, war also von Gott gestiftet. Dazu gehörten Regierende und Regierte (Untertanen) ebenso wie Stände, die verschiedene soziale Leistungen zu erbringen Mit dem Begriff der Sola-Theologie ist die Vorstellung Luthers einer Vergebung der Sünden durch göttliche Gnade und durch individuellen Glauben (Rechtfertigung) sowie durch deren Grundlegung allein aus der Schrift (sola scriptura) gemeint. Diese Theologie wird in der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung als Kern des reformatorischen Anliegens seit der Publikation der 95 Thesen durch den Wittenberger am 31.10.1517 verstanden. Siehe dazu knapp Th. Kaufmann, Erlöste und Verdammte. Eine Geschichte der Reformation, München, 2016, 103 – 108 und 407/408. Die Forschungsliteratur zum Thema „Luther und die Politik“ ist einerseits kontrovers, andererseits kaum mehr zu überblicken. Deshalb sei hier lediglich auf jüngere biographische Arbeiten und solche verwiesen, die auch die Folgen der Reformation in den Blick nehmen: E. Wolgast, Die Wittenberger Theologie und die Politik der evangelischen Stände. Studien zu Luthers Gutachten in politischen Fragen, Gütersloh, 1977; H. Schilling, Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs. Eine Biographie, 3. Aufl., München, 2016; Th. Kaufmann, Erlöste, wie Anm. 1; V. Leppin, Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln, München, 2016; S. Hendrix, Martin Luther. Visionary Reformer, Yale, 2015; Th. Brady, German Histories in the Age of Reformations 1400 – 1650, Cambridge, 2009; L. Schorn-Schütte, Gottes Wort und Menschenherrschaft. Politisch-Theologische Sprachen im Europa der Frühen Neuzeit, München, 2015; Robert v. Friedeburg, Luthers Legacy. The Thirty Years War and the Modern Notion of ‚State‘ in the Empire 1530s to 1790s, Cambridge, 2016. https://doi.org/9783110498745-034
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hatten: der Stand der Obrigkeit (politica), der Stand der Hausväter (oeconomia) und der Stand der Geistlichkeit (ecclesia). Aufgabe der Obrigkeit ist die Sicherung des allgemeinen Besten (bonum commune); dies geschieht durch die Bewahrung der vorhandenen Rechtsordnung und durch den Schutz neuer Gesetze, an die auch die Obrigkeit selbst gebunden ist. Die Legitimität der Gewaltausübung hängt davon ab, wie gut die einzelnen Inhaber das obrigkeitliche Amt ausüben, nicht davon, wie das Amt erworben wurde.³ Luthers theologischer Neuansatz löste die spätmittelalterlichen Einheitsvorstellungen einer „res publica christiana“ ab; zentral dabei war seine Annahme der Existenz zweier Reiche.⁴ Dem „regnum christi“, dem Reich der Freiheit und Barmherzigkeit, das aber nur den gläubigen Christen erkennbar ist, steht gegenüber das „regnum mundi“, das Reich der sündigen Menschen. Zwischen beiden Sphären besteht keine Rechtsgemeinschaft, aber Gott führt über beide sein Regiment. Damit sie ausgeübt werden können, hat Gott Ämter und Institutionen gestiftet: dies sind die skizzierten drei Hierarchien oder Stände. Mit der weltlichen Institution der Kirche (ecclesia) ist eine Einrichtung geschaffen, die das geistliche Regiment in das weltliche hineinträgt. Kirche ist also nicht identisch mit dem „regnum christi“, sie ist „ecclesia in mundo“, ist in die Unzulänglichkeiten des „regnum mundi“ verstrickt. Im Unterschied zur „ecclesia“ und dem sie tragenden geistlichen Amt, die der Erlösung dienen können und sollen, agieren die Ämter des „regnum mundi“ in der bösen Welt, sie sind Notordnungen gegen die Sünde der Welt. Das gilt für das Amt der Obrigkeit (politica) ebenso wie für das Amt der Eltern/Hausväter (oeconomia). Mit dieser Zuordnung delegitimiert Luther bereits 1523⁵ die weltliche Macht des Papstes. Denn ein geistliches Regiment, das das Schwert führen will, überschreitet die Grenzen zwischen beiden Reichen/Regimenten. Weltliche Obrigkeit dagegen hat das Recht, das Schwert zu führen, es dient dem Schutz der Gläubigen nach außen und der Sicherheit der Glaubensübung im Innern, indem es die Bösen straft und die Guten schützt.⁶ Das Hausregiment der Eltern ist noch vor der weltlichen Obrigkeit das erste rechtlich geordnete Amt in der Welt, das Herrschaftsbeziehungen regelt. In Luthers
Die Bedeutung der Drei-Stände-Lehre für Luthers Theologie und Obrigkeitsverständnis ist in den letzten Jahren im Vergleich zur älteren Forschung durch Juristen, Theologen und Historiker deutlicher konturiert worden. Zusammenfassend dazu Schorn-Schütte, Gottes Wort, wie Anm. 2, 31– 45 mit Nachweis der älteren Literatur; den Blick der Rechtsgeschichtsschreibung skizziert M. Schmoeckel, Das Recht der Reformation. Die epistemologische Revolution der Wissenschaft und die Spaltung der Rechtsordnung in der Frühen Neuzeit, Tübingen, 2014, 16, 154, 180 u. ö. Eine gründliche Einordnung gibt R. v. Friedeburg, Luthers Legacy, wie Anm. 2, 82– 135. Als knapper, auch forschungsgeschichtlicher Überblick zum Thema noch immer wichtig: B. Lohse, Martin Luther. Eine Einführung in sein Leben und Werk, 2. Aufl., München, 1982, 190 – 197; als allgemeine Orientierung zum Obrigkeitsbegriff mit weiterer Literatur s. E. Herms, „Obrigkeit“, in: TRE 24, 1994, 723 – 759. Zum gegenwärtigen Diskussionsstand siehe Schmoeckel, Das Recht, wie Anm. 3, 146 – 150. M. Luther, „Von welltlicher Uberkeytt wie weyt man yhr gehorsam schuldig sey“ [1523], WA 11,245 – 280, 247. Schmoeckel, Das Recht, wie Anm. 3, 147– 149.
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Verständnis – und darin ist er ganz Zeitgenosse – war das Elternamt im Sinne des vierten Gebots das Ur- und Vorbild weltlicher Obrigkeit. Hier findet sich die Grundlegung jenes „patriarchalischen Herrschaftsverständnisses“, das in den folgenden Jahrzehnten das Luthertum geprägt hat. Von einem „Staatsverständnis“ im Sinne des 20. Jahrhunderts kann keinesfalls die Rede sein. Selbst eine Obrigkeit, die in diesem Sinne als Notordnung zu verstehen ist, ist von Gott gegeben; Aufruhr oder Widerstand gegen sie ist deshalb für Luther prinzipiell undenkbar. Das gilt für alle Obrigkeiten, auch für eine schlechte oder eine unchristliche (z. B. heidnische oder muslimische). Die Gehorsamspflicht der Untertanen endet allerdings dort, wo weltliche Obrigkeit die vom biblischen Naturrecht⁷ gesetzten Grenzen zu überschreiten versucht, sie endet weiter dort, wo die Obrigkeit sich anmaßt, „der seelen gesetz zu geben“,⁸ womit sie in Gottes geistliches Regiment eingreifen würde. Sie endet schließlich dann, wenn weltliche Obrigkeit sich gegen das Evangelium wendet.⁹ In allen diesen Fällen ist in Luthers Verständnis passiver Widerstand bis hin zur Auswanderung erlaubt. Die Pflicht zum öffentlichen Protest gegen solches Handeln der Obrigkeit hat vor allem das geistliche Amt.¹⁰ Was aber gilt, wenn die Obrigkeit zur tyrannischen wird? Für die Zeitgenossen war diese Frage aus politischer, rechtlicher und theologischer Sicht heftig umstritten, Luthers Position darin widersprüchlich. Im Kontext des seit den ausgehenden zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts immer schärfer werdenden Konflikts zwischen den „protestierenden“ Reichsständen und dem altgläubigen Kaiser verzahnten sich Glaubens- und Verfassungsfragen aufs Engste. Der Vorwurf von Seiten der protestierenden Stände, wonach der Kaiser sie in ihrem Gewissen beschwere, weil er ihren Glauben nicht schütze, mündete in die Interpretation, dass der Kaiser seine Aufgaben nicht erfülle, also eine schlechte unchristliche Obrigkeit, mithin ein Tyrann sei. Gegenüber einem solchen aber gab es, so die Position der zeitgenössischen gelehrten Juristen und der Mehrheit der protestierenden Reichsstände, keine Pflicht zum Gehorsam, denn er war keine Obrigkeit mehr. Vielmehr bestehe sogar die Pflicht, eine solche Obrigkeit u.U. auch mit Gewalt aus dem Amt zu setzen, um die „Schöpfungsordnung“ wiederherzustellen.¹¹
Siehe dazu M. Scattola, Das Naturrecht vor dem Naturrecht. Zur Geschichte des „ius naturae“ im 16. Jahrhundert, Tübingen, 1999 sowie Schmoeckel, Das Recht, wie Anm. 3, 53 – 67. WA 11,262,9 – 12. Zum Widerstandsbegriff bei Luther und dessen Einbindung in die zeitgenössischen Wandlungen grundlegend Wolgast, Wittenberger Theologie, wie Anm. 2, 40 – 53 und 84. Die an dieser Frage ansetzenden Bewertungen sind kontrovers und haben eine lange Deutungsgeschichte. Siehe dazu R. v. Friedeburg, Self-Defence and Religious Strife in Early Modern Europe, Aldershot, 2002; die europäische Debatte vergleichend zuletzt Schorn-Schütte, Gottes Wort, wie Anm. 2, 185 – 195. Zum Wächteramt der Geistlichkeit siehe L. Schorn-Schütte, Evangelische Geistlichkeit in der Frühneuzeit. Deren Anteil an der Entfaltung frühmoderner Staatlichkeit und Gesellschaft, Gütersloh, 1996, 390 – 452. Diese schon unter den Zeitgenossen sehr differenziert geführte Debatte ist in den letzten Jahrzehnten in der Forschung erneut vertieft und weitergeführt worden. Dabei ist auf die spätmittelalter-
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Luther allerdings lehnte diese reichs- und römischrechtlichen Positionen zur Rechtfertigung von Not- und Gegenwehr durch bestimmte Amtsträger lange Zeit ab – vermutlich aufgrund unzureichender Kenntnis der Reichsverfassung.¹² Der Lernprozess, den er im Laufe der späten zwanziger und dreißiger Jahre mit Hilfe der gelehrten sächsischen und hessischen Juristen sowie einiger seiner theologischen Begleiter absolvierte, ist deshalb ein gewichtiger Aspekt seines Obrigkeitsbegriffes und seiner Tätigkeit als politischer Berater gewesen (siehe 2.3.).
2 Luthers Haltung in politischen Konflikten Politische Kompetenz und Legitimität lagen im Alten Reich der Frühen Neuzeit bei Fürsten und Landständen bzw. bei Kaiser und Reichsständen und –eingeschränkter – bei Stadträten und Bürgermeistern. Einen Anspruch auf entsprechende Einflussnahme erhob zudem der Papst; der allerdings wurde ihm nicht nur von protestantischer Seite bestritten. Luthers Konfrontationen mit diesen Entscheidungsträgern sind demnach der Ort, an dem sich seine politischen Stellungnahmen finden lassen. Der Erfahrungshorizont des Reformators war bestimmt durch die territorialen Fürstentümer des mitteldeutschen Raumes, wozu das seit 1525 evangelische Kursachsen und die Landgrafschaft Hessen ebenso gehörten wie das bis 1539 altgläubige Kurbrandenburg, das Herzogtum Sachsen und das Hochstift Magdeburg.¹³ Vergleicht man die Positionen, die Luther in den Auseinandersetzungen mit den altgläubigen Landesherrn einnahm, mit denjenigen, die sich in seinen Beratungen der evangelisch gewordenen Fürsten finden lassen, so zeigt er sich als Seelsorger und geistlicher Berater, der seine
liche Rechtstradition sowie das Zusammenwirken von Reichsrecht, römischem und Lehnsrecht verwiesen worden. Eine völlig neue Debatte wurde hier also durchaus nicht geführt, die protestantischen Differenzierungen konnten auf mittelalterliche Rechtstraditionen zurückgreifen. Dazu ausführlich D. Böttcher, Ungehorsam oder Widerstand? Zum Fortleben des mittelalterlichen Widerstandsrechtes in der Reformationszeit (1529 – 1530), Berlin, 1991; daran anknüpfend v. Friedeburg, Self-Defence, wie Anm. 9, 56 – 73; Schorn-Schütte, Gottes Wort, wie Anm. 2, 41– 45; G. Haug-Moritz, Der Schmalkaldische Bund 1530 – 1541/2. Eine Studie zu den genossenschaftlichen Strukturelementen der politischen Ordnung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, Leinfelden, 2002, 373 – 389; Scattola, Naturrecht, wie Anm. 7, 55 – 58. Als korrekturbedürftig erwiesen sich angesichts dieser Ergebnisse einige angelsächsische Arbeiten, u. a. Q. Skinner, The Foundations of Modern Political Thought, Bd. 2, Cambridge, 1978; korrekturbedürftig ist deshalb auch die Auffassung, dass die Legitimation von Widerstand allein dem Calvinismus zuzurechnen sei, siehe dazu Schorn-Schütte, Gottes Wort, wie Anm. 2, 129 – 130 und 190 – 91. Luthers Stellung zur Reichsverfassung wird diskutiert bei Wolgast, Wittenberger Theologie, wie Anm. 2, 84– 94 und bei W. Günther, Luthers Vorstellung von der Reichsverfassung, Münster, 1976. Zum Folgenden G. Müller, „Luther und die evangelischen Fürsten“, in: E. Iserloh und G. Müller (Hg.), Luther und die politische Welt, Stuttgart, 1984, 65 – 83; E. Wolgast, „Luther und die katholischen Fürsten“, in: ebd., 37– 63. Zudem A. Kohnle, Reichstag und Reformation: kaiserliche und ständische Religionspolitik von den Anfängen der Causa Lutheri bis zum Nürnberger Religionsfrieden, Gütersloh, 2001.
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Aufgabe, öffentlich zu mahnen, sehr ernst nahm, sich aber von der praktischen Politik stets fernzuhalten versuchte.
2.1 Luther und die altgläubigen weltlichen bzw. geistlichen Landesherren Luthers Verhältnis etwa zum altgläubigen Landesherrn Georg v. Sachsen (1471, 1500 – 1539) war nicht von Anfang an gespannt, hatte doch jener durchaus Verständnis für die Forderungen nach grundlegender Reform der Kirche. Der Herzog selbst betrachtete es als seine Aufgabe im Rahmen der „cura religionis“, für die Beseitigung der schweren Schäden der Kirche zu sorgen. Aber seine reformerischen Bemühungen blieben erklärtermaßen im Rahmen der Institution Kirche. Mit der Verhängung des Bannes gegen Luther war jener in den Augen des Herzogs ein rechtskräftig verurteilter Ketzer, dessen Lehre zu Aufruhr und Zerstörung der Normen menschlichen Zusammenlebens führen würde. In den seit 1519 immer schroffer geführten Auseinandersetzungen zwischen beiden stießen das reformatorische Selbstbewusstsein Luthers – gestützt auf seine akademische Graduierung und sein Predigtamt – und das landesherrliche Selbstbewusstsein des Herzogs, der an den Ordnungen der Kirche und seinen Fürsorgepflichten für Land und Leute festhielt, aufeinander. Den Versuch Georgs, sein Territorium gegen die reformatorische Lehre zu schützen, kritisierte Luther in Traktaten und Briefen als evangeliumsfeindlich, den Herzog beschrieb er als Tyrannen und Seelenverderber.¹⁴ Umgekehrt sah sich Luther mit dem Vorwurf der Aufruhrpredigt und der Nähe zu den Anhängern des J. Hus konfrontiert. Nach dem Erlebnis des Bauernkrieges, für dessen Ausbruch nicht nur Herzog Georg Luther verantwortlich machte, versuchte dieser den Fürsten zumindest zur Duldung der reformatorischen Predigt zu bewegen. Sein Motiv war ein Doppeltes: einerseits bewegte ihn die eschatologische Naherwartung, andererseits sein pastorales Amtsverständnis, wonach sich der Seelsorger auch um seine Feinde zu kümmern habe. Bis zum Tod des Herzogs 1539 blieben die Gegensätze unversöhnt. Dennoch hat Luther die Regententugenden des Herzogs nie bestritten: „… habet pacem et bene constitutam Politicam…“.¹⁵ Seine Pflicht zum Gehorsam gegenüber dem Herzog als weltlichem Herrn stand immer außer Frage. In den Auseinandersetzungen mit den Inhabern geistlicher altgläubiger Landesherrschaft stellte sich ein anderes Problem: sollte es eine Zukunft geistlicher Landesherrschaft überhaupt geben?¹⁶ Da Luther von der Trennung beider Formen der
WA 10/II,55,22– 56,3. WA 40/III,461,28 f. Dieser Themenkomplex ist umfassend behandelt bei E.Wolgast, Hochstift und Reformation. Studien zur Geschichte der Reichskirche 1517 – 1648, Stuttgart, 1995. Ders., „Luthers Beziehungen zu den Reichsbischöfen“, (1996) wiederabgedruckt in: ders., Aufsätze zur Reformations- und Reichsgeschichte,
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Herrschaft – zwei Regimente – ausging, hat ihn diese zugleich geistliche und hochpolitische Frage sein ganzes Leben bewegt. Nicht immer ist er sich dabei aber wohl der Doppelfunktion bewusst gewesen, die der deutsche hohe Klerus für die Reichsverfassung gehabt hat. Seine scharfe Kritik an der mangelhaften Amtsführung der Geistlichkeit bezog sich selbstverständlich auch auf die Inhaber der Bischofsämter.¹⁷ Ihr Versagen führte er auf die unzulässige Vermischung von weltlichen und geistlichen Amtsbefugnissen zurück, deren Heilung allein durch die Aufhebung des besonderen geistlichen Standes zu erreichen sei. Die zeitgenössische Rechtsauffassung ging von der Rechtsfigur der „persona duplex in eodem homine“ aus, die die Doppelung von „episcopus“ und „princeps“ bei sorgfältiger Trennung der Sphären legitimierte. Obgleich Luther dieser Sicht prinzipiell folgte, unterstrich er immer wieder die besondere Gefährdung der geistlichen durch die weltliche Aufgabe. In den frühen zwanziger Jahren forderte er deshalb eine Radikallösung in Gestalt der Beseitigung der weltlichen Herrschaft der Bischöfe, was sich 1525 in der ganz konkreten Empfehlung an den höchsten Geistlichen des Reiches, Erzbischof Albrecht v. Mainz und Magdeburg (1490 – 1545), konkretisierte, seine Hochstifte zu säkularisieren und sich zu verheiraten. In diesem Jahr gelang zwar auf Luthers Empfehlung die Säkularisierung im Herzogtum Preußen, sie aber berührte die Politik des Reiches nicht. Die Konkretisierung seiner Forderung hätte den Umsturz wesentlicher Bestandteile des Reichsaufbaus zur Folge gehabt, sie war deshalb utopisch; den spektakulären Vorschlag hat Luther denn auch nicht wiederholt. Vielmehr wandelte sich seine Haltung zum Problem in den folgenden Jahren nachhaltig.¹⁸ Als Antwort auf den Augsburger Reichstag von 1530 gestand er den Bischöfen zwar beide Funktionen zu, verlangte aber die Übertragung der Wortverkündigung auf evangelische Prediger; als weltliche Herren sollten die Bischöfe nur deren Förderung und Schutz gewährleisten. In der Praxis der späten vierziger Jahre kehrten auch die evangelischen Ordnungen zur Lösung der „persona duplex“ zurück: die weltliche Herrschaft der Bischöfe galt nicht mehr grundsätzlich als Sünde.
2.2 Luther als geistlicher Ratgeber für evangelische Obrigkeiten Die Position des geistlichen Ratgebers füllte Luther gegenüber den (Reichs‐)Fürsten, die sich zur evangelischen Sache bekannten, mit unterschiedlicher Intensität und anhand sehr verschiedener Materien aus. Die beiden sächsischen Kurfürsten, die in den ersten Jahren der reformatorischen Bewegung für politischen Handlungsspielraum im Reich und in den Territorien sorgten, Kf. Friedrich (1463, 1486 – 1525) und Kf. Tübingen, 2016, 230 – 254. Siehe dazu auch Schmoeckel, Das Recht, wie Anm. 3, 68 – 71, 125 – 128, 150 f, S. 165 f. Vor allem formuliert in „Von den guten Werken“ – z. B. WA 6,228,21– 30 – und „Wider den falsch genannten geistlichen Stand“ – WA 10/II,(93)105 – 158. Siehe dazu ausführlich E. Wolgast, Wittenberger Theologie, wie Anm. 2, 84– 94.
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Johann (1468, 1525 – 1532), galten Luther als weitgehend vorbildliche Obrigkeiten. In Vorlesungen, Schriften, Predigten und Briefen entfaltete er an ihrem Beispiel das Bild jenes weisen Herrschers, der dem Vorbild des alttestamentlichen Königs Salomon folgt¹⁹ und sich dem Aufbau und Schutz der Kirche und ihrer Diener zuwendet. Damit wurde die seit den frühen dreißiger Jahren überall dort drängende Frage nach den Ordnungsprinzipien der neuen Kirchenorganisation aufgenommen, in denen sich die Reformation durchgesetzt hatte. Im Zentrum stand stets die Frage nach dem Verhältnis zwischen weltlicher Obrigkeit und kirchlicher Ordnung, die sich als Frage nach der Beziehung zwischen gestaltender obrigkeitlicher Fürsorge und unabhängiger Glaubenspraxis von Gemeinden und Seelsorgern darstellte. Lösungen mussten häufig an ganz konkreten Einzelfragen erprobt werden, immer aber orientiert an Luthers Grundnorm von der Funktion weltlicher Obrigkeit als Notordnung gegen die sündige Welt. Luthers zahlreiche Ausführungen zu den Strukturen der Visitationen, der Auswahl und Besoldung der Kirchendiener, zur Bedeutung und Ordnung des Kirchenkastens (kirchliche Finanzordnung), zur Bedeutung und Ordnung akademischer theologischer Ausbildung der Geistlichkeit u. a.m. wurden in diesem Sinne zu politischen Antworten, die sich auf die innere Ordnung der Kirche konzentrierten. Deren Existenz und Wirkung in die Welt aber war von der Sicherung von außen abhängig, also von einer Schutz gebenden weltlichen Obrigkeit. Zur Maßstab setzenden praktischen Ordnung wurde die Leisniger Kastenordnung von 1523, die Luther für die Kleinstadt südlich von Leipzig selbst entwarf. Ausgangspunkt war hier zunächst die Neuordnung der städtischen Finanzen gewesen; damit unweigerlich verbunden war die neue Zuordnung weltlicher und geistlicher Aufgabenbereiche. Die Schaffung eines gemeinsamen Kirchenkasten führte zur Konzentration dieser gemeindlichen Funktionen beim Rat der Stadt, der weltlichen Obrigkeit. Zugleich wurde der Gemeinde aber die Pfarrerwahl und die Klärung liturgischer Fragen in Autonomie übergeben. Damit verbunden waren auch soziale Aufgaben und Zuweisung von Geldern, die bis dahin den altgläubigen kirchlichen Institutionen zugestanden hatten.²⁰ In der Einleitung zur Ordnung charakterisierte Luther diese Normen als Regelwerk, das sich die Gemeinde selbst gegeben habe.²¹ Dieses sehr frühe Beispiel der Ordnung für ein städtisches Gemeinwesen setzte Maßstäbe für alle folgenden städtischen Kirchenordnungen. Demgegenüber entwickelten Kirchenordnungen für Territorien vornehmlich unter Bugenhagens Prägung nach Luthers Tod eigene Traditionen.²²
Dazu Luthers Exegese von Kohelet 1526 und des Hohen Liedes von 1532, WA 31/II,IX-XIII. Schmoeckel, Das Recht, wie Anm. 3, 159 f. Siehe die Ordnung in E. Sehling, Ev. Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, Bd. 1 (1. Abtl./1. Hälfte), Leipzig, 1902, 596 – 604. Die gegenwärtige Forschung geht davon aus, dass sich mit der Entwicklung dieser Grundnormen für die Ordnungen der jungen evangelischen Kirchengemeinden auch konfessionsverschiedene Rechtslehren entwickelten. Das Rechtsdenken war abhängig von unterschiedlichen theologischen Normen, eine prinzipiell neutrale Position des Rechts wird damit auch bereits für die frühen Jahre der
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2.3 Luthers politische Gutachten auf Reichsebene Die stets strittige Grenze zwischen Religion und Politik blieb schon deshalb kein Problem innerer Ordnung auf territorialer Ebene, weil die Kontroversen auf den Reichstagen bereits seit den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts ausgetragen wurden und zu ernsthaften Herrschaftskonflikten zwischen Kaiser und Teilen der Reichsstände wurden. Die Verfahren des Reichstags zur Lösung von Konflikten aber waren für Auseinandersetzungen über Glaubensfragen nicht vorgesehen. Sie entstammten dem späten Mittelalter, für das die Einheit der Christenheit unbestritten war. Alle grundsätzlich neuen Konflikte, die den Reichstag im Zuge der reformatorischen Bewegung erreichten, mussten mit den vorhandenen Instrumenten des Reichsrechts gelöst werden; dies war der frühneuzeitliche Weg,Wandel zu bewältigen. Das Problem stellte sich erstmals im April 1529.²³ Auf dem ersten Speyrer Reichstag von 1526 war es den Reichsständen überlassen worden, wie sie das Wormser Edikt, also die Achterklärung gegenüber Luther, vollziehen wollten. Einige der Fürsten, die der evangelischen Bewegung zuneigten, nutzen diese Chance, um die Reformation in ihren Territorien einzuführen. König Ferdinand, der den Kaiser auf dem zweiten Speyrer Reichstag (April 1529) vertrat, wollte diesen Spielraum nicht zuletzt im Interesse der Wiederherstellung politischer Geschlossenheit im Reich begrenzen. Deshalb sah die dem Reichstag vorgelegte Proposition vor, weitere reformatorische Maßnahmen bis zur Einberufung eines Konzils zu verbieten, zugleich sollte der Reichstagabschied von 1526 aufgehoben werden. Unter der Führung des hessischen Landgrafen Philipp (1504– 1567) und des sächsischen Kurfürsten Johann erhob sich dagegen eine energische Ablehnungsfront aus den der Reformation zuneigenden Reichsständen (Hessen, Kursachsen, Braunschweig-Lüneburg, Brandenburg-Ansbach, Anhalt). Sie kämpfte für die Beibehaltung der Religionsklausel von 1526 und legte am 19.4.1529 förmlichen Protest gegen die Mehrheitsentscheidung ein (1. Protestation). Die Annahme der am nächsten Tag vorgelegten 2. Protestation lehnte der König zwar ab, mit der Folge aber, dass die „Protestierenden“ durch eine Gruppe von 14 Reichsstädten Verstärkung fanden. Damit war der Reichstag gespalten, die evangelische Minderheit (protestierende Stände) verließ den Reichstag, die Proposition wurde nur mit den Stimmen der katholischen Mehrheit verabschiedet. Eine Mehrheitsentscheidung aber, so argumentierte die protestierende Minderheit, sei in diesem Fall unwirksam, da „die Ehre Gottes und das Gewissen“ betroffen sei. Zudem könne gemäß Verfahrensregel des Reichstages ein einstimmig beschlossener Abschied nicht mit Mehrheitsentscheid aufgehoben wer-
reformatorischen Bewegung in Frage gestellt. Siehe Schmoeckel, Das Recht, wie Anm. 3, 8 – 10.–Zur Bedeutung des Bugenhagen knapp auch Schmoeckel, Das Recht, wie Anm. 3, 165 f. Zur Kontinuität zwischen spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Reichsverfassungstraditionen siehe Böttcher, Ungehorsam, wie Anm. 11 und E. Isenmann, „Widerstandsrecht und Verfassung in Spätmittelalter und Früher Neuzeit“, in: B. Stollberg-Rilinger und H. Neuhaus (Hg.), Menschen und Strukturen in der Geschichte Alteuropas, Berlin, 2002, 37– 69.
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den.²⁴ Konsequenterweise erkannten die protestierenden Stände den 1529er Abschied nicht an, sondern hielten an der Gültigkeit der Religionsklausel von 1526 fest. Da ein Einigungsversuch scheiterte, tauschten die gegnerischen Gruppen wechselseitige Zusicherungen des Gewaltverzichts aus. Der Kern des Konfliktes aber blieb bestehen, denn er bezog sich auf den Charakter der Reichsverfassung und das damit vorgegebene Machtverhältnis zwischen Kaiser und Reichsständen. Wenn der Kaiser tatsächlich die Gewissen der protestierenden Stände beschwert habe, sei er, so das Argument der protestierenden Stände, die sich auf Reichs-, Lehns- und römisches Recht stützten, ein Tyrann. Gegen einen solchen aber können sich die dazu bestimmten Amtsträger zu Wehr setzen (Notwehr), denn er sei dann keine Obrigkeit mehr. U.U. könne er sogar mit Gewalt aus dem Amt entfernt werden (Gegenwehr), denn das führe zur Wiederherstellung der rechtmäßigen Ordnung. Mit dem formalen Instrumentarium des Reichstages nahmen die protestierenden Reichstände die theologische Begründung ihres Handelns in Anspruch: in Fragen des Glaubens und des Seelenheils könne kein Mehrheitsentscheid Gültigkeit beanspruchen. Damit kam ein inhaltlich neues Argument in die Auseinandersetzungen.²⁵ In dieser politisch höchst zugespitzten und gefährlichen Lage erwarteten die reichsständischen Häupter der „Protestierenden“ sowohl von den sie beratenden Juristen als auch von den führenden Theologen der reformatorischen Bewegung Ratschläge – theologische bzw. juristische Gutachten also, die für politische und auch nicht auszuschließende militärische Entscheidungen Hilfestellungen geben könnten. Bereits am 6.6.1529 hatten einige der protestierenden Stände im fränkischen Rodach in einem geheimen „Verständnis“ beschlossen, Verhandlungen über ein festes Verteidigungsbündnis aufzunehmen. Diese Absicht barg erheblichen Konfliktstoff, verband sich damit doch sofort die Frage, ob der Kaiser aus solchen Kontroversen „ausgenommen“ werden müsse. Und damit stand die Legitimation für eine auch gewaltsame „Gegenwehr“ im Falle eines militärischen Angriffs durch den Kaiser zur Debatte.²⁶ Obwohl die Wittenberger Theologen zu diesen politischen Verhandlungen nicht herangezogen worden waren und die Aufforderung, ein Gutachten für den sächsischen Kurfürsten zu erstellen, erst im Januar 1530 erfolgte, verfasste Luther bereits am 22. 5.1529 ein sorgfältig formuliertes Schreiben an Kf. Johann, in dem er vornehmlich theologisch und kirchenpolitisch argumentierte, die reichspolitische Ebene aber völlig negierte.²⁷ Das geplante Bündnis lehnte Luther einerseits kategorisch ab, weil
Zum Argument der Einstimmigkeit siehe K. Schlaich, „Maioritas – protestatio – itio in partes – corpus Evangelicorum. Das Verfahren im Reichstag des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation nach der Reformation“, in: Zeitschrift der Savigny Stiftung für Rechtsgeschichte KA 63/1977, 264– 299 und 64/1978, 139 – 179. Es war ein eingespieltes Instrument, dessen Gültigkeit allerdings umstritten war. Dazu ausführlich auch A. Kohnle, Reichstag, wie Anm. 13, 365 – 375. Zum Folgenden mit weiteren Nachweisen: Schorn-Schütte, Gottes Wort, wie Anm. 2, 32– 41. Zu den Einzelheiten der Gutachten und Gegengutachten siehe die bis heute maßgebliche Untersuchung von Wolgast, Wittenberger Theologie, wie Anm. 2, hier: 125 – 165.
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ein Zusammengehen mit den zwinglianisch geprägten Städten geplant war, die ihm als unzuverlässig erschienen. Andererseits argumentierte er gegen das Bündnis, weil er eine reale Bedrohung zum Zeitpunkt des Schreibens als nicht gegeben ansah. Das ermöglichte allerdings zugleich eine Relativierung seiner ablehnenden Haltung, ließ er doch offen, ob er unter anderen Rahmenbedingungen eine Zustimmung für möglich halten könnte. In einem wenig später durch Luther und weitere Theologen abgefassten undatierten Gutachten wurden die theologischen Argumente deutlicher konturiert, die Ablehnung blieb schroff. Ein Bündnis der Reichsstände gegen den Kaiser müsse zu Missverständnissen und „glaubensgefährdenden Fehlinterpretationen“ bei den im Glauben schwachen Untertanen führen.²⁸ Die zentrale politische Frage aber, gegen wen sich ein solches Bündnis richten dürfe und ob eine Beistandspflicht der verbündeten Reichsstände bei militärischem Vorgehen des Kaisers anzunehmen sei, ließ Luther unbeantwortet. Zeitgleich war er vom kurfürstlichen Hof aufgefordert worden, Grundzüge eines von den evangelischen Ständen an den Kaiser gerichteten Schreibens zu entwerfen,²⁹ um jenen von den Absichten der protestierenden Stände zu unterrichten. Ganz offensichtlich erhofften sich die sächsischen Politiker und Juristen eine deutliche Unterstützung ihrer Rechtsauffassung durch den Theologen; dieser aber hatte die reichsrechtliche Problematik und politische Bedrohung überhaupt nicht begriffen. „Der von Luther aufgesetzte Text ist nicht nur ein Lehrstück über die Illusionen, die er hinsichtlich der Aufgeschlossenheit des Kaisers für die kirchlichen Veränderungen hegte, sondern zeigt auch einen politischen Dilettantismus, der umso erstaunlicher wirkt, als der Verfasser bewusst politisch argumentieren wollte.“³⁰ Auch wenn das ursprünglich geplante Bündnis aller Reichsstände, die der reformatorischen Lehre zuneigten, nicht zustande kam, blieb doch die Frage nach der exclusio Caesaris (Ausnehmung des Kaisers) als Frage nach der Rechtfertigung von Gegenwehr und Notwehr der protestierenden Reichsstände in all ihrer Brisanz gegenwärtig. Luther allerdings wurde in den weiterlaufenden politischen Verhandlungen bis zum Ende des Jahres 1529 nicht mehr konsultiert. Das ist umso erstaunlicher, als im September 1529 der sächsische Hof erneut ein Gutachten anforderte, um die Klärung der Positionen zwischen Hessen und Kursachsen zu beschleunigen. Da Luther und Melanchthon auf dem Weg nach Marburg waren, wandte sich der sächsische Kanzler Brück mit seiner Bitte an Johannes Bugenhagen. Am 29.9.1529 wurde der Text übergeben.³¹ Anders als Luther war sich der Wittenberger Stadtpfarrer der reichspolitischen Dramatik und rechtlichen Problematik sehr wohl bewusst, er argumentierte inhaltlich
Siehe Wolgast, Wittenberger Theologie, wie Anm. 2, 132. Der Entwurf dazu ist unter dem Titel Caesari scribendum überliefert; siehe dazu Wolgast, Wittenberger Theologie, wie Anm. 2, 133 m. Anm. 50. Ebd., 133 f. Der Wortlaut des Gutachtens bei H. Scheible (Hg.), Das Widerstandsrecht als Problem der deutschen Protestanten 1523 – 1546, Gütersloh, 1969, 24– 29.
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eigenständig. Ausgangspunkt war die theologische Begründung der Aufgaben weltlicher Obrigkeit, zu der auch deren Begrenzungen gehörten. Daran konnte in den kommenden Jahren über Luthers Positionen hinaus angeknüpft werden. Nach Röm 13,1 ist alle Obrigkeit von Gott, deshalb ist es ihre Aufgabe, die Frommen zu schützen und die Schlechten zu strafen; sie ist jedoch auf weltliche Dinge beschränkt. So ist die niedere Obrigkeit (Unterherr, magistratus interior) der höheren Obrigkeit (Oberherr, magistratus superior) zu weitgehendem Gehorsam verpflichtet. Immer dann aber, wenn der Oberherr seine obrigkeitliche Gewalt gegen Gottes Wort richtet, verletzt er seine eigentliche Aufgabe, den Schutz der Frommen und die Bestrafung der Bösen. Eine solche Obrigkeit hat sich selbst aus ihrem Amt begeben, ihr gegenüber ist der Unterherr keinen Gehorsam schuldig. Die biblische Grundlage für diese Argumentation sah Bugenhagen in 1 Sam 15,26: „Weil du nu des HERRN wort verworfen hast, hat er dich auch verworffen, das du nicht konig seyest.“³² Darüber hinaus hat die niedere Obrigkeit sogar die Pflicht, das Versagen der höheren Obrigkeit öffentlich anzuprangern. Zum Schutz der Untertanen kann sie schließlich auch militärische Gewalt einsetzen. Mit der Anerkennung einer oberen und unteren Obrigkeit stärkte der Theologe die Interpretation der Reichsverfassung als einer Aristokratie. Dies waren die Position des hessischen Landgrafen und des sächsischen Kurfürsten sowie deren juristischer Berater. Das Gehorsamsgebot der niederen gegenüber der oberen Obrigkeit wurde auf dieser Grundlage relativiert, die Kurfürsten waren Obrigkeiten aus eigenem Recht, die Wahrnehmung ihres Rechts auf Gegenwehr war legitim.³³ Die Tatsache, dass Bugenhagen eine sehr viel differenziertere Kenntnis der reichsrechtlichen Institutionen hatte und die politische Problematik sehr viel klarer erkannte als Luther, zeigt, dass es innerhalb der Führungsriege der Wittenberger Theologen unterschiedliche Positionen gab. Die in den Jahren bis 1530 wiederholten Stellungnahmen Luthers und weiterer Theologen zeigen eine sehr allmähliche Differenzierung der Positionen; insbesondere für Melanchthon ist dies wiederholt beschrieben worden.³⁴ Insgesamt ist eine sehr dichte Debatte um die reichsrechtlichen Fragen unter den zeitgenössischen Theologen und Juristen identifizierbar.³⁵ Luther allerdings hat diese Positionen und Traditionen bis zuletzt nur widerstrebend akzeptiert. In einem Votum vom November 1529, das im Original verloren ist, anerkennt er erstmals die Pflicht des Fürsten, den Glauben der Untertanen zu schützen, und näherte sich damit der theologischen Argumentation des Bugenhagen an. Die verfassungspolitischen Konsequenzen aber bleiben wiederum ungenannt. Auch in dem vom sächsischen Kurfürsten bei den Wittenberger Theologen im Januar 1530 ange-
Zitat nach Böttcher, Ungehorsam, wie Anm. 11, 23. Zur weiteren Charakterisierung der Position des Bugenhagen siehe Schorn-Schütte, Gottes Wort, wie Anm. 2, 34– 37. Ebd., 43 – 45. Siehe dazu fundiert P. Foresta, „Ad futurum concilium. Concilio, diritto naturale e diritto di resistenza nella riflessione giuridica e teologica agli esordi della Riforma protestante“, in: R. Saccenti und C. Sulas (Hg.), Legge e natura. I dibattiti teologici e giuridici tra XV e XVII secolo, Rom, 2015.
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forderten „ordentlichen Ratschlag“, für den er eine Bezugnahme auf das Bugenhagensche Septembergutachten von 1539 erwartet zu haben schien, bleibt es bei Zurückhaltung.³⁶ Das im März 1530 vorgelegte Gutachten, ebenso wie ein kurz vorher verfasstes Schreiben von Luther, charakterisiert den magistratus superior (Oberherr) unter allen Umständen als Obrigkeit, der Gehorsamsanspruch endet nie; der magistratus inferior bleibt Untertan. Damit ist ein Verständnis der Reichsverfassung nur als Monarchie denkbar. Der Christ – gerade auch der kurfürstliche – bleibt zum Leiden verpflichtet. In den Mittelpunkt der theologischen Argumentation wird das landesherrliche Gewissen gerückt: es gebietet dem Kurfürsten, der Versuchung des Widerstandes aus politischen Gründen nachzugeben. Anders als Bugenhagen, der aus dem neutestamentlichen Römerbrief Vers 13 eine eigenständige Legitimation des magistratus inferior ableitete, betonte Luther, dass die Reichfürsten bloße Mandatare des Kaisers seien, also Inhaber einer von diesem verliehenen Macht.³⁷ Erst nach dem Scheitern der Religionsverhandlungen auf dem Augsburger Reichstag 1530 wurde der politische Druck von Seiten der hessischen und kursächsischen Politiker und Juristen ebenso wie von Seiten einiger differenzierter argumentierender Wittenberger Theologen auf Luther so stark, dass er sich bewegte. Insbesondere musste die Frage nach dem Recht von Notwehr und Gegenwehr für die Gruppe der Protestierenden rechtlich wie theologisch geklärt werden. Der Kurfürst und seine Juristen bauten deshalb Druck auf gegenüber den weiterhin mehrheitlich Luther folgenden Wittenberger Theologen. Auf dem Treffen in Torgau (Ende Oktober 1530) sahen sie sich einer zweifachen Rechtsbelehrung ausgesetzt: durch die sächsischen Juristen einerseits, durch die verfassungsrechtlichen Darlegungen des hessischen Landgrafen andererseits.³⁸ Eine Zusammenführung theologischer und juristischer Argumentationen, die bei Bugenhagen u. a. Theologen durchaus gewollt war, lag nicht in Luthers Absicht. Der Weg, der sich ihm öffnete, gelang mit Hilfe der sächsischen Juristen, die darauf verwiesen, dass Widerstand im Fall andauernder Ungerechtigkeit auf Seiten des Kaisers legitim sei.³⁹ Diese Interpretation erschien dem Reformator als ein „novum ius, ultra naturale, sed politicum et imperiale“,⁴⁰ womit die Notwehrfrage zu einer res profana wurde, für die die Zuständigkeit der Theologen nicht existiere.⁴¹ In der Forschung wurde die Entwicklung als „Rückzug der Theologen und Verzicht auf Beratung“⁴² charakterisiert. Für den genannten Zeitraum traf das sicherlich auch zu, für die folgenden Jahrzehnte aber hat sich besonders im Luthertum
Der Text ist abgedruckt in Scheible, Widerstandsrecht, wie Anm. 31, 60 – 63. Zu den Einzelheiten siehe Wolgast, Wittenberger Theologie, wie Anm. 2, 154– 165. Siehe mit allen Nachweisen Wolgast, Wittenberger Theologie, wie Anm. 2, 156 f. Wolgast, Wittenberger Theologie, wie Anm. 2, 176 Ebd. WA.B 6,37,29 f. Wolgast, Wittenberger Theologie, wie Anm. 2, 180, Anm. 39. Ebd.
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eine weitere Richtung durchgesetzt, die von einer Kommunikation zwischen Theologen, Juristen und Politikern getragen wurde. Für Luthers Argumentation trat eine weitere, nicht juristische Argumentationsvariante hinzu, die es ihm erleichterte, das Recht, einer Obrigkeit zu widerstehen, anzuerkennen. Denn die Erwartung des Endes der Zeiten (Apokalypse) kündigte sich für viele fromme Zeitgenossen in der Verweltlichung der Kirche, dem sündigen Papst als Verkörperung des biblischen Antichrist/Beerwolf an. Eine Abwehr dieser Kräfte führte auch für Luther zu legitimer Gegenwehr, sie war theologisch gerechtfertigt. Wenn sich nun auch der Kaiser anschickte, diesen Beerwolf-Papst zu schützen, so führte das zum Recht der Gegenwehr auch gegen einen sündigen Kaiser. Diese endzeitbezogene Linie der Rechtfertigung von Not- und Gegenwehr war ein ausschließlich durch die protestantischen Theologen der dreißiger und vierziger Jahre artikuliertes Rechtfertigungsmuster. Es ist zu Recht als politische Dimension des sich entwickelnden Luthertums bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts hinein bewertet worden.⁴³
3 Schlussbemerkung Luther, der unpolitische Reformator, hat sich lange Zeit gegen eine enge Verzahnung von Politik und Religion, von Kirche und Welt gewehrt. Sein Anliegen war ohne politische Wirkabsicht, es war die Einbindung des Geistlichen in die Welt. Dass damit unbeabsichtigte Folgen und politische Anforderungen an die Reichsverfassung sowie machtpolitische Verwerfungen verbunden waren, war vermutlich eher erschreckend als hilfreich für ihn. In seiner Wahrnehmung musste weltliche Obrigkeit deshalb als Notbischof eine Abwehrrolle gegen die Sünde übernehmen, die den stets ungelösten Konflikt zwischen Kirche und Politik aber nur weiter zementierte: wo beginnt, wo endet das Internum, in dem die weltliche Obrigkeit keine Zugriffsrechte mehr hat? Auf diese Dauerfrage hat Luther selbst keine originär-theologische Antwort geben können, eine juristische Position hat er als Zeitgenosse erst mühsam erlernen müssen. Andere Theologen waren ihm darin voraus, wenn nicht überlegen.
Ausführlich dazu A. Moritz, Interim und Apokalypse. Die religiösen Vereinheitlichungsversuche Karls V. im Spiegel der magdeburgischen Publizistik 1548 – 1551/52, Tübingen, 2009, 211– 281; zudem Th. Kaufmann, „Apokalyptik und politisches Denken im lutherischen Protestantismus in der Mitte des 16. Jahrhunderts“, in: ders., Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts, Tübingen, 2006, 29 – 66.
Jörg Seiler
Keuschheit als Politikum Martin Luther und der Deutsche Orden
1 Einführung Martin Luther beschäftigt sich in seinen Schriften wiederholt und manchmal auch in unerwarteten Kontexten und Assoziationen mit dem Thema der „Keuschheit“, die einzuhalten ihm als biblische Norm galt.¹ Für ihn selbst spielte die Auseinandersetzung mit der Sexualität und die Mäßigung sexueller Begierden während seiner Klosterzeit offensichtlich keine besondere Rolle.² Es war seine existentielle Verunsicherung, seine Angst vor Heilsverlust und Hölle, derer er selbst durch radikale Bußübungen und monastische Frömmigkeitspraxis nicht Herr wurde und die ihn zur Infragestellung des Ordenslebens generell führte. Nach eigenem Bekunden war er ein vorbildlicher Mönch, dessen Eifer von seinem Beichtvater gebremst werden musste. Heilsgewissheit stellte sich bei ihm jedoch nicht ein. Erst eine intensive Lektüre der paulinischen Briefe brachte ihn zum Verständnis, dass der Mensch ganz radikal von der Gnade Gottes her lebe. Kein eigenes Bemühen, kein menschliches Tun, keine äußeren Hilfestellungen und Leistungen, nichts, was er je erwerben könnte, würden helfen, einen gnädigen Gott zu finden. Die Gnade Gottes ist für Luther unverdientes göttliches Geschenk. In Jesus Christus lässt Gott dem Menschen jene Gerechtigkeit zukommen, derer er bedarf, um vor Gott bestehen zu können. Dieses vollständig passive Übereignetsein an die Gnade Gottes müsse der Mensch im Glauben annehmen. Der Glaube, selbst wieder eine Gabe Gottes, bezieht sich auf die Verheißungen der Heiligen Schrift. Er bedarf keiner Instanzen, die die Heilige Schrift vermitteln und interpretieren. Von daher entwickelt Luther seine radikale Kritik am bestehenden
Zum Thema Sexualität vgl.: J. Strohl (Übersetzung: V. Leppin), „Sexualität“, in: V. Leppin und G. Schneider-Ludorff (Hg.), Das Luther-Lexikon, Regensburg, 2014, 642– 645; J. Strohl, „Luther’s New View on Marriage, Sexuality and the Family“, in: Lutherjahrbuch 76, 2009, 159 – 192 (enthält eine chronologische Durchsicht relevanter Werke); S. Karant-Nunn, M. Wiesner-Hanks (Hg.), Luther on Women. A Sourcebook, Cambridge, 2003, 137– 170 (thematisch sortiert nach: „Sexual Desire“; „Adultery“; „Prostitution“; „Other Sexual Issues“). Luther äußerte sich etwa in einer Tischrede 1531 folgendermaßen: „Oravi horas und keusch und zuchtig von weibern gehalten et tamen verdampt, quia non credidi in Jesum Christum“; O. Scheel, Dokumente zu Luthers Entwicklung (bis 1519), 2. Aufl., Tübingen, 1929, Nr. 153, 59. Ähnlich auch in Luthers Kommentar zum Galaterbrief (1531); vgl. ebd., Nr. 164, 63 u.ö. Zur Erfurter Klosterzeit vgl. C. Bultmann,V. Leppin, A. Lindner, Luther und das monastische Erbe, Tübingen, 2007; L. Schmelz und M. Ludscheidt, Luthers Erfurter Kloster, Erfurt, 2005; C. Burger, „Der Augustinereremit Martin Luther in Kloster und Universität bis zum Jahre 1512“, in: G. Ruhbach, K. Schmidt-Clausen, Kloster Amelungsborn 1135 – 1985, Amelungsborn, 1985, 161– 186. https://doi.org/9783110498745-035
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Kirchensystem, an der Ablasspraxis, am kirchlichen Sakramentenverständnis und an einer Frömmigkeitspraxis, die er als äußerliche Werkgerechtigkeit, die Gott zu etwas zwingen möchte, abtut. Diese Grundüberzeugungen vertrat Luther entschieden auch dann, wenn politische Diplomatie angesagt war. Sie stehen im Hintergrund der Ende 1523 publizierten Schrift „An die Herren deutschs Ordens, daß sie falsche Keuschheit meiden und zur rechten ehelichen Keuschheit greifen, Ermahnung“.³ In ihr fordert Luther die Deutschordensritter auf, sich zu verheiraten und den Ordensbesitz zur Finanzierung ihrer Familien zu verwenden. Eine Auflösung des Ordens sei dann gar nicht notwendig. Denn in ihm sei Weltliches und Geistliches von jeher miteinander verbunden. Im Gegenteil: Ein solchermaßen erneuerter Deutscher Orden könnte dann als Modell für andere Ordensgemeinschaften gelten.⁴ Luther hätte sich damals auch mit politischen Argumenten zur Zukunft des Deutschen Ordens äußern können. Schließlich wurde selbst im Reich das Überleben des preußischen Ordenslandes skeptisch beurteilt. Doch auf das rein politische Feld begibt sich Luther hier nicht. Er argumentiert vielmehr biblisch mit einer gehörigen Portion Pragmatismus. Sein pragmatisches Argument in der „Deutschherren“-Schrift lautet: Wenn selbst für Eheleute – also mit einem geregelten partnerschaftlichen Sexualleben – Keuschheit schwer zu leben ist, trifft dies noch viel mehr für jene zu, die das Gelübde der „ehelosen Keuschheit um des Himmelsreiches willen“ abgelegt haben. Diese Art klösterlicher Keuschheit könne bis auf wenige Ausnahmen nicht gehalten werden und – hierauf fokussiert sich Luther – widerspreche als gemeinschaftsgebundene Regelung der biblischen Norm. Deswegen sollten die Deutschordensritter ihre falsche Keuschheit ablegen und sich um die richtige, die eheliche Keuschheit bemühen.
2 Die Krise des Deutschen Ordens zu Beginn des 16. Jahrhunderts Wie sahen die politischen Rahmenbedingungen aus, von denen aus Luthers Schrift zu kontextualisieren und zu interpretieren ist? Die Landesherrschaft, die der Deutsche Orden seit dem 13. Jahrhundert in Preußen aufbauen konnte, war im 15. Jahrhundert in
Die Datierung der undatierten Schrift auf Ende 1523 (vermutlich 12. Dezember 1523) wird begründet in WA 12,228 – 244. Vgl. zum Themenkomplex insgesamt: B. Jähnig, „Die Anfänge der evangelischen Landeskirche im Herzogtum Preußen zur Zeit von Herzog Albrecht“, in: A. Mentzel-Reuters und K. Neitmann, Preußen und Livland im Zeichen der Reformation, Osnabrück, 2014, 15 – 56; U. Arnold, „Luther und die Reformation im Preußenland“, in: U. Hutter, Martin Luther und die Reformation in Ostdeutschland und Südosteuropa. Wirkungen und Wechselwirkungen, Sigmaringen, 1991, 27– 44; C. Schmidt, Auf Felsen gesät. Die Reformation in Polen und Livland, Göttingen, 2000.
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eine schwere Krise geraten.⁵ In zwei Kriegen gegen Polen war der Orden unterlegen. Nicht nur, dass er hohe Kriegszahlungen an das Königreich Polen zu leisten hatte, die ihn an den Rand des finanziellen Ruins brachten. Auch musste der Orden 1466 seine westlichen Landesteile an Polen abtreten und den Ordenssitz von der Marienburg nach Königsberg verlegen. Mit der Ernennung von Hochmeistern aus dem Hochadel suchte der Orden militärisch starke Bündnisgenossen zu erlangen – jedoch mit geringem Erfolg. 1511 war Albrecht von Brandenburg-Ansbach (Hochmeister 1511– 1525), der Sohn Markgrafs Friedrich von Brandenburg-Ansbach, der mit einer polnischen Prinzessin verheiratet war, als Nachfolger Friedrichs von Sachsen (Hochmeister 1498 – 1510)⁶ in das oberste Ordensamt gelangt. Der damals 21-Jährige entfaltete nun eine starke antipolnische Politik, mit der er die Bestimmungen des Zweiten Thorner Friedens (1466) rückgängig zu machen hoffte. Auf den Kaiser setzte er vergeblich. Dieser hatte sich 1515 mit den Jagiellonen geeinigt, auf dem Kongress von Preßburg den Zweiten Thorner Frieden anerkannt und zugesagt, den Orden nicht unterstützen zu wollen.⁷ Der so genannte Reiterkrieg des Ordens gegen Polen (1519/20 – 1521) blieb erfolglos und endete mit einem Waffenstillstand. Der Hochmeister geriet nun in Zeitnot, denn bis 1525, dem vereinbarten Ende des Waffenstillstandes, musste er eine Entscheidung treffen: Sich Polen endgültig unterwerfen oder erneut den Waffengang suchen? In dieser heiklen Situation verweigerten zudem die Ordensballeien im Reich ihrem Ordensoberhaupt die geforderte effektive Hilfe – zu weit war die Entfremdung der verschiedenen Ordenszweige mittlerweile vorangeschritten. In dieser bedrohlichen Situation zog Albrecht im April 1522 ein weiteres Mal ins Reich⁸ – gescheitert war bereits eine Reise 1517. Er suchte eine doppelte Aufgabe zu lösen: Zum einen begab er sich zum Reichsregiment nach Nürnberg, um dort und auf weiteren Reisen im Reich um militärische Unterstützung für einen Waffengang gegen Polen zu werben. Zum zweiten war ihm klargeworden, dass der Orden dringend einer Reform bedurfte. Bereits 1518 hatte er sich diesbezüglich an Papst Leo X. gewandt und von diesem ein allgemeines Reformationsmandat erhalten, also eine Erlaubnis, Reformen in seinem Orden durchzuführen. Hadrian VI. und Clemens VII. hatten dieses
R. Czaja, „Die Krise der Landesherrschaft. Der Deutsche Orden und die Gesellschaft seines Staates in Preußen in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts“, in: Ordines Militares 16, 2011, 159 – 171; K. Militzer, Die Geschichte des Deutschen Ordens, 2. Aufl., Stuttgart, 2012, 219 – 241; K. Forstreuter, Vom Ordensstaat zum Fürstentum. Geistige und politische Wandlungen im Deutschordensstaate Preußen unter den Hochmeistern Friedrich und Albrecht (1498 – 1525), Kitzingen, [1951]. M. Biskup, „Friedrich von Sachsen (29.IX.1498 – 14.XII.1510)“, in: U. Arnold, Die Hochmeister des Deutschen Ordens 1190 – 2012, 2. Aufl., Weimar, 2014, 159 – 164 (Lit.). H.Wiesflecker, Kaiser Maximilian I. Das Reich, Österreich und Europa an der Wende zur Neuzeit, Bd. 4, Gründung des habsburgischen Weltreiches, Lebensabend und Tod 1508 – 1519, München, 1981, 181– 204; M. Hollegger, Maximilian I. (1459 – 1519). Herrscher und Mensch einer Zeitenwende, Stuttgart, 2005, 214– 219. Itinerar bei: P. Tschackert, Urkundenbuch zur Reformationsgeschichte des Herzogthums Preußen, Bd. 2, Urkunden 1523 – 1541, Nr. 55, 15 f., Osnabrück 1965 [1890] (im Folgenden: UB Preußen 2).
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Mandat erneuert.⁹ Inhaltlich blieb es unbestimmt. Die konkrete Ausformung der Ordensreform blieb dem Hochmeister überlassen. Dieser hielt sich in seinen Überlegungen nun öffentlich bedeckt – aus politischen Gründen. Denn je nachdem, wie die Reform ausfallen würde, hätte sie seine Planungen, militärische Unterstützung zu erlangen, konterkarieren können.
3 Eine Reform des Ordens mit Hilfe Martin Luthers? Hochmeister Albrecht von Brandenburg-Ansbach wollte eine Ordensreform durchführen, die den veränderten Zeitbedürfnissen Rechnung trug. Aus diesem Grund versuchte er, zum prominentesten Ordenskritiker und Kirchenreformer seiner Zeit, eben zu Martin Luther, Kontakt aufzunehmen. Doch dies war gefährlich. Denn zur gleichen Zeit, als Albrecht den Waffenstillstand mit Polen aushandelte, befand sich Luther auf dem Weg zum Reichstag nach Worms – mit den bekannten Folgen: Kaiser und Reich belegten den bereits kirchlich Gebannten 1521 mit der Acht. Albrecht ging daher äußerst vorsichtig vor. Im September 1521, also ein gutes halbes Jahr vor seiner eigenen Abreise ins Reich, sandte er den sächsischen Diplomaten Dietrich von Schönberg zum Kurfürsten von Sachsen, um zu sondieren, ob für eine geplante Ordensreform eine Stellungnahme von Luther einzuholen sinnvoll sei.¹⁰ Friedrich der Weise¹¹ schien hiervon abgeraten zu haben. Von daher verzichtete der Hochmeister zunächst auf die Übersendung der Ordensregeln an den sächsischen Hof. Zu gefährlich erschien es allen Beteiligten, dass die Einbindung Luthers öffentlich bekannt würde. Dadurch wäre der Ordensobere diskreditiert und in seinen politischen Sondierungen behindert worden. Denn vordringlich erschien es ihm, eine militärische Allianz gegen den polnischen König zu erreichen. Hierfür war auch die Unterstützung der Reichsstände unumgänglich. Das Bekanntwerden der Kontaktaufnahme zu Luther hätte dieses Vorhaben bedroht. Dennoch war Luther bereits im März 1522 über die Anfragen und Planungen Albrechts informiert. Sollten in der kursächsischen Kanzlei Briefe des Hochmeisters eintreffen, so Luthers Bitte an Georg Spalatin, wolle er umgehend benachrichtigt werden.¹² Ende 1522 hielt Luther fest, im Nürnberger Umfeld
W. Hubatsch, Geschichte der evangelischen Kirche Ostpreussens, Bd. 1, Göttingen, 1968, 6 f. Ebd., 10 f. Friedrich von Sachsen war bereits vor dem Amtsantritt Albrechts in die internationalen Verhandlungen über das Verhältnis zwischen dem preußischen Ordensstaat und der Krone Polen involviert gewesen. Er agierte hier mit großer Zurückhaltung, obgleich er offensichtlich hohes Ansehen beim Orden besaß; S. Flemmig, „Friedrich der Weise und der Deutsche Orden in Preußen (1486 – 1525)“, in: A. Kohnle und U. Schirmer, Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen. Politik, Kultur und Reformation, Leipzig/Stuttgart, 2015, 154– 180. Luther an Spalatin, 22. März 1522, WA.B 2,480.
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erzähle man sich, dass der Hochmeister „von dem Evangelium keine schlechte Meinung habe“, der Reformation gegenüber also aufgeschlossen sei.¹³ Halten wir fest: Albrecht plante eine Ordensreform, bei der er eigentlich den Rat Luthers gerne berücksichtigt hätte. Doch fürchtete er, sich hierfür politisch angreifbar zu machen. Offensichtlich waren es Begegnungen in Nürnberg, die Albrechts weiteres Verhalten beeinflussten. Ein schlagkräftiges Bündnis gegen Polen brachte der Hochmeister nicht zustande. Folgenreich wurden nun die Begegnungen mit Lazarus Spengler (1479 – 1534) und Andreas Osiander (1498 – 1552), dem Reformator in Nürnberg. In Albrecht reifte in jener Zeit der Plan, gegebenenfalls auch zu einer Säkularisation des preußischen Ordenslandes zu schreiten und das Herrschaftsterritorium in ein an Polen gebundenes Herzogtum umzuwandeln. Durch die Begegnung mit Osiander war er zunehmend von der Richtigkeit der lutherischen Lehren überzeugt worden. Ein Jahrzehnt später (1540) fasste Albrecht in einem Brief an seinen „Vater in Christo“ dessen Einfluss zusammen: „Ihr seid allein das Mittel, wodurch wir zu göttlicher, rechter und wahrer Erkenntnis gekommen sind, welche Wohlthat wir so hoch achten, daß sie nicht auszusprechen, viel weniger mit etwas zu vergleichen ist“.¹⁴ Bei diesen Überlegungen wurde der Hochmeister nun auch aktiv von Luther unterstützt. Am 14. Juni 1523 sandte der Ordensobere seinen Berater Johann Oeden mit einem Handschreiben nach Wittenberg. Luther wurde in Kenntnis gesetzt, dass der Hochmeister eine Reform des Ordens und der ihm unterstellten Geistlichen plane. Er erhielt bei dieser Begegnung vermutlich auch eine Abschrift der Ordensregeln und wurde gebeten, diese zu kommentieren: Was finde sich hierbei Christliches? Hierüber sollte er ein Gutachten anfertigen.¹⁵ Der Kontakt war nun hergestellt und so weit gefestigt, dass der Hochmeister eine persönliche Begegnung mit Luther anstrebte. Beide trafen sich am 1. Adventssonntag, am 29. November 1523, in Wittenberg. Luther berichtete wenig später über diese Begegnung: Ich sprach auch mit dem Hochmeister Albrecht. Er bat mich um Rat bezüglich der Regel seines Ordens. Ich überzeugte ihn, jene törichte und konfuse Regel aufzugeben, sich zu verheiraten und Preußen in ein weltliches Territorium umzuwandeln – sei es ein Fürstentum oder ein Herzogtum. Dasselbe meinte und riet nach mir auch Philipp [Melanchthon]. Jener [Hochmeister] lächelte und antwortete nicht.¹⁶
Das Schweigen des Hochmeisters war politisch beredt. Man musste bei aller gewiss grundlegenden Sympathie die formelle Distanz wahren, um kein politisches Risiko
„[…] diciturque non male de euangelio sentire“; Luther an Wenzeslaus Link, 19. Dezember 1522, WA.B 2,633. Zit. nach P. Tschackert, Herzog Albrecht von Preußen als reformatorische Persönlichkeit, Halle, 1894, 14. Hubatsch, Geschichte (wie Anm. 9), 11. Luther an Briesmann, 4. Juli 1524: „[…] Suasi, vt contempta ista stulta confusaque regula vxorem duceret et prussiam redigeret in politicam formam, siue principatum siue ducatum. Idem sensit et suasit post me phillipus“, WA.B 3,315.
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einzugehen. Herzog Georg von Sachsen will später wissen, dass bereits bei diesem Treffen die Entsendung lutherischer Prediger nach Preußen verabredet worden sei.¹⁷ Tatsächlich wirkte ab Sommer 1523 Johannes Briesmann (1488 – 1549) als evangelischer Prediger im Bereich des Deutschordensstaates.¹⁸ Am 27. September hielt der Franziskaner noch in Ordenstracht im Königsberger Dom die erste evangelische Predigt in Preußen. Ein knappes Jahr später war Briesmann durch Luther beauftragt worden, mit der Bevölkerung ins Gespräch zu kommen, um die Umwandlung des Ordensstaates in ein weltliches Herzogtum mental vorzubereiten.¹⁹ Er wurde in den Folgejahren zum wichtigsten Gesprächspartner Albrechts. Zugleich nahm er wesentlichen Einfluss auf den samländischen Bischof Georg von Polentz (Bischof: 1519 – 1550). Dieser vertrat den abwesenden Landesherren während seines Aufenthalts im Reich als „Teutschen Ordens Regent“.²⁰ Sowohl im Königlichen Preußen,²¹ also jener ehemaligen Deutschordensregion, die seit 1466 unter polnischer Herrschaft stand, als auch im Deutschordensstaat selbst fand die protestantische Bewegung sehr früh Einzug. Unter Deutschordensherrschaft konnte dies nicht ohne Duldung des Hochmeisters geschehen. Bei seinem Treffen mit Luther hatte der Hochmeister einige grundsätzliche Fragen formuliert, über die sich Luther im Dezember 1523, also im unmittelbaren Kontext der „Deutschherren“-Schrift gutachterlich äußerte: Die Kirche sei nicht auf Petrus und die nachfolgenden Päpste gebaut, sondern allein auf Christus. Die Aufgabe der Päpste und Bischöfe bestehe demnach darin, die „inwendig im geyst“ durch Christus geoffenbarten Geheimnisse Gottes zu lehren – und nichts weiter. Denn wer anderes lehre, sei ein Dieb und Mörder. Christus sei der einzige Leiter der Gemeinde, der sie durch den Glauben und die Gaben des Geistes regiere. Daher müssten auch die Gesetze der Päpste und Konzilien über rein äußere Dinge (etwa Fastengebote oder Feiertage) abgelehnt werden. Wenn der Papst deren Heilsnotwendigkeit lehre, zeige er sich als „widerChrist“. Äußere Dinge wie Papsttum, Konzilien, Ordensstatuten oder Zeremonien seien nicht heilsnotwendig und sollten allenfalls wie andere dem äußeren Leben gegebenenfalls nützliche Dinge betrachtet werden. Es ist also ihre Aufwertung zu heilsnotwendigen Dingen, die Luther entschieden verneint. Falls sie nicht zu heilsnotwendigen Glaubensdingen erhoben würden, könne man sie dulden. Besser sei, wenn die äußeren Dinge durch die Eltern und Fürsten geregelt würden. Weder Papst
Georg von Sachsen an Kasimir von Brandenburg, 2. Januar 1524, in: UB Preußen 2 (wie Anm. 8), Nr. 166, 45. Zu ihm: P. Tschackert, Urkundenbuch zur Reformationsgeschichte des Herzogthums Preußen, Bd. 1, Einleitung, Osnabrück 1965 [1890], 41– 48. Hubatsch, Geschichte (wie Anm. 9), 14. E. Wolgast, Hochstift und Reformation. Studien zur Geschichte der Reichskirche zwischen 1517 und 1648, Stuttgart, 1995, 198. Vgl. etwa M. Biskup, „Über die Anfänge der lutherischen Reformation im Königlichen Preußen“, in: B. Jähnig und G. Michels, Das Preußenland als Forschungsaufgabe. Eine europäische Region in ihren geschichtlichen Bezügen (FS Udo Arnold), Lüneburg, 2000, 275 – 286.
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noch Bischöfe könnten die Gebote Gottes ändern. Die bisherige Praxis, so Luther, sei gegen und ohne das Wort Gottes geübt worden.²² An Luthers Stellungnahme überrascht die inhaltliche Fixierung auf die Frage der Relevanz kirchlicher Autoritäten und Tradition. Es geht ihm mitnichten um konkrete Vorschläge für eine Reform des Deutschen Ordens. Wenn Hochmeister Albrecht mit ihm bei der Begegnung im November 1523 hierüber ins Gespräch gekommen war, so zeigt sich nun, auf welch grundsätzlicher Ebene der Reformator das Thema Ordensreform anzugehen gedachte. Offenkundig war Luther am konkreten Deutschen Orden nicht interessiert. Aus seiner Perspektive hätte er in modifizierter Form weiter bestehen bleiben können. Doch hätte er sich auch auflösen können. Dies machte für Luther keinen Unterschied. Zentral ist aus seiner Perspektive die radikale Ausrichtung auf das Wort Gottes. Institutionelle Konkretionen in Form lehramtlicher Äußerungen oder in Form von Ordensstatuten sind für ihn äußere Erscheinungen, die nicht das Wesen des Glaubens berühren können. Auch hierbei handelt es sich um Adiaphora, also um Mitteldinge, die weder geboten noch verboten sind, vielmehr ihren Sinn aus der Kontextualisierung gewinnen. Qualifiziert man sie als heilsnotwendig, so missbraucht man sie, um die eigene Autorität zu fixieren. Dies war der Vorwurf, den Luther gegenüber der päpstlichen, bischöflichen und konziliaren Amtspraxis erhob. Es war für ihn eine grundsätzliche Kritik. Sie führte ihn dazu, diese Institutionen als widergöttliche Einrichtungen zu diskreditieren. Aus dieser Grundüberzeugung heraus argumentiert Luther stets apodiktisch. Es ist schwer vorstellbar, dass der Hochmeister diese Art theologischer Selbstvergewisserung bei Luther angefragt und gesucht hatte. Wäre dem so, müsste man ihm unterstellen, dass er bereits Ende 1523 einen sicheren Plan für eine grundstürzende Reform des Ordens und seines Herrschaftsterritoriums gehabt hätte. Natürlich hatte er sich innerlich seit der Nürnberger Begegnung mit Osiander Ende 1522, die er später zum „Bekehrungserlebnis“ stilisierte, dem reformatorischen Gedankengut zugewandt. Dennoch: Albrecht blieb ein weiteres Jahr (1524) im Reich, um verschiedene Optionen auszuloten. Und gerade Ende 1523 beschäftigte ihn der Plan, in den Dienst des französischen Königs zu treten – gewiss nicht als Lutheraner! Nahezu parallel hierzu wurde ein erstes Gespräch mit Abgesandten des polnischen Königs (auf dessen Initiative) geführt. Es brachte einen Prozess in Gang, der ein gutes Jahr später zur Umwandlung des Ordensstaates in ein weltliches Herzogtum münden sollte.²³ Albrecht agierte also diskursiv als Politiker unter Ausnutzung der lutherischen Infragestellung der Kirchenordnung und deren (reichs‐)politischen Implikationen. Luther hingegen agierte diskursiv als Theologe und Systemkritiker unter Ausnutzung der politischen Verwerfungen und Optionen, die im Rahmen der (reichs‐)politischen Implikationen der Reformation sichtbar wurden. Wenn sie den Herrschaftsraum des Deutschen Ordens betrafen, konnte ihm
Luther an den Hochmeister Albrecht, Dezember 1523, WA.B 3,207– 219. Vgl. hierzu: M. Brecht, Martin Luther, Bd. 2, Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521 – 1532, Stuttgart, 1986, 84. Jähnig, Anfänge (wie Anm. 4), 22.
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das recht sein. Zentral waren ihm diese politischen Optionen nicht. Ihm ging es um Theologie und Glauben. Von diesen unterschiedlichen Voraussetzungen her wird verständlich, dass dem Hochmeister die Veröffentlichung von Luthers Schrift „An die Herren deutschs Ordens“ Ende 1523 unangenehm sein musste. Nicht, weil er anderer Meinung als Luther war, sondern weil die Öffentlichmachung von Luthers Säkularisationsempfehlung ihn, den Hochmeister, politisch beschädigen konnte. Er war ja noch immer im Reich unterwegs, um ein Bündnis gegen Polen zu schmieden.Wie stellte sich Luther nun die Zukunft des Deutschen Ordens vor? Was erwartete er von Ordensrittern und wie argumentierte er?
4 Luthers Schrift: An die Herren deutschs Ordens, daß sie falsche Keuschheit meiden und zur rechten ehelichen Keuschheit greifen, Ermahnung Luthers „Ermahnung“²⁴ kam faktisch der Aufhebung des Deutschen Ordens gleich. Dessen Mitglieder sollten ihre Gelübde aufgeben und als adlige Familiengründer den dann erblichen Besitz des Deutschen Ordens bewirtschaften. Möglicherweise ist die Schrift „als Fühler zu beurtheilen, durch den die Stimmung ebenso der Ordensritter wie der preußischen Bischöfe erforscht und kommenden Ereignissen vorgearbeitet werden sollte“.²⁵ Dann wäre sie von Luther strategisch geplant gewesen. Ich selber sehe sie stärker von der Theologie Luthers her geprägt, die dieser in einer konkreten, historisch verlockenden Situation pragmatisch adaptiert zu sehen hoffte. Auf jeden Fall wusste Luther, dass er seitens des Hochmeisters keinen Widerstand gegen seine Vorstellungen zu erwarten hatte – so ungelegen sie diesem auch gekommen sein dürften. Die Ordensritter, so Luther zunächst, sollten nicht verwundert darüber sein, dass er ihnen mit dieser Schrift den Rat gebe, „zu dem ehlichen leben von der unkeuschen keuscheyt“ zu wechseln. Dieser Ratschlag sei gerade für den Deutschen Orden sinnvoll, da er „eyn seltzamer orden“ sei, der aufgrund seines Auftrags zum Heidenkampf eine Mischform darstelle: Er sei beauftragt, „das welltlich schwerd“ zu führen und müsse dennoch „auch geystlich seyn“. Damit ist das Grundmotiv der Schrift angesprochen: Es geht für Luther darum, aufzuzeigen, wie man Keuschheit leben könne. In der Form, wie der Deutsche Orden beziehungsweise Ordensgemeinschaften und Priester dies generell lebten – Luther spricht grundsätzlich von „Mönchen“ –, ist es für Luther eine „unkeusche“ Keuschheit. Wiederholt, so Luther, habe er gegen den „grewel der geystlichen WA 12,228. Die Nachweise der Zitate werden im Folgenden so geführt, dass lediglich beim Wechsel der Seite in der gedruckten Ausgabe eine Fußnote gesetzt ist. Alle vorher stehenden Zitate sind also auf diese zusammenfassende Fußnote zu beziehen. Die diakritischen Zeichen der Vokale werden aufgelöst. WA 12,230 (Einleitung).
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keuscheyt“ geschrieben. Das entsprechende Gelübde müsse und könne nicht gehalten werden, es sei denn, Gott gebe hierfür seine besondere Gnade. Doch dies geschehe äußerst selten.Wenn Luther nun auch die Ordensritter auf dieses Thema hin anspreche, so geschehe dies deswegen, weil er hoffe, dass der Deutsche Orden „eyn gros trefflich starck exempel seyn kan fur allen andern Orden“. Luther sah im Deutschen Orden also eine Art Vorreiter, um endlich die in den Orden grassierende Unkeuschheit abzuschaffen und dadurch den Vorgaben des Evangeliums gerecht zu werden. Was ist für Luther das Besondere, das den Deutschen Orden prädestiniert, ein Vorbild für alle anderen Orden zu sein? Unausgesprochen spielte gewiss das Gespräch mit dem Hochmeister eine Rolle, in dessen Folge Luther zum ersten Mal die Möglichkeit erkannte, eine Ordensgemeinschaft insgesamt für seine Ideen begeistern zu können. Doch hiervon spricht er nicht. Albrecht von Brandenburg-Ansbach kommt überraschenderweise in der gesamten Schrift nicht vor. Luther sieht den Vorteil der Säkularisation des Deutschen Ordens darin gelegen, dass die einzelnen Ordensmitglieder „mit zeytlicher narung versorgt“ seien. Die Territorialherrschaft im preußischen Ordensstaat mit ihrer ökonomischen Infrastruktur würde also eine Grundsicherung für die Ordensritter bieten, ungeachtet irgendeiner Form klösterlichen bzw. kommunitären Lebens. Und dies bleibe den Ordensrittern, selbst wenn sie sich aus der Bindung ihrer Gelübde lossagten. Daher rät Luther dem Orden, die Ordensbesitzungen in weltliche Güter umzuwandeln, mit diesen die Ritter zu versorgen und dadurch eine ordentliche Herrschaft zu machen, die „on gleyssen und falschen namen fur Gott und der wellt angeneme were“.²⁶ Mit der Verweltlichung des Ordens wäre das Ordensgebiet auch für die Untertanen wesentlich akzeptabler, als es derzeit der Fall sei. Tatsächlich hat es der Orden nie geschafft, die Sympathien der Bevölkerung zu erwerben. Die Beeinträchtigung durch die Kriege und die Abgabenlast hatten vielmehr Distanz zur Landesherrschaft geschaffen. Zudem war die Diskrepanz zwischen geistlichem Ideal und weltlichem Leben der Ordensritter für viele zu skandalös geworden. In der Umwandlung des Deutschen Ordens in eine weltliche Institution, deren Mitglieder nach dem Evangelium und der Schrift leben sollten, sah Luther jedoch das Erfolgskonzept, welches das Überleben des Ordens sichern könne. Hier könne ein Modell auch für „grösser herrn“ entstehen, die „lust zu erbarem leben haben“. Denn es „ist doch zu hoffen, das hynfurt wenig mehr mönche und geystliche werden sollen, weyl das Evangelion auffgehet und die geysterey also auffdeckt“ wäre.²⁷ Tatsächlich sollte Luther im Juni 1525 den Mainzer Erzbischof, Albrecht von Brandenburg, einen Cousin des (dann schon ehemaligen) Hochmeisters, dazu auffordern, sich zu verheiraten und das Hochstift Mainz zu säkularisieren, um so „den falschen namen und scheyn geystlichs standts fallen und faren (zu) lassen“.²⁸ Er argumentierte gegenüber
WA 12,232. WA 12,233. Sendschreiben an den Erzbischof Albrecht von Mainz und Magdeburg, sich in den ehelichen Stand zu begeben, 1525, WA 18,408.
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dem Mainzer Kurfürsten also genauso wie in seiner Deutschordensschrift. Das Verhalten des ehemaligen Hochmeisters wird hier als vorbildlich dargestellt: Hie hat E. Churf. G. eyn schön exempel, den Hochmeyster in Preussen, wie gar feyn und gnedig hat Got solch enderung geschickt, die vor zehen jaren weder zuhoffen noch zuglauben gewest were, […], Aber weyl er dem Evangelio rhaum und eher gab, hats jme wider vil mer rhaum und eher geben, mer dann er het dürffen wünschen.²⁹
Bekanntlich ging der Mainzer Erzbischof hierauf nicht ein. Ein stringentes, rechtlich abgesichertes Modell, das die verfassungsrechtlichen Fragen der Säkularisation der Hochstifte und des hochstiftischen Klosterbesitzes berücksichtigte, konnte Luther nicht vorlegen.³⁰ Ihm ging es einerseits um die politische Signalwirkung und andererseits um eine Klärung des moralischen Dilemmas, in welches das Ordensleben unweigerlich führe. Nach den wenigen einleitenden Ausführungen zum Deutschen Orden wendet sich Luther seinem eigentlichen Thema zu: der Begründung, weshalb man im Modell katholischen Ordens- und Priesterlebens auf rechte Weise keine Keuschheit leben könne und von daher die Ehe jene Form ist, die der Christ für sich wählen müsse. Über 90 % der Schrift sind dieser „Ermahnung“ gewidmet. Luther argumentiert von Gen 2,18 aus: „Dann sprach Gott, der Herr: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht“. Zunächst formuliert Luther einen entscheidenden Zielkonflikt: Wenn Gott in der Heiligen Schrift eine klare Norm formuliert hat, nämlich, dass der Mensch sich verheiraten solle, da es nicht gut ist, wenn er alleine sei, welche Bedeutung könnte dann ein Gelübde haben, das einen freiwilligen Verzicht auf die Ehe formuliert? Auch im Deutschen Orden galten ja die drei klassischen „evangelischen Räte“, nämlich der Gehorsam, die Armut und die Ehelosigkeit. Letztere lehnt Luther entschieden ab. In einem ersten Gedankengang setzt er sich mit einem pragmatischen Argument auseinander: Ist denn die Frau überhaupt eine Hilfe für den Mann? Jeder „schreybt und schreyet“ – so Luther –, dass dem gar nicht so sei. WA 18,410. Wolgast, Hochstift (wie Anm. 20), 30. Luthers Vorstellungen fallen in eine erste Phase seiner Überlegungen zum Verhältnis von geistlicher Funktion und weltlichem Amt in der Person des Bischofs. In dieser fordert Luther – exemplarisch in der Leisniger Kastenordnung von 1523 – eine personale Säkularisation oder den Verzicht auf den weltlichen Besitz, sofern das geistliche Amt beibehalten bliebe; ebd., 31. Ab Ende der 1520er Jahre stellte sich Luther eher eine Trennung der weltlichen Herrschaft der Bischöfe von einer Art disziplinarischer geistlicher Oberaufsicht vor, die durch evangelische Vikare auszuüben sei. Als sich Anfang der 1540er Jahre auch auf Reichsgebiet die Möglichkeit evangelischer Hochstifte ergab (Naumburg 1541/42), rückte Luther von seinen ursprünglichen Säkularisierungsvorstellungen ab, „um das geistliche Gut für kirchliche Verwendung zu bewahren“; ebd., 35. Vgl. zum Themenkomplex: W. Ziegler, Die Entscheidung deutscher Länder für oder gegen Luther. Studien zu Reformation und Konfessionalisierung im 16. und 17. Jahrhundert. Gesammelte Aufsätze, Münster, 2008, 79 – 113; M. Heckel, Martin Luther, Reformation und das Recht. Die Entwicklung der Theologie Luthers und ihre Auswirkung auf das Recht unter den Rahmenbedingungen der Reichsreform und der Territorialbildung im Kampf mit Rom und den ‚Schwärmern‘, Tübingen, 2016.
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Da die Frau der Entfaltung des Mannes vermeintlich hinderlich sei, so Luthers Karikierung kirchlicher Normen, habe der Papst das Zölibatsgelübde eingeführt. Dadurch mache der Papst Gott zum Lügner. Entschieden polemisiert er: Was ist das anders denn Gott meystern? Was ist Gott meystern anders, denn uber gott faren. […] Was sollt solchem gelübd und keuscheyt glücks widderfaren, das on gottis wunder aus eygenem frevel so lesterlich wider gottis wort feret? Ist gottis wunder da, so ist das gelübd nicht von nöten. Ist gottis wunder nicht da, so ist das gelübd widder gott und lestert gottis wort und werck.³¹
Das kirchliche Argument, dass der Zölibat eine alte Übung der Kirche sei und durch die Kirchenlehrer gerechtfertigt, kommentiert Luther mit einem Ausruf: „Pfu, pfu, pfu unßer unaussprechlicher blindheyt, toll und unsynniger gotts lesterung!“³² Der Rekurs auf die kirchliche Tradition zieht bei Luther ja niemals.Von daher geht er auch mit der Vorstellung ins Gericht, die Kirche dürfe die in der Bibel grundgelegte Norm in Einzelfällen modifizieren oder aufheben. Da dies immer wieder auf den Konzilien geschehen sei, fährt Luther empört fort: Wer hat euch die macht geben, Gottis wort zu endern und auffzuheben und widder eyn zu setzen? Also soll man Gott zur schulen füren, und dem heyligen geyst die feddern streychen. Sage myr, wer hat yhe grewlicher grewel gehöret? und solchs sollen furgeben, die da seelen regiren wollen!³³
Luther gesteht zwar in dieser Schrift durchaus noch zu, dass Konzilien jene Dinge regeln könnten, die zeitliche Angelegenheiten oder Ungeklärtes betreffen, nicht aber Dinge, die so offen dalägen wie das göttliche Wort und der Wille Gottes. Im weiteren Gedankengang modifiziert Luther seine Argumentation. Gedanklich ist er bei dem Thema, dass das göttliche Gebot ganz offensichtlich und eindeutig ist. Dadurch sei es grundsätzlich unveränderlich. Er wendet diese Überzeugung auf einen gegenläufigen Gedankengang an, nämlich darauf, was wäre, wenn Konzilien vorschrieben, dass Geistliche verheiratet sein müssten. Auch bei dieser ihm inhaltlich plausiblen Möglichkeit lehnt Luther die Autorisierung durch Konzilien in dieser Frage ab: obs geschehe, das eyns, zwey, hundert, tausent und noch mehr Concilia beschlössen, das geystliche möchten ehlich werden, odder was mehr Gottis wort zuvor hat zu thun und zu lassen beschlossen, So wolt ich ehe durch die finger sehen und Gottis gnade vertrawen dem, der seyn leben lang eyne, zwo odder drey huren hette, denn dem, der eyn ehlich weyb neme nach solcher Concilia beschlus, und sonst ausser solchem beschlus keyns thürft nemen.
Es geht Luther immer darum, menschliche Regelungen in keinem Fall über göttliche Normen zu setzen. Lieber also mit Huren in Sünde zusammenleben als aufgrund
WA 12,234. WA 12,235. WA 12,236.
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kirchlicher Weisung sich zu verheiraten. Denn in der Nichtbeachtung des göttlichen Gebots sieht Luther eine Gotteslästerung.Verglichen mit dieser, so Luther weiter, seien Hurerei und Unkeuschheit, obgleich in sich große Sünden, kleinere Vergehen. Nu stehet dise sache also: Wer eyn ehe weyb aus krafft menschlicher satzung oder nach der Concilia schlus, und sonst nicht, neme, so er doch zuvor Gottis beschlus und wort datzu hat, der veracht gottis wort ynn seynem hertzen und leufft mit füssen druber, denn er hebt menschen uber Gott, und vertrawet mehr menschen wort und leren, denn gottis wort und leren, damit handelt er stracks widder den glawben und verleucket gott selber, und setzt an seyne stat menschen zu Abgöttern.³⁴
Schließlich ermutigt Luther all jene Geistlichen, die heiraten wollen, sich ganz auf das Wort Gottes zu verlassen und hieraus Mut und Sicherheit für den Schritt ins Eheleben zu nehmen: Darumb wilcher geystlicher will ehlich werden, der soll gottis wort fur sich nemen, daselbs sich auff verlassen und ynn des selben namen freyen, unangesehen, ob Concilia fur odder hernach komen, und soll also sagen: Gott spricht Gene. 1. und 2. Ich sey eyn man und du eyn weyb, und sollen und müssen zu samen, uns zu mehren, das kan und soll uns niemand weren noch verpieten, und ist nicht unser macht anders geloben. Auff das wort wagen wyrs und thuns, nur zu trotz und zu wider allen Concilien, kirchen, allen menschen setzen, allen gelübden, gewonheytten, und was da widder seyn möcht oder yhe gewesen ist. Augen und oren zu, und nur gottis wort yns hertz gefasset! Und obs uns die Concilia und menschen hynfurt erleubten und zu liessen, so wollen wyr yhr urlaub nicht haben, und umb yhrs zulassens willen nichts widder thun noch lassen.³⁵
Neben dem Rekurs auf Gen 2 begründet Luther die biblische Fundierung der Eheschließung auch aus dem Gebot heraus, Vater und Mutter zu ehren. Hieraus ergebe sich, dass es vor Gott keinen höheren Stand, kein höheres Amt, Wesen oder Werk gebe als den Ehestand. Aus diesem gingen Kinder hervor, die dann ihrerseits dem 4. Gebot des Dekalogs Genüge leisten könnten. Ein abschließender Aufruf wendet sich nochmals an die Mitglieder des Deutschen Ordens: Sehet, itzt ist die angeneme zeyt, itzt ist der selige tag. Gotts wort leucht und rüfft, Ursach und rawm habt yhr gnug zu folgen, auch zeytlichs guts halben, so dringet die nott der gewissen und teglicher sunde ym krancken fleysch, So zwinget das unmüglich wesen, das nerrisch gelobd ist, So taug der geystlich stand und orden an yhm selbs gar nichts, So ist auf keyn Concilion zu harren noch auffzuschieben, weyl es Gottis wort heyst und foddert, So ist auch nicht zuverzihen und auff anderer exempel zu sehen, sondern yhr sollet, und eyn iglicher, die erste ban brechen […] Alle ding dringen, zwingen, locken und reytzen euch zu disser zeyt, und yhr daran Gott und seynem wort eyn grosse ehre thutt, datzu den schwachen gewissen eyn tröstlich beyspiel gibt, damit Gottis wort widder auff ynn den schwanck keme. Nichts ist, das euch hierynn hyndert, denn der
WA 12,237. WA 12,238.
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tollen wellt törichts urteyl, das sie sagen wird: ‚Ey, thun die Deutschen Herren das?‘ Aber weyl wyr wissen, das auch der wellt Fürst gerichtet ist, sollen wyr nicht zweyffeln, das auch solchs und alle ander urteyl der wellt fur Gott schon verdampt sind. Nur frisch und getrost hynan, Gott fur augen gesetzt ynn rechtem glawben, und der wellt mit yhrem rumpeln, scharren und polltern den rücken gekeret, nicht hören noch sehen, wie Sodoma und Gomorra hynder uns versincke odder wo sie bleyben!³⁶
Ebenso wie in seinem Gutachten an Hochmeister Albrecht argumentiert Luther auch in der „Deutschherren“-Schrift theologisch. Er greift hierbei Gedanken ein weiteres Mal auf, die er in seinen jüngsten Veröffentlichungen bereits kundgetan hatte.³⁷ Aus der Perspektive Luthers bot sich mit der Umwandlung des preußischen Ordenslandes eine einmalige Gelegenheit: Seine Anliegen wurden von katholischen Bischöfen (Georg von Polentz und Erhard von Queiß) aufgegriffen, die zudem ihre Territorialherrschaft im Stiftsgebiet aufgeben werden (Polentz 1525, Queiß 1527), um sich ganz den geistlichen Aufgaben zu widmen.³⁸ Luther ist beides wichtig: Zum einen impliziert die Rückkehr zum Evangelium den Verzicht auf die weltliche Herrschaft der Bischöfe. Zum anderen nutzt er die Kontaktaufnahme durch den Hochmeister zur erneuten Darlegung seiner Überzeugung, weshalb das Ordensleben, die Gelübde und die zölibatäre Lebensform nicht praktikabel bzw. gegen den göttlichen Willen sind. Damit war die geistliche Grundlage des Ordensstaates angegriffen, und Luther konnte sich eine politische Signalwirkung erhoffen. Dennoch: „Ihm kam es aber weniger auf die äußeren Gründe an, die für einen solchen Schritt [Verheiratung der Ordensritter] sprachen, als auf eine biblische Begründung der Ehe, die durch etwaige Konzilsbeschlüsse nicht außer Kraft gesetzt worden war“.³⁹ Beide Schriften Luthers besaßen eine hohe legitimatorische Qualität für den Hochmeister. Diese wird sichtbar, wenn man die ihm hier zur Verfügung gestellten Argumente mit den Apologien vergleicht, mit denen er den Schritt von 1525 gegenüber der Reichsöffentlichkeit zu rechtfertigen suchte.⁴⁰ Albrecht und Luther standen auch nach dieser entscheidenden Zeit in regem Kontakt miteinander.Wie eng die Bindungen zwischen Albrecht und seinem „Bischof, Papst und Vater“⁴¹ werden sollten, zeigen neben konfessionspolitischen Maßnahmen und einem beständigen Briefverkehr auch familiäre Bezüge: Luthers Söhne wurden 1538 mit einer Büchersammlung durch Albrecht beschenkt. Sein ältester Sohn Hans
WA 12,244. Als Beispiele seien genannt: „Themata de Votis“ (1521); „De votis monasticis iudicium“ (hier auch mit einer Gegenüberstellung zwischen den Gelübden und dem 4. Gebot, Vater und Mutter zu ehren) (1521/22); „Wider den falsch genannten geistlichen stand des Papsts und der Bischöfe“ (1522); „Ordenung eyns gemeynen kastens, Radschlag, wie die geystlichen gutter zu handeln sind“ (1523); „Ursach und Antwort, daß Jungfrauen Klöster göttlich verlassen mögen“ (1523). Jähnig, Anfänge (wie Anm. 4), 26. Brecht, Martin Luther (wie Anm. 22), 84. Entsprechende Argumente aus Luthers Darlegungen finden sich vor allem in der „Christlichen Verantwortung“ (1526) und im „Libell“ von 1531; A. Bues, Die Apologien Herzog Albrechts, Wiesbaden, 2009, passim. Zit. nach Tschackert, Herzog Albrecht von Preußen (wie Anm. 14), 70.
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konnte mit einem herzoglichen Stipendium 1549 – 1551 in Königsberg studieren. Er verbrachte hier seinen Lebensabend und wurde in Königsberg begraben. Luthers Tochter Margarete heiratete 1555 den herzoglichen Rat Georg von Kunheim. Sie fand nach 1570 ihre letzte Ruhestätte in Mühlhausen, einem Dorf nahe Königsberg.⁴² Die enge Verbindung äußerte sich auch darin, dass Luther und Herzog Albrecht untereinander Lieder und Kompositionen austauschten.⁴³ In Albrecht hatte Luther also einen wichtigen Verbündeten gefunden.
5 Die Entwicklung im preußischen Ordensstaat Es ist unwahrscheinlich, dass die Veröffentlichung von Luthers Schrift mit dem Hochmeister abgesprochen war. Denn sie kam ihm aus den dargelegten Gründen politisch ungelegen. Eine wichtige Rolle spielte in dieser Phase der samländische Bischof Georg von Polentz. Erstmals predigte er an Weihnachten 1523 offen reformatorisch. Ohne direkten Bezug auf den Deutschen Orden formuliert er hier seine Ablehnung des Ordenslebens generell. Das Wort Gottes und das Evangelium seien in der Vergangenheit verdunkelt worden und man habe „Tant“ gepredigt. Hiervor müsse er warnen, damit die Gläubigen allein auf das wahrhaftige Wort Gottes hörten. Es folgt eine klare reformatorische Positionierung: Derhalben wol wir anders auff den rechten wegk widder kommen, vnd selig werden, so mussen nicht alleyn die scheynenden werck abfallen, sondern auch allis czuuorsicht, vnd vortrawen auff vnser gutte werck abfallen, […] Also das du alleyn durch den warhaftigen lebendigen glawben odder vortrawen in götliche barmherczikeit, durh Christum frumm vnd gerecht must werden, vnd sonst nicht anders […].⁴⁴
Polentz erwähnte ausdrücklich die Bedeutung der reformatorischen Predigt von Johannes Briesmann, der dadurch offiziell legitimiert wurde. Mit seiner Weihnachtspredigt setzte der Bischof ein politisches und reformationsgeschichtliches Signal. Dies wird kaum ohne Billigung Albrechts geschehen sein können. Damit bereitete Polentz ideell auch die Rückkehr des Hochmeisters vor. Den Zeitgenossen musste klar sein, dass sich Preußen politisch neu ausrichten werde und hierbei der Konfessionswechsel eine bedeutende Rolle spielen würde. Mit der frühen reformatorischen Entwicklung im Ordensland konnte Albrecht als Landesherr entlastet werden. Die verbleibende politische Unsicherheit wurde reduziert. Kurz nach dieser Predigt empfahl Polentz am 28. Januar 1524 in einem Reformationsmandat seinen Geistlichen die Lektüre von
Arnold, Luther (wie Anm. 4), 36 f. M. Brecht, Martin Luther, Bd. 3, Die Erhaltung der Kirche 1532 – 1546, Stuttgart, 1987, 246. Bischof Polentz, „Weihnachtspredigt 1523“, in: W. Hubatsch, Geschichte der evangelischen Kirche Ostpreussens, Bd. 3, Dokumente, Göttingen, 1968, 1– 9, hier: 7.
Keuschheit als Politikum
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Luthers Schriften.⁴⁵ Wenig später sprach er sich für Luthers deutsche Taufordnung aus. Erste evangelische Kirchenlieder scheinen bereits in dieser Zeit in Königsberg gesungen worden zu sein. „Damit war faktisch die Reformation eingeführt“.⁴⁶ Luther selbst erkannte die Bedeutung von Polentz’ Verordnungen und ließ sie in Wittenberg als Kampfschrift und Vorbild für andere Bischöfe sofort drucken.⁴⁷ Er bezeichnete Polentz als einzigen Bischof, der Christus die Ehre gebe und das Evangelium in Preußen verkünde.⁴⁸ Weitere reformatorische Verordnungen folgten. Widerstand in der Bevölkerung war nicht zu erwarten. Mit der Ordensherrschaft war man seit langem unzufrieden. Von daher konnten politische und religiöse Reformen mit Akzeptanz rechnen. Eine rote Linie wäre für Albrecht jedoch dann überschritten gewesen, wenn seine eigene Autorität und Macht gefährdet und in Frage gestellt worden wären. Ihm ging es um Machtsicherung, die er mittels der Reformation und der politischen Neuausrichtung Preußens erlangen konnte.⁴⁹ Noch vor seiner Rückkehr aus dem Reich verordnete Albrecht 1524 auch in den kleineren Städten die Einführung der reformatorischen Predigt.⁵⁰ Auch der Bischof von Pomesanien, das Teil des Deutschordensstaates war, Erhard von Queiß (um 1490 – 1525), formulierte Ende 1524 für sein Gebiet ein vollständiges Reformationsprogramm, das auch die Verheiratung von Mönchen und Nonnen erlaubte.⁵¹ Im Mai desselben Jahres fand eine zweite Begegnung zwischen dem Hochmeister und Luther in Wittenberg statt. Vermutlich ging es hierbei um profane Dinge, konkret um die Vermittlung in einer Schuldensache. Offensichtlich hatte sich mittlerweile ein Vertrauensverhältnis zwischen beiden eingestellt.⁵² Dennoch: Bis zum Sommer 1524 dementierte Albrecht offiziell seine Sympathien für die lutherischen Lehren.⁵³ Die politischen Veränderungen sind bekannt: Seit Anfang 1525 war das Scheitern der Unterstützungsgesuche Albrechts offensichtlich geworden. Unter dem Einfluss Osianders und wohl auch Luthers hatte sich der Hochmeister parallel zu seinen Verhandlungen zunehmend offen gezeigt für reformatorische Gedanken, denen er in
Polentz, „Reformationsmandat an die Geistlichen Samlands, 28. Januar 1524“; in: UB Preußen 2 (wie Anm. 8), Nr. 176, 49. Wolgast, Hochstift (wie Anm. 20), 199. Ebd. Vgl. ebd., 29. Vgl. Arnold, Luther (wie Anm. 4), 32: „Weil Albrecht weiterhin in Preußen regieren wollte, mußte er sich Polen unterwerfen und die Reformation mit ihrem religiösen Legitimationscharakter als Stütze seiner Herrschaft und Abwehr gegen seine ehemaligen Obergewalten einsetzen. […] doch war Albrecht vorher viel zu aktiv auf der politischen Ebene gewesen […], um sich nun plötzlich allein von religiösen Gefühlen leiten zu lassen. Keineswegs soll die Existenz tiefer Religiosität bei Albrecht geleugnet werden […]“ Albrecht an Polentz, 13. Juni 1524; UB Preußen 2 (wie Anm. 8), Nr. 230, 70. E. v. Queiß, „Reformationsprogramm für das Bistum Pomesanien, zum 1. Januar 1525“, in: UB Preußen 2, Nr. 300, 101– 103. Hubatsch, Geschichte (wie Anm. 9), 13. Flemmig, Friedrich der Weise (wie Anm. 11), 176.
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Jörg Seiler
Preußen freien Raum ließ. Dem Hochmeister musste klargeworden sein, dass ihm nur die Flucht nach vorn helfen konnte. Von daher nahm er nun direkte Verhandlungen mit Polen auf. Sie führten unmittelbar nach seiner Rückkehr aus dem Reich am 8. April 1525 zum Vertrag von Krakau. Dieser Friedensschluss sah die gegenseitige Rückerstattung der im „Reiterkrieg“ besetzten Gebiete vor. Albrecht leistete zwei Tage später gegenüber dem polnischen König den Lehnseid und wurde mit dem Herzogtum Preußen belehnt. Die preußischen Landstände erteilten dieser Säkularisation des Ordenslandes im Mai ihre Zustimmung.⁵⁴ Auch die wenigen im Ordensland verbliebenen Ordensritter schlossen sich diesem Schritt nahezu widerstandslos an.⁵⁵ Vorausgegangen war ein zweijähriger politischer Reifeprozess. „Als katholischer Hochmeister war er [Albrecht] 1522 ausgezogen, als lutherischer Herzog kehrte er 1525 zurück, in ein Territorium, in das die neue Lehre nicht ohne sein Zutun Einzug gehalten hatte“.⁵⁶ Für die Reformation war diese Umwandlung ein wichtiges politisches Signal. Denn trotz aller Sympathien für Luther waren erst relativ wenige, wenn auch bedeutende, Reichsstände 1525/26 offen der reformatorischen Bewegung beigetreten. Die meisten Reichsstände zeichneten sich durch eine „offensichtliche Nichtentscheidung […] für die eine oder andere der religiösen Streitparteien“ aus.⁵⁷ Georg von Polentz, dem ersten Bischof, der lutherisch wurde, war die Auslegung des Deuteronomiums gewidmet, die Luther 1525 vorlegte. In seinem Widmungsschreiben lobte der Reformator unmittelbar nach dem Unterwerfungsakt die Beharrlichkeit des samländischen Bischofs und stellte euphorisch fest: „Und siehe das Wunder: Nach Preußen eilt mit voller Geschwindigkeit und prallen Segeln das Evangelium, wohin es nicht gerufen wurde und wo man es nicht suchte. In Ober- und Niederdeutschland hingegen, wohin es kam, wird es mit aller Wucht und Boshaftigkeit geschmäht, zurückgewiesen und gemieden […]“.⁵⁸ Auch in seinem direkten Gratulationsschreiben an den Herzog Albrecht bemühte Luther die Vorstellung von einem Wunder: Das E.f.g. Gott der allmechtige so solchem stand [i. e.: Umwandlung der Ordenslandes in ein erbliches Herzogtum] genediglich vnd wunderlich geholffen hat, byn ich hoch erfrewet vnd wundsche furder, das der selbige barmhertzige Gott solch angefangenn güete an E.f.g. volfure zu seligem ende, auch des gantzen landes nutz und frumm, Amen.⁵⁹
UB Preußen 2 (wie Anm. 8), Nr. 354, 118 f. G. Vercamer, „Ein Hochmeister wird zum Herzog. Reaktionen und Schicksal der letzten Ordensbrüder in Preußen um das Jahr 1525“, in: Ordines militares 16, 2011, 213 – 239. Arnold, Luther (wie Anm. 4), 32 f. Ziegler, Entscheidung (wie Anm. 30), 40. Widmungsschreiben an Georg Polentz für die Vorlesung über das Deuteronomium 1523/24 (Deuteronomion Mosi cum annotationibus): „Et vide mirabilia: ad Prussiam pleno cursu plenisque velis currit Euangelion, quo non vocatur, ubi nec quaerebatur; in Germania vero superiore et inferiore, quo ultro venit et accessit, omni furore et infamia blasphematur, repellitur, fugatus“; WA 14,499. WA.B 3,513.
Kirsi Stjerna
Luther und Frauen Überlegungen zu Luthers Anhängerinnen und der biblische Beleg
Vorwort Martin Luther ist bekannt für seine Lehre einer aus dem Evangelium abgeleiteten christlichen Freiheit und Gleichheit aller in Christus. Durch seine Predigten gewann er Anhänger nah und fern, Männer wie Frauen, wie auch seine Schriften überall in Europa eifrig gelesen wurden, was Einzelne dazu ermunterte, mutige Entscheidungen zu treffen und mit einer neuen theologischen Orientierung voranzuschreiten. Das Programm seiner Reformation forderte die mittelalterliche katholische Kirche auf mehreren Ebenen heraus und versprach sogar eine soziale Reform, da er alle Bürger dazu aufrief, an einer Erneuerung des Reiches Gottes auf Erden teilzunehmen. Viele Veränderungen resultierten aus den Reformen, die aus Luthers Theologie hervortraten. Wie aber haben diese Veränderungen das Leben von Frauen beeinflusst und sich auf sie ausgewirkt? Die Worte „Luther und Frauen“ können Ausgangspunkt für verschiedenste Untersuchungen sein: Wie hat Luther durch seine Veröffentlichungen und Predigten das Leben von Frauen beeinflusst? Wie haben Frauen Luthers Theologie wahrgenommen, unterstützt oder kritisiert? Wie hat Luther mit den Frauen seiner Zeit interagiert – wer waren die Frauen in Luthers persönlichem Umfeld? Was hat Luther über Frauen und Gender gedacht, was sind seine Quellen und Einflüsse? Was sind unsere Quellen dazu? Wo überschneiden sich Frauen- und Genderstudien mit der Lutherforschung? Die Antworten auf diese Fragen sind vielfältig und unvollständig. Verschiedene, mehr oder weniger unergründete Forschungsfelder können genannt werden, die jeweils andere Quellen, Fragen und Methoden behandeln: Erstens die Frage nach dem „Persönlichen“: Was wissen wir über Luthers Beziehung zu Frauen seiner Zeit – in seiner Familie, unter Freunden und Gefährten? Seine Briefe eröffnen hierzu ein hilfreiches, bisher zu wenig erforschtes Feld. Zum Zweiten die Frage nach der „biblischen Hermeneutik“: Was sagt Luther über die biblischen Frauen? Was könnte er von ihnen gelernt haben, wie hat er sie in seine Bibelauslegung einbezogen? Seine Abhandlung über die alttestamentlichen Matriarchen – Eva, Sarah und andere – ist eine reiche Quelle über die biblischen Mütter im Glauben, und auch eine Studie über die menschliche Natur. Drittens die Frage nach der „theologischen Anthropologie“: Wie hat Luther über Frauen als menschliche Lebewesen geschrieben? Besonders seine
Übersetzung: Elise Eckardt.
https://doi.org/9783110498745-036
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Genesisvorlesung bietet Einsichten darüber, wie Luther geschlechtergerechte Realität verstand und wie diese sich in dem geschaffenen, gefallenen und erlösten menschlichen Leben manifestiert.Viertens die Frage nach dem „Politischen“: Wo sieht Luther den Platz der Frauen in seiner Zeit? Seine Abhandlungen und Predigten über die Ehe beleuchten seine Gedanken über die Faktoren, die den legalen Status oder die Arbeitsbedingungen von Frauen definieren. Als fünftes die Frage der „Gender- und Feminismusforschung“: Was können wir über aktuelle feministische Beiträge zu Luther sagen? Im Folgenden soll, nach einem kurzen Kommentar über die Frage nach Luthers Einfluss auf Frauen und die Quellen, Luthers Idee von Frauen im Licht seiner persönlichen Beziehungen und Korrespondenzen mit Frauen (der Schwerpunkt dieses Essays) diskutiert werden. Danach werden kurze Beobachtungen seiner exegetischen Arbeit mit Frauen der Bibel, und im Besonderen der Verknüpfung mit seiner theologischen Anthropologie, dargelegt.
1 Was können wir über Luthers Einfluss auf Frauen sagen? Die Frage nach Luthers Einfluss auf das Leben von Frauen würde seinen eigenen Platz verdienen. Um diese vielschichtige Frage akkurat zu beantworten, müssten die Belege innerhalb des größeren Kontexts der Studien über die Auswirkungen der Reformation und die Genderfaktoren bedacht werden. Die Komplexität der Frage zeigt sich in den Differenzen unter den allgemeinen Beurteilungen, die bisher gemacht wurden, und zumeist mehr das Erbe der Reformation im Allgemeinen als das spezifisch lutherische Erbe betreffen. Manche (wie zum Beispiel Steve Ozment) erachten den Einfluss Luthers und seiner Reformen auf das Leben von Frauen vorwiegend positiv, vor allem wegen seiner geschätzten Hervorhebung der neuerlich anerkannten Tugend der Ehe und der Berufung der Frauen innerhalb der Ehe und Mutterschaft, wie auch seiner beachtlichen Bemühungen, auch Mädchen eine allgemeine Bildung zu ermöglichen. Andere (wie zum Beispiel Heide Wunder) sind weniger beeindruckt von dieser offensichtlichen Domestikation von Frauen. Im Lichte der zahlreichen Einschränkungen für Frauen (so beispielsweise Merry Wiesner-Hanks), welche aus vielen der Reformen hervorgingen, zum Beispiel das Verwehren der Möglichkeit des Eintritts in ein Konvent, wäre es, in den Worten von Lyndal Roper, eine „tiefgreifende Missdeutung der Reformation selbst“, wenn das Erbe überwiegend als vorteilhaft für Frauen interpretiert würde.¹
Steven Ozment, Ancestors: The Loving Family in Old Europe Ancestors, Cambridge, MA, 2001, 38, 31– 32. Heide Wunder, Er ist die Sonn, sie ist der Mond. Frauen in der frühen Neuzeit, München, 1992; He Is the Sun, She Is the Moon. Women in Early Modern Germany, Cambridge, 1998. Lyndal Roper, The Holy Household: Women and Morals in Reformation Augsburg, Oxford, 1989, 1, 5.
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Wie wir über die Frage urteilen, ob es für Frauen eine Reformation gab und welche Gestalt diese annahm, hängt von vielen Faktoren ab, aber am deutlichsten davon, welche Frauen berücksichtigt werden und ob es die Erfahrungen von Männern oder Frauen sind, die als letztgültiges Kriterium dienen. Gerade die Frage nach den Frauen lädt zu einer notwendigen Überprüfung der Grundlagen und der Auswirkungen der protestantischen Reformation ein: Was war die gute Nachricht für Frauen?² Die Antworten bleiben mehrdeutig. Von einer Forschung, die Frauen im Zentrum platziert, kann ein Paradigmenwechsel erwartet werden. Feminismus- und Genderforscher haben in dieser wichtigen Angelegenheit Pionierarbeit geleistet.
2 Über die Quellen und die Fragestellungen Hauptwerke über Luther haben der facettenreichen Angelegenheit von Luther und Frauen, wenn überhaupt, nur sehr begrenzte Aufmerksamkeit gewidmet. Das überrascht, da „seine Gedanken über Frauen in jedem Genre seiner Arbeit erscheinen: in biblischen Kommentaren, Predigten, polemischen Traktaten, der Bibelübersetzung, Vorlesungen, Briefen und den Tischreden. Sie erscheinen in Latein und Deutsch“, seine launenhaften Tischreden eingeschlossen – schwerlich eine vertrauenswürdige Quelle seriöser Argumentation.³ Dieses Zögern ist im Lichte der Enthüllungen der Genderforschung nicht überraschend: Dem Thema wurde in der Lutherforschung, die bis vor kurzem ein von Männern dominiertes Feld blieb, keine wertvolle Perspektive beigemessen, was sich auch in der Wahl der Quellen, Methoden und gestellten Fragen wiederspiegelt. Das Aufkommen von Genderstudien und feministischer Wissenschaft verändert diese Situation langsam.⁴ Was die Quellen betrifft, können Luthers theologische Anthropologie und sein Blick auf Frauen auf der Basis seiner Theologie von Schöpfung und Fall am besten anhand der zum Ende seiner Karriere (und seines Lebens) gehaltenen Genesisvorlesung (1535 – 1545) studiert werden, besonders über Genesis Kapitel 1– 3.⁵ Stärker fragmentarische, aber essentielle Informationen können aus seiner biblischen Interpretation im Allgemeinen abgeleitet werden, welche in den Texten und Predigten aus Luthers Feder verfügbar sind. Spezifische Abhandlungen über die Ehe (welche in diesem Essay nicht diskutiert werden) bieten einen naheliegenden Fundus an Quel-
Siehe hierzu Kirsi Stjerna, „Conclusions and Observations on Gender and the Reformation“, in: dies., Women and the Reformation, Malden, MA, 2009, 213 – 222. Karant-Nunn und Wiesner-Hanks (Hg.), Luther on Women: A Source Book, Oxford, UK, 2003, 4 f. So beinhaltet z. B. der International Lutherkongress des Reformationsjubiläums 2017 in Wittenberg ein Seminar zum Thema „Luther über Frauen / Frauen über Luther“. Das Seminar ist verbunden mit der internationalen Arbeit des Global Lutheran Women’s Network, welches Luther aus interdisziplinären Perspektiven unter besonderer Berücksichtigung der Genderforschung untersucht. Die Genesisvorlesung, WA 42– 44.
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len. Nicht zuletzt bieten die persönlichen Briefe des Reformators anekdotisches Material und offenbaren zugleich seine Beziehungen zu damaligen Frauen.
3 Persönlich: Luthers Interaktion mit Frauen seiner Zeit 3.1 Luther und seine Mutter Unter den spätmittelalterlichen Theologen repräsentiert Luther eine neue Gattung: eine, die nicht abstrakt über Frauen schreibt, sondern tatsächlich mit Frauen lebt und sie liebt. Es ist nicht unbeachtlich, dass er Vater mehrerer Töchter war (Elisabeth, Magdalena, Margarethe), von denen er zwei bereits in jungen Jahren begraben musste. Das war für ihn und seine Frau eine Erfahrung, die ihren Glauben prägte, da sie für die beiden grenzenlose Liebe empfanden. Wir können vermuten, dass seine Mutter, Margarethe Luder, den ersten weiblichen Einfluss auf Luther ausübte, danach seine Schwestern. Von seiner Mutter oder seiner Beziehung zu ihr ist relativ wenig bekannt. Das meiste, das wir über Margarethe haben, stammt aus den Worten ihres Sohnes, und das ist nicht viel. Die womöglich bekannteste Erzählung, mehrfach in Luthers Biografie wiederholt, ist Luthers Erinnerung daran, dass Mutter ihn so hart disziplinierte, dass er blutete. Ebenso wird Margarethes Aberglaube erwähnt, der Ausdruck in ihrer Überzeugung findet, dass der Tod ihres Kindes von einer Hexe verursacht wurde. Hieran ist nichts Charakteristisches, aber es ist eine Erinnerung an die spätmittelalterliche religiöse Realität und daran, dass alle Kinder dem häuslichen Glauben ihrer Eltern ausgesetzt waren. Des Weiteren belegen anekdotische Sätze aus den Tischgesprächen und Luthers Briefe, dass die Art und Weise, wie Luther echte eheliche Beziehungen verstand, vom Aufwachsen in einem Haushalt herrührt, in dem die Mutter körperlich arbeitete, mit großer Autonomie und mit einem klar abgesteckten eigenen Verantwortungsbereich. Vielleicht eher indirekt als direkt beeinflussten die Beispiele seiner Eltern, zumindest bis zu einem gewissen Grad, seine Erwartungen an eine eheliche Beziehung und die Rolle der Frau im Haushalt. Es ist wertvoll, ohne Luther dabei post mortem zu psychoanalysieren, die Natur der Beziehung zwischen Luther und seiner Mutter zu durchdenken. Albrecht Classen schließt aus Luthers Korrespondenz die Annahme: „Mit Sicherheit können wir nur behaupten, dass Luther Respekt für sie empfand, dass er aber keine starke emotionale Sympathie zu ihr hegte.“ Ob die Beziehung liebevoll war oder nicht: Luther schrieb seiner Mutter kurz vor ihrem Tod und widmete seiner Mutter eine Arbeit („Meiner Lieben Mutter Margarethen Lutherin“, 1518). Ob es eine Spannung zwischen der Mutter und ihrem Sohn gab, vielleicht über die Entscheidung des Sohnes, dem monastischen Ruf zu folgen, „so gibt es nichtsdestotrotz genügend Schreiben an seine Mutter, welche
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die These stützen, dass die Beziehung zu ihr bedeutsam war im Blick auf Luthers Verständnis von Ehe und des anderen Geschlechts im Allgemeinen.“⁶
3.2 Luthers Ehefrau, Katharina von Bora Den bedeutendsten weiblichen Einfluss auf Luther übte seine eigene Frau, Katharina von Bora (1499 – 1522) aus, und mit ihr die gemeinsamen Töchter.⁷ Viel von diesem Einfluss kann impliziert werden, indem Schlüsse aus Luthers eigenen Worten an oder über seine Frau gezogen werden. Luther war nicht zurückhaltend darin, die ganze Welt wissen zu lassen, wie lieb ihm Katharina war. So lieb wie der Brief des Paulus an die Galater, sein Lieblingsbrief im Neuen Testament, „ist mein Keth von Bor“. Luther drückt spielerisch seinen Respekt und seine Zuneigung für seine „heiligste Frau Doktor“ aus und konnte Katharina nicht nur dafür danken, dass sie sein Schicksal eines verfolgten Mannes teilte, sondern auch für ihre exzellente Fürsorge in Fragen der Gesundheit, des Haushalts und der Finanzen, die Luther auf verschiedenen Ebenen nährte und ihn dazu befreite, „ganz Luther zu sein“.⁸ Katharina traf Luther zum ersten Mal, nachdem sie den Zisterzienserkonvent verlassen und Zuflucht in Wittenberg gesucht hatte. Davor hatte sie Luther durch seine Schriften kennengelernt, besonders durch seine Kritik am zölibatären Leben und der klösterlichen Berufung. Luther war der Grund, warum sie das Leben im Konvent verließ, und als Luthers Ehefrau gab sie sich selbst eine neue Berufung. In ihr sehen wir ein lebhaftes Beispiel einer zunächst persönlichen Reaktion auf Luthers Lehre seitens einer Frau, gefolgt, zweitens, von einer persönlichen Beziehung, und drittens, den daraus folgenden Einfluss auf den Reformer, sowie viertens das Beispiel einer Frau, die – wohl oder übel – zum Vorbild der „lutherischen Frau“ und der „idealen lutherischen Ehefrau“ wurde. Aus der adeligen Familie der von Boras wurde Katharina im Alter von fünf Jahren in den Konvent der benediktinischen Schwestern in Brehna übergeben. Nach dem Tod ihrer Mutter wurde sie nach Nimbschen geschickt, wo man sie mit 15 Jahren zur Nonne einkleidete, nachdem deutlich wurde, dass ihre Familie sie nicht zurücknehmen würde, besonders, nachdem ihr verarmter Vater erneut geheiratet hatte. Es gibt keine Belege dafür, dass Katharina während ihrer Zeit im Kloster unglücklich gewesen wäre, sie hat über diese Jahre nie schlecht gesprochen. Ihre Flucht ist jedoch der Beweis ihrer Entscheidung, eine andere Berufung zu finden, nachdem sie mit Luthers
Albrecht Classen und Tanya Amber Settle, „Women in Martin Luther’s Life and Theology“, in: German Studies Review, 14, 2, 1991, 231– 260, 242; siehe auch ebd., 238 – 242. Siehe Kirsi Stjerna, ‚Herr Doktor‘ Katharina von Bora, 1499 – 1552: The Lutheran Matriarch in Women and the Reformation, Malden, MA, 2009, 51– 70; Martin Treu, „Katharina von Bora, the Woman at Luther’s Side“, in: Lutheran Quarterly 13, 2, 157– 78. WA.TR 1,69 (Nr. 146); WA.B 11,291; auch WA.B 11,149, 276. Siehe Classen, „Women“, 245, 239.
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Schriften in Berührung kam. Ihre Entscheidung, das Kloster gemeinsam mit elf weiteren Schwestern zu verlassen, fiel bewusst. Luther steckte hinter dem Plan, die Schwestern mit dem Heringswagen des städtischen Händlers Leonard Koppe zu transportieren. Den Nonnen bei ihrer Flucht aus dem Kloster in dem von Herzog Georg regierten Gebiet Sachsens zu helfen, war für Koppe ein gefährliches Unterfangen, daher war Luthers Unterstützung maßgeblich. Dies ist ein beliebtes Beweisstück für Luthers Sorge um die vielen Frauen, die auf seine reformatorische Lehre reagierten. Luther war sich des zusätzlichen Risikos für die Frauen, und insbesondere der Frauen aus dem Konvent, bewusst, und er beteiligte sich an der Sicherstellung einer gefahrlosen Reise der Frauen. Katharina war eine der Wenigen aus der Gruppe, die schließlich in Wittenberg ankamen – andere kehrten zu ihren Familien zurück – und sie war die letzte der vormaligen Nonnen ohne einen Ehemann. Dieser Umstand erregte Luthers Besorgnis, und schließlich stimmte er der Heirat mit Katharina zu, mit Sicherheit zum einen, um dem Papst und dem Teufel zu trotzen, aber auch, um die Tugend der Ehe hervorzuheben und seine Eltern zu erfreuen, die nun Enkel erwarten durften. Luther hatte eigenen Angaben zufolge davor bereits ein Auge auf eine andere vormalige Nonne, Ave von Schönfeld, geworfen. Sein Antrag kam allerdings zu spät. Auf der anderen Seite verliebte sich Katharina in den jungen Studenten Hieronymus Baumgartner, der unter dem Druck der Familie die Beziehung löste und eine wohlhabendere, jüngere Frau heiratete. Es ist sicher, dass sie, während sie noch an Liebeskummer litt, nicht einfach nur um einer Heirat willen heiratete. Sie lebte zufrieden in Wittenberg, zum Beispiel bei der berühmten Cranach-Familie, und erlernte wichtige Fähigkeiten der Hauswirtschaft. Nachdem Luthers Kuppelversuche gescheitert waren, hatte er endlich seine bessere Hälfte gefunden. Was immer er zuvor abstrakt über Frauen gedacht hatte, sollte sich nun, in der Begegnung mit Katharina, einer Frau aus Fleisch und Blut, ändern. Katharina und Martin heirateten schließlich am 13. Juni 1525, in Anwesenheit einiger weniger Zeugen (Justus Jonas, Johannes Bugenhagen, Johan Apel, Barbara und Lucas Cranach), zwei Wochen später folgte eine größere Hochzeitsfeier in der Stadt. Die Heirat des Reformators wurde nicht mit Begeisterung aufgenommen, im Gegenteil. Es war nicht nur skandalös, dass ein Mönch und eine Nonne heirateten – vielen schien es besonders besorgniserregend und apokalyptisch, dass Martin Luther selbst so etwas tat. Auch die Wahl des Zeitpunktes war, angesichts des Blutvergießens der Bauernaufstände 1522, ungeschickt. In diesem Jahr schrieb Luther auch einen seiner bedeutenden Texte über den Unfreien Willen, als Antwort auf die Verteidigung der Willensfreiheit von Erasmus von Rotterdam. Luther sagte selbst, dass ihn seine ihm frisch anvertraute Braut sehr dazu drängte, diesen Text zu schreiben, welchen Luther selbst als einen seiner besten erachtete. Katharina war gut darauf vorbereitet, die Leitung von Luthers Haushalt zu übernehmen, einschließlich der Finanzen. Im Konvent wie auch im Haus der Cranachs hatte sie die notwendigen Fähigkeiten zur Leitung eines eigenständigen, florierenden Haushalts erlernt, Gartenarbeit, Fischen, Backen, Nutztiere und Obstgarten einge-
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schlossen. Sie hatte sogar die Lizenzen für eigenes Brunnenwasser und zum Bierbrauen erlangt. Katharina trug lebhaft zu Luthers leiblichem Wohlergehen bei: mit ihrer Küche, ihren Hausmitteln und ihrer Fürsorge hat Katharina vermutlich sogar Luthers Lebensspanne verlängert. Auf Grundlage Luthers eigener Worte, welche die Erfahrungen mit Katharina als Ehefrau, Mutter und unabhängiger Frau im Glauben reflektieren, hatte Katharinas Einfluss auf Luther mehrere Dimensionen: Zum einen beeindruckten ihn die an Katharina beobachtbaren Fähigkeiten und Expertisen in zahlreichen Gebieten, in denen er selbst kaum kompetent war (wie beispielsweise im Bereich der Finanzen). Es veränderte sich aber auch, wie er selbst eingestand, Luthers Sicht auf Gottes Liebe und Güte positiv aufgrund seiner Beobachtung Katharinas in ihrer mütterlichen Rolle. Darüber hinaus bereicherten Luthers Erfahrungen als Ehemann Katharinas seine Lehre von Ehe und Sexualität als Gabe und Segen Gottes. Sein positiver Blick auf die Sexualität zeugt von Liebe und einer respekt- und liebevollen Ehe, die er zuhause pflegte. Die liebevolle eheliche Beziehung erhellte sein Denken über Männlichkeit, Weiblichkeit und die geschlechtliche Beziehung. Luthers Liebe zu seiner Frau ist belegt und öffentlich dokumentiert in seinen Briefen. Luthers liebevolle Bezeichnungen sprechen von „meiner herzlieben Hausfrauen, Katharin Lutherin“. Er war nicht gewillt, seinen Schatz gegen irgendetwas einzutauschen, nicht einmal gegen Venedig oder Frankreich! Es ist offensichtlich, dass die Erfahrung ehelicher Liebe, eingeschlossen der körperlichen Intimität, notwendigerweise auch Luthers theologische Überlegungen zur Beziehung zwischen Mann und Frau sowie zur weiblichen Sexualität prägte. In diesem Zusammenhang steht die vielfältige Art und Weise, auf welche Luther seinen Respekt gegenüber seiner Frau ausdrückte, zum Beispiel, indem er einen Brief an Katharina mit den Worten „Ewer heiligkeit williger diener“ signierte.⁹ Dass Katharina nicht nur Martin Luthers Zuneigung, sondern auch den Respekt als ebenbürtiges Gegenüber gewann, zeigt, wie autonom die „reiche Frau aus Zulsdorf, Frau Doktor“ die gemeinsamen Haushaltsangelegenheiten organisierte. Ihre liebevolle eheliche Beziehung war mit einer unüblichen ehelichen Gleichheit verbunden, und eine klare Arbeitsaufteilung basierte auf den unterschiedlichen Arbeitsfeldern, die ein Mann und eine Frau in ihrer Berufung wahrnehmen würden. Luthers letzter Wille, Katharina zum Haupterben zu ernennen, ist ein signifikanter Beweis für Respekt und Vertrauen, die Luther für seine Frau aufbrachte, und für die Ebenbürtigkeit in der Beziehung. Daher überrascht es nicht, dass die sächsischen Anwälte die Vollstreckung des lutherschen Testaments verhindern wollten, doch am Ende erlangte Katharina als Luthers Witwe, unter der sogenannten Vormundschaft Melanchthons, bedeutende Autonomie. Die Tatsache, dass Luther seine Frau mit den finanziellen Angelegenheiten und der Kontrolle über den Haushalt betraute, ist eines der bedeutendsten Indizien für
WA.B 6,270; WA.B 11,297, 300; WA.TR 1,17 (Nr. 49). Ebenso Classen, „Women“, 245 – 246.
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Luthers Haltung gegenüber Frauen und seiner Befürwortung einer gleichberechtigten Beziehung zwischen Frauen und Männern, Ehemänner inbegriffen. Hierin war Luther seiner Zeit voraus. Dieser Auszug aus seiner persönlichen Geschichte muss bedacht werden, wenn Luthers abstraktere Vorstellungen von Frauen und seine zahlreichen, zeitweise widersprüchlich scheinenden, Worte zu diesem Thema beurteilt werden. Man könnte sagen, dass die Grundlage oder die Bilanz seiner Ansichten über Frauen in seiner häuslichen, gleichwertigen Beziehung zu seiner geliebten Katharina zu finden ist. Katharinas Autonomie im gemeinsamen Haushalt reicht in Fragen des Glaubens und der Theologie hinein, was bemerkenswert ist für das Verständnis der Gedanken Luthers zur theologischen Eignung von Frauen: Die Tischreden und Briefe geben einen Einblick in Luthers und Katharinas Beschäftigung mit theologischen und spirituellen Fragen.Wir wissen zum Beispiel, dass Luther seine Frau dazu anhielt, die Bibel zu lesen (wofür er sie sogar bezahlte), während sie daran interessiert war, die Bibel zu „leben“, und dass die beiden über die korrekte Auslegung einiger Bibelstellen debattierten (zum Beispiel Abrahams und Isaaks Opfer). Offensichtlich war Katharina eine meinungsstarke Frau, die ebenfalls theologisch sprachfähig war. Es gibt keinen Beweis dafür, dass Luther je versucht hat, sie zum Schweigen zu bringen oder ihre Ansichten abwies, ganz im Gegenteil. Luthers Briefe illustrieren, dass das Paar im Privaten eine Bandbreite an Themen diskutierte; theologische Fragestellungen gehörten zu ihren Konversationen. (Ein tragisches Beispiel sind Luthers letzte Briefe aus Eisleben, seiner Geburtsstadt, die er kurz vor seinem Tod verfasste. In diesen Briefen sinniert Luther über das Schicksal der Juden und darüber, was er in der Frage ihrer Vertreibung getan hatte und hätte tun sollen, was zeigt, dass das Paar die antijüdische Gesinnung teilte.)¹⁰ Die Belege, dass Luther nicht nur den Intellekt seiner Frau respektierte und ihr einen Platz am theologischen Tisch einräumte, nicht nur um Essen, sondern um eine Stimme beizutragen, sowie seine zärtlichen Kommentare über Katharinas Glauben und ihren Lernprozess („besser als jener der Papisten“) sind wichtige Informationsstücke im Puzzle über Luthers Wahrnehmung von Frauen. Es stellt sich die Frage, ob er zwischen seiner eigenen Frau und anderen Frauen eine Unterscheidung vornahm. Stellte seine Frau eine Ausnahme für ihn dar? Darüber wissen wir nichts, aber wir können aus seiner respektvollen Einstellung gegenüber seiner Frau auf die Tiefe seiner Anerkennung weiblicher Kapazitäten und Fähigkeiten in allen vorstellbaren Bereichen schließen. Wie Albrecht Classen sagt: „Ihre Intelligenz, Kompetenz, Hingabe und Beharrlichkeit machten sie zu einem wesentlichen Teil seines Lebens, und erhöhten in seinen Augen sicherlich ihren Wert, wie auch den Wert der Frauen im Allgemeinen.“¹¹ Gleichzeitig hatte Luther von häuslicher Seite keinen WA.B 11,275 – 276; LW 50,290 – 292 und WA.B 11,286 – 287; LW 50,301– 304. Classen, „Women“, 247. „Katharina, wenngleich sie als Person ursprünglich nicht von tiefgreifender Bedeutung für Luther war, wurde zu einer der wichtigsten Personen, und mit Sicherheit zur einflussreichsten Frau, in seinem Leben“ (Ivi.)
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Anreiz, den Grund für eine weibliche Berufung mit öffentlicher Stimme zu artikulieren, vom Kanzelrecht ganz zu schweigen, da die häusliche Berufung – mit weitreichenden Pflichten – seine Frau vollkommen erfüllte und sie nicht nach einer Erweiterung ihrer „ehefraulichen Berufung“ außerhalb der Haushalts verlangte. Daraus ergibt sich eine interessante Fragestellung: Wie hat Luther sich auf Frauen bezogen, die genau das taten, die theologisch in der Öffentlichkeit auftraten, sowohl mündlich als auch schriftlich? Für die Bearbeitung dieser Fragestellung stehen einschlägige Briefe zur Verfügung.
3.3 Luthers weibliche Freundinnen und Anhängerinnen Neben den unmittelbaren Familienmitgliedern waren auch andere Frauen in Luthers Leben involviert. Sein Haushalt wurde oft von Frauen besucht: Manch eine Ehefrau oder Witwe besuchte oder verweilte in seinem Haus. Eine der berühmtesten war Elisabeth, Herzogin von Brandenburg und Ehefrau von Kurfürst Joachim I., während ihres Exils. Sie bemühte sich darum, ihren Ehemann und ihre Söhne zu einer Anerkennung der Confessio Augustana in ihrem Land zu überzeugen.¹² Die Freunde der Familie, die Familien Jonas, Bugenhagen und Melanchthon, waren eng mit ihnen verbunden und konstant mit zumeist schwangeren oder stillenden Frauen im lutherischen Haushalt präsent. Da Luther regelmäßig in der Wittenberger Marienkirche predigte, schloss seine Zuhörerschaft auch Frauen ein, an die er häufig direkt Worte richtete. Außerhalb des Kirchenraumes suchten Frauen seinen Rat in einer Fülle von Angelegenheiten: Geburten, eheliche Beziehungen, Heirat, Familienangelegenheiten, Kummer aller Art und die Sorge um die Erlösung eines verstorbenen Kindes sind nur einige der Fälle, in denen Luther Seelsorge an Frauen übte und dabei großes Verständnis zeigte. Er äußerte sich negativ zu Hexerei und der Beteiligung von Frauen an Aktivitäten, die als solche in Verruf geraten konnten. Seine Texte zeugen von seinem breiten Erfahrungsschatz im Umgang mit Frauen unterschiedlicher Gesellschaftsschichten und einer Vielzahl an Themen, die das Leben von Frauen betreffen.¹³ Wir können also sagen, dass Luther sein Leben von Frauen umgeben gelebt hat. Zusätzlich hat er mit Frauen über Briefe kommuniziert. Er hatte Freundinnen und Anhängerinnen in anderen Regionen, Frauen, mit denen er korrespondierte. Es ist bemerkenswert, dass Luther mit zwei der meistpublizierten Frauen der Reformation dieser Tage in Korrespondenz stand, Argula von Grumbach aus Bayern und Katharina Schütz Zell aus Straßburg. Manche der Briefe Luthers an diese Frauen sind noch erhalten, während ihre Briefe an den Reformator verlorengegangen sind. Während es Stjerna, „Elizabeth von Brandenburg, 1485 – 1555, and Elisabeth von Braunschweig, 1510 – 1558 – Exiled Mothers, Reforming Rulers“, in: dies., Women, 87– 108. Wiesner-Hanks und Karant-Nunn, Luther, bieten eine breite und illustrative Selektion der Luthertexte, die verschiedene Themen im Hinblick auf Frauen ansprechen: Ehe, Mutterschaft, Sexualität, Geburt, Hexerei.
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keinen Beleg dafür gibt, dass die beiden Schriftstellerinnen miteinander korrespondierten, so waren sie doch beide in direktem Kontakt mit Luther. Dessen Umgang mit Frauen wird zwischen den Zeilen ersichtlich. Die Art, in der sich Luther zu diesen schreibenden Frauen verhielt, lässt ebenfalls Schlussfolgerungen darüber zu. Argula und Katharina repräsentierten die Möglichkeit, was die Reformation für Frauen hätte bedeuten können, welche die reformatorische Lehre als Einladung an Frauen begriffen, Lehr- und Leitungsfunktionen zu übernehmen. Die beiden Frauen blieben jedoch eine außerordentliche Ausnahme, denn nach dem ersten energischen Aufwallen der Reformationsbewegung und dem Genuss der Gleichheit unter den neuen Protestanten wurde die Kontrolle schnell wieder verstärkt, und die Ämter für Lehre und Predigt wurden als männliche Verantwortung institutionalisiert. Dennoch kann eine Analyse der Beziehung Luthers zu diesen beiden außergewöhnlichen, in der Öffentlichkeit stehenden Frauen erhellend sein.
3.4 Argula von Grumbach Argula (1492?–1563?/1568?), eine adelige Frau aus einer unterfränkischen Adelsfamilie, fällt als besondere Anhängerin und Freundin Luthers auf.¹⁴ Die beiden interagierten, trafen sich persönlich und standen in Korrespondenz. Die Mutter kleiner Kinder beriet Luther, beispielsweise über den Wert der Heirat, und gab später über Luther dessen Frau Informationen zum Stillen. Argula traf Luther in Coburg auf ihrem Weg zum Augsburger Reichstag (1530), und Luther lernte Argulas Sohn Georg kennen, als dieser später die Universität Wittenberg besuchte. Wenngleich Argulas Briefe an Luther verlorengegangen sind, bleiben Luthers Briefe an sie eine wichtige Informationsquelle über ihre Beziehung und über Luthers Einstellung zu einer Frau, die so gar nicht dem Schema folgte, das für protestantische Frauen vorgegeben wurde. Argulas Geschichte dient der Beurteilung sowohl des lutherischen Verständnisses von Frauen und ihren Rollen, wie auch seines Verhaltens gegenüber Frauen, die öffentlich eine theologische Stimme erhoben und ausübten. Sie ist ebenso eine zentrale Figur, wenn man nachvollziehen will, wie Frauen Luthers reformatorische Lehre aufnahmen, sich dazu verhielten und weiterentwickelten. Da sie im Kontext des katholischen Bayern und im Schatten der katholischen Universität Ingolstadt agierte, stach Argula als eine besonders mutige Frau heraus, eine Laiin, die sich für die Verteidigung des lutherischen Glaubens und der Lehre einsetzte und Luther für frei von aller Häresie erklärte – während sie sich selbst nicht als Lutheranerin, sondern als Christin bezeichnete. Sie hatte ihre eigene Interpretation des protestantischen Glaubens und dessen Auswir-
Stjerna, Argula von Grumbach, 1492 to 1563?68? – A Bavarian Apologist and a Pamphleteer in dies. Women, S. 71– 85. Paul Matheson (hg.), Argula von Grumbach: A Woman’s Voice in the Reformation, Edinburgh, 1995.
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kungen auf das Leben. Dass Luther nur Bewunderung für Argula zum Ausdruck brachte, ist ein wertvoller Bezugspunkt für die Frage nach Luther und den Frauen. Der Anlass für Argulas zunehmende Beachtung war ihre leidenschaftliche Verteidigung eines Studenten, welcher der lutherischen Häresie angeklagt wurde. Arsacius Seehofer, ein Achtzehnjähriger, der aus Wittenberg mit Luthers und Melanchthons Texten im Gepäck zurückkehrte, wurde der Prozess gemacht, und er blickte der möglichen Todesstrafe entgegen. Argula begann eine Briefkampagne, in der sie die Verantwortlichen der Universität um schriftliche Belege für die Häresie oder das Fehlverhalten des Mannes – oder vielmehr Kindes, wie sie anmerkte – bat. Ihre Briefe an die Universität, an den Stadtrat und an Männer in hohen Positionen blieben ohne Antwort. Nur ein anonymes Gedicht eines Studenten und eine frauenfeindliche Predigt des Universitätsprofessors Hauer offenbarten den verursachten Aufruhr, wenngleich sie nie eine offizielle Antwort erhielt. Der junge Mann leistete Widerruf und wurde in ein Kloster geschickt, und Argula verließ die Szene, nachdem sie Strafen durch disziplinarische Maßnahmen gegen ihren (ersten) Ehemann und dessen Zorn gegen sie erlitt. Aus Argulas Schriften und Luthers Briefen ist ersichtlich, dass Argula von dem Reformator hoch angesehen wurde, der sie eine tapfere Nachfolgerin Christi nannte, die gegen die bayrischen Schweine kämpfte. Er war sich bewusst, dass Argula aufgrund seiner Lehre evangelisch geworden war und seine Theologie öffentlich verteidigte. Er bewunderte dies und blieb ihr gegenüber ausnahmslos anerkennend, sowohl privat, in Briefen, als auch dann, wenn er mit anderen über Argula diskutierte (zum Beispiel mit Georg Spalatin und Paul Speratus). Er äußerte keine Probleme mit ihrem Geschlecht, das heißt, dass er ihr Handeln nicht als außerhalb dessen, was für Frauen als schicklich angesehen wurde, verurteilte.¹⁵ Dennoch hat der Reformator nie öffentlich mit Argula verkehrt, nicht einmal, als er sich, in der Angelegenheit Seehofer, an die Universität Ingolstadt wandte.¹⁶ Die Bedeutung dieser Umstände ist mehrdeutig: Ob Luther daran scheiterte, Argulas theologischen Beitrag, den Beitrag einer Frau, gleichgestellt mit dem eines Mannes zu respektieren, oder ob er Abstand nahm von einem öffentlichen Umgang mit Argula, um diese zu schützen, bleibt spekulativ. Aber das Wissen darum, wie leicht es Luther fiel, seine Gegner niederzumachen oder die Protestanten, die seine Lehre der christlichen Freiheit zu weit trieben, zu züchtigen, und dennoch von keiner solchen Reaktion in Verbindung mit Argula zu hören, begründet die Annahme, dass Luther die Geschlechternormen seiner Zeit berücksichtigte und keinen Vorteil darin sah, sich
WA.B 3,235, 247, 241. Für andere Briefe Luthers siehe: WA.B 2,235; 5,392; 5,536. Classen schreibt: „In Argula haben wir eine der entschiedensten und vehementesten weiblichen Verteidigerinnen der Reformation. Sie sprach sich auch für die Rechte der Frauen in der Kirche aus und gefährdete dadurch den Großteil der Unterstützung, welche sie seitens Luther und seiner Anhänger hätte genießen können.“ Luther war es möglicherweise „unangenehm“, dass Argula eine solch „lautstarke und kampflustige“ Verteidigerin der Frauenrechte und der Reformation war („Women“, 250, 248).
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öffentlich auf die Teilnahme einer Frau an einer Situation zu beziehen, in der sie offenkundig nicht nur bereits ignoriert, sondern für die sie bereits Nachteile in Kauf nehmen musste. Dabei kannte Luther selbst den Preis am besten, der für Ungehorsam und einen Bruch mit den Normen bezahlt werden musste! Es ist bemerkenswert, dass Luther sein Betbuchlein, ein Gebetsbuch, Argula widmete. Mit oder ohne Luthers Unterstützung machten Argulas eigene Veröffentlichungen, ihre Briefe – mit einer Auflage von nahezu 29000 Exemplaren – sie in dieser Zeit zu einer der meistpublizierten Laienautoren in Deutschland, neben Katharina Schütz Zell. Sie war die bekannteste weibliche Verteidigerin Luthers und seiner Theologie, deren Schriften veröffentlicht wurden.
3.5 Katharina Schütz Zell Katharina Schütz Zell (1497– 1557) aus Straßburg, eine Pfarrersfrau mit der Berufung einer Kirchenmutter, korrespondierte ebenfalls mit Luther.¹⁷ Zusammen mit Argula zählt sie zu den vernehmbarsten und meistgelesen Frauen der Reformation, die auch zu Luthers persönlichen Anhängerinnen gehörte. In gewisser Weise verkörpert sie, was alle Frauen im Licht der lutherischen Prinzipien des Priestertums aller Gläubigen und des sola scriptura tun konnten, auch unter Berücksichtigung seiner zentralen Einsichten in die Bedeutung der christlichen Freiheit und des liebenden Dienstes am Nächsten. Katharina war nicht per se eine Anhängerin Luthers, dennoch wurde sie von seinen Schriften inspiriert. Früher hatte es sie zur Spiritualität hingezogen und sie kümmerte sich um die spirituellen Bedürfnisse anderer Frauen. Durch die Vermählung mit dem neuen protestantischen Prediger von Straßburg, Matthias Zell, sah sie einen neuen Weg ihrer Berufung: Sie schuf sich selbst das Amt einer Kirchenmutter, einer Gehilfin im kirchlichen Dienst, das auch den Dienst im Gefängnis, die Krankenund Armenfürsorge, das bewusste Eintreten für dringliche Aufgaben und die persönliche und schriftliche Seelsorge beinhaltete. Sie bemühte sich um Einheit zwischen den unterschiedlichen reformierten Parteien, da sie der Auffassung war, dass Mitgefühl und christliche Nächstenliebe die Lehrunterschiede aufhoben. Zusätzlich zu der Organisation ökumenischer Tischrunden zum Zweck theologischer Konversationen bot sie religiösen Flüchtlingen Unterschlupf. In ihrem Haus konnten sich alle versammeln oder verstecken: Lutheraner, Zwinglianer, Wiedertäufer, Schwenkfeldianer etc. Gemeinsam mit Argula zählt sie zu den meistveröffentlichten weiblichen Reformatoren. Ihr erstes Werk gründet sich auf die Verteidigung ihrer eigenen Hochzeit –
Siehe Kirsi Stjerna, „Katharina Schütz Zell, 1498 – 1562 – A Publishing Church Mother in Strasburg“, in: dies., Women, 109 – 131; Elsie McKee (Hg.), The Writings of a Protestant Reformer in SixteenthCentury Germany: Katharine Schütz Zell, Chicago, 2006.
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welche vom lokalen Bischof kritisiert worden war –, die Verteidigung der Priesterehe und der Ehe im Allgemeinen. Der resolute Text wurde einige Zeit zurückgehalten und ihr zweiter Text zuerst veröffentlicht: ein Trostbrief für die Frauen in Kentzingen. Deren Männer mussten während des Krieges aus ihrem Heimatort fliehen und waren in Straßburg gestrandet, und Katharina schrieb einen Brief an die zurückgebliebenen Ehefrauen, in dem Bestreben, jene in ihrem „abrahamsgleichen“ Glauben und ihrem auserwählten Status zu bestärken. Ihre Schriften veranschaulichen ihre fortlaufende Absicht, andere zum Bibelstudium und zur Teilhabe an der christlichen Verkündigung zu ermutigen. Indem sie beispielsweise ein Gesangbuch erstellte, versuchte sie, jeden zur Verkündigung des Evangeliums zu befähigen. Wenn man beachtet, wie sie die Grenzen der Laienautorität im Leben der Kirche verstand, kann behauptet werden, dass sie in diesem Unterfangen sogar über Luther hinausging. Sie nahm sich, wie Argula, das Prinzip des Priestertums aller Gläubigen zu Herzen und brachte sich selbst in verschiedenen Situation ein: Sie nahm an den ökumenischen Tischgesprächen teil – welche sie ebenfalls veranlassen und ausrichten ließ – und leitete und predigte am Ende ihres Leben sogar auf Beerdigungen. So vollzog sie beispielsweise das Begräbnis für einen verurteilten Häretiker. Höchst bemerkenswert ist es, dass sie als betagte und gebrechliche Witwe noch auf der Beerdigung ihres Ehemanns predigte, mit einer Predigt, die zur Veröffentlichung vorgesehen war. Diese skandalöse Handlung hätte zu ihrer Verhaftung geführt, wäre sie nicht zuvor gestorben. Wir wissen nichts über Luthers Reaktionen auf Katharinas radikale, Normen durchbrechende Aktivitäten. Wir können aus seinem Schweigen schließen, dass Luther sie nicht verurteilte, wohingegen er es öffentlich nicht duldete, wenn (andere) Frauen ähnliche Rollen einnahmen. Seine Briefe geben darüber Auskunft (1524, 1531). Er schreibt „der tugendsamsten frawen, der Mathes Zellin zu Straßburg, meiner freundlichen, lieben freundin“. Indem er Katharina als eine virtuose Frau und liebe Schwester in Christus bezeichnet, dankt Luther für die Gaben, die Katharina durch Gottes Gnade zuteilwurden. Luther preist Katharina dafür, die Gabe der Erkenntnis zu haben, und einen Ehemann, von dem sie das Gute lernen könne. Am wichtigsten ist: Luther wünscht Katharina anhaltende Gnade und Stärke, bis sie sich in Gottes Königreich treffen werden.¹⁸ Mit anderen Worten kann gesagt werden, dass Luther in Katharina einen verwandten Geist erkannte, eine Gleichgesinnte. Er bemerkte, wie sie von der Aufgeschlossenheit und Unterstützung ihres Mannes profitiert hatte – im Gegensatz zu Argula. Er erachtet Katharinas Arbeit als von Gott gesegnet, eine Arbeit, die sie – implizit – mit Luthers Segen weiterführen soll. In seiner Verbindung mit Katharina zeigt sich ein Luther, der ein Freund der Frauen ist und der, anders als die Theologen vor ihm, Frauen für den kirchlichen Dienst oder in theologischen Fragestellungen als kompetent erachtet.
Siehe WA.B 6,27.
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3.6 Andere Frauen Luther korrespondierte mit einigen anderen Frauen, denen er aus der Ferne als Seelsorger diente. Die Briefe beleuchten Luthers Überlegungen zu Geschlechternormen, Klassenkonflikten und Autoritätsfragen. Luther erachtete, allgemein gesprochen, Frauen ungeachtet ihres Geschlechts oder ihres sozialen Status als seiner ebenbürtig. Das zeigt sich darin, dass sein pastoraler Ton derselbe bleibt, egal ob er an eine Königin oder eine trauernde Mutter schreibt. Ein Beispiel: Egal ob er an Königin Maria von Ungarn schrieb (im September 1531) oder an die alte Amme seiner Kinder, Barbara Lisskirchen aus Freiberg, so schrieb Luther beiden Frauen in spirituellen Dingen auf Augenhöhe und teilte mit ihnen sein persönliches Ringen um vergleichbar Fragen. Luther schrieb mehrere Briefe an eine Frau namens Dorothea Jörger, welche die Universität und die höhere Schule durch Spenden unterstützt hatte. Luther dankt Dorothea affektreich als seiner besonderen Freundin in Christus. Später unterstützt er dieselbe Frau beim Verfassen ihres letzten Willens.¹⁹ Einige der anderen Frauen, denen Luther schrieb, sind Elisabeth Agricola, Äbtissin von Hervoldnin Westphalia, Frau Goritzin, Else von Kaniz (die Luther als Lehrerin für Mädchen nach Wittenberg eingeladen hatte, sie als „ehrbare und meisterhafte Jungfer… meine gute Freundin in Christus“ anredete und sie zum Vorbild für andere erklärte). Diese und andere überlieferte Briefe porträtieren einen Luther, der, ungeachtet der geerbten patriarchalen Ideologie, Frauen respektierte, und ihnen so begegnete, als seien sie seiner in geistlichen Anliegen gleichberechtigt. Seine konkreten Beziehungen zu Frauen haben seine theologischen Überlegungen zur geistlichen Gleichheit sicherlich inspiriert und erleichterten möglicherweise ein Voranschreiten seiner Gedanken.²⁰
4 Biblische Auslegungen Die Frage nach Luther und den Frauen schließt seine Abhandlungen über die weiblichen Charaktere der Bibel ein. Luther hatte über die biblischen Frauen einiges zu sagen, sogar so viel, dass er sich zeitweise zu widersprechen scheint. Die Hauptursache für diese Inkonsistenzen könnte in der Spannung zwischen seinem fortschrittlichen Geist und der Bibellektüre auf der einen Seite und der Geschlechter-
WA.B 6,194– 197; 407– 409, 546; 461– 462. Classen, „Women“, 245. „Wir bemerken die schwankende Art der lutherischen Herangehensweise an Frauen. Er behandelt sie ebenbürtig und fällt am Ende doch immer wieder zurück in sein traditionelles Konzept. Das Patriarchat bleibt die bestimmende Größe, auch wenn Luther erlaubte, dass sie von seinem eigenen Standpunkt im Angesicht gelehrter und intellektueller Frauen entlarvt wurde.“ ebd., 252.
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konstruktion seiner Zeit auf der anderen Seite liegen.²¹ Im Folgenden sollen nur einige wenige Beobachtungen besprochen werden. Allgemein gesprochen scheint es, dass Luther die Frauen der Bibel, auch die weniger auffälligen, mit positiver Aufmerksamkeit bedenkt. Ungleich seinen Zeitgenossen tendiert er dazu, die Frauen der Bibel als Beispiele des Glaubens zu betonen. Darin hebt er die Auslegungstradition auf und gibt häufig der niedrigsten Person einer Geschichte – oft eine Frau – eine neue Bedeutung. Dies ist besonders bei den alttestamentlichen Matriarchen der Fall, deren Geschichten Luther auf den Kopf stellt und die er als beispielhafte Glaubensmütter hervorhebt.²² Eine der bedeutsamsten Frauen der Bibel ist Maria. Luther hat Maria nicht unbedingt als spezielles Vorbild für Frauen seiner Zeit hervorgehoben, vielmehr steht sie in einer eigenen Kategorie für sich. So hat Luther zum Beispiel in seiner Predigt an Mariä Verkündigung (1532) Maria gesondert hervorgehoben: „Keine andere Frau auf der Erde hat solche Gnade von Gott erwiesen bekommen“. (nulla creatura habebit hanc gloriam, das sich got so nahe zu ihr mache)²³ Während er soteriologische Andeutungen machte, die Maria auf einer höheren Ebene als gewöhnliche Menschen darstellen, und er persönlich doch recht liebevoll bei ihrer Benennung als Gottesmutter Maria bleibt, verleiht Luther doch seiner Kritik der maßlosen Marienverehrung Ausdruck. Während er Maria als das höchste Vorbild in Glauben und Tugend erachtet, erhaben in Gehorsam und Demut, predigt Luther von Maria, der „zarten Mutter Christi“, als einer demütigen Lehrerin in Wort und Tat für den Rest der Menschheit.²⁴ Es ist bemerkenswert, dass Luther Maria nicht als ein besonderes Vorbild im Glauben oder im christlichen Leben für Frauen präsentiert, sondern für alle Menschen. Maria scheint, auch in ihrer hervorgehobenen Rolle als Gottesmutter, in Luthers Überlegungen ohne Geschlecht zu sein. Für Luther steht in Bezug auf Maria vielmehr die Frage darüber im Vordergrund, was Maria über Jesus und die Jesusnachfolge lehrt.²⁵ Siehe Mickey Leland Mattox, Defender of the Most Holy Matriarchs: Martin Luther’s Interpretation of the Women of Genesis in the Enarrationes in Genesis 1535 – 1545, Leiden/Boston, 2003. Karant-Nunn und Wiesner-Hanks, Luther, 58 – 87. Siehe Mattox, Defender, der schreibt: „Wie andere prämoderne Interpreten war auch Luther von den Frauen der Genesis fasziniert. Durch die Erzählung hindurch stellt er sich wiederholt ihre Gedankenwelt vor und spekuliert selbstbewusst darüber, was ihnen durch den Kopf ging, wenn sie mit Glauben und Treue kämpften.“ ebd., 4. WA 36,137 f. Siehe Karant-Nunn und Wiesner-Hanks, Luther, 32– 57. Luthers Kommentar von 1521 zum Magnifikat, Lukas 1,46 – 55, in LW 21,295 – 355. Siehe KarantNunn und Wiesner-Hanks, Luther, 45. Siehe auch z. B. seine Predigt über die Geburt Mariens. 8. September 1522, WA 10/III,312– 313. Sie handelt von der korrekten Ehrerbietung Mariens und wendet sich gegen eine unbiblische, exzessive Anbetung Mariens, welche Christus verletzt. Maria zu ehren bedeute vielmehr Gott, also Christus, durch sie zu verehren. Predigt über die Geburt Mariens (8. September 1522, WA 10/III,316; 325): „Darumb ere die muter gottes also ferne, das du auff ir nicht bleibest, sonder zu got tringest und do dein hertz auffsetzest und Christum nit auß dem mittel stellest“ … „Darum lass man sie in ir billichen ehr bleiben und halt sie fur gotes kind, ia fur gotes muter, lobe got in ir, als sie auch selbs gethon hat im Magnificat (…)“. Siehe Karant-Nunn und Wiesner-Hanks, Luther, 36, 37.
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Ebenso folgt Luther, die Genealogie Christi verfolgend, den Spuren der alttestamentlichen Matriarchen. Die Frauen des Alten Testaments sind Luther kostbar. Seine Genesisvorlesung enthält längere Abhandlungen über Sarah, Hagar, Rebekka und Tamar, und kürzere über Rahel, Lea, Dina und Potifars Frau. Mit ihnen, und im Besonderen auch mit der Erzählung von Schöpfung und Fall um Eva, erschließt Luther die Komplexität der menschlichen Natur, geschlechtlicher Beziehung und den Dynamiken und Konsequenzen der Sünde.²⁶ In seiner Auslegung der Geschichten biblischer Matriarchen widersprach er zumindest bis zu einem gewissen Grad der traditionellen Auslegung. Luther trug konsequent positive Zusammenfassungen der Handlungen und der Glaubensreisen der Matriarchen vor und stellte sie im größeren Kontext der Geschichte auf eine Stufe mit ihren Ehemännern.²⁷ Aus den mächtigen Frauen des Alten Testaments zieht Luther jedoch nicht den Schluss, dass Frauen ähnlich unverblümte oder öffentliche Rollen ergreifen sollen. Während er die Geschichten der biblischen Matriarchen auslegte, benutze Luther die Bekräftigung ihrer Geschichten nicht zur Autorisierung oder Stimulierung „ordinärer“ Frauen, in der Öffentlichkeit zu sprechen oder zu predigen. Er öffnete das Predigt- und Priesteramt nicht für Frauen, auch wenn er die hierarchischen Strukturen des Priesteramtes in der katholischen Kirche ernsthaft kritisierte. Diese Spannung zeigt sich auch in seiner Einschätzung der Rolle der Prophetie und der Qualifikationen des Predigens. Während er die „Prophetenfrauen“ der Bibel als Beispiele einer (im Prinzip) erweiterten Predigterlaubnis für alle in der neuen Existenz eines Priestertums aller Gläubigen anbringt, warnt Luther jedoch Frauen – beziehungsweise jeden, der nicht gründlich vorbereitet ist – direkt davor, diese Erlaubnis zu weit zu treiben. Er merkt an, dass es Zeiten gibt, in denen sogar Kinder, Schwachköpfe und Frauen zur Prophetie berufen seien, aber dies seien spezielle Zeiten.²⁸ Seiner Einschätzung nach bestand eine solche Notsituation in Wittenberg zu seiner Zeit nicht. In seiner Vorlesung wird entscheidend deutlich, dass der Heilige Geist durch Paulus angeordnet hat, dass Frauen in der Kirche still sein und nicht predigen sollen, gemäß 1 Tim 2,12. Frauen dürfen Amen sagen, singen und beten. Zuhause – und nur dort – dürfen sie sich gegenseitig über die Bibel unterrichten und trösten, je nach Begabung. Und ganz zentral: Zu Hause dürfen sie ihre Kinder unterrichten.
Z. B. mit Tamar in Gen 38, „Luther preist die Arbeit der verheirateten Matronen des Alten Testaments und besteht darauf, dass ihre Geschichten in der Bibel erzählt werden, um aufzuzeigen, dass Gott an ihren scheinbar unbedeutenden Leben Gefallen fand.“ (Mattox, Defender, 4 f.). Siehe Kirsi Stjerna, „Grief, Glory and Grace: Insights on Eve and Tamar in Luther’s Genesis Commentary“, in: Seminary Ridge Review, 6, 2, 2004, 19 – 35; Kris Kvam, „Equality in Eden? Gender Dynamics and Luther’s Lectures on the Creation of Adam and Eve“, in: Seminary Ridge Review, 6, 2, 2004, 5 – 18. Karant-Nunn und Wiesner-Hanks, Luther, 59, argumentieren, dass „Luther nicht deutlich mit den mittelalterlichen Kommentatoren oder seinen protestantischen Zeitgenossen brach, und doch zeigt er ein etwas weiteres Verständnis der aufkommenden Situationen, in denen die Stimme der Frauen gerechtfertigt sein könnte, als die meisten von ihnen.“
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Um dies weiter auszuführen: In Luthers Vorstellung können also vier Faktoren Frauen dazu berechtigen, geistliche Führungsrollen zu übernehmen, die sonst typischerweise Männern vorbehalten sind: 1. Wenn die Frau wahrhaftig von Gott berufen wird (was häufig den Ruf zu einer Widerlegung von Männern beinhaltet); 2. Wenn sie eine besondere Begabung dafür hat; 3. Wenn sie Witwe oder unverheiratet war (also nicht durch eine Gehorsamspflicht beschränkt); oder 4. Wenn ein Mann ihr die Autorität dafür gab und sie anleitete, (das heißt, wenn sich ihre Autorität von einem Mann ableiten ließ oder kein Mann der Aufgabe gewachsen war).²⁹ Biblische Belege brachten Luther zu einer Unterbrechung seines zögerlichen Umgangs mit einem weiblichen Verkündigungsamt in der Kirche. Als er zum Beispiel über Joel 2:28 predigte, berücksichtigte er folgenden Hinweis: 4 filiae erant omnes prophetae i. e. sciebant weissagen. Sic etiam mulier, puella possunt consolari, dicere verum verbum i. e. qui novit vere scripturam auslegen und deuten er homines torsten, leren, ut salventur, heist als weissagen, quanquam non praedicant ut ego, tamen mater sol filiam er familiam leren, quia habet verbum et dedit spiritum sanctum, ut intelligat.³⁰
Unter normalen Umständen waren Frauen jedoch nicht dazu angehalten, dies zu befolgen, sondern vielmehr, zu schweigen.³¹ Luthers Worte über Frauen und Prophetie müssen im Licht der Situation der prophetischen Bewegungen seiner Zeit gehört werden, welche die geordneten Bahnen anfochten, die Luther für eine Gestaltung der Wortverkündigung bevorzugte. Und nicht allein Luther: Während es in den frühen Phasen der Reformation eine Öffnung für Propheten (wie beispielsweise die Straßburger Propheten) und eine Laienverkündigung im Allgemeinen gab, nahm dies mit der Regulierung und Institutionalisierung der Reformation ab, da die Wortverkündigung reguliert wurde (siehe zum Beispiel die Ordnung, die in der lutherischen Confessio Augustana von 1530, Artikel 5 – 8, dargestellt ist). Mit dieser Regelung der Predigtaktivität verschwand das prophetische Amt der Frau, mit einigen Ausnahmen, und die Quellen lassen darauf schließen, dass Luther damit nicht unzufrieden war.
5 Theologische Anthropologie Luther teilte mit seinen mittelalterlichen Vorfahren die Neugier gegenüber Frauen, mit dem Unterschied, dass er nicht abstrakt über sie redete. Seine zweite Quelle über geschlechtliche Realitäten und Beziehungen sind die gewonnenen Erfahrungen innerhalb der eigenen Ehe, dem Familienleben und den Beziehungen zu weiblichen
Siehe Karant-Nunn und Wiesner-Hanks, Luther, 58. WA 34,482, Luthers Predigt über Joël 2,28 von 1531. WA 30/III,510 – 517: „Ein Brieff D. Mart. Luthers von den Schleichern und Winckelpredigern“ (1532). Siehe auch Karant-Nunn und Wiesner-Hanks, Luther, 62– 63.
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Freundinnen und Anhängerinnen. Die Bibel war für ihn die erste Quelle. Während Luther das Thema „Frauen“ in verschiedenen Predigten (zum Beispiel über die Genesis), exegetischen Arbeiten, Briefen und Abhandlungen aufnahm, stellt besonders seine späte Genesisvorlesung von 1535 – 1545 eine Goldgrube dar, in der seine eindeutigen Ansichten über Frauen und Geschlecht erforscht werden können, welche auf seiner exegetischen Arbeit und seinem theologischen Verständnis beruhen. Die Quellen deuten darauf hin, dass Luther ein instinktives Gespür für Geschlechterunterschiede besaß, welches von seinen konkreten Beziehungen mit Frauen und seiner Beobachtung der Frauen in seinem Umfeld unterstützt wurde. Er las seine Bibel mit einem unbedingten Interesse an dieser Fragestellung. Bei all seiner Aufmerksamkeit gegenüber den Nuancen im Bereich Geschlecht und Gender, machte er eine kurios untertreibende Aussage: Männer und Frauen „unterscheiden sich allein im Geschlecht“.³² Um die Bedeutungen dieses „allein“ zu bemessen, durchforscht Luther, der Bibelwissenschaftler, das Buch Genesis nach der Bedeutung von männlicher und weiblicher Existenz in Schöpfung und postlapsarischer Realität.³³ Die treibende Kraft seiner Überlegungen ist das Staunen angesichts des Mysteriums der göttlichen Schöpfung, das nirgendwo anders so deutlich wird wie in der Erschaffung der Frau und in ihren Fähigkeiten der Fortpflanzung. Letztere bieten einen fortwährenden Anreiz für Luthers Faszination über den weiblichen Körper, besonders im Blick auf die Mutterschaft.³⁴ Auf einer Linie mit der Lesart antiker Lehrer hinsichtlich derselben Bibellektüre erklärt Luther, dass die Erschaffung der Frau als von Adams Rippe beides, Ebenbürtigkeit und Unterschiedlichkeit, beinhaltet: Ebenbürtigkeit im Teilen des Fleisches und einen gewissen minderen Status (nicht eine mindere Beschaffenheit), da sie als zweites geschaffen wurde. Der separate Zeitpunkt der Erschaffung der Frau, für welchen es in der Genesis zwei leicht voneinander abweichende Angaben gibt – einmal findet die Erschaffung am selben Tag statt [Gen 1], einmal [Gen 2] findet die Erschaffung Evas zu einem späteren Zeitpunkt statt –, ist seit jeher genutzt worden, um die Hierarchie der Geschlechter zu begründen, und galt darum auch als natürliche Grundlage für den unterschiedlichen Status von Männern und Frauen in der Welt sowie für die Regelung ihrer Beziehungen, auch in der Kirche. Während er über Evas Erschaffung, die Reihenfolge der Ereignisse und ihre Folgen nachdenkt, richtet Luther seinen Blick in erster Linie auf das Wunder des Lebens an sich. Das Wunder der Geburt, deren Körperlichkeit und die körperlich schöpfende
Aus seiner Erklärung zu Gen 2,24: „Was immer der Mann zu Hause ist oder besitzt, ist und besitzt auch die Frau; sie unterscheiden sich nur im Geschlecht“. „Whatever the man is and has in the home, this the woman is and has; she differs only in sex.“ Zitiert nach The Annotated Luther, Bd. 6, Minneapolis, 2017, im Erscheinen. Siehe Kirsi Stjerna und Else Marie Wiberg Pedersen, „Introduction, Gen. 2:21– 24“, in: Euan Cameron (Hg.), The Annotated Luther: Interpretation of Scripture, Bd. 6, Minneapolis, 2017. Für Weiteres, s. Kapitel 6 zu Sexualität und Kapitel 5 zu Ehe und Familie in: Karant-Nunn und Wiesner-Hanks, Luther. S. auch Kapitel 3, „Motherhood“, in: Stjerna, Women.
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Rolle der Frauen darin erzeugt bei Luther eine positive Fassungslosigkeit und eine ausgelassene Begeisterung über Gottes geheimnisvolle Wege zum Ausdruck bringt. Frauen sind, durch Eva, grundsätzlich die Mütter allen Lebens. Dies ist für Luther eine tief theologische Einsicht, welche die feministische Forschung weiterentwickeln kann, sowohl hinsichtlich einer auf Eva ausgerichteten theologischen Anthropologie wie auch im Blick auf eine Theologie, sie sich an den Erfahrungen und Einsichten der Mutterschaft orientiert. Luthers Überlegungen zu Eva haben mit einem zweifachen Interesse zu tun: Was ist die Absicht bei der Schaffung eines „anderen“ Geschlechts, und was ist dessen Beziehung zum „ersten“ Geschlecht, dem Mann? Die Erschaffung Evas ist per se unterschieden von der Erschaffung Adams. Luther befasst sich damit, ob diese Tatsache eine Minderwertigkeit oder Ungleichheit impliziert. Er bestreitet im weitesten Sinne jede Form der Hierarchie zwischen Männern und Frauen in Gottes Schöpfung, während er gleichzeitig die unterschiedlichen Methoden ihrer Erschaffung wie auch ihre unterschiedlichen Berufungen bemerkt. Die Tatsache, dass Adam und Eva eine Rippe teilen, ist für Luther, in einer abschließenden Beurteilung, wichtiger, als die Reihenfolge der Schöpfung. Er schenkt auch der unmittelbaren Reaktion Adams auf seine neue Partnerin nähere Aufmerksamkeit: Adam weiß, wer Eva ist, ein Nest und eine Wohnung für Adam, so nimmt Luther an. Mit anderen Worten: Frauen und Männer sind, basierend auf den Schöpfungsberichten der Genesis, mit derselben Würde und Substanz geschaffen worden, während ihr Ziel und ihre Berufung in der unmittelbaren Dynamik zwischen den ersten Menschen gefunden werden sollte: Adam brauchte Eva für Gesellschaft und zur Vermehrung, und im Gegenzug würde Eva Adams immerwährende Liebe genießen.³⁵ Der Sündenfall änderte diese Situation. Die Beziehung zwischen Männern und Frauen wurde kompromittiert und war in der Folge angespannt. Die sexuelle Energie zwischen den beiden wurde, gegen Gottes Plan, zur Quelle von Scham, daher bedeckten die ersten Menschen ihre Nacktheit. Wichtiger noch: Die Dynamik zwischen Männern und Frauen änderte sich. Dadurch entstand eine Spannung, in der die „natürliche“ Hierarchie von Adam Schwerstarbeit verlangte. Für Frauen bedeutete der Sündenfall, so bedauert Luther, Schmerzen bei ihrer ruhmreichsten Aufgabe, dem Gebären, sowie den Verlust der gesegneten Möglichkeit, mehrere Kinder gleichzeitig zu bekommen. Offensichtlich ist Luthers Auslegung der biblischen Eva-Geschichten von seiner männlichen Perspektive geprägt. Ebenso offensichtlich sind seine Bemühungen darum, in die Situationen der Frauen einzusteigen und ihre Erfahrungen, wie er sie sich vorstellte, mit den besten Absichten zu interpretieren. Wenn er die Auswirkungen des Sündenfalls auf Frauen und deren Beziehung zu Männern beschrieb, regte Luther kaum neue Paradigmen an. Stattdessen gestaltet er
Siehe Stjerna, Grief. Auch, Kirsi Stjerna und Else Marie Wiberg Pedersen, Introduction, Genesis 2:21– 25, The Annotated Luther: The Interpretation of Scripture, Bd. 6, Minneapolis, 2017, erscheint in Kürze.
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die jahrhundertealte Erzählung in eine Erklärung des Status (quo) der Geschlechterbeziehung aus. In zwei Bereichen ist er jedoch unsicher: zum einen dann, wenn er über Frauen und die Sünde diskutiert, sei es eine biblische Frau oder eine zeitgemäße Situation. Er schlussfolgert die Sünde nicht aus einer angenommenen schwächeren Natur oder größeren Verletzlichkeit von Frauen, sondern scheint im Gegenteil sogar die Kreativität der Frauen zu genießen, mit ihrer gefallenen Natur und den oft ungerechten Umständen, in denen sie sich wiederfinden – Situationen, in denen (zumeist) Männer das Problem darstellen (beispielsweise im Fall von Tamar). Zum anderen führt ihn seine Annahme einer gleichwertigen, und doch unterschiedlichen Erschaffung der beiden Geschlechter, kombiniert mit seinem leidenschaftlichen Studium der alttestamentlichen Frauen, dazu, ein theologisches Bild der Töchter Evas zu zeichnen, dass deutlich weniger negativ ist als das Bild, das er geerbt hat. Seine Eva und deren Töchter sind mutige Vorbilder im Glauben, deren Leiblichkeit das größte Geheimnis beherbergt: Der Körper einer Frau kann Leben schenken, selbst Jesus. Diese Realität, die er von Frauen lernte, vergaß Luther nie.
Zusammenfassung Es macht einen Unterschied, welche der Texte Luthers in der Frage nach Frauen herangezogen werden. Seine wissenschaftlichen Vorlesungen unterscheiden sich in der Frage nach der Natur und der Berufung von Frauen von seinen Predigten. Dies kann als Beleg für Luthers Inkonsistenz in der Frauenfrage gesehen werden, es kann aber auch als Zeichen für die Komplexität des Themas und den ungeklärten Kontext befunden werden, in welchem er sich am Wendepunkt zwischen dem späten Mittelalter und den Horizonten der frühen Neuzeit befand. Der Reformator offenbarte gelegentlich ziemlich moderne Instinkte, eine Fülle an Informationen kam aus seinem eigenen Haus und von weiblichen Anhängerinnen. Er begegnet den Frauen der Bibel mit offenen Armen. Theologisch versprach er eine Inklusivität jenseits der Bekräftigung einer geistlichen Gleichheit von Männern und Frauen durch die Schöpfungsgeschichten. Gelegentlich übertrug er sogar weibliche Vorstellungen auf Gott. Er machte einen Schritt in eine Richtung, die wir als feministische Auslegung der biblischen Frauenerzählungen bezeichnen könnten, und nahm eine solche theologisch-anthropologische Analyse der menschlichen Natur und der Geschlechter vor, die zusammen, wenn sie angemessen erforscht werden, den Samen einer kraftvollen Theologie der Emanzipation säen könnten. Sowohl politisch als auch pragmatisch nimmt Luther jedoch außerhalb des eigenen Hauses und der persönlichen Beziehungen Abstand davon, die patriarchalen Parameter zu überwinden, welche seine Gesellschaft und auch die Kirche strukturierten. Die männliche Hierarchie wurde in Kirche und Theologie erhalten, und es ist festzustellen, dass den männlichen Anhängern Luthers größere Möglichkeiten und Freiheiten verfügbar waren als den Frauen, mit einer Ausnahme: der glorreichen Berufung zur Mutterschaft.
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Die Betonung der Heiligkeit der Mutterschaft hatte offensichtlich einen positiven Einfluss auf viele Frauen, die ihre Konvente verließen und sich häuslich niederließen, ohne mehr zu verlangen. Andere, wie Argula von Grumbach und Katharina Schütz Zell, bemerkten in Luthers Theologie den Samen einer Emanzipation, der sie dazu aufforderte, die (auch von Luther) bekräftigten Normen zu überwinden. Wie bereits gezeigt, hat Luther diese Möglichkeit nicht einseitig abgewiesen, im Gegenteil: Es scheint, dass im Fall Luther Theorie und Realität nicht immer ordentlich einander entsprachen. Eine tiefere und breitere Analyse darüber, wie Luther das Thema „Frauen“ in der Vielzahl seiner Texte und im Licht seines Kontexts behandelt hat, fehlt bis heute und ist notwendig, um Luthers wahrste Instinkte und Intentionen aufzudecken. Eine tiefgehende Arbeit zu diesem Thema benötigt die methodologischen Innovationen der feministischen Forschung, sowohl im exegetischen Bereich als auch in der historischen und systematischen Betrachtung. So prominent wie Frauen in Luthers letzter Vorlesung über die Genesis vorkommen, scheint dies ein höchst angemessener Ansatzpunkt zu sein, besonders im Blick auf das Reformationsjubiläum 2017 und dessen Aufforderung sowohl zu einer Kritik an der Tradition als auch zu einer visionären Fortsetzung des lutherischen Erbes. Luther kann schwerlich ohne „seine“ Frauen verstanden werden – ebenso wie Frauen heutzutage erwarten dürfen, von ihren kritischen und einfühlsamen Gesprächen mit Luther angenehm überrascht zu werden.
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Luther und die Juden 1 Judenschriften Eine mögliche Annäherung an dieses neuralgische Thema ist es, die sogenannten Judenschriften, also die fünf von Luther veröffentlichten Traktate, die sich ausdrücklich mit dem Thema Juden und Judentum beschäftigen, in den Blick zu nehmen: Daß Jesus Christus ein geborner Jude sei (1523); Wider die Sabbather an einen guten Freund (1538); Von den Juden und ihren Lügen (Januar 1543); Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi (März 1543);Von den letzten Worten Davids (August 1543). In diesen Veröffentlichungen wendet sich Luther nicht direkt an jüdische Leser, sondern schreibt vielmehr für eine christliche Leserschaft über die Juden. 1.1 Daß Jesus Christus ein geborner Jude sei gehörte zum Verbreitetsten, was Luther jemals schrieb. Der Traktat beginnt damit, dass Luther sich selbst gegen Vorwürfe verteidigt, die ihm auf dem Nürnberger Reichstag (1522) gemacht wurden, dass er die Jungfräulichkeit Marias geleugnet hätte und somit implizit die Gottheit Christi. Diese falschen Anschuldigungen waren ein Versuch, Luther als Verfechter üblicher jüdischtheologischer Behauptungen gegen das Christentum darzustellen. Nachdem Luther die Vorwürfe gegen ihn widerlegt hatte, setzte er fort, indem er eine Art Anleitung entwickelte, wie mit den Juden, in der Hoffnung, sie zu bekehren, umzugehen sei. Die vorgeschlagene Strategie für eine solche Bekehrung umfasst ein zweistufiges Verfahren: Zunächst sollten die Juden nicht nur toleriert, sondern auch freundlich behandelt werden; dann sollte den Juden beigebracht werden, die Schrift (d. h. das Alte Testament) richtig auszulegen. Luthers Strategie beinhaltet zugleich einen Frontalangriff auf die päpstliche Kirche und ihr Vertrauen auf die oft aufgezwungene Taufe von Juden sowie auf ihr Versagen darin, jüdische Konvertiten richtig zu katechisieren. Es ist bemerkenswert, dass der Traktat jeglichen Verweis auf jüdische Verhärtung oder Sturheit vermissen lässt, sondern dass die Juden vielmehr durchweg als Opfer entmenschlichender Behandlung und gescheiterter Katechese durch Christen dargestellt werden. Der irenische Ton des Traktats führte in Verbindung mit seiner klaren Unterstützung der öffentlichen Duldung von Juden etliche von Luthers Zeitgenossen, sowohl Christen als auch Juden, dazu, ihn als Freund der Juden zu sehen. In seinen späteren, vehement antijüdischen Schriften würde Luther den Juden vorwerfen, seine früheren Absichten zu missbrauchen. Die Wurzeln dieser späteren Vehemenz sind jedoch schon in Daß Jesus Christus ein geborner Jude sei angelegt, weil der Traktat
Übersetzung: Lea Sophie Stolz.
https://doi.org/9783110498745-037
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durchgehend Kritik an der jüdischen Exegese christlicher Belegtexte im Alten Testament übt – genau denselben Belegtexten, auf die er später in seinen antijüdischen Schmähschriften zurückgreifen würde. 1.2 Der irenische Ton in dem Traktat von 1523 findet sich in den verbleibenden Judenschriften nicht. Nachdem er einen Bericht eines „guten Freundes“, des Grafen Wolfgang Schlick zu Falkenau, über „judaisierende“ Aktivitäten unter Christen in Mähren (z. B. Sabbatobservanz am siebten Tag; Beschneidung) erhalten hat, entwickelt Luther in Wider die Sabbather ein Argument aus der Schrift gegen jegliche jüdischen Ansprüche auf den christlichen Glauben und seine Ausübung. Es muss unterschieden werden zwischen dem, was in Mähren passiert sein könnte, und dem, wovon Luther dachte oder befürchtete, dass es geschah. Seine Eingangsbemerkungen zeichnen ein verwirrendes Bild, in dem das, was er sagt, sich nicht mit dem deckt, was über Samstags-Sabbatarier oder sabbatarische Bewegungen im 16. Jahrhundert bekannt ist. Luther schildert eher einen erfolgreichen, von jüdischer Seite auf Christen abzielenden Bekehrungsversuch. Während einzelne Übertritte von Christen zum Judentum nicht unbekannt waren, waren sie zu einer Zeit, als jüdische Bekehrungsversuche noch ein Kapitalverbrechen waren, extrem selten. So lassen sich Luthers Sabbatianer am besten verstehen als „a bogey man that grew out of the Christian fear that Jews would make proselytes of Christians“.¹ Insbesondere für Luther schloss diese Angst die Idee mit ein, Christen könnten sich durch die Arbeit christlicher Hebraisten mit dem Judentum infizieren. Anders formuliert ging Luther schlicht davon aus, dass Juden gewissermaßen für ‚judaisierende‘ Aktivitäten als solche verantwortlich seien. Verfasst zu einer Zeit (1536 – 1543) wechselnder politischer Kurse gegenüber den Juden, deren Rechte sowohl im Kurfürstentum Sachsen als auch im Kurfürstentum Hessen verändert wurden, beginnt Luther mit diesem Traktat, für eine einheitliche Politik gegenüber den Juden auf deutschen protestantischen Territorien zu werben, nämlich die der Vertreibung. Luthers polemisches Motto in diesem Traktat lautet „1500 Jahre“ (die ungefähre Dauer des fortwährenden römischen Exils der Juden zu Luthers Zeit), das sich etwa 26 Mal wiederholt. Er bedient sich dieser Polemik als empirischem Beweis dafür, dass Gott das „starrsinnige“ und ungehorsame jüdische Volk verworfen hat, das heißt, dass die Juden von Gott verlassen wurden und verlassen sind und nicht länger beanspruchen können, das Volk Gottes zu sein. Dieses Argument aus der Geschichte gehört zu denen, die Luther direkt von Nikolaus von Lyra (gestorben 1349) übernommen hat. Insgesamt stellt der Traktat Luthers Empfehlung für Christen, wie sie mit einem Juden diskutieren sollten, dar, und nimmt viel von Von den Juden und ihren Lügen vorweg, insbesondere was den Vorwurf der Lüge betrifft.
Thomas Kaufmann, „Luther and the Jews“, in: Dean Phillip Bell und Stephen G. Burnett (Hg.), Jews, Judaism, and the Reformation in Sixteenth-Century Germany, Leiden, 2006, 89.
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1.3 Die drei Traktate von 1543 lassen sich am besten als Einheit begreifen und bilden eine dreiteilige polemische Antwort Luthers auf die Herausforderung durch die christlichen Hebraisten, die seiner Ansicht nach immer mehr durch die jüdische Bibelinterpretation beeinflusst wurden. Von diesen dreien ist Von den Juden und ihren Lügen das erste und wichtigste Dokument, während die zwei folgenden Traktate als Anhänge zu diesem fungieren.² 1.4 Von den Juden und ihren Lügen ist im Allgemeinen die berüchtigtste Schrift Luthers – und das zu Recht. Im Herbst 1542 hörte Luther wieder von Schlick, der ihn informierte, dass Wider die Sabbather eine jüdische Antwort verursacht hatte. Besagte Antwort war vermutlich Sebastian Münsters Der Messias der Christen und der Juden, das einen Dialog zwischen einem Christen und einem Juden schildert, in dem der Christ daran scheitert, angemessen auf die jüdische Interpretation prophetischer Texte in Bezug auf den Messias im Alten Testament zu antworten.³ Wieder und wieder zeigt sich Luther in dem Traktat besorgt darüber, dass die Juden durch die ‚judaisierende‘ Interpretation christlicher Hebraisten in die Kirche vordringen. Doch hinter diesem bedeutenden Thema verbirgt sich ein weiterer Punkt, nämlich Luthers Anspruch, im Besitz neuen Wissens bezüglich der jüdischen „Blasphemie“ zu sein. Viel von diesem neuen Wissen stammte aus einer kürzlichen Lektüre von Der gantz judisch Glaub von Antonius Margaritha, einem jüdischen Konvertiten und Zeitgenossen Luthers. Aus diesem Buch lernte Luther viel über jüdische Rituale und Gebete, die anstößige Behauptungen über Jesus, seine Mutter und alle Christen enthielten – Behauptungen, die für Luther auf einer persönlichen Ebene äußerst beleidigend waren. Mit diesen beiden Fronten im Blick macht Luther seine öffentliche Position von vor 20 Jahren bezüglich der Duldung der Juden rückgängig, indem er nachdrücklich für die Vertreibung derer plädiert, die er nun als „unser plage, pestilentz und alles unglueck“⁴ bezeichnet. Abgesehen von einem Nachtrag gegen jüdische Messiaserwartungen besteht der Traktat aus drei großen Teilen: 1] jüdische Lügen über Lehren oder Glauben; 2] jüdische Lügen über Personen; 3] Luthers pathetischer Ratschlag, was mit den Juden zu tun sei. Indem er erklärt, dass seine frühere tolerante Haltung auf Unwissenheit über ihre tatsächlichen blasphemischen Praktiken beruhte, formuliert Luther seine neue politische Position, die darin besteht, dass die Juden vertrieben werden sollten. Seine
Vgl. Thomas Kaufmann, Luthers ‚Judenschriften‘: ein Beitrag zu ihrer historischen Kontextualisierung, Tübingen, 2011, 110 – 127; Stephen G. Burnett, „Jews and Luther/-Lutheranism“, in: Timothy J. Wengert et al. (Hg.), Dictionary of Luther and the Lutheran Traditions, Grand Rapids, MI, 2017. Vgl. Stephen G. Burnett, A Dialogue of the Deaf: Hebrew Pedagogy and Anti-Jewish Polemic in Sebastian Münster’s Messiahs of the Christians and the Jews (1529/39), Archiv für Reformationsgeschichte 91, 2000: 168 – 190. WA 53,528,29 – 30.
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bevorzugte Lösung war, dass die Juden dorthin gehen und dort leben sollten „da keine Christen sind“:⁵ Meins duenckens wils doch da hinaus, Soellen wir der Jueden lesterung rein bleiben und nicht teilhafftig werden, So muessen wir gescheiden sein, und sie aus unserm Lande vertrieben werden. Sie muegen gedencken in ir Vaterland, So duerffen sie nicht mehr fur Gott uber uns schreien und liegen, das wir sie gefangen halten, Wir auch nicht klagen, das sie uns mit irem lestern und wuchern beschweren. Dies ist der nehest und beste rat, der beide part in solchem fall sichert.⁶
Sollte eine Vertreibung für nicht vertretbar befunden werden, dann müssten die weltlichen Autoritäten in protestantischen Gebieten ermahnt werden, eine „scharfe Gnade“ gegenüber den Juden walten zu lassen, um sie davon abzuhalten, weiterhin Gott zu lästern. Luther gliedert diese scharfe Gnade in zwei Formen auf: Eine, die sich an die weltlichen Autoritäten und eine, die sich an Pfarrer und Prediger richtet (welche die weltlichen Autoritäten dazu anhalten sollen, ihre Arbeit zu tun). Fassung A: 1] Synagogen niederbrennen; 2] jüdische Häuser zerstören; 3] jüdische Gebetsbücher und talmudische Schriften konfiszieren; 4] Rabbinern verbieten zu lehren; 5] das sichere Geleit für Juden abschaffen; 6] Juden Zinswucher verbieten; 7] Juden zur körperlichen Arbeit zwingen. Fassung B: 1] Synagogen niederbrennen; 2] Gebetsbücher, talmudische Schriften und die Bibel konfiszieren; 3] jüdisches Gebet und jüdische Lehrtätigkeit verbieten; 4] Juden verbieten, den Namen Gottes in der Öffentlichkeit auszusprechen. Die unmissverständliche Absicht hinter diesen Vorschlägen war es, das religiöse und soziale Fundament jüdischen Lebens in deutschen protestantischen Gebieten zu zerstören, Juden auf einen sklavenähnlichen Status herabzusetzen und sie in der Folge aus eigenem Antrieb zum Gehen zu bewegen. 1.5 Der zweite Traktat von 1543, Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi, der am Ende von Von den Juden und ihren Lügen schon angekündigt worden war, erschien nur zwei Monate später. Er stellt eine erhebliche Erweiterung des kurzen Abschnitts über „Jüdische Lügen über Personen“ des vorhergehenden Traktats dar. Der erste Teil hatte einen doppelten Impetus. Der erste war Luthers Beschäftigung mit dem Toledot Jeshu, dem mittelalterlichen jüdischen Gegenentwurf des Lebens Jesu, das ihn als einen durch den unaussprechlichen Gottesnamen (also das Tetragramm) ermächtigten Zauberer darstellt. Luther übersetzt hier eine lateinische Version des Toledot Jeshu ins Deutsche, die ihm durch eine kurz zuvor veröffentlichte Arbeit des Kartäusermönchs Porchetus Salvaticus aus dem 14. Jahrhundert bekannt war. Der zweite stammte wieder von dem jüdischen Konvertiten Margaritha, von dem Luther über jüdische mystische Praktiken in Verbindung mit dem göttlichen Namen und ein als Gematrie⁷ bekanntes Deutungsverfahren erfahren hatte. Im zweiten Teil harmo-
WA 53,530,28. WA 53,538,7– 13. Deutungen auf Basis des Zahlenwerts von Wörtern und Phrasen.
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nisiert Luther die zwei Genealogien aus Mt 1 und Lk 3 und tritt so für die wahre Herkunft Jesu gegen die blasphemische Erzählung aus dem Toledot Jeshu ein.⁸ Der Traktat schließt mit strengen mahnenden Worten an die christlichen Hebraisten und Richtlinien für die korrekte Übersetzung prophetischer Texte der hebräischen Bibel. Der Ton des ersten Teils ist ausgesprochen rau und gespickt mit obszöner Sprache. Der gesamte Traktat wurde jüngst als „die wüsteste und sprachlich schmutzigste Schrift, die Luther je geschrieben hatte“⁹ bezeichnet. Luthers enge Mitarbeiter, Philipp Melanchthon, Justus Jonas und Andreas Osiander, äußerten allesamt in verschiedenem Ausmaß Unmut über das, was Luther geschrieben hatte, und das Dokument wurde auch von den Schweizer Reformatoren sowie den Katholiken scharf kritisiert. Von jüdischer Seite wurde die Angelegenheit von Joseph (Josel) von Rosheim, dem obersten Wortführer der Juden in Deutschland, aufgegriffen. In einem Brief an den Stadtrat der Stadt Straßburg, in dem er sich über den Traktat beschwerte, erklärte Josel: „Dor umb befrombt mich daß ein solcher glert man solchs in truck hot lossen kumen.“¹⁰ Luther hatte jedoch schon mit solcherlei Reaktionen auf seinen neuen Traktat gerechnet, wie aus seinem Gebet um göttliches Verständnis deutlich wird: Ach, mein Gott, Mein lieber Schoepffer und Vater, du wirst mir gnediglich zu gut halten, das ich (gar ungern) von deiner Goettlichen ewigen Maiestet so schendlich mus reden gegen deine verfluchte Feinde, Teuffel und Jueden. Du weisst, das ichs thu aus brunst meines glaubens und zu ehren deiner Goettlichen Maiestet, Denn es gehet mit durch leib und leben.¹¹
Aus Luthers eigener Perspektive war der Traktat seine Verteidigung des zweiten Gebots und des richtigen Gebrauchs des Gottesnamens gegen die Juden, wobei er gleichzeitig die Autorität der Rabbiner und ihren Einfluss auf die christlichen Hebraisten attackierte. 1.6 Der letzte der Traktate von 1543, Von den letzten Worten Davids, knüpfte dort an, wo der vorige Traktat aufgehört hatte, nämlich mit dem Problem der richtigen Übersetzung prophetischer Schlüsseltexte im Alten Testament. Luther war zu der Auffassung gelangt, 2 Sam 23,1– 7 sei eine zentrale christologische Passage im Alten Testament, und seine recht neuartige Behauptung war, dass König David in diesem Abschnitt nicht von sich selbst als dem Messias sprach, sondern vielmehr von dem kommenden Messias, an den er glaubte. Der Traktat wurde verfasst, um diese Ansicht sowie Luthers neue Übersetzung von 2 Sam 23,1 zu verteidigen, die diese spezielle Interpretation deutlicher machen sollte.
Vgl. Peter von der Osten-Sacken, Martin Luther und die Juden: Neu untersucht anhand von Anton Margarithas ‚Der gantz Jüdisch glaub‘ [1530/31], Stuttgart, 2002, 140. Thomas Kaufmann, Luthers Juden, Stuttgart, 2014, 134. Chava Fraenkel-Goldschmidt, The Historical Writings of Joseph of Rosheim: Leader of Jewry in Early Modern Germany, Adam Shear (Hg.), Naomi Schendowich (Übersetzung), Leiden, 2006, S. 404. WA 53,605,8 – 13.
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Luther macht sich in dem gesamten Traktat große Mühe, dort, wo das Alte Testament betroffen ist, seine interpretatorischen Prinzipien deutlichzumachen, wodurch der Traktat zu einer Verteidigung seiner alttestamentlichen Hermeneutik als solcher wird. Das bringt ihn direkt zu dem, was er über jüdische Bibelexegese weiß, und trägt zum antijüdischen Charakter des Ganzen bei. Für Luther konnte es keine echte gemeinsame Grundlage zwischen jüdischen und christlichen Lesarten des Alten Testaments geben, weil die neutestamentliche Theologie (also die Christologie) die hebräische Grammatik des Alten Testaments aufhebt – gerade und besonders auf der Ebene der Übersetzung. Weil Juden in der Theologie unwissend seien – dies sei der Fall, weil sie Christus und das Neue Testament ablehnen – müssten Christen extrem vorsichtig sein, jüdische Lesarten jeglicher alttestamentlicher Texte, die christologische Implikationen haben, zu verwenden. Immer wieder erklärt Luther, dass der geheime Schlüssel zur Schrift und ihrer Interpretation die Christusbotschaft sei. Also sei es die angemessene Rolle alttestamentlicher Wissenschaft, die Hebräische Bibel so zu übersetzen und auszulegen, dass sie dem Neuen Testament „entspreche“. So Luthers Zusammenfassung: Hie mit wil ich die Letzten wort Davids verdeudscht und ausgelegt haben, nach meinem eigen sinn. Gott gebe, das unser Theoligen getrost Ebreisch studirn, Und die Bibel uns wider heim holen von den mutwilligen dieben, und alles besser machen, denn ichs gemacht habe, Das ist, das sie den Rabinen sich nicht gefangen geben in jre gemarterte Grammatica und falsche auslegung, damit wir den lieben HERRN und Heiland hell und klar in der schrifft finden und erkennen.¹²
1.7 Eine Fokussierung auf diese fünf Traktate erzeugt bestimmte Einschätzungen, von denen die üblichste die ist, dass das Problem von ‚Luther und den Juden‘ ein Problem seines Spätwerks ist, während der frühe Luther im Hinblick auf die Juden und das Judentum durchaus anders eingestellt war. Die Idee ist, dass Luther sich selbst widersprach und dass deswegen diejenigen, die dieser Tradition folgen, die Freiheit haben, zwischen dem einen und dem anderen Luther auswählen zu können. Eine damit verbundene Behauptung ist, Luthers späte Schriften über die Juden hätten im Grunde nichts mit dem Kern seiner Theologie der Rechtfertigung allein aus Gnade zu tun und könnten deswegen in Diskussionen über seine zentralen theologischen Einsichten ausgeklammert werden. Es steht außer Frage, dass Luthers späte Schriften eine dramatische Steigerung an Feindlichkeit gegenüber den Juden aufweisen – besonders, was die umstrittene politische Frage von Duldung oder Vertreibung betrifft. Aber die Implikation, dass der frühere Luther ein wahrer Freund der Juden war oder dass er zu welcher Zeit auch immer das Judentum und die, die es praktizierten, theologisch positiv bewertete, kann der kritischen Analyse nicht standhalten.
WA 54,100,20 – 26.
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2 Ein weiterer Blickwinkel: der Jude im Denken Luthers 2.1 Obwohl Luther nur fünf Schriften verfasste, in denen Juden der zentrale Gegenstand sind, gehen Verweise und Anspielungen auf Juden, das Judentum, Israel, Synagogen und dergleichen in die Tausende. Diese Verweise umfassen seine gesamte Laufbahn und erscheinen in jeder literarischen Gattung, der er sich bediente. Wenn man Luther im Hinblick auf die ‚Judenfrage‘ liest, wird deutlich, dass die Juden kein nebensächliches oder vereinzelt vorkommendes Element in seinem Denken waren, sondern vielmehr ein zentraler Baustein in der Konstruktion seiner theologischen Weltsicht, und dass dies während seiner gesamten Laufbahn der Fall war, nicht nur am Ende. 2.2 Angesichts der Bedeutung der Juden in Luthers Schriften ist es jedoch ein wenig paradox, dass Juden in Wirklichkeit in keiner Weise Teil seines Alltags waren. Die Städte Erfurt und Wittenberg, in denen Luther sein Erwachsenenleben verbrachte, waren beide frei von Juden. Tatsächlich war, „die einzige Stadt, in der Luther gelebt hat und in der Juden geduldet waren, […] Eisleben [sein Geburtsort, Anmerkung B.S.], wo er [am Ende seines Lebens, Anmerkung B.S.] deren Austreibung betrieb. Eine ‚judenfreie‘ Stadt war in Luthers Lebenswelt also der ‚Normalfall‘.“¹³ Luther reiste gelegentlich in Gebiete, in denen jüdische Gemeinden fest dazugehörten, aber es gibt keine verlässliche Dokumentation von Kontakten zwischen ihm und Vertretern dieser Gemeinden. Es finden sich in Luthers Schriften mehrere Verweise auf exegetische Debatten mit drei (oder zwei) gebildeten Juden über die richtige christologische Interpretation des alttestamentlichen Texts; daraus hat sich die Vermutung entwickelt, dass Luther regelmäßig persönlichen Austausch mit Juden hatte. Aber alle diese Erwähnungen sind vermutlich Varianten einer einzigen Begegnung, die 1526 in Wittenberg stattfand – eine Begegnung, die eine äußerst negative Wirkung auf ihn hatte. Im Frühjahr 1537 erreichte Luther ein Brief des Straßburger Reformatoren Wolfgang Capito, der ihm im Namen von Josel von Rosheim schrieb, mit der Bitte, Luther solle ein Empfehlungsschreiben für Josel an den Kurfürsten Johann Friedrich verfassen. Josel wollte beim Kurfürsten Fürsprache in Bezug auf das im vorangegangenen Sommer verkündete Edikt, das Juden den Aufenthalt im Kurfürstentum Sachsen verwehrte, einlegen. Luther schrieb Josel direkt zurück; er lehnte die Bitte ab und behauptete, die Juden hätten seine frühere öffentliche Milde ihnen gegenüber missbraucht. Luthers eigene Kontakte mit oder Nachrichten bezüglich Juden stehen üblicherweise im Zusammenhang mit der Taufe von Juden. In einem Brief von 1530 an Heinrich Gnesius bot Luther seinen Rat an, wie die Taufe eines jüdischen Mädchens vonstat-
Kaufmann, Luthers ‚Judenschriften‘, 157.
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tengehen sollte, wobei er die Wichtigkeit betonte, den Glauben und die Absicht des Mädchens zu überprüfen. 1532 verkündete Luther seinen Zorn auf einen Juden, der in Wittenberg getauft worden war, dies aber nicht ernst genug nahm. Ebenso riet er seinem Freund Nikolaus von Amsdorf, die Taufe an einem Juden nicht zu vollziehen, was er ursprünglich geplant hatte, weil die Juden „Schurken“ seien. 1540 kam ein Jude namens Michael von Posen nach Wittenberg, um um die Taufe zu bitten; Luther erlaubte es, nachdem er sich der Aufrichtigkeit seiner Absichten vergewissert hatte. Die engste persönliche Kontaktperson scheint der getaufte Jude Bernhard, der frühere Rabbi Jacob Gipher aus Göppingen gewesen zu sein, der vor dem Sommer 1519 getauft worden war und dessen Sohn 1523 in Anwesenheit Luthers getauft wurde. Als Bernhard Wittenberg 1531 wegen finanzieller Schwierigkeiten verlassen musste, kümmerten sich sowohl Luther als auch Melanchthon einige Zeit um seine Kinder.¹⁴ Dass die tatsächliche Anwesenheit von Juden in Luthers eigenem Leben eine Besonderheit war, zeigt sich in einem Brief an seine Frau vom 7. Februar 1546 aus Eisleben, nur Tage vor seinem Tod. Dort schreibt Luther – mit einiger Verwunderung –, dass in der Stadt 50 Juden lebten und dass es im nahegelegenen Dorf Rissdorf ungefähr 400 Juden gebe, die dort lebten und arbeiteten. 2.3 In der Unterscheidung zwischen zwei Fragestellungen, einer theologischen und einer politischen, kommt man der Stellung der Juden und des Judentums in Luthers Denken, samt Nuancen in Kontinuität und Diskontinuität, Konsistenz und Widerspruch, deutlich näher. Was Luther auf der einen Seite über die Juden und das Judentum dachte, und was auf der anderen Seite mit den Juden Deutschlands geschehen sollte, deckt sich nicht. Bei der ersten zeigt Luther im Laufe seines Werdegangs eine prinzipielle Einheitlichkeit, aber mit einem deutlichen Anstieg von Abneigung in seinen späten Jahren. Bei der zweiten änderte Luther seine öffentliche Position dramatisch, von einer der Toleranz zu einer der Vertreibung, aber er hatte ernsthafte Gründe dafür im Sinn.
3 Was dachte Luther über die Juden und das Judentum? 3.1 Quellen. Luthers Wissen über das Judentum war beschränkt auf das, was er las, und diese Lektüre war dominiert von offen antijüdischen Traktaten, von denen manche von Christen, andere von jüdischen Konvertiten geschrieben wurden. Während Luthers akademischer Laufbahn wurden klassische jüdische Texte christlichen Gelehrten leichter zugänglich, aber, wie er selbst zugab, hatten seine Hebräisch- und Aramäischkenntnisse nicht das Niveau, um diese Texte eigenständig und systema Vgl. Martin Brecht, Martin Luther, übers. v. James L. Schaaf, Bd. 3, Minneapolis, MN, 1993, 335, 339 – 340.
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tisch bearbeiten zu können. Dadurch erhalten seine Schilderungen des Judentums und des jüdischen Denkens den Charakter von Halbwahrheiten und Karikaturen, obwohl Luther selbst eine solche Bewertung nicht zugestanden hätte. Wie dem auch sei, Luther war überzeugt, dass er mehr als genug über das Judentum wusste, um abschließende Urteile darüber zu fällen. In den späten 1530er Jahren, als er erstmals Margarithas Der gantz Jüdisch Glaub las, worin beträchtliche Teile der täglichen jüdischen Liturgie ins Deutsche übersetzt sind, fand er in diesen Gebeten die Bestätigung für sein bereits feststehendes unnachgiebiges Urteil über das jüdische religiöse Denken. 3.2 Bruch. Was die Juden betrifft, sah Luther einen völligen Bruch zwischen dem Judentum der biblischen und dem der nachbiblischen Zeit, das heißt zwischen dem Judentum des Alten Testaments und dem seiner Zeit. Für Luther wurde dieser Bruch durch das erdrückende ‚Nein‘ der Juden zu Jesus als dem Christus in neutestamentlicher Zeit herbeigeführt und seitdem durch dieses andauernde ‚Nein‘ aufrechterhalten. Wenige christliche Denker haben mehr unter diesem ‚Nein‘ gelitten als Luther. Während seines gesamten Schaffens rang er damit, eine plausible Erklärung zu finden, Rechenschaft darüber abzulegen, wie dies sein konnte. Wie die meisten vor ihm betrachtete er die römische Zerstörung Jerusalems und des Tempels 70 n.Chr. als das konsequente Urteil Gottes, das die Juden für die Kreuzigung Christi traf, und die ewige Exilierung der Juden, die zu Luthers Zeit schon fast 1500 Jahre dauerte, wurde für ihn zum endgültigen Beweis, dass Gott sie fallengelassen hatte und dass sie – offensichtlich – nicht mehr das Volk Gottes waren. In dieser Hinsicht ist es jedoch schwierig, nicht wahrzunehmen, wie erschrocken Luther selbst über das war, was er über jüdisches Leben in der europäischen Diaspora wusste. Heimatlos zu sein, immer anfällig für Verfolgung und Vertreibung, jeglichem klaren Wort Gottes im Hinblick auf das Ende des Exils zu ermangeln – all dies – verkörperte für Luther, was es bedeutet, unter dem Zorn Gottes zu leben. Es war undenkbar für ihn, dass die Verheißungen der biblischen Propheten für so lange Zeit unerfüllt hätten bleiben können, wie die Juden behaupteten, weil dies seinen fundamentalsten Überzeugungen vom Wesen Gottes widersprach. Luther glaubte zwar, dass Gott bisweilen sein eigenes Volk bestraft, sogar hart; der biblische Befund ist in dieser Hinsicht klar genug. Aber Luther wandte ein, dass Gott die Juden nicht so bestrafen könnte, wie sie tatsächlich bestraft wurden, wenn sie noch Gottes eigenes Volk wären. Die einzige haltbare Erklärung war für ihn, dass die Verheißungen der Propheten auf ein anderes Volk übergegangen waren, denn sonst wäre Gott ein Lügner. Für Luther war es unverständlich, wie die Juden den Grund für ihr elendes Exil von 1500 Jahren abstreiten konnten, besonders wenn das Zeugnis der Schrift für ihn so eindeutig war. Im Laufe seines Schaffens würde er zu dem Schluss kommen, dass die einzige Erklärung dafür war, dass sie von Gott an den Teufel übergeben worden waren. So war ihr Widerstand gegen das Evangelium und ihr Widerstand dagegen, den Grund für ihr Exil zuzugeben, vorsätzlich und unverzeihlich. Obwohl es nicht typisch für Luther war, führte diese konsequente Dämonisierung der Juden in seiner späteren
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Laufbahn dazu, unflätige Vorwürfe zu erheben und zu wiederholen, dass es zur Natur von Juden gehöre, Christen töten zu wollen. 3.3 Erwählung. Von allen theologischen Vorwürfen, die Luther den Juden machte, hatte der beharrlichste mit der Frage nach der Erwählung zu tun, also dem jüdischen Anspruch, auf Grundlage der direkten Abstammung von Abraham Gottes auserwähltes Volk zu sein. Luther gestand bereitwillig zu, dass die Juden tatsächlich Abrahams direkte Nachkommen waren, aber seine Behauptung war, dass sie das Wesen der Verheißung Gottes an Abraham durchweg missverstanden hatten. Für ihn war die Verheißung an Abrahams Samen in Wirklichkeit die Verheißung „des Samens“, das heißt, die Verheißung des kommenden Messias (Gen 3,15). Die direkte Nachkommenschaft Abrahams, die Juden, war zu alttestamentlicher Zeit Gottes auserwähltes Werkzeug, um Träger dieser Verheißung zu sein. Aber Abrahams wahre Nachkommen seien, selbst zu alttestamentlicher Zeit, immer diejenigen gewesen, die an die Messiasverheißung glaubten, und nicht diejenigen, die sich auf ihre direkte Abstammung verließen. Dies ist es, was Luther als den fundamentalen Irrtum und die Sünde der Juden betrachtet, die darauf vertrauen, dass sie in die Gnade hineingeboren seien, dass sie durch die Geburt an Gott gebunden seien und dass Gott ihnen deswegen sein Wohlwollen schulde. Für Luther stellt dieser vorgebliche Anspruch eine theologische Obszönität dar, weil die Gnade und das Wohlwollen Gottes nur im Glauben zugänglich sind und das niemals anders gewesen ist. Der jüdische Anspruch der Erwählung wird deswegen das Paradebeispiel dafür, was Luther mit „sich des Fleisches rühmen“ meint, und ist die Wurzel für sein Verständnis des Judentums als rein fleischlicher Religion, die nichts über das Geistige und Ewige weiß. Dieses „Rühmen“ der Juden bringt zwei Konsequenzen mit sich. Die erste ist das, was Luther als den uneingeschränkt exklusiven Charakter der jüdischen Erwählung versteht; er nimmt den Anspruch der Erwählung auf, um darin den Ausschluss und die endgültige Verdammung aller anderen Völker einzuschließen. Die zweite leitet sich aus der ersten ab: Wenn die Juden Erwählung – und damit Errettung – ausschließlich für sich selbst beanspruchten, dann seien sie per Definition Verächter der restlichen Menschheit und letztlich Menschenfeinde. Der misanthropische Charakter jüdischen Lebens und jüdischer Hoffnung bündelt sich für Luther in der jüdischen Messiaserwartung, die, wie er sie versteht, die messianische Vernichtung aller Heiden herbeisehnt, und eine solche Sehnsucht zeigt sich in der Liebe, die die Juden für das Buch Esther haben, ein Buch, das er verabscheute. Die Vorwürfe, die Luther über jüdische Feindseligkeit gegenüber der nicht-jüdischen Welt macht, waren nicht frei erfunden. Mindestens seit dem zwölften Jahrhundert hatte sich in europäischen jüdischen Kreisen eine streng antichristliche Literatur entwickelt, die sich über christliche Glaubensüberzeugungen lustig machte, christliche Exegese angriff und die Vernichtung der Feinde des jüdischen Volkes verlangte. Aspekte dieser antichristlichen Polemik (die niemals für eine Verbreitung außerhalb bestimmt war) waren zu Luther durchgedrungen, in erster Linie durch seine Lektüre von Porchetus und Margaritha, und er fühlte sich davon heftig angegriffen.
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Doch über diese Beleidigung hinaus, die er erfuhr, entwickelte Luther die Vorstellung, dass die extremsten antichristlichen Positionen, die Juden äußerten (in der Folge der Kreuzzüge, und nichts Geringerem) definitiv jüdisches Denken als solches darstellten – und dies ohne Berücksichtigung der zunehmend hoffnungslosen Lage, die zum Aufkommen dieser Art von abwehrender Literatur innerhalb der jüdischen Gemeinde überhaupt beigetragen hatte. 3.4 Jude als Jude. Wenn Luther den Juden als Juden thematisiert, sind die dominant durchdringenden Akzentsetzungen die des Archetyps und der Antithese. In seiner wegweisenden Untersuchung aus der Mitte des 20. Jahrhunderts spricht Maurer sich dafür aus, dass für Luther „der nachbiblische Jude […] der Archetyp des im Kampf gegen Gott stehenden Menschen“¹⁵ ist. Diese Einschätzung wurde jüngst von Kaufmann in seiner programmatischen Aussage, „the Jews represented for Luther the opposite of what it meant to be a Christian or what it ought to mean“¹⁶ untermauert. Der Jude als ein Archetyp der conditio humana Gott gegenüber und als antithetisch dem Christen und der christlichen Theologie gegenüber sind Vorannahmen Luthers eigener Theologie. Für ihn stellen die Juden das letztendliche menschliche Problem dar, das Christus und das Evangelium beheben sollten, und während seiner gesamten Laufbahn verkörperten die Juden und das Judentum die negative religiöse Norm, an der alle anderen negativen religiösen Phänomene letztlich gemessen wurden. Eine der immer wiederkehrenden Phrasen in Luthers Schriften ist „der Jude, der Papst und der Türke“, derer er sich bedient, wenn er sich auf die vorrangigen Feinde des Evangeliums bezieht. Die Häufigkeit dieser Phrase im Zusammenhang mit der Ähnlichkeit polemischer Sprache, die Luther verwendet, um alle drei Angehörigen dieser Gruppe anzugreifen, haben bisweilen die Forderung hervorgerufen, die Frage nach ‚Luther und den Juden‘ sollte nicht privilegiert werden. Es gibt jedoch gute Gründe dafür, dort, wo die Juden betroffen sind, von einer qualitativen Unterscheidung in Luthers Denken zu sprechen. Der erste davon ist schon angemerkt worden, nämlich die archetypische oder prototypische Rolle, die die Juden in Luthers Denken spielen. Zweitens betrachtet Luther die Juden als vorrangige Feinde des Evangeliums, deren Feindseligkeit nie aufgehört hat. Die damaligen Päpste und natürlich die Türken seien im Kampf gegen Christus und das Evangelium vergleichsweise Nachzügler. In Luthers Perspektive auf die Geschichte der Kirche hat das Evangelium in jeder Generation seine Todfeinde, und er entwickelte die Vorstellung, dass der Papst und der Türke in der Tat die letzten apokalyptischen Feinde seien, der Antichrist. Doch die Juden spielen dennoch eine entscheidende Rolle, weil sie und alleine sie den Charakter der ewigen Feinde des Evangeliums besitzen, eine Rolle, die sie nur mit dem Teufel selbst teilen. Wilhelm Maurer, „Die Zeit der Reformation“, in: Karl Heinrich Rengstorf und Siegfried von Kortzfleisch (Hg.), Kirche und Synagoge: Handbuch zur Geschichte von Christen und Juden: Darstellung mit Quellen, Bd. 1, Stuttgart, 1968, 379. Kaufmann, „Luther and the Jews“, 72.
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Drittens ist die Frage nach einer sozialen Verortung entscheidend. Luthers rhetorische Angriffe auf die Päpste erforderten wahren Mut, brachten sein Leben in Gefahr und resultierten in einer strengen geographischen Aufenthaltsbeschränkung für den Großteil seines Schaffens. „Der Türke“ hatte eine Armee und, obwohl die Bedrohung für Deutschland real war, blieb sie für Luther dennoch entfernt. Doch für die Juden Deutschlands und angrenzender Gebiete war Luther eine Gestalt von Macht. Sowohl durch seine Schriften als auch durch seinen persönlichen Einfluss auf deutsche Fürsten trug Luther dazu bei, das Leben seiner jüdischen Zeitgenossen unsicherer zu machen, und beeinflusste die Vorstellungen nachfolgender Generationen von Lutheranern in zahlreichen nachteiligen Weisen. Die Unsicherheit der sozialen Situation der Juden und Luthers Einfluss darauf sind nicht eben mit den beiden anderen Kategorien zu vergleichen. 3.5 Konversion. Im Lichte der oben beschriebenen herabwürdigenden Ansichten stellt sich die Frage, wie Luthers Traktat von 1523, Daß Jesus Christus ein geborner Jude sei, zu erklären ist, besonders vor dem Hintergrund, dass der Traktat eine offene Aufnahme in der jüdischen Gemeinde erfuhr, die Luther als potentielle Lichtgestalt religiöser Toleranz sah. Der Widerspruch ist jedoch nicht annährend so groß, wie er scheinen könnte. Zu keinem Zeitpunkt während seiner Laufbahn äußerte Luther jemals Hoffnung für den Juden als Juden. Er setzte das Judentum stets als tote Religion voraus und machte keinen Unterschied zwischen dem Judentum und denen, die es praktizierten, den Juden; was er über eines sagt, gilt auch für das andere. Was er in verschiedenen Abstufungen äußerte, war eine Hoffnung für den Juden, Christ zu werden. Die Formulierung „judenfreundlicher Luther“ hat nur in dem Ausmaß Bedeutung, als sie auf den Grad an Offenheit für oder Optimismus hinsichtlich des Übertritts von Juden zum Christentum verweist. Bereits in seinen Vorlesungen über den Römerbrief (1515 – 1516) äußerte er Skepsis über die traditionellen Lesarten von Röm 11, dass alle Juden am Ende der Zeit konvertieren würden, und am Ende seiner Laufbahn würde er diese Lesart gänzlich zurückweisen. In den frühen 1520er Jahren durchlebt er eine Zeit, in der er auf Grundlage der Vermutung, dass seine Neuentdeckung und Erläuterung des Evangeliums sich als attraktiv für Juden erweisen würde, einen bemerkenswerten Optimismus über die Aussicht des Übertritts mehrerer Juden äußert. Aber dieser Optimismus sollte von kurzer Dauer sein, und schon gegen Mitte der 1520er Jahre verschwindet er wieder und ist nie zurückgekehrt. Was an seiner Überzeugung im Großen und Ganzen gleichbleibt, ist, wie es am deutlichsten in seiner Auslegung des Magnificat (Juni 1521) zum Ausdruck gebracht wird, dass es unter Abrahams Nachkommenschaft immer Christen geben wird, wenngleich wenige, und dass Christen Juden deshalb, soweit dies möglich ist, freundlich behandeln sollten. 3.6 Luther und das Alte Testament. Der schiere Umfang von Luthers Arbeiten kann darin resultieren, das Herzstück seines Lebenswerks zu verschleiern, nämlich seine akademischen Vorlesungen über biblische Bücher und Teile dieser an der Universität Wittenberg. Während seiner 32-jährigen Laufbahn als Professor für Bibelwissen-
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schaften widmete er drei oder vier Jahre Vorlesungen zu Büchern des Neuen Testaments, doch die restlichen wurden ganz für das Alte Testament verwendet. Während so viel von dem, was Luther schrieb, von kirchlichen und politischen Umständen bestimmt war, stellen diese Vorlesungen über die Bibel seine eigene, freie Auswahl dar und verraten deshalb Entscheidendes darüber, wie gezielt sich seine theologische Orientierung auf das Alte Testament und seine Interpretation konzentrierte. Seine Beschäftigung mit dem Alten Testament beschränkte sich jedoch nicht auf den Hörsaal. Er hielt fast 180 Predigten über den Pentateuch und schrieb zahlreiche Kommentare oder Erklärungen über Psalmen und Psalmensammlungen. Und vermutlich am einschlägigsten war das Übersetzungsprojekt des Alten Testaments, das Luther und sein Gefolge von Übersetzern während zwölf Jahren (1523 – 1534) beschäftigte, und dann weiter bis zum Ende seines Lebens, weil die Übersetzung in der Folge überarbeitet wurde. In jeder Hinsicht standen das Alte Testament und seine richtige Interpretation im Zentrum von Luthers Denken. Aber das entscheidende Problem in dieser Hinsicht wurde von dem jüdischen Wissenschaftler Salo Baron vermerkt, der feststellte: „Luther’s lifetime preoccupation with the OT made him, on the whole, less rather than more friendly to contemporary Jews.“¹⁷ Warum dies der Fall war, ist verankert in der Art und Weise, wie Luther darauf beharrte, dass das Alte Testament von Christen gelesen werden sollte. Seine theologische Hochschätzung des Alten Testaments war eine Ableitung seiner Überzeugung, dass das Neue Testament und das Christentum nicht gekommen waren, um das Alte Testament zu ersetzen, sondern vielmehr, um es zu erfüllen. Diese Überzeugung brachte ihn auf unvermeidlichen Kollisionskurs mit jüdischen Lesarten des Texts. Was das Verhältnis zwischen dem Alten Testament und dem Judentum betrifft, sind drei Aspekte in Luthers Denken entscheidend. Möglicherweise ist der grundlegendste aller christlichen theologischen Ansprüche die der Messianität Jesu oder Jesu Christi. Luther sah es als selbstverständlich an, dass der im Neuen Testament verkündigte Christus derselbe ist wie der, der in zahlreichen Passagen im Alten Testament verheißen wird, aber er mühte sich darüber hinaus unermüdlich ab, zu zeigen, dass die Entsprechung zwischen dem Verheißenen und dem Verkündigten durch die richtige Auslegung alttestamentlicher Schlüsseltexte bewiesen werden könnte. Luther nahm die jüdischen Lesarten des Alten Testaments als echte Bedrohung wahr, und weil genau dies für ihn das grundlegendste aller theologischen Probleme war – dass Jesus der im Alten Testament verheißene Messias ist – musste es aufrechterhalten werden, sonst würde das gesamte Konstrukt zusammenstürzen. Aus Luthers Perspektive stellten die jüdischen Interpretationen nicht weniger als einen Angriff auf die eigentliche Grundlage des Christentums selbst dar. Luthers Härte gegenüber seinen christlichen Zeitgenossen, die sich jüdischer Lesarten des Alten Testaments bedienten, ist in diesem Lichte zu sehen. Er war überzeugt, dass diese christlichen Ausleger die Zerstörung der Grundlage des Christentums förderten und unterstützten.
Salo W. Baron, A Social and Religious History of the Jews, Bd. 13, New York, NY, 1969, 220.
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Zweitens verstand Luther das Alte Testament als christliches Buch und als integralen Bestandteil der zweiteiligen christlichen Bibel, die eine theologische Einheit bildete. Dies ermöglichte es ihm, von der Kirche als schon im Alten Testament gegenwärtig zu sprechen und auf bestimmte Figuren das Alten Testaments als Christen zu verweisen. Was die zwei Bände der christlichen Bibel verbindet, ist die Verheißung des kommenden Messias und der Glaube an diese Verheißung. Für Luther sind der Glaube des Alten Testaments und der Glaube des Neuen Testaments derselbe, und so ist das Kriterium, um zu bestimmen, wer das Volk Gottes ist und wer nicht, ebenfalls dasselbe. Die einzige wesentliche Unterscheidung ist, dass die Christen des Alten Testaments an den glaubten, der kommen würde, während die Christen des Neuen Testaments an den glauben, der gekommen ist. Luther kann sogar sagen, dass der Glaube des Alten Testaments dem Glauben des Neuen Testaments übergeordnet war, weil die Heiligen des Alten Testaments, entgegen allem Anschein, an eine reine Verheißung glaubten. So bedeutet es für Luther, wenn ein Jude zum Christentum übertritt, dass er oder sie eigentlich zum Glauben seiner oder ihrer Vorfahren zurückkehrt, das heißt zum Glauben des Alten Testaments. Dies wiederum steht im Einklang mit seinem allgemeineren Verständnis, dass das Neue Testament und das Christentum in theologischer Kontinuität zum Alten Testament stehen, während das rabbinische Judentum und rabbinische Texte einen vollkommenen theologischen Bruch dazu darstellen. Drittens ist die Aufmerksamkeit auf Luthers Gebrauch der alttestamentlichen Fluch- und Urteilssprache zu lenken. Abgesehen von den christologischen Belegtexten im strengen Sinn, sind es diese Bereiche, aus denen große Teile seiner antijüdischen Polemik herrühren. Das Alte Testament selbst betont stark die Untreue und den Ungehorsam des Alten Israel gegenüber Gott sowie die Verurteilung, die solches Verhalten mit sich zieht. Aber es betont auch, mittels eines Gegenarguments, Gottes ewige Liebe für und Treue gegenüber Israel. In seiner Betrachtung der alttestamentlichen Urteilssprache bemüht sich Luther darum, zu unterscheiden, welche Passagen für Israel in seinem früheren historischen Kontext gelten, und welche tatsächlich prophetisch sind und damit für Israel zur Zeit des Kommens Christi und darüber hinaus Gültigkeit besitzen. Wenn diese Unterscheidung einmal gemacht ist, dann kann alles, was in die zweite Kategorie fällt, gegen die Juden zur Verdammung für ihre Ablehnung von Jesus als Messias verwendet werden. 3.7 Rabbiner und christliche Hebraisten. Luthers Haltung gegenüber der Tradition jüdischer Bibelauslegung wurde zunehmend feindlich. Während seiner frühen bis mittleren Schaffenszeit dienten die Bibelkommentare Nikolaus von Lyras (gestorben 1349) sowie die Additiones zu Nikolaus von Lyra durch den jüdischen Konvertiten Paulus von Burgos (gestorben 1435) als sein primärer Zugang zu rabbinischer Gelehrsamkeit (besonders Rashi [gestorben 1105]). Der Wittenberger Gruppe von Übersetzern stand auch ein Exemplar der Zweiten Rabbinerbibel (1525) zur Verfügung, aber diese Quelle wurde nur selektiv und tendenziös genutzt. Während seiner späteren Laufbahn hatte Luther Zugang zu Sebastian Münsters zweisprachiger hebräisch-la-
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teinischer Bibelausgabe mit Anmerkungen (1534/1535), einer christlich hebraistischen Arbeit von immenser Gelehrsamkeit, die auf mittelalterliche jüdische Kommentare zurückgriff, die weder bei Nikolaus von Lyra noch in der Zweiten Rabbinerbibel gut vertreten waren, besonders Nachmanides (gestorben 1270). Schon Mitte der 1520er Jahre war Luther zu dem Schluss gekommen, dass die Rabbiner die zentrale treibende Kraft hinter dem andauernden jüdischen Widerstand gegen das Evangelium waren, und seine Genesisvorlesungen sind voll von Polemik gegen rabbinische Lesarten, mit denen er durch Münster in Kontakt kam. Seine konsequenteste Kritik an den Rabbinern ist, dass sie, wenngleich sie für Christen bisweilen hilfreich in Fragen der hebräischen Grammatik sind, nichts von Theologie verstehen: „Idaei non intelligunt biblia, quia rem non intelligunt.“¹⁸ Aus Luthers Perspektive manifestiert sich diese Unwissenheit in der Theologie dann in einer „Kreuzigung“ der Schrift vonseiten der Rabbiner. Für Luther ist die strenge logische Konsequenz aus der antirabbinischen Polemik die Torheit christlicher Exegeten, die sich selbst theologisch von den Rabbinern beeinflussen lassen. Das 16. Jahrhundert erlebte das Entstehen des christlichen Hebraismus, jener intellektuellen Bewegung innerhalb des Christentums, die nach Expertise nicht nur im biblischen Hebräisch, sondern auch im Hebräisch und Aramäisch der klassischen rabbinischen Quellen und in ihren Gedankensystemen sowie in den großen mittelalterlichen jüdischen Bibelkommentaren strebte und schlussendlich gewann. Luthers wissenschaftliche Laufbahn erstreckte sich über die Anfänge dieser Bewegung, und er selbst profitierte davon und trug zum Teil dazu bei. Doch wenn es um die theologische Interpretation der Schrift ging, nahm Luther eine streng antagonistische Haltung gegen den christlichen Gebrauch rabbinischer Quellen ein: „Zum andern Ist uns Christen verboten, bey verlust Goettlicher gnaden und ewigen lebens, der Rabinen verstand und glosen inn der Schrift zu gleuben oder fur recht zu halten.“¹⁹
4 Was sollte Luthers Meinung nach mit den Juden Deutschlands passieren? In den 1520er Jahren, zwischen Daß Jesus Christus ein geborner Jude sei und Von den Juden und ihren Lügen, wandelte sich Luther von einem öffentlichen Befürworter der Toleranz gegenüber den Juden zu einem gnadenlosen Agitator ihrer Vertreibung. Was war geschehen? In so angespannten wissenschaftlichen Debatten wie dieser sollten wir uns in erster Linie auf Luthers eigene Worte beschränken. Eine der frühtesten Aussagen Luthers über das Judentum seiner Zeit findet sich 1514 in einem Brief an Georg Spalatin, in dem er den Standpunkt äußert, dass jüdi WA.TR 5,212,25 – 26, (Nr. 5521). WA 53,644,30 – 32.
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sches „Fluchen“ und „Blasphemie“ gegenüber Gott und Christus prophetisch vorhergesagt sind und dass Menschen deswegen machtlos sind, dies zu stoppen. Auf dieser Grundlage argumentiert er im Zusammenhang der Reuchlin-Pfefferkorn-Affäre gegen die Konfiszierung und Verbrennung jüdischer Bücher. In der zweiten Vorlesung über die Psalmen (Operationes in Psalmos, 1519 – 1521) kritisiert er die Christen scharf für ihre Misshandlung und Verfolgung der Juden: „Quocirca damnabilis est furor quorundam Christianorum (si christianos oportet appellare), qui se in hoc arbitrantur obsequium deo praestare, si Iudaeos odiosissime persequantur, omne malum eis cogitent, ac eorum deploratis malis extrema superbia et contempt insultent.“²⁰ Ähnlich in seinem Traktat über das Magnificat (1521): „Darum solten wir die Juden nit so unfruntlich handeln, den es sind noch Christen unter yhn zukunfftig und teglich werden.“²¹ Und schließlich in Daß Jesus Christus ein geborner Jude sei (1523): „Wenn die Apostel, die auch Juden waren, also hetten mit uns Heyden gehandelt, wie wyr Heyden mit den Juden, es were nie keyn Christen unter den Heyden worden.“²² Noch 1530 in seinem Kommentar zu Psalm 82 verteidigt Luther die Duldung der Juden trotz ihrer bekannten „Blasphemie“ gegen Christus und seine Mutter, auf der Grundlage, dass jüdische „Blasphemie“ – im Gegensatz zu den Täufern – nicht öffentlich, sondern nur privat stattfinde. In den späten 1530er Jahren hatte Luther jedoch sowohl Margarithas Der gantz Jüdisch Glaub als auch Porchetus’ Übersetzung des Toledot Jeshu gelesen, und der Einfluss dieser Texte ist in Von den Juden und ihren Lügen und entsprechend in Vom Schem Hamphoras deutlich ersichtlich. Luthers berüchtigte Vorschläge werden direkt nach seiner Beschreibung der jüdischen „Blasphemien“ gegen Christus, seine Mutter und alle Christen aufgezählt, Beschreibungen, die fast wörtlich von Margaritha übernommen sind. In vollem Bewusstsein, dass ihm Wankelmütigkeit vorgeworfen werden würde, führte Luther dieses „neue Wissen“ dennoch zu der Überzeugung, dass seine Erklärung von 1523 ein schwerer Fehler gewesen war, und so wurde Von den Juden und ihren Lügen geschrieben, um die Sache richtig zu stellen – und dabei sein Gewissen rein zu waschen: Was wollen wir Christen nu thun mit diesem verworffen, verdampten Volck der Jueden? Zu leiden ists uns nicht, nach dem sie bey uns sind, und wir solch liegen, lestern und fluchen von inen wissen, damit wir uns nicht teilhafftig machen aller irer luegen, flueche und lesterung […]. Denn was wir bisher aus Unwissenheit geduldet (Ich habs selbst nicht gewust), wird uns Gott verzeihen, Nu wirs aber wissen, und sollten darueber, frey fur unser nasen, den Jueden ein solch Haus schuetzen und schirmen, darin sie Christum und uns beliegen, lestern, fluchen, anspeien und schenden […], Das were eben so viel, alsthetten wirs selbs und viel erger, wie man wol weis […]. Ich will hie mit mein gewissen gereinigt und entschueldigt haben, als der ichs trewlich hab
WA 5,428,32– 35. WA 7,600,33 – 35. WA 11,315,19 – 21.
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angezeigt und gewarnet […]. Ich habe das meine gethan, Ein jglicher sehe, wie er das seine thu. Ich bin entschueldigt.²³
Luther würde diese Position bis zum Ende seines Lebens behalten, wie seine letzten Worte über die Juden, von der Kanzel in Eisleben gesprochen, nur Tage vor seinem Tod beweisen: Das hab ich als ein Landkind euch zur warnung wollen sagen zur letzte, das ir euch frembder Suende²⁴ nicht teilhafftig macht, Denn ich meine es ja gut und trewlich beide, mit den Herrn und Unterthanen,Wollen sich die Jueden zu uns bekeren und von irer lesterung, und was sie uns sonst gethan haben, auffhoeren, so wollen wir es inen gerne vergeben, Wo aber nicht, so sollen wir sie auch bey uns nicht dulden noch leiden.²⁵
Luthers Ziel, eine einheitliche Politik der Vertreibung der Juden in protestantischen deutschen Gebieten zu erreichen, hatte keinen Erfolg, aber sein Streben danach war in Übereinstimmung mit dem Verlauf seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit der Frage nach den Juden und dem Judentum.
WA 53,522,29 – 32; 523,6 – 12; 527,29 – 31; 542,2– 4. Die Formulierung „frembde[…] Suende“ ist 1 Tim 5,22 entnommen. WA 51,196,12– 17.
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Judentum und Luthertum: Vieldeutige Stille
Durch die Etablierung des Luthertums in Westeuropa nach dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 und die damit einhergehende Zementierung der Spaltung zwischen römischem Katholizismus und Protestantismus machten sich in vielen Bereichen Einflüsse des Luthertums geltend: von Politik und religiösen Gemeinschaften, Familienstrukturen sowohl bei Laien wie bei (ehemaligen) Klerikern, über Veränderungen der Riten bis hin zur Säkularisierung der Kirchengüter und zunehmender Sozialdisziplinierung. Theologische Argumentation, angestoßen von einem Mönch und Vertreter religiöser Reformen, bildete in hohem Maße die Grundlage der protestantischen Bewegung.¹ Im Rahmen der vorliegenden Ausführungen soll jüdischen Reaktionen auf diese religiösen Veränderungen nachgegangen werden. Auszugehen ist dabei von der Beobachtung, dass das von jüdischen Denkern, Rabbinern und führenden politischen Vertretern der jüdischen Gemeinschaften an Martin Luther (1483 – 1546) und dem von ihm und seinen Nachfolgern propagierten religiösen Programm² gezeigte Interesse ungeachtet der teilweise massiven Auswirkungen der lutherischen Reformation auf das jüdische Leben im 16. Jahrhundert sich als ausgesprochen gering darstellt, teilweile bis an die Grenzen der vollkommenen Indifferenz reichend. Diese Beobachtung ist im Folgenden zu erklären und mit der steigenden Regulierung jüdischen Lebens im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit sowie mit den aschkenasischen³ Traditionen, die dieses gemeinschaftliche Leben prägten, in Beziehung zu setzen. Dabei wäre es irreführend, ausschließlich den deutschen Kontext in den Blick zu nehmen, da sich jüdisches Leben aschkenasischer Tradition in enger Verbindung mit Gebieten außerhalb des Heiligen Römischen Reiches wie Italien, Frankreich und in der frühen Neuzeit zunehmend auch mit den noch recht jungen, aber kulturell einflussreichen Diasporagemeinden in Mittel- und Osteuropa, insbesondere in Polen, abspielte. Die interreligiösen Beziehungen zwischen Juden und Christen waren im Mittelalter durch Feindschaft und religiöse Absolutheitsansprüche auf der einen sowie
Übersetzung: Tobias Jammerthal. Der Kürze halber sei hier nur auf folgende neuere Darstellungen verwiesen: H. Schilling, Martin Luther: Rebell in einer Zeit des Umbruchs, München, 2012; L. Roper, Martin Luther: Renegade and Prophet, London, 2016; Th. Kaufmann, Martin Luther, München, 2006. Der vorliegende Artikel konzentriert sich auf das Luthertum; andere Reformbewegungen wie der Calvinismus, der Anglikanismus oder das Täufertum können in diesem Rahmen nicht berücksichtigt werden. Der Begriff Aschkenas (und das von ihm abgeleitete Adjektiv aschkenasisch) bezeichnet die seit der Ansiedlung von Juden in deutschsprachigen Gebieten dort entwickelten spezifischen religiösen und kulturellen Traditionen. Vgl. A. Grossman, The Early Sages of Ashkenaz. Their Lives, Leadership, and Works (900 – 1096) (Hebräisch), Jerusalem, 2001. https://doi.org/9783110498745-038
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wechselseitige Neugierde auf der anderen Seite geprägt.⁴ Die jüdische religiöse Kultur Deutschlands ließ, etwa in der Bußliteratur, christliche Einflüsse erkennen, während die mittelalterliche Hebraistik die jüdische Tradition als wichtiges Hilfsmittel für das Verständnis der Heiligen Schrift sah (Hebraica Veritas). Die religiöse Konkurrenz hatte jedoch auch weniger produktive Seiten, wie sie in mehreren wichtigen Disputationen, die am Ende zur Verbrennung des Talmud führten, zum Vorschein kamen. Nach Beobachtungen des Historikers Haim Hillel Ben-Sasson (1914– 1977) lassen sich praktisch kaum jüdische Reaktionen auf lutherisch motivierte Veränderungen der religiösen und theologischen Sphäre, wie etwa in den Bereichen der Prädestinationslehre, des Bibelstudiums und seiner Betonung im Rahmen des sola scriptura, der Betonung des sola fide gegenüber den Werken oder der Rolle der religiösen Institutionen, insbesondere des Mönchtums, beobachten,⁵ vielmehr konzentrieren sich die jüdischen Texte auf politische und juristische Folgen des Übergangs einer Obrigkeit zum Luthertum sowohl auf einzelne jüdische Gemeinden wie auch auf das Judentum insgesamt. Diese auffallende Stille lässt sich zunächst mit den durch das institutionalisierte Luthertum auf ökonomischem, juristischem und politischem Gebiet herbeigeführten Einschränkungen jüdischen Lebens erklären, die unstrittigerweise das Ihre dazu beitrugen, das gegenseitige Misstrauen zwischen Christen und Juden im 16. Jahrhundert zu vertiefen. Dies ist jedoch aus zwei Gründen nicht ausreichend: Zum einen beginnen die Prozesse der Ausschließung und Marginalisierung von Juden Jahrzehnte vor der Etablierung lutherischer Territorien, Städte und Gemeinden: Das Luthertum mag diese langfristigen Entwicklungen verstärkt haben, in Gang gesetzt hat es sie indes nicht. Zum anderen war, wie bereits erwähnt, die von Obrigkeiten,Vertretern der Kirche und – vor allem – Einwohnern der Städte ausgehende Feindschaft und Gewalt gegen Juden im Mittelalter kein Hindernis für wechselseitige religiöse Neugier. Jüdische Ansiedelungen auf deutschsprachigem Gebiet, zuerst entlang des Rheins und später in den größeren Reichsstädten, beginnen in der Karolingerzeit.⁶ Ihre geographische Ausbreitung und ihre positive demographische Entwicklung kommen in der Zeit des „schwarzen Todes“ und den darauf folgenden Jahren auf dramatische Weise zum Halt:⁷ Die Pest führte zur Auflösung von 150 jüdischen Ge-
I. J. Yuval, Two Nations in Your Womb: Perceptions of Jews and Christians in Late Antiquity and the Middle Ages, übers. v. B. Harshav und J. Chipman, Berkeley, 2006; I. J. Yuval und R. Ben-Shalom (Hg.), Conflict and Religious Conversation in Latin Christendom: Studies in Honour of Ora Limor, Turnhout, 2014. H. H. Ben-Sasson, „The Jews Facing the Reformation“ (Hebräisch), in: Proceedings of the Israel Academy of Sciences and Humanities, 4, 1971, 62– 116. A. Grossman, „The Jewish Community in Ashkenaz in the 10 – 11 Centuries“ (Hebräisch), in: A. Grossman, und Y. Kaplan (Hg.), Jewish Self-Rule through the Ages, Bd. 2, The Middle Ages and Early Modern Period, Jerusalem, 2004, 57– 74. E. Zimmer, The Fiery Embers of the Scholars. The Trials and Tribulations of German Rabbis in the Sixteenth and Seventeenth Centuries (Hebräisch), Beer-Sheva, 1999, 1– 3; Joseph of Rosheim – Historical
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meinden, ihr folgte eine Welle der Ausweisung aus zahlreichen Städten, unter anderem aus Augsburg, Nürnberg und Worms – ein Schicksal, das oft auch Versuche, den demographischen und ökonomischen Verlusten durch Neugründungen von Gemeinden zu begegnen, ereilte. In der Ausweisung der Juden verbanden sich religiöse und wirtschaftliche Begründungsmuster. Die Initiative ging in der Regel von städtischen Obrigkeiten, dem niederen Klerus,Wanderpredigern wie Bernhardin von Feltre (1439 – 1494) sowie päpstlichen Gesandten wie Johannes Capistranus (1386 – 1456) und Nikolaus von Kues (1401– 1464) aus; Ausweisungen kommen insbesondere in den Gebieten der Steiermark, Kärntens, Württembergs und Salzburgs vor; im ganzen Elsass wohnen 1520 nur noch 120 jüdische Familien. Auch der rechtliche Status der Juden verschlechterte sich kontinuierlich; zumeist kehrten sie nach einer Ausweisung nicht wieder in ihre ursprünglichen Gemeinden zurück oder mussten zunehmend widrige Bedingungen akzeptieren. Steigende finanzielle Forderungen und Gebühren für Schutzbriefe dienten der finanziellen Nutzbarmachung der Juden für örtliche Herrscher oder die städtische Wirtschaft. Die Reformation trug langfristig ihren Teil zur wachsenden religiösen Diversifizierung Europas bei, die auch jüdische Minderheiten betraf, deren rechtliche Stellung als religiöse Gemeinschaft im 16. Jahrhundert jedoch insgesamt instabil und unsicher blieb.⁸ Jüdische Gemeinden fanden sich gefangen in einem Kräftedreieck zwischen städtischen und territorialen Obrigkeiten und dem Kaiser. Auf Ersuchen der Städte blieben ihnen zeitweise ganze Landstriche verschlossen und die von sich schnell verändernden politischen und wirtschaftlichen Erwägungen geleitete Politik von Kaiser und Fürsten erwies sich als kaum vorhersehbar. Juden mussten für Rechte und Privilegien in den Bereichen von Ansiedelung, Handel und Gewerbe, Teilhabe am Marktrecht und selbst für die Gewährung von Bewegungsfreiheit außerhalb ihres Stammgebietes konstant steigende und grundsätzlich höhere Gebühren als Nichtjuden entrichten und darüber hinaus im Vergleich zum Früh- und Hochmittelalter steigende Einflussnahme örtlicher Fürsten und Vertreter des Kaisers in ihre inneren Belange hinnehmen. Die Ausbreitung des römischen Rechts im Reich im Laufe des 16. Jahrhunderts zeitigte zahlreiche Judenordnungen, die, wie etwa in Hessen,⁹ den
Writings (Hebräisch), hg. u. übers. v. Ch. Fraenkel-Goldschmidt, Jerusalem, 1996, 18 [im Folgenden zitiert als: Fraenkel-Goldschmidt, Joseph of Rosheim]. D. Ph. Bell, „Jewish Settlement, Politics, and the Reformation“, in: D. Ph. Bell und St. G. Burnett (Hg.), Jews, Judaism, and the Reformation in Sixteenth-Century Germany, Leiden, 2006, 422, 431– 432; D. Ph. Bell, Jewish Identity in Early Modern Germany: Memory, Power and Community, Aldershot Hampshire, 2007, 77– 80; Zimmer, The Fiery Embers of the Scholars, 8 – 14; Fraenkel-Goldschmidt, Joseph of Rosheim, 14– 23; M. Breuer, „The Jewish Middle Ages“ und „The Early Modern Period“, in: M. Breuer, M. Graetz (Hg.), German-Jewish History in Modern Times, Bd. 1: Tradition and enlightenment, 1600 – 1780, New York, 1996, 53 – 56, 75 – 77, 87– 94, 135– 138. Alle diese Schriften verweisen auf ausgiebige weitere Literatur. J. F. Battenberg, „Judenordnungen der frühen Neuzeit in Hessen“, in: Christiane Heinemann (Hg.), Neunhundert Jahre Geschichte der Juden in Hessen; Beiträge zum politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben, Wiesbaden, 1983, 83 – 122.
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Status der Juden formaljuristisch festschrieben. Auch die kaiserliche Judenpolitik war Schwankungen unterworfen: zusätzlich zu regelmäßigen Zahlungen an städtische und territoriale Obrigkeiten bestand der Kaiser auf jüdische Regalienzahlungen, da die Juden aus seiner Perspektive auch im 16. Jahrhundert noch immer juristisch als servi camerae nostrae galten. Judenordnungen und -privilegien formulierten klar definierte Erwartungshaltungen an die von Juden zu erfüllenden Funktionen; wechselnde politische Umstände führten jedoch letztlich dazu, dass sich Juden kontinuierlich mit dem Risiko der Ausweisung konfrontiert sahen: Throughout the late medieval period and into the sixteenth century there were numerous expulsions – of various lengths and impacts – and granting of privileges of non tolerandis of the Jews. There seem to have been peaks in expulsions and anti-Jewish activity in the following decades: 1380 – 9, 1420 – 9, 1450 – 9, 1470 – 9, 1490 – 9, and 1510 – 9. [The Research Project – R.W.] Germania Judaica identifies some general trends correlating to geographical and chronological sequencing. The earliest territorial expulsions were in the southwest (Palatinate), then the southeast (Austria and Bavaria), the east (Silesia), and the north; this was followed by the west (Archbishopric of Mainz) and Middle Germany (Hochstift Bamberg), then the northeast, the southeast again, and finally the northeast. While there were many factors, and often complex situations behind expulsions, it must be pointed out that the local conditions were most determinative.¹⁰
Aus Sachsen, dem Stammland Luthers, wurden die Juden im Jahr 1537 ausgewiesen; der Reformator rief andere Fürsten dazu auf, diesem Beispiel entweder zu folgen oder jüdische Gemeinden zumindest zu marginalisieren.¹¹ Seine Aufforderungen reihen sich in die zeitgenössische antijudaistische Propaganda in Form von Flugblättern, Theaterstücken und Geschichten über Ahasver, den „wandernden Juden“ ein; in der Tat lässt sich in der Folge beobachten, dass es vor allem protestantische Städte waren, die jüdische Gemeinden auswiesen oder ihre Ansiedelung verhinderten. Und auch die Fürsten, als deren Verantwortung die Gewährleistung einer religiös homogenen Gesellschaft galt, gerieten zunehmend unter Druck, da man diese religiöse Homogenität als durch jüdische Gemeinden gefährdet erachtete. Dennoch lassen sich zwischen Luthers Schriften und politischem Handeln auf der einen- und den Ausweisungen von Juden im 16. Jahrhundert auf der anderen Seite nur schwer direkte Kausalzusammenhänge konstruieren. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts und auch im 16. Jahrhundert führten Ausweisungen jüdischer Gemeinden zur Auswanderung der Ausgewiesenen nach Süden, insbesondere in die jüdischen Gemeinden nördlich von Rom, und ostwärts, vor allem nach Polen. Dies führte dazu, dass sich der aschkenasische Kosmos des 16. Jahrhunderts nicht mehr durch seine bisherigen sprachlichen und geographischen
Bell, „Jewish Settlement, Politics, and the Reformation“, 432– 433. Bell, „Jewish Settlement, Politics, and the Reformation“, 433 – 434; Fraenkel-Goldschmidt, Joseph of Rosheim, 24– 25.
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Gegebenheiten konstituierte, sondern weiter entfernte Kulturräume erschloss, die ihrerseits die klassischen mittelalterlichen Traditionen der Aschkenasim prägen würden. Daneben führten die Ausweisungswellen des 16. Jahrhunderts dazu, dass die absolute Zahl der jüdischen Ansiedlungen anstieg, da die meisten Juden nun entweder in kleineren Städten oder in dörflichen Gegenden wohnten. Beide Prozesse sollten sich auf jüdische Kultur und jüdisches religiöses Leben in starkem Ausmaß auswirken. Einige bedeutende Rabbiner waren während des 16. Jahrhunderts nach wie vor im Reich tätig,¹² einige unter ihnen beklagten einen Niedergang an rabbinischer Gelehrsamkeit, insbesondere in Hinblick auf die Jeschiven und das an ihnen beheimatete Studium von Talmud und nachtalmudischer Rechtsliteratur, der Halachah.¹³ Die Erhaltung dieser gelehrten Einrichtungen war durch die geschilderte Zerstreuung der jüdischen Bevölkerung in zahlreiche kleinere Gemeinden und die damit einhergehenden finanziellen Einbußen vor schwere Herausforderungen gestellt; zumeist bestanden sie in größeren Städten fort, während führende Gelehrte nach Böhmen, Mähren, Österreich und schließlich Polen emigrierten. Die dadurch entstandene Lücke wurde häufig durch Immigranten gefüllt, die aus Polen in die deutschen jüdischen Gemeinden eingewandert waren. Es ist angesichts dessen wenig überraschend, dass die Rolle polnischer Traditionen und ihr Verhältnis im Vergleich zu örtlichen aschkenasischen Sitten und Gebräuchen in der zeitgenössischen rabbinischen Literatur ein stetig wiederkehrendes Motiv bildet: dass jahrhundertealte Traditionen ihre Prägekraft verloren und durch neue, „polnische“ Gebräuche ersetzt wurden, trug zum sich allgemein ausbreitenden Gefühl von Unsicherheit bei. Auch hierin ist ein Grund für die umfangreichen Corpora der als Sifrut Minhagim bezeichneten Sammlungen von religiöser Traditionsliteratur, auf die zurückzukommen sein wird, zu erblicken. Auch Prag, wo mit Jehuda ben Bezal’el Löw (1525 – 1609) der führende rabbinische Gelehrte und Denker der Zeit lehrte, avancierte zu einem beliebten Emigrationsziel von Rabbinern. Dass seine wichtigsten Schüler, Mordechai ben Abraham Jaffe (1530 – 1612), Jomtow Lipmann Heller (1579 – 1654) und David Gans (1541– 1613) allesamt in Prag verblieben, ist ein weiteres Zeugnis für die Gewichtsverschiebungen der rabbinischen Gelehrsamkeit von Deutschland gen Osten und für die steigende Bedeutung polnischer Gelehrter. Das Schicksal des Jesaja ben Abraham Horovitz (1565 – 1630), Verfasser des weitverbreiteten popularkabbalistischen Traktats Shenei Luhot HaBerit, der 1614 seine Gemeinde in Frankfurt am Main verlassen musste, um wieder nach Prag
Dies ist Hauptthese der Studie von Zimmer, The Fiery Embers of the Scholars, passim, der einige dieser Gelehrten vorstellt. J. Berkovitz, „Jewish Law and Ritual in Early Modern Germany“, in: D. Ph. Bell und St. G. Burnett (Hg.), Jews, Judaism, and the Reformation in Sixteenth-Century Germany, Leiden, 2006, 482, 485 – 486; Zimmer, The Fiery Embers of the Scholars, 15 – 25; Breuer, „The Jewish Middle Ages and Early Modern Period“, 73 – 75, 209 – 213.
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zurückzukehren, illustriert, dass es sich hierbei um einen lange fortdauernden Prozess handelte.¹⁴ Auf den Bahnen der von heutigen Talmudgelehrten oft als wenig innovativ bezeichneten traditionell-halachischen Literatur des 16. Jahrhunderts bewegen sich die von Rabbinern zusammengestellten Bände der Sifrut Minhagim. ¹⁵ Im Unterschied zu ihren mittelalterlichen Vorläufern, denen ebenso wie ihren Urhebern im Unterschied zu den eigentlichen religionsrechtlichen Schriften der Ruf einer nur zweitrangigen Relevanz vorauseilte, genossen die Sammlungen des 16. Jahrhunderts bei den führenden rabbinischen Gelehrten der Zeit hohes Ansehen, und noch Jair Chajim Bacharach (1639 – 1702) widmete der Frage ihres Verhältnisses zur formalen talmudischen Unterweisung eingehende Überlegungen. Die Sifrut Minhagim sind ein Zeugnis für die unsichere Position des aschkenasischen Erbes, dessen Verlust ihre Kompilatoren befürchten, und das sie angesichts der steigenden Zahlen der aus Polen kommenden Gelehrten mit ihren andersartigen Traditionen zu bewahren suchen. Obgleich sie also auf eine gegenwärtige Herausforderung reagieren, sind sie zugleich selbst Dokumente des Wandels: Da die Gültigkeit von Traditionen ursprünglich auf örtlichen Praktiken und Übereinkünften und nicht auf kodifiziertem Wissen beruhte, stellen die Sifrut Minhagim durch ihre schiere Existenz auch Optionen für die Veränderung und Anpassung der ortsüblichen Gebräuche bereit, die keinesfalls durchgehend lokaler rabbinischer Tradition entsprechen mussten. So liegt denn auch ihre hauptsächliche Bedeutung für das Verständnis aschkenasischer Frömmigkeit des 16. Jahrhunderts darin, dass sie den zunehmenden Wandel von talmudischer Tradition hin zur alltäglichen Praxis als Grundlage eines spezifisch jüdischen Lebenswandels dokumentieren und somit auch diejenigen Teile der jüdischen Bevölkerung, die keinen oder nur geringen Zugang zu rabbinischer Spezialliteratur hatten, in den Blick nehmen konnten: als Gebrauchsliteratur enthalten sie beispielsweise Abschnitte zu Buße, aber auch zu einer Frömmelei, die sich eher durch Buß-Aktivismus als durch eine tatsächliche Kenntnis von oder Observanz gegenüber eindeutigen religiösen und theologischen Positionen und Standards auszeichnete. Verstärkt wurde dieser Trend durch die Ausbreitung kabbalistischer und ethischer Literatur aschkenasischer Prägung im 16. Jahrhundert. Das christliche Wissen um jüdische Traditionen und Überlieferungen hatte sich seit dem Mittelalter teils durch (oft von jüdischen Konvertiten verfasste) polemische Schriften, teils auch durch eine Ausweitung hebraistischer Studien in Spätmittelalter und Renaissancezeit, stark vermehrt. Im 16. Jahrhundert erfolgte eine neue Ausweitung dieser Kenntnisse durch Schriften von Konvertiten wie Johann Jacob Schudt (1664– 1722), Antonius Margaritha (1490 – 1542) und Victor von Karben (1422– 1515), Vgl. die hervorragende Darstellung bei Berkovitz, „Jewish Law and Ritual in Early Modern Germany“, 486 – 487. Berkovitz, „Jewish Law and Ritual in Early Modern Germany“, 492– 493; Ders., „Crisis and Authority in Early Modern Ashkenaz“, in: Jewish History 26, 1– 2, 2012, 179 – 199; E. Carlebach, Divided Souls: The Convert Critique and the Culture of Ashkenaz, 1750 – 1800, New York, 2003, insbes. 174– 185.
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die in umfangreichen Darstellungen über zahlreiche Bestandteile jüdischen Lebens informierten.¹⁶ Dabei kamen sie nicht ohne antijudaistische Haltungen aus und stellten das jüdische kulturelle Erbe teilweise als Bedrohung der christlichen Gesellschaftsordnung dar. Diese Veröffentlichungen erreichten, da sie anders als die lateinischsprachige Konvertitenliteratur des Mittelalters in der Volkssprache verfasst wurden, ein hohes Maß an öffentlicher Wahrnehmung, wozu die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern einen weiteren Teil beitrug. In ähnlicher Weise wie die Sifrut Minhagim manifestierten sie eine Verschiebung jüdischer Traditionen, hier von der Theologie hin zum Brauchtum, während das Interesse an klassischtheologischen Konfliktthemen wie der Messiasfrage, der Bibelauslegung oder dem Schicksal des jüdischen Volkes als Zeichen göttlicher Verwerfung im Vergleich zu einer ethnographischen Wahrnehmung jüdischen Lebens in eine sekundäre Position rückte. Mit dieser Verschiebung zeigte sich zugleich, dass die jüdische Gemeinde nicht länger als Konkurrentin in der Auslegung heiliger Texte, sondern nur noch als eine weitere Minderheit mit einer spezifischen Lebensweise in den Blick kam. Der Talmud wurde nicht als häretische Schriftensammlung, sondern als eine Sammlung trivialer und häufig bedeutungsloser Handlungsanweisungen dargestellt. Der Historiker Po Cha-Hsia hat diese Entwicklung mit vorherigen Versuchen der Inquisition in Verbindung gebracht, jüdische Rituale und Praktiken zu verstehen, wie sie hauptsächlich im Kontext des Trienter Prozesses um den angeblichen jüdischen Ritualmord an Simon von Trient (1472– 1475) zu beobachten sind.¹⁷ Mit spanischen Mönchen übertrug sie sich auf das Reich; durch die neuere, volkssprachliche Konvertitenliteratur wurde diese „Folklorisierung“ des Zugangs zur jüdischen Tradition popularisiert. Wie bereits erwähnt, konnten jüdische Gemeinden im 16. Jahrhundert auf eine lange Geschichte der weitgehenden Selbstverwaltung zurückblicken,¹⁸ wobei den Aschkenasim die Wahrung lokaler Traditionen und örtlicher Eigenständigkeit am Herzen lag. Die Bewahrung dieses mittelalterlichen Erbes stellte jüdische Gemeinden der Frühen Neuzeit jedoch vor zunehmende Herausforderungen.¹⁹ Die beispiellose Zerstreuung der jüdischen Bevölkerung in zahlreiche kleinere Gemeinden in ländlichen Gegenden schwächte die örtliche Unabhängigkeit und führte zur Abhängigkeit von wenigen größeren Gemeinden oder Städten. In steigendem Maße etablierten sich innerhalb der Gemeinden oligarchische Herrschaftsstrukturen, indem es einflussrei Carlebach, Divided Souls, passim; Y. Deutsch, „‚A view of the Jewish Religion:‘ Conceptions of Jewish Practice and Ritual in Early Modern Europe“, in: Archiv für Religionsgeschichte 3, 2000, 273 – 295. R. Po-chia Hsia, „Witchcraft, Magic, and the Jews in Late Medieval and Early Modern Germany“, in: J. Cohen (Hg.), From Witness to Witchcraft: Jews and Judaism in Medieval Christian Thought, Wiesbaden 1996, 419 – 433. S. oben, Anm. 6. Bell, Jewish Identity in Early Modern Germany, 38 – 45, 69 – 78, 146 – 150; J. Berkovitz, „Crisis and Authority in Early Modern Ashkenaz“, in: Jewish History 26, 1– 2, 2012, 179 – 199; Zimmer, The Fiery Embers of the Scholars, 16 – 19; Breuer, „The Jewish Middle Ages and Early Modern Period“, 82– 94, 165 – 172.
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cheren Familien gelang, wichtige Gemeindepositionen mit ihren Mitgliedern zu besetzen. Hinzu kam die steigende Interventionsdichte durch Territorialfürsten und den Kaiser, die mit Unterstützung der führenden jüdischen Familien Einfluss auf die Zahlung von Steuern, die Wahl der Parnasim genannten Gemeindebeamten, Schutzrechte, Aufenthaltserlaubnis, Fremdenkontrolle – wobei als „Fremde“ diejenigen Juden galten, welche nicht der örtlichen Gemeinde entstammten – und Verkauf und Erwerb von Immobilien nahmen. Die damit geschaffenen Verbindungen kamen den weltlichen Obrigkeiten insofern entgegen, als sie es ihnen ermöglichten, die Gemeinde hinsichtlich politischer Direktiven und finanzieller Forderungen als eine Einheit zu behandeln, während die jüdischen Gemeindehäupter von ihr profitierten, indem sie ihre Kompetenzen auf dem Gebiet der sozialen Kontrolle und der Kollektivdisziplin ausweiten konnten. Diese jüdischen „Konfessionalisierungsprozesse“ hat Dean Bell (geb. 1967) im Anschluss an Gerhard Lauer (geb.1962) zutreffend dargestellt.²⁰ In rechtlichen Dokumenten und Registern jüdischer Gemeinden finden sich in hohem Maße Bestimmungen und Nachrichten über die Durchsetzung sozialer Ordnung und über die Brechung von Widerständen gegen die Autorität der Gemeindebeamten, Bildungseinrichtungen und ihre Studienpläne unterlagen zunehmender Kontrolle. Gleichzeitig manifestierte sich der immer größer werdende Abstand zwischen der Elite und den ihr nicht angehörenden Teilen der Gemeinde in steigenden Armutsraten. Besonders betroffen durch diese Aufwertung der weltlichen Gemeindeleitung war das Rabbinat: Die Rabbiner wurden der Gemeinde sowohl durch ihren Nominierungsprozess als auch in ihrer Amtsausübung, etwa hinsichtlich der Exkommunikationsgewalt (Herem) oder in Gerichtsverfahren, untergeordnet; weltliche Gemeindebeamte schmückten sich mit rabbinischen Titeln und Funktionen, was die rabbinischen Autoritäten, so lange gewisse Standards der Gerechtigkeit und Gleichheit gewahrt wurden, sogar noch legitimierten. Auf territorialer Ebene nahmen auch nichtjüdische Obrigkeiten Einfluss auf die Berufung von Rabbinern. Im jüdischen Gemeindeleben spiegelten sich auch die politische Zersplitterung des Reichs und die robuste Verteidigung politischer Rechte durch seine Stände. Jüdische Gemeinden sahen sich in Reaktion auf äußeren Druck dazu gezwungen, sich entsprechend territorialpolitischer Grenzen zu organisieren, statt sich an örtlichen Gepflogenheiten zu orientieren. Die bekanntesten territorialen Zusammenkünfte jüdischer Gemeindevertreter sind die Synoden von Worms (1542) und Frankfurt am Main (1603). In Frankfurt wurden angesichts innerjüdischer Auseinandersetzungen mehrere Aspekte des gemeinsamen Lebens einer Regulierung zugeführt: ein von allen Gemeinden zu finanzierender Fonds, das Verbot, Rechtsfragen über die Ebene der lokalen Instanzen vor jüdische oder gar „heidnische“ Obrigkeiten zu ziehen, Fragen des Drucks jüdischer Bücher, rituelle und religiöse Verbote und das Verbot, einen
D. Ph. Bell, „Confessionalization in Early Modern Germany: A Jewish Perspective“, in: Ch. Ocker, M. Printy, S. Starenko und S.Wallace (Hg.), Politics and Reformations: Histories and Reformation. Essays in Honor of Thomas A. Brady, Jr., Leiden/Boston, 2007, 345 – 372.
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nichtjüdischen Lebensstil anzunehmen. Zu den wichtigsten Regelungen zählt die Etablierung von fünf jüdischen Gerichtshöfen (Beit-Din) für die gesamte deutschsprachige aschkenasische Bevölkerung,²¹ welche die Unterstützung nichtjüdischer Obrigkeiten genießen und für die Vollstreckung ihrer Urteile insbesondere auf den politischen Einfluss des Kaisers rechnen können sollten. Die Einführung dieser Instanzen weist auf einen Prozess der Vereinheitlichung und Homogenisierung aschkenasischer Traditionen auf Kosten lokaler Sitten und Gebräuche hin. Ein Jahrhundert zuvor noch war der Versuch des aschkenasischen Rabbiners Seligmann von Bingen (gest. 1469), seine Autorität über die jüdischen Gemeinden des Umlands auszuweiten, an andauerndem Widerstand gescheitert.²² Ein Jahrhundert nach Seligmann erwies sich die Errichtung überregionaler Instanzen als unausweichlich. Zugleich zeigen die entsprechenden Beschlüsse die Grenzen jüdischer Autonomie im Zeitalter zunehmender Verdichtung von Herrschaft. Sobald die Resolutionen der Synode von Frankfurt (1603) den Kurfürsten von Mainz und Köln, und später auch dem Kaiser, bekannt wurden, wurde ein aufwendiges und lang andauerndes Gerichtsverfahren gegen die betroffenen jüdischen Gemeinden angestrengt, denen der Angriff auf hoheitliche Rechte vorgeworfen wurde, während die Angeschuldigten sich mit dem Hinweis darauf verteidigten, dass sie lediglich althergebrachte Gewohnheiten interner Meinungsbildung zum Leben erweckt hätten. Das Verfahren legt offen, dass, was in früheren Zeiten als Teil jüdischer Selbstverwaltung allgemeine Akzeptanz gefunden hatte, in der frühen Neuzeit als politische Verschwörung gelten konnte. Zugleich führten die juristischen Verwicklungen im Nachgang der Frankfurter Synode, die schließlich durch die Zahlung hoher Geldbeträge gelöst werden konnten, nicht dazu, dass die Entwicklung einer auf Kosten lokaler Gepflogenheiten gehenden Vereinheitlichung aschkenasischer Kultur gehemmt worden wäre. Auch wenn die juristischen Auseinandersetzungen primär Entwicklungen der nichtjüdischen Umwelt wiederspiegeln, gehören sie mit in tiefgreifende innere Umwälzungen der jüdischen Lebenszusammenhänge Seine Spuren in der jüdischen Kultur hinterließ aber auch der Buchdruck und die mit ihm einhergehende nie dagewesene Verbreitung von Büchern:²³ im Laufe des 16. Jahrhunderts wurde der gesamte jüdische Schriftenkanon einschließlich des Talmuds und der nachtalmudischen halachischen Literatur gedruckt, was zur Entwicklung einer jüdischen Gelehrtenrepublik führte. Mit der Veröffentlichung der halachischen Schriften des sephardischen Rabbiners Josef ben Ephraim Karo (1488 – 1575), versehen mit Annotationen des aus Polen stammenden
Breuer, „The Jewish Middle Ages and Early Modern Period“, 86 – 92. Ausführlich untersucht die jüdischen Synoden E. Zimmer, Jewish Synods in Germany during the Late Middle Ages (1286 – 1603), New York, 1978. Zimmer, The Fiery Embers of the Scholars, 20. A. Raz-Krakotzkin, The Censor, the Editor, and the Text: The Catholic Church and the Shaping of the Jewish Canon in the Sixteenth Century, übers. v. J. Feldman, Philadelphia, 2007; E. Reiner, „The Ashkenazi Élite at the Beginning of the Modern Era: Manuscript versus Printed Book“, in: Polin 10, 1997, 85 – 98.
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Rabbiners Moses ben Israel Isserles (ca. 1530 – 1572) standen der gesamten jüdischen Welt gemeinsame Bezugspunkte zur Verfügung.²⁴ Im gleichen Zeitraum führte der drastische Zuwachs an jüdischer Bevölkerung in Polen selbst zur Etablierung neuer überörtlicher Institutionen mit dem Ziel, jüdische Gemeinden in ihrer Gesamtheit zu versorgen.²⁵ Der damit gegebene neue, erweiterte Horizont spiegelte sich im rabbinischen Schrifttum und im Curriculum der Schulen. Ein ähnlicher Prozess vollzog sich zeitgleich in den jüdischen Gemeinden des Mittelmeerraumes, wo die vom Heiligen Land ausgehende und sich über den osmanischen Herrschaftsbereich zunächst nach West- und danach nach Zentraleuropa ausbreitende Aufnahme jüdisch-mystischer Traditionen aus der Kabbalah eine zusammenhängende religiöse und theologische Perspektive bot.²⁶ Die territoriale Organisation der Juden im Heiligen Römischen Reich in sogenannten Landjudenschaften blieb vom 16. Jahrhundert bis zur Judenemanzipation im 19. Jahrhundert erhalten, wobei One of the most conspicuous factors operative here was the extensive dispersion of the Jewish communities in the wake of the numerous mass expulsions and the rural character of a sizeable proportion of the Jewish population. Given the unrelenting external pressures, an organized banding together of all Jews, some of whom lived extremely isolated and far apart, was an existential necessity for preserving their Jewish identity. On the other hand, the smaller communities were now more stable, which made solid organizational structures both possible and meaningful. Another factor was the progressive territorial fragmentation of the German lands and the claims to sovereignty of every small potentate, which also stimulated interest in the formation of a Landjudenschaft. Thus an official territorial Jewish organization was now a necessity, since in deliberation and decision of central Jewish concerns – such as apportionment of taxes and the steps that had to be taken with the authorities to secure Jewish existence and ease its burdens – the dynastic and legal situation in each principality had to be taken into careful account. Ashkenazi communities maintained their predilection to remain as independent as possible from external Jewish bodies and authorities, which they did not trust to take local traditions and conditions into proper account. Another element was the traditional dependence of Jews living dispersed in smaller localities on a nearby larger organized community. This was expressed in practical terms in two ways: by subordination to the larger community’s local legal jurisdiction and the obligation to contribute to the taxes and other levies imposed by it. The Jews dependent on using community institutions located elsewhere preferred the organization of a Landjudenschaft, in which they enjoyed parity with many others, to dependence on a single larger community in which they would have no influence whatsoever. The Landjudenschaft was thus a comprehensive association encompassing all Jews in a sovereign territory who possessed the right of residence, that is, of all ‚protected Jews‘. They belonged to the association as individuals directly, not via a local community. Only those Jews who were under the protection of noble lords of the manor were exempted from membership in the Landschaft.With its well-developed structures
Zur Rezeption dieser Schriften und ihrer Rolle in der Ausbildung einer gesamtaschkenasischen Identität vgl. J. M. Davis, „The Reception of the ‚Shulhan ‘Arukh‘ and the Formation of Ashkenazic Jewish Identity“, in: AJS Review 26,2, 2002, 251– 276. Elchanan Reiner, „On the Roots of the Urban Jewish Community in Poland in the Early Modern Period“ (Hebräisch), in: Gal-Ed. On the History and Culture of Polish Jewry 20, 2006, 13 – 37. R. Weinstein, Kabbalah and Jewish Modernity, Tel-Aviv, 2015, passim.
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the Landjudenschaft provided the territorial sovereign with an excellent means for watching over the Jews and exploiting them for the good of the principality, with no extra incurred expenses. From the unified and self-contained community – whose genesis had been in part voluntary, in part created by ordinances of the sovereign – a compulsory association evolved, one to which every Jew resident within the territorial borders was required to belong. There were Landjudenschaften in almost all the territories of the Holy Roman Empire, especially in ecclesiastical states. In structures and administration they patterned themselves on the respective corporative form of the Christian environment. The lay leaders of the Landjudenschaften had virtually unlimited power over Jewish society. They regulated religious, social, and economic life and issued ordinances that had to be approved by the government, a procedure that generally was a mere formality. They conducted all negotiations with the authorities and submitted petitions, as a rule drawn up by non-Jewish lawyers. Since the board members often managed affairs as they thought best, they sometimes faced opposition within the communities. There were clear parallels between the development of court Jewry and Landjudenschaft. Both institutions had external functions, serving the state, and internal functions for the Jewish inhabitants. Often the formation of a Landjudenschaft followed from the strong position of a court Jew. Just as the court Jews stood in the service of the absolutist prince, the Landjudenschaft were dependent on the respective sovereign. No resolution, elections, or appointment of high officials in the Judenlandschaft was valid without government approval.²⁷
Durch das 16. Jahrhundert hindurch setzten sich Kontakte mit der nichtjüdischen Umgebung auf unterschiedlichen Ebenen fort. In ländlichen Gegenden brachte das alltägliche Leben geradezu notwendigerweise einen fortdauernden Kontakt mit Nachbarn und Kunden mit sich, der seine Spuren in häufig wiederkehrenden Verurteilungen gemeinsamer Besäufnisse sowie des Besuchs religiöser und familiärer nichtjüdischer Anlässe, wie sie sich auf der Frankfurter Synode und in der ethischen Literatur finden, hinterlassen hat. Insbesondere in Hinblick auf Kleidung und Freizeitbeschäftigung orientierte sich das jüdische Bürgertum an seiner christlichen Umgebung. Auf einer anderen Ebene sind die Kontakte zwischen Vertretern jüdischer Gemeinwesen und Vertretern der christlichen Mehrheit sowohl lutherischen als auch römisch-katholischen Bekenntnisses zu bedenken, wenn es gilt, die Entwicklung jüdischer Reaktionen auf das Luthertum zu verstehen. Exemplarisch deutlich wird dies an der Figur des Josel von Rosheim (1478 – 1554),²⁸ der ungeachtet seiner rabbinischen Gelehrsamkeit und seiner Funktion an rabbinischen Gerichtshöfen vor allem für seine Tätigkeit als Vermittler (Shtadlan) zwischen jüdischen Gemeinden und weltlichen Obrigkeiten im Heiligen Römischen Reich bekannt ist. Diese trieb ihn Zeit seines Lebens rastlos zu Versuchen, Ausweisungsdrohungen und andere Gefahren zu begrenzen, die auf religiös motivierten Vorwürfen gegen das Judentum beruhten, etwa,
Zitat, mit leichten Änderungen, aus Breuer, „The Jewish Middle Ages and Early Modern Period“, 194– 203. Joseph de Rosheim, Sefer Hammiknah, (Hebräisch), hg.v. Hava Fraenkel-Goldschmidt, Jerusalem, 1970 (im Folgenden: Fraenkel-Goldschmidt, Sefer Hammiknah); ferner die klassische Darstellung bei S. Stern, Josel von Rosheim, Befehlshaber der Judenschaft im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, Stuttgart, 1959.
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dass der Talmud gegen das Christentum gerichtete blasphemische Passagen enthalte, oder auch auf dem Hass christlicher Nachbarn. Sowohl Protestanten wie römische Katholiken beschuldigten die Juden zu Rosheims Zeiten der Unterstützung der jeweils anderen Religionspartei oder warfen ihnen gar die Unterstützung der Osmanen in deren Versuchen, die Herrschaft über Europa zu erlangen, vor. Rosheim gelang es durch ein wirtschaftliches und politisches Netzwerk ebenso wie durch seine entsprechenden persönlichen Fähigkeiten, Kontakte zu höheren Obrigkeiten bis hin zum Reichstag zu knüpfen. Anders als die meisten seiner Nachfolger hinterließ der rabbinisch gelehrte Rosheim eine Anzahl historischer und religiöser, an jüdische Leser gerichtete Traktate, anhand derer seine Wahrnehmung der jüdischen Religion ebenso wie zeitgenössischer politischer Entwicklungen wie der Reformation nachvollzogen werden kann. Dabei entwickelt Rosheim einen pragmatischen und nüchternen Zugang zu den Fragen der Regelung jüdischen Gemeinwesens unter den schwierigen Rahmenbedingungen des 16. Jahrhunderts, während er zu den messianischen Gestalten seiner Zeit wie Salomo Molcho (ca. 1500 – 1532), David Reubeni (1490 – 1535/1541) oder Ascher ben Meir Lemlein (15./16. Jahrhundert) distanziertes Schweigen wahrte.²⁹ In Bezug auf die noch lange Zeit vor allem von Konvertiten produzierte hebraistische Literatur zeigen Rosheims Schriften eine Politik der Vermeidung religiöser Konflikte. Vor Herausforderungen auf dem Reichstag oder auch durch den mit ihm befreundeten Theologen Wolfgang Capito (1478 – 1541) schreckte er nicht zurück, betonte dabei jedoch, dass sein Ziel die Verteidigung seines eigenen religiösen Erbes und nicht der Angriff auf eine andere Tradition sei.³⁰ Konfrontierte man ihn mit den in der antijudaistischen christlichen Literatur seit dem Mittelalter verbreiteten talmudischen Passagen bezüglich Jesus von Nazareth und dessen Leben, so verneinte er, dass sie ihm bekannt seien – eine Schutzbehauptung, wie die in seinen Schriften zu findenden langen Zitate aus den entsprechenden Werken erweisen.³¹ Von einer Einmischung in die binnenchristlichen theologischen Auseinandersetzungen galt es für Rosheim, unter allen Umständen abzusehen. Dieser prinzipielle Standpunkt erklärt sich teilweise durch Rosheims scharf kritische und ablehnende Haltung gegenüber jüdischen Konvertiten als den üblichen Verfassern derjenigen christlichen Literatur, in welcher jüdische Rituale und Gebräuche behandelt wurden. Konversion erschien ihm als Fortführung und schlussendliche Konsequenz aus dem Berichten über andere Juden und deren Leben (Halshanah oder Mesirah). Auf den Spuren kabbalistischer Literatur ließen sich die Ursprünge einer Konversion in individuell-persönlicher Verderbtheit und angeborener Bösartigkeit verorten.³² Der Konvertit hatte innerhalb der jüdischen
E. Carlebach, „Jewish Responses to Christianity in Reformation Germany“, in: D. Ph. Bell und St. G. Burnett (Hg.), Jews, Judaism, and the Reformation in Sixteenth-Century Germany, Leiden, 2006, 475 – 476. Fraenkel-Goldschmidt, Sefer Hammiknah, lxxiv-lxxvii. Carlebach, „Jewish Responses to Christianity“, 455 – 458. Carlebach, Divided Souls, 2, 6, 11– 12, 22– 23; Fraenkel-Goldschmidt, Sefer Hammiknah, lvii-lix.
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Tradition und ihrer Eschatologie keinen Platz; dass Rosheim im engeren Sinne religiöse Gründe für eine Konversion bestritt und stattdessen persönliche Umstände wie den Wunsch, die Religion der eigenen Vorfahren zu schädigen, als Motive anführte, ist daher kein Zufall. Auf der Ebene der politischen Auseinandersetzung zwischen altgläubigen und protestantischen Fürsten hoffte Rosheim auf einen Sieg der kaiserlichen Truppen: Gott hat viele Male das Elend seines Volks angesehen und seinen gnadenreichen Engel gesandt, unseren Herrn und Kaiser Karl [V.] zu stärken und sie [die Protestanten] zu überwältigen, ihre Pläne zunichte zu machen, Städte und Gebiete aufs Leichte zu gewinnen; und [das kaiserliche Heer] hat auf wundersame Weise den Sieg errungen und so das jüdische Volk vor dieser neuen Religionspartei, errichtet durch den Priester Martin Luther, einen rechtlosen Mann, der alle Juden, die Alten wie die Jungen, vernichten und ermorden wollte, zu bewahren. Gepriesen sei der HERR, der seine Pläne zunichte gemacht und ihre Gedanken verstört hat!³³
Hier zeigt sich eine rein weltlich-politische Begründung für die Unterstützung Karls V., die auf jahrelange Zusammenarbeit mit Vertretern der kaiserlichen Gewalt in Fragen der Privilegien und Zugeständnisse an jüdische Gemeinden zurückblicken konnte. Diese Wahrnehmung relativer Sicherheit beruhte auf bis weit ins Mittelalter zurückreichenden Erfahrungen.³⁴ Sobald eine theologische Frage in diese Beziehung Einzug erhielt, beeilte sich Rosheim, ihre Auswirkungen zu begrenzen, wie es der Fall des Antonius Margaritha (1492– 1542) zeigt, der seine Schriften kaiserlichen Beamten vorgelegt hatte, was Rosheim dazu nötigte, ihre Inhalte auf dem Reichstag zu erläutern. Rosheim gelang es, nicht nur alle Anschuldigungen zurückzuweisen, sondern sogar Margaritha aus Augsburg verbannen zu lassen.³⁵ In diesem Zusammenhang wird Luther ebenso wie in anderen Kontexten nicht als Vertreter religiöser Reformen, sondern als „Errichter einer neuen Religionspartei“ als Gefahr für die öffentliche Ordnung dargestellt, ohne dass hierfür – abgesehen von Luthers „rechtlosem“ Charakter – Gründe benannt würden. Die brutale Rhetorik des alten Luther gegen die Juden sieht Rosheim in Analogie zu den Plänen des im Buch Ester auftretenden Haman, das gesamte jüdische Volk zu vernichten. Aus Furcht vor den politischen Folgen von Luthers Schriften bat Rosheim den Rat der Stadt Straßburg, ihre Veröffentlichung im Stadtgebiet zu untersagen; auf Martin Bucers (1491– 1551) antijudaistische Schriften reagierte er mit einem eigenen Traktat, in dem er die These, dass es sich bei den Juden der Gegenwart nicht um die historische Fortsetzung des biblischen Volkes Israel handle, bestritt – und dennoch reagiert diese Schrift mit dem Titel Sefer HaMiknah
Das Zitat wird erläutert in Fraenkel-Goldschmidt, Sefer Hammiknah, 74– 75: שלח מלאכו מלכי רחמים לתת כח ועוז ביד אדו’ הקיסר קארלין יר’’ה להתגבר עליהן פעמים רבות,וראה ה’ בעני עמו ועל צד הפלא גבר והציל אומה ישראלית,להפר בריתם וקשר מחשבותם ולהשפילם ולכבוש וללכוד מדינות ועיירות בלא עמל בקש להשמיד ולהרוג כל היהודים,מיד אותה אמנה ]אמונה[ חדשה שהקים הכומר המכונה בשמו מרטין לוטר איש לא טה’’ר . יברך ה’ שהפיר עצתו וקלקל מחשבותם.מנער ועד זקן Fraenkel-Goldschmidt, Joseph of Rosheim, 14– 16. Vgl. hierzu Fraenkel-Goldschmidt, Sefer Hammiknah, xxviii–xxxi.
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primär auf die Vertreibung mehrerer jüdischer Gemeinden, wodurch der interreligiöse Dialog zur internen Erörterung des Schicksals des jüdischen Volkes mutiert. Ein weiteres Hindernis für die Entwicklung eines Interesses an der religiösen Spaltung des Heiligen Römischen Reiches stellt die Ausbreitung ethischer und spiritueller Literatur dar.³⁶ Jüdische Frömmigkeit aschkenasischer Provenienz reagiert in dieser Hinsicht ohne Zweifel auf gleichzeitige Entwicklungen auf protestantischer und altgläubiger Seite, sie ist aber vornehmlich durch die tiefgehenden Verbindungen örtlicher Gemeinden mit der Ausbreitung der ethisch orientierten kabbalistischen Mystik im Mittelmeerraum sowie mit den sich neu etablierenden Zentren aschkenasischer Literatur in Polen gekennzeichnet. Bei Rosheim spiegelt sich das in seiner intensiven Beschäftigung mit dem jüdischen Martyrium.³⁷ In der Memorialliteratur galt dies ebenso als ein wertvoller Bestandteil wie in Familienstammbäumen. Durch eine Ritualisierung des Martyriums sowie durch die Vorbereitung darauf in Gestalt von besonderen Gebeten, dem Bekenntnis, oder der visuellen Vorstellung des heiligen Gottesnamens, um so physische Schmerzen abwehren zu können, zeigt sich, wie wichtig es war, jedwede Möglichkeit einer Konversion abzulehnen. Dass in diesem Zusammenhang keinerlei explizit antichristliche Elemente aufscheinen, ist beachtlich. An ihre Stelle tritt die Betonung der Einheit Gottes und seiner einzigartigen Beziehung zum jüdischen Volk. Der martyrologische Strang dieser durchgehenden Frömmigkeit deutet auf eine zunehmende Relevanz der Binnenperspektive und eine abnehmende Relevanz der Vorgänge in der nichtjüdischen Umwelt hin.
Zusammenfassung Die theologischen Aspekte der Reformation waren jüdischen Denkern des 16. Jahrhunderts bekannt und Gegenstand ihrer Kommentare. Dies ereignete sich jedoch außerhalb des Kontexts der deutschsprachigen jüdischen Gemeinden, etwa bei sephardischen oder italienischen Juden. Ben-Sassons diesbezügliche Beobachtung in seiner entsprechenden Studie zu jüdischen Reaktionen auf die Reformation ist nie ernsthaft in Frage gestellt worden. Das Phänomen mag auf der einen Seite der ausfallenden Polemik Luthers gegen Juden geschuldet sein – die im Übrigen bei Heinrich Bullinger (1504 – 1575) und Andreas Osiander (1598 – 1552) auf Kritik stieß –, es beschränkt sich jedoch auf den Bereich der religiösen Rhetorik, da antijudaistische Propaganda durch Flugblätter, Karikaturen, Bühnenstücke und Stereotypen verbreitet wurde. Die Ausweisung von Juden aus verschiedenen Städten des Reiches war sowohl vor als auch nach der Reformation, und nur zeitweilig auf Anregung Luthers und seiner Anhänger, ein immer wiederkehrender Vorgang des 16. Jahrhunderts. Dennoch
Y. Elbaum, Repentance and Self-Flagellation in the Writings of the Sages of Germany and Poland 1348 – 1648 (Hebräisch), Jerusalem, 1992, passim. Carlebach, „Jewish Responses to Christianity“, 477– 479.
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vermag all dies das mangelnde Interesse an einer religiösen Bewegung dieser Dimension im vormodernen Europa, die weit über den deutschsprachigen Kontext hinausreichte, nur zu Teilen zu erklären. Eine naheliegendere Erklärung für das wechselseitige Interesse – oder vielmehr: die Ermangelung eines solchen – zwischen Juden und den christlichen Religionsparteien des Heiligen Römischen Reiches, insbesondere dem sich entwickelnden Luthertum, mag in der neuen Art der Interaktion zwischen jüdischen Gemeinden und der Mehrheitsgesellschaft liegen. Politische Faktoren führten zu einer neuen demographischen wie geographischen Zerstreuung jüdischer Gemeinden, insbesondere in ländliche Gegenden. Die betroffenen Gemeinden ersetzten ihr politisch-kulturelles Selbstbild der „Heiligen Gemeinde“ (Kahal Kadosch oder Kehila Kedoschah in der mittelalterlichen Terminologie) durch ein funktionales Selbstverständnis. Sie hatten sich zu Prozessen der Herrschaftsverdichtung in einer komplexen politischen Realität zu verhalten, während das religiös aufgeladene Ideal der Sicherheit und der alten (wenngleich nicht notwendigerweise friedlichen) Symbiose zwischen einer religiösen Minderheit und der Mehrheit unter dem Schutz des Heiligen Römischen Reiches zunehmend ausgedient hatte. Neue Verbindungen ergaben sich häufig auf der Grundlage eines ökonomischen wie finanziellen Gebens und Nehmens. Im innerjüdischen Kontext spiegeln sich diese Entwicklungen in Prozessen der Vereinheitlichung jüdischen Gemeinwesens auf territorialpolitischer Ebene, einschließlich zunehmender Sozialdisziplinierungsversuche, sowie der Einschränkung möglicher interner Opposition. Auch in dieser Hinsicht haben die jüdischen Gemeinden am Protestanten wie Altgläubige erfassenden Prozess der Konfessionalisierung Teil.³⁸ Auf Kosten des Rabbinats, das im Verlauf des 16. Jahrhunderts gegenüber der örtlichen Oligarchie in die zweite Reihe trat, nahm die Macht der Gemeindeleitung sakrale Züge an. Die immer weiter auseinanderklaffende ökonomische wie soziale Schere innerhalb der Gemeinden wurde unaufhörlich von innergemeindlichen Auseinandersetzungen begleitet. Territorialfürsten griffen in zunehmendem Maße in das Leben der Gemeinden ein, wobei keine wichtige Frage der Selbstverwaltung örtlicher Gemeinden ihrem Zugriff entzogen blieb, der sich nicht auf theologische Überlegungen, sondern auf fiskalische und politische Hoheit stützte. Die Umstrukturierung des Gemeindelebens und religiöser Traditionen sowie der mit ihr einhergehende Prozess der Vereinheitlichung und Standardisierung beschränkte sich nicht auf den Kontext des deutschsprachigen aschkenasischen Judentums, sondern ereignete sich in globalen Dimensionen in Gemeinden in Italien, in der nordeuropäischen sephardischen Diaspora, in jüdischen Gemeinden unter osmanischer Herrschaft entlang des Mittelmeers und auch in Polen als sich neu etablierendem Zentrum. Durch die von der Kabbalah im Allgemeinen und im deutschsprachigen Bereich durch das Beispiel der Frömmigkeit der Chasidei Aschnekas im Besonderen inspirierte Ausbreitung von Frömmigkeitsliteratur wurde eine Tendenz zur Introspektive gefördert, die das Interesse an theolo-
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gischen Veränderungen innerhalb des Christentums verminderte. Ihr zur Seite ging die Ausbreitung der von führenden rabbinischen Gelehrten zusammengestellten und diskutierten Sifrut Minhagim im aschkenasischen Bereich, welche die praktischen und rituellen Aspekte jüdischen Lebens auf Kosten klassisch-rabbinischer Belesenheit im Bereich der nachtalmudischen Literatur betonten. Diese „ethnographische“ Akzentuierung der jüdischen Kultur fand in der hebraistischen Konvertitenliteratur ihr Spiegelbild, die sich an – nicht notwendigerweise gelehrte – nichtjüdische Leser wandte, und die ihrerseits dazu neigte, jüdische Religiosität als eine Ansammlung von Riten und Praktiken bar jedweden zusammenhängenden theologischen Rahmens abzubilden. Zur signifikanten Abnahme religiösen Kontakts, Disputs oder auch Interesses an neuen theologischen Konzepten trug somit ein Konglomerat aus Furcht vor möglichen und reellen Bedrohungen aus dem neu entstehenden Luthertum, einer Verschiebung der interreligiösen Symbiose hin zu einem politisch-finanziellen Miteinander, wie es sich besonders deutlich in Gestalt jüdischer Vertreter, Hofjuden und Schtadlanim zeigt, sowie der Folklorisierung jüdischer Tradition bei. Die lutherische Theologie war ein weiterer Bestandteil dieser Gemengelage.
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Luther und die Türken
1 Einführung Obwohl ihre Rolle in einschlägigen historischen Darstellungen der Reformation oft vernachlässigt wird, waren die osmanischen Türken ein wichtiger Teil des Denkrahmens vieler führender christlicher Denker im 16. Jahrhundert, einschließlich Martin Luther.¹ In den Köpfen dieser Europäer stellten die Türken einen furchterregenden, bogenförmigen Horizont vom Schwarzen Meer bis nach Nordafrika dar – einen Horizont, der gegen das Christentum anzudrängen schien und dabei durchzubrechen und sie zu besiegen drohte. Flugschriften in verschiedenen Formaten schürten diese Angst mit Berichten über osmanische Siege und Bildern türkischer Gräueltaten. Die Holzschnittdarstellung eines den Krummsäbel schwingenden Türken mit Turban, der ein christliches Kind auf einem Zaunpfahl aufspießte, wurde nahezu ikonisch. Sogar im fernen England und Skandinavien wurde ein überraschender Angriff und eine Invasion der Osmanen gefürchtet. Gleichzeitig jedoch schienen viele Westeuropäer neugierig auf und sogar fasziniert von den exotischen Seiten der Osmanen zu sein. Kostümbücher mit türkischen Kleidern, Beschreibungen des Lebens in der Hohen Pforte und Historien der Türken wurden veröffentlicht und verkauft. Türkische Elemente wurden in europäische Kleidung, Mobiliar oder Feierlichkeiten integriert. Und dann war da der Kaffee und die Entstehung europäischer Kaffeehäuser, für die manchmal mit dem Symbol eines Türken mit Turban Werbung gemacht wurde. Das Osmanische Reich war ein gefährlicher Ort, aber auch einer, der voll von interessanten Schätzen und faszinierenden Geschichten war. Vermutlich nirgendwo zeigt sich diese Spannung zwischen Angst und exotischer Anziehung deutlicher als in den Flugschriften Bartolomej Georgijevićs. In einer Publikation, für die er mit dem Ziel, dessen Unterstützung zu gewinnen, persönlich Martin Luther besuchte, schrieb Georgijević über die Grausamkeiten des osmanischen Sklavenhandels und fügte zugleich auch einen türkisch-lateinischen Sprachführer mit gängigem Vokabular an, der offensichtlich für Händler gedacht war, die mit den Türken Handel trieben.
Übersetzung: Lea Sophie Stolz. Zu Luther und den Türken siehe insbesondere: Johannes Ehmann, Luther, Türken, und Islam: Eine Untersuchung zum Türken- und Islambild Martin Luthers (1515 – 1546) Gütersloh, 2008; Adam Francisco, Martin Luther and Islam: A Study in Sixteenth Century Polemics and Apologetics, Brill, 2007; Gregory Miller, „Luther on the Turks and Islam“ in: Harvesting Martin Luther’s Reflections on Theology, Ethics, and the Church, Eerdmans, 2004; und Gregory Miller, „Luther’s Views of Jews and Turks“ in: The Oxford Handbook of Martin Luther’s Theology, Oxford, 2014. https://doi.org/9783110498745-039
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Es gab Angst, es gab Anziehung und es gab Rhetorik. Fast vom Anfang der Reformation an geriet die Frage nach der angemessenen Reaktion auf die Türken in die politischen und konfessionellen Streitigkeiten des 16. Jahrhunderts. Wenn man in den Schriften des 16. Jahrhunderts auf Verweise auf die Türken trifft, muss man als heutiger Leser Vorsicht walten lassen. Häufig geht es bei solchen Erwähnungen in Wirklichkeit weniger um die Türken als um Sippenhaft. Man könnte beinahe sagen, dass, wenn eine konfessionelle Auseinandersetzung während der Reformation lange genug anhielt, früher oder später einer (oder beiden) Seiten vorgeworfen werden würde, türkisch zu sein. Alle drei dieser Herangehensweisen finden sich in Martin Luthers Schriften. Luther besaß ein auffallendes Interesse an den Türken, und Bezugnahmen auf sie finden sich überall in seinen Schriften, den Tischreden und Predigten, vom Anfang seines öffentlichen Schaffens bis in seine letzten Jahre. Möglicherweise sogar noch mehr als die meisten Westeuropäer waren die Türken ein wichtiger Teil von Luthers geistigem Hintergrund. Und wegen der Wichtigkeit Luthers wurde das, wofür er sich interessierte, auch bedeutsam für viele andere, sowohl zu seiner Zeit als auch in den darauffolgenden Jahrzehnten. Dieser Aufsatz beginnt mit einer Zusammenfassung von Luthers Auseinandersetzung mit den Türken und dem Islam und seinem Verständnisses von diesen (für Luther und viele andere waren beide Begriffe weitestgehend synonym). Dann werden die zwei wichtigsten Aspekte der Reaktion Luthers auf die Osmanen diskutiert: die politische Antwort, insbesondere Fragen betreffend den Einsatz von Militärgewalt, und die theologische Antwort, vor allem hinsichtlich der Rolle der Türken in Luthers Eschatologie. Das Fazit geht auf Luthers Beitrag zur Geschichte christlich-islamischer Beziehungen insgesamt ein.
2 Der politische und intellektuelle Kontext Um Luthers Reaktion auf die Türken zu verstehen, ist eine knappe Zusammenfassung des politischen und intellektuellen Kontexts erforderlich. Wir tendieren dazu, uns konkreter Ereignisse zu bedienen, um markante Einschnittspunkte in der Geschichte zu kennzeichnen, obwohl dies in nahezu allen Fällen die Wirklichkeit langsamen Wandels und wichtiger Kontinuitäten verschleiert. Besonders gilt dies, wenn wir 1291 und den Fall von Akkon als das Ende der Kreuzzüge ansetzen. Obwohl ein christlich kontrolliertes Jerusalem immer weniger eine reale Möglichkeit darstellte, lebten die Antworten auf den Islam weiter, die von christlichen Denkern im Westen während der vorigen Jahrhunderte entwickelt worden waren. Am häufigsten wurde die Vertreibung der Türken aus Europa erwähnt, aber der Traum von einem christlichen Heiligen Land (speziell die Eroberung Jerusalems und des Heiligen Grabes) bewegte Menschen noch im Deutschland des frühen 16. Jahrhunderts. Die Verbreitung von Übersetzungen einer Prophezeiung, die Methodius zugeschrieben wurde, förderte diese Träumereien. Gemäß dieser Prophezeiung wird Konstantinopel nach etwa 80 Jahren unter türkischer Herrschaft durch eine Gestalt
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befreit, von der Wissenschaftler christlicher Apokalyptik üblicherweise als dem ‚Weltkaiser der Endzeit‘ sprechen. Mit Gottes Hilfe wird dieser mächtige Kaiser eine große Armee versammeln und die türkische Herrschaft für immer zerstören. Die ganze Welt wird für das Christentum erobert und „wer das creutz nit anbeten thut, den wirt er laßen umbringen“.² Nach diesen Unterstützern der Kreuzzüge im 16. Jahrhundert ist der Hauptgrund dafür, dass die Türken noch nicht bezwungen worden sind, die Uneinigkeit unter den Christen und ein Mangel an Beteiligung der gesamten Christenheit. Flugschriften betonten, jeder Christ sei verantwortlich, sich an dem Kampf mit allen verfügbaren Mitteln zu beteiligen, entweder mit Kampfkraft oder (besonders) mit Geld. Eine populäre anonyme Flugschrift, Ain anschlag wie man dem Türcke widerstand, legte zuversichtlich dar, dass schon durch die Bezahlung eines wöchentlichen Pfennigs von jedem erwachsenen Kommunikanten eine christliche Armee von 250.000 Mann zusammengestellt werden könne.³ Wenn Christen nur ihre Ressourcen zusammenführten und ihr Verhalten änderten, könnten sie leicht den Feind im Glauben überwinden. Jeder sei verantwortlich, so argumentierten diese Verfasser von Flugschriften, denn wenn die Nachfolger Mohammeds nicht vernichtet würden, werde die Christenheit von ihnen vernichtet, wie der Subtext zahlreicher Nachrichtenmeldungen über Serien türkischer Eroberungen klar zeigt. Diese große Angst vor dem osmanischen Vorstoß war nicht gänzlich unbegründet. Einem Mitteleuropäer der damaligen Zeit muss die omanische Expansion unaufhaltbar vorgekommen sein. Nach der Gründung durch den seldschukischen Vasallen Osman wurde das Osmanische Reich in den frühen 1300er Jahren Stück für Stück durch Angriffe auf Reste byzantinischer Territorien in Kleinasien aufgebaut. Während sie sich schon mit ihrem ersten Sieg in Bursa 1326 ausdehnten, hatten die Osmanen mit der Herrschaft von Osmans zweitem Nachfolger Murad I. (1359 – 1389) das westliche Kleinasien erobert, den Hellespont überquert und den mittleren Balkan weitestgehend eingenommen. Trotz Niederlagen gegen die Armeen Timurs des Lahmen (in Kleinasien, ungefähr zwischen 1395 und 1430) wurde 1453 unter Mohammed II. dem Eroberer (1451– 1481) das oberste osmanische Ziel, die Eroberung Konstantinopels, erreicht. Mohammed II., einer der brillantesten der osmanischen Sultane, festigte die osmanische Macht
Siehe dazu beispielsweise die von Jörg Dappach verfasste Flugschrift Ain schön lied new gemacht von den türkenn. Auss der propheci daruon man lang gesagt hat (o.O., 1522), zitiert nach Ulrich Müller (Hg.): Kreuzzugsdichtung, Tübingen, 1979. Der Anschlag kalkulierte, dass wenn jede Kirche (mit einem Durchschnitt von 93 Besuchern) einen Pfennig pro Woche und Person abgeben würde, dies insgesamt 19.468.092 Gulden betragen würde. Mit zwei Gulden pro Pferd und einem Gulden pro Fußsoldaten könnten 249.094 Soldaten finanziert werden. Dies würde eine Vereinheitlichung der intereuropäischen Währung erfordern, die der Autor ausführlichst beschreibt. Es handelte sich hierbei um eine sehr beliebte Flugschrift; sie wurde in verschiedenen Ausgaben als Antwort auf die wahrgenommene türkische Bedrohung 1522, 1523, 1532, 1541 und 1542 wiederabgedruckt.
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weiter, indem er mit Ausnahme einzelner Stützpunkte den gesamten Balkan südlich der Donau eroberte. Seine Expansion nach Mitteleuropa wurde nur durch eine Niederlage in Belgrad (1456) gebremst. Selim I. (Regierungszeit 1512– 1520), der neunte osmanische Sultan und Enkelsohn Mohammeds II., richtete seine Aufmerksamkeit gen Westen. Selim fügte seinem Reich sowohl Ägypten als auch die Verfügungsgewalt über die heiligen Städte Mekka und Medina hinzu. Bei Selims Tod 1520 war das Osmanische Reich der Anführer der islamischen Welt und eine ernsthafte Bedrohung für das christliche Europa. Es ist klar, dass ein deutlicher Verstärker dieser Angst die Tatsache war, dass es sich hier um Muslime handelte beziehungsweise, in der Sprache des 16. Jahrhunderts, um ‚Mohammedaner‘. Die meisten Autoren verstanden, dass die Türken keine Araber waren, aber Unterscheidungen wurden im Allgemeinen nicht für wichtig erachtet. Der osmanische Vorstoß war größtenteils deswegen beängstigend, weil er den Vorstoß des Islams bedeutete. Geschichten türkischer Eroberungen hoben oft die Umwandlung von Kirchen in Moscheen (besonders in Ungarn) und die spirituellen Gefahren, in die Hände der Türken zu geraten, hervor. Dies war ein Feind, von dem man glaubte, er könne nicht nur den Körper, sondern auch die Seele töten. So war die osmanische Expansion im frühen 16. Jahrhundert selbstverständlich ein besonderer Anlass zur Sorge für Maximilian, den Kaiser des Heiligen Römischen Reichs. Er erarbeitete eine aggressive Politik gegenüber den Türken in Verbindung mit seinen Plänen für Ungarn und den Balkan. Beim Ersten Wiener Kongress (1515) war er in der Lage, die Verlobung seiner Enkelin Maria mit Louis, dem noch minderjährigen Sohn König Ladislaus’ von Ungarn, zu sichern. Als zukünftiger Herrscher über das ‚Bollwerk der Christenheit‘ wurde Maximilian angesichts osmanischer Einfälle in Ungarn, der Steiermark, Kärnten und Krain und mit Träumen eines habsburgischbyzantinischen Reichs im Osten ein energischer Befürworter des Kreuzzugs.⁴ Im Bemühen, die finanzielle Unterstützung zu steigern, förderte Maximilian die Produktion einer großen Menge an Werbung für den Kreuzzug und übte Druck auf das Pontifikat aus, einen Kreuzzug auszurufen und dafür Steuern zu erheben. 1517 wurde schließlich ein allgemeiner Friede angeordnet, der als Voraussetzung für eine Militäraktion gegen die Türken betrachtet wurde. Am 13. März 1518 rief Leo X. offiziell einen Kreuzzug und einen fünfjährigen Frieden aus.⁵ Es gab große Erwartungen eines dramatischen christlichen Sieges. Hofdichter sangen gar über die Wiedereroberung des Heiligen Landes und deuteten an, Maximilian könnte der Weltkaiser der Endzeit sein.⁶
Vgl. John Bohnstedt, „The Infidel Scourge of God: The Turkish Menace as Seen by German Pamphleteers of the Reformation Era“, in: Transactions of the American Philosophical Society, 58, 9, 1968, 9. Vgl. Kenneth M. Setton, The Papacy and the Levant (1204 – 1571). Bd. 3, The Sixteenth Century to the Reign of Julius III, Philadelphia, 1984, 172– 197. In Verbindung mit diesem versprochenen Kriegszug überarbeitete Hofdichter Jörg Graff ein Lied aus dem 15. Jahrhundert, um Maximilian als den darzustellen, der das Schiff der Kirche gegen den starken Wind der Türken steuerte. Aus einer Prophezeiung des Methodius zitierend fügte er hinzu: „[…] ain
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3 Luthers Auseinandersetzung mit dem Islam und sein Wissen über den Islam / die Türken Dies ist der unmittelbare Kontext Luthers erster bedeutender Äußerung über die Türken. Es ist klar, dass Luther die neue Kreuzzugsteuer nur als Vorwand für die römische ‚Erpressung‘ von Geld von den Deutschen sah. 1518 veröffentlichte er die Erklärung „praeliari adversus Turcas est repugnare deo visitanti iniquitates nostras per illos“.⁷ Die erste Maßnahme gegen die Türken müsse aufrichtige Buße sein, kein Fantasieren über einen Kreuzzug. Dieser Kommentar geriet in die größere Debatte um Ablassbriefe und wurde vom Papsttum als besonders verdammungswürdig hervorgehoben. Luthers scharfe Anprangerung dieses Kreuzzugs hatte unbeabsichtigte Folgen. Manche verstanden ihn falsch (so behauptete Luther später), als würde er eine Haltung des Nichtangriffs und/oder der Widerstandslosigkeit gegenüber den Türken vertreten. Weithin wurde vermutet, dass manche, wohl einschließlich Luther, sich eigentlich die Oberherrschaft der Türken wünschten und möglicherweise sogar die osmanische Invasion Mitteleuropas unterstützten. Luther und sein Umfeld verabscheuten diesen Ruf und sie distanzierten sich, um ihre Position von der stärker pazifistischer Gruppen zu unterscheiden. Diese Angelegenheit wurde für so wesentlich erachtet, dass die Visitationsrichtlinien von 1528 einen eigenen Abschnitt enthielten, Widerstandslosigkeit gegenüber den Türken unbedingt anzuzeigen. Protestantische Pfarrer sollten allgemein verbieten, Widerstandslosigkeit gegen den Türken zu lehren. Vielmehr sollte den Menschen vermittelt werden, dass den Obrigkeiten die Macht gegeben war, alle Mörder und Räuber, inklusive der Türken, zu bestrafen.⁸ Luthers Freunde ermutigten ihn, eine Klarstellung zu seinen (ihn immer mehr in Verlegenheit bringenden) früheren Kommentaren zu verfassen. Ein Grund dafür, dass eine Klarstellung nun so nötig erschien, war, dass sich die militärische Situation im Verhältnis zu den Türken deutlich verschlechtert hatte. In der Schlacht von Mohaĉ am 29. August 1526 wurde die ungarische Armee in weniger als zwei Stunden vernichtend geschlagen. Süleyman besetzte Budapest und beanspruchte große Teile Ungarns. Die osmanischen Armeen marschierten 1529 in einem Feldzug, der in der berühmten Belagerung Wiens seinen Höhepunkt fand, erneut in Mitteleuropa ein. Obwohl sie zum Rückzug gezwungen wurden, machte Süleyman deutlich, dass die osmanischen Armeen zurückkehren würden. Diese Ereignisse wa-
newer cristen künig würt (sein nam Maximilian si redten) der würt das hailig land ersetten und füllen mit cristen glauben […]“, R. V. Liliencron, Die historischen Volkslieder der Deutschen vom 13. bis 16. Jahrhundert. Bde. 3 und 4, Leipzig, 1867– 1869, 212– 215. WA 7,140,19 – 20. Vgl. Luther und Melanchthon, Unterricht der Visitatoren,WA 26,236 – 240. In den Instructiones wurde den Türken ein eigener Abschnitt gewidmet. Die Türken wurden als Hauptunterscheidung zwischen Evangelischen und Täufern genutzt.
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ren ein Alarmsignal für den Ernst der türkischen Bedrohung. Luther berichtete, die Nachrichten von der Belagerung Wiens hätten ihn tatsächlich körperlich krankgemacht.⁹ Der osmanische Feldzug von 1529 war der Auslöser für die zwei wichtigsten Veröffentlichungen Luthers über die Osmanen, Vom Kriege wider die Türken (1529) und Heerpredigt wider den Türken (1529).¹⁰ In diesen Flugschriften stellte Luther seine Position zur angemessenen christlichen Reaktion auf den Islam dar. Der Kern seiner Auseinandersetzung ist eine absolute Zurückweisung der mittelalterlichen Kreuzzugstheologie bei gleichzeitiger Unterstützung eines Verteidigungskriegs gegen die Türken. Dieser Aspekt in Luthers Denken ist einer seiner wichtigsten Beiträge zu den christlich-islamischen Beziehungen und wird im folgenden Abschnitt eingehender untersucht. Luther zeigte nicht nur im Kontext der Belagerung Wiens deutliches Interesse am Islam. Er las den Koran (wenngleich in einer schlechten lateinischen Übersetzung, wie ihm selbst deutlich wurde) und war vertraut mit den am weitesten verbreiteten mittelalterlichen christlichen Quellen über den Islam. Er hielt sich über Entwicklungen durch mündliche Berichte, Briefe und Flugschriften auf dem Laufenden. Zusätzlich zu seinen beiden hauptsächlichen Flugschriften anlässlich der Belagerung Wiens veröffentlichte Luther im Zusammenhang eines erneuten Aufrufs zu militärischem Vorgehen gegen die Türken 1541 die Vermahnung zum Gebet wider den Türken. 1542 veröffentlichte er eine Übersetzung der bedeutendsten mittelalterlichen Polemik von christlicher Seite gegen den Islam, die Verlegung des Alcoran Bruder Richardi, Prediger Ordens. Verdeutscht und herausgegeben von Martin Luther. 1543 verfasste er ein Vorwort für seine Wiederveröffentlichung des mittelalterlichen Libellus de ritu et moribus Turcorum und eine Einführung zu Theodor Biblianders lateinischer Ausgabe des Koran.¹¹ Luthers Verbindung zum ersten gedruckten Koran ist besonders interessant. Schon 1529 hatte Luther die Tatsache beklagt, dass er keine genaue lateinische Übersetzung des Korans besaß. Ungefähr zu dieser Zeit begann der Zürcher Reformator Theodor Bibliander sein Studium der arabischen Sprache – mit der Absicht, die erste jemals gedruckte Koranausgabe zu veröffentlichen. 1542 hatte Bibliander seine Fassung fertiggestellt, doch eine öffentliche Debatte über die Gefahr, die der Koran für die christliche Gemeinschaft bedeuten könnte, brachte das gesamte Projekt in Gefahr.¹² Alle gedruckten Ausgaben wurden beschlagnahmt und der Drucker ins Gefängnis geworfen. Luther nahm eine führende Rolle im gemeinsamen überkonfes-
Vgl. WA.B 5,163. Vom Kriege wider die Türken, WA 30/II,81– 148; Heerpredigt wider den Türken, WA 30/II,149 – 197. Vermahnung zum Gebet wider den Türken, WA 51,585 – 625; Verlegung des Alcoran Bruder Richardi, Prediger Ordens. Verdeutscht und herausgegeben von Martin Luther, WA 53,261– 396; Libellus de ritu et moribus Turcorum, WA 30/II,198 – 208; Vorrede zu Theodor Biblianders Koranausgabe WA 53,561– 572. Zu dieser Kontroverse siehe besonders Henry Clarks, „The Publication of the Qur’an in Latin: A Reformation Dilemma“, in: Sixteenth Century Journal 15, 1, 1984.
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sionellen Einsatz zahlreicher protestantischer Führungspersönlichkeiten ein, den Druck wieder zu erlauben. Das Bestreben, den Islam durch seinen grundlegenden Text zu verstehen, und eine Präferenz für Beobachtungen aus erster Hand sind bestimmende Charakteristika einer frühen protestantischen Auseinandersetzung mit dem Islam. Luthers Denkrahmen sola fide und sola scriptura resultierte in der Entwicklung einer Perspektive auf den Islam als im Grunde einer Religion der Werkgerechtigkeit, das heißt des Versuchs, sich vor Gott durch eigene fromme Taten zu rechtfertigen.¹³ Für Luther ist der Islam so sehr durch „Werke“ geprägt, dass jegliche Werkgerechtigkeit innerhalb oder außerhalb des Christentums als „türkisch“ beschrieben werden könnte. Die Türken und seine papistischen Gegner insofern zu verknüpfen, als sie beide Christus verunglimpften und Werke hochhielten, war eine der am häufigsten gebrauchten rhetorischen Waffen in seinen Schriften. Bisweilen pries Luther die Muslime auch für ihre Frömmigkeit. Er meinte, die Disziplin der Türken würde jeden Papisten so sehr beschämen, dass keiner seinen Glauben beibehielte, wenn er nur drei Tage mit den Türken verbrächte.¹⁴ Dennoch wollte Luther, wo er die religiöse Überlegenheit der Türken über die Papisten aufzeigte, in erster Linie die Sinnlosigkeit der Werkgerechtigkeit oder das moralische Scheitern seiner konfessionellen Gegner hervorheben. Letztendlich bediente sich Luther immer desselben Arguments: egal wie geistlich es aussieht – ohne Christus sind sie verloren. Luther sah den Koran im Grunde als Gesetzesbuch – nicht der Bibel gleichgestellt, sondern in Ähnlichkeit zu den päpstlichen Sammlungen kanonischen Rechts. Diese Gesetze seien außerdem nicht moralisch gut oder wenigstens neutral; der Koran sei ein „faul schendlich buch“.¹⁵ Für Luther enthält der Koran nur das, was der menschliche Verstand leicht fassen kann, und lehnt lästerlich Christus als Gott ab. Luther unterstützte die Veröffentlichung des Korans auf Latein, weil er das öffentliche Wissen über den Koran für die größte Waffe gegen den Islam hielt.¹⁶ In seinen Schriften demonstriert Luther ein unvollständiges, nicht gänzlich zutreffendes Verständnis des Islams. Er weiß, dass der Islam verlangt, den einen Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde, zu verehren, wie es Juden und Christen tun. Er weiß, dass Muslime an die Auferstehung der Toten glauben, versteht dies aber nur im materiellen Sinne eines Lebens nach dem Tod, das von Vergnügen charakterisiert ist. Er weiß, dass die Türken Jesus hochschätzen und ihn als großen Propheten betrachten, aber nicht als göttlich. Luther liefert kein Anzeichen dafür, zu wissen, dass der Islam an die jungfräuliche Geburt Jesu glaubt. Luther stellt Mohammed als einen Geber des Gesetzes mit Moses gleich. Im Gegensatz zum vorherrschenden westlichen Siehe besonders Luthers Vorwort zu einem Neudruck von Georg von Ungarns Libellus de ritu et moribus Turcorum, WA 30/II,205 – 208. Vgl. WA 30/II,206. WA 30/II,122,1– 2. Vgl. Luthers Einführung zu Biblianders Koranausgabe, WA 53,565.
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Verständnis im Mittelalter gibt es kein Anzeichen dafür, dass Luther den Islam als Häresie sieht. Vielmehr verstand Luther den Islam als etwas grundlegend Anderes als das Christentum. In Vom Kriege wider die Türken kommt Luther zu dem Schluss, dass der Glaube der Türken eine eigene Religion ist, die sich aus jüdischen, christlichen und heidnischen Elementen zusammensetzt. Nach Luther beanspruchen die Türken (zusammen mit Juden und Papisten), Gott zu kennen, ihm zu dienen und zu ihm zu beten. Sie hoffen, gerettet zu werden, aber dies sei eine falsche Hoffnung. Nur durch Gott komme man zu Christus. Ohne Christus sei das beste Leben, die heiligsten Taten, Gebet und aller Gottesdienst nichts Anderes als Irrtum, Lügen und Tod. In einer Predigt aus den Postillen fragt Luther rhetorisch: „Heyst das nicht Gott kennen, wenn Türck und Jud sagt, wie Gott hymel und erden auß nichts erschaffen, seinen Bund mit Adam und Eva im Paradiß gemachet, Die Kinder Israel auß Egypten gefueret hab“?¹⁷ Aber für Luther macht das keinen Unterschied. Sie glauben nicht an Gott, weil sie nicht an Christus glauben. Zusammengefasst sind die Türken einer der größten Feinde der Kirche und Christen müssen dafür beten, dass Gott sie in Schach hält.
4 Der Kreuzzug und der (gerechte) Krieg gegen die Türken Mittelterliche Kreuzzugstheologie wollte selbstverständlich, dass Gott mehr tat, als bloß die Türken in Schach zu halten. Luthers Pessimismus hinsichtlich eines weltlichen militärischen Erfolgs gegen die Türken und seine Verurteilung des Kreuzzugs waren wichtige historische Beiträge zur Entwicklung christlicher Reaktionen auf den Islam. Es hatte schon vor Luther Kritik an den Kreuzfahrern (besonders an der Moral der Kreuzfahrer) gegeben, aber auch eine allgemeine Akzeptanz der grundlegenden Aspekte der Kreuzzugstheologie.¹⁸ Luther hinterfragte die angemessenen Reaktionen auf die Türken fast von Beginn seines öffentlichen Schaffens an. Luthers erster Einwand gegen einen Kreuzzug war mit dem Verständnis der Türken als Strafe Gottes verbunden. Weil der Grund für den türkischen Vorstoß die Sündhaftigkeit der Deutschen sei, könne jeglicher militärische Einsatz ohne Reform nicht erfolgreich sein. Die erste Maßnahme gegen die Türken müsse aufrichtige Buße bei den Christen sein.¹⁹ Das Motiv der Buße als beste Waffe gegen die Türken hatte während seines gesamten Schaffens Bestand. Um die Türken
Am Tag Philippi und Jacobi, WA 52,643,22– 24. Vgl. beispielsweise Elizabeth Siberry, Criticism of the Crusade, 1095 – 1274, Oxford, 1985. Vgl. beispielsweise Assertio omnium articulorum M. Lutheri per bullam Leonis X. novissimam damnatorum (1520), WA 7,140 – 141; Grund und Ursach aller Artikel D. M. Luthers (1521), WA 7,443.
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zu schlagen, seien das Gebet von Psalm 20 oder 79 besser als jede Faust und jeder Speer.²⁰ Die Belagerung Wiens bot Luther den Rahmen, seine Position zum Kampf gegen die Türken umfassender zu entwickeln. Luthers Ausgangspunkt blieb eine ausdrückliche Kritik am Kreuzzug. Weil er aber jetzt zum militärischen Vorgehen aufrief, war es wichtig für ihn, zu zeigen, dass er seine Position nicht zu einer kriegerischeren Antwort geändert hatte, um Fürsten oder sonst wem (wie ihm vorgeworfen worden war) gefällig zu sein, sondern dass seine früheren Kommentare aus einer Zeit stammten, in der die türkische Bedrohung noch weiter entfernt war. In Vom Kriege wider die Türken ging Luthers Kritik am Kreuzzug über Aufrufe zur Buße oder zum Widerstand gegen Ablassbriefe in Zusammenhang mit einem Kreuzzug als Werkgerechtigkeit hinaus und konzentrierte sich auf den Kreuzzug als blasphemische Verwechslung von himmlischem und weltlichem Reich. Für Luther konnte es so etwas wie einen christlichen „Heiligen Krieg“ nicht geben. Christen als Christen (das heißt hinsichtlich ihrer christlichen Berufung und ihrer Verantwortlichkeiten) durften keinen Krieg führen und nicht einmal daran teilnehmen. Die Schrift gebot es Glaubenden, gegen das Böse keinen Widerstand zu leisten; gegen die Türken zu kämpfen würde einen Protest gegen das Martyrium bedeuten. Obwohl Papst Innozenz IV. es Prälaten erlaubt hatte, den Krieg zu erklären und anzuführen, ihnen aber das eigentliche Kämpfen verbot,²¹ erzürnten Gott, so Luther, kirchliche Versuche militärischer Führung und waren ein Hauptgrund für die Niederlage in einer Schlacht. Der Klerus sollte predigen und beten, nicht Waffen tragen oder Kriegszüge anführen. Nach Luther hatten Soldaten sogar das Recht, sich gegen eine solche Form eines kirchlich geführten Kreuzzugs durch Ungehorsam zu wehren: „Wiederrumb wenn ich ein kriegs man were und sehe zu felde ein Pfaffen oder creutz pannier, wenns gleich ein crucifix selbs were, so wolt ich davon lauffen als jagt mich der Teuffel“.²² Ein zweiter Problembereich war für Luther die Frage, ob die Türken schon deswegen angegriffen werden sollten, weil sie Muslime waren. In seiner abschließenden Stellungnahme äußerte Innozenz IV., dass Muslime, die friedlich innerhalb des Reichs lebten, in Frieden gelassen werden sollten, während diejenigen, die sich weigerten, die Oberherrschaft der römischen Kirche und des Heiligen Römischen Reichs zu akzeptieren, Angriffe von christlicher Seite verdienten.²³ Dies rechtfertigte selbstverständlich beinahe jegliches militärische Vorgehen. Für Luther gab es im Gegensatz dazu keine Rechtfertigung für militärisches Vorgehen – sei es gegen falsche Christen, Häretiker oder sogar Türken.
Vgl. Vermahnung zum Gebet, WA 51,607. Vgl. Frederick H. Russell, Just War in the Middle Ages, Cambridge, 1977, 187. Vom Kriege wider die Türken, WA 30/II,115,1– 3. Vgl. Russell, Just War in the Middle Ages, 201.
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Es sind unter uns Tuercken, Juden, Heiden unchristen alzu viel, beide mit offentlicher falscher lere und mit ergerlichem schendlichen leben. Las den Turcken gleuben und leben wie er will, gleich wie man das Babstum und ander falsche Christen leben lest. Des Keisers schwerd hat nichts zuschaffen mit dem glauben, Es gehoert in leibliche, weltliche Sachen.²⁴
Luthers Kritik am Kreuzzug führte nicht zu einer Zurückweisung von Gewalt gegen die Türken. Die Heerpredigt war ausdrücklich verfasst worden, um die „Faust“ gegen die Osmanen anzumahnen. Für Luther war der Krieg gegen die Türken aus zwei Gründen das Beispiel eines „guten Krieges“ seiner Generation: 1) Die Verteidigung gegen angreifende Gruppierungen sei eine angemessene Maßnahme polizeilicher Art gegen Verbrecher und 2) der Krieg gegen die Türken sei ein Verteidigungskrieg gegen einen Angreifer. Es sei die Pflicht legitimer Herrscher, die Gesellschaft gegen die Türken zu verteidigen, genauso wie sie allen einheimischen Verbrechern und Störenfrieden entgegentreten würden. Außerdem vollbrachten Fürsten, indem sie dieses Gebot erfüllten, eine göttliche, rechtschaffene Tat.²⁵ Als gehorsame Untertanen des weltlichen Regiments obliege es Christen, in der Verteidigung des Reichs ihre Pflicht zu tun. Tatsächlich sei der Kampf gegen die Türken ein Ausdruck des zweithöchsten Gebots, seinen (christlichen) Nachbarn zu lieben. Es besteht hier ein sorgfältig austariertes Gleichgewicht: Man solle nicht im Namen Christi, oder weil sie Feinde Christi seien, gegen die die Türken kämpfen; dennoch stellt dies keine offenkundige Säkularisierung des Krieges dar. Für den christlichen Bürger in diesem gerechten Krieg gegen die Türken ist seine „faust und spies Gottes faust und spies“,²⁶ aber nicht für das Königreich Gottes. Trotz seiner Unterstützung eines militärischen Vorgehens gegen die einfallenden Türken blieb Luther hinsichtlich der Möglichkeit eines militärischen Erfolgs durch den Kaiser pessimistisch. Er betrachtete die Türken als Strafe Gottes gegen Deutschland, gegen die es keine Verteidigung gab. Dennoch drängte er die protestantischen Fürsten dazu, bei der Verteidigung des Vaterlands gegen die Türken zu helfen, selbst wenn zu befürchten sei, dass sie nach dem Kriegszug selbst angegriffen werden würden. Für Luther stellte der Krieg gegen die Türken eine Erfüllung der weltlichen Pflicht dar, den Nachbarn zu schützen, den zu lieben man aufgerufen sei. In keiner Weise sei dieses militärische Vorgehen ein Versuch, die Kirche zu verteidigen, Jerusalem einzunehmen oder das Königreich Gottes auszuweiten. Der Unterschied zu früheren christlichen Antworten auf den Islam ist erheblich: Für Luther konnte der einzige Erfolg im Gebet und in aufrichtiger Wandlung bestehen, gefolgt von Gottes eschatologischem Ein-
Vom Kriege wider die Türken, WA 30/II,131,5 – 9. Vgl. beispielsweise Martin Luther und Phillip Melanchthon, Zwen trostbrieve geschriben an der Durchleuchtigen und hochgebornen Fürsten und Herrn Herrn Joachim Churfürste und Marckgraven zu Brandenburger vom Türcken zuge, Nürnberg: Berg, 1532, 4a-5a. Heerpredigt, WA 30/II,174,20 – 21.
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greifen. Am Ende der Zeiten werde der Sieg über die Türken nur durch Gottes Richterspruch kommen, „mit blix, donner, hellisch feur“.²⁷
5 Die Türken und die Eschatologie Im Vergleich des damaligen Zustands der Welt mit der Schrift war für Luther klar, dass er in der Endzeit lebte. Er verglich das damalige Deutschland mit den Tagen vor der Flut, als Schlechtigkeit die Erde bedeckte. Gott werde dies nicht länger aushalten, das Jüngste Gericht stehe kurz bevor.²⁸ Weil das Weltenende nahe, wüte der der Teufel mit zwei Waffen: dem Antichristen (dem Papst) und der Bedrängnis, die in Mt 24,21 vorhergesagt ist, den Türken, sodass: „der Tuercke gewislich sey der letzte und ergeste zorn des teuffels widder Christum […], das noch dem Tuercken flugs das gericht und die helle folgen sol.“²⁹ Für Luther enthielt die Schrift eine Fülle an Informationen zur Endzeit. Eine der wichtigsten Beschreibungen dazu fand sich im Buch Daniel. Luther, Melanchthon und Jonas schrieben alle Kommentare zu diesem Buch in Verbindung mit den Türken.³⁰ Weil sie tatsächlich die Ereignisse erlebten, die im Buch Daniel vorhergesagt worden waren, hielten es die lutherischen Theologen für absolut berechtigt, aus dem Buch Informationen zur gegenwärtigen Situation bezüglich der Türken zu gewinnen. Entsprechend ihrer Deutung wurden die vier Tiere aus Dan 7 historisch als Repräsentationen der vier Königreiche Assur-Babylon, Medo-Persien, der Griechen und der Römer interpretiert. Die zehn Hörner repräsentierten die zehn Provinzen des römischen Imperiums: Frankreich, Italien, Spanien, Afrika, Deutschland, England, Ungarn, Griechenland, Asien und Ägypten. Die Türken waren ab Vers 8 Teil der Deutung: Mohammed und sein Glaube seien das kleine Horn, das inmitten der zehn Hörner wuchs. Die Augen des Horns seien Mohammeds Koran. Der Mund, der blasphemische Äußerungen von sich gibt, sei Mohammed, der sich selbst über Christus stelle. Die Aussage, dass das kleine Horn die anderen Heiligen unterdrücken und über sie herrschen werde, sei für die Türken sicher wahr: „Denn der Tuerck keinem volck so feind ist auf erden als den Christen, streit auch widder niemand mit solchem blutdurst als widder die Christen“.³¹ Entgegen dem Anschein gab diese Auslegung des Buches Daniel den Lutheranern ein hohes Maß an Zuversicht. Obwohl Luther öffentlich keinen terminus ad quem der türkischen Macht erklären würde, sagte er voraus, dass sich das Endgericht in un-
Vorrhede Martini Luthers auff das XXXVIII. und XXXIX. Capitel Hesechiel vom Gog, WA 30/II,224,37. Vgl. Luther, Vermahnung zum Gebet, WA 51,592. Luther, Heerpredigt, WA 30/II,162. Luthers Interpretation findet sich vor allem in der Heerpredigt. Entsprechende Positionen Justus Jonas’ und Philipp Melanchthons finden sich in Das siebend Capitel Danielis von des Türcken Gottes lesterung und schrecklicher morderey mit unterricht, Wittenberg: Lufft, 1529. Luther, Heerpredigt, WA 30/II,169,7– 8.
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mittelbarer Zukunft ereignen würde. Im Privaten schlug er hierfür, basierend auf seiner numerologischen Deutung von Dan 7,25 („eine Zeit und zwei Zeiten und eine halbe Zeit“) ungefähr 1558 vor.³² Die Türken seien nicht nur zeitlich, sondern auch geographisch begrenzt. Daniel erklärte, das kleine Horn habe nur drei der zehn Hörner ausgerissen. Die Türken hatten schon drei „Provinzen“ eingenommen: Ägypten, Afrika und Asien. Gemäß der Schrift würden sie nicht mehr Territorium einnehmen; obwohl sie angegriffen werden könnten, seien Ungarn, Deutschland und der Rest Europas sicher.³³ Das Buch der Offenbarung bot ebenfalls wertvolle Einsichten in die gegenwärtige Situation.³⁴ In der Analyse Luthers tauchten Mohammed und die Türken prominent an einigen Stellen der Vision des Johannes auf. Kommentare in den Marginalien der Deutschen Bibel erklärten, Muhammed sei die zweite Wehe (Offb 9,13 – 21) zwischen Arius und dem Papst.³⁵ Obwohl Luther sich letztendlich die Bezeichnung „Antichrist“ allein für den Papst vorbehielt,³⁶ war es in Luthers Umfeld akzeptiert, die Türken als Teil des Antichristen zu sehen. Manche erklärten die Türken zu einer Manifestation des „physischen“ oder körperlichen im Gegensatz zur „geistlichen“ Manifestation des Antichristen im Papsttum.³⁷ Lutherische Theologen würden sich später bisweilen der Begrifflichkeit des „westlichen Antichristen“ (dem Papsttum) und des „östlichen Antichristen“ (den Türken) bedienen. Luther interpretierte auch den biblischen Begriff „Gog/Magog“ als Bezeichnung für die Türken. Ende des Frühjahrs 1530, als er noch auf der Feste Coburg auf Neuigkeiten vom Reichstag zu Augsburg wartete, arbeitete Luther weiter an seiner Übersetzung des Alten Testaments ins Deutsche, zu dieser Zeit an Jeremia. Er unterbrach jedoch sein schrittweises Vorgehen, sprang vorwärts und fertigte eine spezielle Übersetzung von Ez 38 und 39 an, die er mit einer Einführung ausstattete und als eigenständige Flugschrift zur direkten Veröffentlichung nach Wittenberg schickte.³⁸ In Ez 38 und 39 weist JHWH den Propheten an, gegen eine riesige einfallende militärische Macht aus dem Norden namens Gog aus dem Land Magog zu sprechen.
Dies wurde von 1453 aus errechnet, mit der Verwendung von „Zeit“ als 30 Jahren (der Lebensspanne Christi), also 105 Jahren. Dabei wären noch 20 Jahre übrig, wobei Luther betonte, dass dies nur eine mögliche Erklärung sei. WA.TR 1,453 (Nr. 904). Vgl. Luther, Heerpredigt, WA 30/II,171. Nach Barnes war die türkische Belagerung Wiens eine primäre Motivation für Luthers Abfassung eines Kommentars zur Offenbarung. Siehe dazu Robin Barnes, Prophecy and gnosis: Apocalypticism in the Wake of the Lutheran Reformation, Stanford, 1988, 44. Vgl. WA.DB 7,409. Vgl. Luther, Vom Kriege, WA 30/II,126. Offensichtlich war dies ursprünglich eine Aussage Luthers: „…papa est spiritus Antichristi, et Turca est caro Antichristi. Sie helffen beyde einander wurgen, hic corpore et gladio, ille doctrina et spiritu.“ WA.TR 1,135 (Nr. 330). Dieser Sonderdruck war vermutlich seine erste Arbeit in Coburg. Siege dazu WA 30/II,220 – 235. Zur gesamten Einführung mit Kommentar siehe Gregory J. Miller, „Preface to the Thirty-Eighth and ThirtyNinth Chapters of Ezekiel, on Gog“ in: Luther’s Works, Bd. 59, St Louis, 2012, 277– 284.
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Obwohl JHWH sie dazu verleitet hatte, das ahnungslose Volk, das auf den „Bergen Israels“ lebte, anzugreifen, sollte der Prophet erklären, dass Gott sein Volk auf wundersame Weise retten und die Eindringlinge vernichten werde. Auf Gog und Magog wird auch in der Offenbarung in den Kapiteln 16 und 20 verwiesen, wo sie die vom Satan entfesselten Horden sind, wenn dieser nach 1000 Jahren des Friedens für den einen letzten Kampf freigelassen wird. In dieser Passage wird Gott sie, obwohl Gog/ Magog das „Heerlager der Heiligen und die geliebte Stadt“ (Offb 20,9) umringen, von oben mit Feuer aus dem Himmel vernichten. Gleich nach der Zerstörung Gogs und Magogs folgt das Jüngste Gericht. Luther erklärte, die Passagen aus Ezechiel und der Offenbarung verwiesen auf dasselbe Ereignis, eine gewaltige letzte Konfrontation zwischen den Türken und dem „wahren Israel“ (das heißt, den protestantischen Deutschen). Luther versuchte nicht, die komplizierte Chronologie aus diesen beiden Passagen gänzlich zu erklären. Er deutete schlichtweg die 1000 Jahre der Bindung des Teufels als den Zeitraum von der Abfassung des Buchs der Offenbarung bis zur Gründung des türkischen Königtums um 1300 und erklärte, die Zahlen müssten nicht exakt sein.³⁹ Dieser Interpretation entsprechend ist die letzte Zeit des Wütens des Teufels die Zeit des osmanischen Reichs. Nach Luther sollten jedoch sowohl Ezechiel als auch die Passagen über Gog/ Magog aus der Offenbarung alle wahren Gläubigen trösten. Obwohl die Türken die Stadt Gottes (Wien?) angreifen könnten, würden sie keinen Erfolg haben. Sie würden nicht durch Militärgewalt, sondern durch Feuer aus dem Himmel vernichtet werden. Wie im Buch Daniel gibt es nach der Vernichtung der Türken nur noch ein Ereignis in der menschlichen Geschichte: das Jüngste Gericht. Diese extreme Bedeutung der Unmittelbarkeit und Luthers gänzliche Zurückweisung eines Sieges innerhalb der menschlichen Geschichte stellen eine signifikante Abweichung von mittelalterlichen Perspektiven auf den Islam dar und sind letztendlich einer der grundlegenden Beiträge zur Geschichte christlich-islamischer Beziehungen im frühen 16. Jahrhundert.
6 Luthers Erbe Luthers grundlegende Veröffentlichungen über die Türken wurden in unregelmäßigen Abständen wieder gedruckt und scheinen von späteren Forschern so gesehen worden zu sein, als hätten sie nur eine begrenzte direkte Anwendung. Luthers Äußerungen über die Türken in diesen Flugschriften und noch mehr in seinen einflussreichen Bibelkommentaren und Postillen bauten eine ‚Orthodoxie‘ auf, die in lutherischen Kreisen bis weit ins 17. Jahrhundert vorherrschend blieb. Die Positionen, die Luther zum Wesen des Islams, dem gerechten Krieg, wie er für Nicht-Christen gilt, und hinsichtlich der Rolle des Islams im Eschaton entwickelt hatte, hatten großen Einfluss auf
Vgl. WA 48,224.
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viele spätere protestantische Denker, nicht nur auf Lutheraner, sondern besonders in der englischsprachigen Welt. Es ist unbestreitbar, dass es eindeutige Momente der Kontinuität zwischen mittelalterlichen Perspektiven auf den Islam und Luthers Vorstellung von den Türken gibt. Doch in Luthers Schriften finden sich deutliche, wenngleich bisweilen subtile, Änderungen. Vor dem unmittelbaren Hintergrund der Kreuzzugstheologie des mittelalterlichen Papsttums betrachtet, heben Luther und seine Kollegen sich zum Beispiel deutlich ab. Der Klerus darf nicht zum Krieg aufrufen, ihn führen oder kämpfen. Luther wies zudem den Weg zur Transformation der militärischen Reaktion auf den Islam von einem Kreuzzug zu einem Verteidigungskrieg, um das Heimatland zu schützen. Obwohl seine Position dem Wesen nach ausgesprochen religiös war, sind in seinen Schriften die Keimzellen eines Eingeständnisses enthalten, dass die Türken eine von Gott erlaubte Macht seien, die den Gehorsam ihrer Untertanen verdient (selbst ihrer christlichen Untertanen). Dies würde später die schrittweise Akzeptanz des Osmanischen Reiches im europäischen Staatswesen erlauben. Eine weitere wichtige, langfristige Konsequenz der Sicht Luthers auf den Islam war, dass eine eschatologische Deutung des Islams in die eigentliche Basis mancher Formen des Protestantismus eingearbeitet wurde. Für Luther waren die Türken ein wichtiger Teil des Dramas der „letzten Tage“, das nur mit dem Jüngsten Gericht enden würde. Diese eschatologische Interpretation des Islams sollte sich bis weit ins 17. Jahrhundert als sehr einflussreich erweisen, obwohl sie, mit Johannes Calvin als entscheidendem Gegenbeispiel, nicht von allen akzeptiert wurde.⁴⁰ Weiterhin führten die internen theologischen Problemstellungen Luther dazu, sich viel mehr auf den Koran und auf türkische Glaubensüberzeugungen und Praktiken als auf traditionelle, auf dessen Biographie basierende Polemik gegen Mohammed zu konzentrieren. Zudem wies Luther das übliche mittelalterliche Verständnis des Islams als einer häretischen Form des Christentums zurück. Protestantisches Interesse an den alten Sprachen und Misstrauen gegenüber übernommenen katholischen Sichtweisen regten zu einer Suche nach neuen Informationsquellen an. Der Impuls, Texte in ihrer Originalsprache zu studieren und Berichte aus erster Hand zu bevorzugen, würde schließlich zu einem fundierteren Wissen und der weit verbreiteten Zurückweisung vieler falscher mittelalterlicher Vorstellungen vom Islam führen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass wir behaupten können, Luther und diejenigen, die unter seinem Einfluss standen, hätten einen positiven Beitrag zur Geschichte christlich-islamischer Beziehungen im Sinne friedensschaffender Maßnahmen oder einem friedvollen Umgang mit dem muslimischen Gegenüber geleistet. Luther sah die Türken klar als Feinde Gottes, ja als die eigentliche Verkörperung teuflischer Gewalt und teuflischen Zornes. Luther wusste, dass die Türken beanspruchten, den einen
Zwinglis und Calvins Interpretation der Türken war bewusst nicht eschatologisch. Vgl. Robin Barnes, Prophecy, 277; Jacques Pannier, „Calvin et les Turcs“, in: Revue Historique 180, 1937, 283 ff.
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Gott zu verehren, den Gott der Juden und der Christen. Aber er wies diesen Anspruch hartnäckig zurück; sie verehrten den Teufel, sagte er. Luther behauptete auch, ihr Heiliges Buch, der Koran, sei eine üble Mischung aus menschlicher Zügellosigkeit und teuflischen Lügen. Doch hinter Luthers Verkündigung der Schändlichkeit des Korans steht eine wichtige Neubeschäftigung mit dem heiligen Buch der Muslime und authentischen muslimischen Lehren. Luther argumentierte, um angemessen auf die Muslime reagieren zu können, müsse man lernen, woran sie in Wirklichkeit glaubten und wie sie in Wirklichkeit lebten, und nicht nur mittelalterliche Erfindungen über sie übernehmen. So ist Luthers Erbe nicht nur negativ. Sein Interesse an authentischen islamischen Glaubensüberzeugungen und Praktiken und sein Wunsch nach einem fehlerfrei übersetzten Koran sind die Grundlage, auf der in jüngerer Zeit fruchtbringender interreligiöser Dialog mit Muslimen von lutherischer Seite aufbaut.
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Martin Luther, die sexuelle Reformation und gleichgeschlechtliche Sexualität Meine Ausführungen versuchen einem Paradoxon auf die Spur zu kommen. Was die Geschichte der Sexualitäten betrifft, bedeutet die Reformation einen tiefen Einschnitt. Was die Geschichte der Homosexualitäten angeht, wird man indes das Gleiche nicht behaupten können.¹ Wie sich im Folgenden erweisen wird, war Martin Luther bei der Konzeptualisierung gleichgeschlechtlicher Sexualität kein Neuerer. Der Luther’sche Sodomiediskurs kommt einer Variation über Themen der Pastoraltheologie und Sexualpolemik gleich, wie sie im Spätmittelalter in deutschen Landen kursierten. Die Wiedererkennbarkeit sexueller Topoi war gewollt; der gesellschaftliche Erfolg der reformatorischen Bewegung beruhte auf der breiten gesellschaftlichen Resonanz ihrer Ideen und Argumente.² Allerdings kann man bei Luther eine rhetorische Zuspitzung der Sodomiebildlichkeit beobachten.
1 Die sexuelle Reformation Am 6. Dezember 1525 schrieb Martin Luther an seinen Mitstreiter Georg Spalatin die folgenden Zeilen: Glaub mir, ich freue mich an Deiner Ehe […] nicht weniger als Du an meiner […]. Grüß Deine Frau freundschaftlich von mir. Wenn Du neben Deiner Katharina im Bett liegst, sie mit den süßesten Umarmungen umfängst und küsst, denk daran: ‚Dieses menschliche Wesen, das beste Geschöpf [Geschöpflein] Gottes, hat mir mein Christus, dem Ruhm und Ehre gebührt, zuteilwerden lassen.‘ Ich werde den Tag, an dem Du diesen Brief erhältst, erraten, und in derselben Nacht meine Frau im Gedenken an Dich mit eben diesem Akt lieben […]. Meine Rippe und ich grüßen Dich und Deine Rippe.³
Arend H. Huussen, Jr., „Sodomy in the Dutch Republic during the Eighteenth Century“, in: Robert Purks Maccubbin (Hg.), ‚Tis Nature’s Fault:‘ Unauthorized Sexuality during the Enlightenment, Cambridge, 1985, 169 – 178, beginnt seine Ausführungen mit eben dieser These für die Geschichte des Calvinismus in den Niederlanden; die Calvinisten hätten ihre Vision der Sodomie von Anderen übernommen. Der einzige Reformationshistoriker, der bisher den Versuch unternommen hat, die gleichgeschlechtliche Sexualität in seine Darstellung einfließen zu lassen, ist Diarmaid MacCulloch, The Reformation. A History. London, 2003, 599 – 607 (The Fear of Sodomy). R. W. Scribner, For the Sake of Simple Folk: Popular Propaganda for the German Reformation, Oxford, 1994. Martin Luther, Brief an Georg Spalatin vom 6. Dezember 1525. In: WA.B 3,634: „Certe gestit mihi animus in tuas nuptias […] quam in meas ipsius. […] Saluta tuam coniugem suavissime, verum vt id tum facias, cum in thoro suavissimis amplexibus & osculis Catharinam tenueris, ac sic cogitaveris: En hunc hominem, optimam creaturulam Dei mei, donauit mihi Christus meus, sit illi laus & gloria. Ego quoque, cum diuinauero diem, qua has acceperis, mox ea nocte simili opere meam amabo in tui https://doi.org/9783110498745-040
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Mit diesen Worten versicherte der Wittenberger Reformator seinem langjährigen Freund, dass er mit seiner Heirat den richtigen Weg eingeschlagen hatte.⁴ Luther legte dem Brief eine Hochzeitsgabe bei und beauftragte einen Vertrauten, beides zu überbringen; er selbst konnte an den Hochzeitsfeierlichkeiten nicht teilnehmen.⁵ Die zwei Weggefährten waren trotz räumlicher Trennung einmal mehr vereint: Luther, der im ehemaligen Augustinerkloster residierende Professor der Theologie an der Universität Wittenberg, sowie Spalatin, der nach dem Tod seines Dienstherren, des Kurfürsten Friedrich des Weisen, eine Pfarrstelle im sächsischen Altenburg angetreten hatte. Am 27. Juni 1525 hatte Luther Katharina von Bora, eine aus dem Kloster entflohene Nonne, geehelicht; Spalatin war mit Katharina Heidenreich oder Strobel am 19. November desselben Jahres den Ehebund eingegangen.⁶ Beider Heirat stellte einen radikalen Bruch mit der für den katholischen Klerus verbindlichen zölibatären Lebensweise dar, wie sie bei aller Kritik am Lebenswandel der Geistlichen jahrhundertelang in höchster Achtung gestanden hatte.⁷ Seit Beginn der 1520er Jahre bestritten evangelisch inspirierte Kleriker, dass es eine eindeutige biblische Grundlage für eine Höherbewertung keuschen Lebens gibt. Bartholomäus Bernhardi – Student Luthers, ehemaliger Augustinermönch, Rektor der Leucorea und Pfarrer in Kemberg – zog daraus Konsequenzen und ging als einer der ersten Kleriker im Mai 1521 eine Ehe ein.⁸ Ein anderer Reformator, Justus Jonas, schrieb später, dass Tausende seinem Beispiel gefolgt seien.⁹ Die Heiraten von evangelisch gesinnten Mönchen, Nonnen, Priestern und Klerikern stellten Schwellenereignisse für Gemeinden in der Frühzeit der Reformation dar. Wie der Konsum von Fleisch in der Fastenperiode und ähnliche Aktionen signalisierten diese Ehen den Anbruch einer neuen Zeit; sie machten die sozialen Folgen einer Anwendung reformatorischer Prinzipien auf sämtliche Aspekte christlichen Lebens deutlich.
memoriam & tibi pari referam. Salutat & te et costam tuam mea costa in Christo“ (Übers. Helmut Puff). Siehe Georg Berbig, Georg Spalatin und sein Verhältnis zu Martin Luther auf Grund ihres Briefwechsels bis zum Jahre 1525, Quellen und Darstellungen aus der Geschichte des Reformationsjahrhunderts 1, Halle a. d. S., 1906, 292. Zu den Briefen als Schlüssel zu Luther, siehe Lyndal Roper, Der Mensch Martin Luther. Eine Biographie, übers. Holger Fock und Sabine Müller, Frankfurt am Main, 2016, 24– 26. Siehe Berbig, Spalatin und sein Verhältnis, 288 – 295 (Luthers und Spalatins Ehestand). Siehe auch Roper, Der Mensch Martin Luther, 224– 227. Berbig, Spalatin und sein Verhältnis zu Martin Luther, 292. Zu Spalatin siehe Christopher Spehr, „Georg Spalatin“, in: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hg.), Neue Deutsche Biographie, Bd. 24, Berlin, 2010, 614 f; Hans Joachim Kessler et al., Spalatin in Altenburg. Eine Stadt plant eine Ausstellung, Halle, 2012; Irmgard Huss, Georg Spalatin 1484 – 1545. Ein Leben in der Zeit des Humanismus und der Reformation, Weimar, 1956. Peter A. Dykema und Heiko A. Oberman (Hg.), Anticlericalism in Late Medieval and Early Modern Europe, Leiden, 1993. Marjorie Elizabeth Plummer, From Priest’s Whoe to Pastor’s Wife. Clerical Marriage and the Process of Reform in the Early German Reformation, Farnham, 2012, 51– 89. Stephen E. Buckwalter, Die Priesterehe in Flugschriften der frühen Reformation, Gütersloh, 1998, 97. Dorothea McEwan, Das Wirken des Vorarlberger Reformators Bartholomäus Bernhardi, Dornbirn, 1986.
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Luther war nach 1520 gelegentlich gedrängt worden, seiner theologischen Neubegründung der Ehe Taten folgen zu lassen und sich zu verheiraten.¹⁰ Andere wirkten dagegen auf ihn ein, die Sache des Evangeliums nicht durch eine Heirat zu gefährden. Eine Ehe musste ihrer Meinung nach Wasser auf die Mühlen von Luthers Gegnern sein. Ihnen bot seine Verheiratung die Gelegenheit, gegen die Lüsternheit des Reformers zu polemisieren – ein locus classicus der spätmittelalterlichen Kleruskritik.¹¹ Offensichtlich fiel es Luther schwer, die vertraute homosoziale Welt der Gelehrten und Mönche mit der heterosozialen eines Haushaltsvorstands, Ehemanns und Vaters zu vertauschen; einige spätmittelalterliche Universitätsangehörige hatten diesen Wechsel von der zölibatären Existenz zum Familiendasein vorexerziert.¹² Als er sich endlich entschloss, das Jawort zu geben, dann u. a. aus politischen Erwägungen. Im Jahr des Bauernkriegs sollte seine Ehe ein Zeichen für den als gefährdet wahrgenommenen sozialen Frieden setzen.¹³ Dass die Reformation einer neuen sexuellen Ordnung zum Durchbruch verhalf, ist in der Reformationsgeschichtsschreibung Konsens – eine der fundamentalsten gesellschaftlichen Änderungen, welche die Reformen religiösen Lebens im 16. Jahrhundert nach sich zogen. Die Vorstellung, dass Menschen unweigerlich sexuelle Wesen sind und sexuelles Begehren unseren Körpern eingeschrieben ist, prägt viele Gesellschaften; in der Reformation ist ein Ursprung dieser Auffassung auszumachen. Deshalb auch erklärte Luther die Ehe von Mann und Frau zum verbindlichen Standard für praktisch jeden Erwachsenen. Sexualität war allein in der Ehe legitim. Zwar büßte sie in protestantischen Territorien ihren Status als Sakrament ein. Dennoch kam ihr ein hoher Stellenwert zu. In diesem Sinn wurde daraufhin das Eherecht reformiert. Ehehindernisse, wie sie im Mittelalter bestanden hatten, beseitigte man. Zu den die Aufwertung der Ehe flankierenden Maßnahmen gehörten die Einbeziehung der Eltern bzw. der Sozialgemeinschaft in die Eheschließung, die Disziplinierung vor- und außerehelicher Sexualität, die obrigkeitlich verordnete, in vielen Fällen gewaltsame
Martin Luther, „An den christlichen Adel deutscher Nation, 1520“, in: WA 6,404– 469, hier: 408, 440 f. In der Tat bediente sich die katholische Polemik gegen den Reformer vor allem dieses Topos, siehe Helmut Puff, Sodomy in Reformation Germany and Switzerland, 1400 – 1600, Chicago, 2003, 155 – 156. Siehe beispielsweise das Frontispiz von Kilian Leibs, dem Prior des Augustinerchorherrenstifts in Rebdorf, nur handschriftlich überlieferter Schrift Luthers Bad und Spiegel. Es zeigt einen Mönch und eine Nonne (von einer anderen Hand als dem Schreiber in einer Schrift des 16. Jahrhunderts als „ket von bora“ bezeichnet), die Händchen halten; es ist nicht lange nach Luthers Heirat entstanden (Bayerische Staatsbibliothek München, cgm 6551). Gadi Algazi, „Scholars in Households: Refiguring the Learned Habitus, 1480 – 1550“, in: Science in Context 16, 2003, 9 – 42. Für den anhaltenden Widerstand gegen pfaffenhuren ist Spalatins Verehelichung ein gutes Beispiel. Zu den Auseinandersetzungen in Altenburg siehe Huss, Spalatin, 292– 307.
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Auflösung der Klöster ebenso wie ein Prostitutionsverbot.¹⁴ Was die Einführung reformatorischer Prinzipien in den protestantischen Städten und Territorien des Reichs bewirkte, war mithin eine stringente Umsetzung einer auf die Ehe zentrierten, umfassenden, koordinierten Sexualpolitik.¹⁵ Meine Beschreibung legt nahe, dass die sexuelle Reformation keine Befreiung aus den Fesseln sexueller Zwangsabstinenz im Zölibat mit sich brachte.¹⁶ Die Verbindlichkeit der Ehe basierte letztlich nicht auf einer positiven Einschätzung sexueller Handlungen, selbst dann nicht, wenn es um Sexualverkehr zwischen Mann und Frau in der Ehe ging. Man sollte sich von Luthers Warmherzigkeit im zitierten Brief nicht einlullen lassen. Der Akzent liegt primär auf der Erfüllung eines göttlichen Auftrags, erst sekundär auf der bei aller Asymmetrie der Geschlechterkonzeption wechselseitigen Befriedigung der Ehepartner.¹⁷ Die sexuelle Lust sah Luther als eine schwere Last an, welche die Erbsünde allen Menschen aufgebürdet hatte. Um jeden Irrtum in diesem Punkt auszuräumen, endet Luther seine Schrift Vom ehelichen Leben von 1522 mit dem Verweis auf die Folgen des Sündenfalls und damit, dass „keyn ehepflicht [= ehelicher Sexualverkehr] on sund [= Sünde] geschicht“.¹⁸ Die Einsicht in die generelle Sündhaftigkeit einer als sexuell begriffenen Menschheit wirkte auf Luther entlastend. Wenn der aus der Lust resultierenden Sexualität nur durch göttliche Gnade beizukommen war, konnte man ihr, wie viele seiner Äußerungen zeigen, mit erstaunlicher Gelassenheit begegnen. Deswegen auch konnte der Reformator seiner Freude am Geschlechtsakt beredten Ausdruck verleihen. Luther erlebte religiöse Fragen ganz unmittelbar am eigenen Leib.¹⁹ Die Rippe aus Luthers Brief an Spalatin ist Verweis auf die Schöpfungsgeschichte ebenso wie auf eine zutiefst körperlich erfahrene Religiosität. Das Ehegebot, wie es Luther in Vom ehelichen Leben formuliert, wandelte sich rasch zur Ehepflicht aller Erwachsenen; in der Forschung hat man sogar von Zwangsheterosexualität gesprochen.²⁰ Von der Erwartung, sich zu verehelichen waren
Lyndal Roper, The Holy Household. Women and Morals in Reformation Augsburg, Oxford, 1989; Roper, „Discipline and Respectability. Prostitution and the Reformation in Augsburg“, in: Joan Wallach Scott (Hg.), Feminism and History, Oxford, 1996, 333 – 365. Isabel Hull, Sexuality, State, and Civil Society in Germany, 1700 – 1815, Ithaca, NY, 1996, 9 – 49. Steven Ozment, When Fathers Ruled. Family Life in Reformation Europe, Cambridge, Mass., 1983; Heide Wunder, ‚Er ist die Sonn’, sie ist der Mond.‘ Frauen in der Frühen Neuzeit, München, 1992; Joel Harrington, Reordering Marriage and Society in Reformation Germany, Cambridge, 1995; Amy Leonard, Nails in the Wall. Catholic Nuns in Reformation Germany, Chicago, 1995. Rüdiger Schnell, Sexualität und Emotionalität in der vormodernen Ehe, Köln, 2002. Martin Luther, „Vom ehelichen Leben, 1522“, in: WA 10/II,275 – 304, hier: 304. Roper, Luther, passim. Raewyn Connell, Masculinities, Berkeley, 1995, 186; Ulinka Rublack, „Interior States and Sexuality in Early Modern Germany“, in: Scott Spector, Dagmar Herzog und Helmut Puff (Hg.), After the History of Sexuality. German Genealogies with and beyond Foucault, New York, 2012, 43 – 62. Vgl. Luther, „Vom ehelichen Leben“, 276: „Denn es ist … eyn nöttig naturlich ding, das alles, was eyn man ist, muß ein weyb haben, und was eyn weyb ist, muß eyn man haben.“
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nur diejenigen Gemeindeglieder ausgenommen, die wegen körperlicher Gebrechen nicht zeugungsfähig waren.²¹ Auch in protestantischen Territorien heirateten indes nicht alle Heiratsfähigen. So sehr Luther dafür plädieren mochte, Männer und Frauen sollten sich nach eingetretener Geschlechtsreife verehelichen, so fehlte vielen Menschen doch die ökonomische Grundlage für einen Hausstand.²² Aber auch wenn nicht jedermann heiratete oder sich nicht wiederverheiratete, konnte man nichtsdestotrotz an der Vorstellung von der Ehe als einer gottgewollten, universalen Geschlechtergemeinschaft partizipieren. Folgt man Luther, dann war die Ehe und die Fortpflanzung in der Ehe also „gottlich“ oder „gottis werck“.²³ Dort, wo der sexuellen Begierde kein Ventil in der Ehe verschafft werde, behauptet er, „gehet doch […] hurerey, ehebruch und stummen sund seynen weg“.²⁴ Damit sind wir am Ort angelangt, wo die Diskussion der einzig richtigen Sexualität in der Ehe in die vage Erwähnung – nicht mehr als das – der Homosexualitäten und anderer als illegitim erachteter Spielarten des Sexus mündet. Der Ehe als eines gottgewollten Bunds zwischen Mann und Frau stand somit eine Anzahl sexueller Akte gegenüber, die Luther in Opposition zu ehelicher Sexualität setzte. Es ist Luthers Konzentration auf die scharf gezogene Trennlinie zwischen einer richtigen ehelichen Sexualität einerseits und ihren vermeintlichen Antipoden andererseits, welche die Sicht sowohl auf die eheliche wie auf die nichteheliche Sexualität erschwert: Einerseits unterweist der Reformator, anders als so mancher vorreformatorische Theologe, sein Publikum so gut wie nicht darin, wie, wann und unter welchen Bedingungen das Ehepaar seiner ihm auferlegten Pflicht zu wechselseitiger sexuellen Befriedigung nachzukommen habe;²⁵ andererseits verlieren sich die Konturen der verworfenen sexuellen Alternativen in ihrer summarischen Verurteilung bzw. ihrer Kontrastierung mit der Ehe.
Luther, „Vom ehelichen Leben“, 278 – 280. Maryanne Kowaleski, „Singlewomen in Medieval and Early Modern Europe. The Demographic Perspective“, in: Judith M. Bennett und Amy M. Froide (Hg.), Singlewomen in the European Past 1250 – 1800, Philadelphia, 1999, 38 – 81. Luther, „Vom ehelichen Leben“, 276, 295, 298 u. ö. Luther, „Vom ehelichen Leben“, 276. Siehe auch ebd., 293: „da Paulus von schreybt Ro. 1, und ließ sie faren ynn hurerey, unreyne fluß, biß sie hinfurt keyne weyber, sondern knaben und unvernunfftige thier schendeten“; ebd., 299: „Und ist das nicht eyn geringe gutt, das durch solch [ehelich] leben die hurerey und unkeuscheyt nach bleybt und verweret wirt“ und ebd., 300: „Geschichts nicht ynn der ehe, wo solts anders denn ynn hurerey odder erger sunden geschehen.“ Auf S. 301 dieser Schrift werden auch medizinische Gründe angeführt, da nicht gelebte Sexualität dem Körper Schaden zufüge. Luther, „Vom ehelichen Leben“, 275: „Wie wol mir grawet, und nit gern vom Eelichen leben predige […].“ Der erste Absatz der Schrift macht den pastoraltheologischen Impetus der Schrift deutlich.
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2 Von der Stummheit einiger sexueller Sünden Mit „hurerey, ehebruch und stumme[] sund“ – den drei von Luther genannten notwendigen Folgen der Eheverweigerung bzw. eines institutionalisierten Keuschheitsgebots – nimmt der Reformator moraltheologisch-kirchenrechtliche Kategorien aus der scholastischen Theologie auf: fornicatio, adulterium und vicium sodomiticum. Mittelalterliche Theologen hatten das Sündenraster systematisiert. Thomas von Aquin etwa fächert in seiner Summa theologiae die Lust (luxuria), eine von sieben Todsünden, in sechs Untersünden auf: fornicatio (Geschlechtsverkehr zwischen Mann und Frau), adulterium (Ehebruch), incestus (Inzest), stuprum (bestimmte Formen sexueller Gewalt), raptus (Entführung bzw. Frauenraub) und vicium sodomiticum (sodomitische Sünde).²⁶ Luther dünnt die Liste aus. Er übergeht kirchenrechtliche Kategorien (incestus, stuprum, raptus); stattdessen führt er lediglich Termini an, die eindeutig sexuelle Akte bezeichnen (fornicatio, adulterium, vicium sodomiticum). Mehr noch, er behält deren Anordnung in aufsteigender Schwere bei: „hurerey, ehebruch und stumme[] sund“. Die scholastische Theologie beurteilte die Sündhaftigkeit einer sexuellen Verfehlung je nachdem auf welche Weise, von wem und mit wem sie begangen wurde – und das heißt, wie sie gegen die von diesen Theologen diskutierte göttliche Schöpfungsordnung verstieß. Anders gesagt, während Geschlechtsverkehr Unverheirateter oder Ehebruch ein Vergehen war, so verstießen diese Handlungen nicht gegen das Zeugungsgebot. Was die Sodomie im Kern ausmachte – ob es um Masturbation, heterosexuellen Analverkehr, gleichgeschlechtlichen Sex, um Sex mit Tieren oder etwas anderes ging – war, dass sie nicht der Fortpflanzung diente (deswegen auch kann die Liste um weitere, ebenfalls „unfruchtbare“ Sündenvergehen erweitert werden). Das vicium sodomiticum wurde somit nicht vom Menschen aus definiert, sondern vom Verstoß gegen eine von Gott gesetzte Ordnung, wie sie die scholastische Theologie konstruierte; es handelt sich um Vergehen gegen die mit natura umschriebene Schöpfung, wie sie Gott erschaffen hatte. Von den genannten Akten, die unter dem Oberbegriff Sodomie zusammengefasst wurden, war daher nach Einschätzung scholastischer Theologen der Sex mit Tieren gravierender als der gleichgeschlechtliche Sex. Denn er bedeutet sexuelle Aktivität mit einer anderen Spezies als dem Menschen;
Thomas von Aquin, „Secunda secundae summas theologiae. Quaestio CLIV, Articulus XI-XII“, in: Opera omnia, Bd. 10, Rom, 1899, 243 – 248; ders., „Prima secundae summae theologiae. Quaestio XCIV, Articulus II“, in: Opera omnia, Bd. 7, Rom, 1892, 169 – 170; ders., „Prima secundae summae theologiae. Quaestio XXXI, Articulus VII“, in: Opera omnia, Bd. 6, Rom, 1891, 221– 222. Die Übertragungen ins Deutsche geben nur eine erste Orientierung über die Semantik der unter luxuria erscheinenden Abteilungen. Vgl. Mark Jordan, Invention of Sodomy in Medieval Theology. Chicago, 1997, 144. Es geht an dieser Stelle nicht darum, einen Rückgriff Luthers auf Thomas von Aquin zu postulieren. Er könnte mit diesen Kategorisierungen ebenso aus der Bußsummenliteratur vertraut gewesen sein, welche Instrumente für die Anwendung scholastischer Einsichten im Umgang mit Laien bereitstellte. Vgl. Pierre Payer, Sex and the New Medieval Literature of Confession, 1150 – 1300, Toronto. 2009.
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Sex unter Männern oder unter Frauen überschreitet diese Grenze nicht.²⁷ Anders ausgedrückt, es geht beim vicium sodomiticum um ein philosophisch-theologisches Konstrukt; erst sekundär bezog man solche Setzungen auf die Lebenswelt, wenn überhaupt. Die theologische Diskussion des Mittelalters nahm im Übrigen sexuelle Handlungen in den Blick, nicht Typen von Menschen. Sodomia bezeichnete keine soziosexuelle Gruppe (zumal in der Regel von der sodomitischen Sünde, nicht aber von Sodomitern die Rede ist, es sei denn, es handelte sich um die Bewohner der alttestamentlichen Stadt Sodom). Vielmehr umreißen die Genera von luxuria Verhaltensmöglichkeiten aller Menschen. Laut diesem Gedankengebäude erweist sich jede Person, Frau wie Mann, als potenziell gefährdet. So ist auch Luthers beiläufige Erwähnung der stummen Sünde im Rahmen seiner Schrift Vom ehelichen Leben zu verstehen: Er schreibt Menschen generell die Disposition zu, sich sexuelle Sünden jeglicher Art zu Schulden kommen lassen, sei es „hurerey“, „ehebruch“, oder gar „stumme[] sund“. In einer Passage seiner Schrift scheint es sogar, als würde, wer einmal sexuell gesündigt hatte, auf Abwege geraten können, auf denen er oder sie immer schwerere sexuelle Sünden beginge.²⁸ Aus diesem Grund war Luther bestrebt, die Ehe als ein Bollwerk gegen schwerwiegende Sexualsünden zu stärken. Bezeichnend ist dabei, dass Luther im Unterschied zum Aquinaten für seine Leserschaft an der zitierten Stelle nicht einmal den Versuch einer Definition unternimmt. Was unter „stumme[r] sund“ im Zusammenhang seiner Propagierung der Ehe zu verstehen ist, bleibt undeutlich. Diese definitorische Leerstelle resultiert aus seinem pastoraltheologischen Ansatz.²⁹
3 Luthers Schreibmodi in Sachen Sodomie Luther war kein systematischer Denker in sexualibus. Auf den ersten Blick mag diese Aussage überraschen. Seit der Reformation hat man das Lutherʼsche Denken gern auf dogmatische Positionen reduziert. Diese Rezeptionsgeschichte ist kein Zufall. Sie beginnt im konfessionellen Zeitalter. Luther selbst war an der Konstruktion eines Gebäudes protestantischer Lehrmeinungen beteiligt. Die Verankerung evangelischer Prinzipien in den Territorien des Reichs brachte es mit sich, dass Grundfragen bei der Gestaltung christlichen Lebens einer Klärung zugeführt werden mussten – Fragen zur Liturgie, der Glaubenspraxis usw. Diese Entwicklung des Protestantismus sollte aber meines Erachtens nicht darüber hinwegtäuschen, dass Luther im Grunde ein okka-
James A. Brundage, Law, Sex, and Christian Society in Medieval Europe, Chicago, 1987. Luther, „Vom ehelichen Leben“, 293. Jordan, The Invention of Sodomy, 136 – 158, argumentiert interessanterweise, dass Thomas von Aquin eine durchaus vergleichbare Zurückhaltung bei seiner Diskussion des vicium sodomiticum an den Tag legt.
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sioneller Theologe war.³⁰ Sein Denken entfaltet sich an besonderen Schreibanlässen, pastoraltheologischen wie politischen bzw. polemischen (wobei sich die genannten Schreibmodi in einzelnen Schriften, je nach Gelegenheit, vermischen).³¹ Und bei diesen occasiones kam die Priorisierung der Heiligen Schrift vor anderen religiösen Texten und ähnliche exegetischen Prinzipien zur Anwendung. Luthers pastoraltheologisch motiviertes Schreiben zielt vordringlich auf Unterweisung seines Publikums in christlicher Lebensführung.³² Dazu gehört auch, die Leser- oder Zuhörerschaft vor theologischen Spitzfindigkeiten zu bewahren. Seine Kritik an vorreformatorischer Laienunterweisung lautete u. a., dass die katholische Kirche religiöse Unterweisung nicht auf das beschränkte, was das Seelenheil beförderte. Vielmehr habe eine Vielzahl von Heilsmedien diesen Weg verstellt. Diese pastoraltheologische Grundausrichtung von vielen von Luthers Schriften stand einer ausführlichen Thematisierung der Homo- oder anderer Sexualitäten entgegen. In diesem Ansatz unterschied er sich nicht von der Mehrzahl seiner Vorgänger. Theologen verhüllten sexuelle Tatbestände – insbesondere dann, wenn sie Laien adressierten. Die Sünde oder Sünden, die über den Zusatz „stumm“ beschrieben wurden, beinhalteten traditionell schließlich eine Art Imperativ: Am besten waren diese Vergehen in Schweigen zu hüllen. Das geläufige Argument gegen eine offensive Thematisierung gleichgeschlechtlicher und anderer als illegitim erachteter Sexualpraktiken lautete, dass deren mehr oder weniger offene Diskursivierung die Adressaten zur Nachahmung des inkriminierten Verhaltens reizen würde. Deswegen auch paraphrasierten Theologen verschiedene Arten der Unkeuschheit mit Umschreibungen wie die „stumme Sünde“ und vergleichbaren Ausdrücken.³³ (Dass solche Paraphrasen beim Publikum Fragen aufkommen ließen, zeigt eine Predigt aus der Feder Bertholds von Regensburg, der in einer seiner Homilien einen fiktiven Zuhörer auftreten lässt, der sein Unverständnis bekundet und um Aufklärung bittet.)³⁴ Nur wenige Theologen am Vorabend der Reformation stellten sich der communis opinio in diesem Punkt entgegen. Jean Gerson, Dietrich Coelde und Bernardino von Siena sahen es als ihre Aufgabe an, Laien über die angebliche Verwerflichkeit der Sodomie (in all ihren verschiedenen Bedeutungen) zu informieren.³⁵ Der vielbewun-
Siehe z. B. Martin Luther, „Von Ordnung Gottesdienst in der Gemeine, 1523“, in: WA 12,31– 37, hier: 37. Martin Luther, „Verhandlungen mit D. Martin Luther auf dem Reichstage zu Worms,“ 1521, in: WA 7,814– 887, hier: 832– 835. Das lässt sich gut an der für unseren Zusammenhang bedeutsamen Schrift Vom ehelichen Leben ablesen, siehe Luther, „Vom ehelichen Leben“, 275, 292. Puff, „Sodomy in Reformation Germany“, 50 – 74. Vgl. Egino Weidenhiller, Untersuchungen zur deutschsprachigen katechetischen Literatur des späten Mittelalters, München, 1965; Thomas N. Tentler, Sin and Confession on the Eve of the Reformation, Princeton, N.J., 1977. Bernd-Ulrich Hergemöller, „Die ‚widernatürliche Sünde‘ in der theologischen Pest- und Leprametaphorik des 13. Jahrhunderts“, in: Forum Homosexualität und Literatur 21, 1994, 5 – 19. Lev Mordechai Thoma, „‚Das seind die sünd der vnküscheit‘. Eine Fallstudie um Umgang mit der Sodomie in der Predigt des ausgehenden Mittelalters – ‚Die Brösamlin‘ Johannes Geilers von Kay-
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derte Prediger Johann Geiler von Kaysersberg widmete der Sodomie im Sinn männlicher Homosexualität sogar mehrere Predigten.³⁶ Um seine Straßburger Zuhörerschaft zur Umkehr zu bewegen, verankerte dieser Prediger das Thema mannmännlicher Sexualität in der städtischen Lebenswelt. Im Jahr 1508 nahm er die Hinrichtung zweier Männer, die „beieinander […] geschlaffen vnd ihre eefrawen verlassen“ hätten, zum Anlass, die städtische Öffentlichkeit vor den Gefahren dieser sexuellen „Ketzerei“ (ketzerie) für Leib und Seele zu warnen. Er ermahnt Eltern, ihre Söhne, „die iungen hübschen knaben“, vor sexueller Verführung durch deren Geschlechts- und Altersgenossen zu behüten.³⁷ Zugleich suchte er ungenannte Kritiker seiner Bußpredigten gegen die Sodomie zu widerlegen, indem er die Bemerkung einflocht: „Wer es vor nicht gewißt hat [wie diese Sünde zu begehen ist] / der lernt es nitt von dißen [= meinen] worten die er von mir gehort hat.“³⁸ Ausdrücklichkeit im Umgang mit sodomitischen Sünden blieb indes die Ausnahme. Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein triumphierte Vagheit als rhetorische Waffe gegen die unter dem Oberbegriff vicium sodomiticum zusammengefassten sexuellen Vergehen.³⁹ Wenn in unserem Zusammenhang vom Sodomiediskurs die Rede ist, dann sind damit im Übrigen in der Regel nicht Schriften gemeint, die ausschließlich das vicium sodomiticum behandeln. Eine Diskussion der Sodomie in Traktatform war im Mittelalter die Ausnahme.⁴⁰ Vielmehr findet sich der Sodomiediskurs eingebettet in andere Zusammenhänge; das gerade macht seine Schlagkraft aus. Er war der Kitt, der verschiedene Themen zusammenhielt. So besehen reiht sich Luther in die Geschichte des theologischen Sodomiediskurses gut ein. In seinem theologischen Lehrgebäude nimmt dieser Themenkomplex keinen prominenten Platz ein; er behandelt die So-
sersberg“, in: Lev Mordechai Thoma und Sven Limbeck (Hg.)‚ ‚Die sünde, der sich der tiuvel schamet in der helle‘. Homosexualität in der Kultur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Sigmaringen, 2009, 137– 153. Siehe auch Bernd-Ulrich Hergemöller, „Dietrich Koldes ‚Verclaringhe‘ und ‚Een prophetye gepreect by broeder Dierick van Munster‘. Zur Arbeitsweise und Rezeptionsgeschichte des Christenspiegels“, in: Ellen Widder, Mark Mersiowsky und Peter Johanek (Hg.), Vestigia Monasteriensia. Westfalen – Rheinland – Niederlande, Bielefeld, 1995, 73 – 99; Ders., Krötenkuss und schwarzer Kater. Ketzerei, Götzendienst und Unzucht in der inquisitorischen Phantasie des 13. Jahrhunderts, Warendorf, 1996; Franco Mormando, The Preacher’s Demons. Bernardino of Siena and the Social Underworld of Early Renaissance Italy, Chicago, 1999; Puff, Sodomy in Reformation Germany, 50 – 74: Pierre J. Payer: „The Vice against Nature“, in: Sex and the New Medieval Literature of Confession, 1150 – 1300. Toronto, 2009, 126 – 149. Zur Überlieferung dieser Predigtfragmente und dem nicht von Geiler besorgten Druck von 1517, der diese zusammenfasst, siehe Thoma, „,Das seind die sünd‘“, 138 f. Der Wiederabdruck ebd., 150 – 153. Ebd., 151. Zitiert nach Thoma, „‚Das seind die sünd‘“, 151. Jakob Michelsen, „Die Verfolgung des Delikts Sodomie im 18. Jahrhundert in Brandenburg-Preußen“, in: Norbert Fintzsch und Marcus Velke (Hg.), Queer – Gender – Historiographie. Aktuelle Tendenzen und Projekte, Münster, 2016, 217– 252. Siehe z. B. Petrus Damiani, „Liber Gomorrhianus“, in: Kurt Reindel (Hg.), Die Briefe des Petrus Damiani, Teil 1, München, 1983, 284– 330. Vgl. Glenn W. Olsen, Of Sodomites, Effeminates, Hermaphrodites, and Androgynes. Sodomy in the Age of Peter Damian, Toronto, 2011.
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domie en passant. Das heißt jedoch nicht, dass ihr keinerlei Bedeutung zukommt. Im Gegenteil. Dort, wo von der sogenannten „stummen sund“ die Rede ist, verdammt er sie in aller Schärfe. Ein Sprech- und Schreibmodus grundlegend anderer Art als die Laienunterweisung sind Polemiken gegen die tatsächlichen oder vermeintlichen Gegner der sexuellen bzw. religiösen Reformationen. Während pastoraltheologisches Argumentieren in puncto Sexualität Strategien des Umhüllens, Übergehens und Paraphrasierens nach sich zog, verlangt polemische Kommunikation Direktheit. In einem Brief an Spalatin bedachte Luther beispielsweise die Altenburger Stiftsherren, die sich Spalatins Eheschließung widersetzt hatten, mit dem Epitheton Sodom, das von Feuer und Schwefel verschlungen werde.⁴¹ Polemische Formeln wie diese sind mehr als nur rhetorisches Feuerwerk; sie sind Denkfiguren. Ihre Durchschlagskraft beruht nicht zuletzt darauf, dass sie weithin bekannte Argumentationsmuster aufrufen. In diesem Fall etwa die alttestamentliche Erzählung von der Stadt Sodom, die Gott wegen des gottlosen Verhaltens ihrer Bewohner mit Zerstörung bestrafte (Gen 19,1– 29). Dem Soziologen Didier Eribon zufolge basiert sexuelle Diffamierung oder Beleidigung auf stereotypen Redeweisen: „Eine Beleidigung ist ein Zitat aus der Vergangenheit. Ihre Bedeutung hat sie nur deshalb, weil sie von unzähligen Sprechern wiederholt worden ist.“⁴² Auch Luther hat sich in seiner Polemik aus einem bestehenden argumentativen Fundus bedient, den er variierte und in verschiedene Kontexte einpasste.⁴³ Auch wenn sich für die meisten von Luthers Wortprägungen Vorläufer benennen lassen, eignet den sexualpolemischen Elementen in Luthers Schriften nichtsdestotrotz eine Logik. Mit Ausdrücken wie welsche Hochzeiten, Sodomitische und Gomorrische keuscheit, venedische und Türckische breute und Florentzische breutgam verortet der wortmächtige Polemiker die Sodomie jenseits des eigenen geographischen, ethnischen bzw. sprachlichen Horizonts.⁴⁴ Angeblich habe sie eine Heimstatt in fernen, südlichen, speziell italienischen Gefilden. Von der deutschen Sprache wird folgerichtig in einer der Tischreden behauptet, dass sie „Gott sei Dank“ (Dei gratia), wie Luther anmerkt, keinen Ausdruck für die nuptiae Italicae oder welsche Hochzeiten alias mannmännlichen Sex kenne, was als Beweis deutscher Unbedarftheit in dieser Sache gewertet wird.⁴⁵
Berbig, Spalatin, 294. Didier Eribon, Rückkehr nach Reims, übers. von Tobias Haberkorn, Berlin, 2016, 192. Ingrid Rowland, „Revenge of the Regensburg Humanists, 1493“, in: Sixteenth Century Journal 25, 1994, 307– 322. Diese Topoi waren auch in anderen Sprachen und Ländern, etwa in Frankreich, zu finden, vgl. Rebecca E. Zorach, „The Matter of Italy. Sodomy and the Scandal of Style in SixteenthCentury France“, in: Journal of Medieval and Early Modern Studies 26, 1996, 581– 609; Winfried Schleiner, „Linguistic Xenohomophobia in Sixteenth-Century France. The Case of Henri Estienne“, in: The Sixteenth Century Journal 34, 2003, 747– 760. Einen Überblick bei Puff, Sodomy in Reformation Germany, 126 – 157. WA.TR 3,630 – 631: „Nuptiae Italicae. Gott behüt vns fur diesem Teuffel! Den nulla maternal lingua in Germania de illo scelere dei gratia aliquid novit.“
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Um der Persuasionskraft solcher Argumente wie des angeblich italienischen oder türkischen⁴⁶ Charakters der Sodomie willen verdichtet Luther die polemischen Topoi mit Versatzstücken aus der Lebenswelt. Deutsche Landsknechte, wollüstige Kaufleute und männliche Curtisanen, wie die Höflinge an der römischen Kurie nicht nur in den Schriften Luthers beschrieben werden – geographisch mobile Gruppen also – wären demnach für die Verbreitung gleichgeschlechtlicher Sexualität verantwortlich: „wie sie es zu Rom und im Welschen lande [= Italien] gesehen und gelernt haben“.⁴⁷ Sex unter Männern entspringt demnach nicht der menschlichen Natur; er ist ihr fremd; deswegen verbreitet sich diese angebliche Sünde mittels Verhaltensnachahmung. Solche Formulierungen wollen die Zuhörer- oder Leserschaft gegen alles Fremde und Undeutsche mobilisieren; die Akzeptanz des Fremden bringe unweigerlich verquere Sexualpraktiken mit sich.⁴⁸ Diese protonationalen Diffamierungen suchten Luthers Publikum auf die Abwehr gegen die Sodomie zu verpflichten. Nicht nur stehe jede Person, wie gesagt, in Gefahr, solche Sünden zu begehen. Darüber hinaus löse die Sodomie Erdbeben, Seuchen, etc. aus – nach dem Muster der alttestamentlichen Sodom-Erzählung (wobei auf das sexuelle Verhalten an vielen Stellen lediglich angespielt wird). Die Sodomie wird so zu einer Praxis Andersgläubiger deklariert; sie markiert eine der Trennlinien, welche die eigene Glaubenswelt gegen andere abgrenzt (wobei die vermeintliche Andersartigkeit sich aufgrund der geographischen Distanz der Nachprüfbarkeit entzieht). Wenn Luther die Sodomie mit ihrem weiten Bedeutungsspektrum deskriptiv konkretisiert (was durchaus nicht immer der Fall ist), gibt er interessanterweise Sex unter Männern Vorrang vor anderen Verhaltensformen wie der Masturbation, dem heterosexuellem Analverkehr und dem Sex mit Tieren – ein Punkt, auf den zurückzukommen sein wird; ein Hinweis auf weibliche Homosexualität ist seinen Schriften demgegenüber nur höchst selten zu entlocken.⁴⁹ Die Lutherʼschen Sodomiepolemiken umkreisen außerdem die Inversion, eine zutiefst christliche, im Neuen Testament verbreitete Redefigur der Umkehrung des Bestehenden. Dort, wo Luther die Sodomie mit rhetorischem Leben erfüllt, handelt es sich meist um Kehr- und Zerrbilder der einzig wahren Ehe, der wahren christlichen Frömmigkeit, der wahren Kirche etc. Der Ausdruck welsche Hochzeit verunglimpft in diesem Zusammenhang Männer, die mit anderen Männern sexuell verkehren; solche Argumentationssplitter mit ihren scharfen Kanten rufen somit das Gegenbild der Ehe auf, oft auf dem Hintergrund eines apokalyptisch zugespitzten Zustands der Welt.⁵⁰ Insofern leistet auch diese polemische Formel einen Beitrag zur Aufwertung der Ehe;
Silke R. Falkner, „‚Having it Off’ with Fish, Camels, and Lads.‘ Sodomitic Pleasures in German Language Turcica“, in: Journal of the History of Sexuality 13, 2004, 401– 427. Martin Luther: „Auslegung des 101. Psalms (1534– 35)“. In: WA 51,236, 262. Dazu Puff, Sodomy in Reformation Germany, 132– 135. Vgl. Caspar Hirschi, Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittealter zur Neuzeit, Göttingen, 2005. Luther, „Vom ehelichen Leben“, 293. Puff, Sodomy in Reformation Germany, 135 – 139.
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flüchtige sexuelle Arrangements werden demnach in Opposition zum gottgewollten Ehebund gesetzt. Wie andere Kontroverstheologen seiner Zeit bedient Luther sich dabei Kaskaden polemischer Floskeln. Diese dreschen auf die Zuhörer- oder Leserschaft ein, ohne dass die verwendeten Begriffe im Einzelnen eine Erklärung fänden. Es geht mit anderen Worten um Verbalattacken, die sich dem Verstehen entziehen und durch ihre kumulative Wucht die Adressaten in ihren Bann zwingen wollen. Die „stumme Sünde“ beschreibt bei Luther somit eine Variable, keine feste Größe. Ihre Konturen und ihr systematischer Ort sind oft Ausfluss anderer Themenkomplexe – der Verteidigung der Ehe sowie der Front gegen nichtchristliche, katholische oder innerprotestantische Abweichler. Polemiker vom Schlag Luthers waren bestrebt, mittels des Unerhörten und Schockierenden des Gesagten ihre Rezipienten für die Sache der Reformation zu mobilisieren. Aggressive Sodomiestereotypen autorisierten mithin Ab- und Ausgrenzung. Der Vergleich mit Luthers Tiraden gegen Juden liegt nahe.⁵¹ Anders als bei seinem Antijudaismus zielte der Reformator mit seiner Sodomierhetorik jedoch auf keinen fest umrissenen Personenkreis im Sinn einer Randgruppe. Das gerade macht das Perfide dieser Polemik aus. Immer wieder konnte der Sodomievorwurf auf neue Ziele in Anschlag gebracht werden. Die Radikalität von Luthers polemischer Sprache machte selbst vor Wittenberg nicht halt. Im Juli des Jahres 1545 verglich er die Stadt mit einem Sodoma, welches er und seine Frau fliehen sollten, ganz nach dem Vorbild der biblischen Erzählung.⁵² Sexuelle Akte stifteten im Reformationsjahrhundert keine soziale Identität; mit Ausnahme ehelicher Sexualität möglicherweise, der viele Menschen mit Anerkennung begegneten. Mann bandelte mit anderen Männern an öffentlichen Orten, am Markt, in Gasthäusern oder auf Aborten an. Personen von Rang zwangen Untergebene zu sexuellen Handlungen und konnten sich dabei wegen ihres Standes vor Denunziation oder Anklage relativ sicher sein.⁵³ Wenn Frauen mit anderen Frauen Sex hatten, wurden sie in der Frühen Neuzeit meist nur dann verfolgt, wenn eine der Partnerinnen eine männliche Sozial- und Geschlechterrolle für sich reklamierte – und das wurde selten gerichtskundig.⁵⁴ Den medizinischen oder theologischen Lehrmeinungen der frühen Neuzeit zufolge hatte homosexuelles Verhalten allenfalls etwas mit
Zuletzt dazu Thomas Kaufmann, Luthers Juden, Stuttgart, 2014. Martin Luther, Brief an seine Frau, 28. Juli 1545. In: WA.B 11,148 – 152, hier: 150. Für ähnliche Verwendungen der Sodom-Analogie lassen sich zahlreiche Beispiele in Luthers Briefcorpus finden, wie Luthers Brief an Jakob Propst vom 10. Juli 1529, in: WA.B 5,111. Bernd-Ulrich Hergemöller, „Die ‚unsprechliche stumme Sünde‘ in Kölner Akten des ausgehenden Mittelalters“, in: Geschichte in Köln 22, 1987, 5 – 43; Ders., „Das Verhör des ‚Sodomiticus‘ Franz von Alsten (1536/37). Ein Kriminalfall aus dem nachtäuferischen Münster“, in: Westfälische Zeitschrift 140, 1990, 31– 47. Puff, Sodomy in Reformation Germany, 31– 35; ders., „Female Sodomy. The Trial of Katherina Hetzeldorfer (1477)“, in: The Journal of Medieval and Early Modern Studies 30, 2000, 41– 61.
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sich im Verlauf eines Lebens verfestigenden persönlichen Vorlieben zu tun.⁵⁵ Die „Sodomiter“ waren also von ganz anderer Art als die Juden, die durch ihre Riten, Kleidung, Abzeichen, Wohnorte, Rechtsprechung und dergleichen Unterschiede mehr sich als eigenständige Gruppe verstanden und Einschränkungen unterworfen waren, die sie als religiöse Minderheit kenntlich machten. In einer Hinsicht aber ist der Vergleich zwischen den Juden und der Sodomie treffend. Was den polemischen Umgang mit beiden Themenkomplexen angeht, schlägt Luther im Alter schärfere Töne an. Die Schriften gegen die Juden aus den Jahren 1543 und 1546 haben ein Pendant in der Schrift Wider das Papsttum zu Rom, vom Teufel gestiftet, die auf Deutsch und Lateinisch im Jahr 1545 erschien. Die wenigen Reformationshistoriker, die diesen Traktat kommentieren, verurteilen ihn vehement wegen seiner Virulenz: der Text sei „widerlich“ (Kurt Stadtwald) oder der „gewalttätigste und vulgärste Traktat aus Luthers Feder“ (Mark U. Edwards, Jr.); Peter Matheson meint sogar, dieser Text überfordere „unsere Beschreibungskategorien“.⁵⁶ Den Anlass zu dieser Schrift lieferte ein an den Kaiser gerichtetes Mahnschreiben des Papstes, welches Luther (in einer später von der Kurie verworfenen Version) zugespielt worden war; Luther zielte darauf, einen Keil zwischen Kaiser und Kurie zu treiben, um die evangelische Sache zu stärken; deswegen wurde das Papsttum als eine religiös und sexuell pervertierte Organisation verunglimpft. Invertierung, Feminisierung, Skatologisierung, Sexualisierung, Monstrosisierung des Papstes, der Kurie und der Katholiken gehören zu den rhetorischen Strategien dieser Schrift. Damit niemand über den teuflischen Charakter des Papsttums im Unklaren bleibe, setzt der Verfasser diese Darstellungsmittel repetitiv ein. Der Heilige Stuhl ist demzufolge ein Sündenpfuhl, Rom ein Zentrum von Habgier und aller widernatürlichen Lüste, einschließlich der „Pedasterey“⁵⁷[= Päderastie]; „der Hellische Vater Bapst und seine Hermaphroditen“ werden als „Unchristen“⁵⁸ verunglimpft; Paul III. wird als „S. Paula tertius fraw Bepstin“⁵⁹ tituliert. Man beachte den mehrfachen Wechsel des Geschlechts. Dieser Papst mit seinem unbestimmbaren Geschlechtskörper stehe einem sodomitisch verderbten Hof, einer „Bubenschule[]“,⁶⁰ vor – Attacken ad personam also ebenso wie die Verunglimpfung einer Kirche in toto. Mit einer Formulierung wie „der Sodomiten
Dazu Joan Cadden, Nothing Natural Is Shameful. Sodomy and Science in Late Medieval Europe, Philadelphia, 2013; Helmut Puff: „Toward a Philology of the Premodern Lesbian“, in: Noreen Giffney, Michelle Sauer und Diane Watt (Hg.), The Lesbian Premodern, New York, 2011, 145 – 157. Kurt Stadtwald, Roman Popes and German Patriots. Antipapalism in the Politics of the German Humanist Movement from Gregor Heimburg to Martin Luther, Genf, 1996, 25, 195; Mark U. Edwards, Jr., Luther’s Last Battles. Politics and Polemics, 1534 – 46, Ithaca, NY, 1983, 185; Peter Matheson, Rhetoric of the Reformation. Edinburgh, 1998, 199, 202. Vgl. Puff, Sodomy in Reformation Germany, 142– 144. Martin Luther, „Wider das Papsttum zu Rom, vom Teufel gestiftet, 1545“, in: WA 54,195 – 299, hier: 214. Ebd., 213. Ebd., 214. Ebd., 219.
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Bapst“⁶¹ weitet Luther bezeichnenderweise den Blick auf Kollektive – diejenige Gemeinschaft, die er mit seinen Schriften auf die Augsburgische Konfession einschwören wollte, sowie das Kollektiv der angeblichen Gegner des Evangeliums. In Wider das Papsttum fungiert gleichgeschlechtliche Sexualität mithin als ein radikales Gegenbild zu den maskulinen Eliten und patriarchalen Obrigkeiten. Ihnen oblag Sicherstellung und Ausbau der Reformen. Deswegen auch steht das vicium sodomiticum im Sinn mannmännlicher Sexualität im Fokus von Luthers antipäpstlicher Polemik; „der Sodomiten Bapst“ liefert das Gegenbild zu den vorbildlichen protestantischen Entscheidungsträgern. Mit diesen monströsen Körpern bzw. sexuellen Monstren gemeinsame Sache zu machen verbiete sich demzufolge für aufrechte Männer (und Frauen). Interessanterweise hat es nach gegenwärtigem Wissensstand trotz dieser Verbalexzesse im 16. Jahrhundert in protestantischen Territorien keine Zunahme von Sodomieprozessen gegeben. Wenn man davon ausgeht, dass die Luther’sche Sodomiepolemik Anreize für eine konsequente Ahndung von sexuellen Vergehen geliefert haben könnte, liegt immerhin die Vermutung nahe, dass nach Einführung der Reformation mehr sodomitici verurteilt wurden, zumal Obrigkeit und Kirche nach der Reformation eng zusammenrückten. Dadurch entstand eine Konzentration obrigkeitlicher Macht, wie sie vor der Reformation schlicht nicht gegeben war. Mit der Halsgerichtsordnung Karls V. von 1532 hatte die „straff der vnkeusch, so wider die natur beschicht“ zudem eine neue rechtliche Grundlage erhalten; der einschlägige Rechtsgrundsatz schreibt die Feuerstrafe für Männer und Frauen vor, die miteinander oder mit Tieren sexuell verkehren.⁶² Warum also ist keine Zunahme der Verfolgung in der frühen Neuzeit zu verzeichnen? Dieser Befund lässt sich folgendermaßen erkläeren: Zum einen war das Objekt staatlicher Sexualaufsicht in erster Linie die Ehe. Voreheliche und außereheliche sexuelle Handlungen standen in protestantischen Territorien im Brennpunkt obrigkeitlicher Disziplinarpolitik. Des Weiteren etablierten reformatorische Gemeinwesen ein öffentliches Dekorum in Bezug auf Sexuelles. Strafverfahren wegen sexueller Vergehen schufen jedoch unweigerlich Öffentlichkeit: Gerüchte ließen sich in solchen Fällen nur schwer kontrollieren. Schuldgeständnisse der Angeklagten waren im Fall einer Hinrichtung laut zu verlesen. Wenn man im Begriff stand, eine ebenso ehrenwerte wie vorbildliche Religionsgemeinschaft zu lancieren, dann passten Sodomieprozesse schwerlich ins Bild. Ein Dekorum im Umgang mit sexuellen Tatbeständen erforderte eben auch Zurückhaltung bei Strafverfahren. Mit anderen Worten, das
Ebd., 227– 228. Für England beispielsweise zieht H. G. Cocks die Summe aus der Forschung, wenn er von nur wenigen Verfahren nach 1532 spricht. Siehe H. G. Cocks, Visions of Sodom: Religion, Homoerotic Desire, and the End of the World in England, c. 1550 – 1850, Chicago, 2017, 106 – 132. Für den deutschsprachigen Raum siehe Puff, Sodomy in Reformation Germany, 29 f, 87– 104. W. G. Naphy arbeitet an einer Studie zur Regulierung der Sexualität im calvinistischen Genf,von der der erste Band unnatürlichem Sex nach der Definition des Konsistoriums behandeln wird.
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pastoraltheologische Denken in puncto Sexualität wurde tendenziell auf die Rechtsfindung bei Sexualdelikten übertragen.⁶³ Zwar ist es immer wieder zu vereinzelten Verurteilungen sexueller ketzer in der frühen Neuzeit gekommen. Dennoch ist kein systematischer Versuch auszumachen, dem gleichgeschlechtlichen Sexus den Kampf anzusagen. Der sprachliche Exzess und die definitorische Weite der Sodomiezuschreibungen hatten gleichzeitig den Effekt, dass man sich, wenn man dem eigenen Geschlecht zugetan war, keineswegs in diesen Termini wiedererkennen musste. Sodomie war, folgt man der Logik der polemischen Topoi à la Luther, ein Signum des radikal Anderen. Die polemische wie pastoraltheologische Konzeptualisierung der Sodomie musste jegliche Identifikation dieser „Vergehen“ mit konkreten Personen und Dingen im eigenen konfessionellen Umfeld erschweren. (Das heißt im Übrigen nicht, dass die Menschen der Frühen Neuzeit sexuelle Heterodoxie unbedingt geduldet hätten. Vielmehr ist es möglicherweise so, dass Nachbarn oder Gemeinschaften die sexuelle Disziplinierung selbst in die Hand nahmen – ohne notwendigerweise obrigkeitliche Maßnahmen einzufordern und ohne sich explosiver, todeswürdiger Termini wie der Sodomie zu bedienen.) Wenn die Sodomierhetorik Luthers dagegen bezweckte, die protestantische Konfessionsgemeinschaft gegen das religiöse, ethnische und sexuelle Andere zusammenzuschweißen, dann hatte seine Sodomiepolemik einen langen Nachhall. Evangelische Gemeinden mussten sich ja überhaupt erst als Angehörige einer bestimmten Konfession begreifen lernen. Die protestantischen Glaubenspositionen, die sich im Verlauf der religiösen Konflikte des 16. Jahrhunderts herauskristallisierten, blieben vielen Gläubigen fremd – trotz enormer Anstrengungen, Gemeindeglieder zu katechisieren. Der Abschottung der Glaubensgemeinschaften voneinander mittels Polemiken kam deswegen eine wichtige Rolle bei der Ausbildung protestantischer Konfessionen zu.
4 Freundschaften Zugleich existierte die affektiv besetzte Homosozialität unter Männern und unter Frauen nach der Reformation weiter. Moderne Menschen werden versucht sein, die derbe Vertrautheit zwischen Luther und Spalatin in der oben zitierten Briefstelle sexuell zu deuten. Der anzüglich-zweideutige Verweis hat jedenfalls den Spalatin-Biographen Georg Berbig unangenehm berührt. In seiner deutschsprachigen Studie beließ er den Satz von den Rippen im Lateinischen. Wie die Sexualwissenschaftler des ausgehenden 19. Jahrhunderts vom Schlage eines Richard von Krafft-Ebing, dem Autor der Psychopathia sexualis (1886), der Anstößiges lateinisch formulierte, verschleierte er damit die schillernd-mehrdeutige Passage (oder weckte die Neugier seiner Leser-
Puff, Sodomy in Reformation Germany, 100 – 102.
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Helmut Puff
schaft). Zugleich deutete er die Freundschaft der beiden Reformatoren als „Seelenbund“ um, wo dieser Bund doch – zumindest verbal – offenkundig das Körperliche und Sexuelle einschloss.⁶⁴ Schon der erste Herausgeber von Luthers Briefen, Johannes Aurifaber, hatte 1568 den Text zensiert. Den Satz, in dem Luther den Plan verlauten ließ, er wolle mit Katharina zu dem Zeitpunkt sexuell verkehren, wenn er vermute, dass Spalatin mit seiner Katharina eben das auch tue, kürzte dieser Herausgeber, ohne dies zu vermerken – das Lutherbild im Sinn des reformatorischen Dekorums in sexuellen Dingen adjustierend.⁶⁵ Wir sind allerdings gut beraten, Vorsicht walten zu lassen. Für eine erotische Bindung zwischen den beiden Reformatoren gibt es nicht den geringsten Hinweis. Vielmehr müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass der Verfasser die phallische Vertrautheit keineswegs versteckt; er scheint von ihrer Anstößigkeit nichts zu wissen. Luthers auch angesichts damaliger epistolarer Codes durchaus pikante Äußerung ist mit entwaffnender Offenheit vorgetragen. Sicher, was Luther hier formuliert, ist nur im Medium eines Briefs denkbar. In einer Predigt oder einem Druck mit ihrem weit gefassten Publikum wäre eine solche Explizitheit sicher fehl am Platz gewesen. Gleichwohl ergibt sich aus dieser Passage eine weitergehende Perspektive. In der körperbetonten, sexuell befrachteten Intimität zwischen den Weggefährten kann man ein Echo der zärtlichen und gelegentlich erotischen Freundschaftsbande sehen, wie sie im 16. Jahrhundert unter Humanisten und Gelehrten, aber auch für andere Schichten und für Frauen dokumentiert sind. Der zitierte Brief von Luther an Spalatin ist somit Indiz, dass die emotional besetzte Sozialität unter Männern auch nach der Reformation mit ihrer Aufwertung der Ehe sowie ihrer Aufrüstung patriarchaler Instanzen weiter praktiziert wurde. Soziabilität war somit in der Reformationszeit keineswegs auf Ehe, Familie und Haus beschränkt; sie gedieh in homosozialen Verbänden, Gemeinschaften und unter Freunden oder Freundinnen. Solche Formen sozialen Handelns und Fühlens waren zwar nicht frei von obrigkeitlicher Aufsicht. Dennoch verschaffte Homosozialität einen Spielraum für affektiv besetzte Beziehungen zum eigenen Geschlecht, einschließlich dem, was man, mit aller gebotenen Vorsicht, sexuell nennen könnte.⁶⁶
Berbig: Spalatin, 293. Martinus Luther, Tomus secundus epistolarum, hrsg. von Johannes Aurifaber, Frankfurt a. d. Oder, 1596, 306. Alan Bray, „Homosexuality and the Signs of Male Friendship“, in: History Workshop Journal 29, 1990, 1– 19. Bray zeigt u. a., warum eine erotische Lesart von Freundschaftsbanden auch im 16. Jahrhundert nicht ausgeschlossen war, auch wenn die kulturelle Semantik einer solchen Lesart entgegenstand. Vgl. ders., The Friend, Chicago, 2003; Helmut Puff, „Same-Sex Possibilities“, in: Judith Bennett und Ruth M. Karras (Hg.), The Oxford Handbook of Women and Gender in Medieval Europe, Oxford, 2013, 379 – 395.
Martin Luther, die sexuelle Reformation und gleichgeschlechtliche Sexualität
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5 Schlussüberlegungen Sich mit der sexuellen Reformation zu beschäftigen bedeutet, ein historisches Terrain zu kartieren, das Fremdartiges ebenso wie Vertrautes bereithält. Zum einen haben wir einen Einblick in ein Milieu gewonnen, dessen Leitkonzepte in puncto Sexualität sich von heutigen Denkweisen unterscheiden; Sodomie ist etwas grundlegend anderes als Homosexualität. Außerdem haben wir eine Ahnung davon gewonnen, wie Liebe und Sexualität in der Reformationszeit beschaffen waren. Zärtlichkeit beispielsweise war im 16. Jahrhundert auch eine Sache männlicher und weiblicher Geschlechtergemeinschaften. In diesem Kontext stellte die Reformation die Ehe auf eine neue religiöse, rechtliche, soziale und sexuelle Grundlage – mit Konsequenzen für die Konzeption sämtlicher Sexualitäten in der Reformationszeit. Während die mittelalterliche katholische Kirche sexuelle Verfehlungen vor allem anhand der Kardinalsünden in Form von Listen expliziert hatte, zentrierte die reformatorische Theologie ihre Sexualkatechese auf den Dekalog und damit auf die Ehe. An den Peripherien des protestantischen Sexualitätsdiskurses sind nur mehr wilde Fantasien einer Gegenwelt auszumachen. Auch unter diesen diskursiven Bedingungen fristeten gleichgeschlechtliche Liebe und Sexualitäten jedoch eine Existenz, jedenfalls solange Begriffe wie Sodomie, unkeusch, stumme sund, ketzerie usw. nicht auf Akteure in Anschlag gebracht wurden – Begriffe, die so wirkmächtig waren, dass ihre Verwendung in der Regel den obrigkeitlichen Strafapparat oder andere scharfe Reaktionen in Gang setzte. Was hingegen am reformatorischen Diskurs zur gleichgeschlechtlichen Sexualität vertraut anmutet, ist die Stereotypie in der Diffamierung dessen, was als anders gelten soll. In diesem Sinn leistete die Sexualpolemik Luthers mit ihren zugespitzten Sodomiebildern einen wichtigen Beitrag zur Ausbildung konfessioneller Gemeinschaften – einem Hauptvermächtnis der Reformationszeit.
Luthers theologisches Erbe
Wenzel Hollar, Flugblatt mit Martin Luther und Johann dem Beständigen, Stich (München, Staatliche Graphische Sammlung, 1630)
Christophe Chalamet
Lutherische Scholastik Eine Skizze lutherisch-orthodoxer Theologien und deren Rezeption von Karl Barth
1 Einführung Nach Luthers Tod im Jahre 1546 trat eine theologische Bewegung hervor, die letztlich „Lutherische Orthodoxie“ genannt wurde. Wissenschaftler unterteilen diese üblicherweise in drei Phasen: die „Frühorthodoxie“ (ca. 1560 – 1600), die „Hochorthodoxie“ (1600 – 1675) und die „Spätorthodoxie“ (1675 – ca. 1720). Die reformierte Tradition, also die Erben Zwinglis, Bullingers, Oekolompads und Calvins, entwickelte ihre eigene „scholastische“ beziehungsweise „orthodoxe“ Tradition, welche dem Luthertum oft im Dialog und in (polemischen) Auseinandersetzungen gegenüberstand. Es folgt eine Reihe von kurzen Darstellungen, die sich mit dem Verlauf der lutherischen Bewegung und dessen Rezeption in den Werken Karl Barths beschäftigen.
2 Historiografische Debatten Wie soll diese „orthodoxe“ Phase erfasst werden? Beim Beantworten dieser Frage kollidieren zwei Paradigmen. Auf der einen Seite halten bekannte Wissenschaftler wie Albrecht Ritschl (1822– 1889), Adolf von Harnack (1851– 1930) und weitere bedeutende lutherische Forscher Luthers ursprüngliche Erkenntnisse für den Hochpunkt der lutherischen Theologie. Luther hatte die schlichte, religiöse und ethische Botschaft des Evangeliums wiederentdeckt; eine Botschaft, die nicht intellektuelle Zustimmung fordert, sondern Glaube im Sinne von Vertrauen und einer daraus resultierenden Handlung. Luther war jedoch nicht in der Lage, die Theologie vollständig vom Gedankengut des Spätmittelalters, vor allem aber vom Nominalismus loszulösen. Diese Aspekte schädigten Luthers Vermächtnis. Laut diesem Paradigma waren jegliche Gedankenfragmente der spätmittelalterlichen (katholischen) Scholastik problematisch und mussten von der modernen lutherischen Theologie exzidiert werden. Im Laufe der Zeit, schon während des 16. Jahrhunderts, fielen Philipp Melanchthon (1497– 1560) und andere von Luthers reformatorischen Erkenntnissen ab und kehrten zu katholischen Sichtweisen zurück. Die Kirche wurde als eine „Schule“ betrachtet, Übersetzung: Magnus Rabel.
https://doi.org/9783110498745-041
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die sich mehr auf die Zustimmung der Doktrin fokussierte, als auf eine Gemeinschaft von Menschen, die auf Gottes gütigen Willen vertrauten. Dem folgte die Integration aristotelischer Philosophie und ein Aufschwung an natürlicher Theologie innerhalb der lutherischen Dogmatik. Dies war eine unglückliche Entwicklung und stand im starken Kontrast zu Luthers Kritik an der Rolle der aristotelischen Philosophie in der mittelalterlichen scholastischen Theologie. Dies resultierte, laut Ritschl und Harnack, in einem progressiven Wandel weg von praktischen Interpretationen Gottes und des christlichen Glaubens, hin zu einer viel theoretischeren und abstrakteren Herangehensweise. Ähnlich kritische Beurteilungen lagen, schon lange vor Ritschl und Harnack, von Pietisten wie Gottfried Arnold in dessen Werk Unpartheyische Kirchen- und Ketzer-Historie (1699 – 1700) vor.¹ Dieses Paradigma, welches im Großteil des 20. Jahrhunderts dominant vertreten war und auch heute noch besteht, wurde in den letzten Jahrzehnten von Wissenschaftlern herausgefordert, die, besonders in Bezug auf die reformierte Tradition (im Unterschied zur lutherisch-orthodoxen Phase), das unterstrichen, was von ihnen als tiefgreifende Kontinuität verstanden wurde, die sich von den Reformatoren der ersten Generation bis hin zu den nachfolgenden, orthodoxen Denkern erstreckt.² Gemäß diesen Wissenschaftlern war die als protestantische Orthodoxie bekannte Phase und besonders deren Höhepunkt in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine normale Entwicklung innerhalb des Protestantismus, da die Erkenntnisse der Reformatoren neue „Konfessionen“, neue kirchliche Einrichtungen hervorriefen. Dies erforderte eine umfangreiche und gründliche akademische (scholastische) Ausbildung für ihre Pastoren, sowohl in Dogmatik als auch in Apologetik und Kontroverstheologie. Nach dieser Interpretation ist das Wachstum einer protestantischen Wissenschaft kaum verwunderlich und darf nicht als „Abfall“ von den ursprünglichen Gedanken Luthers und weiteren frühen Reformatoren betrachtet werden. Einer der ersten Wissenschaftler, der Ritschls Paradigma (und das seiner Freunde) in Frage stellte, war Ernst Troeltsch, der 1891 eine hervorragende Dissertation veröffentlichte, die Ritschls Ansatz auf den Kopf stellte: Anstatt zuerst Melanchthon zu untersuchen und ihn anschließend mit nachfolgenden Figuren (hier Johann Gerhard) zu vergleichen, entschied sich Troeltsch, zuerst Johann Gerhard und dann ausschließlich Philipp Melanchthon zu untersuchen.³ Er stellte seine Untersuchung als Ergänzung zu Ritschls Sichtweisen dar, doch sie war viel mehr als das.⁴ Im direkten Gegensatz zu Ritschl war Troeltsch davon überzeugt, dass Apologetik und der Verlass auf Metaphysik gut seien. Seiner Ansicht nach war die Herausbildung einer lutherischen Scholastik eine rechtmäßige Entwicklung. Diese Theologie strebte danach, in
Markus Matthias, „Orthodoxie I. Lutherische Orthodoxie“, in TRE 25, 467. Vorwürfe bezüglich Melanchthons Abfall von der reinen lutherischen Doktrin wurden schon 1535 erhoben (ebd., 470)! Führende Persönlichkeit unter diesen Wissenschaftlern ist wohl Richard A. Muller. Siehe sein Werk Post-Reformation Reformed Dogmatics, 4 Bde., Grand Rapids, MI, 1987– 2003. Ernst Troeltsch, Offenbarung und Vernunft bei Johann Gerhard und Melanchthon, Göttingen, 1891. Ebd., 6, Anm. 1: „Ergänzung […] zu Ritschl“.
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eine Diskussion mit der Kultur der Zeit einzutreten: „sie entsprang, wie alle Dogmatik und das Dogma selbst, dem apologetischen Bedürfnis einer Auseinandersetzung zwischen den positiven Religionsvorstellung und dem übrigen Wissen eines Culturvolkes.“⁵ Und so unterlag der Aufstieg der natürlichen Theologie und der Gebrauch Aristoteles’ Philosophie und Metaphysik einer üblichen Entwicklung. Historiker der Theologie sollten nicht unbeachtet lassen, dass selbst protestantisch-orthodoxe Theologen des Öfteren die „praktische“ Dimension des Glaubens, nämlich den Fakt, dass Glaube, als ein Akt des Vertrauens, in einer engen Beziehung zu Gottes Wirken am Menschen steht, in Betracht zogen. Laut Troeltsch unterschätzte Ritschl dies.⁶ Man könnte argumentieren, dass die aktuelle historiografische Debatte an Troeltschs Kritik an Ritschl erinnert, insofern, dass Wissenschaftler in den letzten Jahren inmitten von Diskontinuitäten die Kontinuität zwischen den Reformern der ersten Generationen und der Entwicklung theologischer Systeme im späten 16. und im 17. Jahrhundert betonten.
3 Melanchthon als Wegbereiter Tatsächlich kann man sagen, dass die lutherische Scholastik Melanchthon sehr viel verdankt. Der Mann, der als „Lehrmeister Deutschlands“ (praeceptor Germaniae) bekannt wurde, hatte eine nachhaltige Auswirkung, indem er Ordnung in Luthers etwas unorganisierte, obschon brillante theologische Erkenntnisse einführte. Luther beobachtete und förderte Melanchthons Bemühungen von Anfang an. Im Jahre 1521 veröffentlichte Melanchthon, gerade erst 24 Jahre alt, seine Loci communes, welche den ersten Versuch darstellten, Luthers reformatorische Erkenntnisse systematisch zu präsentieren. Luther stimmte dieser Veröffentlichung uneingeschränkt zu, in der sich sein Mitarbeiter auf Soteriologie und Anthropologie fokussierte, während er theoretische und spekulative Fragen nicht berücksichtigte. Der bekannteste Satz aus der Fassung von 1521 handelt von der Christologie und der Notwendigkeit, Christus als Erlöser durch den Glauben zu erfassen, anstatt sich zu fragen, wie die göttliche und die menschliche Naturen miteinander im Inkarnierten in Beziehung stehen. Melanchthon veröffentlichte 1535, 1543 – 1544 und 1559 überarbeitete Fassungen seines Buches, und ein Großteil der Debatte betrifft manche seiner Behauptungen in diesen Fassungen – und das schon im 16. Jahrhundert.⁷ Die Angelegenheit ist heikel. In der letzten Fassung (1559) stellt Melanchthon den Glauben als eine „dezidierte Einwilligung, welche die gesamte Lehre des Evangeliums erfasst“, dar.⁸ Tatsächlich scheint
Ebd., 1– 2. Ebd., 33, Anm. 4. Ph. Melanchthon, „Loci praecipui theologici“ (1559), in: Loci communes von 1521. Loci praecipui theologici von 1559 (1. Teil), Melanchthons Werke in Auswahl, Bd. 2/1, Gütersloh, 1978. „Deinde etiam cogitemus fidem esse firmam assensionem amplectentem integram Evangelii doctrinam“. „Praefatio“ to the 1559 Loci praecipui theologici, ebd., 192, Z. 4– 6.
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sich dies von Luthers Interpretation (und der des frühen Melanchthon), die den Glauben primär als Vertrauen und Zuversicht (fiducia) versteht, zu unterscheiden. Doch wir sollten nicht ungeachtet lassen, dass das, was als vorrangig intellektuelle Definition erscheint, in Wirklichkeit um vieles komplexer ist. An einer anderen Stelle in der Fassung von 1559 schreibt Melanchthon vom Gottesdienst, wie er ihn versteht, als „Gotteskenntnis, Glaube an Gottes Wort, wahrhaftige Ehrfurcht, aufrichtiger Glaube oder Vertrauen und wahrhaftige Liebe.“⁹ Hier setzt Melanchthon den Glauben nicht nur mit Erkenntnis gleich, sondern auch mit Vertrauen, und setzt ihn also eng mit Liebe in Beziehung.¹⁰ Melanchthon hob hervor, dass der Glaube ein Wissen ist und eine Zustimmung beinhaltet, doch er ließ auch selten unerwähnt, dass der Glaube eine Art der Ehrfurcht ist, welche man unmöglich von der Liebe trennen kann. In den letzten drei Jahrzehnten seines Lebens erhielt Melanchthon viel Kritik von seinen lutherischen Kollegen. Und doch spielte er, wie im Folgenden deutlich werden wird, eine entscheidende Rolle in der Entstehung der lutherisch-orthodoxen Tradition.
4 Lutherische Orthodoxie und ihre Abspaltungen Die lutherische Orthodoxie war eine zutiefst gespaltene Tradition. In einer Epoche, bekannt für ihre ausgeprägte Polemik, zögerten einige lutherische Theologen nicht, nicht nur die römisch-katholischen Wissenschaftler wie Robert Bellarmin, nicht nur Arminianer, Sozinianer, Jesuiten, Labadisten und die frühen Unitarier, nicht nur Täufer und Mystiker, sondern auch etablierte reformierte Theologen und lutherische Kollegen, die die Bemühungen einer Annäherung mit den Reformierten (und dem römischen Katholizismus) begünstigten, anzugreifen. Doch wenden wir uns nun den Hauptpersonen der lutherischen Orthodoxie zu.
4.1 Frühorthodoxie – Martin Chemnitz Unter allen großen Denkern der Frühorthodoxie sticht Martin Chemnitz (1522 – 1586) hervor.¹¹ In seinen eigenen umfangreichen Loci communes, die posthum (1591) veröffentlicht wurden, bezieht er sich direkt auf… Melanchthons eigene Loci! Anfang der 1550er Jahre, noch bevor er 1554 nach Braunschweig zog, war er ein enger Vertrauter Melanchthons in Wittenberg gewesen, dem Ort, in dem er studierte und Luther dozieren und predigen gehört hatte (1545 – 1546). Chemnitz war ein Moderater, der sich Luther und Melanchthon in einer Zeit anschloss, in der „Gnesiolutheraner“ („echte Lutheraner“) wie Joachim Westphal Melanchthon und dessen Vertraute, die sie „Cultus autem, de quibus hic praecipitur, sunt agnitio Deo, credere verbo Dei, verus timor, vera fides seu fiducia et vera dilectio.“ Ebd., 317. „[…] nam etsi fidem seu fiduciam misericordiae necessario comitatur dilectio“. Ebd., 319. Theodor Mahlmann, „Martin Chemnitz“, in: TRE 7, 714– 721.
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„Philippisten“ (nach „Philipp Melanchthon“) nannten, als Kryptocalvinisten bezeichneten, die Luthers wahre Erkenntnisse aufgegeben hatten, vor allem die bezüglich der „Realpräsenz“ Christi in der Eucharistie. Nebst anderen bedeutenden Figuren wie Johannes Brenz oder Jakob Andreae, lehnte Chemnitz diese Form des Luthertums ab. Nach Chemnitz fokussiert die richtige Theologie hauptsächlich auf Gottes in der Schrift manifestierten Willen und ist weit davon entfernt, sinnlose und spekulative Fragen in Betracht zu ziehen. Zusammen mit Jakob Heerbrand ist Chemnitz eine bedeutende Figur in der Übergangsphase von der ersten Generation lutherischer Reformer zur zweiten und dritten Generation. Er eröffnet seine Loci theologici mit Reflektionen bezüglich des Zwecks und der Verwendung seines Werkes, indem er den Wegen nachspürt, in welchen die westliche Theologie im Laufe der Jahrhunderte anfing, den Bezug zur Schrift zu verlieren und sich in gewissen Anleitungen, wie Lombards Sententiae, zu verrennen. Der echte „Fluss“ wurde mit kleinen Bächlein ersetzt. Doch dann, endlich, zu unserer Zeit, im Jahre des Herrn 1517, erbarmte sich Gott seiner Kirche und berief Dr. Martin Luther, der die Lehre der Kirche zu reinigen begann und sie auf die Quellen der Schrift und auf die Norm des Glaubens der Propheten und Apostel verwies.¹²
Chemnitz fährt fort und erklärt, dass es Luther mit Gottes Hilfe möglich war, die apostolische Reinheit der Kirchenlehre wiederherzustellen; doch seine Erklärungen waren in vielen Schriften verstreut, sodass ein Überblick über seine Lehre nicht einfach zu erhalten war.¹³ Daher ergänzte Gott die Bemühungen Luthers mit den Arbeiten Melanchthons, der die vielen Lehrgefüge sammelte, um eine fundierte Doktrin in einer verständlichen, strukturierten und synoptischen Art und Weise zu präsentieren.¹⁴ Chemnitz erinnert seine Leser daran, dass Gott seinen eigenen Sohn nicht mit dem Ziel in die Welt schickte, dass Menschen akademische Debatten führen mögen, um somit ihre Intelligenz zu beweisen, „sondern eher, dass Menschen wahre Erkenntnis erfahren von Gott und allen Dingen, die notwendig sind, um ewige Erlösung zu erlan-
„Tandem vero nostro tempore, Anno Domini 1517. Deus misertus Ecclesiae suae, excitavit D. Martinum Lutherum, qui doctrinam Ecclesiae coepit repurgare, ita ut ad fontes Scripturae, et ad regulam fidei Propheticae et Apostolicae eam revocaret.“ „De Usu et Utilitate Locorum Theologicorum“, Martin Chemnitz, Loci theologici, 12 (ich zitiere die Wittenberger Edition von 1610, hg. von Martin Henckel). „Et Deo bene juvante, feliciter quidem restituta est doctrinae Ecclesiasticae Apostolica puritas; sed erant explicationes in diversis libris Lutheri sparsae, ita ut non facile esset integrum corpus doctrinae animo complecti, cum partes quasi disiectae essent.“ Ebd. „Singularis ergo consilio Deus utilissimis et nunquam satis laudatis explicationibus Lutheri, adjunxit labores D. Philippi Melanchthonis: qui in confessione Augustana, ex diversis Lutheri scriptis, integrum corpus doctrinae collegit, continens summam omnium Articulorum fidei proprie et perspicue explicatam.“ Ebd.
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gen“.¹⁵ Chemnitz erweitert Luther und Melanchthon, indem er Doktrin und Glaubensleben eng verknüpft. Das Wesentliche an der christlichen Theologie sei, „sich sowohl in der Doktrin als auch in der Pietät weiterzuentwickeln. Man kann wahrhaftig sagen, dass Theologie mehr aus dem Widerfahrenen besteht als aus Wissen. Daher vereint Gott in seiner eigenen Sprache sowohl Wissen, als auch den Affekt, der aus Wissen resultiert, in einem einzigen Begriff.“¹⁶ Zweifellos strebt Chemnitz nach dem Erhalt der praktischen Bedeutung der christlichen Glaubenslehre, und es kann ihm nicht vorgeworfen werden, eine intellektualistische Interpretation des Glaubens zu pflegen.
4.2 Hochorthodoxie Der Bogen, der sich von Luther zu Chemnitz über Melanchthon spannt, wurde durch eine Reihe von wichtigen Figuren erweitert: Leonhard Hutter (1563 – 1616), Nicolaus Hunnius (1585 – 1643) und besonders durch Johann Gerhard (1582– 1637), einer der überragenden Gestalten der „hohen“ lutherischen Orthodoxie. Johann Gerhard verbrachte den Großteil seiner Karriere als Dozent an der Universität Jena. Er ist Autor eines monumentalen Werks, einschließlich seiner Loci theologici, welche er erstmals im Zeitraum von 1610 bis 1622 veröffentlichte.¹⁷ Hierbei ist die Anordnung der Themen (loci) von signifikanter Bedeutung. Das erste Kapitel aus dem ersten Band befasst sich mit der Schrift („De Scriptura sacra“). Es folgen ausführliche Kapitel über Gott (einschließlich: Einheit und Trinität, göttliche Namen und Eigenschaften) und Christologie. Der zweite Band stellt Glaubenslehren von Schöpfung und Engeln, Vorsehung, Wahl und Verurteilung, der imago Dei in homine ante lapsum, Erbsünde, Tatsünde und des freien Willens dar. Der dritte Band handelt vom Sittengesetz, den Zeremonien des Gesetzes und den forensischen Aspekten des Gesetzes, dem Evangelium, Buße und Rechtfertigung durch Glaube. Der vierte Band enthält Ausführungen zu den guten Werken, den Sakramenten, der Beschneidung, dem Osterlamm (das Abendmahl) und der Taufe. Die folgenden Bände (5 – 9) beschäftigen sich mit der Eucharistie, kirchlichen Diensten, politischen Magistraten, Ehe und Zölibat, Tod, Auferstehung und Eschatologie (jüngstes Gericht und die Weltvollendung, ewiger Tod und ewiges Leben).
„Semper cogitandum est, Filium Dei non eam ob causam prodiisse ex arcana sede aeterni Patris, et revelasse doctrinam coelestem, ut seminaria spargeret disputationum, quibus ostentandi ingenii causa luderetur: sed potius ut homines de vera Dei agnitione, et omnibus iis, quae ad aeternam salutem consequendam necessaria sunt, erudirentur.“ Ebd. „Ita enim mentes proficient simul et doctrina et pietate. Vere enim dictum est, Theologiam magis consistere in affectu, quam in cognitione. Unde Deus in sua lingua sub uno vocabulo comprehendit et notitiam et affectus, qui notitiam sequuntur.“ Ebd. Das Folgende basiert auf J. Gerhard, Locorum theologicorum, Jena, Bände I (1615); II (1611); III (1613); IV (1618).
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Alles innerhalb der christlichen Lehre liegt nach Gerhard die Schrift zugrunde. Mehr als das: Das Wort Gottes, enthalten in der Schrift, ist die Grundlage des gesamten Gedankengebäudes, es ist „das einzige Prinzip der Theologie“, aus welchem Glaubensgrundsätze geschöpft werden.¹⁸ Die Schrift ist vollkommen. Die Perfektion der Schrift liegt der Tatsache zugrunde, dass „alles was Gott uns glauben, hoffen und werden lassen wollte, ohne jegliche Bedürftigkeit [in der Schrift] enthalten ist“.¹⁹ Gerhard gehört zu den ersten inbrünstig protestantischen Verteidigern der wörtlichen Inspiration der Schrift. Er vertritt dezidiert die These, dass die Schrift theopneustos, also von Gott inspiriert (2 Tim 3,16), von Gott eingegeben ist. Die Schrift ist demnach das Fundament der christlichen Lehre als Ganzes. Die Antwort des Menschen auf Gottes geschriebenes Wort kann nur Gehorsam und Akzeptanz sein: „In der Schrift ist Gottes Wort offenbart, und alles was in der Schrift offenbart ist, muss vom Gehorsam des Glaubens schlichtweg akzeptiert werden.“²⁰ Hier wird uns also eine der Facetten der protestantischen Theologie aufgezeigt, welche letztendlich die Phase der „Hochorthodoxie“ (sowohl die lutherische als auch die reformierte) für viele Wissenschaftler definierte, nämlich die Doktrin der wörtlichen Inspiration und der Unfehlbarkeit der Schrift. Diese Lehrmeinung gewann mehr und mehr an Bedeutung, gerade als die ersten Anwendungen der kritischen Methoden auf die Schrift entstanden. Doch einer der Kernpunkte war das Untermauern der protestantischen Argumente in der Debatte mit dem römischen Katholizismus und den Arten, in welchen die Schrift mit der Tradition, und dadurch mit der Kirche, in Beziehung gesetzt wurde. An anderen Stellen in seinem System greift Gerhard Calvin und die reformiertorthodoxen Theologen in dem Punkt der doppelten Prädestination an. Seine Kritik ist eindeutig: Calvin und seine Anhänger irren sich, wenn sie einerseits von einer göttlichen Vorherbestimmung für ewiges Leben, andererseits von einer Vorherbestimmung für den ewigen Tod sprechen. Auf der Grundlage von 1 Tim 2,4 ist Gerhard von Gottes Wunsch, alle Menschen zu retten, überzeugt.²¹ Wenn manche die Wahrheit nicht erlangen, dann nicht, weil Gott es nicht wünschte. Vielmehr ist es gänzlich ihre eigene Schuld.²² Jesu Verdienst ist universell gültig (II, 248 – 249). Dies muss dem
„Unicum Theologiae principium esse Verbum Dei in Scripturis sacris propositum, […].“ I, 1. Der in der vorherigen Anmerkung zitierte Satz fährt fort: „sive quod idem est, Scripturam sacram, probatur ex ejus perfectione, quae in eo consistit, quod omnia, quae credi, sperari ac fieri Deus a nobis voluit, absq; ulla indigentia contineat.“ Ebd. „In Scriptura proponitur Dei verbum, et quicquid in Scriptura proponitur, id simplicis fidei oboedientia est acceptandum.“ Ebd., 25. „Sic ergo concludimus. Quos Deus vult ad se converti et salvari, eos absoluto quodam odio vel decreto neutiquam a se rejecit et ad aeternam damnationem destinavit. Jam vero Deus omnes homines vult ad se converti et salvari. Ergo neminem eorum absoluto quodam odio vel decreto a se rejecit et ad aeternam damnationem destinavit. […] Deus vult omnes homines salvos fieri, et ad agnitionem veritatis pervenire.“ II, 205. „[…] velle Deum, ut omnes homines salvi fiant; velle etiam, ut omnes ad agnitionem veritatis perveniant. Deinde causa, quare non veniant plures ad agnitionem veritatis, non est in Deo, sed in ipsis
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„Hirngespinst der absoluten Bestimmung zur Verurteilung“ entgegengehalten werden.²³ Selbstverständlich heißt dies nicht, dass letztlich alle errettet werden. Es existiert ein Gericht, auch bekannt als das Jüngste Gericht, welches Gottes „gerechtes Urteil“ ist.²⁴ Aber Gott prädestinierte nicht den ewigen Tod für manche und ewiges Leben für andere; solch Absolute in den Doktrinen der Prädestination stimmen nicht mit der Schrift überein. Im Gegenteil beruft Gott alle Menschen gemäß seiner Gnade. Im Blick auf die „guten Werke“ im dritten Band rechnet Gerhard selbstredend erneut mit dem römischen Katholizismus, besonders mit Robert Bellarmin, ab. Gerhard stellt möglichst nachdrücklich die Idee, dass Rechtfertigung durch den Glauben und nicht durch Taten empfangen wird, erneut dar. Daher also die Unterscheidung zwischen dem Gesetz (das, was Gott den Menschen aufträgt) und dem Evangelium (das freiwillig gegebene Geschenk der Gnade und Vergebung Gottes). Im Zusammenhang mit der Debatte über die Rechtfertigung stellt Gerhard klar dar, dass Glaube in erster Linie Gottesvertrauen (fiducia) ist. Zu Gerhards Bedauern widerspricht Bellarmin dieser These.²⁵ An dieser Stelle stützen sich Katholiken auf die Unterschiede zwischen Intellekt und Willen, welche auf alte philosophische Prinzipien zurückzuführen sind und nicht von der Schrift und der „Schule des Geistes“ stammen. Die Schrift „differenziert nicht zwischen Intellekt und Willen, sondern spricht lediglich vom Herzen, von Kenntnis, von Vertrauen und vom Affekt, wie anhand so vieler Stellen erkennbar ist.“ ²⁶ Gerhard leugnet nicht, dass Glaube eine Form der Zustimmung ist, aber er bestreitet „mit aller Gewalt“, dass dies nach sich ziehe, dass Glaube keine Form des Vertrauens sei. Abrahams Glaube war zwar eine Form der Einwilligung, doch zugleich ein „völliges Vertrauen des Herzens“ (plenam cordis fiduciam; III, 1169). Wem könnte es entgehen, dass Gerhard an dieser Stelle Luthers Interpretation des Glaubens erneut darlegt? Gerhard gibt folgende Interpretation des Glaubens an: „Eine Verheißung erfordert nicht nur eine allgemeine Zustimmung, sondern auch ein kon-
hominibus, qua de re infra uberius agetur. […] Deus non vult aliquos perire, sed omnes as poenitentiam reverti.“ II, 207. „[…] figmento de absoluto reprobationis decreto opponim.“ II, 235. „Reprobatio est eorum, quos Deus in finali impoenitentia et incredulitate propria culpa perserveraturos praevidit, justo judicio facta aeternae morti adjudicatio.“ II, 392– 393. „Certum igitur esto fidem praeter notitiam complecti assensum, quod et Bellarmin. concedit lib. 1 de Justific. c. 7. sed quod praeter notitiam et assensum complectatur etiam fiduciam, id vero totis viribus negat et impugnat, ideo cap. 5. probare instituit, fidem justificantem non esse fiduciam misericordiae, sed solum assensum firmum ac certum […]. Demonstrandum igitur erit, fidem esse fiduciam, quod ex sequentibus constat argumentis. 1. ab etymologia. Fides et fiducia […] unam eandemque habent originem.“ III, 1137– 1138. „Argumentum petitum est non e Schola Spiritus sancti, sed ex principiis Philosophicis, veritati igitur ex Scripturis demonstratae nihil quicquam derogare poterit. Scriptura intellectum et voluntatem non distinguit, sed simpliciter cordi et notitiam et fiduciam, et affectus tribuit, quod ex infinitis locis apparet.“ III, 1162.
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kretes Vertrauen und eine Hingabe“.²⁷ „Verheißung und Glaube sind eng miteinander verbunden: Die Verheißung ist das Fundament und die Grundlage des Glaubens; daher kann und muss Glaube, sobald die Verheißung gegeben wurde, sich mit Gewissheit auf sie verlassen.“²⁸ Gerhard war vielleicht der bedeutendste Theologe der lutherischen Orthodoxie im 17. Jahrhundert, doch zusätzlich war er ein Mann mit dem Interesse, echte Pietät voranzutreiben, wie es seine Schola pietatis (5 Bde., Jena, 1622– 23) erkennbar macht, die Philipp Jakob Spener, eine der Führungspersönlichkeiten des lutherischen Pietismus, hoch lobte, und die ein tiefliegendes pastorales Anliegen offenbaren (als kleiner Junge wurde Gerhard von Johann Arndt betreut).²⁹
4.3 Intra-Lutherische Polemik – Die Debatte zwischen Abraham Calov und Georg Calixt Der Grad an Polemik in der protestantischen Theologie des 17. Jahrhunderts ist erstaunlich, besonders für diejenigen, die, wie die meisten von uns, von den ökumenischen Fortschritten des 20. Jahrhunderts wissen, einschließlich der Leuenberger Konkordie von 1973, welche die gegenseitige Ächtung beseitigte und einen geistlichen Austausch zwischen den meisten lutherischen und reformierten Kirchen in Europa erlaubte. Sicherlich ist es nach wie vor möglich – vor allem in Nordamerika, einem für zutiefst konservative und sogar fundamentalistische Tendenzen unter Protestanten bekannter Teil der Welt – „strenge“ Lutheraner zu treffen, die nichts mit Calvinisten und Zwinglianern (den „Reformierten“) zu tun haben wollen. Dennoch ist heutzutage, besonders bei der jüngeren Generation, der Großteil der Protestanten nicht an den alten Abspaltungen protestantischer Glaubensgemeinschaften und Konfessionen interessiert. Untersucht man die Geschichte der protestantischen Theologie des 17. Jahrhunderts, findet man eine davon stark abweichende Welt vor, in der lutherische Theologen, die versöhnliche Absichten mit den Reformierten (und den Katholiken) verfolgten, wie Georg Calixt (1586 – 1656) und andere Theologen aus Helmstedt und Königsberg, von scholastischen Theologen wie Abraham Calov (1612– 1686), neben seinem Kollegen Johann Andreas Quenstedt (1617– 1688) eine der führenden Per-
„Promissio requirit non solum assensum generalem, sed et fiduciam et applicationem specialem.“ III, 1170. Der Unterschied zwischen Gerhard und Luther, wie bei Melanchthon und Luther auch, ist der Gebrauch der „non solum“/„sed et“ Formel. Luther hätte in diesem Fall wohl ein „entweder/oder“ verwendet. „Promissio et fides sunt correlata: Promissio est fundamentum ac basis fidei; data igitur promissione fides certo eidem inniti potest ac debet.“ III, 1185. Ph. Spener, Briefe aus der Frankfurter Zeit (1666 – 1686), Bd. 4 (1679 – 1686), Tübingen, 2005, 331; Brief von 1679: „Schola Pietatis ist ein gross werck“.
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sönlichkeiten der Lutherischen Orthodoxie nach Gerhard (†1637), scharf kritisiert und als „Synkretisten“ bezeichnet wurden.³⁰ Calov wurde in Ostpreußen geboren und wuchs dort auf. Er erwarb einen Doktortitel an der Universität Rostock und dozierte zunächst, schon als junger Mann, an seiner anderen Alma Mater, der Universität Königsberg (1637– 1643) im heutigen Kaliningrad (Russland), bevor er dem Ruf als Pastor und Rektor des Akademischen Gymnasiums Danzigs (1643 – 1650) folgte. Anschließend unterrichtete er für 36 Jahre in Wittenberg, von 1650 bis zu seinem Tod. Er wurde bekannt für die Pauschalverurteilung jeglicher „synkretistischer“ Bemühungen (in Richtung der Reformierten und Roms) und die gelegentliche Weigerung, seine Gegner für „orthodox, katholisch und wahrhaftige Lutheraner“ zu erachten.³¹ Calov verkörpert wohl den Gipfel der „gehobenen“ und kompromisslosen Scholastik innerhalb lutherischer Theologie. Sein Systema locorum theologicorum in zwölf Bänden (Wittenberg, 1655 – 1677) wurde bisher noch keiner genauen und gründlichen Untersuchung von historischen Theologen unterzogen. Was allerdings bereits herausgearbeitet wurde, ist die Tatsache, dass Calov, wie andere bedeutende Figuren der lutherisch-scholastischen Theologie des 17. Jahrhunderts auch, einen Eifer für Gründlichkeit, Genauigkeit und Anschaulichkeit mit dem Bestreben kombinierte, die geistliche Dimension des christlichen Glaubens zu durchdringen. Dies ist ersichtlich durch die Einbindung der unio mystica in seine ausführliche Doktrin der ordo salutis, also den verschiedenen gedanklichen Schritten, durch welche man Buße tut, gerechtfertigt und errettet wird. In der Erarbeitung dieses Themas mögen sowohl Elemente Martin Luthers Theologie als auch andere diffuse Einflüsse von proto-pietistischen Schriften (Johann Arndt, 1555 – 1621) eine Rolle gespielt haben. Zusätzlich erläutert Calov, als streng lutherischer Theologe, die christologische Lehre vom Austausch der Eigenschaften – der communicatio idiomatum –, also dem Konzept, dass spezifische Eigenschaften zweier Naturen Jesu Christi im gegenseitigen Austausch stehen; Daher auch die Doktrin der Allgegenwart sowohl seiner menschlichen als auch göttlichen Natur. Diese Doktrin spielt im Streit und in den Debatten um die Eucharistie eine Schlüsselrolle und hatte für Calov und eine Vielzahl lutherischer Theologen dieser Zeit einen hohen Stellenwert.
Johannes Wallmann, „Abraham Calov“, in: TRE 7, 1981, 563 – 568, sowie ders., Der Theologiebegriff bei Johann Gerhard und Georg Calixt, Tübingen, 1961. Johann Andreas Quensteds Mutter war eine Schwester Johann Gerhards. Calov überlebte alle dreizehn seiner Kinder und heiratete sechs Mal (seine sechste Frau, die er 1684 im Alter von 72 heiratete, war eine Tochter seines Kollegen Johann Andreas Quensted). Unter anderem: Digressio de nova Theologia Helmstadio-Regiomontanorum Syncretistarum Georgii Calixti, Conradi Hornei, Michaelis Behmii, Christiani Dreieri, Johann. Latermanni, Danzig, 1649. Vgl. Jörg Baur, „Orthodoxie, Genese und Struktur“, in: TRE 25, 506. Preus ordnete 28 von Calovs Werken dem Synkretismus zu! Robert D. Preus, The Theology of Post-Reformation Lutheranism, Bd. 1, Saint Louis / London, 1970, 60.
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Calixts Irenismus, wiederum kann teilweise auf seine Ausbildung an der Universität Helmstedt zurückgeführt werden, in einer Region, in der ausschließlich die frühen lutherischen Bekenntnisse wie das Augsburger Bekenntnis (1530) – nicht die spätere Konkordienformel (1577), in der die Lehrsätze von der Allgegenwart und dem Austausch der Eigenschaften ausdrücklich hervorgebracht wurden – die Norm waren. Calixt verkörpert einen Strang der lutherischen Theologie, der Melanchthons Humanismus und dessen Bemühungen, verschiedene protestantische Strömungen zu vereinen, fortführt. Zum Entsetzen strengerer Lutheraner waren innerhalb dieser Tradition Interpretationen von Rechtfertigung auffindbar, die dem Synergismus (der Betonung menschlichen Wirkens beim Handeln Gottes) zugeneigt waren. Die äußerst heftigen Debatten, und wohl auch Polemiken, zwischen den Wittenberger Theologen (durch Calov angeführt) und den sogenannten „Synkretisten“ aus Helmstedt-Königsberg (unter Führung Calixts) dürfen aber die von allen Denkern geteilten Annahmen nicht verdecken. Eine dieser Annahmen betrifft den Gebrauch philosophischer Grundsätze Aristoteles’ und das Interesse an Metaphysik und Ontologie. Was sich innerhalb der protestantischen Theologie als neuartige Tendenz entwickelte, nämlich Theologie auf die Schrift (oder Offenbarung) und auf die Natur (oder Sein, oder Vernunft) zu gründen, war sowohl bei Calov als auch bei Calixt recht offensichtlich, wie in Calovs Werk Metaphysica divina, pars generalis (Rostock, 1636, 2. Aufl. 1640; das pars specialis erschien erst 1650 – 1651 und 1673 als Teil seines Scripta Philosophica) erkennbar ist. In diesem Werk bedient sich Calov Aristoteles’ Philosophie. Er ist interessiert am Sein und der Natur selbst (esse generalissimum; natura abstractissima) und unterscheidet dieses Gedankenkonzept von jeglichem Gegenstand aus oder in dieser Welt.³² Calovs Erzfeind, Georg Calixt, befasste sich gleichermaßen mit solch metaphysischen Angelegenheiten. Er begann 1597 bei Cornelius Martini (1568 – 1621), einem Philosophen und Theologen, der eine entscheidende Rolle bei der Einführung von Aristoteles’ Metaphysik (oppositionell zum Ramismus) an deutschen lutherischen Universitäten spielte, sein Studium an der Universität Helmstedt.³³ Infolgedessen dürften Calovs metaphysischen Werke für jemanden wie Calixt nicht besonders originell erschienen sein. Calixt entwickelte sich zu einem der Pioniere des sogenannten „analytischen“ Ansatzes, hier zu verstehen als vom telos einer gegebenen Wissenschaft gekennzeichneter Ansatz, im Gegensatz zum „synthetischen“ Ansatz, welcher in der Tradition der Loci zu finden ist.³⁴ Im Fall der christlichen Theologie ist das Ziel
Jean-François Courtine, Suarez et le problème de la métaphysique, Paris, 1990, 446 – 447. Martinis Vorlesungen wurden eifrig gelesen, auch von Johann Gerhard. Martini betrachtete Thomas Aquinas als einen „vir certe doctissimus“. M. Wundt, Die deutsche Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts, Tübingen, 1939, 98 – 103, 133 – 135, hier: 102. Wilhelm Gass, „Georg Calixt“, in: ADB, Bd. 3, 1876, 696 – 704, und J.Wallmann, Der Theologiebegriff, 26 – 27, 56 – 57. Sowohl Wallmann (88 – 89) als auch Gass betiteln Calixt als den größten Denker des Luthertums im 17. Jahrhundert. Der italienische Logiker Jacob Zabarella (1533 – 1589), ein Aristoteliker, war sehr einflussreich unter deutschen lutherischen Theologen, insbesondere durch seine Unter-
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die Erlösung. Eine Konzentration hierauf führt zu zwei bedeutsamen Konsequenzen, die Calixt wirkungsvoll hervorhebt: Erstens, die Betonung des praktischen Aspekts der Theologie. Der Kernpunkt der Theologie, fern davon, einzig und allein im Wissen dieses Themengebiets zu verweilen, liegt in der Erkenntnis der konkreten und unmittelbaren Entwicklung von Glaubenden in Richtung dieses Ziels. Zweitens, die Realisation, dass nicht alle Lehrsätze notwendig sind, um Erlösung zu erlangen – manche sind adiaphora. Das Apostolische Glaubensbekenntnis, welches bereits auf die grundlegende und eigentliche Konvergenz aller christlicher Konfessionen deutet, enthält eine treffende Zusammenfassung der christlichen Theologie. Strenge Lutheraner, zu denen auch Calov zählt, widersprachen diesem Gedanken und sahen darin einen gefährlichen Angriff auf bestimmte Lehrsätze, namentlich die der Allgegenwart und dem Austausch der Eigenschaften.
5 Das Ende der Orthodoxen Phase – die anderen Diskontinuitäten Der Umbruch der Renaissance und der frühen Neuzeit in die Moderne im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts war fatal für die protestantisch-orthodoxen Theologen.Von einer Generation zur nächsten wurden die Denkweisen der „Hochorthodoxie“ höchst problematisch: zu spekulativ und abstrakt seien sie, zu weit entfernt von persönlicher Erfahrung in der Welt, zu anfällig für intolerantes Verhalten. Aufklärungstheologen und Pietisten suchten nach neuen Arten, über das Christentum und Religion nachzudenken. Und doch, inmitten dieses Gefüges der Diskontinuität lassen sich Kontinuitäten erkennen, insofern, als selbst die höchsten Formen der protestantischen Orthodoxie – wie oben zu sehen war – nicht von dem existenziellen Bestreben nach Gewissheit und Sinn zu trennen waren.³⁵ Eine starke anthropologische Gewichtung kann schon in theologischen Systemen des 17. Jahrhunderts erkannt werden, welche nicht vorschnell als lediglich eine „Rückkehr“ zu oder „Wiederholungen“ von mittelalterlichen Summen und Sätzen abgetan werden dürfen. Und so bleibt die Frage bestehen: Legten die Theologen des 17. Jahrhunderts die Grundlage für die moderne (einschließlich deistische) und pietistische Theologie? Der Fakt, dass ausführliche Reflexion des „Sein qua Sein“ an lutherischen Universitäten gefördert wurde, kann als ein erster Vorstoß wachsender Unabhängigkeit der Philosophie und der Ontologie im Bezug zur Theologie verstanden werden. Es mag also folglich sein, dass der Zuwachs
scheidung von analytisch (demonstratio ab effectu) und synthetisch (demonstratio ab causa). Es war ein reformierter Denker, Bartholomaeus Keckermann (1572– 1609), der half, Zabarellas Ideen und die „analytische“ Methode innerhalb des Luthertums einzuführen. „Zu Pietismus und Aufklärung führt eine wesentliche Linie durch die Orthodoxie hindurch.“ J. Wallmann, Der Theologiebegriff, 59. K. Barth hat diese These bereits früher formuliert (siehe unten).
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natürlicher Theologie innerhalb protestantischer Scholastik die explosionsartige Ausbreitung „natürlicher“ Theologie, besonders unter Deisten, im späten 17. und im 18. Jahrhundert vorbereitete. Doch wie steht es mit den anderen Diskontinuitäten zwischen der orthodoxen Phase und dem Pietismus? Auch an dieser Stelle ist eine einfache Trennung in zwei Lager zu vermeiden. Denker wie Johann Conrad Dannhauer (1603 – 1666) schlagen eine Brücke zwischen beiden Strömungen. Dannhauer war ehemaliger Schüler Johann Gerhards und Theologieprofessor an der Universität Straßburg. Wie Gerhard auch, definiert Dannhauer in seinem Hauptwerk Hodosophia christiana sive Theologia positiva (1649) Theologie als eine gottgegebene (theodotos) Disposition oder habitus. ³⁶ Dannhauer führt Gerhard weiter mit der Betonung auf die verbale Inspiration der Schrift (theopneustos) selbst in den minuziösesten Details wie den Vokalzeichen der hebräischen Notation.³⁷ Dannhauer war bekannt für seine heftige Polemik, die viele Gegenspieler zum Ziel hatte, einschließlich die Reformierten, die er in seiner Hodomoria Spiritus Calviniani angreift.³⁸ Mit beiden Beinen fest in der lutherischen Scholastik verankert, erlebte er die Entwicklung des Pietismus im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts nicht mit, aber Spener, sein Schüler in Straßburg, bewunderte ihn. Nach Dannhauer († 1666), Quenstedt († 1688) und weiteren Wissenschaftlern wie dem Pastor David Hollaz (1648 – 1713), ein Schüler Calovs und Quenstedts und einer der letzten orthodoxen Denker, entwickelte sich im frühen 18. Jahrhundert allmählich eine recht andersartige Ausrichtung der Bewegung, als die Stimmung an zahlreichen Orten Europas gegen dogmatische Belange kippte und diese für das Blutvergießen und die Intoleranz des vorigen Jahrhunderts verantwortlich gemacht wurden. Einige protestantische Kirchen entschieden sich, bestimmte Lehrmeinungen wie Gottes Dreifaltigkeit oder (besonders bei den Reformierten) die Prädestination lieber auszuklammern und auf der Kanzel nicht zu erwähnen. Eine „vernünftige“ Tradition protestantischer Orthodoxie mit klar pietistischen und auf „Theologia nostras est habitus divinitus datus, in conscientia pura ac animo devoto, qui hominem summe miserum efficaci doctrina ad salutem, vitamque aeternam reducit.“ Hodosophia christiana sive Theologia positiva, Straßburg, 1649; 2. Aufl. 1666; 3. Aufl. 1674; Straßburg / Leipzig, 4. Aufl. 1713, 6; (ich zitiere diese letzte Edition); J. Gerhard, „Proœmium de natura theologiae“, Loci theologici, Tübingen, 1763, II, 4 und 13. Zu Dannhauer siehe J. Wallmann, „Strassburger lutherische Orthodoxie im 17. Jahrhundert. Johann Conrad Dannhauer. Versuch einer Annäherung“, in: RHPR 68/1, 1988, 55 – 71. Zu der verbalen Inspiration der Bibel: „inspirante per gratiam praesentissimam concomitantem; accurante, ne vel in puncto erraret scriptor; revelante de novo res ratione humana superiores“ (19). „Quod manu Apostolorum scriptum est, ipsa manu Dei scriptum est“ (20). „Jam quod puncta vocalia attinet in textu Hebraeo (de his enim praecipue est controversia, non de accessu grammatico, consistente in literarum figurarione, distinctione et perfectione, appellatione punctorum et ordinatione,) eorum divinitas primum a Scriptura exigitur, deinde in reipsa et facto ostenditur. Exigitur, inquam, a Scripturae Sacrae fine, e quo sic colligimus. Omnis Scriptura perfecta, perficiens hominem Dei ad omne opus bonum, sapientifica ad salutem, regulatrix verae viae salutis, etiam puerorum legentium informatrix, de jure ac necessario vocalibus constare debet e divina inspiratione natis. At omnis scriptura Vet. Test. perfecta etc. Igitur de jure ac necessario vocalibus theopneustois constare debet.“ (31). Conrad Dannhauer, Hodomoria Spiritus Calviniani Duodecim Phantasmatis, Bd. 2, Straßburg, 1654.
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geklärten (besonders kartesischen) Anlehnungen ersetzte die älteren, stringenten Traditionen. Johann Franz Buddeus (1667– 1729) war eine der Figuren dieser neuen, aufgeklärten und besonders pietistischen Orthodoxie.
6 Karl Barth und die Lutherische Orthodoxie Wir wagen einen großen Sprung, um folgender Frage nachzugehen: Wie rezipierte Karl Barth, der reformiert war, die lutherisch-orthodoxe Tradition? Dies ist eine weitreichende Frage, die im Folgenden nur provisorisch beantwortet werden kann. Ebenso wie Schleiermacher, einem weiteren beachtlichen reformierten Denker, war Barth mit der protestantischen Theologie des 17. Jahrhunderts durchaus bewandert. Doch dem war nicht immer so. Als Schüler unter Wilhelm Herrmann (1846 – 1922), einem wesentlichen Wegbereiter der protestantischen systematischen Theologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wurde Barth sicherlich nicht dazu ermutigt, in die Theologie des 17. Jahrhunderts einzutauchen. Schleiermachers Reden wurden, im Gegensatz zu den umfangreichen Systematiken Chemnitz’, Gerhards und Calovs, hochgeschätzt. Erst als Barth in den frühen 1920er Jahren Theologieprofessor an der Universität Göttingen wurde und anfing, dogmatische Vorlesungen zu halten, zeigte er Interesse an diesen Werken. Barth entdeckte Heinrich Heppes und Heinrich Schmidts Kompendien reformierter beziehungsweise lutherisch-orthodoxer Schriften 1924.³⁹ 1935 schrieb Barth über diese Entdeckung in einem Text, den es lohnt, in voller Länge zu zitieren. Diese Bücher, schreibt er, gerieten in meine Hände; veraltet, staubig, unansehnlich, fast wie eine Logarithmentafel, langwierig zu lesen, steif und eigenartig an beinahe jeder Stelle an der ich sie öffnete; was Form und Inhalt anbelangt entsprachen sie recht genau dem, was ich, wie viele vor mir, vor Jahrzehnten als „alte Orthodoxie“ beschrieben hatte. Nichtsdestotrotz besaß ich den Anstand nicht nachlässig zu sein. Ich las, ich studierte, ich reflektierte und wurde mit der Erkenntnis belohnt, dass ich mich endlich in einer Atmosphäre befand, in welcher der Weg der Reformer zur Heiligen Schrift vernünftiger und natürlicher schien, als die Atmosphäre, der mir nur zu gut bekannten theologischen Literatur von Schleiermacher und Ritschl. Ich fand eine Lehrmeinung vor, die sowohl Form als auch Gehalt hatte, und auf die zentralen Hinweise der Offenbarung im biblischen Zeugnis ausgerichtet war. Hinweise, denen bis ins Detail mit einer erstaunlichen Reichhaltigkeit nachgegangen wurde – eine Lehrmeinung, die durch die Adaption der Hauptanliegen der Reformation sowohl versucht eine angemessene Fortführung der doktrinären Konstruktionen der altertümlichen Kirche zu realisieren, aber gleichermaßen eine Wertschätzung und Kontinuität der kirchlichen Wissenschaften des Mittelalters begehrt. Offensichtlich fand ich mich wieder im Raum der Kirche, doch zugleich, wie jene Vorbilder auch, in den Rängen einer (auf ihre eigene Weise) anständigen ekklesiologischen Wissenschaft. In mir entstand eine Bewunderung für das lange, friedvolle Atmen, die Umsichtigkeit, die Festigkeit, die Rigorosität (im Bezug zur Thematik), den
K. Barth, „Zum Geleit“, in: H. Heppe, Die Dogmatik der evangelisch-reformierten Kirche, Neukirchen, 1935, 7. Heinrich Schmid, Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche, 10. Aufl., Gütersloh, 1983.
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überlegenen Stil, die zuverlässige (und immerhin in sich selbst stimmige) Vorgehensweise, welcher sich diese „Orthodoxie“ bediente. Ich hatte Anlass zum Staunen über den Reichtum an problematisierten Themen und der bloßen Schönheit (pulchritudo) der Gedankengänge. In diesen alten Herrschaften sah ich, dass es sich lohnen kann mit aller Macht, welche die christliche Voraussetzung beinhaltet, den kleinsten Punkt zu reflektieren, um des oft appellierten „Lebens“ willen, die Frage nach Wahrheit vom Anfang bis zum Ende sehr ernst zu nehmen. In anderen Worten sah ich, wie die protestantische Dogmatik einst eine sorgfältige, ordentliche Sache war, und in mir wuchs die Hoffnung, dass sie vielleicht wieder einmal dorthin zurückkehre, falls sie den Mut, den sie offensichtlich verloren hatte, wiederfand und erneut eine strenge ekklesiologische und wissenschaftliche Haltung annahm.⁴⁰
Unmittelbar nachdem er diese aufschlussreichen Zeilen schrieb, fügte Barth hinzu, dass er eine „Wiederholung“ der Systeme des 17. Jahrhunderts nie vorsah. Tatsächlich hatten diese Werke teilweise den darauffolgenden problematischen Entwicklungen innerhalb der protestantischen Theologie den Weg geebnet.⁴¹ Wodurch? Durch deren Abhängigkeit von bestimmten Weltanschauungen (Barth legt nicht fest, welche). Durch einen übermäßig zuversichtlichen Gebrauch historischer Quellen (patristische und mittelalterliche), welche zuweilen auf Grundlage reformatorischer Erkenntnisse auf den Prüfstand gehört hätten. Durch eine Tendenz, vollständiges Erlangen von Offenbarung aufgrund von (göttlich erleuchteter) Vernunft zu behaupten. Durch eine beträchtliche Reduktion des Mysteriums der Offenbarung, ein Aspekt, der besonders in deren Lehrmeinung bezüglich der Schrift erkennbar ist.⁴² Zweifellos sind dies ernstzunehmende und zahlreiche Probleme. Barth setzte viel daran, eben diese in seiner Kirchlichen Dogmatik (hiernach: KD) und anderen Werken zu beheben. Dennoch sollten sie uns nicht davon abhalten, den Theologen des späten 16. Jahrhunderts und des 17. Jahrhunderts Beachtung zu schenken, welche nicht das „Ziel“ darstellen, sondern lediglich eine „Etappe“ auf dem Weg zum Ziel. Das Ziel ist eine „biblische und reformatorische Theologie“. Diese Denker sind von Belang, da sie uns dieses Ziel in Erinnerung rufen.⁴³ Barth verwendete also die verschiedenen Kompendien protestantisch-orthodoxer Theologie und baute auf Charlotte von Kirschbaum, seine Sekretärin und Gefährtin, die sämtliche Hauptwerke dieser Phase exzerpierte, und Barth dadurch mit einer Vielzahl von Zitaten ausstatte, die er letztendlich in seine Kirchliche Dogmatik integrierte. Barth brachte diese nuanciert kritische Sicht der orthodoxen Theologen hier und da wieder hervor, besonders in den Vorworten seiner dogmatischen Werke von 1927 und 1932. Im Vorwort des 1932 erschienenen ersten Bands seiner Kirchlichen Dogmatik erklärt er, dass „nicht nur die wichtigsten, sondern auch die relevantesten und schönsten Herausforderungen der Dogmatik an dem Punkt beginnen, an dem das Märchen der ‚defizitären Scholastik‘ […] versucht uns
K. Barth, „Zum Geleit“, 3 – 4. Ebd., 4. Barth wiederholt diese Kritik an anderen Stellen. Siehe beispielsweise KD 2/1, 528 – 529. „Zum Geleit“, 4. Ebd., 5.
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von einem Fortfahren abzuhalten“.⁴⁴ Die Botschaft ist eindeutig und musste wohl einer Vielzahl von Barths Kollegen reaktionär erschienen sein: „Furcht vor Scholastik ist das Zeichen eines falschen Propheten“ (KD I/1, 279). Dennoch stellen die Systeme des 17. Jahrhunderts nicht das Allheilmittel dar, welches die moderne Theologie auf die rechte Spur bringen könnte. Selbst bei Figuren wie Gerhard nahm Barth ein Abrücken von Gottes Objektivität und einen Übergang zum menschlichen Subjekt und dessen Pfad zur Erlösung wahr (KD I/1, 192). Dieser abtrünnige Pfad führte laut Barth zu den anthropozentrischen, modernen Theologien des 18. und 19. Jahrhunderts. Demnach war die protestantische Orthodoxie für deren „katastrophalen Absturz“ im 18. Jahrhundert verantwortlich: deren eigene Grundlagen hatten erhebliche Mängel (KD I/1, 124).
7 Abschließende Bemerkungen Insgesamt ist die protestantische Theologie des 17. Jahrhunderts nach wie vor eine enorme „terra incognita“,⁴⁵ aber manch moderner Theologe, einschließlich Barth und natürlich einer Vielzahl historischer Theologen und Historiker, hat Exkurse gewagt und einen Reichtum und eine Vielfalt an Sichtweisen entdeckt, welche dem Klischee der „toten Orthodoxie“ dieser Zeit widersprechen. Gleichermaßen ist es bemerkenswert, dass die europäischen Blutbäder nahezu keinen Anklang in diesen Werken finden. Die Welt, wie sie sie kannten – und das ist recht beunruhigend – wird mehr oder weniger außer Acht gelassen. So, wie Barth kein liberaler Theologe war, aber dennoch bestimmte Formen des Liberalismus’ innerhalb der Theologie nicht einfach ablehnte, war er auch kein scholastischer Theologe, obgleich er sich die scholastischen und orthodoxen Traditionen zu Herzen nahm. Es besteht kein Zweifel daran, dass Barth den orthodoxen Theologen (so wie allen anderen) als systematischer und nicht als historischer Theologe stricto sensu begegnete. Auch besaß er nicht die Muße, diese wuchtigen Systeme von der ersten bis zur letzten Seite zu lesen. Also sind kritische Beleuchtungen seiner Interpretationen früherer Ideen gerne gesehen. Natürlich lebte und arbeitete Barth nach Rousseau, Kant, Hegel, Kierkegaard und Feuerbach – nicht vorher. Seine philosophischen Grundvoraussetzungen, als Leser von Kant, neokantischer Philosophie (Hermann Cohen, Paul Natorp) und anderen Denkern, waren von denen Gerhards und anderer Wissenschaftler grundverschieden. Barth beschreitet einen Mittelweg zwischen einerseits liberaler Theologie und deren vorschneller Ablehnung der Heteronomie (der Normativität des Dogmas, der Schrift und der Offenbarung), andererseits der fehlgeleiteten orthodoxen Tendenz, die Schrift mit Offenbarung zu verwechseln (verbale Inspiration und Unfehlbarkeit) und
KD 1/1, 14. Siehe auch das Vorwort von Die Christliche Dogmatik im Entwurf (1927), 7– 8. Kenneth G. Appold, Abraham Calov’s Doctrine of Vocatio in Its Systematic Context, Tübingen, 1998, 4.
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die Reduktion Gottes Wort auf die niedergeschriebene Form, die Bibel, zum Schaden der Person Jesu Christi und der Verkündigung der Kirche, welche die zwei weiteren Formen des Wortes Gottes darstellen. Solch eine Reduktion „impliziert sozusagen ein Erstarren der Beziehung zwischen Schrift und Offenbarung“ (KD I/1, 124). Gemäß Barth hielten viele lutherische Theologen des 17. Jahrhunderts sogar mehr von der Schrift als ihre reformierten Gegenspieler (KD I/2, 460). Johann Gerhard, den Barth in seiner Kirchlichen Dogmatik regelmäßig zitiert, und das oft zustimmend – und dessen auf die Loci gegründetem Ansatz Barth zu folgen suchte, im Gegensatz zu der „analytischen“ Vorgehensweise (KD I/2, 870) –, erkannte zurecht, wie die Autorität der Schrift autopistos, also auf sich selbst gegründet ist und nicht retrospektiv oder extern durch apologetische Apparate demonstriert wird: „Entweder ist es bereits bekannt und bestätigt, oder es wird nicht gebilligt.“ (KD I/2, 536). Barth akzeptierte die „Ernsthaftigkeit“ der Kritik Gerhards am Absolutismus der reformierten Lehrsätze zur Prädestination bereitwillig, auch wenn er dadurch riskierte, Gottes Gnade in eine Regel umzugestalten, die vom menschlichen Subjekt manipuliert werden kann (KD II/ 2, 72). Es ist mit Sicherheit recht verblüffend, zu sehen, wie lutherische Denker metaphysische Konstrukte bereitwillig aufgreifen, nur Jahrzehnte nach Luthers eigenem Abrissprojekt bezüglich der auf Aristoteles basierenden, scholastischen Theologie. Doch bevor wir unsere Kleider entzweireißen und „Blasphemie!“ rufen, ist es notwendig, einen näheren Blick auf die Vorgehensweise und auf die Beweggründe dieser Denker zu werfen. Dann dürften wir ein besseres, und gewiss kein unkritisches Verständnis von dem erlangen, was diese Wissenschaftler errungen haben.
Pierre Bühler
Kreuzestheologie Ihre Bedeutung bei Luther und einige Etappen ihrer Wirkungsgeschichte
Zum Einstieg „Crux sola est nostra theologia“ („Das Kreuz allein ist unsere Theologie“).¹ Wenn man sich mit reformatorischem Gedankengut befasst, sind einem die klassischen solaFormeln geläufig: sola fide, sola gratia oder sola scriptura. Dass es bei Luther auch, im Sinne der soeben zitierten Stelle, ein sola crux gibt, ist viel weniger bekannt. Der knappe Satz bezeugt die hohe Bedeutung, die dem Kreuz in Luthers Theologie zukommt und damit seine gesamte Theologie zu einer Kreuzestheologie (theologia crucis) macht. Das soll in einem ersten Teil des Aufsatzes erörtert werden. In einem kurzen zweiten Teil werden einige methodologische Zwischenüberlegungen formuliert, bevor dann der dritte Teil skizziert, wie Luthers Kreuzestheologie rezipiert wurde, einige Etappen ihrer Wirkungsgeschichte beschreibt.
1 Die fundamentale Bedeutung der Kreuzestheologie bei Luther² Der Ausdruck „Kreuzestheologieˮ oder „Kreuzestheologeˮ ist eine Sprachschöpfung Martin Luthers, vermutlich unter mystischem Einfluss. Deshalb wollen wir zunächst genauer beobachten, wie es in seinem Werk zu dieser Formulierung kommt, um sie nachher systematisch zu vertiefen.
1.1 Einige historische Informationen Auch wenn die Kreuzestheologie ein grundlegendes Element der Theologie Luthers bildet, charakterisiert sie explizit nur eine begrenzte Periode seines Lebenswerkes. Vornehmlich in den Jahren 1517 bis 1519 wird sie intensiv thematisiert und in den Rang eines theologischen Programmes erhoben. Nachher rückt sie etwas in den Hinter WA 5,176,32– 33. Für eine ausführlichere Information zu diesem Teil vgl. P. Bühler, Kreuz und Eschatologie. Eine Auseinandersetzung mit der politischen Theologie, im Anschluss an Luthers theologia crucis (Tübingen, 1981), vor allem 63 – 285. https://doi.org/9783110498745-042
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grund, aus welchem sie zwar bis in die letzten Jahre seines Schaffens hier und dort wieder hervortritt, jedoch nur diskret und eher sporadisch. Nebenbei sei bemerkt, dass damit eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Apostel Paulus besteht: Auch bei ihm kennzeichnet die Formel „Wort vom Kreuzˮ nicht sein gesamtes Schaffen, sondern nur einen begrenzten Teil, was aber nicht ausschließt, dass diese Dimension in seiner gesamten Theologie eine Schlüsselrolle spielt. Bei Luther steht die Entwicklung des Themas ganz im Zeichen der Wechselwirkung zwischen der Beschäftigung mit Paulus und der kritischen Auseinandersetzung mit den Strömungen seiner Zeit.³ So erscheint die Formel „theologia crucisˮ ein erstes Mal in der Hebräerbriefvorlesung (zu Hebr 12,11).⁴ Erst im Verlauf des Ablassstreites präzisiert sich jedoch der Inhalt des Begriffes: So findet sich die Unterscheidung zwischen „theologus crucisˮ und „theologus gloriaeˮ zum ersten Mal in den Resolutiones, dem Kommentar zu den 95 Thesen gegen den Ablass.Wenig später, im Frühjahr 1518, entwickelt Luther dann auf programmatische Weise den Unterschied zwischen „theologia crucisˮ und „theologia gloriaeˮ, nämlich in der Heidelberger Disputation, im Rahmen eines Kapitels des Augustinerordens.⁵ Auch in seiner zweiten Psalmenvorlesung, den Operationes in Psalmos (1519 – 1521), spielt das Thema des Kreuzes eine wichtige Rolle, obschon der Begriff „theologia crucisˮ selbst eher zurücktritt. Um dieses relativ seltene Vorkommen der Begrifflichkeit zu erklären, wurden verschiedene Hypothesen aufgestellt: Ging die Thematik aus einem ganz bestimmten polemischen Kontext hervor? Oder ist sie einfach das Ergebnis einer Phase intensiver Beschäftigung mit dem paulinischen Gedankengut? Oder charakterisiert sie den vorreformatorischen Luther, der sich erst später zur Rechtfertigung durch Glauben durchringen konnte, was das Thema der Kreuzestheologie überflüssig machte? Keine dieser Erklärungen vermag wirklich zu überzeugen. Zweifellos spielt der polemische Kontext eine Rolle, aber die Hebräerbrief- oder die zweite Psalmenvorlesung gehören keineswegs in diesen Rahmen. Gewiss durchdrang die paulinische Theologie in dieser Phase das gesamte Schaffen Luthers, aber trifft das nicht auch auf sein späteres Werk zu? Ebenso erklärt die Annahme, die Kreuzestheologie sei durch die Rechtfertigung durch Glauben abgelöst worden, kaum, warum sie weiterhin präsent bleibt, in der zweiten Psalmenvorlesung sogar mit großem Nachdruck wieder in Erscheinung tritt. Deshalb scheint uns die folgende Vermutung plausibler: Die Gegenüberstellung von Kreuzestheologie und Herrlichkeitstheologie drang so stark in Luthers Denken ein, dass ihre explizite Erwähnung immer weniger nötig wurde.
Zur genaueren Beschreibung der progressiven Entwicklung in den Jahren 1517– 1519 vgl. Bühler, Kreuz und Eschatologie, 79 – 132. Vgl. dazu E. Ellwein, „Die Entfaltung der theologia crucis in Luthers Hebräerbriefvorlesung,“ in Theologische Aufsätze, Karl Barth zum 50. Geburtstag, Hg. Ernst Wolf (München, 1936): 382– 404. Vgl. dazu H. Bornkamm, „Die theologischen Thesen Luthers bei der Heidelberger Disputation 1518 und seine theologia crucis,“ in Luther. Gestalt und Wirkungen. Gesammelte Aufsätze, Ders. (Gütersloh, 1975): 130 – 146; E. Thaidigsmann, „Kreuz und Wirklichkeit. Zur Aneignung der ,Heidelberger Disputation‘ Luthers,“ Lutherjahrbuch 48 (1981): 80 – 96.
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1.2 Systematische Akzente Beim aufmerksamen Lesen der betreffenden Texte, vor allem der Heidelberger Disputation,⁶ lassen sich gewisse Grundlinien herausarbeiten, die von systematischer Relevanz sind.
1.2.1 Die hermeneutische Dimension Die Entfaltung des Gegensatzes zwischen Kreuzestheologie und Herrlichkeitstheologie ist hermeneutischer Natur: Wie die vielen Bibelzitate und -anspielungen zeigen, ist die Kreuzestheologie bei Luther als eine systematische Auslegung der Heiligen Schrift in Hinsicht auf die konkrete geschichtliche Situation konzipiert, in der Luther steht. Damit erklärt sich, warum die Thematik der Kreuzestheologie mit der Frage der Rechtfertigung durch den Glauben oder durch die Werke in Luthers Erläuterung verknüpft ist.
1.2.2 Die kriteriologische Funktion Die Kreuzestheologie dient nicht einfach der Beschreibung des Kreuzesgeschehens und seiner Auswirkungen im Sinne eines spezifischen locus theologicus unter anderen. Es geht also nicht darum, eine Kreuzestheologie zu entwickeln, um anschließend zu einer Auferstehungs- oder einer Inkarnationstheologie überzuleiten, oder die Kreuzestheologie als christologisches Anliegen zu definieren, um dann – unabhängig von ihr – die Gotteslehre, die Anthropologie oder die Eschatologie zu entfalten.⁷ Die Kreuzestheologie hat den Status eines fundamentaltheologischen Prinzips, oder mit anderen Worten ausgedrückt: Es kommt ihr eine kriteriologische Funktion zu.⁸ Das bedeutet, dass sie die Bedingung zur Möglichkeit einer jeden Theologie überhaupt ist und sie deshalb auch die Theologie insgesamt prägt. Es wäre also sinnlos, bei-
Die Thesen 19 – 28 und die dazu gehörigen Erläuterungen (WA 1,354,17– 36 und 361,31– 365,21) werden hier synthetisch zusammengefasst. Für eine ausführlichere Auslegung vgl. Bühler, Kreuz und Eschatologie, 102– 120. Ganz im Sinne einer solchen, materialen Auffassung hat Karl Barth die Begriffe in seiner Kirchlichen Dogmatik gebraucht: „Kreuzestheologieˮ für die Aussage des Kreuzestodes und „Herrlichkeitstheologieˮ für die Auferstehungsaussage (Karl Barth, Kirchliche Dogmatik IV/1 [Zürich, 1960], 622– 623; dazu: Bühler, Kreuz und Eschatologie, 73 – 74). Vgl. ähnlich in Hinsicht auf Paulus bei J. Becker, Paulus. Der Apostel der Völker (Tübingen, 1989; 2 1992), 220 – 221: „In der Kreuzestheologie ist nicht das Kreuz Gegenstand der Erörterung, sondern schlechterdings alles wird durch das Kreuz einer neuen Erörterung zugeführt. … Im Kreuz geschieht also die Umwertung aller Dinge dieser Wirklichkeit in einer bleibenden und verbindlichen Weise, weil der Gekreuzigte ein für alle Mal nur den Gott bekundet, der in der Tiefe, im tödlichen Elend, in der Verlorenheit und Nichtigkeit Gott und Retter sein will.“
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spielsweise die Auferstehung dem Kreuz gegenüberzustellen, als ob die Kreuzestheologie nicht sowohl das Kreuz als auch die Auferstehung zum Thema hätte. Dasselbe gilt für die Aussage der Fleischwerdung; sie steht nicht im Gegensatz zur Kreuzestheologie und will sie auch nicht konkurrenzieren oder vervollständigen, sondern von ihr her gewinnt sie erst ihre eigentliche Bedeutung. In den Operationes in Psalmos zeigt sich diese Funktion in Formulierungen wie „Crux probat omnia“ („Das Kreuz prüft alles“) oder „Crux sola est nostra theologia“ („Das Kreuz allein ist unsere Theologie“).⁹ In der Heidelberger Disputation hingegen kommt diese kriteriologische Funktion in der systematischen Gegenüberstellung von theologia crucis und theologia gloriae zum Ausdruck. Diese Gegenüberstellung zielt nicht einfach darauf ab, einzelne Inhalte der Theologie voneinander abzugrenzen (das Kreuz am Karfreitag, die Herrlichkeit an Ostern!). Sie stellt eine radikale Alternative zwischen zwei einander ausschließenden Weisen dar, Theologie zu betreiben. Aus diesem Grund kommt der Bezeichnung „Herrlichkeitstheologie“ eine polemische Funktion zu. Zur Zeit der Heidelberger Thesen ist sie für das Vorgehen der scholastischen Gegner Luthers kennzeichnend; später wird er sie im Vorgehen der Mystik oder in der Strömung der sogenannten Schwärmer nachweisen.
1.2.3 Die Erkenntnisdimension Der Hauptakzent liegt auf der Funktion des gekreuzigten Christus im Hinblick auf die Offenbarung und somit auch auf die Erkenntnis Gottes: Die wahre Theologie, die wahre Gotteserkenntnis ist nicht die, welche Gott als aus seinen Werken erkennbar erachtet (Deus manifestus ex operibus), sondern diejenige, welche Gott als in seinen Leiden verborgen (Deus absconditus in passionibus) erkennt.¹⁰
1.2.4 Die paradoxe Dimension Aus diesem epistemologischen Akzent erfolgt eine Umkehrung in der grundlegenden Perspektive, welche der Kreuzestheologie ihre paradoxe Dimension verleiht: Es geht nicht um die invisibilia, die „unsichtbaren Dinge“ Gottes, in Anlehnung an Röm 1, sondern vielmehr um die visibilia, die „sichtbaren Dinge“, die Luther mit den „posteriora“, den „hinteren Dingen“ Gottes verbindet, ein Ausdruck, den man zweifellos damit verknüpfen muss, dass Moses in Ex 33,23 die Herrlichkeit Gottes nur „von
WA 5,179,31 und 176,32– 33. Beide Stellen stehen im Kommentar zu Psalm 5. In gewisser Nähe wäre noch zu erwähnen: WA 5,217,2– 3: Crux Christi est eruditio verborum dei, Theologia syncerissima. Vgl. Erläuterung zu These 20 (WA 1,362,5 – 9 und 18 – 19): Quia enim homines cognitione Dei ex operibus abusi sunt, voluit rursus Deus ex passionibus cognosci et reprobare illam sapientiam invisibilium per sapientia visibilium, ut sic, qui Deum non coluerunt manifestum ex operibus, colerent absconditum in passionibus […] Ergo in Christo crucifixo est vera Theologia et cognitio Dei.
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hinten“ sehen kann, d. h. nachdem sie an ihm vorbeigezogen ist. Das Paradox, welches dem Aspekt des Ärgernisses und der Torheit bei Paulus in 1 Kor 1,18 – 25 entspricht, wird hier dadurch zum Ausdruck gebracht, dass diese „visibilia et posteriora Dei“ nur „per passiones et crucem“, also nur durch die Leiden am Kreuz offenbar werden (These 20). So kann man sagen, dass sich das eigentliche Heil im genauen Gegenteil dessen manifestiert, was die Menschen üblicherweise als Heil bezeichnen, nämlich in der – menschlich gesehen – allerschlimmsten Verlorenheit: das Kreuzesgeschehen also als Ort der Schmach und der Schande („mors turpissima crucis“¹¹).
1.2.5 Heilsame Wiedergutmachung einer unheilvollen Verkehrung Der kreative Wert dieser Paradoxalität erschließt sich erst recht, wenn gleichzeitig betont wird, dass das natürliche Heil pervertiert ist und die heilsame Umwertung, die das Kreuz vollzieht, das Heil von seiner Perversion befreit, es zu einem echten, wahrhaftigen und freien Heil werden lässt. Man könnte also sagen, dass die Umwertung des Kreuzes die „Umwertung der Umwertung“ des Heils darstellt.¹² Bei Paulus geschieht dies in 1 Kor 1,21 durch den Hinweis, dass es Gott gefiel, durch die Torheit der Predigt diejenigen zu retten, die glauben, „weil die Welt durch ihre Weisheit Gott in seiner Weisheit nicht erkannte“. Erst vor diesem Hintergrund der Nichtanerkennung Gottes offenbaren sich das Ärgernis und die Torheit des Kreuzes auf originelle, erneuernde Weise als die wahrhaftige Kraft und Weisheit Gottes. In diesem Sinne ist diese Wende die heilsame Wiedergutmachung einer unheilvollen Verkehrung, die bereits stattgefunden hat und die Luther mit dem prophetischen Wehruf aus Jes 5,20 ausdrückt: „Wehe denen, die das Böse gut und das Gute böse nennen, die Finsternis zu Licht und Licht zu Finsternis machen, die bitter zu süß und süß zu bitter machen!“. Das bringt gemäß Luther den Standpunkt des Theologen der Herrlichkeit zum Ausdruck: „dicit Malum bonum et bonum malum“. Das wird anschließend in den Erläuterungen zu den Thesen präzisiert: Die Herrlichkeitstheologie der „Feinde des Kreuzes“ hat aus dem Guten des Kreuzes ein Böses gemacht, und aus dem Bösen des Werkes ein Gutes. Deshalb muss die Umwertung der Kreuzestheologie dem zum Bösen gemachten Guten ermöglichen, wieder zum Guten zu werden. In diesem Sinne kann sich Luther damit begnügen, im Kontrast zum Herrlichkeitstheologen vom Kreuzestheologen einfach zu sagen: „Theologus crucis dicit id
Zu dieser Formel des Origenes vgl. ausführlich: M. Hengel, „Mors turpissima crucis. Die Kreuzigung in der antiken Welt und die ,Torheit‘ des ,Wortes vom Kreuz‘,“ in Rechtfertigung, Festschrift für Ernst Käsemann zum 70. Geburtstag, Hg. J. Friedrich, W. Pöhlmann und P. Stuhlmacher (Tübingen, 1976): 125 – 184. Ich lasse mich hier frei von vergleichbaren Formeln Luthers inspirieren, wie etwa „der Tod des Todes“, „die Sünde der Sünde“, usw.
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quod res est“¹³. Der Umkehrung des Herrlichkeitstheologen gegenüber sagt er also einfach, was Sache ist, und demzufolge ist er auch der einzige wahrhaftige Theologe: „ille digne Theologus dicitur“ (These 19).
1.2.6 Kreuzestheologie und Rechtfertigung durch Glauben allein Auch wenn der hauptsächliche Schwerpunkt in der programmatischen Entfaltung der Kreuzestheologie auf der Gotteserkenntnis liegt, also eigentlich epistemologisch ist, mündet er dennoch direkt in eine soteriologische Entfaltung, indem Luther die Frage aufwirft, was denn aus dem Blickwinkel der theologia crucis und der theologia gloriae jeweils aus dem Menschen wird. Unter diesem Aspekt ist es interessant zu beobachten, wie Luther in der Heidelberger Disputation vom Thema der Kreuzestheologie zum Thema der Rechtfertigung durch Glauben kommt. Diese zwei Aspekte erscheinen hier als von Grund auf solidarisch. Die Herrlichkeitstheologie „bläht den Menschen völlig auf, macht ihn blind und verhärtet ihn“¹⁴, was unmittelbar das Gericht des Gesetzes nach sich zieht, das „den Zorn Gottes bewirkt, tötet, verflucht, verklagt, verurteilt und verdammt, was nicht in Christus ist.“¹⁵ Ohne Kreuzestheologie wird eben das Beste aufs Schlimmste missbraucht, wie These 24 betont¹⁶. Im Zeichen dieser Kreuzestheologie werden wir deshalb zur grundlegenden Dualität zwischen Gesetz und Gnade (These 26) geführt, welche – in Verbindung mit der These 25 – die grundlegende Alternative zwischen der Rechtfertigung durch die Werke und der Rechtfertigung durch den Glauben aufzeigt. „Nicht, wer viel Werke tut, ist gerecht, sondern wer ohne Werk viel an Christus glaubt. Das Gesetz sagt: ‚Tue das‘, und es geschieht doch nie. Die Gnade sagt: ‚Glaube an den‘, und schon ist alles getan.“¹⁷ So ist mit der Dialektik zwischen Gericht und Gnade das soteriologische Problem klar gestellt. Es wird ausführlicher in der These 28 und ihren Erläuterungen behandelt, mit der „Liebe des Kreuzes, die aus dem Kreuz entstanden ist“¹⁸. Anders gesagt: Die Rechtfertigung durch Glauben ist diese Liebe Gottes, die sich nicht dorthin wendet, wo sie bereits das Gute vorfindet, um es zu genießen, wie es die menschliche Liebe tut, sondern sich erst ihren Gegenstand schafft, d. h. dem Bedürftigen, dem es daran mangelt, das Gute schenkt. Diesen kreativen Akt der Liebe Gottes drückt Luther ästhetisch aus: Gottes Liebe liebt nicht die Gerechten, sondern die Sünder und macht sie dadurch zu Gerechten, denn
These 21 (WA 1,362,21– 22): Theologus gloriae dicit Malum bonum et bonum malum, Theologus crucis dicit id quod res est. These 22 (WA 1,362,35 – 36): Sapientia illa, quae invisibilia Dei ex operibus intellecta conspicit, omnino inflat, excaecat et indurat. These 23 (WA 1,363,16 – 17). These 24 (WA 1,363,25 – 26): […] homo sine Theologia crucis optimis pessime abutitur. Thesen 25 – 26 (WA 1,364,2– 3 und 18 – 19). Erläuterung zur These 28 (WA 1,365,13 – 14): Et iste est amor crucis ex cruce natus […].
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„die Sünder sind deshalb schön, weil sie geliebt werden, sie werden nicht deshalb geliebt, weil sie schön sind.“¹⁹ Damit ist Luthers Antwort also klar: Zwischen der Kreuzestheologie und der Rechtfertigung durch Glauben besteht ein enger Zusammenhang. Diese Kernaussage ist umso erstaunlicher, als Luther beiden Aspekten eine kriteriologische Funktion zuspricht: So wie er sagen kann, dass das Kreuz allein unsere Theologie ist, kann er auch die Rechtfertigung durch Glauben als den ersten Artikel, als den Kopf, das Herz der ganzen Theologie bezeichnen²⁰. Damit entsteht aber kein Widerspruch: Eher handelt es sich dabei um ein und dasselbe Kriterium, in unterschiedlichem Kontext unterschiedlich ausgedrückt, aber grundsätzlich eins, was in der Heidelberger Disputation dadurch kund wird, dass sich die Rechtfertigung des Sünders durch den „amor crucis“ vollzieht. Beide Aspekte dürfen in innerer Kohärenz zusammengehören – sozusagen als die zwei Brennpunkte einer Ellipse –, der eher christologisch orientierte Aspekt mit dem Kreuz und der eher soteriologisch orientierte mit der Rechtfertigung aus Glauben. In diesem Sinne kann man sagen, dass die Theologie Luthers eine kreative Wiederaufnahme der paulinischen Theologie im Kontext des 16. Jahrhunderts darstellt, die mit neuen Ansätzen deren Kohärenz und Relevanz in Anspruch nimmt.
1.2.7 Gericht und Gnade Aus der paradoxalen Struktur der Kreuzestheologie folgt, dass auch die gesamte Soteriologie der Dualität von Gericht und Gnade unterstellt ist. Ganz im Sinne der „heilsamen Umwertung“, die wir soeben hervorhoben, kann die göttliche Gnade den Menschen nur durch das Gerichtsurteil, das Gott über sie ausspricht, zuteilwerden. Das Kreuz hat an dieser Dualität Anteil: Es ist immer zugleich Gericht und Gnade. Die Umsetzung dieser These kann sehr unterschiedlich ausfallen, doch kein Entwurf kommt darum herum, dieser Dualität Rechnung zu tragen. So schiene es mir problematisch, im Evangelium des Kreuzes allein den Aspekt der Gnade zu betonen, das Gericht anderswo ansiedelnd, zum Beispiel in der Erfahrung des Gesetzes. Es schiene mir jedoch ebenso zweifelhaft, am Kreuz allein den Aspekt des Gerichtes hervorzuheben und die Gnade an anderen Orten der Christologie zu entfalten, bei der Auferstehung etwa oder bei der Fleischwerdung.
WA 1,365,11– 12: Ideo enim peccatores sunt pulchri, quia diliguntur, non ideo diliguntur, quia sunt pulchri. Vgl. E. Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens. Eine theologische Studie in ökumenischer Absicht (Tübingen, 1998).
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2 Einige methodische Zwischenüberlegungen Denkt man über die Frage nach, wie Luthers Kreuzestheologie rezipiert, das heißt: wie sie in neue historische Kontexte hinein aktualisiert werden kann, stellen sich einige methodische Fragen. Diese sollen hier kurz aufgegriffen werden, bevor wir nachher in die Wirkungsgeschichte einsteigen.
2.1 Torheit des Kreuzes und denkerische Rechenschaft Wie wir soeben bei Luther sehen konnten, stellt sich der Theologe der Aufgabe, über das Wort vom Kreuz denkerisch Rechenschaft abzulegen. Damit verbindet sich die Aufgabe, möglichst kohärent und relevant darüber zu sprechen. Deshalb bildet die Erarbeitung einer Kreuzestheologie eine ganz besondere Herausforderung. Wie ist eine Torheit kohärent und relevant zum Ausdruck zu bringen? Spielt man jedoch systematische Theologie und das Wort vom Kreuz gegeneinander aus, so setzt man eine falsche Auffassung der systematischen Theologie voraus. Es geht ja nicht darum, das Kreuz in ein starres System einzuschließen, was zweifellos unmöglich wäre. Vielmehr geht es darum, aufzuzeigen, dass das Wort vom Kreuz, gerade in seiner Torheit, kohärent und relevant sein kann (gemäß Luther sagt die Kreuzestheologie „id quod res est“), um daraus systematisch alle Konsequenzen zu ziehen. Die Theologie wird sich deshalb auch immer wieder der Prüfung durch das Kreuz selbst stellen müssen.²¹
2.2 Verschiedene Ebenen unterscheiden Bei der Erörterung der Kohärenz und Relevanz ist auch darauf zu achten, dass sie sich auf verschiedenen Ebenen vollzieht, die miteinander verbunden, aber auch voneinander zu unterscheiden sind, wenn man der Entfaltung der Kreuzestheologie gerecht werden will. Die erste Ebene ist die des Kreuzesgeschehens selbst, wie es in seiner lebensweltlichen Relevanz erfahrbar wird. Es geht hier um das geschichtliche Ereignis, in dem alle Perspektiven ihren Bezugspunkt haben. Auf einer zweiten Ebene vollzieht sich, um mit Paulus zu sprechen, „das Wort vom Kreuz“, d. h. die Verkündigung des Kreuzesgeschehens als frohe Botschaft, als Heilszusage, die für alle Menschen erklingen darf. Die dritte Ebene ist die der Kreuzestheologie, worin Rechenschaft abgelegt wird über das Wort vom Kreuz. Hier ist die Grundperspektive
Das bringt Luthers Formel „theologia crucis“ zum Ausdruck, unter der Bedingung freilich, dass man den Genitiv als einen „genitivus auctoris“ versteht: Das Kreuz ist nicht nur Gegenstand dieser Theologie, sondern die Theologie des Kreuzes geht aus dem Kreuz hervor und muss sich deshalb immer wieder an diesem Kreuz messen.
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nicht mehr die der Verkündigung, sondern der theologischen Verantwortung dieser Verkündigung.Was auf dieser dritten Ebene erarbeitet wird, bleibt jedoch stets auf die zwei anderen Ebenen bezogen.²²
2.3 Vom Epistemologischen ins Praktisch-Existentielle Zur theologischen Herausforderung gehört nicht zuletzt der fundamentale Zusammenhang zwischen der epistemologischen Fragestellung und der praktisch-existentiellen Dimension des Kreuzes. „Theologie des Kreuzes zielt also in eminentem Sinne ins ‚Praktische‘, auf den rechten Umgang mit der Wirklichkeit. Sie führt zur Erfahrung, ist existentielle Theologie.“²³ Auf dieser Ebene stellt sich die Frage nach der soteriologischen Tragweite der Kreuzestheologie. Oder anders ausgedrückt: Das im Kreuz und in der Auferstehung verkündigte Heil erlangt seinen ganzen Gehalt nur als eine neue Möglichkeit, das Leben mit all seinen konkreten Implikationen zu empfangen und wahrzunehmen. In diesem Sinne könnte die soteriologische Prüfung²⁴ der Kreuzestheologie in der Aufgabe bestehen, das Heil existentiell als Ärgernis und Torheit auszudrücken, es in der dialektischen Dynamik von Gericht und Gnade zu formulieren. Dies ist die Aufgabe jeder Aktualisierung, in der Auseinandersetzung mit den vielfältigen zeitgenössischen Heilserwartungen.
3 Kreuzestheologie aktuell: einige Etappen ihrer Wirkungsgeschichte 3.1 Hermeneutische Fruchtbarkeit der Wirkungsgeschichte Seit Hans-Georg Gadamer²⁵ spätestens weiß man um die hermeneutische Fruchtbarkeit der Wechselwirkungen zwischen den Texten und den Auswirkungen, welche sie im Laufe der Jahrhunderte hervorgerufen haben, denn diese Wechselwirkungen können uns immer wieder auf gewisse Sinnpotentiale dieser Texte aufmerksam machen. Das ist auch für Luthers Kreuzestheologie der Fall.
Zu dieser Unterscheidung von Ebenen aus neutestamentlicher Sicht vgl. K. Haldimann, „Kreuz – Wort vom Kreuz – Kreuzestheologie. Zu einer Begriffsdifferenzierung in der Paulusinterpretation,“ in Kreuzestheologie im Neuen Testament, Hg. A. Dettwiler und J. Zumstein (Tübingen, 2002): 1– 25. G. Ebeling, Luther. Einführung in sein Denken (Tübingen, 1964; 62017), 262. Es wird hier bewusst von Prüfung und nicht von Verifizierung gesprochen (das entspricht dem „Crux probat omnia“ – probare heißt hier nicht „beweisen“, sondern „erproben“). H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (Tübingen, 1960; 51986).
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Als der junge Luther seine programmatische Gegenüberstellung von theologia crucis und theologia gloriae vollzog, stand er nicht in einem leeren Raum. Es ging ihm um Auseinandersetzung mit der Tradition. Das gilt zunächst in Hinsicht auf seine polemischen Abgrenzungen. Wo sah er Formen der theologia gloriae angelegt? Im Gegenzug dazu kann gefragt werden: Woher bezog er Impulse zu seiner theologia crucis? Es ist unbestreitbar, dass sein Hauptbezug bei Paulus lag, insbesondere bei dessen Wort vom Kreuz in 1 Kor 1,18 – 25. Das wirkungsgeschichtliche Spannungsfeld kann sich aber ebenfalls umkehren, nämlich mit der Frage, inwiefern Luthers Bestimmung der Kreuzestheologie das Verständnis des Neuen Testaments ebenfalls erneuert, gerade auch die Wahrnehmung der Kreuzesbotschaft des Paulus.²⁶ So stellt sich für die neutestamentliche Wissenschaft die Frage, ob die Kreuzestheologie die „Mitte“ der neutestamentlichen Theologie ausmachen könnte, obschon es im Neuen Testament diesen Begriff gar nicht gibt, sondern nur annähernde wie „Wort des Kreuzes“ oder „Feinde des Kreuzes“. In diesem Sinne gegenseitiger Befruchtungen seien im Folgenden nun einige wichtige Etappen der Wirkungsgeschichte von Luthers Kreuzestheologie kurz geschildert. Unter verschiedenen Aspekten lehnt sich diese Skizze stark an den meisterhaften Überblick, der in der 2007 veröffentlichten Monographie von Michael Korthaus zu finden ist.²⁷
3.2 Die Wiederentdeckung am Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert Luthers theologia crucis wurde längere Zeit vergessen, vielleicht gerade weil sie nur in einer bestimmten Phase seines Wirkens explizit prägend war und sich die Wirkungsgeschichte, aus unterschiedlichen Gründen, auf andere Aspekte konzentriert hat (z. B. die viel kontroverseren Themen „Schrift und Tradition“, „Glaube und Werke“ oder „Wort und Sakrament“). Es gab zwar im Laufe der Neuzeit unterschiedliche philosophische Rezeptionen: Man denke etwa an Johann Georg Hamann²⁸, an Georg Wilhelm Friedrich Hegels „spekulativen Charfreitag“²⁹ oder an Søren Kierkegaards Kreuzesreflexion und die damit verbundene Thematik des Leidens im Christenleben³⁰.
Vgl. in diesem Sinne: H. Weder, Das Kreuz Jesu bei Paulus. Ein Versuch, über den Geschichtsbezug des christlichen Glaubens nachzudenken (Göttingen, 1981). M. Korthaus, Kreuzestheologie. Geschichte und Gehalt eines Programmbegriffs in der evangelischen Theologie (Tübingen, 2007). O. Bayer, Kreuz und Kritik. Johann Georg Hamanns Letztes Blatt. Text und Interpretation (Tübingen, 1983); vgl. auch: T. Kleffmann, „Luther und Hamann als Theologen des Kreuzes,“ in Johann Georg Hamann – Religion in der Gesellschaft, Hg. M. Beetz und A. Rudolf (Berlin/Boston, 2012): 208 – 227. G.W.F. Hegel, Glauben und Wissen (Hamburg, 1962), 124; vgl. dazu: R. Garaudy, Gott ist tot. Eine Studie über Hegel (Berlin, 1965); für die theologische Verarbeitung: E. Jüngel, Gott als Geheimnis der
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Theologisch wurde das Thema der Kreuzestheologie am Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert wiederentdeckt, und zwar vornehmlich im Umfeld der Lutherrenaissance und der Bewegung der dialektischen Theologie, für welche die Rückkehr zur Reformation zur klaren Abgrenzung von der liberalen Theologie des 19. Jahrhunderts beitragen sollte. Unter den wichtigsten Namen für diese erneute Beschäftigung mit der Kreuzestheologie im frühen 20. Jahrhundert seien hier vor allem Martin Kähler und Walther von Loewenich erwähnt. Programmatisch überschreibt Kähler seinen Aufsatz Das Kreuz. Grund und Maß für die Christologie ³¹: Damit wird gleich die kriteriologische Funktion des Kreuzes unterstrichen, und das wird sich auch in weiteren dogmatischen Arbeiten Kählers prägend auswirken.³² Eine ausführliche Präsentation von Luthers Kreuzestheologie leistete sodann Walther von Loewenichs 1929 veröffentlichtes Buch,³³ das wohl vor allem bewirkte, dass der Begriff „Kreuzestheologieˮ im 20. Jahrhundert relativ geläufig wurde.W. von Loewenich vertritt die These, dass die Kreuzestheologie das gesamte Werk Luthers prägt, obschon sie nur in einer kurzen Phase explizit behandelt wird. Er widmet sich einer ausführlichen Darstellung der theologia crucis und fragt nach deren mystischen Wurzeln.³⁴ Von Loewenichs Studie hatte ganz sicher einen Einfluss auf die Rezeption der Kreuzestheologie in der dialektischen Theologie. Karl Barth ist zwar eher zurückhaltend: Er kann von der Tragik der theologia crucis als von einem Umschlag des abendländischen Ernstes „in nordische Schwermut“ sprechen und will sie deshalb mit einer theologia gloriae der Auferstehung kompensieren.³⁵ Bei Bultmann wirkt sich die lutherische Kreuzestheologie fruchtbarer aus, gerade in seiner Paulusauslegung. Für die Entfaltung seines Entmythologisierungsprogramms steht wohl deshalb die Frage nach einem erneuten Verständnis von Kreuz und Auferstehung an zentraler Stelle.³⁶ Im breiteren Umfeld der dialektischen Theologie ist auch Dietrich Bonhoeffer zu erwähnen. In seinen Haft-Briefen und -Aufzeichnungen spielt die Thematik des Kreuzes eine wichtige, für das Reden von Gott kriteriologische Rolle:
Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus (Tübingen, 1977), 83 – 132. Vgl. etwa S. Kierkegaard, „Einübung im Christentum,“ in Gesammelte Werke (Düsseldorf/Köln): 26. Abteilung, 1962. M. Kähler, Das Kreuz. Grund und Mass für die Christologie (Gütersloh, 1911). Zu Kähler ausführlicher: Korthaus, Kreuzestheologie, 26 – 60. In dieser Phase der Rezeptionsgeschichte behandelt Korthaus neben Kähler auch Bernhard Steffen und Hans-Joachim Iwand. W. von Loewenich, Luthers theologia crucis (Witten, 1929; 51967). Vgl. auch, etwa zur selben Zeit, P. Althaus, „Die Bedeutung des Kreuzes im Denken Luthers,“ Luther 8 (1926): 97– 107. Barth, Kirchliche Dogmatik, 623. Vgl. R. Bultmann, Neues Testament und Mythologie (München, 1941; Nachdruck 1985, Hg. E. Jüngel).
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Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verlässt (Markus 15,34)! Der Gott, der uns in der Welt leben lässt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott. Gott läßt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz. Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns.³⁷
In Anlehnung an solche Stellen bei Bonhoeffer hat sich in den 1960er Jahren, vor allem im angelsächsischen Sprachbereich, die Gott-ist-tot-Theologie entwickelt, die, teilweise in Anlehnung an Hegel, den Kreuzestod Jesu Christi als Kenose, als Entleerung Gottes, interpretierte. Ihr vielleicht eminentester Vertreter war Thomas J.J. Altizer mit seinem 1966 erschienenen Buch The Gospel of Christian Atheism ³⁸.
3.3 Die Vertiefung der fundamentaltheologischen Bedeutung bei Gerhard Ebeling und Eberhard Jüngel Bei Gerhard Ebeling verbinden sich eng Lutherforschung und von Bultmann und Bonhoeffer her hermeneutisch geprägte Dogmatik. Deshalb liegt es nahe, dass die lutherische theologia crucis ganz stark sein gesamtes Werk prägt.³⁹ Wie weiter oben bereits zitiert wurde, ist für Ebeling kennzeichnend, dass die Kreuzestheologie zur Lebenserfahrung führt, existentielle Theologie ist. Sie ist also nicht nur für die Ausgestaltung der Christologie entscheidend,⁴⁰ sondern durchzieht die verschiedenen Tiefendimensionen des christlichen Glaubens, bis hin zur Eschatologie.⁴¹ Auch aus der Ebeling-Schule stammt die Arbeit von Edgar Thaidigsmann zur Kreuzestheologie bei Luther, Hegel und Barth.⁴² Auf recht ähnliche Weise wie Ebeling hat Eberhard Jüngel, stärker von Karl Barth kommend, aber auch hermeneutisch ausgerichtet, in seinem Hauptwerk Gott als Geheimnis der Welt Luthers Kreuzestheologie als eine „Theologie des Gekreuzigten“ (theologia crucifixi) rezipiert.⁴³
„Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft,“ in Dietrich Bonhoeffer Werke, Hg. Chr. Grimmels, E. und R. Bethge, 8:534– 535. In deutscher Übersetzung: … daß Gott tot sei. Versuch eines christlichen Atheismus (Zürich, 1968). Zur Kreuzestheologie bei Ebeling vgl. ausführlicher Korthaus, Kreuzestheologie, 173 – 218. G. Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens (Tübingen, 42012), Band II: Der Gegensatz zwischen theologia crucis und theologia gloriae ist prägend (vgl. vor allem 326 – 329, 29 – 30, 357– 358, 404, 450 – 451).Vgl. auch Ders., „Der Sühnetod Christi als Glaubensaussage. Eine hermeneutische Rechenschaft,“ in Wort und Glaube, Ders. (Tübingen, 1995): 4:557– 582. G. Ebeling, „Fides occidit rationem. Ein Aspekt der theologia crucis in Luthers Auslegung von Gal 3,6,“ in Lutherstudien, Ders. (Tübingen, 1985): 3:181– 222; Ders., „Erwägungen zur Eschatologie,“ in Wort und Glaube, Ders. (Tübingen, 1975): 3:428 – 447 (vgl. vor allem 439 – 447: „Eschatologie als theologia crucis“). E. Thaidigsmann, Identitätsverlangen und Widerspruch. Kreuzestheologie bei Luther, Hegel und Barth (München, 1983). Dazu ausführlicher Korthaus, Kreuzestheologie, 302– 321.
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3.4 Die politische Interpretation: der gekreuzigte Gott bei Jürgen Moltmann Im Jahre 1965 hatte Dorothee Sölle mit ihrem Buch Stellvertretung der Gott-ist-totTheologie eine politische Dimension gewährt.⁴⁴ Auch stark politisch ausgerichtet ist Jürgen Moltmanns Rezeption von Luthers Kreuzestheologie. Nachdem er 1964 in seiner Theologie der Hoffnung im kritischen Gespräch mit der dialektischen Theologie die christliche Eschatologie neu durchdacht und begründet hatte, unternimmt er es 1972 in seinem Buch Der gekreuzigte Gott, aus dieser eschatologischen Warte mit Hilfe der Kreuzestheologie den notwendig mit der Hoffnung verbundenen Aspekt der Solidarität mit den Leidenden und Unterdrückten zu entfalten.⁴⁵ So kommt Moltmann, eigentlich wie Ebeling, aber in einem ganz anderen Sinne, zur Bezeichnung der Kreuzestheologie als eschatologia crucis: nicht vornehmlich als existentielle Dimension, sondern als Anleitung zu einem politischen Engagement der Befreiung aus entfremdenden Gesellschaftsstrukturen.⁴⁶ Diese Betonung der Kreuzestheologie als solidarische Befreiungspraxis hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine intensive Diskussion ausgelöst und einen starken Einfluss ausgeübt, unter anderem in der lateinamerikanischen Befreiungstheologie.⁴⁷
3.5 Kreuzestheologie als Mitte des Neuen Testaments? Ulrich Luz hat mit einem 1974 veröffentlichten Aufsatz eine spannende Diskussion ausgelöst in Hinsicht auf die Bedeutung der Kreuzestheologie für die innere Kohärenz des neutestamentlichen Kanons.⁴⁸ Das Problem stellt sich auf verschiedenen Ebenen:
D. Sölle, Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem „Tode Gottes“ (Stuttgart, 1965, 21982); vgl. auch ihr späteres Buch Leiden (Stuttgart, 1973; Freiburg i. Br., 21998). Der japanische Theologe K. Kitamori hatte bereits früh nach dem Zweiten Weltkrieg die Thematik des Schmerzes Gottes am Kreuz entfaltet, doch wurde sein Buch in Europa erst durch die deutsche Übersetzung bekannt (Theologie des Schmerzes Gottes [Göttingen, 1972]). J. Moltmann, Der gekreuzigte Gott. Das Kreuz Christi als Grund und Kritik der christlichen Theologie, (München, 1972; 41981). Vgl. dazu Korthaus, Kreuzestheologie, 218 – 263 und 294– 302. In meiner Dissertation (P. Bühler, Kreuz und Eschatologie) habe ich mich gerade darum bemüht, die Grundkonzepte der Kreuzestheologie bei Ebeling und Moltmann in ein kritisches Gespräch zu bringen. Dazu ausführlicher Korthaus, Kreuzestheologie, 263 – 294. Vgl. als Diskussionsbeiträge: P. F. Momose, Kreuzestheologie. Eine Auseinandersetzung mit Jürgen Moltmann (Freiburg i. Br., 1978); M. Welker, Hg., Diskussion über Jürgen Moltmanns Buch „Der gekreuzigte Gott“ (München, 1979); für die lateinamerikanische Befreiungstheologie vgl. I. Ellacuria und J. Sobrino, Hg., Mysterium liberationis. Grundbegriffe der Befreiung, 2 Bde. (Luzern, 1996). U. Luz, „Theologia crucis als Mitte der Theologie im Neuen Testament,“ Evangelische Theologie 34 (1974): 116 – 141.
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Ist es überhaupt angemessen, von einer „Mitte“ der Schrift zu sprechen? Was sind die hermeneutischen Auswirkungen dieser Zentrum und Peripherien festlegenden Kategorie? Gibt es überhaupt Werke im Neuen Testament, die im eminent kriteriologischen Sinne durch und durch kreuzestheologisch sind? Ist das bei Paulus überhaupt der Fall, und wie steht es bei anderen Schriften? Wie kann man bei vornehmlich narrativen Texten den kreuzestheologischen Charakter wahrnehmen? Müssten alle neutestamentlichen Schriften in diesem Sinne kreuzestheologisch sein, oder was hat es zu bedeuten, wenn es nur die einen sind, und die anderen nicht? Sind diese dann notwendig herrlichkeitstheologisch, aufgrund von Luthers fundamentaltheologischer Unterscheidung?
All diese Fragen wurden ausführlich in einem Band behandelt, der sich bewusst mit dem Ansatz von Ulrich Luz auseinandersetzt.⁴⁹ Ein besonders interessantes Beispiel in dieser Hinsicht ist das Johannesevangelium: Inwiefern kann man für das vierte Evangelium von einer Kreuzestheologie sprechen?⁵⁰
3.6 Kreuzestheologie als Sühnopfertheologie? Dass die Tradition für die Auslegung des Kreuzesgeschehens über Jahrhunderte die Sühnopfervorstellung privilegiert hat, wurde in den letzten Jahrzehnten kritisch beleuchtet. Das ist ganz besonders in der feministischen Theologie der Fall, die danach fragt, ob damit die kritische Kraft des Kreuzes nicht neutralisiert wird: Wird damit nicht die passive Opferbereitschaft, gerade bei den gesellschaftlich Schwächeren, bei Frauen und Kindern, gefördert, anstatt dass der Widerstand gegen Gewalt wahrgenommen wird, der sich im Kreuz offenbart?⁵¹ Müsste nicht das menschliche „Verlangen nach Heilwerden“ ganz anders angegangen werden, um befreiende Erlösung zu erfahren?⁵²
Dettwiler und Zumstein, Kreuzestheologie im Neuen Testament. Für unterschiedliche Meinungen dazu vgl. P. Bühler, „Ist Johannes ein Kreuzestheologe? Exegetisch-systematische Bemerkungen zu einer noch offenen Debatte,“ Johannes-Studien. Interdisziplinäre Zugänge zum Johannes-Evangelium. Freundesgabe der Theologischen Fakultät der Universität Neuchâtel für Jean Zumstein, Hg. Martin Rose (Zürich, 1991): 191– 207; E. Straub, Kritische Theologie ohne ein Wort vom Kreuz. Zum Verhältnis von Joh 1 – 12 und 13 – 20 (Göttingen, 2003); J. Zumstein, „L’interprétation johannique de la mort du Christ,“ in La mémoire revisitée. Etudes johanniques, Ders. (Genf, 2017): 339 – 362. Vgl. z. B. R. Strobel, „Opfer oder Zeichen des Widerstandes? Kritische Blicke auf problematische Interpretationen der Kreuzigung Jesu,“ in Erinnern und aufstehen – antworten auf Kreuzestheologien, Hg. C. Janssen und B. Joswig (Mainz, 2000): 68 – 82. D. Strahm und R. Strobel, Hg., Vom Verlangen nach Heilwerden. Christologie in feministisch-theologischer Sicht (Fribourg/Luzern, 1991); darin, ebenfalls von R. Strobel: „Feministische Kritik an tra-
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Diese Kritik hat auf ein wichtiges hermeneutisches Problem aufmerksam gemacht, das sich als eine bleibende Aufgabe der Kreuzestheologie herausstellt: Mit welcher Sprache kommt die soteriologische Bedeutung der Kreuzestheologie am angemessensten zum Ausdruck? Damit verbindet sich die grundsätzliche Aufgabe, von der Tradition geerbte Sprachmöglichkeiten kritisch zu evaluieren und neue, auf die gegenwärtige Situation bezogene auszuloten. Zwei in Zürich entstandene Sammelbände stellen sich dieser Herausforderung, teilweise in offenem Gespräch mit der feministischen Kritik.⁵³
3.7 Kreuzestheologie ökumenisch Auch in ökumenischer Perspektive ist die Kreuzestheologie kontrovers. Sie war es bereits in der Reformationszeit, da sie bei Luther kritisch gegen die scholastische Theologie ins Spiel gebracht wird, deren Grundausrichtung er als herrlichkeitstheologisch betrachtet. Somit stellt sich auch heute die Frage, inwiefern die theologia crucis konfessionell bedingt ist oder ob sie ein Anliegen sein kann, das die Konfessionen verbindet. Kreuzestheologie im ökumenischen Diskurs heißt das Thema einer 2015 erschienenen Nummer der Zeitschrift „Ökumenische Rundschau“.⁵⁴ Auch interessant in diesem Kontext ist der Versuch von Theodor Nikolaou, sich mit der Thematik der Kreuzestheologie aus der Perspektive der östlichen Orthodoxie auseinanderzusetzen.⁵⁵
3.8 Kreuzestheologie in künstlerisch-literarischer Sicht Deutungen des Kreuzes haben auch einen vielfältigen kulturellen Niederschlag erfahren. Deshalb muss bei theologischer Reflexion über das Thema auch darauf geachtet werden, wie Kreuzestheologie in der Kultur wahrgenommen wird, in der Geschichte und in der Gegenwart. Das betrifft verschiedene Ebenen der Wirkungsgeschichte, von der Prägung der Mentalität über die Auswirkung auf die Frömmigkeitspraxis bis hin zu politischer Symbolik. Darunter ist die künstlerische
ditionellen Kreuzestheologien“: 52– 64, und: „Das Kreuz im Kontext feministischer Theologie.Versuch einer Standortbestimmung“: 182– 193. H. J. Luibl und S. Scheuter, Hg., Opfer. Verschenktes Leben (Zürich, 2001); B. Acklin Zimmermann und F. Annen, Hg., Versöhnt durch den Opfertod Christi? Die christliche Sühnopfertheologie auf der Anklagebank, (Zürich, 2009); in diesem Band: P. Bühler, „Kann ein Sühnopfer versöhnen? Grenzen und Herausforderungen der Opfervorstellung für eine heutige Kreuzestheologie“: 139 – 157). U. Link-Wieczorek, Hg., Ökumenische Rundschau 2 (2015), mit Beiträgen von J. D. Weaver, F. van Hulst, E. Hohensee, C. Janssen, J. Niewiadomski, D. Gautier und V. Küster. Th. Nikolaou, „Aspekte einer Kreuzestheologie aus orthodoxer Sicht,“ Forum. Zeitschrift des Instituts für Orthodoxe Theologie der Universität München 8 (1994): 201– 213.
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Pierre Bühler
Darstellung besonders hervorzuheben.Wie haben Maler und Bildhauer die Bedeutung des Kreuzesgeschehens bildnerisch gestaltet?⁵⁶ Dieselbe Frage stellt sich bei Dichtern und Schriftstellern, die sich in den Gattungen des Gedichts, der Erzählung, des Dramas oder gar der Oper mit dem Kreuzesmotiv befassen. Ein besonders interessanter Aspekt ist in diesem Umfeld die Frage, wie die Kreuzestheologie erzählerisch zur Geltung kommen kann.⁵⁷
Zum Abschluss In diesem dritten Teil hat sich eine vielfältige Auseinandersetzung mit unserem Thema offenbart. Das bezeugt, dass das von Luther in die Wege geleitete Programm der theologia crucis bei weitem nicht erledigt ist. Es bildet eine auch in heutigem Kontext zentrale Aufgabe der Theologie, und zwar verbunden mit vielen interdisziplinären Herausforderungen. In diesem Sinne kann man sagen, dass immer noch offen, und sogar umstritten ist, was es genau heißt, in jeweiliger Situation „id quod res est“ zu sagen. Und es dann auch zu leben, denn Kreuzestheologie heißt auch: „das Leben unter dem Kreuz“⁵⁸, oder um es mit einer alten liturgischen Begrüßung zum Ausdruck zu bringen: „Ave crux, spes unica“.
Vgl. etwa: H.-R. Weber, Und kreuzigten ihn. Meditationen und Bilder aus zwei Jahrtausenden (Göttingen, 1980); W. Ziehr, Das Kreuz. Symbol – Gestalt – Bedeutung (Stuttgart/Zürich, 1996). Vgl. P. Bühler, „Narrative Kreuzestheologie – am Beispiel der Legende vom vierten König,“ in Kreuzestheologie – kontrovers und erhellend, Hg. K. Grünwaldt und U. Hahn (Hannover, 2007): 137– 152 (in diesem Band ist auch eine CD mit Henning Frederichs Oratorium Passionserzählung der Maria Magdalena zu finden); Ders., Characters as Offers of Narrative Identity: Literary Perspectives in the Story of the Passion, in Interpretation of Texts: Sacred and Secular, Hg. Ders. und T. Fabiny (Zürich/Budapest, 1999): 336 – 348. W. von Lowenich, Luthers theologia crucis, 129 – 168.
Franco Motta
Die Gefangennahme des Minotaurus Das Lutherbild der katholischen Kontroverstheologie
1 Die Wiederentdeckung der Kontroverstheologie der ersten Generation Luthers ketzerische Karriere im Rahmen der katholischen Kontroverstheologie nahm im Anschluss an die 95 Thesen ihren Lauf, genauer gesagt zwischen Winter und Frühjahr des Jahres 1518. Am 20. Januar jenes Jahres fand in der Universität von Frankfurt an der Oder eine akademische Disputation über etwa einhundert von deren Rektor Konrad Wimpina aufgestellte Thesen zu Ablass und Fegefeuer statt. Im Anschluss an diese Disputation entschloss das dortige Dominikanerkapitel, Luther in Rom der Ketzerei anzuklagen. Im Januar oder Februar veröffentlichte der einflussreiche Ingolstädter Theologieprofessor Johannes Eck seine Obelisci. Im April oder Mai gab der Ablassprediger Johannes Tetzel seine Fünfzig Positiones heraus. In allen drei Fällen wird auf Irrtümer im Glauben bzw. in der Lehre hingewiesen und explizit auf die Positionen Jan Hus’ und der Hussitischen Kirche Bezug genommen. In eben diesen Monaten reichte der Magister sacri palatii, Silvestro Mazzolini, besser bekannt als Prierias, bei der Kommission, die für die Beurteilung des Falles des Wittenberger Augustinermönches zuständig war, seinen eigenen Bericht ein. Dieser Bericht ist – ganz im humanistischen Sinne – in Dialogform verfasst (die Kontroverstheologie sollte sich dieses Genres recht bald nicht mehr bedienen) und lässt sich untergliedern in drei Thesen zur regula fidei und ein Korollarium, welches jegliche Leugnung einer Erteilung der Absolution durch die Kirche gemäß den kanonischen Bestimmungen als häretisch brandmarkt.¹ Wenn die Kontroverstheologie eine Disziplin ist, die im Zeitalter der Religionskrise wieder neu aufblüht – dergestalt, dass ihre Auswirkungen auf die Methodik der katholischen Theologiefakultäten noch bis ins 20. Jahrhundert hinein klar und deutlich zu erkennen sind –, dann kann man Luther aus gutem Grund als ihren Paten betrachten: nicht nur, weil ein wesentlicher Teil seiner schriftlichen Tätigkeit in den Übersetzung: Benedikt Jetter. “,Qui circa indulgentias dicit, Ecclesia Romana non posse facere id quod de facto facit, hereticus est‘: Responsio ad conclusiones Magistri Martini Luther“, in Dokumente zur Causa Lutheri (1517 – 1521), Bd. 1: Das Gutachten des Prierias und weitere Schriften gegen Luthers Ablassthesen (1517 – 1518), Hg. P. Fabisch und E. Iserloh (Münster, 1988): 53 – 107, hier 56. Derselbe Band umfasst auch die Texte von Wimpina, Eck und Tetzel.Vgl. B. Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang (Göttingen, 1995), 120 ff. https://doi.org/9783110498745-043
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entscheidenden Jahren nach 1517 unter dem Zeichen der Polemik steht, sondern auch, weil sich die katholische Theologie ihrerseits erst durch die Verwerfung der Schriften Luthers zu Beginn der Reformation wieder dessen bewusst wird, dass sie nicht darum umhinkommt, ihre eigenen Grundlagen zu präzisieren und argumentativ zu bestimmen, womit sie sich in der Folge jahrzehntelang, d. h. bis zum Konzil von Trient und darüber hinaus, beschäftigen sollte. Ich beziehe mich hier auf den Prozess der Neudefinition der Lehre, der erstmals im Rahmen der deutschen katholischen Geschichtsschreibung Mitte des 20. Jahrhunderts – von bedeutenden Forschern wie Joseph Lortz, Hubert Jedin und Erwin Iserloh – beschrieben worden ist. Man lehnte sich dabei an die in der Reihe Corpus catholicorum veröffentlichten Editionen polemischer theologischer Schriften an; Joseph Greving hatte diese Reihe mitten im Ersten Weltkrieg angekündigt und im Jahre 1919 passenderweise mit Ecks Defensio gegen Andreas Karlstadt eröffnet.² Hierbei handelt es sich um eine ausführliche Zusammenstellung von Texten und Autoren, die, von der bedeutsamen nachtridentinischen kontroverstheologischen Tradition eines Stapleton oder eines Bellarmin in den Schatten gestellt, in jahrhundertelange Vergessenheit geraten waren. Diese kamen nun wieder zum Vorschein und machten deutlich, dass die Jahre zwischen Worms und dem Reichstag zu Augsburg keineswegs im Sinne einer ausschließlich auf Distanz stattfindenden Auseinandersetzung zwischen Kaiser, Papst und Reformatoren zu deuten waren; vielmehr hatten diese Jahre einer außergewöhnlichen theologischen Polemik Vorschub geleistet. Zu diesem Polemisierungsprozess trugen neben den bekannteren Persönlichkeiten wie Eck, Johann Cochlaeus oder Heinrich VIII. auch andere, im Grunde oft vergessene Gestalten wie beispielsweise Thomas Murner und Caspar Schatzgeyer bei.³ Für diese erste Phase der Kontroversen in der Zeit der Reformation ist die Gestalt Luthers selbstverständlich von ganz zentraler Bedeutung. Ein flüchtiger Blick auf die Titel und die Inhaltsangaben des Corpus catholicorum zeigt, dass sich in den 44 zuerst veröffentlichten Bänden (ich lasse die letzten vier, der Person Mary Ward aus dem 17. Jahrhundert gewidmeten Bände mit den Nummern 45 – 48 beiseite) ungefähr 26
J. Eck, Defensio contra amarulentas D. Andreae Bodenstein Carolstatini invectiones (1518), Ccath 1. Konzipiert wurde diese Reihe laut Herausgeber mangels zeitgemäßer Editionen deutscher katholischer Theologen der Reformationszeit. Demgegenüber hat die protestantische Geschichtsschreibung eindrucksvolle Quellensammlungen hervorgebracht, wie z. B. die Weimarer Ausgabe von Luther, das Corpus reformatorum, das Corpus Schwenckfeldianorum usw. (Vorwort, 5*). Ein zweites Editionsprojekt, das sich mit katholischen Kontroverstheologen aus dem 16. Jahrhundert beschäftigt, ist die Sammlung von biographischen Beiträgen unter dem Titel Katholische Theologen der Reformationszeit, die von der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus catholicorum herausgegeben wird. Begonnen wurde diese Reihe 1984 unter der Leitung von Iserloh, und im Jahre 2004 ist bereits der sechste Band erschienen. „Oggi, non per ultimo grazie al lavoro organizzato da Joseph Greving, il fondatore del Corpus catholicorum, sappiamo che l’attività letteraria esplicata a quei tempi a favore della vecchia Chiesa fu notevolmente più vasta di quanto non si presumesse in precedenza“, in La Riforma in Germania, Bd. 2: Costituzione dei fronti, tentativi di unione. Divisione definitiva, Hg. J. Lortz (Mailand, 1981 [1939 – 1940]): 191. Für eine Untersuchung der zitierten Autoren vgl. auch die nachfolgenden Seiten.
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Werke finden, die ausdrücklich als Schriften gegen Luther verfasst worden sind. Diese sind größtenteils im Zeitraum zwischen 1518 und 1526 entstanden (eine Ausnahme bilden die drei gegen die Schmalkaldischen Artikel gerichteten Pamphlete von Cochlaeus, Georg Witzel und Johannes Hoffmeister aus den Jahren 1538 – 1539). Natürlich handelt es sich hierbei um eine rein empirische Einschätzung, die keinen Anspruch auf statistische Aussagekraft erheben kann, was vor allem dadurch zu begründen ist, dass die Reihe nicht die gesamte kontroverstheologische Literatur aus dem deutschsprachigen Raum in den ersten Jahren der Reformationszeit umfasst (ganz abgesehen von den chronologischen und geographischen Grenzen). Verbindet man diese Erkenntnisse jedoch mit weiteren bibliographischen Nachforschungen (beispielsweise mit Untersuchungen digitaler Texte auf einschlägigen Internetplattformen), können wenigstens die beiden folgenden Beobachtungen angestellt werden: Die erste ist die, dass Luther in den ersten zehn Jahren nach der Veröffentlichung der 95 Thesen das vorrangige Objekt der konfessionellen Auseinandersetzung vonseiten der Katholiken ist; danach richtet sich die Aufmerksamkeit mehr auf die reformatorische Bewegung als ganze, insbesondere nach der Abfassung der Confessio Augustana 1530 und nach der Formierung des protestantischen Lagers. Die zweite ist die, dass Luther dennoch nicht einfach nur der Namensgeber für die nach ihm benannte Häresie ist, sondern dass er zugleich der Spiegel für die Fehler und Mängel ist, welche diese ausmachen. Die zweite Beobachtung ist eng mit der ersten verbunden, denn sie hilft uns, zu verstehen, warum in der Konfessionalisierungszeit selbst noch nach dem Tod des Reformators und nach der vollzogenen Formierung der jeweiligen Lager immer wieder – wenn auch nicht mehr ganz so regelmäßig – gezielt gegen Luther gerichtete polemische Werke erscheinen. Ein klares Beispiel hierfür ist einer der in der polemischen katholischen Literatur am meisten verbreiteten tópoi, nämlich die Lehrunterschiede innerhalb des Protestantismus. Aus der Perspektive einer Ideologie wie der katholischen, die ihre eigene Legitimation demgegenüber mit der Kontinuität der Tradition begründet, ist dies ein unbestreitbares Symptom für Unglaubwürdigkeit. Gegenstand eines eigenständigen Werkes wird diese Thematik erstmals in einem der erfolgreichsten Titel des Antilutheranismus im 16. Jahrhundert, in Cochlaeus’ Septiceps Lutherus von 1529. Dabei stehen die sieben Köpfe des Augustinermönches (die Bezugnahme auf das Tier in Offb 13,1 erklärt den Gebrauch eschatologischer Rede) allegorisch für ebenso viele Entwicklungsstufen von Luthers Verhalten: vom Doctor Luther, der im Jahre 1517 die Bühne der Welt betritt, über den Ecclesiastes Luther, der dem Volk predigt, und den Svermerus Luther, der zum Aufruhr anstachelt (unglückliche Latinisierung des Schimpfnamens Schwärmer, mit dem Luther die Zwickauer Propheten brandmarkte), bis hin zum Visitator Luther, der, mit einer Bischofsmitra auf dem Kopf, die Visitation der Parochien des Kurfürstentums Sachsen anordnet und dabei eine Geste macht, die in den Augen der Verfechter der alten Hierarchien eine Missachtung der bischöflichen Vorrechte darstellt. Wie weite Teile der kontroverstheologischen Literatur, so richtet sich auch dieses Büchlein an Pre-
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diger und schließt ausführliche Zitate von Luthers Texten mit ein, die deren Widersprüchlichkeit herausstellen sollen.⁴ Von der Unbeständigkeit des ehemaligen Mönches von Wittenberg als Wurzel der Unbeständigkeit und der Widersprüchlichkeit des Protestantismus zu sprechen, wurde somit zu einem langlebigen rhetorischen Mittel. Zu sehen ist dies beispielsweise im Flugblatt mit dem Titel Anatomia M. Lutheri; dort findet sich nebst Bildunterschriften des Jesuiten Vitus Jacobäus aus dem Jahr 1567 eine Allegorie: der Leichnam des Reformators wird von den anderen Häresiarchen seziert – u. a. von Calvin, Zwingli, Pierre Viret. Man begegnet dieser Rhetorik auch in der Theologiae Martini Lutheri trimembris epitome von Friedrich Staphylus (Stapellage) aus dem Jahr 1558, welche die inneren Streitigkeiten zwischen der Gruppe Melanchthons und der Gruppe der Gnesiolutheraner um Flacius Matthias Illyricus verurteilt. Des Weiteren findet man diese Vorstellung in der gewichtigen Anatomia Lutheri von Johannes Pistorius, die zwischen 1595 und 1598 in zwei Bänden in Köln veröffentlicht wurde.⁵ Dass sich die Analyse der Widersprüche des Protestantismus an den Widersprüchen Luthers orientiert, zeigt sich außerdem in einer der berühmtesten katholischen Apologien der Barockzeit, in Jacques-Bénigne Bossuets Histoire des variations des Églises protestantes von 1688. In Staphylus’ kurzem und bissigen Büchlein – „seit vierzig Jahren ist nichts Zornigeres und Bissigeres gedruckt worden“, so Melanchthons Urteil⁶ – findet sich eine plastische, in apokalyptische Bildsprache übertragene Beschreibung der oben genannten Vorstellung: „Der alte Drache als Trauzeuge und das Tier mit den sieben Köpfen sowie der falsche Prophet selbst als Eltern“ bringen die drei unreinen, den Fröschen gleichenden Geister aus Offb 16,13, d. h. die „Homologisten“ (die Anhänger der Confessio Augustana), die Sakramentierer und die Wiedertäufer hervor. Et quanquam hi ipsi tres immundi spiritus tanquam vulpes Philistiae, capitibus longe sint lateque disiunctissimi, tamen caudis ita sunt inter se […] concopulati, ut nulla pene nunc reperiatur in tota Europa haeresis, quae non aut Homologistarum, aut Sacramentariorum, aut Anabaptistarum, charactere mentem gerat insignitam.⁷
[J. Cochlaeus], Septiceps Lutherus, ubique sibi, suis scriptis, contrarius, in visitationem Saxonicam (Leipzig, 1529); zum Text vgl. G. Wiedermann, „Cochlaeus as a Polemicist“, in Seven-Headed Luther. Essays in Commemoration of a Quincentenary 1483 – 1983, Hg. P.N. Brooks (Oxford, 1983): 195 – 205. Für die Anatomia M. Lutheri siehe P. Burschel, „Das Monster. Katholische Luther-Imagination im 16. Jahrhundert“, in Luther zwischen den Kulturen. Zeitgenossenschaft – Weltwirkung, Hg. H. Medick und P. Schmid (Göttingen, 2004): 33 – 48, besonders 39; H. Oelke, Die Konfessionsbildung des 16. Jahrhunderts im Spiegel illustrierter Flugblätter (Berlin/New York, 1992), 331– 332. Für die Werke von Staphylus und Pistorius s.u. B. von Bundschuh, Das Wormser Religionsgespräch von 1557 unter besonderer Berücksichtigung der kaiserlichen Religionspolitik (Münster, 1988), 549 [Übersetzung B. Jetter]. F. Staphylus, Theologiae Martini Lutheri trimembris epitome, Nuper collecta Wormatiae, durante colloquio (1558), Bd. 3: De successione et concordia discipulorum Lutheri in Augustana Confessione, 42rv: „Lutherus confestim, ubi tragoediae suae esset protasin exorsus, tumultuabatur sane vehementer, et, ut solet sub initio epitaseos tragicae evenire, turbasque vertebat, quoad Lutheranismi sui corpus
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Von den durch Luther und das siebenköpfige Tier hervorgerufenen Geistern gebiert der Geist der Wiedertäufer Thomas Müntzer, die Adamiten und die Sabbatianer, derjenige der Sakramentierer Zwingli, Karlstadt und die Schwenckfeldianer, derjenige der Homologisten die Philippisten, die Majoristen, die Adiaforisten und die Gnesiolutheraner. Diese Gruppen bringen wiederum weitere Verzweigungen hervor; so kann Staphylus seinem Pamphlet ein Diagramm beifügen, das gut 36 häretische Sekten aufzählt, die aus der im Häresiarchen Luther brodelnden magmaartigen Fehler- und Widerspruchssuppe hervorsprießen. Abgesehen von eschatologischen Empfindlichkeiten findet sich das Konzept ebenfalls in Bossuets deutlich reflektierterer Histoire, welche – fern jeglicher Dringlichkeit der Konfessionsstreitigkeiten – eine ausführliche Sammlung der damals bereits eineinhalb Jahrhunderte in der katholischen Welt kursierenden antiprotestantischen Gemeinplätze wiedergibt. In den Augen Bossuets verunstaltet der Charakter des Menschen dessen Theologie und verdreht diese dadurch tiefgreifend, was nicht zuletzt zu einer Vervielfältigung der Widersprüche im protestantischen Bereich geführt haben soll. Die ersten Inkohärenzen Luthers sind diejenigen hinsichtlich der Lehre von der Realpräsenz; in dieser Phase freilich wird Luther bereits vom Ärger über die erniedrigende Exkommunikation angetrieben: er war ein „homme que son orgueil d’un côté, & les restes de la foi de l’autre, ne cessoient de déchirer au-dedans“.⁸ Der Luther Bossuets ist ein Riese, dem es mithilfe seines mächtigen und charismatischen Wahns gelingt, die Gemüter anzulocken und diese dann der eigenen Tyrannei zu unterwerfen. Il n’y eût jamais de maître plus rigoreux que Luther, ni de tyrannie plus insupportable que celle qu’il exerçoit dans les matières de doctrine. Son arrogance étoit si connuë qu’elle faisoit dire à Muncer qu’il y avoit deux papes, l’un celui de Rome, et l’autre Luther.⁹
Die Unterschiede bildeten sich bereits unter den ersten Anhängern heraus: Karlstadt, „brutal, ignorant, artificieux […] & plûtost Juif che Chrétien“, auf der einen und Melanchthon, „homme moderé & naturellement sincere“, auf der anderen Seite. Aber nicht einmal Letzterer – der einzige unter den Reformatoren, dessen Begabungen Bossuet für unstrittig hielt – war in der Lage, das kontinuierliche Aufkeimen weiterer Strömungen und Gruppierungen zu unterbinden, sodass er sich letztendlich „au mi-
aliquod, et ventrem pararet, ederetque tandem partum conceptae pestis suae. Ad cuius partus foeturam haud dubie operam contulerunt suam Draco vetus, ut pronubus, et septiceps illa bestia, et ipse pseudoprophetes, ut parentes: etenim ex ore istorum prodierunt tres illi spiritus immundi ranarum similes, Homologistae, Sacramentarii, Anabaptistae.“. Vgl. E. Amann, „Friedrich Staphylus“, Dictionnaire de théologie catholique XIV/2 (Paris, 1939): 2563 – 2566; E.M. Wermter, „Staphylus, Friedrich“, Lexikon für Theologie und Kirche IX (Freiburg im Breisgau, 2000): 931– 932. J.B. Bossuet, Histoire des variations des Églises protestantes (Paris, 1782 [1702]), 1:24– 25. Ebd., 5:198.
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lieu des Luthériens ses collègues, comme au milieu de ses ennemis“ fühlen musste.¹⁰ Die Hauptverantwortung für das Drama mit all der daraus folgenden Uneinigkeit und Anarchie im christlichen Volk lag, wieder einmal, bei der tragischen und wutentbrannten Gründergestalt: Mais enfin l’arrogance de Maître impérieux se déclara. Tout le monde se soulevoit contre lui, et même ceux qui vouloient avec lui réformer l’Eglise. Mille sectes impies s’elevoient sous ses étendards, et sous le nom de réformation, les armes, les seditions, les guerres civiles ravageoient la chrétienté.¹¹
Tyrannei, Anmaßung, Herrschaft. Nebenbei sei bemerkt, dass das Element des Diabolischen in Bossuets Schilderung fehlt – im Gegensatz zu den Beschreibungen bei Staphylus und zur Literatur des ihm vorausgehenden Jahrhunderts, wie wir noch sehen werden. Nach dem Ende des konfessionellen Zeitalters gegen Mitte des 17. Jahrhunderts bleiben Verbitterung und Zerwürfnisse zwischen den verschiedenen Gruppen; zumindest aber in den großen institutionell verfassten Kirchen (anders verhält es sich mit den Minderheiten, beispielsweise mit der Diaspora der französischen Hugenotten, die just in den Jahren des Edikts von Fontainebleau ihre eigene Geschichte in millenaristischer Perspektive interpretierten) scheint sich die eschatologische Textur der climax der religiösen Auseinandersetzung endgültig abgenutzt zu haben.
2 Die Untugenden des Häresiarchen Themen wie solche sind nur ein kleiner Ausschnitt aus dem, was Bossuet – unter Berücksichtigung des zeitlichen Abstandes – aus dem Werk übernommen hat, welches zweifelsohne das katholische Lutherbild im Laufe der Zeit am meisten geprägt hat: die 1549 von Cochlaeus in Mainz veröffentlichten Commentaria de actis et scriptis Martini Lutheri Saxonis. Auch wenn es sich dabei nicht um ein theologisches, sondern um ein historisch-polemisches Werk handelt, steckt dieses dennoch den grundlegenden Rahmen ab, in dem katholische Kontroverstheologen und Publizisten über Jahrhunderte hinweg Luther und mit ihm die ersten dreißig Jahre der Reformation interpretierten. Ich werde darauf bald zurückkommen; für den Moment aber beschränke ich mich darauf, zu erwähnen, dass der Erfolg dieses Textes als Fundgrube für polemische Gemeinplätze derart groß gewesen ist, dass man ihm eine dreibändige Monographie gewidmet hat, die dessen – implizite oder explizite – Zitationen oder Aufnahmen bis ins 20. Jahrhundert nachzeichnet.¹²
Ebd., 2:44, und 5:201. Ebd., 5:187. A. Herte, Das katholische Lutherbild im Bann der Lutherkommentare des Cochläus, 3 Bde. (Münster, 1943).
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Kaum mehr als ein italienisches Kompendium der Commentaria ist die 1749 von Giovanni Fallini „per instruzione degli italiani che vivono nelle corti dell’impero, e del Nord“ verfasste Notizia istorica della vita, ed eresie di Martino Lutero. Im Grunde handelt es sich dabei lediglich um eine Aneinanderreihung von Beschimpfungen ohne die geringste Spur von theologischem Geist; interessant ist das Werk besonders aus dem Grund, dass es auch noch zwei Jahrhunderte nach Cochlaeus versucht, durch Verweis auf die menschliche Seite des Oberhäretikers jegliche Versuche einer Relativierung oder gar einer Historisierung der Kirchenspaltung der Reformation zu verhindern.¹³ Eine derartige Einstellung ist auf katholischer Seite auch noch lange nach Beginn des 20. Jahrhunderts vorherrschend. Eine treffende Einschätzung der Situation ist Giovanni Miccolis Beobachtung, dass die vierhundert Jahre katholischer Literatur zu Luther – von Cochlaeus bis hin zu Pius XII. – im Grunde nichts Anderes sind, als eine „lunga catena di testi, di monotone e macchinose costruzioni di mostruosità e contumelie“.¹⁴ Eine Kette sei, so fügt er hinzu, die „raramente interrotta“ ist „da uno scatto di curiosità intellettuale, di interesse umano a comprendere e capire“. Diese Randbemerkung ist sehr gut nachzuvollziehen, und doch betrifft sie, neben der Frage nach der Haltung gegenüber der Person des Häresiarchen, auch die Frage nach dem grundsätzlichen Verhältnis zwischen Kirche und geschichtlicher Wahrheit, nämlich dann, wenn die Bereitschaft zu „comprendere e capire“ ein Aufgeben des theologischen Zusammenhanges der menschlichen Schicksale als Heilsgeschichte und eine historische, säkularisierte Sichtweise, die aber doch im katholischen Bereich erst gegen Mitte des 20. Jahrhunderts Einzug hielt, voraussetzt. Nicht von ungefähr wurde das erste nicht von konfessionellen Vorurteilen geprägte, von einem katholischen Forscher verfasste historiographische Werk über die Reformation – Joseph Lortz’ Reformation in Deutschland – als „epochale Wende“ bezeichnet. Bezeichnenderweise erschien das Werk im Jahre 1939, „als der Kampf des Nationalsozialismus gegen die Religion“ – so Hubert Jedin – „Katholiken und Protestanten nicht nur dazu drängte, gemeinsam auf ein und derselben Seite eine ver-
F. Giovanni, Notizia istorica della vita, ed eresie di Martino Lutero continuata fino alla pace di Westfalia, Hg. Giovanni Fallini (München, 1749), A2v-A3r: „Sono da qualche tempo certi spiriti idiotti talmente sorpresi dalle buone azioni de’ protestanti, che, non sapendo discernere il costume dalla regola della fede framischiano l’uno, e l’altra, e ne tirano sovvente la pessima illazione, che forse la religione di Lutero sia la buona, e la retta“; Vgl. D. Menozzi, „La figura di Lutero nella cultura italiana del Settecento“, in Lutero in Italia. Studi storici nel V centenario della nascita, Hg. L. Perrone (Genua, 1983): 139 – 166, besonders 149. Menozzi bringt dieses von Fallini beschriebene Verhalten mit den leisen Zweifeln in Verbindung, die Ludovico Antonio Muratori in De ingeniorum moderatione bezüglich der hartnäckigen Verweigerung jeglichen guten Willens den Protestanten gegenüber äußert. G. Miccoli, „,L’avarizia e l’orgoglio di un frate laido…‘. Problemi e aspetti dell’interpretazione cattolica di Lutero“, in Lutero in Italia, Hg. L. Perrone: VII-XXXIII, hier XXVII. Zur katholischen Perspektive auf Luther im 20. Jahrhundert vgl. auch O.H. Pesch, „,Ketzerfürst‘ und ,Vater im Glauben‘. Die seltsamen Wege katholischer ,Lutherrezeption‘“, in Weder Ketzer noch Heiliger. Luthers Bedeutung für den Ökumenischen Dialog, Hg. H.F. Geißer et al. (Regensburg, 1982): 123 – 174.
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teidigende Haltung einzunehmen, sondern ihnen auch bewusst machte, wie viel christliche Grundmerkmale diese gemeinsam hatten“.¹⁵ Dennoch fürchtete der Verleger Herder lange Zeit negative Reaktionen von Seiten Pius’ XII., welcher jedoch letzten Endes nur den Wunsch hatte, man möge ihm unter der Hand ein Inhaltsverzeichnis des Werkes zukommen lassen.¹⁶ Im Übrigen verharrten bis kurz vor Lortz selbst die besten katholischen Historiker noch immer in Interpretationsmodi, die auf die antike Tradition der Kontroverstheologie zurückgehen: so beispielsweise Ignaz von Döllinger in der Zeit vor der anti-infallibilistischen Wende, wenn er in der ersten Ausgabe von Herders Kirchenlexikon (1851) unter dem Stichwort ‚Luther‘ das Handeln des Reformators in üblicher Manier mit ‚Groll‘, ‚Hohn‘ und ‚Schmähungen‘ abtut. Ähnliches gilt für die erste mit gebührender Ernsthaftigkeit geschriebene Biographie des Reformators: Luther und das Luthertum in der ersten Entwicklung von Heinrich Denifle (1903). Dabei handelt es sich zwar um das erste Werk, welches das lutherische Denken mit der spätmittelalterlichen Scholastik in Verbindung bringt, gleichwohl aber folgt auch der Aufbau dieser Schrift den Methoden der Polemik, die gewissermaßen zweigeteilt ist: zum einen die Kritik, Luther habe den Verfall der Ordnung des Mönchtums eingeleitet, zum anderen die Verurteilung der in der Entwicklung der reformatorischen Lehre zu beobachtenden Widersprüche.¹⁷ Der Punkt – im Grunde ist dies viel zu offensichtlich, um es erneut zu betonen – ist der, dass Luther für katholische Theologen, Historiker und Publizisten das größte Hindernis für eine providenzialistische Sicht der Geschichte darstellt. Das Problem ist uralt: Es machte sich schon circa 30 Jahre vor Beginn des Konzils von Trient bemerkbar, als das dramatische Schicksal der Kirche in Deutschland einen einzigen Urheber zu haben schien. Doctor Ioannes Cochlaeus decem et octo libros nondum editos habet, in quibus ex ordine describit totam Lutheri et Lutheranorum tragoediam quasi annales. Hos libros conducibiles esse puto, ut habeat Sanct.mus D.N., et hi qui ad concilium deputati sunt. Nam valde conducet ex illis videre, tot sectas, scissuras, rebelliones et seditiones omnes ex hoc uno malo ortas et pullulatas. Et Sanct.mus D.N. in principio concilii per exagerationem detestari debebit huiusmodi inauditas
H. Jedin, „Mutamenti della interpretazione cattolica della figura di Lutero e loro limiti“, in Rivista di storia della Chiesa in Italia 23/2 (1969): 361– 377, hier 366 [Übersetzung B. Jetter]. „Epochale Wende“ ist ein Ausdruck von P. Manns, „Joseph Lortz zum 100. Geburtstag: Sein Luther-Verständnis und dessen Bedeutung für die Luther-Forschung Gestern und Heute“, in Zum Gedenken an Joseph Lortz (1887 – 1975). Beiträge zur Reformationsgeschichte und Ökumene, Hg. R. Decot und R. Vinke (Stuttgart, 1989): 30 – 92. Ebd. Vgl. H. Denifle, Lutero e luteranesimo nel loro primo sviluppo (Rom, 1905). Vgl. Jedin, „Mutamenti della interpretazione cattolica“: 364, der das Buch definiert als „il più amaro e pesante pamphlet che la letteratura cattolica ha prodotto dal secolo XVI“. Neben Denifle ist natürlich auch Pater Hartmann Grisar zu erwähnen, dessen Lutherbiographie aus den Jahren 1911– 1912 auch weiterhin ausgiebig auf apologetische Gemeinplätze zurückgreift.
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cruentas tragoedias. Nam ex hoc uno evangelio Lutheri depravato perierunt rusticorum plus quam centum millia anno quidem 1525.¹⁸
Diese Zeilen aus dem Jahre 1536 – bis zur Veröffentlichung des Bandes sollten weitere zehn Jahre vergehen – stammen aus der Feder des Wiener Bischofs Johann Fabri; sie erreichten den Nuntius Giovanni Morone zu Beginn der Vorbereitungen Pauls III. für eine Einberufung einer Synode, die sich mit dem Fall Deutschland beschäftigen sollte. Es leuchtet ein, dass eine derart radikale Auffassung von Luthers Verantwortung für den sozialen und religiösen Zwist in Deutschland, welche den Oberhäretiker direkt und ohne Umschweife mit all dem aus der Häresie hervorgegangenen Schlechten identifiziert, nur zu – jahrhundertelang andauernden – Schwierigkeiten führen konnte: man tat sich nicht nur schwer damit, sich auf angemessene Weise mit der intellektuellen Persönlichkeit Luthers zu messen, sondern auch und vor allem damit, die Gründe für seinen Erfolg zu verstehen. Zudem bringt der Umstand, dass die Darlegung dieser Auffassung in einem Werk, nämlich in dem des Cochlaeus, ihren Höhepunkt findet, welches, wie schon festgestellt, nicht theologisch, sondern historisch ist (und sich sogar im Stil der antiken Annalentradition am Jahresrhythmus orientiert), mit sich, dass die Interpretation Luthers und seiner bewegten Geschichte eher von der Verurteilung seiner Untugenden als von der Untersuchung seiner theologischen Fehler geprägt ist und bleibt. In anderen Worten: die Auslegung der Ursprünge der Reformation durch polemische katholische Theologen hängt – mit wenigen Ausnahmen – lange Zeit, genauer gesagt fast drei Jahrhunderte, fast ausschließlich an der moralischen Perspektive auf den Gründervater. In diesem Sinne gilt Luther – ich wiederhole mich – als die archetypische Personifizierung der durch den Protestantismus herbeigeführten Übel. „Ich bin aber der Person Luthers nicht feindlich oder gehässig, sondern seiner Bosheit und Laster“.¹⁹ Ein aufschlussreiches Bekenntnis. Keiner seiner zahlreichen Feinde spricht ihm die dialektische Stärke oder die Kenntnis des Heiligen Textes ab: es ist der falsche Gebrauch dieser seiner Gaben, der den Fehler ausmacht, der sich in gleicher Weise bei seinen Nachahmern und Nachfolgern wiederholt. Lutherpuppen werden infolge von Scheinprozessen verbrannt: in Altenburg im Jahre 1522, in Wien noch im Jahre 1567 und in München ein halbes Jahrhundert nach dem Tod des Reformators, im Jahre 1597.²⁰ Es ist davon auszugehen, dass das Bildnis des Häretikers, das in diesen
Concilium Tridentinum. Diariorum, Actorum, Epistularum Tractatuum, Bd. 4: Actorum pars prima (Freiburg im Breisgau, 1904), 52– 59, hier 56 (14.12.1536); Herte, Das katholische Lutherbild, Bd. 1: Von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Inland und Ausland (Münster, 1943), 2. R. Bäumer, Johannes Cochlaeus (1470 – 1552). Leben und Werk im Dienst der katholischen Reform (Münster, 1980), 108. Zu Cochlaeus (Dobneck) vgl. auch Ders., „Johannes Cochlaeus (1470 – 1552)“, in Katholische Theologen der Reformationszeit, Hg. E. Iserloh (Münster, 1984): 1:73 – 81; Ders., „Cochlaeus (Dobeneck), Johannes“, Lexikon für Theologie und Kirche II (Freiburg im Breisgau, 1994): 1239 – 1240. R.W. Scribner, „Incombustible Luther. The Image of the Reformer in Early Modern Germany“, Past and Present 110 (1986): 38 – 68.
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Scheiterhaufen – und zweifelsohne auch in den zwei Verbrennungen danach – verbrannt wurde, gleichsam ein Symbolbild für das gesamte Spektrum religiöser Dissidenten war. Die Liste der Beschimpfungen ist lange, aber nicht zu lange, um darin einige große Linien entdecken zu können. Luther wird von Wollust angetrieben, was ihn dazu bewegt, den Klerikerstand vernichten und in Deutschland Untugenden verbreiten zu wollen. Cochlaeus beschreibt dies folgendermaßen: „Introducta peccandi licentia ac malitiosa libertas, depravata et in omne vitium prona reddita iuventus, carnalis concupiscentiae omne amotum repagulum, ablatus a sexu muliebri antiquus pudor“;²¹ der frühere Augustinermönch Alfonso de Castro stellt folgendes fest: „Omnem ecclesiasticum ordinem evertit, monachatum omnem ab Ecclesia procul esse iubet, liberam monachis vivendi facultatem tribuens. Cui pesti nisi Deus sua benignitate cito succurrat, timendum est ne ulterius grassetur, et reliquum id modicum quod e Germania superest inficiat“;²² und Simon Lemnius widmet dem Reformator 1539 die Monachopornomachia, einen bissigen, in Versen verfassten Dialog mit obszönen Anspielungen auf die Hochzeit mit Katharina von Bora.²³ Im Übrigen kreisen auch die allerersten Informationen, die der frisch nominierte Diplomat Karls V., Gasparo Contarini, diesbezüglich kurz nach seiner Ankunft in Worms am 20. April 1521 dem Senat von Venedig zukommen lässt, um dasselbe Argument: Namque admodum a multis accepi, in eam dementiam et eum furorem vir iste devenit ut reijciat decreta conciliorum; dicat a quolibet laico confici posse sacramentum Eucharistiae, matrimoniumque dissolvi posse, fornicationem simplicem peccatum non esse, ac innuit mulierum illam comunitatem de qua Plato in sua Republica.²⁴
Cochlaeus begründet Luthers Berufung zu einem schändlichen Dasein mit dem antiken Motiv des Namensdeterminismus, das er schon zu Beginn der Commentaria zum Ausdruck gebracht hat: obwohl der originale Nachname ‚Luder‘ war, bevorzugte es
J. Cochlaeus, Commentaria de actis et scriptis Martini Lutheri Saxonis, chronographice, ex ordine ab anno Domini 1517 usque ad annum 1546 inclusive, fideliter conscripta. […] Multiplex praeparata est hic lectori utilitas, per rerum gestarum ex fide et veritate narrationem: ut cognoscat, quanto Luthero fuerit vis ingenii, quantaque laborum tolerantia, quantus animi in affectibus impetus, quanta styli saevitia. Et qualia fuerint de eius doctrina, papae, imperatoris, regum, conciliorum, episcoporum, universitatum, Erasmi, et id genus doctissimorum quorumlibet iudicia (Mainz, 1549), 14v-15r (Praefatio in acta historiamque Lutheri). A. de Castro, Adversus omnes haereses libri XIV (Köln, 1543), 32r. Lutius Pisaeus Iuvenalis [Lemnius], Monachopornomachia (Mainz, 1539). O. Niccoli, „Il mostro di Sassonia. Conoscenza e non conoscenza di Lutero in Italia nel Cinquecento (1520 – 1530 ca.)“, in Lutero in Italia, Hg. L. Perrone: 5 – 25, hier 19.
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der Reformator, sich ‚Luther‘ nennen zu lassen, „ex eo forsitan, quod Luder apud Germanos parum honestum videtur esse vocabulum“.²⁵ Andere Erblaster, mit denen der Vater der Reformation zu kämpfen hat, sind der Neid, der Zorn, der Ungehorsam und der Hass gegen heiliges und profanes Wissen. In den Augen Jacob Gretsers, seines Zeichens Polygraph und herausragender Theologe der Societas Jesu im Bayern des beginnenden 17. Jahrhunderts, „Lutherum non modo non fuisse theologum scholasticum, sed potius et huius, et aliarum scientiarum hostem teterrimum, et immanissimum“.²⁶ Martin Becanus, einem anderen äußerst engagierten jesuitischen Kontroverstheologen jener Zeit zufolge ist gerade Heimtücke bzw. Wortbruch das charakteristische Wesensmerkmal Luthers, welches von diesem auf den gesamten Protestantismus übertragen wird: [Lutherus] triplici titulo fuit perfidus. Primo, quia fidem catholicam, quam in baptismo susceperat, et multis annis professus erat, tandem abiecit, quae summa perfidia est. […] Secundo, quia cum esset monachus, solemni ritu promisit Deo perpetuam castitatem. […] Tertio, cum similiter solemni ritu in academia catholica doctor theologiae promoveretur, promisit, interposto iuramento, se defensurum eam doctrinam, quae tunc usu erat recepta.²⁷
In Bellarmins Controversiae, wie schon bei Cochlaeus, bilden der Neid und die Geltungssucht – insbesondere der Neid der Augustiner gegenüber den mit der Predigt des Ablasses beauftragten Dominikanern – „Initium primum omnium haeresum huius temporis“.²⁸ Bei anderen ist Luthers wesentlicher Charakterzug der Zorn. Aus diesem
Cochlaeus, Commentaria de actis et scriptis Martini Lutheri, 1: „Quamvis vero multis annis antiqua consuetudine dictus fuerit cognomine Luder […] maluit tamen postea dici Luther, quam Luder […]“.Vgl. diesbezüglich W. Brückner und H. Gruppe, „Luther als Gestalt der Sage“, in Volkserzählung und Reformation. Ein Handbuch zur Tradierung und Funktion von Erzählstoffen und Erzählliteratur im Protestantismus, Hg. W. Brückner (Berlin, 1974): 260 – 294, besonders 281. J. Gretser, „Orationes et quaestiones. I. Utrum Lutherus fuerit scholasticus theologus. II. Cur Lutherus Ingolstadiensem Academiam adeo oderit. III. Utrum Lutheranus, salvis primis sectae suae principiis, possit petere et capessere gradus et honores academicos in theologia, iurisprudentia, medicina et philosophia. IV. Num Lutherus in doctorali sua inauguratione observaverit Clementinam de Magistris. Recitatae et discussae in Academia Ingolstadiensi cum anno Redemptoris 1606 14 die Novembris“, in Opera omnia, Bd. XII: Lutherus academicus, et Waldenses (Regensburg, 1738): 32: „Manifestum arbitror […]“. M. Becanus, Manuale controversiarum in V libros distributus (Passau, 1701 [1623]), 5:14. Das Kapitel „An in aliis rebus liceat pacisci cum haereticis“ beschäftigt sich mit der Frage, ob es zulässig ist, mit Häretikern Verträge abzuschließen, und rät, sich die Sache gut zu überlegen, um, sofern möglich, ihrer Heimtücke auszuweichen. Bemerkenswert ist bei all dem, dass Becanus den Lutheranern ein höheres Maß an Vertrauenswürdigkeit zugesteht als den Calvinisten. Zum Autor vgl. P. Begheyn, „Becanus (Schellekens), Martinus“, Diccionario histórico de la Compañía de Jesús. Biográfico-temático, Hg. C.E. O’Neill und J.M. Dominguez (Rom/Madrid, 2001): 1:380. R. Bellarmin, Disputationes de controversiis christianae fidei adversus huius temporis haereticos (Venedig, 1721 [1586 – 1593]), 2:101 (controversia „De conciliis et Ecclesia“): „Initium primum omnium haeresum huius temporis constat fuisse invidentiam, et ambitionem Lutheri, aegre ferentis munus promulgandarum indulgentiarum a sui ordinis monachis, ad monachos ordinis praedicatorum tran-
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Grund wird Luther – wegen seiner heftigen und ungestümen Dialektik und der ungewöhnlichen Kühnheit – als Schreckgestalt dargestellt (z. B. von Cochlaeus, der, nachdem Luther 1523 sein Sakramentsbüchlein angegriffen hatte, diesen als „stygisches Monster“ oder als „Minotaurus mit der Mönchskutte“ bezeichnet) oder als tobsüchtiger Mose, der das Niedermetzeln seines eigenen Volkes anordnet (so z. B. bei Stapleton).²⁹ Von diesem sündigen Zorn her komme der viele Zorn, der das Kaiserreich immer und immer wieder getroffen habe – ein zentrales Thema in Cochlaeus’ Werk, das auch bei den späteren Autoren mehrfach begegnet. An dieser Stelle sei noch einmal aus den Commentaria zitiert: Quemadmodum fecit olim Iudas proditor, cui dixit Dominus Iuda, osculo (quod pacis et amicitiae symbolum erat) filium hominis tradis? Sic profecto et Lutherus evangelio pacis praecipitavit in bella et seditiones Germaniam. In qua non solum civitas una contra aliam, et gens adversus gentem, provincia adversus provinciam pertinaci odio insurgit: verum etiam plebs contra senatum in eadem civitate, populus adversus principem suum, et princeps adversus imperatorem suum, bella seditionesque meditatur. […] Cur ita? Quia persuasit Lutherus, tanto verius evangelium esse, quanto plus tumultuum parit.³⁰
Die Sünden allerdings, die wohl noch mehr andere Luther und der protestantischen Bewegung zugeschrieben wurden, sind diejenigen, die – gemäß einer antiken und altehrwürdigen, von Augustin bis zu Cajetan überlieferten Tradition – den Wesenskern der Ätiologie ein jeder Häresie ausmachen: Hochmütigkeit und Hartnäckigkeit.³¹ Bellarmin schreibt: De haeresiarchis plurima dici possent, sed unum est vitium omnibus commune, superbia. Augustinus libro de Pastoribus cap. 8 Diversis locis, inquit, sunt diversae, sed una mater superbia omnes genuit, sicut una mater nostra catholica omnes christianos fideles toto orbe diffusos. Et certe nulla haeresis invenitur ex intentione, et per se inventa, sed per accidens ex aliqua mala occasione, ut solent monstra generari.³²
slatum fuisse, ut scribit Ioannes Cochlaeus in actis Lutheri anno 1517“.Vgl. Cochlaeus, Commentaria de actis et scriptis Martini Lutheri, 4. J. Cochlaeus, Adversus cucullatum Minotaurum Wittenbergensem. De sacramentorum gratia iterum (1523), CCath 3, Vgl. dazu A. Körsgen-Wiedeburg, „Das Bild Martin Luthers in den Flugschriften der frühen Reformationszeit“, in Festgabe für Ernst Walter Zeeden, Hg. H. Rabe und H. Molitor, H.-C. Rublack (Münster, 1976): 153– 177, insbesondere 169. Siehe auch Niccoli, Il mostro di Sassonia, 10 – 11; allerdings verbindet sich dort die Vorstellung eines Minotaurus mit dem kurz vorher geschehenen außergewöhnlichen Ereignis der monströsen Fehlgeburt eines Kalbes in einer Mönchskutte (cuculla). T. Stapleton, Principiorum fidei doctrinalium demonstratio methodica (Paris, 1582 [1578]), 477. Stapleton, Principiorum fidei, 53 – 54. Bezug genommen wird hier auf den Vers Mt 10,34, den Luther in seiner Rede auf dem Reichstag zu Worms zitiert, WA 7,835. Verwiesen sei diesbezüglich auf F. Motta, „La voce dell’errore. Eresia e controversia di fede nell’età del conflitto religioso europeo“, Storicamente 1/8 (2005), www.storicamente.org/1Motta (23.03. 2017). Bellarmin, Disputationes de controversiis christianae fidei, 100 (controversia „De conciliis et Ecclesia“). Vgl. Augustin, „Sermo XLVI. De pastoribus“, in Migne Patrologia Latina XXXVIII: 280.
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„Enflé de son sçavoir, médiocre au fond, mais grand pour le temps“, so Bossuet, „il se mettoit au dessus de tous les hommes“. Luther habe sich, so Eck, „cum complicibus suis“ von der Suche nach „mirabilibus super se“ gefangen nehmen lassen „et extulerunt se velut Lucifer et daemonium meridianum“. Cochlaeus wirft ihm philautia vor, eine Selbstliebe, die sich nur an der eigenen Meinung orientiert und gegen andere richtet.³³ Zudem mache die Unnachgiebigkeit Luther, so die von Heinrich VIII. unterzeichnete Assertio septem sacramentorum, zu einem „immedicabilis“: Quod ut censeam, non tam morbus eius quantumvis lethalis me movet quam ipse: quippe qui medicinam nullam, nullam prorsus manum medicantis admittit. Quomodo enim curari potest qui se tractari non patitur? Aut quomodo tractari potest quem si quid doces nugatur, si quid mones irascitur, si quid hortaris obnititur, si quid placas incenditur, si quid adversaris insanit?³⁴
Hält man es mit Eck, welcher sich als Erster im Jahre 1519 bei der Leipziger Disputation mit Luther und Karlstadt und im Jahre 1526 bei der Disputation im eidgenössischen Baden mit Oekolampad anlegte – „Ich habe von nah und fern gegen diese gezähnten Bestien gekämpft“, so erinnert er sich –, dann zeigt allein schon die unheilbare Hartnäckigkeit der Hauptvertreter der Reformation die Unmöglichkeit auf, die Häretiker mithilfe von Argumenten zurück zum orthodoxen Glauben zu führen. Mit ihnen ist schlicht und einfach „non disputandum“, denn sie sind „adeo pertinaces […], ut libere promittant se articulos usque ad mortem defensuros, quare liquet eos esse incorrigibiles, obstinatos, et pertinaces“; des Weiteren gilt für die Lutheraner: „fraudulenter attendunt disputationem, nam quaerunt disputare, non coram doctis et literatis ac in theologia exercitatis, sed coram indoctis, vulgaribus laycis, quorum capacitas se nullo modo extendit ad iudicanda huiusmodi mysteria fidei“.³⁵ Kurz vor dem Ausklang des Jahrhunderts sollte Stapleton in der Sünde der Hartnäckigkeit die Wurzel des „schisma modernum“ zwischen Luther und Calvin ausmachen, „die mit ihren beiden brennenden Fackeln mehr als jeder andere die Christenheit angezündet haben“: „Contra Ecclesiam catholicam latrare primum Lu-
Bossuet, Histoire des variations, 1:33. Das Zitat im Kontext: „Enflé de son sçavoir, médiocre au fond, mais grand pour le temps, et trop grand pour son salut et pour le repos de l’Eglise, il se mettoit au dessus de tous les hommes, et non seulement de ceux de son siècle, mais encore des plus illustres des siècles passez“; J. Eck, Enchiridion locorum communium adversus Lutherum et alios hostes Ecclesiae (1525 – 1543), CCath 34, 7; Cochlaeus, Adversus cucullatum, 8. Heinrich VIII., Assertio septem sacramentorum adversus Martinum Lutherum, CCath 43, 229. Eck, Enchiridion locorum communium, 280 – 281 („Non disputandum cum haereticis“ XXVIII [XXVII]). Das Zitat im Kontext: „Plerique eorum [haereticorum] adeo pertinaces sunt, ut libere promittant se articulos usque ad mortem defensuros, quare liquet eos esse incorrigibiles, obstinatos, et pertinaces. […] Iterum patet de Lutheranis haereticis, quod fraudulenter attendunt disputationem, nam quaerunt disputare, non coram doctis et literatis ac in theologia exercitatis, sed coram indoctis, vulgaribus laycis, quorum capacitas se nullo modo extendit ad iudicanda huiusmodi mysteria fidei“. Zum Autor vgl. E. Iserloh Hg., Johannes Eck (1486 – 1543), Katholische Theologen, 1:65 – 71; H. Smolinsky, „Eck, Johannes“, Lexikon für Theologie und Kirche III (Freiburg im Breisgau, 1995): 441– 443.
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therus coepit, ad eius rabiem compescendam, quot media tentata, quot viae calcatae et tritae, sed frustra et inaniter fuerunt?“³⁶ Selbstverständlich könnte die Liste der Beleidigungen noch lange fortgeführt und gesteigert werden, sowohl hinsichtlich der Zahl der Zitate, als auch im Blick auf den Tonfall – der schon erwähnte Miccoli bezeugt ausführlich, wie harsch und hart die Formulierungen bis ins 19. Jahrhundert und darüber hinaus waren –, aber dies würde für den Diskurs keine wesentlich neuen Erkenntnisse erbringen. Der zugrunde liegende hermeneutische Schlüssel ist und bleibt der ursächliche Zusammenhang zwischen den Sünden des Häresiarchen und den fundamentalen Charaktereigenschaften der sich an ihm orientierenden Bewegung. Der Hochmut beispielsweise hindere die Häretiker daran, die Autorität und die Tradition anzuerkennen und sich dem consensus Ecclesiae anzuschließen. Laut Staphylus bestimmt der Hochmut die ersten drei Hauptstücke theologischer Erkenntnis in dem Sinne, wie er sie den Verfassern der Confessio Augustana in den Mund legt: Papistae evangelium Christi abiecerunt, Lutherus abiectum instauravit, produxitque ex tenebris papae in lucem hominum. Ergo Luthero omnia credenda sunt, tanquam Germanico prophetae, papistis nihil, tanquam evangelii desertoribus [Primum topicum praedicamentum]. […] Lutherus fuit propheta, et alter Elias et currus Israel: ergo quaecunque ille censet in sacris Bibliis, esse hagiographa scripta, ea debent haberi pro autenticis et hagiographis, quae ille reiecit, pro reiectis [Secundum topicum praedicamentum]. […] Solus Lutherus (nimirum alter Elias et Iudaeus egregius) recte vertit S. Bibliam. Ergo vetus translatio latina, et graeca interpretatio 72 pravae sunt versiones. Proinde nulla alia translatio legenda in ecclesia, nisi Martini Lutheri [Tertium topicum praedicamentum].³⁷
Gemäß Bellarmin lag der Erfolg der Reformation in Deutschland hauptsächlich an moralischer Nachlässigkeit und damit an der Fähigkeit, jegliche Art von Sündern anzuziehen: die Gefräßigen, „quia non sunt apud Lutheranos stata ieiunia“; die Zügellosen, „quia apud eos vota omnia continentiae improbantur“; die Apostaten, „quia apud eos claustra omnia reserantur, et in palatia convertuntur“; die habgierigen Fürsten, „quia bona ecclesiastica, et personae etiam ecclesiasticae eorum potestati subiiciuntur“; und, ganz allgemein gesprochen, „improbi et scelesti, quia sublata est
T. Stapleton, Promptuarium catholicum ad instructionem concionatorum contra nostri tempori haereses, super Evangelia ferialia per totam Quadragesimam (Venedig, 1598), 190: „Contra Ecclesiam catholicam latrare primum Lutherus coepit, ad eius rabiem compescendam, quot media tentata, quot viae calcatae et tritae, sed frustra et inaniter fuerunt? A doctis viris cum eo publice disputatur, Lipsiae, Wittenbergae, Wormatiae. Sedes apostolica articulos eius 41 publico decreto damnavit. Ad comitia imperialia Augustae Vindelicorum evocatus, omnibus melioribus rationibus ut resipiscat inducitur. Academiae in Germania Heidelbergensis, Moguntina et Coloniensis, in Belgio Lovanienis, in Gallia Parisiensis, novam hominis dementiam editis articulis patefecerunt. Omnium gentium docti viri scriptis libris errores suos foedissimos erudite confutarunt“. Staphylus, Theologiae Martini Lutheri trimembris epitome, 14r-16r.
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apud eos necessitas confitendi peccata, et rationem reddendi proprio suo pastori, quod maximum esse solet fraenum peccatoribus“.³⁸
3 Auslegung und Methoden Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass ein solcher hermeneutischer Ansatz alles andere als neu ist – im Gegenteil: er ist so alt wie die antihäretische Literatur selbst. Hochmut, Neid und Wollust, dazu die anderen Sünden und die Vorstellung, dass die moralische Verderbtheit der erste Beweger der Häresiarchen und die Ursache für die Ausbreitung ihrer Irrtümer ist, gehörten bereits zum grundlegenden Handwerkszeug eines der Gründer dieses Genres, Epiphanius. Markion beispielsweise beschreibt Epiphanius, nachdem diesem die Absolution wegen der Verführung einer geweihten Jungfrau versagt worden war, als „superbia indiviaque percitus“; Arius betrachtet er als „inflatus opinione sui“ und fähig dazu, durch Schmeichelei die Zustimmung der Anderen zu gewinnen.³⁹ Am anderen Ende des uns hier interessierenden Zeitraumes, gegen Mitte des 17. Jahrhunderts, erklären die von Odorico Rinaldi fortgeführten Annales ecclesiastici in ähnlicher Weise – Neid aufgrund nicht erhaltener Ehren und Würdigungen – die Anfänge der Häresie Wyclifs.⁴⁰ Eine solche Sicht auf die lutherische Häresie geht – mit einigen Ausnahmen – von der Kontinuität zwischen der neuen und der alten Erscheinungsform der Häresie aus, und nicht etwa von ihrer Differenz. Dem liegt eine Methode zugrunde, die im Übrigen für die Fachgebiete der Kontroverstheologie von fundamentaler Bedeutung ist: die ununterbrochene Wiederkehr der Häresien ist gleichsam ein Spiegel e contrario für die ununterbrochene Weitergabe des patrimonium fidei in der Kirche. Die Besonderheit Luthers liegt im Umfang der gegen die Kirche gerichteten Angriffe, nicht etwa in einer völlig neuen Lehre, auch wenn man in dieser seiner Lehre einige für Luther wesentliche Punkte erkennen kann, wie beispielsweise die Rechtfertigung aus Glauben und das Priestertum aller Gläubigen. Hier zeigt sich besonders deutlich, dass die Streitigkeiten der ersten Jahrzehnte nach der Reformation sehr von Kurzsichtigkeit gezeichnet waren.
Bellarmin, Disputationes de controversiis christianae fidei, 1:388 (controversia „De Summo pontifice“). Das Zitat im Kontext: „Gulosi ad eos accurrunt, quia non sunt apud Lutheranos stata ieiunia; incontinentes, quia apud eos vota omnia continentiae improbantur, et monachis etiam et sacerdotibus, necnon sanctimonialibus quibuscumque matrimonia conceduntur. Item apostatae omnes, quia apud eos claustra omnia reserantur, et in palatia convertuntur; principes avari et ambitiosi, quia bona ecclesiastica, et personae etiam ecclesiasticae eorum potestati subiiciuntur; otiosi et inimici bonorum operum, quia apud eos sola fides sufficit, opera bona non sunt necessaria. Denique omnes improbi et scelesti, quia sublata est apud eos necessitas confitendi peccata, et rationem reddendi proprio suo pastori, quod maximum esse solet fraenum peccatoribus“ Epifanius, „Adversus omnes haereses“, in Migne. Patrologia Graeca XLI:695 – 698 und XLII:206 – 207. O. Rinaldi, Annales ecclesiastici ab anno 1198 (1752 [1377]), 7:294 ff.
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Die Protestanten „revocant“, so Eck, „haereses saepe damnatas“, von Arius bis Hus.⁴¹ Dieselbe Meinung vertritt auch Wimpina in einem 1522 verfassten und 1528 in seiner Anacephalaeosis veröffentlichten Katalog der Fehler Luthers.⁴² In ähnlicher Weise verortet auch Bellarmin Luther in seiner Antrittsvorlesung als Kontroverstheologe am Collegium Romanum im Jahre 1567 – wo er ausführlich auf die Geschichtstheologie eingeht, die den methodischen Aufbau seines Werkes bestimmt – in der langen dämonischen Reihe, die bis zu den Ursprüngen des Christentums zurückzuverfolgen ist: besonders in der Kategorie derer, die sich, beginnend mit Berengar von Tours („parens haereticorum huius temporis“), mit aller Energie gegen die Struktur der Kirche, den Heiligenkult und den machtbasierten Umgang mit der Sündenvergebung stemmten.⁴³ Damit vergleichbar ist die Auslegung Stapletons, der die Genealogie des Luthertums nachzeichnet und zurückverfolgt: über Hus und Wyclif, die Albigenser und die Waldenser, bis hin zu Berengar. Um von Berengar aus die Brücke zu den Häretikern der antiken Welt zu schlagen, muss man einen Sprung um einige Jahrhunderte zurück machen.⁴⁴ Von den frühesten Gegnern des sich noch sub iudice befindenden Augustinermönches verweist ausschließlich Ambrosius Catharinus – nachdem dieser von Luther für seinen Galaterkommentar gelobt worden war, hatte man ihn dazu aufgefordert, klar Stellung zu beziehen – auf zeitgenössischere Ereignisse und Personen, u. a. auf das Konzil von Pisa, auf Panormita (Antonio Beccadelli), auf Lorenzo Valla und, perfiderweise, auch auf Jacques Lefèvre d’Étaples.⁴⁵ Für ein besseres Verständnis des denkerisch-philosophischen Hintergrundes der hier genannten Theologen empfiehlt es sich, zwei Phasen der Kontroverstheologie zu unterscheiden: die ‚erste Kontroversistik‘ in der Zeit des Konfessionsstreites und die ,reifere Kontroversistik‘ in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, deren Hauptvertreter jesuitische Theologen wie beispielsweise Bellarmin, Gregor von Valencia, Becanus und Gretser sind, oder aber leitende Figuren jesuitischer Bildungseinrichtungen
Eck, Enchiridion locorum communium, 280: „Quamvis de Luthero et Lutheranis non sit dubium, quin sint haeretici damnati, et pro talibus habendis, quia ipsi revocant haereses saepe damnatas, Arrii, Manichei [sic], Ioviniani, Aerii, Vigilantii, Euticetis, Felicis, Albigentium, Waldentium, Ioan. Wickleff, Ioan. Huss et aliorum haereticorum, ideo contra eos non est disputandum“. H. Jedin, „Kirchengeschichtliches in der älteren Kontroverstheologie“, in Reformatio Ecclesiae. Beiträge zu kirchlichen Reformbemühungen von der Alten Kirche bis zur Neuzeit, Festgabe für Erwin Iserloh, Hg. R. Bäumer (Paderborn, 1980): 273 – 280, besonders 274. Bellarmin, Disputationes de controversiis christianae fidei, 1:4r („Praefatio habita in Gymnasio Romano anno 1576“). Stapleton, Principiorum fidei, 90 (controversia „De vera Ecclesia in se“). A. Catharinus, Apologia pro veritate catholicae et apostolicae fidei ac doctrinae adversus impia ac valde pestifera Martini Lutheri dogmata (1520), CCath 27, 229 – 340 („Qui a Martino laudentur, et de quibus)“. Für den Zusammenhang von Valla und der Reformation in der katholischen Kontroverstheologie vgl. S. Camporeale, „Giovanmaria dei Tolosani O.P.: 1530 – 1546. Umanesimo, Riforma e teologia controversista“, Memorie domenicane 17 (1986): 145 – 252; vgl. auch Ders., Lorenzo Valla. Umanesimo, Riforma e Controriforma. Studi e testi (Rom, 2002), 331– 461.
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wie Stapleton in Douai und Staphylus in Ingolstadt. Die spätere, stets im historischen Kontext ihrer Entstehung zu betrachtende Form der Kontroverstheologie schafft es, Luther einerseits als Teil-Erscheinungsformen der Häresie im weitesten Sinne zu deuten – wobei er einen Platz neben anderen zeitgenössischen Häresiarchen wie Calvin, Zwingli und Bucer zugewiesen bekommt – und ihm andererseits einen besonderen Platz im Rahmen der neuzeitlichen Heilsgeschichte zuzuweisen. Die frühe Kontroversistik jedoch leugnet jegliche Schwierigkeit, die die Ausübung einer nach dem Zeitalter der antiken Christenheit und der Epoche der mittelalterlichen religiösen Streitigkeiten gewissermaßen ex novo wiederbelebten Disziplin mit sich bringen könnte. Die Protagonisten dieser erneuerten Kontroverstheologie, die durch die Konfrontation mit Luthers Theologie und mit den schnellen Erfolgen der Reformation nach und nach ihre Methoden und Regeln entwickelt, sind die schon zu Beginn des Artikels genannten. Einen gemeinsamen kulturellen Hintergrund haben sie nicht: einige, wie beispielsweise Catharinus und Prierias, kommen aus den engsten Kreisen der Kurie; andere, Jakob van Hoogstraten und Latomus, kommen aus dem großen Zentren der europäischen Scholastik, aus Köln und Löwen; wieder andere, die meisten der Luthergegner in Deutschland, haben eine humanistische Ausbildung, und diese sind es, die die größten Spuren hinterlassen sollten: Eck, Cochlaeus, Fabri, Augustinus Alveldt, Hieronymus Emser. Letzterer publizierte im Jahre 1515 in Leipzig Erasmus’ Enchiridion; Cochlaeus räumt Erasmus in seinen Commentaria einen Ehrenplatz ein und betont den Gegensatz zwischen der Feinsinnigkeit und Gemütsruhe des großen Humanisten und der grobschlächtigen Aggressivität Luthers.⁴⁶ Es ist eine Generation voll katholischen Eifers, die jedoch noch immer an eine gelehrte Welt gewöhnt war, die längst dazu bestimmt war, schon bald Opfer der Religionsgrenzen zu werden. Auch das, was diese Männer dazu antreibt, sich in die oben genannten Angelegenheiten einzumischen, ist bei weitem nicht einheitlich: Während es Cajetan und Catharinus vorrangig um die Verteidigung des Primates geht, sieht Eck – zumindest vor der Leipziger Disputation (Juni – Juli 1519) – in Luther den potenziellen Protagonisten einer längst überfälligen Reform der Kirche.⁴⁷ Kardinal Thomas Wolsey wollte die von Heinrich VIII. unterzeichnete (aber von John Fischer mit Unterstützung von Thomas Morus und einer theologischen ad hoc-Kommission verfasste) und Papst Leo X. im Juli 1521 mit viel Pomp und Getöse zugesandte Assertio septem sacramen-
Siehe beispielsweise Cochlaeus, Commentaria de actis et scriptis Martini Lutheri, 140 ff. In der von mir benutzten, früher der Biblioteca patriarcale San Domenico di Bologna gehörenden Ausgabe (heute im Besitz der Biblioteca comunale dell’Archiginnasio) ist die Beurteilung des Erasmus als „vir summae eloquentiae eruditionisque et autoritatis in Germania“ mit einem Stift durchgestrichen. Dies ist höchstwahrscheinlich nach der 1559 erfolgten Aufnahme in das Verzeichnis geschehen. Lortz, La Riforma in Germania, Bd. 2: Costituzione dei fronti, 253, betont, dass Eck sich unablässig um die Einberufung eines Konzils bemüht und gegen die „mille parole obnubilanti“ der hohlen Versprechen vonseiten der päpstlichen Legaten in Deutschland gewettert habe.
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torum dazu nutzen, ein diplomatisches Bündnis zwischen dem englischen Hof und dem Heiligen Stuhl zu schließen.⁴⁸ Die von Cochlaeus zuerst jahrelang unvollendet liegengelassene und angesichts des Todes Luthers auf die Schnelle vollendete und drei Jahre später, im Jahre 1549, veröffentlichte Dissertatio verfolgt sicherlich u. a. das Ziel, eine mögliche Versöhnung der Fronten kurz nach dem Augsburger Interim zu verhindern.⁴⁹ Einige der oben schon genannten – sich hauptsächlich im Dunstkreis des Corpus catholicorum befindenden – katholischen Gelehrten und Kontroverstheologen der ersten drei Jahrzehnte der Reformation (also der Zeit vom Beginn des öffentlichen Wirkens Luthers bis hin zur endgültigen, parallel zum Schmalkaldischen Krieg verlaufenden konfessionellen Spaltung) haben sich in ihren Forschungsbemühungen an eine erste historische Interpretation herangewagt. Diese Studien offenbaren das Fehlen einer gemeinsamen Linie, die bloß sporadische Beteiligung am Diskurs und die häufigen – auch persönlichen – Schwierigkeiten, einen Kampf zu führen, um den sich die römische Hierarchie nicht sonderlich zu kümmern scheint, in dem man es aber mit Gegnern zu tun hat, die gut organisiert sind und es verstehen, ihre ambitionierten Pläne umzusetzen.⁵⁰ Kurz: es handelte sich bei den katholischen Kontroverstheologen mehr um eine gelegentlich improvisierte Truppe denn um ein geordnetes Heer.
P. Fraenkel, Einleitung und Heinrich VIII., Assertio septem sacramentorum, 1– 48. Diese Intention lässt sich besonders deutlich im Vorwort zu Konrad Brauns De ratione scribendi historias erkennen, welches dem Buch sicherlich mit der Zustimmung Cochlaeus’, der lange mit Braun (Brunus), dem Kanzler des Herzogs von Bayern, zusammengearbeitet hatte, beigefügt wurde. Der Autor bietet eine interessante, durchweg politische Interpretation der Commentaria als historisches Werk: geschichtliche Kenntnisse unterstützen den Fürsten in erster Linie darin, sich davor zu hüten, dem Volk die tribunicia potestas (eine mögliche Anspielung auf die von den protestantischen Ständen des Reiches geforderte Toleranz) zuzugestehen, die Häresien zu tolerieren oder das Abhalten von Religionsgesprächen zu gestatten (ein Rat, den die Fürsten, so bedauert er, „minime amplectentur“) und motivieren ihn dazu, unverzüglich zum Schutze des Glaubens die Bestimmungen der kirchlichen Autoritäten auszuführen. Vgl. K. Braun, De ratione scribendi historias, in Cochlaeus, Commentaria de actis et scriptis Martini Lutheri, o.S. [aber 8 – 12], besonders 8 – 10. Zu Braun vgl. R. Bäumer, „Konrad Braun (1491– 1563)“, in Katholische Theologen, Hg. E. Iserloh (Münster, 1988): 5:115 – 136. Über Cochlaeus’ Misstrauen gegenüber den von Karl V. unternommenen Einigungsversuchen siehe Bäumers wohlwollende Darstellung „Die Religionspolitik Karls V. im Urteil der Lutherkommentare des Johannes Cochlaeus“, in Politik und Konfession. Festschrift für Konrad Repgen zum 60. Geburtstag, Hg. D. Albrecht, H.G. Hockerts und P. Mikat (Berlin, 1983): 31– 47. Zur Kompositionsgeschichte der Commentaria vgl. A. Herte, Die Lutherkommentare des Johannes Cochläus. Kritische Studie zur Geschichtsschreibung im Zeitalter der Glaubensspaltung (Münster, 1935), 1 ff. Der Umstand, dass die Erzählung vom Jahr 1535 an deutlich gedrängter ist, lässt sich mit dem Druck erklären, dass Cochlaeus die erst bis 1534 fertiggestellte Arbeit abschließen muss, während er gerade (1546) beim Religionsgespräch in Regensburg weilt. Die Commentaria erreichen 1562 in Paris eine zweite und 1568 in Köln eine dritte Auflage. 1582 erscheint in Ingolstadt eine deutsche Übersetzung. So Lortz, La Riforma in Germania, 2:191 ff.; E. Iserloh, „Gli oppositori letterari di Lutero di parte cattolica e la Riforma“, in Storia della Chiesa, Bd. VI: Riforma e Controriforma, Hg. H. Jedin, (Mailand, 1975 [1967]): 229 ff.
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Weiterführende Nachforschungen haben ergeben, dass sich vor allem zwei Zentren in besonderem Maße der Aufgabe einer Reaktion auf die Reformation gestellt haben: Einerseits Bayern zur Zeit des Herzogs Wilhelm IV. des Standhaften von Wittelsbach, der – wenn auch erst zu bereits fortgeschrittener Zeit (1522) – unter der Anleitung Johannes Ecks die Schriften Luthers überwachen und ihre Verbreitung unterbinden lässt. Andererseits und vor allem das albertinische Sachsen unter Herzog Georg dem Bärtigen; dieses Gebiet war das wichtigste Zentrum für die Frühphase des Kampfes gegen das Luthertum: hier wirken Hieronymus Emser, der Kaplan und persönliche Sekretär des Herzogs, Augustin Alvelt und Cochlaeus, und später Julius Pflug, Georg Witzel, sowie Autoren zweiten Ranges wie Wolfgang Wulffer, Franz Arnoldi, Henning Pyrgallius (Feuerhahn) und Gregor Laticephalus (Breitkopf).⁵¹ Erwähnenswert ist, dass viele dieser Autoren ihre Werke in Emsers persönlicher Druckerei drucken ließen, so beispielsweise auch Petrus Sylvius (Forst), der schon recht früh Luther als Vorläufer des Antichristen bezeichnete (Antichristus mixtus, Vermischter Antichrist, in einer Übersetzung von Vincenzo Ferrers Predigt De fine mundi von 1524) und dessen Feder auch die Lettera alle autorità della nazione germanica (Missive ader Sendbriff an die Christliche Versammlunge und szonderlich an die Oberkeit Deutscher Nation) von 1525 entsprungen ist, welche den Ausbruch des Bauernkrieges mit Luthers Thesen zu den Themen gerechtmachender Glaube und Schriftauslegung in Verbindung bringt.⁵² Was diesen Autoren fehlte, war nicht so sehr die Fähigkeit, einen festen sozialen und institutionellen Zusammenhalt zu befördern, sondern vielmehr die Fähigkeit, das gesamte sich hinter den neuen Thesen Luthers und der anderen frühen Reformatoren entwickelnde theologische Gedankengebäude in aller Tiefe zu verstehen. Zugegeben, was Luthers Gegner in Schwierigkeiten bringt, ist die Methode des Wittenberger Theologen selbst, der jegliche scholastischen Systematisierungsversuche verwirft, um sich Predigten, Abhandlungen und inspiriert anmutenden Appellen zu widmen. Ein weiterer Grund ist die schnelle und scheinbar ungeordnete Entwicklung seines Denkens ab 1520.⁵³ Zudem zwang auch der Umstand, dass der Streit um die verschiedenen Meinungen mittels Flugschriften geführt wurde – eine Art des Meinungsaustausches, die von hier ihren Ausgang nahm und bis zum Ende des Zeitalters der Konfessionskämpfe in Gebrauch sein sollte –, eher zu überhasteten Aktionen führte als dass er sorgfältige Analysen befördert hätte. Auf den Appell An den christlichen Adel deutscher Nation im August 1520 antwortet Emser mit einem ebenfalls an ein Laienpublikum gerichtetes
G. Schwaiger, „Die Religionspolitik der Bayerischen Herzöge im 16. Jahrhundert“, in Johannes Eck (1486 – 1543) im Streit der Jahrhunderte, Hg. E. Iserloh (Münster, 1988): 250 – 274; H. Smolinsky, Augustin von Alveldt und Hieronymus Emser. Eine Untersuchung zur Kontroverstheologie der frühen Reformationszeit im Herzogtum Sachsen (Münster, 1983), 337 ff. Smolinsky, Augustin von Alveldt, 346 ff. J. Lortz, „Wert und Grenzen der katholischen Kontroverstheologie in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts“, in Um Reform und Reformation. Zur Frage nach dem Wesen des „Reformatorischen“ bei Martin Luther, Hg. August Franzen (Münster, 1968): 9 – 32.
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Pamphlet; darauf folgt nun wiederum eine Antwort Luthers, An den Bock zu Leipzig (Emsers Wappentier ist ein Widder) und die Gegenantwort Emsers, An den Stier zu Wittenberg; es sollten noch weitere Schriften folgen, sodass bis November 1521 fünf Schriften vonseiten Luthers und sechs vonseiten seines Gegners zu verzeichnen sind.⁵⁴ Die frühen Kontroverstheologen wählten zunächst den einfachsten Weg: Luther Punkt für Punkt zu widerlegen, dessen Widersprüchlichkeiten aufzuzeigen, sowie die Abweichungen und verfälschenden Übersetzungen herauszustellen, wie beispielsweise im Fall der durch Emser auf Basis des Textes des Reformators überarbeiteten Neuausgabe des Neuen Testamentes auf Deutsch.⁵⁵ Viele dieser Werke sind der Widerlegung zentraler Punkte der lutherischen Theologie gewidmet, wie z. B. Cochlaeus’ bereits zitierte Schrift Adversus cucullatum Minotaurum und die Assertio septem sacramentorum von Heinrich VIII., die sich beide mit der Sakramentenlehre auseinandersetzen, sowie Fabris Malleus in haeresim Lutheranam (1524) über die Macht des Papstes, oder aber John Fishers Verteidigung des Weihesakraments unter dem Titel Sacri sacerdotii defensio (1525). Das Enchiridion locorum communium adversus Lutheranos (1525) ist wahrscheinlich die erste polemische Schrift, welche die entstehende reformatorische Lehre in ihren verschiedenen Ausdrucksweisen berücksichtigt, wenngleich sie sich damit zurückhält, die Themen in allzu weit gehender Tiefe zu behandeln. Eck verfasste sie in den Monaten vor dem Regensburger Konvent im Juni/Juli 1524, als er sich zusammen mit Cochlaeus, Faber und Friedrich Nausea gewissermaßen im Schlepptau des Legaten Lorenzo Campeggi befand. Gedacht war die Schrift ganz bewusst als argumentatives Waffenarsenal für Kontroverstheologen.⁵⁶ In dieser Frühphase der Kontroversistik haben wir es auf jeden Fall mit einer diffusen und wenig wirkungsvollen Methode zu tun; dabei jagten die katholischen Autoren Luther sozusagen nach und machten ausgiebigen Gebrauch von aus dem Kontext gerissenen Ausschnitten seiner Schriften, um auf diese Weise deren Diskus-
Smolinsky, Augustin von Alveldt, 238 ff. H. Smolinsky, „Streit um die Exegese? Die Funktion des Schriftargumentes in der Kontroverstheologie des Hieronymus Emser“, in Zum Gedenken an Joseph Lortz, Hg. Decot und Vinke: 359 – 375. P. Fraenkel, „Einleitung“, in Enchiridion locorum communium, Eck: 7* – 59*, besonders 13*ff.; N.H. Minnich, „On the Origins of Eck’s ,Enchiridion‘“, in Iserloh Hg., Johannes Eck (1486 – 1543) im Streit der Jahrhunderte: 37– 73. Das Werk wurde vom Autor bis 1543 in weiteren neun überarbeiteten Fassungen veröffentlicht und erreichte noch im 16. Jahrhundert einen Neudruck mit einer Auflage von 90 Exemplaren. Neben diesem Text ist ein anderes weit verbreitetes Enchiridion zu erwähnen: Johannes Gropper veröffentlichte 1538 die Institutio compendiaria doctrinae in concilio provinciali pollicita, eine Sammlung von Dokumenten der Provinzsynode von Köln, welche Gropper im Auftrag des Bischofs Hermann von Wied anlegte. Siehe H. Filser, Ekklesiologie und Sakramentenlehre des Kardinals Johannes Gropper. Eine Glaubenslehre zwischen Irenik und Kontroverstheologie im Zeitalter der Reformation (Münster, 1995), 55 ff.
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sion in der Öffentlichkeit zu legitimieren und zu befördern. Diesen Ansatz sollte die spätere Kontroversistik jedoch ganz bewusst nicht weiterverfolgen.⁵⁷ Die klügsten Köpfe waren sich sofort der Tragweite der Konsequenzen der Thesen des sächsischen Mönches bewusst. Beim Gespräch mit Luther Mitte Oktober 1518 war Kardinal Cajetan sehr wohl klar, dass er es mit den Grundzügen einer im Entstehen begriffenen „nuova teologia“ zu tun hatte, und ihm Jahr darauf bezeichnete Emser (dieses Mal unter dem nom de plume ‚Steinbock‘) den Reformator in seiner Schrift A venatione Lutherana Aegocerotis assertio mehrfach als „theologus novus“.⁵⁸ Einige der von den Kontroverstheologen identifizierten Kernbestandteile der neuen Theologie wurden so rezipiert (oder zumindest dargelegt), dass dabei die allgemeine theologische Bedeutung im Dunkeln blieb, weil man sich stattdessen mehr auf die Prämissen und Schlussfolgerungen konzentrierte. So wurde beispielsweise das Thema der Rechtfertigung allein aus Gnaden hauptsächlich als Angriff auf die Beichte und die priesterliche Schlüsselgewalt abgestempelt (so z. B. in Cochlaeus’ Commentaria oder in Castros Adversus omnes haereses), während das Prinzip sola scriptura als Folge des Hochmutes Luthers und seiner Weigerung, sich der Tradition zu unterwerfen, gedeutet wird.⁵⁹ Auf eine Abhandlung, welche die methodischen Prämissen des Luthertums, seine Schlussfolgerungen hinsichtlich der Lehre und das vielfältige Erbe seines Gründers in zufriedenstellendem Maße berücksichtigt, muss man wohl bis zum Jahr 1558 warten, in welchem Staphylus’ bereits erwähnte Trimembris epitome veröffentlicht wurde. Oder anders ausgedrückt: es brauchte wohl – nicht von ungefähr – den analytischen Blick eines Überläufers, der zehn Jahre lang in Wittenberg Seite an Seite mit Melanchthon an der Übersetzung von Diodorus Siculus gearbeitet hatte. Staphylus’ Interpretation der evangelischen Lehre orientiert sich an folgendem grundsätzlichen Interpretationsmuster: Martinus Lutherus ut ingenii, sic doli plenus, cum novam theologiae formam meditaretur, intelligebat omnem theologicae scientiae facultatem rectissime partiri in formam et materiem, et in agendi potestatem. Quod ad formam attinebat, communia principia et axiomata ante semper usurpata a theologis, labefecit initio, mox explosit etiam ex scholis et templis; substituitque nova quaedam principia tanquam dialectica praedicamenta, sedesque topicas argumentorum: unde quoties disceptandum fuit, rationes desumi possent. […] Deinde materies sequitur, tanquam sylva
Bäumer, Johannes Cochlaeus (1470 – 1552). Leben und Werk, 102– 103 beispielsweise zählt in Cochlaeus’ Commentaria 140 Zitate von Luther und 40 von anderen reformatorischen Autoren, unter denen sich u. a. lange Ausschnitte aus De servo arbitrio befinden. Auf einen vergleichbaren Ansatz weist Silvano Cavazza hin: der Franziskaner Giovanni da Fano gibt in seiner Opera utilissima volgare contra le pernitiosissime heresie lutherane per li simplici von 1532 komplette Abschnitte aus Luthers Assertio omnium articulorum wieder, die er John Fishers Confutatio entnimmt. B. Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang (Göttingen, 1995), 128 ff.; H. Emser, A venatione Lutherana Aegocerotis assertio, in ders., De disputatione Lipsicensi, quantum ad Boemos obiter deflexa est (1519), CCath 4, 45 – 99, 45 ff. Körsgen-Wiedeburg, Das Bild Martin Luthers, 171 ff.
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quaestionum theologicarum, quas ipse Lutherus partim novas introduxit, partim ab antiquis haereticis potissimum mutuatus est.⁶⁰
Auf zehn topica praedicamenta Luthers (geordnete theologische loci zu den Quellen des Glaubens und der regula fidei) und ebenso viele „metaphysica“ Abschnitte der Confessio Augustana (vorgeblich auf der katholischen Syllogismuslehre beruhende Schlussfolgerungen, die freilich in Staphylus’ Augen einer ausreichenden Begründung ermangeln) folgen die „materia“ der lutherischen Theologie, bzw. die in fünf Abschnitte unterteilten Glaubensartikel (Mensch, Sakramente, Kirche, weltliche Obrigkeit, Erbe der Kirche), welche den Werken der reformatorischen Theologen entnommen worden sind, um deren Widersprüche und Meinungsverschiedenheiten herauszustellen, und schließlich, im dritten Teil des Werkes, die oben schon erwähnte Darstellung der im Laufe der Zeit entstandenen häretischen Untergruppierungen. Eine derartige Gliederung mit einer solchen Klarheit und präzisen Darstellungsweise ist bereits ein Vorbote für die kontroverstheologische Methodik nachfolgender Generationen: sie ist aber, wohlgemerkt, das Produkt der Geschichte des konfessionellen Streites, der persönlichen Geschichte des Autors und der Konflikte innerhalb des Luthertums selbst.
4 Hus, die Türken und der Antichrist Vor dem Augsburger Religionsfrieden ist sicherlich Jan Hus, den man als großen spätmittelalterlichen Häretiker der Kirche in Erinnerung hat, das vorrangige Gravitationszentrum für die Interpretation der lutherischen Häresie. In der Tat ist der Hussitismus für die Kontroverstheologen dieser Epoche die einzige Ressource, die ihnen für eine Analyse der Entstehung des Phänomens des Luthertums anhand bereits bekannter Kategorien zur Verfügung steht. Als eine solche vorrangige Ressource fungierte der Hussitismus bis ungefähr Mitte des Jahrhunderts; auch danach jedoch nahm man gelegentlich weiter darauf Bezug: so rechtfertigen beispielsweise die Kompilatoren der Annales ecclesiastici noch Mitte des 17. Jahrhunderts den vielen Raum, den sie Jan Hus widmen, mit dem Umstand, dass dieser wegen der ihm in Konstanz vorgehaltenen Anklagen der „magister Lutheri et alii impiorum“ sei: die Leugnung der Transsubstantiation und der Fortdauer der Substanz des Brotes nach
Staphylus, Theologiae Martini Lutheri trimembris epitome, 13r („Argumentum libri“). Vgl. Amann, „Friedrich Staphylus“, Dictionnaire de théologie; H. Tüchle, „Erste Versuche der katholischen Wiedererneuerung in Schlesien“, in Reformata reformanda, Festgabe für Hubert Jedin zum 17. Juni 1965, Hg. E. Iserloh und K. Repgen (Münster, 1965): 2:114– 129; Bundschuh, Das Wormser Religionsgespräch von 1557, 546 ff. Nach seiner Konversion im Jahre 1552 war Staphylus religionspolitischer Berater des Königs von Böhmen (Ferdinand von Habsburg) und des Bischofs von Breslau. Als solcher setzte er sich für eine strikte Aufsicht über die Verbreitung reformatorischer Schriften und den Austausch evangelischer Pfarrer ein.
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der Konsekration, diverse Irrtümer hinsichtlich des Weihesakraments, das Verachten der kirchlichen Hierarchie sowie ihrer Lehrentscheidungen und die Lehre von der unsichtbaren Kirche.⁶¹ Aus diesem Grund verweist Rinaldi ausführlich auf Cochlaeus, welcher derjenige ist, der die Vorstellung von der Reformation als einer natürlichen Fortsetzung der hussitischen Bewegung kanonisierte: Cochlaeus publizierte – kurz nach den Commentaria, aber noch im selben Jahr (1549) – eine Historia Hussitarum – derselbe Autor, dieselbe Drucktype, dasselbe Layout –, welche implizit ebendiese grundlegende Annahme zu begründen versucht. Deutlich macht dies besonders Konrad Braun, der Verfasser des Vorwortes zu den Commentaria: Utilitatem harum historiarum, cum ex multis aliis, tum ex eo maxime metimur: quia in his propositis duorum haeresiarcharum exemplis, Ioanne Hus et Martino Luthero, velut in speculo contemplamur, quae sit natura, et quae causae haeresum: qui haereticorum mores, quae ex his blasphemiae, sacrilegia, calumniae, et iniustae persequutiones, crudelitates et immanitates, quas variis modis in catholicos exercent, et innumera alia id genus mala et incommoda enascantur.⁶²
Zugegebenermaßen hatte man den Augustinermönch und den böhmischen Häretiker schon in der Entstehungszeit der Reformation miteinander in Verbindung gebracht: bereits im Jahre 1518 skizzieren Tetzel in seinen Fünfzig positiones und Eck in seinen Obelisci diese Parallele; zwei Jahre danach bezieht sich die Exkommunikationsbulle Exsurge Domine auf die vorausgegangenen Verdammungen der „haeresim etiam Graecorum et Bohemicam“ durch die Konzilien und den Apostolischen Stuhl;⁶³ und im Jahre 1521 spricht John Clerk, der Botschafter Heinrichs VIII., im Rahmen einer Privataudienz beim Papst zur Übergabe der Assertio septem sacramentorum von Böhmen als der „mater et nutrix“ der lutherischen Häresie.⁶⁴ Das tatsächliche Gewicht der Aussagen und der umwälzenden Überlegungen Luthers, der Inhalt der ihm von seinen Gegnern heimlich, still und leise zugeschriebenen Thesen und die Anziehungskraft, welche die hussitische Bewegung – vor allem durch den radikalen Flügel der Bewegung, die Brüderunität, im starken Kontrast zur utraquistischen Mehrheit – angesichts der religiösen Verunsicherung zu Anfang des 16. Jahrhunderts auf Zentraleuropa ausübte, überlagern sich bei näherer Betrachtung und sind schwer auseinanderzuhalten.
Rinaldi, Annales ecclesiastici, 8:422 ff. (ad ann. 1415). Braun, De ratione scribendi, 11v-12r: „Utilitatem harum historiarum, cum ex multis aliis, tum ex eo maxime metimur: quia in his propositis duorum haeresiarcharum exemplis, Ioanne Hus et Martino Luthero, velut in speculo contemplamur, quae sit natura, et quae causae haeresum: qui haereticorum mores, quae ex his blasphemiae, sacrilegia, calumniae, et iniustae persequutiones, crudelitates et immanitates, quas variis modis in catholicos exercent, et innumera alia id genus mala et incommoda enascantur“. Vgl. J. Cochlaeus, Historiae Hussitarum libri XII (Mainz, 1549). Siehe den Text der Bulle in Fabisch, Iserloh Hg., Dokumente zur Causa Lutheri, Bd. 2: Vom Augsburger Reichstag 1518 bis zum Wormser Edikt 1521 (Münster, 1991), 364– 411, 368. Heinrich VIII, Assertio septem sacramentorum, 107– 113, 109.
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Im Rahmen der Leipziger Disputation missbilligte der Wittenberger Theologe bekanntermaßen öffentlich Hus’ Verurteilung auf dem Konzil zu Konstanz und veröffentlichte noch im selben Jahr, 1519, eine Predigt mit dem Titel Ein Sermon von dem hochwürdigen Sakrament des heiligen wahren Leichnams Christi, worin er den Wunsch ausspricht, ein Konzil möge den Laien die Kommunion des Kelches gewähren. Herzog Georg der Bärtige von Sachsen las in das Schreiben instinktiv eine bedrohliche „Pregisch“ Stimmung hinein und beauftragte, vermittelt durch den Ordinarius von Merseburg, Alvelt, eine Antwort darauf anzufertigen: diese erschien im Sommer 1520 unter dem Titel Tractatus de communione sub utraque specie quantum ad laicos und sollte wiederum im Rahmen von Luthers De captivitate Babylonica Ecclesiae eine Gegenantwort erfahren. Alvelt beschuldigte Luther des Utraquismus, welcher den Kelch für heilsnotwendig hält, was der Reformator selbst jedoch niemals behauptet hat: bei der Anklage handelt es sich folglich entweder um ein Missverständnis oder aber, wie Heribert Smolinsky suggeriert, um einen ganz bewussten Versuch, im Leser unmittelbar den Eindruck entstehen zu lassen, dass Luther Hus sehr nahe ist.⁶⁵ Dieselben polemischen Mittel hatte kurz vorher übrigens auch Emser in seinem Bericht über die Leipziger Disputation verwendet, den er in Briefform an Johann Zack, den Administrator der Diözese Prag, gesandt hatte. Darin hatte Emser der Überzeugung widersprochen, man könne Luther mit vollem Recht einen Verteidiger („Theseus“) der Hussiten nennen – was letztere von Anfang an für sich beansprucht hatten –, da jener ihren Abfall von der katholischen Kirche missbilligt hatte. Mit boshafter Absicht jedoch hatte Emser betont, dass sowohl die Hussiten als auch Luther das Papsttum gleichermaßen als eine Einrichtung menschlichen und nicht göttlichen Rechtes ansahen, was den Augustinermönch implizit zu einer Stellungnahme diesbezüglich herausforderte.⁶⁶ Noch im selben Jahr allerdings (1519) begann Luther damit, Kontakte zu den Hussiten, besonders zu ihrem radikaleren Flügel, zur Brüderunität unter der Leitung von Lukas von Prag, zu pflegen, nicht jedoch ohne letzteren gleichzeitig mit größerer Vorsicht zu begegnen.⁶⁷ Zudem kursierte in der reformatorischen Bewegung – schon zur Zeit der Vorladung Luthers nach Worms, bis hin zur endgültigen ,Heiligsprechung‘ Luthers im Zuge von dessen Begräbnisfeier – die Vorstellung, Hus habe auf dem Scheiterhaufen geweissagt, nach seinem Tod würde ein wahrhaftiger evangelischer Gesandter kommen.⁶⁸ Wie nun soll man bei all dem in der Phase der Herausbildung der lutherischen Theologie gegenstandslose Anschuldigungen, zweifelhafte Zuschreibungen und echte Übereinstimmungen voneinander unterscheiden?
Smolinsky, Augustin von Alveldt, 105 ff. Emser, De disputatione Lipsicensi, 36: „Quod autem nominatim idem Martinus, cum dicto Ioanne [Hus], Summi pontificis principatum humanis rebus subiicere et a Deo non esse contendit, adhuc in herba, vel […] adhuc sub iudice lis est. Et Martinus ipse […] non tanta tamen animum obstinatione devovit, ut si ratio rationem redarguat, cedere non velit“. Vgl. Smolinsky, Augustin von Alveldt, 227 ff. S.H. Thomson, „Luther and Bohemia“, Archiv für Reformationsgeschichte 44 (1953): 160 – 181. Scribner, Incombustible Luther.
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Es bleibt in jedem Fall festzustellen, dass sich die Kontroverstheologen die Verbindung zwischen Luther und der hussitischen Bewegung für eine Deutung der Geschichte zunutze machen: entweder als eine Erklärung der Ursachen für die Reformation oder aber als eine Erläuterung der Beweggründe für eine Verwandlung der Beschwerde eines Mönches in die Gründung einer neuen Kirche und den Beginn eines allgemeinen Religionsstreites. So seltsam dies auch scheinen mag – selbst wenn dies keineswegs seltsam ist, da es ja die Aufgabe der Kontroverstheologie ist, Fehler zu verdammen und nicht etwa, sie zu verstehen –, die bisher behandelten Autoren weichen fast durchweg der Frage nach dem Erfolg der protestantischen Bewegung aus. Dies gilt selbst für Cochlaeus, dessen Commentaria sich doch explizit als ein historiographischer Bericht stilisieren, und die nicht davor zurückscheuen, die Last der Forderungen „quibus Romana Curia Germaniam gravare videbatur“ anzuerkennen.⁶⁹ Allein das Schwinden einer christlichen Zucht findet bei einigen Autoren Erwähnung, z. B. bei Eck (welcher den topos der Mahumetica libertas, einer den Muslimen zugeschriebenen sexuellen Freizügigkeit, wiederaufnimmt) und bei Alfonso de Castro.⁷⁰ Im Übrigen sollte eine historische Lesart des Phänomens Protestantismus noch bis Mitte des 19. Jahrhunderts auf sich warten lassen; zu diesem Zeitpunkt hatte das revolutionäre Trauma das katholische Denken zu einer tiefgehenden Interpretation der jüngsten Vergangenheit genötigt und die Abfolge Reformation – Revolution war, dank Augustin Barruel, zu einem hermeneutischen Grundprinzip der politischen Moderne geworden. Ein Beispiel dafür findet sich in der Erstausgabe der „Civiltà cattolica“, worin Pater Matteo Liberatore die Dringlichkeit dieser Interpretation im Lichte des Verhältnisses des Protestantismus zum Rationalismus, „der sich von diesem durchaus höchstens so unterscheidet wie das Tier vom Embryo“, interpretiert. Ursprung der Häresie ist also erneut eine im Menschen verankerte Untugend, diesmal allerdings nicht eine moralische, sondern eine intellektuelle Untugend, der „freie Gebrauch der Vernunft“ – was jedoch wiederum auf ein universales und metageschichtliches Element verweist, wie ja im Übrigen auch die Legitimität der römischen Kirche eine universale und metageschichtliche ist: Se la causa dee almen pareggiar l’effetto, la vera causa di quell’incendio dovett’essere qualche cosa di universale e costante nell’uomo […]. Questa per quanto ti lambicchi la mente e ti travagli in discorsi, non troverai poter essere altro che l’orgoglio della ragione impaziente del giogo che la rivelazione imponevale, e vaga di reggersi da sé medesima.⁷¹
So beispielsweise in der Beschreibung von Ulrich von Huttens Übertritt zur Reformation, Cochlaeus, Commentaria de actis et scriptis Martini Lutheri, 21. Eck, Enchiridion locorum communium, 8; de Castro, Adversus omnes haereses, 21r. [M. Liberatore], „Razionalismo politico della rivoluzione italiana“, La civiltà cattolica 1/1 (1850): 53 – 73, hier 59 [Übersetzung B. Jetter]. Zur Position Liberatores sowie der anderen Publizisten und Theologen der erneuerten Societas Jesu siehe Miccoli, „L’avarizia e l’orgoglio di un frate laido…“: XVIIIff.
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Angesichts der Schwierigkeit, den Anfängen und der Entwicklung der Reformation historische Tiefe zu verleihen, muss darauf hingewiesen werden, dass die Kontroverstheologen eine eschatologische Hermeneutik benutzten. Die Vorstellung von Luther als Gestalt des Antichristen kommt in der katholischen Kontroverstheologie erst zu einem relativ späten Zeitpunkt auf und hat ihre Bedeutung darin, dass sie die internen und die externen Feinde der Christenheit, d. h. die Hussiten oder Türken, verbindet. Emser ist derjenige, der dies in seiner Assertio aus dem Jahre 1519 vorweggenommen hat – wenngleich auch nur als ein Eindruck und augenscheinlich ohne sonderlich präzisierten hermeneutischen Rahmen: „Dieser neue Theologe zieht, wie ein vom Himmel gefallener Drache, beinahe ein Drittel der Sterne mit sich. […] Die Böhmen küssen ihn unverzüglich und möglicherweise werden auch die Türken kommen und ihm Geschenke bringen“.⁷² Ausgehend von dort wird dieser suggestive Eindruck in der Assertio Heinrichs VIII. aufgenommen, welcher, zu einem entschiedenen Vorgehen gegen Luther auffordernd, daran erinnert, dass die „Turchica […] rabies“ zu Meer und zu Lande tobe, nachdem sie „a duobus […] nebulonibus“ (Mohammed, sowie Sergius der Mönch, dem eine mittelalterliche Tradition die wahrhaftige Urheberschaft des Korans zuschrieb) ihren Ausgang genommen habe. Zudem weist er auf die „factionem Bohemicam“ hin, „Quae et ipsa quis nescit e quam exiguo vermiculo in quam immanem draconem haud absque magno Germaniae malo“.⁷³ Eck sollte später in seinem Enchiridion wieder auf die Disputation mit Luther und Karlstadt in Leipzig zurückkommen; darin erinnert er sich daran, „cum ipso draconis capite“ gekämpft zu haben.⁷⁴ Auch wegen der ‚skandalösen‘ Aussagen zum Kreuzzug verzeichnete die polemische Parallelisierung von Luther und den Türken einen großen Erfolg. Vom Regensburger Prediger Caspar Macer ist eine Schrift aus dem Jahre 1570 mit dem Titel Turcico-Lutherus überliefert, worin ausgewählte Abschnitte aus dem Koran und aus dem Werk des Reformators nebeneinandergestellt werden, um deren Verwandtschaft in der Lehre herauszustellen; vom Jesuiten Nicolaus Serarius ist eine Sammlung von sechs Lutheroturcicae orationes aus den 90er Jahren des 16. Jahrhunderts erhalten, welche den Aufruf zum Kreuzzug gegen die Türken mit einem Aufruf zum Kampf gegen die Häresie verbinden.⁷⁵ In der fünften seiner umfangreichen und äußerst ge Der Verweis auf den Drachen basiert auf Offb 12,4 ff. [Übersetzung B. Jetter]. Heinrich VIII., Assertio septem sacramentorum, 236 – 237: „Quod si quis forte non credat ab uno homine nihil tantum unquam periculi nasci posse, huic in mentem velim subeat Turchica illa rabies, quae quum nunc tot per terras et maria se diffundens maximam ac pulcherrimam totius orbi partem occuparit, a duobus olim nebulonibus sumpsit initium – ut interim taceam factionem Bohemicam. Quae et ipsa quis nescit e quam exiguo vermiculo in quam immanem draconem haud absque magno Germaniae malo quam propere adolevit?“. Der Abschnitt wird später auch wortwörtlich bei Cochlaeus zitiert: Cochlaeus, Commentaria de actis et scriptis Martini Lutheri, 70. Eck, Enchiridion locorum communium, 9. C. Macer, Turcico-Lutherus (Ingolstadt, 1570); N. Serarius, Lutheroturcicae orationes, (Mainz, 1604). Vgl. Ders., l’Oratio quarta, 152.
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waltsamen Centuriae, welche dem „ganzt Handel Anfang Lebens und Todts“ Luthers gewidmet ist, bietet der Franziskaner Johannes Nas eine astrologische Interpretation dieses apokalyptischen Rahmens: zum Zeitpunkt der Geburt des Häretikers, am 10. November 1483, war am Himmel eine unheilbringende Sternenkonstellation zu beobachten, welche „ein solche änderung in der Christenhait angefangen dergleichen nit geschehen seyt des Münch Sergii“ begünstigte und welche durch den Abfall vom Glauben und das von Paulus im zweiten Thessalonicherbrief beschriebene Auftreten falscher Propheten (2 Thess 2,2) die Ankunft des Antichrist antizipierte.⁷⁶ Diese Zusammenstellung apokalyptischer Themen führte schließlich im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts zu einer kohärenten Auslegung Luthers und der Reformation: die Kontroverstheologie nahm die Herausforderung an, im Rahmen einer Gesamtinterpretation der bereits weitgehend vollzogenen konfessionellen Spaltung die verschiedenen Ausprägungen der häretischen Bewegung zu rekonstruieren, die zwar plural und widersprüchlich, niemals jedoch völlig von der Erinnerung an ihre Gründergestalt losgelöst war. Das beste Beispiel für diesen hermeneutischen Schlüssel ist Bellarmins Streitschrift De Summo pontifice, die auf den zwischen 1577 und 1578 am Collegium Romanum gehaltenen Vorlesungen basiert: in seiner Abhandlung von der Vision des Johannes vom Kommen des Antichristen vertritt der Jesuit die Meinung, das Luthertum sei mit der fünften Posaune des Engels aus Offb 9,1 ff. zu identifizieren, die dem Kommen des Antichristen vorausgehe: I cattolici identificano nella sesta tromba la persecuzione dell’Anticristo, che sarà effettivamente l’ultima e la peggiore; nella quinta l’eresia grandemente dannosa che precederà i tempi dell’Anticristo, e che molti, con ottima probabilità, ritengono essere l’eresia luterana.⁷⁷
Wir haben es hier mit einer sehr konsequenten Interpretation zu tun, die den Beginn der Reformation im Rahmen einer Diagnose der Gegenwart als bereits eschatologischer, dem Kommen des Antichristen vorausgehender Zeit verortet, wobei Bellarmin sich davor hütet, Voraussagen zur Zeit sowie zur Art und Weise eines solchen Kommens zu treffen, und so jeglichem Abschweifen ins Prophetische einen Riegel vor-
J. Nas, Centuria quinta, das ist das fünfft Hundert der Evangelischen Wahrheit: darin mit fleiss beschriben wird der ganzt Handel Anfang Lebens und Todts des thewren Manns D. Martin Luthers (Ingolstadt, 1570), 3v: „Diser [Luther] wie der gantze Welt bewist, hat ein solche änderung in der Christenhait angefangen dergleichen nit geschehen seyt des Münch Sergii welcher zu Constantinopel im Kloster zu einem Ketzer wardt und die Nestorischen Irrthumb mit Disputiren beschützet aber wurt veriagt“. Das Thema der unheilbringenden Konstellation war wenige Jahre zuvor (1565) durch die Pariser Ausgabe der Commentaria des Cochlaeus aufgebracht worden: Herte, Das katholische Lutherbild, 1:56. Bellarmin, Disputationes de controversiis christianae fidei, 1:383 (controversia „De Summo pontifice“): „Catholici per sextam tubam intelligunt Antichristi persequutionem, quae vere postrema, et gravissima erit: per quintam autem, haeresim aliquam valde perniciosam, quae Antichristi tempora proxime antecedet, quam quidem esse haeresim Lutheranam multi valde probabiliter coniiciunt“.
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schiebt. Im Übrigen befinden wir uns damit auf dem Höhepunkt der Konfessionsstreitigkeiten, wenige Jahre nach der Seeschlacht von Lepanto, der Exkommunikation Elisabeths I. und der Bartholomäusnacht, sowie mitten in den Anfängen des Niederländischen Aufstandes. Bellarmin selbst sollte später auf diese Lesart, die in den nachfolgenden Jahrzehnten immer weniger Verwendung fand, nicht mehr zurückgreifen: sie fehlt in den kontroverstheologischen Werken des frühen 17. Jahrhunderts und hat keine weiteren Nachwirkungen zu verzeichnen. In den 1648 veröffentlichten Annales ecclesiastici wird die Chronik des Jahres 1517 mit der Eroberung Ägyptens durch die Ottomanen und den erneuerten Bemühungen Papst Leos X. um eine Wiederaufnahme der Kreuzzüge eingeleitet. Um letzteres zu verhindern, „Excitavit [Satana] daemon satellitem suum improbissimum Lutherum pseudoaugustinianum“, der offen die Meinung vertrat, dass „capienda non esse adversus Mahumetanos arma, quod Dei flagellum essent, nec Deo uti eo flagello volenti obsistere deberent homines“.⁷⁸ Die eschatologische Herangehensweise ist offenbar längst aufgegeben worden: Luther ist ein Werkzeug des Teufels, allerdings auf eben dieselbe Weise in der dies auch die anderen Häresiarchen gewesen waren. Seine Besonderheit hat sich nunmehr in einer komplexen religiösen Vielfalt verloren, aus der das Element der Prophetie endgültig verbannt wurde.
Rinaldi, Annales ecclesiastici (1755), 12:174 (ad ann. 1517). Das Zitat im Kontext: „Excitavit daemon satellitem suum improbissimum Lutherum pseudoaugustinianum, ut iisdem diebus, quibus sanctissima superiora consilia a pontifice regumque interpretibus suscepta fuerant, ad novas haereses in Wittembergensi academia adversus sacrarum indulgentiarum, et sacramenti poenitentiae vim dignitatemque diffunderet, discordiaque et bella inter Christianos fereret; adeo ut confirmata postea audacia etiam aperte Mahometis causam adversum Christum defendendam susciperet, palamque diabolica astutia iactarit, capienda non esse adversus Mahumetanos arma, quod Dei flagellum essent, nec Deo uti eo flagello volenti obsistere deberent homines“.
Antonio Gerace
Rechtfertigung durch Glauben
Die Geschichte einer Auseinandersetzung
1 Einführung Die Lehre von der Rechtfertigung hatte für die lutherische Reformation des 16. Jahrhunderts zentrale Bedeutung. Sie galt ihr als der „erste und Hauptartikel“, der zugleich „Lenker und Richter über alle Stücke christlichen Lehre“ sei. Ganz besonders wurde die Rechtfertigungslehre in der reformatorischen Ausprägung und ihrem besonderen Stellenwert gegenüber der römisch-katholischen Theologie und Kirche der damaligen Zeit vertreten und verteidigt, die ihrerseits eine anders geprägte Rechtfertigungslehre vertraten und verteidigten. Hier lag aus reformatorischer Sicht der Kernpunkt aller Auseinandersetzungen. Es kam in den lutherischen Bekenntnisschriften und auf dem Trienter Konzil der römisch-katholischen Kirche zu Lehrverurteilungen, die bis heute gültig sind und kirchentrennende Wirkung haben.¹
Mit diesen Worten beginnt die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre, die am 31. Oktober 1999 von der katholischen und der lutherischen Kirche unterzeichnet wurde. Die Rechtfertigung war – und ist – einer der Hauptgründe für die Spannungen zwischen den beiden Konfessionen. Um die Gründe für diesen Bruch in aller Tiefe zu verstehen, ist es hilfreich, zu erörtern, wie die Lehre in den beiden Kirchen jeweils ausgearbeitet worden ist.² Für den Protestantismus werden einerseits die Schriften Martin Luthers, andererseits die Bekenntnisschriften – von der Confessio Augustana (1530) bis hin zur Formula Concordiae (1577) – herangezogen. Als Hauptquelle für den Katholizismus hingegen dient das Dekret über die Rechtfertigung, das am 13. Januar 1547 vom Konzil von Trient erlassen wurde.³ Bevor jedoch die lutherische und die
Übersetzung: Benedikt Jetter. Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre, online unter: http://www.vatican.va/roman_curia/ pontifical_councils/chrstuni/documents/rc_pc_chrstuni_doc_31101999_cath-luth-official-statement_ge.html (11.03. 2017). Aus Platz- und Zweckmäßigkeitsgründen ist es besser, sich in diesem Beitrag auf die römische und die lutherische Kirche zu konzentrieren, auch wenn es bei den anderen reformatorischen Kirchen ebenfalls interessante Denkansätze zu entdecken gibt. Für eine Gesamtschau der protestantischen Kirchen und ihrer Glaubensbekenntnisse vgl. M. Noll, Confessions and Catechism of the Reformation, Leicester, 1991. Die auf dem Konzil von Trient ausformulierte Lehre sollte später nicht mehr abgeändert werden. Auf ihr gründet die Antwort der katholischen Kirche auf die Gemeinsame Erklärung zwischen der katholischen Kirche und dem Lutherischen Weltbund über die Rechtfertigungslehre, die am 4. Juli 1998 auf Seite 4 im Osservatore Romano erschien. Sie ist online verfügbar unter: http://www.vatican.va/roman_curia/ pontifical_councils/chrstuni/documents/rc_pc_chrstuni_doc_01081998_off-answer-catholic_ge.html (11.03. 2017). Für die Erklärung wie auch für die Antwort vgl. G. Marchesi, „La Dichiarazione Congiunta https://doi.org/9783110498745-044
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katholische Lehre erörtert werden sollen, ist es angebracht, sich kurz mit dem Begriff „Rechtfertigung“ als solchem und daneben auch mit der Rolle, die dieser in seiner Doppelgestalt als „Rechtfertigung durch den Glauben“ und „Rechtfertigung durch Werke“ innerhalb des Christentums eingenommen hat, zu befassen. Um auf die erste Form eingehen zu können, muss diese freilich erst einmal von der zweiten unterschieden werden.
2 Die Anfänge der Auseinandersetzung Der Begriff ‚Rechtfertigung‘ kommt vom lateinischen iustificatio und kann sowohl ‚gerecht machen‘ als auch ‚das Rechte tun‘ bedeuten. Thomas von Aquin macht dies in seiner Summa Theologiae unmissverständlich klar: iustificatio dupliciter dicitur. Uno quidem modo, secundum quod homo fit iustus adipiscens habitum iustitiae. Alio vero modo, secundum quod opera iustitiae operatur, ut secundum hoc iustificatio nihil aliud sit quam iustitiae executio.⁴
Die erste Bedeutung meint die geistliche Erneuerung des Menschen, die allein durch Gott bewirkt wird und die dem Gläubigen in der Zeit nach dem Fall Adams, dessen Sünde der Grund für Christi Kommen auf die Erde ist, die Möglichkeit zur Erlösung bietet. Dank des Glaubens an Jesu Auferstehung kann der Mensch, auch wenn er an und für sich des ewigen Lebens unwürdig ist,⁵ erlöst und gerettet werden. In der zweiten Bedeutung meint der Begriff ‚Rechtfertigung‘ das Tun des Guten. Man wird also im ersten Fall von der Rechtfertigung durch Glauben sprechen, die durch den heilvollen Tod Christi erlangt wird, auf welchen der Gläubige wiederum sein eigenes gläubiges Vertrauen setzt, das dem Menschen von Gott zur Erlösung gegeben worden ist. Demgegenüber geht die Rechtfertigung durch Werke davon aus, dass der Mensch
tra cattolici e luterani sulla dottrina della giustificazione“, in: La Civiltà Cattolica, 150, 4, 1999, 3588, 592– 601. Für den lutherisch/römisch-katholischen Dialog siehe auch P. Holc, Un ampio consenso sulla dottrina della giustificazione: studio sul dialogo teologico cattolico-luterano, Rom, 1999. „Sprechen wir aber von der Rechtfertigung im eigentlichen Sinne, so kann die Gerechtigkeit genommen werden, soweit sie ein Zustand ist oder soweit sie in einer Thätigkeit besteht; also in der Weise daß der Mensch gerecht wird dadurch daß er in sich den Zustand oder die Tugend der Gerechtigkeit erlangt, oder in der Weise, daß jemand die Werke der Gerechtigkeit wirkt und somit Rechtfertigung nichts Anderes ist wie die Ausführung der Gerechtigkeit.“, Thomas von Aquin, „Summa Theologiae“ I,2 q. 100, ar. 12, in Opera Omnia, cura et studio fratrum praedicamentorum, Bd. 7, Rom, 1892, 222 [dt. nach: http://www.unifr.ch/bkv/summa/kapitel221– 12.htm]. Auch in der katholischen Liturgie wird kurz vor der Kommunion daran erinnert, dass der Mensch Gottes, dem sich der Gläubige um der ewigen Erlösung willen ganz anvertraut, unwürdig ist: „Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort und meine Seele wird gesund“. Diese Worte sind nichts anderes als eine leichte Umformulierng der Worte, die der Hauptmann von Kapernaum an Christus richtet: „Herr, ich bin nicht wert, dass du unter mein Dach gehst, sondern sprich nur ein Wort, so wird mein Knecht gesund“ (Mt 8,8).
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mit seinen guten Taten jene Verdienste erwirbt, die zur Erlangung des ewigen Lebens notwendig sind. Demgemäß habe der Mensch im Rahmen der Heilsökonomie nicht nur eine passive Rolle, in der er den Glauben empfängt, sondern auch eine aktive, in der er das Gute vollbringt. So zumindest behauptet es der Katholizismus – im klaren Gegensatz zu den lutherischen Schlagwörtern sola fide, sola gratia und solus Christus, die keinen Spielraum für eine Kooperation von Mensch und Gott gestatten, wie im Folgenden zu sehen sein wird. Sowohl die Rechtfertigung durch Glauben als auch die Rechtfertigung durch Werke kann sich auf Passagen aus dem Neuen Testament stützen, deren unterschiedliche Interpretation die Ursache für die Kirchenspaltung im 16. Jahrhundert war.⁶ Im Sinne der erstgenannten Interpretation sagt Paulus beispielsweise: „Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie vor Gott haben sollen, und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist“ (Röm 3,23 – 24). Der Heidenapostel bekräftigt dies noch mit Nachdruck im Brief an die Epheser: „Denn aus Gnade seid ihr gerettet durch Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es, nicht aus Werken, damit sich nicht jemand rühme“ (Eph 2,8 – 9). Und im Galaterbrief erklärt Paulus: „Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen. Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen“ (Gal 5,4– 5). Paulus scheint also eine klare Linie zu fahren: Der Mensch wird von Gott gerechtfertigt und wird durch ebenden Glauben gerettet, den er umsonst von ihm empfängt. Daher gibt es keinerlei Notwendigkeit, Verdienste zu erwerben. Für das Heil nämlich gilt: „Ist’s aber aus Gnade, so ist’s nicht aufgrund von Werken; sonst wäre Gnade nicht Gnade“ (Röm 11,6). Folglich kann man, „senza incappare in nessuna forzatura storica […] tranquillamente sostenere che le formule della teologia dell’aut-aut, del solus Christus, della sola gratia, della sola fide, sono già ampiamente e largamente documentate nei testi che ci hanno trasmesso quel messaggio paolinico.“⁷ Ein anderer heiliger Autor indes, Jakobus, deckt die Unzulänglichkeit des Glaubens auf: Er stellt sich als „tot in sich selber“ heraus, falls er ohne Werke bleibt, welche ihn erst lebendig machen. Ausschließlich zu diesem einen Zweck, dem Lebendigwerden des Glaubens, wirken der Glaube und die Werke des Menschen zusammen.⁸ Das ‚Tun des Rechten‘ ist die Vollendung des ‚Gerechtfertigt-worden-Seins‘: gerade in den vom Glauben erleuchteten Werken manifestiert sich die Rechtfertigung. Jakobus scheint in seinem Brief also die Anliegen der jüdisch-christlichen Schule bzw. der zur christlichen Botschaft bekehrten Juden aufzunehmen, die sich (noch) nicht von der
Vgl. V. Subilia, La giustificazione per fede, Brescia, 1976, 39. Ebd., 46. „Was hilft’s, Brüder und Schwestern, wenn jemand sagt, er habe Glauben, und hat doch keine Werke? Kann denn der Glaube ihn selig machen? […] So seht ihr nun, dass der Mensch durch Werke gerecht wird, nicht durch Glauben allein“ (Jak 2,14– 24).
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pharisäischen Orthopraxie losgelöst hatten.⁹ Diese Tradition sah nämlich im rechten Handeln, d. h. im Befolgen der mosaischen Vorschriften, die einzige Möglichkeit, den Bund mit JHWH zu bewahren.¹⁰ Luther jedoch sollte später Zweifel an der Autorität dieses Briefes haben, und so bezeichnete er ihn als ‚stroherne Epistel‘, weil er im Widerspruch zu der von Paulus beschriebenen Rechtfertigung aus Glauben stehe.¹¹ Unter diesen Voraussetzungen käme eine Darstellung der Rechtfertigungslehre Folgendem gleich: „tracciare la storia di due tendenze opposte che non hanno mai prevalso totalmente una sull’altra e che hanno dovuto convivere ripiegando in un costante compromesso.“¹² Dies jedoch ist nicht immer gelungen. Ganz im Gegenteil: schon in den ersten Jahrhunderten ist innerhalb des Christentums ein schwerwiegender Bruch auszumachen: die Ablehnung des Pelagianismus. Dessen Begründer, Pelagius (354– 420), hielt es für möglich, allein durch die mittels der Werke erworbenen Verdienste gerettet zu werden. In den Augen des britischen Mönches ist der Mensch nämlich nicht in der Erbsünde gefangen, weswegen es zur Erlösung nicht der Gnade bedarf. Derartige Lehren wurden von Augustin hart bekämpft und schließlich auf dem Konzil von Karthago im Jahre 411 verworfen.¹³
3 Die Ankunft Luthers und die Veränderung Europas Der unsicheren Überlieferung Philipp Melanchthons zufolge brachte Luther am 31. Oktober 1517 seine berühmten 95 Thesen an der Türe der Wittenberger Schlosskirche an.¹⁴ Der Text des Augustinermönches hatten binnen kürzester Zeit bedeutende Auswirkungen und schon im Jahre 1520 forderte Papst Leo X. Luther mit seiner Bulle Exsurge Domine dazu auf, zu widerrufen. Im Falle ausbleibender Reue würde er den Ordensmann exkommunizieren, was am 3. Januar 1521 durch die Bulle Decet Romanum Ponteficem in der Tat auch geschah. Wenig später wurde Luther im Rahmen des Reichstags zu Worms (Januar bis Mai 1521) bei Karl V. vorstellig und wollte ihm seine Lehre darlegen, doch wurde er innerhalb der Grenzen des Reiches für vogelwild erklärt (Wormser Edikt, 8. Mai 1521). So gab es einen unheilbaren Bruch, der die Geburt des Protestantismus bedeutete. Damit verbunden waren gravierende politische Folgen: Am 27. Februar 1531 verbündeten sich die protestantischen Fürsten, darunter Rudolf Bultmann ist sogar der Meinung, der Autor des Jakobusbriefes habe einen jüdischen Text überarbeitet. Vgl. R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, 3. Aufl., Tübingen, 1958, 496 – 515. Subilia, La giustificazione per fede, 52. Ebd., 41. Ebd., 53. Zu Pelagio vgl. S. Prete, Pelagio e il pelagianesimo, Brescia, 1961. Vgl. den lohnenswerten einleitenden Artikel von M. R. Rackett, „What’s Wrong with Pelagianism? Augustine and Jerome on the Dangers of Pelagius and his Followers“, in: Augustinian Studies, 33, 2, 2002, 223 – 237. A. Pettegree, Brand Luther. How an Unheralded Monk Turned His Small Town into a Center of Publishing, Made Himself the Most Famous Man in Europe – And Started the Protestant Reformation, New York, 2015, 66 – 77.
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Landgraf Philipp I. von Hessen und Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen, zu einer antihabsburgischen Allianz, dem Schmalkaldischen Bund. Der Kaiser konnte freilich keine gegen ihn gerichtete politisch-militärische Macht innerhalb des eigenen Reiches dulden. Zur Überwindung der religiösen Spaltung, welche die politische Krise weiter beförderte, wurden Religionsgespräche in Augsburg (1530), Hagenau (1540), Worms (1540 – 1541) und schließlich in Regensburg (1541 und 1546) einberufen, bei denen aber kaum gemeinsame Schnittpunkte gefunden werden konnten. So war der Krieg zwischen Karl V. und dem Schmalkaldischen Bund in den Jahren 1546 und 1547, bei dem sich letztlich die kaiserlichen Truppen gegen die lutherischen Fürsten durchsetzen konnten, unausweichlich. Im Glauben daran, die Ordnung in seinem Reich wiederhergestellt zu haben, und in der Erwartung der Ergebnisse des Konzils von Trient (1545 – 1563), verkündete Karl V. das Augsburger Interim (1548), was jedoch die Stellung der Lutheraner verschlechterte und zu einem neuen Aufstand führte. Weil er jedoch keinen weiteren militärischen Erfolg erringen konnte und auch gesundheitlich angeschlagen war, entschied der Kaiser sich letzten Endes für eine diplomatische Einigung mit den aufständischen Fürsten: Am 25. September 1555 unterzeichneten die beiden Parteien den Augsburger Religionsfrieden. Fortan galt das Prinzip cuius regio, eius religio und die katholische Einheit Europas war endgültig Geschichte.
4 Martin Luther und die Rechtfertigungslehre Die Rechtfertigungslehre spielt in diesem komplexen politischen Kontext insofern eine äußerst wichtige Rolle, als sie der Grund für heftige Reibungen zwischen den katholischen und den lutherischen Instanzen ist. Selbst innerlutherisch aber gab es keinen Konsens bezüglich dieser Frage,¹⁵ was sich allein schon daran zeigt, dass es „mehr als ein halbes Dutzend“ voneinander abweichender Lehren diesbezüglich gab.¹⁶ Es ist gerade diese Vielfalt der Perspektiven, die erkennen lässt, welche Bedeutung die Rechtfertigungslehre für die Bestimmung der lutherischen Identität gehabt hat, eine Bedeutung, die im Übrigen auch ihren Gründern Martin Luther und Philipp Melanchthon und ferner auch Martin Chemnitz, einem prominenten Vertreter
Zum Begriff ‚Konsens‘ bei den reformatorischen Kirchen vgl. P. Foresta, „Transregional Reformation. Synods and Consensus in the Early Reformed Churches“, in: The Journal of Early Modern Christianity, 2, 2, 2015, 189 – 203. „In the evangelical theology, there’s no consensus on the specialty and meaning concerning the doctrine of justification. There is no single evangelical doctrine of justification, much less one single Lutheran doctrine of justification. There are at least a dozen of them“, O.-P. Vainio, Justification and Participation in Christ: The Development of the Lutheran Doctrine of Justification from Luther to the Formula of Concord (1580), Leiden, 2008, 1.Vainio leitet seine Monographie mit diesem Satz ein, den er – in Übersetzung – zitiert aus W. Pannenberg, Hintergründe des Streites um die Rechtfertigungslehre in der evangelischen Theologie, Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse Jahrg. 2000, Heft 3. München, 2000, 3.
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der zweiten Generation, bewusst war.¹⁷ Im Jahre 1577 schließlich konnten die verschiedenen Instanzen der lutherischen Kirche mit der Formula Concordiae eine Einigung erzielen. Diese Konkordienformel, gewissermaßen ein protestantisches Glaubensbekenntnis, wurde 1580 im Liber Concordiae abgedruckt.¹⁸ Luther beschäftigt sich mit dem Problem der Gerechtigkeit Gottes schon in den Dictata super Psalterium (1513 – 1516), wo sich noch „uno schema di cooperazione [fra uomo e Dio] che rimane ben cattolico“ findet.¹⁹ Ein solches Modell sollte besonders in den frühen Schriften bis 1519 unverändert bleiben, wenn auch verdeckt von einem deutlichen anthropologischen Pessimismus.²⁰ In ebendiesem Jahr veröffentlichte Luther den Sermo de duplici iustitia, in welchem zwei – die oben genannten – Verständnisse von Gerechtigkeit, derjenigen Christi und der des Menschen, behandelt werden. Der deutsche Theologe bezieht sich insbesondere auf die erste Form der Gerechtigkeit, welche aliena und ab extra infusa ist und welche der Mensch durch den Glauben vermittels der Taufe empfängt. Der Glaubende wird auf diese Weise in den ursprünglichen Status der Zeit vor Adams Fall zurückversetzt. Diese Gerechtigkeit hat, da sie den Gläubigen von neuem gerecht machen kann, obwohl dieser nunmehr ganz und gar unter der Sünde ist, einen höheren Stellenwert als diejenige, die der erste Mensch empfangen hat. Diese Gerechtigkeit ist, wie gesagt, aliena, weswegen der Mensch sie auch nur ab extra empfangen kann. Sie wird ihm einzig und allein vermittels der Gnade eingegossen, ohne dass auf Seiten des Menschen eine irgendwie geartete aktive Beteiligung am Geschehen zu verzeichnen wäre. Die zweite Form der
Vainio, Justification and Participation, 1– 2. R. Kolb, T. J. Wengert, The Book of Concord. The Confessions of the Evangelical Lutheran Church, Minneapolis, 2000. G. Hennig, „La questione della scoperta riformatrice di Lutero“, in Protestantesimo, 18, 1963, 148 – 152, hier: 150. Hennig stellt insbesondere die Thesen Ernst Bizers dar, der in seinem Werk Fides ex auditu (1958) betont, dass die von Luther angestrebte Reform „solo attraverso una rottura interiore di Lutero con il suo passato teologico, avvenuta negli anni 1518 – 1519“ möglich war: Hennig, „La questione della scoperta riformatrice di Lutero“, 148 – 149. Bizers Argumentation orientiert sich an Luthers Praefatio der Opera Latina von 1545, vgl. auch Subilia, La giustificazione per fede, 127 ff. Für die Dictata super Psalterium vgl. v. a. D. Bellucci, Fede e giustificazione in Lutero. Un esame teologico dei Dictata super Psalterium e del commentario sull’Epistola ai Romani (1513 – 1516), Rom, 1963. Auch Bellucci ist der Meinung, dass „certamente Lutero presenta nel Commentario ai Salmi la dottrina della giustificazione in un contesto esegetico e cristologico. Essa però non rappresenta alcun dato propriamente originale che possa farcela considerare come dottrina riformata della fede che giustifica […] la concupiscenza non viene ancora identificata da Lutero con il peccato originale, in forza di questo fatto, il giustificato non è intrinsecamente corrotto, e quindi si lascia libero spazio per una giustificazione interna e soprannaturalmente valida dell’uomo. È vero che questa giustizia è imperfetta […] tuttavia sarebbe errato dire che per Lutero non possediamo su questa terra una vera giustizia intrinseca e personale che fondi la nostra speranza e sia come un pegno di quello che attendiamo nel cielo“, ebd., 153. Luther hielt beispielsweise bei seiner Teilnahme an der Heidelberger Disputation im Jahre 1518 als Vertreter seines Ordens dafür, dass die guten Taten des Menschen in Wirklichkeit Todsünden sind.Vgl. Subilia, La giustificazione per fede, 132.
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Gerechtigkeit hingegen ist diejenige, die dem Gläubigen selbst eignet und die durch das „Absterben des Fleisches“ und die „Kreuzigung der Begierden“ mit der iustitia aliena zusammenwirkt.²¹ Auch noch 1520 scheint bei Luther etwas Katholisches nachzuklingen, wenn er beispielsweise darauf besteht, dass „la fede non è senza le opere“ und dass „è impossibile che la fede sia senza incessanti molte e grandi opere“.²² Allerdings ändert dies nichts daran, dass der deutsche Theologe felsenfest davon überzeugt war, die Rechtfertigung könne nicht von menschlichen Werken, sondern allein von Christus abhängen.²³ Nach seiner Exkommunikation – aber nicht als deren logische Konsequenz – arbeitet Luther seine Lehre vielleicht noch entschiedener heraus. Zum Beispiel bekräftigt er in De servo arbitrio (1525), dass das Heil komplett gratis ist: Gott rechtfertigt durch den Glauben, den er selbst schenkt, nicht durch Werke. Um seinem Argument mehr Gewicht zu verleihen, wendet Luther in seiner Auseinandersetzung mit Erasmus von Rotterdam auch das Stilmittel der reductio ad absurdum an. Er geht nämlich davon aus, dass, würde Gott den Menschen aufgrund seiner Werke rechtfertigen, kein Mensch je gerettet werden würde, da ja alle eine sündige Natur haben. Gott aber errettet auch diejenigen, die sich zahlreiche Verfehlungen geleistet haben.²⁴ Ihren ersten offiziellen Ausdruck allerdings würde die lutherische Lehre von der Rechtfertigung erst im Augsburger Bekenntnis (1530) finden, das von Philipp Melanchthon anlässlich des Reichstages in ebendieser Stadt verfasst wurde, um Kaiser Karl V. einen Gesamtabriss der Lehre der Lutheraner vorlegen zu können. In Artikel IV heißt es: „Duplex est iustitia christianorum sicut duplex peccatum est hominis. Prima est aliena et ab extra infusa. Haec est qua Christus iustus est […] haec ergo iustitia datur hominibus in baptismo et omni tempore vere penitente […] Igitur per fidem in Christum sit iustitia Christi nostra iustitia et omnia quae sunt ipsius […] Haec est iustitia infinita et omnia peccata in momento absorbens. Et haec iustitia est primo fundamento, causa origo, omnis iustitae proprie seu actualis quia vere ipsa datur pro originali iustitia in Adam perdita et operatur id immo maius quam illa iustitia originalis fuisset operatur […] Haec igitur iustitia aliena et sine actibus nostris per solam gratiam infusa nobis […] secunda iustitia est nostra et propria […] quod cooperemur illi prime et aliene. Haec nunc est illa conversatio bona in operibus bonis primo in mortificationem carnis et crucifixionem concupiscientiarum […] secundo et in charitate erga primum, tertio in humilitate ac timorem erga deum […] haec igitur iustitia est opus prioris iustitae et fructus atque sequela eiusdem“, M. Luther, Sermo de duplici iustitia, Leipzig, 1519, 1rv. Der Begriff von der „zweifachen Gerechtigkeit“ selbst sollte später, wie sich im nächsten Kapitel herausstellen wird, auch von katholischen Theologen angewandt werden. Subilia, La giustificazione per fede, 201. Ebd., 201. „Sed fingamus, quaeso, Deum talem esse oportere, qui merita respiciat in damnandis, Nonne pariter contendemus & concedemus, ut & in salvandis merita spectet? Si rationem sequi volumus, aeque iniquum est, indignos coronari, asque indignos puniri. Concludamus itaque, Deum ex meritis praecedentibus iustificare debere, aut iniquum declarabimus, ut qui malis & impiis hominibus delecteretur, & impietatem eorum proemiis invitet & coronet. At vae nobis tunc miseris, apud illum Deum, Quis enim salvus erit? Vide igitur nequitiam cordis humani, Deum, cum indignos sine meritis [note] salvat, imo cum multis demeritis iustificat impios, non accusat iniquitatis, ibi non expostulat, cur hoc velit, cum sit iniquisissimum, sese iudice, sed quia sibi commodum & plausibile est, aequum & bonum iudicat“, M. Luther, „De servo arbitrio“, in: Opera omnia, Wittenberg 1562, 465 – 466.
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Weiter wirtt geleret, das wir vergebung der sunth und gerechtigkeit vor Got nicht erlangen mugen durch unsere verdienste, wercke und gnug thun, sonder das wir vergebung der sunden bekommen und vor Got gerecht wehren aus gnaden umb Christus willen durch den glauben, so wir glauben, das Christus fur uns gelitten hab und das uns umb seines willen di sunde vergeben, gerechtigkeit und ewiges Leben geschenckt wirdet.²⁵
Der Kaiser verwarf die lutherische Lehre ohne Umschweife und erklärte die Absicht, das Wormser Edikt zu verschärfen.²⁶ Zudem antwortete die römische Kirche im selben Jahr mit einer confutatio pontificia, in der die Notwendigkeit sowohl der Gnade wie auch der Verdienste im Hinblick auf das Heil betont wird.²⁷ Auf diese confutatio sollte Melanchthon, standhaft in seiner Überzeugungen, im Jahre 1531 mit einer Apologie antworten, in der er bekräftigt, dass der Mensch zwar recht handelt, um dem göttlichen Auftrag zu entsprechen, dass der Mensch aber, um gerettet zu werden, nicht auf seine guten Werke und Verdienste, sondern allein auf Christus vertrauen darf. Darum also wird der Mensch umsonst aus Glauben gerechtfertigt.²⁸ Melanchthon bezieht sich in der Apologie auf die Vorstellung von einer apprehensio Christi, die Luther dann später in seinem Galaterkommentar weiter ausarbeiten würde. Der Reformator hatte zu diesem Brief schon 1519 einen Kommentar veröffentlicht, entschied sich aber im Jahre 1535 für eine Neuauflage, in der er sich auf eben jene Vorstellung von der apprehensio Christi, d. h. auf die dem Menschen durch den Glauben vermittelte Erkenntnis Christi, fokussierte. Dank dieser Erkenntnis prägt sich die Form des erkannten Objektes, Christus, dem erkennenden Subjekt, dem Menschen, ein.²⁹ Der Mensch wird, nachdem er Christus vermittels des Glaubens an ihn ergriffen hat, von der Sünde gerechtfertigt und aus dem Tode befreit: Erst nach dieser geistlichen „Item docent, quod homines non possint iustificari coram Deo propriis viribus, meritis aut operibus, sed gratis iustificentur propter Christum per fidem, cum credunt se in gratiam recipi et peccata remitti propter Christum, qui sua morte pro nostris peccatis satisfecit“, M. Luther, „Die Confessio Augustana“, bearb. von G. Seebaß und V. Leppin, in: I. Dingel (Hg.), Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, Gö ttingen, 2014, 99. Ch. P. Arand, J. A. Nestingen und R. Kolb, The Lutheran Confessions. History and Theology of the Book of Concord, Minneapolis, 2012, 139. Vgl. M. Marcocchi, „La risposta alla ‚Confessio augustana‘: la ‚confutatio pontificia‘“ (1530), in Aevum, 56, 3, 1982, 395 – 406. Zur Confessio und zur Confutatio siehe auch Arand, Nestingen und Kolb, The Lutheran Confessions, 139 – 158. „necessario facienda sint bona opera propter mandatum Dei et quod non debeamus confidere nostris operibus, sed gratuita promissione Christi. Nam, ut iusticia legis merantur premia legis, certe gratiam et iustiticiam coram Deo non meremur nostri operibis […] Et in hanc sententia dicimus nos sola fide iustificari, quia fides apprehendit gratiam et misericordiam Dei […] Haec fides imputatur pro iusticia coram Deo“, Ch. Peters, Apologia Confessionis Augustanae: Untersuchungen zur Textgeschichte einer lutherischen Bekenntnisschrift (1530 – 1584), Stuttgart, 1997, 514. „The proclamation of the Gospel evokes faith in the sinner. This faith grasps and possesses (apprehendit) Christ. The mode of this apprehension is to be understood in terms of Aristotelian epistemology, which Luther uses when he speaks about Christ as the form of faith. Aristotle claimed that in the act of knowing, the form of the object of knowledge is transferred into the knower“, Vainio, Justification and Participation, 31.
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Wiedergeburt kann der Mensch wirklich gute Taten vollbringen; diese gehen aus ihm als aus einem sich nunmehr im Zustand des ‚Gerechten‘ Befindenden hervor. Der Glaube an Christus ist also die causa formalis der menschlichen Barmherzigkeit:³⁰ Ohne sie wird jegliches gerechte Tun unmöglich. Unter Luthers Schriften nimmt der Galaterkommentar eine besonders bedeutsame Position ein, und zwar nicht nur, weil er die erste Schrift nach der römischen confutatio ist,³¹ sondern auch aus dem Grund, dass die Formula Concordiae explizit auf ihn Bezug nimmt, um zu einem besseren Verständnis der Rechtfertigungslehre zu gelangen.³² Ein anderer wichtiger Beitrag ist in den Schmalkaldischen Artikeln zu sehen. Diese wurden 1537 vom gleichnamigen Bund unterzeichnet und von Luther selbst zur Veröffentlichung im Jahre 1538 überarbeitet.³³ Zwar beschäftigt sich Luther darin mit verschiedensten Themen wie der Messe, dem Fegefeuer, der Anrufung der Heiligen, der Reue, der Beichte, der Absolution, aber auch hier ist das Fundament, auf das sich seine sämtlichen Argumentationen stützen, die Rechtfertigung, der „primus et principalis articulus“.³⁴ Rechtfertigung gibt es, so Luther mit Nachdruck, nur dank Christi Tod und Auferstehung; folglich wird der Mensch allein aus Glauben gerechtfertigt, ohne jeglichen Beitrag von Seiten des Gläubigen.
5 Die Regensburger Religionsgespräche (1541) und die zweifache Gerechtigkeit Nach den vorausgegangen fehlgeschlagenen Begegnungen wurde in Regensburg ein weiteres Religionsgespräch unter dem Vorsitz des päpstlichen Legaten Gasparo
„Ex his satis intelligi potest, hic nihil oportere agi, quam audire sic ista gesta esse, & indubitata fide apprehendere, eaque est vere formata fides. Postea, Christo sic apprehenso, me mortuo legi, iustificato a peccato, & liberato a morte, diabolo & inferno per Christum, facio bona opera, diligo Deum, ago gratias, exerceo charitatem erga proximum. Sed illa charitas, vel sequentia opera, nec informant meam fidem nec ornant, sed fides mea informat & ornat charitatem. Haec nostra est Theologia, & paradoxa rationi mirabilia & absurda, quod non solum caecus, surdus sum legi, & liber ab ea, sed plane ei mortuus“, M. Luther, Commentarius secundus in epistolam ad Galatas, Wittenberg, 2. Aufl. 1554 [1535], 316v. Vainio, Justification and Participation, 20 ff. Ebd., 20. Für die Schmalkaldischen Artikel vgl. Arand, Nestingen und Kolb, The Lutheran Confessions, 146 – 158. „Hic primus et principalis articulus est. Quod Iesus Christus, Deus et Dominus noster, sit propter peccata nostra mortuus et propter iustitiam nostram resurrexerit, Rom. 4.7 Et quod ipse solus sit Agnus Dei, qui tollit peccata mundi, Iohan. 1. 8 Et quod Deus omnium nostrum iniquitates in ipsum posuerit, Esaiae 53.9 Omnes peccaverunt et iustificantur gratis absque operibus seu meritis propriis ex ipsius gratia per redemptionem, quae est in Christo Iesu in sanguine eius, Rom. 3.1“, M. Luther, „Die Schmalkaldischen Artikel“, bearb. von K. Breuer und H. O. Schneider, in: Dingel (Hg.), Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, 727.
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Contarini (1483 – 1542) einberufen. Dieses Treffen stellt den letzten Vermittlungsversuch zwischen Katholizismus und Luthertum vor dem Konzil von Trient dar.³⁵ Vom 27. April bis zum 22. Mai kamen je drei Theologen aus jeder der beiden Konfessionen zusammen, um über verschiedene Themen, besonders auch über die Rechtfertigung, zu diskutieren. Die Katholiken wurden von Johannes Eck, Johan Gropper und Julius Pflug vertreten, die Protestanten von Martin Bucer, Philipp Melanchthon und Johannes Pistorius. Das wichtigste Ergebnis war Artikel V, worin die beiden Parteien zu einer gemeinen Übereinkunft bezüglich der Rechtfertigung gelangten. In diesem Dialogdokument sprach man sowohl von einer ‚angerechneten Gerechtigkeit‘ als auch von einer ‚effektiven Gerechtigkeit‘.³⁶ In einem Brief an Kardinal Ercole Gonzaga vom 25. Mai 1541 beschreibt Contarini in gelungener Weise diese beiden Formen.³⁷ Er meint, der Glaube sei das, was die Rechtfertigung des Menschen ermögliche, und empfange gleichzeitig sowohl die geschenkte Gerechtigkeit (donata) – die der angerechneten (imputata) entspricht – als auch die effektive (inhaerens). Die geschenkte ist eine dem Menschen äußerliche, weil er sie allein dank Christi Tod und Auferstehung erhält. Die effektive hingegen wird zum festen Bestandteil des Menschen, der auf diese Weise beginnt, gerecht zu sein und die Werke der Gerechtigkeit zu tun. Um von Gott gerechtfertigt zu werden, sind beide vonnöten. Die inhärente ist jedoch, da sie incohata, d. h. nicht vollständig ist, unvollkommen; sie reicht also nicht aus, um vor dem Angesicht Gottes zu bestehen.³⁸ Daraus nun ergibt sich die Notwendigkeit derjenigen Gerechtigkeit, die durch Christi Opfer erlangt wird. Anfangs wurde diese Lösung sowohl von einigen katholischen Theologen, wie von Contarini, Gropper und Albert Pighius, als auch von den evangelischen, wie Bucer, gewürdigt. Auf diese Art wurde die sogenannte Lehre von der zweifachen Gerechtigkeit entwickelt. Dennoch schlich sich ein gefährliches Problem ein, das für beide Seiten zum großen Streitpunkt wurde: wenn die Gerechtigkeit es ist, die den Menschen formal gerecht macht, dann führt eine zweifache Gerechtigkeit zu einer zweifachen Formursache der Rechtfertigung. So Strenggenommen folgte auf dieses letzte Religionsgespräch noch ein weiteres: 1546, ebenfalls in Regensburg. Es konnte nur die englische Übersetzung des Artikels V zu Rate gezogen werden, vgl. A. Lane, Justification by Faith in Catholic-Protestant Dialogue, an Evangelical Assessment, London / New York 2002, 233 – 237. Die kritische Edition ist zu finden bei G. Pfeilschifter, Acta Reformationis Catholicae. Ecclesiam Germaniae Concernentia Saeculi XVI. Die Reformverhandlungen des deutschen Episkopats von 1520 bis 1570, Bd. 6, 1538 bis 1548, Regensburg, 1974, 52– 54. „Attingimus autem ad duplicem iustitiam, alteram nobis inhaerentem, qua incipimus esse iusti et efficimur consortes divine nature et habemus charitatem diffusam in cordibus nostris, alteram vero non inherentem sed nobis donatam cum Christo, iustitia inquam Christi, et omne eius meritum. Simul tempore utraque nobis donatur et utramque attingimus per fidem“, G. Contarini, „Ad secretarium Herculis Cardinalis Mantuani de iustificatione epistola“, 25. Mai 1541, in: Concilium Tridentinum. Diariorum, Actorum, Epistolarum, Tractatuum Nova Collectio, Bd. 12, Freiburg im Breisgau, 1930, 318, Z. 34– 38. „Hec etenim nostra iustitia [inherens] est inchoata et imperfecta, que tueri non potest, quin in multis modis offendamus […] Et id circo in cospecti Dei non possumus ob hanc iustitiam nostram haberi iusti et boni“, Contarini, „Ad secretarium Herculis Cardinalis Mantuani“, 319, Z. 31– 35.
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spricht man sowohl der iustitia imputata wie auch der iustitia inhaerens dieselbe ontologische Dignität zu, und dies, obwohl man letztere gerade aus dem Grund als unvollkommen bezeichnet hatte, dass sie dem Menschen inhärent ist. Contarini, Gropper und Bucer scheinen in der Tat genau dies vorzuschlagen, wobei man da in der Forschung geteilter Meinung ist.³⁹ Der Streit um die zweifache Gerechtigkeit setzte sich bis zum Konzil von Trient fort. Gerolamo Seripando, der damalige Abtprimas der Augustiner, brachte diese Lehre erneut ins Gespräch ein, woraus letzten Endes das Dekret über die Rechtfertigung vom 13. Januar 1547 hervorging. Im Oktober des Jahres 1546 bittet er – um ein Beispiel zu nennen – die Konzilsväter in einem bewegenden Appell darum, eine von katholischen Theologen vorgeschlagene Lehre nicht zu verwerfen, um nicht noch weitere Spaltungen innerhalb der Kirche heraufzubeschwören.⁴⁰ Sein Vorschlag wird allerdings abgelehnt: Gottes Gerechtigkeit darf unter keinen Umständen als zweifach angesehen werden, besonders wenn die inhärente Gerechtigkeit unvollkommen ist.
Alister McGrath bspw. behauptet, Contarini habe keine doppelte Formursache der Rechtfertigung vertreten; Hanns Rückert jedoch ist anderer Meinung, vgl. A. McGrath, Iustitia Dei. A History of the Christian Doctrine of Justification, Bd. 2, Cambridge, 1986, 214 Fn. 33 und H. Rückert, Die theologische Entwicklung Gasparo Contarinis, Bonn, 1926, 82 Fn. 2. Folgendes Zitat aus dem obengenannten Brief legt nahe, dass Rückert Recht hat: „Fide iustificamur, non formaliter, scilicet fides inhaerens nobis efficiat iustos, sicuti albedo efficit parietem album aut sanitas hominem sanum. Nam hoc pacto charitas et gratia Dei nobis inhaerens et iustitia Christi nobis donata et imputata efficit nos iustos“, Contarini, Ad secretarium Herculis Cardinalis Mantuani, 319, Z. 9 – 13. Auch bezüglich Bucer herrscht keine Einigkeit: Lugioyo hält dafür, dass „Bucer’s teaching of justification by faith cannot be accurately described as ‚double justification‘ [im erwähnten Sinne der doppelten Formursache der Rechtfertigung]“, B. Lugioyo, Martin Bucer’s Doctrine of Justification. Reformation Theology and Early Modern Irenicism, Oxford, 2010, 37– 102, v. a. 101. McGrath ist entgegengesetzter Meinung: „The question which necessarily follows from this analysis is this: did Bucer actually teach a doctrine of double justification strictu sensu – in other words, that the formal cause of justification is both imputed and inherent righteousness? Bucer’s involvement in the drawing up of Regensburg Book (Liber Ratisboniensis), with its important article on justification, is certainly highly suggestive in this respect“, McGrath, Iustitia Dei, Bd. 2, 35. Gropper hingegen erklärt in seiner Antididagma (1544) unverhohlen: „Iustificamur a Deo iustitia duplici, tanquam per causas formales et essentiales. Quarum una et prior est consummate Christi iustitia: non quidem quomodo extra nos in ipso est, sed sicut et quando eadem nobis (dum tamen fide apprehenditus) ad iustitiam imputatur. Haec ipsa ita nobis imputata iustitia Christi, praecipua est et summa iustificationis nostrae causa, cui principaliter inniti et fidere debeamus. Aliter vero iustificamur formaliter, per iustitiam inhaerentem: quae remissione peccatorum simul cum renovationem Spiritus sancti, et diffusione charitatis in corda nostra, secundum mensuram fidei uniuscuisque, nobis donatur, infunditur, et sit propria: atque nobis propria quaedam iustitia, qua efficiamur“, G. Gropper, Antididagma, seu Christianae et catholicae religionis per reverendissimos et illustrissimos dominos canonicos metropolitanae ecclesiae Coloniensis propugnatio, Köln, 1544, 13v. „Si sermo hic [die Lehre der zweifachen Gerechtigkeit] apud hereticos tantum audiatur est, procul dubio anathemizandus. Sin inveniatur apud catholicos, nollem certe propter unam voculam, que bonum sensum, pie interpreretur, accipere potest, concordiam ecclesie catholice scindi“, G. Seripando, „Pro confirmanda sententia de duplici iustitia catholicorum quorundam doctrina“, Oktober 1546, in: Concilium Tridentinum. Diariorum, Actorum, Epistolarum, Tractatuum Nova Collectio, Bd. 12, 668, Z. 31– 33.
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Seripandos Erklärung, dass diese Unvollkommenheit nicht in der dem Menschen von Gott gegebenen Gnade, sondern im mit ihr zusammenwirkenden Menschen selbst liege, blieb ohne größere Beachtung.⁴¹ Um jegliche Bezugnahme auf eine ‚zweifache Gerechtigkeit‘, die auf eine zweifache Formursache der Rechtfertigung hindeuten könnte, zu vermeiden, stellte das tridentinische Dekret unmissverständlich klar, dass die „unica formalis causa est iustitia Dei“.⁴²
6 Das tridentinische Dekret über die Rechtfertigung und die lutherische Formula Concordiae Für die Konzilsväter war das Dekret über die Rechtfertigung von größter Bedeutung: es sollte dazu dienen, die katholische Lehre auf unmissverständliche Weise festzulegen und dabei die einzig wahre Orthodoxie von all den Heterodoxien zu scheiden, die sich im Laufe der Jahrhunderte entwickelt hatten. Doch war es keineswegs ein leichtes Unterfangen, das Wahre vom Falschen zu trennen: Von Juni 1546 bis zum 13. Januar 1547 diskutierten die Väter über die Rechtfertigungslehre und das Einzige, worin man sich einig war, war die Verdammung der lutherischen Thesen. Während man in dem übereinstimmte, was als häretisch bezeichnet werden müsse, fand man nicht sofort einen Konsens über das, was als katholisch anzusehen war. Den Grund für eine derartige Verlegenheit beschreibt Hans Küng zutreffend, indem er erklärt, dass Theologen vor dem 16. Jahrhundert das Thema der Rechtfertigung nicht selbstständig bearbeiteten und dass man das Thema stattdessen üblicherweise an das Ende der „trattati sulla grazia o dei sacramenti“ verwies.⁴³ Im Vorwort zum Prolog wird auf die Streitigkeiten mit den Lutheranern verwiesen, die der Einheit der Kirche würden gefährlich werden können.⁴⁴ Im Anschluss daran wird betont, dass der Mensch seinen Zustand ursprünglicher Unschuld mit Adams Fall verloren hat und er somit der Knechtschaft der Sünde ausgeliefert ist, welche seinen freien Willen schwächt, wobei aber dieser Wille nicht vollständig beeinträchtigt „iustitia nostra inhaerens esse possit imperfecta, non ratione gratiae, que in se perfecta est, sed ratione nostra, qui gratiae cooperamur, ex ea non deminamur iusti“, ebd., 669, Z. 6 – 8. „Decretum de iustificatione“, in: Concilium Tridentinum. Diariorum, Actorum, Epistolarum, Tractatuum Nova Collectio, Bd. 5, 3, Freiburg im Breisgau, 1911, 792, 7, Z. 35. Zu Seripando und zur zweifachen Gerechtigkeit siehe A. Marranzini, „Il problema della giustificazione nell’evoluzione del pensiero di Seripando“, in: A. Cestaro (Hg.), Geronimo Seripando e la Chiesa del suo tempo nel V centenario della nascita, Akten der Tagung in Salerno, 14.–16. Oktober 1994, Rom, 1997, 227– 269, v. a. 259 – 268. Zu Seripando vgl. auch McGrath, Iustitia Dei, Bd. 2, 74– 77. Subilia, La giustificazione per fede, 84– 85. Bezug genommen wird auf H. Küng, Rechtfertigung. Die Lehre Karl Barths und eine katholische Besinnung, Einsiedeln, 1957. „Cum hoc tempore non sine multarum animarum iactura et gravi ecclesiasticae unitatis detrimento erronea quaedam disseminata sit de iustificatione doctrina […] districtius inhibendo ne deinceps audeat quisquam aliter credere praedicare ut docere quam praesenti decreto statuitur ac declarator“, Decretum de iustificatione, 791, Z. 40 – 792, Z. 4.
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wird.⁴⁵ Gott hat also seinen Sohn geschickt, um den Menschen zu erlösen, der als in Christus Wiedergeborener durch die Gnade gerechtfertigt wird. Rechtfertigung ist demnach Folgendes: „translatio ab eo statu in quo homo nascitur filius primi Adae in statum gratiae et adoptionis filiorum Dei per secundum Adam Iesum Christum salvatorem nostrum“.⁴⁶ Daneben wird auch die Notwendigkeit der geistlichen Waschung, also des Sakramentes der Taufe, für die Rechtfertigung des Menschen bekräftigt. Dieser Prozess bedarf allerdings einer aktiven Beteiligung von Seiten des Gläubigen, der sich zuallererst sein eigenes Sündersein eingestehen soll und dazu auch den Wunsch nach Erlösung haben und an die heilsbringende Tat Christi glauben muss. Im Verlauf des Rechtfertigungsprozesses kommt die Gnade zu verschiedenen Zeiten und auf unterschiedliche Weise hinzu, weswegen ihr ebenso vielfältige Funktionen zugeschrieben werden. Zuerst einmal ist sie „zuvorkommend“ (praeveniens), da sie dem Willen des Menschen vorausgeht und diesen zu sich ruft. Sodann wird sie „weckend“ (eccitans), da sie ihn zur Bekehrung führt, und „helfend“ (adiuvans), weil sie den Gläubigen in seiner Kooperation mit der Gnade selbst unterstützt, um das eigentliche Zielt zu erreichen: das Heil.⁴⁷ Das Konzil legt darüber hinaus auch die Ursachen der Rechtfertigung fest: Neben dem ewigen Leben sind die Ehre Christi und die Ehre Gottes Ziel und Zweck der Rechtfertigung; so ist Gottes Barmherzigkeit, die den Menschen von der Sünde reinigt, die Wirkursache (causa efficiens). Christus hingegen ist die Verdienstursache (causa meritoria), d. h. der Gläubige wird dank des Verdienstes Christi erlöst, welches dieser bei Gott durch sein Leiden und seinen Tod für den Menschen erworben hat. Das Mittel aber, durch welches der Gläubige gerechtfertigt wird, ist die Taufe. Und schließlich: Die Gerechtigkeit Gottes, die den Menschen gerecht macht, ist die einzige Formursache (causa formalis) der Rechtfertigung; sie
„Primum declarat sancta Synodus ad iustificationis doctrinam probe et sincere intelligendam oportere ut unusquisque agnoscat et fateatur quod cum omnes homines in praevaricatione Adae innocentiam perdidissent facti immundi et (ut apostolus inquit) natura filii irae quemadmodum in decreto de peccato originali exposuit usque adeo servi erant peccati et sub potestate diaboli ac mortis ut non modo gentes per vim naturae sed ne Iudaei quidem per ipsam etiam litteram legis Moysi inde liberari aut surgere possent tametsi in eis liberum arbitrium minime extinctum esset viribus licet attenuatum et inclinatum“, ebd., 792, 7, Z. 35. Vgl. den Kontext des Zitates: „Quibus verbis iustificationis impii descriptio insinuatur ut sit translatio ab eo statu in quo homo nascitur filius primi Adae in statum gratiae et adoptionis filiorum Dei per secundum Adam Iesum Christum salvatorem nostrum; quae quidem translatio post Evangelium promulgatum sine lavacro regenerationis aut eius voto fieri non potest sicut scriptum est: nisi quis renatus fuerit ex aqua et Spiritu Sancto non potest introire in regnum Dei“, ebd., 792, 4, Z. 33 – 38. „Declarat praeterea ipsius iustificationis exordium in adultis a Dei per Christum Iesum praeveniente gratia sumendum esse hoc est ab eius vocatione qua nullis eorum existentibus meritis vocantur ut qui per peccata a Deo aversi erant per eius excitantem atque adiuvantem gratiam ad convertendum se ad suam ipsorum iustificationem eidem gratiae libere assentiendo et cooperando disponantur ita ut tangente Deo cor hominis per Spiritus Sancti illuminationem neque homo ipse nihil omnino agat inspirationem illam recipiens quippe qui illam et abiicere potest neque tamen sine gratia Dei movere se ad iustitiam coram illo libera sua voluntate possit“, ebd., 792, Z. 5, 40 – 793, 5, 4.
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erneuert nicht allein den Geist des Gläubigen, sondern macht ihn auch wahrhaftig gerecht vor Gott.⁴⁸ Die Konzilsväter nahmen nun auch eine Näherbestimmung des von Paulus in seinen Briefen verwendeten Ausdrucks „Rechtfertigung durch Glauben“ vor: Er bedeutet, dass der Glaube „humanae salutis initium, fundamentum et radix omnis iustificationis [est], sine qua impossibile est placere Deo“⁴⁹ und ohne den man auch nicht in Gemeinschaft mit Gott sein könne. Außerdem sei die Rechtfertigung umsonst, da sie den menschlichen Werken vorausgehe. Diese Aussagen, deren Katholizität offenkundig ist, zeigen nun gleichzeitig auch den Konflikt mit den schismatischen Strömungen auf, welche die Rechtfertigung sola fide, sola gratia und vermittels solus Christus für möglich halten. In der Tat betont die katholische Kirche zwar, dass der Glaube notwendig ist, aber der Mensch darf nicht denken, er wäre durch diesen Glauben gerechtfertigt; vielmehr muss er, da man nie mit Sicherheit wissen kann, ob man gerettet ist oder nicht, stets die eigene Schwachheit bedenken und Gottes Gnade fürchten. Mehr noch: Der Gläubige muss in der Heilsökonomie eine deutlich aktive Rolle bekleiden: Wer einmal die Gerechtigkeit Gottes durch den Glauben an Christus empfangen hat, der muss Gutes tun und die Gebote einhalten, auf dass er in Tugend weiter wachse. Des Weiteren pochen die Konzilsväter darauf, dass man ohne Befolgen der Gebote nicht gerechtfertigt werden könne. Gott nämlich fordert vom Menschen nichts, was dieser nicht tun könnte – andernfalls wäre die Forderung müßig und zwecklos. Das Dekret macht noch einmal unmissverständlich klar, dass sich niemand allein aufgrund des eigenen Glaubens als gerechtfertigt betrachten kann.⁵⁰ Ganz im Gegenteil: Der Mensch muss, mit Hilfe der geschenkten Perseveranz, weiterhin gute Taten vollbringen. Wenn die Gläubigen der Sünde verfallen, fallen sie aus dem Gnadenstand, verlieren aber nicht den Glauben; und wenn sie von Gott erleuchtet werden, können sie dies durch das Sakrament der Buße wiedergutmachen und auf
„Huius iustificationis causae sunt: finalis quidem gloria Dei et Christi ac vita aeterna; efficiens vero misericors Deus qui gratuito abluit et sanctificat signans et ungens spiritu promissionis sancto qui est pignus haereditatis nostrae; meritoria autem dilectissimus unigenitus suus Dominus noster Iesus Christus qui cum essemus inimici propter nimiam charitatem qua dilexit nos sua sanctissima passione in ligno crucis nobis iustificationem meruit et pro nobis Deo Patri satisfecit; instrumentalis item sacramentum baptismi quod est sacramentum fidei sine qua nulli umquam contigit iustificatio. Demum unica formalis causa est iustitia Dei non qua ipse iustus est sed qua nos iustos facit qua videlicet ab eo donati renovamur spiritu mentis nostrae et non modo reputamur sed vere iusti nominamur et sumus“, ebd., 793, 7, Z. 28 – 37. A.a.O., 794, 8, Z. 13 – 14. „Sed neque illud asserendum est oportere eos qui vere iustificati sunt absque ulla omnino dubitatione apud semetipsos statuere se esse iustificatos neminem que a peccatis absolvi ac iustificari nisi eum qui certo credat se absolutum et iustificatum esse atque hac sola fide absolutionem et iustificationem perfici quasi qui hoc non credit de Dei promissis de que mortis et resurrectionis Christi efficacia dubitet“, a.a.O., 794, 9, Z. 25 – 29.
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diese Weise wieder zu Gerechten werden.⁵¹ Folglich gibt es Heil sowohl aus dem Grund, dass die Rechtfertigung gratis durch Glauben empfangen wird, als auch aus dem, dass durch gutes Handeln bis zum Lebensende Verdienste der Rechtfertigung durch Werke erlangt werden.⁵² In diesem Zusammenhang gehen die Konzilsväter auf Distanz zur Lehre von der zweifachen Gerechtigkeit: Auf die Klarstellung, dass Gottes Gerechtigkeit die einzige Formursache der Rechtfertigung ist, folgt sogleich der Hinweis darauf, dass die beiden vermeintlichen Gerechtigkeiten, die eine inhärent und die andere geschenkt, letztlich ein und dieselbe sind.⁵³ An Ende des Dekretes sind 33 canones angehängt, in denen ebenso viele häretische Aussagen, von pelagianischen bis zu reformatorischen, verworfen werden; so verortet sich der Katholizismus in der aurea mediocritas, welche die Kirche vor übermäßigen Extremen schützt, sei es die Exklusivität der Werke oder die des Glaubens im Rahmen der Heilsökonomie. Der Katholizismus möchte aufzeigen, dass diese beiden Elemente (Glaube und Werke) miteinander vereinbar sind und dass beide recht und wahrhaftig sind, da sie beide in der Heiligen Schrift offenbart worden sind. Ganz anderer Meinung hingegen war die Formula Concordiae, die 1577, also 30 Jahre nach dem tridentinischen Dekret, von der lutherischen Kirche erarbeitet wurde. Der dritte von zwölf Artikeln beschäftigt sich mit der Rechtfertigung. Zu Beginn wird daran erinnert, dass die Erbsünde der Natur des Menschen dauerhaft innewohnt und untrennbar mit ihrer Substanz und ihrem Wesen verbunden ist.⁵⁴ Des Menschen freier Wille ist also ohne Eingreifen der Gnade unheilbar korrumpiert. Daher wird Christus zur einzigen Hoffnung auf Erlösung: Er ist die einzige Gerechtigkeit, die vor Gott bestehen kann, weil er allein vermittels der Gnade Sünden vergibt, ohne dass der Mensch sich irgendeines Verdienstes rühmen könnte. Gott schenkt (donat) und schreibt dem Menschen die Gerechtigkeit Christi zu (imputat) und durch diese wird der Mensch gerechtfertigt. Der Begriff ‚rechtfertigen‘ selbst bedeutet nichts Anderes als ‚von den Sünden lossprechen‘.⁵⁵ Mit dem lutherischen Glaubensbekenntnis im
„Qui vero ab accepta iustificationis gratia per peccatum exciderunt rursus iustificari poterunt cum excitante Deo per poenitentiae sacramentum merito Christi amissam gratiam recuperare procuraverint“, a.a.O., p. 796, 14, Z. 12– 14. „Atque ideo bene operantibus usque in finem et in Deo sperantibus proponenda est vita aeterna et tamquam gratia filiis Dei per Christum Iesum misericorditer promissa et tamquam merces ex ipsius Dei promissione bonis ipsorum operibus et meritis fideliter reddenda“, a.a.O., p. 792, 16, Z. 3 – 6. „Ita neque propria nostra iustitia tamquam ex nobis propria statuitur neque ignoratur aut repudiatur iustitia Dei; quae enim iustitia nostra dicitur quia per eam nobis inhaerentem iustificamur illa eadem Dei est quia a Deo nobis infunditur per Christi meritum“, a.a.O., p. 797, 16, Z. 17– 20. „Peccatum enim Originis non est quoddam delictum, quod actu perpetratur, sed intime inhaeret infixum ipsi naturae, substantiae et Essentiae hominis“, I. Dingel (Hg.), Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, Bd. 2, Die Konkordienformel, Gö ttingen, 2014, 1225 – 1227. „Christus vere sit nostra iustitia […] ipsum nostram esse coram Deo iustitiam, quod Dominus nobis peccata remittit ex mera gratia absque ullo respectu praecedentium, praesentium aut consequentium nostrorum operum, dignitatis aut meriti. Ille enim donat atque imputat nobis iustitiam oboedientiae Christi, propter eam iustitiam a Deo in gratiam recipimur et iusti reputamur […] solam fidem esse illud
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Jahre 1577 bekräftigen die Protestanten noch einmal das sola fide, das sola gratia und das solus Christus, welche die Rechtfertigung von Gott ermöglichen; damit schließen sie endgültig und definitiv die Möglichkeit aus, dass der Mensch – zusammen mit der Gnade – aus eigenen Mitteln zum Heil gelangen kann.
7 Schluss. Die Rechtfertigung als ökumenisches Problem Auf dem Konzil von Trient hatte die katholische Kirche dargelegt, worin für die Kirche von Rom die Rechtfertigkeit besteht, und mit der Formula Concordiae hatte das Luthertum die eigene Lehre zum Ausdruck gebracht. Etwas mehr als 400 Jahre lang haben die beiden Kirchen sich hinter ihren Positionen verschanzt. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962– 1965) jedoch hat durch das Ökumenismusdekret Unitatis Redintegratio (21. November 1964) den Weg zum interkonfessionellen Dialog freigemacht.⁵⁶ Gleich 1965 haben die US-amerikanische Bischofskonferenz und das USamerikanische Nationalkomitee des Lutherischen Weltbundes einen katholisch-lutherischen Dialog aufgenommen,⁵⁷ aus dem das Dokument Justification by Faith (1985) hervorging.⁵⁸ Schon 1972 war außerdem der interkonfessionelle Malta-Bericht, Das Evangelium und die Kirche, veröffentlicht worden.⁵⁹ Später folgten weitere Dokumente: Lehrverurteilungen – kirchentrennend? (1986)⁶⁰ und Kirche und Rechtfertigung (1994).⁶¹ Schließlich wurde die Gemeinsame Erklärung (31. Oktober 1999) unterzeichnet, die es ermöglicht hat, „ein gemeinsames Verständnis unserer Rechtfertigung durch Gottes medium et instrumentum, quo Christum salvatorem et ita in Christo iustitiam illam, quae coram iuditio Dei consistere potest, apprehendimus; propter Christum enim fides illa nobis ad iustitiam imputatur, Rom. 4 propter solam ipsius oboedientiam ex gratia remissionem peccatorum habeamus, sancti et iusti coram Deo Patre reputemur et aeternam salutem consequamur Credimus, docemus et confitemur, vocabulum iustificare phrasi scripturae sacrae in hoc articulo idem significare quod absolvere a peccatis“, ebd., 1237. In Wirklichkeit war „il segnale inequivocabile del cambiamento nel modo di considerare la controversia sulla giustificazione […] venuto nel 1957 con la pubblicazione della tesi di Hans Küng sulla giustificazione nella quale l’autore, dopo aver messo a confronto la dottrina della giustificazione di Karl Barth con quella del concilio di Trento, giunge alla conclusione che tra le due prospettive esiste un accordo fondamentale e che le differenze non sono tali da giustificare la divisione ecclesiale“, A. Maffeis, „La giustificazione nel dialogo ecumenico. Chiarimenti e nodi irrisolti“, in: Rassegna di Teologia, 37, 1996, 625. Ebd. H. G. Anderson und T. A. Murphy (Hg.), Justification by Faith. Lutherans and Catholics in Dialogue VII, Minneapolis, 1985. Maffeis, „La giustificazione“, 626 – 627. K. Lehmann und W. Pannenberg (Hg.), Lehrverurteilungen – kirchentrennend?, Bd. 1, Rechtfertigung, Sakramente und Amt im Zeitalter der Reformation und heute, Freiburg, 1986. Vgl. auch Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre, Nr. 3. Maffeis, „La giustificazione“, 626 – 627.
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Gnade im Glauben an Christus zu vertreten“.⁶² Dieses Dokument beginnt mit einer Untersuchung der biblischen Rechtfertigungsbotschaft, insbesondere unter Verweis auf die neutestamentliche Überlieferung,⁶³ und mit dem Eingeständnis darin, dass die Rechtfertigung ein „ökumenisches Problem“ ist.⁶⁴ Auf dieser Grundlage nun wird zuallererst betont, dass die Rechtfertigung „das Werk des dreieinigen Gottes ist“, dass Christus zur Vergebung der Sünden des Menschen in die Welt gesandt wurde und dass der Tod und die Auferstehung Christi „Grund und Voraussetzung der Rechtfertigung“ sind.⁶⁵ Darum ist Christus „unsere Gerechtigkeit […], derer wir […] durch den Heiligen Geist teilhaftig werden“.⁶⁶ Im Übrigen sind sich Lutheraner und Katholiken darin einig, dass die Rechtfertigung nicht den menschlichen Werken geschuldet ist, sondern allein der Gnade Gottes und dem Glauben an Christus, dass sie also in jedem Falle ein Geschenk Gottes ist. Nach der Darstellung der gemeinsamen Voraussetzungen wird das gemeinsame Verständnis in Einzeluntersuchungen entfaltet, wobei jeder einzelne Aspekt der Rechtfertigung mit der Formel „Wir bekennen gemeinsam“ eröffnet wird. Auf das gemeinsame Bekennen folgen dennoch jeweils die katholische und die lutherische Interpretation. Die Struktur besteht aus einer gemeinsam befürworteten These und zwei Antithesen (katholisch und lutherisch) – eine Synthese sucht man vergebens.⁶⁷ In der Tat bleiben einige bedeutende Differenzen. Was beispielsweise den Beitrag des Menschen in der Heilsökonomie betrifft, so halten Katholiken an einer ‚Mitwirkung‘ des Gläubigen fest, die durch die Gnade ermöglicht wird. Lutheraner hingegen beteuern, dass die Rechtfertigung mere passive ist. Beide Konfessionen aber weisen darauf hin, dass die guten Taten „der Rechtfertigung folgen und Früchte der Rechtfertigung sind“.⁶⁸ Während Lutheraner sagen würden, dass diese nicht als Verdienste gelten und nichts zum Heil beitragen können, glauben Katholiken, dass den Taten des
Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre, Nr. 5. „Gemeinsam sind wir der Überzeugung, daß die Botschaft von der Rechtfertigung uns in besonderer Weise auf die Mitte des neutestamentlichen Zeugnisses von Gottes Heilshandeln in Christus verweist“, ebd., Nr. 17. Ebd., Nr. 13. Ebd., Nr. 15. Ebd. In der Tat wird in der Antwort der katholischen Kirche auf die Gemeinsame Erklärung zwischen der katholischen Kirche und dem Lutherischen Weltbund über die Rechtfertigungslehre explizit darauf hingewiesen: „Einige [Unterschiede] betreffen inhaltliche Aspekte, und daher sind nicht alle, wie in Nr. 40 [der Gemeinsamen Erklärung] behauptet wird, wechselseitig miteinander vereinbar. Außerdem ist zu sagen: Auch wenn es stimmt, daß auf jene Wahrheiten, über die ein Konsens erreicht worden ist, die Verurteilungen des Trienter Konzil nicht mehr anzuwenden sind, müssen dennoch erst die Divergenzen, die andere Punkte betreffen, überwunden werden, bevor man geltend machen kann, daß – wie es in Nr. 41 ganz allgemein heißt – diese Punkte nicht mehr unter die Verurteilungen des Konzils von Trient fallen. Das gilt an erster Stelle für die Lehre über das ‚simul iustus et peccator‘“. Der Text ist online verfügbar unter: http://www.vatican.va/roman_curia/pontifical_councils/chrstuni/documents/ rc_pc_chrstuni_doc_01081998_off-answer-catholic_ge.html (11.03. 2017). Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre, Nr. 37.
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Menschen „ein Lohn im Himmel“ verheißen ist.⁶⁹ Schlussendlich sind sich beide Konfessionen darin einig, dass es ohne Glauben keine Rechtfertigung geben kann. Nichtsdestotrotz gibt es beträchtliche Divergenzen im Hinblick auf die Beziehung von Mensch und Sünde. Lutheraner betrachten den Menschen als simul iustus et peccator: Obschon er von Gott gerechtfertigt ist, „[wohnt] die Sünde noch in ihm“.⁷⁰ Gemäß katholischer Lehre hingegen verbleibt im Gläubigen „eine aus der Sünde kommende und zur Sünde drängende Neigung (Konkupiszenz) im Menschen“.⁷¹ Trotz dieser Unstimmigkeiten kommt das Dokument zu folgender Schlussfolgerung: „Das in dieser Erklärung dargelegte Verständnis der Rechtfertigungslehre zeigt, daß zwischen Lutheranern und Katholiken ein Konsens […] besteht“.⁷² Damit erscheinen im Lichte dieser gegenseitigen Annäherung auch die Lehrverurteilungen des 16. Jahrhunderts, soweit sie sich auf die Lehre von der Rechtfertigung beziehen, in einem neuen Licht: Die in dieser Erklärung vorgelegte Lehre der lutherischen Kirchen wird nicht von den Verurteilungen des Trienter Konzils getroffen. Die Verwerfungen der lutherischen Bekenntnisschriften treffen nicht die in dieser Erklärung vorgelegte Lehre der römischkatholischen Kirche.⁷³
Ebd., Nr. 38. Ebd., Nr. 29. Ebd., Nr. 30. Ebd., Nr. 40. Ebd., Nr. 41.
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Das theologische Selbstverständnis der evangelisch-lutherischen Kirchen Die im Lutherischen Weltbund zusammengeschlossenen Kirchen haben sich alle auf das Augsburger Bekenntnis und Luthers Kleinen Katechismus verpflichtet. Diese Referenztexte bilden die Grundlage des theologischen Selbstverständnisses der evangelisch-lutherischen Kirche weltweit. Das Augsburger Bekenntnis (Confessio Augustana, im folgenden CA) wurde im Juni 1530 dem Kaiser Karl V. vorgelegt.¹ Sein Ziel war es, der politischen Autorität zu verdeutlichen, dass die Grundaussagen der lutherischen Reformation im Einklang standen mit der christlichen Lehre, die von den Konzilen der ersten Jahrhunderte verabschiedet wurde und im Kaiserreich in Geltung war. Dies wird in 21 kurzen Artikeln dargelegt. In einem zweiten, längeren Teil werden die Missstände der damaligen Kirche angesprochen. Um diese Fragen zu klären, sollte ein Konzil einberufen werden, ein Wunsch, dem jedoch nie entsprochen wurde. Da diese Vorlage vom Kaiser nicht abgelehnt wurde, beschlossen vielerorts die kirchlichen und politischen Autoritäten, in Zukunft die Pfarrer bei ihrer Ordination auf diesen Text zu verpflichten. Dieses Verfahren war deshalb nötig geworden, weil die Verpflichtung zum Gehorsam gegenüber den bisherigen Bischöfen nicht mehr möglich war, da die damalige Ausübung des Bischofsamtes von der Reformation abgelehnt wurde. So wurde der beim Reichstag in Augsburg dem Kaiser vorgelegte Text nach und nach zu einem Bekenntnis, welches die verschiedenen Kirchen der lutherischen Reformation untereinander verband. Er wurde zu einem Bekenntnistext, dessen Autorität in den folgenden Jahrhunderten wuchs und auch bis heute gilt. Es geht im Folgenden keineswegs um eine einfache Wiederholung der Artikel der CA. Diese sind durch den Kontext des 16. Jahrhunderts geprägt. Im Laufe der Geschichte kam es je nach Ort und Zeit zu verschiedenen Akzentsetzungen und Auslegungen der einzelnen Artikel. Dies gilt auch für die heutige lutherische Theologie. Die theologischen Grundentscheide sind jedoch über die Jahrhunderte hinweg die gleichen geblieben. Diese sollen in diesem Beitrag erläutert werden. Dabei gilt es auch, die Zuordnung der verschiedenen Glaubensaussagen zu berücksichtigen. Die CA kennt eine genaue Artikulation der Glaubenswahrheiten und diese ist bis heute wesentlicher Bestandteil des theologischen Selbstverständnisses der evangelisch-lutherischen Kirchen. So wird dieser Beitrag die wesentlichen theologischen Schwerpunkte nennen in der für lutherische Identität entscheidenden Zuordnung.
Text in: I. Dingel, Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Göttingen, 2014. Abkürzung: BSELK. CA 65 – 229, Luthers Kleiner Katechismus 852– 910. https://doi.org/9783110498745-045
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1 Christus, der erste und Hauptartikel Diese Formulierung geht auf Luther selbst zurück. So leitet er den zweiten Teil der Schmalkaldischen Artikel ein.² Die frohe Botschaft des Evangeliums hat ihr Zentrum in Christus allein (solus Christus). Diese Grundüberzeugung kennzeichnet das lutherische Verständnis von Theologie: nur von Christus her erhalten die Theologie, die Kirche und das gesamte kirchliche Leben ihren Sinn.
1.1 Das Gottesverständnis Bedeutend ist zunächst das Gottesverständnis. Im Bekenntnis zum trinitarischen Gott liegt das Gewicht auf der Herablassung Gottes, die den einzigen Weg zum Heil eröffnet. Gott entäußert sich und gibt sich zu erkennen. Durch Jesus Christus haben die Menschen Zugang zu Gott. In Jesus Christus kommt Gott den Menschen zu ihrem Heil nahe, indem er sich ihnen, in Schwachheit verborgen, ausliefert und fassen lässt: in der Inkarnation, im Menschsein Jesu, in seinem Leiden und Sterben für uns am Kreuz. Durch die Auferstehung Jesu Christi erweist er sich zugleich als der siegreiche Herr, der den Tod und alle den Menschen versklavenden Mächte überwunden hat. Für alle Zeiten schenkt er in der Menschlichkeit des Wortes und der Leiblichkeit der Sakramente den Glauben durch den Heiligen Geist. Dieses Heilswerk des sich so in Wort und Sakrament weiterhin herablassenden Gottes wird an dem Tage vollendet sein, an dem die Menschen Gott in seinem Reich von Angesicht zu Angesicht schauen werden. Bei der Heilsbegegnung zwischen Mensch und Gott liegt die Initiative ganz auf Seiten Gottes. Gott kommt zum Menschen auf die Weise, die er selber gewählt hat. Nicht der Mensch ist es, der sich in denkerischem Aufschwung oder in mystischer Versenkung zu Gott aufmacht. Mit der Betonung der Herablassung Gottes, seiner Menschwerdung in Jesus Christus, wollte die lutherische Reformation entgegen den spekulativen Strömungen innerhalb der Theologie des ausgehenden Mittelalters und gegen den Spiritualismus mancher religiöser Dissidenten („Schwärmer“) das Grundmotiv der biblischen Botschaft ausdrücken. Dies gilt auch heute und wird betont gegen alle spiritualistischen Tendenzen in Frömmigkeit und Theologie. Auch gegenüber philosophischen und rationalen Versuchen, Gott zu denken, die gewiss für das theologische Denken wichtig sind, gilt es zu betonen: Hier im Endlichen, Leiblichen, Diesseitigen liegt kraft der Inkarnation Gottes in Jesus von Nazareth der Treffpunkt zwischen Gott und Mensch.
Schmalkaldische Artikel. Diese Artikel von der Hand Luthers sind Teil der BSELK. In: BSELK 713 – 785. Hier Teil II, Artikel 1. BSELK, 726.
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Dieser Glaube an die Herablassung Gottes in die Leiblichkeit ruft die Kirche und die einzelnen Gläubigen dazu auf, sich um den niedrigsten unter den Mitmenschen zu kümmern, in denen man Gott selbst begegnet.
1.2 Das Kreuz und die Auferstehung Jesu Christi Die Herablassung Gottes hat ihren Höhepunkt in dem Kreuz und in der Auferstehung Jesu Christi.³ Hier erweist Gott seine Liebe zu den Menschen aus Gnade allein (sola gratia). Gott handelt auf Grund der Sünde des Menschen. Diese ist nicht primär eine besondere Tat oder die Summe einzelner menschlicher Verfehlungen. Sünde ist die Grundhaltung des Menschen in seinem Verhältnis zu Gott. Gott hat den Menschen zur Gemeinschaft mit Ihm geschaffen. Er hat ihn zu seinem Ebenbild gemacht und ihn damit gewürdigt, in Verantwortung vor ihm an seinem Wirken in der Welt teilzuhaben. Wahres Menschsein gibt es nur dort, wo der Mensch diese Beziehung zu Gott, seinem Schöpfer, bejaht, aus dieser Beziehung heraus lebt und sein Handeln in der Gemeinschaft der Menschen von ihr bestimmen lässt. Der Mensch hat sich von Gott entfernt und die Gemeinschaft mit Ihm preisgegeben. Er kann sie von sich aus nicht wiederherstellen. Ihm bleibt nichts anderes, als allein auf sich zu vertrauen und seine Existenz auf seine eigene Leistung zu gründen. Er ist so ganz zum Sünder geworden, ohne aufzuhören, Geschöpf Gottes zu sein. Für diesen verlorenen Menschen setzt Gott von sich aus einen neuen Anfang. Er nimmt sich seiner allein aus Gnade an. Im Tod Jesu Christi und in seiner sieghaften Auferstehung eröffnet Gott den Menschen, durch die Vergebung ihrer Sünden, wahres Menschsein in Gemeinschaft mit Ihm selbst. Er führt sie durch Glauben zu einem neuen Leben in Freiheit von der Macht der Sünde, in der Hoffnung auf Auferstehung und ewiges Leben, im Vertrauen auf seine Gnade auch im Gericht. So wird der Mensch befreit und berufen zum Lobe Gottes, zum Zeugnis für Jesus Christus und zu Dienst und Hingabe an seinen Mitmenschen. Luther konnte den Ansatz seiner Zeit, die im Kreuz Christi vor allem eine Strafe Gottes sah, nicht annehmen. Dem sich daraus ergebenden Verständnis der Messe, die als von der Kirche darzubringendes Opfer zur Wiedergutmachung und Versöhnung mit Gott geleistet wurde, widersprach Luther. Anselms Lehre von der satisfactio war oft in diesem Sinne verstanden worden. Auf die alten Kirchenväter aufbauend, erläutert Luther auf viele Weisen den Kreuzestod und die Auferstehung Christi. Am schlichtesten sagt dies ein Liedvers Luthers, der auf überlieferte Liturgien zurückgreift, aus: „Es war ein wunderlicher Krieg, da Tod und Leben rungen; das Leben behielt den Sieg, es hat den Tod verschlungen. Die Schrift hat verkündet das, wie ein
Siehe CA Artikel 3. BSELK, 96.
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Tod den anderen fraß, ein Spott der Tod ist worden“.⁴ So entsteht eine neue Situation. Das Leben ist nicht mehr durch den Tod begrenzt. Ostern eröffnet eine neue Schöpfung. Dieser Zugang ist ein cantus firmus des theologischen Selbstverständnisses der lutherischen Kirchen. In der neueren lutherischen Theologie kann man hier besonders auf den lutherischen Theologen Wolfhart Pannenberg verweisen. Er versteht Ostern als Prolepse. In diesem Ereignis ist das kommende Reich Gottes vorweggenommen. Dies muss in dieser Zeit entfaltet werden.⁵ Das Verständnis des Kreuzes als Bereitschaft Gottes, den Tod selbst auf sich zu nehmen, wird auf besondere Weise entfaltet durch den lutherischen Theologen Eberhard Jüngel.⁶
2 Das Evangelium von der Rechtfertigung des Menschen vor Gott aus Glaube allein (sola fide) Kreuz und Auferstehung bekommen dann ihren wahren Sinn, wenn der Mensch daran Anteil bekommt. Sie sind pro nobis geschehen. In den bereits erwähnten Schmalkaldischen Artikeln, wo Luther Christus als Hauptartikel hervorhebt, fügt der Reformator sofort hinzu, dass der Glaube an den gekreuzigten und auferstandenen Christus und die darin geschenkte Rechtfertigung untrennbar sind. Die Rechtfertigung ist die anthropologische und soteriologische Dimension dieses Geschehens.
2.1 Die Rechtfertigung des Gottlosen Das Heil des Menschen ist in keiner Weise dessen Verdienst, sondern ganz und gar Geschenk Gottes. Diese Ausschließlichkeit will das lutherische Verständnis von der Rechtfertigung deutlich machen. Da, wo man im Mittelalter glaubte, die Wirksamkeit der Gnade durch die menschliche Leistung unterstützen zu müssen, um zu Heil zu gelangen, betont die lutherische Reformation, dass Menschen dazu gar nicht im Stande sind. Es zu versuchen, ist eine Verachtung Gottes und seines Handelns in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi. Gottes Liebe zum Menschen, der Kern des Evangeliums, bedeutet für den Menschen Verzicht auf jede Leistungsreligion. Luther gelangte zu dieser Einsicht durch ein intensives Studium der Heiligen Schrift. Dabei waren ihm die paulinischen Sprach- und Denkkategorien wichtig. So bedient er sich auch der juristischen Sprache des Apostels, um die Rechtfertigungsbotschaft zu entfalten. Im Rechtfertigungsgeschehen spricht Gott den Menschen gerecht. Er erklärt, dass dieser Sein Kind ist. Das Gewicht liegt auf dem Zuspruch Gottes.
Strophe 4 aus dem Lied: Christ lag in Todesbanden. W. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 2, Göttingen, 1991, 253 und 487– 488. E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 7. Aufl., Tübingen, 2001 (1977), 132 ff und 470 ff.
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Die Antwort des Menschen ist der Glaube. Glaube ist das bedingungslose und unbedingte Ja zu Gottes Angebot. Glaube ist wiedergewonnene Kindschaft und somit radikaler Verzicht auf das Berufen auf die eigene Leistung vor Gott. Luther drückt dies auch in Bildern aus. Er beschreibt dies in seiner Freiheitsschrift als „fröhlichen Wechsel“ und gebraucht dafür die biblische Ehemetapher. „Hier geschieht… das äußerst erfreuliche Schauspiel… eines heilsbringenden Krieges: des Sieges, des Heils, der Erlösung. (Christus hat) die Sünden der Braut, ihren Tod und ihre Hölle… zu seinem Eigenen gemacht und verschlungen… Auf diese Weise wird die gläubige Seele durch den Brautschatz, ihren Glauben, in Christus, ihrem Bräutigam, von allen Sünden frei, vor dem Tode sicher und vor der Hölle geschützt, weil die ewige Gerechtigkeit Gottes sowie das ewige Leben und Heil ihres Bräutigams Christus ihr geschenkt sind“.⁷ Weil ihm Christus seinen Schmuck gegeben hat und immer wieder aufs Neue schenkt, ist der Mensch seines Heils gewiss.⁸ Die Hervorhebung der Rechtfertigungslehre charakterisiert das Selbstverständnis der evangelisch-lutherischen Kirchen und diese Botschaft ist als solche unumstritten. Die heutige theologische Forschung und die interkonfessionellen Dialoge haben mit Bezug auf die Rechtfertigung eine offizielle Erklärung zwischen der Römisch-katholischen Kirche und dem Lutherischen Weltbund ermöglicht, die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre (GE), die 1999 in Augsburg feierlich unterzeichnet worden ist.⁹ Darin heißt es: „Es ist unser gemeinsamer Glaube, dass die Rechtfertigung das Werk des dreieinigen Gottes ist. Der Vater hat seinen Sohn zum Heil der Sünder in die Welt gesandt. Die Menschwerdung, der Tod und die Auferstehung Christi sind Grund und Voraussetzung der Rechtfertigung. Daher bedeutet Rechtfertigung, dass Christus selbst unsere Gerechtigkeit ist, derer wir nach dem Willen des Vaters durch den Heiligen Geist teilhaftig werden. Gemeinsam bekennen wir: Allein aus Gnade im Glauben an die Heilstat Christi, nicht auf Grund unseres Verdienstes, werden wir von Gott angenommen und empfangen den Heiligen Geist, der unsere Herzen erneuert und uns befähigt und aufruft zu guten Werken“.¹⁰ Dabei erinnert die katholische Seite die lutherische Theologie mit Recht daran, dass die christliche Botschaft vom Heil des Menschen sich biblisch auch in anderen Begriffen als denen der Rechtfertigung Ausdruck verschafft. Die Begrifflichkeit der Rechtfertigung kann darum nicht als die einzige gelten, mit der man die Mitte des biblischen Zeugnisses zur Sprache bringt.
M. Luther, „Von der Freiheit eines Christenmenschen 1520“, WA 7,55. Diese Behauptung der Heilsgewissheit wurde vom Trienter Konzil verurteilt. Trienter Konzil, „Dekret über die Rechtfertigungslehre“, in: DH 1563s. (= H. Denzinger und P. Hünermann, Enchiridion Symbolorum, definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, 44. Aufl., Freiburg, 2014). Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre. Im folgenden GE. http://www.vatican.va/roman_ curia/pontifical_councils/chrstuni/documents/rc_pc_chrstuni_doc_31101999_cath-luth-joint-declara tion_ge.html [Zugriff: 13.03. 2017]. GE 15.
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Einige Aspekte wurden in der Geschichte des lutherischen Denkens immer wieder diskutiert. Dabei ging es um Fragen wie beispielsweise um das Verhältnis von rechtfertigendem Glauben und guten Werken, um das Verständnis von Rechtfertigung als Gerechtsprechung und als Gerechtmachung, um die Beziehung zwischen Rechtfertigung und Heiligung, um die Relevanz der Rechtfertigungsbotschaft in ihrer überkommenen Gestalt für den heutigen Menschen.
2.2 Die Bedeutung der guten Werke Bereits in der Reformationszeit hat die römische Seite Luther vorgeworfen, die menschlichen Werke zu verachten. Luther wehrte sich dagegen: „Wenn der Glaube nicht ohne alle, auch die geringsten Werke ist, so rechtfertigt er nicht, ja, so ist er gar nicht Glaube. Es ist aber unmöglich, dass der Glaube ohne eifrige, zahlreiche und große Werke ist“.¹¹ Die Notwendigkeit der guten Werke ist die unnötigste aller Streitfragen. Der ausführlichste aller Artikel des ersten Teils der CA, Artikel 20, ist dieser Frage gewidmet, nachdem die Problematik bereits in Artikel 6 deutlich angesprochen wurde. Gute Werke gehören zum Glauben. Doch geht es dabei um die rechte Artikulation: Die guten Werke sind nicht die Voraussetzung, um von Gott rechtgesprochen zu werden, sie sind die unbedingte Konsequenz der Rechtfertigung. Das Ausbleiben der guten Werke ist das Zeichen, dass kein Glaube vorhanden ist. Nicht das menschliche Tun führt zu einem neuen Sein vor Gott, sondern das geschenkte neue Sein vor Gott hat immer als Folge ein neues menschliches Handeln. In der bereits erwähnten Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre haben 1999 Lutheraner und Katholiken dies gemeinsam ausgesagt.¹² Die lutherischen Kirchen sind bemüht, das grundlegende Anliegen des reformatorischen Rechtfertigungsverständnisses zu bewahren, die Gnade Gottes groß zu machen in einer Gesellschaft, in der Menschen sich zunehmend als Schöpfer ihrer selbst verstehen. Es gilt, die Souveränität der Heilszusage Gottes wie auch die Antwort des Glaubens zu betonen gegenüber allen Formen einer Ethisierung der christlichen Botschaft und gegenüber alten und neuen Tendenzen zu einem einseitig aktionsbezogenen Verständnis des christlichen Glaubens. Die lutherische Tradition legt ein besonderes Gewicht auf die soziale Dimension der Rechtfertigungsbotschaft. Mit anderen Kirchen und Religionen setzen sich die lutherischen Kirchen für eine gerechtere Welt ein.
M. Luther, „Quaestio, utrum opera faciant ad justificationem“ (1520), in: WA 7,231. GE 37– 39.
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2.3 Ein anthropologischer Paradigmenwechsel Der römisch-katholische Theologe O. H. Pesch hat 1968 gezeigt, dass die lutherische Theologie einen anthropologischen Paradigmenwechsel vornimmt.¹³ Pesch untersucht den Unterschied zwischen Luther und Thomas von Aquin. Die Theologie Luthers sei „existential“ (besser: „relational“), die des Thomas „sapiential“ („substanzontologisch“). Pesch sieht in diesen beiden theologischen Modi sprachliche und philosophische Mittel ohne entscheidende Auswirkungen auf den Inhalt. Viele klassische Gegensätze verschwinden, sobald man akzeptiert, jeden dieser Theologen auf der Grundlage der „existentialen“ – für Luther – oder „sapientialen“ – für Thomas – Theologie zu interpretieren. Auch wenn sie die letzten Schlussfolgerungen Peschs nicht direkt übernimmt, hat die moderne theologische Forschung diesen Unterschied der Denkweisen bestätigt und vieles in der ökumenischen Arbeit folgt dieser Einsicht. Hinzu kommt, dass eine relational gedachte Anthropologie heute weit über die lutherische Tradition hinausreicht und vielerorts das theologische Denken bestimmt. Man kann diesen anthropologischen Paradigmenwechsel verdeutlichen an dem Streit, der über Jahrhunderte zwischen Lutheranern und Katholiken bestand über eine der Lieblingsaussagen Luthers. Dieser Streit ist bis heute nicht ganz überwunden, wie die Geschichte der GE belegt. Für Luther ist der Glaubende gerecht und Sünder zugleich (simul justus simul peccator). Das Trienter Konzil lehnte diese Lehre ab und betonte, dass der gerechtfertigte Mensch ganz gerecht sei.¹⁴ Es tat dies, weil nach katholischem Verständnis Gerechtigkeit, Gnade, Sünde und auch Glaube als Eigenschaften des Menschen verstanden werden. In dieser Denkweise ist Luthers Aussage nicht annehmbar. Luther hingegen versteht Sünde und Gnade nicht als Eigenschaften, sondern als gegenläufige Beziehungen, in denen der Mensch lebt. Sünde ist die abgebrochene Beziehung, Gnade die neue Gemeinschaft mit Gott. Steht der Mensch vor Gott (coram deo), so ist er ganz gerecht, weil Gott ihm seine Sünde vergibt und die Gerechtigkeit Christi zuspricht, die ihm im Glauben zu Eigen wird und ihn in Christus vor Gott zum Gerechten macht. Im Blick auf sich selbst aber erkennt er durch das Gesetz, dass er zugleich ganz Sünder bleibt, dass die Sünde noch in ihm wohnt, denn er vertraut immer wieder auf falsche Götter und liebt Gott nicht mit jener ungeteilten Liebe, die Gott als sein Schöpfer von ihm fordert. Deshalb muss auch der Gerechtfertigte täglich Gott um Vergebung bitten. Er ist immer wieder zu Umkehr und Buße gerufen, und ihm wird immer wieder die Vergebung gewährt. Der reformatorische Ansatz ist auf die Gerechtigkeit konzentriert, die der Glaubende auch gerechtfertigt niemals besitzt, sondern die er immer nur in Christus hat.
O. H. Pesch, Theologie der Rechtfertigung bei Martin Luther und Thomas von Aquin. Versuch eines systematisch-theologischen Dialogs, 2. Aufl., Mainz, 1989 (1967). DH 1528.
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Die gesamte Rechtfertigung wird verstanden und beschrieben als neue Beziehung zwischen dem Glaubenden und seinem Herrn. Berücksichtigt man diesen anthropologischen Paradigmenwechsel, den die lutherische Reformation vollzieht, so erscheinen, wie Pesch es unterstrich, viele Streitfragen des 16. Jahrhunderts über die Rechtfertigung in einem neuen Licht. Dieses relationale Menschenverständnis ist für die lutherische Theologie auch heute entscheidend.
2.4 Der Artikel, mit dem die Kirche steht und fällt In den erwähnten Schmalkaldischen Artikeln stellt Luther das Christuszeugnis und die Botschaft von der Rechtfertigung nebeneinander und fügt hinzu, dass „man von diesem Artikel in nichts weichen oder nachgeben kann, mag Himmel und Erde oder was nicht bleiben will, einfallen“.¹⁵ Kreuz und Auferstehung Jesu Christi und das rechtfertigende Handeln Gottes zugunsten der Menschen sind die beiden Seiten einer gleichen Wirklichkeit. Dieses Handeln Gottes ist das Evangelium. Alle Verkündigung, alles Handeln der Kirche und jede christliche Existenz haben hier ihre maßgebende und unaufhebbare Mitte. Diese Mitte wurde in der Geschichte der lutherischen Theologie immer betont. Man sprach von dem Artikel, mit dem die Kirche steht und fällt, dem articulus stantis et cadentis ecclesiae. Diese Aussage geht auf den reformierten Genfer Theologen Franz Turrettini zurück.¹⁶ Die Absicht dieser Hervorhebung ist pastoral. In diesem „Artikel“ geht es um das menschliche Gewissen, das im Schatten des Todes zwischen Lüge und Wahrheit unterscheiden muss. Der Glaube richtet den Blick des Gläubigen auf Christus hin und ermöglicht ihm, das barmherzige und heilbringende Gericht seines Herrn zu entdecken. Da dieser Artikel uns hilft, vor Gott zu leben, wird er zur Quintessenz allen christlichen Lebens und aller kirchlichen Lehre. Der „Artikel“ der Rechtfertigung ist ein „Glaubensartikel“, eine Überzeugung des Gläubigen, und nicht in erster Linie eine Lehre, Frucht des menschlichen Verstandes, der Rechenschaft über den Glauben ablegt. Der Begriff der Lehre ist gewiss nicht ausgeschlossen, da die Lehre notwendig ist, um vom Glauben zu sprechen, doch die letzte Absicht dieses „Artikels“ ist nicht belehrend. Es geht nicht darum, eine besondere Lehrformulierung herauszustellen, die alle anderen bestimmen würde. Es handelt sich um die Botschaft des Evangeliums, eine Botschaft, die jeden theologischen Ansatz überbietet und gegebenenfalls seinen Irrtum herausstellt, sobald dieser Ansatz sich nicht dem alleinigen Werk Gottes unterwirft, dem in Christus zum Ausdruck kommenden Willen Gottes, der Heilsbot BSELK, 727. So die Forschungsergebnisse von Theodor Mahlmann, in: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG), 4. Aufl., Bd. 1, Tübingen, 1998, 799. In seinem Kommentar von Psalm 130 gebraucht Luther 1532 eine ähnliche Formulierung: „quia isto articulo stante stat Ecclesia, ruente ruit Ecclesia“ in: WA 40/ III,352.
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schaft, die den Gläubigen coram Deo leben lässt. Selbst jede Lehre von der Rechtfertigung und jede christologische Lehre muss sich an diesem Artikel ausweisen. Daraus ergibt sich die Zuordnung der Glaubens- und Lehrartikel. Der Aufbau der CA macht dies deutlich. Der Aussage dieser Grundüberzeugung folgen nun die einzelnen Glaubensartikel. Was über die Kirche, die Taufe, das Abendmahl, die Buße, die Kirchenordnungen usw. zu sagen ist, ruht alles auf diesem „Artikel“, den es nun in den einzelnen Handlungen und Aspekten des kirchlichen Lebens zu entfalten gilt. In der Neuzeit wurde diese Zuordnung bei der Vollversammlung des lutherischen Weltbundes (Helsinki 1963) betont und entfaltet.¹⁷ Die Betonung der „hermeneutischen Funktion“ dieses „Artikels“ und die sich daraus ergebende Zuordnung der einzelnen Glaubensartikel sind charakteristisch für das Selbstverständnis der evangelisch-lutherischen Kirchen.
3 Die Heilige Schrift und der Glaube der Menschen Bevor wir uns den Konsequenzen dieser Grundüberzeugung für das Kirchesein zuwenden, müssen noch zwei Frage angesprochen werden, die als solche in der CA nicht direkt behandelt werden, jedoch komplementär zum bisher Ausgesagten sind: das Schrift- und das Glaubensverständnis.
3.1 Die Schrift alleine (sola scriptura) Die Reformation des 16. Jahrhunderts ist gekennzeichnet durch das stete Studium der Botschaft der Heiligen Schrift. Die Reformatoren erforschten eifrig die Schrift und schrieben Kommentare aller biblischen Bücher. Die neuen Möglichkeiten der Druckerei sowie der Humanismus bildeten einen neuen Kontext, den die Reformatoren wahrnahmen und zu welchem sie durch ihr Schriftstudium auch beitrugen. Die Hervorhebung des Heilshandelns Gottes in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi sowie der Rechtfertigungsbotschaft waren die Frucht dieses erneuten Hörens auf das biblische Zeugnis. Im Konflikt der Autoritäten Heilige Schrift, kirchliche Lehrentscheidungen, Kirchenrecht sind die Reformatoren zu der Überzeugung gelangt, dass nur die Bibel als Zeugnis des Evangeliums diese Autorität haben kann. Das Luthertum wurde immer wieder in Verbindung gebracht mit der Formel „die Schrift allein“ (sola scriptura). Damit wollte die lutherische Reformation ein Dreifaches aussagen:
Der Vortrag des deutschen Theologen Gerhard Gloege war dabei entscheidend. Siehe: G. Gloege, Gnade für die Welt. Kritik und Krise des Luthertums, Göttingen, 1964.
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Die Schrift erschließt sich selbst. Sie bedarf keines Zusatzes. Sie ist vollständig, selbstgenügsam und selbstwirksam. Sie erlaubt den vollen Zugang zum Evangelium des Heils, dem Worte Gottes. Die Schrift ist ihr eigener Interpret und ist in sich selbst klar. Sie bedarf keiner kirchlichen Lehre, um verstanden zu werden. Jede kirchliche Lehre muss sich, im Gegenteil, an ihr ausweisen. Deshalb ist die Schrift die entscheidende und bleibende Norm kirchlicher Lehre und Verkündigung.
Dieses Verständnis ist und bleibt wegweisend für die lutherischen Kirchen. Eng damit verbunden ist die Ablehnung eines litteralistischen oder fundamentalistischen Verständnisses des sola scriptura. Nicht der einzelne Buchstabe hat Autorität. Die Schrift als bloße Sammlung von Texten ist nicht das lebendige Evangelium von Jesus Christus, aus dem der Glaube und die Kirche leben. Die Schrift muss zum Evangelium werden. Dies ist das Werk des Heiligen Geistes, wenn die Schrift ausgelegt, ihre Botschaft lebendig verkündet, den Menschen zugesprochen und für diese zur befreienden Heilsbotschaft wird. Der Heilige Geist erschließt das Evangelium, die „Mitte der Schrift“. Im Lichte des Evangeliums sind alle Aussagen und Texte der Bibel zu interpretieren. Diese Mitte ergibt sich aus dem Zeugnis der Schrift und muss durch stetes Hören auf die Schrift neu entdeckt werden. Durch diese, an die Norm der Heiligen Schrift gebundene Verkündigung weckt und schenkt der Heilige Geist den Glauben. Diese „Mitte der Schrift“ wird nicht von außen an sie herangetragen. Als Zeugnis für die Offenbarung Gottes in Jesus Christus kann die Heilige Schrift für Christen Bedeutung nur im lebendigen Umgang mit ihr gewinnen. Wort Gottes meint Begegnung und Kommunikationsgeschehen, in dem ein geschriebenes Wort zur Anrede durch den Heiligen Geist wird. Die lutherischen Kirchen der Neuzeit verachten nicht die unüberschaubare Vielzahl von Methoden, die es heute gibt, um die Bibel zu lesen und zu verstehen. Der lutherische Theologe R. Bultmann hat z. B. die historisch-kritische Erforschung der Schrift maßgebend geprägt und nach dem ursprünglichen Sinn der biblischen Texte geforscht. Für Lutheraner sind die wissenschaftlichen Methoden eine wichtige Hilfe. Sie stehen jedoch auf einer anderen Ebene als die Glaubensüberzeugung, die das Wort Gottes, das Evangelium, und die Schrift nicht gleichsetzt, ohne sie jedoch zu trennen. Die Schrift von ihrer Mitte, Jesus Christus pro nobis, her zu interpretieren ist eine Glaubensaussage.
3.2 Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium Der lutherische Theologe Gerhard Ebeling hat im Blick auf die Interpretation der Schrift deutlich gemacht, dass eine gleiche Bibelstelle sowohl Gesetz als auch Evangelium sein kann. Sie ist tötender Buchstabe, wenn ihre Auslegung zum Vorwand menschlicher Rede wird. Dies kann auch für die schönsten und wichtigsten Bibel-
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stellen zutreffen. Im Lichte des Evangeliums von Jesus Christus hingegen wird die gleiche Bibelstelle zum lebendigen Wort, zum Evangelium. Dies gilt auch für die schwierigen und dunklen Worte der Bibel. Ebeling belegt dies durch Verweise auf Luther selbst.¹⁸ Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium hat in der lutherischen Theologie noch eine andere Bedeutung. Dies liegt daran, dass der Begriff des Gesetzes auf verschiedene Weisen verstanden wird: Das Gesetz ist einerseits Schöpfungswille Gottes und somit segnendes Wort Gottes, andererseits weckt es das Sündenbewusstsein im Menschen und leitet ihn zum Evangelium; es führt zu Christus. Das Gesetz ist keineswegs ein nur negativer Begriff. Es öffnet für das Evangelium, in welchem der Sünder im Glauben an Jesus Christus das Heil empfängt. So ergeht das Wort Gottes als forderndes und richtendes Wort (Gesetz) und als freisprechendes und neuschaffendes Wort (Evangelium). Diese Unterscheidung bewahrt den Gnadencharakter des Evangeliums gegenüber jeder Gesetzlichkeit, die die im Evangelium geschenkte Gerechtigkeit in eine vom Menschen zu erwerbende eigene Gerechtigkeit verkehrt. Doch werden alle Menschen als Geschöpfe Gottes durch diese fordernde und richtende Funktion des Gesetzes als Sünder angeklagt und überführt. Deshalb müssen Gesetz und Evangelium zwar unterschieden, aber nicht voneinander getrennt werden. Da, wo die wahre Spannung des Gesetzes zum Ja des Evangeliums verwischt oder das Evangelium nicht mehr deutlich gesehen und vom Gesetz verdeckt wurde, betont die lutherische Theologie deren rechte Zuordnung.
3.3 Der Glaube als „Sein in Christus“ Das Studium der Schrift führt Luther zu einem neuen Verständnis des Wortes „Glauben“. In der mittelalterlichen Theologie wurde „Glaube“ meist mit „Fürwahrhalten“ gleichgesetzt. In diesem Verständnis konnte man Luthers Aussage des „durch Glauben allein“ (sola fide) nur ablehnen, der Glaube musste durch die Werke der Liebe ergänzt werden, um zum Heil zu führen. Auch hier greift Luther auf Paulus zurück und verwendet den Glaubensbegriff als den Grundvorgang zwischen Gott und Mensch. Er betrifft das ganze des Menschen, das Heilsgeschehen zwischen Gott und Mensch. Glaube ist Vertrauen. Glaube ist Gemeinschaft mit Christus, „Sein in Christus“. Luther vollzieht dabei den bereits angesprochenen Paradigmenwechsel. Glaube ist ein relationaler Begriff. Nach Luther ist der Glaube tot auch dann, wenn er alle christlichen Lehren kennt, dann ist er übrigens kein Glaube.¹⁹ Wahrer Glaube ist die lebendige Beziehung zu Gott, und dieser Glaube wird durch das Wort Gottes erzeugt und lebt von diesem Wort.
G. Ebeling, Luther. Einführung in sein Denken. 4. Aufl., Tübingen, 1981 (1964), insbesondere die Kapitel 6 bis 8. M. Luther, „Resolutio disputationis de fide infusa et acquisita“, WA 6,87 f.
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Spricht man von der Rechtfertigung sola fide, dann ist solch ein Glaube gemeint. Glaube ist nicht mehr eine Sache oder ein Inhalt, sondern Christus selbst, der im Menschen lebt. Der Glaube ist die Begegnung des Menschen mit Christus und die daraus erwachsende Gemeinschaft. Er bedeutet nicht Fusion, denn der Unterschied zwischen Gott und Mensch bleibt unüberbrückbar. Als der Andere wohnt Christus im Menschen. Nur im Glauben erhält der Mensch sein volles Menschsein. Dies wird ihm dann geschenkt, wenn er nicht mehr auf sich selbst schaut, sondern Gott in sich handeln lässt. Der Glaube ist nicht eine menschliche Gegebenheit, sondern eine Beziehung, die eine radikale Veränderung des Menschen, eine neue Geburt, die das gesamte bisherige Sein des Menschen verändert, bewirkt. Der Gläubige steht „außerhalb seiner selbst“: „Ein Christenmensch lebt nicht in ihm selbst, sondern durch den Glauben fährt er über sich hinaus zu Gott, aus Gott fährt er wieder unter sich (in den Nächsten) durch die Liebe und bleibt doch immer in Gott und göttlicher Liebe“.²⁰ Im Glauben ist der Mensch von seiner Egozentrik befreit. Er dreht sich nicht mehr um sich selbst. Er ist von der Sünde befreit, da Christus nun in seiner Mitte wohnt. Dieser Glaube bedarf des steten Redens mit Gott. Er lebt vom Hören auf die Schrift. Er wird durch den Gottesdienst mit der gesamten Gemeinde genährt. Aus diesem erwachsen die persönliche Andacht und das tägliche Gebet des einzelnen Christen. Dieses relationale Glaubensverständnis ist heute gängig in der Theologie aller christlichen Kirchen. Es hier anzusprechen war notwendig, denn nur so werden wesentliche Ansätze und Aussagen der lutherischen Reformation und der sich heute darauf berufenden Kirchen deutlich und verständlich.
4 Die Kirche In der CA findet man die Kirche betreffend nur eine Aussage: Die Kirche „ist die Versammlung aller Gläubigen, bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut des Evangeliums gereicht werden“.²¹ Die kurze Aussage der CA hat jedoch einen weitreichenden Inhalt, der das Selbstverständnis des Luthertums prägt und heute auf neue Weise entfaltet wird.
4.1 Die Predigt des Evangeliums und die Feier der Sakramente Wo das Evangelium Menschen verkündigt und ihnen die Vergebung der Sünden zugesprochen wird, und wo Taufe und Abendmahl dem neutestamentlichen Auftrag gemäß gespendet werden, da ist Christus wahrhaftig gegenwärtig, schenkt Versöh M. Luther, „Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520)“, in: WA 7,69. Luthers Glaubensverständnis wurde von E. Jüngel erläutert in dem Artikel „Glaube“, in: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG), 4. Aufl., Bd. 3, Tübingen, 2000, 962– 63. CA 7, in: BSELK, 102.
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nung und sammelt seine Gemeinde. Verkündigtes Wort und gespendete Sakramente sind darum die heilsnotwendigen Mittel, durch die Christus seine Kirche schafft, erhält und sendet. Die lutherische Reformation ist zurückhaltend im Blick auf den Gebrauch des Wortes „Sakrament“. Es gibt im wahren Sinne nur ein Sakrament, Christus selbst.²² In ihm gibt sich Gott der Welt in leiblicher Gestalt und wird für die Menschen fassbar. Er ist das Logos, das Wort Gottes. In einem abgeleiteten Sinn gilt dies auch für die kirchlichen Handlungen, wo Christus wahrhaft gegenwärtig und für die Menschen greifbar wird. Der augustinischen Tradition verpflichtet ist das gepredigte Wort das hörbare Sakrament, Taufe und Abendmahl das sichtbare Wort. In diesen drei Gestalten bietet sich Gott in der Menschlichkeit des Wortes und der Leiblichkeit der Sakramente den Menschen an. Worte der Heiligen Schrift, Wasser, Brot und Wein werden zu Trägern der göttlichen Verheißung. In ihnen wird das Heil den Menschen zugesprochen. Dass in der Reformationszeit immer wieder gestritten wurde über die Realpräsenz Christi im Abendmahl, ist bekannt. Für das Luthertum ging es dabei nicht um eine physische Präsenz in Brot und Wein oder im Wasser der Taufe. Diese sind und bleiben kreatürliche Gegebenheiten. Jedoch ist Christus in, mit und unter diesen Gestalten gegenwärtig, genau wie er in den Worten der Schrift gegenwärtig ist, ohne dass dabei der geschriebene Text mit dem Evangelium identifiziert werden kann. Gott hat jedoch beschlossen, sich an diese leiblichen Gegebenheiten zu binden, um sich den Seinen zu geben. Sein Zuspruch kann nicht von diesen Gegebenheiten losgelöst werden. Dies wird betont gegen die schwärmerischen Strömungen, die behaupteten, inkarnationslos Gott zu empfangen. Im Streit mit dem Züricher Reformator Zwingli ging es um die Gleichwertigkeit von Predigt, Taufe und Abendmahl, da Zwingli der Meinung war, dass Taufe und Abendmahl nur Zeichen seien, Glaubensantworten auf das bereits erfolgte Wort. Im Streit mit Rom ging es um das Verständnis der Messe, der Eucharistie als ein von der Kirche dargebrachtes Opfer. Auch die Aussagen der CA über Taufe und Abendmahl sind kurz gefasst. In der Taufe ist Gott der Handelnde. Er nimmt den Menschen in seine Gnade auf.²³ Im Abendmahl ist Christus wahrhaft gegenwärtig und gibt sich den Seinen.²⁴
M. Luther, „Unum solum habent sacrae literae sacramentum… quod est ipse Christus Dominus“. „Disputatio de fide infusa et acquisita“, These 18, in: WA 6,86. CA 9, in: BSELK, 105 (lateinische Fassung). In seinem Kleinen Katechismus ist Luther ausführlicher und unterstreicht, dass die Taufe Vergebung der Sünde und Geburt eines neuen Menschen bedeutet. In: BSELK, 882– 83. CA 10, ebd. Auch hier ist hinzuzufügen, dass Luther in seinem Kleinen Katechismus ausführlicher ist. Er betont die Sündenvergebung, die in diesem Mahl geschenkt wird. So wird der Gläubige in die Seligkeit Gottes aufgenommen. In: BSELK, 888 – 89.
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4.2 Die Gemeinschaft der Gläubigen Die Gnadenmittel wecken im einzelnen Menschen den Glauben. In und durch sie wird er gerechtfertigt, das Heil wird ihm zugesprochen. Die gleichen Gnadenmittel gründen, erhalten und senden die Kirche, die Gemeinschaft der Gläubigen. Diese beiden Dimensionen sind untrennbar und geschehen gleichzeitig. Gemeinschaft des Einzelnen mit Gott ist Einbindung in die Gemeinschaft der Gläubigen. So sind Kirche und Rechtfertigung nicht voneinander zu trennen. Die Kirche ist eingebunden in das rechtfertigende Handeln Gottes. Theologisch folgt die lutherische Reformation dem Kirchenverständnis der ersten Jahrhunderte. Sie ist nicht nur eine Versammlung von Gläubigen, sondern selbst Gegenstand des Glaubens. Diese geglaubte Kirche ist Leib Christi, Tempel des Heiligen Geistes, Mutter der Gläubigen.²⁵ Diese Gemeinde der Heiligen ist verborgen und reicht über den Ort und die Zeit hinaus. Sie wird jedoch hier und heute in der sichtbaren Gemeinschaft erfasst, vornehmlich im Gottesdienst der im Namen Jesu Christi versammelten Gemeinde, die hier das Wort hört und die Heilsgaben empfängt. Mit Christus vereint ehrt sie Gott in Gebet und Lob und tritt in Fürbitte für die Welt vor ihm ein. Dieser Gottesdienst findet seine Fortsetzung im Gottesdienst des alltäglichen Lebens, wo der einzelne Christ und die Kirche die Gabe des Heils durch Zeugnis und Dienst in der Welt bekennt. Wo das Evangelium gemäß dem Worte Gottes verkündigt und die Sakramente gereicht werden, ist die una, sancta, catholica et apostolica ecclesia vorhanden. Wort und Sakrament sind keine zusätzlichen Kennzeichen der Kirche. Sie ermöglichen nur, die wahre Kirche zu erkennen. Die Betonung der Verkündigung des Wortes und der Spendung der Sakramente darf jedoch nicht in einem exklusiven Sinne verstanden werden. Gott handelt auch durch andere Mittel wie z. B. durch Bekenntnis, Beichte, Amt, kirchliche Ordnung usw. Diese sind jedoch der gemeinsamen Feier von Wort und Sakrament unterzuordnen. Die geschichtliche Gestaltwerdung der lutherischen Kirchen folgte nicht immer diesem theologischen Verständnis. Die geglaubte Kirche wurde oft geringgeachtet und die Gemeinschaft auf eine bloße Versammlung von Bekehrten reduziert. Auch die enge Verbindung mit den weltlichen Autoritäten trug oft zu einer Überbetonung der institutionellen Aspekte der Kirche bei. Der Lutherische Weltbund war bei der Gründung (1947) eine Föderation. Die weltweite Gemeinschaft der lutherischen Kirchen konnte sich aber nicht mit einem Nebeneinander von Kirchen in einem Bund zufrieden geben, da dies ihrem theologischen Kirchenverständnis nicht entsprach. Es galt, von einer Gemeinschaft (communitas) von Kirchen zu einer Kirchengemeinschaft (communio) zu gelangen. Auch Siehe M. Luther, Großer Katechismus. Auslegung des dritten Artikels des Glaubensbekenntnisses. In: BSELK, 1058 – 1070, insbesondere 1060 – 61. Luther spricht von der communio sanctorum und erklärt, dass dieser Begriff im Deutschen schwer verständlich sei. Daher zieht er den Begriff „Gemeinde“ vor.
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der neue interkonfessionelle ökumenische Kontext verdeutlichte die Notwendigkeit, das Verständnis der Kirche als communio sanctorum neu in den Mittelpunkt zu stellen. So eröffnete sich eine Zeit von Dialogen innerhalb des Luthertums. Dabei wurde deutlich, dass die communio sanctorum zugleich communio mit Gott und communio der Gläubigen bedeutet.²⁶ Auch die Tatsache, dass der neutestamentliche Begriff koinônia (communio) insbesondere bei Paulus immer auch gegenseitige Solidarität, gegenseitigen Hilfe und miteinander Teilen umfasst, wurde zentral für das lutherische Verständnis. So wurde der Lutherische Weltbund 1990 zu einer Communio, einer lebendigen und verbindlichen Gemeinschaft von Kirchen, die in Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft stehen und ihre geistlichen und materiellen Ressourcen gemeinsam in den Dienst an Gottes Mission in der Welt stellen. Ein wichtiges Studiendokument wurde 2015 vom Rat des Lutherischen Weltbundes verabschiedet und stellt das Selbstverständnis der lutherischen Kirchengemeinschaft dar.²⁷ Es erläutert die lutherische Kirchengemeinschaft als Gabe und Aufgabe, die gelebte Einheit in der Verschiedenheit der Kontexte, die theologischen Grundüberzeugungen sowie die Aufgabe dieser Kirchengemeinschaft, stets neue Gestalt zu verleihen, ohne dabei die Besonderheiten der einzelnen Mitgliedskirchen, ihre Autonomie und ihre Vielfalt zu verkennen. Auch die unterschiedlichen Positionen und die damit verbundenen Herausforderungen werden nicht verschwiegen. So wurde auch der zweite Teil des Artikels 7 der CA in die Tat umgesetzt. Dort heißt es, dass für die Einheit der Kirche die wahre Predigt des Evangeliums und die Feier der Sakramente dem Evangelium gemäß ausreicht und dass keine einheitlichen Traditionen, Institutionen und Praktiken nötig seien.²⁸ Ist die Gemeinschaft in Wort und Sakrament gegeben, dann ist auch die Einheit der Kirchen über alle besonderen Kontexte hinweg gegeben. Durch Wort und Sakrament rechtfertigt Gott den einzelnen Gläubigen. Die gleichen Gnadenmittel gründen, nähren, erhalten und senden die Kirche. Die gleichen Mittel machen auch die Einheit der Kirche aus. Gemeinschaft in Wort und Sakrament sind die notwendigen, aber auch ausreichenden Merkmale der Kirche und ihrer Einheit.
Der Ausdruck communio sanctorum kann im lateinischen durch hominum oder rerum vervollständigt werden. Beide Möglichkeiten machen Sinn und sind untrennbar. Die Gemeinschaft der Gläubigen ist zugleich Gemeinschaft an den Heiligen Dingen (die Gnadenmittel,Wort und Sakrament). Dies entspricht auch dem Communio-Verständnis des NT (siehe Apg 2,41– 44). Dies wurde insbesondere durch den lutherischen Theologen W. Elert auch im Hinblick auf die Geschichte der ersten Kirchen verdeutlicht. W. Elert, Abendmahl und Kirchengemeinschaft in der alten Kirche hauptsächlich des Ostens, Berlin, 1954. Lutherischer Weltbund, Das Selbstverständnis der lutherischen Kirchengemeinschaft. Ein Studiendokument, o.O., 2015, http://www.lwfassembly.org/sites/default/files/resources/dtpw-self-understan ding_communion_2015_de.pdf [Zugriff 13.03. 2017]. CA 7. In: BSELK, 102.
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4.3 Das Amt der Kirche Die lutherische Reformation wandte sich gegen die Ausübung der Ämter in der damaligen Kirche. Sie betonte das Priestertum aller getauften Gläubigen als Hinweis auf die Gleichheit aller Christen vor Gott und auf die apostolische Verpflichtung der ganzen christlichen Gemeinde. Alle in Christus Versöhnten sind Kinder Gottes, haben ohne Unterschied Zugang zu Gott und können vor Gott füreinander eintreten. Sie haben Anteil am apostolischen Amt der Kirche, das Evangelium in Wort und Leben zu bezeugen. Damit wird jedoch das besondere, durch Ordination übertragene Amt nicht überflüssig. Mit dem zu verkündigenden Wort Gottes und den zu spendenden Sakramenten ist auch das durch Ordination übertragene kirchliche Amt als göttliche Stiftung gesetzt. Christus selbst ist es, der durch dieses Amt und dessen Handeln wirkt. Bereits in ihrem fünften Artikel spricht die CA von der Notwendigkeit dieses besonderen Amtes.²⁹ Aus dem Priestertum aller Gläubigen kann das besondere kirchliche Amt nicht abgeleitet werden; es steht sowohl in der Gemeinde als auch unter und, mit dem Wort Gottes, der Gemeinde gegenüber. Die Gemeinde Christi aber hat das Recht und die Pflicht, für die Einsetzung kirchlicher Amtsträger zu sorgen und zugleich über deren Amtsausübung mit zu wachen. In der konkreten Ausgestaltung und Aufgliederung dieses Amtes ebenso wie in der Gestaltung kirchlicher Ordnung und gottesdienstlicher Formen besteht Freiheit. Sie ist keine Freiheit der Indifferenz, sondern Freiheit zu verantwortlicher Gestaltung unter dem Gesichtspunkt, ob diese dem Auftrag und der Einheit der Kirche dient. Auch wenn für die lutherische Tradition die um Wort und Sakrament versammelte Gottesdienstgemeinde die primäre Referenzgröße für das durch Ordination übertragene Amt ist, so wurde bald deutlich, dass es auch übergemeindliche Formen von Leitung und Aufsicht in der Kirche (Episkope) geben muss. Die überregionalen Ämter haben historisch und geographisch unterschiedliche Gestalten angenommen. Dabei hat sich eine Struktur entwickelt, nach der die Verantwortung für überregionale Leitung und Aufsicht personal (durch Bischöfe oder Kirchenpräsidenten), kollegial (im Zusammenwirken verantwortlicher Leitungspersonen – Kollegien von Bischöfen oder Kollegien der Mitarbeiter der Bischöfe) wie auch synodal (insbesondere durch Synoden, zu denen wesentlich auch Nichtordinierte gehören) wahrgenommen wird. Episkope geschieht nicht nur durch den episkopos, sondern im Zusammenwirken verschiedener leitender Personen und Institutionen. Dies wird erläutert in einer neueren Erklärung des Lutherischen Weltbundes (Lund 2007).³⁰ Dieses Amtsverständnis charakterisiert die lutherischen Kirchen seit der Reformation. Es unterscheidet sich vom römisch-katholischen Verständnis dadurch, dass der ordinierte Amtsträger sich nicht wesensmäßig von dem getauften Gläubigen un-
CA 5 In: BSELK 100. Lutherischer Weltbund, Das bischöfliche Amt im Rahmen der Apostolizität der Kirche. Genf, 2008.
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terscheidet, auch wenn er ein besonderes Amt ausübt. So wird das Verständnis der Ordination als Sakrament abgelehnt. Auch wird die Dreigliederung des Amtes (Diakon, Priester, Bischof) nicht als von Gott eingesetzte Ordnung verstanden. Zu dem kommt schließlich; dass Wort, Sakrament und besonderes Amt nicht auf der gleichen Ebene stehen. So können lutherische Kirchen auf die Gegenwart des wahren Amtes der Kirche schließen, wenn sie in einer anderen Gemeinschaft die wahre Feier von Wort und Sakrament feststellen, ein Schluss, der auch heute für die römisch-katholische Kirche unmöglich ist.
4.4 Die Bindung an kirchliches Bekenntnis Da – wie in der Einleitung erwähnt – die lutherische Reformation die damalige Ausübung des Bischofsamtes hinterfragte, mussten bei ihrer Ordination die zukünftigen Pastoren nicht mehr dem Bischof Gehorsam versprechen. Sie wurden auf das lutherische Bekenntnis, insbesondere die CA, verpflichtet. Glaube ist untrennbar mit Bekennen verbunden. Dieses Bekennen erschöpft sich aber nach lutherischem Verständnis nicht in aktuellem Bekennen. Es spricht sich zugleich in formulierten und zu überliefernden Bekenntnissen und Lehraussagen aus. Sie werden von der kirchlichen Gemeinschaft rezipiert, verpflichten diese aber zugleich und tragen so dazu bei, die Gemeinschaft der Kirche in Raum und Zeit zu bewahren. Die gemeinsame Bindung an die CA und Luthers Kleinen Katechismus ist strukturierend für die weltweite lutherische Kirchengemeinschaft.³¹ Das Bischofsamt wird gewiss hoch geachtet. Garant der Lehre und des Unterrichts der Kirche ist aber das verbindliche Bekenntnis. Die Grundintention kirchlicher Bekenntnisse liegt darin, die Wahrheit des christlichen Glaubens in Form geschichtlicher Bezeugung zum Ausdruck zu bringen. Aus der Bindung an das Evangelium und ihrer Treue gegenüber der Heiligen Schrift empfangen die Bekenntnisse ihre Verbindlichkeit. Sie sind eine hermeneutische Hilfe zum Verständnis der Schrift und Kriterium für die Unterscheidung zwischen rechter und falscher Verkündigung und Lehre. Kirchliches Bekenntnis steht als norma normata unter der Heiligen Schrift, die alleine norma normans ist. Als Antwort der Kirche auf das Evangelium ist es nicht abgeschlossen, sondern muss in neuen geschichtlichen Situationen und im erneuten Hören auf das Schriftzeugnis in Kontinuität mit dem Bekenntnis der Väter neu interpretiert und ausgesprochen werden.
Unter den lutherischen Kirchen bestehen Unterschiede im Blick auf die Anzahl der verbindlichen Bekenntnisschriften und das Verständnis von Bekenntnisbindung. In vielen Kirchen gelten neben der CA und Luthers Kleinem Katechismus auch die anderen Bekenntnisschriften, die in dem Konkordienbuch (1580) zusammengefasst sind. Alle Texte in: BSELK.
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5 Die ökumenische Verpflichtung und die Verantwortung für die gesamte Welt 5.1 Die ökumenische Verpflichtung Die Einheit ist ein Wesensmerkmal der Kirche und eine Gabe Gottes. Die Trennung der Kirchen steht im Widerspruch zum Willen Gottes. Dies wurde in den vergangenen Jahrzehnten aufs Neue erkannt, und wie viele andere Kirchen hat auch das Luthertum sich bewusst um die Wiederherstellung der Einheit bemüht. Das Ringen um die Einheit der Kirche ist nach lutherischem Verständnis ein unbedingter Auftrag. Was innerhalb des Luthertums gilt, wird lutherischerseits auch auf das Verhältnis zu den anderen Kirchen angewandt. Die Einheit der Kirche ist dann gegeben, wenn die Übereinstimmung im Verständnis des Evangeliums und in der rechten Spendung der Sakramente den gemeinsamen Gottesdienst erlaubt. Dies ist notwendig und ausreichend. Von dieser Überzeugung ausgehend, hat der lutherische Theologe Harding Meyer entscheidende Akzente gesetzt, die in der weltweiten Ökumene weitgehend übernommen wurden.³² – Harding Meyer prägte das Verständnis der „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“. Die Einheit der Kirche bedeutet nicht Uniformität. Das gleiche Verständnis des Evangeliums kann in verschiedenen Sprach- und Denkformen und somit in verschiedenen kirchlichen Gestalten ausgedrückt werden. Die Verschiedenheit soll nicht aufgehoben, wohl aber versöhnt werden. „Versöhnte Verschiedenheit“ meint jedoch nicht, dass Unterschiede einfach zu akzeptieren seien. Für eine wahre Versöhnung ist es notwendig, zwischen dem Gehalt und der Gestalt von Glaubensformulierungen zu unterscheiden. Wenn im zwischenkirchlichen Dialog gezeigt werden kann, dass es sich in den verschiedenen Ausdrucksformen um das gleiche Evangelium handelt, dann kann und muss von einer versöhnten Verschiedenheit gesprochen werden. – Von Harding Meyer stammt auch der Ausdruck „differenzierter Konsens“ (besser: „differenzierender Konsens“). Legitime Differenzen sind Teil des Konsenses. Was damit gemeint ist, wird deutlich am Beispiel der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre, die 1999 von der römisch-katholischen Kirche und der lutherischen Weltgemeinschaft unterzeichnet wurde. Dort heißt es, „dass es zwischen Lutheranern und Katholiken einen Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre gibt“³³. Es wird nicht behauptet, dass die lutherische Rechtfertigungslehre mit der katholischen identisch sei oder umgekehrt. Dieser Konsens ist differenzierend, weil er unterscheidet zwischen dem Gehalt der
Siehe H. Meyer, Versöhnte Verschiedenheit, 3 Bde., Frankfurt/Paderborn, 1998 – 2009. GE 40.
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Grundwahrheiten, in dem Übereinstimmung bestehen muss, und den Ausdrucksformen dieses Gehalts, in denen Unterschiede bestehen können. Dieses Einheitsmodell wurde bei den Vollversammlungen des lutherischen Weltbundes (Daressalam 1977 und Budapest 1984) als der lutherische Weg zur Einheit der Kirche beschlossen. Dieses Modell bietet ein offenes und nicht abgrenzendes Verständnis der Einheit der Kirche. Die lutherischen Kirchen verstehen sich so, dass sie ganz Kirche sind, ohne die ganze Kirche zu sein. Andere Kirchen gehören auf ihre Weise zur Kirche Jesu Christi. Damit ist jeglicher Konfessionalismus, d. h. einer Verabsolutierung der eigenen konfessionellen Identität, ausgeschlossen. Um diesem Modell sichtbar zu verwirklichen, haben sich die lutherischen Kirchen von Beginn an an den interkonfessionellen Dialogen beteiligt. Dieser Weg ist ein fortwährender Prozess. Im Dialog mit Rom kam es zur erwähnten GE, die nun nach einem differenzierenden Konsens in der Ekklesiologie verlangt. Im Dialog mit den reformierten, anglikanischen und methodistischen kam es vielerorts zur vollen gegenseitigen Anerkennung und Versöhnung der Kirchen. Jeder spricht weiterhin seine „Sprache“, doch erkennen die Partnerkirchen darin einen wahren und legitimen Ausdruck der einen Kirche Jesu Christi.
5.2 Die Verantwortung für die gesamte Welt Gottes Liebe zu allen Menschen und die Wahrnehmung der Welt als der guten Schöpfung Gottes, der durch Wort und Geist alles, was ist, schafft und erhält, bestimmt die weltliche Verantwortung der Christen als gehorsames Mitwirken an Gottes Handeln in der Welt. Im Bekenntnis zu Gott anerkennen die Christen, dass sie ihr Dasein schlechterdings nicht verdienen können, ebensowenig wie ihre Rechtfertigung vor Gott. Sie können sich ihr Dasein und ihre Rechtfertigung nur schenken lassen. Die immer währende und nie abgeschlossene Schöpfung Gottes zielt auf die Antwort des menschlichen Geschöpfs: auf die Wahrnehmung der guten Schöpfung, den Dank des Menschen an Gott und den Einsatz für die Erhaltung der Schöpfung, den Frieden und die Gerechtigkeit unter den Menschen in dieser Zeit. Damit bejahen sie die Herablassung und Inkarnation Gottes in Jesus Christus. Diese verbietet jede Verachtung der Menschlichkeit. Dieser Auftrag Gottes betrifft sowohl die einzelnen Christen in ihren Lebenszusammenhängen wie auch die Kirche als Ganze. Auch wenn dieses Wirken keine schrittweise Herstellung des Reiches Gottes zum Ziel haben kann, so geschieht es doch in der Hoffnung, dass Gott am Ende der Zeiten die gefallene Schöpfung endgültig zurechtbringen und die hier schon begonnene Neuschöpfung vollenden wird. In dieser Hoffnung haben die lutherischen Kirchen in der Geschichte ihre Verantwortung wahrgenommen, durch die Einrichtung von Schulen, diakonischen Werken usw. sowie durch das Zeugnis der einzelnen Christen, die sich für rechtes menschliches Zu-
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sammenleben einsetzen und unmenschlichen und ungerechten Verhältnissen entgegentreten. Die Verantwortung für die Welt wird je nach Ort und Zeit auf verschiedene Weise umgesetzt. Es geht dabei sowohl um die Begleitung und Überwindung der Not einzelner Menschen wie auch um das Einbringen der Stimme des Evangeliums in gesellschaftlichen und insbesondere ethischen Fragen. Weltliche Ordnungen brauchen nicht von der Kirche legitimiert zu werden. Wohl aber muss die Kirche die weltlichen wie auch ihre eigenen Ordnungen daraufhin prüfen, ob sie Gottes Gebot nicht widersprechen. Die Kirche darf nicht gesellschaftliche Zwangsmittel für die Verkündigung des Evangeliums beanspruchen, wie es auch nicht Sache des Staates oder der Gesellschaft ist, über die Verkündigung des Evangeliums zu bestimmen. Seit dem 16. Jahrhundert ist das intensive theologische Bemühen um die Wahrheit der hier und jetzt zu geschehenden Verkündigung ein Merkmal des lutherischen Selbstverständnisses. Die Unverfügbarkeit des Evangeliums erfordert ein unablässiges theologisches Bemühen um die Wahrheit der hier und jetzt zu geschehenden Verkündigung. Dieses Bemühen vollzieht sich im verstehenden und kritischen Hören auf das Schriftzeugnis, das Bekenntnis und die Tradition der Kirche. Es erfordert die Auseinandersetzung mit den geistigen Herausforderungen der Gegenwart und das Hören auf die geistlichen und theologischen Einsichten der anderen Kirchen. Es ist getragen von dem Vertrauen auf die Verheißung, dass Christus seine Kirche in der Wahrheit erhalten wird.
Luther in der Ökumene
Urkunde der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre, 31. Oktober 1999 (Mit freundlicher Genehmigung des Lutherischen Weltbunds und PCPC)
Patrizio Foresta
Katholische Verdammung und Erlösung Luthers 1 Verdammung und Erlösung, Unheil und Epos Turned wrong way round, the relentless unforeseen was what we schoolchildren studied as ‘History’, harmless history, where everything unexpected in its own time is chronicled on the page as inevitable. The terror of the unforeseen is what the science of history hides, turning a disaster into an epic.¹
Dank einer merkwürdigen Ironie des Schicksals erweist sich eine von einem großen Romancier aufgeworfene Frage der historischen Methode, die in einem völlig anderen Kontext entstanden ist und heute eine unerwartete Dringlichkeit angenommen zu haben scheint, als am besten geeignet für den Fall der theologischen und historiographischen Resonanz Luthers, einer mehr als je zuvor sich zwischen Gott und Teufel, zwischen Erlösung und Verdammung in der Schwebe befindlichen Gestalt.² Im Fall der katholischen Interpretationen Luthers und der Reformation ist das Bild noch komplizierter, denn nachdem sie für eine lange Zeit in einer „ahistorischen, rein doktrinären oder sogar ideologischen Lesart“³ gefangen waren, konnten sie im Lauf des zwanzigsten Jahrhunderts und vor allem nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil ihren Platz in „einer historischen Sichtweise auf das Christentum“ wiederfinden, in
Übersetzung: Antje Foresta. Ich widme diese Seiten in aufrichtiger Dankbarkeit Prof. Boris Ulianich, in dessen Schuld ich stehe, weil er mich dazu ermutigt und es ermöglicht hat, mein deutsches Abenteuer inmitten von Jesuiten, lutherischen Juristen und einer neuen Familie zu beginnen. „Preso alla rovescia, l’implacabile imprevisto era quello che noi a scuola studiavamo col nome di ‚storia‘, la storia inoffensiva dove tutto ciò che nel suo tempo è inaspettato, sulla pagina risulta inevitabile. Il terrore dell’imprevisto: ecco quello che la scienza della storia nasconde, trasformando un disastro in un’epopea“; P. Roth, Il complotto contro l’America, (Turin, 2005), 119 f. Deutschsprachiger Titel: Die Verschwörung gegen Amerika (München, 2005). Englische Originalausgabe: The Plot against America (New York, 2004). H.A. Oberman, Luther. Mensch zwischen Gott und Teufel (Berlin, 1982). Zwei ganz aktuelle katholische Interpretationen Luthers sind die von P. Neuner, Martin Luthers Reformation. Eine katholische Würdigung (Freiburg/Basel/Wien, 2017), und von D. Blum, Der katholische Luther. Begegnungen – Prägungen – Rezeptionen (Paderborn, 2016). Anmerkung der Übersetzerin: Da dieser Beitrag zahlreiche Zitate aus der italienischsprachigen Fachliteratur enthält, die i. d. R. nicht in deutscher Übersetzung vorliegt, werden nachfolgend alle Zitate im Text in Übersetzung wiedergegeben und die jeweiligen Originalstellen in den Anmerkungen zitiert. https://doi.org/9783110498745-046
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der die Geschichte „erneut als der privilegierte Ort angenommen wird, in dem sich das Ereignis des christlichen Heils entfaltet“.⁴ Damit erkannte das Konzil den epistemologischen Wechsel des zwanzigsten Jahrhunderts an, durch den „das Gleichgewicht der Theologie durch die vollständige Aufnahme der Ergebnisse aus der modernen historischen Forschung erschüttert wurde“.⁵ Es ist klar ersichtlich, dass dieser Wechsel nicht in der Lage gewesen wäre, „die Verurteilung ins Wanken zu bringen, die aus einem dogmatischen Urteil über ein Bündel an Doktrinen hervorging, die als absolut unvereinbar mit dem, was von der katholischen Kirche als lebensnotwendig erachtet worden war, angesehen wurden“, wenn er nicht das „Sich-der-Geschichtestellen“ der Kirche selbst mit einbezogen hätte, ein „neues und anderes Sich-gebärden“, das sie dazu gebracht hatte, die „historische Dimension in ihren verschiedenen Ausprägungen“ wieder aufzunehmen, aber auch zu „einem erneuerten Bewusstsein der Unterscheidung zwischen dem Reich Gottes und der Kirche in der Geschichte“ zu gelangen.⁶ Die konfessionelle Trennung hat den römischen Katholizismus dazu gebracht, sich hinter den Positionen des tridentinischen Paradigmas zu verschanzen und aus Angst, die Grenzen ein für alle Mal zu ziehen und zu verfestigen, ein Bild Luthers und der Reformation zu entwerfen, das dem Zweck dienlich war.⁷ Wegen einer Einzigartigkeit, die all jenen vertraut ist, die sich mit der Geschichte der christlichen Konfessionen beschäftigen, haben die protestantischen Kirchen – und insbesondere die lutherischen – einen Weg eingeschlagen, der sie im Vergleich zur katholischen Gegenseite zu gegensätzlichen Ergebnissen hätte bringen müssen, der jedoch unter der Patina der apologetischen Rhetorik nichts anderes gemacht hat als die felsenfeste Zerbrechlichkeit eines Idols zu bestätigen, das zum jeweiligen Hausgebrauch errichtet
„Lettura a-storica, puramente dottrinale o addirittura ideologica“; „una visione storica del cristianesimo“; „viene di nuovo assunta […] come il luogo privilegiato ove si snoda l’evento della salvezza cristiana“; G. Alberigo, „Martin Lutero nella coscienza cattolica contemporanea,“ in Nostalgie di unità. Saggi di storia dell’ecumenismo, Ders. (Genua, 1989): 110 – 121, hier 110; veröffentlicht auch in A. Agnoletto, Hg., Martin Luther e il protestantesimo in Italia. Bilancio storiografico (Milano, 1984), 210 – 222. Der Beitrag erschien in leicht abgewandelter Form bereits in zwei anderen Publikationen aus den Jahren 1983 und 1984: G. Alberigo, „Cosa rappresenta Lutero nella coscienza cattolica contemporanea,“ in Lutero nel suo e nel nostro tempo. Studi e conferenze per il 5° centenario della nascita di M. Lutero (Turin, 1983): 29 – 38; Ders., „Cosa rappresenta Lutero nella coscienza cattolica contemporanea,“ in In necessariis unitas. Mélanges offerts à Jean Luis Leuba, Hg. R. Stauffer (Paris, 1984):15 – 23. „L’equilibrio della teologia [è] stato scosso […] dalla piena acquisizione dei dati della ricerca storica moderna“; G. Ruggieri, „I sinodi tra storia e teologia,“ Cristianesimo nella storia 27 (2006): 365 – 392, hier 365; jetzt auch in Ders., Chiesa sinodale (Bari/Rom, 2017), 41. Vergleiche dazu J. W. O’Malley, What Happened at Vatican II (Cambridge/London, 2008), 36 – 43. „Scalfire la condanna scaturita da un giudizio dogmatico su un insieme di dottrine ritenute assolutamente incompatibili con ciò che era considerato vitale dalla Chiesa cattolica“; „porsi dinnanzi alla storia“; „nuovo e diverso atteggiarsi“; „dimensione storica nelle sue varie articolazioni“; „una rinnovata coscienza della distinzione fra regno di Dio e Chiesa nella storia“; B. Ulianich, „Quale Lutero?,“ in Ders., Riforma e riforme. Momenti di storia e storiografia, (Neapel, 1995): 57– 67, hier 58 f. P. Prodi, Il paradigma tridentino. Un’epoca della storia della Chiesa (Brescia, 2010).
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wurde, sei es nun Rettung bringend oder häretisch. Im spezifischen Fall sagen die Veränderungen, die dem Schicksal Martin Luthers innerhalb des Katholizismus widerfahren sind, viel weniger über ersteren als über letzteren aus: Man nehme zum Beispiel das Verhältnis der Katholiken zur Schrift, das jahrhundertelang von der zentralen Stellung bedingt wurde, die Luther ihr zugeschrieben hatte. Zudem war es von einer misstrauischen Haltung geprägt, die im Lauf der langen tridentinischen Ära dazu geführt hat, dass sich die katholische Theologie immer weniger auf die Bibel bezogen, sondern ein nach philosophischen Maßstäben entworfenes, dem vermeintlichen aristotelisch-thomistischen Kanon entsprechendes doktrinäres System errichtet und während der Predigten eher eine „Doktrin“ und eine „Moral“ verkündet hat, zumindest bis das Zweite Vatikanische Konzil erneut den „Primat des Wortes Gottes“ bekräftigte. Übrigens hat „keine [Stimme] so wie die seine [d. h. von Luther] einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet, der römischen Kirche eine wirksame Reform aufzuzwingen, und zwar soweit, dass man heute sagen kann, dass der moderne Katholizismus – ohne Luther – vollkommen anders wäre und wohl kaum besser“. Aus diesem besonderen katholischen Blickwinkel wird auch Luther zu jemandem, der „mit seiner Kritik an der aristotelischen Verschleierung der christlichen Theologie und an den weltlichen Kompromissen der römischen Kirche“ das abendländische Christentum dazu gezwungen hat, sich „aus dem ‚festgelegten‘ und privilegierten Zustand herauszubewegen, der seit dem Edikt Konstantins der christianitas zum Leben verholfen hatte“.⁸ In diesem begrifflichen Rahmen hatte „das katholische Bild Luthers in der Form, in der es in den verschiedenen Zeitabschnitten der post-tridentinischen Geschichte aufkam und sich gebärdete, stets eine apologetische Funktion des Katholizismus innegehabt“; es hat zwar „Überarbeitungen erfahren, Korrekturversuche in besonderen historischen Momenten durch Persönlichkeiten, die auch an der Reform der Kirche Interesse hatten“, aber seine Revision „scheint in einigen besonderen Situationen an die Abstreitung bestimmter Aspekte des traditionellen Katholizismus (und des politischen Papsttums) gebunden zu sein, an die kritische Wiederentdeckung der Schrift, einer auf natürlichere Weise wiedergefundenen und gelebten Liturgie, einer weniger weltlich und mehr in Christus verankerten Ekklesiologie, einer offeneren und freieren Theologie“.⁹
„Dottrina“; „morale“; „il primato della parola di Dio“; „nessuna [voce] ha dato come la sua [di Lutero] un contributo decisivo nell’imporre una riforma effettiva alla Chiesa romana, al punto da poter dire oggi che il cattolicesimo moderno sarebbe stato – senza Lutero – completamente diverso e difficilmente migliore“; „la sua critica dell’inquinamento aristotelico della teologia cristiana e delle compromissioni temporali della Chiesa romana“; „uscire dalla condizione ‚stabilita‘ e privilegiata che aveva dato vita, a partire dall’editto di Costantino, alla christianitas“; Alberigo, „Martin Lutero nella coscienza cattolica contemporanea“: 112, 119 f. „L’immagine cattolica di Lutero è stata sempre una funzione apologetica del cattolicesimo così come è andato emergendo ed atteggiandosi nei diversi periodi della storia post-tridentina“; „ha subito ritocchi, tentativi di revisione in particolari momenti storici e attraverso personalità interessate anche alla riforma della Chiesa“; „appare legata in talune situazioni particolari alla contestazione di determinati aspetti del cattolicesimo tradizionale (e del papato politico), alla riscoperta critica della
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2 Jedem Dorn seine Rose Es ist eine weit geteilte Meinung, dass die zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts von dem Dominikaner Heinrich Suso Denifle – einem exzellenten Kenner der Geschichte der mittelalterlichen Universität und Mystik, der sich erst am Ende seines Forscherlebens mit Luther beschäftigte – Luther gewidmeten Bände sowohl den Endpunkt einer langen Tradition darstellen, die mit den 1549 aus Mainzer Druckwerkstätten hervorgegangenen Commentaria Ioannis Cochlaei de actis et scriptis Martini Lutheri begann, als auch den Beginn einer neuen Forschungsperiode zu Luther von katholischer Seite. So sehr diese auch bösartig und polemisch sein mag, so ist es paradoxerweise gerade Denifle zu verdanken, dass die ersten Schritte getan wurden, um sich von dem historiographischen „Bann“ zu befreien, der dem Reformator von Cochlaeus inmitten des konfessionellen Ringens nach dem kaiserlichen Edikt von 1521 auferlegt wurde, und um die „Sattelzeit“ des katholischen Lutherbilds zu überschreiten, das von zahlreichen Positionierungen seitens des kirchlichen Lehramts und der Seelsorge vom Beginn des Pontifikats Leos X. bis zu den ersten Monaten desjenigen Johannes’ XXIII. bestimmt und von einer Historiographie dogmatischen und deduktiven Typs sich zu eigen gemacht wurde. Die Belesenheit des Dominikaners stürzte das traditionelle katholische Lutherbild in eine Krise, obwohl dieser eigentlich beabsichtigte, ihr zu einem noch festeren Fundament zu verhelfen.¹⁰ Sicher war es nicht notwendig, den Tod Luthers abzuwarten, um einer Auseinandersetzung beizuwohnen, bei der keine Seite mit Schlägen sparte und deren berühmtestes Opfer die Partei der sogenannten Evangelici war, die für Vermittlung und Versöhnung stand und im zwanzigsten Jahrhundert so viel historiographischen Erfolg hatte, vor allem in
Scrittura, di una liturgia più genuinamente ritrovata e vissuta, di una ecclesiologia meno temporalmente e più cristicamente ancorata, di una più aperta e più libera teologia“; B. Ulianich, „Riflessioni sulla storiografia cattolica relativa a Lutero,“ in Ders., Riforma e riforme, 441– 454, hier 453. H.S. Denifle, A.M. Weiß, Luther und Luthertum in der ersten Entwickelung quellenmäßig dargestellt, Band I – II (Mainz, 21904– 1909). Zu Denifle vgl. den jüngst erschienenen Beitrag von C. Arnold, „Heinrich Suso Denifle OP (1844– 1905). Die Wirkungen einer historischen Polemik gegen Luther,“ in Martin Luther. Monument, Ketzer, Mensch. Lutherbilder, Lutherprojektionen und ein ökumenischer Luther, Hg. C. Arnold, N. Haag, A. Holzem und V. Leppin (Freiburg, 2017): 247– 268, hier 250. Vgl. das klassische Werk von A. Herte, Das katholische Lutherbild im Banne der Lutherkommentare des Cochläus, Bde. I-III (Münster, 1943), das die katholische Literatur zu Luther bis zur Arbeit von F. Bichler, Luther in Vergangenheit und Gegenwart (Regensburg/Wien, 1918), untersucht. Zur einschlägigen katholischen Literatur bis 1943 vgl. M. Marcocchi, „L’immagine di Lutero in alcuni manuali di storia ecclesiastica tra ’800 e ’900,“ in Lutero in Italia. Studi storici nel V centenario della nascita, Hg. L. Perrone (Casale Monferrato, 1983): 167– 169; eine umfassende Interpretation findet sich bei G. Miccoli, „,L’avarizia e l’orgoglio di un frate laido…‘. Problemi e aspetti dell’interpretazione cattolica di Lutero. Nota introduttiva,“ in ebd.: vii–xxxiii; J. E. Vercruysse, „Katholische Lutherforschung im 20. Jahrhundert,“ in Lutherforschung im 20. Jahrhundert. Rückblick – Bilanz – Ausblick, Hg. R.Vinke (Mainz, 2004): 191– 212. Eine kurze Zusammenfassung des päpstlichen und bischöflichen Lehramts findet sich bei Ulianich, „Riflessioni sulla storiografia cattolica relativa a Lutero“: 442– 446.
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Italien, Frankreich und Deutschland.¹¹ Die Beziehung zwischen Rom und Luther war von Anbeginn an, oder vielmehr seit der Replik Silvestro Mazzolinis auf die 95 Thesen, eher ein Schlagabtausch als ein Austausch von Ideen, bei dem keiner der beiden Rivalen wirklich die Absicht gehabt zu haben schien, dem anderen auch nur die kleinste Möglichkeit zum Dialog offen zu lassen.¹² Der Erfolg Denifles im Panorama der erneuerten Lutherinterpretation, deren Einfluss auch in der Auseinandersetzung Ernesto Buonaiutis und Jacques Maritains mit Luther und der Reformation aufzuspüren ist, die im Gegensatz zu Mario Bendiscioli die innovative Tragweite der zeitgleichen deutschen Lutherforschung¹³ nicht wahrzunehmen schienen, hat etwas Paradoxes an sich: Um die Einseitigkeit und fehlende theologische Originalität der Rechtfertigungslehre Luthers in der Form aufzuzeigen, in der diese sich in der protestantischen Reflexion herausgebildet hatte, lehnte der überaus gelehrte vatikanische Unterarchivar den Reformator im religiösen Leben der spätmittelalterlichen Kirche ab. Indem er ihn von einer Ausnahme zu einer Regel herabstufte und mit Hiebwaffen auf den gegnerischen Schützengraben zurannte, machte er ihn faktisch wieder zu einem Katholiken, wenn auch mit allen psychologischen Schwierigkeiten behaftet, die Denifle selbst und nach ihm der Jesuit Hartmann Gisar in einer Persönlichkeit ausmachten, welche ihrem parteiischen Urteil nach Opfer der eigenen krankhaften Skrupel war, in theologischer Böswilligkeit handelte und dem Exzess und der Unmoral zugeneigt war.¹⁴ Dies ist die strittigste und reichste Eigenschaft der Entdeckung des mittelalterlichen Luthers durch Denifle: Aus Gründen, die sowohl subjektiv – Persönlichkeit, Erziehung, Kultur – als auch objektiv sind und an seine Mentalität und an den historischen Augenblick des Katholizismus gebunden sind, in dem er selbst lebte, und obwohl ihm alle Unterlagen vorlagen, die es ihm ermöglicht hätten, hielt der Dominikaner an der Grenze der ökumenischen Schwelle an und schaffte es nicht, diesen letzten Schritt zu vollziehen, der in den folgenden Jahrzehnten dazu führen würde, den Reformator als Nachkomme und Vater einer gemeinsamen Tradition anzusehen. Die scholastischen Wurzeln der von Luther so sehr geliebten deutschen Mystik aufzufinden, lag mit dem Vorteil der historischen Distanz betrachtet nicht so fern vom
K. Ganzer, Aspekte der katholischen Reformbewegungen im 16. Jahrhundert (Stuttgart, 1991); Ders., Kirche auf dem Weg durch die Zeit. Institutionelles Werden und theologisches Ringen. Ausgewählte Aufsätze und Vorträge (Mü nster, 1997), 181– 211. V. Reinhardt, Luther, der Ketzer. Rom und die Reformation (München, 2016), 10 f. B. Ulianich, „Die Reformation in Deutschland di Joseph Lortz. La sua fortuna in Italia e la ,battaglia‘ per l’imprimatur alla III edizione,“ in Riforma e riforme, Ders.: 393 – 439, insbesondere 402– 404; Ders., „Riflessioni sulla storiografia cattolica relativa a Lutero“: 450 f. Ulianich bezieht sich auf E. Buonaiuti, Lutero e la Riforma in Germania (Bologna, 1926), und auf die vom damaligen Generalassistenten des katholischen Studentenverbands Italiens FUCI, Giovanni Battista Montini, angefertigte Übersetzung (Brescia, 1928) von J. Maritain, Trois reformateurs. Luther, Descartes, Rousseau (Paris, 1925). Zum Einfluss Denifles bei Buonaiuti vgl. auch G. Dall’Olio, Martin Lutero (Rom, 2013), 201– 203. H. Grisar, Luther, 3 Bde. (Freiburg, 1911– 1912).
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Auffinden der Wurzeln von Luthers Rechtfertigungslehre in der Scholastik, insbesondere bei Thomas von Aquin.¹⁵ Trotzdem war 1904 das Ergebnis ein anderes: Nachdem Luther einmal jeder ursprüngliche und kreative spirituelle Wert aberkannt worden war, lag die einzige mögliche Erklärung seiner ‚Rebellion‘ in seinem Charakter und seiner Psychopathologie.¹⁶ Die Disputation zwischen Ordensmännern schien vierhundert Jahre später weiterzugehen, als der Dominikaner und – nach der Aeterni patris – überzeugte Neothomist Denifle noch immer dem Mitbruder Tetzel gegen den augustinischen Häresiarchen zur Hilfe eilte. Nichtsdestoweniger zeichneten sich nach Denifle jene Forschungstendenzen ab, die die historiographische Neubetrachtung Luthers zwischen dem Ende des neunzehnten und dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts kennzeichneten: die Diskussion über Luthers Grad an Modernität, das neue Interesse an der Figur Luthers vor dem Ablassstreit oder vielmehr dem Luther der Dictata super Psalterium und dem Kommentar zum Römerbrief, eine neuerliche Aufmerksamkeit gegenüber dem historischen Kontext und der mittelalterlichen Tradition (wie der Einfluss Ockhams, des Nominalismus oder der rheinischen Mystik) und eine größere Sensibilität hinsichtlich der Unterscheidung zwischen Luther und Luthertum. Gleichzeitig wurde die Forschung in Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkrieges und mehr noch in der Nachkriegszeit von der Wiederannäherung zwischen Katholiken und Protestanten begleitet, und zwar sowohl, um die religiös-kulturelle Einheit des durch die militärische Niederlage erschöpften Landes zu verstärken, als auch von einer gemeinsamen Front zur Unterstützung des Nationalsozialismus, und zwar in der Illusion, ein Regime christianisieren und normalisieren zu können, das zu seinen expliziten Zielen die „(Ent)konfessionalisierung“ Deutschlands zählte,¹⁷ oder – fortschreitend und mit vielen Schattierungen und Ungewissheiten – in Kontraposition dazu. Die in jenen Jahren entstandenen interkonfessionellen Bewegungen wie der Hochkirchlich-ökumenische Bund oder die Una Sancta Bewegung von Max Joseph Metzger und die Katastrophe von 1945 taten nichts anderes als die konfessionelle Polemik weiter abzuschwächen und den „Wunsch, Luther zu verstehen“ zu nähren.¹⁸ Die Zielscheibe Denifles war zu klar ersichtlich: die angenommene Neuheit der Rechtfertigungslehre und mit ihr der berühmte „reformatorische Durchbruch“ Luthers,¹⁹ der ursprüngliche Akt, aus dem die protestantische Christenheit hervorging, Vgl. die grundlegende Studie von O.H. Pesch, Theologie der Rechtfertigung bei Martin Luther und Thomas von Aquin. Versuch eines systematisch-theologischen Dialogs (Mainz, 1967). Dall’Olio, Martin Lutero, 185. C. Zwierlein, „(Ent)konfessionalisierung“ (1935) und „Konfessionalisierung“ (1981), beide in: Archiv für Reformationsgeschichte 98 (2007): 199 – 230. „Il desiderio di capire Lutero“; M. Marcocchi, „Prefazione all’edizione italiana,“ in La Riforma in Germania, Hg. J. Lortz, Bd. I (Mailand, 1971, eigentlich 1979): xii–xiii; B. Ulianich, La Chiesa in Lutero (1509 – 1521) (Bologna, 1967), 8. B. Lohse, Hg., Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther (Darmstadt, 1968); T. Kaufmann, „Die Frage nach dem reformatorischen Durchbruch. Ernst Bizers Lutherbuch und seine Bedeutung,“ in Lutherforschung im 20. Jahrhundert, Hg. Vinke: 71– 97.
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welche nach den Bänden Denifles erstmals von den katholischen und protestantischen Gelehrten unter tatsächlich neuem Licht und mit alles andere als verachtenswerten Folgen gelesen wurden. Es mag nach einer eher gewagten These klingen, wenn man seine kritische Haltung gegenüber Denifle und Grisar berücksichtigt,²⁰ denen er „das große Werk“ von Lortz gegenüberstellte (d. h. Die Reformation in Deutschland), doch vielleicht war die fehlende konfessionelle Furcht, mit der Hubert Jedin sich dem Turmerlebnis von Contarini annäherte, zum Teil auch Kind dieses Werks der Entmythologisierung, das Denifle, wenn auch mit völlig anderen Absichten, zu Beginn des Jahrhunderts in Angriff genommen hatte.²¹ In späteren Jahren profitiert selbst eine gegenüber der dialogischen Dimension der Theologie aufmerksame Studie wie die von Franz Posset über die katholischen Sympathisanten Luthers, die qua geistiger Haltung weit entfernt vom giftigen opus Denifles ist, von der von letzterem geebneten Piste, um Luther in einem noch katholischen Kontext zu zeigen, der aus Theologen bestand, die die Legitimität des reformerischen Anstoßes vonseiten des Augustiners anerkannten, aber nicht die von ihrer konfessionellen Zugehörigkeit gesetzte Grenze überschritten. Mit Posset könnte man über viele der Sympathisanten Luthers nun sagen, dass sie ihn vom sechzehnten Jahrhundert bis heute gelesen haben und noch lesen, ohne zu riskieren, deshalb zu Lutheranern zu werden.²² Denifle hatte alle Luthergelehrten, in primis die protestantischen, auf das Risiko des einseitigen Betonens des einigartigen und revolutionären Charakters der reformatorischen Entdeckung hingewiesen, die aufgrund ihrer tatsächlichen Ausgestaltung seit dem sechzehnten Jahrhundert mehr hermeneutische Probleme hervorgebracht als gelöst hatte. Entsprechendes kann man unter völlig anderen Voraussetzungen und mit anderen, wenn nicht entgegengesetzten Zielen, auch über einen anderen Eckpfeiler der lutherischen Mythologie, den Thesenanschlag, sagen, der nach Denifle noch gute fünfzig Jahre warten musste, um in seinen Grundfesten erschüttert zu werden.²³ Obwohl er ihn anschwärzte, trug der Dominikaner zur Konstruktion des so sehr diskutierten „katholischen Luther“ bei,²⁴ eine Interpretation, die ihre Wurzeln in der nun auf Distanz geführten Polemik zwischen Denifle selbst, Grisar und dem ehemaligen Dominikaner und zum Protestantismus konvertierten Alphons Victor Müller hat,
H. Jedin, Lebensbericht. Mit einem Dokumentenanhang, Hg. Konrad Repgen (Mainz, 1984), 90 f., 143 f. H. Jedin, „Ein Turmerlebnis des jungen Contarini,“ Historisches Jahrbuch 70 (1951): 115 – 130; jetzt in Ders., Kirche des Glaubens, Kirche der Geschichte. Ausgewählte Aufsätze und Vorträge, Bd. I (Freiburg/ Basel/Wien, 1966): 167– 180. F. Posset, Unser Martin. Martin Luther aus der Sicht katholischer Sympathisanten (Münster, 2015), 7, 163. U. Wolff, Iserloh. Der Thesenanschlag fand nicht statt (Freiburg, 2013). Vgl. die vom Werk Lortz’ hervorgerufene Diskussion, die kritisch zusammengefasst zu finden ist bei P. Manns, „Nachwort. ,Lortz, Luther und der Papst‘. Zur Neuausgabe der ,Reformation in Deutschland‘,“ in Die Reformation in Deutschland. Unveränderte Neuausgabe, mit einem Nachwort von Peter Manns, J. Lortz (Freiburg/Basel/Wien, 1982): 353 – 391, hier 377– 391.
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welcher in seiner Arbeit aus dem Jahr 1912 über die theologischen Quellen Luthers die Absicht hegte aufzuzeigen, dass alle von Denifle als lutherisch und somit als häretisch erklärten Ansätze keine Erfindung des Reformators oder das Produkt seiner unmoralischen und begierigen Natur gewesen seien, sondern theologische Positionen, die bereits vor Luther bekannt und verbreitet gewesen und obendrein sowohl innerhalb als auch außerhalb des Augustinerordens verteidigt und vertreten worden seien. Müller zog damit nicht nur die Pfeile Otto Scheels auf sich; indem er mit gleicher Stärke und Heftigkeit reagierte und unbewusst die Spielregeln Denifles annahm, machte er Luther ebensosehr zum Katholiken wie andere namhafte Vertreter der mittelalterlichen Theologie wie z. B. Rolando Bandinelli, Hugo von St. Viktor, Petrus Lombardus, Bonaventura da Bagnoreggio und Thomas von Aquin, bis hin zu Girolamo Seripando und zu den anderen Augustinern, die am Trienter Konzil teilnahmen.²⁵ Wenn man den Teil seines Werks, der stärker von der zeitgenössischen Polemik gegen die angeblichen doktrinären Verschleierungen durch die Moderne und gegen das Nachgeben gegenüber den konfessionellen Gegnern geprägt ist, dem Vergessen anheim fallen lässt, so ist Denifle das Verdienst zuzuschreiben, Luther „in einen historischen Kontext, aus dem er in den vorangehenden Studien eindeutig herausgerissen schien, welche dazu neigten, sowohl von protestantischer als auch von katholischer Seite das reformatorische specificum aufzugreifen bzw. das, was Luther eher in seinem Häretischsein charakterisieren würde“ eingefügt zu haben. Das Werk Denifles rief unter anderem die Reaktion eines Gelehrten wie Karl Holl hervor, der 1915 sein grundlegendes Werk Die Entstehung von Luthers Kirchenbegriff schrieb, also nach den Anregungen Denifles und Grisars, und der somit das Interesse der Gelehrten für den jungen Luther und für die Theologie vor der öffentlichen Wende von 1517 weckte.²⁶ Eine indirekte Bestätigung dieser zwar unvorhergesehenen, aber grundlegenden Wende, die von der Verbissenheit und Gewissenhaftigkeit Denifles ausgelöst wurde, findet sich in der Debatte wieder, die am 10. Oktober 1967 anlässlich des achtzigsten Geburtstags von Joseph Lortz zwischen Erwin Iserloh, Hubert Jedin, Wilhelm Kasch, Walther von Loewenich und Peter Manns stattfand. Indem sie sich dem Beginn der Unterredung – und keines Disputs! – „im ökumenischen Geiste“ bezüglich der Frage aller Fragen widmeten, nämlich worin für Luther das ausdrücklich reformatorische Element bestand, brachten die fünf Wissenschaftler unter der Voraussetzung, dass Denifle tatsächlich die unerschrockene exegetische Originalität Luthers zur iustitia Dei
A.V. Müller, Luthers theologische Quellen. Seine Verteidigung gegen Denifle und Grisar (Gießen, 1912), vi-vii. Zu dem Gesichtspunkt das sehr ausgeglichene, gewissermaßen zwischen Denifle und Müller liegende Urteil von S. Merkle, „Luthers Quellen,“ in Ausgewählte Reden und Aufsätze, Ders., Hg. T. Freudenberger (Würzburg, 1965): 212– 223. „In un contesto storico dal quale sembrava decisamente staccato negli studi precedenti, tesi a coglierne e da parte protestante e da parte cattolica lo specificum riformatore o ciò che Lutero maggiormente caratterizzasse nella sua ereticità“; Ulianich, La Chiesa in Lutero, 8; Ulianich bezieht sich auf K. Holl, „Die Entstehung von Luthers Kirchenbegriff,“ in Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. I: Luther, Ders. (Tübingen, 71948): 288 – 325.
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bei Römer 1,16 – 17 dekonstruiert hatte,²⁷ ans Licht, wie der Dominikaner trotz seines heiligen Arsenals an Bildung ebenso unableugbar nicht in der Lage war zu erklären, warum ausgerechnet Luther und kein anderer vor ihm das lateinische Christentum auf so tiefgehende und irreversible Weise revolutioniert hatte. Gibt man dem (historischen, kulturellen, politischen, ekklesiastischen und religiösen) Kontext, was des Kontexts ist, so bleibt folglich nichts Anderes übrig als die absolute Einzigartigkeit des Lutherereignisses und seiner religiösen Erfahrung anzuerkennen: In der ihm vorangehenden Tradition von Pseudo-Ambrosius bis Erasmus konnte Luther die Antwort, die er auf seine Glaubensfragen suchte, nicht finden. In politische und ekklesiastische Begriffe übertragen führte dies zur konfessionellen Spaltung.²⁸ Folglich kann nur seine religiöse Erfahrung, und nicht irgendeine theologische, logische oder philosophische Doktrin, erklären, warum Luther zugleich traditionell und originell, ungehört und beharrlich, katholisch und evangelisch, verdammt und erlöst war. Aus einer Ironie des historiographischen Schicksals, das unter den Forschern zum Thema wohlbekannt ist, legte das Werk Denifles selbst die Grundlage für seine gewinnbringende Überholung, die die Forschung und das Verhältnis zwischen den Kirchen über den konfessionellen Zaun hinweg nach vorne brachte. „Die Gewalt des Angriffs und die Eigenschaft des Angreifers hatten etwas Gutes an sich“, schrieb Jean Delumeau in seiner Geschichte der Reformation, denn „die Studien über Luther wurden auf neue Grundlagen gestellt und gestatteten nach einem brutalen Erwachen jene ‚Neuinterpretation‘ Luthers, die gerade stattfindet [scil. im Jahr 1965]“.²⁹ Im Mittelalter, insbesondere in der auch von Denifle untersuchten Mystik, hat die ökumenische Theologie die überkonfessionellen, oder besser gesagt die vorkonfessionellen Wurzeln der abendländischen Christenheit entdeckt. Sie folgte dabei zum Teil dem von Denifle freigeschlagenen Pfad und gab das nunmehr wenig fruchtbare Schema der unversöhnlichen Dichotomie zwischen Kontinuität und Bruch auf. Damit soll nicht gesagt sein, dass die Interpretation zunächst Denifles und dann Grisars keine vollkommen einseitigen Züge an sich hätten: Auch wenn man annimmt, dass Luther die Scholastik thomistischer Prägung nur vermittels der Mystik gekannt hatte, so konnte nur das während der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert entstandene neothomistische Vorurteil, das jede mittelalterliche Theologie mit dem Thomismus gleichsetzte, ihm zur Last legen, er habe die ihm vorangehende Tradition nicht in Betracht gezogen, gerade so, als ob Bernhard von Clairveaux, Meister Eckhart oder Johannes Tauler mindere Sterne an dem von Thomas von Aquin
H.S. Denifle, Die abendländischen Schriftausleger bis Luther über Justitia Dei (Rom. 1, 17) und Justificatio (Mainz, 1905). A. Franzen (hrsg. von), Um Reform und Reformation. Zur Frage nach dem „Reformatorischen“ bei Martin Luther, (Münster, 1968), 33 – 52, hier 33 – 35. „Mais la violence de l’attaque et la qualité même de l’attaquant furent un bien. Les études sur Luther repartirent sur de nouvelles bases et, permirent, après un réveil brutal, cette ‚réinterpretation‘ de Luther qui est présentement en cours“; J. Delumeau, Naissance et affirmation de la Réforme (Paris, 1965), 287.
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beherrschten Firmament gewesen seien. Dennoch ist es nicht abzuleugnen, dass Luther auch über die Mystik zu seiner reformatorischen Wende gelangte, die zusammen mit den wohlbekannten Faktoren historisch-politischer Natur die konfessionelle Spaltung verursachte, die trotz der ökumenischen Bemühungen des vergangenen und gegenwärtigen Jahrhunderts noch immer andauert. Die mystische Theologie, die bei Denifle noch als Instrument zur Entschärfung des reformatorischen Potentials Luthers und zu seiner Herabstufung zu einem, großzügig ausgedrückt, überaus schlechten Theologen diente, wurde nach der strafandrohenden Verurteilung vonseiten Adolf von Harnacks, Albrecht Ritschls und Karl Barths, da Ausdruck einer zu unrecht als typisch und einzig katholisch eingestuften Spiritualität, bei Gelehrten wie Erwin Iserloh, Heiko A. Oberman und Steven Ozment sowohl zu einem Instrument, um auf ein von den Deutschen Christen angerichtetes Gemetzel zu reagieren, die auf der Suche nach einem Schmelzpunkt zwischen nationalsozialistischem Deutschtum und lutherischem Protestantismus waren, als auch zu einem Weg, die Forschung zur Reformation für internationale und ökumenische Anregungen zu öffnen, indem man sie wieder in den Kontext des Luthertums zurückbrachte, aus dem sie im Lauf des zweiten konfessionellen Zeitalters im neunzehnten Jahrhundert mit Gewalt herausgerissen worden war. Nun nicht mehr „fremd“, sondern erneut „eine lange, intensive Tradition“ innerhalb des lutherischen Protestantismus, wird mit Volker Leppin die Mystik des späten Mittelalters zum Ursprungsort der reformatorischen Theologie Luthers, verwischt die Grenzen zwischen den Konfessionen und integriert die Reformation in den „ökumenischen Horizont der Christentumsgeschichte“.³⁰ Ob man nun das späte Mittelalter dem angeblichen goldenen Zeitalter des elften bis dreizehnten Jahrhunderts gegenüberstellt und es als Endpunkt eines langen Verfalls ansieht, oder ob man der Vorstellung folgt, die Reformation sei Höhepunkt und Erfüllung der spätmittelalterlichen Spiritualität gewesen, eine wahrhaftige – positive oder negative – Wasserscheide der europäischen Geschichte: Man stellt zwei Epochen auf eine Weise gegenüber, die ihnen nicht gerecht wird und sie zu reinen Antagonisten macht. Nach den Forschungen Leppins kann (und muss!) man als Protestant und Lutheraner nicht nur das Mittelalter neu bewerten, und zwar ohne Furcht bezüglich der eigenen konfessionellen Identität, sondern man ist nur dann Protestant und Lutheraner, wenn man das Mittelalter vollständig neu entdeckt. Nicht zufällig ist die katholische Erlösung Luthers, die aus seiner Verdammung hervorging, durch die Wiederentdeckung der gemeinsamen mittelalterlichen Wurzeln, insbesondere der Mystik, vonstattengegangen, oder vielmehr durch die schärfsten Waffen selbst, die einst gegen den Reformator gerichtet worden waren.
V. Leppin, Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln (München, 2016), 210 – 213.
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3 Der katholische Luther Joseph Lortz’ 1939 – 40 erschienene Werk Die Reformation in Deutschland kam in einem historiographisch sehr lebhaften und fruchtbaren Augenblick für die Erforschung der Religionsgeschichte des 16. Jahrhunderts. Ihm waren im achtzehnten und neuzehnten Jahrhundert große Editionswerke vorangegangen: Man denke einerseits an das Corpus reformatorum und an die Weimarer Ausgabe, andererseits an die von der Görres-Gesellschaft herausgegebenen Werke Corpus catholicorum und Concilium Tridentinum. Dieser für die historischen Wissenschaften so wichtige Zeitraum wurde vonseiten der europäischen Kirchen, insbesondere von der katholischen, vom Entstehen und der Festigung der vielseitigen ökumenischen Bewegung begleitet, deren erste Schritte umso mehr bekämpft wurden, je mehr Sicherheit sie allmählich gewannen, was von kapitaler Wichtigkeit war, um die sicher nicht friedliche und schmerzlose Aufnahme der zeitgenössischen theologischen, philosophischen und historiographischen Entwicklungen zu favorisieren. Man wird nie den Gegenbeweis erhalten, doch man kann annehmen, dass die letzten antimodernen Ausbrüche der zweiten Nachkriegszeit sich nicht wie gewünscht im Feld geirrt hatten, wenn nicht durch den Beitrag einiger grundlegender Persönlichkeiten und durch das allgemeine Klima der intellektuellen und kulturellen Erneuerung, die allerdings in den dreißig blutigsten Jahren der Geschichte Europas und ihrer weltweiten Schleifspur teuer bezahlt wurden. Nach den vehementen Diskussionen, die der Publikation der Werke Denifles und Grisars folgten,³¹ veröffentlichte Lucien Febvre 1928 seine Biographie Martin Luthers, die im Vergleich zur katholischen und protestantischen Tradition in vielerlei Hinsicht innovativ war. Im folgenden Jahr widmete er sich der überaus berühmten „schlecht gestellten Frage“ nach den Ursprüngen der französischen und europäischen Reformation, um schließlich in Le problème de l’incroyance von 1942 (das 1947 überarbeitet wurde) das „zentrale Dogma“, das materielle und formale Prinzip, das „Kriterium aller Kriterien“ der Protestanten, d. h. die Rechtfertigung im Glauben, in Angriff zu nehmen, und zwar nicht aus dem Blickwinkel „einer objektiven theologischen Formel“, sondern „vor allem einer persönlichen und tiefen Gemütsverfassung“, die „einfach menschlich“ ist.³² Am anderen Ufer des Rheins war der in eine katholische Familie geborene, aber als Professor im protestantischen Göttingen wirkende Karl Brandi „der
M. Brecht, „Die Erforschung des Jungen Luthers. Katholischer Anstoß und evangelische Erwiderung,“ in Lutherforschung im 20. Jahrhundert, Hg. Vinke: 1– 17. L. Febvre, Un destin. Martin Luther (Paris, 1928); Ders., „Une question mal posée. Les origines de la Réforme française et le problème général des causes de la Réforme,“ Revue historique 54 (1929): 1– 73; Ders., Le problème de l’incroyance au XVIe siècle. La religion de Rabelais (Paris, überarbeitete Ausgabe 1947), 301– 315.Vgl. den schönen Nachruf von E. Léonard, „Lucien Febvre (1878 – 1956),“ École pratique des hautes études, Section des sciences religieuses. Annuaire 1957 – 1958 69 (1956): 16 – 19, hier 17– 19; einsehbar auf der Webseite: www.persee.fr/doc/ephe_0000 – 0002_1956_num_69_65_20272 (letzter Zugriff: 04.04. 2017).
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erste deutsche Historiker, der zwischen 1927 und 1930 eine Geschichte Deutschlands zur Zeit der Reformation und Gegenreformation geschrieben hat, in der es kaum mehr Spuren eines wie auch immer gearteten konfessionellen Ansatzes gibt“. In den folgenden Jahren errichtete er die Bühne, auf der er den Protagonisten seines Hauptwerks auftreten ließ, Kaiser Karl V.³³ Im Jahr 1938 erschien in Bologna das Werk Per la storia religiosa dello Stato di Milano von Federico Chabod, in dem jener „wesentliche Schritt vor der modernen Historiographie, die immer mehr darauf achtet, das konkrete Detail und die Schattierungen aufzunehmen, und die immer widerwilliger gegenüber kruden Antithesen ist“, ersichtlich wird; im darauf folgenden Jahr erschien schließlich in Florenz ein weiterer Klassiker der italienischen und europäischen Geschichtsschreibung zum sechzehnten Jahrhundert, das Werk Eretici italiani del Cinquecento von Cantimori.³⁴ Die Bereicherung der fortschrittlicheren Historiographie führte zu zahlreichen innovativen Gegenschlägen: Man denke an den anderen „Dioskuren“ der Kirchengeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts neben Lortz, Hubert Jedin, der 1937 seine monumentale Biographie Seripandos veröffentlichte, die hinter dem gelehrten ereignisgeschichtlichen Bild als tatsächlichen Gegenstand die meisterhafte Abhandlung von Themen wie das Tridentiner Dekret zur Rechtfertigung und die vollständige Epochengliederung der Religionsgeschichte des sechzehnten Jahrhunderts hatte.³⁵ Seinerseits hatte Lortz bei seiner Arbeit an der Geschichte der Reformation in Deutschland seinen ökumenischen Durchbruch erlebt und war zu einer Interpretation gelangt, die Luther als homo religiosus wieder ins Zentrum des Geschehens rückte und ihn damit, wie einige Jahre später Peter Manns, sein Schüler und Nachfolger als Leiter der Abteilung für Religionsgeschichte des Instituts für europäische Geschichte in
„Il primo storico tedesco a scrivere, tra il 1927 e il 1930, una storia della Germania all’epoca della Riforma e della Controriforma, nella quale non vi è quasi più traccia di qualsivoglia impostazione confessionale“; W. Reinhard, „L’imperatore Carlo V (1500 – 1558) e Karl Brandi (1868 – 1946),“ in Carlo V, Hg. K. Brandi (Turin, 2001): xi-xxiii, hier xx; Originalausgabe K. Brandi, Kaiser Karl V. Werden und Schicksal einer Persönlichkeit und eines Weltreiches (München, 1937). Reinhard verweist auf K. Brandi, Deutsche Reformation und Gegenreformation, 2 Bde. (Leipzig, 1927– 1930). Die Einführung in die Ausgabe von 1961 von Brandis Band zu Karl V. stammt von Chabod, jetzt in Brandi, Carlo V, xxv-l. „Sostanziale passo innanzi della storiografia moderna, sempre più attenta a cogliere il particolare concreto e lo sfumar delle luci, sempre più restia alle antitesi crude“; F. Chabod, Per la storia religiosa dello Stato di Milano durante il dominio di Carlo V. Note e documenti (Bologna, 1938); D. Cantimori, Eretici italiani del Cinquecento. Ricerche storiche (Florenz, 1939) (deutsche Ausgabe: D. Cantimori, Italienische Häretiker der Spätrenaissance, Übers. Werner Kaegi [Basel, 1949]). Zu Febvre und Chabod vgl. D. Cantimori, Lucien Febvre, und Ders., „Chabod storico della vita religiosa italiana del Cinquecento,“ in Storici e storia. Metodo, caratteristiche e significato del lavoro storiografico, Ders. (Turin, 1971): 213 – 254, 315 – 342, hier 335, wo Cantimori diesen schönen, von Chabod entnommenen Abschnitt wiedergibt aus F. Chabod, „Gli studi di storia del Rinascimento,“ in Cinquant’anni di vita intellettuale italiana (1896 – 1946). Scritti in onore di Benedetto Croce per il suo ottantesimo anniversario, Hg. C. Antoni, R. Mattioli (Neapel, 21966): 143 – 238, hier 236. H. Jedin, Girolamo Seripando. Sein Leben und Denken im Geisteskampf des 16. Jahrhunderts, Bde. I-II (Würzburg, 1937).
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Mainz, schreiben würde, nicht mehr als „Häretiker“, sondern als „Reformator“, nicht mehr als Geisel einer Tradition oder als Erzfeind einer anderen, sondern mit vollem Recht als „Vater im Glauben“ der Gesamtkirche ansah.³⁶ Selbst im allgemeinen ökumenischen Ansatz teilte Lortz mit dem Werk Chrétiens désunis von Yves Congar, das 1937 in Paris erschien, einige grundlegende Linien von dessen kritischer Lektüre der Reformation, so zum Beispiel die Überzeugung, dass auch die tiefsten religiösen Erfahrungen wie diejenigen Luthers zu Häresien werden könnten, wenn sie sich auf „abstrakte, autonome und einseitige“ Weise entwickelten und wenn sie zu Behauptungen „eines einzelgängerischen und unbezähmbaren Geistes“ würden; wenn also die „positive und originelle“ religiöse Inspiration Luthers katholisch gewesen war, dann war dieselbe durch eine „auf tragische Weise logische“ Entwicklung zu „abstrakten, autonomen und unilinearen“ Positionen „aus dem katholischen Orbis“ herausgetreten und hatte sich einer „abweichenden Logik“ ausgeliefert. Im Unterschied zu Franz von Assisi habe sich Luther angesichts des Dilemmas zwischen Reform der Kirche und Reform gegen die Kirche für letztere entschieden.³⁷ Lortz war der letzte einer nicht sehr langen, aber von unbestreitbarem wissenschaftlichen Wert geprägten Reihe an deutschen katholischen Gelehrten, die seit der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts von Ignaz Döllinger an über Johannes Janssen und Ludwig von Pastor bis zu einem der Lehrer von Lortz, Sebastian Merkle, dem Die Reformation in Deutschland zusammen mit dem Moraltheologen Fritz Tillmann gewidmet ist, die schüchternen und unsicheren Schimmer einer Öffnung in Richtung der historisch-kritischen Methode nach dem Ende des Pontifikats von Pius IX. und der antimodernistischen Repression unter Pius X. ausnutzen konnten; turbulente Jahre, die vom Scheitern der Aufstände von 1848 – 1849, der Gründung des wilhelminischen Reichs, dem Bismarck’schen Kulturkampf und der in ökumenischnationaler Lesart betrachteten – auch dank des Einsatzes des Zentrums – Überwindung des Gegensatzes zwischen liberalem Protestantismus, Ultramontanismus und Reformkatholizismus geprägt waren.³⁸ Eines der Ergebnisse der widersprüchlichen Erneuerung der katholischen Kultur am Ende des neunzehnten Jahrhunderts war die Enzyklika Saepenumero considerantes (1883) von Leo XIII., die „die Katholiken dazu aufzufordern schien, ohne Furcht die Instrumente der Erkenntnis und die kritischen Methoden der zeitgenössischen Welt in der Überzeugung anzunehmen, dass diese der Kirche keinesfalls Schaden
Lortz, Die Reformation in Deutschland, 307, Anm. 1, 308; Ders., Die Reformation als religiöses Anliegen heute. Vier Vorträge im Dienste der Una Sancta (Trier, 1948). Vgl. auch P. Manns, Martin Luther. Ketzer oder Vater im Glauben? (Hannover, 1980); Ders., „Was macht Martin Luther zum ‚Vater im Glauben‘ für die eine Christenheit?,“ in Martin Luther ‚Reformator und Vater im Glauben‘. Referate aus der Vortragsreihe des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Hg. Ders. (Wiesbaden, 1985): 1– 24. Der Hinweis im Text gilt Y. Congar, La tradition et les traditions, Bde. I–II (Paris, 1960 – 1963). Y. Congar, Chrétiens désunis. Principes d’un „oecuménisme“ catholique (Paris 1964, unveränderter ND der Ausgabe Paris, 1937), 53 – 56. Arnold, „Heinrich Suso Denifle“: 247– 251.
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zufügen, sondern einen wichtigen Beitrag zu ihrer Verteidigung leisten würden“.³⁹ Die Forschung zwischen Denifle und Lortz scheint nicht ohne Widersprüche auf dem gefährlichen Grat zu wandern, der zwischen der Öffnung vonseiten Leos XIII., die ja von offensichtlicher apologetischer Prägung war, und der heftigen Reaktion liegt, die sich 1907 im Dekret Lamentabili sane exitu und in der Enzyklika Pascendi dominici gregis verdichtet.⁴⁰ Ein paradoxes, aber beachtliches Beispiel dieser epistemologischen Schizophrenie ist die Wortwahl Denifles, der bereits im Titel den Protestanten das Hauptdelikt der Modernisten, die „Entwickelung“ der Doktrin, zur Last legt und vorhat, seine Untersuchung zu Luther und zum Luthertun „quellenmäßig“ darzulegen, und damit nicht allzu sehr bemäntelt, dass dies von anderen Forschern nicht so gemacht worden sei, und schon gar nicht von denen aus dem gegnerischen Lager!⁴¹ Mit anderen Worten war die historisch-kritische Methode, deren Anwendung in sensiblen Bereichen der ekklesiastischen und theologischen Wissenschaften wie der Exegese oder der Geschichte der (eigenen!) Kirche gefährlich war – man denke an den Fall Loisy oder an den Fall Buonaiuti –, nicht nur legitim, sondern absolut notwendig, um gegebenenfalls die konfessionellen protestantischen Fundamente anzugreifen oder zu verteidigen. So konnte der Mitbruder und intellektuelle Erbe Denifles, Albert Maria Weiß, in seiner Einführung zum zweiten Band von Luther und Lutherthum schreiben: „Die Zeiten der privilegierten Erhabenheit über die Gesetze der Geschichtsschreibung sind für die Reformationsgeschichte vorüber“.⁴² Sicher kam bei Lortz der Wille, unparteiisch und kritisch die Wahrheit über Luther und die Reformation zu rekonstruieren, durch die Lehre Merkles⁴³ und durch das Bedürfnis, bei jener „theologischen Unklarheit“ aufzuräumen, die seiner Auffassung nach im sechzehnten ebenso sehr wie im zwanzigsten Jahrhundert das tragische „Missverständnis“ bezüglich der Rechtfertigung ermöglicht und soviel Unglück sowohl über die Kirche gebracht habe, welche ausgerechnet am Beginn ihrer Auseinandersetzung mit der Modernität stark geschwächt worden sei, als auch über
„Sembrava invitare i cattolici ad assumere senza timore gli strumenti conoscitivi e i metodi critici del mondo contemporaneo nella convinzione che, lungi dal nuocere alla Chiesa, essi avrebbero dato un importante contributo alla sua difesa“; D. Menozzi, „La Chiesa e la storia. Una dimensione della cristianità da Leone XIII al Vaticano II,“ Cristianesimo nella storia 5 (1984): 69 – 106, hier 72. C. Arnold, G. Vian (ed. by), The Reception and Application of the Encyclical (Pascendi/Venezia, 2017). Das e-book kann unter folgendem Permalink eingesehen und heruntergeladen werden: http:// doi.org/10.14277/978-88-6969-130-0 (letzter Zugriff: 21.04. 2017). Arnold, „Heinrich Suso Denifle“: 252– 257. Denifle und Weiß, Luther und Lutherthum, II:viii. Neben dem bereits zitierten Merkle, Luthers Quellen, vgl. auch: Ders., Widerum das Lutherproblem; Ders., Das Lutherbild der Gegenwart; Ders., Gutes an Luther und Übles an seinen Tadlern; Ders., Zu Heinrich Denifle, Luther, alle gesammelt bei Ders., Ausgewählte Reden und Aufsätze, 199 – 211, 224– 235, 236 – 243 und 588 – 599. Anlässlich des hundertjährigen Jubiläums von Merkles Geburt hielt Lortz am 11. Dezember 1962 in der Fakultät für katholische Theologie der Universität Würzburg eine viel beachtete Gedenkrede, bei der er seiner ganzen Bewunderung und Dankbarkeit gegenüber seinem Lehrer Ausdruck verlieh (in Merkle, Ausgewählte Reden und Aufsätze, 57– 94).
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Deutschland, das über vierhundert Jahre lang den politischen und religiösen Preis für die konfessionelle Spaltung bezahlt habe. Lortz zufolge habe es eben diese Modernität nicht unterlassen, im anmaßenden Subjektivismus Luthers ihre Spuren zu hinterlassen, was ihn daran gehindert habe, ein außergewöhnlicher Reformer der Kirche zu sein, und ihn stattdessen zu einem eiligen und ungeduldigen Erneuerer werden ließ.⁴⁴ Es waren jedoch die ökumenische Öffnung und der Pioniergeist von Die Reformation in Deutschland, die aus Lortz einen der geistigen Väter des neuen Klimas während des Pontifikats von Johannes hätten machen sollen, und die kritische Haltung gegenüber der „Mitschuld“ Roms und ihrer theologischen Taubheit gegenüber den aus Deutschland kommenden reformerischen Eingaben, und nicht zuletzt die bis 1936 – 1937 zunächst in der Broschüre Katholischer Zugang zum Nationalsozialismus (1933) und dann im Nachwort zur dritten Ausgabe seiner Geschichte der Kirche in ideengeschichtlicher Betrachtung (1934) zum Ausdruck gebrachte Begeisterung des Luxemburger Gelehrten für den Nationalsozialismus,⁴⁵ die ihn in einigen Kreisen der Kurie zu einem missliebigen Autor werden ließen. Im Gegensatz zu Jedin, mit dem er den römischen Pedigree nicht teilte, wurde er nicht nur nicht als Konzilsperit eingeladen, obwohl seine Ideen zum Ökumenismus später ins Dekret Unitatis redintegratio aufgenommen und zum gemeinsamen Erbe des Katholizismus wurden, sondern auch die in der 1970 von Kardinal Johannes Willebrands, der damals seit Kurzem das Sekretariat zur Förderung der Einheit der Christen leitete, auf der fünften Vollversammlung des Lutherischen Weltbunds in Evian gehaltenen Rede verwendeten Urteile und Ausdrücke deckten sich „fast auf das Wort mit ähnlichen Urteilen und Ausdrücken von Lortz“, ohne jedoch den der Quelle geschuldeten Kredit einzugestehen.⁴⁶
Marcocchi, „Prefazione all’edizione italiana“: xx–xxviii. Zur „Eile“ und „Ungeduld“ Luthers und der anderen Reformatoren vgl. Y. Congar, Vera e falsa riforma nella Chiesa, introduzione di A. Melloni (Mailand, 32015), 361. Der Band von Congar war 1950 erschienen. J. Lortz, Katholischer Zugang zum Nationalsozialismus, kirchengeschichtlich gesehen (Münster, 1933). Vgl. auch das Nachwort unter dem Titel „Nationalsozialismus und Kirche“, das sich am Ende von Ders., Geschichte der Kirche in ideengeschichtlicher Betrachtung (Münster, 31934) befindet; Lortz zufolge hätte das „verhängnisvolle Missverständnis“ nach dem Konkordat von 1933 keinen Sinn mehr gehabt, das die Beziehungen zwischen dem Nationalsozialismus und dem deutschen Katholizismus geprägt hatte und dessen Aufgabe es gewesen wäre, angesichts ihrer „tiefreichenden Verwandtschaften“, „in die nationalsozialistische Bewegung, bzw. in den neuen nationalsozialistischen Staat positiv und ganz einzugehen“. Zu diesem äußerst kontroversen Gesichtspunkt und seiner bei der gegenwärtigen Dokumentationslage äußerst schwierigen Lösung vgl. Ulianich, „Die Reformation in Deutschland di Joseph Lortz“: 437– 439. Eine italienische Übersetzung des Lortz’schen Werks Katholischer Zugang zum Nationalsozialismus findet sich M. Patti, Chiesa cattolica tedesca e Terzo Reich (1933 – 1934), Hg. M. Schmaus, J. Lortz, F. Taeschner, J. Pieper und F. von Papen (Brescia, 2008), 195 – 218. Zum Versuch von Lortz, „wesentliche Übereinstimmungen zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus“ aufzuspüren, vgl. M. Bendiscioli, Germania religiosa nel Terzo Reich. Conflitti religiosi e culturali nella Germania Nazista. Dalla testimonianza (1933 – 1945) alla storiografia (1946 – 1976) (Brescia, 21977), 173. „Quasi alla lettera, con analoghi giudizi ed espressioni del Lortz“; B. Ulianich, „In memoriam Joseph Lortz,“ Rivista di storia e letteratura religiosa 11 (1975): 508 – 511, hier 510; Marcocchi, „Prefazione all’edizione italiana“: xxviii-xxx; Manns, „Nachwort“: 389 f.
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Darüber hinaus lassen einige Schritte des „Kampfes“ um das imprimatur der dritten Ausgabe von Die Reformation in Deutschland in den Jahren 1960 – 1962 denken, dass der wahre Gegner des römischen Ostrazismus eigentlich ebendieses Werk gewesen war und nicht der Beitritt zum Nationalsozialismus, der einen bequemen Vorwand lieferte; nicht zufällig zirkulierte zwar die Geschichte der Kirche in ihrer italienischen Übersetzung von 1958 ziemlich ungehindert, für Die Reformation in Deutschland musste man aber einige editorische Hindernisse überwinden und bis 1979 abwarten.⁴⁷ Trotz der kritischen Beobachtungen Delio Cantimoris – demzufolge Werke wie jenes von Lortz, ein „durchaus schönes und interessantes“ Buch, die objektive Bedeutung der Aktionen der Reformatoren mit Stillschweigen übergingen, „den Sinn der großen und grundlegenden Gegensätze und der tiefgreifenden Unterschiede“ zwischen Katholizismus und Protestantismus zum Verschwinden brächten und nicht zur „Überwindung jeglicher konfessionell-polemischen Haltung“ führten, sondern höchstens zur Aufgabe, welche „vom Verblassen der antiken religiösen Kontroversen […] angesichts neuer Gefahren, die […] das Christentum selbst bedrohen“, und von dem „Gewissen, das den Ursprung des Erneuerungs- und Fortschrittsantriebs im Protestantismus gebildet hatte“, verursacht wurde⁴⁸ – wird einstimmig anerkannt, dass das Hauptwerk von Lortz, „die beste Arbeit eines katholischen Historikers über die Reformation in Deutschland“,⁴⁹ einen endgültigen Wendepunkt dargestellt hat, eine regelrechte „kopernikanische Wende“ in der Art und Weise, mit der man auf Luther blickte⁵⁰ und mit der man „die Feindseligkeit, das Misstrauen und die Unwissenheit der Katholiken“ gegenüber dem Reformator überwand, welche bislang „die Aufnahme seiner Botschaft verzögert und behindert“ hatten.⁵¹
B. Ulianich, „Zwischen italienischer Geschichtsschreibung und Vatikanischer Zensur,“ in Zum Gedenken an Joseph Lortz (1887 – 1975). Beiträge zur Reformationsgeschichte und Ökumene, Hg. R. Decot und R. Finke (Stuttgart, 1989): 141– 195; das Thema wurde weiter behandelt in Ders., „Die Reformation in Deutschland di Joseph Lortz“: 412– 435. „Pur bello e interessante“; „il senso dei grandi e fondamentali contrasti, delle differenze profonde“; „superamento d’ogni atteggiamento polemico confessionale“; „dall’impallidire delle antiche controversie religiose […] di fronte ai nuovi pericoli che […] minacciano il cristianesimo stesso“, „coscienza che il protestantesimo aveva avuto all’origine della propria energia rinnovatrice e progressiva“; Von Cantimori vgl. Lucien Febvre, 232 f., 238, und „Appunti sullo ,storicismo‘,“ in Storici e storia, Ders.: 495 – 535, hier, 512. „Il miglior lavoro di uno storico cattolico sulla Riforma in Germania“; G. Alberigo, Hg., La Riforma protestante (Mailand, 1959), 259. Die Behauptung bezieht sich auf die zweite (rectius dritte) Ausgabe des Werks (1949) und wird auch in Ders., Hg., La riforma protestante. Origini e cause (Brescia, 1977), 190, und in Ders., II edizione aumentata (Brescia, 1988), 214, wiederholt. Der Band wurde vor Kurzem erneut herausgegeben: Ders., Hg., Sola grazia. I testi essenziali della Riforma protestante, nuova edizione a cura di D. Segna (Mailand, 2017). „Rivoluzione copernicana“; B. Ulianich, „Riflessioni sulla storiografia cattolica relativa a Lutero“: 441– 454, hier 451 f. „L’ostilità, la diffidenza, l’ignoranza dei cattolici“; „ritardato e ostacolato la ricezione del suo messaggio“; Alberigo, „Martin Lutero nella coscienza cattolica contemporanea“: 121; Ders., Martin
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Das Werk von Lortz kennzeichnete den Gipfel eines langen Zeitraums an Untersuchungen vonseiten der deutschen historisch-theologischen Forschung katholischer Konfession. Mit seiner ausdrücklichen ökumenischen Absicht im allgemeinen Klima der Erneuerung, das durch das Konzilsereignis entstanden war, hat es neue Forschungswege ausgewiesen, die vor allem in Deutschland und Italien aufgegriffen wurden. Italien hatte bis zu jenem Zeitpunkt, abgesehen von einigen herausragenden Ausnahmen wie Paolo Sarpi, Ludovico Antonio Muratori, Ruggiero Bonghi und Ernesto Buonaiuti, eine völlig marginale Rolle im internationalen historiographischen Panorama gespielt.⁵² Angesichts dessen ist es ebenso wahr, dass das Werk zum Teil das bereits 1964 von Cantimori⁵³ festgestellte historiographische Risiko verdeckt hat, allein der Figur Luthers einen positiven Wert zuzuerkennen. Damit wurde vermieden, sich gründlich mit der bunt zusammengesetzten und sogar widersprüchlichen reformatorischen Bewegung auseinanderzusetzen, fast so, als ob man Luther allein alle angebliche Schuld und alle angeblichen Verdienste der Reformation und des Protestantismus auflasten könne: Obwohl das allgemeine ökumenische Klima in eine völlig andere Richtung drängt, wenn man ersteren entweder verdammt oder erlöst, geschieht letzteren weder das eine noch das andere.
4 Aufbruch ins Jahr 2017 Auch nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil und nachdem man mit den Versuchen „einer Heimholung Luthers“, bzw. ihn wieder in den Schoß des römischen Katholizismus aufzunehmen, begonnen hatte,⁵⁴ kann man den Grad an Skeptizismus, ja fast an Phobie gegenüber allem messen, was den Vorstellungen und Forderungen des Protestantismus auch nur ähnelt, wenn man das Bändchen Reformation aus Rom von seinem Titel ausgehend betrachtet, der für katholische und deutschsprachige Ohren
Lutero nella coscienza cattolica dopo il Vaticano (1984), 222; Ders., Cosa rappresenta Lutero nella coscienza cattolica contemporanea (1983), 38. H. Jedin, Die Erforschung der kirchlichen Reformationsgeschichte seit 1876. Leistungen und Aufgaben der deutschen Katholiken (Münster, 1931), Neudruck zusammen mit R. Bäumer, Die Erforschung der kirchlichen Reformationsgeschichte seit 1931. Reformation, Katholische Reform und Gegenreformation in der neueren katholischen Reformationsgeschichtsschreibung in Deutschland (Darmstadt, 1975); H. Jedin, „Mutamenti della interpretazione cattolica della figura di Lutero e loro limiti,“ Rivista di storia della Chiesa in Italia 23 (1969): 361– 377; E. Iserloh, „Luther in katholischer Sicht gestern und heute,“ in Kirche – Ereignis und Institution. Aufsätze und Vorträge, Bd. II: Geschichte und Theologie der Reformation, Ders. (Münster, 1985): 233 – 247. Zu Italien vgl. A. Melloni, „Il caso e la cosa. Lutero nella storiografia italiana del Novecento,“ Cristianesimo nella storia 37 (2016): 613 – 648; B. Ulianich, „Quale Lutero?“: 57– 61; Ders., „Riflessioni sulla storiografia cattolica relativa a Lutero“. Zu Buonaiuti vgl. insbesondere Ders., „Buonaiuti storico della Riforma,“ in Riforma e riforme, Ders: 323 – 391. D. Cantimori, „Interpretazioni della Riforma protestante,“ in Storici e storia, Ders.: 624– 656, hier 635 f. U. Köpf, Martin Luther. Der Reformator und sein Werk (Stuttgart, 2015), 243.
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provokant und möglicherweise bedrohlich klingt, in welchem die Reformation nicht mehr diejenige Luthers war, sondern das Konzil von Papst Johannes XXIII., das für manch einen eben jenen Luther mit seiner Umarmung zu ersticken schien und dessen „Beschlagnahmung Luthers“ die „Aufnahme seiner Botschaft [ebenso] verzögert und behindert [hat] wie die Feindseligkeit, das Misstrauen und die Unwissenheit der Katholiken“, und mit dem „der Sinn für ihre Historizität, für ihre Unterwerfung unter die Sünden und folglich das Bedürfnis nach einer ständig stattfindenden Reform, und zwar nicht nur als institutionelle Rationalisierung oder als doktrinäre Anpassung, sondern vor allem als Suche nach der Treue gegenüber dem Evangelium und dem Kreuz und als Glaube an die Barmherzigkeit Gottes, endgültig in das lebende Fleisch der Kirche eingegangen“ war.⁵⁵ Wie ein doppelgesichtiger Janus, der die katholische Kirche von innen und außen zugleich betrachtet, kündigte der Titel seinen (katholischen) Lesern die gefährlichste aller Erneuerungen („Reformation“) und die tröstlichste aller Sicherheiten („Rom“) an: Wenn also die „Reformation“ aus Rom kommt, dann wird sie eine wahre und keine falsche Reform sein, und sie wird in den Lauf des traditionellen Flusses der Kirche und unter den apostolischen Stuhl zurückgeleitet, „das Kriterium, die Animateurin und die Stütze“ der Einheit, außerhalb derer „jede Reformbewegung in eine Sekte mündet“.⁵⁶ Die „Reformation“ wird keine Rebellion gegen die Kirche mehr sein, sondern sie wird mit „der gewaltigen Größe ihrer Abweichungen, aber auch mit der Tiefe der Fragen, die sie der Kirche stellte und immer noch stellt“, tatsächlich anders, wenn nicht sogar antithetisch zu jener protestantischen sein. Auf sie fällt „die dogmatische Verantwortung für die Häresie“ zurück; abgesehen vom „Respekt“ und der „Sympathie“, die man für „für gewisse Aspekte von Luthers Seele“ aufbringen kann, „darf man nicht vergessen, dass er als erster jene Einheit zerstört hat, die das höchste Gut auf der Erde darstellt, und die vielleicht nichts wird wieder herstellen können“, so sehr auch „die Verantwortung für den Bruch“, wie Lortz gezeigt hat, nicht allein Luther zugeschrieben werden kann, sondern auch den „Lebensbedingungen der Kirche“, die so gravierend waren, dass sie eine Katastrophe „beinahe fatal“ werden ließen.⁵⁷
K. Rahner, M. von Galli und O. Baumhauer, Hg., Reformation aus Rom. Die katholische Kirche nach dem Konzil (Tübingen, 1967); von dem Band erschien auch eine italienische Übersetzung: Ders., Riforma da Roma? La situazione della Chiesa dopo il Concilio (Brescia, 1968). Die beiden Zitate sind Alberigo, „Martin Lutero nella coscienza cattolica contemporanea“: 119 und 121 entnommen: „confisca luterana“; „ritardato e ostacolato la ricezione del […] messaggio quanto l’ostilità, la diffidenza, l’ignoranza dei cattolici“; „definitivamente entrato nella carne viva della Chiesa il senso della sua storicità, della sua soggezione al peccato e quindi l’esigenza di una riforma sempre in atto, non solo come razionalizzazione istituzionale o come adeguamento dottrinale, ma soprattutto come ricerca di fedeltà all’Evangelo e alla croce e come fede nella misericordia di Dio“. Congar, Chrétiens désunis, 55. „L’immensità delle sue deviazioni, ma anche la profondità delle questioni che essa poneva e che ancora pone alla Chiesa“; „la responsabilità dogmatica dell’eresia“; „rispetto“; „simpatia“ „per certi aspetti dell’anima di Lutero, non si può dimenticare che egli, per primo, ha infranto quell’unità che costituisce il bene sommo sulla terra e che nulla, forse, potrà restaurare“; „la responsabilità storica
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Es ist folglich kein Zufall, dass der Katholizismus bei seiner Auseinandersetzung mit dem Problem seiner Erneuerung und seiner reformatio auf das Hindernis Luther stößt, denn seine Persönlichkeit ist „keine […], der man sich ohne eine darauf folgende Gewissenserforschung nähern kann“, und dass er beispielsweise wie im Fall der Untersuchung von Boris Ulianich zur Ekklesiologie Luthers die Wahl der Forschungsthemen seitens der Wissenschaftler in einer Periode im Leben der katholischen Kirche „durch den Anstoß der Initiative der ökumenischen Bewegung der Kirche, der Entscheidungen und vor allem des Geistes des ökumenischen Zweiten Vatikanischen Konzils“ beeinflusst hat.⁵⁸ Außerdem war es eine der Aufgaben der nachkonziliaren katholischen Christenheit, sich zu fragen, inwieweit ihre Reform in der Schuld der Reformation im allgemeinen und insbesondere Luthers stand, der ihr als erster Körper und Geist verliehen hatte, und schließlich die an sich selbst gerichtete Frage, ob und welche Impulse vonseiten des Reformators vom Konzil aufgenommen worden sind.⁵⁹ In der Auseinandersetzung mit seiner Figur und seiner reformerischen Lebendigkeit war der römische Katholizismus fast dazu gezwungen, ihn von seiner Verdammung zu erlösen und ihn – was für manche nur gewaltsam möglich war – auf den rechten, dritten Weg Jedins zu bringen. Aus diesem Grund schien vielen sein Gespenst in der Konzilsversammlung umzugehen, und zwar dergestalt, dass sich die Herausgeber von Reformation aus Rom veranlasst sahen, dreizehn Fernsehkonferenzen des Westdeutschen Rundfunks (WDR) auszustrahlen, die beim deutschen Publikum ein solches Interesse weckten, dass eine Taschenausgabe ermöglicht wurde. Die Sendungen und der Band waren an zwei Arten von Adressaten gerichtet, an die man sich mit mutigen und „lutherischen“ Worten richtete: an erster Stelle an diejenigen, die wissen wollten, was das Zweite Vatikanische Konzil wirklich bedeutete, aber vor allem an die „vielen, die darüber hinaus erfahren wollen, was nun nach dem Konzil aus der katholischen Kirche werden könne oder werden solle! Die vielen, die einmal – in unzulässig grober Vereinfachung – gelernt hatten, die Kirche könne nicht irren und brauche daher auch nie etwas zu revidieren, und die nun erleben müssen, was alles revidiert wird; die vielen, die in bestimmte, als heilsnotwendig ausgegebene Formen des religiösen Lebens eingeübt worden waren und die nun die Relativität solcher Formen erkennen […]; die vielen, denen jahrelang blinder Gehorsam als sicherster, wenn nicht einziger Weg zum Heil gewiesen worden war und die nun aus freier Entscheidung (die sie nie geübt) und eigener Einsicht (zu der ihnen niemand verholfen)
della rottura“; „condizioni della vita della Chiesa“; „quasi fatale“; Congar, Vera e falsa riforma nella Chiesa, 269, 407. „Non è una personalità a cui ci si possa avvicinare senza che ne consegua un esame di coscienza“; „sotto la spinta dell’iniziativa del movimento ecumenico della Chiesa e delle decisioni e, prima ancora, dello spirito del concilio ecumenico Vaticano II“; Ulianich, La Chiesa in Lutero, 16 f. S. Pfürtner, „Reformation und Reform des Zweiten Vatikanums,“ in H. Schlier, E. von Severus, J. Sudbrack und A. Pereira, Hg., Strukturen christlicher Existenz. Beiträge zur Erneuerung des geistlichen Lebens (Würzburg, 1968), 107– 126, 376 – 380, hier 108, 126.
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christlich leben und handeln sollen. Kurz: die vielen, die sich in einer augenscheinlichen Unwandelbarkeit dieser Kirche einmal geborgen gefühlt hatten und die diese ihre Kirche in einer ecclesia semper reformanda … nicht wiederzuerkennen vermögen“.⁶⁰ Luther und seine Reformation wurden auch zu den Fähnrichen der Konzilsreform, die sich nach der Bischofssynode von 1967 und der Enzyklika Humanae vitae vom Juli 1968 abzumühen schien: Während seiner Präsentation der italienischen Ausgabe, in deren Titel die semantische Abweichung zwischen Reform und Reformation natürlich verlorenging und in der stattdessen ein Fragezeichen mit dem Ausdruck eines Zweifels hinzugefügt wurde, der der deutschen Originalausgabe fehlte, stellte Ernesto Balducci mit Bitterkeit fest, wie „schwerlich unser Fernsehen etwas derartiges auf die Beine stellen könnte. Bei uns hat sich in der Tat eine gewisse ‚Politik‘ zum Konzil etabliert […] Sie hat einen Kanon, der mit unserer rhetorischen Tradition völlig konform ist: viel über das Konzil reden, aber ohne irgendjemanden zu belästigen, und vor allem ohne an seinen grundlegenden Möglichkeiten zur Reform festzuhalten“.⁶¹ Wenn das tridentinische Zeitalter „in großem Umgang auf die Opposition zur Reformation und auf die Dämonisierung Luthers“ gegründet war, und wenn dieses ein Zeitalter war, in dem „der moderne Katholizismus sich selbst in breitem Unfang eine antilutherische doktrinäre und institutionelle Identität verliehen hatte“, so zeigte sich mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil eine derartige „Horizontveränderung“, dass auf dem Konzil „Eingaben und Propositionen lutherischer Herkunft“ zum Vorschein kamen.⁶² Während Trient bei seiner Ausformulierung der katholischen Doktrin nicht gewillt war, mit den Protestanten über die dringendsten doktrinären Fragen zu diskutieren, und die gerichtliche Funktion ausübte, die von den Konzilien in ihrer Geschichte traditionell eingenommen worden war, ohne deshalb „eine Antwort auf die von den Reformatoren gestellte theologische Herausforderung zu formulieren“, die darin bestand, „die wirklich auf die Schrift gegründeten Reformforderungen aufzunehmen“, nahm das Zweite Vatikanische Konzil „die Fragen“ der Reformation nicht als Provokation wahr, „die wesentliche Elemente des katholischen Glaubens infrage stellte“, sondern schaffte es, „eine besser geeignete Antwort zu formulieren“, die einige Forderungen der Reformation „über die Wiedergewinnung vergessener Dinge aus der Glaubenstradition“ aufnahm, und verlieh so „Positionen, die objektiv gesehen eine Aufnahme O. Baumhauer, „Einleitung,“ in Reformation aus Rom, Hg. Rahner, von Galli und Baumhauer: 11– 17, hier 13 f. „Difficilmente la nostra televisione potrebbe organizzare qualcosa del genere. Da noi, infatti si è ormai stabilizzata una certa ‚politica‘ sul concilio […] Essa ha un canone del tutto conforme alla nostra tradizione retorica: parlare molto del concilio, ma senza dar noia a nessuno, e soprattutto senza insistere sulle sue opzioni fondamentali di riforma“; E. Balducci, „Presentazione,“ in Riforma da Roma?, Hg. Rahner, von Galli und Baumhauer: 5 – 7, hier 5 f. „In larga misura sull’opposizione alla Riforma e sulla demonizzazione di Lutero“; „il cattolicesimo moderno si era dato un’identità dottrinale e istituzionale in larga misura antiluterana“; „mutamento di orizzonte“; „istanze e proposizioni di ascendenza luterana“; Alberigo, Cosa rappresenta Lutero nella coscienza cattolica contemporanea (1983), 29.
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der Forderungen der Reformatoren darstellen“, eine Stimme und entdeckte dabei „durch die Bezeugungen der Kirche der Reformation authentische Elemente der christlichen Botschaft“ wieder.⁶³ Als Eintauchen Luthers ins biblische Wort war die Reformation Paolo Ricca zufolge allerdings wesentlich mehr als eine Reformoption des Katholizismus; sie war vielmehr „ein allgemeines und vertieftes Überdenken der Botschaft und des christlichen Lebens“, das vom Trienter Konzil damals nicht deshalb verurteilt wurde, weil es von ihm missverstanden wurde, sondern gerade weil es verstanden wurde. Es habe sich nicht um eine Reform der bestehenden Kirche gehandelt, sondern um eine neue Form von Kirche: Die Kirche der Reformation sei nicht einfach die reformierte katholische Kirche, sondern eine neue Form der christlichen Kirche; somit sei der Protestantismus nicht einfach ein reformierter Katholizismus, sondern eine neue Weise des Christseins, eine neue Art des Christentums, das aus der „Neugründung des Christentums“ hervorgegangen sei, welche ihr mit der „biblischen Neu-Substantialisierung des christlichen Glaubens“⁶⁴ ein neues Fundament verliehen und jenes aus dem Felsen des Petrus errichtete, alte Fundament verdrängt habe. Es versteht sich von selbst, dass Luther aus diesem Blickwinkel kein katholischer Reformer sein konnte, sondern der bedeutendste Gründervater der Reformation war. In den letzten, von Papst Bergoglio vertretenen Positionen ist das Echo der ökumenischen Intuitionen von Lortz zu hören, wenn auch durch die Vermittlung der offiziellen römischen Verlautbarungen infolge der Stellungnahme Kardinal Willebrands: Zum Beispiel hat der Pontifex in seiner am 15. November 2015 anlässlich des Besuchs der evangelisch-lutherischen Kirche Roms gehaltenen Homilie mit der erneuten Verwendung von Ausdrücken, die jetzt gemeinsames Erbe des Dialogs zwischen den Konfessionen sind, hervorgehoben, wie grundlegend wichtig es sei, dass „die katholische Kirche mutig eine aufmerksame und ehrliche Neubewertung der Absichten der Reformation und der Person Martin Luthers unternimmt, und zwar vor dem Hintergrund der Ecclesia semper reformanda, der immer zu erneuernden Kirche,
„Formulare una risposta alla sfida teologica posta dai riformatori“; „accogliere le istanze di riforma effettivamente fondate sulla Scrittura“; „che metteva in questione elementi essenziali della fede cattolica“; „articolare una risposta più adeguata“; „attraverso il recupero di dati della tradizione della fede che erano stati dimenticati“; „a posizioni che oggettivamente rappresentano una ricezione delle istanze dei riformatori“; „attraverso le testimonianze della Chiese della Riforma, elementi autentici del messaggio cristiano“; A. Maffeis, „Ecclesia semper reformanda: le lezioni della storia e il significato ecumenico,“ in La riforma e le riforme nella Chiesa, Hg. A. Spadaro und C.M. Galli (Brescia, 2016): 140 – 155, hier 145 f. „Un ripensamento generale e approfondito del messaggio e della vita cristiana“; „rifondazione della Chiesa“; „ri-sostanziazione biblica della fede cristiana“; P. Ricca, „Che cos’è stata la Riforma,“ in Ripensare la Riforma. Nuove prospettive degli studi italiani, Hg. L. Felici (Turin, 2015): 347– 352, hier 348 – 352.
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auf der großen Spur, welche das Konzil gelegt hat, wie auch so vieler Männer und Frauen, die vom Licht und der Kraft des Heiligen Geistes beseelt sind“.⁶⁵ Auf der anderen Seite haben sich, wie es anlässlich aller Annäherungen zwischen den Kirchen oder während großer Jahrestage wie dem Lutherjahr 1983 geschehen ist und geschieht,⁶⁶ auch nach der Gedenkfeier von Lund am 31. Oktober 2016 im allgemeinen Chor der Beifallsäußerungen zum aktuellen ökumenischen Klima Misstöne bemerkbar gemacht: Der Papst – man ist geneigt zu sagen, fast ein postmoderner jesuitischer Wolf im Gewand eines universellen Pastors und Verführer all jener in ihrer konfessionellen Identität nicht gefestigten Evangelischen⁶⁷ – habe „seine ganzen, aus Illusionen der Offenheit und gewaltigen Dosen an Ambiguitäten bestehenden kommunikativen Fähigkeiten“ verwendet, um die Forderungen Luthers und der Reformation zu rekatholisieren, und habe dabei mit der Idee geliebäugelt, dass Ersterer „ein (etwas hitzköpfiger und widerspenstiger) Sohn der Heiligen Römischen Kirche gewesen sei“, und er habe auch die theologische Reichweite der Letzteren entmachtet, die vom Trienter Konzil hingegen in vollem Umfang begriffen worden sei, und sie auf ein rein politisch-ekklesiastisches Phänomen zurückgestuft. Die Barmherzigkeit sei also der Glanzpunkt der neuen Gegenreformation des jesuitischen Papsts und seines „weichen Primats“, das „alles akzeptiert und nichts problematisiert, was dann aber in der umhüllenden römischen Katholizität wiederverwertet wird“ in Richtung der Einheit der Kirchen, „katholischer, sicher, aber dennoch stets in römischer Gestalt“. Bergoglio habe auf der anderen Seite allerdings überaus schlechte Karten, um auch nur zu versuchen, die Kirche zu reformieren, welche „weit entfernt und weit unterhalb der Forderungen vonseiten der Reformation des sechzehnten Jahrhunderts und dem evangelischen Verständnis der Reform der Kirche und in der Kirche“ bleibe; hinter seinem „missionarischen Impetus“ verstecke sich das grimmige Gesicht des „dogmatischen Trimms des römischen Katholizismus vom Trienter bis zum Ersten Vatikanischen Konzil“, während die Barmherzigkeit Bergoglios ein regelrechter „Stau […] auf dem Weg der Reform“ sei, wohlverstanden dem echten, dem Luthers und der anderen Reformatoren.⁶⁸
w2.vatican.va/content/francesco/it/speeches/2015/november/documents/papa-francesco_20151115_chiesa-evangelica-luterana.html (letzter Zugriff: 21.04. 2017). P. Manns, „Zur Lage der Ökumene nach dem Luther-Jahr,“ in Martin Luther „Reformator und Vater im Glauben“, Ders.: 293 – 356. Für L. De Chirico, Evangelical Theological Perspectives on post-Vatican II Roman Catholicism (Oxford et al., 2003), 305 – 308, wäre die schlimmste Folge der gegenwärtigen Entwicklungen in der evangelikalen Theologie die „progressive erosion“ der theologischen Grenzen der „foundations or essentials“ des evangelischen Glaubens, insbesondere wenn diese doktrinäre Überzeugungen enthalten, die sich nicht mit den Kriterien der „contemporary ecumenical correctness“ vertragen; auf diese Entwicklungen müsse man antworten, indem man zum Erbe der Reformation und zum „clear systemic selfawareness“ der reformierten Tradition zurückkehre, die anders als das jetzt modische errlebnisbasierte Revival als einzige in der Lage sei, es mit dem katholisch-römischen System aufzunehmen. „Tutte le sue doti comunicative, fatte di illusioni aperturiste e anche di dosi massicce di ambiguità“; „sia sempre stato un figlio (un po’ sanguigno e recalcitrante) di Santa Romana Chiesa“; „primato
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Man hat sich auch gefragt, welcher Preis bezahlt wurde und welchen man noch zu zahlen bereit sei, um die Annäherung der Kirchen voranzubringen. Volker Reinhardt zufolge schienen beispielsweise die letzten Äußerungen wichtiger Vertreter beider Seiten zu verstehen zu geben, dass Luther und die Vergangenheit der mit seinem Namen verbundenen konfessionellen Spaltungen vergessen und begraben seien: Ein erstes berühmtes Opfer dieses diplomatisch-ekklesiastischen Appeasement sei die lutherische Doktrin der Prädestination zu Heil und Verdammnis gewesen, die jetzt wegen der gegenwärtigen offenen und demokratischen Stimmung unhaltbar sei, ebenso wie der tiefgehende anthropologische Pessimismus der Reformatoren allgemein und insbesondere Luthers, der durch einen „sozialpolitischen Aktionismus“ ersetzt worden sei, der, ohne dass man sich dessen überhaupt bewusst sei, jenes Heil über diejenigen Werke wieder eingeführt habe, gegen die 1517 die Thesen formuliert worden waren, und der jene Angst vor der ewigen Verdammnis und vor der Hölle, die für den spirituellen Weg Luthers grundlegend waren, unzumutbar gemacht hätte, weil sie gegen die „Maßstäbe des liberalen Rechtstaates“ seien. Wenn für Reinhardt sogar die unbequemen und befremdenden Aspekte Luthers nicht so sehr überwunden als, schlimmer noch, ignoriert und vergessen worden sind, so halten nicht die theologischen Doktrinen die konfessionelle Spaltung aufrecht, sondern Faktoren kirchlicher und weltlicher Macht. Außer dem Papsttum und seinem Anspruch auf den Primat, ein „pièce de résistance“ gegen die „allgemeine theologische Auflösung und die Patchwork-Religionen“, stelle sich ein anderes und wesentlich gewichtigeres Hindernis zwischen die Einheit der Kirchen: der europäische Nationalismus und seine Stereotypen, der im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert dank des Humanismus und der Reformation entstanden sei und der „heute hinter der schönen Einheitsfassade der Europäischen Union heftiger und aggressiver denn je“ sei; wenn zum gegenseitigen Begreifen erst ein gegenseitiges Verstehen nötig sei, dann sei ein ernüchterter Blick auf eine so konfliktreiche, nach wie vor nicht überwundene Vergangenheit das beste Instrument, um ein solches Ziel zu erreichen, das in den Konflikten der Gegenwart umso dringender sei.⁶⁹ Über diese Aussage hinaus könnten viele andere ähnlichen Tenors zitiert werden, um Luther in der publizistischen und historiographischen Debatte am Vorabend des fünfhundertsten Jahrestags der Reformation entweder zu erlösen oder zu verdammen;
morbido“; „tutto accetta e nulla problematizza, ma che poi viene riciclato nell’avvolgente cattolicità romana“; „più cattolica, certo, ma pur sempre romanamente tale“; „molto al di qua e al di sotto delle istanze della Riforma protestante del XVI secolo e della concezione evangelica della riforma della Chiesa e nella Chiesa“; „impeto missionario“; „assetto dogmatico del cattolicesimo romano da Trento al Vaticano I“; „ingorgo […] sulla strada della riforma“; L. De Chirico, „Introduzione“ und „Riforma e riforme nella Chiesa cattolica di papa Francesco,“ Studi di teologia 57 (2017): 1– 2 und 45 – 49. Die Texte zur apostolischen Reise des Papstes nach Schweden können auf folgender Seite eingesehen werden: w2.vatican.va/content/francesco/it/travels/2016/outside/documents/papa-francesco-svezia-2016.html (Letzter Zugriff: 21.04. 2017). Reinhardt, Luther, der Ketzer, 325 – 328.
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andererseits ist es im Jubiläumsjahr 2017 gleichermaßen normal und unvermeidlich, zum state of the art Bilanz zu ziehen. In der überbordenden Menge an mehr oder weniger wissenschaftlich fundierten Stellungnahmen in sämtlichen heute zur Verfügung stehenden Formaten an Massenmedien kann dennoch festgestellt werden, dass trotz aller Lücken und noch äußerst lebendigen konfessionellen Idiosynkrasien dieselbe Eile, mit Luthers reformatorischer Herausforderung ad intra und ad extra abzurechnen, die ihn im sechzehnten Jahrhundert verdammt hatte, ihn vierhundert Jahre später erlöst hat: Die Anstrengung von katholischer Seite zu einer Überarbeitung des Urteils zur Reformation und des Luthers, „wie er eigentlich gewesen ist“, war und ist noch immer ein Zeichen für die Veränderung der historiographischen und kirchlichen Zeiten, die hoffentlich den Boden für eine ebenso fruchtbare Neusaat auflockert, wie die vorhergehende es gewesen ist.
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Das Erbe Martin Luthers und die Tradition der Orthodoxen Kirche Zum Stand des orthodox-lutherischen Dialogs in der Gegenwart Die Geschichte theologischer Gespräche zwischen lutherischen und orthodoxen Theologen reicht zurück bis in die Reformationszeit. Das Interesse der Reformatoren am Gespräch mit der Orthodoxie gründete in ihrem Bemühen, die Übereinstimmung ihrer Reformanliegen mit der Lehre der Alten Kirche aufzuzeigen. Martin Luther berief sich „zur Begründung seiner Lehre und der Kirchenreform … von Anfang an auf das Zeugnis der griechischen Kirche“.¹ Philipp Melanchthon sandte eine griechische Fassung des „Augsburger Bekenntnisses“ (Confessio Augustana graeca) an den Patriarchen von Konstantinopel, damit die Byzantiner sich einen Eindruck von der Lehre der Wittenberger Reformbewegung verschaffen konnten.² Viel zitiert und gut erforscht ist insbesondere der Briefwechsel zwischen dem Ökumenischen Patriarchen Jeremias II. und den Tübinger Theologen in den Jahren 1573 bis 1581, in dem bereits viele Punkte zur Sprache kamen, die später in den theologischen Dialogen erneut thematisiert wurden.³ Nach dem Scheitern dieser ersten Verständigungsversuche gab es in den folgenden Jahrhunderten zwar vereinzelte Gespräche zwischen protestantischen und orthodoxen Theologen, die teils durch dynastische Verbindungen – wie z. B. zwischen den russischen Zaren und deutschen Fürstentümern lutherischen Bekenntnisses –, teils durch die von beiden Seiten betriebene Apologetik gegen die Lehre der römisch-katholischen Kirche befördert wurden. Doch bis ins 20. Jahrhundert hinein gilt im Wesentlichen, was Athanasios Vletsis mit Bedauern konstatiert: „Die Orthodoxie hat sich mit der Theologie der Reformation nur am Rande befasst und wenn überhaupt dann vor allem aus apologetischen Gründen“.⁴ Erst die ökumenische
W. Hryniewicz, „Martin Luther und die Orthodoxie. Ökumenische Erwägungen“, in: Ostkirchliche Studien 36, 1987, 154– 177, hier: 155. Vgl. G. Wenz, „Den Griechen ein Grieche? Die Confessio Augustana Graeca von 1559 und der Briefwechsel der Leitung der Württembergischen Kirche mit Patriarch Jeremias II. von Konstantinopel in den Jahren 1573 bis 1581 im Kontext der Konkordienformel von 1577“, in: Th. Nikolaou (Hg.), Das Schisma zwischen Ost- und Westkirche 950 bzw. 800 Jahre danach (1054 und 1204), Beiträge aus dem Zentrum für ökumenische Forschung München, Bd. 2, Münster, 2004, 115 – 141. Vgl. D.Wendebourg, Reformation und Orthodoxie. Der ökumenische Briefwechsel zwischen der Leitung der Württembergischen Kirche und Patriarch Jeremias II. von Konstantinopel in den Jahren 1573 bis 1581, Göttingen, 1986. A. Vletsis, „Luther und die Reformation im Kontext Orthodoxer Theologie: Von der Dialektik der Konfrontation zur Komplementarität einer ökumenischen Verständigung?“, in: J. Rahner und A. Strübind (Hg.), Begegnungen – Entgegnungen. Beiträge zur modernen Gottesfrage, kontextuellen Theologie und Ökumene, FS Ulrike Link-Wieczorek, ÖR.B 102, Leipzig, 2015, 133 – 149, hier: 135. https://doi.org/9783110498745-047
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Bewegung im 20. Jahrhundert brachte eine neue Dynamik in das Gespräch zwischen Reformation und Orthodoxie.
1 Wegbereiter des theologischen Dialogs im 20. Jahrhundert Im Rahmen der ökumenischen Bewegung kam es erneut zu unmittelbaren Begegnungen von orthodoxen und evangelischen Theologen, zunächst innerhalb der Bewegungen für Glauben- und Kirchenverfassung sowie für Praktisches Christentum, später dann bei Tagungen und Gremiensitzungen des 1948 in Amsterdam gegründeten Ökumenischen Rates der Kirchen. Neben diesen Begegnungen auf multilateraler Ebene suchte vor allem die Evangelische Kirche in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg intensiv Kontakte mit orthodoxen Kirchen und Theologen. Treibende Kräfte waren dabei zunächst der Hannoversche Landesbischof Hanns Lilje (1899 – 1977), der 1947 an der Evangelischen Akademie Hermannsburg eine Forschungsstelle für Ostkirchenfragen einrichtete, und der Präsident des damals noch in Frankfurt am Main angesiedelten Kirchlichen Außenamtes der EKD, Martin Niemöller (1892– 1984). Eine wichtige Rolle spielte auch die promovierte Slawistin und Theologin Hildegard Schaeder (1902– 84), die über mehr als 20 Jahre (1948 – 70) das innerhalb des Kirchlichen Außenamtes eingerichtete Orthodoxie-Referat leitete. Zwischen 1948 und 1950 organsierten dieses Orthodoxie-Referat und die Hermannsburger Forschungsstelle insgesamt vier Tagungen, auf denen evangelische Konfessionskundler und Orthodoxie-Spezialisten zusammenkamen, um das Gespräch mit den orthodoxen Kirchen vorzubereiten.⁵ Parallel zu diesen Gesprächen über die Orthodoxie bemühte man sich, auch unmittelbar mit orthodoxen Theologen ins Gespräch zu kommen. Hier knüpfte das Kirchliche Außenamt zunächst Kontakte zu den russischen Exiltheologen am Pariser Institut Saint-Serge. Im April 1950 fand eine erste Gesprächsrunde in Frankfurt am Main statt, an der von evangelischer Seite die Theologen Gerhard Ebeling, Edmund Schlink und Ernst Wolf beteiligt waren, von orthodoxer Seite die russischen Exiltheologen Anton Kartašev, Viktor Leontovič und Vasilij Zenkovskij.⁶ Es folgten zwei weitere Gesprächsrunden in Frankfurt 1951 und Bièvres bei Paris 1952, zu denen mit Panagiotis Bratsiotis auch ein griechischer Theologe hinzugezogen wurde. Neben dieser kirchenamtlichen Schiene entwickelte sich eine zweite Gesprächsebene, die von einzelnen Theologen etabliert wurde. Ein Motor dieser Gespräche auf evangelischer Seite war Ernst Benz (1907– 78), Professor für Kirchen- und Dogmen-
Vgl. A. Basdekis, „Die Theologischen Gespräche zwischen der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Orthodoxie. Versuch einer Standortbestimmung“, in: Ökumenische Rundschau 27, 1978, 223 – 253, hier: 224– 228. Vgl. Kirchliches Außenamt der EKD (Hg.), Kirche und Kosmos. Orthodoxes und evangelisches Christentum, Studienheft Nr. 2, Witten, 1950, 136.
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geschichte an der Universität Marburg, der im Herbst 1951 eine Tagung in Marburg organisierte, zu der er mit Sergij Bulgakov, Peter Kovalevskij und Lev Zander ebenfalls drei Vertreter des Orthodoxen Theologischen Instituts in Paris einlud.⁷ Neben Ernst Benz müssen noch zwei weitere deutsche evangelische Theologen genannt werden, die das Gespräch mit der Orthodoxen Kirche im 20. Jahrhundert wesentlich geprägt haben: zum einen Friedrich Heyer (1908 – 2005), der sich mit einer umfangreichen Untersuchung über die Orthodoxe Kirche in der Ukraine habilitierte und 1964 den neu geschaffenen Lehrstuhl für Konfessionskunde in Heidelberg übernahm. Während seiner langjährigen Lehrtätigkeit in Heidelberg knüpfte er unzählige Kontakte mit orthodoxen Studierenden und Lehrenden. Zum anderen muss an dieser Stelle die Tätigkeit von Frau Professorin Fairy von Lilienfeld (1917– 2009) gewürdigt werden, die von 1966 bis zu ihrer Emeritierung 1984 den Lehrstuhl für Geschichte und Theologie des christlichen Ostens in Erlangen innehatte. Sie stammte aus einer baltendeutschen Familie, studierte nach dem Kriegsende zunächst Slawistik, bevor sie 1953 das Theologiestudium in Naumburg aufnahm, das sie mit einer Dissertation über den russischen Mönchsvater Nil Sorskij abschloss. Ihre profunden Kenntnisse der russischen Sprache und der Orthodoxie ließen sie zu einer Brückenbauerin zwischen der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Russischen Orthodoxen Kirche werden, die nach ihrer Emeritierung sogar zum Ehrenmitglied der Moskauer Geistlichen Akademie ernannt wurde.⁸ Ihr jahrzehntelanges Wirken im theologischen Gespräch zwischen orthodoxer und evangelischer Theologie leitet über zum nächsten Kapitel, das sich mit den theologischen Gesprächen der EKD mit einzelnen orthodoxen Patriarchaten befasst.
2 Die Theologischen Gespräche der EKD mit einzelnen orthodoxen Patriarchaten Aus historischen (enge dynastische Verbindungen zwischen Deutschland und Russland) wie auch aus zeitgeschichtlichen Gründen (Bemühen um Aussöhnung zwischen den Völkern nach dem Ende des Nationalsozialismus) kommt den evangelischen Kirchen in Deutschland eine Vorreiterrolle für die ökumenischen Gespräche zwischen Orthodoxie und Protestantismus im 20. Jahrhundert zu.⁹ Aufgrund der deutschen Teilung entwickelten sich dabei zum Teil parallele Gesprächsreihen, die auf der einen Vgl. die Dokumentation dieser Tagung: E. Benz und L.A. Zander (Hg.), Evangelisches und orthodoxes Christentum in Begegnung und Auseinandersetzung, Hamburg, 1952. Vgl. D. Heller, „Fairy von Lilienfeld und die Ökumene mit der Orthodoxie“, in: Una Sancta 65, 2010, 72– 77. Einen detaillierten Überblick über Hintergründe,Verlauf und Resultate der Dialoge der EKD mit den verschiedenen orthodoxen Patriarchaten bietet die Studie von M. Illert, Dialog – Narration – Transformation. Die Dialoge der Evangelischen Kirche in Deutschland und des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR mit orthodoxen Kirchen seit 1959, ÖR.B 106, Leipzig, 2016.
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Seite von der EKD, der Evangelischen Kirche in (West‐)Deutschland, und auf der anderen Seite vom Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR geführt wurden.
2.1 Theologische Gespräche der EKD (West-Deutschland) mit der Russischen Orthodoxen Kirche Für die Beziehungen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zum Moskauer Patriarchat spielte der Besuch Martin Niemöllers in der Sowjetunion im Januar 1952 eine Schlüsselrolle. Niemöller war vom Moskauer Patriarchat „in erster Linie als Person eingeladen worden, gleichsam als Symbol der als Widerstandsbewegung gegen den NS-Staat gewerteten Bekennenden Kirche“.¹⁰ Niemöllers Reise fand in den Medien ein breites Echo und löste in kirchlichen Kreisen des Westens eine intensive Debatte über das Verhältnis zu den Kirchen im „Ostblock“ aus. Eine weitere wichtige Station auf dem Weg zum bilateralen Dialog zwischen dem Moskauer Patriarchat und der EKD war eine dreiwöchige (!) Reise einer EKD-Delegation unter der Leitung des damaligen Präses der Synode und späteren Bundespräsidenten, Gustav Heinemann, in die Sowjetunion im Sommer 1954. Es folgte ein offizieller Besuch des Leiters des Kirchlichen Außenamtes der EKD, Adolf Wischmann, in der Sowjetunion im Frühjahr 1958. Im Rahmen des Gegenbesuchs einer russischen Delegation fand vom 27. bis 29. Oktober 1959 in der Evangelischen Akademie Arnoldshain die erste Runde der theologischen Gespräche zwischen Vertretern der EKD und der Russischen Orthodoxen Kirche statt. Nach dem ersten Tagungsort werden die Gespräche in der Literatur als „Arnoldshainer Gespräche“ bezeichnet.¹¹ Ort und Jahr
Thema
Arnoldshain I:
Arnoldshain
Tradition und Glaubensgerechtigkeit
Arnoldshain II:
Zagorsk
Vom Wirken des Heiligen Geistes
Arnoldshain III:
Höchst
Versöhnung
Arnoldshain IV:
Leningrad
Taufe – Neues Leben – Dienst
Arnoldshain V:
Kirchberg
Der auferstandene Christus und das Heil der Welt
Arnoldshain VI:
Zagorsk
Die Eucharistie
G. Kretschmar, „Reformation und Orthodoxie. Das theologische Gespräch zwischen der RussischOrthodoxen Kirche und der Evangelischen Kirche in Deutschland“, in: M. Seckler u. a., Begegnung. Beiträge zu einer Hermeneutik des theologischen Gesprächs, FS Fries, Graz/Wien/Köln, 1972, 537– 551, hier: 543. Die Kommuniqués dieser Gespräche sowie Quellenangaben zu ihrer vollständigen Dokumentation auf Deutsch und Russisch sind publiziert in: Th. Bremer, J. Oeldemann und D. Stoltmann, Orthodoxie im Dialog. Bilaterale Dialoge der orthodoxen und der orientalisch-orthodoxen Kirchen 1945 – 1997. Eine Dokumentensammlung, Sophia 32, Trier, 1999, 312– 365.
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Fortsetzung Ort und Jahr
Thema
Arnoldshain VII: Arnoldshain
Das Opfer Christi und das Opfer der Christen
Arnoldshain VIII: Odessa
Die Hoffnung auf die Zukunft der Menschheit unter der Verheißung Gottes
Arnoldshain IX:
Schloss Schwanberg Das kirchliche Amt und die apostolische Sukzession
Arnoldshain X:
Kiev
Der bischöfliche Dienst in der Kirche
Arnoldshain XI:
Mülheim
Das königliche Priestertum der Getauften und das apostolische Amt in der Kirche
Arnoldshain XII:
Minsk
Das Leben der Kirche und ihr Zeugnis als Ausdruck ihrer Heiligkeit und Katholizität
Wenn man sich die Themen der „Arnoldshainer Gespräche“ anschaut, fällt auf, dass die zwölf Gesprächsrunden zwar keiner systematischen Ordnung unterliegen, aber gleichwohl die Themen der einzelnen Gespräche in gewisser Weise an die zuvor behandelte Fragestellung anschließen. Bei der ersten Gesprächsrunde in Arnoldshain 1959 stehen mit dem Verständnis der kirchlichen Tradition und der Rechtfertigung aus Glauben zwei klassische Themen der Kontroverstheologie im Vordergrund. Die zweite Gesprächsrunde sucht mit ihren Reflexionen über das Wirken des Heiligen Geistes nach einem verbindenden Prinzip zwischen den unterschiedlichen Ansätzen auf orthodoxer und protestantischer Seite. Nach Beratungen über das biblische Verständnis der Versöhnung bei der dritten Gesprächsrunde widmet sich das vierte Gespräch dem Verständnis der Taufe, wobei ebenfalls zunächst deren biblische Grundlagen erörtert werden, bevor über ihre Bedeutung für die Zugehörigkeit zur Kirche und den Dienst der Getauften an der Welt gesprochen wird. Das Zeugnis der Christen gegenüber der Welt wird dann bei der fünften Gesprächsrunde im Blick auf das Verständnis von Kreuz und Auferstehung Jesu Christi erörtert. An das sechste Gespräch zum Verständnis der Eucharistie schließen sich Beratungen über das Verständnis des Opfers Christi und seinem Verhältnis zum Opfer der Christen an. Erst mit der neunten Gesprächsrunde rückt das kirchliche Amt in den Fokus der Gespräche, das dann im Folgenden im Blick auf den bischöflichen Dienst in der Kirche und das Verhältnis zwischen dem allgemeinen Priestertum der Getauften und dem besonderen Amt vertieft wird. Bei der zwölften Gesprächsrunde 1990 geht es schließlich um die Kirche selbst, wobei mit den Themen Heiligkeit und Katholizität zwei ihrer Wesensmerkmale aufgegriffen werden.
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2.2 Theologische Gespräche des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR mit dem Moskauer Patriarchat Wenden wir uns nun der zweiten, parallel verlaufenden Gesprächsreihe mit dem Moskauer Patriarchat zu. Bis 1969 gehörten die ostdeutschen Landeskirchen offiziell zur EKD, waren also formal gesehen auch in die ersten „Arnoldshainer Gespräche“ einbezogen. Personell waren sie allerdings nur an der ersten Gesprächsrunde in Arnoldshain 1959 beteiligt, an der Heinrich Vogel von der Berliner Humboldt-Universität als Vertreter der ostdeutschen Landeskirchen teilnahm. An den folgenden Gesprächsrunden konnte nach der Schließung der Grenze 1961 kein Vertreter aus Ostdeutschland mehr teilnehmen. Als Metropolit Nikodim von Leningrad 1972 anlässlich des ersten Besuches einer Delegation des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR den Vorschlag machte, einen theologischen Dialog aufzunehmen, stieß dieses Angebot daher auf offene Ohren. Nachdem die Konferenz der Kirchenleitungen der evangelischen Kirchen in der DDR und der Hl. Synod der Russischen Orthodoxen Kirche zugestimmt hatten, fand das erste Gespräch im Juli 1974 in der Moskauer Geistlichen Akademie statt, die sich auf dem Gelände des Dreifaltigkeits-SergiusKlosters in Sergiev Posad befindet. In der Sowjetunion trug diese Stadt den Namen „Zagorsk“ (nach dem russischen Revolutionär Vladimir Zagorskij), um die Erinnerung an den eigentlichen Namensgeber, den hl. Sergius von Radonež, auszulöschen. In der Literatur werden diese Gespräche aufgrund des ersten Tagungsortes als „Zagorsker Gespräche“ bezeichnet.¹² Ort und Jahr
Thema
Zagorsk I:
Zagorsk
Die Predigt im Gottesdienst der Kirche / Die Situation der Kirchen im Kontext der sozialistischen Gesellschaft
Zagorsk II:
Erfurt
Das Reich Gottes als gegenwärtige und zukünftige Wirklichkeit
Zagorsk III:
Kiev
Die heiligende Wirkung der Gnade Gottes in der Kirche und durch die Kirche
Zagorsk IV:
Güstrow
Die Nachfolge Christi im Leben des Christen
Zagorsk V:
Zagorsk
Einschätzung der Lima-Dokumente „Taufe, Eucharistie und Amt“ – insbesondere in Bezug auf das Amt
Zagorsk VI: Wittenberg Gottes Volk und Völkerwelt im Lichte der Taufe Zagorsk VII: Zagorsk
Die Rolle der Kirche in der sich erneuernden Gesellschaft
Vergleicht man die Themen der „Arnoldshainer Gespräche“ mit denen der „Zagorsker Gespräche“, so fällt auf, dass Letztere nicht bei theologischen Kontroversthemen
Die Kommuniqués dieser Gespräche sowie Quellenangaben zu ihrer vollständigen Dokumentation auf Deutsch und Russisch sind publiziert in: Orthodoxie im Dialog (Anm. 11), 396 – 419.
Das Erbe Martin Luthers und die Tradition der Orthodoxen Kirche
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ansetzen, sondern eher das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft in den Blick nehmen. Es geht anfangs um die Situation der Kirchen in der sozialistischen Gesellschaft sowie das Verständnis des Reiches Gottes und dessen Auswirkung auf die Gegenwart. Und die abschließende siebte Gesprächsrunde thematisiert im Zeichen der „Perestrojka“ die Rolle der Kirchen in der sich erneuernden Gesellschaft. Dazwischen steht ein thematischer Block, in dem sich die Gespräche – früher als die „Arnoldshainer Gespräche“ – dem Verständnis von Kirche sowie, angeregt durch die LimaDokumente, dem Verständnis des kirchlichen Amtes und der Taufe zuwenden. Wenn man ein Fazit der theologischen Gespräche der evangelischen Kirchen in West- und Ostdeutschland mit dem Moskauer Patriarchat für die Zeit bis 1990 ziehen will, so kann man mit den Worten des 1995 erstellten „Gemeinsamen Berichts“ an die Kirchenleitungen feststellen: Diese theologischen Gespräche sind in einem Geist kirchlicher Aufgeschlossenheit, menschlichen Vertrauens und geistlicher Gastfreundschaft geführt worden. […] Durch die Begegnungen im Dialog und durch die in seinem Verlauf gewachsene vertrauensvolle Gemeinschaft haben sich unsere Kirchen nach jahrzehntelanger Isolierung voneinander besser kennen und verstehen gelernt. Es war möglich, viele der Vorurteile aufzuklären und auszuräumen, die herkömmlicherweise zwischen unseren Kirchen gewaltet haben. Wir haben theologische Annäherungen erzielt, die in uns die Hoffnung auf eine umfassende Verständigung geweckt haben.¹³
Die Arnoldshainer und Zagorsker Gespräche haben damit das geleistet, was am Beginn jedes ökumenischen Dialogs stehen muss: Aufbau von Vertrauen, Abbau von Vorurteilen und kritische Überprüfung der überkommenen theologischen Differenzen. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands galt es, diese beiden parallelen Gesprächsstränge zusammenzuführen – kein einfacher Prozess in einer Phase, in der die Kirchen, sowohl in Deutschland als auch in Russland, viel mit sich selbst und ihrer inneren Konsolidierung beschäftigt waren.
2.3 Theologische Gespräche der EKD (nach der Wiedervereinigung) mit der Russischen Orthodoxen Kirche Eine erste Begegnung zwischen Vertretern der EKD und der Russischen Orthodoxen Kirche nach der Wiedervereinigung Deutschlands fand im November 1992 in Bad Urach statt. Nach dem Muster der vorangegangenen Gesprächsreihen hat man diese und die folgenden Dialogrunden auf deutscher Seite zunächst als „Bad Uracher Ge-
„Gemeinsamer Bericht an die Leitungen der Russischen Orthodoxen Kirche und der Evangelischen Kirche in Deutschland über den Stand des bilateralen theologischen Dialogs“, in: Orthodoxie im Dialog (Anm. 11) 372– 383, hier: 373.
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Johannes Oeldemann
spräche“ bezeichnet.¹⁴ Allerdings hat sich diese Bezeichnung auf russischer Seite nicht durchgesetzt. Ort und Jahr
Thema
. Begegnung, Bad Urach
Die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen und ihr Zeugnis in der Welt
. Begegnung, Minsk
Die Kirche, das Volk und der Staat in Europa
. Begegnung, Mülheim/Ruhr
Religiöse Bildung und Erziehung / Zwischenkirchliche Beziehungen
. Begegnung, Moskau – Sergiev Posad Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg / Bedeutung der christlichen Werte heute . Begegnung, Lutherstadt Wittenberg
Freiheit und Verantwortung aus christlicher Sicht
. Begegnung, Rostov am Don
Kirchen in der multikulturellen Gesellschaft
. Begegnung, München
Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs: Frieden und Versöhnung
Bei der ersten Begegnung in Bad Urach 1992 setzte sich die EKD-Delegation aus Vertretern der ost- und westdeutschen Landeskirchen zusammen, die bereits an den Arnoldshainer und Zagorsker Gesprächen beteiligt waren. Zusammen mit den russischen Vertretern, von denen einige ebenfalls an den früheren Gesprächsrunden beteiligt waren, bemühte man sich um eine Auswertung der bisherigen Gespräche. Da es in Bad Urach nicht gelang, diesbezüglich zu einer Verständigung zu kommen, wurde eine sechsköpfige Arbeitsgruppe eingesetzt, die den bereits zitierten „Gemeinsamen Bericht“ an die Kirchenleitungen erstellte. Dieser Bericht, der sich darum bemüht, den erreichten theologischen Konsens aufzuzeigen, aber auch die offen gebliebenen Fragen zu thematisieren, wurde von den Kirchenleitungen auf beiden Seiten positiv bewertet. Insgesamt stellt der Bericht allerdings „ausschließlich den Wunsch nach Versöhnung und Verständigung“ heraus, weshalb im Nachhinein „die Ausblendung der kritischen Anfragen an Sprache, staatliche[r] Einflussnahme und Instrumentalisierung der Dialoge“ als problematisch erachtet wird.¹⁵ Der Bericht wurde auch auf der zweiten Begegnung in Minsk 1998 diskutiert, hatte aber keine Auswirkungen auf den weiteren inhaltlichen Verlauf der Gespräche. Diese wandten sich angesichts der politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in Europa dem Verhältnis von Staat Diese Gespräche sind dokumentiert in: K. Schwarz (Hg.), Bilaterale theologische Dialoge mit der Russischen Orthodoxen Kirche, Studienheft 22, Hermannsburg, 1996, 257– 396; R. Koppe (Hg.), Bilateraler Theologischer Dialog […] 1998 und 2002, Studienheft 28, Hermannsburg, 2004; D. Heller (Hg.), Sechzig Jahre nach Kriegsende – Christliche Werte heute, ÖR.B 80, Frankfurt a. M., 2007; P. Bosse-Huber u. M. Illert (Hg.), Theologischer Dialog mit der Russisch-Orthodoxen Kirche 2008 – 2015, ÖR.B 108, Leipzig, 2016. Die Kommuniqués der letzten Begegnungen (seit 2002) sind auch im Internet abrufbar unter: http://www.ekd.de/international/dialog/orthodoxie/dokumente.html (Zugriff: 21.11. 2016). M. Illert, Dialog – Narration – Transformation (Anm. 9), 186.
Das Erbe Martin Luthers und die Tradition der Orthodoxen Kirche
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und Kirche zu, wobei in Minsk zunächst die staatliche Religionsgesetzgebung im Fokus stand, während es bei der Begegnung in Mülheim an der Ruhr um Fragen der Religionspädagogik ging. Das 60-jährige Ende des Zweiten Weltkriegs bot den Anlass für die vierte Begegnung im Jahr 2005, die allerdings zu keiner Verständigung in der Frage nach der Bedeutung der christlichen Werte führte. Die Wertedebatte stand auch im Hintergrund der fünften Begegnung im Jahr 2008, die sich unter der Überschrift „Freiheit und Verantwortung“ vor allem mit dem Verständnis der Menschenrechte auseinandersetzte. Die Wahl Margot Käßmanns zur EKD-Ratsvorsitzenden im Jahr 2009 führte zu einer vorübergehenden Eiszeit im Dialog zwischen der EKD und dem Moskauer Patriarchat. Die für den Herbst 2009 geplanten Feierlichkeiten zum 50-jährigen Jubiläum des Dialogs wurden abgesagt. Immerhin wurden die 50-jährigen Beziehungen zwischen der EKD und der Russischen Orthodoxen Kirche in einem zweisprachigen Jubiläumsband gewürdigt, der schon zuvor erschienen war.¹⁶ Der Rücktritt Margot Käßmanns erleichterte dann die Fortsetzung des Dialogs, der bei der sechsten Begegnung in Rostov am Don die Rolle der Kirchen in der multikulturellen Gesellschaft erörterte. Die bisher letzte Gesprächsrunde in München 2015 befasste sich angesichts des 70. Jahrestages der Beendigung des Zweiten Weltkriegs mit den Themen Frieden und Versöhnung. Eine Besonderheit dieser Begegnung bestand darin, dass erstmals offiziell katholische Gäste zur Beteiligung an den Gesprächen eingeladen worden waren. Insgesamt zählt der Dialog der EKD mit der Russischen Orthodoxen Kirche zu den kontinuierlichsten ökumenischen Dialogen der letzten Jahrzehnte. In der Zeit des „Kalten Krieges“ hatte er eine wichtige Brückenfunktion zwischen den Christen in Ost und West. Nach der Wende geriet er in eine Krise, in der die Gesprächsfäden nur aufgrund des zuvor gewachsenen Vertrauens aufrechterhalten werden konnten. Der Dialog spiegelt damit in gewisser Weise die Entwicklungen in Kirche und Gesellschaft wider und ist somit ein Beleg dafür, dass Ökumene sich nicht in einem luftleeren Raum vollzieht, sondern die theologischen Debatten immer auch von nichttheologischen Faktoren mitgeprägt werden.
2.4 Bilateraler Theologischer Dialog der EKD mit dem Ökumenischen Patriarchat Das gilt – wenn auch unter ganz anderen Vorzeichen – ebenfalls für den Dialog der EKD mit dem Ökumenischen Patriarchat. Den historischen Hintergrund für diesen Dialog bildet die durch die Anwerbung zahlreicher Gastarbeiter wachsende Zahl or-
Kirchenamt der EKD in Hannover und Kirchliches Außenamt des Moskauer Patriarchats (Hg.), Hinhören und Hinsehen. Beziehungen zwischen der Russischen Orthodoxen Kirche und der Evangelischen Kirche in Deutschland, Leipzig, 2003.
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Johannes Oeldemann
thodoxer Christen in Deutschland zu Beginn der 1960er-Jahre. Zwischen der evangelischen Diakonie und der katholischen Caritas gab es damals eine Absprache, dass sich der katholische Wohlfahrtsverband um die Gastarbeiter aus den katholischen Ländern (Italien, Spanien) kümmern sollte, während sich die evangelische Diakonie der Menschen aus den orthodoxen Ländern (vor allem Griechen und Serben) annahm. Die Initiative zur Aufnahme eines theologischen Dialogs ging vom Ökumenischen Patriarchen Athenagoras I. aus, der bei einem Besuch des damaligen EKD-Ratsvorsitzenden Bischof Scharf 1966 vorschlug, einen Dialog „des Glaubens und der Liebe“ aufzunehmen.¹⁷ Ort und Jahr
Thema
. Begegnung, Istanbul
Dialog des Glaubens und der Liebe
. Begegnung, Arnoldshain
Christus – das Heil der Welt
. Begegnung, Chambésy
Das Bild vom Menschen in Orthodoxie und Protestantismus
. Begegnung, Friedewald
Die Anrufung des Heiligen Geistes im Abendmahl
. Begegnung, Bonn
Eucharistie und Priesteramt
. Begegnung, Stapelage
Evangelium und Kirche
. Begegnung, Kavala
Die Verkündigung des Evangeliums und die Feier der heiligen Eucharistie
. Begegnung, Hohenwart
Das Wirken des Heiligen Geistes in der Erfahrung der Kirche
. Begegnung, Kreta
Leben aus der Kraft des Heiligen Geistes
. Begegnung, Iserlohn
Das Handeln der Kirche im Zeugnis und Dienst
. Begegnung, Rhodos
Der Kosmos als Schöpfung Gottes / Die Kirchen vor dem ökologischen Problem
. Begegnung, Brandenburg/Havel
Die Kirchen im zusammenwachsenden Europa
. Begegnung, Istanbul
Die Gnade Gottes und das Heil der Welt
. Begegnung, Schloss Oppurg Die Bedeutung der Konzilien und Bekenntnisse für den ökumenischen Dialog
Die Kommuniqués der ersten elf Begegnungen (bis 1997) sowie Quellenangaben zu ihrer vollständigen Dokumentation sind publiziert in: Orthodoxie im Dialog (Anm. 11), 383 – 396. Die folgenden Begegnungen sind dokumentiert in: R. Koppe (Hg.), Die Kirchen im zusammenwachsenden Europa. Zwölfte Begegnung im bilateralen Theologischen Dialog […], Studienheft 27, Hermannsburg, 2003, 205 – 333; D. Heller und R. Koppe (Hg.), Die Gnade Gottes und das Heil der Welt. Das 13. Gespräch im Rahmen des bilateralen Theologischen Dialogs […], ÖR.B 79, Frankfurt a.M., 2006; P. Bosse-Huber u. M. Illert (Hg.), Theologischer Dialog mit dem Ökumenischen Patriarchat. 14. und 15. Begegnung im bilateralen Theologischen Dialog, ÖR.B 101, Leipzig, 2015. Die Kommuniqués der letzten Begegnungen (seit 2004) sind auch im Internet abrufbar unter: http://www.ekd.de/international/dialog/orthodoxie/dokumente.html (Zugriff: 21.11. 2016).
Das Erbe Martin Luthers und die Tradition der Orthodoxen Kirche
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Fortsetzung Ort und Jahr
Thema
. Begegnung, Kreta
Beziehungen zw. Kirche und Staat unter historischem und ekklesiologischem Aspekt
. Begegnung, Hamburg
Das Bild Christi in der orthodoxen und der evangelischen Frömmigkeit
Das erste Treffen in Istanbul 1969 diente vor allem dazu, den Dialog vorzubereiten und sich über mögliche Themen zu verständigen. Die Übersicht über die folgenden Gesprächsrunden zeigt, dass sich dieser Dialog – viel stärker als der Dialog mit der russischen Kirche – theologischen Themen im engeren Sinne des Wortes zuwandte. Ausgehend von der Christologie und Anthropologie widmete sich der Dialog zwischen 1975 und 1990 intensiv der Ekklesiologie und Pneumatologie, während ab der 10. Begegnung in Iserlohn 1994 stärker das Verhältnis zwischen Kirche und Welt in den Fokus rückte. Allerdings wurden auch in dieser Phase weiterhin theologische Themen wie die Bedeutung der Konzile für die Orthodoxe Kirche sowie der Bekenntnisschriften für die evangelischen Christen oder die orthodoxe Ikonentheologie und evangelische Zugänge zum Bild Christi behandelt. Insgesamt zeichnet sich der Dialog zwischen der EKD und dem Ökumenischen Patriarchat durch eine Fokussierung auf theologische Themen aus, wobei sich die Dialogrunden deutlich um das Herausstellen der gemeinsamen Grundlagen bemühen.
2.5 Theologische Gespräche des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR mit der Bulgarischen Orthodoxen Kirche Der Dialog mit der Bulgarischen Orthodoxen Kirche geht auf eine Initiative der Kirchenleitungen des evangelischen Kirchenbundes in der DDR zurück, die nach gegenseitigen Besuchen in den Jahren 1971 und 1975 die bulgarische Kirche zu einem theologischen Dialog einluden. Die erste Gesprächsrunde fand im Dezember 1978 in Herrnhut statt, weshalb diese Gesprächsreihe als „Herrnhuter Gespräche“ bezeichnet wird.¹⁸ Ort und Jahr
Thema
Herrnhut I:
Herrnhut
Verkündigung heute
Herrnhut II:
Sofia
Die Quelle des Glaubens
Herrnhut III: Eisenach
Taufe und Eucharistie
Die Kommuniqués dieser Gespräche sind publiziert in: Orthodoxie im Dialog (Anm. 11), 419 – 434. Mit großem zeitlichem Abstand erschien auch ein Dokumentationsband: R. Koppe (Hg.), Herrnhut. Theologische Gespräche mit der Bulgarischen Orthodoxen Kirche, Studienheft 26, Hermannsburg, 2001.
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Fortsetzung Ort und Jahr
Thema
Herrnhut IV: Sofia
Das geistliche Amt in der Kirche
Herrnhut V:
Reinhardsbrunn Beichte und Buße in ihren dogmatischen und sozialen Aspekten
Nachdem die erste Gesprächsrunde sich mit der kirchlichen Verkündigung, vor allem im Rahmen des Gottesdienstes, befasst hatte, griffen die folgenden Gesprächsrunden klassische Themen des ökumenischen Dialogs wie Schrift und Tradition, Taufe und Eucharistie, Kirche und Amt sowie Buße und Beichte auf. Die in den Kommuniqués festgehaltenen Ergebnisse zeigen, dass dieser Dialog keine eigenständigen, weiterführenden Ansätze im Blick auf diese Themen zu entwickeln vermochte. Sein Wert liegt vielmehr darin, dass er zu einer Rezeption der in der weltweiten Ökumene erzielten Verständigung in diesen Themenbereichen auf der Ebene der beteiligten Kirchen beitrug. Nach der Wiedervereinigung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR mit der EKD fand 1992 nur noch eine weitere Gesprächsrunde statt, bevor diese Gespräche – vor allem aufgrund eines Schismas innerhalb der Bulgarischen Orthodoxen Kirche – abbrachen.
2.6 Bilateraler Theologischer Dialog der EKD mit der Rumänischen Orthodoxen Kirche Der Dialog der EKD mit der Rumänischen Orthodoxen Kirche begann 1979 mit einer Tagung in Goslar. Diese Gesprächsreihe zeichnet sich durch theologisch tiefgehende Reflexionen aus, die sie zu einem der ertragreichsten Dialoge im evangelisch-orthodoxen Gespräch werden ließ. Ausschlaggebend dafür dürfte zum einen die größere Kontinuität in der Besetzung der beiden Delegationen sein, zum anderen die Tatsache, dass es in Rumänien eine evangelische Kirche Augsburgischen Bekenntnisses gibt, die Deutsch geprägt ist, und eine reformierte Kirche ungarischer Prägung. Von Anfang an waren Vertreter dieser Kirchen als Beobachter und zum Teil auch als Referenten am Dialog beteiligt. Die Gespräche zwischen der EKD und der Rumänischen Orthodoxen Kirche haben daher sehr schnell wesentliche theologische Themen berührt, die zwischen Orthodoxie und Reformation strittig sind.¹⁹ Die Kommuniqués der ersten sechs Begegnungen (bis 1991) sowie Quellenangaben zu ihrer vollständigen Dokumentation sind publiziert in: Orthodoxie im Dialog (Anm. 11), 434– 461. Die folgenden Begegnungen sind dokumentiert in: R. Koppe (Hg.), Gemeinschaft der Heiligen – Berufung unserer Kirchen. Siebtes Gespräch […] / Dienen und Versöhnen. Achtes Gespräch […], Studienheft 24, Hermannsburg, 1999; D. Heller und R. Koppe (Hg.), Die Kirche – ihre Verantwortung und ihre Einheit. Das neunte und zehnte Gespräch […], ÖR.B 75, Frankfurt a.M., 2005; D. Heller und J. Schneider (Hg.), Die Ökumenischen Konzilien und die Katholizität der Kirche. Das elfte Gespräch […], ÖR.B 83, Frankfurt a.M., 2009; M. Schindehütte und M. Illert (Hg.), Theologischer Dialog mit der Rumänischen Orthodoxen
Das Erbe Martin Luthers und die Tradition der Orthodoxen Kirche
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Ort und Jahr
Thema
. Begegnung, Goslar
Die Heilige Schrift, die Tradition und das Bekenntnis
. Begegnung, Iasi
Die Sakramente in der Confessio Augustana und in den orthodoxen Lehrbekenntnissen
. Begegnung, Hüllhorst
Buße und Beichte im Glauben und Leben unserer Kirchen
. Begegnung, Constanta
Das Heil in Jesus Christus und die Heilung der Welt
. Begegnung, Kloster Kirchberg Rechtfertigung und Verherrlichung (Theosis) des Menschen durch Jesus Christus . Begegnung, Curtea de Arges
Die Taufe als Aufnahme in den Neuen Bund und als Berufung zum geistlichen Kampf in der Nachfolge Jesu Christi (synergeia)
. Begegnung, Selbitz
Gemeinschaft der Heiligen – Die Berufung unserer Kirchen in der säkularisierten Welt
. Begegnung, Bukarest
Kirche als Zeugnis- und Dienstgemeinschaft
. Begegnung, Herrnhut
Die Kirche und ihre politisch-gesellschaftliche Verantwortung heute
. Begegnung, Cluj/Klausenburg
Das Wesen und die Einheit der Kirche Christi
. Begegnung, Eisenach
Die ökumenischen Konzilien und die Katholizität der Kirche
. Begegnung, Sambata de Sus Die Apostolizität der Kirche und ihr Zeugnis im heutigen Europa . Begegnung, Kloster Drübeck Heiligkeit und Heiligung . Begegnung, Nürnberg
Die Erneuerung als geistliche und missionarische Aufgabe unserer Kirchen
Zu Beginn befasst sich der Dialog mit dem Verhältnis von Schrift und Tradition und der Bedeutung der Glaubensbekenntnisse. Danach wendet er sich dem Verständnis der Sakramente zu, wobei zunächst die Sakramententheologie im Allgemeinen, dann Buße und Beichte im Besonderen thematisiert werden. Die beiden folgenden Gesprächsrunden nehmen mit dem „solus Chritus“ und dem „sola gratia“ zwei Grundprinzipien reformatorischer Theologie auf und versuchen Anknüpfungspunkte für das Verständnis der Rechtfertigung „allein aus Gnade“ in der orthodoxen Theologie aufzuzeigen. Die Rechtfertigung des Menschen vollzieht sich nach dem Verständnis beider Kirchen in der Taufe, wobei aus orthodoxer Sicht im Vollzug der Initiationssakramente zugleich die Notwendigkeit der menschlichen Mitwirkung (griech. „syn-
Kirche. 12. und 13. Begegnung […], ÖR.B 97, Leipzig, 2014. Die Kommuniqués der letzten Begegnungen (seit 2002) sind auch im Internet abrufbar unter: http://www.ekd.de/international/dialog/orthodoxie/ dokumente.html (Zugriff: 21.11. 2016).
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ergeia“) am göttlichen Heilswirken deutlich wird. Das Thema der durch die Taufe begründeten „Gemeinschaft der Heiligen“ bildete dann die Brücke zur Erörterung verschiedener Aspekte der Ekklesiologie von der achten bis zur bislang letzten, vierzehnten Begegnung. Eine Besonderheit der ökumenischen Beziehungen zwischen der EKD und der rumänischen Orthodoxie besteht darin, dass man neben den offiziellen theologischen Gesprächen einen sogenannten „Jungen Dialog“ etabliert hat, in dessen Rahmen sich Studierende und Vikare aus beiden Kirchen treffen, um das gegenseitige Verständnis durch persönliche Begegnungen zu vertiefen und damit zu einer breiteren Rezeption der Dialogergebnisse in den beteiligten Kirchen beizutragen. Denn Letzteres ist, das muss am Ende dieses Überblicks über die theologischen Gespräche der EKD mit den verschiedenen orthodoxen Patriarchaten nüchtern konstatiert werden, leider nicht gelungen. Die Dialoge blieben weitgehend auf den Kreis der beteiligten Experten beschränkt, ohne eine Breitenwirkung in ihren Kirchen zu erzielen.
3 Evangelisch-orthodoxe Kontakte auf anderen Ebenen Umso wichtiger ist es deshalb, daran zu erinnern, dass es neben diesen Gesprächen noch eine Reihe weiterer Initiativen und Formen evangelisch-orthodoxer Begegnung gibt.
3.1 Weitere Formen der Begegnung in Deutschland Eine wichtige Rolle für die Vertiefung der evangelisch-orthodoxen Beziehungen spielt die evangelische Stipendienarbeit mit orthodoxen Theologen. Bereits in den 1950erund 60er-Jahren vergab die EKD im Rahmen der Austauschprogramme des ÖRK Stipendien an orthodoxe Theologen. 1972 wurde dann von evangelischer Seite ein eigenes Stipendienprogramm für orthodoxe Theologen gegründet. Über viele Jahre war die Verwaltung der evangelischen Stipendienarbeit für orthodoxe Theologen bei der Diakonie in Stuttgart angesiedelt, bevor sie nach der Fusion des Diakonischen Werkes mit „Brot für die Welt“ zum „Evangelischen Werk für Diakonie und Entwicklung“ seit 2012 in Berlin fortgeführt wird.²⁰ Im Rahmen ihres Studiums in Deutschland haben zahlreiche von der EKD unterstützte orthodoxe Theologen ihre Kenntnisse der westlichen Kirchen- und Theologiegeschichte vertieft und sind so zur Brückenbauern
Vgl. D. Arion, „Ökumene gestalten – Kirchen stärken – Menschen fördern. 63 Jahre evangelische Stipendienarbeit mit Orthodoxen im ‚Diakonischen Werk der EKD‘ in Stuttgart und bei ‚Brot für die Welt‘ in Berlin“, in: Th. Bremer, A.E. Kattan und R. Thöle (Hg.), Orthodoxie in Deutschland, Münster, 2016, 185 – 193.
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zwischen den Kirchen in Ost und West geworden. Letzteres gilt auch für die nicht so zahlreichen, aber sehr nachhaltigen Initiativen zur Begegnung zwischen evangelischen und orthodoxen Gläubigen im Rahmen einzelner Städte- und/oder Gemeindepartnerschaften. In diesem Zusammenhang muss noch auf ein neues Gesprächsformat zwischen der EKD und den orthodoxen Kirchen aufmerksam gemacht werden, das sich zurzeit noch im Entwicklungsstadium befindet. Es handelt sich um Gespräche der EKD mit der Orthodoxen Bischofskonferenz in Deutschland. Schon seit vielen Jahren gab es gute Kontakte auf der Arbeitsebene zwischen dem Kirchenamt der EKD und Vertretern der orthodoxen Diözesen in Deutschland, zunächst im Rahmen der „Kommission der Orthodoxen Kirche in Deutschland“ (KOKiD). Nach Gründung der „Orthodoxen Bischofskonferenz in Deutschland“ (OBKD) im Frühjahr 2010 entstand der Wunsch, diesen Kontaktgesprächen einen stärker inhaltlichen Akzent zu geben. Im Frühjahr 2013 fand ein erstes theologisches Gespräch statt, das den Arbeitstitel „Tübingen II“ trug. Damit wurde der Anspruch signalisiert, an die 1581 abgebrochenen Gespräche zwischen den Tübinger Theologen und dem Ökumenischen Patriarchat anzuknüpfen. Neben einem kritischen Rückblick auf diese Gespräche ging es bei der ersten Gesprächsrunde im Jahr 2013 um so unterschiedliche Themen wie die Bedeutung der „New perspective on Paul“ für die Exegese und den ökumenischen Dialog, das Verhältnis von Schrift und Tradition sowie mögliche Konvergenzen zwischen evangelischer und orthodoxer Bildtheologie.²¹ Wie sich diese neue Gesprächsreihe entwickeln wird, ist derzeit noch nicht abzusehen. Im Vorfeld des 500. Jahrestags der Reformation ist es aber sehr bemerkenswert, dass der evangelisch-orthodoxe Dialog nicht mehr wie zu Beginn große räumliche Distanzen überwinden muss, sondern von evangelischen und orthodoxen Theologen vor Ort geführt werden kann.
3.2 Theologische Gespräche in anderen Ländern Bevor wir uns den Dialogen auf Weltebene zuwenden, bleibt daran zu erinnern, dass es neben Deutschland auch in anderen Regionen der Welt theologische Gespräche zwischen protestantischen und orthodoxen Theologen gab, beispielsweise zwischen Orthodoxen und Lutheranern in den USA,²² zwischen Orthodoxen und Reformierten in Ungarn²³ oder zwischen Orthodoxen, Lutheranern und Reformierten in Rumänien.²⁴ Besonders engagiert im Dialog mit der Orthodoxie waren und sind die Lutheraner in Finnland. Das liegt vor allem daran, dass lutherische Theologen aus Finnland sich seit vielen Jahren darum bemühen, Brücken zwischen der Theologie Martin Luthers und Vgl. die Dokumentation der Vorträge in: P. Bosse-Huber u. a. (Hg.), Im Dialog mit der Orthodoxie. FS Reinhard Thöle, ÖR.B 104, Leipzig, 2016, 223 – 309. Vgl. Orthodoxie im Dialog (Anm. 11), 273 – 291. Vgl. ebd., 299 – 308. Vgl. ebd., 461– 468.
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dem theologischen Denken der Orthodoxie aufzuzeigen. Die finnische Lutherforschung hat dabei nachgewiesen, dass der Begriff „Glaube“ in der Theologie Martin Luthers eine ähnliche Rolle spielt wie der Gedanke der „Theosis“ (Vergöttlichung) in der orthodoxen Theologie.²⁵ Dies hat im ökumenischen Dialog maßgeblich zur Verständigung zwischen Lutheranern und Orthodoxen im Bereich der Soteriologie beigetragen.Vom großen Interesse am Dialog mit der Orthodoxie zeugen auch die beiden theologischen Gesprächsreihen, die die finnischen Lutheraner mit der Russischen Orthodoxen Kirche und mit der Orthodoxen Kirche in Finnland führen. Der Dialog der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Finnland mit der Orthodoxen Kirche in Russland begann 1970 und umfasst 15 Gesprächsrunden (bis 2011). Er zeichnet sich dadurch aus, dass neben einem theologisch-dogmatischen Thema jeweils auch ein Thema aus dem Bereich der Sozialethik behandelt wird.²⁶ Am Beginn dieses Dialogs stehen drei Gesprächsrunden zum Verständnis der Eucharistie – einem Thema, das in die Mitte des kirchlichen Lebens führt, zu dem aber beide Traditionen sehr unterschiedliche Zugänge haben. Nach zwei Gesprächsrunden zum Verständnis der Erlösung, bei denen die Ergebnisse der finnischen Lutherforschung zum Verständnis von Rechtfertigung und Vergöttlichung eine wichtige Rolle spielen, widmen sich die folgenden Gesprächsrunden ekklesiologischen und anthropologischen Themen. Der Dialog schwankt dabei zwischen abstrakten theologischen Themen und Konkretisierungen, etwa im Blick auf die Religionsfreiheit oder die Menschenrechte. Ähnliches lässt sich für das jeweils zweite, sozialethisch ausgerichtete Thema der Dialogrunden konstatieren: Während in den 1970er- und 80er-Jahren, wohl vor allem aufgrund politischer Vorgaben von sowjetischer Seite, der Friedensdienst der Kirchen im Fokus steht, widmen sich die Gespräche in der nachsowjetischen Zeit stärker den Beziehungen zwischen Kirche, Staat und Gesellschaft. Insgesamt spiegelt dieser Dialog sehr deutlich die Wandlungen in Kirche und Gesellschaft in dieser Epoche wider.²⁷
Vgl. T. Mannermaa, Der im Glauben gegenwärtige Christus. Rechtfertigung und Vergottung. Zum ökumenischen Dialog, Hannover, 1989; S. Peura, Mehr als ein Mensch? Die Vergöttlichung als Thema der Theologie Martin Luthers von 1513 bis 1519, Helsinki, 1990; J. Oeldemann, „Rechtfertigung und Theosis im Kontext des ökumenischen Dialogs mit der Orthodoxie“, in: Catholica 56, 2002, 173 – 192. Die Kommuniqués der ersten zehn Begegnungen (bis 1995) sind publiziert in: Orthodoxie im Dialog (Anm. 11), 227– 272. Die folgenden Begegnungen sind dokumentiert in: Church Council (Hg.), Lappeenranta 1998 & Moscow 2002. The Eleventh and Twelfth Theological Discussions between the Evangelical Lutheran Church of Finland and the Russian Orthodox Church, Helsinki, 2011; Church Council (Hg.), Sinappi, St. Petersburg and Siikaniemi. The 13th, 14th and 15th Theological Discussions between the Evangelical Lutheran Church of Finland and the Russian Orthodox Church, Helsinki, 2013. Alle Texte sind im finnischen Original und in englischer Übersetzung auch im Internet abrufbar unter: http://sakasti.evl.fi/sakasti.nsf/sp?open&cid=Content4342D1 (Zugriff: 21.11. 2016). Vgl. H. Hurskainen, Ecumenical Social Ethics as the World Changed. Socio-Ethical Discussion in the Ecumenical Dialogue between the Russian Orthodox Church and the Evangelical Lutheran Church of Finland 1970 – 2008, Helsinki, 2013.
Das Erbe Martin Luthers und die Tradition der Orthodoxen Kirche
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Seit 1989 führen die finnischen Lutheraner außerdem theologische Gespräche mit der Orthodoxen Kirche von Finnland. Obwohl in Finnland fast drei Viertel (73 %) der Bevölkerung der Evangelisch-Lutherischen Kirche angehören und nur 1,1 % der Bevölkerung zur Orthodoxen Kirche von Finnland zählen, haben beide Kirchen den Status einer Staatskirche. Die Gespräche zwischen Lutheranern und Orthodoxen in Finnland befassen sich neben theologischen Themen auch mit gemeinsamen pastoralen Herausforderungen.²⁸ Bei den theologischen Themen stehen zunächst die Bedeutung der Tradition und der Liturgie im Vordergrund, während bei den späteren Runden auch Fragen der Spiritualität, des interreligiösen Dialogs sowie die Gottesfrage aufgegriffen werden. Bei den pastoralen Themen werden nicht nur konfessionsverschiedene Ehen zwischen Orthodoxen und Lutheranern, sondern auch das Problem der Arbeitslosigkeit, die Familienpastoral, Fragen der Erziehung sowie nach der Zukunft der Volkskirche behandelt. Der Themenwahl ist deutlich anzumerken, dass die Orthodoxe Kirche in Finnland vor denselben Herausforderungen steht wie die lutherische Volkskirche. Zugleich verdeutlicht dieser Dialog, dass es orthodoxe Ortskirchen gibt, die Fragen der Gegenwart und des Lebens in der (post)modernen Welt aufgeschlossen gegenüberstehen.
4 Die theologischen Dialoge auf weltweiter Ebene Die zuvor aufgeführten Dialoge können als Wegbereiter für die offiziellen bilateralen Dialoge betrachtet werden, die seit den 1980er-Jahren einerseits zwischen dem Lutherischen Weltbund und der Orthodoxen Kirche in ihrer Gesamtheit, andererseits zwischen dem Reformierten Weltbund bzw. der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen und den Orthodoxen geführt werden.
4.1 Der Dialog zwischen Lutheranern und Orthodoxen auf Weltebene Der offizielle Dialog zwischen Lutheranern und Orthodoxen auf Weltebene geht auf eine Initiative von orthodoxer Seite zurück. Schon bei der IV. Panorthodoxen Konfe-
Die Kommuniqués der ersten vier Begegnungen (bis 1993) sind publiziert in: Orthodoxie im Dialog (Anm. 11), 291– 296. Die folgenden Begegnungen sind dokumentiert in: Church Council (Hg.), Kouvola 1996 & Joensuu 1999. The Fifth and Sixth Theological Discussions between the Evangelical Lutheran Church of Finland and the Orthodox Church of Finland, Helsinki, 2011; National Church Council (Hg.), From Oulu to Järvenpää. The Finnish Lutheran-Orthodox Theological Discussions from 2001 to 2012, Helsinki, 2014; National Church Council (Hg.), The Two Folk Churches in Finland. The 12th Finnish Lutheran-Orthodox Theological Discussions 2014, Helsinki, 2015. Alle Texte sind im finnischen Original und in englischer Übersetzung auch im Internet abrufbar unter: http://sakasti.evl.fi/sakasti.nsf/sp? open&cid=Content4342D1 (Zugriff: 21.11. 2016).
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renz 1968 in Chambésy war die Bildung einer theologischen Kommission zur Vorbereitung eines Dialogs mit den Lutheranern beschlossen worden,²⁹ die jedoch erst 1977 ihre Arbeit aufnahm. Das erste Treffen der Internationalen lutherisch-orthodoxen Dialogkommission fand 1981 im finnischen Espoo statt.³⁰ Seither hat es insgesamt 15 Vollversammlungen der Kommission gegeben, bei denen nicht weniger als zwölf gemeinsame Dokumente verabschiedet werden konnten.³¹ Der offizielle lutherisch-orthodoxe Dialog . Vollversammlung Espoo (Finnland)
Festlegung des Themenkatalogs
. Vollversammlung Limassol (Zypern)
Kontroverse Diskussion über die Ekklesiologie
. Vollversammlung Allentown (USA)
Dokument: Die göttliche Offenbarung
. Vollversammlung Kreta (Griechenland)
Dokument: Schrift und Tradition
. Vollversammlung Dokument: Kanon und Inspiration der Heiligen Schrift Bad Segeberg (Deutschland) . Vollversammlung Moskau (Russland)
Diskussion über die Bedeutung ökumenischer Konzile und kirchlicher Synoden
. Vollversammlung Sandbjerg (Dänemark)
Dokument: Die ökumenischen Konzile und die Autorität der Kirche und in der Kirche
. Vollversammlung Limassol (Zypern)
Dokument: Das Verständnis des Heils im Lichte der ökumenischen Konzile
. Vollversammlung Sigtuna (Schweden)
Dokument: Heil – Gnade, Rechtfertigung und Synergie
. Vollversammlung Damaskus (Syrien)
Dokument: Das Mysterium der Kirche, A: Wort und Sakramente im Leben der Kirche
. Vollversammlung Oslo (Norwegen)
Dokument: Das Mysterium der Kirche, B: Mysteria/Sakramente als Heilsmittel
Vgl. A. Kallis, Auf dem Weg zu einem Heiligen und Großen Konzil. Ein Quellen- und Arbeitsbuch zur orthodoxen Ekklesiologie, Orthodoxe Perspektiven, Bd. 10, Münster, 2013, 330. Zum Hintergrund des Dialogs sowie zum Verlauf der ersten Phase der Gespräche vgl. R. Saarinen, Faith and Holiness. Lutheran-Orthodox Dialogue 1959 – 1994, Göttingen, 1997. Die Dokumente des internationalen lutherisch-orthodoxen Dialogs sind auf Deutsch publiziert in: Dokumente wachsender Übereinstimmung [= DWU]. Sämtliche Berichte und Konsenstexte interkonfessioneller Gespräche auf Weltebene, Bd. 2: 1982– 1990, Paderborn/Frankfurt a.M., 1992, 258 – 271; Bd. 3: 1990 – 2001, Paderborn/Frankfurt a.M., 2003, 96 – 109; Bd. 4: 2001– 2010, Paderborn/Leipzig, 2012, 507– 526. Alle Texte sind im englischen Original auch im Internet abrufbar unter: http://blogs.helsinki.fi/ristosaarinen/lutheran-orthodox-dialogue (Zugriff: 21.11. 2016).
Das Erbe Martin Luthers und die Tradition der Orthodoxen Kirche
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Fortsetzung Der offizielle lutherisch-orthodoxe Dialog . Vollversammlung Durau (Rumänien)
Dokument: Das Mysterium der Kirche, C: Taufe und Myronsalbung als Sakramente der Aufnahme in die Kirche
. Vollversammlung Bratislava (Slowakei)
Dokument: Das Mysterium der Kirche, D: Die heilige Eucharistie im Leben der Kirche
. Vollversammlung Paphos (Zypern)
Dokument: Das Mysterium der Kirche, D/: Die Vorbereitung der Eucharistiefeier und ihre ökologischen und sozialen Implikationen
. Vollversammlung Wittenberg (Deutschland)
Dokument: Das Mysterium der Kirche, E: Wesen, Kennzeichen und Sendung der Kirche
Nach Sichtung des Materials der orthodoxen und lutherischen Vorbereitungskommissionen legte man bei der konstituierenden Sitzung einen Themenkatalog für die Gespräche fest. Ursprünglich wollte man mit der Erörterung des Kirchenverständnisses beginnen, doch bei der zweiten Tagung auf Zypern zeigte sich, dass die Zugänge zu diesem Thema so weit auseinanderlagen, dass man sich darauf verständigte, zunächst das weniger umstrittene Thema „Offenbarung“ zu behandeln. In der ersten Dialogphase (bis 1993) erarbeitete die Kommission dann eine Reihe von Dokumenten zum Verständnis der göttlichen Offenbarung einschließlich des Verhältnisses von Schrift und Tradition sowie der Bedeutung der ökumenischen Konzile. Die zweite Dialogphase (1993 – 1998) war der Soteriologie, insbesondere dem Verständnis von Rechtfertigung und Heiligung gewidmet.³² Die derzeit laufende dritte Dialogphase (seit 2000) behandelt unter der Überschrift „Das Mysterium der Kirche“ die Ekklesiologie und damit das Thema, mit dem die Kommission ursprünglich beginnen wollte. Dabei hat sich die Kommission zunächst mit dem Verständnis der Sakramente, insbesondere der Initiationssakramente befasst. Dass es in den letzten Jahren bei jeder Vollversammlung gelungen ist, sich auf ein gemeinsames Dokument zu verständigen, hat mit der gut durchdachten Methodik dieses Dialogs zu tun: Jeder Vollversammlung gehen ein bis zwei Vorbereitungssitzungen voraus, bei denen ein kleinerer Kreis von lutherischen und orthodoxen Kommissionsmitgliedern einen gemeinsamen Textentwurf erarbeitet, der bei der folgenden Vollversammlung der Dialogkommission beraten, überarbeitet und dann gemeinsam verabschiedet wird. Nach der bislang letzten Vollversammlung in Wittenberg 2011 hat es wiederum bereits zwei solcher Vorbereitungssitzungen gegeben, die sich mit dem Verständnis des Priestertums und des ordinierten Amtes befasst haben. Jedoch ist man dabei noch nicht so weit vorangekommen, dass man die Ergebnisse der Vollversammlung zur Beratung vorlegen
Auf dieses Thema, das ein zentrales Anliegen der Reformation aufgreift, gehen die abschließenden Überlegungen zum Ertrag der Dialoge noch näher ein.
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Johannes Oeldemann
wollte. Das deutet darauf hin, dass das Verständnis des kirchlichen Amtes und dessen praktische Ausübung (Stichwort: Frauenordination) einen Stolperstein auf dem Weg des lutherisch-orthodoxen Dialogs bilden.
4.2 Der Dialog zwischen Reformierten und Orthodoxen auf Weltebene Die Initiative zum Dialog zwischen Reformierten und Orthodoxen auf Weltebene ging von reformierter Seite aus. Neben den sogenannten „Debrecen-Gesprächen“ (1972– 87),³³ an denen vor allem orthodoxe und reformierte Theologen aus Mittel- und Osteuropa beteiligt waren, wurde der Dialog durch drei inoffizielle Konsultationen zwischen dem Ökumenischen Patriarchat und dem Reformierten Weltbund (1979 – 83) vorbereitet.³⁴ 1988 trat dann die Internationale reformiert-orthodoxe Dialogkommission erstmals im schweizerischen Leuenberg zusammen. Sie hat bislang drei gemeinsame Dokumente verabschiedet.³⁵ Der offizielle reformiert-orthodoxe Dialog Leuenberg (Schweiz)
Sichtung der Ergebnisse regionaler Dialoge; Diskussion über die Trinitätslehre
Minsk (Sowjetunion)
Dokument: Gemeinsame Erklärung über die Heilige Dreifaltigkeit
Kappel (Schweiz)
Diskussion über Trinitätslehre und Christologie
Limassol (Zypern)
Dokument: Gemeinsame Erklärung zur Christologie
Aberdeen (Schottland)
Zwischenbericht zum Thema „Identität und Einheit der Kirche“
Zakynthos (Griechenland)
Zwischenbericht zum Thema „Die Kirche als Leib Christi“
Pittsburgh (USA)
Zwischenbericht zu den Themen Taufe, Myronsalbung/Konfirmation, Apostolizität
Sambata de Sus (Rumänien) Zwischenbericht zum Thema „Die Heiligkeit der Kirche“ Beirut (Libanon)
Zwischenbericht zum Thema „Katholizität und Sendung der Kirche“ Dokument: Übereinstimmungen in der Lehre von der Kirche
Volos (Griechenland)
Vorträge zum Thema Eschatologie aus orthodoxer und reformierter Sicht
Vgl. Orthodoxie im Dialog (Anm. 11), 299 – 308. Vgl. T.F. Torrance (Hg.), Theological Dialogue between Orthodox and Reformed Churches, Bd. 1, Edinburgh, 1985. Die Dokumente des internationalen reformiert-orthodoxen Dialogs sind auf Deutsch publiziert in: DWU 2, 316 – 330; DWU 3, 151– 160; DWU 4, 981– 997.
Das Erbe Martin Luthers und die Tradition der Orthodoxen Kirche
859
Als die Internationale Dialogkommission 1988 ihre Arbeit aufnahm, beschlossen die Mitglieder, beim Gottesverständnis anzusetzen. Nachdem man sich bereits in Leuenberg über zentrale Begriffe der Trinitätslehre wie Ursächlichkeit und Monarchie oder die Unterscheidung zwischen Wesen und Hypostase verständigt hatte, konnte die Kommission bei ihrer zweiten Sitzung in Minsk 1990 eine Gemeinsame Erklärung über das Verständnis der Trinität verabschieden, die dann zwei Jahre später noch durch einen Text über bedeutende Merkmale der theologischen Rede über die Trinität vertieft wurde. 1994 folgte eine Gemeinsame Erklärung zur Christologie. Ab 1996 widmete sich die Kommission verschiedenen Aspekten der Lehre von der Kirche. Die Ergebnisse dieser Beratungen wurden 2005 in einem Dokument unter der Überschrift „Übereinstimmungen in der Lehre von der Kirche“ publiziert, das allerdings nicht mehr als eine Zusammenstellung der Zwischenberichte ist. Darin werden zum einen Konvergenzen im Blick auf das Verständnis der Wesensmerkmale der Kirche (Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität) festgehalten, zum anderen die Initiationssakramente und das Verständnis der Aufnahme in die Kirche als Leib Christi behandelt. Eine tiefergehende Verständigung im Bereich der Ekklesiologie erwies sich auch in diesem Dialog als unrealistisch, weshalb sich die Kommission zuletzt dem Verständnis der Eschatologie zugewandt hat.
5 Der bisherige Ertrag des Dialogs zwischen Orthodoxie und Protestantismus Wenn wir abschließend auf die ökumenischen Dialoge zwischen Orthodoxie und Protestantismus zurückschauen, so kann man einerseits mit Bewunderung feststellen, dass sich in den letzten sechs Jahrzehnten ein vielfältiges und tragfähiges Netz ökumenischer Kontakte entwickelt hat. Die Fixpunkte dieses Netzes sind die gegenseitige Wertschätzung, die sich aufgrund jahrelanger persönlicher Kontakte entwickelt hat. Nichttheologische Faktoren, wie die Versuche während der kommunistischen Herrschaft in Osteuropa, von staatlicher Seite Einfluss auf den Dialog zu nehmen, oder die antiwestliche und antiökumenische Stimmung in vielen orthodoxen Kirchen nach der Wende, die sich zu einer Belastung für die verschiedenen Dialoge entwickelten, konnten die Fortführung der Gespräche letztlich nicht gefährden. Mit Bedauern muss andererseits konstatiert werden, dass die Vielzahl der theologischen Gespräche nicht zu einer substanziellen Annäherung zwischen orthodoxen und evangelischen Glaubensüberzeugungen geführt hat. Es ist dem orthodox-protestantischen Dialog zwar gelungen, gegenseitige Vorurteile zu überwinden und Missverständnisse im Blick auf die Lehre des Gesprächspartners auszuräumen. In den theologischen Grundprinzipien gibt es jedoch nach wie vor eine deutlich wahrnehmbare Distanz. Diese zeigt sich beispielsweise in den unterschiedlichen Positionen hinsichtlich der Frauenordination oder der kirchlichen Segnung homosexueller
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Johannes Oeldemann
Paare. Der Streit über ethische Fragen erweist sich zunehmend als retardierendes Moment im Dialog. Auch wenn diese Streitfragen das Verhältnis zwischen Protestantismus und Orthodoxie derzeit nachhaltig belasten, bilden die Dialoge der vergangenen sechs Jahrzehnte einen reichen, noch weitgehend ungehobenen Schatz. Eine Bilanz der Gespräche zu ziehen, übersteigt die Möglichkeiten dieses Beitrags. Daher können hier zum Abschluss nur exemplarisch zwei Themen herausgegriffen werden, um anzudeuten, worin der Ertrag dieses Dialogs liegt. Dies soll anhand zweier Themen erfolgen, von denen das eine ein zentrales Anliegen der Reformation aufgreift, das andere ein zentrales Anliegen der Orthodoxen Kirche. Das erste Thema ist die Soteriologie: Bekanntlich stand die Frage Luthers „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“ am Beginn seines reformatorischen Weges. Die biblische Botschaft von der Rechtfertigung des Menschen bildete den Anker der Lehre der Reformatoren, die die Erlösung des Menschen „allein durch Christus“ (solus Christus) und „allein aus Gnade“ (sola gratia) betonten. Neben dem Dialog der EKD mit der Rumänischen Orthodoxen Kirche haben sich die Dialoge der finnischen Lutheraner mit den Orthodoxen in Russland und Finnland sowie der internationale lutherisch-orthodoxe Dialog mit diesem Thema befasst. Besonders bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ein Dokument, das die internationale Dialogkommission 1998 in Sigtuna unter der Überschrift „Heil – Gnade, Rechtfertigung und Synergie“ verabschiedet hat.³⁶ Das Dokument von Sigtuna ist eine gelungene Quintessenz der vorangegangenen regionalen Dialoge zum Verständnis des Heils. Besonders bemerkenswert sind die trinitarische Grundlegung des Heilsverständnisses sowie die konsequente Einbeziehung der ekklesialen Dimension in die Beschreibung des Verhältnisses von Gott und Mensch. Dem trinitarischen Grundansatz entsprechend vermeidet das Dokument eine rein christologische Betrachtung des Heilsgeschehens und stellt in einem eigenen Abschnitt das Wirken des Heiligen Geistes im Wechselspiel zwischen göttlicher Gnade und menschlichem Glauben heraus. Auf dieser Grundlage gelingt es hier erstmals, das reformatorische „sola gratia“ und den orthodoxen Begriff der „Synergie“ so miteinander in Beziehung zu setzen, dass sie nicht als einander ausschließend erscheinen. Beide Seiten betonen zunächst die absolute Priorität der göttlichen Gnade: Menschen können „aus eigenem Vermögen weder göttliche Gnade erbitten noch erlangen“.³⁷ Diese gemeinsame Grundüberzeugung wird dann ergänzt durch die Aussage, dass Gottes Gnade zum einen „nicht aus Notwendigkeit oder auf unwiderstehliche Weise wirksam (ist), da die Menschen sie auch ablehnen können“,³⁸ und zum anderen, dass der Heilige Geist „durch göttliche Gnade den menschlichen Geist erleuchtet und den menschlichen Willen, sich Gott zuzuwenden, stärkt“.³⁹
Deutsche Übersetzung in: DWU 3, 103 – 106. Erklärung von Sigtuna, Nr. 4: ebd., 104. Erklärung von Sigtuna, Nr. 5: ebd., 104. Erklärung von Sigtuna, Nr. 4: ebd., 104.
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Auf dieser Grundlage können die Lutheraner am Verständnis der Rechtfertigung „aus Gnade allein durch den Glauben“ (sola gratia, sola fide) festhalten und zugleich die Orthodoxen von „Synergie (Zusammenwirken) der göttlichen Gnade und des menschlichen Willens des Glaubenden bei der Aneignung des göttlichen Lebens in Christus“ sprechen, insofern es Gottes Gnade ist, die „unseren menschlichen Willen dazu befähigt, sich dem göttlichen Willen zu fügen“.⁴⁰ Die Lutheraner erkennen ausdrücklich die „persönliche Verantwortung des Menschen bei der Annahme oder Ablehnung der göttlichen Gnade“⁴¹ an, während die Orthodoxen ihrerseits die Priorität der göttlichen Gnade anerkennen. Der orthodox-lutherische Dialog auf Weltebene hat somit zu dem Resultat geführt, dass die zentralen Anliegen der reformatorischen Rechtfertigungslehre (die absolute Priorität des göttlichen Heilshandelns) wie auch der orthodoxen Synergielehre (die volle personale Beteiligung des Menschen am Heilsgeschehen) von beiden Seiten anerkannt werden können. Dass damit auch Brücken für das evangelisch-katholische Gespräch gebaut wurden, dürfte jedem klar sein, der die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ studiert hat. Das zweite Thema, anhand dessen der Ertrag der Dialoge verdeutlicht werden kann, ist die Ekklesiologie. Die Orthodoxe Kirche versteht sich bekanntlich als getreue Hüterin der Lehre der Alten Kirche und betrachtet daher Neuerungen, Reformen oder gar Brüche in der Kirchengeschichte mit großer Skepsis. Aus orthodoxer Sicht stellt „die Frage nach der geschichtlichen, bruchlosen Kontinuität und Identität der Kirche durch die Jahrhunderte hindurch“ die Kernfrage des orthodox-protestantischen Dialogs dar. „Alle weiteren Differenzen scheinen uns Seitenaspekte und folgerichtige Konsequenzen dieser einen Grundfrage zu sein“, konstatiert ein griechischer Theologe.⁴² Ein besonders zentraler Aspekt der Ekklesiologie, der auch das Verständnis des kirchlichen Amtes berührt, ist die Apostolizität der Kirche. Bekanntlich betonen die orthodoxe und die katholische Ekklesiologie die Bedeutung der apostolischen Sukzession. In der westlichen Kontroverstheologie kam es in nachreformatorischer Zeit zu einer Gegenüberstellung zwischen einem „formalen“ Verständnis der Apostolizität der Kirche auf katholischer Seite (Betonung der ununterbrochenen Sukzession im Bischofsamt) und einem „inhaltlichen“ Verständnis der Apostolizität (Betonung der Treue zur apostolischen Lehre) auf protestantischer Seite. Im ökumenischen Dialog mit der Orthodoxie zeigt sich, dass diese einen anderen Zugang zum Verständnis der Apostolizität verfolgt, der auf dem altkirchlichen Verständnis der „successio apostolica“ basiert. Dieses betont den unlösbaren Zusammenhang von Tradition, Sukzession und kirchlicher Gemeinschaft. Der ökumenische Dialog mit der Orthodoxie vermag „die ökumenische Diskussion über das Verständnis der apostolischen Sukzession, die im Westen um die beiden Pole ‚Sukzession in der Lehre‘ und ‚Sukzession im Amt‘
Erklärung von Sigtuna, Nr. 5: ebd., 104 f. Erklärung von Sigtuna, Nr. 5: ebd., 105. J. Panagopoulos, „Die Orthodoxie im Gespräch mit Martin Luther“, in: Weder Ketzer noch Heiliger. Luthers Bedeutung für den ökumenischen Dialog, Regensburg, 1982, 175 – 200, hier: 197 f.
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Johannes Oeldemann
kreiste, aus dieser Polarität zu befreien“.⁴³ Daher kann das Gespräch mit der Orthodoxie auch der ökumenischen Debatte über das Kirchen- und Amtsverständnis bei uns im Westen neue Impulse geben. Das Erbe Martin Luthers und die Tradition der Orthodoxie bereichern die christliche Ökumene, insofern sie das Evangelium und die Kirche aus unterschiedlicher Perspektive betrachten und dadurch helfen, die christliche Offenbarung in ihrer ganzen Fülle zu erfassen. Der Dialog mit der Orthodoxie bietet die Chance, uns aus Polarisierungen innerhalb der westlichen Theologie zu befreien, in die uns die kontroverstheologische Debatte in nachreformatorischer Zeit geführt hat. Der 500. Jahrestag des Beginns der Wittenberger Reformbewegung ist ein willkommener Anlass, diese Chance aufzugreifen.
J. Oeldemann, Die Apostolizität der Kirche im ökumenischen Dialog mit der Orthodoxie, Paderborn, 2000, 391.
Billy Kristanto
Die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre Einleitung Vierzehn Jahre nach der Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre (GERL) beendet der Ökumenebeauftragte der anglikanischen Kirche Kanadas einen Artikel mit dem Rat, aktiv zu bleiben, um sich während des „ökumenischen Winters“ warmzuhalten.¹ Myers beschäftigt sich mit den vier Fragen des Buches Harvesting the Fruits von Walter Kasper.² Er spricht sich dafür aus, von den verschiedenen anderen theologischen Traditionen zu lernen, anstatt zu erwarten, dass die anderen die eigenen Traditionen aufnehmen. In diesem Aufsatz werde ich den Vorschlag Myers mit dem gegenwärtigen ökumenischen Dialog in Verbindung bringen. Selbst aus einem evangelisch-reformierten Hintergrund stammend, werde ich zunächst die Rechtfertigungslehre in Übereinstimmung mit der lutherischen Theologie darstellen. Anschließend werde ich auf die Einwände von katholischer Seite eingehen, inklusive der offiziellen Antwort der katholischen Kirche auf die GERL sowie einer Reaktion Papst Benedikt XVI. Der dritte Teil diskutiert die möglichen Beiträge der reformierten Tradition, nicht in der Erwartung, dass andere davon lernen sollten, sondern, um ganz im Gegenteil zu beschreiben, was die reformierte Tradition von anderen gelernt hat. Der Schlussteil enthält eine Reflexion über die „Vertiefung des biblischen Fundamentes“, wie sie von Seiten der katholischen Kirche artikuliert wurde, in der Aussicht auf zukünftige Arbeit.³
Übersetzung: Irene Askani. Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre (GERL), online unter http://www.vatican.va/ro man_curia/pontifical_councils/chrstuni/documents/rc_pc_chrstuni_doc_31101999_cath-luth-joint-de claration_ge.html (Zugriff am 23.05. 2017). Bruce Myers, „Keeping Warm Reception in the Ecumenical Winter,“ in: The Ecumenical Review 65/3, 2013, 387. Vgl. Walter Kasper, Harvesting the Fruits: Basic Aspects of Christian Faith in Ecumenical Dialogue, London, 2009, 3. Antwort der Katholischen Kirche auf die Gemeinsame Erklärung zwischen der Katholischen Kirche und dem Lutherischen Weltbund über die Rechtfertigungslehre, Perspektive 7, online unter http://www.vati can.va/roman_curia/pontifical_councils/chrstuni/documents/rc_pc_chrstuni_doc_01081998_off-ans wer-catholic_ge.html (Zugriff am 23.05. 2017). https://doi.org/9783110498745-048
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Luthers Rechtfertigungslehre und ihre Rezeption in der lutherischen Orthodoxie Luther beschreibt die Gerechtigkeit Gottes bekanntermaßen als iustitia passiva, die sich von der iustitia activa unterscheidet. Dieses Konzept findet sich in der Vorrede Luthers zum ersten Bande der Gesamtausgabe seiner lateinischen Schriften (1545): da begann ich zu verstehen, dass die Gerechtigkeit Gottes dasjenige ist, mittels dessen der Gerechte lebt durch eine Gabe Gottes, namentlich durch den Glauben. Und dies hat folgende Bedeutung: die Gerechtigkeit Gottes ist durch das Evangelium offenbart, und zwar die passive Gerechtigkeit, durch die uns der gnädige Gott durch den Glauben rechtfertigt, wie geschrieben steht, „der durch den Glauben gerecht ist, wird leben.“⁴
Luthers Verständnis der Gerechtigkeit Gottes wurde zu einem wichtigen Faktor für seine theologische Entwicklung. Die Bedeutung der iustitia passiva kann nur in ihrem unauflösbaren Zusammenhang mit dem Glauben als Gabe Gottes erklärt werden. Die Rechtfertigung ist somit ein forensischer Akt, durch den der Sünder für gerecht erklärt wird. Die Konkordienformel (KF) bekräftigt das Primat der forensischen Gerechtigkeit: Dann der Glaube macht gerecht nicht darumb und daher, das er so ein gut werck und schöne tugendt, sondern weil er in der verheissung des heiligen evangelii den verdienst christi ergreifft und annimmet.⁵
Dieser dritte Artikel der KF widerspricht Osianders Auffassung der Rechtfertigung, verstanden als die Einwohnung Christi im Glaubenden, die mit sich bringt, dass der Glaubende gerecht gemacht wird. Diese Auffassung wurde abgelöst durch die der Einwohnung des Heiligen Geistes, die „folget auff die vorgehende Gerechtigkeit des Glaubens, welche anders nichts ist, dann die vergebung der sünden und gnedige annehmung der armen Sünder allein umb Christus gehorsam und verdiensts willen.“⁶ Auf diese Weise folgt dem von außen kommenden Werk des Wortes durch den Glauben das innerliche Agieren des Geistes. Indem die GERL bekennt: „Allein aus Gnade im Glauben an die Heilstat Christi, nicht auf Grund unseres Verdienstes, werden wir von Gott angenommen und empfangen den Heiligen Geist, der unsere Herzen erneuert und uns befähigt und aufruft zu guten Werken“,⁷ nimmt sie die Betonung der rettenden Tat Christi durch Luther im „ibi iustitiam Dei coepi intelligere eam, qua iustus dono Dei vivit, nempe ex fide, et esse hanc sententiam, revelari, per euangelium iustitiam Dei, scilicet passivam, qua nos Deus misericors iustificat per fidem, sicut scriptum est: Iustus ex fide vivit“ (WA 54, 186). Die Konkordienformel. Solida Declaratio (KFSD), Art. III, in: Dingel, Irene u. a. (Hg.), Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, Göttingen, 2014, 1392. KFSD, III, 1410. GERL, Nr. 15.
Die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre
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Gegensatz zum menschlichen Werk auf. Der Zusammenhang zwischen der Rechtfertigung durch den Glauben und der Erneuerung des menschlichen Herzens erfordert dennoch eine Erklärung. Umfasst die Rechtfertigung durch den Glauben eine Erneuerung des Herzens? Die spätere lutherische Orthodoxie weist den Gedanken eines innerlichen Wandels ausdrücklich zurück. Um die Bedeutung des forensischen Aspekts hervorzuheben, schreibt Baier: „Rechtfertigung bedeutet nicht einen wahren und inneren Wandel des Menschen.“⁸ Ähnlich erklärt Hollatz: Rechtfertigung ist ein gerichtlicher und zugleich ein gnadenvoller Akt, bei dem Gott, versöhnt durch die Satisfaktion Christi, den Sünder, der an Christus glaubt, von den Vergehen freispricht, aufgrund derer er angeklagt ist, und ihn für gerecht ansieht und erklärt. Da dieser Akt außerhalb des Menschen in Gott stattfindet, kann er den Menschen nicht innerlich verwandeln. So wie ein Schuldner, dessen Schulden durch einen anderen beglichen wurden, sodass er freigesprochen ist von seinen Schulden, einen äußerlichen und nicht einen innerlichen Wandel in Bezug auf seine Lage erfährt, so ist es auch für den Sünder, der aufgrund der Satisfaktion Christi, geltend gemacht durch den wahren Glauben, als frei von seinen Sünden angesehen und erklärt ist und somit äußerlich und nicht innerlich hin zu seinem besseren Zustand verwandelt ist.⁹
Dies bedeutet nicht, dass es überhaupt keinen Raum für einen inneren Wandel im Leben des Glaubenden gibt. Indem die Lutheraner die Rechtfertigung als in erster Linie von außen gewirkt betrachten, kann sie nicht von ihrer hohen Meinung über das Wort getrennt werden. In seinem Vortrag über die Erneuerung der inneren Person argumentiert Jüngel damit, dass das rechtfertigende Wort Gottes als ein göttlicher schöpferischer Akt ernst genommen werden muss: Ein solches Wort bleibt dem angeredeten Menschen niemals ,äußerlich‘. Es geht ihm vielmehr so nahe, daß es – und mit ihm also die Gerechtigkeit Gottes, die es dem Sünder zuspricht – dem angeredeten Menschen näher kommt, als dieser sich selber nahe zu sein vermag. Es wird mir innerlicher als mein Innerstes: interior intimo meo.¹⁰
Das Missverständnis, dass Lutheraner häretisch seien, weil sie lehren sollen, dass die Seelen der Glaubenden der Misthaufen der Sünde bleiben, einzig bedeckt durch die Tat Christi, erkennt somit nicht die Ernsthaftigkeit des schöpferischen Wortes Gottes zusammen mit seiner inneren Dimension. Für Jüngel ist dies der Grund für Luthers bekannte Formel simul iustus et peccator.
„Justificatio non importat realem et intrinsecam hominis mutationem“ (Johann Wilhelm Baier, Compendium Theologiae Positivae, Jena, 1685, 577); zitiert in Heinrich Schmid, Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche, dargestellt und aus dem Quellen belegt, 6. Aufl., Frankfurt am Main, 1876, 313. David Hollatz, Examen Theologicum Acroamaticum. Stargard, 1707, 928; zitiert in Schmid, Dogmatik, 313. Eberhard Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens, 2. Aufl., Tübingen, 1999, 181.
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Billy Kristanto
Chemnitz folgert richtig, wenn er sagt, dass, wenn wir „verdienst oder würdigkeit/ vmb welcheswillen wir gerecht werden“ aufstellen, dann kann „Das Göttliche Gesetz … von den Neuwgebornen in diesem Leben gänzlich und vollkommlich gehalten vnd erfüllet werden.“¹¹ Für Lutheraner bildet das Fundament unserer Rechtfertigung allein die rettende Tat Christi. Die Zurückweisung von Werken ist keine Zurückweisung der Werke per se, also auch keine Zurückweisung jeglicher Art von Lohn; vielmehr ist es eine Zurückweisung der Werke als wirksamer Grund für unsere Rechtfertigung. Lutheraner weisen niemals den Gedanken einer neuen Beschaffenheit des Herzens zurück, die sich als Früchte der Rechtfertigung in den guten Werken manifestiert. Folglich erklärt die GERL, dass „gute Werke – ein christliches Leben in Glaube, Hoffnung und Liebe – der Rechtfertigung folgen und Früchte der Rechtfertigung sind.“¹² Die GERL erklärt ebenso: „Nach katholischer Auffassung tragen die guten Werke, die von der Gnade und dem Wirken des Heiligen Geistes erfüllt sind, so zu einem Wachstum in der Gnade bei, daß die von Gott empfangene Gerechtigkeit bewahrt und die Gemeinschaft mit Christus vertieft werden.“¹³ Auch wenn Theologen, die der lutherischen Orthodoxie zugerechnet werden, die unmittelbare Wirksamkeit der Rechtfertigung betonen, unterstreichen sie ebenso das Wachsen und die Vereinigung mit Christus als eine zu ihr gehörende Eigenschaft und Folge. „Wachstum, nicht in Bezug auf den Akt der Rechtfertigung, der unmittelbar ist, sondern in Bezug auf den Glauben und das Bewusstsein der Rechtfertigung. 2 Kor 10,15; Kol 1,10; 2 Petr 3,18; Eph 4,14.15“ gehört laut Quenstedt zu den Eigenschaften der Rechtfertigung.¹⁴ Quenstedt nennt die „mystische Vereinigung mit Gott“ eine Folge der Rechtfertigung und verweist dabei auf Joh 15,4– 6, 14, 23; Gal 2,19, 20; 3,27; und Eph 3,17.¹⁵ Wachstum und Vereinigung mit Christus sind auch für Luthers Glaubensverständnis entscheidend. Hoffman hebt hervor, dass Luther „die mystische Teilnahme an Gott, das Leben mit dem Christus mysticus, als den Beginn einer Verwandlung der körperlichen Vitalität und selbstzentriertem Verlangen in eine wachsende Harmonie mit dem innewohnenden Christus ansah. Die Person, die in Christus vertraut und ihn im Gebet und in der Meditation anredet, ist nach dem Christusbild ‚geformt‘.“¹⁶ Die Formung der Seele des Glaubenden mit der Einwohnung Christi ist Bestandteil des
Martin Chemnitz, Examen, das ist Erörterung Deß Trientischen Concilii, Erster Theil, übers. v. Georgio Nigrino, Franckfurt am Mayn, 1576, 142 und 167; siehe auch Larry Rinehart, „Sola Fide: The Mystery of Salvation by Faith“, in: Journal of Ecumenical Studies 49.4, 2014, 581. GERL, Nr. 37. GERL, Nr. 38. „Incrementum, non qvoad actum justificationis, qvi instantaneous, sed ratione fidei ac sensus“, Johann Andreas Quenstedt, Theologia Didactico-Polemica, III, Wittenberg, 1685, 526, zitiert in Schmid, Dogmatik, 322. „Effecta justificationis sunt: Unio nostri mystica cum DEO“, Quenstedt, Theologia III, 526, zitiert in Schmid, Dogmatik, 322. Bengt R. Hoffman, Theology of the Heart: The Role of Mysticism in the Theology of Martin Luther, hg.v. Pearl Willemssen Hoffman, Minneapolis, 1998, 122.
Die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre
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sola fide Luthers. Rinehart fügt der grundlegenden Glaubensauffassung Luthers die Symbolkraft der Geburt Christi und des Lichtes hinzu.¹⁷ Um es noch einmal gesagt zu haben: Trotz der unmittelbaren Wirkung des Glaubens betont Luther ebenso den sich wiederholenden Aspekt des Glaubens: „Jedes Mal, wenn ein Mensch neu zum Glauben kommt, wird Christus in ihm neugeboren.“¹⁸ Das Nicht-Übereinkommen in Bezug auf das sola fide und das simul bleibt ein Kritikpunkt an der GERL. Madson beispielsweise fasst dies als „eine unglaubliche Reduktion der Rechtfertigung“¹⁹ auf. Sola fide und simul sind in der Tat zusammen die unverkennbaren und liebevoll gehüteten Merkmale der lutherischen Theologie. Für die KF ist das sola fide unentbehrlich, um aufrechtzuerhalten, dass die (guten) Werke nicht mit der Rechtfertigung vermischt werden.²⁰ Quenstedt erklärt: Den Werken wird nicht ihr Sein abgesprochen, jedoch ihr Anspruch auf Wirksamkeit; dem Glauben und dem Gerechtfertigten sind sie nicht fremd, und doch wirken sie nicht als eine Ursache oder Kraft in Gemeinschaft mit dem Glauben in der Rechtfertigung des Menschen. … Unterscheide zwischen Glaube in Bezug auf die Rechtfertigung; … er allein rechtfertigt; und in Bezug auf die gerechtfertigte Person, oder nach der Rechtfertigung, ist der Glaube also niemals allein, sondern stets von anderen Gaben begleitet; tatsächlich ist er der Beginn und die Wurzel all jener.²¹
Das sola fide ist niemals so gedacht, dass es die Werke aus dem Leben der Glaubenden verbannt, sondern es will die Herrlichkeit des Werkes Christi bewahren. Die Lutheraner lehren das simul iustus et peccator, das „für Katholiken … nicht annehmbar ist.“²² Was Luther allerdings damit lehren möchte, ist, dass solange die Glaubenden noch in dieser Welt leben, sie weiterhin gegen die Macht der Sünde anzukämpfen haben. „In diesem Sinne: insofern ich nämlich Christ bin, insofern bin ich gerecht, fromm und gehöre zu Christus; aber insofern ich auf mich und auf meine Sünde zurückblicke [respicio], bin ich elend und der größte Sünder. So gilt: in Christus ist keine Sünde, und in unserem Fleisch ist kein Friede und keine Ruhe, sondern dauernder Kampf.“²³ Die Schwierigkeit des Konsenses besteht aufgrund eines unterschiedlichen Verständnissen des Begriffes der Begierde zwischen Lutheranern und Katholiken.
Rinehart, „Sola Fide“, 596 – 98. Hoffman, Theology, 93. Meg H. Madson, „The Incredible Shrinking Doctrine of Justification,“ in: Lutheran Quarterly 11, 1997, 113 – 115; siehe auch Jüngel, Justification, 236, Anm. 215. Vgl. KFSD, III.36. Quenstedt, Theologia III, 552 f., zitiert in Schmid, Dogmatik, 321. Antwort der Katholischen Kirche, Präzisierung 1. Luther, Die dritte Disputation gegen die Antinomer, 1538, WA 39/I, 508; übers. v. Eberhard Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen, 184 f.
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Eine Antwort auf die Römisch-Katholischen Antworten Die Römisch-Katholische Kirche hat eine offizielle Antwort auf die GERL verfertigt. Einige schwierige Punkte verhindern das Erreichen eines vollständigen Konsenses zwischen Lutheranern und Katholiken. Dazu gehören die Formel simul iustus et peccator, die Bedeutung der Rechtfertigungslehre, der Ausdruck mere passive und das Verständnis von Lohn.²⁴ Luthers simul ist inakzeptabel, da nach der Lehre der katholischen Kirche „die Konkupiszenz, die im Getauften bleibt, nicht eigentlich Sünde ist.“²⁵ Die Sünde ist in der Taufe entfernt worden. Demgegenüber glauben Lutheraner, dass die Glaubenden Sünder bleiben, weil sie weiterhin gegen die Macht der Sünde ankämpfen. Ratzinger gibt zwar zu, dass ein einseitiges, voluntaristisches und intellektualistisches Verständnis der Sünde unzulänglich ist.²⁶ Gleichzeitig aber beharrt er darauf, dass unsere Existenz nicht einfach als sündhaft bezeichnet werden kann. Das Leben eines getauften Christen ist ein lebenslanger Prozess der Erlösung, in dem der Glaube mehrere sich wiederholende Bekehrungen erfährt. In diesen Zusammenhang verortet Ratzinger die zentrale reformatorische Erfahrung des ständigen Vergeben-Werdens.²⁷ Für die Debatte um das simul ist das Verständnis des Verhältnisses zwischen Ursünde und concupiscentia wichtig. Während der Römische Katholizismus im Allgemeinen zwischen Konkupiszenz und Sünde unterscheidet, sind für den Protestantismus Konkupiszenz und Sünde identisch. Auf protestantischer Seite betonte Pannenberg, dass in der Theologie des Augustinus die Begierde von der Sünde unterschieden und zugleich mit ihr identifiziert werden kann: „Augustin hingegen hat zwar einerseits ebenfalls die Konkupiszenz als Strafe, also als Folge der Sünde gekennzeichnet … Andererseits konnte er jedoch auch die Konkupiszenz selber als Sünde und Ursache neuer Sünde bezeichnen.“²⁸ Gibt die Heilige Schrift diese Spannung ebenfalls wieder? An die Römer schreibt Paulus: „die Sünde aber nahm das Gebot zum Anlass und erregte in mir Begierden [concupiscentiam/ἐπιθυμία] aller Art“ (Röm 7,8). Im Galaterbrief unterscheidet Paulus die Begierde (ἐπιθυμία) des Fleisches – die er der Begierde des Geistes gegenüberstellt (vgl. Gal 5,16 – 17) – von den Werken des Fleisches,
Antwort der Katholischen Kirche, Präzisierung 1– 3. Antwort der Katholischen Kirche, Präzisierung 1. Vgl. Joseph Ratzinger, „Wie weit trägt der Konsens über die Rechtfertigungslehre?“ in: Communio 29, 2000, 431– 32. „Und immer ist dabei das Wort des heiligen Benedikt im Auge und im Herzen zu behalten, das den Kern der reformatorischen Erfahrung katholisch ausgedrückt: Et de Dei misericordia nunquam desperare …“, Ratzinger, „Konsens“, 432. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen, 2011, 84; vgl. Augustinus, Contra Julianum, V.iii.8; Opus imperf., I.47.
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so z. B. die Manifestation der Begierden des Fleisches (vgl. Gal 5,19 – 21). Kolosser 3,5 lehrt, dass Christen die bösen Begierden töten sollen. Wenn der Autor des Epheserbriefes schreibt, „Legt von euch ab den alten Menschen mit seinem früheren Wandel, der sich durch trügerische Begierden [ἐπιθυμία] zugrunde richtet“ (Eph 4,22), versteht er die Begierde als den Grund für das vergangene, korrupte Leben. Die trügerischen Begierden rufen die Begierde, die Eva irregeführt hatte, wieder hervor. In diesem Zusammenhang kann Begierde als Sünde aufgefasst werden. Die Perspektive der „katholischen Briefe“ liest sich in Jakobus 1,14– 15: „ein jeder, der versucht wird, wird von seinen eigenen Begierden [ἐπιθυμία] gereizt und gelockt. Danach, wenn die Begierde empfangen hat, gebiert sie die Sünde; die Sünde aber, wenn sie vollendet ist, gebiert den Tod.“ Die Begierde ist nicht Produkt der Sünde; sie erzeugt die Sünde. Das Konzept des Jakobus von der Sünde ist dem paulinischen Konzept des Fleisches nahe.²⁹ Das Fleisch ist bei Paulus die korrupte menschliche Natur seit dem Fall Adams. Wie das Fleisch bei Paulus kann die Begierde bei Jakobus mit der Ursünde identifiziert werden, so geht sie beispielsweise der eigentlichen Sünde voraus. Ähnlich redet 2 Petr 1,4 über „die Vergänglichkeit …, die durch Begierde [ἐπιθυμία] in der Welt ist“. Während die Verderbnis hier auch als eine moralische Verderbnis verstanden werden könnte, ist der Kontext am besten verstanden, wenn an diesem Punkt von der menschlichen Sterblichkeit die Rede ist, das bedeutet von der physischen Verderbnis, sodass die Begierde „als Wurzel des Bösen, durch die die φθορά [„Verderbnis“] in die Welt gekommen ist,“³⁰ gilt. In diesem Sinne handelt es sich um die Verderbnis, die durch Adams Ursünde eingetreten ist. Ἐπιθυμία ist hier also wieder mit der Sünde identisch. Petrus vergleicht die menschliche Beteiligung am Fall Adams mit der menschlichen Teilnahme an der göttlichen Natur. Es ist dabei offensichtlich, dass die Erlösung von der Verderbnis eschatologisch vollendet werden wird.³¹ Solange die Menschen noch auf der Erde sind, kämpfen sie mit der Begierde bis zum Tag der Auferstehung. Der 1. Johannesbrief verwendet den Begriff ἐπιθυμία als Genitivus subjectivus in Verbindung mit σὰρξ. Ἐπιθυμία, interpretiert vor dem Hintergrund der Umwelt Kleinasiens zur Zeit des Verfassers des Briefes, beschreibt das Wesen der Sünde. Nun bildet dies aber nicht den einzigen Interpretationshintergrund des Briefes. Innerhalb des jüdischen Kontextes bezeichnet σὰρξ die allgemein verdorbene menschliche Natur als Folge des von Gott getrennten Seins.³² In diesem Sinne verweist ἐπιθυμία τῆς
Vgl. Jewett, Paul’s Anthropological Terms, 114– 16. R. J. Bauckham, 2 Peter, Jude, 182– 83. Paulus nimmt ebenso Bezug auf die eschatologische Vollendung, wenn er von dem Ausweg aus der Sterblichkeit spricht in 1 Kor 15,53. „Der komplette Satz, ἡ ἐπιθυμία τῆς σαρκός („sündhafte Begierde“), bezieht sich also auf die gefallene menschliche Natur im Allgemeinen; auf eine Feindschaft gegenüber Gott, und nicht einfach auf eine besondere körperliche Lust“, S. S. Smalley, WBC 51: 1,2,3 John [Dallas, 2002], 83 – 84.
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σαρκὸς auf die Begierde, die durch die gefallene Natur des Fleisches entsteht, welche in der Ursünde Adams verwurzelt ist. Folglich schließen die Schriften des Neuen Testaments sowohl die Unterscheidung zwischen Sünde und Begierde als auch die Identifizierung der Sünde mit der Begierde nicht aus. Diese mehrdeutige Interpretationsmöglichkeit ist äußerst wichtig für die Zukunft der Ökumene. Eine weitere Schwierigkeit ist die Bedeutung der Rechtfertigungslehre. Für die katholische Kirche muss die Botschaft der Rechtfertigung „organisch in das Grundkriterium der „regula fidei“ einbezogen werden, nämlich das auf Christus als Mittelpunkt ausgerichtete und in der lebendigen Kirche und ihrem sakramentalen Leben verwurzelte Bekenntnis des dreieinigen Gottes.“³³ Für die Lutheraner hingegen ist die Rechtfertigungslehre an und für sich wichtig. Ratzinger erwidert darauf, dass die Rechtfertigungslehre in der Tat als Prüfstein des wahren christlichen Glaubens betrachtet werden kann, in dem Sinne, dass sie die zentralen theologischen Fragen hervorbringt; zugleich darf diese Lehre aber auch nicht als (eine Art metaphysischer) Maßstab für jede andere Theorie in Anspruch genommen werden.³⁴ Eine Lehre ist keine Theorie; sie sollte ganz im Gegenteil in der Teilnahme am Leben der Kirchengemeinschaft offenbart werden. Diesbezüglich können wir von Thomas von Aquin lernen. In seiner Summa lehrt Thomas, dass die Rechtfertigung der Gottlosen Gottes größtes Werk ist. Er unterstützt diese seine Position mit zwei Argumenten. Zunächst kann die Rechtfertigung der Gottlosen – hierin auch Augustin folgend – für ein größeres Werk als die Schöpfung von Himmel und Erde gehalten werden, weil sie „in das ewige Gut der Teilnahme an der göttlichen Natur“ mündet, während die Schöpfung „in das veränderliche Gut der wechselvollen Natur“ mündet.³⁵ Immer noch Augustin aufnehmend ist zweitens die Gnade, die den Gottlosen rechtfertigt, größer als die Herrlichkeit, die die Gerechten seligspricht. Die erste nämlich „überragt … den Wert des Sünders, der Strafe verdient,“ während die zweite „den Wert und das Verdienst des Gerechten“ überragt.³⁶ Auch wenn sie dazu keine Metatheorie entwickeln, weisen diese beiden Kirchenväter der Rechtfertigung einen Ehrenplatz unter den Werken Gottes zu. Nimmt man die Heilige Schrift in Betracht so steht im Johannesevangelium, dass es geschrieben ist, „damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen“ (Joh 20,31). Auch wenn die Soteriologie sicherlich nicht die einzige Lehre ist, die in diesem Vers enthalten ist, liegt der Schwerpunkt des Evangeliums wohl auf der Soteriologie. Dasselbe kann über das Lukasevangelium gesagt werden, welches mit dem Auftrag Jesu an die Jünger endet, „dass gepredigt wird in seinem Namen Buße zur Vergebung der Sünden unter allen Völkern“ (Lk 24,47), und dass sie „meine (Jesus) Zeugen sein werden“ (Apg
Antwort der Katholischen Kirche, Präzisierung 2. Vgl. Ratzinger, „Konsens,“ 434. Thomas von Aquin, Summe der Theologie, I-II.cxiii.9, übers. v. Ceslaus Maria Schneider. Thomas von Aquin, Summe der Theologie, I-II.cxiii.9.
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1,8). Der Römerbrief beschreibt das Evangelium als „eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben, die Juden zuerst und ebenso die Griechen“ (Röm 1,16). Im 1. Petrusbrief bildet das endzeitliche Heil die Hoffnung und den Trost für die Glaubenden, die um Christi willen leiden (vgl. 1. Petr 5,1.10). Im Einklang mit den zuvor genannten Schriften betont das Luthertum die besondere Rolle, die die Rechtfertigungslehre einnimmt, allerdings nicht in dem Sinne, dass sie alle anderen großen Lehren wie die Trinität, Christologie oder die Ekklesiologie überragt, sondern in der Hinsicht, dass jegliche Theologie evangeliumszentriert sein sollte. Als Antwort auf das mere passive betont die katholische Kirche, dass der menschlichen Freiheit, die Gnade abzulehnen, „auch eine neue Fähigkeit zur Annahme des göttlichen Willens entspricht, eine Fähigkeit, die man mit Recht „cooperatio“ (Mitwirkung) nennt.“³⁷ Aus diesem Grund ist der Ausdruck mere passive für den Katholizismus inakzeptabel. Lutheraner hingegen benutzen den Ausdruck, um den Aspekt der sola gratia zu unterstreichen: Es kann keinerlei menschlichen Beitrag zur Rechtfertigung geben. Ratzinger hebt die Bedeutung der cooperatio hingegen hervor, um den relationalen Aspekt der rettenden Tat Gottes deutlich zu machen.³⁸ Gott hat die Menschen nicht als Marionetten erschaffen, die ohne jegliche Verantwortung vor ihrem Schöpfer handeln. Die Idee der sola gratia aufrechterhaltend, schlägt Ratzinger die Miteinbezugnahme östlich-orthodoxer Theologen vor, um den ökumenischen Dialog zu erweitern in Bezug auf die Rolle der cooperatio in der Rechtfertigung. Wir wollen Thomas von Aquin aufnehmen, um diese Schwierigkeit anzugehen. Auf der einen Seite lehrt Thomas, dass für die Rechtfertigung eine Bewegung des freien Willens nötig sei.³⁹ Andererseits ist die Rechtfertigung die Vergebung der Sünden. Thomas benutzt den Ausdruck passiv, um die Rechtfertigung zu beschreiben: Die Rechtfertigung als passives Geschehen „schließe ein die Bewegung zur Gerechtigkeit hin; wie das Warmwerden einschließt die Bewegung zur Wärme hin.“⁴⁰ So findet man hier beide, die aktive und die passive Dimension der Rechtfertigung. Zur Verdeutlichung der Rechtfertigung als Vergebung der Sünden verweist Thomas auf Röm 4,5: „Dem aber, der nicht mit Werken umgeht, aber an den glaubt, der den Gottlosen gerecht macht, dem wird sein Glaube gerechnet zur Gerechtigkeit.“ Ähnlich verwenden die Lutheraner das mere passive nicht, um „sein volles personales Beteiligtsein im Glauben zu bestreiten“,⁴¹ sondern um zu betonen, dass die Rechtfertigung als Vergebung der Sünden einzig (passiv) empfangen werden kann.
Antwort der Katholischen Kirche, Präzisierung 3. Vgl. Ratzinger, „Konsens“, 433. Vgl. Thomas von Aquin, Summe, I-II.cxiii.3. „Respondeo dicendum quod iustificatio passive accepta importat motum ad iustitiam; sicut et calefactio motum ad calorem“ (Thomas von Aquin, Summe, I-II.cxiii.1). GERL, Nr. 21.
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Beiträge der reformierten Perspektive Johanna Rahner schließt am Ende der Diskussion über das Verhältnis zwischen Rechtfertigung und Santifikation folgendermaßen: „Sogar die konfessionellen Unterschiede, die durch die Gemeinsame Erklärung über die Rechtfertigung (1999) so deutlich wurden, wären in einem anderen Licht erschienen, wenn die Beiträge der calvinistischen Theologie und ihre pneumatologische Neuformulierung der Rechtfertigung präsenter gewesen wären“.⁴² In der Tat können wir unser ökumenisches Verständnis über die Rechtfertigungslehre erweitern, indem wir die reformierte Perspektive miteinbeziehen. In Bezug auf die gratia infusa bietet die reformierte Theologie eine pneumatologische Perspektive. Der lutherischen Tradition folgend unterscheidet Calvin zwischen der Rechtfertigung und der Erneuerung. Während die Rechtfertigung „nicht nur teilweise, sondern großzügig zugesprochen wird“, ist die Erneuerung ein schrittweiser Prozess „hin zu einem neuen Leben.“⁴³ Wie Thomas stützt sich auch Calvins Verständnis auf der Rechtfertigungslehre als einer freien Vergebung der Sünden. Derart bildet die Vergebung der Sünden nicht nur einen Teil, sondern das Ganze der Gerechtigkeit. Mit Blick auf die Erneuerung des Menschen geht sie dem Glauben in dem Sinne voraus, dass sie nicht menschliches Werk, sondern Werk des Heiligen Geistes ist.⁴⁴ Die Lehre der katholischen Kirche über die gratia infusa ist der Lehre Calvins über die Erneuerung des Menschen sehr ähnlich. Es ist das Werk des Heiligen Geistes. Nicht nur ist der Heilige Geist nach Calvin die Quelle des Glaubens, sondern auch „der Kraftstoff für den Christus in uns.“⁴⁵ Calvin verwandelt das trinitarische Konzept des Augustinus, in welchem der Heilige Geist die bindende Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn darstellt, in ein soteriologisches Konzept, wo der Heilige Geist als Bindeglied zwischen Christus und seinem Körper wirkt.⁴⁶ Der Pneumatologie des Calvin zufolge bleibt Christus nicht „außerhalb von uns“, denn dies würde ein Getrenntsein bedeuten; sondern Christus „musste unsereins werden und in uns wirken“, während wir „mit ihm zu einem Körper
Johanna Rahner, „New Challenges for Catholic Scholarship on Calvin?“ in: Herman J. Selderhuis und Arnold Huijgen (Hg.), Calvinus Pastor Ecclesiae: Papers of the Eleventh International Congress on Calvin Research, Göttingen, 2016, 105. Calvin, Institutio, III.xi.11. „… der Glaube selbst ist Werk des Heiligen Geistes, der einzig in den Kindern Gottes wohnt. So ist also der Glaube in verschiedener Hinsicht ein Teil unserer Erneuerung … Die Erleuchtung unserer Geister durch den Heiligen Geist ist Teil unserer Erneuerung, und so entspringt der Glaube der Erneuerung wie aus seiner Quelle“, Calvin, Commentary on John, 1:13. Ford Lewis Battles, Analysis of the Institutes of the Christian Religion of John Calvin, Phillipsburg, 2001, 168; vgl. Calvin, Institutio, III.i.4. Calvin, Institutio, III.i.1.
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zusammenwachsen müssen“.⁴⁷ Es ist die geheime Energie des Geistes, durch die, laut Calvin, die Glaubenden die Gemeinschaft mit Christus leben. Die Erneuerung, die Calvin auch Buße nennt, besteht aus zwei Teilen: aus der Abtötung und der Neubelebung.⁴⁸ Die Abtötung des alten Ichs und die Neubelebung des neuen Ichs sind dabei zwei Seiten derselben Medaille. In diesem Sinne kann Calvin Luthers simul iustus et peccator bejahen, da die Demütigung des Fleisches einen lebenslangen Prozess im Leben der Glaubenden darstellt. Die Kapitel über das christliche Leben (III. vi-x) beschreiben eine lebenslange Buße, in der Calvin, wie bereits zuvor angedeutet, zwischen äußerer und innerer Buße unterscheidet: Und doch verurteilt an anderen Stellen der Geist zunächst die Unreinheit in der Quelle des Herzens und widmet sich dann den äußeren Zeichen, die die wahre Buße anzeigen. Ich werde meinen Lesern schon bald ein Schema darüber vorlegen in einer Beschreibung des christlichen Lebens.⁴⁹
Die Schwierigkeit eines totalen Konsenses in der Rechtfertigungslehre zwischen dem römisch-katholischen und dem protestantischen Verständnis besteht in der Verschiedenheit der Nomenklatur: Das, was das Konzil von Trient Rechtfertigung nennt, bezeichnet Calvin als Buße oder Heiligung. ⁵⁰ Und während die Buße einen lebenslangen Prozess darstellt, ist die Rechtfertigung aus protestantischer Sicht unmittelbar. Dies bedeutet nicht, dass es kein Konzept der unmittelbaren Rechtfertigung in der römisch-katholischen Auffassung gibt. Thomas von Aquin beispielsweise vertritt die Meinung, dass die Rechtfertigung des Gottlosen nicht Schritt für Schritt, sondern unmittelbar geschieht. Ich antworte, wie in ihrem Ursprünge bestehe die ganze Rechtfertigung in dem Eingießen der Gnade. Denn kraft deren vollzieht sich die freie Willensbewegung und wird die Schuld nachgelassen. Das Eingießen der Gnade aber vollzieht sich im Augenblicke ohne zeitliche Auseinanderfolge.⁵¹
Bei Thomas von Aquin sind ebenfalls Bewegungen des freien Willens erkennbar, die dem Nebeneinander von Abtötung und Neubelebung bei Calvin ähnlich sind. Vier Dinge sind laut Thomas für die Rechtfertigung nötig: „1. das Eingießen der Gnade; 2. die freie Willensbewegung zu Gott hin; 3. die freie Willensbewegung gegen die Sünde; 4. der Nachlaß der Sünden.“⁵² Calvins Erneuerung oder Buße ist also mit der Ausgießung der Gnade bei Thomas vergleichbar, insofern die Neubelebung der Be-
Calvin, Institutio, III.i.1. Cf. Calvin, Institutio, III.iii.3. Calvin, Institutio, III.iii.16. Bgl. Cornelis P. Venema, „Calvin’s Understanding of the ‚Twofold Grace of God‘ and Contemporary Ecumenical Discussion of the Gospel“, in: Mid-America Journal of Theology 18, 2007, 101. Thomas, Summe, I-II.cxiii.7. Thomas, Summe, I-II.cxiii.6.
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wegung des freien Willens hin zu Gott entspricht und die Abtötung der Bewegung des freien Willens hin zur Sünde. Thomas lehrt, dass es zwei Handlungen des freien Willens in der Rechtfertigung gibt: „eine, die ihn zu Gottes Gerechtigkeit hin führt; die andere, mittels derer er die Sünde verabscheut.“⁵³ Protestanten verwenden den Ausdruck simul iustus et peccator, um zu betonen, dass das Verabscheuen der Sünde einen lebenslangen Prozess darstellt. Der lebenslange Kampf gegen die Sünde spiegelt sich auch in Calvins Auffassung des christlichen Lebens (III.vi-x) vor der Rechtfertigung (III.xi). In der späteren lutherischen und reformierten Orthodoxie wird die Heiligung der Rechtfertigung nachgestellt. In der Institutio Calvins jedoch ist der Gang des christlichen Lebens, welcher der Heiligung der Gläubigen entspricht, dem Geschehen der Rechtfertigung vorangestellt. Anschließend an Luther lehrt Calvin eindeutig eine forensische Rechtfertigungslehre: „Derjenige ist gerecht in Gottes Augen, der sowohl als gerecht gilt nach dem Urteil Gottes als auch angenommen wurde aufgrund seiner Gerechtigkeit.“⁵⁴ Zugleich konnte Calvin das mittelalterliche Konzept der Präzedenz der Buße vor der Rechtfertigung fortführen. Diese gewollte Zweideutigkeit soll vor der Gefahr der Werkgerechtigkeit sowie vor der eitlen Zuversicht, die das Konzil von Trient verurteilte, schützen.⁵⁵ Calvin zufolge ist es unmöglich für Glaubende, die Gerechtigkeit Christi zu ergreifen, „ohne zur selben Zeit auch nach der Heiligung zu greifen. … Christus rechtfertigt niemanden, den er nicht zugleich heiligt.“⁵⁶ Calvins Konzept der Heiligung, das nicht von dem der Rechtfertigung zu trennen ist, hat eine direkte Auswirkung auf sein Verständnis des Gottes Werkes. Seiner forensischen Rechtfertigung entsprechend bestreitet Calvin auf polemische Art und Weise, dass das Wort Verdienst biblisch ist, und nennt es gefährlich.⁵⁷ Für ihn gibt es zwei Hauptgründe, dieses Wort nicht zu verwenden: zum einen die Verringerung der Ehre Gottes, zum anderen aufgrund der Zuversicht im Hinblick auf die Rettung der Gläubigen. Calvins Gedanken in Bezug auf den Verdienst sind stark durch Augustinus beeinflusst, der auf die gleiche Weise den menschlichen Verdienst der göttlichen Gnade und Gunst gegenüberstellt.⁵⁸ Auch wenn Calvin die Verwendung des Wortes Verdienst nicht billigt, hält er fest, dass in der Schrift das Bemühen um das ewige Leben (welches angerechnet wird) nicht immer der Gnade entgegengestellt ist.⁵⁹ Ei-
„unus quo per desiderium tendat in Dei iustitiam; et alius quo detestetur peccatum“ (Thomas, Summe, I-II.cxiii.5). Calvin, Institutio, III.xi.2. Vgl. Council of Trent, 6th Session, Ch. IX. Calvin, Institutio, III.xvi.1. Vgl. Calvin, Institutio, III.xv.2. „Hier sollen die menschlichen Werke, die durch Adam verdorben sind, schweigen und die Gnade Gottes soll herrschen durch Jesus Christus, unsern Herrn, der eingeborene Sohn Gottes, dem Herrn“ (Augustin, On the Predestination of the Saints, XV.31, in: Philip Schaff (Hg.), NPNF I/5, rev. B. B. Warfield, Peabody, 1999; „… nicht sollen sie sich ihre eigenen Werke anrechnen, nichts sollen sie sich zurechnen außer Deine Gnade“ (Enarrationes in Psalmos, CXL.16; s. auch LXXXV.6). Calvin nennt Johannes 6,27 als Beispiel; vgl. Institutio, III.xviii.1.
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nige Phrasen, wie Gott, „der einem jeden geben wird nach seinen Werken“ (Röm 2,6), können als die Beschreibung eines Folgegeschehens gelesen werden. Die Römisch-Katholische Kirche bekräftigt den „Verdienstcharakter“ der guten Werke, um die „Verantwortung des Menschen für sein Handeln herausstellen, damit aber nicht den Geschenkcharakter der guten Werke bestreiten.“⁶⁰ Calvin bekräftigt ebenso, dass die Auffassung von Lohn als Gabe hilfreich dazu sei, die Menschen zu ermutigen, „durch gute Werke geschult zu werden“ und über die Erfüllung des Versprechens von Lohn nachzudenken.⁶¹ Hinsichtlich der Bedeutung der Rechtfertigungslehre ist festzuhalten, dass eines der zentralen theologischen Punkte in Calvins Institutio die Vereinigung mit Christus ist.⁶² Indem die Rechtfertigung als zur Vereinigung mit Christus dazugehörend dargestellt wird, kann die Theologie Calvins einen fruchtbaren Dialog mit dem Römischen Katholizismus bieten. Die Vereinigung mit Christus geschieht nicht nur in der Rechtfertigung, sondern auch in der Buße (III.iii), im christlichen Leben (III.vi-x), und im Gebet (III.xx). In der organischen Beziehung mit den Sakramenten ist die Taufe das Zeichen unserer Vereinigung mit Christus, während die Frucht des Abendmahls die Vereinigung mit Christus ist.⁶³ Durch die Einbindung der Sakramente in das zentrale Kriterium der Vereinigung mit Christus bekräftigt Calvin seine hohe Wertschätzung der Sakramente. Er akzeptiert eine „wahre und wesenhafte Teilhabe am Leib und Blut des Herrn.“⁶⁴ Wie für die Katholiken die Botschaft der Rechtfertigung „organisch zu integrieren ist“ in die Lehre der Trinität, Christologie und Ekklesiologie,⁶⁵ so ist auch bei Calvin die Rechtfertigung in andere, größere Lehrzusammenhänge organisch zu integrieren. Letztlich tragen die guten Werke nach Auffassung der römisch-katholischen Kirche, „so zu einem Wachstum in der Gnade bei, daß die von Gott empfangene Gerechtigkeit bewahrt und die Gemeinschaft mit Christus vertieft werden.“⁶⁶ Das vierte Buch der Institutio Calvins behandelt die äußeren Mittel der Gnade, mittels derer Gott in die Gemeinschaft mit Christus einlädt und sie erhält. Für Calvin sind die forensische Rechtfertigung und das Wachsen in der Gemeinschaft mit Christus nicht dem Zufall überlassen.
Die Perspektiven weiterführen Am Ende der Antwort der Katholischen Kirche auf die GERL finden sich Perspektiven von katholischer Seite für zukünftige Arbeit, die vorschlagen, noch mehr biblische
GERL, Nr. 38. Calvin, Institutio, III.xviii.3. Vgl. Christoph Strohm, Johannes Calvin, München, 2009, 108 – 111. Vgl. Calvin, Institutio, IV.xv.6; IV.xvii.2. Calvin, Institutio, IV.xvii.19. Antwort der Katholischen Kirche, Präzisierung 2. GERL, Nr. 38.
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Reflexionen aufzunehmen, die „dem ganzen Neuen Testament und nicht nur den paulinischen Schriften gelten.“⁶⁷ Dem Leitmotiv dieser Aussage folgend scheint es angemessen, die Gedanken zur Rechtfertigung auch im Matthäusevangelium und im Jakobusbrief zu untersuchen. Die deuteronomistischen Zusammenhänge in Hinsicht auf Lohn und Strafe gehören zu den zentralen Elementen der Ethik des Matthäus.⁶⁸ Der Lohn für diejenigen, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, ist groß im Himmel (vgl. Mt 5,10 – 11). Die eigene Frömmigkeit im Verborgenen einzig vor Gott zu leben, wird vom Vater belohnt werden (vgl. Mt 6,1– 6.16 – 18). Gott wird diejenigen belohnen, die einen Jünger Jesu aufnehmen, einen Propheten, einen Gerechten oder auch einen Geringen (vgl. Mt 10,40 – 42). Nachdem Jesu seinen Jüngern den Preis der Nachfolge verkündet hat, spricht er, „denn es wird geschehen, dass der Menschensohn kommt in der Herrlichkeit seines Vaters mit seinen Engeln, und dann wird er einem jeden vergelten nach seinem Tun“ (16,27). Im Gleichnis von den anvertrauten Zentnern gibt der Herr jedem seiner Knechte nach seiner Tüchtigkeit (vgl. 25,14 ff.). Das hochzeitliche Gewand im Gleichnis der königlichen Hochzeit (22,1– 14) tut wohl Gottes Willen. Gottes Willen zu tun, ist das entscheidende Kriterium, um in das Himmelreich zu kommen (vgl. 7,21). Während Paulus das Kriterium des wahren Glaubens betont im Gegenüber zu den Werken des Gesetzes, unterstreicht Matthäus das Tun des Willens Gottes. Möglicherweise reagiert Paulus auf das Problem des Legalismus (im Galaterbrief) und Matthäus auf die Gefahr der Gesetzeslosigkeit im Kontext der Apostasie. Das Konzept von Lohn und Strafe bei Matthäus sollte auch in diesem Kontext verstanden werden, wie auch das Konzept der Rechtfertigung durch den Glauben von Paulus nicht vom Hintergrund des Legalismus zu trennen ist. Ohne die verschiedenen Kontexte zu beachten, scheint die Soteriologie des Paulus der des Matthäus entgegengesetzt zu sein. Die Betonung des Matthäus, gute Werke zu tun, und das Konzept von Lohn laufen Gefahr, nicht notwendigerweise mit dem Gedanken der göttlichen Gnade übereinzustimmen. Und doch weist Jesus im Matthäusevangelium den selbstgerechten Menschen zurück, trotz des Konzeptes der besseren Gerechtigkeit (vgl. 5,20): „Geht aber hin und lernt, was das heißt: „Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer. Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten“ (9,13). Gottes Gnade und Annahme, die sich in Jesu Tischgemeinschaft mit den Sündern manifestiert, geht dem menschlichen Gehorsam gegenüber Gottes Willen voraus. Auch wenn die guten Werke in Matthäus hoch geschätzt werden, findet sich zugleich die Aussage, dass das, was einen Menschen ausmacht, nicht das menschliche Werk ist, sondern der Blick Gottes (vgl. 6,4).⁶⁹ Die Seligpreisungen beginnen mit der Seligsprechung der geistlich Armen, denen das Reich Gottes gehört. Ebenso gehört bei Matthäus zum Glauben die
Antwort der Katholischen Kirche, Perspektive 7. Vgl. Udo Schnelle, Theologie des Neuen Testaments, Göttingen, 2007, 417– 18. Vgl. Schnelle, Theologie, 412.
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Vergebung der Sünden sowie die Erlösung dazu (vgl. 9,2; 24,45). Nicht nur die Gerechtigkeit, sondern genauso die Gnade und der Glaube sind wichtige Inhalte des Gesetzes (vgl. 23,23). In Anbetracht der deutlichen Widersprüche zwischen der Soteriologie des Paulus und der des Matthäus erklärt Schnelle auf schöne Weise: „Wer Paulus zum Maßstab gelungener Soteriologie macht, verkennt zudem, dass alle ntl. Autoren innerhalb ihrer spezifischen Bedingungen ihre je eigene Sinnbildung vornehmen mussten und deshalb nicht gegeneinandergestellt werden können.“⁷⁰ Das Gleiche gilt für den Jakobusbrief. Im Jakobusbrief ist das entscheidende Kriterium ein Glauben, der mit den Werken zusammenwirkt (vgl. Jak 2,22). Wahre Christen sind keine vergesslichen Hörer, sondern Täter, die selig sein werden in ihrer Tat (vgl. 1,25). Der Glaube ohne Werke ist tot (vgl. 2,17). „Der Mensch wird durch Werke gerecht, nicht durch Glauben allein“ (2,24). Das Verhältnis zwischen dem Glauben und den Werken ist wie das Verhältnis zwischen Körper und Geist (vgl. 2,26). So wie Matthäus’ Betonung darauf, den Willen Gottes zu tun, in vollkommener Harmonie mit Gottes Gnade und Barmherzigkeit ist, so ist die Bedeutung, die Jakob den Werken beilegt, der harmonische Kontrapunkt zu seinem Verständnis der göttlichen Gnade und Barmherzigkeit. Die Weisheit ist von Gott gegeben, „der jedermann gern gibt und niemanden schilt“ (1,5). „Alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe kommt von oben herab“ (1,17). Gottes rettender Akt, den Menschen „durch das Wort der Wahrheit“ (1,18) das Leben zu schenken, geht der menschlichen Antwort voraus, Täter des Wortes zu sein (vgl. 1,22– 25). Es ist dieses Wort „das in euch gepflanzt ist und Kraft hat, eure Seelen selig zu machen“ (1,21). In der Soteriologie des Jakobus steht die göttliche Weisheit mittels des Wortes Gottes im Vordergrund. Der entscheidende Unterschied zwischen dem Jakobusbrief und den Briefen des Paulus besteht in der Auffassung der Sünde: Im Unterschied zu Paulus versteht Jakobus die Sünde nicht als eine verhängnisvolle, zerstörerische Macht, die zu der gefallenen Existenz des Menschen dazugehört, sondern als Resultat eines Tuns.⁷¹ Anders als Paulus, der das Gesetz als der Macht der Sünde ausgeliefert betrachtet, besitzt für Jakobus das Gesetz „eine belibende überwindende und begründende positive Energie inne, so dass es in der Grundlegung des Heils mit verankert werden kann.“⁷² Andere wichtige Passagen für das Verständnis der „verschiedenen Formen…, mit denen Paulus den neuen Zustand des Menschen beschreibt“, sind Gal 4,4– 7 und Röm 8,14– 17.⁷³ Was die Kategorie der Sohnschaft in Gal 4,4– 7 betrifft, stellt Paulus die Sohnschaft der Glaubenden in Christus der Sklaverei vor dem Gesetz gegenüber. In dieser „vollkommenen Freiheit der reifen Sohnschaft“ kann das Leben des Glaubenden
Schnelle, Theologie, 413. Vgl. Schnelle, Theologie, 263. Schnelle, Theologie, 584. Antwort der Katholischen Kirche, Perspektive 7.
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gelebt werden.⁷⁴ Paulus baut eine chiastische Struktur innerhalb seiner stellvertretenden Anthropologie auf: Christus war unter das Gesetz gestellt, damit diejenigen, die unter dem Gesetz sind, seine Sohnschaft empfangen. Diese Stellvertretung ist identisch mit der Rechtfertigung der Gläubigen, die „nicht durch Werke des Gesetzes, sondern durch den Glauben an Jesus Christus“ (Gal 2,16) geschieht. Aber auch im Galaterbrief bedeutet diese christliche Freiheit vom Gesetz nicht, dass Christen ein antinomistisches Leben führen können: Das Gesetz der Liebe ist die Zusammenfassung des gesamten Gesetzes (vgl. 5,14); die Früchte des Geistes sind nicht gegen das Gesetz (vgl. 5,22– 23); Christen erfüllen das Gesetz, indem einer des anderen Last trägt (vgl. 6,2). Im Galaterbrief gewährt die Rechtfertigung durch den Glauben an Christus den Gläubigen die Freiheit vor den Werken des Gesetzes, um so das Gesetz Christi und seine Liebe zu erfüllen. Wenn Protestanten den Ausdruck sola fide benutzen, sollen damit die Werke des Gesetzes ausgeschlossen werden, aber nicht das Gesetz Christi und die Werke der Liebe. In Bezug auf den weiterhin bestehenden Gebrauch des Gesetzes schrieb Calvin: … der Herr befreit uns von der Strenge des Gesetzes, damit unsere Beziehung mit ihm nicht durch seinen Bund geregelt ist und auch unser Gewissen nicht durch sein Urteil gefangen ist. Und doch hört das Gesetz nicht auf, uns zu belehren und zu ermahnen, und erfüllt so seine Aufgabe; aber unsere Unterwerfung vor ihm ist weggenommen worden durch den Geist der Annahme.⁷⁵
Für Calvin ist das sola fide der Unterwerfung vor dem Gesetz Christi im Geist der Sohnschaft nicht entgegengesetzt. In der katholischen Tradition benutzt Thomas das sola fide, um über den Glauben als einzige Hoffnung und den Grund der Rechtfertigung zu sprechen.⁷⁶ Ebenso fällt es auch Augustinus nicht schwer, den Ausdruck sola fide zu gebrauchen, da er den wahren Glauben als gelebten Glauben versteht, „welcher durch die Liebe wirkt.“⁷⁷ Solange der Glaube allein nicht als ein toter Glaube verstanden wird, ohne das Gesetz Christi und ohne seine Liebe, sollte es keine Hindernisse geben, diesen Ausdruck zu benutzen. Ähnlich den Kategorien der Sohnschaft in Gal 4,4– 7 sind die des Erbes in Röm 8,14– 17. Was die Kategorie des Erbes betrifft, ist im Römerbrief insbesondere die Teilnahme am Leiden Christi als ein bedeutendes Kriterium für einen wahren Christen zu beachten: „Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi, wenn wir denn mit ihm leiden, damit wir auch mit zur Herrlichkeit R. N. Longenecker, WBC, Bd. 41, Galatians, Dallas, 2002, 176. Calvin, Commentary, Gal. 5:23. „Non est ergo in eis [moralibus et caeremonialibus legis] spes iustificationis, sed in sola fide“ (Thomas von Aquin, Expositio in Ep. I ad Timotheum cap. 1, lect. 3, Parma ed., 13.588; zitiert in J. A. Fitzmyer, S.J., Romans: A new translation with introduction and commentary, New Haven / London, 2008, 360; siehe auch Cornelius à Lapide, The Great Commentary of Cornelius à Lapide: II Corinthians and Galatians, Bd. 8, übers. v. W. F. Cobb, Edinburgh, 1908, 248. Augustin, De fide et operibus, XXII.40, hg.v. Josephus Zycha; CSEL 41.84– 85, Wien, 1900.
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erhoben werden“ (8,17). Ebenso wie Lukas (vgl. Lk 24,26; Apg 14,22) betrachtet Paulus das Leiden als Weg zur Verherrlichung. Es gibt keine Verherrlichung ohne Leiden. Da Gottes Kinder seine Erben sind, ist alles (auch das Leiden) dem Leben der Glaubenden auferlegt. Diesen Vers kommentiert Calvin folgendermaßen: „Gottes Erbe ist unser, da wir durch seine Gnade aufgenommen wurden als seine Kinder; und damit es nicht zweifelhaft ist, ist sein Besitz bereits Christus übertragen worden, dessen Partner wir geworden sind: aber Christus ist durch das Kreuz dahin gekommen; so müssen wir auch auf dieselbe Weise dahin kommen.“⁷⁸ Gerechtfertigt zu werden bedeutet, nach dem Geist zu leben, „durch den Geist die Taten des Fleisches zu töten“ (8,13), „nicht in die Furcht zurückzufallen“ (8,15), sondern den Mut zu haben, mit Christus zu leiden. So wie gute Werke der Rechtfertigung folgen, ist das Leiden mit Christus ein Zeichen eines wahrhaft gerechtfertigten Christen. Diese biblische Reflexion zeigt uns, dass die Heilige Schrift selbst kreative Spannungen enthält. Auf der einen Seite wird die göttliche Gnade und Initiative betont, auf der anderen Seite dagegen die Tatsache der menschlichen Werke und Handlungen. Diese biblische Spannung kommentiert Lane zu Recht folgendermaßen: „die beiden Pole der Spannung beziehen sich auf das protestantische Bemühen, unsere ununterbrochene Abhängigkeit von der Gnade Gottes zu bekräftigen, und das katholische Anliegen, die Realität der Wandlung zu bezeugen, die durch Gottes Gnade in uns bewirkt wird.“⁷⁹
Schlussfolgerung Ist die GERL mit Luthers Theologie vereinbar? Um dieser komplexen Fragestellung gerecht zu werden, sollte man antworten: Es gibt eine Großzahl lutherischer Lehrsätze, die in diesem ökumenischen Dokument untergebracht werden konnten. Für das Erreichen eines vollkommenen Konsenses kann man indessen hoffnungsvoll bleiben. Was die Verwendung lutherischer Terminologie betrifft, sind Christen auf der Welt zugleich bereits einig und noch uneinig. In anderen Worten ausgedrückt: Christen sind vereint durch das kostbare Blut Christi, der bereits am Kreuz gestorben ist. Im Verlauf der menschlichen Geschichte erfüllen Christen das Gebet Christi in Joh 17. Der umstrittene Ausdruck simul iustus et peccator kann deutlicher werden, wenn man die kreative Spannung in der Bibel akzeptiert, innerhalb derer die Begierde zugleich von der Sünde unterschieden und mit ihr identifiziert wird. Diese biblische Spannung ist in der Theologie des Augustinus und der des Thomas von Aquin gut aufgenommen. Thomas konnte die Begierde Sünde nennen und ebenso die Rechtfertigung als das größte Werk Gottes betrachten. Thomas folgt damit einfach der
Calvin, Commentary, Rom. 8:17. Anthony N. S. Lane, Justification by Faith in Catholic-Protestant Dialogue: An Evangelical Assessment, London / New York, 2002, 133.
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Heiligen Schrift, die das Evangelium als Zentrum hat. Auf diese Weise sollten auch Katholiken und Lutheraner gleichermaßen dem Evangelium einen zentralen Platz in ihrer Verkündigung geben. Gottfried Marthens warnte eingehend vor der Bedeutungslosigkeit der GERL: „Wenn die Rechtfertigung des Sünders nicht mehr gepredigt wird, weil niemand mehr von Sünde, Richterspruch oder Gnade redet, dann sind alle Übereinkommen in Bezug auf die Rechtfertigung bedeutungslos.“⁸⁰ Lutheraner weisen nicht die persönliche Einbindung in den Glauben zurück. Indem sie nicht das Wort cooperatio verwenden, wollen sie den passiven Aspekt der Rechtfertigung in den Vordergrund rücken, der ebenso in Thomas’ Idee der Rechtfertigung als Vergebung der Sünden vertreten ist. Die Debatte um Luther und die GERL bleibt ohne die Miteinbeziehung der Beiträge aus reformierter Perspektive unvollständig. Insbesondere Calvins pneumatologische Rekonstruierung der Rechtfertigung kann ein Bindeglied zwischen der Römisch-Katholischen Kirche und Luthers Theologie darstellen. Nicht nur ist die Rechtfertigung Teil der anderen größeren Lehrsätze der Theologie Calvins, sondern ihr forensischer Aspekt schließt auch die tiefere Vereinigung mit Christus nicht aus. Schlussendlich zeigt uns die Heilige Schrift viele kreative Spannungen in Bezug auf die Rechtfertigung. Im Unterschied zu Paulus betont Matthäus das Konzept von Lohn (die der des Verdienstes sehr nahekommt) in seiner Soteriologie. Sein entscheidendes soteriologisches Kriterium ist nicht der Glaube, sondern das Tun des Willens Gottes. Ähnlich verteidigt Jakobus rigoros das Kriterium des aktiven Glaubens zusammen mit den Werken. Und doch bestreiten weder Matthäus noch Jakobus das Motiv der göttlichen Gnade und Barmherzigkeit als Kontrapunkte. Sogar im Römerbrief schließt Paulus das Leiden als ein entscheidendes soteriologisches Kriterium mit ein. Im Kontext des Leidens sind die alteingeführten Kirchen im Norden dieses Kontinents dazu aufgerufen, nicht nur „für eine gerechte Gesellschaftsordnung zu arbeiten, … in der die absolute Armut irgendwann ausgerottet ist“,⁸¹ sondern auch dazu, demütig von den Kirchen des globalen Südens zu lernen, die um Christi willen leiden.⁸²
Gottfried Martens, „Inconsequential Signatures? The Decade after the Signing of the Joint Declaration on the Doctrine of Justification“, in: Lutheran Quarterly 24, 2010, 329. http://www.oikoumene.org/de/resources/documents/commissions/faith-and-order/i-unity-thechurch-and-its-mission/the-church-towards-a-common-vision/@@download/file/Die_Kirche_korri giert.pdf. Ökumenischer Rat der Kirchen (Hg.), Die Kirche: Auf dem Weg zu einer gemeinsamen Vision, Studie der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung 214, Genf, 2013, §64; vgl. Thomas P. Rausch, „Toward a Common Vision of the Church: Will It Fly?“, in: Journal of Ecumenical Studies 50/2, 2015, 270, 280.
Sarah Hinlicky Wilson
Luthertum im ökumenischen Dialog 1 Luthers Beschäftigung mit anderen Kirchen vor der ökumenischen Bewegung der Moderne
Luther und seine Kollegen haben es nie darauf angelegt, eine neue Kirche zu gründen. Die politische und kirchliche Situation verschlechterte sich jedoch bald derart, dass die Wittenberger sich letzten Endes zur Einführung umstrittener Reformen wie der Kommunion unter beiderlei Gestalt, der Ehe von Geistlichen und der Ordination neuer Pfarrer ohne Mitwirkung von Bischöfen gezwungen sahen. Nichtsdestotrotz hielt Luther immer an der Meinung fest, dass Rom auch weiterhin ein Teil der einen Kirche Christi sei, welche über die zum Heil notwendigen Mittel verfüge. Aus diesem Grund bemühten sich Lutheraner lange vor der Entstehung der ökumenischen Bewegung immer wieder in verschiedener Weise um Versöhnung mit anderen Christen, anfangs mit Anhängern der römischen Kirche, später mit solchen Protestanten, die einen anderen Weg als Luther einschlugen.
1.1 Lutherisch/römisch-katholische Beziehungen Ziel des Augsburger Bekenntnisses von 1530 war es, eine gemeinsame Basis für die evangelische und die römische Partei schaffen; folgerichtig führte es zu Beginn eine Reihe von Artikeln auf, von denen man dachte, dass beide Seiten ihnen würden zustimmen können. Obwohl diese Bemühungen scheiterten und der Ausbruch mehrerer Kriege zwischen Katholiken und Protestanten einen Zeitraum von mehr als einem Jahrhundert prägen sollte, so gab es nur zehn Jahre nach der Confessio Augustana erneut Versuche, Rom und die Lutheraner miteinander zu versöhnen. Man veranstaltete Religionsgespräche 1540 in Hagenau und 1541 in Worms. Im Zeitraum von 1541– 1546 folgte ein weiteres Religionsgespräch in Regensburg, wo Philipp Melanchthon und Martin Bucer die Protestanten repräsentierten. Obwohl einige der wichtigsten Teilnehmer durchaus einen guten Willen zeigten, und obwohl man sich in einigen Lehrartikeln einig war, waren auch diese Religionsgespräche zum Scheitern verurteilt. Ein zweites Religionsgespräch zu Worms fand im Jahre 1557 statt, aber Differenzen innerhalb der protestantischen Partei führten zur Auflösung der Versammlung.
Übersetzung: Benedikt Jetter.
https://doi.org/9783110498745-049
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In letzter Konsequenz bedeuteten die Interims, das Konzil von Trient und die kriegerischen Auseinandersetzungen ein Aussetzen der offiziellen Bemühungen um lutherisch-katholische Versöhnung bis zum 20. Jahrhundert. Trotz dessen gab es weiterhin verschiedenste inoffizielle Bemühungen um gegenseitiges Verständnis. Gelegentlich wurden Jesuiten zu öffentlichen Disputationen an der Universität Wittenberg eingeladen¹ und der lutherische Theologe und Philosoph G. W. Leibniz widmete sich viele Jahrzehnte lang dem Gespräch mit Katholiken über strittige Themen, insbesondere über das heilige Abendmahl.²
1.2 Lutherisch-reformierte Beziehungen Das Marburger Religionsgespräch von 1529 ist bestens dafür bekannt, dass Zwingli und Luther sich nicht über die Bedeutung des ‚ist‘ in der Aussage ‚das ist mein Leib‘ einigen konnten; zumeist wird jedoch vergessen, dass sie sehr wohl Übereinstimmung in den anderen vierzehn zur Debatte stehenden Punkten erzielten. In der Folgezeit unterlagen die lutherisch-reformierten Beziehungen einem ständigen Wandel, oft in Abhängigkeit der besonderen Umstände der jeweiligen politischen Situation vor Ort. Die Lutheraner standen im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation seit 1555 unter dem Schutz des Augsburger Religionsfriedens, die Reformierten jedoch erst seit dem Westfälischen Frieden von 1648, was die Feindschaft untereinander in dieser Zwischenperiode verschärfte. Politische Spannungen führten außerdem 1586 zum Religionsgespräch von Mömpelgard (franz.: Montbéliard), wo Jacob Andreae als Repräsentant der Lutheraner und Theodor von Beza als Vertreter der Reformierten über die Möglichkeit einer Abendmahlsgemeinschaft zwischen den beiden Kirchen diskutierten.³ Auch dieser Versuch scheiterte. Das effektivste Mittel, um Lutheraner und Reformierte zusammenzubringen, war die Angst vor dem Katholizismus. Dies zeigt sich nicht zuletzt am Teilerfolg des Leipziger Religionsgespräches von 1631, das mitten im Dreißigjährigen Krieg stattfand.⁴ Im Pietismus, der im 17. Jahrhundert aufkam, verloren die strengen Grenzen zwischen lutherischen und reformierten Protestanten ein Stück weit an Bedeutung. Johann Arndts Vier Bücher vom wahren Christentum beispielsweise wurden in allen konfessionellen Varianten des Pietismus viel gelesen – oftmals mehr als Luther, sogar in lutherischen Kreisen. John Wesleys methodistische Bewegung wurde vom deutschen Pietismus entscheidend beeinflusst. Wesley selbst führt seine Bekehrung auf
K. Appold, Orthodoxie als Konsensbildung: Das theologische Disputationswesen an der Universität Wittenberg zwischen 1570 und 1710, Tübingen, 2004. G. J. Jordan, The Reunion of the Churches: A Study of G. W. Leibnitz and His Great Attempt, London, 1927. J. Raitt, The Colloquy of Montbéliard: Religion and Politics in the Sixteenth Century, Oxford, 1993. B. Nischan, „Reformed Irenicism and the Leipzig Colloquy of 1631“, in: Central European History 9, 1, 1976, 3 – 26.
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die Lektüre von Luthers Vorwort zum Römerbriefkommentar zurück, wodurch sein Herz ‚seltsam erwärmt‘ wurde. Meistens jedoch, wenn die Einheit über das rein Kooperative und Spirituelle hinaus formelle und offizielle Konsequenzen anstrebte, hatte dies eher negative Folgen. Ein besonders unglückliches Beispiel hierfür war die Preußische Union von Lutheranern und Reformierten, die von Friedrich Wilhelm III. im Jahre 1817 verfügt worden war. Zwar wurden auch in anderen Gegenden Deutschlands in der Folgezeit vergleichbare Unionen angeordnet, dennoch aber gab es selbst in diesen unierten Kirchen bis zum späten 20. Jahrhundert keine Abendmahlsgemeinschaft zwischen Lutheranern und Reformierten. In Reaktion auf die Union gab es sowohl auf lutherischer als auch auf reformierter Seite ein Wiederaufleben des Konfessionalismus und damit verbundene Abspaltungen kirchlicher Gruppierungen, von denen einige in andere Kontinente auswanderten. Viele der ausdrücklichen Ökumenismusgegner innerhalb der lutherischen Konfessionsfamilie stehen in der Tradition dieser Kirchen und bezeichnen diese Form der Ökumene abfällig als ‚Unionismus‘.
1.3 Lutherisch-anglikanische Beziehungen Auch wenn zwischen den kontinentalen Protestanten und der Church of England formal niemals Kirchengemeinschaft erklärt worden ist, waren die Beziehungen doch zumeist von Freundschaft geprägt. Im 16. Jahrhundert gelangten dank hocheffizienter Printmedien die Neuigkeiten von der Entwicklung der lutherischen Bewegung meist innerhalb nur weniger Wochen nach England. Unter den ersten Märtyrern der Reformation waren von Luther beeinflusste britische Geistliche wie Patrick Hamilton und Robert Barnes. Thomas Cranmer, der Hauptverfasser des Book of Common Prayer, war vor seiner Einsetzung zum Erzbischof von Canterbury (1533) einige Jahre lang durch Deutschland gereist, wo er zahlreichen führenden lutherischen Theologen begegnet war. Nach dem Ende des 16. Jahrhunderts lernten sich Lutheraner und Anglikaner im Zuge von Mission und Emigration besser kennen. Eine von Bartholomäus Ziegenbalg unter der Schirmherrschaft der Lutherischen Kirche von Dänemark im indischen Tranquebar gegründete Mission wurde auf lutherische Initiative hin im frühen 18. Jahrhundert nach Madras – ein Zentrum der anglikanischen Kirche – verlegt. Die so entstandene Kooperation zwischen Lutheranern und Anglikanern im Rahmen der ‚English Mission‘ sollte über ein Jahrhundert lang bestehen.⁵
P. Vethanayagamony, It Began in Madras: The Eighteenth Century Lutheran-Anglican Ecumenical Ventures in Mission and Benjamin Schulze, Delhi, 2010.
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1.4 Lutherisch-orthodoxe Beziehungen Ein ganz besonders faszinierendes Kapitel der prä-ökumenischen Ökumene war die Bemühung der lutherischen Kirchen, mit der Kirche des Ostens Kontakt aufzunehmen. Luther und Melanchthon beriefen sich immer wieder auf die Praxis der ‚Griechischen Kirche‘ (wie sie diese zumeist nannten) und sahen darin ein Gegenbild zur päpstlichen Art der Entscheidungsfindung. Eines der grundlegendsten Argumente für eine Reform war die Forderung nach Kontinuität mit dem konziliaren Erbe der Alten Kirche, worunter man eine gegen päpstliche ‚Innovation‘ gerichtete Rückkehr zur früheren Praxis verstand. Dies betraf beispielsweise die Ehe von Geistlichen und den Empfang des Abendmahls sub utraque specie. 1558 sandte Joasaph II., der Patriarch von Konstantinopel, einen Diakon namens Demetrios Mysos nach Wittenberg, um mehr über die neue Bewegung im Westen zu erfahren. Mysos war ungefähr sechs Monate bei Philipp Melanchthon zu Gast. Die beiden nahmen eine Übersetzung der Confessio Augustana ins Griechische in Angriff, damit der Patriarch sie selbst würde lesen können. Bedauerlicherweise jedoch erhielt Joasaph II. die CA nie, da Mysos sich bei seiner Rückreise in Rumänien niederließ. Zu einem zweiten Austausch zwischen Lutheranern und Orthodoxen kam es eineinhalb Jahrzehnte später. Die deutsche Botschaft in Konstantinopel bat die lutherischen Theologen in Tübingen, einen Kaplan an die Botschaft zu entsenden. Jacob Andreae und Martin Crusius sandten Stephen Gerlach nebst persönlichen Briefen zum neuen Patriarchen Jeremias II., woraus ein Briefwechsel hervorging, der von 1574 bis 1582 aufrechterhalten wurde. Dieses Mal bekam der Patriarch die griechische Übersetzung des Augsburger Bekenntnisses zu Gesicht und verfasste eine detaillierte Antwort. Neben weitreichenden Übereinstimmungen entdeckte man einige sehr umstrittene Themen, sodass Jeremias schlussendlich darum bat, die theologischen Gespräche zu beenden und es stattdessen bei wechselseitigen Grüßen und Ermutigungen zu belassen. In der Folgezeit verliefen die lutherisch-orthodoxe Beziehungen im Sand, vorwiegend aufgrund der desaströsen politischen Situation im Osmanischen Reich.⁶
2 Lutherischer Diskurs über die Einheit der Kirche in der Moderne Bereits ab dem späten 19. Jahrhundert wurden sich Lutheraner im Zusammenhang von Missionsprojekten, nationalen Bewegungen und wachsender Sorge angesichts des Säkularismus immer mehr ihrer selbst als einer weltweiten Konfession bewusst. 1868 wurde die Allgemeine evangelisch-lutherische Konferenz (AELK) gegründet, um in G. Mastrantonis, Augsburg and Constantinople: The Correspondence between the Tübingen Theologians and Patriarch Jeremiah II of Constantinople on the Augsburg Confession, Brookline, 1982.
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teressierte Lutheraner aus verschiedenartigen regionalen und nationalen Kirchen zu vereinen. Wenngleich die AELK vor allem in Deutschland ihren Schwerpunkt hatte und für Deutsche eine gewisse Attraktivität bot, beteiligten sich auch Amerikaner daran, und auch in Schweden fanden einige Versammlungen statt. Im Zuge dieser Selbstfindung als globale Realität begannen Lutheraner, auch über ihren Platz innerhalb der größeren Familie der Christen nachzudenken. Obwohl man gemeinhin die Weltmissionskonferenz 1910 in Edinburgh als den Startpunkt der modernen ökumenischen Bewegung ansieht, dürfte der eigentliche Grund ein anderer sein: Durch die Krise infolge des Ersten Weltkrieges und die transnationalen Bemühungen, sich der Millionen von Flüchtlingen anzunehmen, kam das Luthertum mit den eigenen Mitgliedern und mit denen anderer Kirchen in Kontakt und hatte mit ihnen offizielle Gemeinschaft. Eine Schlüsselfunktion diesbezüglich kam dem National Lutheran Council in den USA, dessen Leitung eine wesentliche Rolle beim Wiederaufbau in der Nachkriegszeit spielte, und dem Lutherischen Weltkonvent, der von John Alfred Morehead, einem der Geschäftsführer des National Lutheran Councils, gegründet worden war, zu. Der Lutherische Weltkonvent versammelte sich erstmalig im Jahre 1923 in Eisenach. Hierbei handelt es sich um das erste global angelegte Treffen der weltweiten Gemeinschaft der Lutheraner. Wenngleich man diesem Treffen noch keinen ekklesialen Charakter zusprach, so hatte die Begegnung doch erhebliche Auswirkungen auf die Selbstwahrnehmung des Luthertums. Dieser neue Blick auf sich selbst als eine eigene konfessionelle Einheit tat dem Austausch mit anderen Christen jedoch keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil: Zwei der fünf öffentlichen Reden auf der Versammlung in Eisenach sprachen die Frage nach der Einheit der Christen als solcher an. In einer Rede über „The Ecumenical Character of the Lutheran Church“ stellte Bischof Ihmels fest, dass die lutherische Kirche „but a manifestation of the one essential Church, the communion of believers“ sei, dass aber ihre eigene konfessionelle Form für die gesamte Christenheit von Bedeutung sei, denn „it has to do only with the re-discovery of the old way to God through faith in Jesus Christ alone“.⁷ Zudem betonte Ihmels, dass das Luthertum keine äußere Gleichförmigkeit fordert, sondern eine Vielfalt an Formen erlaubt, und dass es gemeinsam mit Christen jeden Ortes an den altkirchlichen Lehren von der Trinität und von Christus festhält.⁸ In einer anderen Rede beschäftigt sich Frederick H. Knubel eingehend mit dem Epheserbrief; er sieht in ihm eine Quelle für das Streben nach Einheit der Christen und empfiehlt Richtlinien,
L. Ihmels, „The Ecumenical Character of the Lutheran Church“, in: The Lutheran World Convention: The Minutes, Addresses and Discussions of the Conference, Philadelphia, 1925, 56. Ihmels’ Worte sind kursiv gesetzt. Ebd., 59.
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anhand derer die theologische Angemessenheit von Vorschlägen zu Kirchenunionen beurteilt werden kann.⁹ 1935, einige Jahre später, verfasste das Exekutivkomitee des Lutherischen Weltkonventes eine Erklärung mit dem Titel „Lutherans and Ecumenical Movements“, die im Wesentlichen derselben Linie wie Ihmels’ Rede von 1923 folgt. Namentlich Art. VII der Confessio Augustana bedeutet: Lutheraner are ready to recognize true Christians under whatever name or organization they may be found. The universal appeal of the Lutheran interpretation of the Gospel, the elemental quality of the Lutheran understanding of faith, and the catholic breadth of the Lutheran doctrine of the Church impart to Lutheranism an ecumenical quality that must be remembered in these days of emphasis upon externals. In the truest sense Lutheranism is itself an ecumenical movement (§A).
Auch am Ende dieser Rede wird ein Maßstab empfohlen, der dazu dienen soll, Vorschläge zu Beziehungen mit anderen Christen zu prüfen.¹⁰ In den Jahren 1935 und 1946 fanden die letzten Versammlungen des Lutherischen Weltkonvents statt. Schon unmittelbar nach dem Waffenstillstand begannen die Lutheraner damit, ihre Gemeinschaft wiederherzustellen. Der LWK selbst wurde im Jahre 1947 auf der Gründungsversammlung des Lutherischen Weltbundes (LWB) in Lund (Schweden) aufgelöst. Seine Verfassung gab dem LWB eine zweifache Aufgabe: „serve Christian unity throughout the world“ und „foster Lutheran participation in ecumenical movements“.¹¹
3 Lutherische Beteiligung an der multilateralen ökumenischen Bewegung Man schreibt Nathan Söderblom, dem Erzbischof der Schwedischen Kirche, zu, auf der Versammlung der World Alliance for Promoting International Friendship through Churches im Jahre 1919 erstmalig den Vorschlag eines internationalen ökumenischen Konzils gemacht zu haben. Dies führte zunächst zur Gründung der Bewegung ‚Faith and Order‘, die sich mit Lehre und Amt beschäftigt, und der Bewegung ‚Life and Work‘, der es um soziale und diakonische Belange geht und welcher Söderblom selbst vorstand. In Amsterdam entstand am 23. August 1948 aus diesen beiden Bewegungen, d. h. aus der ‚Kommission für Glauben und Kirchenverfassung‘ und aus der ‚Weltkonferenz für praktisches Christentum‘, der Ökumenische Rat der Kirchen. F. H. Knubel, „‚That They May All Be One‘ – What Can the Lutheran Church Contribute to This End?“ in: The Lutheran World Convention: The Minutes, Addresses and Discussions of the Conference, Philadelphia, 1925, 94– 109. Exekutivkomitee des Lutherischen Weltkonvents, „Lutherans in Ecumenical Movements“, in: Concordia Theological Monthly 8, 6, 1937, 468 – 472. Proceedings of the Lutheran World Federation Assembly. Lund, Sweden, 30 June–6 July 1947 (Philadelphia: United Lutheran Publication House, 1948).
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Lutheraner beeinflussten die Gestalt des Ökumenischen Rates der Kirchen dadurch, dass sie sich – zusammen mit den Orthodoxen – entschieden gegen eine auf Nationen basierende Form der Mitgliedschaft (Zuweisung einer bestimmten Anzahl an Sitzen pro Nation – unabhängig von der Kirchenzugehörigkeit der Mitglieder) wehrten und sich für eine auf konfessioneller Zugehörigkeit basierende Mitgliedschaft (Entsendung von Vertretern durch die jeweiligen Kirchen – nicht durch ihre Nationen) einsetzten. Wahrscheinlich aufgrund ihrer Minderheitssituation innerhalb der christlichen Landschaft Amerikas wehrten sich die amerikanischen Lutheraner ganz besonders gegen das nationale Modell und schlugen vor, dass stattdessen internationale konfessionelle Vereinigungen als Mitglieder fungieren sollten. Letzten Endes beherzigte der ÖRK die konfessionellen Anliegen, entschied sich jedoch für eine direkte Mitgliedschaft der jeweiligen Konfession, wobei internationalen und übergeordneten Vereinigungen nur ein Beobachterstatus zugestanden werden sollte. Zudem brachten die Lutheraner den ÖRK dazu, vom ‚Empfangen‘ statt vom ‚Annehmen‘ der Berichte zu sprechen, sodass keine der konfessionellen Gruppen sich durch irgendeinen Bericht einseitig verpflichtet fühlen musste. Schließlich wandten sich die Lutheraner mit Nachdruck gegen jegliche Pläne, aus dem ÖRK eine ‚Superkirche‘ zu machen.¹² Im Laufe der Jahre spielten Lutheraner im ÖRK eine Schlüsselrolle. Franklin Clark Fry, Pastor und späterer Präsident der United Lutheran Church in America, fungierte auf der Versammlung in Amsterdam als Vizemoderator und bei den Versammlungen von Evanston (Illinois, USA) und New Delhi (India) als Moderator des Zentralkomitees. Der amerikanisch-lutherische Theologe Joseph A. Sittler hielt auf der Versammlung in Neu-Delhi im Jahre 1961 eine auf breite Zustimmung stoßende Rede mit dem Titel ‚Called to Unity‘, welche der ökumenischen Bewegung eine ökologisch-kosmische Ausrichtung verlieh.¹³ Auch Eivind Berggrav, Martin Niemöller, Hanns Lilje, AnneMarie Aagaard und Olav Fikse Tveit spielten im ÖRK im Laufe der Jahre eine wichtige Rolle. Der Lutherische Weltbund war nur ein Jahr vor dem Ökumenischen Rat der Kirchen gegründet worden, und aufgrund der damit verbundenen Betonung der konfessionellen Besonderheit wurde die ökumenische Selbstverpflichtung der Lutheraner immer wieder in Frage gestellt. Es kann daher nicht verwundern, dass sich die erste Studie der Theologischen Kommission des LWB mit dem Thema Die Einheit der Kirche auseinandersetzte. Die Aufsatzsammlung wurde 1957 von namhaften lutherischen Theologen wie Peter Brunner, Anders Nygren, Regin Prenter und Bo Giertz herausgegeben.¹⁴ Das Hauptargument, das sich vor allem auf Art. VII der Confessio Augustana und auf Luthers Christozentrismus stützt, besagt Folgendes: das Luthertum ist D. A. Flesner, American Lutherans Help Shape World Council: The Role of the Lutheran Churches of America in the Formation of the World Council of Churches, St. Louis, 1981. J. A. Sittler, „Called to Unity“, in: The Ecumenical Review 14, 1962, 177– 87. The Unity of the Church: Papers Presented to the Commissions on Theology and Liturgy of the Lutheran World Federation, Rock Island, 1957.
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insofern ökumenisch, als es Christus zum Fundament hat; äußeren Formen, Liturgie und Strukturen kann dabei keine Notwendigkeit zukommen. Zwar sind die Autoren dezidiert offen für Gemeinschaft mit anderen Christen, aber ihrer Ansicht nach liegt das größte Problem in der Frage nach der Interkommunion mit solchen Christen, die die reale physische Präsenz Christi im Abendmahl leugnen. Entsprechend dem in The Unity of the Church eingenommenen Standpunkt verabschiedete die Vollversammlung des LWB 1957 das Dokument ‚The Unity of the Church in Christ‘. Im Anschluss an eine Erörterung von CA VII heißt es dort: The words „it is enough“ give the Lutheran churches a freedom also in relation to other churches. Bound by them we are led to the Scriptures and so rescued from the pressures of institutional expediency as well as from complacent acceptance of the status quo. In an ecumenical study of the Scriptures we find the most hopeful means towards a fuller realization of the unity in Christ and towards a deeper understanding of our faith as found in and behind our confessional statements. On this basis also the questions of inter-communion and the nature of the Sacraments can be brought out of the present deadlock.¹⁵
Lutheraner auf der ganzen Welt haben sich auch weiterhin in der multilateralen Bewegung engagiert. Die von der Kommission von ‚Faith and Order‘ verantwortete Studie Taufe, Eucharistie und Amt (1982), zu welcher lutherische Ökumeniker und Kirchen aktiv mit beigetragen haben, war der Höhepunkt der multilateralen Bewegung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im 21. Jahrhundert hat die multilaterale Ökumene dadurch eine Wende erfahren, dass Evangelikale und Pfingstler nach einer langen Zeit des Misstrauens die ersten zaghaften Schritte hin zu einer Teilnahme an der Bewegung gewagt haben. Unter Berücksichtigung dieses neuen Standes der Dinge hat Konrad Raiser, der frühere Generalsekretär des ÖRK, mit dem Global Christian Forum eine Event-orientierte und nicht auf Mitgliedschaft basierende Gelegenheit dafür geschaffen, dass ‚Ökumeniker‘ und ‚Evangelikale‘ auf Augenhöhe miteinander ins Gespräch kommen. Wie bei anderen multilateralen Bewegungen, so waren Lutheraner auch im Global Christian Forum sowohl auf Ebene der Leitung wie auch bei den Veranstaltungen involviert.
4 Lutherische Beteiligung im bilateralen Dialog Der unerwartete Umschwung aufseiten der katholischen Kirche im Zuge des aggiornamento des II. Vatikanischen Konzils hat in der gesamten ökumenischen Welt eine große Wende eingeleitet. Bis dato hatte die katholische Kirche gegenüber allen Bemühungen eine feindliche Haltung eingenommen, welche die Einheit der Kirche nicht im ‚Zurück-zu-Rom-Modell‘ verankerten, wie es sich beispielsweise in der Enzyklika
„The Theses of the Third Assembly: II. The Unity of the Church in Christ“, in: Messages of the Third Assembly of the Lutheran World Federation, Minneapolis, 1957.
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Mortalium Animos von 1928 findet. Nun, in Konzilsdekret Unitatis Redintegratio, ermutigte sie die Katholiken in aller Welt zum aufrichtigen Einsatz für die Versöhnung der getrennten Christen. Ferner konnte die katholische Kirche erstmalig andere „Kirchen und kirchliche Gemeinschaften“ anerkennen, indem sie folgendes Zugeständnis machte: „der Geist Christi hat sich gewürdigt, sie als Mittel des Heiles zu gebrauchen, deren Wirksamkeit sich von der der katholischen Kirche anvertrauten Fülle der Gnade und Wahrheit herleitet“ (§3). Trotzdem gilt: „Da jedoch diese Kirchen und Kirchlichen Gemeinschaften wegen ihrer Verschiedenheit nach Ursprung, Lehre und geistlichem Leben nicht nur uns gegenüber, sondern auch untereinander nicht wenige Unterschiede aufweisen, so wäre es eine überaus schwierige Aufgabe, sie recht zu beschreiben“ (§19).¹⁶ Letztlich bedeutete dies eine Wende vom multilateralen zum bilateralen Dialog. Rom bevorzugte es, mit jeder Kirche oder kirchlichen Gemeinschaft, von der sie getrennt war, ein eigenes Gespräch führen, um auf deren jeweils spezifische Anliegen eingehen zu können. Es sollte sich zeigen, dass bilateraler Dialog auch zur Ausrichtung der lutherischen Konfession hervorragend passte. 1963 wurde in Helsinki auf der Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes eine rechtlich und finanziell unabhängige Lutherische Stiftung für ökumenische Forschung gegründet, die wiederum im Jahre 1965 das Institut für ökumenische Forschung in Straßburg (Frankreich) ins Leben rief. An die sogenannten Forschungsprofessoren des Instituts richtete sich der Auftrag, Forschungen zur ökumenischen Methodik anzustellen, an den internationalen bilateralen Dialogen des LWB teilzunehmen und die ökumenischen Erkenntnisse einer breiteren lutherischen Öffentlichkeit zu vermitteln. Da die Selbsterkenntnis als weltweite Bewegung stets Hand in Hand mit lutherischem Ökumenismus ging, leistete das Institut auch einen entscheidenden Beitrag zur Reflexion des LWB über die eigene Lage. Zu Ende des 20. Jahrhunderts war der LWB so weit, sich als eine ‚Gemeinschaft von Kirchen‘ bezeichnen zu können. In dieser Zeit brachte der LWB eine Reihe von Stellungnahmen bezüglich seiner ökumenischen Selbstverpflichtung heraus, darunter die Dokumente More Than Church Unity und Guidelines for Ecumenical Encounter von der Vollversammlung von Evian im Jahre 1970¹⁷ und die Erklärungen Self-Understanding and Ecumenical Role of the Lutheran World Federation ¹⁸ und The Unity We Seek ¹⁹ von der Vollversammlung in Budapest im Jahre 1984.
Unitatis Redintegratio, online unter: http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_coun cil/documents/vat-ii_decree_19641121_unitatis-redintegratio_ge.html (31.03. 2017). Beide Erklärungen sind zu finden in: LaVern K. Grosc (Hg.), Sent into the World: The Proceedings of the Fifth Assembly of the Lutheran World Federation, Minneapolis, 1971. Self-Understanding and Ecumenical Role of the Lutheran World Federation: Report on a Study Process 1979 – 1982, Genf, 1984. C. H. Mau Jr. (Hg.), „In Christ—Hope for the World“: Official Proceedings of the Seventh Assembly of the Lutheran World Federation: Budapest, Hungary, July 22–August 5, 1984, LWB-Bericht Nr. 19/20, Genf, 1984.
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Seit den 1960er Jahren hat der LWB mit neun anderen christlichen Weltgemeinschaften offizielle Dialoge geführt.
4.1 Lutherisch/römisch-katholischer Dialog²⁰ Harding Meyer, von 1969 bis 1994 Forscher und Professor am Straßburger Institut und einer der Hauptverfasser der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre, hält den internationalen lutherisch-katholischen bilateralen Dialog für „the ‚parent‘ of all later dialogues of this kind“.²¹ Im Rahmen von Begegnungen in Straßburg in den Jahren 1965 und 1966 wurde die Evangelisch-lutherisch/Römisch-katholische Studienkommission gegründet, die 1972 nach einer Reihe von jährlichen Treffen den Bericht Das Evangelium und die Kirche, auch bekannt als Malta-Bericht, herausbrachte. Daher wird die Zeit zwischen 1965 und 1972 als ‚Phase eins‘ des Dialoges bezeichnet. In der zweiten Phase veranlassten ausgiebige Debatten über Modelle von Kirche, Modelle der Einheit und das Abendmahl die – mittlerweile umbenannte – Gemeinsame Römisch-katholische/Evangelisch-lutherische Kommission 1984 dazu, den Bericht Einheit vor uns herauszugeben, der einen Weg hin zu wirklicher, sichtbarer und organisatorischer Einheit skizziert, die „nicht Absorption oder Rückkehr meint, sondern eine strukturierte Gemeinschaft von Kirchen“ (Vorwort) impliziert.²² In die zweite Phase fielen auch zwei bedeutende lutherische Jubiläen: 450 Jahre Augsburger Konfession im Jahr 1980 und der 500. Geburtstag Luthers im Jahr 1983. Dementsprechend veröffentlichte die Kommission zwei Stellungnahmen außerhalb der Reihe, um dieser Ereignisse zu gedenken. Die Erklärung Alle unter einem Christus bemüht sich um eine gemeinsame Sicht der Augsburger Konfession. Sie betont, dass „dieses Bekenntnis, das Basis und Bezugspunkt der anderen lutherischen Bekenntnisschriften ist, […] wie kein anderes in Inhalt und Struktur den ökumenischen Willen und die katholische Intention der Reformation [spiegelt]“ (§7). Im Gegensatz zu jahrhundertelanger Polemik auf beiden Seiten erkennen nun sowohl Lutheraner als auch Katholiken an, dass Luther nie die „Gründung einer neuen Kirche (CA 7,1)“, sondern vielmehr die „Reinerhaltung und Erneuerung des christlichen Glaubens – in Einklang mit der Alten Kirche“ (§10) beabsichtigt hatte. So gesehen können Katholiken die Confessio Augustana als einen Ausdruck des „gemeinsamen Glauben[s]“ (§11, 27) respektieren.
Nota bene: Für die Benennung der Dialoge werden die jeweiligen Gruppen in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt: es heißt also „Anglikanisch-lutherisch“, aber „Lutherisch/römisch-katholisch. H. Meyer, „To Serve Christian Unity: Ecumenical Commitment in the LWF“, in: Jens Holger Schjørring, Prasanna Kumari und Norman A. Hjelm (Hg.), From Federation to Communion: The History of the Lutheran World Federation, Minneapolis, 1997. Die meisten internationalen Erklärungen der lutherisch-katholischen Ökumene findet man unter: http://www.prounione.urbe.it/dia-int/l-rc/e_lr-c-info.html (21.04. 2017).
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Die zweite Stellungnahme, Martin Luther – Zeuge Jesu Christi, baut auf Jahrzehnte dauernde und komplett neu aufgerollte Studien katholischer wie lutherischer Forscher, denen an einem differenzierteren Blick auf Luther gelegen war, auf. „Man beginnt, ihn gemeinsam als Zeugen des Evangeliums, Lehrer im Glauben und Rufer zur geistlichen Erneuerung zu würdigen“ (§4). Auch wenn diese Stellungnahme kurz gehalten war – besonders im Vergleich zu denen, die in den nachfolgenden Jahren veröffentlicht werden sollten – so war sie in ihrer Zeit dennoch insofern einzigartig, als sie eine allgemein anerkannte Beschreibung von Luthers Verständnis der Rechtfertigung, von dem sich daraus ergebenden Konflikt und von der Art und Weise, wie Luthers Reformen letzten Endes mit Hilfe des II. Vatikanischen Konzils Eingang in den Katholizismus fanden, bot. Spätestens in den 1980er Jahren empfand man, dass sich aus der Reihe bilateraler Stellungnahmen mehr ergeben müsse, als nur höfliche Rezeption aufseiten der jeweiligen kirchlichen Gruppierungen; es musste freilich nicht gleich der hohe Maßstab aus Einheit vor uns angelegt werden. Ermutigung zu mehr kam von den nationalen bilateralen Dialogen in den USA und Deutschland. Deren Sammelbände Rechtfertigung durch den Glauben (1983) und Lehrverurteilungen – kirchentrennend? (1986) wähnten einen Weg jenseits einer Spaltung über den Glaubensartikel „mit dem die Kirche steht und fällt“.²³ In Aufnahme ebendesselben Themas veröffentlichte die internationale Kommission gegen Ende der dritten Phase (1986 – 1993) die Stellungnahme Kirche und Rechtfertigung. Den Höhepunkt des lutherisch-katholischen Dialogs bildete die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre (GER), die am 31. Oktober 1999 in Augsburg von Edward Kardinal Cassidy und Bischof Walter Kasper im Namen der katholischen Kirche und von Bischof Christian Krause und allen Vizepräsidenten des LWB im Namen des LWB unterzeichnet wurde. Die grundlegende Aussage der GER ist: „Allein aus Gnade im Glauben an die Heilstat Christi, nicht auf Grund unseres Verdienstes, werden wir von Gott angenommen und empfangen den Heiligen Geist, der unsere Herzen erneuert und uns befähigt und aufruft zu guten Werken“ (§15). Nach wie vor ist dies die einzige Gelegenheit, bei der Rom gemeinsam mit einer protestantischen Kirche eine dogmatische Stellungnahme veröffentlicht hat. Zwei theologische Entwicklungen ermöglichten es, dass die GER von beiden Kirchen akzeptiert werden konnte. Die erste und wichtigste war der Gedanke eines „differenzierten Konsenses“, die der oben erwähnte Harding Meyer entwickelt hat.²⁴ Lutheraner hatten sich schon dazu durchgerungen, zugeben zu können, dass andere Kirchen mitunter die gleichen Ansichten bezüglich des Evangeliums haben, ohne jedoch die entsprechende schriftliche Darstellung im Augsburger Bekenntnis im Wortlaut zu akzeptieren. Das Modell des differenzierten Konsenses führte diese Logik noch einen Schritt weiter: Man konnte denselben Inhalt, dieselbe Sache in verschie-
Cfr. WA 3, p. 352,3: „quia isto articulo stante, stat Ecclesia, ruente ruit Ecclesia“. H. Meyer, Versöhnte Verschiedenheit. Aufsätze zur ökumenischen Theologie, 2 Bde., Frankfurt am Main, 1998 – 2000.
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denen sprachlichen Formulierungen und sogar mit unterschiedlichen theologischen Gewichtungen anerkennen. Sorgfältige theologische Arbeit kann geteilte, aber verborgene Überzeugungen zum Vorschein bringen und auf diese Weise Missverständnisse und Fehlkommunikation ausräumen. Da eine Überzeugung oder ein Inhalt jedoch nie unabhängig von ihrem bzw. seinem Ausdruck ist, bedarf es einer neuen Sprache, mit der beide Seiten ihr gemeinsames gegenseitiges Verständnis zum Ausdruck bringen können. Dabei müssten die Kirchen nicht ihre vorherigen Formulierungen aufgeben, sondern neue ökumenische Ausdrucksweisen könnten neben den alten konfessionellen stehen. Diese Einsicht nun führte zum zweiten Gedanken, zur Auffassung, dass man nicht die Überzeugungen selbst, sondern ihren kirchentrennenden Charakter überwunden muss. Dies schließt die Erkenntnis ein, dass die Kirchen selbst in ihrem Gang durch die Geschichte nicht ohne Veränderung geblieben sind. So konnten die lutherische und die katholische Seite an ihren Bekenntnissen aus dem 16. Jahrhundert festhalten und deren Aussageintention bekräftigen; gleichzeitig konnten sie zugeben, dass die Verwerfungen jener Zeit das heutige Gegenüber nicht mehr treffen. Es ist auffällig, dass man es auf der Vollversammlung des LWB in Helsinki im Jahre 1963 trotz großer Bemühungen nicht geschafft hat, für das Luthertum des 20. Jahrhunderts eine Erklärung zur Rechtfertigung zu veröffentlichen. Erst im Gespräch mit Katholiken waren Lutheraner so weit, auf globaler Ebene eine zeitgenössische Erklärung zur Rechtfertigungslehre abzugeben. Hier lässt sich erneut beobachten, dass globale lutherische Identität und ökumenische Selbstverpflichtung eng zusammenhängen. Nach jedem Höhepunkt kommt eine Regression. Gemäß Art. VII der Confessio Augustana ist Übereinstimmung im Evangelium ‚genug‘; damit verbunden war die stillschweigende Annahme aufseiten der Lutheraner, eine Auflösung der Lehre von der Rechtfertigung würde direkt zur Einheit mit den Katholiken führen. Dies war natürlich nicht der Fall. Die Natur der Kirche an sich – durch die Geschichte hindurch die Achillesferse der Ökumene – bleibt ein trennender Faktor. Folgerichtig wandte sich nach der GER die – erneut umbenannte – Lutherisch/Römisch-katholische Kommission für die Einheit solchen Themen zu und brachte 2006 das Studiendokument Die Apostolizität der Kirche heraus, welches die vierte Phase (1996 – 2006) markiert und einige der bleibenden ekklesiologischen Hürden angeht. Man plante damals, sich dem Thema der Taufe zu widmen, aber angesichts des bevorstehenden 500. Jahrestages der 95 Thesen im Jahre 2017 entschied sich die Kommission stattdessen für eine Veröffentlichung außerhalb der Reihe: Ergebnis war die Erklärung Vom Konflikt zur Gemeinschaft von 2013, die Empfehlungen für die gemeinsame Gedenkfeier miteinschließt. Dieser Text untersucht Luthers theologische Bezüge und die Geschichte der Reformationsstreitigkeiten deutlich gründlicher als der Text von 1983; er steht daher viel eher in der Linie des II. Vatikanischen Konzils als in der des Konzils von Trient. Eine Frage jedoch, die seitdem über jedem bilateralen Dialog schwebt, lässt die GER offen: Warum führt Einigkeit nicht zu Einheit? Just aufgrund der Annahme, dass festgestellte Einigkeit zu Einheit führen müsse, hatte man doch solch gewissenhafte
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und gründliche theologische Arbeit auf sich genommen. Spaltungen aber sind hartnäckig.
4.2 Lutherisch-reformierter Dialog Im 20. Jahrhundert machten Lutheraner und Reformierte mit der Barmer Theologischen Erklärung, einem gegen das Naziregime gerichteten gemeinsamen Bekenntnis des Glaubens, einen bedeutenden Schritt in Richtung Versöhnung. Ein offizieller internationaler Dialog zwischen Lutheranern und Reformierten wurde ab den 1960ern geführt; daraus gingen eine Reihe von bedeutsamen Stellungnahmen hervor, darunter Auf dem Weg zu Kirchengemeinschaft (1989), Called to Communion and Common Witness (2002) und Communion: On Being the Church (2014). Die bedeutsamsten Schritte nach vorne jedoch machte man im Rahmen des regionalen europäischen Dialoges, der in der Leuenberger Konkordie, die am 1. März 1973 unterzeichnet wurde, seinen Höhepunkt hatte. Die Konkordie geht von der Überzeugung aus, dass getrennte Kirchen „das gemeinsame Verständnis des Evangeliums“ (§1) teilen und davon, dass „[n]ach reformatorischer Einsicht […] darum zur wahren Einheit der Kirche die Übereinstimmung in der rechten Lehre des Evangeliums und in der rechten Verwaltung der Sakramente notwendig und ausreichend“ ist. Wenn es auch nicht als solches gekennzeichnet ist, so ist dies doch eine unmissverständliche Bezugnahme auf Confessio Augustana VII. Neben einer kurzen Beschreibung des gemeinsamen Evangeliumsverständnisses und der veränderten geschichtlichen Umstände steht die grundlegende Erkenntnis, dass die Kirchen „gelernt [haben], das grundlegende Zeugnis der reformatorischen Bekenntnisse von ihren geschichtlich bedingten Denkformen zu unterscheiden“ (§5). So kann die Konkordie auf drei traditionelle Streitfragen zwischen den Kirchen – Prädestination, Christologie und Christi Gegenwart im Abendmahl – eingehen und erklären, dass das gegenwärtige Verständnis dieser drei Loci bedeutet, dass diese „kein Hindernis mehr für die Kirchengemeinschaft“ sind (§27).²⁵ Ziel ist es also nicht, zu identischen Lehr- oder Bekenntnisaussagen zu gelangen, sondern auf der Basis eines hinreichenden gemeinsamen Grundes – mit anderen Worten: satis est – Kirchengemeinschaft zu ermöglichen. Mit der Zeit wurde aus der Leuenberger Kirchengemeinschaft die Gemeinschaft Protestantischer Kirchen in Europa (GEKE), der nun auch andere Konfessionen wie die Methodisten, die Waldenser und Mitgliedskirchen in Lateinamerika angehören.²⁶ An
W. G. Rusch und D. F. Martensen (Hg.), „The Leuenberg Agreement“, in: The Leuenberg Agreement and Lutheran-Reformed Relationships: Evaluations by North American and European Theologians, Minneapolis, 1989, 144– 154. Anders als die Methodisten, die 1997 durch eine ‚Gemeinsame Erklärung‘ beitraten – ohne Unterzeichnung der LK, da sie ja auch nicht von den lutherisch-reformierten Streitigkeiten betroffen waren – sind die Waldenser aber Gründungsmitglieder. Außerdem sind Waldenser – auch wenn sie in
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anderen Orten gibt es vergleichbare regionale lutherisch-reformierte Übereinkünfte, darunter die Formula of Agreement (1997) in den Vereinigten Staaten und die Gemeinschaft lutherischer, reformierter und unierter Kirchen in der Evangelischen Kirche Deutschland. Nichtsdestotrotz ist die Idee einer Verständigung zwischen Lutheranern und Reformierten nicht überall auf Zustimmung gestoßen: die Evangelisch-lutherische Kirche Finnlands beispielsweise ist der GEKE niemals beigetreten, da sie Vorbehalte bezüglich der Sakramente hat.
4.3 Anglikanisch-lutherisch Die heutige anglikanische Ökumene reicht zurück bis zum Chicago-Lambeth-Quadrilateral, das im Jahre 1886 von den Bischöfen der Protestant Episcopal Church in the United States of America verabschiedet wurde. Das Quadrilateral stellt für die Einheit unter Christen vier Leitlinien auf, die dem „sacred deposit“ der „undivided Catholic Church“ entsprechen: die Anerkennung des Alten und Neuen Testaments der Heiligen Schrift als das offenbarte Wort Gottes; die Anerkennung des Nizänischen Glaubensbekenntnisses als ein „sufficient statement“ des christlichen Glaubens; die Sakramente der Taufe und des Abendmahls, welche „[are] ministerd with unfailing use of Christ’s words of institution and of the elements ordained by Him“; und die Leitung der Kirche durch das historische Episkopat, welches „[is] locally adapted in the methods of its administration to the varying needs of the nations and peoples called of God into the unity of His Church“. Die ersten drei konnten von Lutheranern ohne Probleme akzeptiert werden, ja, sie entsprechen sogar recht genau dem Prinzip satis est der Confessio Augustana VII. Die theologischen und kulturellen Gemeinsamkeiten zwischen Lutheranern und Anglikanern wurden von gemischten Arbeitsgruppen in einer Reihe von Berichten umfassend dokumentiert: Pullach-Bericht (1972), Helsinki-Bericht (1982), Cold-Ash-Bericht (1983), Niagara-Bericht (1988), Hannover-Bericht (1996) und Wachsende Gemeinschaft (2002). Immer wieder wurde mit Verweis auf diese Berichte der Wunsch nach engerer Kirchengemeinschaft geäußert. Der vierte Punkt des Quadrilaterals jedoch war und bleibt umstritten, und zwar schlicht aus dem Grund, dass Lutheraner dem historischen Episkopat nicht allenthalben dieselbe Bedeutung zugemessen haben wie die Anglikaner. Dies gilt besonders dort, wo das Evangelium selbst auf dem Spiel steht (CA XXVIII). Obwohl einige lutherische Kirchen den Episkopat seit vorreformatorischen Zeiten ununterbrochen bewahrt haben, war sein Fehlen nie ein Hinderungsgrund für Gemeinschaft. Das
der LK als verwandte vorreformatorische Kirchen bezeichnet werden – nicht eine andere Konfession, sondern gehören seit 1532 zum reformierten Flügel der Reformation und sind auch Mitglieder der WGRK. Wie einzelne lutherische und reformierte Kirchen, so haben einzelne südamerikanische Mitgliedskirchen auch erst später die LK unterschrieben.
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Festhalten am Augsburger Bekenntnis und am Kleinen Katechismus galt im weltweiten Luthertum als ‚genug‘. Das Ergebnis der anglikanisch-lutherischen Ökumene sind verschiedenste regionale Partnerschaften zwischen Lutheranern und Anglikanern, ohne dass man dabei von einer einheitlichen programmatischen Ausrichtung aufseiten einer der beiden Gemeinschaften sprechen könnte. Die Gemeinsame Erklärung von Porvoo (1992) wurde von den anglikanischen Kirchen Großbritanniens und Irlands sowie von den nordischen und baltischen lutherischen Kirchen unterzeichnet; sie kann volle Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft ermöglichen, da die beteiligten lutherischen Kirchen den historischen Episkopat bewahrt haben. Vereinbarungen der Anglikaner mit der EKD in Deutschland (Meissen, 1988) und in Frankreich (Reuilly, 1999) ermöglichen Kirchengemeinschaft, aber keine gemeinsame Ausübung der Episkopé oder unbeschränkte Austauschbarkeit der Geistlichen. Die Erklärung Zu gemeinsamer Sendung berufen (1999) ermöglichte Gemeinschaft zwischen der Episcopal Church und der Evangelical Lutheran Church in America; die hieran geknüpfte Bedingung war, dass angehende lutherische Pfarrer von einem in historischer Sukzession stehenden Bischof ordiniert werden – wobei es auch eine Ausnahmeklausel für diejenigen gibt, die dies aus Gewissensgründen verweigern. Trotzdem führte innerlutherischer Widerstand zur Entstehung der neuen Denomination der Lutheran Congregations in Mission for Christ, welche deutlich kongregationalistischer ausgerichtet ist. Der letzte Bericht der Internationalen anglikanisch-lutherischen Kommission, To Love and Serve the Lord (2012), widmet sich diakonischen Themen und möglicher weiterer Zusammenarbeit. Aufgrund der Annahme, dass bezüglich der Lehrfragen ausreichend Arbeit geleistet worden ist, beschäftigt sich das – umbenannte – Anglican-Lutheran International Co-ordinating Committee mit dem Problem der Transitivität, d. h. mit dem Problem der Übertragbarkeit der vielen, aber uneinheitlichen regionalen Erklärungen auf ein global ausgerichtetes Konzept von Kirchengemeinschaft.
4.4 Lutherisch-orthodox Aus gegenseitigen Besuchen zwischen dem Ökumenischen Patriarchat und dem LWB seit dem Jahr 1967 ging die Gemeinsame lutherisch-orthodoxe Kommission hervor, die erstmalig 1981 in Espoo (Finnland) zu einem offiziellen Treffen zusammenkam. Über insgesamt 16 Vollversammlungen inklusive Vorbereitungstreffen hinweg hat die Kommission zwölf gemeinsame Erklärungen herausgegeben. Die ersten davon beschäftigen sich anhand von Themen wie Die göttliche Offenbarung (1985), Schrift und Tradition (1987), Kanon und Inspiration der Heiligen Schrift (1989) und Die ökumenischen Konzile (1993) mit Quellen der Autorität. Später fokussierte sich die Kommission mehr auf typisch lutherische Lehrfragen wie beispielsweise Verständnis des Heils im Lichte der ökumenischen Konzile (1995) und Heil: Gnade, Rechtfertigung und Synergie
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(1998).²⁷ Insbesondere die letztere dieser Erklärungen brachte Ergebnisse neuerer finnischer Forschungen über Luthers Lehre von der Gegenwart Christi im Glauben ein, um zu einem neuen gegenseitigen Verständnis zwischen lutherischer Soteriologie und der orthodoxen Lehre von der Theosis zu gelangen.²⁸ Bis dato hatte man keine gravierenden Uneinigkeiten feststellen können – nicht einmal das filioque. Allerdings waren die Erklärungen auch recht kurz gehalten und entbehrten einer tiefergehenden Betrachtung, wie sie sich beispielsweise in der GER findet. Seit der Sitzung in Damaskus im Jahre 2000 jedoch, auf der die Erklärung Das Mysterium der Kirche verabschiedet wurde, widmet sich der Dialog in verschiedener Weise dem Thema der Ekklesiologie, das – hier und in anderen Dialogen – das eigentlich trennende ist. Die nachfolgenden Erklärungen behandelten die Sakramente sowie das Wesen, die Eigenschaften und die Sendung der Kirche. Neben der Arbeit der internationalen Kommission haben sich zahlreiche regionale Dialoge mit denselben Themen beschäftigt – und dies nicht selten tiefgründiger. Dazu gehören die jeweils voneinander unabhängigen bilateralen Dialoge der EKD mit der Rumänisch-Orthodoxen Kirche, mit der Russisch-Orthodoxen Kirche und mit dem Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel; die Dialoge der Evangelisch-lutherischen Kirche Finnlands mit der Russisch-Orthodoxen Kirche und mit der Orthodoxen Kirche Finnlands (ebenfalls unabhängig voneinander); und der Dialog der lutherischen und der orthodoxen Kirchen in den Vereinigten Staaten.
4.5 Lutherisch-methodistisch Auch wenn zwischen Lutheranern und Methodisten in Deutschland, Norwegen, Schweden und in den USA regionale Vereinbarungen über Gemeinschaft getroffen wurden, hat es nur wenig bilateralen Dialog zwischen ihnen gegeben. Der einzige internationale Dialog wurde zwischen 1974 und 1979 geführt; ein Ergebnis hiervon ist das Dokument Die Kirche: Gemeinschaft der Gnade. Von deutlich größerer Bedeutung war das Statement of Association with the Joint Declaration on the Doctrine of Justification des Weltrates methodistischer Kirchen im Jahr 2006. Hierdurch wurden auch die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen und die Anglikanische Gemeinschaft dazu ermutigt, diesen Schritt ebenfalls zu gehen.
Die meisten internationalen Erklärungen der lutherisch-orthodoxen Ökumene findet man unter: http://blogs.helsinki.fi/ristosaarinen/lutheran-orthodox-dialogue/ (21.04. 2017). T. Mannermaa, Christ Present in Faith: Luther’s View of Justification, übers. v. K. Stjerna, Minneapolis, 2005.
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4.6 Baptistisch-lutherisch Internationalen Dialog zwischen Lutheranern und Baptisten hat es – wie mit den Methodisten – kaum gegeben. Das einzige internationale Gespräch, das von 1986 bis 1989 zwischen dem LWB und dem Baptistischen Weltbund geführt wurde, zielte nicht auf Gemeinschaft, sondern auf „mutual knowledge, respect and cooperation“.²⁹ Im Unterschied zu all den anderen bisher behandelten Dialogen stellten die differierenden Meinungen der jeweiligen Gesprächspartner über die Gültigkeit der Kindertaufe ein ungleich größeres Hindernis für die Annäherung dar. Trotz des deutlich spürbaren Wohlwollens im umfassenden Dialogbericht Baptisten und Lutheraner im Gespräch. Eine Botschaft an unsere Kirchen/Gemeinden konnte weder für eine gegenseitige Anerkennung der Taufe noch für eine irgendwie geartete Form von Kirchengemeinschaft eine Empfehlung ausgesprochen werden. Seitdem hat man die Aufarbeitung des Konfliktes zwischen den Traditionen der Kindertaufe und der Glaubenstaufe mehr im Dialog mit den Mennoniten zu verankern gesucht.
4.7 Adventistisch-lutherisch Ausgehend von den Treffen der Sekretäre der christlichen Weltgemeinschaften auf höchster Ebene führte der LWB zwischen 1994 und 1998 einen internationalen Dialog mit den Siebenten-Tags-Adventisten. Ebenso wie im Fall der Baptisten zielte auch die Erklärung Adventisten und Lutheraner im Gespräch nicht auf eine Auflösung der weitreichenden Unterschiede zwischen den beiden Traditionen, sondern schlicht auf wechselseitige Kenntnis und gegenseitigen Respekt.
4.8 Lutherisch-mennonitisch Das oben genannte Jubiläum der Confessio Augustana im Jahre 1980 lenkte die Aufmerksamkeit der Lutheraner auf eine bis dahin vernachlässigte christliche Gruppierung: die nach Menno Simons, einem ihrer Anführer, benannten Mennoniten, die Erben des Täufertums im 16. Jahrhundert. Die Mennoniten waren von den Lutheranern ganz selbstverständlich zu den Feierlichkeiten des CA-Jubiläums eingeladen worden, ohne dass Letztere merkten, dass die Ersteren exakt jene Täufer verkörperten, die in den Artikeln 5, 9, 12, 16 und 17 der Confessio Augustana explizit verdammt worden waren. Diesen ökumenischen Fauxpas versuchte man durch nationale Dialoge in Frankreich (1981– 1984), Deutschland (1989 – 1992) und in den USA (2001– 2004)
A Message to Our Churches, in: J. Gros FSC, H. Meyer und W. G. Rusch (Hg.), Growth in Agreement II: Reports and Agreed Statements of Ecumenical Conversations on a World Level, 1982 – 1998, Genf / Grand Rapids, 2000, 155.
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wiedergutzumachen; die im Jahre 2002 einsetzenden Gespräche zwischen dem Lutherischen Weltbund und der Mennonitischen Weltkonferenz schließlich hoben den Dialog auf eine internationale Ebene. Ganz im Gegensatz zu anderen Dialogen legte dieser Dialog den Schwerpunkt weniger auf theologische Themen als auf den historischen Konflikt zwischen den beiden Gruppen. Lutheraner stellten zu ihrer Bestürzung fest, dass ihre eigenen Vorfahren sich den frühen Täufern gegenüber als feindlich erwiesen hatten, dergestalt, dass sie sogar die Hinrichtung von etwa 100 Wiedertäufern unterstützt und verteidigt hatten. Trotz einer zeitweise nachsichtigeren Haltung übernahmen Luther und Melanchthon letzten Endes das ein Jahrtausend alte Gesetz des Reiches, welches für Wiedertaufe die Todesstrafe forderte. Johannes Brenz hingegen, der lutherische Reformator Schwabens, lehnte jegliche Form von politischer Unterdrückung religiöser ‚Häretiker‘ ab. Die aus dem Dialog resultierende Studie Heilung der Erinnerungen – Versöhnung in Christus war insofern ein Durchbruch, als sie die erste gemeinsam autorisierte und anerkannte Geschichte der lutherisch-mennonitischen Beziehungen darstellt. Dies wiederum nahmen der Rat des LWB und die Vollversammlung von 2010 zum Anlass, sich bei den Mennoniten öffentlich für das Fehlverhalten aufseiten der Lutheraner zu entschuldigen und um Vergebung zu bitten, was die Mennoniten ihrerseits öffentlich annahmen. Im Anschluss daran richtete man eine Arbeitsgruppe ein, welche auf lokaler Ebene das neue gegenseitige Verständnis verbreiten, die Zusammenarbeit zwischen den Kirchen verbessern und die Vorurteile gegenüber dem jeweils Anderen richtigstellen sollte. Selbst wenn einige der Verurteilungen des Augsburger Bekenntnisses – besonders die Artikel 5, 12 und 17 – als die heutigen Mennoniten nicht mehr betreffend abgetan werden konnten, bleiben die Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Kindertaufe und der Beteiligung in Politik und Militär bestehen. Diese Fragen wollte man nun nicht weiter auf bilateraler Ebene erörtern, sondern richtete 2012 zum Thema Taufe eine internationale trilaterale Kommission (erst die zweite ihrer Art) aus dem LWB, der Mennonitischen Weltkonferenz und der katholischen Kirche ein.
4.9 Lutherisch-pfingstlerisch Zwar wurden im LWB schon in den 1970er Jahren Stimmen nach einer Auseinandersetzung mit der Pfingstbewegung laut, aber die Beschäftigung mit diesem Thema war anfangs recht einseitig, fern von jeglichem formellen oder informellen Dialog. Die Evangelisch-lutherische Kirche Finnlands war die einzige Kirche, welche sich der Herausforderung eines bilateralen Dialoges mit den Pfingstlern auf regionaler Ebene
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stellte.³⁰ 2004 initiierte das Institut für ökumenische Forschung in Straßburg einen ‚Proto-Dialog‘ mit klassischen pfingstlerischen Gelehrten. Sechs Jahre danach wurde die gemeinsame Erklärung Lutheraner und Pfingstler im Dialog veröffentlicht, die als Handbuch für weitere Gespräche dienen soll. Auch dieser Dialog wendet nicht die konventionelle Methode des Lehrvergleichs an, sondern orientiert sich an der Frage ‚Wie begegnen wir Christus?‘ in Verkündigung, Sakramenten/Riten und Charismen. Der Rat des LWB stimmte einem offiziellen Dialog mit klassischen Pentekostalen zu, wofür man sich zum ersten Mal im Herbst 2016 in Asien traf. Solch ein Dialog soll nun über fünf Jahre hinweg auf fünf Kontinenten geführt werden. Diskutiert werden sollen Themen wie Erfahrung, Tradition, Priestertum aller Gläubigen, Wohlstandsevangelium, Diakonie und Heilung. Die Tatsache, dass es innerhalb des LWB charismatische Lutheraner gibt, unterscheidet diesen Dialog grundsätzlich von anderen. Zugleich ist dieser Umstand der Wegbereiter für den bilateralen und den multilateralen Dialog. Zwar waren Evangelikale und Pfingstler der Ökumene gegenüber bis ins 21. Jahrhundert – im günstigsten Fall – skeptisch eingestellt. Aber angesichts ihrer großen Anhängerschaft könnte ihr wachsendes Interesse an der Einheit der Christen einen neuen Enthusiasmus für ökumenisches Engagement entfachen, in etwa so, wie dies bei der katholischen Kirche nach dem II. Vaticanum vor 50 Jahren der Fall war. Auf jeden Fall zeigt ein Blick in die Geschichte, dass das Selbstverständnis des Luthertums als globale Realität und sein Interesse an Ökumene stets Hand in Hand gegangen sind. Solange Lutheraner weltweit miteinander in Kontakt bleiben, werden sie auch ihren Platz in der größeren Familie der Christen suchen und nach Gemeinschaft streben, „damit sie eins seien“ (Joh 17,22).
Dialogues with the Evangelical Free Church of Finland and the Finnish Pentecostal Movement, Documents of the Evangelical Lutheran Church of Finland 2, Helsinki, 1990.
Enrico Galavotti
Luther und die ökumenische Bewegung Vom Exkommunizierten zum gemeinsamen Lehrer
1 Ein Stolperstein Am Anfang der Entwicklung dessen, was im Allgemeinen als ‚ökumenische Bewegung‘ bezeichnet wird, und was erstmals zu Beginn des 20. Jahrhunderts organisierte und strukturierte Formen annimmt, trifft man auf Stolpersteine, die schwer zu beseitigen sind.¹ Einer davon war sicherlich Martin Luther, d. h., die Art und Weise, wie die Person, das Werk und die Theologie des Wittenberger Reformators jahrhundertelang innerhalb des Katholizismus verstanden und dargestellt worden waren. Nicht weniger problematisch freilich war die unkritisch-apologetische Herangehensweise an ebendiese Person vonseiten der evangelischen Kirchen. Diese schürte nicht nur die von Anfang an bestehende Feindschaft mit der Kirche von Rom, sondern auch – wenn auch in qualitativ anderer Weise – mit anderen Konfessionen ursprünglich reformatorischen Ursprungs. Als Drittes musste auch noch eine unvorhergesehene Neuerung bedacht werden. Gemeint ist die Kälte, wenn nicht gar die zunehmende Gleichgültigkeit, mit der man Luther seitens der neu entstandenen protestantischen Kirchen immer häufiger begegnete. Für diese wachsenden Kirchen, die sich hauptsächlich außerhalb Europas verbreiteten, war Luther kein selbstverständlicher Bezugspunkt mehr (und erst recht kein Held des Glaubens). Es handelt sich also um eine Gestalt, die einem regelrechten Verdrängungsprozess ausgesetzt war, und zwar bevor man überhaupt zu einem gemeinsamen Urteil über sie hätte kommen können.² Selbst wenn man diesen letztgenannten Bereich ausklammert, der dem größeren Teil der westlichen Christenheit unbekannt war, und von dem auch diejenigen, die
Übersetzung: Benedikt Jetter. Bezüglich der Anfänge und der weiteren Entwicklung der ökumenischen Bewegung beschränke ich mich auf das klassische Werk von R. Rouse und S.C. Neill, Storia del movimento ecumenico dal 1517 al 1948, Bd. 1, Dalla Riforma agli inizi dell’Ottocento, Bologna, 1973; Bd. 2, Dagli inizi dell’Ottocento alla conferenza di Edimburgo, Bologna, 1973; Bd. 3, Dalla Conferenza di Edimburgo (1910) all’Assemblea Ecumenica di Amsterdam (1948), Bologna, 1982; Bd. 4, L’avanzata ecumenica (1948 – 1968), hg. von H. E. Fey, Bologna, 1982. Siehe auch H. J. Urban und H. Wagner (Hg.), Handbuch der Ökumenik, Bd. 1– 4, Paderborn, 1985 – 1987 und N. Lossky, J.S. Pobee, J.M. Bonino et al. (Hg.), Dictionary of the Ecumenical Movement, Genf, 1991. Für eine knappe Einleitung siehe P. Neuner, Breve manuale dell’Ecumene, Brescia, 1986. Vgl. S. Picciaredda, Le Chiese indipendenti africane. Una storia religiosa e politica del Novecento, Rom, 2013; S. A. Fatokun, „Historical Sketch of Pentecostal Movements in Nigeria“, in: Cristianesimo nella Storia, 28, 3, 2007, 609 – 634. https://doi.org/9783110498745-050
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sich innerhalb der ökumenischen Bewegung engagierten, kaum eine Ahnung hatten, so wurde man sich doch recht schnell bewusst, wie sehr Luther – selbst noch 400 Jahre nach seinem Tod – für alle christlichen Gesprächspartner, die in verschiedenster Weise um Gelegenheiten zu Begegnung und Dialog bemüht waren, eine lebendige Persönlichkeit war, über die man sich noch immer streiten konnte. Die Gründe hierfür waren vielfältig und lagen vor allem in den Kernaussagen seiner theologischen Arbeit, also in der Wirkung seiner theologischen Produktivität, d. h. in der Prägung neuer „Symbole“ des christlichen Glaubens durch Luther (man denke nur an die Confessio Augustana oder seine Katechismen), welche das christliche Lehrgebäude unumkehrbar verändert hatten. Sie lagen auch in der Art und Weise, wie er die Rolle des Reformators ausfüllte. Diese unterschied sich radikal von dem, was man bis dato im christlichen Kontext gewohnt gewesen war, womit klassischerweise zweierlei mögliche Konsequenzen verbunden waren: ein dramatischer Schlussstrich durch Verurteilung als Häresie (in der Mehrheit der Fälle war damit zugleich der Lehrdissens beseitigt); oder aber eine Transformation im Rahmen eines Kanonisierungsprozesses. Seit Luther im 16. Jahrhundert reformatorische Maßnahmen in die Wege leitete, hatte die katholische Kirche eine präzise Vorstellung von Luther entwickelt und verbreitet: der ehemalige Mönch aus Wittenberg, der sich den Widerstand gegen die oberste Autorität des Papstes hatte zuschulden kommen lassen, wurde sowohl als derjenige angesehen, der der Einheit der Kirche eine tödliche Wunde zugefügt hatte, als auch als derjenige, der eine ganze Lawine an Fehlern losgetreten hatte, die Schritt für Schritt einen tiefen Graben zwischen Kirche und Gesellschaft aufgerissen und die Menschheit in eine Spirale der Verzweiflung und der Gewalt gedrängt hatte, aus der diese sich nur dann würde befreien können, wenn sie dem Lehramt und der Autorität Roms wieder den gebührenden Respekt entgegenbrachte. In pastoralen Ansprachen katholischer Bischöfe aus dem Jahrhundert vor der ökumenischen Bewegung kann man häufig ein immer wieder gleiches, ziemlich durchdachtes Interpretationsmuster erkennen, welches Luther als eine liederliche Persönlichkeit darstellt – er wird geschildert als ein Monster, ein Teufel, ein Prasser, ein Alkoholiker, ein Schwesternräuber –, welche durch die von ihr angestoßene Reformation beharrlich ein mit eben jenen Boshaftigkeiten gefülltes Fass ausgekippt habe. Es war somit folgerichtig, wenn auch nicht zwingend, jegliches menschliche Verständnis oder auch nur die Andeutung einer Versöhnung mit der Erinnerung an denjenigen zu verweigern, der nicht allein die Einheit der Christen aufs Schwerste verletzt hatte, sondern darüber hinaus auch noch die Verantwortung für einen dramatischen Teufelskreis zu tragen hatte: „Con immorali dottrine ed immorali maestri, ov’esiste la santità della Riforma?“,³ so fragte Kardinal Baluffi di Imola noch im Jahre 1850. Die Großwetterlage hatte sich anlässlich des 400. Jahrestages von Luthers Geburt (1883) nicht wesentlich verändert:
Zitiert nach G. Miccoli, „‚L’avarizia e l’orgoglio di un frate laido …‘. Problemi e aspetti dell’interpretazione cattolica di Lutero“, in: L. Perrone (Hg.), Lutero in Italia. Studi storici nel V centenario della nascita, Casale Monferrato, 1983, XIV.
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Auf katholischer Seite hielt man noch immer am Bild eines in jeder Hinsicht unbrauchbaren Luthers fest, demgegenüber kein anderes Verhalten angebracht sei als das der radikalen Missachtung⁴, zumal zu den immer wiederkehrenden Klagen über die „revolutionären“ Auswirkungen der lutherischen Polemik im 18. Jahrhundert nun noch die Vorstellung hinzukam, dass auch die Verbreitung des Sozialismus und des Kommunismus letztlich von eben jenem deutschen Ex-Mönch inspiriert sei. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, ist es wichtig, zu betonen, dass auch die einflussreichsten Vertreter katholischer Theologie und Kultur im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert in ihren Ansprachen und Tätigkeiten stets auf Neue eine ganze Reihe von Vorstellungen, Theorien und Gemeinplätzen wiederkauten, die nunmehr schon einige Jahrhunderte alt waren. Sie mögen zwar von so mancher allzu stumpfsinnigen oder derben Erscheinungsform gereinigt worden sein, doch war ihr Wesenskern unverändert.⁵ Ihren entscheidenden Rückhalt fanden sie übrigens im päpstlichen Lehramt: Just in den Jahren, als sich einige nichtkatholische Vertreter der Christenheit auf eine Konferenz in Edinburgh (1910) vorbereiteten, die später als der Startpunkt der zeitgenössischen ökumenischen Bewegung gelten sollte, erneuerte der Papst das Urteil über die Verdammung Luthers und gab zu verstehen, dass er nicht die geringsten Anzeichen am Horizont ausmache, die einen Kurswechsel bezüglich des Urteils nahelegen würden.⁶ Für Pius X. war die Sache glasklar: Von Luther kamen auch diejenigen her, die, von der Seuche der Moderne befallen, die Haltung und die Handlungsweisen des Wittenberger Reformators übernommen hatten. Diese Vorstellung kam sowohl in Pascendi (1907)⁷ als auch in Editae saepe zum Ausdruck und zielt
Vgl. H. Jedin, „Mutamenti della interpretazione cattolica della figura di Lutero e loro limiti“, in: Rivista di Storia della Chiesa in Italia, 23, 1, 1969, 378 – 383 (Anhang hg.v. A. Olivieri). Miccoli, „‚L’avarizia e l’orgoglio di un frate laido…‘“, XVIII. In seinem Katechismus von 1905 bezeichnet Papst Pius X. Calvin – nach einem allgemeinen Hinweis auf Luther und Calvin als Vorkämpfer der „grande eresia del Protestantesimo“ – als „la somma di tutte le eresie, che furono prima di esso, che sono state dopo, e che potranno nascere ancora a fare strage delle anime“, Kompendium der christlichen Lehre (Katechismus), von Seiner Heiligkeit angeordnet für die Diözesen der Provinz Rom, Rom, 1905, 326 – 327 („Brevi cenni di storia ecclesiastica“, Paragraphen 128 und 129. Link: https://it.wikisource.org/wiki/Catechismo_Maggiore/Storia/Ecclesiastica). „Noch klarer wird der Sachverhalt werden bei einem Blick auf das praktische Handeln der Modernisten […] Oder ihre Geschichtsdarstellung kennt keine Autorität von Konzilien und Vätern, beim Katechismusunterricht finden beide ehrenvolle Erwähnung. So trennen sie auch theologisch-erbauliche Exegese von wissenschaftlich-historischer. Ähnlich zeigen sie, kraft ihres Grundsatzes der völligen Unabhängigkeit der Wissenschaft vom Glauben, bei ihren Erörterungen über Philosophie, Geschichte, Kritik, ohne Scheu vor den Spuren Luthers (Prop. 29, verworfen von Leo X, Bulle Exsurge Domine, 15. Mai 1520: ‚Via nobis facta est enarrandi auctoritatem Conciliorum, et libere contradicendi eorum gestis, et judicandi eorum decreta, et confidenter confitendi quidquid verum videtur, sive probatum fuerit, sive reprobatum a quocunque concilio.‘) eine Geringachtung katholischer Vorschriften, der heiligen Väter, der ökumenischen Konzile, des kirchlichen Lehramtes auf jede Weise. Fasst man sie deshalb, so klagen sie über Freiheitsberaubung.“, Enzyklika Pascendi Dominici gregis unseres Heiligen Vaters Pius X über die Lehren des Modernismus, 8. September 1907 (lat: http://w2.vati can.va/content/pius-x/la/encyclicals/documents/hf_p-x_enc_19070908_pascendi-dominici-gregis.
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einzig und allein darauf, zwischen einer wahren und einer falschen Reform der Kirche zu unterscheiden.⁸ Somit war aus Sicht des Heiligen Stuhles schon die bloße Präsenz lutherischer oder reformierter Gemeinden in Rom völlig indiskutabel. Theodore Roosevelt, der frühere Präsident der Vereinigten Staaten, bekam dies 1910 auf seiner Durchreise in Rom zu spüren: Er hatte beim Papst um eine Audienz gebeten, woraufhin man ihm geantwortet haben soll, man würde sie ihm nur unter der Bedingung gewähren, dass er auf den geplanten Besuch der methodistischen Gemeinde in der Ewigen Stadt verzichte.⁹ Auch Benedikt XV. war fünf Jahr später mindestens ebenso deutlich und konsequent: Er bedauerte „il danno che ne verrebbe a questa santa città, e poi lo scandalo che ne avrebbe il mondo cattolico, se Lutero e Calvino giungessero a piantare stabilmente le loro tende nella città dei papi“.¹⁰
html: „Quod profecto apertius patebit intuenti quo pacto modernistae agant […] Item, enarrantes historiam, Concilia et Patres nullo loco habent; catechesim autem si tradunt, illa atque illos cum honore afferunt. Hinc etiam exegesim theologicam et pastoralem a scientifica et historica secernunt. Similiter, ex principio quod scientia a fide nullo pacto pendeat, quum de philosophia, de historia, de critice disserunt, Lutheri sequi vestigia non exhorrentes (Prop. 29 damn, a Leone X. Bull. „Exsurge Domine“ 16 maii 1520. Via nobis facia est enervandi auctoritatem Conciliorum et libere contradicendi eorum gestis, et iudicandi eorum decreta, et confidenter confitendi quid quid verum videtur, sive probatum fuerit, sive reprobatum a quocumque Concilio), despicientiam praeceptorum catholicorum, sanctorum Patrum, oecumenicarum synodorum, magisterii ecclesiastici omni modis ostentant; de qua si carpantur, libertatem sibi adimi conqueruntur.“). „[…] erhoben sich stolze und aufrührerische Menschen […] Die Besserung der Sitten ließen sie außer acht, bemühten sich aber, die Hauptstücke des Glaubens zu leugnen und brachten so alles in Verwirrung, sicherten sich und andern freiere Bahn für ihre Willkür oder arbeiteten doch sicher auf die Zerstörung der kirchlichen Lehre, Verfassung und Zucht hin […] Aufruhr widerspenstiger Menschen und dieser Schädigung des Glaubens und der Sitten den Namen Erneuerung und sich selbst den Namen Wiederhersteller der alten Sitte. In der Tat aber haben sie Verderben gebracht. Indem die Kräfte Europas sich in Streitereien und Kriegen verzehrten, haben sie den Schwächungen und Spaltungen der Gegenwart vorgearbeitet.“ [Link zu einer inoffiziellen Übersetzung: http://kathpedia.com/index.php? title=Editae_saepe_(Wortlaut)], Enzyklika Editae saepe unseres Heiligen Vaters Pius X zur Dreihundertjahrfeier der Heiligsprechung des heiligen Karl Borromäus, 26. Mai 1910 (lat: http://w2.vatican.va/ content/pius-x/la/encyclicals/documents/hf_p-x_enc_26051910_editae-saepe.html: „[…] superbi ac rebelles homines consurgebant“ […] Hi non moribus corrigendis, sed negandis Fidei capitibus animum intendentes, omnia miscebant, latiorem sibi aliisque muniebant licentiae viam, aut certe auctoritatem Ecclesiae ductumque defugientes, pro lubitu corruptissimi cuiusque principis populive, quasi imposito iugo, doctrinam eius, constitutionem, disciplinam in excidium petebant. […] rebellium tumultum et illam fidei morumque cladem appellarunt instaurationem, sese autem disciplinae veteris restitutores. Re tamen vera corruptores exstiterunt, quod, extenuatis Europae per contentiones et bella viribus, defectiones horum temporum et secessiones maturarunt). Vgl. R. Aubert, „Pio X tra restaurazione e riforma“, in: A. Fliche, A. Martin (Hg.), Storia della Chiesa, Bd. 22,1, La Chiesa e la società industriale (1878 – 1922), hg.v. E. Guerriero, A. Zambarbieri und Cinisello Balsamo 1990, 123 – 124. Discorso del Santo Padre Benedetto XV al cardinale vicario Basilio Pompili, presidente dell’„Opera della Preservazione della Fede in Roma“, 21. November 1915 (https://w2.vatican.va/content/benedictxv/it/speeches/documents/hf_ben-xv_spe_19151121_card-pompili.html, 23. März 2016). In diesen Jahren machte in Rom das Gerücht die Runde, dass man angesichts des 400-jährigen Jubiläums der
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Pius XI. bekräftigt in Mortalium animos von 1928 auf seine eigene Weise die unionistische Ausrichtung. Die Enzyklika steht – und das sollte man erst viel später richtig begreifen – im Zusammenhang großer Bemühungen darum, das neuartige Phänomen der ökumenischen Bewegung und dessen Annäherungsversuche an Rom zu unterdrücken.¹¹ Während einige wenige es gerade in diesen Zeiten vorzogen, diese Vorgabe zu ignorieren, um sich stattdessen für die Ökumene einzusetzen, und sich dabei von der Vorstellung einer Absorption zu verabschieden – man denke an Yves Congar oder an Paul Couturier¹² –, orientierte sich beinahe die gesamte katholische Intelligenz an den Richtlinien des Heiligen Stuhles und wiederholte diese auf je eigene Weise je nach Vermögen und Geschmack. Schon 1925 hatte Jacques Maritain in seinen Trois réformateurs das klassische katholische Bild von Luther als einem, der – „rinunciando al tentativo di vincersi, ma non ad essere santo“ – „trasforma il suo caso in verità teologica ed il suo stato di fatto in legge universale“ unterstrichen und ihn des „egoismo metafisico“ angeklagt.¹³ Noch deutlich schroffer war der Ansatz Igino Giordanis,¹⁴ der später für das Ökumeneressort der Fokolar-Bewegung, die er zusammen mit Chiara Lubich gegründet hatte, verantwortlich war: Seiner Überzeugung nach war der Protestantismus durch „un lapsus scritturale di Lutero“ entstanden, welcher der modernen historisch-kritischen Exegese nicht standhalte. Er schob hinterher: Lutero non poteva frenare la sua carne, e, tormentato dai rimorsi e dubbi nel cuore, e da fantasmi e lussurie nelle membra, credette di aver trovato il fatto suo in un passo della lettera ai Romani in cui Paolo avrebbe asserita la giustificazione per sola fede. […] Poiché lui, Lutero riteneva di non poter evitare il peccato, credette che nessuno potesse evitare il peccato.
Und noch einmal Giordani, an anderer Stelle: La personalità di Lutero, quale capo della riforma, è stata esaltata e dileggiata, ma sopra tutto esagerata. Ha fatto per la Riforma, e cioè per la riduzione del cristianesimo a religione statale e
Reformation plane, in Rom eine evangelische Kirche zu erbauen, die es an Größe mit dem Petersdom aufnehmen könne. M. Barbolla, „La genesi della Mortalium animos attraverso lo spoglio degli Archivi Vaticani“, in: Rivista di Storia della Chiesa in Italia, 66, 2, 2012, 495 – 538. Vgl. É. Fouilloux, Les catholiques et l’unité chrétienne du XIXe au XXe siècle. Itinéraires européens d’expression française, Paris, 1982. J. Maritain, Tre riformatori: Lutero, Cartesio, Rousseau, Brescia, 4. Aufl. 1974 [1928] (mit einem Vorwort von G. B. Montini), 50 – 53. Giordani meinte, dass Luther schon 1521 „abbastanza definito“ gewesen sei: „doppio, subdolo, sitibondo di sangue, contraddittorio, più teutonico che cattolico“. Auch sei Luther derjenige, der es fertigbrachte, „a trarre il più gran numero di vocaboli dagli escrementi e oggetti affini. Fu lui, sin dal 1521, a chiamare il matrimonio ‚un sacramento merdoso‘. Fu lui che col linguaggio riformato, così definì i teologi di Lovanio, rei di aver condannato le sue tesi: ‚Asini rustici, troie maledette, miserabili scrocconi, ventri blasfemi, incendiari assetati di sangue, fratricidi, ruvidi porci, chiotti maiali eretici ed idolatri, Tronfioni vanitosi, pagani dannati, acque stagnanti, ecc.‘“, I. Giordani, I protestanti alla conquista d’Italia, Mailand, 1931, 80 und 69.
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borghese, più l’Elettore di Sassonia che fra’ Martino. Questi ha prestato il nome: soprattutto, ha teologizzato i pretesti.
Alles in allem sei das, was Luther gemacht habe, keine Reform, sondern eine Revolte: „e nella Chiesa, le rivolte le ispira – ci dispiace per il Nostro – non Dio, ma Satana“.¹⁵
2 Die wechselseitige Verurteilung Nicht einmal die Verbreitung neuer Herangehensweisen und neuer Methoden historischer Forschung also (es ist daran zu erinnern, dass 1834 im Rahmen des Corpus reformatorum die Arbeiten an der Edition der Werke Calvins, Melanchthons und Zwinglis im Gange waren und dass man sich 1883 an die Weimarer Ausgabe gemacht hatte, welche die lutherischen Quellen in einer kritischen Edition zugänglich machte. Ebenfalls zu erwähnen ist der grundlegende Kommentar von 1908 zu den Vorlesungen Luthers über den Römerbrief, von denen man lange angenommen hatte, sie seien unwiederbringlich verloren) änderte etwas Wesentliches daran, wie man auf katholischer Seite über die Person Luthers dachte.¹⁶ Aber das ist leicht mit den starken, beinahe schon zur Identität der römischen Kirche dazugehörenden Ressentiments gegen denjenigen zu erklären, der mit seinen Entscheidungen die Ordnung der Dinge, sich über die Jahrhunderte gefestigt hatte, aus dem Gleichgewicht gebracht und die Eckpfeiler der Theologie und der Lehre, auf welche sich der Vorherrschaftsanspruch des Katholizismus stützte, in Frage gestellt hatte. In diesem Sinne war Luther nicht nur einfach einer der zahlreichen „Andersdenkenden“, die sich im Laufe der Jahrhunderte über die kirchliche Institution geärgert hatten: er repräsentierte mehr beziehungsweise etwas anderes. Auf die durch ihn gegebene Herausforderung hatte die katholische Kirche mit einer generationenübergreifenden Haltung reagiert, in der theologischer Hass, persönliche Verachtung, kulturelle Banalisierung und der allgemeine, aber nicht weniger hartnäckige interkonfessionelle Streit zusammenkamen. Für die Kleriker, die das Priesteramt anstrebten, wurde Luther so zum Prüfstein, der in aller Regel in der theologischen Ausbildung in den Seminaren zur Verdeutlichung falscher Lehrmeinungen und des Umganges mit ihnen herangezogen wurde.¹⁷ Exakt aus dem Grund, dass es sich um
Ebd., 63 – 65, 73. Miccoli hat diesbezüglich festgestellt, dass „le coordinate culturali che entrano in gioco nel formulare il giudizio cattolico su Lutero rivelano una profondità e una tenacia non riducibili all’uso errato o disinvolto o strumentale dei metodi della propria disciplina […], o alla mancata interazione tra ricerche particolari e schemi generali di inquadramento storico“, „‚L’avarizia e l’orgoglio di un frate laido…‘“, XXVI. Alberto Bellini, der sich mit der Situation in Italien befasste, kam zu dem Schluss, dass „la teologia manualistica italiana moderna non affrontò né direttamente né seriamente, dall’interno, la teologia di Lutero. Essa è prevalentemente polemica e apologetica: più che essere preoccupata di comprendere ciò
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ein derart tief verwurzeltes Phänomen handelte, wurde die antilutherische Haltung im Laufe der Zeit immer unreflektierter: Es war etwas vollkommen Normales, Luther auf eine bestimmte Weise darzustellen. Die Kraft, die in dieser Vorstellung einer ‚eiskalten Verdammung‘ steckte und bei der von Seiten des katholischen Klerus wohl auch kaum besondere Verletzungen oder bewusste Positionierungen eine Rolle spielten, sollte bis zum Beginn des Zweiten Vatikanischen Konzils – und sogar während seines Verlaufs – ihren Ausdruck besonders in den pastoralen Ansprachen der Bischöfe finden, welche in den meisten Fällen, freilich mit sehr unterschiedlichen Erfolg, dem päpstlichen Lehramt nachzueifern versuchten. Es war eine Selbstverständlichkeit, über Luther in einer bestimmten Weise zu reden oder zu schreiben, ebenso, wie es für jeden Bischof in der Seelsorge von vornherein klar war, dass er die Person und die Lehre des Papstes preisen, den Sozialkommunismus verdammen, die Ausbreitung des Laizismus und des Naturalismus verurteilen oder aber sich in die Verehrung der Jungfrau Maria hineinversenken würde; zu all dem kam unter Umständen noch eine Prise Antisemitismus hinzu. Immerhin aber kann man sagen, dass durch die vertieften historischen Forschungen die allzu scharfen Töne der antilutherischen Polemik seitens der Katholiken nun etwas gemildert wurden.¹⁸ Weit bekannt ist diesbezüglich die von Joseph Lortz’ Forschungen eingeleitete Wende,¹⁹ zu würdigen ist aber auch schon die frühere Arbeit Konrad Algermissens, der einen deutlich anderen Ton anschlägt, dabei aber doch die Vorbehalte gegenüber der Person und dem Werk Luthers unberührt lässt.²⁰ Dies also war, wenn auch etwas grob zusammengefasst, ein Teil des Hintergrundes, auf dem sich die Reflexion über Luther im Rahmen der Ökumene abspielte. Auf der anderen Seite muss natürlich auch die ganze antirömische und antipäpstliche Stimmung bedacht werden, die sich angesammelt hatte und einen wesentlichen Dreh-
che Lutero voleva dire, si preoccupò di presentare Lutero in modo tale che fosse più facilmente confutabile e con le sue illogicità facesse meglio risaltare la verità cattolica“, A. Bellini, „Lutero nella teologia cattolica moderna. Dalla confutazione polemica al confronto ecumenico“, in: Perrone (Hg.), Lutero in Italia, 247. Als Hilfe zur Orientierung in der schier unüberschaubaren Literatur zu Luther und als Einführung in die grundlegenden hermeneutischen Entwicklungen seit dem 19. Jahrhundert kann O. H. Pesch, Martin Lutero. Introduzione storica e teologica, Brescia, 2007 empfohlen werden; für die neuesten biographischen Erkenntnisse vgl. H. Schilling, Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs, München, 2013 und G. Dall’Olio, Martin Lutero, Rom 2013. J. Lortz, Die Reformation in Deutschland, Bd. 1– 2, Freiburg im Breisgau, 1939 – 1940. „Orbene Lutero ebbe una visione pessimista dell’uomo, credendolo solo peccato e corruzione, negandogli perfino ogni cooperazione alla grazia divina; non comprese Cristo che vedeva nell’uomo la possibilità di una cooperazione alla grazia, nel decalogo non l’oppressione ma la liberazione dell’uomo, in Dio non solo chi perdona, ma anche chi giudica e castiga; non comprese neppure Paolo con la sua dottrina attorno alla legge e al Vangelo. Egli attese solo a problemi individuali e non invece ai grandi compiti esterni del regno di Dio. […] Lutero è talmente preoccupato della salvezza dei singoli, da dimenticare perfino la cristianizzazione della vita sociale“, C. Algermissen, La Chiesa e le chiese, Brescia, 2. Aufl. 1944, 762 (Originaltitel: Konfessionskunde. Ein Handbuch der christlichen Kirchen-und Sektenkunde der Gegenwart, Hannover, 1930).
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und Angelpunkt der Predigten und der Theologie des ehemaligen Wittenberger Augustinermönches ausmachte. Im Übrigen hatte sich die Feindschaft derart schnell entwickelt, dass es schon im Moment der Exkommunikation Luthers im Jahre 1521 kein Zurück mehr gab. Gerade einmal vier Jahre waren seit der Diskussion der Thesen zum Ablass vergangen – was, nebenbei bemerkt, belegt, dass Luther ganz offensichtlich mit dem Papst und seinen Gesandten ins Gespräch kommen wollte – und innerhalb kürzester Zeit waren Rom und der Teufel in seinen Augen gewissermaßen eins geworden. Für Luther war Leo X. nicht mehr nur ein Widerspruch in sich selbst, sondern durch und durch der Antichrist.²¹ Dabei handelte es sich um eine Vorstellung, die, wie allgemein bekannt – und wie es im Laufe des 20. Jahrhunderts bei verschiedenen Begegnungen von Vertretern der ökumenischen Bewegung bekräftigt werden sollte²² –, perfekt zu der eschatologischen Vorstellung seiner Zeit passte, welcher der Wittenberger Lehrer ungehemmt und entschieden angehangen hatte.²³ Es war genau dieser vorbehaltlos und auf ganzer Front zu führende Kampf mit dem Antichristen, der den Ton der Polemik rechtfertigte und der vor allem jede Chance auf Begegnung verhinderte und eine Aussöhnung unwahrscheinlich machte.²⁴ In diesem Sinne war der weitere Weg Luthers von den allerersten Anfängen der Reformation her vorgezeichnet.
Es ist angemerkt worden, dass „[t]he attack on the papacy as the Antichrist was not the center of Luther’s reformation protest. The center, as we know, was his proclamation of the good news that man is justified solely by faith in Christ and solely by the grace of Jesus Christ, through no merits of his own. It was primarily because Luther believed that the Pope was denying the Gospel or prohibiting him to preach it that he came to the conclusion that the Pope was the Antichrist“, H. J. McSorley, „Luther’s Ecclesiological Significance for the Twentieth-century Ecumenical Movement“, in: The Springfielder, 34, 2, 1970, 131– 139, hier: 137. Siehe beispielsweise: Bilaterale Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz und der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, Kirchengemeinschaft in Wort und Sakrament (1984), Paderborn/Hannover, 1984; Gruppe von Dombes, Für die Umkehr der Kirchen. Identität und Wandel im Vollzug der Kirchengemeinschaft, Frankfurt a. M., 1994 (Originaltitel: Pour la conversion des eglises, 1991); Bilaterale Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz und der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, Communio sanctorum. Die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen, Hannover, 2000; Lutherisch/römisch-katholischer Dialog in den USA, Die Kirche als Koinonia der Erlösung. Ihre Strukturen und Aufgaben, 2004 (Originaltitel: The Church as Koinonia of Salvation: Its Structures and Ministries, Washington, 2004, online unter: http://www.usccb.org/beliefs-and-teachings/ecumenical-and-interreligious/ecumenical/lutheran/koinonia-of-salvation.cfm, 26. März 2017). Für eine Einordnung einer solchen Beobachtung sei verwiesen auf die neueste Edition des Klassikers Guglielmo di Ockam, Dialogo sul papa eretico, hg.v. A. Salerno, Mailand, 2015; zu den kanonistischen Aspekten vgl. L. Fonbaustier, La déposition du pape hérétique. Une origine du constitutionnalisme?, Paris, 2016. Auf den Darstellungen der von Luther in Druck gegebenen Bibel ist die scharlach- und purpurfarben gekleidete, das Tier mit den sieben Köpfen und den zehn Hörnern reitende Hure aus Offenbarung 17 mit der päpstlichen Tiara bekleidet: Biblia, das ist, die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Mart. Luth. Wittemberg, Begnadet mit Kürfurstlicher zu Sachsen freiheit, Bd. 2, Die Propheten alle Deudsch. D. Mar. Luth., Gedrückt zu Wittemberg durch Hans Lufft, 1533, CXCVverso (Nachdruck Köln, 2016).
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In der Tat nämlich gehen schon die Schriften des Jahres 1520 und insbesondere der Appell An den christlichen Adel deutscher Nation von der Unfähigkeit des katholischen Episkopats aus, eine solche Reformation durchzuführen, wie Luther sie anzudeuten begonnen hatte. Es handelte sich dabei lediglich um die erste Etappe eines längeren, vielschichtigen Weges; Luther jedenfalls vermachte seinen Nachfolgern mit seinem Tod eine andersartige christliche Konfession, die auf ein weites Gebiet verteilt war und das Potenzial hatte, eine wachsende Zahl von Gläubigen zu gewinnen. Was auf Seiten der Katholiken geschehen war, geschah unter umgekehrten Vorzeichen auch auf Seiten derer, die dem neuen evangelischen Glauben anhingen: die Verteufelung des Gegners war und blieb eine Art Lebenselixier. Genauso sehr wie die allerersten katholischen Biographen, beispielsweise Johann Cochlaeus oder Johann Pistorius,²⁵ davon ausgingen, dass Luther den Verlockungen des Satans erlegen war, so hatte der ehemalige Wittenberger Mönch für die zeitgenössischen Biographen evangelischer Prägung, zum Beispiel Johannes Aurifaber oder Johannes Mathesius, Ähnlichkeiten mit einem Engel: Er war ein Prophet, wenn nicht ein Heiliger.²⁶ Diese Einstellung prägte die Lutherforschung tief und für lange Zeit. Erst zwischen dem ausgehenden 19. und dem beginnenden 20. Jahrhundert – in der Zeitspanne zwischen dem Wirken und Schaffen von Leopold von Ranke und dem Karl Holls – sollte man in der Lutherforschung damit beginnen, vieles durchzugehen, was sich seit dem frühen Morgengrauen der Reformation als ‚kanonisch‘ verfestigt hatte: Man unterschied nun beispielsweise zwischen verschiedenen Lebensphasen Luthers und schenkte dabei den Jugendjahren besondere Aufmerksamkeit.²⁷
3 Ein langer Weg bis zur Wende Es besteht kein Zweifel daran, dass die Neudefinition von Luthers Profil im Rahmen der Aktivitäten und Dialoge der ökumenischen Bewegung durch die Neuausrichtung der Geschichtsschreibung, die sich, wenn auch bezogen auf qualitativ verschiedene
J. Cochlaeus, Commentaria Ioannis Cochlaei, de actis et scriptis Martini Lutheri Saxonis, Chronographice, Ex ordine ab Anno Domini M.D.XVII usque ad Annum M.D.XLVI inclusive, fideliter conscripta, Apud S. Victorem prope Moguntiam, ex officina Francisci Behem Typographi, 1549; J. Pistorius, Anatomia Lutheri, Bd. 1– 2, Gedruckt zu Cöln durch Arnoldum Quentel, 1595 – 1598. J. Aurifaber, Tischreden oder Colloquia Doct. Mart. Luthers, Eisleben, Urban Gaubisch, 1566; J. Mathesius, Historien von des ehrwirdigen in Gott seligen thewren Manns Gottes Doctoris Martini Luthers Anfang, Lehr, Leben und Sterben, Nürnberg, Ulrich Neuber, 1566. Diese Entscheidung trafen u. a. Gottfried Arnold (Unparteyische Kirchen- und Ketzer-Historie, Frankfurt a. M., 1699) und Giovanni Miegge (Lutero. L’uomo e il pensiero fino alla Dieta di Worms, 1483 – 1521, Turin, 1946), die in Luthers Denken und Theologie einen ursprünglichen Kern suchten, der auch später, als Luther durch seine Entscheidungen in reiferem Alter ‚verkrustete‘, im Wesentlichen erhalten geblieben wäre. Sie suchten weniger den Keim der Reformation als vielmehr den einiger ihrer Nebeneffekte wie dem brennenden Antisemitismus, der Verurteilung der Bauernaufstände und der Wiedertäufer sowie der immer stärker werdenden Polemik gegen die Kirche von Rom.
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Epochen und mit unterschiedlicher Tiefenschärfe,²⁸ seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkt bemerkbar machte, Auftrieb bekam und gestützt wurde. Vielmehr muss betont werden, dass eine Untersuchung der offiziellen Dokumentation im Bereich der Ökumene zeigt, welche Bedeutung der historischen Reflexion zukommt. Eine solche Analyse weist darauf hin, dass man sich für ein Verständnis von Luther in all seiner Bedeutung und mit all seinem Potenzial zuallererst mit den Kontexten, den Mentalitäten und den Theologien auseinandersetzen muss, die im Einzelnen aufeinanderprallten, als der Mönch aus Wittenberg seinen Reformprozess einleitete. Auf diese Weise nahm man Abstand vom jahrhundertelang eingeübten polemischen Umgang und entschied sich für einen – in der Tat typisch historiographischen – Prozess des Verstehens dessen, was geschehen war.²⁹ So kam es, dass der Genfer Reformierte Eugène Choisy im Jahre 1927 – während derselben Monate, in denen der Heilige Stuhl die Publikation von Mortalium animos vorbereitete – auf der Konferenz für Glauben und Kirchenverfassung mit Nachdruck betonte, es sei nicht gerade with a light or willing heart that Luther, Calvin and their allies broke with the hierarchy and severed themselves from the traditional Church. Compelled to choose between fidelity to Christ their Saviour – the only head of the Church – and submission to the demands of prelates claiming to be the sole authorised interpreters of Divine Thruth, they could not sacrifice the rights of that Master who is the truth, of that Saviour in whom they trusted for their justification.³⁰
Auf der gleichen Veranstaltung hatte der lutherische Erzbischof von Uppsala, Nathan Söderblom, welcher in der soeben entstehenden ökumenischen Bewegung eine Schlüsselrolle spielte, hervorgehoben, dass, als Luther, the passionately devoted son of the Church, was expelled from the papal Institution, then it became a hard necessity to him and his friends to organise, contrary to their will and intention, a
So muss daran erinnert werden, dass katholischerseits noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts Heinrich Suso Denifle und auch Hartmann Grisar eine Vorstellung von Luther als ‚Entartetem‘ und Psychopathen beförderten. Im Rahmen einer Reflexion über die Katechismen Luthers stellt der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz fest, dass „la trasformazione dell’immagine di Lutero nella teologia cattolica rappresenta peraltro un silenzioso trionfo d’una approfondita ricerca scientifica in grado di contribuire al superamento di pregiudizi profondamente radicati grazie a un attento lavoro di ricerca specifica, al coraggio della ricerca storica, ma anche alla pazienza del rinnovamento ecumenico“, K. Lehmann, „Martin Lutero. Nostro maestro comune“, in: Il Regno-Attualità, 6, 1998, 202– 209, hier: 205; einen gewissen Überblick über die Forschungsperspektiven im katholischen Bereich bietet M. Lienhard, „Luther en perspective catholique. Quelques observations“, in: Revue d’Histoire et de Philosophie Religieuses, 63, 1– 2, 1983, 167– 177. Faith and Order. Proceedings of the World Conference Lausanne, August 3 – 21, 1927, hg.v. H. N. Bate, London, 1927, Seite 29 (dt.: Erste Weltkonferenz über Glauben und Kirchenverfassung).
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Communion of their own. But they could never see or recognise that the action of the Pope excluded them from the One Holy Catholic and Apostolic Church.³¹
Dieser Wechsel der Perspektive auf Luther jedoch musste zweierlei trotzen: Zum einen war da das Trauma des Krieges; zum anderen bemerkte die katholische Kirche, dass die Bekennende Kirche, die von Pfarrer Martin Niemöller geleitet wurde – und die nach der ‚Entdeckung‘ der Person und des Werkes Dietrich Bonhoeffers noch viel bekannter werden sollte –, die Hauptantriebskraft für ihre äußerst wichtige Erfahrung des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus nun ausgerechnet in einer noch engeren Bezugnahme auf die Lehre und das Vorbild des Wittenberger Reformators fand.³² Auf alle Fälle sollte das Zweite Vatikanische Konzil für die Wiederentdeckung Luthers – zumindest auf katholischer Seite – ein Wendepunkt sein.Vatikan II nämlich markierte – ungeachtet der Lesarten, die versuchten, streng an der Kontinuität festzuhalten, und einen damit zum Verzweifeln bringen konnten – bezüglich der langen historischen Phase der Rezeption des in vielen Fällen mythisierten Tridentinums eine Zäsur.³³ Die antilutherische Reaktion war ein essentieller, kulturell äußerst wirkungsvoller Bestandteil dieser Phase gewesen; eine andere Perspektive auf Luther konnte also nur durch ein Ereignis gewonnen werden, das den Beginn eines neuen kulturellen Paradigmas bedeuten und gleichzeitig ein Überdenken der katholischen Haltung gegenüber der Moderne sein würde, die unter anderem aus dem Grund bekämpft wurde, dass man sie als ein Produkt der Reformation ansah. Die befreiende Wirkung des Konzils äußerte sich sogleich in denen, die sich schon jahrzehntelang für ökumenische Fragen empfänglich gezeigt hatten. So war sich Congar auf einer Konferenz im Jahre 1963 dessen bewusst, dass Luther
Faith and Order. Proceedings of the World Conference Lausanne, August 3 – 21, 1927, hg.v. H. N. Bate, London, 1927, 326 (dt.: Erste Weltkonferenz über Glauben und Kirchenverfassung); I Conferenza Mondiale di Fede e Costituzione (1927) (dt.: Erste Weltkonferenz über Glauben und Kirchenverfassung), in: Enchiridion Œcumenicum, Bd. 6, Fede e Costituzione. Conferenze mondiali, 1927 – 1993, hg.v. S. Rosso und E. Turco, Bologna, 2005, 302. Vgl. P. Foresta, La resistenza tedesca tra testimonianza e martirio: il sinodo di Barmen (29 – 31 maggio 1934), im Erscheinen. Vgl. G. Alberigo, „Du Concile de Trente au tridentinisme“, in: Irénikon, 54, 2, 1981, 192– 210 und P. Prodi, Il paradigma tridentino. Un’epoca della storia della Chiesa, Brescia, 2010; eine bedeutungsschwere Reflexion der Langzeitfolgen dieses Prozesses bietet I. Illich, Pervertimento del cristianesimo. Conversazioni con David Cayley su vangelo, chiesa, modernità, hg.v. F. Milana, Macerata, 2008. Vielsagend sind ebenfalls die Ansichten der Gruppe des Dombes, für die es „è indispensabile, parimenti, tener presente che bisogna assolutamente evitare di confondere il concilio di Trento con il tridentinismo. Il concilio è spesso una reazione sul vivo, anche se molto ponderata, in seno a una chiesa occidentale che prende coscienza di una divisione di cui non ha ancora misurato gli effetti. Il tridentinismo, al contrario, è contemporaneamente un’organizzazione dottrinale sistematica, operata sulla base dei testi conciliari, presi nella loro quasi totale autoreferenzialità, l’attuazione di istituzioni che segneranno in modo notevole il cattolicesimo romano“, „Per la conversione delle chiese“ (1990), in: Enchiridion Œcumenicum, Bd. 4, Documenti del dialogo teologico interconfessionale. Dialoghi locali, 1988 – 1994, hg.v. G. Cereti und J. F. Puglisi, Bologna, 1996, 353.
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a encore aujourd’hui un très mauvais renom chez les catholiques, sauf peut-être en Allemagne. Je sais qu’il y a en lui de quoi justifier ce renom. Je sais aussi qu’on ne rende justice, ainsi, ni à son intention foncière, ni même à sa pensée religieuse. Je sais enfin que rien de tout à fait sérieux ne sera fait de notre part vers le protestantisme tant qu’on n’aura pas accompli la démarche de comprendre vraiment Luther et de lui rendre historiquement justice, au lieu de simplement le condamner. Pour cette conviction, qui est mienne, je serais prêt à donner joyeusement ma vie.³⁴
Die Erfahrung von nunmehr einem halben Jahrhundert ökumenischer Bewegung und die unerwartete konziliare ‚Mondlandung‘ ließen damals von der Möglichkeit – und der Zulässigkeit – einer neuen Herangehensweise an Luther träumen: frei von politischem Kalkül und von anachronistischen Rekonfessionalisierungsbestrebungen seitens derer, die den Reformator bis vor kurzem noch als erbitterten Feind angesehen hatten (und dies gilt nicht nur für den Katholizismus). Sicherlich aber galt es, den Fehler zu vermeiden, erzwungenermaßen und gegen dessen eigenen Willen einen katholischen Luther zu zeichnen.³⁵ Ebenso wenig aber konnte man die tiefgreifenden Differenzen zwischen der Kirche von Rom und den verschiedenen Kirchen der Reformation verbergen. Es wurde also immer deutlicher, dass man Luther als Kind seiner Zeit ansehen und sich ihm dementsprechend annähern musste: Er ist eingebettet in einen bestimmten historischen Kontext, und ihn beschäftigt vor allem eine zu seiner Zeit durchaus übliche – und am Beginn zahlreicher weiterer Erneuerungserfahrungen stehende – Sorge, nämlich die um das eigene persönliche Heil, das seiner Meinung nach von der kirchlichen Autorität, die traditionellerweise eigentlich damit betraut war, nicht mehr garantiert werden konnte. Luther hatte demnach, wenn auch auf ungestüme und polemische Weise, die wichtigste aller Fragen gestellt: die Gottesfrage.³⁶ Im Nachhinein also entpuppt sich Luther als ein Christ auf historischer Gratwanderung. Viele Forscher sind sich schon lange der Ambivalenz des Mannes bewusst, der einem typisch mittelalterlichen kulturellen Ansatz wieder zur Geltung verhalf ³⁷ und gleichwohl lange Zeit als einer wahrgenommen und beschrieben wurde, der einen Bruch vollzogen und die Menschheit in eine neue Epoche, die der Moderne, geführt habe. Doch war gerade die Zeit Luthers wesentlich von einem engen In- und Miteinander und einer wechselseitigen Durchdringung einer alten und einer neuen
Y.M.-J. Congar, Chrétiens en dialogue. Contributions catholiques à l’Œcuménisme, Paris, 1964, 126. Bezeichnenderweise hatte Congar am Ende einer Zeremonie am 4. Dezember 1965 in St. Paul vor den Mauern am Grab Petri innegehalten, um zu beten: „Je lui parle de Luther, qui a voulu réaffirmer ‚l’Évangile‘ pour lequel Paul a lutté“, ders., Mon journal du concile, hg.v. É. Mahieu, Bd. 2, Paris, 2002, 503. Insbesondere Erwin Iserloh hat die Meinung vertreten, dass Luther aufgrund seiner Beschäftigung mit Augustin und Ockham zum Katholizismus, der im Grunde kein solcher mehr war, auf Distanz gegangen sei, Kirche – Ereignis und Institution. Aufsätze und Vorträge, Bd. 2, Münster, 1985, 145 – 155. So W. Kasper, Martin Lutero. Una prospettiva ecumenica, Brescia, 2016, 23 (dt.: Martin Luther. Eine ökumenisch Perspektive, Ostfildern, 2016). Diese Thematik ist kürzlich wieder aufgenommen worden in der vieldiskutierten Biographie von V. Leppin, Martin Luther, Darmstadt, 2006, 2. Aufl. 2010.
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Ordnung geprägt: Es war also, im weitesten Sinne des Wortes, eine Zeit der Reformationen, in der, neben zahlreichen Elementen der Krise und des Verfalls, auch bedeutende Keimzellen der Erneuerung zum Vorschein kamen.³⁸
4 Die Früchte des Dialogs Das Zweite Vatikanische Konzil – und auch schon seine Ankündigung – hatte also nicht nur eine veränderte Haltung Luther gegenüber begünstigt, sondern wirkte sich auch maßgeblich auf die direkte Begegnung zwischen Vertretern der verschiedenen christlichen Kirchen aus: Es beförderte Treffen, Gespräche und insbesondere die Bildung von gemischten Arbeitsgruppen, die sich – neben zahlreichen anderen Themen – zugleich an die Person des Vaters der Reformation heranwagten und somit die verschiedenen Parteien dazu aufforderten, über reine Formalia hinauszugehen.³⁹ Ökumenische Fortschritte, die sicherlich auch dem Enthusiasmus der Zeit direkt nach dem Konzil geschuldet waren – Papst Paul IV. selbst musste diesen Übereifer später etwas bremsen⁴⁰ –, waren deutlich zu spüren. Bestätigt wird dieser Wandel durch die Rede Johannes Kardinal Willebrands auf der Fünften Vollversammlung des
Walter Kasper hat diesbezüglich an das nationale Konzil von Sevilla im Jahre 1478 erinnert, das in ähnlicher Weise einige Missstände beheben wollte. Er erinnert auch an die Veröffentlichung der polyglotten Bibel von Alcalà, an die Verbreitung eines italienischen Evangelikalismus, an welcher Vertreter der Kurie, wie beispielsweise Gasparo Contarini und Reginald Pole, beteiligt waren. Gleichzeitig weist er auch auf die Bedeutung einer Gestalt wie der des Mystikers Johannes Tauler hin, Kasper, Martin Lutero, 16 – 17. Anlässlich der 450-Jahr-Feier des Beginns der Reformation hatte es einen Briefwechsel zwischen Augustin Kardinal Bea und Fredrik A. Schiotz, dem Präsidenten des Lutherischen Weltbundes, gegeben. Darin räumte letzterer ein, dass wir „talvolta, siamo stati tentati di celebrare quasi con un certo trionfalismo le nostre manifestazioni commemorative della Riforma. Preghiamo che, nelle importanti celebrazioni in programma quest’anno in tutto il mondo, tale tentazione possa essere vinta“, S. Schmidt, Agostino Bea, il cardinale dell’unità, Rom, 1987, 744. Für einen groben Überblick über die Arbeit der bilateralen lutherisch-katholischen Arbeitsgruppe siehe J. A. Radano, Lutheran and Catholic Reconciliation on Justification. A Chronology of the Holy See’s Contributions, 1961 – 1999, to a New Relationship between Lutheran & Catholics and to Steps Leading to the Joint Declaration on the Doctrine of Justification, Cambridge, 2009. „Ce n’est pas que ce cheminement œcuménique soit sans difficultés. […] On ne résorbe pas en quelques années une incompréhension et une opposition qui ont duré pendant des siècles. La patience est une vertu œcuménique. La maturation psychologique n’est pas moins lente ni moins difficile que la discussion théologique. La seule éventualité de devoir abandonner de vieilles positions, durcies pas d’amers souvenirs, mêlés à des questions de prestige et à de subtiles polémiques, éveille des réactions qui tendent à se présenter comme des affirmations de principes, sur lesquelles il paraît impossible de transiger. […] Chacun reprend conscience de soi, résiste, se révolte: l’œcuménisme s’arrête“, Discours du Pape Paul VI aux membres du Secrétariat pour l’union des chrétiens, 28. April 1967 (https://w2.vatican.va/content/paul-vi/fr/speeches/1967/april/documents/hf_p-vi_spe_19670428_unione-cristiani.html, 26. März 2017).
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Lutherischen Weltbundes im Juli 1970, wo dieser zugab, dass im Laufe der Jahrhunderte die Person Martin Luthers katholischerseits nicht immer richtig eingeschätzt, seine Theologie nicht immer richtig wiedergegeben [wurde]. Das hat weder der Wahrheit noch der Liebe gedient und somit nicht der Einheit, die wir zwischen Ihnen und der katholischen Kirche zu verwirklichen streben.⁴¹
Der Präsident des Sekretariats zur Förderung der Einheit der Christen fragte sich also: Wer vermöchte heute – ich spreche jetzt für uns – zu leugnen, daß Martin Luther eine tief religiöse Persönlichkeit war, daß er in Ehrlichkeit und Hingabe nach der Botschaft des Evangeliums forschte? Wer vermöchte zu verneinen, daß er, obwohl er die Römisch-katholische Kirche und den Apostolischen Stuhl bedrängte – man darf es der Wahrheit wegen nicht verschweigen –, einen bemerkenswerten Besitz des alten katholischen Glaubens beibehalten hat? Ja, hat nicht das Zweite Vatikanische Konzil selbst Forderungen eingelöst, die unter anderem von Martin Luther ausgesprochen worden sind und durch die nun manche Aspekte des christlichen Glaubens und Lebens besser zum Ausdruck kommen als vorher?⁴²
Willebrands wich auch der Frage nach der Rechtfertigung nicht aus und bekundete eine beachtliche Öffnung, was man wohl als eine erste Synthese der zwischen Katholiken und Protestanten geführten Gespräche betrachten kann. In diesem Sinne betonte er, dass „gemeinsame Untersuchungen“ in diesem Punkt gezeigt haben, daß das Wort ‚Glaube‘ im Sinne Luthers weder die Werke noch die Liebe noch auch die Hoffnung ausschließen will. Man kann mit gutem Recht sagen, daß Luthers Glaubensbegriff, wenn man ihn voll nimmt, doch wohl nichts anderes bedeutet als das, was wir in der katholischen Kirche mit Liebe bezeichnen.⁴³
Daraus schlussfolgerte er, es sei gut, sich auf einen Mann zu besinnen dem die Rechtfertigungslehre der articulus stantis et cadentis ecclesiae war. Er mag uns darin gemeinsamer Lehrer sein, daß Gott stets Herr bleiben muß und daß unsere wichtigste menschliche Antwort absolutes Vertrauen und die Anbetung Gottes zu bleiben hat.⁴⁴
Auch auf evangelischer Seite schien man nun dazu bereit zu sein, die Rolle Luthers zu überdenken. Man gab zu, dass die Polemik seitens der Reformatoren, „soprattutto di
Heßler, Hans-Wolfgang, Evian 1970. Offizieller Bericht der Fünften Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes. Bearbeitet von Christian Krause und Walter Müller-Rümheld mit einer Einführung von André Appel, epd-Dokumentation, Bd. 3, Witten / Frankfurt a. M. / Berlin, 1970, 87– 100, hier: 97. Ebd., 98. Ebd., 98 – 99. Ebd., 99; J. Willebrands, „Lutero, nostro maestro comune“, in: Il Regno-Documentazione, 16, 1970, 354– 355.
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Lutero, non rende giustizia alla parte cattolica, specialmente quando identifica le concezioni combattute con la posizione cattolica e non prende atto o tralascia le più differenziate asserzioni di teologi cattolici“. Daher gilt: „per la situazione dopo la riforma liturgica del concilio Vaticano II non sono più applicabili le parole di Lutero sull’ ‚orrore‘ della messa“.⁴⁵
5 Auf dem Weg zu einem neuen gemeinsamen ökumenischen Verständnis Verständlicherweise bot die Feier von Luthers 500. Geburtstag im Jahre 1983 eine gute Gelegenheit für eine neue ökumenische Synthese der verschiedenen vorliegenden Positionen. Hinter die vor allem in der postkonziliaren Zeit gemachten Fortschritte konnte man zwar nicht zurück, aber gleichzeitig konnte man Anzeichen dafür erkennen, dass die Bemühungen um eine weitere Vertiefung des Verständnisses von Luthers Rolle und Werk ins Stocken gekommen waren. Auf katholischer Seite hatten die Übernahme der Leitung der Kongregation für die Glaubenslehre durch Joseph Ratzinger und die situationsbezogene Ausweitung des Kompetenzbereiches der Kongregation innerhalb der Kurie unter Wojtyla in ökumenischer Perspektive eine deutlich reserviertere Haltung mit sich gebracht. Bestimmt wurde diese Haltung durch die alten und tief verwurzelten Vorbehalte des deutschen Theologen Ratzinger gegenüber den vielen ‚Luthers‘, welche die katholische Kirche im Laufe der Jahrhunderte hervorgebracht hatte.⁴⁶ Hinzu kam noch die Überzeugung, dass die Haltung des Wittenberger Reformators zur Tradition mit der katholischen Position ganz und gar unvereinbar sei.⁴⁷ Johannes Paul II. hatte seinerseits erklärt, für Katholiken sei „mit dem Namen Martin Luther durch die Jahrhunderte hindurch die Erinnerung an eine leidvolle Zeit verbunden, vor allem aber das Wissen um den Beginn großer kirchlicher
Commissione congiunta cattolico romana-evangelica luterana, L’eucaristia, in: Enchiridion Œcumenicum, Bd. 1, Documenti del dialogo teologico interconfessionale. Dialoghi internazionali, 1931 – 1984, hg.v. S. J. Voicu und G. Cereti, Bologna, 1986, 643 – 644 (dt.: Das Herrenmahl. Bericht der Gemeinsamen Römisch-katholischen/Evangelisch-lutherischen Kommission (1978), in: Dokumente wachsender Übereinstimmung. Sämtliche Berichte und Konsenstexte interkonfessioneller Gespräche auf Weltebene, Bd. 1, 1931 – 1982, hg. u. eingel. v. H. Meyer, D. Papandreou, H. J. Urban und L. Vischer, Paderborn / Frankfurt a. M., 2. Aufl. 1991 [1983], 271– 295. Ratzinger kam daher zu dem Schluss, dass „da una parte, c’è il Lutero del catechismo, degli inni e delle riforme liturgiche: e questo Lutero può essere accettato dai cattolici, il cui risveglio biblico e liturgico in questo secolo riproduce molte delle critiche rivolte dallo stesso Lutero alla Chiesa del tardo Medioevo. Ma, dall’altra parte, c’è un altro Lutero: il teologo radicale e polemico la cui particolare versione della dottrina della giustificazione per mezzo della fede è incompatibile con il concetto cattolico di fede come comunione con tutta la Chiesa, in un’esistenza cristiana in cui hanno eguale spazio fede, speranza e carità“, A. Nichols, Joseph Ratzinger, Cinisello Balsamo, 1996, 289. Benedikt XVI, V. Messori, Rapporto sulla fede. Vittorio Messori a colloquio con il cardinale Joseph Ratzinger, Cinisello Balsamo, 1985, 166.
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Spaltungen“. Er stellte aber auch fest, dass die bis dahin geschehenen historischen Forschungen „sich in ihren Ergebnissen inzwischen weitgehend begegnen“. Dennoch müsse man weitere Nachforschungen anstellen, um „durch unvoreingenommene, allein von der Suche nach Wahrheit geleitete Forschung ein gerechtes Bild des Reformators wie der ganzen Epoche der Reformation und der in ihr wirkenden Personen zu gewinnen“.⁴⁸ Genau spiegelverkehrt war die Herangehensweise auf evangelischer Seite, wo man konstatierte, dass per quanto il nome di Lutero sia stato collegato per molto tempo all’idea di divisione della cristianità, ai nostri giorni riconosciamo che in fondo le strade divergenti non hanno distrutto la comunione nella fede e che, nonostante tutte le divisioni, il pensiero della comune appartenenza dei cristiani è rimasto vivo. Lutero non appartiene a una sola confessione. Ha una vocazione da svolgere per tutta la cristianità […] Se entrasse di nuovo nella coscienza del nostro tempo come un testimone dell’Evangelo, gli uomini potrebbero essere più consapevoli della loro fede, venendo in tal modo liberati sia dalle loro incertezze che dalle loro assurde sicurezze.⁴⁹
Das von der Gemeinsamen Römisch-katholischen/Evangelisch-lutherischen Kommission in eben denselben Monaten herausgegebene Dokument vermittelte wirkungsvoll zwischen den verschiedenen Positionen, die sich bis zu diesem Zeitpunkt herauskristallisiert hatten, und stellte in einem im Großen und Ganzen ermutigenden Ton fest, dass es sowohl auf katholischer als auch auf evangelischer Seite immer weniger „von Polemik geprägte Lutherbilder“ gebe und man beginne, „ihn gemeinsam als Zeugen des Evangeliums, Lehrer im Glauben und Rufer zur geistlichen Erneuerung zu würdigen“. Luther büßte also nichts von seiner Aktualität ein, denn sein Ruf „zur Reform der Kirche, der ein Ruf der Buße war, ergeht weiter an uns. Er fordert uns auf, das Evangelium neu zu hören, die eigene Untreue gegenüber dem Evangelium zu erkennen und es glaubwürdig zu bezeugen“.⁵⁰ Bei all dem ließen die evan Botschaft von Johannes Paul II. An Kard. Johannes Willebrands, Präsident des Sekretariats für die Einheit der Christen, 31. Oktober 1983 (https://w2.vatican.va/content/john-paul-ii/de/letters/1983/ documents/hf_jp-ii_let_19831031_card-willebrands.html, 26. März 2017). Drei Jahre vorher bereits hatte Papst Wojtyla in einer Ansprache in Mainz an den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland – als Gegenwurf zur der Ansicht, die Johannes XXIII am Abend des 11. Oktobers 1962 in einer Rede vor dem Volk vertreten hatte – erklärt: „Alle Dankbarkeit für das uns Verbleibende und uns Verbindende darf uns nicht blind machen für das, was immer noch trennend zwischen uns steht.“, Ansprache von Papst Johannes Paul II an den Rat der Evangelischen Kirche, 17. November 1980 (https://w2.vatican.va/ content/john-paul-ii/de/speeches/1980/november/documents/hf_jp_ii_spe_19801117_chiesa-evangelica.html, 26. März 2017). So Eduard Lohse, evangelischer Bischof und Ratspräsident der Evangelischen Kirche in Deutschland, in einer Mitteilung vom 1. Januar 1983: „Attualità di Martin Lutero“, in: Il Regno-Documenti, 15, 1983, 469 – 470, hier: 470. Gemeinsame Römisch-katholische/Evangelisch-lutherische Kommission, Martin Luther – Zeuge Jesu Christi. (1983), in: Dokumente wachsender Übereinstimmung. Sämtliche Berichte und Konsenstexte interkonfessioneller Gespräche auf Weltebene, Bd. 2, 1982 – 1990, hg. u. eingel. v. H. Meyer, D. Papandreou, H. J. Urban und L. Vischer, Paderborn/Frankfurt a.M., 1992, 444– 451, hier 456.
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gelischen Kirchen erkennen, dass sie um die Grenzen seiner Person und seines Werkes ebenso wie um manche negativen Auswirkungen seines Handelns [wissen]. Sie können Luthers polemische Ausfälle nicht gutheißen; sie erschrecken vor den antijüdischen Schriften des alten Luther; sie sehen, daß sein apokalyptisches Bewußtsein ihn z. B. im Zusammenhang seiner Stellungnahmen zu Papsttum, Täuferbewegung und Bauernkrieg zu Verurteilungen geführt hat, die sie nicht übernehmen mögen.⁵¹ Auch die eindeutig ökumenisch ausgerichteten Überlegungen Giuseppe Alberigos stehen noch im Zusammenhang der 400-Jahr-Feier. Dieser hatte, obwohl er sich noch immer im Rahmen einer v. a. historischen Beschäftigung mit der Gestalt Luthers bewegte, in einem Vortrag an der Waldenserfakultät in Rom eine methodische Vorgehensweise gefordert, die auch von denen gutgeheißen und übernommen werden konnte, die sich ganz dezidiert für ökumenische Beziehungen einsetzten. Gemäß Alberigo nun sei die Bedeutung Luthers für die gesamte Christenheit weniger in einer rückwärtsgewandten als in einer nach vorne blickenden Haltung zu bestimmen: Man könne Luther nicht künstlich von seiner Zeit loslösen und – durch Auflisten all dessen, was zu Luthers ‚Rekatholisierung‘ beitragen könnte – so tun, als habe es die Spaltung im 16. Jahrhundert nicht gegeben. Aus diesem Grund müsse man die Tatsachen so nehmen, wie sie sind. Historisch gesehen war die erste Tatsache diejenige, dass es neue Kirchen gab, die ein Produkt der Reformation waren und die – nicht weniger als die katholische Kirche – in einer gewissen Lehrtradition standen und über ein bestimmtes Kulturerbe verfügten, das man nicht einfach über Bord werfen konnte. Zugegebenermaßen, so Alberigo, hatte es in Luthers Zeit auch andere Stimmen gegeben, die für Reformen plädierten, aber einzig diejenige des Wittenberger Augustinermönches hatte es fertiggebracht, den Katholizismus gewissermaßen zu einer Selbstreform zu zwingen: „al punto che si può dire oggi che il cattolicesimo moderno sarebbe stato – senza Lutero – completamente diverso e difficilmente migliore“.⁵² Allerdings ist zu sagen, dass der historischen Forschung nur im Rahmen der ökumenischen Begegnung zwischen Katholiken und Protestanten solch ein hoher Stellenwert beigemessen wurde.⁵³ In anderen Kontexten hatte man eine ständige und
Ebd., 448. Diese Einschätzung ist ganz klar im Einklang mit der oben zitierten Beurteilung Lohses (Attualità di Martin Lutero), sowie mit der Stellungnahme Werner Leichs, des Bischofs und Vorsitzenden des Lutherkomitees der Evangelischen Kirchen in der DDR, „Rischiare con Dio“, in: Il RegnoDocumenti, 15, 1983, 472– 473. G. Alberigo, „Cosa rappresenta Lutero nella coscienza cattolica contemporanea“, in: Lutero nel suo e nel nostro tempo. Studi e conferenze per il 5° centenario della nascita di M. Lutero, Turin, 1983, 29 –38, hier: 35. Eine Ausnahme – aber auch hier mit Bezug auf Dialoge mit katholischer Beteiligung – waren die Anmerkungen des jesuitischen Ökumenikers Jos Vercruysse zur gemeinsamen Erklärung der Kirche von Rom und der Mennoniten. Vercruysse beobachtete, dass „una rivisitazione alla luce della storiografia moderna della complessa storia della cosiddetta „ala sinistra della Riforma“ o „Riforma radicale“, che già Lutero aveva indebitamente riunito assieme sotto l’unico termine di Schwärmertum, potrebbe migliorare la reciproca comprensione. Merita una particolare attenzione la proposta di stu-
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wesentlich unkritischere Aktualisierung Luthers im Sinne einer Garantie für das Aufspüren einer Grundlage für die Gemeinschaft zwischen verschiedenen christlichen Konfessionen oder Denominationen bevorzugt – und bevorzugte dies noch immer. Überprüfen konnte man das vor allem anhand des 1984 von Lutheranern und Methodisten unterzeichneten Dokumentes.⁵⁴ Die Internationale anglikanisch/lutherische Kommission hingegen hatte sich für die Lehre, dass die Taufe allein für die Ausübung eines Amtes innerhalb der Kirche nicht genügt, schon früher auf Luther berufen.⁵⁵ Noch aussagekräftiger als dieser Ansatz war die von der Kirche der Siebenten-Tags-Adventisten und vom Lutherischen Weltbund unterzeichnete Erklärung: „Als wir uns 1994 zum ersten Mal trafen, waren wir uns fremd und kamen mit vielen Fragen. 1998 trennten wir uns als Freunde und in gegenseitiger Wertschätzung. Nach wie vor bestehen erhebliche Unterschiede in der Lehre, aber es ist uns auch deutlich geworden, dass uns vieles verbindet: die Liebe zum Wort Gottes, das gemeinsame Erbe der Reformation, eine hohe Wertschätzung für das Werk und die Lehren Martin Luthers“. Letzten Endes konnte man in den Gesprächen klären, dass „Lutheraner und Adventisten die nicht voneinander zu trennenden Grundsätze der Reformation ohne Abstriche vertreten: sola scriptura [allein die Schrift], solus Christus [allein Christus], sola fide [allein durch den Glauben]; sola gratia [allein die Gnade]. Beide Kirchen betrachten sich als Erben der Reformation und als Nachfahren Luthers“.⁵⁶ Protestanten und Orthodoxe indessen hatten sich auf Luthers Kleinen Katechismus berufen und erklärten so, dass man bei der Bibellektüre allein durch die Inspiration des Heiligen Geistes zu einem vollen Verständnis der Schrift gelangen könne:
diare insieme la comune esperienza del martirio“, vgl. den „Kommentar“ zu „Gemeinsam berufen, Friedensstifter zu sein. Bericht über den Internationalen Dialog zwischen der Katholischen Kirche und der Mennonitischen Weltkonferenz, 1998 – 2003“, in: Enchiridion Œcumenicum, Bd. 7, Documenti del dialogo teologico interconfessionale. Dialoghi internazionali, 1995 – 2005, hg.v. G. Cereti undJ. F. Puglisi, Bologna, 2006, 1034. „Die Kirche: Gemeinschaft der Gnade. Bericht der Gemeinsamen Lutherisch/Methodistischen Kommission für die Gespräche 1979 – 1984“, in: Dokumente wachsender Übereinstimmung. Sämtliche Berichte und Konsenstexte interkonfessioneller Gespräche auf Weltebene, Bd. 2, 1982 – 1990, hg. u. eingel. v. H. Meyer, D. Papandreou, H. J. Urban und L. Vischer, Paderborn / Frankfurt a.M., 1992, 231– 257. „Der Diakonat als ökumenische Chance, Hannover-Bericht der Internationalen Anglikanisch/Lutherischen Kommission“ (1995), in: Dokumente wachsender Übereinstimmung. Sämtliche Berichte und Konsenstexte interkonfessioneller Gespräche auf Weltebene, Bd. 3, 1990 – 2001, hg. u. eingel. v. H. Meyer, D. Papandreou, H. J. Urban und L. Vischer, Paderborn / Frankfurt a.M., 2003, 19 – 43. „Bericht über die Gespräche zwischen dem Lutherischen Weltbund und der Kirche der SiebentenTags-Adventisten 1994– 1998“ (1998), in: Dokumente wachsender Übereinstimmung. Sämtliche Berichte und Konsenstexte interkonfessioneller Gespräche auf Weltebene, Bd. 3, 1990 – 2001, hg. u. eingel. v. H. Meyer, D. Papandreou, H. J. Urban und L.Vischer, Paderborn / Frankfurt a.M., 2003, 77– 95, hier: 80; an späterer Stelle wurde betont: „Die Adventisten schätzen die Reformation sehr. Sie verstehen sich als Erben Luthers und anderer Reformatoren, insbesondere deshalb, weil sie an den wichtigen Grundsätzen der Reformation festhalten: sola scriptura, sola gratia, sola fide, solo Christo“, ebd., 89.
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Die Orthodoxen glauben, daß solche authentische Auslegung der Dienst der Kirchenväter ist, wie er besonders in den Entscheidungen der ökumenischen Konzile zum Ausdruck kommt. Lutheraner stimmen im Grundsatz zu. Die lutherischen Bekenntnisschriften versichern, daß niemand an Jesus Christus glauben kann aufgrund seiner eigenen Vernunft oder Fähigkeiten, sondern daß es der Heilige Geist ist, der Gäubige beruft, sammelt, und erleuchtet durch das Evangelium, gleichwie er die ganze Kirche aus Erden beruft, sammelt, erleuchtet und sie bei Jesus Christus in dem einen wahren Glauben festhält (Luther, Kleiner Katechismus).⁵⁷
Die zwischen 1998 und 1999 nach jahrzehntelangen mühsamen (an der ungeklärten Vielschichtigkeit der Schlussversion erkennbaren) Verhandlungen erzielte Übereinstimmung von Katholiken und Lutheranern bezüglich der Rechtfertigung war schon für sich betrachtet von großer Bedeutung. Sie war es aber auch aufgrund der formalen Neubewertung der Rolle Luthers auch außerhalb der lutherischen Kirche.⁵⁸ Das Zeitalter der damnatio memoriae war endgültig Geschichte, aber ebendies stellte die Kirchen erneut vor die Aufgabe, Luther so zu profilieren, dass er in kirchlicher wie theologischer Hinsicht möglichst anschlussfähig sein würde. Die historische Forschung hatte zu dieser Profilschärfung – nicht ohne gelegentlich in die Falle der Naivität oder des Anachronismus zu tappen⁵⁹ – einen wesentlichen Beitrag geleistet; sie hatte es jedoch allem Anschein nach nicht zustande gebracht, die Probleme zu lösen, die nicht historiographischer Natur waren. In der Tat gab es da eine Grenze, die man, wie schon Hubert Jedin bemerkt hatte, nicht ohne Weiteres überschreiten konnte: „dobbiamo esercitare verso Lutero piena giustizia storica, dobbiamo cercare di comprenderlo e possiamo da lui imparare, appropriandoci dei grandi valori che sono contenuti nelle sue opere“. Dem schlesischen Historiker musste indes genauso klar sein, dass es geradezu unmöglich sein würde „integrare tutto Lutero, tutta la sua personalità, tutta la sua teologia nella chiesa cattolica“.⁶⁰ Genauso gewiss war es, dass man für ein neues gemeinsames Verständnis von Luther, das nicht zuletzt durch das näher rückende 500-Jahr-Jubiläum der Reformation angeregt wurde, ehrlich und offen den Weg des ökumenischen Dialoges, auf dem man seit den frühen 60er Jahren schon einige Erfolge erzielt hatte, würde weitergehen müssen. Als Benedikt XVI. musste Ratzinger, vormals Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre, aus diesem Grund die Gleichsetzung von Reformation und Moderne, von der er stets angenommen hatte, sie sei zum Scheitern verurteilt, aufgeben und stattdessen eingestehen, dass zum
Gemeinsame lutherisch-orthodoxe Kommission, „Kanon und Inspiration der Heiligen Schrift“ (1989), in: Dokumente wachsender Übereinstimmung. Sämtliche Berichte und Konsenstexte interkonfessioneller Gespräche auf Weltebene, Bd. 2, 1982 – 1990, hg. u. eingel. v. H. Meyer, D. Papandreou, H. J. Urban und L. Vischer, Paderborn / Frankfurt a.M., 1992, 266 – 271. Den Text siehe online unter: http://www.vatican.va/roman_curia/pontifical_councils/chrstuni/ documents/rc_pc_chrstuni_doc_31101999_cath-luth-joint-declaration_ge.html (27.05. 2017). Man denke nur daran, mit welchem Nachdruck man in jüngerer Zeit den lutherischen Antisemitismus rekonstruiert hat, der unmittelbar nach der 400-Jahr-Feier des Beginns der Reformation eine ganz andere Bedeutung gehabt hatte; vgl. hierzu T. Kaufmann, Luthers Juden, Ditzingen, 2016. Jedin, „Mutamenti della interpretazione Cattolica“, 370.
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Mindesten Luthers Fragen sachgemäß waren.⁶¹ Demgegenüber erkannte man evangelischerseits die Notwendigkeit, hinsichtlich all der inakzeptablen Seiten des Wittenberger Reformators immer wieder neu das mea culpa zu sprechen.⁶² Bei all dem wurde dennoch immer deutlicher, dass Luther aus ökumenischer Sicht, wie zu Beginn erwähnt, ein Stolperstein war – und wohl auch dazu bestimmt war, einer zu bleiben: In gewisser Weise hat sich jenes „Hier stehe ich“, das Luther angeblich in Worms gesagt haben soll, in die permanente Herausforderung für Christen nachfolgender Generationen verwandelt, den Reformator zu verstehen. Die ökumenische Bewegung hat diese Herausforderung mehr oder weniger bewusst angenommen und ist mehr oder weniger zweckmäßig damit umgegangen. Es ist eine Herausforderung, die bisweilen in dem Sinne missverstanden wurde, dass man sich mehr mit den Theologien der verschiedenen christlichen Konfessionen als mit den Theologien der jeweiligen Reformatoren auseinandergesetzt hat. Oder aber man hat die Herausforderung als einen nie endenden Prozess angesehen.⁶³ Je mehr Zeit ver-
Vgl. Begegnung mit Vertretern des Rats der Evangelischen Kirche in Deutschland. Ansprache von Papst Benedikt XVI, 23. September 2011 (https://w2.vatican.va/content/benedict-xvi/de/speeches/2011/ september/documents/hf_ben-xvi_spe_20110923_evangelical-church-erfurt.html, 26. März 2017). Papst Bergoglio fährt in Ratzingers Kielwasser, wenn er es für „grundlegend [hält], dass die katholische Kirche mutig eine aufmerksame und ehrliche Neubewertung der Absichten der Reformation und der Person Martin Luthers unternimmt, und zwar vor dem Hintergrund der „Ecclesia semper reformanda“, der immer zu erneuernden Kirche, auf der großen Spur, welche das Konzil gelegt hat, wie auch so vieler Männer und Frauen, die vom Licht und der Kraft des Heiligen Geistes beseelt sind“, Besuch der Evangelisch-lutherischen Kirche in Rom. Ansprache von Papst Franziskus, 15. November 2015 (https:// w2.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2015/november/documents/papa-francesco_20151115_chiesa-evangelica-luterana.html, 26. März 2017). „Bei dieser Gelegenheit werden Lutheraner auch an die gehässigen und herabsetzenden Äußerungen Luthers über die Juden erinnern. Sie schämen sich dafür und verurteilen sie zutiefst. Mit einem tiefen Gefühl des Bedauerns sind sich Lutheraner der Tatsache bewusst geworden, dass lutherische Obrigkeiten Täufer verfolgt haben und dass diese Verfolgung durch Martin Luther und Philipp Melanchthon theologisch befürwortet wurde. Sie beklagen Luthers heftige Angriffe gegen die Bauern während des Bauernkriegs. Das Bewusstsein der dunklen Seiten Luthers und der Reformation hat lutherische Theologen zu einer kritischen und selbstkritischen Haltung gegenüber Luther und der Wittenberger Reformation veranlasst. Auch wenn sie teilweise der Kritik Luthers am Papsttum zustimmen, so lehnen Lutheraner heute dennoch Luthers Gleichsetzung des Papstes mit dem Antichrist ab“, Internationale Lutherisch/Römisch-katholische Kommission für die Einheit und für die Gemeinsame Reformationsgedenkfeier im Jahr 2017, Vom Konflikt zur Gemeinschaft, 2013, 90 – 91. Beispielhaft sind die Worte von Papst Franziskus, der in einer Stegreifrede erklärte, er glaube, „dass die Absichten Martin Luthers nicht falsch waren: Er war ein Reformer. Vielleicht waren einige Methoden nicht die richtigen, aber in jener Zeit […] sehen wir, dass die Kirche wirklich kein nachahmenswertes Vorbild war: Es gab Korruption in der Kirche, es gab Weltlichkeit, Anhänglichkeit ans Geld und an die Macht. Dagegen hat er protestiert. Außerdem war er intelligent; er hat einen Schritt vorwärts getan und sich für sein Tun gerechtfertigt. Und heute sind wir – Lutheraner und Katholiken, mit allen Protestanten – einig über die Rechtfertigungslehre: In diesem so wichtigen Punkt hatte er sich nicht geirrt. […] Heute besteht ein sehr guter Dialog, und dieses Dokument über die Rechtfertigung ist, meine ich, eines der reichsten und tiefsten ökumenischen Dokumente. […] Es gibt Spaltungen, aber die hängen auch von den Kirchen ab. […] Die Verschiedenheit ist das, was wohl uns allen viel geschadet
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strich, desto mehr wurde man sich des Mutes bewusst, der in Willebrands Aussagen von 1970 über Luther als „gemeinsamem Lehrer“ steckte. Niemandem war wohl die Anspielung auf die Parallele zum „doctor communis“ par excellence, also zu Thomas von Aquin, entgangen. Dieser Mut, den der niederländische Kardinal an den Tag legte, sucht, zumindest in seiner äußeren Form, noch immer Nachfolger seinesgleichen.
hat, und heute versuchen wir, den Weg wieder aufzunehmen, um uns nach fünfhundert Jahren zu begegnen. […] Und die Theologen sollen gemeinsam studieren und suchen … Aber das ist ein langer Weg, ein sehr langer… Einmal habe ich im Scherz gesagt: „Ich weiß, wann der Tag der vollkommenen Einheit sein wird.“ – „Wann?“ – „Der Tag nach der Wiederkunft des Menschensohns!“. Denn man weiß es nicht… Der Heilige Geist wird diese Gnade bewirken.“, Pressekonferenz des Heiligen Vaters auf dem Rückflug von Armenien, 26. Juni 2016 (https://w2.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2016/june/documents/papa-francesco_20160626_armenia-conferenza-stampa.html, 26. März 2017).
Rezeption in Philosophie und Geschichte
Balthasar Permoser, Statue von Augustinus von Hippo, Marmor, 17. Jh. (INTERFOTO / Alamy Stock Photo)
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Luther und die Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts 1 Was die Philosophie Luther schuldet Wir wissen gar nicht, […] was wir Luthern und der Reformation im Allgemeinen alles zu danken haben. Wir sind frei geworden von den Fesseln geistiger Borniertheit, wir sind infolge unserer fortwachsenden Kultur fähig geworden, zur Quelle zurückzukehren und das Christentum in seiner Reinheit zu fassen.Wir haben wieder den Mut mit festen Füßen auf Gottes Erde zu stehen und uns in unserer gottbegabten Menschennatur zu fühlen.¹
Mit diesen Worten erkannte Goethe an, wie viel die moderne Kultur, insbesondere die deutsche, der von Luther drei Jahrhunderte vorher vollzogenen geistigen Revolution schuldete. Ihr war es zu verdanken, dass sich dem Menschen neue und weite Horizonte auftaten und dass er zu einer Sicherheit gelangen konnte, die bis dahin unvorstellbar erschien. Diese Anerkennung gilt für die deutsche Kultur im weitesten Sinne und ebenso für die Philosophie. Mindestens bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgte in Deutschland die intellektuelle Reifung derjenigen, die wir heute als „Philosophen“ ohne weitere Attribute anerkennen, mittels einer soliden theologischen Ausbildung, meistens im Bereich der lutherischen Konfession. Man kann sogar behaupten, dass mehrere von ihnen, von den ersten persönlichen Erfahrungen an, in einem von Luthertum durchtränkten Umfeld lebten. Einige waren Pastoren (das ist der Fall von Schleiermacher) oder hatten vor es zu werden (Fichte und außerhalb Deutschlands Kierkegaard) oder waren Söhne von protestantischen Pastoren (Hegel, Schelling war der Sohn eines protestantischen Diakons). In Nietzsches Familie gab es mehr als einen Pastoren, angefangen von seinem Vater. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts konnte er sagen: „Unter Deutschen versteht man sofort, wenn ich sage, daß die Philosophie durch Theologen-Blut verderbt ist. Der protestantische Pfarrer ist der Großvater der deutschen Philosophie,…“.² Sogar die Sprache der Philosophie, nach der Systematisierung Wolffs im 18. Jahrhundert, verdankte Luther viel, denn sie war eine Tochter der deutschen Bibelübersetzung, die der Reformator 1534 beendet hatte. Bei seiner Durchsetzung in der
Übersetzung: Fried Rosenstock. J. P. Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, dritter Theil, Magdeburg 1848, 372– 373 (11. März 1832). F. Nietzsche, Der Antichrist, in Friedrich Nietzsche. Kritische Studienausgabe, hrsg. v. G. Colli und M. Montinari, Bd. 6, München/Berlin/New York 1999, 176. https://doi.org/9783110498745-051
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Philosophie behielt das Deutsche, dem auch heute noch einige Gelehrte eine Art Primat auf dem Gebiet der Spekulation zuerkennen, einen guten Teil jenes theologisch-lutheranischen „Blutes“, das dem „Antichrist“ Nietzsche so sehr missfiel. Um nur ein Beispiel zu nennen, grundlegende Begriffe aus der Systematik Hegels wie das Wort Geist, tragen in sich eine jahrhundertealte Bedeutung religiöser Art, was auch heute noch große Probleme mit sich bringt, wenn man die Seiten des Philosophen interpretieren möchte, die sich mit der christlichen Tradition auseinandersetzen. Schon diese oberflächlichen Betrachtungen geben uns zu verstehen, dass das Problem der Gegenwart Luthers in der Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts jenseits der Zitate mit dem Namen des Reformators liegt, wie sie in den Texten der Philosophen auftauchen. Neben jenen, die sich mit spezifischen Themen der Spekulation auseinandersetzen und erklärtermaßen die Texte Luthers in Betracht ziehen, gibt es Denker, bei denen es schwierig ist, auf eindeutige Weise zwischen Theologie und Philosophie zu unterscheiden. Man denke zum Beispiel an Schleiermacher, der die Geschichte des Protestantismus so stark bestimmt hat, dass einige behaupten, er habe eine neue Phase des Protestantismus eingeleitet. Jene Philosophen, für welche die Geschichte Fortschritt mit sich bringt oder zumindest einen bedeutenden Widerhall in der zeitgenössischen Kultur hinterlässt, bleibt das Problem, die Figur und das Werk des Reformators in der allgemeinen intellektuellen und politischen Entwicklung des Okzidents zu bewerten. Daher findet man bei deutschsprachigen Denkern, oftmals unter dem Antrieb politischer Besorgnis, einen Luther, der die Moderne vorangebracht hat. Bei Denkern aus der katholischen Welt, meistens von außerhalb Deutschlands, einen Luther mit der finsteren Aura des wahren Zerstörers der spirituellen Einheit Europas, in der Substanz ein Antichrist, der die Voraussetzungen für die modernen Immanenzphilosophien geschaffen hat.
2 Luther im deutschen Idealismus: Von Fichte bis Hegel Die Figur Luthers nimmt in den großen Entwürfen der Philosophie des klassischen deutschen Idealismus eine zentrale Position ein, vor allem bei Johann Gottlieb Fichte (1762– 1814) und bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831). Die Vorbehalte Fichtes³ zur Person Luthers gehen auf die Vorliebe des Philosophen für das Johannesevangelium zurück, damit erklärt sich seine Schwierigkeit, den Wert jener Aspekte der Reformation anzuerkennen, die sich erstrangig auf die Lehre des Apostels Paulus beziehen. Auch das Prinzip Sola scriptura und die Übersetzung der Bibel ins Deutsche werden von Fichte nicht mit Wohlwollen betrachtet, fast als sehe er darin den Vorrang des Buchstabens über den Geist und die Gefahr der Vermassung des Christentums. Man siehe J.G. Fichte, Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1906), in Fichte-Gesamtausgabe, I, 8; Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, Lektion VII.
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Aber abgesehen davon erkannte Fichte in Luther einen Wegbereiter der Freiheit, zur reinen Lehre Christi zurückzukehren, seinen würdigen Nachfolger sollte er in Immanuel Kant finden. Noch unter dem Einfluss der Aufklärung und der Strahlkraft der französischen Revolution erkannte Fichte mit der Ausdrucksweise eines Rousseaus an, dass der Reformator dazu beigetragen habe „die Fesseln der Menschheit“⁴ zu sprengen. Die Freiheit, so erklärte es Fichte, stammt vom Protestantismus ab, der wahre Philosoph ist ein Protestant, weil er ein Freidenker ist. Diese Gedankenfreiheit bedeutet nicht die Überwindung oder Auslöschung des Glaubens, sondern seine bewusste und undogmatische Annahme. Die Tatsache, dass „die Reformatoren die erklärtesten Freigeister“⁵ waren bedeutet nicht, dass die Vernunft alles ablehnt was Glauben ist, sondern dass sie ihm nicht kritiklos gegenübertritt. Der Bezug zur Reformation wird enger, während Fichte die Problematik der Geschichte vertieft, also wenn er versucht, ein transzendentales und religiöses Konzept der Zukunft aufzubauen, welches unter anderem auch dazu dient, die befreiende Funktion Luthers hervorzuheben. In seinen Reden an die deutsche Nation spielt die Reformation eine entscheidende Rolle, ihr Haupterbe besteht laut Fichte in der „Freiheit der Kinder Gottes, welche die Seligkeit gewiß nicht mehr außer sich und jenseit des Grabes suchten, sondern der Ausbruch des unmittelbaren Gefühls derselben waren. Er (Luther) ist hierin das Vorbild aller künftigen Zeitalter geworden und hat (dies) für uns alle vollendet“.⁶ Der Reformator wird auf diesen Seiten Fichtes als der Anführer der deutschen Nation dargestellt, „ein Beleg von deutschem Ernst und Gemüth“ und gleichzeitig im Absoluten verankert, er war „durch das Ewige begeistert“⁷ und konnte deshalb für seine Volksgenossen die Rolle des „Anführers“ einnehmen. Die Notwendigkeit spiritueller Erneuerung fiel in die religiöse Seele mit einer Determiniertheit, wie sie dem Geist der Renaissance und des Humanismus unbekannt war, sie übertrug sich auf ein ganzes Volk. Man beachte, dass diese Reden 1807– 1808 in Berlin gehalten wurden, während der napoleonischen Besatzung. Man muss außerdem diese Bemerkungen Fichtes über den „deutschen Luther“ als einen Beitrag Deutschlands zur allgemeinen Erneuerung des europäischen Geistes sehen. Das ändert nichts daran, dass diese Seiten auch aus dem engen nationalistischen Blickwinkel gelesen wurden, besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als mit der Einigung Deutschlands der Reformator in vorwiegend deutscher Lesart gesehen wird, bespielhaft dafür stellte ihn Heinrich von Treitschke 1883 als „den Führer der Nation“ vor.⁸
J.G. Fichte, Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die französische Revolution (1793), in Fichte-Gesamtausgabe, I, 1; Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, 255. Vgl. ebd., 292. J.G. Fichte, Reden an die deutsche Nation (1808), in Fichte-Gesamtausgabe, I, 10; Stuttgart-Bad Cannstatt, 1964, 175. Ebd., 173. H. von Treitschke, Luther und die deutsche Nation, Berlin 1883, 5.
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Große Bedeutung nimmt Luther auch in den Schriften Hegels ein. Ein berühmter Passus aus der Vorrede zu Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts fasst wirkungsvoll die Haltung zusammen, die Hegel gegenüber dem Reformator einnahm: Es ist ein großer Eigensinn, der Eigensinn, der dem Menschen Ehre macht, nichts in der Gesinnung anerkennen zu wollen, was nicht durch den Gedanken gerechtfertigt ist, – und dieser Eigensinn ist das Charakteristische der neueren Zeit, ohnehin das eigentümliche Prinzip des Protestantismus. Was Luther als Glauben im Gefühl und im Zeugnis des Geistes begonnen, es ist dasselbe, was der weiterhin gereifte Geist im Begriffe zu fassen und so in der Gegenwart sich zu befreien und dadurch in ihr sich zu finden bestrebt ist.⁹
Schon in diesem Zitat zu Luther zeigen sich gleichzeitig die Größe (der „Eigensinn“ der „neueren Zeit“) und die Grenzen (seiner Zeit, „der weiterhin gereifte Geist“), welche nur die Philosophie Hegels zu überwinden beanspruchte. Diese Ambivalenz spiegelt übrigens auch die allgemeinere, problematische Haltung Hegels gegenüber dem Christentum wider. In den philosophisch-historischen und historisch-philosophischen Werken Hegels erscheint die Reformation als „die alles verklärende Sonne“, eine Bewegung, die den angespornten Geist in die neue Zeit führt, wobei er, um mit einem märchenhaften, von Hegel geliebten Bild zu sprechen, die „Siebenmeilenstiefel“ trug.¹⁰ Luther ist der Held und Protagonist dieser Wende. Luthers Werke dürfen laut Hegel nicht mit dem Blick in die Vergangenheit gelesen werden, auf der Suche nach einer reinen Religiosität, die mit der Botschaft des frühen Christentums übereinstimmt. Luther ist für Hegel eines jener „Individuen der Weltgeschichte“, „Geschäftsführer des Weltgeistes“¹¹, die mit ihrem Werk die Geschichte auf einen Schlag weiterbringen, auf dem Weg zu einem Leben in höheren spirituellen Formen. In den Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte äußert Hegel, dass das Christentum in der christlich-deutschen Welt mit dem Auftreten Luthers seinen Höhepunkt erreichte. Luther ist vor allem derjenige, der die Äußerlichkeit der mittelalterlichen Kirche überwand, mit welcher Gott ein vollkommen von der Welt getrenntes Wesen war. Ausgehend von dieser Voraussetzung verfiel die Religion in Aberglauben, unterwürfig gegenüber der Obrigkeit, Sonderwege suchend, Wunderglaube, Verzicht. Aber was die Kirche bis dahin außerhalb von sich selbst gesucht hatte – das Heilige Grab der Kreuzfahrer – entdeckte ein „einfacher Mönch“ im Geist, in der Subjektivität. Die Werke werden durch den Glauben ersetzt, wie Hegel schreibt:
G.W.F Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820), in Werke in zwanzig Bänden, Bd. 7, Frankfurt a.M. 1970, 27. Vgl. G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in Werke in zwanzig Bänden, Bd. 12, Frankfurt a.M. 1970, 491; ebd., Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in Werke in zwanzig Bänden, Bd. 20, Frankfurt a.M. 1971, 62. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, zit., 46.
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Er ist überhaupt nicht Glauben an Abwesendes, Geschehenes und Vergangenes, sondern die subjektive Gewissheit des Ewigen, der an und für sich seienden Wahrheit, der Wahrheit von Gott. […] Christus sei also nicht bloß als historische Person zu nehmen, sondern der Mensch habe zu ihm ein unmittelbares Verhältnis im Geiste. ¹²
Hegel schildert die wichtigsten Momente der Revolution Luthers (Abschaffung des Zölibats, Abendmahlslehre) unter dem Zeichen der Überwindung von Äußerlichkeiten, hin zu einer erneuerten „Versöhnung“ mit der Wirklichkeit, welche sich letztlich in die Öffnung gegenüber der moralischen Dimension der historischen Institutionen verwandelt. Aber wenn die lutherische Glaubensauffassung „die Hauptrevolution“ auslöst, so bleibt diese andererseits „im Kerne“.¹³ Der Glaube – erklärt Hegel – besitzt in der Darstellungsform denselben Inhalt, den die Philosophie im vollendeten Gedanken entwickelt. Das spekulative Wissen dringt bis zur „philosophischen Erkenntnis der Wahrheit“ vor, zur „Wahrheit darin als Warheit, d.i. in der Form der Wahrheit, in der Form des absolut Konkreten“.¹⁴ Nur mit der Philosophie, laut Hegel, erreicht man die volle Fähigkeit, die Wirklichkeit als rationales Werden zu erkennen, als wahre Freiheit, die sich als historische Versöhnung in der konkreten Dimension des Staates zeigt. Deren Vermittlung findet nicht mehr im Seeleninneren des Gläubigen statt, wie es Luther wollte, sondern in jedem Augenblick des immanenten historischen Prozesses.
3 Luther als Vorläufer Feuerbachs Es scheint, dass Ludwig Feuerbach sich im Scherz als „Luther II.“ definierte, so groß war die Bedeutung, die in seinen Augen der Reformator einnahm. Das mag überraschen, wenn man an die Zersetzung der Religion und insbesondere des Christentums denkt, die der Philosoph als seine Aufgabe betrachtete. Luthers Thesen, die Gott und den Menschen als radikalen Gegensatz sehen und die Parteinahme Luthers, der sich bedingungslos auf die Seite Gottes gegen den sündigen Menschen stellt, scheinen auf den ersten Blick die Möglichkeit auszuschließen, noch den Nachweis erbringen zu können, dass die Attribute Gottes in Wirklichkeit menschlich sind. Doch in Wirklichkeit, schon mit seinem Meisterwerk Das Wesen des Christentums, aber auf noch expliziterer Weise in Das Wesen des Glaubens im Sinne Luther’s, verwendet Feuerbach mit großem Geschick und mit Kompetenz die Worte Luthers, um die eigenen Thesen zu bestätigen, die sich folgendermaßen zusammenfassen lassen: „Die Religion ist die Reflexion, die Spiegelung des menschlichen Wesens in sich selbst“. Die Verneinung
Vgl. ebd. 494, 495. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, zit., 49 – 50. G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, hrsg. von W. Jaeschke, Hamburg 1983, Teil 1, 143, 159.
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Gottes, laut Feuerbach, bedeutet nicht die Verneinung der Prädikate, die ihm der Mensch zuschreibt. Das Objekt des Glaubens kommt zu Fall, aber seine Bedeutung, die in uns ist, geht nicht verloren. Gott spielt keine Rolle, sondern die Tatsache, dass er unser Gott ist, dass er ein derartiger für uns sei. In diesem Sinne ist Gott „der Spiegel des Menschen“,¹⁵ und fährt fort es zu sein, auch nachdem Gott als Objekt verschwindet. Feuerbach gewinnt seine materialistische und humanistische Anthropologie aus Luther. Der Bruch Luthers mit der Tradition bestand aus der Sicht des Philosophen nicht darin, dass er ein neues Objekt für seinen Glauben gefunden hatte, sondern dass er einen dem Katholizismus unbekannten Aspekt hervorgehoben hatte. Der Katholizismus blieb „an die bloße Tatsache, an den Gegenstand für sich selbst hielten“ verhaftet, also einem Gott als wirklichem Objekt. Luther entdeckte dagegen, dass Gott „für uns Menschen“ existiert, für unsere Rettung. Auf diese Weise verlagert sich die wahre Bedeutung des Glaubens ins Innere des Menschen: „Nicht daß Christus Christus, daß er Dir Christus, nicht daß er geboren, daß er gelitten, daß er Dir geboren, Dir gelitten – Das ist die Hauptsache“.¹⁶ Das Schrifttum Luthers enthält einen radikal neuen Geist, potentiell zerstörerisch für die Religion. Daher kann Feuerbach seine Thesen entwickeln, indem er sie „mit Luthers eignen Worten“ ausdrückt.¹⁷ Während er Luther als Entlastungszeugen aufruft und eine eindrucksvolle Masse von Lutherzitaten vorstellt, folgt der Philosoph bis zum Ende jener Straße, die Luther als erster eingeschlagen hatte. Unter dieser Perspektive steht die lutheranische Christologie im Zentrum der Aufmerksamkeit Feuerbachs. Der Gott seiende Christus wird Fleisch und erscheint als Mensch, das ist der Angelpunkt der lutherschen Theologie, welche Feuerbach in Anthropologie weiterentwickelt. Gott ist für uns ein Wesen und das verwandelt ihn in eine Wirklichkeit mit menschlichen Attributen. Die Fleischwerdung weist darauf hin, dass Gott sich als wahrnehmbare Wirklichkeit manifestiert. „Gott ist im Christentum aus einem Gedankenwesen ein sinnliches Wesen geworden.“ Luther wird dazu aufgerufen, Feuerbachs Christologie zu bestätigen, die in Christus nichts weiter sieht als die „Menschlichkeit Gottes“¹⁸ und folglich seine Empfindsamkeit. Die Radikalität der Erlösungs- und Kreuzestheologie Luthers enthält die Materialisierung Gottes: „Der wahre Gott, der wahre Gegenstand des lutherischen, überhaupt christlichen, Glaubens ist nur Christus, und zwar nur deßwegen, weil sich in ihm nicht mehr ein Christus an sich von dem Christus für uns unterscheiden läßt, …“¹⁹
L. Feuerbach, Das Wesen der Christentum (1841), in Sämtliche Werke, Bd. 6, Stuttgart-Bad Cannstatt 1960, 70. L. Feuerbach, Das Wesen des Glaubens im Sinne Luther’s. Ein Beitrag zum „Wesen der Christentum“, Leipzig 1844, 15, 16. Vgl. ebd., 17. Vgl. ebd, 33, 34. Ebd., 57.
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Die erste Inspiration von Feuerbachs Philosophie ist also bereits in Luther enthalten, die Reduzierung der Theologie zur Anthropologie ist tatsächlich in dessen Glaubenskonzept vorhanden, wenn auch ihre extremen Konsequenzen verborgen bleiben. In diesem Sinne repräsentieren das Wesen des Christentums und der darauf folgende Text über Luther die Vollendung dessen, was bereits in den Gedankengängen des Reformators vorhanden war, auch wenn dieser nicht den Mut dazu hatte, es zu äußern. Im Entfernungsprozess von Glaube und Theologie hin zur Entdeckung des wahren menschlichen Wesens der Religion ist Luther kein Objekt der Polemik, sondern Feuerbachs Leitbild.
4 Luther und das revolutionäre Denken Feuerbach blieb fest davon überzeugt – dabei gründete er sich auf ein Grundschema hegelscher Art – dass Luther der Schöpfer des modernen Zeitalters war. Der feuerbachsche Humanismus sah seine Vorläufer nicht innerhalb der explizit materialistischen Strömungen des 18. Jahrhunderts (Paul Henry Thiry d’Holbach, Julien Offray de La Mettrie): „Der deutsche Materialismus hat einen religiösen Ursprung; er beginnt mit der Reformation“.²⁰ Luther ist also der wahre Vater des humanistischen Atheismus. Diese Spur verfolgten auch diejenigen, welche gewöhnlich als „Junghegelianer“ oder „Linkshegelianer“ definiert werden. Wie Feuerbach, der Luther an den Beginn eines emanzipatorischen Prozesses stellte, welcher zum humanistischen Materialismus führen sollte, verfolgten die radikalen Intellektuellen eine Linie, die von Luther zu Hegel und jenseits von Hegel führte. Die Geschichte dieser theoretischen Revolution stimmte mit der immer eindeutiger werdenden Emanzipation der Transzendenz überein. Die Reformation Luthers war der erste Schritt zur Befreiung des Menschen von der Unterordnung. Folgendermaßen drückte es Heinrich Heine aus: Ruhm dem Luther! Ewiger Ruhm dem teuern Manne, dem wir die Rettung unserer edelsten Güter verdanken, und von dessen Wohltaten wir noch heute leben! […] Indem Luther den Satz aussprach, daß man seine Lehre nur durch die Bibel selber, oder durch vernünftige Gründe, widerlegen müsse, war der menschlichen Vernunft das Recht eingeräumt die Bibel zu erklären und sie, die Vernunft, war als oberste Richterin in allen religiösen Streitfragen anerkannt. Dadurch entstand in Deutschland die sogenannte Geistesfreiheit, oder, wie man sie ebenfalls nennt, die Denkfreiheit.²¹
Diese Worte sind ein Beispiel für die historische Bedeutung, die Luther in dem Umkreis hatte, in dem der junge Karl Marx seine Bildung empfing. Bereits in einem kurzen Artikel von 1843 äußerte sich Marx zu einer Diskussion über das Wunder, deren Vgl. L. Feuerbach, Über Spiritualismus und Materialismus, in Sämtliche Werke, Bd 10, Schriften zur Ethik und nachgelassene Aphorismen, hrsg. von F. Jodl, Stuttgart 1960, 155 – 156. H. Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, in Heinrich Heine’s Gesammelte Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von G. Karpeles, Berlin 1887, 67, 69 – 70.
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Hauptkontrahenten in der frühen vierziger Jahren David Friedrich Strauß (Verfasser eines revolutionären und viel diskutierten Leben Jesu) und Feuerbach waren. Indem er nachwies, dass er den Ansatz des letzteren zu seinem eigenen gemacht hatte, verteidigte Marx die reduzierenden Thesen Feuerbachs mit einem langen Zitat aus Luthers Kommentar zum Lukasevangelium. Die Worte Luthers enthüllen sich als nichts Geringeres, als eine „Apologie der ganzen Feuerbachschen Schrift [das Wesen des Christentums] – eine Apologie von den Definitionen der Vorsehung, Allmacht, Kreation, des Wunders, des Glaubens, wie sie in dieser Schrift gegeben sind“.²² Ein Jahr später veröffentlichte Marx in den Deutsch-Französischen Jahrbücher die Einführung in eine Kritik der Rechtsphilosophie Hegels. Der Philosoph stellte sich das Problem für die Bedingungen einer praktischen und materiellen Revolution in Deutschland – „…einer Revolution, die es nicht nur auf das offizielle Niveau der modernen Völker erhebt, sondern auf die menschliche Höhe, welche die nächste Zukunft dieser Völker sein wird“.²³ In diesem Zusammenhang war Luther das Beispiel für einen typischen Aspekt des deutschen Charakters, den Marx im zeitgenössischen kulturellen Kontext wiederfand. Seine praktische Besorgnis brachte ihn dazu anzuprangern, dass die lutherische Revolution rein theoretische und abstrakt kritische Folgen hatte, entsprechend eines Urteils, das auch die anschließende philosophische Revolution Hegels und seiner Nachfolger betraf: Selbst historisch hat die theoretische Emanzipation eine spezifisch praktische Bedeutung für Deutschland. Deutschlands revolutionäre Vergangenheit ist nämlich theoretisch, es ist die Reformation. Wie damals der Mönch, so ist es jetzt der Philosoph, in dessen Hirn die Revolution beginnt.²⁴
Die reine Theorie der lutherischen Revolution bestand für ihn in der Tatsache, dass dieser „den Menschen von der äußerlichen Religiosität befreit, weil er die Religiosität zum inneren Menschen gemacht hat. Er hat den Leib von der Kette emanzipiert, weil er das Herz an die Kette gelegt.“²⁵ Jene Bewegung der Verinnerlichung des Glaubens, welche die Philosophen der Aufklärung zu schätzen wussten, wurde von dem revolutionären Denker anerkannt, welcher gleichzeitig aber auch deren praktische Begrenztheit kritisierte. Die Aufmerksamkeit, die Marx dem Vater der Reformation widmete, war außerdem eng mit dem historischen Ereignis der Bauernkriege verbunden, die in Süddeutschland 1525 – 1526 aufflammten. Marx sprach davon als „der radikalsten Tatsache der deutschen Geschichte“, für ihn lag der Grund des Scheiterns in dem religiösen Kein Berliner [K. Marx], Luther als Schiedsrichter zwischen Strauß und Feuerbach (1842) in K. Marx, F. Engels, Werke, Bd. 1, Berlin 1964, 26 – 27; es ist anzumerken, dass nicht alle Historiker einverstanden sind, diesen Artikel Marx zuzuschreiben (manche denken an Feuerbach). K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechts-Philosophie. Einleitung (1844), in Marx, Engels, Werke, Bd. 1, zit., 385 – 386. Ebd., 385, 386. Ebd., 386.
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Geist der Aufständischen – der Bauernkrieg „scheiterte […] an der Theologie“. Die Untersuchung des Bauernkrieges wurde von Marx’ Freund und Mitarbeiter Friedrich Engels fortgesetzt,²⁶ dieser erklärte sie aus den historischen Bedingungen Deutschlands im 16. Jahrhundert. Die sozialen Formen, die Produktionsbedingungen und die Besonderheiten der industriellen Entwicklung, der Landwirtschaft und des Handels waren für das Misslingen jener Revolution entscheidend. In der Darstellung Engels nimmt die Figur Luthers eine herausragende Position im Gegensatz zum „plebejischen Revolutionär“ Thomas Müntzer ein, dem Theologen und Anführer einer Bewegung, die ganz offen kommunistische Bestrebungen ausdrückte. Der Gegensatz zwischen Luther und Müntzer erlaubte Engels Konflikte seiner Zeit vorwegzunehmen: „Luther und Münzer repräsentieren nach ihrer Doktrin wie nach ihrem Charakter und ihrem Auftreten jeder seine Partei vollständig“.²⁷ Luther war Anführer und Ausdruck der bürgerlichen Partei, führte eine Bewegung an, die sich zunächst als progressiv und von revolutionärem Geist beseelt zeigte, die dann aber, wie es für die „bürgerlichen Reformatoren“ typisch ist, auf Positionen im Gegensatz zur Bewegung der unteren Klassen zurückfiel und sich der Politik der Fürsten unterordnete. Für die Interpretation der Bauernaufstände im 16. Jahrhundert hatten die Thesen Engels lange Zeit als Ausdruck der marxistischen Orthodoxie Gültigkeit, auch für die Gegensätze zwischen Luther und Müntzer. Sie sollten erst 1921 in einem Buch von Ernst Bloch Thomas Münzer als Theologe der Revolution erneut zur Diskussion gestellt werden. Blochs Aufmerksamkeit galt vor allem dem „Theologen der Revolution“, doch auch Luther spielt in dem Bericht als totaler Antagonist Müntzers eine entscheidende Rolle. Bloch entwickelte hier eine exzentrische Idee vom Kommunismus, der als Quelle seines vitalen Impulses die religiöse Inspiration anerkennt. Die chiliastische Tradition erlaubte es Bloch, ein Subjekt ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu stellen, das nicht nach ökonomischen Kategorien determiniert werden konnte, sondern von einem revolutionären, utopisch-religiösen Antrieb erfüllt war, von einer „Schwärmerei“, die sich nicht auf ökonomische Elemente reduzieren ließ. Blochs Werk gründete sich bestimmt nicht auf Bedenken gelehrter oder geschichtswissenschaftlicher Art, aber mit Sicherheit wird die Figur des Reformators auf diesen Seiten drastisch abgewertet. Wenn Müntzer der Held war, der unerschrockene apokalyptische Revolutionär, der „das Schwert Gideons“ ergreift, erfüllt vom „Geist der Utopie“, so ist Luther ganz das Gegenteil, der Vertreter einer Glaubensauffassung, die den Menschen vom Wunsch nach Veränderung entleert und in politischen Stellungen versanden lässt, die sich der bestehenden Autorität andienen. So schrieb Bloch: „Die lutherischen Schmachbücher haben die Gemeinde scheu, aber die Schinder aufs allerfrechste gemacht“.²⁸ Der im Buch Blochs beschriebene Luther handelt auf Schleichwegen, zeigt sich zögerlich, widersprüchlich, neutral, kühl und
F. Engels, Der deutsche Bauernkrieg (1850), in K. Marx, F. Engels, Werke, Bd. 7, Berlin 1964, 347, 351. Ebd., 347. E. Bloch, Thomas Münzer als Theologe der Revolution, München 1921, 52.
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vorsichtig. Der „revolutionäre Donner“,²⁹ mit dem er seine religiöse Revolution eingeleitet hatte, vergeht sehr bald, die apokalyptische und mystische Vision der Anfänge wird erstickt, der „Apostel des Anfangs“ wird „zum Judas des Endes“.³⁰ „Luthers Staatsvergötzung“, seine politische Mäßigung, seine Parteinahme für die Herren gegen die revolutionären Bauern findet laut Bloch eine Rechtfertigung im Kern der lutherischen Theologie. Die Aberkennung der Möglichkeit für gute Werke belohnt zu werden, wie sie durch die Ablehnung der „strohernen Epistel“ des Jakobus verdeutlicht wird, schafft eine „müdeste“ und „schroffste Verzweiflung“;³¹ die starre Lehre von der Erbsünde verdammt den Menschen dazu, Fehler zu machen und löscht den revolutionären Drang aus. Luther ist ein Konterrevolutionär, weil er „die menschliche Freiheit in jeglicher Gestalt dermaßen verleumdet und verneint“.³² Damit tötet er die Hoffnung, lässt alle Utopien vergehen, entkräftet die Bemühungen um Veränderung, demütigt den Einzelnen und verhindert jede Möglichkeit des Kampfes.
5 Der lutherische Pessimismus und Schopenhauer Arthur Schopenhauer zeigte in einem kürzeren Werk, das dem Problem des freien Willens gewidmet ist, ein spezielles Interesse an Luther. Was ihn an dem Reformator interessierte, war vor allem die entschiedene Verneinung des freien Willens. Unter den „Vorläufern“, die im Bereich des Christentums die richtige Position des Problems erkannten, befand sich eben auch Luther. Dieser bewegte sich noch „nicht mit philosophischen, sondern mit theologischen Gründen“ in der Nachfolge Augustins,³³ wobei er von der unumstößlichen Präsenz der Erbsünde ausging und also von der radikalen Gegenüberstellung zwischen dem Elend der menschlichen Bedingtheit und der göttlichen Allmacht und Allwissenheit. Analoge Betrachtungen um die Bedeutung Luthers und Augustins in Funktion der Verneinung des freien menschlichen Willens finden sich auch im Hauptwerk Schopenhauers, wo der Philosoph sich darum bemühte, die substantielle Übereinstimmung zwischen seinem Pessimismus und der Sichtweise des reineren Christentums nachzuweisen. Die von Luther verteidigte These, nach der „nicht die Werke, sondern nur der durch Gnadenwirkung eintretende Glaube sälig mache“:³⁴ Das ist der Angelpunkt, der es Schopenhauer ermöglichte, die Koinzidenz zwischen dem Christentum in seiner reinsten Form und den eigenen Lehren nachzuweisen. Die Unmöglichkeit der
Vgl. ebd., 145. Vgl. ebd., 149. Vgl. ebd., 170, 172. Vgl. ebd., 202, 203. A. Schopenhauer, Über die Freiheit des menschlichen Willens, in Die beiden Grundprobleme der Ethik (1841), in Arthur Schopenhauer. Werke in zehn Bände, Bd. 6, Zürich 1977, 102. A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung (1819; zweite Auflage 1844), in Arthur Schopenhauer. Werke in zehn Bände, Bd. 1– 4, Zürich 1977, 711.
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Rechtfertigung durch die guten Werke wurde von Schopenhauer aus seinem radikalen Pessimismus heraus aufgewertet. Der Umstand der Existenz enthält bereits eine Schuld, eine irrtümliche Bedingtheit, Leiden und Tod. Das Christentum als Lehre von der Errettung ist im Grunde aus dem dunklen, aber wahren Bewusstsein entstanden, dass es für uns besser wäre, nicht zu existieren. Schopenhauer sah in der Errettung den letzten Sinn des Christentums, das sich von der jüdischen, im Grunde optimistischen Tradition losgelöst hatte. Für ihn, der deshalb eine überraschend antijudäische Position einnahm, stammte das Christentum von ähnlichen orientalischen Lehren wie dem Brahmanismus und dem Buddhismus ab.³⁵ Luther, mit Paulus und Augustin in der richtigen Weise interpretiert, öffnete auf seine Weise den Weg für Schopenhauers „Verneinung des Willens zum Leben“. Das insgesamt positive Urteil Schopenhauer zur Gedankenwelt Luthers ging an anderer Stelle mit kritischen Anmerkungen einher. Die Ablehnung des Möchtums (eine Institution, welche die „methodische […] Verneinung des Willens“ ausübt) schuf die Voraussetzung, für eine Konzession gegenüber der Welt, was in den Augen Schopenhauers bereits wie schädlicher Optimismus erschien: „Der Protestantismus hat, indem er die Askese und deren Centralpunkt, die Verdienstlichkeit des Cölibat, eliminirte, eigentlich schon den innersten Kern des Christentum aufgegeben.“ Das bedeutet – gewiss auch jenseits der wirklichen Absichten, welche die „redliche Geiste Luthers“ belebten – eine optimistische Öffnung zum weltlichen Leben: „Aber Optimismus ist, in den Religionen, wie in der Philosophie, ein Grundirrthum, der aller Wahrheit den Weg vertritt.“ Die Zivilisation war christlich-protestantisch geworden, nur weil sie vom Christentum die „Schale“ angenommen hatte, den „Kern“ vergessend. Auf diese Weise konnte Schopenhauer sein lapidares Urteil über die Bedeutung der äußerlichen Handlungen Luthers und über das historische Luthertum verkünden: „Das mag eine gute Religion für komfortable, verheiratete und aufgeklärte protestantische Pastoren sein: aber das ist kein Christenthum“.³⁶ Diese Töne ließen sich mit den Angriffen gegen den verweltlichten Protestantismus vergleichen, wie sie Kierkegaard in denselben Jahren im Dänischen Reich äußerte.
6 Kierkegaard und die späte Entdeckung Luthers Die Beziehung zwischen Søren Kierkegaard und Luther entwickelte sich in einer leidenschaftlichen Ambivalenz. Es ist schon ungewöhnlich, dass ein Philosoph, der im Dunstkreis des Luthertums Umfeld heranwuchs und in einer lutherischen Fakultät ausgebildet wurde, die Texte Luthers erst in seiner Reifezeit gegen 1847 kennenlernte: „Seltsam. Die Kategorie ‚für dich‘ (die Subjektivität, die Innerlichkeit), womit ‚Entweder/Oder‘ schloß (‚nur die Wahrheit, die erbaut, ist Wahrheit für dich‘), ist gerade
Vgl. ebd., 707, 730. Vgl. ebd., 732, 733.
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die Luthers. Ich habe eigentlich niemals etwas von Luther gelesen.“³⁷ Auf diese anfängliche Übereinstimmung folgten bezeichnende Vorbehalte, aber stets mittels einer leidvollen und alles anderen als geradlinigen Gegenüberstellung. Das Problem Kierkegaards ist nicht jenes „Objektive“ über die „Wahrheit des Christentums“ oder seine historische Bedeutung, sondern das „Subjektive“, das aus der „Beziehung des Individuums mit dem Christentum“ entsteht. Mit Kierkegaard verschiebt sich die Aufmerksamkeit von der „Weltgeschichte“ auf das „kleine ich“. Damit ändert sich auch der Rahmen, innerhalb dessen Luther einzufügen ist. Es geht vor allem um den „einzelnen“, der in dem reinen Inneren das wahre spirituelle Prinzip erkennt. Das Problem „wirklich Christ zu werden“, also die Lehre Christi für jedermann zeitgenössisch werden zu lassen – die „Aneignung [Tilegnelse auf dänisch] des Christentums“ verstanden als „Antithese der Spekulation“ und daher als „absolutes Paradox“³⁸ – klärt Kierkegaard, indem er auf die Erfahrung Luthers verweist: Nimm die Aneignung vom Christlichen hinweg, was ist dann Luthers Verdienst? Aber schlage ihn auf und merke in jeder Zeile den starken Pulsschlag der Aneignung, merke diesen im erbebenden Vorwärtstreiben des ganzen Stils, der gleichsam beständig jenes Gewitter des Entsetzens hinter sich hat, das Alexius tötete und Luther schuf.³⁹
Das Christentum ist nur in Beziehung zum „Kampf des geängsteten Gewissen“ etwas wert, „nimm das geängstete Gewissen weg, dann kannst du auch die Kirchen schließen und sie zu Tanzböden machen“.⁴⁰ Im inneren Kampf, in den Qualen des jungen Luther, für den „Furcht, Angst und Skrupel“ typisch waren, steckt die Größe seiner Persönlichkeit. Aber als Luther zum Vorbild des darauf folgenden Protestantismus wird, verwandelt sich diese innere Wahrheit in „schreckliche Falschheit“, der Geschichte gewordenen Protestantismus eignet sich auf trügerische Weise das Innere des einzelnen an, verwandelt es in Institution und macht daraus eine äußerliche Kirche: „Ist es denn jemals möglich aus dem, das einem besonderen Zustand entspricht (das heißt Furcht, Angst und Skrupel, besonders wie Luther sie erfahren hat), ein allgemeines Prinzip zu machen?“.⁴¹ Außerdem, wenn das große Verdienst Luthers darin liegt, die Glaubenserfahrung ins Innere verlegt zu haben, so bemerkt Kierkegaard eine Begrenztheit in seinem Mangel an Dialektik, oder vielmehr eine Unfähigkeit, in vollem Ausmaß das Paradoxe der Glaubenserfahrung und die absolute Besonderheit des Christentums zu erfassen. Der „Skandal“ des Glaubens ist somit für den Menschen um so größer, denn es ist Gott selbst und nicht der Teufel – wie Luther es S. Kierkegaard, Papirer, VIII1, A, 465, 1847, 207. Zitate wurden von Søren Kierkegaards Papirer (16 Bände, København, 1909…) genommen; wann möglich, habe ich die folgende Teilübersetzung verwendet: S. Kierkegaard, Die Tagebücher, 5 Bände, Düsseldorf/Köln 1962– 1974). Vgl. S. Kierkegaard, Abschliessende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken (1846), in ders., Gesammelte Werke, Bd. 16/2, Düsseldorf/Köln 1958, 82– 87. Ebd., 70. Papirer, VII1, A, 192, 1846, 129 – 130. Papirer, XI2, A, 303, 1853 – 54, 129 – 130.
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gerne hätte – das Prinzip des Leidens: Gott stellt Abraham auf die Probe. Luther erkennt nicht die Verbindung zwischen den Gegensätzen, die darauf beruht, dass „sowohl die Tröstung wie das Leid vom Christentum kommen, denn dies ist die Dialektik des Absoluten“.⁴² Kierkegaard beschäftigte sich dann auch mit der zentralen Thematik der Rechtfertigung durch den Glauben, indem er sich mit dem Ausschluss der Jakobusepistel aus dem Kanon des Neuen Testaments durch Luther auseinandersetzte. Nach der Meinung des dänischen Philosophen korrigiert er den Kult der Guten Werke mittels einer Übertreibung. Um die Unerreichbarkeit des Vorbildes zu unterstreichen, setzte er den Akzent auf die göttliche Barmherzigkeit. Aber wenn dies in Luther entschuldbar ist, solange man an sein Handeln als eine Reaktion auf die entgegengesetzte Übertreibung des Mittelalters denkt, so besteht dennoch sein Irrtum darin, dass er die Gnade – und das ist das Entscheidende – zum einzigen Rettungsweg erklärt hat. Die Tatsache, dass er alles der errettenden Gnade überträgt, entlässt den Menschen aus der Aufgabe dem Vorbild Christi zu folgen – Kierkegaard bedient sich hier des Begriffs der „Nachfolge [Efterfølgelse]“. Die Imitatio Christi aufzugeben schafft eine Leere, birgt in sich das Risiko, das Christentum ganz und gar aufzugeben. Der Glaube sollte die Anstrengung fördern, angesichts des Leitbildes zu handeln, nicht die Anstrengung unter dem Gewicht der Unmöglichkeit zusammenbrechen zu lassen.⁴³ In dem von Luther verlassenen mittelalterlichen Kloster folgte man der unerreichbaren Regel, mit den Werken dem Vorbild ähneln zu wollen. Mit überdimensioniertem Eifer griff der ehemalige Pater Martin diese Welt an, um einer entgegengesetzten Übertreibung zu verfallen: „jetzt, ist Christus nur der Versöhner, dem wir nicht gleichen können, der uns nur helfen kann. Zuletz betonte man dies so stark, daß er als Vorbild fast verschwand wie etwas allzu Erhabenes. Das darf jedoch nicht geschehen“.⁴⁴ Das Desinteresse für die Guten Werke äußert sich in Indifferenz gegenüber der Welt und in Indifferenz der Welt für das Christentum. Die Unerreichbarkeit des Ideals wird zu einem Alibi, um sich beruhigt in der Welt auszubreiten und es auf heidnische Weise zu akzeptieren, dass man ein bedeutungsloses Christentum lebt. Die Analyse des mit der Jakobusepistel verbundenen Problems äußert sich also in Kritik am modernen und verweltlichten Christentum, ein unerwartetes Ergebnis der Reformation. Aus den Schriften Kierkegaards wird nicht eindeutig ersichtlich, bis zu welchem Punkt das heidnische Ergebnis tatsächlich Luther anzulasten ist oder ob es nicht aus einer verfälschten Interpretation seiner Lehre entstanden sein könnte. Zuweilen scheint Kierkegaard den Reformator jeder Verantwortung zu entheben: „Oh Luther, wer ist wie du von seinen Unterstützern in der diametral entgegengesetzten Weise zu deinen Intentionen ausgenutzt worden?“.⁴⁵ Andere Male dagegen wendet Papirer, IX, A, 292, 1848, 163 – 164. Vgl. Papirer, X3, A, 322, 1850, 233 – 234. Papirer, X1, A, 132, 1849, 98 – 99. Siehe auch Papirer, X4, A, 291, 1851, 157– 159. Papirer, X5, A, 139, 1853, 145. Siehe auch S. Kierkegaard, Zur Selbstprüfung der Gegenwart anbefohlen, in ders., Gesammelte Werke, Bd. 27/28/29, Düsseldorf/Köln 1953, 50 – 60.
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sich Kierkegaards leidenschaftliche Kritik ohne zu zögern gegen Luther, als dem Verantwortlichen für den Niedergang des Christentums und seiner Vermassung. So wird Luther der Mensch, der die Versöhnung des Evangeliums mit der Welt eingeleitet hat, mit der Äußerlichkeit und mit dem „objektiven“ Gedanken, eine Religion schaffend, die nicht mehr für den „einzelnen“ zählt, sondern bequem von allen genutzt werden kann: „Luther; du hast doch eine ungeheuere Verantwortung, denn wenn näher hinsehe, sehe ich immer deutlicher, daß du den Pabst gestürzt – und ‚Publikum‘ auf den Thron gesetz hast“.⁴⁶
7 Luther und Nietzsche Friedrich Nietzsche, Sohn eines lutherischen Pastors und stark beeinflusst von der religiösen Umgebung, in der er seine Kindheit erlebte, war zu Beginn ein aufrichtiger Bewunderer Luthers. In den Unzeitgemäßen Betrachtungen (1873 – 1876) ist er sogar darum besorgt, die Reformation vor dem analytischen Blick der modernen Historiker und ihrer „nüchterne[n] pragmatisirende[n] Neubegier „ zu schützen, welche in der Lage sind, das Leben (in diesem Fall die aufrichtige Glaubenserfahrung Luthers) auszulöschen und zu verdorren, im Namen einer historisierenden Erkenntnisperspektive.⁴⁷ Es ist außerdem bedeutsam, dass Nietzsche auf dieser Seite und auf einigen anderen, in dieser Phase seiner literarischen Produktion, den Namen Luthers erwähnt, indem er ihn in die Nähe zu den Helden der deutschen Musikgeschichte, zu Mozart und Beethoven stellt. Für ihn sind in dem Luther, der die „deutsche Reformation“ einleitete, „dionysische“ Aspekte auszumachen, „in deren Choral die Zukunftsweise der deutschen Musik zuerst erklang“.⁴⁸ Nietzsche nähert nochmals Luther an Beethoven und Wagner an, für ihn enthalten sie jene „eigentlich und einzig deutsche Heiterkeit“, eine „Mischung von Einfalt, Tiefblick der Liebe, betrachtendem Sinne und Schalkhaftigkeit“,⁴⁹ wie sie sich als perfekte Verschmelzung von Musik und Leben und als Akt der Regeneration deutscher Kunst in den Werken des damals noch verehrten Richard Wagner präsentierte. Mit der fortschreitenden Veränderung seiner grundlegenden Ansichten zur deutschen und europäischen Kultur revidierte Nietzsche auch seine Bewertung Luthers. In Übereinstimmung mit der Position, die er seit Menschliches Allzumenschliches eingenommen hatte – „alles, was wir brauchen und was erst bei der gegenwärtigen Höhe der einzelnen Wissenschaften uns gegeben werden kann, ist eine Chemie der
Papirer, XI1, A, 108, 1854, 75. F. Nietzsche, Unzeitgemässe Betrachtungen II: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, in Friedrich Nietzsche. Kritische Studienausgabe, hrsg. v. G. Colli und M. Montinari, München/Berlin/ New York 1999, Bd. 1, 298. F. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, in ebd., 147. F. Nietzsche, Unzeitgemässe Betrachtungen IV: Richard Wagner in Bayreuth, in ebd., 480.
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moralischen, religiösen, ästhetischen Vorstellungen und Empfindungen“⁵⁰ – schien es Nietzsche, auf der Suche nach den wirklichen Beweggründen seines Handelns, vor allem darum zu gehen, Luther zu entlarven. Die Theologie des Kreuzes und des Glaubens, welche die guten Werke abwertet, sind vor allem Lösungen, die sich der Reformator ausgedacht hat, um ein für ihn unerträglich gewordenes Unbehagen abzuschütteln. In diesem Sinne gelten gegen Luther auch die Betrachtungen, die Nietzsche um den „erste[n] Christ“ Paulus anstellt.⁵¹ Erschöpft von den Bemühungen, die Vollendung mittels der Guten Werke des Klosterlebens zu erreichen, erklärte der Augustiner aus Wittenberg die Nutzlosigkeit derartiger Bemühungen und begann einen „wahren tödtlichen Hass“ gegen das Priesterideal und das kontemplative Leben zu entwickeln, die er bis dahin in obsessiver aber auch vergeblicher Weise verfolgt hatte.⁵² Wenn die Rechtfertigung durch den Glauben der zentrale Punkt der lutherischen Lehre ist, so demontiert Nietzsche den Glaubensbegriff, durch die Enthüllung seiner wirklichen, allzu menschlichen Natur: „Der ‚Glaube‘ war zu allen Zeiten, beispielsweise bei Luther, nur ein Mantel, ein Vorwand, ein Vorhang, hinter dem die Instinkte ihr Spiel spielten –, eine kluge Blindheit über die Herrschaft gewisser Instinkte.“⁵³ Gerade dieser persönliche Bezug wird als Grund für Luthers Handeln herausgestellt, das in den folgenden Jahrhunderten unerhörte und in den Augen Nietzsches zerstörerische Folgen haben sollte. Die Reformation entsteht als Lösung, die sich Luther für seine persönliche Pein ausgedacht hatte und die er dann der Welt anmaßend mit all seiner Energie auferlegte – „erst kommt es auf Kraft an, dann erst auf Wahrheit“. So kann Nietzsche seinen Luther als argwöhnisch, streitsüchtig, extrem nachtragend, arrogant und von der Substanz her als unredlich beschreiben. Diese Tendenzen bestimmen den lutherischen Starrsinn gegen „der tiefe, milde Sinn des Contarini“ während der „Tragikomödie von Regensburg“.⁵⁴ In der Geschichte der westlichen Zivilisation enthüllt sich für ihn die Bedeutung Luthers als substantiell negativ. In Morgenröte werden die Folgen von Luthers Handeln („ohne dass er es wusste oder gegen seinen Willen“) mit Begriffen wie „Vernichtung“, „Pessimismus“ und „Degeneration“ belegt und das Ergebnis bezeichnet Nietzsche insgesamt als „bäuerische Art“ oder „geistige Verflachung“. Gerade Luther, der im Bauernkrieg die Herren gegen die Bauern verteidigt hatte, bewirkte im Zentrum der Geschichte des Christentums eine wahre „Bauernrevolution“. Damit wird die Unduldsamkeit des Philosophen gegen das Durchsetzung der industriellen Massengesellschaft mit ihren demokratischen, vereinheitlichen Werten und ihren Neigungen zum Herdentrieb deutlich.
F. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, in Friedrich Nietzsche. Kritische Studienausgabe, zit., Bd. 2, 24. Vgl. F. Nietzsche, Morgenröte, in Friedrich Nietzsche. Kritische Studienausgabe, zit., Bd. 3, 64– 67. Vgl. ebd., §§ 62, 82,88. F. Nietzsche, Antichrist, in Friedrich Nietzsche. Kritische Studienausgabe, zit., Bd. 6, 212. F. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches II, in Friedrich Nietzsche. Kritische Studienausgabe, zit., Bd. 2, 480 – 481.
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Die Umrisse dieses schändlichen lutherischen Handelns treten in den späten Schriften Nietzsches noch eindeutiger zu Tage, sowohl in moralischer als in historischer Hinsicht. Willen zur Macht und Akzeptanz dessen was geschieht sind die wahren Werte, die laut Nietzsche von der christlichen Sklavenmoral, welche sich auf einer unnatürlichen Seelenverfassung gründet, umgestürzt werden. Die verbogene und kleingeistige Figur des nordischen Bauerns Luther, die er schon früher beschrieben hatte, findet ihre vorhersehbare ethische Einordnung unter der Kategorie Ressentiment – „der Mensch des Ressentiment weder aufrichtig, noch naiv, noch mit sich selber ehrlich und geradezu“⁵⁵ – er lenkt die Reformation als „gründlich pöbelhafte […] Ressentiments-Bewegung,“⁵⁶ in Verweigerung der vitalen Werte. Die weitgefasste Kulturkritik gründet sich in den letzten Büchern Nietzsches auf einer andersgearteten Bewertung des deutschen Beitrags zur Geschichte Europas. Vor allem wird der Reformation in systematischer und genau definierter Weise die Renaissance als positives Modell entgegengesetzt. Luther gereicht nicht mehr zur Ehre der Deutschen, die Schleuder, die den Okzident zum spirituellen Fortschritt treibt, wie in der Sichtweise des Idealismus. Die Erneuerung des Glaubens und der christlichen Verzichtswerte entzieht der großen Gelegenheit, die Europa mit der Renaissance geboten wurde, den Boden unter den Füßen, nämlich der Gelegenheit, der christlichen Ära den Laufpass zu geben. Der „verunglückten Priester“ Luther setzt sich gegen den „Papstkandidaten“ Cesare Borgia durch,⁵⁷ die Reformation tötet die Renaissance. Die Deutschen haben Europa um die Ernte, um den Sinn der letzten grossen Zeit, der RenaissanceZeit, gebracht, in einem Augenblicke, wo eine höhere Ordnung der Werthe, wo die vornehmen, die zum Leben jasagenden, die Zukunft-verbürgenden Werthe am Sitz der entgegengesetzten, der Niedergangs-Werthe zum Sieg gelangt waren – und bis in die Instinkte der dort Sitzenden hinein! Luther, dies Verhängniss von Mönch, hat die Kirche, und, was tausend Mal schlimmer ist, das Christenthum wiederhergestellt, im Augenblick, wo es unterlag … Das Christenthum, diese Religion gewordne Verneinung des Willens zum Leben! … Luther, ein unmöglicher Mönch, der, aus Gründen seiner „Unmöglichkeit“, die Kirche angriff und sie – folglich! – wiederherstellte …⁵⁸
8 Luther im Gedankengut Šestovs Nietzsche kritisiert die kranke Zivilisation und nennt in dem „unmöglichen Mönch“ einen der Gründe dieser Krankheit. Der ukrainische Philosoph Lev Šestov dagegen wird ebenfalls zum Kritiker seiner Epoche, indem er sich an Nietzsche inspiriert, aber unternimmt eine Gegenüberstellung von Nietzsche und Luther, die mit einer substantiellen Konvergenz zwischen den beiden endet. Šestov liest die Botschaft Luthers F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in Friedrich Nietzsche. Kritische Studienausgabe, zit., Bd. 5, 272. Ebd., 287. Nietzsche, Antichrist, zit., 251. F. Nietzsche, Ecce homo, in Friedrich Nietzsche. Kritische Studienausgabe, zit., Bd. 6, 359.
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in einer Weise, die in ihren Ergebnissen mehr als einen Punkt mit Kierkegaard gemein hat, auch wenn er das sola fide-Motiv in gewissem Sinne entgegengesetzt zu dem dänischen Philosophen interpretiert. Und Šestov untersucht Luther auch unter dem Blickwinkel der großen russischen Autoren Dostojewski und Tolstoi. „Europa hat keinen Glauben mehr – das ist seine größte Sünde“.⁵⁹ In diesen von Dostojewski übernommenen Worten, steckt das große Problem – welches auch Luther vier Jahrhunderte vorher entdeckt hatte – mit dem sich Šestov auseinandersetzt. Der Philosoph setzt sich ausführlich mit den Auslegungen zur lutherischen Theologie und zur historischen Figur Luthers auseinander. Sein Ziel ist es, das historische Gewicht des Reformators zu mindern und deshalb vermeidet er die abwegigen protestantischen Apologien und vertraut sich den wenig schmeichelhaften Porträts der Gegenseite an (Denifle). Das dient ihm dazu, das Paradoxe an der Person Luthers hervorzuheben, an seinem Glauben und der besonderen Wahrheit, die mit ihm verbunden ist. Die Niederlage der europäischen Kultur liegt darin, dass sie nicht in der Lage war, eine gleichermaßen gewichtige Wahrheit auf der irdischen und der ewigen Ebene zu finden, Vernunft und Glaube gerieten in Gegensatz, man versuchte es mit einem prekären Gleichgewicht zwischen ihnen und vertraute sich schließlich der Vernunft an, mit dem Ergebnis, dass der Glaube erstickt wurde. Das Vorbild dieses Wissens ist Spinoza, seine geometrisch strukturierte Philosophie hat grundsätzlich festgelegt, dass die Wahrheit nur einförmig und notwendig sein kann. Aber die Wissenschaft, erklärt Šestov, „koordiniert nur Fakten“ und eliminiert von vorneherein den Glauben als „Ausschuss“.⁶⁰ Von den „Voraussetzungen Spinozas“ ausgehend das Gleichgewicht zu halten, bedeutet dagegen, mit Luther anzuerkennen, dass die Begegnung mit der Wahrheit in erster Linie bedeutet, sich von etwas Fremden besessen zu fühlen und den Glauben anzunehmen, der sich in der Einsamkeit als Ekstase, Paradox und Erleuchtung zeigt. „Die Quelle der Wahrheit ist nicht das menschliche Wissen, sondern der Glaube“.⁶¹ Die Wahrheit zeigt sich im Individuum, im Subjekt, im Falle Luthers „in seiner Erfahrung“, in seinem „Fleisch, das von Lüsternheit, Faulheit und Trägheit beherrscht ist“. Die Wahrheit verliert also den Segen der Universalität und Einheitlichkeit, den ihr das westliche Gedankengut immer zugestanden hatte und wird eine Nebensächlichkeit („elle est là et il n’y a rien à faire“,⁶² schreibt Šestov Tolstoi zitierend). Luther ist in der Substanz von den Protestanten, die ihm folgten, nicht verstanden worden. Die Botschaft von Servum arbitrium ist für die Welt zu harsch und unbequem, sie hat es vorgezogen, die Ideen des Reformators zu domestizieren. Auch in Šestov taucht die Vorliebe dafür auf, den jungen Luther von dem späteren zu trennen, der
Vgl. L. Šestov, Sola fide. Luther et l’Église, Paris 1957, 1. Vgl. ebd., 71. Vgl. L. Šestov, Atene e Gerusalemme (1938), italienischer, französischer und russischer Text, hrsg. von A. Paris, Mailand 2005, 517. Šestov, Sola fide. Luther et l’Église, 112. Šestov insistiert auf der Nähe Luthers mit den „Helden Tolstois“; vgl. 7, 10, 92, 93, 153.
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politisch kompromittiert war und die „Sprache aller“ benutzte. Nicht sehr viel anders als Kierkegaard unterscheidet Šestov zwischen dem „gläubigen“ Luther und dem Luther als „Reformator“.⁶³ Wenn er als Reformator auftritt, verbirgt Luther seine wahren und persönlichen Erfahrungen. Die Wahrheit Luthers ist Wahrheit über sich selbst, in „außergewöhnlichen und unverständlichen“ Reden ausgedrückt. Die gebildeten, modernen Menschen können nur mit Verwunderung und Verdruss die Worte Luthers annehmen, der weit vom Gemeinsinn entfernt ist, wenn es um spirituelle Probleme geht. Der Luther Šestovs zeigt sich als jemand, der die Werte umstürzt: „Der Glaube Luthers, wie vielleicht jeder wahre und kühne Glaube, beginnt erst dann, wenn der Mensch es wagt, die fatale Linie zu überschreiten, die von der Vernunft und dem Guten gezogen wird“. Und weiter: „Der Glaube, seinem Wesen nach, hat nichts mit unserem Wissen zu tun […]. Um den Glauben zu erreichen, muss man sich vom Wissen und dem ethischen Ideal befreien“. Die historische Bedeutung Luthers ist, laut Šestov, derjenigen ähnlich, die Nietzsche in der westlichen Kultur des 19. Jahrhunderts einnehmen wird. Die beiden Formeln sola fide und „jenseits von Gut und Böse“ sind am Ende gleichwertig.⁶⁴ Die Philosophiehistoriker, erklärt Šestov, sind der Illusion verfallen, dass von Luther der deutsche Idealismus abstamme. Das ist aber ein Missverständnis, der wahre „Lutheraner“ ist Nietzsche, der sich allerdings anders als Luther nicht an die Bibel anklammern kann und so in den Wahnsinn stürzt. Außerdem, wenn beide mit dem Hammer arbeiten, um die großartige Rationalität des Menschen herauszuformen, beweist der Reformator, laut Šestov, eine größere Wirksamkeit: „Wir müssen also zu Luther zurückkehren, denn sein Hammer schlägt kräftiger zu und trifft besser, als der Nietzsches“.⁶⁵
9 Jenseits der hegelschen Visionen: Dilthey, Troeltsch, Weber Die historischen Untersuchungen Wilhelm Diltheys unterscheiden sich von denen Hegels durch eine Erweiterung der Perspektive. Laut Dilthey muss die spirituelle Evolution des Okzidents in der gesamten Breite ihres Reichtums betrachtet werden, welche dagegen in einer rein begrifflichen, konzeptuellen Philosophiegeschichte, wie sie Hegel vorschreiben wollte, verloren gegangen wäre. Auf diese Weise präsentiert sich die Verbindung zwischen Luther und der Moderne als weniger als eindeutig und direkt als diejenige, die aus der idealistischen Vorstellung erwächst. Dilthey fügt Lu-
Vgl. ebd., 114. Vgl. ebd., 8 – 10; siehe auch 41, 117. Vgl. ebd., 587.
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ther in ein Gesamtbild „religiös-moralischer Evolution“ ein,⁶⁶ welches die gesamte Menschheit betrifft. „…geht sein und seiner Genossen moralischer Begriff des Menschen einen entscheidenden Schritt weiter auf der Bahn der religiös-sittlichen Entwicklung auch über das älteste Christentum hinaus“. Aber neben diesen „fortschrittlichen“ Elementen holt Dilthey auch die alten und traditionellen Aspekte hervor, jene spirituellen Haltungen, die sich durch eine „harte Einseitigkeit“ auszeichnen.⁶⁷ Dilthey weist auf die wahre Neuigkeit der Botschaft Luthers hin, der Rechtfertigung durch den Glauben, zu verstehen als „persönliche Erfahrung des in der Kontinuität der Christlichen Gemeinschaft stehenden Gläubigen, welcher die Zuversicht zu der Gnade Gottes aus der durch die persönliche Gnadenwahl herbeigeführten Aneignung der Leistung Christi im Glaubensvorgang erfuhr“.⁶⁸ Aber der Philosoph hebt auch hervor, wie sehr sich Luther innerhalb der Tradition bewegte, da seine Perspektive mit Voraussetzungen „dogmatisch-metaphysischer“ Natur verbunden und also irrational ist. Außerdem drückte Luther ein erneuertes religiöses Ideal aus, von einem auf dem Inneren gründenden Leben, was eine neue Moral erforderte und eine neue „aktive Energie der ganzen Person“.⁶⁹ Aber diese Erneuerung brachte keine unmittelbare, konkrete und historisch wahrnehmbare Erneuerung auf der sozialen Ebene. Außer diesem Aspekt wertet der weitgefasste historische Entwurf Diltheys zusammen mit Luther auch andere Figuren auf (Erasmus, Zwingli), die oft mit größerer Wirksamkeit an der geistigen Entwicklung der Moderne teilhatten. Luther wird also von einer „transzendentalen“ oder „spirituellen“ Strömung überwunden, für welche sich die Dogmen immer mehr in „Symbole eines überall gegenwärtigen inneren Geschehens“ auflösen.⁷⁰ Großes Gewicht gewinnt Sebastian Franck mit seiner „eigenwilligen christologischen Lehre“, welche behauptet, dass in iedem Mennschen eine „eingepflantze moralische Anlage“ ist. Es soll danach ein „natürliches Licht“ geben, auf das sich eine unsichtbare Gemeinschaft gründet, „der schon Sokrates und Seneca angehörten“,⁷¹ frei von jeder Äußerlichkeit, die eine Verwandlung des Christentums in eine Religion der gesamten Menschheit vorweg nimmt, wie sie Lessing vorgezeichnet hatte. Der Name des großen Schriftstellers der Aufklärung steht am Ende dieser Seiten Diltheys. Somit zeichnet sich ein modernes, vergeistigtes Christentum ab, das man nur indirekt lutherisch nennen kann und das letzten Endes ein „Religiösuniversaler Pantheismus“ ist, „dessen Einfluß wir bis hierher verfolgten und der nun auch Luthers positivistischen Tiefsinn gegenüber – sagen wir es heraus! – siegreich vorwärts
WW. Dilthey, Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert (1891), in ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, Leipzig/Berlin 1921, 54. Ebd., 55. Ebd., 70. Ebd., 91. W. Dilthey, Das natürliche System der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert (1892– 1893), in ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, zit., 224. W. Dilthey, Auffassung und Analyse des Menschen, zit., 83, 89.
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dringt.“⁷² In diesem „sagen wir es heraus“ kann man Diltheys Bewusstsein herauslesen, dass er sich von einer allzu respektvollen Tradition gegenüber dem Reformator löst und seine Anstrengungen unternimmt, die sperrige historische Lutherfigur abzuschütteln. In der Interpretation Diltheys, im Gegensatz zu den Positionen zu Beginn des 19. Jahrhunderts, bleibt die Reformation eine Wende in der Geistesgeschichte Europas, aber die ausgereifteren Ergebnisse dieser Interpretation enthalten eine beachtliche Distanz zu der ursprünglichen Geistigkeit Luthers. Auf Dilthey beziehen sich ausdrücklich die Untersuchungen von Ernst Troeltsch.⁷³ Es ist schwierig, die Thesen von Troeltsch zur Entstehung der Moderne und zur Rolle, die der Protestantismus bei diesem Prozess spielte, zu überschätzen. Die Werke dieses Autors sollten in den folgenden Jahren für viele Historiker des Christentums ein ständiger Bezugspunkt bleiben und gleichzeitig natürlich auch die unvermeidliche Zielscheibe für Angriffe von anderen theologischen Strömungen, die seinen historisierenden Ansatz tadelten: Er habe es zugelassen, dass die wahre, unbequeme und in ihrer Essenz antihistorische Botschaft Luthers und der anderen Reformatoren des 16. Jahrhunderts auf eine zweitrangige Ebene abgeschoben wurde. Der Wissenschaftler sah sich daher gezwungen, die Kritik verschiedener Autoren zurückzuweisen, die ihm anlasteten, er habe Luther in das Mittelalter zurückgedrängt und ihn damit der Aktualität und Lebendigkeit für die Moderne beraubt.⁷⁴ Troeltschs Luther muss innerhalb des Gesamtbildes der Beziehung zwischen Protestantismus und moderner Kultur, zwischen Religion und Geschichte gesehen werden. Troeltsch stellte sich dieser Problematik indem er behauptete, dass gerade im Protestantismus die Religion Christi noch eine große Anpassungsfähigkeit an die politischen und sozialen Bedingungen der zeitgenössischen westlichen Kultur unter Beweis stellt. Unsere Welt, erklärte Troeltsch, ist „unsere Weltperiode, aus der sich niemand am eigenen Zopf herausheben kann“.⁷⁵ Unter dieser Perspektive passt sich das Christentum den historischen Bedingungen an, die sich im Lauf der Zeit verändern, das Absolute zeitigt ständig erneuerte Formen. Laut Troeltsch präsentiert sich das zeitgenössische Christentum in Übereinstimmung mit humanitärer Gesinnung, Emanzipation der Gedankenwelt, Antidogmatik, Freiheitsgefühl und ethischer Autonomie. Auf diesen Grundlagen hebt Troeltsch die Existenz eines „Altprotestantismus“ (Lutherthum und der ursprüngliche Calvinismus) und eines „Neuprotestantismus“ hervor (Wiedertäufer, Mystiker und Sekten calvinistischer Abstammung). Letztere waren seiner Meinung nach bereits „Teil der modernen Gesellschaft“, spiegelten aber
Ebd., Ebd, 101. E. Troeltsch, Meine Bücher, in ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, hrsg. von H. Baron, Tübingen 1925, 7– 8. Vgl. E. Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt (1906), München/Berlin 1928, 32 f. E. Troeltsch, Das Wesen des modernen Geistes (1907), in ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, zit., 336.
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immer noch den Einfluss des „alten“ wider, welcher in vielfacher Hinsicht Ausdruck der mittelalterlichen Epoche war und eine überwiegend negative historische Funktion ausgeübt hatte, durch Elimination der Hindernisse, die das verhärtete katholische System der historischen Entwicklung entgegengesetzt hatte.⁷⁶ Das bedeutet die Schmälerung von vielen Aspekten der lutherischen Botschaft, vor allem der schwer verständlichen und „irrationalen“, die nicht in Übereinstimmung mit der modernen Sensibilität, mit der Verfeinerung der Vernunft, mit der Entwicklung der wissenschaftlichen Mentalität, mit der humanitären und individuellen Sensibilität, mit der „ungeheuren Ausbreitung und Intensität der Freiheit“ standen.⁷⁷ Die Hauptsorge Luthers war, typisch für einen mittelalterlichen Menschen, die „Heilsgewißheit“,⁷⁸ also seiner eigenen Errettung. Die von Luther gefundenen Lösungen, die sich mit der Gnade, dem Glauben und dem Erwähltsein auseinandersetzten, waren in Wirklichkeit neue Antworten auf alte Fragen. Diese Antworten sollten eine autonome Ausdehnung und Entwicklung finden, wie sie für das ursprüngliche Fühlen eines Mönches Martin unvorstellbar gewesen wären. Neben Dilthey muss noch eine andere Bezugsperson in den Gedankengängen von Troeltsch⁷⁹ erwähnt werden, nämlich der Soziologe Max Weber. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts formulierte Weber seine berühmte These über die Entstehung und das Durchsetzungsvermögen des Kapitalismus, die ebenfalls dazu beiträgt, das Gewicht und die Aktion Luthers bei der Herausbildung der Moderne zu vermindern. Weber hob hervor, wie die lutherische Übersetzung der Bibel zu einem höchst gewichtigen Schritt für alle reformierten Kirchen wurde, denn von hier aus entwickelte sich eine neue Bedeutung für den Begriff Berufung. Die professionelle Existenz erhielt eine ethische Charakterisierung, entscheidendes Element für die Entstehung des kapitalistischen Geistes. Aber Weber war auch der Meinung, dass sich Luther nicht bis dorthin vorgewagt hätte, wohin die protestantischen Sekten und die Calvinisten drangen. In der Vorstellung Luthers spürt der Gläubige in sich den Zustand der Gnade, fühlt sich wie eine „Gefäß“, einen Behälter, der die Gabe Christi enthält und nicht ein „Werkzeug göttlicher Macht“ wie die Calvinisten. Berufen sein bedeutet für Luther vor allem eine Stellung einnehmen, die von Gott zugeschrieben wurde. Luther bleibt bei der „unio mystica“ stehen,⁸⁰ die etwas Inneres, Sentimentales und letzten Endes Passives enthält. Seine Lehre verwandelte sich nicht in eine Voraussetzung für eine systematische Aktion, wie jene die Weber, mit Bezug auf die Calvinisten, „innerweltliche Askese“ nannte. Unter dieser Perspektive scheint Luther noch von einem
E. Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus, zit., 29 – 30. E. Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus, zit., p. 102. Vgl. auch E. Troeltsch, Luther, der Protestantismus und die moderne Welt, in Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, zit., 213 – 214. E. Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus, zit., 95. E. Troeltsch, Meine Bücher, zit., 11; ders., Die Bedeutung des Protestantismus, zit., 42. M.Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904/5), in Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1934, 108.
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Geist erfüllt, der dem der Katholiken nicht unähnlich ist, weit entfernt von dem „ernsten puritanischen Weltzugewendetheit“.⁸¹
10 Eine neue Sicht auf Luther: Otto, Barth, Gogarten In den Schriften von Dilthey, Weber und Troeltsch hatte Luthers Werk noch in der Geschichte und für die Geschichte Bedeutung, war verbunden mit der Entwicklung des menschlichen Geistes. Bei diesen Autoren, im Unterschied zu den vorhergehenden (wie Hegel und Feuerbach) wirkte der Beitrag des ehemaligen Augustiners bei der Herausbildung des modernen Geistes eher indirekt. Luther hob noch die traditionellen, mittelalterlichen Aspekte hervor, jenseits von Luther ging es um den Rationalismus und die moderne kapitalistische Welt, andere Strömungen hatten den Geist der Reformation im humanistischen Sinne verfeinert. Die historische Strömung schlug ein substantielles Zusammenwirken zwischen Christentum und Moderne vor, aber um den Preis einer immer seltener werdenden Einwirkung des „Faktors Luther“. Schon Graf Paul Yorck von Wartenburg, bevorzugter Gesprächspartner von Dilthey, hatte den Philosophen und Freund getadelt, den rationalistischen Tendenzen zum Nachteil Luthers einen übertriebenen Wert eingeräumt zu haben.Yorck wünschte sich dagegen, gestärkt durch seinen festen Glauben an Luther, eine unmittelbare Beziehung mit den Vorschriften des Reformators, um die irrationalen Tendenzen zu besiegen, welche er aus der politischen Realität emporsteigen sah: „Sie werden dem nicht beistimmen, wenn ich sage, daß Luther der Gegenwart präsenter sein solle und müsse als Kant, wenn sie eine historische Zukunft in sich tragen wolle“.⁸² Die Unterbrechung der Verbindung zwischen Protestantismus und Geist der Moderne, zwischen Christentum und Kultur zeichnete sich bereits sehr genau in den Reflektionen von Personen wie Nietzsche und Kierkegaard ab. Anreize für eine Untersuchung der Religiosität auch außerhalb der historisierenden und rationalen Dynamik zeigten sich dann in Europa vor und nach der allgemeinen Krise, die durch den Ersten Weltkrieg ausgelöst wurde. Unter den einflussreichsten Werken auf den Gebieten der Theologie und der Religionsphilosophie jener Jahre sei auf Das Heilige (1917) von Rudolf Otto verwiesen. Otto stand in Polemik mit der allgemeinen „Tendenz zur Rationalisierung“ der christlichen zeitgenössischen Kultur. Er hob hervor, dass die Glaubenserfahrung an eine mysteriöse und dunkle Sphäre gebunden sei, die sich dem Gesprächscharakter entzieht. Die religiöse Erfahrung gehörte zu einer „Kategorie […]
Ebd., 81. P. Yorck an W. Dilthey, Juni 1892, in Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg 1877 – 1897, Halle, 1923, 145.
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vollkommen sui generis“,⁸³ für die Otto den Terminus das Numinose verwendete, etwas das zwischen abstoßend („Mysterium tremendum“) und anziehend („fascinosum“) oszillierte. Otto, der bereits von einem anderen Ansatz aus Luthers Gedankenwelt eingehend untersuchte – in Die Anschauung des Heiligen Geistes bei Luther (1898) – hat anerkannt, wie viel er dem Reformator verdankt. In dessen Schriften fand er den irrationalen Aspekt des Schrecklichen und Abstoßenden wohl ausgedrückt, verbunden mit der Erfahrung des Göttlichen: „Ja, an Luthers De servo arbitrio hat sich mir das Verständnis des Numinosen und seines Unterschiedes gegen das Rationale gebildet lange bevor ich es im Quadosch des Alten Testamentes und in den Momenten der ‚religiösen Scheu‘ in der Religionsgeschichte überhaupt wiedergefunden habe“.⁸⁴ Außer Das Heilige gab es in diesen Jahren ein anderes Werk, das die Theologiegeschichte – und nicht allein diese – geprägt hat, der Kommentar zum Römerbrief des Apostels Paulus, den der Schweizer Karl Barth 1919 erstmals verfasste und, in einer stark überarbeiteten Fassung, nochmals 1922. Die Botschaft Luthers und der ersten Reformatoren wurde von Barth, trotz allen ihren radikalen und anstößigen Aspekten für die fortschrittliche Kultur, als aktuell angesehen. Barth akzeptierte bedingungslos Kierkegaards Prinzip, welches einen „unendlichen Qualitätsunterschied“ zwischen Zeit und Ewigkeit, zwischen Geschichte und Religion, zwischen menschlicher Kultur und Glauben voraussetzt: „Die Religion wird zum Fragezeichen des ganzen humanen Kultursystems“.⁸⁵ Auf diese Weise rückte Barth die absolute Transzendenz Gottes und die Bedingungslosigkeit der Rettungsaktion Christi durch sein Opfer wieder in den Vordergrund. Barths Buch brachte eine Wende, hin zu einem weniger versöhnlichen und „leichten“ Christentum. In diesem Sinne wurde 1924 die klassische deutsche Übersetzung Justus Jonas’ des Servum arbitrium von Luther wieder aufgelegt,⁸⁶ mit eindeutig polemischer Absicht und Aktualisierung, von einem weiteren Exponenten der neuen theologischen Bewegung namens Friedrich Gogarten, der damals Barth nahe stand. Gogarten begleitete die Übersetzung mit einer Kampfschrift, die einen scharfen Angriff gegen den historisierenden Ansatz bedeutete. Gegen die Verknüpfung von Protestantismus und Kultur, von modernem Geist und Christentum setzte er eine Lesart Luthers durch, die mit der Geschichte brach. Luther war nicht mehr, wie auf verschiedene Weise für Hegel, Feuerbach, Dilthey, Troeltsch und andere, der Initiator der Moderne mit einem mehr oder weniger eindeutigen mittelalterlichen Erbe. Für Gogarten hatte es nichts zu bedeuten, was die Lehre Luthers den Nachfahren überlassen haben könnte und noch weniger, die lutherischen Spuren hervorzuheben, die im Geist der Moderne vorhanden sein mochten oder dass man auf den Protestantis-
R. Otto, Das Heilige, Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen (1917), München 2004, 3. Ebd., 123. K. Barth, Der Römerbrief, zweite Fassung (1922), in Karl Barth-Gesamtausgabe, Zürich 2010, 336. M. Luther, Vom unfreien Willen, nach der Übersetzung von Justus Jonas herausgegeben und mit Nachwort versehen von F. Gogarten, München 1924.
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mus zurückgriff, um eine Lehre von der menschlichen Freiheit zu begründen, so wie sie die zeitgenössische Ethik verstand. Der Gegensatz zwischen Erasmus und Luther wurde im Gegenteil zum Anlass für die Verdeutlichung des „tiefen Kontrastes“ zwischen der Moderne (Subjektivismus und Humanismus) und dem ursprünglichen Protestantismus. „Unsere Beschäftigung mit den Reformatoren kann nur den Sinn haben, daß wir uns von ihnen die Augen für die Wirklichkeit öffnen lassen“.⁸⁷ Um zu verdeutlichen, in was diese dramatische Begegnung mit der Wirklichkeit, mit unserer Bedingung als Geschöpfe bestand, verwandte Gogarten das berühmte Zitat aus Acht Sermone Luthers: „Wir sind alle zum Tode gefoddert, und wird keiner fur den andern sterben; sondern ein iglicher in eigner Person muß geharnischt und gerüstet sein fur sich selbs, mit dem Teufel und Tode zu kämpfen“.⁸⁸
11 Der Luther Heideggers Die dialektische Theologie drückte wirkungsvoll die Verunsicherung aus, von der die europäische Kultur nach dem Ersten Weltkrieg heimgesucht wurde. In Wirklichkeit muss man die „Krisis“, von der Barth und Gogarten sprachen, in streng religiösem Sinne verstehen. Die „Krisis“ ist kein Knoten im Inneren der Geschichte, sondern fiel von oben herab und nagelte die Menschen als unrettbare Sünder fest. Barth und Gogarten waren Theologen, ihre Reden zielten auf einen strengen Dualismus und griffen auf, was in ihren Augen die wahre religiöse Botschaft Luthers und der anderen Reformatoren war, in Polemik mit den „Verharmlosungen“ der liberalen theologischen Strömung. Das hindert nicht daran, dass einige Motive, die typisch für die dialektische Theologie sind, eine eindeutige Nähe zu gleichzeitigen philosophischen Äußerungen aufweisen, die sich immanentistischen und ausdrücklich nicht religiösen Ergebnissen zuwandten. Diese Analogien können von Luther ausgehend verdeutlicht werden und insbesondere von den Worten, die auch Gogarten zitierte („Wir sind alle zum Tode gefoddert, und wird keiner fur den andern sterben…“). Es erscheint bedeutungsvoll, dass sich auf dieselben auch Ernst Cassirer beruft,⁸⁹ als Lesart, um Martin Heidegger, eine andere zentrale Figur der Philosophie des 20. Jahrhunderts, zu verstehen. Cassirer, der von der neukantianischen Strömung kam, macht, während er das Hauptwerk Heideggers kommentiert (Sein und Zeit, 1927), im „Todesproblem“ den wichtigsten Punkt der existentialistischen Analyse aus und hebt hervor, dass sich die Argumente Heideggers in der Substanz auch an religiöse Motive anlehnen, an protestantische (Luther), aber nicht nur (Cassirer erinnert an eine Seite Pascals).
Vgl. F. Gogarten, Glaube und Wirklichkeit, Jena 1928, 22. Zit. in ebd., 22– 23. Gogarten zitiert aus Dr. Martin Luther’s Sämmtliche Werke, Bd. XXVIII, hrsg. von J.K. Irmischer, Erlangen 1840. E. Cassirer, Heidegger-Vorlesung, in ders., Davoser Vorträge. Vorträge über Hermann Cohen, hrsg. von J. Bohr, K.K. Köhnke, Hamburg 2013, 65.
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Luther wird in Sein und Zeit nur zweimal zitiert. Wichtig ist der Bezug auf den Reformator in dem Abschnitt, welcher der Erklärung der „Grundbefindlichkeit der Angst“ gewidmet ist,⁹⁰ die typische Möglichkeit des Menschen, seine Situation als Für-den-Tod-zu-sein zu entdecken. Es geht hier um die zentrale existentialistische Analyse Heideggers und es hat Relevanz, dass der Versuch, diesen Begriff zu erklären, durch einen Bezug auf Luther erfolgt, in Verbindung mit Augustin und Kierkegaard. In der Tat ist es bedeutungsvoll, dass die Linie – im Zeichen von „Angst und Furcht“ – von Paulus und Augustin zu Luther und endlich über den dänischen Denker zu Heidegger führt. Eine Linie, die Heidegger wirkungsvoll in einem Satz zusammenfasst, den er im Lauf eines seiner lutherischen Seminare der zwanziger Jahre äußerte: „Das prinzip des Protestantismus eine besondere Voraussetzung hat: ein Mensch, der in Todesangst dasitz – in Furcht und Zittern und viel Anfechtung“.⁹¹ Luther wird so zum Vorbild, das man beachten muss, um eine „ursprünglichere […] Auslegung des Seins des Menschen zu Gott.“⁹² Sein und Zeit hebt in der Tat hervor, dass der Reformator die Verschiedenartigkeit zwischen dem konzeptuellen Apparat der Lehre und der Grundlage verstanden hatte, welche die Priorität der Glaubenserfahrung anerkennt: Diese wird von der an ihr vorgenommenen Anwendung spekulativer Schemata verzerrt und verfälscht. Die fortschreitende Veröffentlichung der ersten Universitätsvorlesungen Heideggers hat bewiesen, wie intensiv er über diese Themen nachdachte, in Konfrontation mit den Thesen von Troeltsch, mit dem Einfluss der Phänomenologie des Heiligen bei Otto, aber vor allem mit der Lektüre des Apostel Paulus, Augustins, der mittelalterlichen Heiligen und eben Luthers. Diese Reflektionen enthielten bereits die antihumanistische und polemische Grundtendenz gegen die westliche metaphysische Tradition, welche in der Folge Heideggers Gedankengänge bestimmen sollte. Luthers Aversion gegen die Philosophie, seine Abneigung gegen Aristoteles, erklärt sich daraus, dass letzterer Gott zu einem Spekulationsobjekt reduziert hatte und Gottes sichtbare Schöpfung zur bevorzugten Straße, um zum Unsichtbaren vorzudringen. All das war die direkte Konsequenz aus einer erzwungenen und deformierenden Vereinigung zwischen dem Christentum und der Tradition der griechischen Philosophie. Luthers Stichworte gegen die Philosophie und seine Polemik gegen die Theologia gloriae (von Heidegger vor allem in seiner Disputatio Heidelbergae übernommen) wurden als entschiedener Versuch gesehen, Theologie und Metaphysik voneinander zu trennen und verwandelten sich im Text des Philosophen aus Messkirch in einen Angriff gegen die metaphysische Weltbetrachtung und in eine Einladung, die „geistige[n] Zusammenhänge des Christentums mit der Kultur“ unter einer
M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 2006, 184, 190. M. Heideggers Luther-Referat, Appendix in R. Bultmann, M. Heidegger, Briefwechsel. 1925 – 1975, hrsg. von A. Großmann, C. Landmesser, Frankfurt am Main 2009, 271. M. Heidegger, Sein und Zeit, zit., 10.
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entgegengesetzten Modalität als der traditionellen zu betrachten.⁹³ Die „Religion an sich Bestanden“ hätte in sich selbst eigene Grundlagen finden müssen, um nicht als Objekt konzipiert und zwangsläufig in die philosophischen Disziplinen eingereiht zu werden. Letztere war die traditionelle Sichtweise, die Personen wie Troeltsch in den Vordergrund stellte, ein Historiker der Reformation, von dem Heidegger sagen konnte: „Man wirft ihm mit recht vor, daß er, ähnlich wie Dilthey, für Luther kein Verständnis hat.“⁹⁴ Heidegger schaltete sich also in die Diskussion zur Beziehung zwischen Christentum und Geschichte ein, wobei er sich auf Luther stützte. Er hob diese Verbindung aus den Angeln und lud dazu ein, die Problematik auf ein radikal neues Fundament zu stellen. Viele Jahre später begründete Heidegger immer noch im Namen Luthers die Originalität der theologischen Erfahrung: „Der Glaube hat das Denken des Seins nicht nötig.Wenn er das braucht, ist er schon nicht mehr Glaube. Das hat Luther verstanden. Sogar in seiner eigenen Kirche scheint man das zu vergessen. Ich denke über das Sein im Hinblick auf seine Eignung, das Wesen Gottes theologisch zu denken, sehr bescheiden.“⁹⁵ Es sei abschließend daran erinnert, dass auch die antihumanistischen Ergebnisse der Anthropologie Heideggers unter dem Zeichen Luthers interpretiert wurden. Karl Löwith, ein Schüler Heideggers, behandelte auf zahlreichen Seiten seiner berühmten Autobiographie die theologische Abstammung vieler Vorstellungen des Meisters. Löwith fasste die „pure Entschlossenheit, von der nicht feststand Wozu“ seines Lehrers zusammen, in Ausdrücken, die dieser vom Reformator übernommen hatte: „Aus Luther stammt auch das unausgesprochene Motto seiner Existentialontologie: Unus cuisque robustus sit in existentia sua“. Diese Äußerung wurde von Löwith noch weitergehend geklärt, welcher in Luther – ebenso wie Nietzsche – „ein spezifisch deutsches Ereignis“ sah, „radikal und verhängnisvoll“.⁹⁶ Die Kennzeichnung der historischen Machbarkeit ohne jeden Bezug auf die Tradition wurde zur reinen Selbstbehauptung: „Der energische Leerlauf der Existenzkategorien“ hätte es Heidegger ermöglicht, mit seinem Beifall die Durchsetzung des Nazismus zu rechtfertigen und zu begleiten.
Vgl. M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens (1919 – 1921), hrsg. von M. Jung, T. Regehly, C. Strube, Frankfurt a.M. 1995, 97, 282. Vgl. ebd., 27. M. Heidegger, Seminare, hrsg. von C. Ochwadt, Frankfurt a.M. 1886, 437. K. Löwith, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933: ein Bericht (1986), Stuttgart 2007, 31, 32, 8.
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12 Interpretationen Luthers durch den Katholizismus zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert Für die historische Person und für dass Gedankengut Luthers war es nicht einfach, in den vorwiegend katholischen Ländern Aufmerksamkeit zu finden. Zum Beispiel in Italien scheint sein Ruf, die spirituelle und religiöse Einheit Europas zerstört zu haben, unüberwindbar zu sein. Dazu passen Hinweise auf den Reformator wie in dem Werk von Vincenzo Gioberti (1801– 1852) Del primato morale e civile degli italiani (Von dem moralischen und zivilen Vorrang der Italiener, 1843). In diesem Buch wird alles daran gesetzt nachzuweisen, dass Italien als die erste unter allen Nationen gelten muss. Gleichzeitig ist es eine unerschöpfliche Quelle für den Nachweis, dass der hegelsche Pantheismus von der neuen Heterodoxie Luthers abstammt. Die Gegner Giobertis waren diejenigen, die danach drängten, „ihr Vaterland verdeutschen wollten, indem sie ihm die philosophische und religiöse Weisheit Luthers einhämmerten“.⁹⁷ In der Substanz wurde Luther als ein Vorläufer Hegels dargestellt, folglich als Vertreter des neuen deutschen Idealismus’, fremdartig für die wahre nationale Identität Italiens. Zu versuchen in einem Land wie Italien mit dem Namen Luthers eine Bresche zu schlagen, war in der Tat keine glückliche Idee. Dessen waren sich auch diejenigen bewusst, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts versuchten, neue philosophische Gedanken einzuführen, die an Hegel inspiriert waren. Luther hat nur eine zweitrangige Bedeutung in der Gedankenwelt des Bertrando Spaventa (1817– 1883) und insbesondere in der Theorie, die er unter der Formel „circolazione del pensiero europeo / Verbreitung des europäischen Gedankengutes“ zusammenfasste. Spaventa war davon angetrieben, erneut die italienische Denkweise in der allgemeinen spirituellen Bewegung Europas einzufügen. In seiner historisch-philosophischen Vision der europäischen Kultur eindeutiger hegelscher Herkunft, fand die Figur Luthers nur am Rande einen Platz. Der hegelsche Entwurf wurde von Spaventa zum Vorteil einer Vision korrigiert, die für einen italienischen Leser besser zu akzeptieren war. Daher erhöhte er den Wert der (italienischen) Renaissance, die er jener (fremdartigen) der Reformation voranstellte, als konstruktives Faktum des historischen Prozesses. Da Luther beiseite geschoben war, benutzte Spaventa Giordano Bruno als denjenigen, „der die Mönchskutte abwarf“.⁹⁸ In einem Werk des italienischen Hegelianers Francesco De Sanctis (1817– 1883), die Storia della letteratura italiana, legte der Autor die Fremdartigkeit der Theologie Luthers für Italien fest. Italien hatte bereits „seinen Luther“⁹⁹ im laizistischen Geist Macchiavellis. Diese Einordnung Luthers als neben-
Vgl. V. Gioberti, Del primato morale e civile degli italiani, Mailand 1848, 547. Vgl. B. Spaventa, La filosofia italiana nelle sue relazioni con la filosofia europea, hrsg. von A. Savorelli, Rom 2003, 73. Vgl. F. De Sanctis, Storia della letteratura italiana, Bd. II, Neapel 1871, 41.
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sächliche Figur bestätigten die Autoren der idealistischen Tradition aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Benedetto Croce, Giovanni Gentile), in deren Werken man nur episodenhaft Hinweise auf den Vater der Reformation findet, auch scheinen sie seine Schriften nicht näher zu kennen.¹⁰⁰ Unter den Katholiken dagegen diente Luther in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts stets als negatives Bezugselement der Polemik. Im Großen und Ganzen galten immer noch die hundert Jahre alten Äußerungen Giobertis bezüglich der Verbindung zwischen Luther und dem immanentistischen Gedankengut des modernen Idealismus. Für Pater Agostino Gemelli (1878 – 1959), Rektor der Università Cattolica in Mailand und herausragende Persönlichkeit der Neuscholastik jener Zeit war Hegel Immanentist und Protestant, deutsch und also Ausländer, aber vor allem Verfechter „einer vollendeten und raffinierten Form des Pantheismus“, weil „trunken von deutschem Luthertum und modernem Rationalismus“.¹⁰¹ Ebensolche Töne stimmte die Luther gewidmete Monographie des „Modernisten“ Ernesto Buonaiuti (1881– 1946) an. Die Einheit der Christlichen Zivilisation, welche die katholische Kirche bis zum 16. Jahrhundert garantiert hatte, war Dank des Umsturzes des rebellischen Paters Martin von der Bildfläche verschwunden. Vom philosophischen Standpunkt aus sah Buonaiuti im „Subjektivismus“ der Rechtfertigung durch den Glauben den Ausgangspunkt für den unreligiösen modernen Immanentismus, der in der Systematik Hegels seinen Höhepunkt gefunden hatte.¹⁰² Aber man muss auch sehen, dass Buonaiuti – und das gilt in Analogie auch für Gemelli – seine Texte gegen Hegel und Luther nach einem Krieg geschrieben hatte, den Italien gegen das „protestantische“ Deutschland gekämpft hatte. Diese Texte sahen als ihre Zielscheibe auch die sogenannten italienischen Neuidealisten Croce und Gentile, die als Epigonen Hegels galten und gegen welche die katholische Kultur einen harten Kampf führte. Eine ähnliche Tonlage stimmte außerhalb Italiens bei seiner Lutherforschung ein weiterer Philosoph an, der dem Reformator keinerlei Zugeständnisse machen wollte. Der neuthomistische Denker Jaques Maritain (1882– 1973) gewann seine Anregung aus der katholischen Historiographie, welche gegenüber Luther extrem kritisch war (Hartmann Grisar und Heinrich Denifle). In der Rekonstruktion Maritains erscheint Luther als überbordende Persönlichkeit, als exzessiv, sinnlich und skrupellos: „Das ungeheure Desaster, das für die Menschheit die Reformation bedeutete, war nichts weiter als die Auswirkung einer schlecht gelungenen inneren Erprobung dieses Geistlichen ohne Bescheidenheit“.¹⁰³ Maritain wollte vor allem die „Egozentrik Lu-
Siehe zum Beispiel die Seiten von Benedetto Croce gegen den „unpolitischen“ Luther und die des Giovanni Gentile gegen den „mystischen“ Luther (B. Croce, L’eresia morale di Lutero, in „Quaderni della Critica“, 3, 1945, 116 – 117; G. Gentile, Filosofia italiana e tedesca, in Romanità e Germanesimo, hrsg. von J. De Blasi, Florenz, 1941, 375 – 390). Vgl. A. Gemelli, Le ragioni di questo volume, in Hegel nel centenario della sua morte, Beilage der „Rivista di filosofia neo-scolastica“, 1932, VII–XV. Siehe E. Buonaiuti, Lutero e la Riforma in Germania, Bologna 1926, Kap. 4. J. Maritain, Trois réformateurs: Luther, Descartes, Rousseau, Paris 1927, 17.
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thers“ und seinen „metaphysischen Egoismus“ hervorheben,¹⁰⁴ mit dem er ein Motiv hervorhob, das im katholischen Bereich bereits lebendig war, jener übertriebene Subjektivismus, für den die lutheranischen Dogmen nichts als die theologische Äußerung waren. Luther war der „Prototyp der Moderne“,¹⁰⁵ ein von seinem Willen, vom Gefühl und einem schrankenlosen Egoismus beherrschter Mensch, der jenes Konzept der „Person“ zerstörte, das – laut Maritain – bereits Thomas von Aquin im Lichte einer ausgewogenen Begegnung zwischen Willen und Intelligenz definiert hatte. Maritain wies also auf Luther, zusammen mit Rousseau und Descartes, als auf einen der „Väter des modernen Bewusstseins“ hin. Von seinem Gesichtspunkt aus bedeutete die hohe Verantwortung des Reformators für die von ihm ausgelösten historischen Folgen, dass er es auch verdiente, zum Ziel schwerster Kritik zu werden. Die zerstörerischen Konsequenzen der von Luther ausgelösten Revolution werden von Maritain noch bis in die Gegenwart hinein ausgemacht, in seinen Worten findet man, nicht nur zwischen den Zeilen, seine Besorgnis wegen der Plagen unserer Zeit: Individualismus, Voluntarismus und Liberalismus. Und damit nicht genug, Maritain, der Luther anklagt, er habe Deutschland geistig von den anderen Nationen getrennt und in Kontrast zu ihnen gebracht (der Philosoph übernimmt einige Sätze Fichtes über den „deutschen Luther“, deren ursprüngliche Bedeutung verändernd), bezeichnete Luther, den Vater der Reformation, auch als den ersten Auslöser für den Großen Krieg, der wenige Jahre vorher Europa verwüstet hatte.¹⁰⁶
Vgl. ebd. 29. Vgl. ebd., 38. Vgl. ebd., 38.
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Die universalgeschichtliche Funktion der Reformation entsprechend dem Idealismus und dem Historismus in der deutschen Kultur 1 Die Problematik Das, was hier vorgestellt wird, ist lediglich – und wie könnte es anders sein – der angedeutete Umriss einer Forschung, die einer noch zu vertiefenden, aufmerksamen Untersuchung bedarf, gleichzeitig kategorialer und epochaler Art, rings um ein gewaltiges Problem. Letzteres hat nicht nur eine außergewöhnliche Bedeutung in der Kulturgeschichte, die in ihrer weitesten thematischen und logischen Auffassung zu verstehen ist, hinsichtlich Religion, Philosophie, Politik, Geschichte, Kunst und so weiter. Dem „mutigen“ oder besser waghalsigen Verfasser dieser Seiten sei es zugestanden, dass er sich der Komplexität des Themas bewusst ist, welches hier auf der Grundlage einiger historiographischer und theoretischer Hypothesen behandelt wird. Diese werden umgehend dargelegt, denn sie sind die Voraussetzung für den Blickwinkel, unter dem hier nur angedeutet werden kann, wie komplex die Problematik ist, sowohl in thematischer Hinsicht, als auch hinsichtlich der Prinzipien oder Kriterien historiographischer Art. Der Autor ist ein radikaler Unterstützer der Notwendigkeit und Möglichkeit, eine spezifische historistische Tradition zu individualisieren, die als Verneinung von „Wirrwarr“ darzustellen ist, also einem Durcheinander, an das diejenigen glauben, die meinen, man könne Historiographie ohne Ideen und ohne Philosophie betreiben, ohne dem idealistischen Kreis oder „Halbkreis“ der Geschichte und Philosophie oder der Philosophie und Philosophiegeschichte irgendeine Konzession zu machen.¹ Innerhalb dieses komplexen Rahmens, der keineswegs beliebig oder generalisierend ist, müssen unvermeidlicherweise genaue kritische Unterscheidungen getroffen werden, mit Einschlüssen oder Ausschlüssen, wobei man darauf
Übersetzung: Fried Rosenstock. Hier seien nur drei Monographien allgemeiner Art erwähnt, ganz bewusst aus drei verschiedenen Momenten meiner Forschungen zu dieser Materie ausgewählt, welche Informationen über die Voraussetzungen zu dieser Untersuchung geben können: F. Tessitore, Profilo dello storicismo politico (Turin, 1981); Id., Introduzione allo storicismo (Rom/Bari, 1991; 52009); Id., Interpretazione dello storicismo (Pisa, 2006). Für detailliertere und analytische Informationen siehe Id., Contributi alla storia e alla teoria dello storicismo, 5 Bde. (Rom 1995 – 2000); Id., Nuovi contributi alla storia e alla teoria dello storicismo (Rom, 2002); Id., Altri contributi alla storia e alla teoria dello storicismo (Rom, 2007); Id., Ultimi contributi alla storia e alla teoria dello storicismo, 3 Bde. (Rom, 2010). https://doi.org/9783110498745-052
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achten sollte, allgemeine kulturelle Zusammenhänge und auch allgemeine Themen oder ähnliches nicht zu verwechseln, geschweige denn Interessen und wiederholt auftauchende Beziehungen zwischen Erfahrungen, die aus zwei kulturellen Strömungen gewonnen wurden und unterschieden werden müssen, nämlich zwischen dem klassischen Idealismus und Neoidealismus einerseits und dem kritischen Historismus oder besser „strengen“ und „radikalen“ Historismus im wahren Sinne, andererseits. Ich füge hinzu, dass in einer derartigen Ideenkonstellation der Autor außerdem ein Parteigänger des Syntagmas „Religion des Historismus“ ist, womit eine Fragestellung eröffnet wird, die noch keine kritische Untersuchung erfahren hat. Nur zuweilen wird sie von denjenigen als Fußangel empfunden, die den Historismus für eine Philosophie halten oder für eine Kultur, die danach strebt, die Religion als Philosophia inferior anzusehen, ein provisorisches Moment, das die Durchsetzungskraft des Geistes überwindet, womit sie an den idealistischen Ansatz glauben, an die laizistische Lebens- und Geschichtskonzeption. Andererseits: In der konzeptuellen und thematischen Extension des Historismus ist es nicht möglich, der religiösen Erfahrung nicht die theoretische Konsistenz eines „autonomen Modus des Bewusstseins“ einzuräumen. Das erfordert zwei Voraussetzungen: eine Dialektik vorauszusetzen, die nicht ohne „Termini“ auskommt, was bei der streng idealistischen Dialektik der Fall ist, bei der nur die versöhnende Synthese positiv ist, als Garantie für die Einheit des Geistes; andererseits eine Dialektik zu erfinden, welche der Logik des „Momentes der Besonderheit“ entspräche, den „Besonderheiten/Unterschieden“, wie sie in der verschiedenartigen Subjektivität des „Individuums“ / der „Person“ koexistieren, in der Objektivierung der Realität von Verbindungen, wie sie von jenen Individuen erfahren werden und von den Gruppierungen, die sie geschaffen haben. Das bedeutet, dass man eine Dialektik ohne Synthese akzeptieren muss, jene des Kompromisses von Troeltsch, der keine reduktive pragmatische Konfiguration ist, sondern die Anerkennung, dass die dialektische Vermittlung ein Akt „hoher Ethik“ ist, das rationale Verständnis von der Rauheit des Lebens, der Antinomie der objektiven und subjektiven Wirklichkeit, im Bewusstsein, dass sie die „Termini“ des Selbst in ihrer Unmittelbarkeit bewahren muss (eine Behauptung, die kein rhetorisches Wortspiel ist). Hier beginnt nun das von mir angewendete Schema für die Darstellung der historischen und historiographischen Probleme.
2 Das idealistische Fundament: Hegel Meine Darlegung kann mit niemand anderem als mit Hegel beginnen. Bei diesem deutschen Philosophen ist das Thema der Bedeutung und des Wertes des Protestantismus für die Geschichte des Christentums bereits in den Schriften der Jugendzeit anzutreffen – jene, die Wilhelm Dilthey und Herman Nohl nicht zu Unrecht „theologisch“ nennen –, bis hin zu den letzten Seiten der Vorlesungen zur Philosophie der Religion. Ich kann nur Akzente setzen, indem ich die ausführlicheren historiographischen Formulierungen zur Reformation benutze, wie sie in den Vorlesungen zur
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Geschichte der Philosophie und zur Philosophie der Geschichte dargelegt sind. Erstere las er neun Mal an verschiedenen Universitäten (von Jena bis Heidelberg in den Jahren 1805 – 1806, 1816 – 1817, 1817– 1818, dann in Berlin im Sommersemester 1819 und in den Wintersemestern 1820 – 1821, 1823 – 1824, 1825 – 1826, 1827– 1828, 1828 – 1829, er begann nochmals am 10. November 1831, doch am 14.11. desselben Jahres verstarb Hegel ganz unerwartet); die zweiten las er fünf Mal (stets in den Wintersemestern 1822– 1823, 1824– 1825, 1826 – 1827, 1828 – 1829, 1830 – 1831), ebenfalls in Berlin. Die Ausgaben der erwähnten Vorlesungen, mit denen ich arbeite, mangeln nicht an zuweilen voneinander abweichenden und unterschiedlichen Betrachtungsweisen, stimmen aber darin überein, in der „Reformation […] die alles verklärende Sonne, die auf jene Morgenröte am Ende des Mittelalters folgt“ zu sehen und die Reformation zur „dritten Periode des germanischen Reiches“ zu erklären, eintretend „in die Periode des Geistes, der sich als freier weiß, indem er das Wahrhaftige, Ewige und für sich allgemeine will“, wie es der klangvolle Beginn zur „dritten Periode“ in der Weltgeschichte darstellt, „Die neue Zeit“ in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. ² Eine nicht weniger feierliche Definition als die der Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, wo Luthers Reformation als „Die Hauptrevolution“ gewürdigt wird, „als aus der unendlichen Entzweiung und der greulichen Zucht, worin der hartnäckige germanische Charakter gestanden hatte und welche er hatte durchgehen müssen, der Geist zum Bewußtsein der Versöhnung seiner selbst kam, und zwar in dieser Gestalt, daß sie im Geiste vollbracht werden müsse“.³ Die Argumentation gliedert sich in der Substanz in einheitlicher logischer Entwicklung und beginnt damit, dass der „Anlass“ des lutherischen Protestes „unerheblich ist: Wenn eine Sache in sich notwendig ist und der Geist bereit, kann sie sich in der einen oder der anderen Weise äußern“, nicht notwendigerweise „in Verbindung mit einem bestimmten Individuum“, zum Beispiel Luther, denn „die großen Individuen sind Produkte der historischen Zeit“,⁴ welche hier als Zeit des Geistes zu verstehen ist oder als die Verewigung der historischen Zeit, die der Mensch im Zusammenhang mit seinem natürlichen, biologischen und empirischen Leben wahrnimmt. Dieselbe Überzeugung findet sich auch in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, wo allerdings die Termini ausdrücklicher konzeptualisiert sind. Die Inhalte der lutherischen Revolution kamen in der Verweigerung des Zölibats, in der Anerkennung des Besitzes und der Freiheit zur Anwendung, ein jeder Punkt wurde mit großer Umsicht präsentiert, um die Modalität der Ehe auszuschließen, damit diese nicht zum Vertragskonstrukt herabgemindert wurde; das „Leben von der eigenen
G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Kapitel 48; Lezioni sulla filosofia della storia, Bd. IV: Il mondo germanico, Übers. G. Calogero und C. Fatta (Florenz, 1963), 146 und 13. Unverzichtbar: E. De Negri, La teologia di Lutero. Rivelazione e dialettica (Florenz, 1967). G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, Zweiter Teil, Philosophie des Mittelalters, C. Die Reformation, 57; Lezioni sulla storia della filosofia, Bd. III/1, Übers. E. Codignola und G. Sanna (Florenz, 11934; 1964), 238. Vgl. ebd., 147.
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Arbeit“ und der „Genuss dessen, was sie hervorbringt“, so dass der Reichtum nicht die Berufung zu einer bestimmten Profession verletzt; und schließlich die Barmherzigkeit anzuerkennen, aber nicht aus „blindem Gehorsam“, der „die menschliche Freiheit unterdrückt“.⁵ Folgerichtig heben dieselben Vorlesungen auf unbeabsichtigt schleiermacherische Art hervor, dass „dieser Mensch“, dank der reformierten Religion, mit Gott in Beziehung steht und deshalb in der Lage ist, „seine Barmherzigkeit und Hoffnung auf Glückseligkeit und jeden anderen ähnlichen Zustand“ zu erkennen, wie es sein Herz und seine Subjektivität verlangt.⁶ Die Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte heben ebenfalls hervor, wie nur „die Innigkeit des deutschen Volkes“, das „Gelände der Reformation“, die „reine innere Geistigkeit“ bewahrte, so dass „ein einfacher Mönch das klare Bewusstsein der gegenwärtigen Stunde erwarb“ und „das „Dieses“, das die Christenheit vormals in einem irdischen steinernen Grabe suchte, vielmehr in dem tieferen Grabe der absoluten Idealität alles Sinnlichen und Äußerlichen, in dem Geiste findet und im Herzen zeigt“.⁷ Aber aufgepasst, in einer sofort gegen Schleiermacher gerichteten Terminologie ist der lutherische Einfluss der Freiheit des „Dieses, die unendliche Subjektivität d. i. die wahrhaftige Geistigkeit, Christus“, der „auf keine Art in äußerlicher Weise gegenwärtig und wirklich ist, sondern als Geistiges überhaupt nur in der Versöhnung mit Gott erlangt wird – im Glauben und im Genusse“. Hieraus erklärt sich die Opposition gegen das Abendmahlssakrament durch die Hostie, die als Materie nur „gegessen und zerstückelt“ werden kann, nicht „Dieses“ ist, dessen „Heilsprozess nur im Herzen und im Geist stattfindet“.⁸ Ebenso kann „die Idee von der Gegenwart Christi“ nicht etwas „Materielles sein, sondern reine Gegenwart des Geistes“.⁹ Die „Gewissheit“ des Glaubens „gehört nicht […] zum vollendeten Subjekt; sondern die subjektive Gewißheit des Ewigen, der an sich und für sich seienden Wahrheit, der Wahrheit von Gott“.¹⁰ Auf diese Weise bleibt kein Raum für Zugeständnisse an Schleiermachers Fundament pietistischen Ursprungs von der Idee des historischen Individuums. Im Gegenteil, bei Hegel handelt es sich um einen Begriff, der „zum Individuum gehört, nicht wegen seiner individuellen Eigenheit, sondern wegen seiner Essenz“.¹¹ Und hier das Wort, das alles klärt: Essentia tollit existentiam, und Hegel muss das anerkennen, indem er in gewisser Weise etwas von der modernen Revolution der Reformation zurücknimmt: „Die lutherische Lehre ist darum ganz die katholische, aber ohne das, was alles aus jenem Verhältnisse der Äußerlichkeit fließt“. Dieses Verhältnis ist allerdings nichts
Vgl. ebd., 239 und vgl. Id., Lineamenti di filosofia del diritto (Bari, 1954), § 75 Anmerkung, 81 f., siehe die kürzlich erschienene, gewissenhaftere Übersetzung von G. Marini (Rom/Bari, 1987), 74. Hegel, Lezioni sulla storia della filosofia, III/1:241. Vgl. ebd., 147. Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Navigation: Kapitel 49 (Erstes Kapitel: Die Reformation). Vgl. ebd., 148. Vgl. ebd., 149. Vgl. ebd. Vgl. ebd. (kursiv durch den Autor).
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Geringes, es bedeutet die Akzeptanz der Geschichte, auf die das katholische Christentum trifft, wenn auch, um sie zu überwinden, aber unter der Bedingung, sie bis zum Ende zu durchleben, durch Menschen aus Fleisch und Blut. Für Hegel gilt, entsprechend der Reformation: „Indem das Individuum nun weiß, daß es mit göttlichem Geist erfüllt ist, so fallen damit alle Verhältnisse der Äußerlichkeit weg“,¹² und wir können auch sagen, die Züge und Eigenheiten des empirischen Individuums zum Vorteil des epistemologischen Individuums, in dessen Adern, wie Dilthey, ein anderer großer Kenner der Reformation, sagen sollte, „nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit“.¹³ Das hat Hegel nicht zu befürchten, denn für ihn „muss sich das Subjekt den objektiven Inhalt aneignen“, und nur dank diesem „wird der subjektive Geist in der Wahrheit frei, negiert seine Besonderheit und findet zu sich selbst in seiner Wahrheit“, was bedeutet, indem er auf seinen „besonderen Inhalt“ verzichtet, denn sein Inhalt ist der „Geist“, „die Essenz des Subjektes“,¹⁴ welche man erreicht, wenn das Individuum sich selbst in der Gedankenwelt des Seins denkt – wie Hegel in der Logik und in der Enzyklopädie lehrt.¹⁵ Auf diese Weise handelt er bewusst gegen den intimen und persönlichen Augustinismus des Mönches Luther – man hätte fast Lust, wie der Hegelianer Gentile vom „wahren Luther“, nicht vom „Luther wahr“ zu sprechen – und noch mehr von der Bedeutung der Religiosität Augustins. Die reformierte Religion, laut Hegel, kann nichts anderes sein, als – um es mit den Ausdrücken einer anderen theologischen Sequenz zu sagen – die Erforschung der „Caritas in veritate“. Es geht darum – um zu klären, was hier vorgeschlagen wird –, das entgegengesetzte Prinzip abzulehnen, wie es auf großartige Weise von der historisierenden Religiosität Vicos ausgedrückt wurde: „Wenn man nicht fromm ist, kann man nicht wirklich weise sein“.¹⁶ Das ist für Vico der Abschluss der von ihm auserwählten Neuen Wissenschaft, der Weg der vielfach beschworenen „Weisheit“, die die barmherzige Ausdehnung der Liebe Gottes (Caritas) auf die Menschen ist, welche in der Liebe untereinander die Gewissheit des „Weisen“ gewinnen, das Bewusstsein von ihrer subjektiven Freiheit, in der Sicherheit der natürlichen und geistigen Zuneigung in der Beziehung zu ihrem Nächsten. Für Hegel gilt der umgekehrte Weg, nicht Veritas in caritate, die dem Herzen die Kraft der Ausgewogenheit gibt, um es in der Art Schleiermachers zu sagen. Hegel äußert dies mit großer Sicherheit, wenn er die Unterschiedlichkeit der „neuen Kirche“ definiert, welche im Gegensatz zum „Reich der alten Kirche“ „das Reich der Geistesfreiheit“ ist,¹⁷ deren Inhalt der „Glaube an die freie
Vgl. ebd., 150. W. Dilthey, „Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte,“ in Gesammelte Schriften, Bd. I, Hg. B. Groethuysen (Göttingen/ Berlin, 1914), XVIII. Vhl. Hegel, Lezioni sulla storia della filosofia, III/1:150 f. Vgl. G.W.F. Hegel, Scienza della logica, Einführung L. Lugarini, Übers. A. Moni, Bearb. C. Cesa (Bari, 1984); Id., Enciclopedia delle scienze filosofiche, Hg. B. Croce (Rom/Bari 22009). G. Vico, Principi di scienza nuova (Florenz, 1849), 324. Vgl. Hegel, Lezioni sulla filosofia, 152.
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Subjektivität“ ist und die laizistische Welt, die sich daran inspiriert hat. In der alten Kirche wie auch in der an ihr orientierten Laiengesellschaft werden nur die äußerlichen Lebensinteressen¹⁸ anerkannt, denn in der alten Kirche und der an ihr orientierten Laiengesellschaft befindet sich „die Geistesfreiheit“ in der „Form der subjektiven Erkenntnis“, welche jedoch, der hegelschen Logik entsprechend, in „die Wirklichkeit eingefügt sein“ muss. Das kann in Erscheinung treten, wenn die Kenntnis auf „effektive Weise objektiv“ wird, also wenn sich der „Inhalt“ mit der „Form“ verbindet, somit geschieht „die Verwirklichung des Universalen“, und das „ist das Denken/der Gedanke“. Es geht darum, das „Prinzip des freien Geistes“ zu erwerben, „in dem die Versöhnung mit dem Selbst und die Wahrheit objektiv werden, auch entsprechend der Form“, indem „die Intensität des subjektiven freien Geistes“ „sich zur Form der Allgemeinheit entschließt, kann der objektive Geist erscheinen“¹⁹ und erklären, was er seit langer Zeit bereits besaß. Damit wird klar, dass dieser Prozess der Erklärung der geistigen Wahrheit ein Ergebnis der reformierten Religion ist, wie es Hegel in der Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts äußert. Sie trägt dazu bei, „den Geist des Begriffs zu verstehen“, allein die Wahrheit macht es möglich, „sich in der Gegenwart zu emanzipieren und sich in ihr wiederzufinden“, in der ewigen Gegenwart des Geistes, wie auch Luther zu verstehen begann, aber nur „im Keim“. Dennoch bemerkte er die Notwendigkeit „der Versöhnung des Menschen mit sich selbst“. Die Versöhnung ist „die Bewusstheit des Gedankens“, welche „der verstandenen Weisheit“ die Wirkungskraft verleiht, „die höchste Bestätigung“, deren das Subjekt bedarf, um den eigenen „Wert“ zu erwerben. „Die reine Subjektivität des Menschen, aus der sein Wille entsteht“, sich „mit dieser oder jener Sache zu beschäftigen“, beinhaltet noch „kein Recht“, bis der „eigene Wille nicht die universelle Form annimmt“, die „Freiheit des Menschen im Allgemeinen“, nicht die des subjektiven Willens.²⁰ Das alles sind Eigenheiten und Folgen der lutherischen Reform, dank der unnachgiebigen Durchsetzung der „absoluten Beziehung zu Gott“, der „jede Äußerlichkeit entzogen wird“, mit der dazu passenden Bedeutung des empirischen Charakters. Dazu trägt die Sprache bei, „welche die erste Setzung der Entäußerung ist, die der Mensch erwirbt, um den Prozess der Herrschaft über sich selbst einzuleiten und die Essenz der Selbstbefreiung zu erreichen“. Hegel schreibt, dass Luther „seine Reformation nicht hätte vollenden können, wenn er nicht die Bibel ins Deutsche übersetzt hätte“.²¹ Abschließend sei gesagt: „die grundsätzliche Entschiedenheit, welche die Reformation repräsentiert“ ist „das abstrakte Moment des Geistes in sich selbst zu sein, frei zu sein, zu sich selbst zu kommen. Die Freiheit ist genau dieser Wille des Geistes, weshalb er in seinem determinierten Inhalt, anstatt sich als etwas anderes durchzusetzen, in sich selbst zurückgekehrt ist“.²²
Vgl. ebd., 151. Vgl. ebd., 152. Vgl. ebd., 240. Vgl. ebd., 247. Vgl. ebd., 244.
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3 Das historistische Fundament: Ranke Den Ideen Hegels, die hier zum Teil zitiert wurden, steht die anders geartete, von Anfang an ältere Betrachtungsweise Luthers und der Reformation nahe, die Leopold von Ranke seit seiner in der Jugend entworfenen Lutherbiographie ausgearbeitet hat. Bei Ranke nimmt das Verständnis und die historische und begriffliche Definition der „modernen Welt“ eine zentrale Position ein – für ihn und für Hegel Höhepunkt oder zumindest determinierendes Moment der Universalgeschichte. Eine zentrale Stellung in der Moderne räumten er und Hegel der Reformation ein. Wenn man also diese Problematik in der angemessenen Weise untersuchen wollte, kämen wenigstens zwei Werke in Betracht, die den Kern der kraftvollen Erforschung der neuralgischen Punkte des modernen Europas bilden. Ich beziehe mich auf die Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation (1839 – 1847) und auf das vorausgegangene Werk Die römischen Päpste (1834– 1836),²³ beide beeindrucken nicht allein wegen ihrer Interpretationsgewalt, sondern auch wegen ihres erzählerischen Umfangs.²⁴ An dieser Stelle können wir nur an den Ursprung von Rankes Idee der Reformation erinnern, auf dieselbe Weise, wie wir es für Hegel versucht haben, indem auf die ursprüngliche, sehr aufschlussreiche Gliederung hingewiesen wird. Zwischen 1816 und 1817 las der einundzwanzigjährige Ranke eine Reihe von Texten, die er in der heute Lutherfragment genannten Schrift zusammenfasste,²⁵ die er in Form von systematisch ausgewählten Luthertexten hinterließ. Für eine hypothetische, aber nicht vollendete „Lutherbiographie“ versah er sie mit persönlichen Anmerkungen. Abgesehen von einigen Anklängen an Hegel präsentiert Ranke einen völlig anderen Ansatz, denn sein Interesse ist das des Historikers, nicht des Philosophen, aber auch wegen einer anderen Geschichtstheorie, die man bereits am Lutherfragment
L. von Ranke, „Die römischen Päpste, ihre Kirche und ihr Staat im XVI. und XVII. Jahrhundert (1834– 1836)“, jetzt in Id., Sämmtliche Werke, 6 Bde. (Leipzig, 1867– 1868). L. Ranke, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, 6 Bde. (Berlin, 1839 – 1847), siehe die kritische Ausgabe von P. Jochimsen (München, 1926). Zur Vervollständigung von Rankes Vision der Moderne, innerhalb der die Reformation einzuordnen ist, siehe auch die Französische Geschichte vornehmlich im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert, 5 Bde. (Stuttgart, 1852– 1861), jetzt in Id., Sämmtliche Werke, Bde. VIII – XIII (Leipzig, 1870) und Id., Englische Geschichte vornehmlich im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert, 7 Bde. (Berlin, 1859 – 1868), jetzt in Sämmtliche Werke, Bd. XIV – XXII (Leipzig, 1870 – 1872). Das Luther-Fragment von 1817 erschien zum ersten Mal als Anhang der neuen Ausgabe von Rankes Deutscher Geschichte, Bd. VI, Hg. P. Jochimsen (München, 1926), 311– 377 und 404 ff. Das Frankfurter Manuskript von 1837, dem wir hier im Vergleich zur Ausgabe von E. Schweitzer folgen, wurde herausgegeben von W.P. Fuchs, in L. von Ranke, Aus Werk und Nachlass, Bd. III: Frühe Schriften (München/ Wien, 1973), 340 – 546, es gibt eine italienische Ausgabe von F. Donadio und F. Tessitore, Lutero e l’idea di storia universale (Neapel, 1986).
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erkennen kann. Ranke optiert hier bereits für eine Theorie, die mit dem „heterodoxen Kantismus“ Verbindungen aufweist.²⁶ Ranke gibt zu und nimmt es hin, dass sich in der Reformation „der Kampf zwischen dem Alten und dem Neuen“ zeigt, „die Gewalt der neuen Ideen“, die uns in „bisher unbekannte Regionen“ reißen. Nur darin enthüllt sich „das Spezifische einer jeden Idee“, die nur entstehen kann, wenn man „gute Räderwerke“ schafft, unter einer „gleichmäßig mutigen Spannung“, wenn auch im Zusammenprall die Besonderheiten viel aushalten müssen, bis die alten Ideen fallen, auf die man sich in der Vergangenheit verlassen konnte. „Es beginnt eine neue Existenz […] der härteste Kampf ist unvermeidlich“, angesichts der Überzeugung eines jeden Menschen, dass er mit Leichtigkeit seiner eigenen Neigung nachgehen könne,²⁷ dadurch, dass er mit „dem Ablauf der Zeit die eigene Position verändert, um Einfluss auf die Mit- und Nachwelt zu gewinnen“.²⁸ Die Schlussfolgerung ist nochmals eine Vorwegnahme der Überzeugungen aus der Reifezeit Rankes, wenn er sagt, dass man „die Geschichte an die Verbindung des Ideals mit der Wirklichkeit anvertrauen muss“. Im Jahr 1817 behauptete er, nur auf dem festen Untergrund der empirischen Geschichte könne sich „das Ideale wahrhaft erheben“.²⁹ Diese Ideen sind die Voraussetzung für die Darstellung von Luthers Reformation durch Ranke und gleichzeitig die opportune Verifizierung, um den großen revolutionären Atem der Reformation zu verstehen. Der Beruf des Historikers zeigt sich schon in den Anmerkungen, die, wie es scheint, dazu dienen sollten, eine Einleitung zu der hypothetischen Biographie zu verfassen.³⁰ Hier die Enthüllung „des Unbegreiflichen“, das „man unbegreiflich gefunden hat“, weil es nicht an Prozesse rationaler Begrifflichkeit gebunden ist, sondern an die „Einsicht“, an die lebhafte Kraft, „die man in der sicheren Intuition besitzt“, und im „Bewusstsein mit höchster Sicherheit“. Derartig stark war die Besorgnis Luthers, dass er „sich nicht über die Geschichte Gedanken machte“, um nicht „den Glauben“ zu verlieren, zu dem er von den „Ängsten“ ausgehend gekommen war,³¹ die ihm die dramatische Lebenstheologie des Menschen enthüllten: „Simul iustus et peccator, simul iustus et iniustus“.³² Diese beunruhigende Entdeckung der verborgenen Konvergenz des Apostels Paulus mit Augustin machte
Es handelt sich um einen Ausdruck, den ich vor vielen Jahren benutzt habe, um die anthropologische Wendung des „Rationalismus“ in der Art einer Spät-Aufklärung der gnoseologischen Revolution des Kantismus hervorzuheben – auch auf den Spuren von Ernst Cassirers Arbeiten über Kant. Es ist falsch, das emphatisch als „kantisch-fichtischen Idealismus“ zu lesen, der kraft des Gewohnheitsrechtes als „orthodox“ gilt. Ich verweise auf meinen Text „Teoria del Verstehen e idea di storia universale in L. v. Ranke,“ in Contributi alla storia e alla teoria dello storicismo, Bd. II (Rom, 1995): 747– 810; Ranke, Lutero e l’idea di storia universale, 172. Vgl. ebd. Vgl. ebd., 170. Vgl. ebd., 31 f. Vgl. ebd., 33. Vgl. Röm 4,7 ff.
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Luther „glücklich“, denn er „verstand“, dass „die Gerechtigkeit Gottes die Barmherzigkeit war, die uns als gerechtfertigt ansah“.³³ Wo sonst würdigt man die Untersuchung der Veritas in veritate in Opposition zur hegelschen Erforschung der Caritas in veritate mit eindeutiger Anleihe bei Schleiermacher, der sich seinerseits auf die Entdeckung des Sinnes und der Bedeutung der Menschwerdung gründet, wie sie in Vers 14 der Vorrede zum Johannesevangelium ausgedrückt ist. Das beinhaltet, als ein typisches Verlangen Luthers, die Konvergenz von Leben und Doktrin. Ranke sagt: „Wir kommen nicht in Kontakt mit seinem Leben [dem Luthers]; er lebt in seiner Doktrin und seine Doktrin lebt in ihm“, so dass die beiden Erfahrungen zusammenfallen.³⁴ In diesem Sinne kümmert sich Luther nicht um den „Plan der Geschichte“,³⁵ wenn dies dazu führen sollte, wie mit dem römischen Papsttum geschehen,³⁶ dass der Glaube überwältigt wird. Luther hatte die Absicht, vor der Gefahr zu warnen, wenn das Evangelium abstrakt behandelt wird und wir wie durch einen „großen Abgrund“ dazu kommen, das Geistesleben von dem gewöhnlichen Treiben zu trennen und unseren Geist in Widerspruch bringen.³⁷ Als Antiintellektueller ordnete Luther nicht, wie viele andere, den „Grundsatz höher ein als die Meinung“, er tat genau das Gegenteil. Er gab ganz ethisch – wie Ranke kommentiert – der Meinung einen höheren Stellenwert als dem Grundsatz.³⁸ Das Leben erhielt wieder sein Recht, erreichte seine Ethik und ordnete die intellektuelle Ebene der ethischen unter.³⁹ Auf diese Weise wurde „die Form gebrochen“, „Sitte und Ethik“ zwangen unsere Einsamkeit und unser Gemeingefühl, „hervorzutreten und die großartige Freiheit anzunehmen, die ihnen geboten wurde“.⁴⁰ Mit entschieden antihegelscher Akzentuierung – ob er sich dessen bewusst war oder nicht – erläuterte Ranke alles, was er aus den Texten Luthers an Erkenntnis gewonnen hatte: „Es ist eine Lüge zu behaupten, die Reformation sei nur der Vernunft gefolgt oder dass die Vernunft ihr leitendes Prinzip gewesen sei. Sie folgte vielmehr der Ethik“.⁴¹ Sie war seine Wissenschaft, die Lebenswissenschaft, welche Luther dazu brachte, nicht zu erwarten, unter die Gelehrten eingereiht zu werden. Als er seine große Programmatik entwickelte,⁴² sah er in dieser Lebenswissenschaft auch die ethische Geschichtswissenschaft, die in ihm durch die Reformation herangewachsen war. Wenn unser Rahmen es zuließe, könnte diese Behauptung leicht durch den Bericht dokumentiert werden, den der Ranke der Reifezeit in der Geschichte der Päpste (insbesondere auf einigen Seiten, wo gleichzeitig die „Erneuerung des Katholizismus“
Vgl. Ranke, Lutero e l’idea di storia universale, 54. Vgl. ebd., 31. Vgl. ebd., 81. Vgl. ebd., 77– 80, insbesondere 79. Vgl. ebd., 81. Vgl. ebd., 83 und vgl. 86 f. Vgl. ebd., 85. Vgl. ebd., 87. Vgl. ebd., 86. Vgl. ebd., 92– 158.
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und die Durchsetzung der Reformation dargelegt werden) und in der Deutschen Geschichte im Zeitalter der Reformation gibt. Es ist kein Zufall, nach den Anmerkungen, an die hier erinnert wurde, dass der größte Teil der Anmerkungen des Lutherfragmentes einer ersten, summarischen Aufzählung der bedeutungsvollsten historischen Momente der Durchsetzung und Entwicklung des Protestantismus vorbehalten ist, wie sie in den großen Werken der Reifezeit ausgearbeitet sind.⁴³ Die idealistische Interpretation der Reform setzt sich insbesondere in der Historiographie und Philosophie des italienischen Idealismus fort, ausgehend von Bertrando Spaventa. Aber davon kann hier nicht die Rede sein, da wir über die deutsche Kultur berichten wollen.
4 „Universaler religiöser Theismus“ und Historismus: Wilhelm Dilthey Bei dem Unterfangen, die exemplarischen Momente der Reformationsidee in der deutschen Kulturgeschichte zu schildern, muss man, nach den grundlegenden Gedankengängen Rankes, zunächst den Blick auf den größten Philosophen des frühen Historismus, Wilhelm Dilthey, lenken. Erst dann folgen die Vertreter des reifen Historismus, Ernst Troeltsch und Max Weber, unter stillschweigender Miteinbeziehung von Forschungen des Adolf von Harnack und Friedrich Meinecke, die in einer weiter gefassten, aber hier leider unmöglichen Bestandaufnahme sicherlich nicht vernachlässigt werden sollten. Um mit Dilthey zu beginnen, muss an seine anfänglichen und mehr als zehnjährigen theologischen Studien in der Nachfolge Nietzsches erinnert werden, die er nie vernachlässigte und die sich dann in den theoretischen und historiographischen Betrachtungen des Historismus äußerten, ausgehend von der klassischen Reflektion über das „natürliche System der Geisteswissenschaft“. Er schilderte dies als einen der bedeutendsten Momente der langen Geschichte vom Triumph und Niedergang der Idee von der Metaphysik und berichtet darüber in seinem zweiten Buch Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883), das er nicht vollendete. Mit den Studien Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation der Jahre 1893 – 1903 nahm er diese Thematik wieder auf.⁴⁴ Außer den vielfachen Versuchen, die
Es genügt, die verschiedenen Themen der „Anmerkungen“ des Lutherfragmentes mit dem Inhalt der Deutschen Geschichte zu vergleichen. W. Dilthey, „Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte,“ in Gesammelte Schriften, Bd. I, Hg. B. Groethuysen (Göttingen/ Berlin, 1914); Id., „Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation,“ in Gesammelte Schriften, Bd. II, Hg. G. Misch (Göttingen/Berlin, 1914), it. Übers., L’analisi dell’uomo e l’intuizione della natura dal Rinascimento al secolo XVIII, Bd. I-II, Übers. G. Sanna (Venedig, 19271; Florenz, 1974), welche ich mit der deutschen Ausgabe verglichen habe. Ich bin der Meinung, dass diese Schriften als Vervollständigung des historischen Teils der Einleitung gelten können.
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Einleitung in ihrem historischen Teil zu vervollständigen, ist dies eine wahrhaft kosmopolitische und scharfsinnige Untersuchung zur Funktion der kulturellen Anthropologie des 16. und 17. Jahrhunderts. Darin geht er von der italienischen Renaissance aus, ihrer Verbreitung und Umsetzung in Europa, in dialektischer Verbindung zur lutherischen Reformation. Allerdings räumte er letzterer ein größeres Gewicht ein als der Renaissance. Nur wenn man sich diesen Ansatz vor Augen hält, versteht man wirklich die Einheitlichkeit von Diltheys Rekonstruktion, dazu bestimmt, den von ihm unbeirrt verfolgten Hauptstrang zu bilden, den er im Historismus mit erneuerter Autonomie wieder aufnahm. Die Klärung hierzu lieferte Dilthey in einer Schrift aus dem Jahre 1892, die zu lesen lohnt, denn er erklärte darin den Sinn und die universalgeschichtliche Bedeutung seiner Interpretation: Wir betrachten die Bewegung der Reformation, die so entstand, nicht unter dem kirchen- und dogmenhistorischen Gesichtspunkt, wir verfolgen nicht, wie neue Kirchen sich nun bildeten und Veränderungen im Bestande der christlichen Dogmen eintraten, sondern wir versuchen, diese Bewegung als ein hochwichtiges Glied in der Verkettung der geistigen Vorgänge des 16. Jahrhunderts aufzufassen. Wir möchten erkennen, wie die Menschheit aus der theologischen Metaphysik des Mittelalters so dem Werk des 17. Jahrhunderts, der Begründung der Herrschaft des Menschen über die Natur, der Autonomie des erkennenden und handelnden Menschen, der Ausbildung eines natürlichen Systems auf dem Gebiet von Recht und Staat, Kunst, Moral und Theologie entgegengeschritten ist.⁴⁵
Innerhalb dieses Rahmens interessierte es Dilthey zu untersuchen, was er den „religiös universale[n] Theismus“ nannte, den er als ein „siegreich[es]“ kulturelles Phänomen betrachtete, das sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts „in ganz Europa“ herausbildete,⁴⁶ bis es sich mit der transzendentalen Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts vereinigte. Das wirkt wie eine ausdrückliche Forderung nach der kategorischen Konzeption historischer Entwicklung. Aber die Erklärung der Motivation für gerade diese Studien darf nicht vernachlässigt werden. Einerseits wird ein historiographischer Maßstab festgelegt, andererseits wird eine Methode gewählt, die scheinbar doppelsinnig ist. Zunächst behauptet er, dass Luther und seine Reformation den Beginn der Neuzeit oder der „Moderne“ einläuten und das nicht, um das Gewicht dieser „Revolution“ zu schmälern, sondern um das Bewusstsein auszudrücken, wie komplex die Neuzeit ist, nach zwei außergewöhnlichen Lebens- und Denkerfahrungen wie die der klassischen Antike und des Mittelalters. Das zweite Element der Idee Diltheys stellt offen die Forderung nach einer kategorischen Dimension. Aber in Wirklichkeit verblasst die Vorliebe für eine Geschichte mit langen Zeitabschnitten nicht und sie kann noch nicht einmal die historiographische Kraft der Rekonstruktion abschwächen, welche sofort eine entschieden epochale Dimension annimmt, was für unseren Diskurs wichtig ist, gerade wenn Dilthey Luther ankündigt und heraus-
Dilthey, Weltanschauung und Analyse des Menschen seit der Renaissance und Reformation, in Gesammelte Schriften, Bd. 2 (Stuttgart/Göttingen, 1991), 41 f. Ebd., 42.
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schmettert: „Luther kam“, was von einer Unterbrechung der Methodologie begleitet wird, die nicht zu vernachlässigen ist. „Es gibt in der Menschheit nicht nur die Kontinuität der fortschreitenden Wissenschaft, sondern auch eine solche der religiösmoralischen Entwicklung.“⁴⁷ Indem ich die Strenge seines Dialektikverständnisses der „Verbindung“ (entschieden kantianisch und nicht neokantianisch) zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften aufgreife, setzt sich der Diskurs damit fort, „wie sich ein Mensch fortschreitend im Zusammenhang seiner Lebenserfahrungen auslebt, so auch das Menschengeschlecht selber.“⁴⁸ Diese Erfahrungen erlauben es nicht, Einseitigkeit zu akzeptieren, im Gegenteil, sie weisen sie zurück. Mit Sicherheit waren die großen Veränderungen des moralischen Lebens stets mit denen der Religion verbunden. „Die Geschichte spricht irgend bisher für das Ideal der religionslosen Moral“, in diesem Sinne muss „das fruchtbare Neue auf diesem Gebiet immer im geschichtlichen Zusammenhang selber [entspringen], auf der Grundlage der Religiosität einer ablaufenden Epoche, wie ein Lebenszustand aus einem früheren hervorgeht.“⁴⁹ Nur vor diesem Hintergrund epochaler Art versteht man, was „Luther kam“ bedeutet.Was diese epochale Dimension ausmacht, wird schnell deutlich, wenn man einen Blick auf die Sozialgeschichte der religiösen Ideen wirft. „Nicht minder bedeutend ist, wie ein neues Lebensideal aus der veränderten Lage der Gesellschaft entsteht, nach welchem das Individuum seinen innerlichen, selbständigen Wert fühlt und dessen Entfaltung frohmütig im Wirken innerhalb der konkreten Lebensverhältnisse sucht,“ wie es Luther und Zwingli gezeigt haben, die „diesem Lebensideal in dem kirchlichen Leben selber Raum“ verschafft haben. Das wurde ihnen nicht friedlich zugestanden, es war das Ergebnis eines langen und mühseligen Kampfes, denn „auch hier [durchdringt] nur schwer gegenüber den Überlieferungen das Neue“. So muss der Historiker erkennen lernen, „wie in den Menschen dieser Reformationszeit, unterschieden von den mittelalterlichen Köpfen und ihrer theologischen Metaphysik, eine neue Art, die höheren Überzeugungen über das Verhältnis des Menschen zum Unsichtbaren zu befestigen und zu begründen, aufgetreten ist.“⁵⁰ Von hier ausgehend schreitet Dilthey mit Sicherheit voran, im Bewusstsein der schroffen Problematik seines Weges, ohne jemals den Verbindungsring HumanismusRenaissance-Reformation in seiner europäischen Dimension zu brechen. Zuweilen scheint er mit Bertrando Spaventas Ansatz des Primates der italienischen Philosophie übereinzustimmen, aber sein Horizont wird sofort wieder kosmopolitisch, innerhalb jener weit gespannten Bewegung, die Dilthey den „religiös universalistischen Theismus“ nennt. Er präsentiert sich als „Überzeugung, daß die Gottheit in den verschiedenen Religionen und Philosophien gleichermaßen wirksam gewesen sei und heute noch wirke. In dem moralisch-religiösen Bewußtsein jedes edleren Menschen spreche sie sich aus.“ Damit kann aber nicht vernachlässigt werden, dass sie bereits „bei
Ebd., 53. Ebd., 53 f. Ebd., 54. Ebd., 42.
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scharfsinnigen mittelalterlichen Beobachtern entstanden, sonach aus dem Leben selbst und seiner unbefangenen Betrachtung“ erkannt wurde.⁵¹ Dilthey erinnert beispielhaft an die literarische Zivilisation Kaiser Friedrichs II. und Saladins mit einem bedeutungsvollen Hinweis auf die Novelle der drei Ringe, in der „dieser religiös neutrale Theismus ausgesprochen“ wurde. Dieses Gedankengebäude fordert dazu auf – und Dilthey tut dies mit kraftvoller Synthese, die sich in den ersten fünfundzwanzig Seiten seiner genau gegliederten historischen Rekonstruktion findet –, indem er an die vorausgegangene griechisch-römische Klassik, aber auch an die religiösen Mythen der „orientalischen Völker“ erinnert, um dann die Aufmerksamkeit auf die Neuzeit zu lenken: „Mit der Renaissance treten wieder der Epikureer, der Stoiker, der naturtrunkene Pantheist, der Skeptiker und der Atheist wieder auf“, sie trugen dazu bei, dass „ganz verschiedene Typen der Lebensführung“ in Erscheinung traten.⁵² Indem er unbewusst ein Kriterium Rankes teilt, ist er der Meinung, dass für Luther ist „Leben […] das Erste“ ist, mehr noch als die Lehre. „Aus dem Leben, aus den in ihm gegebenen sittlich-religiösen Erfahrungen stammt ihm alles Wissen über unser Verhältnis zum Unsichtbaren und bleibt daran gebunden. Und so tritt das intellektuelle Band des Kosmos, das die Vernunftwesen an die Weltvernunft bindet, zurück hinter den moralischen Zusammenhang.“⁵³ Der Glaube steht im Zentrum des Prozesses, „deren Kennzeichen [ist] die Zuversicht auf Gott.“⁵⁴ Davon stammen alle großen Prinzipien der lutherischen Revolution ab, welche Dilthey auf langen, klug verfassten Seiten schildert, und gewinnen an Willenskraft und religiöser Ethik, ohne jemals „die Sphäre der Werke des Glaubens“ zu vernachlässigen, also „die weltliche Gesellschaft und deren Ordnung“.⁵⁵ Deshalb: „im Namen des neuen christlichen Geistes fordert Luther eine Umgestaltung der deutschen Gesellschaft.“⁵⁶ Während Dilthey die wirkliche „Geschichtlichkeit“ des moralisch ausgerichteten Glaubensprozesses erkennt, kann er in seinem Namen auch die Grenzen Luthers ausmachen, das pädagogische Werk Zwinglis, das Engagement Melanchthons bei der Systematisierung der Lehre, den zersetzenden Rationalismus der Sozinianer und der Arminianer, die Entwicklung der historischen Kritik und die Entstehung der Hermeneutik, bis hin zu Calvin und Bodin, um dann mit dem konstruktiven Rationalismus und der pantheistischen Bewegung des 17. Jahrhunderts von Giordano Bruno bis zum historisch-evolutiven Pantheismus eines Descartes, Spinoza und Hobbes zu enden. Es handelt sich um eine fein gegliederte und dennoch gelehrte Rekonstruktion, die sich über den gesamten ersten Band von Diltheys Gesamtwerk entwickelt. Hier ist es nicht möglich, lediglich auf diesen wohl artikulierten Prozess hinzuweisen, man würde dem Risiko verfallen, eine fruchtbare historiographische Rekonstruktion zu sehr zu vereinfachen. Man
Ebd., 45. Ebd., 17. Ebd., 58. Ebd., 59. Ebd., 61. Ebd., 62.
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sollte vielmehr nochmals auf das „revolutionäre Ferment“ eines Glaubens hinweisen, der „aktive Kraft“ ist und „die Regel ihres Wirkens in dem Sittengesetz“ findet, welches den Sinn für die Verantwortung vorgibt, wenn „der Mensch zum Werkzeug Gottes in dessen Weltwirksamkeit wird,“⁵⁷ denn „der Mut des Handelns, der sich in der Wehrhaftigkeit ausdrückt, ist keine Unvollkommenheit, verglichen mit dem Mut des Duldens, sondern ein Teil des echt menschlichen Ideals.“⁵⁸ „Aus diesem Glauben quillt eine aktive Energie“, das neue „Unabhängige umgewandelte[…] Verhältnis der Person mit dem unsichtbaren, das sich umgibt.“⁵⁹ Es geht um die Eroberung der Kultur des modernen Menschen.
5 Historismus und Soziallehre des reformierten Christentums: Ernst Troeltsch Der abschließende Teil der bisher entwickelten Gedankengänge betrifft Ernst Troeltsch und Max Weber. Man kann sie eigentlich nur parallel zueinander in Betracht ziehen, wegen der vielen und immer wieder auftauchenden gemeinsamen Motive und der großen Schwierigkeit, zwischen den beiden Wissenschaftlern eine Präzedenz auszumachen. Sie lebten zwischen 1897 und 1914 in engem Kontakt an der Heidelberger Universität arbeitend, und für einige Jahre desselben Zeitabschnitts bewohnten sie sogar dasselbe Haus. Am besten sollte man dennoch mit Troeltsch beginnen, mit der Untersuchung seines kleinen, aber berühmten Buches Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, dessen erste Ausgabe 1906 erschien, die zweite 1911, nahe an dem bedeutenden Werk Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen von 1912. Die Interpretation von Troeltsch kann man außerdem nicht von zwei bedeutenden Aufsätzen trennen, von Die Aufklärung (1897) und Das Wesen des modernen Geistes (1907), die stark von den Vorstellungen Diltheys beeinflusst sind, auf dessen Vorbild der Theologe und Geschichtsphilosoph ständig hingewiesen hat und dem er im Jahr 1922, zusammen mit Wilhelm Windelband, das Buch Der Historismus und seine Probleme widmete.⁶⁰ Die Anwesenheit Diltheys spürt man vor allem in der substantiellen Billigung seiner historiographischen Kriterien und auch in einigen theoretischen Ansätzen klarer historistischer Inspiration.Vielleicht nicht so sehr in der tiefen Nachvollziehung des Historismus als Philosophie, der Dilthey seit geraumer Zeit anhing, während
Ebd., 67. Ebd., 68. Ebd., 70.. Die gerade genannten Schriften von E. Troeltsch kann man nachlesen in L’essenza del mondo moderno, Übers. G. Cantillo (Neapel, 1977); Id., Der Historismus und seine Probleme (Tübingen, 1922), ital. Übers. Lo storicismo e i suoi problemi, Hg. G. Cantillo und F. Tessitore (Neapel, 1989).
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Troeltschs Historismus noch eine Weltanschauung ist, denn für ihn gilt die vollständige Historisierung des gesamten Erkenntnisprozesses, ja sogar der gesamten Lebensund Verhaltensweise des zeitgenössischen Menschen. Es gibt keinen Zweifel, dass Troeltsch die pluralistische, mehrpolige und relationale Konzeption Diltheys teilte, bis zur Grenze der Anzweifelung der logischen Zulässigkeit eines „Sinnes“ der Geschichte, eine Erkenntnis, die Dilthey noch vor Troeltsch (der es befürchtete) bereits als unvermeidliche Konsequenz des Prozesses der vollständigen Historisierung des Lebens verspürte – dazu bestimmt, dem Relativismus nahe zu kommen. Nicht zu bezweifeln ist auch die gemeinsame Anerkennung der Pluralität historischer Phänomene, beim Versuch den Fortschritt von etwas? und den Fortschritt gegen etwas? (verso) zu verbinden, oder vielmehr die nicht kausale Tendenz und die deterministische Absicht in der gemeinsamen Absicht, jede relativistische Schlussfolgerung zu vermeiden, woran Weber nicht Teil hat. Auch darf nicht vernachlässigt werden, dass Troeltsch eine „Kontingenz“ bestimmter Jahre erlebte, wie es Dilthey nicht gegönnt war. Um die Tragweite von Troeltschs Gedankengut zu verstehen, muss man sich ein komplexes Umfeld vor Augen halten, dass wir hier nicht ausreichend erforschen können, das aber noch zusätzlich durch neue Theorien bereichert und kompliziert wurde, entsprechend den politischen Konsequenzen der philosophisch-historistischen Revolution Webers und Meineckes. Troeltsch teilte mit Dilthey die Idee von der Notwendigkeit, den epochalen Jahrhundertblock zusammen zu halten, der vom italienischen Humanismus und der Renaissance zur Aufklärung reicht, die Reformation mit der Entwicklung der lutherischen und calvinistischen Ideen, die weitgefächerte Typologie der Sekten und des Spiritualismus mit einschließend, also vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. Ein historischer Block, der unter seinen verschiedenen und miteinander verbundenen Gesichtspunkten epochaler Art untersucht werden muss, was weder Hegel noch dem Hegelianer Spaventa dienlich war. Beide achteten vor allem darauf, nicht ohne Interesse und historiographische Intuition, die kulturellen Bewegungen zu determinieren, mit Hilfe der genauen Beschreibung der Moderne und ihres Wertes, dessen Höhepunkt der Idealismus bildete. Nicht anders präsentierten Dilthey und Troeltsch ihren Luther, wenn auch mit großen Unterschieden in historiographischer Schattierung und theoretischer Bewertung, wenn sie auf dessen ansehnliches mittelalterliches Erbe in Kultur und Aktion hinwiesen. Aber sie kamen zu verschiedenen Ergebnissen. Im Jahr 1906,⁶¹ während er verdeutlichte, dass es eine „Antinomie zwischen dem Protestantismus und der modernen Kultur“ gibt, behauptete Troeltsch, dass Luthers Reformation „vor allem nur eine Umwandlung des Katholizismus war, eine Lösung von Problemen, die letzterer bereits aufgeworfen hatte, denen er (Luther) eine neue
Vgl. E. Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt (Aalen, 1906; 21911), it. Übers. Il protestantesimo nella formazione del mondo moderno, Übers. G. Sanna (Florenz, 11929; 1968).
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Antwort gab.“ Als er daraufhin heftig kritisiert wurde, hob er hervor, dass er die Absicht hatte, auf „die enge Verbindung“ der lutherischen Theologie mit dem „Grundcharakter der antiken und mittelalterlichen Denkweise“ hinzuweisen. Solche Grundzüge können wahlweise als aggressiv und ruchlos gelten, obwohl diese Theorien auf starke Weise das Neue unterstützen.⁶² Diese und andere drastische Behauptungen finden ihre Berechtigung in der allgemeinen Perspektive der Rekonstruktion durch Troeltsch, wie man zum Abschluss dieser Seiten sehen wird. Vorerst sind die, sagen wir es ruhig, provisorischen Behauptungen nicht zu vernachlässigen, die mir gegenüber der Persönlichkeit Luthers in den Soziallehren als geradezu unterwürfig erscheinen: „Die religiöse Idee Luthers […] präsentiert sich mit hoher persönlicher Originalität“, wie sie „aus der inneren Bewegung des religiösen Gedankens“ hervordringt.⁶³ Das Zentrum dieser Originalität, die ich nicht zögern würde, als revolutionär zu definieren, muss aus der „neuen Idee“ der Gnade aufgespürt werden, wie sie Luther ausgearbeitet hat. Auch der alte „Katholizismus war eine Religion der Gnade“, aber wurde als „sakramentale Gnade der Übernatur“ betrachtet, eine Entität, die für ihre Ausbreitung die Vermittlung der Kirchenhierarchie benötigte, mit Leichtigkeit „konnte man diesem Konzept der Gnade auch das des Gesetzes hinzufügen“. Mit Luther hingegen wurde „die Wertschätzung der Gnade“ nicht „durch Kompromisse mit dem Konzept des Gesetzes entwertet“. Die Gnade „ist nicht mehr eine wundertätige und mystische Substanz, die durch das Sakrament eingeflößt wird, sondern ein Empfinden Gottes, das man durch den Glauben, die Überzeugung, das Gefühl, die Kenntnis, das Zutrauen und mittels des liebevollen Willens Gottes gewinnt […], in der Liebe und dem Mitgefühl Christi für die Menschen“. Auf diese Weise und in diesem Sinne ist das Gottvertrauen die Anerkennung der Menschenwürde, des inneren und freien Bewusstseins des Menschen, der „trotz seiner Schwäche, seines Widerstandes, seiner Verzweiflung und Unreinheit aus dem Evangelium den Gedanken der Gnade gewinnen kann“.⁶⁴ „Luther versteht und denkt das Christentum in der Essenz als Gnade, als Fundament für die Gewissheit der Errettung“. Das konnte eine neue Dimension und ein neues Gewicht für die kirchliche Organisation benötigen („den kirchlichen Protestantismus“), was aber keineswegs die neuen, unwiderstehlichen Ideen auslöschte, die aus der Abschaffung von hierarchischer Autorität und der Kenntnis einer „objektiven göttlichen Kraft“ im „Subjekt und mittels des Subjektes“ entstanden. Indem er eine Idee einfügt, die auch in anderen entscheidenden Momenten seiner Rekonstruktion wiederkehrt, kommt Troeltsch zu der Schlussfolgerung: „Es ist der tiefgehende Gedanke von der historischen Substanz des Lebens, der allein die Individuen aufhorchen lässt und in sich vereinigt, verbunden durch den religiösen
Vgl. Troeltsch, Il protestantesimo, 31 f. Vgl. E. Troeltsch, Gesammelte Schriften, Bd. I: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (Tübingen, 1911), it. Übers. Le dottrine sociali delle Chiese e dei gruppi cristiani, Bd. II: Il protestantesimo, Übers. G. Sanna (Florenz, 1960), 7. Troeltsch, Le dottrine sociali, II:13 – 15.
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Gedanken der Gnade“.⁶⁵ Darin hat sich das augustinische Fundament der christlichen Ethik erhalten, wenn sie sich auf der Liebe aller Dinge in Gott gründet und auf der durch Gott bewirkten brüderlichen Liebe. Allerdings ist bei Luther dieser Augustinismus, der auf humanistisch innerliche Weise wirksam wird, getrennt von der Vermittlung und Verwandlung der katholischen Ethik, insbesondere derjenigen, welche die natürliche Moral mit der Kasuistik verbindet.⁶⁶ Im Gegenteil, bei Luther und dank Luther „teilt sich“ diese Ethik, die man als kirchlich definieren muss, „nur durch den persönlichen Glauben mit“, gereinigt von jedweder Unvollkommenheit, so dass sie „die Universalität“ des „identischen Bedürfnisses gegenüber allen gewinnt“, „das Bedürfnis nach Glauben“, das für alle zugänglich wird und sich in allen vereinigt, mit „der Toleranz der verschiedenen Auswirkungen desselben Glaubens“.⁶⁷ Dank all diesem sagt Troeltsch abschließend, dass „sich im Protestantismus die Rezeption des Lebens in der Ethik einer universalen christlichen Gesellschaft fortsetzt“, die „ansatzweise in der Spätantike begonnen hatte“, im Mittelalter zu voller Wirksamkeit fand, aber erst durch die Reformation eine Intensität bis zum letztmöglichen Grade erreichte.⁶⁸ Obwohl vieles der Antike und dem Mittelalter geschuldet ist, „konnte sie nur mit Luther, dem Reformator der Kirche, ihre große und weltweite Wirksamkeit entfalten“.⁶⁹ So wie es Troeltsch beurteilt, bleibt jedoch das Werk der Vermittlung zwischen alt und neu noch zu tun, mit einer relevanten Neuigkeit gegenüber einer ähnlichen Hypothese Diltheys, im Sinne, dass für ihn die genau gegliederte historiographische Rekonstruktion einem anderen Interesse entspricht, nämlich dem Bewusstsein eines neuen Gedankens, der von der aktualisierten Darlegung der kulturellen und sozioökonomischen Wirklichkeit des zeitgenössischen Europas gefordert wird oder allgemeiner, von der westlichen euroamerikanischen Welt. Aber man muss auch beachten, dass Troeltschs Überblick, das 15. bis 17. Jahrhundert betreffend – auch Dilthey behandelte den gleichen Zeitraum –, sich nur auf die theoretische und soziale Darstellung der lutherischen Lehre konzentriert. Er beginnt mit den Unterschieden zwischen Luthertum und Calvinismus, schildert die vielfältige Welt der Sekten und der spiritualistischen Mystik bis hin zur Lehre des
Vgl. ebd., 33. Vgl. ebd., 63 ff.?? Vgl. ebd., 81. Vgl. ebd., 101. Vgl. ebd. In Band IV der Gesammelten Schriften (Tübingen, 1925) ist ein sehr interessanter Aufsatz von 1907– 1908 veröffentlicht, der dann mehrfach mit Zusätzen erschien: „Luther, der Protestantismus und die moderne Welt“: 202– 254. Bedeutend ist auch der Aufsatz von 1913, „Renaissance und Reformation“: 261– 292, der unter anderem auch die hier behandelten Seiten Diltheys untersucht. Außer zwei weiteren Schriften – Das Verhältnis des Protestantismus zur Kultur von 1913 und Calvinismus und Luthertum von 1909, 191– 202, 254– 261 – erscheint im Anhang des Bandes eine Reihe von interessanten Besprechungen und Betrachtungen zu den Themen und Problemen der Reformation (759 – 783). Hier findet sich auch die Antwort an Felix Rachfahl, der Weber verärgerte, Die Kulturbedeutung des Calvinismus von 1910, 783 – 801, insbesondere siehe 784 f. und 787 f. Wichtig sind im ersten der hier zitierten Aufsätze die Seiten und Fußnoten bezüglich Harnack.
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„asketischen Protestantismus“ oder „neuen Protestantismus“. All das beschreibt er in eleganter und gelehrter Weise und auf vielen Seiten im historiographischen Bewusstsein der Unterschiede und der Ähnlichkeiten, welche genauer Untersuchung bedürfen. Während das Motiv für die Erhebungen Diltheys historiographischer Natur war, wenn auch mit starkem Akzent auf der Theorie – von der Definition des natürlichen Systems der Geisteswissenschaften als einer zu erreichenden Etappe, innerhalb des langen Prozesses der Krisen und der Auflösung der dogmatischen Metaphysik, der Scholastik und in vielfacher Hinsicht auch der kritischen Metaphysik Kants, angesichts der Effektivität des historischen Systems der Geisteswissenschaften -, war es Troeltschs Intention, sich der Definition und Anwendbarkeit einer „sozialen Ethik“ zuzuwenden. Sie sollte mit den Anforderungen der Zivilisation und der kulturellen Welt konform sein – sehr unterschiedlich zu dem, was der lange Prozess des Humanismus hervorgebracht hatte und entstehen ließ – unter dem Zeichen einer klaren Idee der Moderne. Es geht also darum. „die Gegenseitigkeit der Einflussbereiche“ zwischen Religion und Gesellschaft herauszustellen, insbesondere in Relation zur „modernen wissenschaftlichen Kultur der autonomen Vernunft“.⁷⁰ Auch wenn diese „eine religiöse Haltung einnimmt“ und „den universalen Individualismus der Moderne widerspiegelt und konsolidiert“, „begleitet sie ihn in ihren sozialen Eigenschaften“, ohne „gegen sie vorzugehen und ohne unmittelbar auf sie einzuwirken“.⁷¹
6 Soziallehren des reformierten Christentums und Wirklichkeitswissenschaft: Max Weber Diese kleine Sammlung von Anmerkungen mit einigen Betrachtungen zu Max Weber zu beenden, kann die beste Zusammenfassung der bisher angestellten Überlegungen sein, insbesondere nach Dilthey und Troeltsch, deren Ideen und historiographische Intentionen denen Webers nahe stehen. Allerdings unterscheiden sie sich nicht unerheblich und stellen uns vor die große Schwierigkeit, das Ähnliche vom Ähnlichen zu unterscheiden. Es ist hier nicht dienlich, die Thesen der allseits bekannten Werke wie Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904 – 1905) zu zitieren. Es wird vielmehr genügen, einige wohlbekannte Prinzipien des gerade zitierten Werkes zu wiederholen, dank einer mehr als hundertjährigen Aufmerksamkeit, die ihnen durch eine umfangreiche und oftmals maßgebende Sekundärliteratur gewidmet wurde. Um diesem Anspruch nachzukommen, vertrauen wir uns der wirkungsvollen Synthese an, die Weber selbst verfasst hat, um einem seiner zähesten Kritiker zu antworten: a) Es ging darum die Art und Weise darzustellen, in der bestimmte Maximen des ethischen Lebens protestantischer Herkunft in kausalem Zusammenhang mit dem Vgl. Troeltsch, Le dottrine sociali, II:673, 674. Vgl. ebd., 674.
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ökonomischen System des modernen Kapitalismus standen; b) die in aller Breite diskutierte Tatsache der auffälligen Übereinstimmung von Protestantismus und Berufswahl aus der Logik des Kapitalismus; dies verlangte c) die dogmatisch-theoretische Verankerung der Ethik in den einzelnen Unterarten des Protestantismus auszumachen, um nachzuweisen, dass es sich nicht um nebensächliche Elemente handelte, ohne konzeptuellen Gehalt von Religiosität; und deshalb d) zu erklären, welche psychologischen und praktischen Motive die einzelnen Religionsformen enthalten, die vom Protestantismus allmählich herausgearbeitet wurden (Luthertum, Calvinismus, Sekten).⁷² All dies, um den Versuch als „töricht“ zu definieren, exklusiv von der Reformation nicht nur das ökonomische System des Kapitalismus, sondern auch den „kapitalistischen Geist“ im Weberschen Sinne, das heißt als determinierende Lebensregel „herrühren“ zu lassen.⁷³ Nicht anders als Dilthey und Troeltsch erklärte Weber auf sehr direkte Weise: „Luther ist nicht zu einer Verbindung der professionellen Arbeit mit religiösen Prinzipien gelangt, die auf einem neuen Fundament beruhte oder einer theoretischen Basis“,⁷⁴ ohne damit die Originalität seines Protestes vernachlässigen zu wollen. Auch hier genügt es, an die Worte Webers zu erinnern, wenn er darlegt, dass es sein „Auftrag“ war, „nur die Spuren zu verdeutlichen, welche die religiösen Motive im Gewebe Webers unserer materiellen Zivilisation der Moderne hinterlassen haben“. Er folgte damit der Intention, sich „von der Meinung“ zu emanzipieren, „dass die Reformation von wirtschaftlichen Veränderungen abgeleitet werden könnte, als etwas, das „vom Standpunkt der historischen Evolution aus notwendig“ war“. Andererseits „geht es nicht darum, eine so törichte und doktrinäre These zu verbreiten wie diejenige, dass der „kapitalistische Geist“ […] nur als Emanation determinierender Einflüsse der Reformation entstehen konnte“. Für Weber ging es darum festzustellen, „ob und in welchem Ausmaß die religiösen Einflüsse an der qualitativen Ausformung und der quantitativen Ausdehnung des „Weltgeistes“ beteiligt waren und welche konkreten Aspekte der auf kapitalistischem Fundament gegründeten Zivilisation ihnen zuzuschreiben sind“.⁷⁵ Wie bekannt, für Weber, nicht anders als für Dilthey und Troeltsch, stammten diese Einflüsse überwiegend vom „asketischen Protestantismus“ ab, von einer Sekte mit einer Art von Askese, die Weber als „intramondan“ definierte, also eine Teilnahme an der Welt und für die Welt unter Beibehaltung (besser durch praktische Anwendung) des Glaubens an die Gnade, um dabei soweit wie möglich die Anzeichen von Prädestination wahrzunehmen. Diese Untersuchungen im religiösen Bereich sind bei Weber Teil der genau gegliederten Beziehung zwischen Religion und Rationalität oder vielmehr des kritischen Prozesses der Errettung, der für ihn „den Richtungswechsel der Religion“ beinhaltet, M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. I (Tübingen, 1920), it. Übers. Sociologia della Religione, Bd. I: Protestantesimo e spirito del capitalismo, Hg. P. Rossi (Turin, 2002), 303 f. Vgl. ebd., 74. Vgl. ebd. Vgl. ebd., 79 f.
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„von einem Akt der Rationalisierung zu einem irrationalen „Überbleibsel““, was sich besonders nach der Aufklärung in der Modernisierung und schließlich in der „Säkularisierung“ niederschlug. Womit man, nach Webers eigenen Worten, die effektiven Intentionen seiner Untersuchung entdeckt: „Einen Beitrag“ leisten „zur Illustration der Welt, in der „die Ideen“ an der Geschichte mitwirken“.⁷⁶ Eine sehr interessante Behauptung, die es möglich macht, den wirklich erneuernden Beitrag wahrzunehmen, den Weber zu der seit geraumer Zeit erahnten universalgeschichtlichen Funktion der Reformation geleistet hatte. Ein Beitrag der,Vorbehalte von Troeltsch ausräumend, sich ursprünglich an Dilthey wandte, mit einer streng historischen Bedeutung, in entschieden antiidealistischer und antihegelscher Dimension. Darum geht es, denn besser als in jeder ideologischen Abhandlung zeigt sich hier der Sinn seiner Seiten, auch wenn sie einen provisorischen Charakter haben, was Weber weiter oben eingedenk seines weitgefassten Projektes erklärte. In diesem Sinne kann man sagen, dass Weber tatsächlich die lange Tradition des Historismus beschließt, die mit Humboldt begann und mit Dilthey endete. Nach Dilthey, die „Krisis“ überwindend, kam es in den besten Fällen noch zu einer „Selbstuntersuchung des Historismus“. Die Studien Webers, die in einigen thematischen Bereichen der „Wirklichkeitswissenschaft“ gewidmet sind, waren nicht nur, wie lange Zeit und sehr oft auf konfuse Weise geäußert wurde, die wissenschaftliche Begründung der Soziologie. Sie sind vielmehr die verlässlichste Formulierung der Philosophie des Historismus im 20. Jahrhundert und gewiss noch nicht überholt. Weber konzipierte den Historismus als Philosophie mit all seiner Radikalität und Problematik, als kritisches Spiegelbild nicht für den Verfall, sondern als eindringliche, äußerst rationale und konstruktive Kritik, mittels eines erprobten Prozesses der Wirklichkeitswissenschaft und darin auch die Soziologie einschließend, in einer ihrer ersten wissenschaftlichen Formulierungen. Zu den verwandten, aber andersgearteten Thesen eines Troeltsch zurückkehrend, wenn auch in hier kurzgefasster Form, kann man behaupten, dass er auf sehr einleuchtende Weise die intellektuellen Verbindungen mit Troeltsch in der Protestantischen Ethik verdeutlicht, aber auch auf den Seiten, die der Antwort an Felix Rachfahl, den Geist des Kapitalismus betreffend, gewidmet sind.⁷⁷ In einer Anmerkung zur Wiederauflage von 1920 weist er darauf hin,⁷⁸ dass seine Abhandlungen und die von Troeltsch von jeweils eigenen Gesichtspunkten ausgehen, aber mit der Universalgeschichte der Ethik des abendländischen Christentums auch einen weit gefassten Ansatz haben. Er präzisiert weiterhin, dass sie sich in der dominierenden Interessenslage unterscheiden, denn die Forschungen des Freundes galten „vor allem der
Vgl. ebd., 79. Vgl. ebd., 284– 287. Vgl. ebd., 252 f.
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Lehre“, während er sich mehr für die „praktische Wirksamkeit der Religion“ interessierte. Diese Meinung vertrat er nochmals mit weiteren und davon nicht abweichenden Erklärungen in einer Fußnote, die er zur letzten Seite der Protestantischen Ethik in der bereits zitierten Ausgabe von 1920 hinzufügte. Dort äußerte Weber volle Genugtuung über die Ergebnisse seiner Veröffentlichung, die nicht „unmittelbar fortgesetzt“ werden musste, denn es war nicht seine ursprüngliche „Intention“, eine „kausale Interpretation von Kultur und Geschichte im einseitig ‚materialistischen‘ Sinne mit einer ebenso einseitigen ‚spiritualistischen‘ zu ersetzen“, beides möglich, aber dazu bestimmt, „wenig der historischen Wahrheit“ zu dienen – mit dem Anspruch, zu einem zu vermutenden Abschluss der Untersuchungen zu kommen, wenn diese sich jenseits der „vorbereitenden“ Spezifität befinden sollten. Das bedeutet, Weber hielt seine eigene Arbeit noch nicht für abgeschlossen, auch weil das weitgefasste, stets kritische und problematische Forschungsgebiet so vielfältig war, dass es niemals als ganz beendet gelten konnte. Dazu sagte er in der Fußnote weiterhin, dass er bereits an eine Erweiterung der Forschungsarbeit „über die historisch-universalen Verbindungen zwischen Religion und Gesellschaft“ gedacht hatte, in der Art der troeltschen Forschung. Darauf hatte er aber angesichts der Soziallehren des Freundes verzichtet, denn diese waren mit den notwendigen theologischen Vorkenntnissen verfasst, im Sinne von Detailwissen zur theologischen Lehre, über das er selbst nicht verfügte. Gegenüber dieser „kontingenten“ Tatsache hatte er in gewisser Weise den Blickwinkel des Buches von 1905, das inzwischen berühmt geworden war, erweitert, indem er sich jedoch auf die Wirksamkeit des Synolon Religion-Gesellschaft beschränkte. Ich glaube, dass er damit nichts anderes sagen wollte als ich, wenn ich von der Notwendigkeit rede, typisch für Weber, die unendliche Realität in die spezifische Wirklichkeit zu übertragen, mit anderen Worten, die Verwirklichung der Ideen im Sinne der Enthüllung des historischen Sinnes in Verbindung von Religion und Gesellschaft, regiert vom „Geist des Kapitalismus“ der westlichen Welt. Troeltsch seinerseits, nach den zahlreichen Zitaten spezifischer Momente seiner Soziallehren durch Weber, insbesondere wenn er von der Funktion eines besonderen Aspektes der Reformation redet, nämlich dem asketischen Protestantismus und dessen Auswirkungen auf die westliche Zivilisation,⁷⁹ legte Wert darauf, die Autonomie und Andersartigkeit seiner Gedanken hervorzuheben. Tatsache ist – und damit kann ich zum Schluss meiner Übersicht kommen –, dass die wirkliche Diskrepanz oder sogar Divergenz zwischen Weber und Troeltsch auf der universalgeschichtlichen Auswirkung des Protestantismus beruht, mehr noch als auf der Idee des Historismus. Auch bezüglich der Schlussfolgerung der Soziallehren blieben die Überlegungen von Troeltsch im Bereich der Frage nach der Krise des Historismus, im Gegensatz zum Historismus der Krise, im Sinne, dass er stets besorgt war, ein mögliches relativistisches Ergebnis könnte ihm als ethische Indifferenz
Vgl. Troeltsch, Le dottrine sociali, II:23, 262 ff., 290.
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ausgelegt werden. Damit blieb er seiner ursprünglichen, historiographischen und theoretischen Frage treu, angesichts der allseits anerkannten, unvermeidlichen Historisierung aller epistemologischen und praktischen Dimensionen der zeitgenössischen Welt, was er bereits 1894 mit Klarheit verkündet hatte, eine mögliche Lösung in der Konvergenz von Geschichte und Metaphysik zu suchen. Eine Beziehung, die man nur unterstützen kann, nach der revolutionären Lektüre seines Essays Absolutheit des Christentums (1911– 1912), wieder aufgegriffen mit der durchdachten Rekonstruktion der Idee von der Universalgeschichte im zweiten Kapitel von Der Historismus und seine Probleme. ⁸⁰ In all dieser hingebungsvollen, konzentrierten Arbeit bemühte sich Troeltsch darum, zwischen dem abstrakten Absoluten der rationalen Logik, von Descartes ausgehend, und dem konkreten Absoluten, welches Kant mit den „logischen Abstraktionen“ gelöst hatte, zu unterscheiden – nicht neokantianischer Art (insbesondere der dritten Kritik), welche die Urteilskriterien (Auswahl) der empirischen Fakten angaben, die historisch zu betrachten waren,⁸¹ gegen die Abstraktion der idealistischen Logik, die daran interessiert war, die Konvergenz (wenn nicht sogar die Überlagerung) des Ordo idearum und des Ordo rerum zu erkennen. Troeltsch kam zur Gründung einer neuen „materiellen Philosophiegeschichte“ – ermöglicht durch die Lösung der langen Herausforderung zwischen „Naturalismus“ und „Historismus“⁸² – wo die „dogmatischen Konzepte“ (von der Art wie die der Theologie) an der Basis entstehen, aus dem Material der empirischen Geschichte, um die „Verabsolutierung“ (vielleicht auch „Universalisierung“) durch die Ultravalenz der historisch-historiographischen Verbindung zu erreichen, die Ultravalenz, welche Dilthey in der york-
Ich finde es nützlich, darauf hinzuweisen, dass die Worte Weltgeschichte und Universalgeschichte und deren Adjektive nicht austauschbar sind. Das erste beruft sich auf eine Geschichtsidee, die am „Prinzip des Absoluten“ inspiriert ist und folglich ein generalisierendes Konzept meint, wenn nicht ein quantitatives; das zweite meint eine qualitative Idee, die die „Tendenz“ der historischen Entwicklung bewertet, ohne determinierte Ausrichtung. Häufig werden die Worte vertauscht, besonders in den Titeln, die sich dem Gebrauch der Begriffe mehr oder weniger bewusst sind (das ist der Fall bei Hegels Vorlesungen über Weltgeschichte und Rankes Weltgeschichte, die bekanntlich der Idee der Universalgeschichte folgt als einer Geschichte von Aneinanderreihungen, aber nicht als teleologische Folgen von „Geschichtsszenen“); es fehlt nicht an mehreren sehr bedeutenden Unterscheidungsmerkmalen mit Anfügung von theoretischen und historiographischen Begründungen (wie bei Diltheys und Webers Universalgeschichte). Dazu ist es wichtig, Kapitel 3 („Über den historischen Entwicklungsbegriff und die Universalgeschichte“) aus Der Historismus und seine Probleme von E. Troeltsch (221– 693) zu kennen, was tatsächlich das vollendetste Konzept der „Universalgeschichte“ von Hegel bis zum „postspekulativen Realismus“ ist, um einen Ausdruck Troeltschs zu den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts und dem frühen 20. Jahrhundert zu gebrauchen. Dazu füge ich die Erinnerung an einige Seiten von mir selbst aus dem Jahr 1993 hinzu, über die letzten Schriften von Troeltsch, welche posthum mit dem nicht vom Autor stammenden Titel, Der Historismus und seine Überwindung (Berlin, 1924) erschienen, in Lo storicismo e i suoi problemi, III:203 – 214. Vgl. G. Morrone, Valore e realtà. Studi intorno alla logica della storia di Windelband, Rickert e Laski (Soveria Mannelli, 2013). Der theoretische Kern des mehrfach zitierten Der Historismus und seine Probleme, siehe insbesondere das Kapitel 1.
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schen Transzendenz ohne Metaphysik gefunden zu haben glaubte. Das erlaubt eine Annäherung zwischen Troeltschs Historismus und dem „absoluten Historismus“ von Benedetto Croce, auch was die kategoriale Bedeutung der Reformation betrifft (diese wurde von dem italienischen Philosophen anerkannt, im Gegensatz zur Gegenreformation, die für ihn nur eine, wenn auch bedeutende, vorübergehende Epoche war). Zu einem radikal anderen Konzept und einer anderen Schlussfolgerung kam Weber, der sich nicht zufällig mehr für die Wirksamkeit als die Doktrin interessierte, wozu man durch den Prozess der „Abstraktion“ (Auswahl) gelangen kann, notwendig, um die logischen „Typen“ der Geschichte zu definieren und verstehen. Das erreicht man eingedenk des Wissens, „unhistorisch zu sein, um endgültig historisch zu werden“, oder vielmehr durch die Negation der Absolutheit der Geschichte (die Wirklichkeit ist Geschichte, nichts anderes als Geschichte). Das kann gelingen, entsprechend der alten Lehre von Barthold Georg Niebuhr, die von Nietzsche übernommen wurde, um dem „Nicht-Geschichtlichen“ und dem „Über-geschichtlichen“ neben dem „Geschichtlichen“ Raum zu geben, und das ist die Wahrnehmung der gelebten und nicht nur gedachten Wirklichkeit der Dinge. Im Sinne von Weber, der Empirismus und Konzept, Erklärung und Verständnis zu verbinden wusste, als typischem epistemologischen Prozess der Wirklichkeitswissenschaft, dies ist ein Historismus, der den Relativismus nicht mehr fürchtet, denn er weiß, dass die Relativität der Wirklichkeit kongruent und verbunden ist, mit der Indetermination der Beziehung und der Verbindung zwischen „objektiver Möglichkeit“ und „angemessener Kausalität“. Das macht die logische Struktur der Wirklichkeitswissenschaft aus. Deshalb weist Weber auf drastische Weise jede Art von Monismus zurück, jede Form von Emanatismus, stets mehr oder weniger deterministisch wie alle Geschichtsphilosophien, sei es die der Aufklärung, des Idealismus, des Positivismus oder des Marxismus. Darin ist er mehr als Troeltsch, der sich als sein Schüler ausgab, der wahre Entdecker des „Geheimnisses“ von Diltheys Historismus, als er versuchte eine Antwort auf die Notwendigkeit zu geben, die dogmatische Metaphysik und auch die kritische Metaphysik zu überwinden, um die „neue Universalgeschichte“ darstellen zu können. Meiner Meinung nach etwas, das Webers „Universalgeschichte der Kultur“ sehr nahe stand, im Sinne von Geistesgeschichte der Einzelwissenschaften, wie es der Wirklichkeitswissenschaft eigen ist. Diesen nur angedeuteten Unterschied⁸³ findet man auch in dem gemeinsamen Verständnis der Gegenwart von Weber und Troeltsch wieder. Beide waren sich der „Verwandlungen“ der Gegenwart bewusst, ihrer Gegenwart, wie man sie in der „Krisis“ sieht, was Entstehung (ein Wort, das Troeltsch, Weber und Meinecke verwandten) des Neuen bedeutet und nicht Dekadenz des „Modernen“. Bei Troeltsch stellte sich dieses Bewusstsein („alles schwankt um uns“) als Hoffnung dar, wenn nicht sogar als Vertrauen in die Ewigkeit des „edlen Geistes“; bei Weber bedeutete es den Blick ge-
Für eine kurze Synthese meiner Hypothese hierzu siehe „L’Historisme en question. Annotazioni su un libro recente,“ Giornale critico della filosofia italiana 2 (2014): 426 – 437.
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radeaus zu richten, unerbittlich und mutig angesichts der „Pathologie des Geistes“,⁸⁴ der eisigen Nacht von „Opfern und Entbehrungen“, wie sie einer Welt „ohne Propheten und ohne Gott“ zu eigen ist. Die Pathologie des Geistes war das verantwortungsvolle Kriterium, um die Gegenwart unerbittlich zu beobachten, nicht die Auflösung der Moderne, die nicht geheilt werden konnte mit einer Rückkehr zur „Sicherheit“, inzwischen eine unmögliche Hypothese. Wäre es auch die vollendetste Hypothese von allen, wie die hegelsche Onthologie der Geschichte, auf die die Zeitgenossen Webers ihr Augenmerk richteten, wie auch seine Nachfahren. Im Gegenteil, der Historismus ist das neue Bewusstsein, das die „Moderne“, zumindest des Okzidents, bis zum Ende den langen Prozess der Rationalisierung ausgelebt hat, gegen das Eindringen des Mystizismus von Ur; es herrscht „Krise“ im Sinne des Verständnisses der Vielseitigkeit, Relativität (Relationalität), auf indeterminierte Weise kausal. Webers Aufforderung „wir sagen euch zu hoffen“ ist von der gestrengen und tragischen Prophezeiung Jesaias, die Wissenschaft und Beruf beschließt, begleitet: „Man ruft zu mir aus Seïr: Wächter, ist die Nacht bald hin? Wächter, ist die Nacht bald hin? Der Wächter aber sprach: Der Morgen kommt, doch noch ist es Nacht. Wenn ihr fragen wollt, so kommt wieder und fragt. (Jesaja, 21,11)? Das Volk, dem diese Antwort gegeben wurde, hat mehr als zwei Jahrtausende gewartet und wir kennen sein erschütterndes Geschick. Daraus wollen wir die Lehre ziehen, dass sich sehnen und warten nicht genügt, wir werden es anders machen: Wir werden unsere Arbeit beginnen und die ‚Anfrage des Tages‘ erfüllen. Die Aufforderung zur Ethik des Age quod agis.“ Die Lektüre Webers dieser antiken Seiten zeugt von dem Bewusstsein der inzwischen ausgeschöpften Erfahrung vom kapitalistischen Geist, wie ihn der asketische Protestantismus hervorgebracht hat. Der dünne Mantel der „professionellen Pflicht“, der aus der mutigen Zuversicht Luthers in die Gnade entstand, „streicht in unserem Leben wie ein Gespenst umher […], des religiösen Glaubens der Vergangenheit“, und hat sich in ein „stahlhartes Gehäuse“ verwandelt. Niemand weiß bisher, wer in Zukunft in diesem Gehäuse leben wird und ob am Ende dieser ungeheuren Entwicklung völlig neue Propheten auftreten werden oder ob es zu einer mächtigen Renaissance der antiken Prinzipien und Ideale kommen wird, oder auch – die eine und die andere Alternative ausschließend – zu einer chinesischen Versteinerung (mechanischer Art), geschmückt von einem krampfhaften Verlangen sich wichtig zu fühlen.⁸⁵
Siehe hierzu das scharfsinnige Buch von D. Conte, Storia universale e patologia dello spirito. Saggio su Croce (Neapel, 2005) mit dem ich vollständig einverstanden bin, insbesondere, wie sich das in der feinen Synthese des Titels niederschlägt. Vgl. Weber, Sociologia della Religione, Hg. P. Rossi, I:185. Man erlaube mir nochmals einen Hinweis auf Kapitel 2, „Weber e lo Historismus,“ in A partire da Dilthey, trittico anti-hegeliano: Weber, Meinecke, Rosenzweig, F. Tessitore (Rom, 2013), denn dort wird eine These behandelt, die nicht sehr häufig in der Sekundärliteratur zu dem großen Deutschen anzutreffen ist.
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In unseren Tagen ist dies nicht mehr eine prophetische Intuition, sondern eine klare Diagnose des Charakters unserer Gegenwart, die nachweist, dass „auf den Wegen, auf denen die Menschheit voranschreitet“, die Völker nicht glücklicher sein werden und auch nicht den hoffnungsvollen Glauben zu finden wissen, den die Reformation predigte. Bis jetzt, den Glauben nicht vergessend, werden sie über den Zustand desjenigen nachdenken müssen, der „vor der schrecklichen Feierlichkeit des Mysteriums, das überall verbreitet ist, den Kopf neigt, wie derjenige, der hier schreibt und zitternd sich selbst und das Vaterland dem unbekannten Gott empfiehlt“.⁸⁶
Vgl. ebd.
Gabriella Cotta
Luther und die Revolution des Individuums
1 Einführung Die Schwierigkeiten bei der Beschäftigung mit Luther sind zahlreich und liegen in der Vielschichtigkeit seiner Person und der unterschiedlichen Rollen, die er bekleidet. Nach dem Bruch mit der Kirche von Rom kümmerte sich der Theologe, Prediger, Übersetzer und religiöse Reformer um unterschiedlichste Fragen in Bezug auf Lehre, Kirche, Institutionen, Politik und Recht. So reformierte er auf tiefgreifende Weise mehr als 1000 Jahre katholischer Tradition und bürdete sich dabei meist höchstpersönlich die Last nie enden wollender, kaskadenartig über ihn hereinstürzender Fragen auf, um dadurch der neu entstehenden christlichen Konfession eine beständige Form zu verleihen. Allein schon aus diesem Grund ist seine Person außergewöhnlich; ganz besonders beeindruckend sind dabei sein enormes Arbeitspensum und die Vielfältigkeit der behandelten Themen. Luther nun konnte sich nicht wieder in die Autorität der katholischen Kirche zurückbegeben, weil er von der Komplexität der losgetretenen Fragen überwältigt war; ebenso wenig konnte er sich als Häretiker stilisieren, dem schlicht und einfach die Wiederherstellung der Kirche nicht gelungen wäre. Das, was ihm bei diesem seinem Werk mit geradezu unmenschlichen Ausmaßen Halt gegeben hat, ist, wie erwähnt, sicherlich seine beständige Verankerung im Wort Gottes und dessen Ausdruckskraft, die er als unmittelbar einsichtig ansah.¹ Seine Schicksalsgeschichte ist derart außergewöhnlich, dass man vielen Arbeiten über Luther die Schwierigkeit anmerkt, zu einer einheitlichen Interpretation des Mannes, seines Werks und seiner Rolle zu kommen. Oft versuchen solche Arbeiten wieder und wieder, in den wohl allseits bekannten biographischen Ereignissen den hermeneutischen Schlüssel für all das zu finden, was Luther bewirkt hat. Zu all dem kommt noch erschwerend hinzu, dass Luther sich, wie all die seltenen Persönlichkeiten, denen man eine epochenmachende Scharnierfunktion – und eine Zäsurfunktion – zuspricht, zwischen zwei Epochen bewegt und dabei doch beiden zugleich angehörte. Um sich aus dieser Schwierigkeit, die oft durch dahintersteckende Leidenschaften und Gefühle vergrößert wird – welche derzeit durch sachlichere Ansätze und objek-
Übersetzung: Antonella Lettieri. T. Kaufmann, Lutero, Bologna, 2007, 73 (dt. Kaufmann, Luther, München 2006).Vgl. auch G. Ebeling, Luther: Einführung in sein Denken, Tübingen, 1964 und P. Althaus, Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh, 1962. https://doi.org/9783110498745-053
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tivere Forschungen etwas gemindert werden² –, zu befreien, scheint mir folgende Beobachtung wichtig: meines Erachtens ist – im scheinbaren Widerspruch zu Luthers heftigem Widerstand gegen die Philosophie – gerade die Rekonstruktion des philosophischen Nährbodens, auf dem sein Denken gewachsen ist, ein unverzichtbarer Bestandteil für eine anknüpfungsfähige Herangehensweise an seine Person. Auf diese Weise würde man sich nicht in den bei Luther überall zu findenden drastischen Gegensätzen verlieren, zu denen insbesondere der Bereich der Anthropologie gehört, der im vorliegenden Beitrag behandelt wird.³ Man könnte diesen Ansatz als zu kurz greifend ansehen, weil er sich einem religiösen Geist vom Format Luthers nähert, dessen stärkster Impuls für eine spirituelle Erneuerung sich ja gerade in aller Deutlichkeit gegen die theoretisch enorm komplexen Gedankengebäude im Rahmen der metaphysischen Vernunft richtete, deren Argumente in Debatten und Diatriben öffentlich diskutiert wurden, im Rahmen derer sich das philosophische Denken unaufhörlich mit der theologischen Dimension vermischte. Allerdings muss man bedenken, dass die tiefgreifende Kritik, welcher diese erkenntnistheoretischen Verknüpfungen von Duns Scotus an offen ausgesetzt waren, eine präzisierende Unterscheidung anstrebte und nicht etwa jede Art von Überschneidung zwischen diesen Bereichen verneinte: zu alt und zu eng war ihre Verknüpfung gewesen und zu reich an Fragen von großer Tragweite, als dass man diese Verbindung kurzerhand und restlos hätte auflösen können. Auch Luther beteiligte sich ausführlich an diesen Diskussionen, und das, obwohl er in höchstem Maße allergisch gegen all die Fallen war, welche der metaphysische Rationalismus dem Glauben stellte, und obwohl er auf die Seite derer gehörte, welche die Aufgaben von Theologie und Philosophie radikal voneinander trennen wollten. An eben diesem Punkt lässt sich seine gleichzeitige Zugehörigkeit zum Mittelalter und zur Neuzeit festmachen: an der ständigen Beschäftigung – explizit oder unterschwellig – mit der Frage nach den Verknüpfungen zwischen Philosophie und Theologie, wobei diese Verbindungen nunmehr schon in einer unumkehrbaren Krise steckten. Luther vermochte es, dieser Krise eine entscheidende Wende zu geben, indem er die Argumentation für den Bruch zwischen Philosophie und Theologie zu einem Ende führte, einem Bruch, der sich dann nach ihm definitiv vollziehen sollte. Dennoch konnte die strikte Trennung der beiden epistemischen Gebiete, die von dem Moment an immer klarer ihre Autonomie voneinander geltend machen sollten, nur durch einen ganz bewussten Rückgriff auf die beiden Register vollzogen werden. Dieser Versuch einer Befreiung der Theologie – und ihrer Aus-
Vgl. O. H. Pesch, Martin Lutero. Introduzione storica e teologica, Brescia, 2007, 34 ff. (dt. Pesch, Hinführung zu Luther, Mainz, 2004). Vgl. den Brief Luthers an Johann Braun von 1509, in dem er diesem versichert, dass es ihm gut gehe: „nisi […] quod violentum est studium, maxime philosophiae, quam ego ab initio libentissime mutarim theologia“; diese Haltung wird im Nachgang immer wieder bekräftigt, WA.B 1, 17,41– 43 (Nr. 5). Vgl. insbesondere die Heidelberger Disputation.
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drucksformen⁴ – von den „gefährlichen Verbindungen“ mit der Philosophie war in der Tat nur von einer voll und ganz philosophischen Annahme her denkbar, welche die Vernunft auf eine Logik beschränkte, die auf die praktisch-empirische Dimension angewandt wird. Eine Veranschaulichung dieser komplexen theoretischen Überschneidung ermöglicht es, Licht auf die Ausmaße der von Luther vorangetriebenen Revolution zu werfen, die nicht nur Religion oder Theologie, sondern auch Philosophie und insbesondere die Anthropologie betraf. So markiert dieser Umwälzungsprozess als ein entscheidendes Verbindungsstück unmissverständlich den Eintritt in die Neuzeit. Es ist daher kein Zufall, dass man – von Jacques Maritain bis Hans Blumenberg – häufig eine Verbindung zwischen Luther und Descartes hergestellt hat, die beide als Väter der Neuzeit angesehen werden. Blumenberg weist darauf hin, dass, was letzterer später für die Begründung der Philosophie der Neuzeit tun würde, ersterer in der Disputation gegen die scholastische Theologie „con un’asprezza irripetibile“ schon für die Theologie vollzogen hatte.⁵ Beide wollten das transzendente Absolute radikalisieren und schufen damit letzten Endes die Voraussetzungen für die Entstehung der neuzeitlichen Subjektivität. Die Beobachtung Blumenbergs, der von bereits komplett voneinander getrennten epistemischen Bereichen auszugehen scheint, bezieht sich in Wirklichkeit auf die ‚Effekte‘ der beiden Revolutionen – lutherisch und kartesisch –, deren Voraussetzungen im Falle Luthers noch mit der Frage nach der Rechtfertigung der totalen Trennung von Theologie und Philosophie verbunden sind. Nichtsdestotrotz steht fest, dass eine ‚Revolution‘ wie die des radikalen lutherisch-theologischen Absolutismus exakt aus dem Grund eine solche genannt wird, dass sie in sich – in entwickelter Form oder in nuce – Sichtweisen auf die Welt, den Menschen und die zwischenmenschlichen Beziehungen trägt; in einem Wort: weil auch sie Philosophie ist. Nicht zuletzt zeigt, wie Wolfhart Pannenberg betont, gerade auch der Fall Luthers, dass jede Wissenschaft mit der Unmöglichkeit konfrontiert wird, die eigenen partikularen Errungenschaften einzuordnen, ohne die Bedingungen der Möglichkeit der allgemeinen Erkenntnis zu berücksichtigen, aus denen heraus alles andere entwickelt werden kann.⁶ Wenn aber die Theologie in ihrem Forschen über Gott und seine Beziehung zur Welt von den oben genannten Untersuchungen abhängig ist, müssen wir diese Abhängigkeit auch für die andere Seite geltend machen, was so viel heißt, dass das philosophische Forschen – was auch immer dessen
Vgl. diesbezüglich zur unterschiedlichen Semantik in Luthers philosophischem und theologischem Sprachgebrauch G. White, Luther as a Nominalist. A Study of the Logical Methods Used in Martin Luther’s Disputations in the Light of Their Medieval Background, Helsinki, 1994, v. a. den Paragraphen 3.4 des 3. Kapitels „Luther’s Semantic Theory“. H. Blumenberg, La legittimità dell’età moderna, Genua, 1992, 188 (dt. Blumenberg, Die Legitimität der Moderne, Berlin, 1988). W. Pannenberg, Teologia e filosofia. Il loro rapporto alla luce della storia comune, Brescia, 1999, 13 (dt. Pannenberg, Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte, Göttingen, 1998).
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Ergebnisse sind – um eine Prüfung der Frage nach der Transzendenz und nach dem Göttlichen nicht umhinkommt. Dies beweist gleichsam die Notwendigkeit von Räumen des Dialoges zwischen den beiden Bereichen.
2 Bildung und Grundsatzfragen Zur Bestätigung des Gesagten kann darauf hingewiesen werden, dass alle Lutherbiographien für die Phase der universitären Ausbildung mit einem Einfluss der via nova oder moderna, also des sich damals in ganz Europa durchsetzenden Nominalismus, rechnen.⁷ Blumenberg erinnert daran, dass der Bischof von Paris bereits 1277, also drei Jahre nach Thomas von Aquins Tod, dessen aristotelisch geprägte Aussagen über die Einzigkeit der Welt⁸ als willkürliche Einschränkung der göttlichen Allmacht verdammt hatte. Dies markierte eine klare – auf Scotus zurückzuführende – Kehrtwende in Richtung einer Preisgabe des durch und durch philosophischen Themas der ‚Lesbarkeit‘ der Schöpfungsordnung. Auf diese Weise wurde der Aspekt der göttlichen Freiheit radikalisiert, dergestalt, dass diese nicht mehr an ‚eine‘ Welt, deren Sinn und Zweck man – sei es auch nur teilweise und indirekt – verstehen könnte, gebunden war. Gleichzeitig wurde die säkulare Frage nach den Universalien verdunkelt und man
Luther war auch entscheidend von der devotio moderna beeinflusst. Dieser Einfluss überschnitt sich mit der Annäherung an die via moderna. Bezüglich Luthers Verhältnis zum Nominalismus vermutet Iserloh, dass dieser sich nach dem Studium an der von der via moderna geprägten Universität Erfurt – gewillt, in einen monastischen Orden einzutreten –eben aus dem Grund für den Konvent des Heiligen Augustin entschied, „per continuare i suoi studi senza cambiare corrente scolastica“, E. Iserloh, Lutero e la Riforma. Contributi a una comprensione ecumenica, Brescia, 1977, 42 (dt. Iserloh, Luther und die Reformation. Beiträge zu einem ökumenischen Lutherverständnis, Aschaffenburg, 1974). Zum Verhältnis zwischen via antiqua und via moderna und zu den wechselseitigen Abhängigkeiten vgl. A. Ghisalberti, „Dalla ‚via moderna‘ alla ‚via antiqua‘“, in: G. Beschin, F. Cambi und L. Cristellon (Hg.), Lutero e i linguaggi dell’Occidente, Atti del convegno (Trient, 29.–31. Mai 2000), Brescia, 2002, 57– 71. Hinter dieser Frage steckt ein sehr wichtiges Thema: das der Möglichkeit oder Unmöglichkeit, sich – auf der Basis der Vorstellung einer ontologischen Partizipation aller Kreaturen an der Schöpfungsordnung – der Natur mit Hilfe der Vernunft annähern und in ihr den allgemeinen Sinn der von Gott eingeprägten Ordnungskriterien lesen zu können. Die Frage ergibt sich in ihrer grundlegenden Gestalt aus dem schon bei Platon zu findenden klassischen Gedanken, dass man, um das Sein und seinen inneren Grund verstehen zu können, die miteinander übereinstimmende Rationalität des Existierenden und damit seiner inneren Wahrheit suchen müsse. Seit der Entstehung des Christentums sucht man nicht nur in der Schöpfung – und im Menschen, der ihr Zentrum ist – Spuren dieser Rationalität, sondern betrachtet auch die Teilhabe alles Seienden am Guten als einen Ausdruck der Abstammung jedes Wesens vom Höchsten Guten. Die Theoriebildung hinsichtlich der Einzigkeit der Welt ist fest mit diesem Ansatz verbunden, während diverse andere Lesarten – von Giordano Bruno bis Leibniz – mit ihrer Vorstellung, dass Gott demgegenüber ‚infinite Welten‘ geschaffen habe, zu immer radikaler werdenden Aussagen über einen Gott passen, der schlicht und einfach aus einem Akt des Willens heraus etwas erschafft. Damit führen Sie die Gedanken von Duns Scotus weiter, der sich diesbezüglich als Erster in dieser Klarheit geäußert hatte: „quare voluntas voluit hoc, nulla est causa, nisi quia voluntas est voluntas“, Duns Scoto, Opus Oxoniense, I, pars I, dist. 8, q. 5, art. 3, n. 24.
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rückte das Thema der Einzigartigkeit in den Vordergrund.⁹ Zu Recht versteht Blumenberg dieses anscheinend auf eine akademische Debatte beschränkte Ereignis als eine entscheidende Abkehr vom spekulativen Horizont des Mittelalters. Das Denken sollte sich von da an immer mehr am theologischen Absolutismus und an der Theoretisierung der in diesem Sinne absoluten Distanz und Freiheit Gottes ausrichten. In diesem Horizont also – dessen große Meister in den Augen Luthers, neben Wilhelm von Ockham, vor allem Pierre d’Ailly und Gabriel Biel waren – und im Horizont der devotio moderna stand die Ausbildung des Wittenberger Mönches.¹⁰ Luthers gnadenlose Zurückweisung der Philosophie ist daher nur im Licht der philosophischen – und der theologischen – Debatte zu verstehen, welche ihm die begrifflichen Mittel für die inhaltliche Ausarbeitung lieferte. Diese Zurückweisung jedoch verhinderte keineswegs, dass sich sein Denken in diesem Bereich tiefgründig beeinflussen ließ. Auch sorgte seine Zugehörigkeit zur via moderna nicht dafür, dass er zu einem bloßen Nutznießer der Theorien Anderer wurde; vielmehr veränderte er durch seinen persönlichen Beitrag diese Theorien in beträchtlichem Maße.¹¹ In der Tat war Luther einerseits hartnäckiger Kritiker einiger klassischer Aussagen dieser philosophischen ‚via‘, was schon die oben zitierte Disputation gegen die scholastische Theologie von 1517 zeigt, in welcher er mit den Texten Biels und Ockhams in Dialog tritt. Andererseits ging er ein Jahr später in der Heidelberger Disputation die „Theologen der gloria“ hart an, d. h. insbesondere Thomas von Aquin und die aristotelische Schule. In diesen kritischen Stellungnahmen sind philosophische Themen eng mit den theologischen Neuigkeiten, die Luther gerade erarbeitete, verflochten. Wir haben es also mit einem gewissen Durch- und Nebeneinander von Argumentationslinien zu tun, deren offenkundig spekulative Grundlagen trotz allem auszumachen sind.¹² Der kulturelle Hintergrund, aus dem Luther für seinen Bildungsweg schöpfen konnte, war noch immer stark von Duns Scotus beeinflusst. Dessen Denken war dank des Franziskanismus in ganz Europa weit verbreitet und bildete gleichsam den Drehund Angelpunkt, von dem aus nach und nach der Nominalismus seine Wirkung
Blumenberg, La legittimità, 168. Kaufmann vertritt die Ansicht, dass die ambivalente Selbsteinschätzung Luthers hinsichtlich seiner eigenen Rolle und seiner eigenen Natur – von „dottore al di sopra di tutti i dottori dell’intero papato“ bis hin zu „sacco puzzolente di vermi“ in signifikanter Weise vom Geist der devotio moderna und von Werken wie Imitatio Christi beeinflusst war. Wo seine Selbsteinschätzung den Eindruck einer kaum vertretbaren Selbstüberhebung erweckt, muss diese jedoch auch im Lichte der Überzeugung gesehen werden, dass Christus durch seinen Mund rede und so einer wahren und wahrhaftigen Christförmigen Lehr Leben verleihe. Kaufmann, Lutero, 21– 22. Vgl. auch den Brief an Staupitz vom 20. Februar 1519, in dem er beschreibt, wie er seiner selbst beraubt worden sei und wie Gott in ihm wirke: WA.B 1, 343 – 345 (Nr. 152). Vgl. auch Pesch, 92– 93. Hierzu und zu Luthers umfänglichem Gebrauch der Vernunft im Rahmen seines gesamten Wirkens vgl.White, Luther. Für einen zusammenfassenden Überblick vgl. „Introduzione“, insbesondere ab Seite 81. Vgl. Ebeling, Luther, 90 ff.; B. Lohse, Ratio und fides. Eine Untersuchung über die ratio in der Theologie Luthers, Göttingen, 1958, 77 ff.
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entfalten sollte. Scotus hatte sich mit der – nach ihm immer radikaler gedachten – Unmöglichkeit der metaphysischen Gotteserkenntnis auseinandergesetzt. Zudem verstand er das – sowohl dem Finiten als auch dem Infiniten – Sein allein im Horizont der Eindeutigkeit des Seiende. Dieses Verständnis allerdings war weder besonders deutlich noch bestimmt, da ja eigentlich gerade das Sein das absolut Bestimmbare war. Gemäß Scotus also konnte sich die Vernunft mit Gott nur als infinitem Seiende befassen; die Frage nach seiner Essenz musste man auf sich beruhen lassen. Auf der anderen Seite jedoch betonte Scotus das voluntaristisch-deliberative Element des Schöpfungsaktes, welches ein Ergebnis des karitativen Ausflusses des notwendigen Absoluten ist, so stark, dass er die Schöpfung kategorial von Gott unterschied, indem er sie im Bereich der Kontingenz verortete und sie direkt und absolut von Gott abhängig machte.¹³ Es muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass die von Scotus gelehrte drastische Einschränkung der Fähigkeiten der philosophischen Vernunft in der Überzeugung gründete, dass der Fall des Menschen so schwerwiegend und die daraus folgende Verderbtheit seiner Erkenntnisfähigkeiten so tiefgreifend waren, dass dieser zu keiner ‚distinkten‘ Erkenntnis des Seins gelangen konnte und dass ihm nur eine ‚abstrahierende‘ Erkenntnis vorbehalten war, die aus dem Wahrnehmbaren gewonnen werden konnte und welche an die körperliche Dimension gebunden war.¹⁴ Aus Scotus’ Sicht also war die Offenbarung dasjenige, was die Vagheit des metaphysischen Bildes wettmachen könnte. Selbstverständlich war es dieser Offenbarung verwehrt, auf direktem oder ‚indirektem‘ Wege vermittels der Naturrechtsprinzipien zu einem Verständnis von Gott gelangen zu können. Eine Ausnahme bilde das ununterdrückbare Prinzip der überbordenden, gratis ausgegossenen göttlichen Liebe als der Schöpfung inhärent. Was jedoch das Kontingente betrifft, so sei der privilegierte Gebrauch der philosophischen Vernunft laut Scotus weniger auf den Horizont des Seins zu beziehen, als vielmehr auf die Sphäre der essenzialistisch betrachteten Einzigartigkeit. Was da Gestalt annahm, war nichts weniger als das Abreißen einer Denkrichtung mit einer sehr langen Tradition: Ausgehend von Platons Metaphysik hatte man versucht, mit den Mitteln der philosophischen Vernunft herauszufinden, wie das Existierende im Horizont des Seins/Wesens zu verstehen sei; hierbei ging man davon aus, dass Letzteres aufgrund seiner inneren, auf das Gute hin ausgerichteten und in ihm gipfelnden Struktur – mehr oder weniger teilweise und/ oder indirekt – ‚lesbar‘ sei.Wenn nun also die Fähigkeit des Menschen, in der Ordnung und im Zweck des Existierenden eine irgendwie geartete Erkenntnis von Gott zu vermitteln, drastisch geschwächt wurde, und wenn, wie Scotus es macht, die einzelnen Wesen im Rahmen eines ‚individualisierten Essenzialismus‘ betrachtet werden, in
Vgl. O. Boulnois, Duns Scoto. Il rigore della carità, Mailand, 1999, 99. Vgl. E. Gilson, Giovanni Duns Scoto. Introduzione alle sue posizioni fondamentali. Con un saggio introduttivo di Costante Marabelli, Mailand, 2008, 64 ff. (dt. E. Gilson, Johannes Duns Scotus: Einführung in die Grundgedanken seiner Lehre, L. Schwann, 1959). Zudem erlaube ich mir, an dieser Stelle auf meine zusammenfassende Darstellung hinzuweisen: „Individuo ed esperienza, libertà e male da Duns Scoto a Lutero“, in: Filosofia politica, 1, 2010, 87– 110.
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dem „ogni essenza secerne, per così dire, la propria esistenza“,¹⁵ dann ist klar, dass auch die Beziehung Sein/Wesen beziehungsweise ihre ontologische Bezogenheit aufeinander dazu bestimmt war, ihres Sinnes vollkommen entleert zu werden. Einen weiteren wichtigen Schritt in diese Richtung ging man mit dem Nominalismus: Dieser behauptete – auf deutlich radikalere Weise als Scotus –, dass man ‚nur‘ das partikuläre, singuläre ‚Konkrete‘ erkennen könne. Der Nominalismus stützt auf diese Weise die ausschließliche Realität der konkreten Einzigartigkeit und ihres je und je von Neuem zugeschriebenen ‚Namens‘. Treffender und drastischer konnte die Überwindung der Metaphysik, der ‚Wissenschaft des Seins als des Seins‘, nicht ausgedrückt und besiegelt werden. Vignaux zieht aus diesen spekulativen Verschiebungen die Konsequenzen und stellt dabei fest, dass mit dem Nominalismus jegliche Möglichkeit ‚ontologischer‘ Beziehungen dahin ist und dass man sich stattdessen ein Feld von ‚Juxtapositionen‘, d. h. von nebeneinanderstehenden einzigartigen Einzeldingen vorstellen müsse. Dies mache gleichsam die typischen Fragen der klassischen Metaphysik – vom Universalien Problem bis zum Problem der Partizipation und deren möglichen Modalitäten – obsolet.¹⁶ Solch ein Szenario, bei dem nur die einzigartigen Einzeldinge als existierend und erkennbar angesehen werden, geht von der Prämisse aus, dass jedes von ihnen allein auf sich selbst zurückzuführen ist. Ihre Relation zu Gott hingegen stellt sich nun komplett anders dar: sie ist vertikal und vollkommen von der Absolutheit des Willens Gottes abhängig. Dieser sich in den europäischen Universitäten rasch verbreitende Umschwung des spekulativen Denkens muss bei dem Versuch, Luther zu verstehen und seinen Beitrag hierzu zu bewerten, unbedingt mitbedacht werden. Dabei dürfen natürlich Luthers beharrliches und unermüdliches Studium der Schrift, der Einfluss von Paulus und Augustin, die Auswirkungen des geschichtlichen Kontextes, die Situation der heruntergekommenen Kirche und seine persönliche Lebensgeschichte keineswegs vergessen werden. Der theologische Absolutismus, der sich im Anschluss an Scotus Wirken mehr und mehr durchsetzte, verlieh seiner Anthropologie eine gewisse theoretische Widerstandsfähigkeit und machte sie zu einem nachhaltigen und äußerst einflussreichen Ansatz von paradigmatischer Bedeutung. Der theologische Absolutismus war wohl um einiges entscheidender als der Einfluss einer strengen Erziehung oder einer von Aberglauben durchdrungenen Vorstellungswelt zur Zeit von Luthers erster Ausbildungsphase, die allzu häufig als entscheidende Elemente seiner Biographie angesehen werden. Diese recht knapp zusammengefassten Punkte bilden also das begriffliche Raster, welches die komplexe Beziehung zwischen Philosophie und Theologie beziehungsweise zwischen Vernunft und Glauben, die Gottesfrage, sowie die Herangehensweise an die Relationen Gott-Mensch, Mensch-Mensch und Mensch-Natur bei Luther erklärt. Der religiöse und spirituelle Geist, die Kraft des Glaubens, die Sensibilität des Re-
Vgl. E. Gilson, L’essere e l’essenza, Mailand, 2007, 120 – 122 ff. Vgl. P. Vignaux, „Nominalisme“ s.v., in: Dictionnaire de Théologie Catholique, Bd. 2, 1, Paris, 1931, 717– 784.
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formators, sein Temperament, all das kann die oben genannten Elemente von Luthers philosophischer Prägung nicht verdecken, da man ihre Spuren überall entdecken kann und seine Theologie ohne sie nicht denkbar ist. Von hier aus ist nun auch der weitere Weg des modernen Subjektes in seiner zweifachen Gestalt zu verstehen: Die erste Gestalt ist diejenige, die den verlangenden Willen als ontologisches Konstitutiv betrachtet und die ihre Wirkung von Luther bis hin zu Søren Kierkegaard und Friedrich Nietzsche entfaltet; die zweite ist diejenige mit der rationalistischen Priorität auf dem epistemisch selbstkonstitutiven kartesischen cogito, welches – indem es das Subjekt-Ich als ontologisch zentral definiert – die Geschichte des spekulativen Denkens bis hin zu Hegel nachhaltig beeinflusste.¹⁷ Wohlgemerkt: Auch diese zweite Strömung wäre ohne die lutherische Revolution kaum denkbar. Einer Hypostasierung dieses zwiegespaltenen, janusköpfigen Subjektes steht die Kritik des postmodernen Denkens entgegen, welche auf den bleibenden Einfluss der seinerzeit von Luther gesetzten Prämissen hinweist.
3 Theoretische Aspekte von Luthers Denken Luther leistet, wie angedeutet, einen wichtigen Beitrag zur ‚Vervollkommnung‘ einiger grundlegender Themen des Nominalismus. Die lutherische Neuerung besteht darin, dass die Beziehung zwischen Mensch und Gott grundsätzlich überdacht wird, indem – auf deutlich prononciertere Weise – nicht nur auf den göttlichen, sondern auch auf den menschlichen Willen Bezug genommen wird; gleichzeitig wird die Rolle der Vernunft in göttlichen Dingen drastisch eingeschränkt beziehungsweise in toto verworfen, wohingegen sie in menschlichen Dingen hervorgehoben wird; zudem wird die Beziehung Mensch-Welt auf grundsätzliche und tiefgründige Weise neu bewertet. Die sich neu herausbildende Anthropologie ist hauptsächlich von der Überwindung einiger nominalistischer Positionen – besonders derer des Luther gut bekannten Autors Gabriel Biel – bezüglich der Frage nach dem Willen¹⁸ gekennzeichnet. Dies schuf die Rahmenbedingungen für den epochenmachenden Umschwung „dalla metafisica dell’essere alla metafisica della volontà“.¹⁹ Biel nämlich betont die dem Menschen bleibend gegebene Möglichkeit, Gott „ex puris naturalibus“ zu lieben; es gebe im Willen des Menschen eine theoretisch ‚positive‘ Bewegung, die es ihm erlaube, eine Verbindung zwischen Gott und dem Menschen ‚potenziell‘ aufrecht beziehungsweise offen zu erhalten. Laut Biel schränke eine solche ‚potentielle‘ Fähigkeit des Menschen die ‚absolute‘ Macht Gottes nicht ein; vielmehr müsse man anerkennen,
Vgl. R. Perini, „Descartes, l’uomo tra finito e infinito“, in: Cosmopolis, 2, 2015, http://www.cosmopolis.globalist.it/Detail_News_Display?ID=90659&typeb=3&descartes-l-uomo-tra-finito-e-infinito (1. April 2017). Zum Bruch Luthers mit dem Nominalismus ‚in diesem substanziellen Punkt‘ und zum Bruch mit Biel im Besonderen vgl. G. Miegge, Lutero giovane, Mailand, 1977 [1946], 85 ff. Ebd., 109 – 110.
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dass es Gottes letztgültige und unergründliche Entscheidung sei, ob eine derartige tadellose Veranlagung des Menschen akzeptiert werden könne oder eher nicht. Luther, der eine solche ‚natürliche‘ Restfähigkeit des Menschen radikal ausschloss, widersetzte sich diesen Aussagen ganz entschieden, wodurch es zu seinem Bruch mit dem Nominalismus kam. Zu erkennen ist dies bereits in der Disputation gegen die scholastische Theologie, worin der für Luther typische dramatische anthropologische Pessimismus zum Vorschein kommt. Dieser Pessimismus ist gewissermaßen sein Vermächtnis für die sich in der Folgezeit vollziehende Herausbildung der modernen Vorstellung des Individuums.²⁰ Der Mensch, in nominalistischer Ausdrucksweise ein ‚individuelles Einzelding‘, ist auch in den Augen des Reformators vollkommen unfähig, Gott ‚außerhalb der göttlichen Gnade‘ zu suchen und zu lieben. Er wird nunmehr als einer dargestellt, der total selbstzentriert und auf sich selbst und die Objekte seiner eigenen Begierde bezogen ist: Paradoxerweise beginnt hier, im Rahmen einer von Luther betonten absoluten Abhängigkeit der Kreatur vom Schöpfer, der neuzeitliche Weg der Autonomie des Menschen in Bezug auf Gott. Die lutherische Anthropologie richtet sich nach einem Willen, der zum ersten Mal als ursprünglicher ontologischer Trieb angesehen wird. Somit werden zahlreiche spätere Überlegungen antizipiert, beginnend mit derjenigen von Hobbes, dem besonders an der Konstitutivität des conatus gelegen ist. Im Übrigen kristallisierte sich auch schon vor der zitierten Disputation, d. h. bereits in der Römerbriefvorlesung – wo Luther, nebenbei bemerkt, noch nicht zu einem ausgereiften anthropologischen Verständnis, wie es sich in De servo arbitrio findet, durchgedrungen war –, deutlich die Thematik der negativen Fähigkeit des menschlichen Willens heraus.²¹ In der Römerbriefvorlesung kommt noch ein weiteres Thema zum Vorschein, welches für das Verständnis des neuen Bildes vom Menschen in seiner Beziehung zur Natur zentral ist. Luther betont des Menschen Fähigkeit, selbst der Schöpfung einen ‚Nicht-Sinn‘ zu verleihen, indem dieser die geschaffenen Dinge lediglich als ‚Objekt der Befriedigung‘ des eigenen Verlangens betrachtet und diese dadurch zu unsinnigen, perversen und schädlichen Dingen verkommen lässt: „Sic faciunt omnes, qui Deum non purissime diligunt et feruenter fitiunt. Quod facit omnis homo, qui ex Adam
WA 1,224 und 228, vgl. insbesondere die Artikel 4– 6 und 13. Die Thematik der Boshaftigkeit des Menschen wird maßgeblich in De servo arbitrio erörtert und immer wieder neu traktiert. Es handelt sich dabei also um ein grundlegendes Element in Luthers Denken. Althaus beispielsweise zitiert die Rationis Latomianae confutatio von 1521, worin Luther die Meinung vertritt, dass es zur Ehre Christi unbedingt notwendig sei, dass die Sünden des Menschen ohne jegliche ‚Ermässigung‘ anerkannt würden (Die Theologie, 129) und woraufhin er folgende Warnung ausspricht: „Tu ergo cave illos pestilentissimos (die „matten und schwachen Sophisten der guten Werke“) et disce opera dei magna, mirifica et gloriosa esse, ideo scias tete non posse hoc peccatum satis exaggerare“ (WA 8,115,2). Althaus betont insbesondere, dass die wahre Wurzel (Wurzelgrund) der Sünde „die Eigenliebe als Anfang aller Sünde“ (Die Theologie, 131) sei. Vgl. auch die Aussagen in WA 1,222 ff., wo Luther betont, dass der Mensch als „arbor mala factus non potest nisi malum velle et facere“ (Art. 4), wohingegen er gleich im Anschluss das verbreitete Sprichwort verurteilt: „appetitus liber potest in utrunque oppositorum, immo non liber sed captivus est“ (Art. 5).
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natus est et fine spiritu sancto viuit. Ideo psalmo 13. de omnibus dicit: ‚Simul inutiles‘ i. e. vani ‚facti sunt‘“.²² Anhand dieser Aussagen kann man erkennen, welch epochalen Veränderungen das metaphysische Denken und der unentwegte Versuch, den der Ordnung des Seins und des Existierenden inhärenten Sinn und Zweck zu entdecken, unterzogen wurden. Während schon im Nominalismus vom ‚unsagbaren‘ Sein die Rede war und aus diesem Grund die ontologisch-relationale Partizipation des Menschen am Guten verdunkelt worden war, verweist die von Luther gelehrte definitive Verschließung des Menschen Gott gegenüber nun endgültig auf den paradoxerweise vom Menschen und von seiner negativen Fähigkeit seiner Begierde dominierten irdischen Horizont.²³ Von welch großer Bedeutung diese Wende ist, wird ersichtlich, wenn man sich die Verschiebungen bezüglich der Lehre Augustins über die Beziehung zwischen Mensch und Schöpfung zu Gemüte führt. Der Heilige betrachtet diese Beziehung als – in der Sünde begründete– pervertierende Umkehrung des Objektes des Genusses beziehungsweise der Nutznießung: von Gott, seinem natürlichen Ziel, hin zu den geschaffenen, und doch immer noch guten, Dingen.²⁴ Luther– obwohl er das Prinzip bewahrt, dass „res in se sunt bone, Et qui Deum cognoscunt, ipsi etiam res non vane, Sed vere cognoscunt,Vtentes eis, non autem fruentes“²⁵ – hingegen verweist mit Bezug auf entsprechende Verse in Kohelet auf den allgemeinen Deckmantel der Unsinnigkeit, mit welchem die menschliche Begierde die Güte und den Sinn des Existierenden verdeckt. Später, in den politischen Schriften, sollten mit gnadenloser Deutlichkeit die Folgerungen aus diesen Aussagen gezogen werden: Luther redet dort von der „Welt [die] wueste wuerde“ durch die „natürliche“ Bösartigkeit der Menschen und ihrer Begehren. Damit zeichnet er das Bild einer regelrechten Ent-Schöpfung.²⁶ Die formal geteilte augustinische Behauptung bezüglich „quaecumque sunt, bona sunt … quoniam fecit Deus noster omnia bona valde“²⁷ wird somit völlig entwertet und der WA 56,373,10 – 13. Hier ist präzisierend anzumerken, dass Luther zu diesem Zeitpunkt noch nicht die endgültigen Formulierungen bezüglich der Natur des Menschen entwickelt hatte, die dann im weiteren Verlauf eine voll und ganz negative Konnotation bekommen sollten. In der Römerbriefvorlesung nämlich besteht noch immer die Hoffnung auf eine Veränderung „[24] quando Impii damnati fuerint et sublati …, Quȩ [25] [2.] Liberatio fit nunc quottidie in sanctis“. Kurz vorher freilich hatte Luther von „jedem Menschen“ gesprochen und die Nutzlosigkeit und Nichtigkeit von „allen“ beteuert. WA 56,373, 24– 25. Augustin, De doctrina christiana libri quatuor, I, 4– 5 „sic in huius mortalitatis vita peregrinantes a Domino, si redire in patriam volumus, ubi beati esse possimus, utendum est hoc mundo, non fruendum, ut invisibilia Dei, per ea quae facta sunt, intellecta conspiciantur, hoc est, ut de corporalibus temporalibusque rebus aeterna et spiritalia capiamus. Res igitur quibus fruendum est, Pater et Filius et Spiritus Sanctus, eademque Trinitas, una quaedam summa res, communisque omnibus fruentibus ea; si tamen res et non rerum omnium causa, si tamen et causa“, http://www.augustinus.it/latino/dottrina_cristiana/index2.htm (6. April 2017). WA 56,373,17– 19. Vgl. hierzu die Aufnahme bei Augustin: „Quia res in se sunt bone, Et qui Deum cognoscunt, ipsi etiam res non vane, Sed vere cognoscunt, Vtentes eis, non autem fruentes“, a.a.O. WA 11,251,14– 15. Augustin, Confessionum, Libri XIII, 7, 12, 18.
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Mensch – dessen ontologische Partizipation am Guten der Bischof von Hippo trotz seines eigenen entschiedenen Pessimismus diesbezüglich stets beteuert hatte – ist der Grund dafür.²⁸ In der Römerbriefvorlesung werden die Menschen, die „ex Adam nat[i]“ sind und die nicht durch die Gnade Gottes um der Verdienste Jesu Christi willen geheiligt worden sind, in radikal negativer Weise und Weise als „inutiles“ betrachtet, als Opfer und Ursache des Nicht-Sinns von „ciò che è destinato a morire (vanitas vanitatum)“.²⁹ Diese Aussagen gehen weit über einen allgemeinen Pessimismus bezüglich der menschlichen Natur – sei es der Augustins oder der des Nominalismus – hinaus. Sie können auch nicht auf eine rein moralische Perspektive reduziert werden,³⁰ obwohl sie den Menschen auf durchaus originelle Weise als einen solchen beschreiben, der dem ‚inneren Tod‘ wegen seines eigenen begehrenden Willens ausgeliefert ist. Diese Sichtweise wurde später ein konstitutiver ontologischer Bestandteil des die vorherige strukturelle Relationalität ersetzenden selbstreferentiellen Individualismus. ‚Dieser‘ Tod gilt in der Tat für „alle Menschen gleichermaßen“, denn er bestimmt das partikulare und individuelle Schicksal eines jeden und verleiht den Menschen eine entscheidende Bedeutung, dergestalt, dass „die ganze Schöpfung“, die sich nunmehr symbolisch in einer neuen Ära befindet, unter das Zeichen des Menschen und seines Verlangens stellt. Es zeichnen sich also zwei Themen der lutherischen Anthropologie ab, deren volle Entfaltung mit der Schrift De servo arbitrio gegeben ist, welche der Reformator als einen besonders treffenden Ausdruck seines eigenen Denkens erachtet.³¹ Das erste Thema behandelt die konstitutive Potenz des menschlichen Verlangens, d. h. des potenziell alles und jeden umfassenden ‚Erb-Keims‘, mit ihrem Anspruch auf universale Gültigkeit.³² Hier wird das Verlangen zum Zentrum einer Ontologie gemacht,
Augustin, De natura boni, I, 15 – 17. Für eine Rekonstruktion dieses Argumentationsganges vgl. mein Werk Individuo ed esperienza. Indem Luther den 38. Psalm zitiert, stellt er den Menschen komplett unter das Zeichen der vanitas: „Veruntamen Vniuersa vanitas omnis homo viuens“ (WA 56,372,30). Daher gilt für das Handeln des alten Menschen: „Huic ergo vanitati subiecta est creatura (i. e. peruerse fruitioni), … Et per ipsum omnis creatura licet Inuita fit vanita“, vgl. WA 56,373. Es handelt sich vielmehr um eine theologisch-philosophische Aussage, da jede Theologie auch Philosophie ist, ebenso wie die Philosophie – um einiges öfter als sie denkt – tief von theologischen Elementen durchdrungen ist, welche sie rezipiert, säkularisierend transformiert oder auf welche sie reagiert. Vgl. hierzu E. De Negri, „Introduzione. Teologia e storicismo“, in: G.W.F. Hegel, I principi di Hegel. Frammenti giovanili, scritti del periodo jenense, Prefazione alla Fenomenologia, hg.v. E. De Negri, Florenz, 1984, hier: XXIIff. Vgl. auch De Negri, La teologia di Lutero: rivelazione e dialettica, Firenze 1967, (dt. Offenbarung und Dialektik. Luthers Realtheologie, Darmstadt 1973) und Blumenberg, La legittimità. Ich nehme mir heraus, diesbezüglich auf mein eigenes Werk hinzuweisen: La nascita dell’individualismo politico. Lutero e le politica della modernità, Bologna, 2002, siehe insbesondere die Kapitel 2 und 3. Vgl. zur Frage nach der Beziehung zwischen Wille und ‚Keim‘ die wichtigen Beobachtungen in Miegge, Lutero, 126 – 128.Was das Thema Verlangen und seinen Unterschied zum Willen angeht, finden sich auch bei Thomas Hobbes einige aufschlussreiche Seiten in Leviathan, I, 6. Für eine umfassende
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die – im Anschluss an Scotus und als Vorwegnahme von Suárez – als essentialistisch definiert werden kann.³³ Diese Ontologie wird – sei es aufgrund der eigenen nominalistischen Wurzeln, sei es, weil nichts den ‚Einzelnen‘ zutreffender beschreibt als das Verlangen – je und je individualistisch durchdekliniert; sie benennt die Impulse des Verlangens, überschreitet seine bewusste Kenntnis und aktiviert dessen Dynamik. Das zweite, unmittelbar damit verbundene Thema betrifft die Vorstellung, gemäß der die ‚ganze‘ Schöpfung jegliche Teleologie verloren habe – und dies nicht nur wegen der Unverstehbarkeit, welche die nominalistische Logik ihr ‚als solcher‘ zugeschrieben hat, sondern vor allem wegen dem Menschen. Hier geht es um eine äußert wichtige Thematik, die dort um einiges klarer entfaltet wird, wo Luther zum einen über das ‚Reich des Fleisches‘ nachdenkt, zum anderen über die Bedeutung der – zum ‚nützlichsten Geschenk Gottes‘ gewordenen – Vernunft in ebendiesem Reich, nämlich als eine, die der Politik Orientierung gibt und das Recht dazu gebraucht, mittels Macht und Geschick den Frieden zu bewahren, den die menschliche Natur selbst unmöglich macht: Es ist dies die Verwandlung der Natur und ihrer Ordnung in ein menschliches ‚Produkt‘. In der Tat wird in der Römerbriefvorlesung die Schöpfung der Herrschaft des Menschen unterstellt, der, indem er sein Verlangen auf sie richtet, ihre innere Ordnung durcheinanderbringt und sie fortan als ‚zur eigenen Verfügung stehende Materie‘ betrachtet, wodurch er jene für die Neuzeit charakteristische, rein zweckdienlichfunktionelle Beziehung zu ihr entwickelt. Diese freilich holzschnittartige Beschreibung markiert den Höhepunkt der theoretischen Entwicklung des theologischen Absolutismus und der Betonung der in aller Freiheit und gratis geschenkten Liebe Gottes. Das Ergebnis konnte kein anderes sein als die Nichtlesbarkeit der Welt, was für immer die Beziehung Mensch/Natur veränderte, und die Transformation letzterer, welche bis dato die Hüterin der ‚Wahrheit der Dinge‘ und ihrer Beziehungen gewesen war und die es vermocht hatte, eine gewisse ‚Verwunderung der Vernunft‘ gleichsam als den Beginn des philosophischen Fragens hervorzurufen, in voll und ganz benutzbare und verfügbare Materie. Die vom Nominalismus bewirkte Aufsplitterung der Natur in einzelne konkrete Objekte hatte einer mathematisierenden Betrachtungsweise den Weg bereitet und den Geist der modernen Wissenschaft geweckt, der jedoch noch eine lange Zeit in der Person vieler seiner wichtigsten Vertreter mit der Suche nach den ewigen Wahrheiten verbunden war. Wie aufgezeigt wurde, hatte sich die Art und Weise, wie der Mensch mit der Natur in Beziehung tritt, verschoben: weg von einer erkenntnisbezogenen Suche nach dem Mit-Sein, wobei alle Geschöpfe sich als mit-
Untersuchung der Frage vgl. auch C. Vigna, Etica del desiderio come etica del riconoscimento, Bd. 1, Neapel/Salerno, 2015, 65 ff. In diesem Punkt steht Luther eher in der Tradition des Scotus als in der des Nominalismus. Zumindest, wenn wir – zu Recht – den zweiteren als Vordenker des Primats der Essenz über die Existenz (Vgl. Gilson, L’essere, 120 ff.) und als Vorläufer des Suárez hinsichtlich der unmittelbaren Verbindung von Essenz und Existenz anerkennen. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass Luther vom Nominalismus den Antiteleologismus übernimmt, der in umfassenden Sinne die hier behandelte Debatte bestimmt.
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einander verbunden betrachteten und sich im Rahmen einer hierarchischen Beziehung und eines Sinnbezuges bewegten, an dessen Spitze Gott, der letztgültige Zweck der Schöpfung, stand, hin zu einer Logik der ‚Maschinisierung‘ oder gar ‚Verdinglichung‘ der Natur.³⁴ Die äußersten Konsequenzen dieses Vergleiches werden bei Luther im entscheidenden Abschnitt³⁵ über die „Welt [die] wueste wuerde“ entfaltet: die Erde ist vollkommen materialisiert und muss sich der Logik des Verlangens nach einer durch und durch räuberischen Ausplünderung beugen. Der Reformator zeichnet das Bild einer Welt, die voll und ganz ‚Gegenstand‘ geworden ist und – im Rahmen der Ordnung des Fleisches – der zweckgeleiteten Vernunft unterworfen ist, welche das einzige ist, wovon sich der ‚begehrende‘ Mensch leiten lässt, und welche jeglicher teleologisch orientierten Ratio entbehrt.
4 Die Dialektik der Gegensätzlichkeit Sich darauf zu beschränken, Luthers anthropologischen Pessimismus zu betonen, wird den durch ihn bewirkten grundlegenden Veränderungen nicht gerecht. Vielmehr sollte man dabei den Kontext mit im Blick haben: Luthers ‚Lesart‘ beziehungsweise Interpretation von Gott und von der Korrelation im Sinne einer ‚Gegenüberstellung‘ von Mensch und Gottes Geheimnis, seiner barmherzigen Güte und der völligen Andersartigkeit seiner Vernunft. In anderen Worten: Man sollte sich unbedingt darum bemühen, die lutherische Theorie von der Andersartigkeit/Spiegelbildlichkeit von Gott und Mensch mithilfe einer Bezugnahme auf den ‚Fortschritt‘ gegenüber dem theologischen Absolutismus des Nominalismus zu erklären.³⁶ Dies ist nicht nur des-
Vgl. R. Spaemann, Fini naturali. Storia e riscoperta del pensiero teleologico, Mailand, 2012, 140 ff. (dt. Spaemann, Natürliche Ziele. Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens, Stuttgart, 2005). Vgl. hierzu besonders die Bemerkungen des Autors zu den Wirkungen der Verdunkelung des Finalismus und der sich daraus ergebenden Förderung der zweckorientierten Vernunft und der Logik der Bevormundung. Charakteristisch für diese Betrachtungsweise ist die Behandlung der Natur als ‚Mechanismus‘. „Stultus esset enim Deus, qui hominibus iustitiam revelaret, quam iam vel nossent vel cuius semina haberent. Cum autem stultus non sit, et tamen revelat illis iustitiam salutis, manifestus est, liberum arbitrium etiam in summis hominibus non solum non habere vel posse aliquid, sed ne nosse quidem, quid sit iustum coram Deo […] Paulus hoc loco prorsus omnes homines una massa comprehendens concludit, omnes esse impios, iniustos et ignaros iustitiae et fidei, tantum abest, ut aliquid boni velle aut facere possint. Et haec conclusio firma est ex eo, quod Deus illis ut ignaris et in tenebris sedentibus revelat iustitiam salutis, ergo per sese ignorant.“ WA 18,758,23 – 33. Es ist darauf hinzuweisen, dass sich die hier angestrebte Untersuchung von der Analyse derer, die Luther vor allem im Hinblick auf mögliche Widersprüche zu interpretieren versuchen, deutlich unterscheidet. Dies käme meiner Meinung nach einem grundlegend verfehlten Verständnis seines Denkens gleich, eines Denkens, das vielmehr von der proklamierten ‚Gegenüberstellung‘ von Gott und Mensch,Welt des Fleisches und Welt des Geistes, Himmel und Erde etc. ausgeht. Ausgehend von dieser Methode der Gegenüberstellung – die nicht im Geringsten einen Widerspruch darstellt – wären dann die Bedeutung und die Konsequenzen der Gedanken Luthers zu erörtern.
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wegen wichtig, weil diese Lehre vieles andere bestimmt, sondern auch, weil man an ihr recht deutlich die methodische und theoretische Entwicklung des Reformators nachverfolgen kann. Es ist passenderweise die oben zitierte Römerbriefvorlesung – von der viel mit dem Ziel geschrieben wurde, die Zugehörigkeit entweder noch zur katholischen Orthodoxie oder schon zu den reformatorischen Standpunkten zu bestimmen –, in der sich die für lutherisches Denken typische ‚Dialektik‘ des Gegensatzes in ihrer ganzen Dramatik zeigt, wodurch immer deutlicher der Gegensatz zu den Theologen der via antiqua hervortritt. In der Tat zeigt sich die tragende Struktur und die eigentlich und wahrhaftig gleichbleibende Methode des lutherischen Denkens im Abarbeiten von und anhand von Widersprüchen. Dies steht – wie Gerhard Ebeling unterstreicht – der Koordinations- und Korrespondenzmethode der in der Heidelberger Disputation so genannten ‚Gloria-Theologen‘ entgegen.³⁷ Die entschiedene Verurteilung der menschlichen Willkür vonseiten Luthers beispielsweise (Thesen 13 und 14) basiert auf der Gegenüberstellung der Werke Gottes und der Werke des Menschen (Thesen 1, 3 und 4) und weist auf deren unversöhnlichen Widerspruch. Ganz besonders eindrücklich jedoch erscheint in der Römerbriefvorlesung die gegensätzliche Beschreibung von Gott und Mensch, an der sich die oben dargelegte Vorgehensweise deutlich erkennen lässt: Sicut Itaque Dei Sapientia abscondita est Sub spetie stultitiȩ et veritas sub forma mendacii – Ita enim verbum Dei, quoties venit, venit in spetie contraria menti nostrȩ, que sibi vera sapere videtur; ideo verbum contrarium sibi mendacium Iudicat adeo, vt Christus Verbum suum appellauerit aduersarium nostrum, Matt. 5.: ‚Esto consentiens [2] aduersario tuo‘ i. e. contrarius – Ita et voluntas Dei, cum sit vere et naturaliter ‚bona, beneplacens, perfecta‘, Sed ita abscondita sub spetie mali, displicentis ac desperati, vt nostre voluntati et bonȩ, vt dicitur, intentioni non nisi pessima, desperatissima et nullo modo Dei, Sed diaboli voluntas videatur, Nisi homo relicta sua voluntate et intentione bona submittat se in omnem abnegationem Iustitiȩ, bonitatis, veritatis a se preconcepte.³⁸
In diesem Abschnitt begegnen zwei äußerst wichtige, eng miteinander verbundene Aspekte der lutherischen Vorstellung von Gott, wobei der zweite ein Korrelat des ersten ist: seine Andersartigkeit – Gott als Deus alienus, der ausschließlich sub contraria specie sichtbar ist³⁹ – und seine Unerkennbarkeit. Beide zusammen bilden den Motor für die sich in der Beziehung Gott-Mensch manifestierende lutherische Dialektik des Gegensatzes und sind die Grundlage für Luthers anthropologische Neuerungen. Die im oben zitierten Abschnitt erkennbare und immer wieder aufs Neue betonte Gegensätzlichkeit samt der Unerkennbarkeit Gottes zeigt sich auch – im Widerspruch zum zentralen Prinzip von Luthers Religiosität, jenem sola scriptura, wel-
Ebeling, Luther, 261. Vgl. auch De Negri, La teologia, 292 ff. und 297. WA 56,446,31– 34 und 447,1– 9. Zu den zahlreichen Aussagen Luthers bezüglich der Nichterkennbarkeit und der Andersheit Gottes vgl. WA 31/II,364; WA 44,429; WA 1,362– 363.
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ches gleichsam die Wiege des Glaubens ist und welches zweifelsohne die Stärke seines Schaffens und Wirkens ausmachte – im gleichzeitig hochgehaltenen Prinzip der Dunkelheit der Heiligen Schriften. Obwohl Luther diese Schriften – gegen Erasmus und gegen jegliche symbolische Interpretation – als un-mittelbar verständlich erklärt hat, gilt dies ausschließlich für ihre ‚externe‘, d. h. ihre linguistische und diskursive Gestalt.⁴⁰ Was jedoch das innere Verständnis, das des Herzens, betrifft, so gilt: „nullus homo unum iota in scripturis vide, nisi qui spiritum Dei habet“. Auch hier spielt das Prinzip des ‚Gegensatzes‘ eine entscheidende Rolle. In expliziter Form begegnet es insbesondere in der von Luther so gelehrten Unergründbarkeit des Geheimnisses des göttlichen Willens, welches dieser folgendermaßen beschreibt: Deus non amat aut odit quemadmodum nos, siquidem nos mutabiliter et amamus et odimus, illea eterna et immutabili natura amat et odit, sic non cadunt in illum accidentia et affectus. Atque hoc ipsum est, quod liberum arbitrium cogit nihil esse, quod aeternus et immutabilis sit amor, aeternum odium Dei erga homines, antequam mundum fieret, non solum ante meritum et opus liberi arbitrii, omniaque necessario in nobis fieri, secundum quod ille vel amat vel non amat ab aeterno⁴¹
An diesen Aussagen lässt sich erkennen, dass sich Luther zufolge die Andersartigkeit Gottes in erster Linie an der radikalen Verschiedenheit seines Wesens zeigt. Diese von der Methode des Gegensatzes über alle Maßen betonte Verschiedenheit wird, von dort ausgehend, als vollkommen unerkennbar beschrieben.⁴² Der Schwerpunkt dieser Gegensätzlichkeit jedoch zeigt sich in exemplarischer Weise im Verhältnis der beiden Naturen – der göttlichen und der menschlichen – Christi, denen dieser am Kreuz eine ganz konkrete, anschauliche Bedeutung verleiht. Laut Walther von Loewenich erweist sich die theologia crucis als das exakte Gegenteil der theologia gloriae und als die richtige und wahre Zugangsweise zur ‚Erkenntnis‘ Gottes. Schon in der Heidelberger Disputation basierte diese auf der Kontemplation der posteriora Dei, d. h. der Kehrseite beziehungsweise des Gegenteiles Gottes.⁴³ Dieser Gedanke zeigte sich nun in der Vorstellung des ‚perfekten Sünders‘ am Kreuz, also Christi selbst, der, indem er ‚alle‘
WA 18,609,5 – 14. WA 18,724,32– 36; 725,1– 3. WA 56, I, 272. Auf der vorangehenden Seite beschreibt Luther, was er unter der Sünde versteht, von welcher der Mensch – selbst ein Neugeborenes „unius diei“ – immer und immer noch gezeichnet ist: „non tantum […] peccatis in opere […] Sed et de fomite […] verius est peccatum i. e. opus et fructus peccati, peccatum autem ipsa passio fomes et concupiscentia siue pronitas ad malum et difficultas ad bonum […] Sicut Iustitua nostra ex Deo Est ipsa ipsa Inclinatio ad bonum et declinatio a malo interius per gratium data, opera autem sunt potius fructus Iustitie, Ita peccatum est ipsa declinatio a bono et inclinatio ad malum. Et opera peccati fructus sunt huius peccati“ [Hervorhebung durch Verfasserin] (WA 56, I, 271). Auch hier wird die Methode des Gegensatzes angewandt: die Gerechtigkeit bzw. die Gnade kommen von Gott und der Mensch ist unausweichlich vom „Keim“ der Sünde gezeichnet. Nicht einmal die Taufe kann diesen Keim ausmerzen: die dem Menschen gleichursprüngliche Leidenschaft bewegt den Menschen in unwiderstehlicher Weise dazu, die geschaffenen Dinge zu „concupiscere“. Vgl. WA 1,362,1– 5 (Nr. XX). Zur Vertiefung der Thematik sei verwiesen auf Cotta, La nascita, 32 ff.
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möglichen Sünden auf sich nimmt, die Züge ebendieses Gottes annimmt. Im Kreuz zeigt sich, so von Loewenich, unsere Unfähigkeit, irgendetwas von Gott – in der göttlichen Natur Christi – zu sehen. Andererseits leuchtet ebendort die ‚Vervollkommnung‘ der Sünde auf, d. h. das paradigmatische Sein des Menschen an sich.⁴⁴ Am Kreuz, dem Dreh- und Angelpunkt der Inkarnation, lässt sich der Sinn der Dialektik des Gegensatzes von Gegenteilen nachvollziehen, welche Luther als Ersatz für die sich im Horizont der Metaphysik bewegende Dialektik der Teilhabe entwickelte. Der von Christus im Moment seines Todes durchlebte heftige Konflikt zwischen der menschlichen Natur eines ‚perfekten Sünders‘ und der Perfektion der göttlichen Natur bewirkt die vollkommene Auflösung der Sünde, indem die göttlichen Verdienste auf den Menschen angewandt werden. Dieser Mensch kann nunmehr als simul iustus et peccator bezeichnet werden, wohl wissend, dass die sich vollständig mit der menschlichen Natur überlagernde Gerechtigkeit einzig und allein Gott gehört.⁴⁵ Diese neue Form einer nicht partizipativen oder relationalen ‚Dialektik‘ weist auf einen geistesgeschichtlichen Denkhorizont, der gekennzeichnet ist durch Diskontinuität, durch einen immer mehr triebgesteuerten Voluntarismus und durch den Primat des Existenziellen vor dem Rationalen, dessen Ausläufer sich im Anschluss an Luther noch lange bemerkbar machen sollten: an ihnen orientiert sich das Denken von Philosophen und Theologen wie Kierkegaard und Karl Barth, und auch ihre Nachwirkungen sind – bezüglich einiger Punkte – bei Hobbes und, allgemeiner, bei den Vertretern des Kontraktualismus, bei Blaise Pascal und David Hume, deutlich zu spüren.⁴⁶ Inwiefern diese ‚Gegensatzstruktur‘ des Denkens Luthers und seiner Nachfolger, also beispielsweise Barths, als ‚dialektisch‘ bezeichnet werden kann, und ob beziehungsweise wie darin das Moment der Vermittlung nachwirkt, das sind Fragen von großer Relevanz, die hier jedoch nur kurz angerissen werden können. Wichtig sind diese Fragestellungen ebenso für ein richtiges Verständnis des Reformators wie für eine Bewertung seines Einflusses auch in der langfristigen Perspektive.⁴⁷
W. von Loewenich, Theologia crucis, München 1954, 21 ff. WA 56, I, 70 und 272; In WA 40/II,332,19 – 29 kommentiert Luther die Gleichzeitigkeit der Reue Davids angesichts der Unheilbarkeit der eigenen Sünde und des Vertrauens in die Barmherzigkeit Gottes. Vgl. De Negri, La teologia, 64 ff. Ich verweise auf das kierkegaardsche Thema des vom Ritter des Glaubens vollzogenen ‚Sprungs in den Glauben‘, der auf die Unmöglichkeit einer rationalen Vermittlung zwischen Mensch und Gott hinweisen soll. Was Barth betrifft, so verweise ich auf die kontinuierliche Verstrickung der negativen Seite des Menschen mit der totalen Andersartigkeit Gottes. Vgl. beispielsweise De Negri, La teologia. Dieselben Fragen stellte sich – nicht von ungefähr – auch Barth, dessen Denken – wenn auch nicht von allen – als ‚dialektische Theologie‘ bezeichnet wurde. Siehe G. Miegges Introduzione in K. Barth, L’Epistola ai Romani, hg. von G. Miegge, Mailand, 1962, XXIII.
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5 Beziehung und Gegensatz Der von Luther in der Römerbriefvorlesung skizzierte und immer wieder – von der Heidelberger Disputation von 1518 bis hin zu De servo arbitrio und zahlreichen anderen Kontexten⁴⁸ – bekräftigte kontrastierende Gegensatz Gott-Mensch ist deutlich klarer zu erkennen, wenn man ihn der partizipativen Dialektik desjenigen Autors, der auch weiterhin eine seiner Hauptreferenzen blieb, gegenüberstellt: Augustin. Die augustinische Dialektik geht von der Abhängigkeit des Menschen von der Schöpfung als einer ordo amoris aus; diese Abhängigkeit ist für alles Geschaffene die ontologische und für den Menschen die gnoseologische Grundlage. Dies bedeutet, dass der Mensch, noch bevor er ein volles Bewusstsein seiner selbst entwickelt, in seinem Innern ein Bewusstsein des im Schöpferwort anwesenden Gottes aufspürt, und erst danach sich seiner selbst ‚in der eigenen Verschiedenheit‘ bewusst wird.⁴⁹ Der Abschnitt ist insofern von außerordentlicher Bedeutung, als die augustinische Selbstwahrnehmung in aller Deutlichkeit die im Wort steckende ontologische Verbindung des Menschen zu Gott und zum Guten offenlegt: Eine gänzliche Andersartigkeit würde eine Wahrnehmung des ‚ganz Andern‘ aus sich selbst heraus geradezu unmöglich machen. Besonders auffällig ist bei Augustins Ansatz die Verknüpfung der ontologischen, gnoseologischen und axiologischen Aspekte. Dem Heiligen zufolge ‚kann‘ diese erste Form des Bewusstseins durch das fortschreitende Kennenlernen der inneren Form des spirituellen Menschen einen Prozess der Selbstwahrnehmung in Gang setzen, falls der Mensch positiv auf das unentwegte Drängen des Wortes antwortet: in diesem Sinne ist die Schöpfung für Augustin in der Tat nicht linear, sondern fortwährend, und dabei fähig zu Fortschritten beziehungsweise anfällig für Rückschritte.⁵⁰ Zu erkennen ist ein solcher Prozess, daran, dass sich der Mensch in fortlaufender, aber wechselhafter Weise der eigenen ontologischen Beziehung – ‚in der Differenz‘ und in der Teilhabe – zu dieser Liebe bewusst wird, welche alles Existierende ins Leben gerufen hat und von deren Wort der Mensch unauslöschliche Spuren in sich trägt. In den Augen Augustins ist die Existenz das gegenständlich sichtbare Zeichen für die ontologische Beziehung aller Geschöpfe zur Liebe; diese Relation mache die Ausrichtung jedes geschaffenen Wesens auf das Gute deutlich, besonders auch was den Menschen angeht, obschon dieser dramatischerweise gefallen ist.⁵¹ Noch davor ist die schöpferische Tätigkeit des
Vgl. auch beispielsweise WA 5,63,29 – 64,4. Vgl. Augustin, „De Genesi ad litteram“, IV, 32, 50, in: G. Beschin, Città Nuova, Rom, 1973, 47 ff. [Hervorhebungen durch Verfasserin]. Vgl. auch Augustin, „De Genesi ad litteram“, III, 20, 31– 32. Für die Rekonstruktion dieser Passagen bei Augustin vgl. die aufgeführten Seiten bei Beschin. Vgl. G. Beschin, Città Nuova, 47. In De Civitate Dei führt Augustin das unüberwindbare Fortbestehen der Tendenz zum Guten selbst noch im Rahmen einer gegebenen Realität, die in Wiederspruch zu ihrem eigentlichen Sinn und Zweck geraten ist, vor Augen: Die dort genannte Gegebenheit ist die Politik, die das republikanische Rom an den Tag legt. Vgl. Augustin, De Civitate Dei, II, 21,1– 4 und XIX, 24, 26; vgl. auch die Untersuchungen zum Giganten Cacus, ebd., XIX, 12, 2.
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Wortes zu verorten, welche ein Ausdruck der zwischen den Personen der Trinität bestehenden Dialektik von Teilhabe und Differenz ist. So ist es naheliegend, dass eine jede Kreatur ‚zuerst‘ den Schöpfer und dann erst sich selbst versteht, wobei dieses ‚zuerst‘ nicht chronologisch, sondern auch ontologisch zu verstehen ist.⁵² Begreifen und uns selbst verstehen können wir gemäß Augustin ausschließlich in der generativen Ausdrucksweise der Liebe, welche alle Dinge als ihre Frucht hervorbringt. Dies ist in schwächerer und unsichererer Weise auch dann möglich, wenn, wie im Falle eines Atheisten, die Bedingungen dieses Verständnisses ganz und gar nicht gegeben zu sein scheinen. Folglich ‚ist‘ die Liebe die Wahrheit und das Sein, von dem aus alles Existierende – wenngleich durch seine Unvollkommenheit radikal davon verschieden – seinen Ausgang nimmt. Die augustinische Dialektik zeigt sich also mittels und ‚dank‘ der Verschiedenheit – das „ex nihilo“, die Grundbedingung der Kreatürlichkeit –, allerdings ‚durch Verbindungen‘ – die Beziehung des Seins zur Existenz – und ‚nicht durch Gegenüberstellungen‘. In der Tat sind es die Verbindungen, welche die Lesbarkeit der Schöpfung in ihrer internen Struktur ermöglichen. Sie legen ihren ‚Sinn‘ – die Liebe – offen, welcher die Schöpfung durchzieht und der im Menschen – wenngleich dieser unheilbar entstellt ist – als eine unauslöschliche Ähnlichkeit erscheint. Eine spiegelbildliche Gegenüberstellung von Gott und Mensch wäre bei Augustin demnach undenkbar, weil sie die Schöpfung mit jenem nihil, das allein ‚auf absolute Weise‘ von Gott verschieden ist, gleichsetzen würde. Im Übrigen offenbart alleine schon die Fähigkeit des Menschen, ganze Gedankengänge in Worten auszudrücken, die Ursprungsverbindung des Menschen mit der Wahrheit beziehungsweise dem Wort: In De Trinitate erklärt Augustin, dass der Mensch Worte und Gedanken, schon bevor er sie ausspricht, jenseits einer irgendwie gearteten sprachlichen Ausdrucksform im eigenen Geist entfaltet. Außerdem habe das menschliche Wort, wenn es explizite Gestalt angenommen hat, eine ‚gewisse‘ Ähnlichkeit mit dem göttlichen Wort; es sei „signum […] uerbi quod intus lucet“ und finde im menschlichen Bewusstsein Resonanz.⁵³ Auch hier ist die Differenz das notwendige Mittelmaß: dieses ist gleichzeitig offen für die Wahrheit und verankert im den Zustand der Kreatürlichkeit kennzeichnenden ontologischen Mangel. Diese ontologische und dialektische Verbindung beeinträchtigt die Absolutheit der göttlichen Freiheit nicht im Geringsten. Wie nämlich Werner Beierwaltes betont, ergibt sich die Differenz – das ist die Schöpfung, die Zeitlichkeit – in absolut freier Weise aus einer anderen Differenz: aus dem „zeitfreie Anfang, welcher das zeitfreie Wort ist „, quia voluit, weswegen nun der „Übergang … vollzieht sich vielmehr in einem Sprung, ohne Vermittlung; der
Der Heilige schreibt wie folgt: „non [est] praesumptionis audacia, ut in operibus dei secreto quodam loquendi modo, quo nostra exerceatur intentio, eadem nobis insinuata intellegatur trinitas“ https://www.hs-augsburg.de/~harsch/Chronologia/Lspost05/Augustinus/aug_cd11.html#24 (6. April 2017). Vgl. Augustin, De Civitate Dei, XI, 24; vgl. auch De Trinitate, IX. Augustin, De Trinitate, XV, 11, 20. Vgl. hierzu die wichtigen Überlegungen von W. Beierwaltes, Identità e differenza, Mailand, 1989, 115 – 116 (dt. Beierwaltes, Identität und Differenz, Frankfurt a.M., 1980).
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creative Hervorgang des Seienden aus dem creator ist selbst zeitloser, absolut freier und spontaner, weil durch nichts die eigene Selbstursprünglichkeit bestimmter Akt.“.⁵⁴ Diese schematische Rekonstruktion veranschaulicht den großen Unterschied zwischen den beiden Vorgehensweisen. Bei Augustin ist die Verschiedenheit strukturelles Element der partizipativen Beziehung zwischen Schöpfung/Geschöpf und Schöpfer. Diese Verschiedenheit zwischen Geschöpf und Schöpfer, weist, während sie auf der einen Seite hinsichtlich der Zugehörigkeit zum Nicht-Sein die Distanz jedes geschaffenen Wesens zum Schöpfer festhält, auf der anderen Seite hinsichtlich der Existenz und der ontologischen Gegebenheit kontextuell dessen Beziehung der Abhängigkeit, aber auch der Teilhabe am Guten auf. Dabei freilich nehmen die SelbstUrsprünglichkeit und die Willensfreiheit Gottes keinen Schaden, denn der sich aus der trinitarischen Dialektik und aus der diese durchdringenden Liebe ergebende schöpferische Impuls geschieht durch und durch aus Gnade und aus freien Stücken. Luther hingegen betrachtet die Verschiedenheit, was Gott betrifft, als zwei entgegengesetzte Seiten eines unüberwindbaren und furchterregenden Abgrundes, als Gottes Willen und seine große Barmherzigkeit, und, was den Menschen betrifft, einerseits als dessen restlose Knechtschaft des Bösen, andererseits als dessen vollkommene Freiheit zur Hingabe an Gott.⁵⁵ In der Beziehung Gott-Mensch hängt nach wie vor alles am Willen Gottes, am Mysterium seiner Gnade, an der Unergründbarkeit der Verdienste Jesu Christi. Dies verleiht der ‚Beziehung‘ eine Einseitigkeit, insofern als diese wegen der unüberwindbaren Asymmetrie zwischen Schöpfer und Schöpfung ausschließlich in der Richtung von oben nach unten zu denken ist. Weil denn nun die Möglichkeit ausgeschlossen scheint, dass sich in der Geschichte und in der konkreten Praxis derartige Abgründe radikaler Distanz – und seien sie nur bruchstückhaft – auftun, spricht selbst Luther im Rahmen dieser Asymmetrie von einer relativen Autonomie in menschlichen Dingen, die, wenngleich sie nach wie vor dem göttlichen Ratschluss unterliegen, nunmehr der irdischen Vernunft gehorchen. Die Verwandlung der Differenz von Struktur der Vermittlung und der Beziehung in reine Juxtaposition von als Gegensätzen sollte im Fortgang der säkularisierten Autonomie des modernen Menschen den Weg bereiten.
6 Schlussfolgerungen Das bis hierher Herausgearbeitete erlaubt es uns, einige Schlussfolgerungen in Bezug auf Luthers Lehre von der Anthropologie zu ziehen. Die Ausrichtung des theologischen Absolutismus an der extremen Radikalisierung des Abstandes zwischen Gott und Schöpfung findet, wie wir gesehen haben, ihre Vollendung bei Luther, genauer: in
Beierwaltes, Identität und Differenz, Frankfurt am Main, 1980, 83 – 84 ff.. An dieser Stelle wird offensichtlich Bezug genommen auf zwei äußerst wichtige Werke Luthers: De servo arbitrio und De libertate christiana.
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der Fremdheit des Menschen hinsichtlich der ‚Dinge Gottes‘, von dem im menschlichen Bewusstsein keine Spuren mehr zu finden sind. Die Folge ist eine Auflösung jeglicher zwischenmenschlicher Relationalität. Diese – schon im Nominalismus logisch und ontologisch implizierte – Auflösung wird von Luther durch die Ablehnung einer wie auch immer gearteten Restmöglichkeit der Teilhabe am Guten vollzogen. Das, was denjenigen, der sich nunmehr voll und ganz als ‚Individuum‘ erweist, konstituiert, ist nun der Wille in seiner triebhaften Un-Mittelbarkeit und nicht mehr, wie bei Scotus, ein schlichter Hinweis auf den Willen als eine dem Menschen vorausgehende Fähigkeit. Außerdem sollte die von Luther im Laufe der Zeit entwickelte Ontologie und Dialektik der Gegensätzlichkeit insofern schwerwiegende Folgen nach sich ziehen, als die Maximierung der Andersartigkeit und der Verborgenheit, d. h. der contraria specie, unter welcher Gott sich verbirgt, auf der anderen Seite auch eine Verborgenheit des Menschen mit sich bringt. Diese Verborgenheit wird zu einem ‚Negativ‘, dessen zweideutige Macht oben besprochen worden ist. Ihre Spuren sind sowohl in der individuell existenziellen Dynamik, als auch in der Dynamik der nunmehr atomisierten zusammengesetzten Gemeinschaft. Darüber hinaus verwandelt die Macht des Negativen die Menschen in wilde Tiere – eine komplette Änderung der Natur.Von daher kann man von einer – von Luther in scotischer Manier entwickelten⁵⁶ – Essenzialisierung des Menschen sprechen. Diese nimmt ihren Ausgang in dem ontologischen Bösen, das in demjenigen Verlangen ‚Substanz‘ findet, welches sowohl gegenüber dem Universellen, als auch gegenüber dem Individuellen diese beiden Dimensionen indifferent umfasst: Die gemeinsame Essenz aller Menschen wird in der universellen Bösartigkeit beziehungsweise im Widerspruch gegenüber Gott zusammengefasst gesehen, während ein jedes individuelles Einzelding von der Begierde geprägt ist, die auf geradezu materielle Weise jegliche Existenz beherrscht.⁵⁷ Was hier Gestalt annimmt, ist der wohl bedenklichste Kurzschluss im Denken Luthers: dies muss vor allem demjenigen, der ein wahrhaftiges – also weder hagiographisches noch dämonisierendes – Verständnis dieses Denkens anstrebt, unmittelbar ins Auge fallen. Einerseits besteht in Luthers Denken für einen von den Fesseln eines oft dogmatisch festgefahrenen metaphysischen Denkens und von der auf Gott bezogenen Vermittlungstätigkeit der institutionellen Struktur der Kirche befreiten Menschen zweifelsohne die Möglichkeit einer Erweiterung des Spielraumes der Gewissensfreiheit. Auch ist die Möglichkeit einer Vergrößerung des Spielraumes der Autonomie bei einem stark zu Selbstbewertung neigenden Individuum nicht zu bestreiten – wozu einen die Kontemplation der eigenen paradigmatischen Bösartigkeit
E. Gilson, L’essere, 120 ff. Diese von Luther vollzogene Substantialisierung des Bösen im ‚Erb-Keim‘ ist von besonderer Bedeutung, da das Böse in der christlichen Tradition der Metaphysik bis zum Nominalismus als Mangel an Sein, d. h. als Zugehörigkeit zu jenem nihil, dem durch das schöpferische Handeln Gottes alles entzogen wird, angesehen worden ist.
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im Lichte des Kreuzes immerfort antreiben würde.⁵⁸ Zudem müsste das Nachdenken über die eigene Sünde – auch ohne den naheliegenden Pessimismus in Bezug auf einen selbst und auf den Menschen – unbedingt im Zusammenhang des grenzenlosen Vertrauens in Gottes Barmherzigkeit betrachtet werden, denn schließlich ist auch letztere – worauf die Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen hinweist – Quelle innerer Freiheit und Ansporn zum praktischen Handeln. Diese aufgeführten Vorgehensweisen haben darin ihren herausragenden Wert, dass sie, wie Hegel feststellte, den Menschen mit seinem eigenen Herzen in Kontakt bringen, welches, dessen Meinung nach, dank Luther ganz und gar zu einem Organ der Erkenntnis geworden ist.⁵⁹ Wie sehr diese Revolution die Entstehung des modernen Europa – und damit der gesamten westlichen Kultur – beeinflusst hat, muss nicht nochmals betont werden; schließlich ist dies eine allgemein anerkannte Tatsache. Man braucht nur an Max Webers Analyse des Geistes des Calvinismus oder an die historische Tragweite der ‚Revolution of the Saints‘ in der Neuen Welt zu denken, um eine Ahnung von der proaktiven Wirkung der Reformation zu bekommen, denn diese Geschehnisse sind – wenn auch nicht unmittelbar auf Luther zurückzuführen – so doch wohl kaum ohne dessen durchschlagendes Werk vorstellbar. Man kann jedoch die wirkmächtige Forderung nach einer Entwicklung des Selbstbewusstseins, die der Reformator an den Menschen stellt, nur dann als einen herausragenden Verdienst seinerseits würdigen, wenn man zugleich auch die Nachwirkungen des dabei mitschwingenden radikalen Pessimismus, der nunmehr im Zeichen jenes Individualismus steht, der die moderne und gegenwärtige Welt so sehr gezeichnet hat, einer Untersuchung unterzieht. Das Ende der Vorstellung von einer – auf dem Teleologismus zum Guten hin und auf der ontologischen Relationalität basierenden – naturgegebenen Geselligkeit der Menschen als verlässlichem Dreh- und Angelpunkt nicht nur des politischen, sondern auch des metaphysischen Denkens und das situationsbezogene und überstürzte Hervortreten von Leidenschaften als menschliches Konstitutivum sind Produkte der lutherischen Revolution. Als solche haben sie eine Pervertierung der – privaten wie öffentlichen – Vernunft in eine rein instrumentelle und utilitaristische befördert, deren Identifikation des Guten mit dem Nützlichen gewiss nicht unproblematisch war – und nicht ist. Während der emanzipatorische Effekt der lutherischen Revolution hinsichtlich seiner Implikationen und Nachwirkungen in den verschiedensten Ge-
Dass dieser Prozess typisch für das Luthertum ist, zeigt sich auch daran, dass Luther selbst ihn ausführlich nachzuweisen versucht hat. Siehe hierzu Kaufmann, Lutero, 8 ff. Die Thematik der Befreiung des Herzens aus dem Rang der Bedeutungslosigkeit gegenüber der Vernunft hat selbstverständlich enorme Auswirkungen gehabt. Man denke nur an die große geistesgeschichtliche Strömung im Zusammenhang mit den Leidenschaften, die nach Luther die europäische Kultur durchdringen sollte und schließlich in die Existenzialphilosophien mündete. Hegel stellt dies fest in Lezioni sulla storia della filosofia, Bd. 3/2, La filosofia moderna, Florenz, 1981, 3 ff. (dt. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Bd. 3/2: Neuere Philosophie: Periode des denkenden Verstandes). Kaufmann erinnert zu Recht daran, dass Luther den Namen Eleutherios (‚frei in Gott‘) angenommen hat, Lutero, 7.
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bieten – theologisch, historisch, sozial, politisch, ökonomisch – umfassend bedacht worden ist, findet man kaum Untersuchungen, welche die Effekte von Luthers anthropologischem Pessimismus erörtern. Dieser Pessimismus steht im Zusammenhang einer theoretischen ‚Schiene‘, welche sich aus der gegensätzlichen Polarisierung ergibt, die den neu von Luther abgesteckten Horizont durchzieht. Der unvermeidbare Konflikt zwischen einzelnen Menschen (also die ‚Künstlichkeit‘ der Politik), die grundlegend an der Selbsterhaltung orientierte Vernunft (und die Politik, die Ethik und das Recht), die individualistische und selbstreferenzielle Perspektive – diese Themen und Sachverhalte sind das Gegenstück zur vom Luthertum geförderten Freiheit und Autonomie des Menschen; ebenso wie der Prozess der Säkularisierung die Kehrseite der geistlichen Revolution Luthers ist.
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Luther im Marxismus Zusammenfassung: Die folgende Untersuchung zur Lutherrezeption im Marxismus hat sich mit drei prominenten Ansätzen zu befassen, deren Spektrum sich von oppositioneller Frontstellung hin zu kritischer Interaktion erstreckt. Sie soll daher selbst in drei Schritten vorgehen: Im Fokus eines ersten Schritts soll die Anthropologie stehen, wobei zu erweisen sein wird, dass der augustinisch geprägten Auffassung vom Menschen, wie sie für das Luthertum charakteristisch ist, im Marxismus eine latent pelagianische Position entgegentritt. In einem zweiten Schritt gilt es, die Deutung des Bauernkrieges von 1525 durch Friedrich Engels zu analysieren: Engels beschreibt Martin Luther als Wortführer der sich entwickelnden Bourgeoisie aus städtischem Bürgertum und reformorientierten Fürsten, um demgegenüber das radikal-revolutionäre Potential seiner Theologie, wie es Thomas Müntzer und andere inspiriert hatte, herauszustellen. Der dritte Schritt befasst sich ausführlich mit Karl Marx und seinem dialektisch-kritischen Verhältnis zu Luther, der für ihn die notwendige erste Stufe der deutschen Revolution markiert, ohne welchen die zweite Stufe dieser Revolution unvorstellbar wäre. Heutzutage gehen wir einer dem 16. Jahrhundert analogen Umwälzungsepoche entgegen.¹ Ich denke sogar selbst ein bißchen wie der alte Luther, daß ein Mann, der den Wein nicht liebt, niemals etwas Rechtes zustande bringt.²
Die Beziehungen zwischen dem Marxismus und Martin Luther (1483 – 1546) erstrecken sich über ein Spektrum von grundsätzlich-philosophischer Opposition bis hin zu positiver – wenngleich kritischer – Würdigung. Um die damit verbundenen Perspektiven zu untersuchen, gilt es im Folgenden, drei für dieses Spektrum repräsentative Themenkomplexe darzustellen: die Anthropologie, die engelsche Interpretation Luthers als Ideologe der Frühbourgeoisie in seiner Darstellung des Bauernkrieges sowie die dialektische Einschätzung Luthers als Initiator einer ersten Stufe der deutschen Revolution, welche die zweite Stufe, die Karl Marx (1818 – 1883) in der eigenen Gegenwart beginnen sah, vorbereitete.
Übersetzung: Tobias Jammerthal. K. Marx, „Die moralisierende Kritik und die kritisierende Moral. Beitrag zur Deutschen Kulturgeschichte. Gegen Karl Heinzen von Karl Marx“, in: Marx Engels Werke, Bd. 4, Berlin, 1972 [1847], 331– 60 (331). K. Marx, „Marx an François Lafargue 12. November 1866“, in: Marx Engels Werke, Bd. 31, Berlin, 1973 [1866], 536 – 57 (536). https://doi.org/9783110498745-054
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Anthropologie Um die Unterscheide zwischen Luther und dem Marxismus in der Auffassung vom Menschen adäquat darzustellen, ist eine weiträumige historische Perspektive einzunehmen: Christlich geprägte Gesellschaften tendieren dazu, die Anthropologie auf die Frage zuzuspitzen, ob der Mensch aus eigener Kraft zum Tun des Guten in der Lage ist oder ob er, weil es ihm an genau dieser Möglichkeit gebreche, vollkommen auf Gott geworfen ist. Die Frage lässt sich hamartiologisch reformulieren und fragt dann danach, ob das Böse begrenzt ist und somit gute Werke möglich – oder, ob das Böse stärker ist als der Mensch, weswegen menschliches Bemühen stets vergeblich bleiben muss. Im Bereich des lateinischen Christentums entstammen die für die Erörterung dieser Fragen üblichen Begrifflichkeiten der Auseinandersetzung zwischen Augustin (354– 430) und Pelagius (ca. 350 – 420) im fünften Jahrhundert: ungeachtet der komplexen beiderseitigen Argumentationsmuster³ hat es sich seither etabliert, mit den Namen der Kontrahenten zwei gegensätzliche Positionen zu beschreiben, wobei der Bischof von Hippo darauf bestand, dass der unausweichlich böse Charakter menschlicher Existenz ausschließlich durch Gottes Gnade überwunden werden kann, während Pelagius, von einer begrenzteren Wirksamkeit des Bösen ausgehend, die Möglichkeit des Menschen zum Tun guter Werke betonte.⁴ Luthers augustinische Prägung wirkt sich auf seine Anthropologie stark aus. In der für ihn zentralen Frage nach der Transformation der gefallenen menschlichen Natur war es die von ihm positiv rezipierte Position Augustins gewesen, dass es nur durch Gottes Gnade zur Geburt des Neuen Menschen kommen könne, da sich der Mensch selbst nicht aus seiner Sündhaftigkeit befreien könne, während Pelagius davon überzeugt war, dass der Mensch daran durch Askese und Kulturarbeit Anteil habe, freilich nur unter der entscheidenden Mitwirkung Gottes, wobei seine eigene, vielfach bewunderte, asketische Lebensweise illustrierte, wie er sich diesen Heiligungsprozess konkret vorstellte: wenn Vollkommenheit möglich ist, dann ist das Streben nach ihr indispensabel. Aus bestimmten marxistisch geprägten Perspektiven heraus ließ sich diese theologische Kontroverse in politischen Kategorien reformulieren. Repräsentiert Augustin in diesem Fall die Auffassung der herrschenden Klasse, Pelagius die der Aus-
Einen Eindruck von der Komplexität der Materie vermitteln die wesentlichen Schriften der Kontrahenten: Augustine, Four Anti-Pelagian Writings, übers. J. Mourant, Washington, 1992; Pelagius, Pelagius’s Commentary on St Paul’s Epistle to the Romans, übers. T. De Bruyn, Oxford, 1993; B.R. Rees, Pelagius: Life and Letters, Martleshamr, 1998; W.E. Mann, „Augustine on Evil and Original Sin“, in: E. Stump and N. Kretzmann (Hg.), The Cambridge Companion to Augustine, Cambridge, 2001, 40 – 48; J. Wetzel, „Predestination, Pelagianism and Foreknowledge“, in: E. Stump and N. Kretzmann (Hg.), The Cambridge Companion to Augustine, Cambridge, 2001, 49 – 58. Nicht weiter eingegangen werden kann hier auf den Vermittlungsversuch der griechischen Orthodoxie, dass die Erlösung als göttliches Geschenk zwar nicht verdient, aber als Geschenk angenommen oder abgelehnt werden könne, weswegen doch auch von menschlichem Handeln zu reden sei.
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gebeuteten und Unterdrückten, so lässt sich die theologische Argumentation des Bischofs von Hippo daraufhin zuspitzen, den vorgefundenen Zustand von Welt und Gesellschaft nicht zu verändern, was für die Reichen und Mächtigen, denen an einer Veränderung der Verhältnisse nicht gelegen sein kann, eine willkommene Legitimation ihrer Position darstellte, während Pelagius – und mit ihm andere „Häretiker“ – zum Vorreiter der Unterprivilegierten avanciert und für eine Position in Anspruch genommen werden kann, nach der die Ausrottung der Armut ausschließlich durch die Beseitigung des Reichtums zu bewerkstelligen sei.⁵ Umgekehrt etablierte es sich, dass die Gegner des Sozialismus, von Sören Kierkegaard (1813 – 1855) bis hin zu Erich Voegelin (1901– 1985), ihn als pelagianische Irrlehre verdammten,⁶ was für einige Positionen im breiten Spektrum des Marxismus durchaus gerechtfertigt erscheint, wenngleich die für die europäische Aufklärung charakteristische optimistische Anthropologie als prägender intellektueller Hintergrund in Rechnung zu stellen sein wird. Diesen Positionen zufolge wohnt dem Proletariat wie den Bauern etwas Gutes inne, welches durch die Herrschaftsübernahme der Kommunisten von der Ausbeutung durch die herrschende Klasse freigesetzt werden und so dazu führen würde, dass Arbeiter und Bauern von sich aus bei der Schaffung einer auf allgemeinen gegenseitigen Vorteil ausgerichteten besseren Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung mitwirken würden. Pelagianisch geprägte Perspektiven zeichnen sich mit anderen Worten durch eine Wertschätzung des Möglichen aus, insbesondere dann, wenn es um das den Ausgebeuteten Mögliche geht. Dies zeigt sich im marxschen Sprachgebrauch vom Abwerfen der Ketten und Pflücken lebendiger Blumen,⁷ in der bei vielen marxistischen Theoretikern zu findenden Redewendung „jeder nach seinem Vermögen, zu jedermanns Bedürfnis“,⁸ in Anatoly Lunacharskys (1875 – 1933) Konstruktion einer idealen, durch religiöse Götter repräsentierten, menschlichen Natur, zu welcher man über Revolution und Bildung gelange,⁹ in Wladimir Iljitsch Lenins (1870 – 1924) Überzeugung, dass geduldiges und logisches Argumentieren auf der Grundlage von
G.E.M. de Ste. Croix, The Class Struggle in the Ancient Greek World from the Archaic Age to the Arab Conquests, Ithaca, 1981, 436 – 47; E.M. Wood, Citizens to Lords: A Social History of Western Political Thought from Antiquity to the Middle Ages, London, 2008, 160. J. Garff, Søren Kierkegaard: A Biography, übers. B. Kirmmse, Princeton, 2007, 486 – 90, 502– 5; E. Voegelin, The Collected Works of Eric Voegelin, 34 Bde., Columbia, 1989 – 2009, Bd. 4, 125; Bd. 6, 135, 145. K. Marx, „Contribution to the Critique of Hegel’s Philosophy of Law: Introduction“, in: Marx and Engels Collected Works, Bd. 3, Moskau, 1975 [1844], 175 – 87 (176); K. Marx, „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung“, in: Marx Engels Werke, Bd. 1, Berlin, 1974 [1844], 378 – 91 (379). Der seit Marx von jedem prominenten Kommunisten zitierte Satz findet sich in dieser Form zuerst bei Louis Blanc im Nachklang der Pariser „commune“ von 1848: „de chacun selon ses facultés, à chacun selon ses besoins“, kann aber in Varianten durch zahlreiche sozialistische Zirkel hindurch nachverfolgt werden (vgl. L. Blanc, Plus de Girondins, Paris, 1851, 92; N. Bowie, Towards a New Theory of Distributive Justice, Amherst, 1971, 82). Tatsächlich handelt es sich um eine Glosse der biblischen Formulierung von Apg 4,35 („[man] legte es den Aposteln zu Füßen; und man gab einem jeden, was er nötig hatte“). A.V. Lunacharsky, On Education: Selected Articles and Speeches, Moskau, 1981, 57, 165, 245, 247.
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„Fakten, Fakten, Fakten“ jeden Zuhörer schlussendlich gewinnen würde,¹⁰ in Josef Wissarionowitsch Stalins (1878 – 1953) früher Beobachtung, dass es „offensichtlich“ sei, „dass freie und kameradschaftliche Arbeit zu einer gleichfalls kameradschaftlichen und vollständigen Befriedigung aller Bedürfnisse in der kommenden sozialistischen Gesellschaft“ führen müsse,¹¹ oder auch in den Phänomenen des Stakhanovismus oder der Neuen Sowjetischen Frau bzw. des Neuen Sowjetischen Manns der 1930er Jahre.¹²
Engels, Luther und Müntzer Die Konsequenzen für die an diese anthropologisch-philosophische Opposition anschließende marxistische Wahrnehmung Luthers sind offensichtlich: geprägt durch seinen Ordenspatron Augustin betonte er die Macht des Bösen und der Sünde, die Unmöglichkeit guter Werke für den Menschen¹³ und die absolute Abhängigkeit von Gottes Gnade durch den Glauben. In der soeben skizzierten Perspektive positioniert ihn all dies eindeutig auf der Seite der reichen herrschenden Klasse. Besonders deutlich wird dies in der im Folgenden zu untersuchenden Schrift Der deutsche Bauernkrieg von Friedrich Engels (1820 – 1895),¹⁴ der ersten historisch-materialistischen Reformationsdarstellung mit ihrem schulbildenden Fokus auf die radikalen Potentiale der Reformation, wie sie sich im Bauernkrieg und bei Thomas Müntzer (1489 – 1525), der seit Engels zum Theologen des Bauernkriegs avancierte, zeigten.¹⁵ Die Studie ist geprägt von der für Engels leitenden Klassenvorstellung: Die ersten Seiten identifizieren Fürsten, Adel, Geistlichkeit, Bürger, städtische Unterschichten und Bauern als eigene Klassen, die folgende Untersuchung stellt die jeweiligen Auswirkungen des Bauernkrieges auf diese Klassen heraus. Luther verkörpert für Engels die Vorstellungen der im Aufsteigen begriffenen herrschenden Klasse der reformwil-
V.I. Lenin, „Statistics and Sociology“, in: Collected Works, Bd. 23, Moskau, 1964 [1917], 271– 77 (272). I.V. Stalin, „Anarchism or Socialism?“, in: Works, Bd. 1, Moskau, 1954 [1906 – 7], 297– 373 (338). L. Siegelbaum, Stakhanovism and the Politics of Productivity in the USSR, 1935 – 1941, Cambridge, 1988. M. Luther und D. Erasmus, Luther and Erasmus: On the Bondage of the Will and On the Freedom of the Will, hg.v. E.G. Rupp und S.S. Watson, Bd. 17, Library of Christian Classics, London, 1969. F. Engels, „The Peasant War in Germany“, in: Marx and Engels Collected Works, Bd. 10, Moskau, 1978 [1850], 397– 482; F. Engels, „Der deutsche Bauernkrieg“, in: Marx Engels Werke, Bd. 7, Berlin, 1973 [1850]), 327– 413. Unter dem Einfluss von Engels entwickelten Karl Kautsky und Ernst Bloch ihr Interesse an Müntzer, vgl. Karl Kautsky, Vorläufer des neueren Sozialismus II: Der Kommunismus in der deutschen Reformation, Berlin, 1976 [1895 – 97], 7– 103; E. Bloch, Ernst Bloch Werkausgabe, Bd. 2, Thomas Münzer als Theologe der Revolution, Frankfurt am Main, 1969. Siehe außerdem R. Boer, Criticism of Heaven: On Marxism and Theology, Historical Materialism Books Series, Leiden, 2007, 1– 56; R. Boer, „Karl Kautsky’s Forerunners of Modern Socialism“, in: Chiasma: A Site for Thought 1.1, 2014, 129 – 37 (http://chiasmaasiteforthought.com, Zugriff am 12.04. 2017).
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ligen Bürger und Fürsten, während Müntzer zum Sprachrohr der radikalen Bauern und des frühen Proletariats wird. Konsequent erscheint Luther als Verräter der bäuerlichen Revolution, der allgemein dazu ermächtigt, Bauern, Bergleute und andere Teilnehmer der revolutionären Bewegung zu erschlagen. Dieser offensichtlichen Identifikation Luthers mit der Frühbourgeoisie ungeachtet, lässt Engels durch seine Untersuchung hindurch eine Lutherrezeption erkennen, die komplexer und ambivalenter ist, als es der erste Blick nahelegen mag. Engels zeichnet die Entwicklung von Luthers Reden und Handeln im Laufe seines Lebens nach: Der Augustinereremit aus bäuerlichem Hintergrund zeichnet sich zunächst durch eine scharfe Verurteilung der Kirche und des sie kennzeichnenden bequemen Arrangements mit der herrschenden Klasse aus, seine frühen Äußerungen verraten einen revolutionären Eifer, der, so Engels, ausgebeutete Bauern, Angehörige städtischer Unterschichten, Bürger, niedere Adelige und sogar Fürsten vereinen konnte – was eine Abkühlung dieses Eifers zur Folge hatte: Luther setzte sich jetzt für friedliche Reformen ein und verwarf radikale Ansätze. Damit rückt nach Engels der wahre Luther in den Blick: ein entschlossener Verteidiger der entstehenden bürgerlichen Kirche, dessen frühe Äußerungen mit ihrem revolutionären Potential so zu verstehen sind, dass er zu diesem Zeitpunkt seinen eigentlichen Standpunkt noch nicht gefunden hatte. Die Unterscheidung zwischen dem radikalen und dem moderat-liberalen Luther, wie sie Engels durch die Entwicklung eines Narrativs der zeitlichen Abfolge weg vom jugendlichen Radikalismus hin zur erwachsenen Mäßigung plausibel machen möchte, vermag jedoch nicht, über die grundsätzlich ambivalente Stellung Engels zu Luther hinwegzutäuschen, wie etwa seine Bemerkungen zu Luthers Bibelübersetzung zeigen: Luther hatte der plebejischen Bewegung ein mächtiges Werkzeug in die Hand gegeben durch die Übersetzung der Bibel.¹⁶
Gerade indem Engels sich bemüht, zu verdeutlichen, dass Luther die Bauern verraten habe, stellt er die politische Ambivalenz oder Vielstimmigkeit der Bibel heraus: dass sie eine revolutionäre Bewegung nach der anderen ebenso inspirieren konnte wie sie zum jeweils gleichen Zeitpunkt von der jeweils herrschenden Klasse zur Selbstlegitimation eingesetzt werden konnte, ist nach Engels kein Zufall.¹⁷ Sowohl Luther als auch Müntzer konnten sich vor diesem Hintergrund zu Recht auf die Bibel berufen, ohne den von ihnen herangezogenen Texten Gewalt antun zu müssen. Engels, „Der deutsche Bauernkrieg“, 350. Neben den bereits erwähnten Schriften von Kautsky und Bloch (Anm. 15) vgl. weiter K. Kautsky, Communism in Central Europe in the Time of the Reformation, übers. J. L. Mulliken und E. G. Mulliken, London, 1897; K. Kautsky, Vorläufer des neueren Sozialismus I: Kommunistische Bewegungen im Mittelalter, Berlin, 1976 [1895 – 97]; K. Kautsky, Vorläufer des neueren Sozialismus II; K. Kautsky und S. Lafargue, Vorläufer des neueren Sozialismus III: Die beiden ersten grossen Utopisten, Stuttgart, 1977 [1922].
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Zu fragen ist über diese Beobachtungen und somit über Engels hinaus, ob Luther nicht radikaler war, als Engels ihm das zugestehen wollte. Wenn er etwa formuliert, dass Luther den Benachteiligten mit seiner Bibelübersetzung ein mächtiges Werkzeug in die Hand gegeben habe, kommt damit in der Tat – auch wenn Engels das möglicherweise nicht in dieser Weise zum Ausdruck bringen wollte – zur Geltung, dass ein wichtiger Grund des Bauernaufstandes eben Luther war. Dass Engels durchgehend den Versuch unternimmt, Luther mit Bürgertum und Fürsten in Verbindung zu setzen und ihm gegenüber Müntzer als radikalen Theologen und politischen Agitator schlechthin zu profilieren, geht an der Tatsache vorbei, dass Müntzers lebhaftes politisches Vorstellungsvermögen sich zuallererst Luther, seiner Bibelarbeit und der sich mit ihm verbindenden neuen Art von Theologie verdankt, sodass es nicht zu viel des Guten sein dürfte, wenn man Luthers Lehre und Handeln als den zündenden Funken für Müntzers Denken und Tun beschreibt. Über Engels hinausgehend erscheint es somit plausibel, zu formulieren, dass Müntzer einen Aspekt der politisch ambivalenten Theologie Luthers konsequent durchführte, den Luther selbst, nachdem er ihn wahrgenommen hatte, zu unterdrücken suchte. Möglicherweise hat Engels also indirekt anerkannt, dass Luther die fundamentale theologische und politische Ambivalenz theologischen Denkens wiederentdeckt hatte:¹⁸ Die Theologie oder gar die Bibel lassen sich weder von Unterdrückern und Herrschenden noch von den Unterdrückten monopolisieren. Vielmehr eröffnen sich stets beide Wege, weswegen die Unterscheidung zwischen Reaktion und Revolution in den jeweils zur Debatte stehenden biblischen Texten oder theologischen Theoremen eine alles andere als einfache Aufgabe darstellt. Nachdem Luther mit beiden Möglichkeiten gespielt hatte, entsetzen ihn die von ihm selbst in den Blick gerückten radikalen Potentiale der Bibel. Diese Lesart setzt eine Engelslektüre voraus, die von einer Aufmerksamkeit für seine ambivalente Lutherrezeption geprägt ist: Engels verurteilt Luther einerseits dafür, den Zorn Gottes (durch die Hand der Fürsten) auf Müntzer und die Bauern herabgerufen zu haben, er gesteht andererseits indirekt zu, dass es Luther war, der auf das radikale oder gar revolutionäre Potential von Bibel und Theologie hingewiesen hatte, und der so Müntzer inspirieren konnte.
Marx und Luther Im Anschluss an die bisher im Rahmen dieser Untersuchung vorgelegte Darstellung grundsätzlicher Gegensätze zwischen Luthers Denken und dem Marxismus sowie der ersten Anzeichen einer Annäherung bei Engels gilt es im Folgenden, die Lutherrezeption bei Marx zu beleuchten. Sie ist, wie die Aufnahme von Luthers 1540 er-
Aufmerksamkeit hierfür zeigt sich besonders in F. Engels, „Zur Geschichte des Urchristentums“, in: Marx Engels Werke, Bd. 22, Berlin, 1972 [1894– 95], 447– 73. Siehe weiterhin R. Boer, Criticism of Earth: On Marx, Engels and Theology, Historical Materialism Book Series, Leiden, 2012, 273 – 306.
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schienener Schrift An die Pfarrherrn wider den Wucher zu predigen ¹⁹ besonders deutlich zeigt, positiver, als es möglicherweise zu erwarten wäre. Marx zitiert diese Lutherschrift, insbesondere ihre Ausführungen über Zins und das mittelalterliche Wucherverbot,²⁰ so zustimmend, dass er sogar formulieren kann, Luther habe den Charakter des Kapitals „überhaupt treffend gefaßt“.²¹ Im Folgenden soll allerdings vornehmlich die Lutherrezeption des jungen Marx, wie sie in den 1840er Jahren erfolgte, in den Blick rücken, die eine komplexe und dialektische Würdigung Luthers zeigt. Dies lässt sich besonders deutlich an nachfolgenden Formulierungen veranschaulichen: Deutschlands revolutionäre Vergangenheit ist nämlich theoretisch, es ist die Reformation. Wie damals der Mönch, so ist es jetzt der Philosoph, in dessen Hirn die Revolution beginnt … Aber, wenn der Protestantismus nicht die wahre Lösung, so war er die wahre Stellung der Aufgabe.²²
Der „Mönch“ ist ohne Zweifel Luther. Davon abgesehen finden sich hier drei Hauptaussagen, welche die hier folgende Untersuchung strukturieren sollen: 1) In einem theoretischen Sinne war die Reformation revolutionär. 2) Die Reformation markiert den Beginn einer deutschen Revolution, dem ein zweiter Schritt unter Federführung eines Philosophen zu folgen hat. 3) Die Reformation mag zwar die richtigen Fragen gestellt haben, hat sie aber nur unvollständig beantwortet und bedarf darum der Ergänzung und Vollendung durch eine zweite Stufe der Revolution. Diese drei Gesichtspunkte lassen sich ihrerseits auf zwei Thesen zuspitzen: Die deutsche Revolution besteht erstens aus zwei Phasen, wobei der Reformation als erster Phase eine zentrale Rolle zukommt, und die Reformation war zweitens zwar revolutionär, um was
M. Luther, „An die Pfarrherrn wider den Wucher zu predigen“, Wittenberg, 1540, WA 51,325 – 424. K. Marx, „A Contribution to the Critique of Political Economy“, in: Marx and Engels Collected Works, Bd. 29, Moskau, 1987 [1859], 257– 417 (364, 448 – 49); K. Marx, „Economic Manuscript of 1861– 63 (Continuation): A Contribution to the Critique of Political Economy“, in: Marx and Engels Collected Works, Bd. 32, Moskau, 1989 [1861– 63], 531– 41; K. Marx, Theorie über den Mehrwert (Vierter Band des „Kapitals“), in: Marx Engels Werke, Bd. 26, Teil 3, Berlin, 1974 [1861– 63], 516 – 24; K. Marx, Capital: A Critique of Political Economy, Bd. 1, in: Marx and Engels Collected Works, Bd. 35, Moskau, 1996 [1867]), 146, 203, 314, 388 – 89, 741; K. Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Bd. 1, Buch 1: Der Produktionsprozeß des Kapitals, in: Marx Engels Werke, Bd. 23, Berlin, 1972 [1867], 149, 207, 328, 619, 781; K. Marx, Capital: A Critique of Political Economy, Bd. 3, in: Marx and Engels Collected Works, Bd. 37, Moskau, 1998 [1894], 329, 345, 391– 92, 594, 606 – 6, 889; K. Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Bd. 3, Buch 3. Der Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion, in: Marx Engels Werke, Bd. 25, Berlin, 1973 [1894], 343 – 44, 359, 407, 613, 624– 25, 911. K. Marx, Theorie über den Mehrwert, 525 – 526. K. Marx, „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung“, 385. Dieser Text entstammt den bekanntesten Beobachtungen des jungen Marx (er schrieb ihn, als er gerade erst knapp über 20 war), in denen sich die geradezu lyrischen Sätze, dass es sich bei der Religion um eine illusorische Sonne, spirituelles Aroma, das Herz einer herzlosen Welt, die Seele einer seelenlosen Bedingtheit handle, ebenso finden wie die ambivalente Metapher von der Religion als dem Opium für das Volk (Opium diente gleichermaßen als Rausch- und Heilmittel!).
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für eine Art von Revolution es sich dabei handelte, ist jedoch nicht abschließend geklärt.
Zwei Stufen der Revolution An anderen als den bisher angeführten Stellen seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie spricht Marx sowohl vom Himmel als auch von Religionskritik, wobei offen bleibt, ob er unter letzteren Begriff die zeitgenössischen Thesen der Junghegelianer um Ludwig Andreas Feuerbach (1804 – 1872) fasst: Mit Feuerbach kommt der im oben angeführten längeren Zitat genannte „Philosoph“ in den Blick. Religionskritik aber ist unstrittig älter als dieser Denker, sodass im Folgenden die These zu begründen ist, dass Marx den Beginn der Religionskritik mit niemand anderem als mit Luther ansetzt. Religionskritik ist die erste Stufe der Revolution; in diesem Licht gilt es, nachfolgende Sätze zu verstehen: Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt, und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik.²³ Der evidente Beweis für den Radikalismus der deutschen Theorie, also für ihre praktische Energie, ist ihr Ausgang von der entschiedenen positiven Aufhebung der Religion. Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.²⁴
Die Beziehung zwischen den beiden Stufen der Revolution spiegelt sich in den beiden Begriffen, die Marx im Zuge seiner Darstellung der Religionskritik verwendet, enden bzw. beenden (beendigen) im Sinne von Zu-Ende-Bringen oder auch vollenden auf der einen, und Aufhebung, im hegelianischen Sinne eines eine Sache auf eine neue Stufe hebenden und sie in diesem Zuge zugleich radikal transformierenden Vorgangs, auf der anderen Seite. Das erste Lexem beschreibt eine klare Vollendung und somit ein absolutes Ende, über das hinaus weder etwas gesagt noch getan noch gedacht werden kann; letzterer Begriff weist auf Übertragung und Transformation und umschreibt somit die Fortdauer des Transformierten in einer mit vorherigen Gewohnheiten inkommensurablen Weise, oder, mit Marx gesprochen: Aufhebung charakterisiert einen Prozess, „worin die Verneinung und die Aufbewahrung, die Bejahung verknüpft sind.“ Dieser terminologische Unterschied weist auf die innere Struktur beider Zitate, auch wenn der Aufhebungsbegriff selbst erst im zweiten Zitat erscheint: Im ersten
K. Marx, „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung“, 378. Hervorhebungen im Original. K. Marx, „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung“, 385. Hervorhebungen im Original.
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Zitat weist der Begriff der Voraussetzung inhaltlich auf einen Aspekt der Aufhebung, weswegen es angemessen ist, hieraus abzuleiten, dass die Religionskritik für Marx zugleich beendigt ist und als Voraussetzung aller Kritik dient – freilich nicht in ihrem der Beendigung vorangehenden Stadium. Ähnlich im zweiten Zitat: die Radikalität des Denkens in Deutschland folgt aus ihrem „Ausgang von der entschiedenen positiven Aufhebung der Religion“ – während die Religionskritik mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen sei, „endet“. Was aber folgt für das Verständnis des Verhältnisses der Reformation zur nächsten Stufe der Revolution, wenn man der hier vertretenen Hypothese folgt, wonach für Marx die Religionskritik die Reformation und ihr Erbe (die erste Stufe der Revolution) ist? Die These ist vertreten worden, dass Marx zwischen dem entschiedenen Versuch auf der einen Seite, zumindest die Religionskritik ein für alle Mal zu beenden, oder gar, wie viele andere seit der Aufklärung, das Ende der Religion selbst zu verkünden und, der Notwendigkeit auf der anderen Seite, ein positives Verhältnis zu ihrer transformierten Präsenz zu gewinnen, hin- und hergerissen gewesen sein könnte.²⁵ Plausibler erscheint jedoch, wie es der Text selbst nahelegt, eine Verwandtschaft der relevanten Begriffe anzunehmen, da ohne die Beendigung des Vorherigen dessen Aufhebung nicht möglich ist: da das Vorherige nicht in seinem vorfindlichen Zustand verharren kann, bedarf es der Voll-endung, um aufgehoben werden zu können, und so eine neue Gestalt zu gewinnen, in der es eine indirekt-dialektische Beziehung zu seinem vor-aufgehobenen Sein unterhält. Die erste Stufe der Revolution, welche von Luther herrührt, ist daher zu beendigen, um sie zu einer zweiten, substantielleren Stufe der Revolution hin aufzuheben – die ihrerseits ohne ihre Vorstufe weder möglich noch verstehbar wäre. Die spätere Revolution ist so die Transformation der früheren.
Eine revolutionäre Reformation? Die der bisherigen Darstellung des Verhältnisses zwischen den beiden von Marx definierten Stufen der Revolution zugrundeliegende Annahme, dass die Reformation selbst revolutionären Charakter habe, bedarf jedoch ihrerseits der Plausibilisierung. Marx versucht, diesen revolutionären Charakter an der Verlagerung der Religiosität vom Äußerlichen zum Innerlichen festzumachen: Der evidente Beweis für den Radikalismus der deutschen Theorie, also für ihre praktische Energie, ist ihr Ausgang von der entschiedenen positiven Aufhebung der Religion. Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.²⁶
A.T. van Leeuwen, Critique of Heaven, Cambridge, 2002, 184. K. Marx, „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung“, 386.
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Diese Sätze betonen durch ihre merkliche dialektische Ausgewogenheit die durch Luther herbeigeführte tiefgreifende Veränderung: Indem sämtliche äußerlichen Ausdrucksfelder der Religion wie Frömmigkeit, Autorität, Priestertum und Leiblichkeit internalisiert wurden, entwickelte sich Religion zu einer Sache der Überzeugung, des Glaubens, des Herzens und des inneren (und zwar laikalen) Menschen. Diese Unterscheidungen lassen sich als Verschiebung vom Öffentlichen hin zum Privaten fassen, insofern das Private selbst keinesfalls etwas Gegebenes war, sondern im Verlauf dieser Verschiebung erst entstand. Auch wenn Luther sich einer vorfindlichen Unterscheidungskategorie bediente, fasste er das Innerliche und Private in vieler Hinsicht neu – und dies vor allem ist die erste Stufe radikal-revolutionärer Kritik. Die dialektische These lautet jedoch nicht, dass es sich hierbei um eine allumfassende Internalisierung gleich einem universalen Rückzug in ein inneres Kloster gehandelt habe, sondern vielmehr, dass bei dieser Internalisierung ein eminent öffentlicher Vorgang faktisch demokratischer Art vorlag: Die private Innerlichkeit religiösen Ausdrucks wurde als gemeinsame Erfahrung allgemein zugänglich, der Mönch wurde zum Mann von Welt. Es ist nicht ungewöhnlich, hierin eine Vorwegnahme der These Max Webers (1864 – 1920) von der Universalisierung der monastischen Disziplin zu sehen.²⁷ Marx selbst verweist andernorts auf eine Verbindung zwischen Luther und Adam Smith (1723 – 1790): in Aufnahme von Engels Rede von Smith als dem „neuen Luther“²⁸ nimmt er an, dass Luthers Internalisierung von Glaube, Priestertum und Religiosität in Smiths These, dass Privateigentum eher innere Realität denn äußere Bedingung sei,²⁹ ein Analogon habe. Im Kapital begegnet uns dies als nicht weiter entwickelte Nebenthese: während der römische Katholizismus als veräußerlichte Ausdrucksform sich für die Geldwirtschaft eigne, lege sich der Protestantismus für die gleichsam verinnerlichten Realitäten von Kredit und Warenfonds nahe.³⁰ Die bereits vorgestellte marxsche Lutherdeutung ist in ihrem Charakter freilich von einer stärkeren Dialektik geprägt als diese Unterscheidung zwischen den Konfessionen: Für Marx geht es nicht um Homologien zwischen römischem Katholizismus und Protestantismus, sondern darum, dass Luther das Christentum durch Verinnerlichung universalisiert habe, und auf diesem Wege eine neue Kategorie religiöser wie menschlicher Existenz überhaupt erst geschaffen habe. Hierin besteht die erste Stufe der Revolution. Zugleich markiert diese Lutherdeutung die Grenzen seiner Revolution: Die Revolution Luthers, so Marx, etablierte neue Formen von Knechtschaft. Der mit Luther
M. Weber, The Protestant Ethic and the Spirit of Capitalism, übers. T. Parsons, London, 1992 [1904– 5]; D. Sayer, Capitalim and Modernity: An Excursus on Marx and Weber, London, 1991. F. Engels, „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie“, in: Marx Engels Werke, Bd. 1, Berlin, 1974 [1844], 499 – 524 (503). Vgl. K. Marx, „Economic and Philosophic Manuscripts of 1844“, 290 – 91; K. Marx, „Ökonomischphilosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844“, 530 – 31. K. Marx, Capital, Bd. 1, 90; K. Marx, Das Kapital Band 1, 93; K. Marx, Capital, Bd. 3, 587; K. Marx, Das Kapital Band 3, 606.
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verbundenen Befreiung der Menschen von veräußerlichten religiösen Ausdrucksformen ging eine neue Form der Unterdrückung durch Herz und Überzeugung einher.³¹
Die neue Revolution Ist Luthers Revolution eine notwendige erste Stufe, ohne die die zweite Stufe nicht möglich gewesen wäre, so ist damit jedoch zugleich gesagt, dass sie eine ungenügende Revolution war, die letztlich nur zu neuen Weisen der Unterdrückung führte. Mit Marx ist daher in Blick auf die Ziele der zweiten Stufe der Revolution zu formulieren, dass sie sowohl die innerliche als auch die äußerliche Dimension von Unterdrückung anzugreifen hat: Wenn durch die universalisierte Verinnerlichung die Laien zu Priestern geworden sind, hat sich der Befreiungskampf auf den verinnerlichten Priester zu konzentrieren. Als Theologe habe Luther ferner die grundlegende materialistische Dimension von Existenz vernachlässigt, Folgen für Klassengesellschaft und Wirtschaftsordnung stellten sich für ihn daher, so Marx, als gegenüber seinen eigentlichen Zielen zweitrangig dar. Marx ist es nun darum getan, diese für Luther seiner Ansicht nach zweitrangige Dimension zur primären zu machen. Auch wenn Marx landläufig als Wirtschaftsanalyst mit einem Fokus auf Produktionskräfte und deren Reziprozitäten gilt, und damit verbunden als Vertreter einer sozialistischen Revolution, formuliert er in Reaktion auf Luther die Forderung nach einer innerlichen Revolution. Die mit Luther möglich gewordene neue Form der Knechtschaft erschöpft sich nicht in wirtschaftlicher Ausbeutung, sondern umfasst dank Luthers Verinnerlichung religiöser Überzeugung und religiöser Praxis auch das Innere des Menschen. Dabei geht es Marx nicht um den kleinbürgerlichen Allgemeinplatz, dass die Veränderung der Welt mit der Veränderung der je persönlichen Einstellung beginne, sondern um eine von ihm wahrgenommene verinnerlichte Entfremdung: Luther internalisierte die früheren Gegensätze zwischen Laien und Klerikern sowie zwischen innerlicher Religiosität und äußerlicher Frömmigkeit, so dass sie letztlich zu Widersprüchen in einem jeden Menschen wurden, vergleichbar mit der Spannung zwischen Privatmann und Staatsbürger, die Marx andernorts Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770 – 1831) zum Vorwurf macht und zu überwinden sucht.³² Um dieses Problem zu lösen, sind auf der einen Seite die äußeren Lebensbedingungen neu in den Blick zu nehmen und radikal zu verändern, um die inneren Widersprüche auszulösen, auf der anderen Seite ist jedoch diese radikale Transformation von einem
Dies antizipiert einen Gesichtspunkt, der später entwickelt wird durch M. Foucault, Discipline and Punish: The Birth of the Clinic, übers. A. Sheridan, New York, 1979. K. Marx, „Contribution to the Critique of Hegel’s Philosophy of Law“, in: Marx and Engels Collected Works, Bd. 3, Moskau, 1975 [1843], 3 – 129; K. Marx, „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Kritik des Hegelschen Staatsrechts“, in: Marx Engels Werke, Bd. 1, Berlin, 1974 [1843], S. 203 – 333; K. Marx, „On the Jewish Question“, in: Marx and Engels Collected Works, Bd. 3, Moskau, 1975 [1844], 146 – 74; K. Marx, „Zur Judenfrage“, in: Marx Engels Werke, Bd. 1, Berlin, 1974 [1844], 347– 77.
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subjektiven Eingriff in die grundlegenden Bedingungen der Existenz abhängig. Der Mensch ist nicht nur Gegenstand der Prägung durch seine Umstände, sondern kann durch eine Umprägung seiner Umstände die eigene Existenz transformieren. Mit Blick auf Luther im Speziellen erklärt Marx, dass ihm und der Reformation im Allgemeinen eine Verwurzelung in der Masse gefehlt habe. In Luthers Händen wurde die Revolution in dem Maße auf Glaube und Wissen beschränkt, dass sie nicht allgemein adaptierbar war. Für Marx steht diese allgemeine Basis in der Masse mit dem Proletariat zur Verfügung, weswegen er dafür kämpft, dass Philosophie die Massen erfassen müsse: die Befreiung des Proletariats von den ihm angelegten radikalen Ketten muss nach Marx dessen Existenz als Klasse selbst auflösen. Diese Angriffe gegen Luther sind nur zum Teil angebracht: Aus der Darstellung der Lutherrezeption bei Engels sei daran erinnert, dass auch Luther ein – unfreiwilliges – radikales Potential hatte, durch welches radikale Theologen und Aktivisten wie Müntzer oder zahlreiche Wiedertäufer – man denke nur an das Täuferreich zu Münster von 1534– 1535! – überhaupt erst inspiriert wurden, die in der Tat ihre Verwurzelung in den Massen fanden. Und für Italien beklagt Antonio Gramsci (1891– 1937), dass es eine von ihm gesuchte Frührevolution, die wie die Reformation die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit erfasst und verändert hätte, nicht gegeben habe: „Italien hatte keine geistige und sittliche Reform, welche die Volksmassen erreicht hätte“.³³ Die kommunistische Revolution müsse – wie die Reformation – alle Ebenen der Gesellschaft erschüttern. Damit steht es in Frage, ob Marx, wie von ihm selbst angenommen, tatsächlich als Erster im Proletariat eine revolutionäre Massenbasis entdeckt habe, oder ob er die Frage nach der Massentauglichkeit nicht vielmehr wieder-entdeckt habe, was der Fall gewesen wäre, wenn sich die Reformation – wenngleich auf einer anderen Ebene – als massentauglich erwiesen hätte. Es ist nicht unplausibel, im „Philosophen“, wie ihn Marx beschreibt, mehr vom „Mönch“ oder von einem zweiten Luther wahrzunehmen, als Marx das vielleicht selbst zugeben wollte. Die Rezeption Luthers und seiner Revolution durch Marx ist daher in ihrem Charakter am besten als eine Aufhebung zu beschreiben: Der theologische Charakter der ersten Stufe wurde beendet und aufgehoben. Der letzte Satz des im Laufe dieser Untersuchung exegierten Marx-Textes beinhaltet zahlreiche Implikationen: „Wenn alle innern Bedingungen erfüllt sind, wird der deutsche Auferstehungstag verkündet werden durch das Schmettern des gallischen Hahns“.³⁴ Die deutsche Revolution ist nichts anderes als eine Auferstehung, der gallische Hahn – eine Anspielung auf Mk 14,29 – 31, Mt 26,33 – 35 und Lk 22,33 – 34 – deutet auf die mit der Französischen Revolution begonnene, dann jedoch ins Stocken geratene proletarische Revolution. Bei Auferstehung wie Hahnenschrei handelt es sich um biblische Anspielungen, wie auch Luther in einer deutschen Revolution sei-
A. Gramsci, Prison Notebooks, übers. J. A. Buttigieg, Bd. 2, New York, 1996, 243 – 44. Vgl. weiter R. Boer, Criticism of Heaven, 258 – 73. K. Marx, „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung“, 391.
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nen Platz finden würde, wenngleich in einer von ihm unmöglich antizipierbaren Weise.
Fazit Manchmal jedoch, wenn ich zu pfeifen beginne, behandelt mich Dicky, wie Luther den Teufel behandelte – er kehrt mir seinen… zu.³⁵
Die vorliegende Untersuchung hat die offensichtlichen Gegensätze zwischen dem Marxismus und Luther auf dem Feld der Anthropologie, auf welchem ersterer zu einer pelagianischen Position tendierte, während letzterer sich Augustin anschloss, hin zu einem komplexeren Wechselverhältnis geöffnet. Auch wenn etwa Engels gegenüber Luther, den er als den Ideologen der Frühbourgeoisie im Sinne von städtischen Eliten und Fürsten identifiziert hatte, große Skepsis hegte, erkannte er auf gewisse Weise das radikale Potential in Luthers Botschaft an, welches von Müntzer und anderen Radikalen entfaltet wurde. Marx und seine dialektische Auseinandersetzung mit Luther als dem Führer der ersten deutschen Revolution stellte sich als besonders beachtlich heraus – womit der Marxismus keinesfalls als säkularisiertes Christentum oder säkularisierte Eschatologie beschrieben werden soll.³⁶ Hinzuweisen ist aber darauf, dass die Beziehungen zwischen dem Marxismus und der Theologie eminent dialektischer Natur sind – wie es hier anhand der Beschäftigung marxistischer Theoretiker mit Luther dargestellt wurde.
K. Marx, „Marx an seine Tochter Eleanor, 26. April 1869“, in: Marx Engels Werke, Bd. 32, Berlin, 1973 [1869], 601– 2 (601). N.A. Berdiaev, Wahrheit und Lüge des Kommunismus, übers. I. Schor, Luzern, 1934. Für eine ausführliche Untersuchung hierzu siehe R. Boer, „Marxism and Eschatology Reconsidered“, in: Mediations 25.1, 2011, 39 – 60 (http://www.mediationsjournal.org/articles/marxism-and-eschatology-reconsidered, Zugriff am 12.04. 2017).
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Reformatorischer Protestantismus und der „Geist“ des Kapitalismus 1 Einleitung Im aufziehenden 20. Jahrhundert unternahm der deutsche Soziologe und Philosoph Max Weber den Versuch, in seiner Aufsatzsammlung „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ eine neue religiöse Grundlage für das Wirtschaftsleben zu definieren. Das Argument in diesen Aufsätzen wurde als die „Weber-These“ bekannt, die besagte, in der Entwicklung der modernen Welt gebe es eine enge Verbindung zwischen religiösen Lehren und Ethik einerseits sowie Wirtschaftsleben und -praxis andererseits. Nach einer Zusammenfassung des Hauptarguments Webers werden wir die Gestalt Martin Luthers in Webers Studie genauer untersuchen. Dann werden wir die Bedeutung protestantischer Rhetorik untersuchen, weil sie sowohl die protestantische Ethik als auch den kulturellen Geist, der dem modernen Wirtschaftsleben zugrunde liegt, beeinflusst hat. Wenn diese Untersuchung sich der heutigen Zeit nähert, werden wir feststellen, dass es gute Gründe gibt, Webers Bestimmung spezifisch protestantischer und besonders puritanischer Hintergründe für den Geist des modernen Kapitalismus infrage zu stellen. Wir werden mit einer Auswertung der These Webers schließen, die als aufschlussreich zu beurteilen ist, auch wenn sie unvollständig und in mancher Hinsicht falsch ist. Indem er die Prädestinationslehre als dogmatische Grundlage der puritanischen Ethik und damit wiederum als Geist des modernen Wirtschaftslebens betont, zeigt Weber ein fehlerhaftes Verständnis dieser Lehre und ihrer historischen Bedeutung. Doch gleichzeitig bestimmt Weber zutreffend wichtige Merkmale des Kapitalismus und ihre Grundlegung in der christlichen Ethik – und diese Einsichten haben heute noch Bedeutung und bieten Erkenntnisgewinn.
2 Die Weber-These Bevor man manche der Debatten und Interpretationen der These Webers untersucht und zu einer Auswertung ihrer Verdienste gelangt, lohnt es sich, grundlegenden Definitionen auf die Spur zu kommen und die Grundlinien seines Arguments nachzuzeichnen. Dies ist wichtig, weil die These Webers so oft missverstanden und unsachgemäß dargestellt worden ist. Als erstes sollten wir die Grundbegriffe aus dem Übersetzung: Lea Sophie Stolz.
https://doi.org/9783110498745-055
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Titel seiner Aufsätze aufschlüsseln: 1) die protestantische Ethik, und 2) der Geist des Kapitalismus. Für Weber war das „moderne Wirtschaftsethos“ ausdrücklich mit dem Kapitalismus zu identifizieren, den Weber als das „Streben nach Gewinn, im kontinuierlichen, rationalen kapitalistischen Betrieb: nach immer erneutem Gewinn“¹ definierte. Eine der häufigen Möglichkeiten, die Studie Webers falsch zu verstehen, besteht darin, seine Behauptungen so zu lesen, dass die protestantische Reformation oder das „moderne Wirtschaftsethos“ den Kapitalismus in irgendeiner Form erfunden hätte. Tatsächlich argumentiert Weber, der Kapitalismus habe schon vor der Neuzeit existiert und an verschiedenen Orten auf verschiedene Weise Form angenommen. Was am modernen Kapitalismus neu ist, ist aus Webers Perspektive die Rationalisierung und Institutionalisierung der Gewinnorientierung. Gewinnorientierte Unternehmen und Einzelpersonen gab es im Grunde schon immer und überall. Aber im Gegensatz zu diesen Phänomenen hat der moderne Westen „daneben eine ganz andere und nirgends sonst auf der Erde entwickelte Art des Kapitalismus: die rational-kapitalistische Organisation von (formell) freier Arbeit“² erlebt. Es gibt auch andere formelle Elemente des modernen Kapitalismus, Weber hält insbesondere „die Trennung von Haushalt und Betrieb“ und die „rationale Buchführung“³ fest. Aber die Bedeutung freier Arbeit ist grundlegend für modernes Wirtschaftsleben. Wie Weber formuliert: „Eine exakte Kalkulation – die Grundlage alles anderen – ist eben nur auf dem Boden freier Arbeit möglich“.⁴ Diese Charakteristika modernen Wirtschaftslebens werden von Weber weniger argumentatorisch vorgebracht als vielmehr behauptet und vorausgesetzt als Grundlage für den Hauptteil seiner restlichen Studie, der sich auf den „Geist“ des Kapitalismus oder die ethische Grundlage für das moderne Wirtschaftssystem konzentriert. Weber identifiziert den Geist des Kapitalismus mit protestantischer Askese, die sich selbst von anderen Formen der Askese durch ihre weltliche Orientierung und egalitäre Ethik unterscheidet. Wie Weber argumentiert, sind die formalen Elemente des Kapitalismus (beispielsweise formell freie Arbeit, rationale Buchführung) an sich nicht ausreichend, um den Aufstieg des modernen Kapitalismus zu erklären. „Denn wie von rationaler Technik und rationalem Recht, so ist der ökonomische Rationalismus in seiner Entstehung auch von der Fähigkeit und Disposition der Menschen zu bestimmten Arten praktisch-rationaler Lebensführung überhaupt abhängig“,⁵ schreibt er. Um diese „Fähigkeit und Disposition der Menschen“ zu verstehen, wendet Weber sich der Religion und der Psychologie zu.
M. Weber, „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, 7. Aufl., Tübingen, 1978, 4. Hervorhebungen in den Zitaten hier wie im Folgenden im Original (Anm. d. Ü.). Weber, „Die protestantische Ethik“, 7. Weber, „Die protestantische Ethik“, 8. Weber, „Die protestantische Ethik“, 9. Weber, „Die protestantische Ethik“, 12.
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So erklärt Weber: „Zu den wichtigsten formenden Elementen der Lebensführung nun gehörten in der Vergangenheit überall die magischen und religiösen Mächte und die am Glauben an sie verankerten ethischen Pflichtvorstellungen.“⁶ Er hält dies für eine grundlegende Beobachtung, die sich, wenn sie auf die heutige Situation angewandt wird, besonders auf die „Zusammenhänge des modernen Wirtschaftsethos mit der rationalen Ethik des asketischen Protestantismus“⁷ richtet. Die dogmatischen und ethischen Verbindungslinien, die Weber zieht, sind kompliziert und verlaufen durch seine gesamte Studie. Doch ein Aspekt seines Arguments verdient es, hier hervorgehoben zu werden – und das ist die Rolle der Prädestinationslehre. Webers Methodik funktioniert im Wesentlichen rückwärts. Er beobachtet den modernen Zustand des Wirtschaftslebens, bestimmbar als Kapitalismus. Hinter dem Kapitalismus stellt er einen bestimmten „Geist“ fest, der durch die rationale Askese einer Figur wie Benjamin Franklin illustriert wird, der solche Sprichwörter wie „Bedenke, daß die Zeit Geld ist“ oder „Bedenke, daß Kredit Geld ist“ oder „Bedenke, daß Geld von einer zeugungskräftigen und fruchtbaren Natur ist. Geld kann Geld erzeugen und die Sprößlinge können noch mehr erzeugen und so fort“⁸ formulierte. Nach Weber ist diese Ethik als „stahlhartes Gehäuse“ zu bestimmen, ein begrenztes ökonomistisches Weltbild, das Vorsicht, Sparsamkeit und Ökonomisierung vor allem anderen predigt. Hinter dieser säkularisierten Ethik der kapitalistischen Gewinnorientierung steht eine geistliche Ethik, in der materieller Wohlstand eher als „dünner Mantel“ getragen wurde, denn als ein „stahlhartes Gehäuse“. Diese geistliche Ethik ist das, was Weber als „asketischen Protestantismus“ bezeichnet; sie lässt sich von monastischen oder mittelalterlichen Formen durch ihren weltlichen Rahmen unterscheiden: Jenes religiös geforderte, vom ‚natürlichen Leben‘ verschiedene Sonderleben der Heiligen spielte sich – das ist das Entscheidende – nicht mehr außerhalb der Welt in Mönchsgemeinschaften, sondern innerhalb der Welt und ihrer Ordnungen ab. Diese Rationalisierung der Lebensführung innerhalb der Welt im Hinblick auf das Jenseits war die Wirkung der Berufskonzeption des asketischen Protestantismus.⁹
Obwohl er einräumt, dass dieses asketische protestantische Berufsverständnis verschiedene dogmatische Grundlagen haben könnte, schenkt Weber der Prädestinationslehre der Calvinisten und besonders der Puritaner spezielle Aufmerksamkeit. So schreibt Weber, „daß ähnliche ethische Maximen mit verschiedenen dogmatischen Unterlagen verknüpft sein konnten“.¹⁰ Aber das puritanische Verständnis eines weltlichen Berufs ist, in einen Zusammenhang mit der Prädestinationslehre gestellt, für Weber die größte in sich konsistente und kohärente Manifestation des asketischen Weber, „Die protestantische Ethik“, 12. Weber, „Die protestantische Ethik“, 12. Weber, „Die protestantische Ethik“, 31. Weber, „Die protestantische Ethik“, 163. Weber, „Die protestantische Ethik“, 85.
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Protestantismus. Es ist die größtmögliche konkrete Verwirklichung eines Idealtypus. Für Weber gilt: Soweit die Macht puritanischer Lebensauffassung reichte, kam sie unter allen Umständen – und dies ist natürlich weit wichtiger als die bloße Begünstigung der Kapitalbildung – der Tendenz zu bürgerlicher, ökonomisch rationaler Lebensführung zugute; sie war ihr wesentlicher und vor allem: ihr einzig konsequenter Träger. Sie stand an der Wiege des modernen ‚Wirtschaftsmenschen‘.¹¹
Die Rezeption der These Webers war umfangreich und vielfältig. Eine vollständige Aufstellung hat im Rahmen dieses Aufsatzes keinen Platz, doch einige Beispiele üblicher Lesarten Webers können stellvertretend hervorgehoben werden. Wie oben festgehalten, kritisieren viele Weber dafür, dass er nach ihrem Verständnis behauptet, der Kapitalismus sei eine moderne Erfindung. So schreibt der Soziologe Rodney Stark: „The Protestant Ethic enjoys an almost sacred status among sociologists, although economic historians quickly dismissed Weber’s surprisingly undocumented monograph on the irrefutable grounds that the rise of capitalism in Europe preceded the Reformation by centuries“.¹² Stark hebt weiterhin eine Reihe an Kritikern der These Webers hervor, wenngleich er Webers Aussagen nicht erfasst, es sei nicht der Kapitalismus als solcher, der in der Moderne neu sei, sondern eine bestimmte Form des Kapitalismus. Gleich zu Beginn seiner Aufsätze postuliert Weber: „In diesem Sinne nun hat es ‚Kapitalismus‘ und ‚kapitalistische Unternehmungen‘, auch mit leidlicher Rationalisierung der Kapitalrechnung, in allen Kulturländern der Erde gegeben, soweit die ökonomischen Dokumente zurückreichen“.¹³ Ähnlich räumt er ein: „Die kapitalistische Unternehmung und auch der kapitalistische Unternehmer, nicht nur als Gelegenheits-, sondern auch als Dauerunternehmer, sind uralt und waren höchst universell verbreitet“.¹⁴ Bloß darauf hinzuweisen, Kapitalismus sei älter als die protestantische Reformation, widerlegt Webers These nicht, die von einer bestimmten Definition des modernen Kapitalismus im Gegensatz zu anderen Formen des Kapitalismus abhängt. Eine andere Form der Kritik richtet sich nicht gegen Webers Schilderung der Geschichte wirtschaftlicher Entwicklung, sondern gegen seine Deutung religiöser, geistlicher und psychologischer Ursachen. So fragte sich der russisch-orthodoxe Philosoph Sergei Bulgakow, ob Weber den Komplex von Puritanismus und Prädestination nicht überbetone.¹⁵ R. H. Tawney beobachtet in seiner einflussreichen Studie
Weber, „Die protestantische Ethik“, 195. R. Stark, The Victory of Reason: How Christianity Led to Freedom, Capitalism, and Western Success, New York, 2005, XII. Vgl. auch K. Samuelsson, Religion and Economic Action: The Protestant Ethic, the Rise of Capitalism, and the Abuses of Scholarship, New York, 1961. Weber, „Die protestantische Ethik“, 6. Weber, „Die protestantische Ethik“, 6. Vgl. S. Bulgakov, „The National Economy and the Religious Personality (1909)“, in: Journal of Markets & Morality 11, 1, 2008, 157– 159.
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zum Verhältnis zwischen Religion und wirtschaftlicher Entwicklung: „Both the ‚capitalist spirit‘ and ‚Protestant ethics,‘ therefore, were a good deal more complex than Weber seems to imply“.¹⁶ Simon Schama behauptet, im niederländischen Kontext sei großer Reichtum eher eine Sorge als eine Quelle des Trosts gewesen, was Webers Formulierung der Verbindung zwischen Prädestination und materiellen Gütern zeige.¹⁷ Und in jüngerer Zeit greift Gene Edward Veith die These Webers an und argumentiert, Luthers Bedeutung sei wesentlicher, als Webers Darstellung suggeriere.¹⁸ Ob Weber nun recht damit hatte, eine besondere Version des Kapitalismus als Charakteristikum der Moderne zu bestimmen, oder nicht: Die Wirtschaftsgeschichte bekräftigt, dass Weber sich mit einem tatsächlichen Phänomen von einzigartiger Bedeutung auseinandersetzte. Irgendwo zwischen Anfang und Mitte des 18. Jahrhunderts gab es ein explosionsartiges Wirtschaftswachstum, das sein Zentrum in Europa hatte. Gemessen beispielsweise am Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist die Wachstumsrate hinsichtlich des materiellen Wohlstands erstaunlich. Nach der Wirtschaftswissenschaftlerin Deirdre N. McCloskey erlebte diese Zeit eine rapide Zunahme des Vermögens pro Person wie auch der absoluten Personenzahl: „Never had such a thing happened. Count it in your head: eight and half times more actual food and clothing and housing and education and travel and books for the average human being—even though there were six times more of them“.¹⁹ Was McCloskey als „The Great Enrichment“ bezeichnet, ist ein einzigartiges historisches Phänomen, das sie so genauer beschreibt: In the two centuries after 1800 trade-tested goods and services available to the average person in Sweden or Taiwan rose by a factor of 30 or 100. Not 100 percent, understand—a mere doubling— but in its highest estimate a factor of 100, nearly 10,000 percent, and at least a factor of 30, or 2,900 percent. The Great Enrichment of the past two centuries has dwarfed any of the previous and temporary achievements.²⁰
Dies ist die bemerkenswerte historische Veränderung, die Webers Studie zumindest teilweise zu erklären versucht. Webers Studie konzentriert sich also mehr auf die geistlichen und religiösen Kräfte, die den Geist hinter dem Kapitalismus prägen, als auf die Funktionsweise wirtschaftlicher Entwicklungen als solche. Dadurch handelt es sich um eine Form der Geistesgeschichte, die wiederum offen für Veränderung und Klärung ist und durch andere Formen historischer Forschung ergänzt wird. Der Rest dieses Aufsatzes wird
R. H. Tawney, Religion and the Rise of Capitalism: A Historical Study, Gloucester, 1962, 317, Anm. 32. S. Schama, The Embarrassment of Riches: An Interpretation of Dutch Culture in the Golden Age, New York, 1987. Vgl. G. E. Veith, Working for Our Neighbor: A Lutheran Primer on Vocation, Economics, and Ordinary Life, Grand Rapids, 2016. D. McCloskey, The Bourgeois Virtues: Ethics for an Age of Commerce, Chicago, 2007, 16. D. McCloskey, Bourgeois Equality: How Ideas, Not Capital or Institutions, Enriched the World, Chicago, 2016, XIV.
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Webers Verständnis der Rolle Luthers und der Bekräftigung des Werts der Alltagsarbeit im protestantischen Verständnis untersuchen, bevor mit einigen Verfeinerungen von Webers Argument hinsichtlich der Rolle von Rhetorik und Überzeugungskraft im Gegensatz zu doktrinären Formulierungen zur Ausbildung des ethischen Geistes fortgefahren wird. Diese Ergebnisse werden es uns erlauben, die breiteren christlichen und überkonfessionellen Wurzeln des Geistes des Kapitalismus in der modernen Welt zu untersuchen.
3 Luther und der Wert der Alltagsarbeit Für Weber bestand die Bedeutung von Martin Luthers ethischem Denken primär darin, dass es die scharfe Trennung zwischen dem moralischen Status des Laienstands und dem des Klerus und der Ordensleute auflöste. Aus mittelalterlicher Sicht gab es im Grunde zwei verschiedene Moralsysteme: eines für gewöhnliche Menschen und ein anderes für geistlich Begabte. Vom einfachen Volk wurde erwartet, dass es zumindest den grundlegenden Standards bürgerlichen Anstands und bürgerlicher Ordnung entsprach. Aber von ihnen wurde nicht erwartet, höhere Ebenen geistlicher Einsichten oder persönlicher Heiligung zu erreichen. Letztere Möglichkeiten waren den geistlichen Eliten vorbehalten, besonders denen, die ein Ordensgelübde oder einen Priestereid abgelegt hatten. Weber rechnet es Luther an, ein neues Verständnis der religiösen Vorstellung einer Bestimmung oder Berufung (lat. vocatio, bei Luther Beruf) eingeführt zu haben. Für Luther hat die christliche Berufung einen universalen Charakter, der das Leben eines jeden, der Christus nachfolgt, umfasst, ob in den Institutionen Kirche, Staat oder Gesellschaft. So behauptet Luther: Nemo pius praefert coram Deo officium magistratus officio subditi, quia novit utrunque esse ordinationem Dei et habere divinum mandatum. Non discernit inter officium seu opus patris et filii, paedagogi et discipuli, heri et servi etc., sed certo pronunciat utrunque placere Deo, si fiat in fide et obedientia Dei.²¹
Die Verbindung zwischen Luther und der Vielfalt mittelalterlichen Denkens ist sicherlich komplex. Doch wie Weber schreibt: „Unbedingt neu war jedenfalls zunächst eins: die Schätzung der Pflichterfüllung innerhalb der weltlichen Berufe als des höchsten Inhaltes, den die sittliche Selbstbetätigung überhaupt annehmen könne. Dies war es, was die Vorstellung von der religiösen Bedeutung der weltlichen Alltagsarbeit zur unvermeidlichen Folge hatte und den Berufsbegriff in diesem Sinne erstmalig erzeugte“.²²
WA 40/II,76. Weber, „Die protestantische Ethik“, 69.
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Für Luther markierte diese Perspektive eine deutliche Abweichung von der Sicht der katholischen Kirche seiner Zeit. Die Anerkennung des Werts der Alltagsarbeit impossibile est eos facere, qui neglecta doctrina de fide et charitate superstitiosa opera docent. Monachus non concedit, Laici opera, quae facit in sua vocatione, tam bona et accepta esse Deo quam sua. Nonna longe praefert suum vitae genus et opera vitae generi et operibus Matronae coniugis, haec enim iudicat meritoria esse gratiae et vitae aeternae, non item illa.²³
Nach Weber war diese Neudefinition des Berufs Luthers entscheidender Beitrag zur Entwicklung eines modernen Wirtschaftsdenkens. Luther hatte die Idee, die anderen ernteten ihre Früchte. Das liegt vor allem daran, dass Luther, obwohl er den Wert der Alltagsarbeit klar anerkannte, sie nicht mit einem Sinn für Dynamik und Freiheit in der sozialen Ordnung verband. Luthers Aufruf zu sorgfältiger Arbeit in einem Beruf hat so eine Art quietistisches Element, das dazu tendierte, die Zufriedenheit mit dem gegebenen Los und der ‚ererbten‘ Stellung im Leben zu betonen. Deshalb sagte Weber: „So blieb also bei Luther der Berufsbegriff traditionalistisch gebunden“.²⁴ Luthers Rat war folgender: „Quilibet igitur suum donum exploret. Ut enim corporibus, ingeniis et fortunis sumus inaequales: Ita etiam donis spiritualibus. Quilibet suo loco maneat in morali lege et communi iure, donec vocaverit aut coegerit eum Deus, ut faciat aliquid singulare“.²⁵ Wenn diese Einsicht in das Wesen der Berufung einer der einzigartigen Beiträge Luthers ist, verhinderten die Beschränkungen seines eigenen Kontexts, dass sie reife Frucht trug. So schreibt Weber: „Wenn die Reformation ohne Luthers ganz persönliche religiöse Entwicklung nicht vorstellbar und geistig dauernd von seiner Persönlichkeit bestimmt worden ist, so wäre ohne den Calvinismus doch sein Werk nicht von äußerer Dauer gewesen“.²⁶ Der Zusammenhang zwischen Luther und den späteren Entwicklungen der Reformation ist also einer der Ursprünge von Kodifizierung und Systematisierung. Webers Bericht spürt Luthers Einfluss durch eine Vielzahl späterer protestantischer Traditionen nach, besonders zu was er die „geschichtlichen Träger des asketischen Protestantismus“²⁷ nennt. Dies sind der Calvinismus, besonders in seiner puritanischen Ausprägung, der Pietismus, der Methodismus sowie baptistische Gruppierungen. Webers Untersuchung ist selektiv und von Eindrücken geleitet – eine Methode, die sowohl der Kürze seiner Betrachtung als auch dem provisorischen und unvollständigen Wesen seiner Ergebnisse geschuldet war. In einer neueren Untersuchung versucht David Hopper,Webers Skizze mit einigen Details zu füllen – in dem Sinne, dass er versucht, die Verbindungslinien und Ent-
WA 40/II,76. Weber, „Die protestantische Ethik“, 77. WA 43,642. Weber, „Die protestantische Ethik“, 79 f. Weber, „Die protestantische Ethik“, 84.
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wicklungen in der Lehre der Berufung von Luther zu Martin Bucer (1491– 1551), Johannes Calvin (1509 – 1564) und Francis Bacon (1561– 1626) nachzuzeichnen.²⁸ Auch Hopper kontrastiert Luthers offensichtliche Akzeptanz der statischen Natur sozialer Verhältnisse mit der späteren Betonung von treuen, durchdachten Annäherungen an weltliche Berufe. So schreibt Hopper: „Unlike Luther, who did not stress the consideration of occupational options as a fundamental dimension of faithful commitment and endeavor, Bucer encouraged each believer to maximize service in vocational choice, to consider vocation as a means to the greatest good for the greatest number“.²⁹ Wie wir gesehen haben, lehrte Luther jedoch, dass jeder sowohl „suum donum exploret“ als auch „suo loco maneat in morali lege et communi iure“, zumindest bis äußere Faktoren deutlich machten, dass eine Veränderung nötig sei. Einerseits betonte Luther dann den unerlässlichen Einsatz der eigenen Fähigkeiten, um am besten zu bestimmen, wie man anderen dient – durch die Auseinandersetzung mit den eigenen Gaben. Andererseits predigte Luther auch eine gewisse Zufriedenheit und Genügsamkeit mit den weltlichen Ergebnisse dieser Auseinandersetzung, wie immer diese auch ausfalle: „Sic ergo nunc consolatur diaconos et vult contentos reddere, unusquisque serviat fideliter in sua vocatione“.³⁰ Die Vorstellung, Luthers Konzeption von Berufung und seine Anerkennung des Werts der Alltagsarbeit käme nur in einer stillen Akzeptanz der gegenwärtigen sozialen Ordnung zum Ausdruck, ist irreführend. Gegen das, was er für die Exzesse der Täuferbewegung und des Schwärmertums hielt, betonte Luther tatsächlich den Gehorsam gegenüber rechtmäßig eingesetzten Autoritäten und die Notwendigkeit einer sozialen Ordnung und Stabilität. Doch die treue Ausübung der Pflichten des eigenen Berufs erforderte sicherlich die Anstrengung aller Begabungen, einschließlich des Verstands. Genauso betonte Luther die Verantwortung, die zu jedem Beruf individuell dazugehöre, sodass es selbst inmitten einer hierarchischen sozialen Ordnung die Gelegenheit zum Einsatz für Reform und verantwortliches Handeln gebe. In seiner Botschaft An den christlichen Adel (1520) appellierte Luther an den Kaiser und die christlichen Fürsten, sich für die Reform der Kirche einzusetzen. Doch im Rahmen dieses Appells bekräftigte Luther das integrale Funktionieren einer Gesellschaft in einer zusammengehörigen, organischen Einheit sowie die Verantwortung der einzelnen Mitglieder, ihre Pflichten im Kontext ihrer Berufe zu erfüllen. So schreibt Luther: „ein yglich sol mit seinem ampt odder werck denn andern nutzlich unnd dienstlich sein, das alszo viellerley werck alle in eine gemeyn gerichtet sein, leyp und sellen zufoddern, gleich wie die glidmasz des corpers alle eyns dem andern dienet“.³¹ Im Zusammenhang der notwendigen Reform der Religion waren die Hauptaufgaben
D. Hopper, Divine Transcendence and the Culture of Change, Grand Rapids, 2011. Hopper, Divine Transcendence, 136. WA 26,62. WA 6,409.
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für die Reform bei den kirchlichen und bürgerlichen Instanzen zu finden, insbesondere bei Papst und Kaiser. Die allgemeine Verantwortung für die Reform im eigenen Einflussbereich war universal, doch „drumb geburt einem yglichen Christen, das er sich des glaubens annehm, zuvorstehen und vorfechten, und alle yrtumb zuvordammen“.³² In dieser Hinsicht gibt es einen universalen Aspekt in Luthers Lehren von den Verantwortlichkeiten und Pflichten, die zum eigenen Beruf dazugehören, die alle gleichermaßen betreffen und von jedem erfordern: „Quilibet igitur suum donum exploret“ – so, dass es von größtem Einsatz für den Nächsten und größter Treue gegenüber Gott sein kann.
4 Protestantische Rhetorik und der Geist des Kapitalismus Durch die Betonung der Diskontinuität zwischen Luther und den späteren protestantischen Bewegungen, die er untersuchte, bemühte sich Weber darum, eine spezifische oder charakteristische dogmatische Grundlage für das ethische Programm christlicher Askese zu finden, die er mit dem Puritanismus identifizierte. Er verortete diesen dogmatischen Grund in der Prädestinationslehre, die das theologische Analogon zum ethischen Programm der christlichen Askese sei. Die mysteriöse Lehre von der Prädestination sollte ein seelisches Bedürfnis nach konkreter, zeitlicher Versicherung des eigenen soteriologischen Status erzeugen. Die treue Erledigung seiner weltlichen Pflichten wurde als einzige verlässliche Quelle solchen Trostes und solcher Versicherung gesehen. Für den Calvinismus des 16. und 17. Jahrhunderts ist kennzeichnend: „Als sein am meisten charakteristisches Dogma galt damals und gilt im allgemeinen auch heute die Lehre von der Gnadenwahl“.³³ Hier folgt Weber der grundsätzlichen Schubkraft der theologischen Geschichtsschreibung des späten 19. Jahrhunderts und ihrer Versuche, eine Kernthese oder Perspektive, ein Zentraldogma ausfindig zu machen, das charakteristisch für verschiedene konfessionelle Traditionen ist.³⁴ Für den Calvinismus war dies die Prädestination, sodass Weber versuchte, mit dieser Annahme die Verbindung zwischen der Prädestination als dogmatischem Grund und der Askese als ethischem Resultat nachzuzeichnen. Webers Argument ist so aufgebaut, dass er zunächst die Verbindung zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und protestantischer Askese behauptet und dann die Verbindung zwischen protestantischer Askese und der calvinistischen Prädestinationslehre. Doch wie wir gesehen haben, räumt Weber ein, dass letztere Verbindung an
WA 6,412. Weber, „Die protestantische Ethik“, 88 f. Vgl. A. Schweizer, Die protestantischen Zentraldogmen in ihrer Entwicklung innerhalb der reformierten Kirche, 2 Bde, Zürich, 1854– 1856.
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sich nicht notwendig ist und ähnliche ethische Systeme recht unterschiedliche dogmatische Grundlegungen haben können – ein Aspekt, der von Bulgakow bekräftigt wurde. Bulgakow formuliert es so: The link between religious consciousness and economic activity should be related not only to certain doctrines but even more so to practical conclusions from religion and especially to what it required at a given time in history. What is important here is the religious spirit’s way of penetrating life, its direct impact on—so to speak—the temperature of the religious-ascetic attitude to life.³⁵
In dieser Hinsicht ist Webers Versuch, den inneren Zusammenhang zwischen puritanischer Ethik und der Prädestinationslehre nachzuzeichnen, unzureichend, da er eine kontingente Verknüpfung verabsolutiert und Anlass zu allen Formen von Gegenbeispielen gibt. Ein ergebnisreicherer Weg wäre es, das Umfeld protestantischer Askese zu untersuchen, das sich nicht in der Prädestination, sondern vielmehr in den mahnenden und moralischen Lehren des Protestantismus findet. Protestantische Rhetorik ist in dieser Hinsicht für die Entwicklung des modernen Wirtschaftssystems, wie Weber es bestimmt, genauso bedeutend, wenn nicht bedeutender, als die protestantische Lehre. So schließt in der Tat McCloskey ihre Trilogie zur bürgerlichen Revolution ab, indem sie auf die Macht der Gedanken verweist, und im Besonderen auf zwei Arten von Gedanken: „the ideas in the heads of entrepreneurs for the betterment of themselves (the electric motor, the airplane, the stock market); and the ideas in society at large about the businesspeople and their betterments (in a word, that liberalism)“.³⁶ Die Verschiebung zu Luthers Zeiten war, im Gegensatz zu ersteren, bedeutender im Hinblick auf letztere Gedanken. Das heißt, Luthers Verständnis von Berufung eröffnete eine Reihe neuer Gedanken und neuer Haltungen gegenüber dem weltlichen Dienst anderer, was alle Formen von weltlichen Berufen, inklusive Geschäftstätigkeit und Handelsgewerbe, legitimierte. McCloskeys Vorhaben kann als gründlicheres und breiteres Projekt zur Korrektur Webers gesehen werden. Wo Weber sich beispielsweise auf die dogmatische Grundlegung in der Prädestination konzentrierte, interessiert sich McCloskey für ähnliche Gedanken, stellt aber eine eher unterschiedliche Reihe intellektueller Faktoren als bedeutend dar. Für McCloskey gilt, wie grundsätzlich auch für Weber: „The Great Enrichment is not to be explained, that is, by material matters of race, class, gender, power, climate, culture, religion, genetics, geography, institutions, or nationality“. Diese strukturellen, materiellen und institutionellen Gründe sind nicht die Schlüsselfaktoren. „On the contrary“, schreibt McCloskey, „what led to our automobiles and our voting rights, our
Bulgakov, National Economy, 174. McCloskey, Bourgeois Equality, XII.
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plumbing and our primary schools, were the fresh ideas that flowed from liberalism, that is, a new system of encouraging betterment and a partial erosion of hierarchy“.³⁷ Diese Auflösung der Hierarchie, auch wenn sie in Luthers Fall teilweise war, findet sich im Niederreißen der traditionellen Zweiteilung in den geistlichen und den weltlichen Stand, dem Weg der Vollkommenheit und den Weg des gemeinen Volkes, der Priesterschicht und dem Laienstand.Wichtiger als materielle Faktoren und materielles Potential in einer Gesellschaft sind die Ideen über menschliche Entwicklung und das Potential, das eine Gesellschaft erweist. Wir haben gesehen, dass Luther jeden Christen dazu ermahnte: „Quilibet igitur suum donum exploret“. In Luthers Erklärung zum siebten Gebot im Großen Katechismus, „Du solt nicht stelen“, formuliert er eine positive Perspektive auf solche Gaben im Kontext wirtschaftlicher Gerechtigkeit.³⁸ Zunächst ist das Gebot explizit negativ formuliert, „Du solt nicht stelen“, was für jeden Menschen bedeutet, „das er schüldig ist bey Gottes ungnaden, nicht allein seinem Nehesten kein schaden zu thun noch sein vorteil zu entwenden noch im kauff oder irgendt einem Handel einerley untreu oder tücke zu beweisen“.³⁹ Positiv gewendet gilt jedoch für Luther, „sondern auch sein gut treulich zu verwaren, seinen nutz zuverschaffen und fördern, sonderlich so er gelt, lohn und narung dafür nimpt „.⁴⁰ Luthers Kleiner Katechismus fasst prägnant sowohl die positiven als auch die negativen Aspekte dieses Gebots zusammen: „Wir sollen Gott fürchten und lieben, das wir unsers Nehesten gelt oder gut nicht nemen noch mit falscher wahr oder handel an uns bringen. Sondern ime sein gut und narung helffen bessern und behüten“.⁴¹ Luther Ansprache ist hier mahnend: Die Gebote betreffen Dinge, die zu vermeiden sind, und Dinge, die zu erstreben sind, Dinge, die getan werden müssen, und Dinge, die nicht getan werden dürfen. Die Motivation für diese Wirtschaftsethik ist nicht direkt auf einen spezifischen dogmatischen Ansatz wie den der Prädestination bezogen. Vielmehr ist sie verknüpft mit dem schlichten Verständnis von Gehorsam der Christen gegenüber Gott. Im Großen Katechismus spricht Luther nicht nur die Pflichten der großen Herren und weltlichen Machthaber an. Er spricht die Pflichten normaler Menschen an, von „Knecht oder Magd“ und auch „Handwercksleuten, erbeitern, taglönern“.⁴² Die Pflicht, dieses Gebot zu befolgen, gilt gleichermaßen für jeden, unabhängig von seiner Stellung. Selbst wenn Menschen sich in Acht nehmen müssen vor den Versuchungen des menschlichen Verstandes in mit der Rechtfertigung verbundenen Angelegenheiten, muss jeder Mensch seine Gabe prüfen und danach streben, sich für das Wohlergehen seiner oder ihrer Nächsten einzusetzen und es zu verbessern. Dafür ist jeder Aspekt
McCloskey, Bourgeois Equality, XV. Vgl. Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche (BSELK). Vollständige Neuedition, hg.v. Irene Dingel u. a. im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland, Göttingen, 2014, 1008. BSELK, 1012. BSELK, 1012. BSELK, 866. BSELK, 1008.
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der Begabung eines Menschen einzusetzen – nicht in einer selbstverherrlichenden oder eigennützigen Weise, sondern in einer, die das Selbst verleugnet und die Arbeit eines Menschen am Wohl der anderen ausrichtet. So führt das Gebot „Du solst nicht stelen“, indem es für jeden Christen in einer Gesellschaft gilt, zu einer weiterentwickelten und verfeinerten Sensibilität für christliche Askese, die Weber als so entscheidend für den Geist des modernen Wirtschaftssystems bestimmte.
5 Gesetz und das christliche Leben Wenn Luther einen Wandel im ethischen Diskurs eröffnete, indem er die asketische Disziplin des Mönchtums auf alle Christen in allen Stellungen so anwendbar machte, dass sie zu ihrem Beruf passte, dann wurde dieser Wandel von den folgenden Generationen entwickelt, systematisiert und kodifiziert. Allgemein lässt sich dies als Anwendung des Moralgesetzes auf das christliche Leben beschreiben. Obwohl die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium grundlegend für Luthers Denken ist, hatte er schon in seinem Kleinen Katechismus deutlich gemacht, dass das Gesetz in Gestalt des Dekalogs nicht nur dazu bestimmt war, die Sündhaftigkeit der Menschen aufzudecken, sondern auch eine positiven Richtschnur zu christlichem Verhalten war. So fasst Luther die Bedeutung des Dekalogs zusammen: „Er verheisset aber gnade und alles gutes allen, die solche Gebot halten Darumb sollen wir ihn auch lieben und vertrauen und gerne thun nach seinen Geboten“.⁴³ Im Großen Katechismus weitet Luther dies aus – in Betonung der Bedeutung der Gebote für jeden, unabhängig von seiner Stellung. Die Zehn Gebote, so schreibt er, sind das, woraus „und in welchen quellen und gehen müssen alles, was gute werck sein sollen“.⁴⁴ Gegen die Zweiteilung in eine allgemeine Moral und den Weg der Vollkommenheit, der nur weltabgeschieden im Mönchtum erreichbar ist, preist Luther die Treue der gewöhnlichen Menschen: „Aber solche werck gelten und scheinen nicht für der Welt augen, denn sie sind nicht seltzam und auffgeblasen, an sonderliche eigene zeit, stete, weise und geberde gehefftet, sondern gemeine tegliche hauswerck, so ein Nachbar gegen dem andern treiben kan, darumb haben sie kein ansehen“.⁴⁵ Im alten, etablierten System gilt aber, „das ein armes megdlein ein jungen kinds wartet und treulich thut, was ir befohlen ist, das muss nichts heissen“.⁴⁶ Dagegen lobt Luther die alltägliche Tugend und den Dekalog, der „sanfftmut, geduld und liebe gegen feinden, keuscheit, wolthat“⁴⁷ als Grundlage des christlichen Lebens lehrt. „Ein jeglicher lasse es“, schreibt Luther „sein tegliche ubunge sein in allerley fellen, geschefften und
BSELK, 868; 870. BSELK, 1038. BSELK, 1038; 1040. BSELK, 1040. BSELK, 1038.
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hendeln, als stünde es an allen orten geschrieben, wo er hin sihet, ja, wo er gehet und stehet“.⁴⁸ Dieses Verständnis des Gesetzes als einer positiven Richtschnur für das christliche Leben wird von Luthers Kollegen Philipp Melanchthon (1497– 1560) aufgenommen und systematisiert. Timothy J. Wengert untersucht eingehend und im Detail die Änderungen, die Melanchthon in seinen Scholia zum Kolosserbrief zwischen 1528 und 1534 vornahm.⁴⁹ Wengert geht der Lehre Melanchthons zum dritten Gebrauch des Gesetzes vor dem Hintergrund der forensischen Rechtfertigung nach: The believer is declared righteous but is left with a remnant of sin. The law, rather than coming to its true end in the gospel, simply has lost its accusatory voice. Being written in the hearts of all, including believers, that law continues to reveal not only the remnants of sin, but the will of God and the contours of Christian obedience. The conscience, made good by God’s gracious declaration, must by necessity use the law to please God.⁵⁰
Bemerkenswert ist hier, dass die Entwicklung eines Verständnisses des Gesetzes und seines positiven Gebrauchs im christlichen Leben eher im Kontext der Rechtfertigungslehre als in dem der Prädestinationslehre und in der Auseinandersetzung mit dem Antinomianismus vorkommt. Die entscheidende rhetorische Verschiebung, die Luthers Werk darstellt, in Webers Worten die „sittliche Qualifizierung des weltlichen Berufslebens“,⁵¹ wird selbst in der Entwicklung eines dritten (pädagogischen) Gebrauchs des Gesetzes zusätzlich zu seinem anklagenden (theologischen) und ordnenden (politischen) Gebrauch ausgearbeitet. Melanchthons Schüler Niels Hemmingsen (1513 – 1600) macht die Verbindung zwischen dem Dekalog, dem Moralgesetz und dem Naturgesetz gleichermaßen deutlich, insbesondere, weil diese für das Leben des Christen gelten. Das Naturgesetz, das im Dekalog zum Ausdruck gebracht ist, verbietet, was eine Gesellschaft zerstört, und gebietet, was ihre Gesundheit und Lebenskraft fördert. So schreibt Hemmingsen in Verbindung mit dem Gebot gegen Diebstahl: „deceit, thefts, [and] robberies destroy human society and overturn households and polities. Therefore, these thing are forbidden by the law of nature. And, on the contrary: whatever preserves human society both in the domestic realm and in the political realm, this belongs to natural justice“.⁵² Die dreifache Unterscheidung des Gebrauchs des Gesetzes sowie die Verknüpfung des Moralgesetzes, des Naturgesetzes und des Dekalogs sollten zu einem Gemeinplatz in der lutherischen Theologie werden. Wie der lutherische Gelehrte Johann Gerhard (1582– 1637) in seiner Abhandlung über das Gesetz schreibt: „the third use of the Law
BSELK, 1046. T. Wengert, Law and Gospel: Philip Melanchthon’s Debate with John Agricola of Eisleben over Poenitentia, Grand Rapids, 1997. Wengert, Law and Gospel, 196. Weber, „Die protestantische Ethik“, 72. N. Hemmingsen, „On the Law of Nature in the Three States of Life, and the Proofs That This Law Is Summarized in the Decalogue“, in: Journal of Markets & Morality 17, 2, 2014, 641.
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is theological, didactic. In this use it instructs the reborn as to what truly are good works in which they should walk and by which they can please God“.⁵³ Auch für Gerhard „the sum of the moral Law is in the Decalogue“.⁵⁴ In seiner Erklärung zum Gebot gegen Diebstahl führt Gerhard die Vorgehensweise, die wir bei Luther und Hemmingsen beobachtet haben, fort. Sie besteht darin, dass the affirmative should be concluded from what is forbidden. Namely, this commandment sanctions all of the virtues which support and preserve our neighbor’s property; and it approves of a certain distinction of ownership, the just acquisition of goods and resources, possession, and legitimate use.⁵⁵
In seiner Erklärung der Tugenden, die den Geboten zugeordnet sind, führt Hemmingsen „the distinction of property, faithfulness, and integrity [candor]“ auf, die die Gesellschaft unterstützen und erhalten.⁵⁶ Gerhard nimmt diese sowie andere Tugenden in seiner weiter entwickelten Diskussion auf, wo er fünf Tugenden auflistet: Sorgfalt, ausgleichende Gerechtigkeit, Genügsamkeit, Sparsamkeit sowie Güte und Großzügigkeit. Unter der ersten Tugend, Sorgfalt, verknüpft Gerhard explizit die Treue gegenüber diesem Gebot und die Lehre von der Berufung: „The first virtue of this commandment is diligence in performing the tasks of our vocation. By this we are sure that our vocation and the tasks of our vocation are pleasing to God since we have been reconciled to God through faith in Christ“.⁵⁷ Er fährt fort: „With this faith shining forth, we diligently perform the works of our vocation, entrusting the result to God, seeking blessing and success from Him, and humbly await all things needful from his hands“.⁵⁸ In seiner Diskussion der Tugend der Sparsamkeit beziehungsweise Wirtschaftlichkeit kommt Gerhard zu dem Schluss: „If we must not steal, then we must certainly protect and use our own property profitably; we must avoid unnecessary expenses, lest we bring voluntary poverty upon ourselves and are driven later to theft and robbery“.⁵⁹ In diesem kurzen Überblick über lutherische Autoren nach Luther können wir beobachten, dass viele der Tugenden, die Weber mit der protestantischen Ethik verbindet, vorkommen und sogar betont werden. Doch diese Tugenden werden nicht in Verknüpfung mit der Prädestination, sondern mit der Lehre von der Berufung erläutert, bisweilen im Zusammenhang der Rechtfertigung oder der Heiligung. Dies unterstreicht die Richtigkeit der Beobachtung Webers, dass ähnliche oder sogar identische ethische Normen in recht verschiedenen und sogar abweichenden dogmatischen Festlegungen gründen können.
J. Gerhard, On the Law of God and On the Ceremonial and Forensic Laws, St. Louis, 2015, 224. Gerhard, On the Law of God, 14. Gerhard, On the Law of God, 163. Hemmingsen, On the Law of Nature, 642. Gerhard, On the Law, 164. Gerhard, On the Law, 164. Gerhard, On the Law, 164.
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Selbst wenn es gute Gründe dafür gibt, die Entwicklungen im reformiert-protestantischen ethischen Denken als Ableitung von und Verpflichtung gegenüber Luthers Einsichten zu sehen, ist dies kein Grund, die Entwicklung lutherischen Denkens während des 16. und 17. Jahrhunderts abzutun oder zu ignorieren. Es gibt tatsächlich vergleichbare Entwicklungen in der akademischen Methode und der moralischen Kasuistik unter Reformierten wie Lutheranern.⁶⁰ In vielen Fällen unterscheiden sich die materiellen Schlüsse nicht wesentlich, weder im Gehalt, noch in der Akzentsetzung.
6 Ein protestantisches Erbe? Wenn Webers Schilderung der Entwicklung der protestantischen Ethik hoch selektiv ist und Quellen favorisiert, die rational als am kohärentesten betrachtet wurden, besonders was die Suche nach Trost – herleitend aus einem calvinistischen Verständnis der Prädestination – betrifft, gibt es gute Gründe, die alternativen Lehrgrundlagen der verschiedenen Konfessionen zu untersuchen. Wir haben gesehen, dass lutherisches Denken nach Luther ein Verständnis der Anwendbarkeit des Gesetzes entwickelte, speziell hinsichtlich des Gebots gegen Diebstahl, das weltliche Berufe legitimierte und eine Grundlage für den Einsatz der eigenen Gaben und Talente bot, einschließlich des eigenen Verstands, um den Ertrag und das Wohlergehen des eigenen Nachbarn zu fördern. Angesichts dessen, dass nicht nur die unterschiedlichen dogmatischen Grundlagen, sondern auch unterschiedliche konfessionelle Traditionen ähnliche ethische Normen hervorbringen könnten, lohnt es sich auch, zu fragen, ob der Geist des modernen Kapitalismus, den Weber feststellt, tatsächlich mehr als ein protestantisches Phänomen ist. Wenn wir zugestehen, dass die moralischen Lehraussagen des Luthertums und der Reformierten, seien sie gemäßigt oder puritanisch, weitgehend deckungsgleich sind, scheint es gerechtfertigt, zu fragen, ob eine breitere christliche Ethik zugrunde liegt. Wim Decock hat beispielsweise in seiner Arbeit über Theologen der frühneuzeitlichen Scholastik die Möglichkeiten untersucht, von einem katholischen „Geist des Kapitalismus“ zu sprechen.⁶¹ Er verweist auf die gegensätzlichen Meinungen der reformierten und katholischen Theologen, besonders Wolfgang Musculus (1497– 1563) aus Bern und Leonardus Lessius (1554 – 1623) aus Leuven, zum contractus trinus, ein
Vgl. B. Mayes, Counsel and Conscience: Lutheran Casuistry and Moral Reasoning after the Reformation, Göttingen, 2011. W. Decock, „The Catholic Spirit of Capitalism? Contrasting Views on Profit-Making through Capital Investment in the Age of Reformations“, in: W. Decock et al. (Hg.), Law and Religion: The Legal Teachings of the Protestant and Catholic Reformations, Göttingen, 2014. Siehe auch W. Decock, Theologians and Contract Law: The Moral Transformation of the Ius Commune (ca. 1500 – 1650), Leiden, 2013; und A. Chafuen, Faith and Liberty: The Economic Thought of the Late Scholastics, Lanham, 2003.
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Mechanismus im Kreditwesen, der eine Rendite garantiert. So schreibt Decock: „Theologians in the sixteenth and seventeenth century, such as Musculus or Lessius, may not have produced manifests in favor of or against capitalism, but their writings on legal and moral problems with statements which reveal their approval or disapproval of the juridical devices and moral principles that form the legal backbone of a capitalistic economy“.⁶² Eines dieser Instrumente ist der contractus trinus, der in Johannes Eck (1486 – 1543), dem Gegenspieler Luthers und Melanchthons, einen frühen Vertreter gefunden hatte, und es gibt verschiedene Ansichten und Einschätzungen dazu, die konfessionelle Grenzen überbrücken. In diesem Fall gesteht ihm der Jesuit Lessius deutlich mehr Gültigkeit zu als der reformierte Theologe Musculus. Dies führt Decock zu dem Schluss, dass es in dieser Angelegenheit manch „evidence for the thesis that the spirit of commercial capitalism may have been fostered by Catholic theologians rather than by Reformers“⁶³ gibt. Andere, ähnliche Belange wie Zinswucher widersetzen sich konfessioneller Zuweisung zu den Reformierten oder Protestanten als pro- oder protokapitalistisch oder den Katholiken als antikapitalistisch.⁶⁴ Weber folgend ist viel historische Arbeit geleistet worden, um die wesentlichen frühneuzeitlichen Wurzeln des modernen Kapitalismus in den Schriften protestantischer sowie katholischer Gelehrter aufzuzeigen. Wie der Historiker Lord Acton es einmal formulierte: „the greater part of the political ideas of Milton, Locke, and Rousseau, may be found in the ponderous Latin of Jesuits who were subjects of the Spanish Crown, of Lessius, Molina, Mariana, and Suarez“.⁶⁵ Der Wirtschaftshistoriker Joseph Schumpeter beobachtete später, dass es im Hauptwerk Adam Smiths, The Wealth of Nations, kein einziges neues analytisches Konzept gibt, das noch nicht in irgendeiner Weise von christlichen Gelehrten der vorigen zwei Jahrhunderte formuliert worden war.⁶⁶ Was die Wirtschaftsethik betrifft, die Sparsamkeit und Ehrlichkeit betont, verknüpfte Papst Leo XIII. im 19. Jahrhundert eine breite christliche Vision mit solch einem Zugang zum zivilen Leben. In seiner Enzyklika Rerum Novarum von 1891, die die moderne katholische Soziallehre eröffnete, schreibt Leo: „Mores enim christiani, ubi serventur integri, partem aliquam prosperitatis sua sponte pariunt rebus externis, quia conciliant principium ac fontem omnium bonorum Deum“.⁶⁷ Er beobachtet
Decock, „The Catholic Spirit of Capitalism?“, 22. Decock, „The Catholic Spirit of Capitalism?“, 42. Vgl. J. Ballor, „Wolfgang Musculus on Psalm 15“, in: W. Musculus, On Righteousness, Oaths, and Usury: A Commentary on Psalm 15, Grand Rapids, 2013.Vgl. auch J. Ballor, Covenant, Causality, and Law: A Study in the Theology of Wolfgang Musculus, Göttingen, 2012. J. D. Acton, „Sir Erskine May’s Democracy in Europe“, in: J. Rufus Fears (Hg.), Essays in the History of Liberty, Indianapolis, 1985, 71. Vgl. J. Schumpeter, History of Economic Analysis, New York, 2009, 184. Leo XIII, Encyclica Rerum Novarum, http://w2.vatican.va/content/leo-xiii/la/encyclicals/docu ments/hf_l-xiii_enc_15051891_rerum-novarum.html (Zugriff am 27.04. 2017).
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weiterhin, dass solche Sitten „coercent geminas vitae pestes, quae nimium saepe hominem efficiunt in ipsa opum abundantia miserum, rerum appetentiam nimiam et voluptatum sitim: contenti denique cultu victuque frugi, vectigal parsimonia supplent, procul a vitiis, quae non modo exiguas pecunias, sed maximas etiam copias exhauriunt, et lauta patrimonia dissipant“.⁶⁸ Leo versteht das Erbe seiner Lehre eindeutig eher als allgemein christlich, denn als speziell an eine bestimmte konfessionelle Tradition gebunden. Auf der Grundlage dessen, was oben über die Bedeutung Luthers nachdrücklicher Zurückweisung einer doppelten und hierarchischen ethischen Struktur behauptet wurde, könnte es der Fall sein, dass die katholische Kirche weiterhin für eine umfassende und konsistente Legitimation der weltlichen Pflichten von Laien kämpft. Dies ist jedoch ebenfalls nicht einfach eine Herausforderung für den Katholizismus, sondern auch für jede christliche Tradition, ob mit einer starken kirchlichen Tradition oder nicht. Die Unterscheidung zwischen heilig und säkular bleibt ein gemeinsames Erbe der Moderne. In dieser Hinsicht hat die katholische Kirche eine Vertiefung und Entwicklung ihres Verständnisses und ihrer Lehre zur Geschäftstätigkeit und zum Unternehmertum in der modernen Welt erlebt. Beginnend mit Leo XIII. Rerum Novarum ist eine Tradition von Sozialenzykliken und der Soziallehre der Kirche breiter ausformuliert worden. Anthony Percy schreibt zur Folge von Rerum Novarum: „Social encyclicals of the Catholic Church have certainly fashioned and polished, consolidated and strengthened, kept and guarded the deposit of faith in its social dimension“.⁶⁹ So beobachtet im 20. Jahrhundert in der Folge der Einführung der These Webers auch der katholische soziale Denker Michael Novak in seiner eigenen Formulierung des „Geistes“ des demokratischen Kapitalismus 1982, dass zumindest seiner Erfahrung nach „Capitalists seemed almost always to be Protestants, either Calvinist or Episcopalian“.⁷⁰ Wenn Kapitalismus eher im engeren Sinne als protestantisches denn als umfassendes christliches Erbe verstanden wird, müssen die Gründe für eine solche Eigenart anderswo gefunden werden als in den moralischen Lehren, die größtenteils geteilt werden, oder der dogmatischen Grundlage von etwas wie der Prädestination, die wiederum unter und zwischen den verschiedenen Traditionen bejaht, bestritten oder infrage gestellt wird.
7 Fazit Seit ihrer ersten Formulierung vor über einem Jahrhundert hat die These Max Webers zum Zusammenhang zwischen religiöser Lehre und wirtschaftlichem Handeln großen
Ebd. A. Percy, Entrepreneurship in the Catholic Tradition, Lanham, 2010, 10. M. Novak, The Spirit of Democratic Capitalism, New York, 1982, 23.
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Einfluss auf wissenschaftliche Debatten und verbreitete Darstellungen des Christentums wie des Kapitalismus ausgeübt. In diesem Sinne – was auch immer man hinsichtlich der Richtigkeit der These im Allgemeinen oder ihrer verschiedenen Behauptungen denkt – ist sie als Erfolg zu beurteilen. Der Reformator Martin Luther erscheint in Webers Analyse als eine Art Blitz, indem er eine neue Sicht auf das Sozialleben einführt, aber schnell wieder verschwindet, während spätere Denker ihr eigenes Verständnis christlicher Moral und sozialer Ordnung ausarbeiten. Indem er ein zweistufiges, hierarchisches moralisches System, das Laien und ihr Alltagsleben streng von Klerus und Mönchen trennte, dekonstruierte, läutete Luther eine neue Ära sozialer Dynamik ein. Für Weber ist dies Luthers wesentlicher Beitrag zur Entwicklung des religiösen Ethos und des Geistes des modernen homo oeconomicus. Es waren die Calvinisten und speziell die englischen Puritaner, die ein kohärenteres und rationaleres Lehrsystem mit der Prädestination als Zentraldogma und seiner Ausprägung in einer Ethik weltlicher Askese ausarbeiteten. In der Beurteilung anhand der Leistungsfähigkeit seiner psychologischen und theologischen Behauptungen über das Verhältnis zwischen Prädestination und puritanischer Ethik ist Webers These als sehr fehlerbehaftet zu sehen. Doch wenn sie so verstanden wird, dass sie die intellektuellen und praktischen Verknüpfungen zwischen Religion und wirtschaftlichem Leben, und besonders der Wertschätzung weltlichen Daseins in der protestantischen Rhetorik und im protestantischen Diskurs deutlich macht, dann sollte die Weber-These positiver beurteilt werden.
Günter Frank
Luther in der katholischen Historiographie und Theologie: 19. und 20. Jahrhundert 1 Einführung Über Jahrhunderte war das katholische Lutherbild von der negativen Wahrnehmung seines Zeitgenossen Johannes Cochläus bestimmt. Im 20. Jahrhundert gelang ein epochaler Umbruch im katholischen Lutherbild mit weitreichenden ökumenischen und theologischen Folgen.
2 Das negative Lutherbild des Johannes Cochläus und die Folgen Über vier Jahrhunderte wurde das katholische Lutherbild und damit dessen Wahrnehmung bestimmt durch den Humanisten und frühen Sympathisanten, später aber erbitterten Gegner Luthers, Johannes Cochläus (1479 – 1552).¹ Cochläus’ Kritik hatte sich vor allem an Luthers vermeintlichem Angriff auf das kirchliche Amt, vor allem auch das Papstamt, und die kirchliche Sakramentenpraxis entzündet. In seinen berüchtigten und vielfach aufgelegten „Lutherkommentaren“,² an denen er seit 1532 gearbeitet hatte und die erstmals 1549 erschienen waren, zeichnete Cochläus ein Bild von Luther als Zerstörer der Einheit der Kirche, der unendliches Leid über Deutschland und die Christenheit gebracht habe. Auch wenn diese Schrift eine wichtige Quelle
Remigius Bäumer (Hg.), Johannes Cochläus (1479 – 1552). Leben und Werk im Dienst der katholischen Reform, Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 40, Münster, 1980; ders., „Johannes Cochlaeus (1479 – 1552)“, in: Erwin Iserloh (Hg.), Katholische Theologen der Reformationszeit, Bd. 1, Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 44, Münster, 1984; ders., „Johannes Cochläus (1479 – 1552)“, in: TRE 8, 2. Aufl. 1993, 140 – 146; „Cochläus, Johannes“, in: BBKL 1, 1995, 1072– 1074; Monique Samuel-Scheyder, Johannes Cochlaeus. Humaniste et adversaire de Luther (Germaniques), Nancy, 1993. Allgemeine und umfangreiche Forschungsberichte über das katholische Lutherbild im 19. und 20. Jhdt. finden sich in: Otto Hermann Pesch, Hinführung zu Luther, 2. Aufl., Mainz, 1983, bes. 15 – 47 (hier: 18, Anm. 16 weitere Forschungsberichte); ders., „Martin Luther im katholischen Urteil. Zwischen Verteufelung und dankbarer Aneignung“, in: Irene Dingel u. a. (Hg.), Spurenlese. Kulturelle Wirkungen der Reformation, LStRLO 20, Leipzig, 2013, 449 – 484; Johannes Brosseder, „Der katholische Luther“, in: Günter Frank u. a. (Hg.), Von der Reformation zur Reform. Neue Zugänge zum Konzil von Trient, Freiburg i. Br., 2015, 65 – 96. [J. Cochläus], Commentaria de actis et scriptis Martini Lutheri Saxonis chronographice ex ordine ab anno Domini 1517 usque ad annum 1546 inclusive fideliter conscripta, 1548. https://doi.org/9783110498745-056
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für die Reformationszeit darstellt, war sie doch durch unsägliche Polemik und „Grobianismus“ gekennzeichnet. Ich werde einem jeglichen ehrliebenden Biedermann ein Licht aufstecken, ob es christlich oder evangelisch sei, dass ein lausiger ausgelaufener Mönch und bübischer Nonnenfetzer, der weder Land noch Leute hat, als ein unedler Wechselbalg, von einer Badmaid geboren, wie man sagt, und noch heutzutage das Almosen, so zum Kloster gestiftet, mit einer ausgelaufenen Nonne frisst, einen Fürsten […] als einen Rossbuben verhöhnen, schmähen und verlügen darf.³
Von diesen „Lutherkommentaren“ – so hatte der Paderborner Kirchenhistoriker Adolf Herte (1887– 1970) in einer dreibändigen Studie in der Zeit des Nationalsozialismus nachgewiesen – blieb das katholische Lutherbild bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts bestimmt, auch wenn Cochläus’ Kommentare selbst ironischerweise im Jahr 1581 auf den Index der verbotenen Bücher verzeichnet wurden.⁴ Nicht weniger vernichtend, aber unter einem anderen Blickwinkel stand zunächst das Lutherbild des Münchner Kirchengeschichtlers Johann Joseph Ignaz von Döllinger (1799 – 1890). Döllinger, der zu einer Gruppe katholischer Intellektueller im Umkreis von Joseph von Görres (1776 – 1848) gehörte, war zunächst vom Bewusstsein eines starken Papsttums geprägt, wie es dem zeitgenössischen ultramontanen Katholizismus entsprungen war. Unmittelbar nach seinem Antritt der Münchner Professur hatte er die Herausgabe des „Handbuch[s] der christlichen Kirchengeschichte“ seines Vorgängers Johann Nepomuk Hortig (1774– 1847) übernommen. Hier führte er unter der Überschrift „Ursprung und erster Fortgang der Kirchenspaltung in Deutschland“ in die Gestalt Luthers ein.⁵ Ähnlich wie Cochläus sah Döllinger in Luther zunächst vor allem den Spalter der abendländischen Kirche. In der Leipziger Disputation im Jahr 1519 habe sich jedoch schon seine Kritik am Primat des Papstes gezeigt, und diese Papstkritik wurde nun zum Ausgangspunkt des Lutherbildes Döllingers, obwohl er durchaus auch viel Wahres, Schönes und Gründliches bei ihm zu entdecken glaubte. Rund zwei Jahrzehnte später gab Döllinger seine dreibändige Reformationsgeschichte in den Druck.⁶ Dabei blieb er dem kontroverstheologischen Topos der Spaltung durch die Reformation treu. Allerdings rückte nun Luthers Rechtfertigungslehre ins Zentrum seines Interesses, die Döllinger für grundsätzlich neu hielt.
Johannes Cochlaeus, Hertzog Georgens zu Sachssen Ehrlich vnd grundtliche entschuldigung, wider Martin Luthers Auffruerisch vn[d] verlogenne brieff vnd Verantwortung, Dresden, 1533 (zit. nach Pesch, 2013 [wie Anm. 1], 451). Adolf Herte, Das katholische Lutherbild im Bann der Lutherkommentare des Cochläus, 3 Bde., Münster, 1943; ders., Die Lutherkommentare des Johannes Cochläus. Kritische Studie zur Geschichtsschreibung im Zeitalter der Glaubensspaltung, Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, 33, Münster, 1935. Johann Nepomuk Hortig, Handbuch der christlichen Kirchengeschichte von Dr. Johann Nepomuk Hortig […] fortgesetzt und beendigt von Johann Josef Ignaz Döllinger, Bd. 2/2, Landshut, 1828, hier: 413 – 423. Ignaz Döllinger, Die Reformation, ihre innere Entwicklung und ihre Wirkungen im Umfange des Lutherischen Bekenntnisses, 3 Bde., Frankfurt a.M., 1962 [Regensburg, 1846 – 1848].
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Dabei ging er von der Überzeugung aus, „daß seit den Aposteln kein Mensch diese Lehre je vorgetragen, kein Mensch die Briefe Pauli so wie er verstanden habe.“⁷ Damit rückte nun erstmals nicht Luthers Biographie, sondern seine Theologie in den Mittelpunkt des Interesses. Im gesamten ersten Kapitel ging Döllinger Luthers Äußerungen zur Rechtfertigungslehre sowohl im Hörsaal wie auch in den Disputationen durch, um die Widersprüche seiner Rechtfertigungslehre und der damit zusammenhängenden Sündenlehre und Anthropologie nachzuweisen. Döllinger hatte sein Lutherbild jedoch noch einmal revidiert, und zwar im Zusammenhang der Diskussionen um die Unfehlbarkeit des Papstes im Umkreis des I. Vatikanischen Konzils, die Döllinger vor dem Hintergrund seiner kirchengeschichtlichen Quellenkenntnis abgelehnt hatte, mit dem Ergebnis, dass er am 17. April 1871 selbst exkommuniziert wurde. Wichtig wurde für Döllinger nunmehr, dass die Reformation nicht nur in der Gestalt und Theologie Luthers ihre Ursache hatte, sondern auch in der Krise der spätmittelalterlichen Kirche, im Scheitern des Konziliarismus sowie dem Erscheinungsbild des Papsttums.⁸ Neben diesen kontroverstheologischen Rezeptionen im Gefolge des negativen Lutherbildes Johannes Cochläus’ prägte der niederrheinische Kirchenhistoriker Johannes Janssen (1829 – 1891) ein anderes Lutherbild.⁹ Während Cochläus und – teilweise – Döllinger ganz von einem Lutherbild geprägt waren, das im Zusammenhang mit der Spaltung des westlichen Christentums und den Folgen seiner Theologie gesehen worden war, richtete sich Janssens Blick vor allem auf Luthers Charakter und Veranlagung. Angststörungen, verursacht durch ein problematisches Elternhaus, und ein für religiöse Studien ungeeigneter Humanismus werden nunmehr Erklärungsmuster für Luthers Theologie und den römischen Prozess. Im 20. Jahrhundert blieb dieser Ansatz Janssens nicht ohne Folgen. Zunächst aber noch ganz in der durchgängig negativ-pejorativen, kontroverstheologischen Perspektive Cochläus’ lagen die Studien des Luther-Hassers Heinrich Denifle (1846 – 1905). In seinem dreibändigen Werk „Luther und Luthertum in ihrer ersten Entwicklung“ aus den Jahren 1904/1905 hatte dieser Luther „auf sittlichem Gebiet“ ein „Sichgehen-Lassen“ und auf „dem Glaubensgebiet […] völlige Willkür“ bescheinigt. Denifle analysierte Luther ganz von den Massenaustritten aus den Klöstern seiner Zeit, die er selbst mit angestoßen hatte, und verurteilte seine „Philosophie des Fleisches“, die er in Begierden des Fleisches, mangelndem Gebet und einer fehlenden Inbrunst in der Gottesbeziehung sah. Eine solche Sicht wurde auch durch den ansonst reformfreudigen Papst Pius X. amtlich bestätigt, der in seiner Borromäus-Enzyklika von 1910 über die Reformatoren formuliert hatte, „Da standen hochmütige und rebellische
Ebd., Bd. 3, 5. Ignaz Döllinger, Ueber die Wiedervereinigung der christlichen Kirchen. Sieben Vorträge, gehalten zu München im Jahr 1872, Nördlingen, 1888. Janssen, Johannes, Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters, Bd. 2: Zustände des deutschen Volkes seit dem Beginn der politisch-kirchlichen Revolution bis zum Ausgang der socialen Revolution von 1525, Freiburg i. Br., 1897.
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Menschen auf, Feinde des Kreuzes Christi […], Menschen mit irdischer Gesinnung […], deren Gott der Bauch ist.“¹⁰ In seinem Todesjahr 1905 erschien jedoch noch eine weitere Studie von Heinrich Denifle über die Diskussionen über die Rechtfertigungslehre in der Patristik und im Mittelalter.¹¹ Im Gegensatz zu Ignaz Döllinger kam Denifle in dieser breiten quellenkundigen Studie zu dem Ergebnis, dass die Gelehrten in Patristik und Mittelalter intensiv und breit über die Rechtfertigungslehre diskutiert hatten, ohne dass eine bestimmte Auslegung allerdings dekretiert worden war. Der Jesuit Hartmann Grisar (1845 – 1932) wiederum hatte in seinem ebenfalls dreibändigen Luther-Werk¹² zwar – im Unterschied zu Denifle und Papst Pius X. – gemäßigtere Töne angestellt, indem er ähnlich wie Janssen versucht hatte, den Reformator von innen her zu verstehen, blieb aber bei einer grundlegend ablehnenden Haltung stehen, indem er Luther psychologisch-pathologisch deutete. Am Ende einer solchen Deutung steht ein Lutherbild, das ihn als geprägt vom Elternhaus zeigt und das Vaterbild zum Maß des Gottesbildes erklärt. Das strenge Gottesbild wurde so zum Grund seiner Skrupulosität. Eine solche psychologisierende Deutung Luthers hatte – wie schon das vielfach aufgelegte, erstmals 1958 erschienene Buch des Psychoanalytikers Erik H. Erikson (1902– 1994) „Der junge Mann Luther“ zeigt – einen großen Einfluss und wirkt möglicherweise noch bis in die Gegenwart nach.¹³
3 Erste Versuche einer positiven Würdigung Luthers Bereits vor dem Ersten Weltkrieg finden wir jedoch schon Stimmen, die Luthers Reformtheologie positiv zu würdigen versuchten. Schon 1904 schrieb der Würzburger Kirchenhistoriker Sebastian Merkle (1862– 1945), der mit einer Arbeit über die Geschichte des Konzils von Trient promoviert worden war, in einer Rezension zu Denifles Lutherstudien, dass sich nur durch „ruhige, objektive Darstellung des Tatbestands […] eine Verständigung zwischen den Konfessionen anbahnen“¹⁴ lassen kann. Der Meinung ängstlicher Gemüter, es stehe einem katholischen Geistlichen schlecht an, Luther zu verteidigen, setze ich meine Überzeugung gegenüber, daß jedermann, der noch eine Spur von
Carl Mirbt, Quellen zur Geschichte des Papsttums und des römischen Katholizismus, 5. Aufl., Tübingen 1934, 514. Heinrich Denifle, Die abendländischen Schriftausleger bis Luther über Justitia Die (Rom 1, 17) und Justificatio: Beitrag zur Geschichte der Exegese, der Literatur und des Dogmas im Mittelalter, Luther und Luthertum in der ersten Entwickelung 1,2, Mainz, 1905. Hartmann Grisar, Luther, 3 Bde., Freiburg i. Br., 3. Aufl. 1924/25 [1911/12]. Werner Beyna, Das moderne katholische Lutherbild, Koinonia 7, Essen, 1969, 46 – 52. Sebastian Merkle, „Referat über Heinrich Denifle ‚Luther und Luthertum in ihrer ersten Entwicklung‘“ und „Luther in rationalistischer und christlicher Beleuchtung“, in: Deutsche Literaturzeitung 25, 1904, 1239.
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Wahrheits- und Gerechtigkeitssinn hat, auch den Gegner in Schutz nehmen muß, wenn dieser zu Unrecht angegriffen wird.¹⁵
Ähnlich positive Worte der Verständigung mit Luther hatte Merkle auch 25 Jahre später noch einmal wiederholt.¹⁶ Solche Versuche einer positiven Verständigung mit Luther und der Reformation hatten dann zweifellos den Boden bereitet für die Arbeiten jenes Kirchenhistorikers, mit dessen Namen der Durchbruch zu einem revidierten Lutherbild für immer verbunden ist: Joseph Lortz (1887– 1975), der unter Sebastian Merkle in Würzburg Privatdozent war und später in Mainz lehrte, wo er auch Gründungsdirektor des „Instituts für Europäische Geschichte“ war. In seinem zweibändigen Werk „Die Reformation in Deutschland“, das 1939/40 in Freiburg im Breisgau erschienen war, beschäftige er sich ausführlich mit der theologischen Entwicklung Luthers, in dessen Römerbriefkommentar von 1515/16 Lortz bereits den kirchentrennenden Charakter seiner Theologie zu erkennen glaubte. Der revolutionär neue Punkt seines Lutherbildes war jedoch, dass er diesen durchweg als eine religiöse Gestalt begriff, die allen Respekt und Bewunderung verdiene. Luther habe in seiner Theologie auf eine jahrhundertealte kirchliche und theologische Tradition zurückgeblickt. Zum „Häretiker“ – so Lortz – sei er geworden durch seine „Auswahl“, die gleichwohl in seinem Naturell begründet sei, dem Lortz einen „wurzelhaften Subjektivismus“ vorgeworfen hatte. Nur was sich in der subjektiven Erfahrung erschließt, kann verbindliche Glaubenswahrheit sein.¹⁷ Neben diesem Subjektivismus, den Lortz in Luthers Naturell zu sehen glaubte, identifizierte er gleichermaßen eine gewisse Heterodoxie einer der einflussreichsten spätmittelalterlichen theologischen Schulen, der sog. „via moderna“ im Gefolge von Wilhelm von Ockham und Gabriel Biel, dessen „Collectorium“ zu den Sentenzen des Petrus Lombardus Luther in Erfurt studiert hatte und die er auswendig zitieren konnte. Diese „moderne“ Theologie habe jedoch – so Lortz – den Blick Luthers auf die wirklich großen Traditionen von Theologie verstellt, ja diese sei im Grunde gar nicht katholisch, so dass Lortz zu der viel zitierten Überzeugung gelangte: „Luther rang in sich selbst einen Katholizismus nieder, der nicht katholisch war.“¹⁸ Lortz’ Subjektivismusthese blieb in der theologischen Öffentlichkeit keineswegs unumstritten. Lortz’ Deutung hatte aber auch eine einflussreiche theologische Tradition des späten Mittelalters in Misskredit gebracht. Den Erfurter Moraltheologen Wilhelm Ernst (1927– 2001) hatte diese Situation zu einer umfangreichen Untersu-
Ders., Reformationsgeschichtliche Streitfragen. Ein Wort zur Verständigung aus Anlaß des Prozesses Beyhl-Berlichingen, München, 1904. Zum Kontext s. Beyna (wie Anm. 13), 58 f. Ders., „Gutes an Luther und Übles an seinen Tadlern“, in: Alfred von Martin (Hg.), Luther in ökumenischer Sicht, Stuttgart, 1929, 9 – 19. Eine solche „Subjektivismusthese“ Lortz’ hatte auch Nachwirkung in der Philosophie. Siehe hierzu die erst spät auf Deutsch erschienene Studie von Eric Voegelin, Luther und Calvin. Die große Verwirrung, Paderborn, 2011. Joseph Lortz, Die Reformation in Deutschland, Bd. 1, Feriburg i. Br. 1939, 176; 192. Lortz bezeichnete Wilhelm von Ockham als eine „fundamental unkatholische Natur“.
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chung der Lehren Gabriel Biels geführt. Ernst wiederum kam nun – anders als Lortz – zu dem gegenteiligen Ergebnis, dass sich Luthers Theologie im Kern gerade nicht von der Theologie und Philosophie eines Gabriel Biel ableiten lasse.¹⁹ Luthers religiöses Profil ernst zu nehmen, dazu dauerte es jedoch noch bis zum nun als ökumenisches Ereignis gefeierten großen Lutherkongress 1983 in Erfurt aus Anlass seines 500. Geburtstages.
4 Das „Goldene Zeitalter“ der katholischen Lutherforschung: Der „Katholische Luther“ Die katholische Lutherforschung hatte sich bis zu diesem Lutherjahr 1983, vor allem in den sechziger und siebziger Jahren, intensiv mit der Frage nach dem „Katholischen Luther“ beschäftigt.²⁰ Dabei wurde diese Debatte ausgelöst durch die bereits erwähnte Überzeugung von Joseph Lortz, „Luther rang in sich selbst einen Katholizismus nieder, der nicht katholisch war“. Der Streit um den „Katholischen Luther“ wurde nach dem II. Vatikanischen Konzil vor allem zwischen dem Lortz-Schüler Peter Manns (1923 – 1991) und Otto Hermann Pesch (1931– 2014), einem Schüler des Theologen der Ökumenischen Bewegung Heinrich Fries (1911– 1998), ausgetragen, beides Autoren, die sich gleichermaßen um die katholische Lutherforschung verdient gemacht hatten. Peter Manns, der als Nachfolger von Joseph Lortz Direktor des „Instituts für Europäische Geschichte“ in Mainz war, hatte 1985 seine große und einflussreiche theologische Biographie über Martin Luther veröffentlicht.²¹ Manns profilierte in seinem Buch Martin Luther als gemeinsamen „Vater des Glaubens“. Eberhard Lohse hatte dieser Biographie als Vorsitzender des Rates der „Evangelischen Kirche in Deutschland“ ein Vorwort beigefügt, in dem er betonte: „Wenn vielmehr katholische und evangelische Christen gemeinsam bedenken, was Luther zu sagen hat, dann werden sie den Reformator neu zu sehen lernen und aus seiner Predigt und Lehre Einsichten gewinnen, die sie erkennen lassen: Wo sie auf einen Vater im Glauben hören, da begreifen sie, daß sie untereinander Brüder sind, Brüder im Glauben.“²²
Wilhelm Ernst, Gott und Mensch am Vorabend der Reformation. Eine Untersuchung zur Moralphilosophie und -theologie bei Gabriel Biel, Leipzig, 1972, bes. 80; 414. Vgl. hierzu Brosseder (wie Anm. 1), 65 – 69; vgl. nunmehr auch zusammenfassend und rückblickend Daniela Blum, Der katholische Luther, Paderborn, 2016. Peter Manns, Martin Luther. Der unbekannte Reformator. Ein Lebensbild, Freiburg i. Br., 1985; vgl. darüber hinaus ders., „Was macht Luther zum „Vater im Glauben“ für die eine Christenheit?“, in: Wolfgang Böhme (Hg.), Freiheit und Frömmigkeit: über Martin Luther/mit Beiträgen von Oswald Bayer […], Karlsruhe, 1983, 24– 50. Ebd., 9 f.
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Otto Hermann Pesch wiederum hatte in seiner systematischen Untersuchung der Theologie der Rechtfertigung bei Thomas von Aquin und Martin Luther,²³ dann aber auch in seiner mehrfach aufgelegten theologischen Biographie Luthers,²⁴ versucht, die Katholizität Luthers herauszustreichen und ihn mit Kardinal Willebrands als „gemeinsamen Lehrer“²⁵ zu bezeichnen. In seiner umfangreichen systematischen Untersuchung zur Rechtfertigungslehre Thomas von Aquins und Martin Luthers kam Pesch zu dem Ergebnis, dass beide bei gleicher theologischer Intention unterschiedliche Begrifflichkeiten und verschiedene theologische Denksysteme benutzten. D. h., dass nach Pesch zwischen beider Rechtfertigungslehren wohl ein Unterschied in der Aussageform, nicht jedoch in der Sache bestehe. Pesch führte diese Einsicht zu dem Ergebnis: Was den behandelten Fragenkreis [der Rechtfertigung] betrifft, ist zwischen Luther und Thomas ein gegenseitiges Anathema weder nötig noch verantwortbar. Unter dem Vorbehalt, daß Thomas in allen dargestellten Fragen die Lehre der Kirche wiedergibt […], muß geurteilt werden, daß Luthers Lehre von der Rechtfertigung des Sünders zwar den Boden der Theologie seiner Zeit und Vorzeit verläßt, dabei aber kein solches Neuland betritt, das dem katholischen Theologen zu betreten verwehrt wäre.²⁶
Pesch folgte in seiner Doktorarbeit den Weg in die Scholastik, wie ihn Denifle geebnet hatte, aber unter einer gänzlich unterschiedenen Absicht. Er stellte seine Untersuchung von Anfang an unter eine ökumenische Perspektive. In seiner „Hinführung zu Luther“ wiederum versuchte Pesch, in das Denken Luthers als eines „großen Theologen der Christenheit“ einzuführen. In dessen Rechtfertigungslehre machte Pesch den Kern der Theologie Luthers fest: Gott rechtfertige den in Schuld verstrickten Menschen aus reiner Gnade durch Jesus Christus. Nicht also das Kirchenverständnis, nicht das Papstamt, nicht die Scholastikkritik, sondern die Rechtfertigungstheologie stellt für ihn die Mitte von Luthers Theologie dar, die jedoch in jeder Zeit einer neuen Sprachfähigkeit bedürfe. Pesch forderte keineswegs eine Integration von Luthers Theologie in das bestehende Lehrgebäude der katholischen Theologie, sondern deren Erweiterung, in der auch Schriften Luthers Platz finden könnten. In dem Disput um den „Katholischen Luther“ kam es bereits im Jahr 1967 zu einem ersten Höhepunkt: Der Lortz-Schüler Peter Manns warf Pesch eine „existentiale Lutherdeutung“²⁷ vor. Der bedeutende Kirchenhistoriker und Erforscher des Konzils von Trient in Bonn Hubert Jedin (1900 – 1980) warnte damals: „Wer den ganzen Luther
Otto Hermann Pesch, Theologie der Rechtfertigung bei Martin Luther und Thomas von Aquin. Versuch eines systematisch-theologischen Dialogs, Mainz, 1967. Ders., Hinführung zu Luther, 2. Aufl., Mainz, 1983. Zitiert ebd., 272. Pesch (wie Anm. 23), 950. Otto Hermann Pesch, Gerechtfertigt aus Glauben. Luthers Frage an die Kirche, QuD 97, Freiburg u. a., 1982, 101.
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katholisch machen will, wird selber Lutheraner.“²⁸ Dieser Streit fand im Gedenkjahr 1983 ein versöhnliches Ende.²⁹ Der Bonner Dogmatiker Johannes Brosseder (1937– 2014) hat jedoch jüngst auf ein Dilemma dieser Kontroverse um den „Katholischen Luther“ hingewiesen³⁰: Der Satz von Joseph Lortz, „Luther rang in sich selbst einen Katholizismus nieder, der nicht katholisch war“, führte insbesondere nach dem II. Vatikanischen Konzil zu scheinbar unlösbaren Problemen. An welchem Maßstab wurde und wird Katholizität gemessen? Am Maßstab der vor- und außeroccamistischen Tradition kirchlicher Überlieferung in Lehre und Praxis, wie sie im 16. Jahrhundert verstanden wurde? Oder am Maßstab der gegenwärtigen katholischen Theologie und Praxis auf dem Boden der Erneuerung kirchlicher Lehre und Praxis durch das II. Vatikanische Konzil? Brosseder zeigt dies an Luthers Lehre der Wiederentdeckung der Rechtfertigung des Sünders allein aus dem Glauben, die nach heutigem Urteil nicht nur katholisch und nicht kirchentrennend sei, sondern die auch kirchenamtlich akzeptiert ist, wie es der Annex der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ vom 31. Oktober 1999 ausdrücklich und unmissverständlich bezeugt,³¹ die aber im 16. Jahrhundert durch das Konzil von Trient als unkatholisch verurteilt worden war.³² Das aber zeige, dass offenkundig theologische und kirchliche Maßstäbe im 16. Jahrhundert galten, die Luthers Verurteilungen zugrunde lagen, die jedoch heute nicht mehr in gleicher Weise den theologischen und kirchlichen Maßstäben entsprechen. D. h., über die Katholizität Luthers ist allein aufgrund historischkirchlicher Urteile noch nichts entschieden. Gleicherweise sei damit auch noch nichts über das Verhältnis zwischen dem „Katholischen“ und dem „Reformatorischen“ entschieden. Brosseder kommt in seinen Überlegungen zu dem Schluss: „Die römischkatholische Kirche sollte sich heute des real gegebenen Defekts ihrer Katholizität bewusst sein, die reformatorischen Kirchen könnten ihre Katholizität unter Berufung auf Martin Luther und die CA stärker ins öffentliche Bewusstsein rücken.“³³
Hubert Jedin, „Zum Wandel des katholischen Lutherbildes“, in: Helmuth Gering(Hg.), Martin Luther. Gestalt und Werk, Karlsruhe, 1967, 35 – 46; hier: 46. Peter Manns, „Zur Gültigkeit und zur theologisch-ökumenischen Tauglichkeit des Lortzschen Ansatzes vom ‚Katholischen Luther‘“, in: Peter Manns und Harding Meyer, Ökumenische Erschließung Martin Luthers. Referate und Ergebnisse einer internationalen theologischen Konsultation, Paderborn u. a., 1983, 15 – 43; Otto Hermann Pesch, „Der ‚lutherische‘ Luther – eine katholische Möglichkeit? Versuch einer Verständigung über ‚historische Lutherforschung‘ und ‚systematische Lutherforschung‘“, in: ebd., 44– 66. Vgl. hierzu Brosseder (wie Anm. 1), bes. 67– 69. Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre – Annex, Nr. 2 A, in: DWU 3, 438 f. DH 1528. Brosseder (wie Anm. 1), 96.
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5 Rückschläge Diese in wachsendem Maße positive Wertschätzung Martin Luthers blieb gleichwohl nicht ohne Rückschläge. Aus Anlass des Besuches von Papst Johannes Paul II. in Deutschland im Jahr 1980 veröffentlichte der Freiburger Kirchenhistoriker Remigius Bäumer (1918 – 1998) seine „Kleine deutsche Kirchengeschichte“. In ihr finden sich wieder viele der bekannten Luther-Klischees, wie sie zwischen Johannes Cochläus und Heinrich Denifle allzu bekannt waren: Luthers „Reformation brachte keine Reform, sondern die Spaltung der Kirche“; er sei „blind“ gewesen „für die katholische Wahrheit“; seine Hochzeit mit der ehemaligen Zisterziensernonne Katharina von Bora – „mitten während der Schrecken des Bauernkrieges“ – sei „durch Unzucht und Gelübdebruch befleckt und durch das Blut so vieler Tausend Ermordeter besudelt“ worden; und nicht einmal die Übersetzung der Bibel sei eine besondere Tat gewesen, denn „bis dahin lagen bereits 18 deutsche Bibelübersetzungen vor“, und zudem sei Luthers Übersetzung zu sehr „eine Interpretation im Sinne seiner theologischen Ansichten“. Aber auch der Theologe Theobald Beer (1902– 2000), der nach seiner Pensionierung das Lutherforschungsinstitut der „Gustav-Siewert-Akademie“ in WeilheimBierbronnen leitete, entfaltete ein Lutherbild, das eher an Denifle und Grisar als an Lortz und Pesch erinnerte. In seiner 1980 bereits in zweiter Auflage erschienenen Studie „Der fröhliche Wechsel und Streit. Grundzüge der Theologie Martin Luthers“ entwickelte Beer die These, dass Luther seit seinen frühesten theologischen Äußerungen in seinen Randbemerkungen zu Augustins „De Trinitate“ die Heilsbedeutung des einen Geschehens von Tod und Auferweckung Jesu Christ in eine doppelte Realität aufspalte, das sich als ein Motiv vielfältiger Verdoppelung durch sein Werk ziehe: zwischen zweierlei Gerechtigkeit, zweierlei Sünde, zwischen „Gnade“ und „Gabe“, zwischen Glaube und Liebe, usw. Ein solches Motiv einer vielfältigen Verdoppelung lasse sich auch nicht aus der mittelalterlichen Theologie ableiten, sondern sei von dem „Buch der vierundzwanzig Philosophen“ beeinflusst. Unabhängig davon, dass diese Ableitung abenteuerlich ist,³⁴ so hat diese Schrift bislang kaum Anklang gefunden in der katholischen Lutherwahrnehmung. Dies scheint bei Dietrich Emme anders zu sein. Zwischen 1980 und 1991 erschienen von ihm – meist im Selbstverlag herausgegeben – und teilweise in mehrfacher Auflage Bücher wie „Martin Luther. Seine Jugend- und Studentenzeit 1483 – 1505“ oder auch „Martin Luthers Weg ins Kloster“.³⁵ Hier werden allerdings allgemein anerkannte Forschungsergebnisse auf
Was ist Gott? Das Buch der 24 Philosophen. Erstmals übersetzt und kommentiert von Kurt Flasch, 2. Aufl., München, 2011. Emme’s Luther-Studien sind 2015 und 2016 im Blick auf das Reformationsjahr 2017 erneut herausgegeben worden: Berthold Wald (Hg.), Luthers Theologie und Anthropologie im Spiegel seiner Biographie, Bd. 2, Aachen, 2015; Dietrich Emme, Gesammelte Beiträge zur Biographie des jungen Martin Luther (hrsg. von Richard Niedermeier), Bd. 1, Aachen, 2016.
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den Kopf gestellt und Luthers religiöse Motive kriminalisiert, so z. B. in der Begründung von Luthers Klostereintritt. Emme entwickelt in seinen Darlegungen die „hohe Wahrscheinlichkeit“, dass Luther im Jahr 1505 einen Kommilitonen mit dem Degen erstochen habe und er sich, um Ermittlungen zu entgehen, ins Kloster flüchtete. Leider werden diese gänzlich haltlosen Thesen immer noch weiterverbreitet und finden in bestimmten katholischen Kreisen freudige Zustimmung. Ganz in der Nachfolge von Hartmann Grisar wiederum stehen die Überlegungen des Kölner Psychologen Albert Mock. 1985, zwei Jahre nach dem Lutherjahr, erschien sein Buch „Abschied von Luther. Psychologische und theologische Reflexionen zum Lutherjahr“. Die intensive wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Luthers Schriften und den zahlreichen Biographien über ihn, der Verlauf des Lutherjahres und das dargestellte öffentliche Lutherbild, vor allem aber die davon abweichenden Forschungsergebnisse von Dietrich Emme und Theobald Beer u. a. hatten dann zu dem hier vorliegenden Ergebnis geführt. Wenn auch Nietzsches Auffassung über Luther korrekturbedürftig ist, so muss ihm doch insofern Recht gegeben werden, als das allgemein gepflegte oder „angelernte“ Lutherbild der Öffentlichkeit eine „Geschichtskonstruktion“ darstellt, die mit dem historischen Luther nicht übereinstimmt. Luthers Biographie müsse neu geschrieben werden. Zu den biographisch und theologisch „neuen“ Erkenntnissen kommen hier noch hinzu die psychologisch und psychopathologisch bedeutsamen Züge der Persönlichkeit Luthers, die einen neuen Zugang zum Verständnis des Reformators und seiner Theologie eröffnen. So wird z. B. Luthers Schriftprinzip (sola scriptura) als krankheitsbedingt verworfen. Diese hier beschriebenen Rückfälle des katholischen Lutherbildes sind zwar Einzelstimmen zumeist von theologischen Laien oder zumindest nicht ausgewiesenen katholischen Ökumenikern, sie stehen jedoch für eine Wirkungsgeschichte, die sich in bestimmten katholischen Kreisen durch das 20. Jahrhundert hindurchzieht.
6 Die katholische reformationsgeschichtliche Forschung im Kontext der ökumenischen Bewegung Die neuere Debatte um den „Katholischen Luther“, die – ausgehend von Joseph Lortz – das Lutherbild in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts in wachsendem Maße zu bestimmen begann, war keineswegs ein singuläres und allein wissenschaftliches Ereignis. Zugute kamen ihr insgesamt die Öffnung der Katholischen Kirche zur Ökumene und damit eine kirchliche und theologische Neuausrichtung dieser Kirche selbst. Schon 1928 gründete der katholische Priester Max Josef Metzger (1887– 1943), der am 14. Oktober 1943 von den Nazis zum Tode verurteilt wurde, das „Christkönigsinstitut“ in Meitingen, das eine wichtige Vorbereitung der sog. „Una-Sancta-Bewegung“ wer-
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den sollte.³⁶ Dieser Bewegung zugrunde lag die Überzeugung, dass eine Wiedervereinigung im Glauben nur möglich ist durch eine „sichtbare Einheit“ der Kirche, die auch über die je eigene Kirche hinaus wirksam ist. Darüber hinaus lehrten Vertreter dieser Bewegung, dass die Katholizität der apostolischen Tradition in keiner geschichtlichen Kirche in vollem Umfang verwirklicht sei. Von katholischer Seite trugen die liturgische Bewegung, die Jugendbewegung, die Bibelbewegung sowie die Neubewertung der Reformation (Joseph Lortz) damit insgesamt zu einem neuen ökumenischen Bewusstsein bei. Eine Frucht dieses neuen ökumenischen Bewusstseins war die Neuausrichtung der katholischen Kirche und Theologie, wie sie im sog. Ökumenismus-Dekret (Unitatis redintegratio) des II. Vatikanischen Konzils vom 21. November 1964 unmissverständlich und unumkehrbar zum Ausdruck kommt. Im Kapitel 1 werden die katholischen Prinzipien des Ökumenismus beleuchtet: So betont das Konzil, „daher mahnt dieses Heilige Konzil alle katholischen Gläubigen, dass sie, die Zeichen der Zeit erkennend, mit Eifer an dem ökumenischen Werk teilnehmen.“ (UR 1, 4) Schon unmittelbar vor dem Beginn dieses Konzils gab es jedoch noch einen weiteren Impuls, die kontroverstheologische Auseinandersetzung im Blick auf die Ökumene voranzubringen. Es war die Intuition des damaligen Fundamentaltheologen Josef Ratzinger, durch Studien der kirchlich verbindlichen Lehrtexte den Prozess der Ökumene voranzutreiben.³⁷ Damit trat nun wiederum Philipp Melanchthon ins Blickfeld der Forschung, von dem die meisten Bekenntnisschriften der Wittenberger Bewegung, über seinen Schülerkreis aber in ganz Europa verfassten Bekenntnisschriften stammen. Bis zu diesem Zeitpunkt war die katholische Wahrnehmung Melanchthons an der Seite Martin Luthers eher marginal. Und wenn sich katholische Historiographie mit ihm befasste, verstärkte sie im 19. Jahrhundert nur die Vorurteile, die in der protestantischen Melanchthon-Wahrnehmung schon seit den 20er Jahren des 16. Jahrhunderts weit verbreitet waren:³⁸ Melanchthons Theologie sei von charakterlicher Schwäche (Unredlichkeit) und von einer durch einen dogmatisch nicht interessierten Humanismus inspirierten Irenik geprägt gewesen. Josef Ratzinger beschäftige sich in zwei Seminaren wieder systematisch mit den Bekenntnisschriften der Reformatoren, zuerst mit der „Confessio Augustana“ von 1530
Gerhard Voss, „Una Sancta“, in: LThK 10, 3. Aufl. 2001, 373 f; Wolfgang Thönissen, „Aufbruch in ein neues Zeitalter der Kirche. Die Entwicklung des Ökumenismus nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil“, in: ThRv 108, 2012, 267– 282; Antonio Calisi, L’Ecumenismo, il Rinnovamento Carismatico Cattolico e la Comunità di Gesù, Bari, 2015. Zum Folgenden ausführlich Siegfried Wiedenhofer, „Zum katholischen Melanchthonbild im 19. und 20. Jahrhundert“, in: ZKTh 102/4, 1980, 425 – 454; ders., „Der römische Katholizismus und Melanchthon“, in: Jörg Haustein (Hg.), Philipp Melanchthon – ein Wegbereiter für die Ökumene, Bensheimer Hefte 82, Göttingen, 1997, 62– 76. Beate Kobler, Die Entstehung des negativen Melanchthonbildes. Protestantische Melanchthonkritik bis 1560, Beiträge zur historischen Theologie 171, Tübingen, 2014. Stereotypen des negativen Melanchthonbildes innerhalb der Wittenberger Bewegung waren: Sanftmut, mangelnder theologischer Tiefgang, Nähe am Papsttum, Nachgiebigkeit in Lehrstreitigkeiten, Entfernung von Luthers Positionen.
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im Wintersemester 1958/59 sowie zwei Jahre später mit dem auch in die Bekenntnisschriften aufgenommenen Traktat Melanchthons „De potestate et primatu papae“ aus dem Jahr 1537. Tatsächlich gaben diese Seminare Anstöße in zwei neue Richtungen der katholischen reformationsgeschichtlichen Forschungen. Vinzenz Pfnür (1937– 2012), Schüler Josef Ratzingers, legte eine bahnbrechende Studie zur Rechtfertigungslehre der „Confessio Augustana“ vor, die später wesentlich zur katholischen Anerkennung dieser Bekenntnisschrift führte.³⁹ Indem Pfnür die Rechtfertigungslehre der „Confessio Augustana“ streng in ihrem eigenen historischen Kontext untersuchte (Bekenntnisbildung, bekämpfte spätscholastische Theologie, innerreformatorische Gegner, theologische Entwicklung Melanchthons), gelangte er zu einer ökumenisch äußerst fruchtbaren Interpretation der „Confessio Augustana“. Siegfried Wiedenhofer wiederum, später erster Melanchthon-Preisträger, legte in seiner Untersuchung die humanistischen Grundstrukturen der Theologie Melanchthons dar, mit dem Ergebnis, dass die „Grundstrukturen der humanistisch-reformatorischen Theologie Melanchthons sich mit den grundlegenden Intentionen der authentischen katholischen Tradition in allen wesentlichen Punkten vermitteln lassen“.⁴⁰ Von philosophischer Seite wiederum hatte sich Günter Frank mit der wichtigen kontroverstheologischen Frage um die philosophische Theologie bzw. „natürliche Theologie“⁴¹ beschäftigt, von der Karl Barth (1886 – 1968) in seiner berühmten Kontroverse mit der Analogie-Metaphysik Erich Przywaras (1889 – 1972) behauptet hatte, wegen ihr und der sie begründenden „analogia entis“ nicht katholisch werden zu können.⁴² Diese Untersuchung stellte den streng theologischen Charakter dieser philosophischen Tradition heraus und eröffnete damit die Vermittlung von Theologie und Philosophie in ökumenischer Hinsicht. All diese unterschiedlichen Impulse, das revidierte katholische Luther- und Melanchthonbild, der neue Zugang zur Theologie der protestantischen Bekenntnisschriften, der Geist der ökumenischen Bewegung und die ökumenische Neuausrichtung der katholischen Theologie und Kirche durch die Lehrmeinungen des II. Vatikanischen Konzils haben in den letzten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts weitreichende Früchte getragen. Schon 1968 kam es zur Vereinigung der beiden Arbeitsgemeinschaften katholischer und evangelischer Theologen, die während des 2.
Vinzenz Pfnür, Einig in der Rechtfertigungslehre? Die Rechtfertigungslehre der Confessio Augustana (1530) und die Stellungnahme der katholischen Kontroverstheologie zwischen 1530 und 1535, VIEG 60, Wiesbaden, 1970. Siegfried Wiedenhofer, Formalstrukturen humanistischer und reformatorischer Theologie bei Philipp Melanchthon, 2 Bde., Regensburger Studien zur Theologie 2, Bern u. a., 1976. Zitat in Wiedenhofer 1997 (wie Anm. 37), 72. Günter Frank, Die theologische Philosophie Philipp Melanchthons (1497 – 1560), EThSt 67, Leipzig, 1995. Karl Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. 1/1, Zürich, 1932, VIII. Ausführlich hierzu: Günter Frank, „Die natürliche Theologie als ökumenisches Problem. Zur Relektüre der ‚theologia naturalis‘ bei den Reformatoren Melanchthon und Calvin“, in: Herman J. Selderhuis (Hg.), Calvin – Saint or Sinner?, SMHR 51, Tübingen, 2010, 215 – 240.
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Weltkrieges gegründet wurden. Auf Anregung des Heidelberger Theologen Edmund Schlink (1903 – 1984) nannte sich dieser Zusammenschluss „Ökumenischer Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen“. Papst Benedikt XVI. war übrigens bis zu seiner Wahl zum Papst 2005 Mitglied dieses ÖAK. Edmund Schlink wiederum hatte als Delegierter der EKD am Zweiten Vatikanischen Konzil als Beobachter teilgenommen. Gleichzeitig war er offizieller Delegierter der EKD bei den Vollversammlungen des Ökumenischen Rates der Kirchen. 1975 hatte er – unter einem Pseudonym – eine Papstvision veröffentlicht, die mittlerweile in drei Auflagen vorliegt.⁴³ Eine erste bahnbrechende Neuorientierung zeigte sich 1980, dem 450. Gedenkjahr der „Confessio Augustana“ und der „Confutatio“.⁴⁴ Auf Anregung von Vinzenz Pfnür hatte sich seit 1974 die gemeinsame römisch-katholische/evangelisch-lutherische Kommission mit der Frage befasst, ob die katholische Kirche die CA von 1530 als Zeugnis des katholischen Glaubens anerkennen könne.⁴⁵ In einer entsprechenden Anfrage an die Deutsche Bischofskonferenz wurden zwei Aufgaben für eine solche Anerkennung benannt: Einerseits sollte die historische und gegenwärtige Bedeutung dieser Bekenntnisschrift ernstgenommen und ein katholisches Lutherbild abgebaut werden, das vor allem von polemisch überspitzten Äußerungen des Reformators in der bewegten Umbruchszeit (1520/21) bestimmt war; andererseits sollte geprüft werden, ob die CA ihren kirchentrennenden Charakter verloren habe und sie als Zeugnis gemeinkirchlichen Glaubens auch von katholischer Seite bejaht werden könne. Die Deutsche Bischofskonferenz beauftragte den ÖAK, diese Fragen bilateral zu klären. In den Diskussionen stellte sich gleichwohl die Schwierigkeit heraus, dass – wie Josef Ratzinger festhielt – eine katholische Anerkennung der „CA“ eine evangelische Anerkennung voraussetze,⁴⁶ was von evangelischer Seite allerdings eher zurückhaltend beurteilt wurde, weil die „Verbindlichkeit der reformatorischen Bekenntnisschriften […] in den evangelischen Kirchen nicht einmütig geregelt“⁴⁷ sei. Deshalb blieb am Ende dieses Gedenkjahres die merkwürdige Bilanz, dass von katholischer Seite festgestellt werden konnte: „Freuen wir uns, dass wir nicht nur einen Teilkonsens in einigen Wahrheiten entdecken können, sondern eine Übereinstimmung in zentralen Glaubenswahrheiten.“⁴⁸ „Die katholischen Stellungnahmen kommen damit überein-
Sebastian Knecht, Die Vision des Papstes: Erzählung, Göttingen/Graz, 1975; 2. Aufl. mit einem Vorwort von Franz Kardinal König und Landesbischof Klaus Engelhardt, Karlsruhe, 1997; 3. Aufl. mit Geleitworten von Karl Kardinal Lehmann und Bischof Klaus Engelhardt, Kevelaer, 2015. Vgl. hierzu die zusammenfassende Bilanz von Erwin Iserloh, „450 Jahre Confessio Augustana. Eine Bilanz“, in: Cath(M) 35, 1981, 1– 16. Zur Vorgeschichte: Harding Meyer u. a. (Hg.), Katholische Anerkennung des Augsburgischen Bekenntnisses? Ein Vorstoß zur Einheit zwischen katholischer und lutherischer Kirche, Frankfurt, 1977, 11– 16; Vinzenz Pfnür, „Anerkennung der Confessio Augustana?“, in: IKZ 4, 1975, 298 – 307; 5, 1976, 374– 381. Josef Ratzinger, „Anmerkungen zur Frage einer „Anerkennung“ der Confessio Augustana durch die katholische Kirche“, in: MThZ 29, 1978, 225 – 237; hier: 231. Reinhard Frieling, „Katholische Anerkennung der CA“, in: MD 27, 1976, 85. KNA.D Nr. 5, 23.1.1980.
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stimmend zu dem Ergebnis, dass Anerkennung der CA als katholisch im Sinne eines Grundkonsenses verstanden werden muss.“⁴⁹ Die evangelischen Stellungnahmen zur Anerkennung der CA als gesamtkirchliche Bekenntnisschrift blieben hingegen eher vage: Die CA gilt als Orientierungshilfe, Anleitung zur Auslegung der Hl. Schrift und Anfrage an unser eigenes kirchliches Denken und Handeln, nicht jedoch als ein klares Bekenntnis zu umschriebenen Glaubenswahrheiten. Einen Höhepunkt des katholischen Lutherbildes bildete der 500. Geburtstag des Reformators im Jahr 1983. Aus Anlass des Lutherjahres hatte die Internationale Dialogkommission zwischen dem Lutherischen Weltbund und der Römisch-katholischen Kirche eine gemeinsame Würdigung des Lebenswerkes von Martin Luther unter dem Titel „Martin Luther – Zeuge des Evangeliums“ vorgelegt.⁵⁰ In ihr betonte die Kommission, dass durch Martin Luther eine Zentrierung des Evangeliums auf die Botschaft von der Annahme, der Bejahung, der bleibenden Beziehungswilligkeit Gottes uns Sünderinnen und Sündern gegenüber vorgenommen worden sei, so dass man heute dankbar auf das Geschenk schauen kann, das Luther der gesamten Christenheit durch seine Konzentration auf die Mitte des Evangeliums bereitet habe. Mehr noch: „Man beginnt, ihn gemeinsam als Zeugen des Evangeliums, Lehrer im Glauben und Rufer zur geistlichen Erneuerung zu würdigen.“⁵¹ Auch im Jahr 1996, dem 450. Todesjahr Martin Luthers, haben die evangelischen und katholischen Kirchen in Thüringen und Sachsen-Anhalt diese neue Gemeinsamkeit des Lutherbildes betont: „Nach Jahrhunderten der Zerstrittenheit über seine Person können wir Luther heute […] gemeinsam als Zeugen des Evangeliums, Lehrer im Glauben und Rufer zur geistlichen Erneuerung […] würdigen.“⁵² Die gewachsene ökumenische Sensibilität der Luther- und der allgemeinen reformationsgeschichtlichen Forschung zeigte sich auch auf dem 3. Lutherkongress, der aus Anlass des 500. Geburtstags des Reformators 1983 in Erfurt stattfand und ganz unter dem Thema des Werkes und der Wirkung Martin Luthers stand. Zu diesem Kongress wurden nun auch erstmals katholische Forscher – als Höhepunkt des „goldenen Zeitalters“ der katholischen Lutherforschung – eingeladen.⁵³ Otto Her-
Iserloh (wie Anm. 44), 16. „Martin Luther – Zeuge Jesu Christi. Wort der Gemeinsamen Römisch-katholischen/Evangelischlutherischen Kommission anlässlich des 500. Geburtstages Martin Luthers“, 1983, in: DWU 2, 444– 451. Ebd. Das Dokument findet sich nunmehr auch in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.) Reformation in ökumenischer Perspektive, Arbeitshilfen 284, Bonn, 2016, hier: 26. „Gemeinsamer Zeuge des Evangeliums. Wort zum 450. Todesjahr Martin Luthers aus der evangelischen und katholischen Kirche in Thüringen und Sachsen-Anhalt“, in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Reformation in ökumenischer Perspektive, Arbeitshilfen 284, Bonn, 2016, 53 – 59; hier: 53. Die Beiträge dieses Kongresses finden sich in: „Martin Luther 1483 – 1983. Werk und Wirkung. Referate und Berichte des Sechsten Internationalen Kongresses für Lutherforschung Erfurt, DDR 14.– 20. August 1983“, in: LuJ 52, 1985.
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mann Pesch etwa fragte in seinem Vortrag nach „Luther und die Kirche“.⁵⁴ Peschs Ausführungen verfolgten dabei eine doppelte Generalthese: Luthers Kritik und Theologie der Kirche habe sich auf die konkrete Kirche des Spätmittelalters bezogen; die Frage der Legitimität einer eigenen lutherischen Kirche, die nicht mehr in Kirchengemeinschaft mit der römischen Westkirche steht, sei dagegen eine offene theologische Frage. Luthers ekklesiologische Ansätze – so Pesch – beträfen nicht nur Randfragen (etwa den muttersprachliche Gottesdienst oder die Kommunion unter beiderlei Gestalten), sondern sogar das Zentrum des Sachverständnisses in der gegenwärtigen katholischen Ekklesiologie, auch wenn sie auf Umwegen dort Eingang gefunden hätten (historisch-kritische Methode in der Exegese, Dogmengeschichte, ökumenischer Dialog). Pesch hatte mit seinem Vortrag zumindest die Tür geöffnet für eine bis in die Gegenwart brisante Fragestellung, die um die Möglichkeiten einer ökumenischen Annäherung an das kirchliche Amtsverständnis ringt. Diese Diskussion einer ökumenischen Annäherung an das Verständnis des kirchlichen Amtes, insbesondere des Petrusamtes, wurde in jüngerer Zeit intensiviert durch die Enzyklika „Ut unum sint“ von Papst Johannes Paul II. im Jahre 1995,⁵⁵ vor allem durch seinen Aufruf zu einem Dialog über ein ökumenisch anschlussfähiges Petrusamt. Aufgrund dieser Bitte des Papstes hatte der Akademische Beirat des Internationalen Birgittenzentrums in Farfa Sabina die Initiative ergriffen, eine Gruppe, bestehend aus sieben Katholiken und sieben Lutheranern, als „Permanente Arbeitsgruppe über das Petrusamt“ ins Leben zu rufen, die in verschiedenen Sitzungen in den Jahren 2005 bis 2009 die Frage untersuchen sollte, ob und wie ein künftiges Amt universalkirchlicher Einheit der Gemeinschaft der Kirchen zu dienen in der Lage ist.⁵⁶ Die Ergebnisse dieser Gruppe haben aufgezeigt, dass ein Petrusamt als Dienst an einer „communio“ (selbständiger) Kirchen denkbar und möglich ist.
Peschs Beitrag, ebd. 113 – 139. Zur Bilanz des Lutherjahres s. ders., Lehren aus dem Lutherjahr. Sein Ertrag für die Ökumene, München u. a., 1984. Papst Johannes Paul II., Enzyklika „Ut unum sint“ über den Einsatz für die Ökumene (25. Mai 1995) (hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz), Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 121, Bonn, 1995. Hier hatte Papst Johannes Paul II. festgestellt: „Ich bin überzeugt, diesbezüglich eine besondere Verantwortung zu haben, vor allem wenn ich die ökumenische Sehnsucht der meisten christlichen Gemeinschaften feststelle und die an mich gerichtete Bitte vernehme, eine Form der Primatsausübung zu finden, die zwar keineswegs auf das Wesentliche ihrer Sendung verzichtet, sich aber einer neuen Situation öffnet. […] Könnte die zwischen uns bereits real bestehende, wenn auch unvollkommene Gemeinschaft nicht die kirchlichen Verantwortlichen und ihre Theologen dazu veranlassen, über dieses Thema mit mir einen brüderlichen, geduldigen Dialog aufzunehmen, bei dem wir jenseits fruchtloser Polemiken einander anhören können, wobei wir einzig und allein den Willen Christi für seine Kirche im Sinne haben und uns von seinem Gebetsruf durchdringen lassen: ‚[…] sollen auch sie eins sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast‘ (Joh 17,21)“ (Ebd., Nr. 96). Die Dokumente sind veröffentlicht in: Die Gruppe von Farfa Sabina. Gemeinschaft der Kirchen und Petrusamt. Lutherisch-katholische Annäherungen, Leipzig/Paderborn, 2014; eine katholische Würdigung findet sich in: Myriam Wijlens, „Gemeinschaft der Kirchen und Petrusamt. Lutherisch-katholische Annäherungen. Erläuterungen zur Studie der Gruppe von Farfa Sabina“, in: Ökumenische Rundschau 61, 2012, 478 – 493.
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Die Ergebnisse der neueren katholischen Lutherforschung, beginnend mit Ignaz von Döllinger, vor allem aber mit Otto Hermann Pesch, die mit der Rechtfertigungslehre das Zentrum von Luthers Theologie im Blick hatte, führte schließlich zu der weitergehenden Fragestellung, ob diese Rechtfertigungslehre, die ursprünglich Grund für die Spaltung des westlichen Christentums darstellte, heute noch einen solchen kirchentrennenden Charakter beanspruchen, ob es also eine ökumenische Anerkennung dieser Lehre geben könne. Die sog. „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ mit ihrem Anhang zur „Gemeinsamen offiziellen Feststellung“ wurde symbolträchtig am 31. Oktober 1999 in Augsburg durch Christian Krause, dem damaligen Präsidenten des Lutherischen Weltbundes, und Kardinal Edward Cassidy, dem seinerzeitigen Präsidenten des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, unterzeichnet.⁵⁷ Man kann sagen, dass diese „Gemeinsame Erklärung“ die Früchte jahrelanger katholischer Lutherforschung, aber auch insgesamt intensiver ökumenischer Arbeit in Deutschland und Nordamerika geerntet hat.⁵⁸ Sie ist das erste ökumenische Dokument zwischen der katholischen Kirche und dem Lutherischen Weltbund, das übrigens im Jahr 2006 der Weltrat Methodistischer Kirchen und jüngst der Weltrat der reformierten Kirchen ebenfalls unterzeichnet haben, das nicht nur ein Konsenspapier der Theologie, sondern ein offizielles Lehrdokument der Kirchen darstellt. Diese „Gemeinsame Erklärung“ ist aber auch zum Gegenstand heftigen Protests geworden. Im Januar 1998 hatten nahezu 250 evangelische Theologen einen öffentlichen Protest gegen diese Erklärung unterschrieben, der sie einen Verrat der Reformation an eine Konsensökumene bezichtigten, welche die theologischen Profile nicht
Lutherischer Weltbund/Päpstlicher Rat zur Förderung der Einheit der Christen, Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre. Gemeinsame offizielle Feststellung. Anhang (Annex) zur Gemeinsamen offiziellen Feststellung, Frankfurt a.M./Paderborn, 1999. Zur Genese und Rezeption vgl. Friedrich Hauschild (Hg.), Die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre. Dokumentation des Entstehungsund Rezeptionsprozesses (in Beratung mit dem Lutherischen Weltbund und dem Päpstlichen Rat zur Förderung der Einheit der Christen in Zusammenarbeit mit Udo Hahn und Andreas Siemens), Göttingen, 2009. Vgl. Hugh G. Anderson u. a. (Hg.), Justification by Faith, Lutherans and Catholics in Dialogue 7, Minneapolis, 1985 (dt.: Harding Meyer, Günther Gassmann [Hg.], Rechtfertigung im ökumenischen Dialog. Dokumente und Einführung, [Ökumenische Perspektiven 12], Frankfurt a.M., 1987, 107– 200; Karl Lehmann, Wolfhart Pannenberg (Hg.), Lehrverurteilungen – kirchentrennend? Rechtfertigung, Sakramente und Amt im Zeitalter der Reformation und heute, DIKI 4, Freiburg i.Br./Göttingen, 1986 (vgl. hierzu die entsprechenden Materialien und Gutachten hg. von Karl Lehmann); Gemeinsame RömischKatholische/Evangelisch-Lutherische Kommission, Kirche und Rechtfertigung. Das Verständnis der Kirche im Lichte der Rechtfertigungslehre, Paderborn/Frankfurt a.M., 1994; Otto Hermann Pesch, „Martin Luther im katholischen Urteil. Zwischen Verteufelung und dankbarer Aneignung“, in: Reformationsgeschichtliche Sozietät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (Hg.), Spurenlese. Kulturelle Wirkungen der Reformation, LStRLO 20, Leipzig, 2013, 449 – 48, hier: 464 f.
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schärfe, sondern verschleife und auf diese Weise den Katholizismus hermeneutisch triumphieren ließe.⁵⁹ Die „Gemeinsame Erklärung“ verfolgte ein zweifaches, miteinander korrespondierendes Ziel. Einerseits beschrieb sie einen „Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre“ und andererseits begründete sie, dass „die weiterhin unterschiedlichen Entfaltungen nicht länger Anlaß für Lehrverurteilungen sind“ (GER 5). Beide Ziele werden an Schlüsselthemen festgemacht, die seit der Reformationszeit auf der theologischen Agenda stehen: „Unvermögen und Sünde des Menschen angesichts der Rechtfertigung“ (GER 19 – 21), „Rechtfertigung als Sündenvergebung und Gerechtmachung“ (GER 22– 24), „Rechtfertigung durch Glauben und aus Gnade“ (GER 25 – 27), das „Sündersein der Gerechtfertigten“ (GER 28 – 30), „Gesetz und Evangelium“ (GER 31– 33), „Heilsgewissheit“ (GER 34– 36), die „guten Werke der Gerechtfertigten“ (GER 37– 39). Methodisch werden zunächst immer erst die gemeinsamen, darauf dann die konfessionsspezifischen Aussagen dargelegt, um die grundlegende These zu begründen, dass wohl Differenzen nicht zu leugnen seien, dass diese aber nicht die grundlegenden Gemeinsamkeiten zerstörten und daher keinen kirchentrennenden Charakter mehr aufwiesen (GER 40 – 42). Die Hermeneutik dieses Dokuments kann man als einen differenzierten Konsens bezeichnen. Unterschiede werden nicht geleugnet. Aber vor dem Hintergrund der grundlegenden Gemeinsamkeiten wird eine theologisch begründete Pluralität ermöglicht. Am Ende des epochalen Wandels des katholischen Lutherbildes im 20. Jahrhundert kann man festhalten, dass sich die katholische Kirche das theologische Anliegen Martin Luthers zu Eigen gemacht hat. Papst Benedikt XVI. hatte dies noch einmal in seiner Ansprache an die Vertreter der EKD im Kapitelsaal des Augustinerklosters in Erfurt am 23. September 2011 zusammenfassend gewürdigt: Die Frage: Wie steht Gott zu mir, wie stehe ich vor Gott – diese brennende Frage Luthers muss wieder neu und gewiss in neuer Form auch unsere Frage werden, nicht akademisch, sondern real. Ich denke, dass dies der erste Anruf ist, den wir bei der Begegnung mit Martin Luther hören sollten.⁶⁰
Zu diesem Protest: Albrecht Beutel, Thomas Kaufmann und Hermann Timm (Hg.), Wider den Augsburger Rechtfertigungsvertrag. Voten evangelischer Hochschullehre, Epd-Dokumentation 43/99, Frankfurt a.M., 1999; Prinzipielle Bedenken finden sich auch bei Eilert Herms, „Der Dialog zwischen Päpstlichem Einheitsrat und LWB 1965 – 1998. Ausgangsperspektiven,Verlauf, Ergebnis“, in: ThLZ 123, 1998, 658 – 712. „Ansprache von Papst Benedikt XVI. an die Vertreter der EKD im Kapitelsaal des Augustinerklosters“, in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Reformation in ökumenischer Perspektive, Arbeitshilfen 284, Bonn, 2016, 182– 186; hier: 184.
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Luther in der protestantischen Historiographie und Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts 1 Einleitung: Methodologische Klärungen
Freiheitskämpfer, Nationalheld, homo religiosus – die Liste der Lutherbilder, die aus der Beschäftigung mit dem Reformator in den letzten beiden Jahrhunderten erwachsen sind, ließe sich unschwer verlängern. Vielgestaltig sind die Imaginationen Luthers als theologischem Denker und geschichtlicher Gestalt sowohl im populären als auch im akademischen Bereich. Wenn in diesem Beitrag zwei Felder der Auseinandersetzung mit Luther im 19. und 20. Jahrhundert in den Blick genommen werden sollen – die Historiographie und die Theologie –, so handelt es sich dabei um Felder, die zum Teil Überschneidungen und Verschränkungen aufweisen und jeweils im Kontext zeitgenössischer philosophischer Konzeptionen zu sehen sind. Das Segment, das hier zudem in besonderer Weise in den Blick genommen werden soll, ist das der protestantischen Zugänge zur Beschäftigung mit Luther auf diesen beiden Feldern. Was bezüglich dieser konfessionellen Einschränkung im Hinblick auf die Theologie noch mit gewisser Klarheit erfassbar erscheint, wirft im Hinblick auf die Historiographie Fragen auf: Ist eine protestantische Geschichtsschreibung vor allem personal über die Konfessionszugehörigkeit ihrer Träger als eine solche zu identifizieren? Oder lässt sich essentialistisch eine bestimmte Form geschichtlicher Auffassung und Darstellung als protestantisch qualifizieren? Die Schwierigkeiten der letzten Option – bei aller Verbreitung dekadenztheoretischer Modelle – liegen auf der Hand. Eine einheitliche Geschichtsauffassung wird sich aufgrund der außerordentlichen Breite des Protestantismus kaum eruieren lassen. Orientiert sich dieser Beitrag pragmatisch daher an der ersten Option, kann gleichwohl im Folgenden doch nur ein gewisses Segment des Protestantismus in den Blick genommen werden: Historiographie und Theologie werden in ihren akademischen Gestaltungsformen untersucht; und das im Hinblick auf den lange Zeit die wissenschaftliche Leitkultur bestimmenden deutschsprachigen Raum. Das bedeutet zum einen, dass Positionen evangelischer, an die Landeskirchen gebundener Theologen im Vordergrund stehen, da aufgrund staatskirchenrechtlicher Bestimmungen die deutsche Universität lange nicht der Ort einer auf personaler Ebene – im Sinne der Kirchenzugehörigkeit – über die Landeskirchen hinausgehenden pluralen protestantischen Diskursgemeinschaft sein konnte. Das bedeutet zum anderen, dass „populäre“ Formen der Geschichtsschreibung und theologischen Publizistik, für die sich im 19. Jahrhundert deutliche Differenzierungsmomente beobachten lassen, größtenteils außen vor bleiben. Beide Aspekte werde ich am Ende im Sinne eines die Perspektive weitenden Ausblicks noch einmal
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aufgreifen. Am Beginn stehen die Dimensionen, die im Hinblick auf die Beschäftigung mit Luther den Übergang ins 19. Jahrhundert bestimmt haben.
2 Individualität und Freiheit – das pietistische und aufklärerische Erbe im Übergang zum 19. Jahrhundert 2.1 Lutherdeutungen in Pietismus und Aufklärung Aus der pietistisch und frühaufklärerisch inspirierten historiographischen Auseinandersetzung mit Luther ragt wirkungsgeschichtlich Gottfried Arnolds Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie hervor, die als Strukturprinzip nicht der institutionalisierten Kirche, sondern im Sinne der testes veritates dem glaubwürdigen Zeugnis einzelner Individuen in ganz unterschiedlichen Relationen zur verfassten Religion folgt.¹ Luther wird dieser Kriteriologie entsprechend im 18. Jahrhundert als Einzelpersönlichkeit neben anderen gewürdigt, wobei unter dem Ausgriff auf ältere Deutungsschemata – vor allem Speners – auch für die weitere Lutherforschung bestimmende Distinktionen vorgenommen werden, wie etwa die Unterscheidung von „jungem“ und „altem“ Luther oder die Betonung seiner – auch schon von Zinzendorf betonten – Verbindung zur Mystik. Diese individualisierende Konzentration auf die Person wurde in den aufklärerischen Perspektivierungen Luthers im 18. Jahrhundert weiter geführt, nun unter noch deutlicherer Betonung Luthers Wirken zuzuschreibender Freiheitsmomente. So lässt sich sagen, dass der Übergang ins 19. Jahrhundert im Hinblick auf die Imagination Luthers vor allem geprägt ist vom aufklärerischen Impetus eines bei ihm modellhaft angelegten Emanzipationsstrebens, das unter anderem – durchaus differenziert – Johann Salomo Semler und Gotthold Ephraim Lessing betont haben: In Luthers Wahrheitssuche und seiner Verteidigung der Gewissensfreiheit ist ein Vorbild zu sehen, das den aufgeklärten Menschen zu Toleranz und Religionsfreiheit führen soll.² „Der wahre Lutheraner will nicht bei Luthers Schriften, er will bei Luthers Geiste geschützt sein; und Luthers Geist erfordert schlechterdings, daß man keinen Menschen in der Erkenntnis der Wahrheit nach seinem eigenen Gutdünken fortzugehen hindern muß.“³ Das aufklärerische Paradigma der Wahrnehmung Luthers beinhaltete daher im Vergleich zu früheren konfessionell orthodoxen Positionen unter Betonung der emanzipatorischen Aspekte eine deutliche Akzentverschiebung von der Lehre zur Person, vom Werk zum Wirken und entspre G. Arnold, Unparteyische Kirchen- und Ketzer-Historie […], Leipzig/Frankfurt a.M., 1699 – 1700. J.S. Semler, Lebensbeschreibung, von ihm selbst abgefasst, Bd. 2, 1782 [vgl. den Auszug in B. Moeller (Hg.), Kirchengeschichte. Deutsche Texte 1699 – 1927, Frankfurt a.M., 1994, 212– 219]. G.E. Lessing, „Anti-Goeze“ (1778), zit. n. Lessings Werke. Vollständige Ausgabe in 25 Bänden, Bd. 23, Berlin, 1925, 194.
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chend einer Verschiebung vom Positionellen zum im ideengeschichtlichen Sinne Strukturellen.
2.2 Johann Georg Hamann und das „Widerständige“ bei Luther Eine in gewissem Sinne gegenläufige, ihrer Intention nach zumindest vermittelnde und für die spätere Beschäftigung mit Luther ausgesprochen wichtige Position findet sich bei Johann Georg Hamann, der unter eingehender Beschäftigung mit Schriften Luthers gerade das für die eigene Zeit Widerständige in dessen Theologie freilegt und sich damit gegen eine moralistische und rationalistische Verengung der Beschäftigung mit dem Reformator wendet. Als zentrale Elemente der Theologie des Reformators werden die Themen Leiden, Kreuz und Tod herausgearbeitet. In der sich dadurch mit neuer Plausibilität erschließenden Entgegensetzung von theologia gloriae und theologia crucis sieht Hamann die Entgegensetzung illusionistisch-utopischen und realistischen Denkens. Elemente eigener religiöser Erfahrung hatte er in den Schriften Luthers präfiguriert gefunden, vor allem die Rede von der wirkmächtigen Realität des Wortes Gottes, von der aus er seine eigene Philosophie der Sprache entwickelt, in welcher diese als etwas – wie Ranke es später formulieren wird – „Realgeistiges“ und Dynamisches begegnet, als Manifestation des Transzendenten im Individuellen, wofür Hamann auf die Analogie der Präsenz des Leibes und Blutes Christi in den Abendmahlselementen zurückgreift.⁴
2.3 Johann Gottried Herder und Luthers „Genialität“ Unter dem Einfluss Hamanns ist es dann wesentlich Luthers sprachschöpferisches Wirken, das Johann Gottfried Herder würdigt und produktiv weiterzuführen sucht. Durch Luthers Belebung der deutschen Sprache habe er der Nation neue geistige Höhen erschlossen und sie aus scholastischer Enge befreit. Vorgebildet ist dieser nationale Vorgang für Herder in Luthers „Genialität“, die sich aus der scholastischmönchischen Enge zu befreien vermochte, dies aber – ähnlich wie von Hamann herausgearbeitet – in einer Glaubensbindung an das Wort Gottes tat, mit dem Grundmoment der Rechtfertigung des Sünders als dem des Übergang in die freie Existenz. Auch wenn Herder diese theologischen Motive betont, ist er doch vor allem durch seine Darstellung Luthers als „genialer“ Persönlichkeit wirksam geworden.⁵
J. G. Hamann, Briefwechsel (1759 – 1786) [vgl. die Zusammenstellung in H. Bornkamm, Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte. Mit ausgewählten Texten von Lessing bis zur Gegenwart, 2. Aufl., Göttingen, 1970, 202– 205]. J.G. Herder: Über die Neuere Deutsche Literattur. Fragmente (1766), Von deutscher Art und Sprache (1773), Vom Erkennen und Empfinden. Entwurf (1775) [zu diesen Texten und weiteren Auszügen vgl. Bornkamm, Luther, 205 – 215].
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Daran knüpfte auch Goethe an, der den Ereignissen der Reformationszeit – vermittelt durch Arnolds Kirchen- und Ketzerhistorie – wenig abgewinnen konnte, aber Luther als Persönlichkeit zeichnete, durch die der Weg hin zum Fortschritt gebahnt worden ist.⁶
3 Die theologische Beschäftigung mit Luther zu Beginn des 19. Jahrhunderts Es fällt auf, dass eine akademische Auseinandersetzung mit Luther im frühen 19. Jahrhundert mit besonderer Intensität von Philosophen und historisch orientierten Literaten betrieben worden ist. Fichte, Schlegel, Hegel – sie alle haben Luther einen prominenten Platz in ihren geschichtstheologischen Erwägungen und Systemen gegeben, die in unterschiedlicher Weise auch für die theologische und historiographische Beschäftigung mit Luther wirksam geworden sind.
3.1 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher Sucht man zunächst nach der Rolle, die Luther für den Theologen, der für das 19. Jahrhundert bestimmend werden sollte, nämlich Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, gespielt hat, so findet man bei ihm kein spezifisches Lutherbild und auch keine dezidierte Lutherrezeption, aber gewisse Analogien, die sich im weitesten Sinne wirkungsgeschichtlich – etwa durch Schleiermachers herrnhutische Prägung – erklären lassen, ohne im engeren Sinn historisch-genetisch ableitbar zu sein. Ähnlich wie Luther unterscheidet Schleiermacher in seinem Glaubensverständnis scharf zwischen Religion einerseits und Moral und Denken andererseits. Wie bei Luther ist der Glaube als zusammenfassender Ausdruck der positiven christlichen Religion daher nicht durch Moral und Denken einzuholen, sondern jenen als ein ursprüngliches Phänomen im Herzen oder Gefühl des Menschen voraus. Und wie bei Luther, so verdankt sich wahre Religion der geschichtlichen Selbstvermittlung Gottes in Jesus Christus als dem fleischgewordenen Wort Gottes. Offenkundige Differenzen in der Christologie und der Sündenlehre, aber auch im Verständnis des Wortes Gottes entstehen durch Schleiermachers bewusstseinstheologische Akzentuierungen.⁷ Auch wenn Luther bei Schleiermacher keine prominente Rolle einnimmt, wirkte sich J. W. Goethe, Briefe des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu *** (1773) [Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, Bd. 36, Stuttgart/Berlin, 1902, 83 – 94]; ders., Gespräch[e] mit Eckermann [vom 17. Febr. 1832], Leipzig, 1836. F. D. E. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 2 Bde., Berlin, 1821– 1822, 2. Aufl. 1830 – 1832; Schleiermacher, Vorlesungen über die Kirchengeschichte (1806 – 1826) [Friedrich Schleiermacher. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 2,6, Berlin / New York, 2006].
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Schleiermachers Bezug auf die geschichtlich gegebene, positive Religion fördernd auch auf die Lutherrezeption des 19. Jahrhunderts aus.
3.2 Erweckung und lutherischer Konfessionalismus In welcher Weise Luther in der Erweckungsbewegung theologisch hervorgehoben und gewichtet wurde, ist nicht einheitlich. Luther konnte sowohl als hervorgehobenes „Werkzeug“ begegnen⁸ oder aber stärker eingeordnet werden in den Kreis der anderen Reformatoren. So werden etwa Zwingli und Calvin neben Luther gestellt⁹ und die lutherische Verwerfung der zwinglischen Abendmahlslehre bedauert¹⁰ oder der ‚milde‘ und ‚friedvolle‘ Melanchthon als notwendiges Korrektiv zum ‚kraftvollen‘ Luther herausgestellt.¹¹ Was dabei die Linien, die zum lutherischen Konfessionalismus führten, betrifft, so griffen diese wie Schleiermacher auf Luthers „Rückkehr zu der ursprünglichen Lehre von der Rechtfertigung, zu der ursprünglichen Feier des Abendmahls und zu der ursprünglichen Auffassung des Verhältnisses von Geistlichen und Laien“¹² zurück, wehrten sich aber gegen Schleiermachers unionstheologische Kirchenpolitik. In Schlesien widerstanden Lutheraner 1817 der preußischen Union zwischen Lutheranern und Reformierten, und in Kiel edierte Claus Harms zum Reformationsjubiläum 1817 Luthers 95 Thesen neu und fügte eine gleiche Anzahl eigener Thesen hinzu, die gegen die Union protestierten und sich auf Luthers Verständnis von Amt und Bekenntnis der Kirche beriefen.¹³ Wilhelm Löhe in Neuendettelsau betonte die lutherischen Elemente seines Kirchenbegriffs,¹⁴ und August Friedrich Christian Vilmar berief sich für sein dezidiertes Amtsverständnis in der Kirche auf Luther.¹⁵ Die Erlanger Erfahrungstheologen Adolf von Harleß und Johann Christian Konrad von Hoffmann schließlich, und ihnen folgend Reinhold Seeberg, sollten die Erfahrungen des Gewissens an die objektiven Vorgaben von Schrift und Bekenntnis binden, um bewusstseinstheologischen Verengungen des schleiermacherschen Religionsbegriffs zu
H. E. F. Guerike, Handbuch der Allgemeinen Kirchengeschichte, Bd. 2, Halle, 1833, 581. F. A. B Westermeier, Das Leben von Huldreich Zwingli und Johann Calvin, Halle, 1846; ders., Geschichte der christlichen Kirche. Bd. 4., welcher die Geschichte der Reformation enthält. Abth. 1. Enthaltend die Geschichte der deutschen Reformation bis zum Tode Luthers. Dr. Martin Luthers Leben, Halle, 1845. [J. C. Blumhardt,] Handbüchlein der Weltgeschichte, Calw-Stuttgart, 1843, 199. W. Leipoldt, Die Geschichte der christlichen Kirche, Schwelm, 1834, 157. F. D. E. Schleiermacher, Die christliche Sitte nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche (1809 ff.), zit. n. Bornkamm, Luther, 275. C. Harms, Das sind die 95 theses oder Streitsätze Dr. Luthers, theuren Andenkens. Zum besondern Abdruck besorgt und mit andern 95 Sätzen als mit einer Uebersetzung aus Ao. 1517 in 1817 begleitet, Kiel, 1817. W. Löhe, Drei Bücher von der Kirche, Stuttgart, 1845. A. F. G. Vilmar, Die Lehre vom geistlichen Amt, posthum hg. von K. W. Piderit, Marburg, 1870.
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begegnen. Bevor dieser Spur in die Theologie der zweiten Jahrhunderthälfte gefolgt wird, gilt es allerdings, die Entwicklungen in den Blick zu nehmen, die sich zunächst im Bereich der Geschichtsschreibung anbahnten.
4 Luther in der protestantischen Historiographie des 19. Jahrhunderts 4.1 Marheineke und Ranke und ein neuer Zugang zu den Quellen Das Reformationsjubiläum 1817 hatte nicht nur zu kirchen- beziehungsweise konfessionspolitischen Aktivitäten geführt, sondern auch historiographische Beschäftigungen mit der Reformation stimuliert, die publizistisch vor allem zunächst in einem größeren Werk greifbar wurden: der Geschichte der teutschen Reformation von Philipp Marheineke von 1816.¹⁶ Marheineke war Theologe, verzichtete aber auf jegliche historiographische und geschichtstheologische Präliminarien und präsentierte in seinem Werk in erster Linie ein dichtes Gewebe aus Urkunden und längeren Exzerpten vor allem aus den Schriften Luthers. Auf alle „Urtheile[…], Reflexionen und Hypothesen“ wollte er bewusst verzichten.¹⁷ Diesem Charakter einer Materialsammlung nicht ganz unähnlich ist das weitaus größere Wirkmächtigkeit entfaltende, aber zunächst unveröffentlicht gebliebene Luther-Fragment des jungen Leopold Ranke von 1817. Bei diesem Fragment handelt es sich um eine Sammlung von Aphorismen, Exzerpten aus Luther- und anderen Quellenschriften und selbst verfassten Stücken. Auch wenn es in einem hymnischen Stück anlässlich des Reformationsjubiläums gipfelt, wird hier insgesamt doch ein historiographischer Zugang greifbar, der aus einem nicht primär erbaulichen oder theologischen Interesse erfolgt und zumindest dem Anspruch nach auch kein vorgegebenes philosophisches System am historischen Material exerzieren will.¹⁸ Es handelte sich zunächst um Quellenstudien für eine Biographie Luthers, die durch die spätere Integration in Rankes Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation ¹⁹ noch einmal neu kontextualisiert und akzentuiert wurden. Die von Fichte geformte Idee eines göttlichen Waltens in der Geschichte, das sich besonders sowohl in großen Individuen als auch in den Eigenheiten größerer Einheiten wie Epochen und Staaten an den Kulminationspunkten der Geschichte, und besonders in deren Ursprungsmomenten zeige – in diesem Fall also den initia Lutheri –, steht erkennbar im Hintergrund, Luther
P. Marheineke, Geschichte der teutschen Reformation, Berlin, 1816. Vorrede, zit. nach der 2. Aufl., Berlin, 1831, XVII. Erstmals – annäherungsweise – in dieser ursprünglichen Gestalt veröffentlicht wurde das Fragment als Anhang zu P. Jochimsens Neuausgabe von Rankes Deutscher Geschichte im Zeitalter der Reformation, Bd. 6, München, 1926, 313 – 399. L. Ranke, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, 6 Bde., Berlin, 1839 – 1847.
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wird in diesem Rahmen aber als historische Gestalt in ihren persönlichen Kämpfen, Anfechtungen und Entdeckungen und nicht als Repräsentant eines abstrakten Prinzips profiliert. Durch die Integration in die Deutsche Geschichte verschiebt sich der Akzent allerdings stärker hin zu einer Geschichte der Nationalstaaten und Institutionen.
4.2 Ferdinand Christian Baur und das Erbe Hegels Unter gewissem Einfluss Rankes, aber stark von Hegel geprägt, zeigen sich die Reformations- und Lutherdarstellung Ferdinand Christian Baurs. In Hegelschen dialektischen Kategorien sieht Baur in der Reformation den Wendepunkt, an dem der sich selbst entfremdete Geist aus der Objektivität zu sich selbst, vom Äußeren zum Inneren, zurückkehrt und sich seiner wahren Freiheit im Prinzip der Subjektivität bewusst zu werden beginnt.²⁰ Innerhalb der nach evangelischem Geschichtsverständnis stetig notwendigen Rückbesinnung auf den Ursprung des Christentums und die Gründe für die Entfernung von demselben können Personen als „lebendige[…] individuelle[…] Punkt[e], in welche[n] […] die von verschiedenen Seiten zusammenlaufenden Strahlen sich entzündeten“ hervortreten²¹ und kann so – bei aller Abstraktion – auch eine lebendige Darstellung Luthers erfolgen, die seine religiösen Motive freilegt, ihn aber als Persönlichkeit enggeführt als „echten Deutschen“ profiliert.²²
4.3 Nationale Deutungen Luthers Dieser ins Nationale weisende Zug findet sich bereits bei Herder, Fichte und Heine und sollte auch bei den Nachfolgern Rankes in unterschiedlicher Gewichtung Niederschlag finden. Bei Ranke selbst war dieses Moment nur sehr moderat vorhanden gewesen. Gustav Freytag folgte Ranke im dritten Band seiner populären Bilder aus der deutschen Vergangenheit ²³ in der grundsätzlichen Geschichtsauffassung und der an Individualität und Historizität orientierten Interpretation Luthers, verstärkte aber – allerdings ohne Pathos – in der Betonung des deutschen Charakters der Reformation das nationale Lutherbild. Johann Gustav Droysen unterstrich schließlich aus einem ähnlich lutherisch-idealistischen Zugang wie Ranke heraus den „inneren Zusammenklang protestantischer und idealistischer Geschichtsbetrachtung“,²⁴ innerhalb
F. C. Baur: Die christliche Lehre von der Versöhnung in ihrer geschichtlichen Entwicklung von der ältesten Zeit bis auf die neueste, Tübingen, 1838. Ders., Die Epochen der kirchlichen Geschichtsschreibung, Tübingen, 1852, 256. Ders., Geschichte der christlichen Kirche, Bd. 4, Tübingen, 1863, 523. G. Freytag, Bilder aus der deutschen Vergangenheit, Leipzig, 1859. Bornkamm, Luther, 49.
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derer von ihm stärker die revolutionären Züge des Wirkens Luthers betont wurden.²⁵ In der zweiten großen Reformationsdarstellung des 19. Jahrhunderts neben derjenigen Rankes, der Geschichte der deutschen Reformation von Friedrich von Bezold aus dem Jahr 1890,²⁶ betont dieser wiederum das revolutionäre Element, nun aber auf den Seiten der Bauern, denen gegenüber Luthers Verhalten deutlich negativ erscheint. Erkennbar wird ein gegenüber Ranke sozialgeschichtlich verbreiterter Zugang, der auch an Luther nicht in gleicher Weise wie Ranke und Droysen die religiösen Motivlagen wahrnimmt. Wenn Bezold Luthers prophetisches Bewusstsein als die „kühnste Verkörperung des germanischen Individualismus, welche die Geschichte kennt“²⁷ bezeichnet, klingen national enggeführte Deutungen der Zeit an, die in ihren wirkmächtigsten Spielarten in geschichtsphilosophisch aber anders verankerten Zusammenhängen stehen. Die nationale Historiographie der deutschen Einigungsbewegung und des neuen Kaiserreichs, wie sie in Bezug auf die Lutherdeutung am konzentriertesten bei Heinrich von Treitschke Gestalt gewann, schloss stark an den Volksgeistgedanken bei Fichte, Arndt und Herder an und sah Luthers Gestalt und Werk als Verkörperung „deutschen Wesens“. Gerade in Treitschkes Rede zum Reformationsjubiläum 1883 werden die Deutungen Luthers als nationaler Symbolfigur und deutschem Heros greifbar. „Wir Deutschen finden in alledem kein Rätsel, wir sagen einfach: Das ist Blut von unserem Blute. Aus den tiefen Augen dieses urwüchsigen deutschen Bauernsohnes blitzte der alte Heldenmut der Germanen, der die Welt nicht flieht, sondern sie zu beherrschen sucht durch die Macht des sittlichen Willens.“²⁸ Die zwanzig Jahre später veröffentlichte Lutherbiographie von Adolf Hausrath verknüpfte religiöses und nationales Lutherbild: „Es ist dem deutschen Volke eine neue Seele eingesetzt. All seine männlichen Instinkte hat er geweckt; er lehrte es singen: ‹und wenn die Welt voll Teufel wär, es soll uns doch gelingen›. Er hat der Nation Eisen ins Blut gegossen.“²⁹ Letzteres griff vor allem der politische Konservatismus auf, der vielfach mit dem konfessionellen Luthertum verbunden war. Schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte der Berliner Professor Friedrich Julius Stahl, selbst überzeugter Lutheraner und in seinem religiös konturierten Verständnis Luthers an Ranke angelehnt, in seiner vom lutherischen Bekenntnis geprägten eher begrifflichen Analyse des Protestantismus eine Vermittlung mit seiner konservativen Staatsauffassung gesucht.³⁰ In ähnlicher Weise hatte Heinrich Leo ein stärker konservatives Lutherbild mit der romantischen Geschichtsschreibung verknüpft – was den Blick an dieser Stelle zurücklenkt auf den lutherischen Konfessionalismus und die mit ihm verbundene Theologie.
J. G. Droysen, Geschichte der Preußischen Politik, Bd. 2, Leipzig, 1857. F. v. Bezold, Geschichte der deutschen Reformation, Berlin, 1890. Ebd., 448. H. v. Treitschke, Aufsätze, Reden und Briefe, hg. von K. M. Schiller, Meersburg, 1929, 246. A. Hausrath: Luthers Leben, Berlin, Bd. 2, 1904, 499. F. J. Stahl, Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche, Berlin, 1863; Ders., Der Protestantismus als politisches Prinzip, Berlin, 1853.
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5 Zwischen Neuluthertum und liberaler Theologie – Luther in der protestantischen Theologie der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts 5.1 Die „Erlanger Schule“ und das Neuluthertum Für die als „Neuluthertum“ bezeichnete Richtung in der Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts stellte die Theologische Fakultät in Erlangen ein Zentrum dar, von dem die wesentlichen Impulse für eine bekenntnisorientierte Sicht Luthers ausgingen, die aber um Vermittlung mit den theologischen Strömungen der Zeit im Gefolge Schleiermachers bemüht war. Der Beginn ist mit der Berufung des bereits erwähnten Adolf von Harleß im Jahr 1833 anzusetzen, und die Ära der „Erlanger Schule“ reichte bis zum Tod Franz Hermann Reinhold Franks im Jahr 1894. Sie brachte eine Theologie hervor, in der sich der subjektive Glaube auf objektive Grundlagen, die Bibel, Glaubensbekenntnisse und insbesondere die lutherischen Bekenntnisschriften zu stützen und Impulse von Schleiermacher und Erweckung, Konfessionalismus und Biblizismus zu verbinden suchte. Das führte im Hinblick auf die Rolle und Wahrnehmung Luthers zu zwei die Forschung weiterführenden Kristallisationspunkten: Die Bemühungen J. C. K. Hofmanns und seines Schülers Christoph Ernst Luthardt um eine biblische Hermeneutik im Kontext einer heilgeschichtlichen Geschichtsschau zogen die Frage nach der lutherischen Ekklesiologie und der Differenz zwischen Luther und der lutherischen Orthodoxie beziehungsweise überhaupt seinen Epigonen nach sich, Gottfried Thomasius’ und Franks Betonung der Konkordienformel als angemessenem Ausdruck der Lehre von der Wiedergeburt die Frage des Verhältnisses lutherischer Lehraussagen zu Luthers eigenen lebensgeschichtlichen Glaubenserfahrungen.³¹ Was im Raum stand, war also die Frage des Verhältnisses zwischen Luthers Theologie und der das Luthertum konstituierenden Theologie seiner Nachfolger.
5.2 Albrecht Ritschl – Luthers Rechtfertigungslehre als Befreiung zur Gestaltung der Welt Im Widerspruch zu einer an den Bekenntnissen orientierten neulutherischen Theologie bahnte Albrecht Ritschl, der zum Begründer der liberalen Theologie in der 2. G. C. A. Harleß, Theologische Encyklopädie und Methodologie vom Standpunkte der protestantischen Kirche, Nürnberg, 1837; Ders., Kirche und Amt nach lutherischer Lehre. In grundlegenden Sätzen mit Luther’s Zeugnissen, Stuttgart, 1853; J. C. K. Hofmann, Der Schriftbeweis. Ein theologischer Versuch, Nördlingen, 1852– 1855; Ders., Biblische Hermeneutik. Nach Manuskripten u. Vorlesungen, hg. von W. Volck, Nördlingen, 1880; G. Thomasius, Das Bekenntnis der evangelisch-lutherischen Kirche in der Konsequenz seines Prinzips, Nürnberg, 1848; Die christliche Dogmengeschichte, 2 Bde., Erlangen, 1874– 76; F. H. R. Frank, Die Theologie der Konkordien Formel, Erlangen, 1858.
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Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde, einen anderen Zugang zu Luther. Religionsphilosophisch Kant und nicht Hegel folgend, sah er Luthers Leistung in der Befreiung des Glaubens aus der spekulativen Metaphysik sowie der Mystik. Die Freiheit eines Christenmenschen entspringe nach Luther aus der Rechtfertigung des Sünders und seiner Versöhnung mit Gott durch Christus. Rechtfertigung und Versöhnung seien dabei als Ausdruck göttlicher Liebe und innerweltlich als Freiheitsgewinn für den Menschen zu verstehen. Sie befreiten zu einer geistig-sittlichen Herrschaft über die Welt und Bewährung in Beruf und Stand. In diesem auf der Liebe Gottes als Inbegriff seines Reiches basierenden Ethikverständnis war Ritschl von Luthers Standes- und Berufsverständnis beeinflusst. Ritschls Bemühen um ein historisch-theologisch kontextualisiertes Lutherverständnis in seinem Hauptwerk Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung ³² und in seiner Geschichte des Pietismus ³³ zeichnete Luther und die Reformation in die Theologiegeschichte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit ein, führt aber auch zu Wertungen im Sinne der eigenen theologischen Konzeption. So interpretiert Ritschl – um ein Beispiel zu nennen – die Rede vom Deus absconditus in Luthers De servo arbitrio als metaphysisches Relikt nominalistischer Einflüsse des Reformators, die letztlich obsolet seien.
5.3 Theodosius Harnack und Luthers Rede vom zornigen und verborgenen Gott Gegen das soeben skizzierte Lutherverständnis wandte sich die – neben derjenigen Ritschls – bedeutendste theologische Lutherinterpretation des 19. Jahrhunderts, Theodosius Harnacks aus dem Kontext der Erlanger Theologie stammendes zweibändiges Werk Luthers Theologie mit besonderer Beziehung auf seine Versöhnungs- und Erlösungslehre. ³⁴ An Ritschl kritisiert wird dessen optimistisches, einseitig auf den Gedanken der Liebe Gottes gegründetes Theologie- und Ethikverständnis, das die dunklen Seiten in Luthers Gottesbegriff, das heißt Luthers Rede vom Zorn und der Verborgenheit Gottes, ausblende. Gewaltiger und erschütternder, als Luther es gethan, ist niemals in der christlichen Kirche von dem Zorne Gottes gepredigt worden. […] Wenn man behauptet hat, dass Luther im Gegensatz zum mittelaltrigen Zornesgott den Gott der Liebe verkündigt habe, so ist diess im besten Fall nur halbwahr und zeugt von keinem tieferen Verständniss für die Theologie des Reformators. […] Luther weiß so überaus ernst vom Zorne Gottes zu lehren, weil er unter dem Kreuze Christi gelernt hat, was Sünde und was Gnade sei. Unzähligemale spricht er es aus, daß wir an Christo dem Gekreuzigten sehen können, wie groß die Liebe, aber auch ‹wie groß, ernst und erschrecklich der
A. Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, 3 Bde., Bonn, 1870 – 1874. Ders., Geschichte des Pietismus, 3 Bde., Bonn, 1880 – 1886. T. Harnack, Luthers Theologie mit besonderer Beziehung auf seine Versöhnungs- und Erlösungslehre, 2 Bde., Erlangen, 1862– 1886.
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Zorn Gottes wider die Sünde sei› und ‹dass die Vernunft der Beider keines wisse›, weder ‹was Zorn sei›, noch ‹dass wider solchen Zorn eine Arzenei sie in der Barmherzigkeit Gottes›.³⁵
Als Zentrum der Theologie Luthers stellt Th. Harnack das Gottesverständnis heraus, wonach Gott sowohl als zorniger und verborgener Richter als auch als Versöhner und Erlöser wirke. Anders als Ritschl ordnet er Luther aber nicht in die Theologiegeschichte ein und achtet kaum auf den historischen Kontext der interpretierten Schriften, so dass Harnacks Luther in gewissem Sinne überzeitlich-monolithischen Charakter trägt.Während Ritschls Lutherinterpretation von seinen Schülern Adolf von Harnack und Wilhelm Herrmann weiterentwickelt wurde, wurde Theodosius Harnacks Lutherwerk lediglich in konservativ-konfessionellen Kreisen rezipiert. Erst 1927 sollte es durch die Dialektische Theologie neue Aufmerksamkeit finden.
6 Harnack und Troeltsch – Theologische und religionssoziologische Lutherdeutungen im Übergang zum 20. Jahrhundert 6.1 Adolf von Harnack – Luther im Gefüge eines „undogmatischen Christentums“ Theodosius Harnacks Sohn Adolf folgte in seiner Darstellung der Dogmengeschichte nicht seinem Vater, sondern Ritschl, und sah in Luther die Wiederherstellung des paulinischen Christentums im Geiste der neuen Zeit, so sehr die Reformation Luthers auch noch dem Mittelalter verpflichtet sei. Seine Einschätzung des Reformators in seiner Dogmengeschichte ³⁶ ist entsprechend ambivalent: Einerseits habe der Reformator die Innerlichkeit der Religion wiederentdeckt, andererseits habe er das dogmatisch orientierte Christentum der Alten Kirche repristiniert. „Derselbe Mann, der das Evangelium von Jesu Christo aus dem Kirchenthum und dem Moralismus befreit hat, hat seine Geltung in den Formen der altkatholischen Theologie verstärkt, ja diesen Formen nach Jahrhunderte langer Quiescierung erst wieder Sinn und Bedeutung für den Glauben verliehen.“³⁷ Harnacks Anschauung, dass der Kern des Christentums „undogmatisch“ sei, fußte auf der These, dass für Luther Glaube in der ursprünglichen Ausübung christlicher Freiheit bestehe, die sich im Sinne organischen Entwicklungsdenkens als Entfaltung christlicher Nächstenliebe auch als gesamtgesellschaftlich kulturprägend erweise.
Ebd., Bd. 1, 363 – 364. A. Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte, 3 Bde., Freiburg, 1886 – 1890. Ders., Lehrbuch der Dogmengeschichte, 4. Aufl., Bd. 3, Tübingen, 1910, 814.
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6.2 Ernst Troeltsch – Luther und die Frage des Beginns der Neuzeit Ernst Troeltsch ordnete – wie Ritschl – Luthers Verhaftung im Nominalismus als mittelalterliches Relikt ein und unterschied zwischen Alt- und Neuprotestantismus, das heißt zwischen der zwar den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit darstellenden, aber letztlich doch mehr dem Mittelalter verhafteten Reformation einerseits und der Transformation der Reformation in die neuzeitliche personale Gewissensreligion andererseits, die die Souveränität der menschlichen Person gegenüber der Welt ermöglicht und die Welt zugleich sittlich-religiös beherrschen lässt. Die so verstandene personale Gewissensreligion nimmt auf diese Weise die Funktion eines obersten Leitwertes für die Kultur ein. In dieser Funktion habe der Neuprotestantismus „eine große Aufgabe in der modernen Welt, die seinem eigensten inneren Wesen entspricht: die Einverleibung der ethischen Selbstwerte des innerweltlichen Lebens in ein letztes Lebensziel, das uns in der Gemeinschaft mit Gott über die Welt und ihre doch nur vorläufigen und relativen Werte erhebt“.³⁸ Luther erscheint in dieser Kultursynthese beziehungsweise deren religionssoziologischer Fundierung wesentlich als Gestalt des Mittelalters, während der Schritt in die neue Zeit vor allem den von den Konfessionskirchen abgedrängten Strömungen der Spiritualisten und Täufer zugeschrieben wird. Sie hätten, zu großen Teilen vertrieben in die Neue Welt, in ihrer Rückwirkung auf Europa das Heraufziehen der Aufklärung maßgeblich befördert, und damit eine völlig neue Form des Protestantismus und seiner Theologie hervorgebracht. Der Neuprotestantismus stehe daher Gestalten wie Sebastian Franck näher als Luther.³⁹ Troeltschs Kultursynthese, die bei gleichzeitiger Wahrung der religiösen Selbständigkeit des Individuums die sittlichen Kulturwerte des Glaubens zu vermitteln suchte, geriet mit der Desillusionierung des Kulturidealismus, die durch den Ersten Weltkrieg hereinbrach, in eine Krise. Zwei die protestantische Theologie im 20. Jahrhundert lange prägende Aufbrüche – mit je unterschiedlichem Bezug zu Luther – erwuchsen aus dieser Krise.
E. Troeltsch, „Luther, der Protestantismus und die moderne Welt“ (1907/08), in: Troeltsch. Gesammelte Schriften, Bd. 4, Tübingen, 1925, 230. E. Troeltsch, Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit (1906/1909/1922) [Troeltsch. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 7, Berlin / New York, 2004]; Ders., Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906 – 1913) [Troeltsch. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 8, Berlin / New York, 2002]; Ders., Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen, 1912.
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7 Neueinsätze in krisenhafter Zeit: Lutherrenaissance und Dialektische Theologie 7.1 Karl Holl und der Beginn der Lutherrenaissance Der erste der beiden Neuaufbrüche stand durchaus in partieller Kontinuität zu den vorhergehenden Strömungen, profitierte aber stark von der seit 1883 sukzessive erscheinenden kritischen Edition der Schriften Luthers und der zeitlich mit dieser einhergehenden Entdeckung der frühen Römerbrief- und Psalmen-Vorlesungen desselben. Mit historischer Präzision und systematisch-theologischer Tiefenschärfe hatte Karl Holl, ein eigentlich aus der Patristik kommender Schüler Adolf von Harnacks, bereits in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg begonnen, sich intensiv mit Luther zu beschäftigen. Holl führte teilweise die Lutherdeutung Ritschls und Herrmanns weiter, wandte sich aber entschieden gegen Troeltsch. Er setzte dessen Interpretation die dezidierte Deutung Luthers als Begründers der Neuzeit entgegen, sowohl im Hinblick auf Luthers Konzeption des Gott-Mensch-Verhältnisses als auch im Hinblick auf aktives, weltgestaltendes Handeln. In seiner vielbeachteten Rede zum Reformationsjubiläum 1917 mit dem Titel Was verstand Luther unter Religion? ⁴⁰ hatte sich Holl um eine Neubestimmung der Religion Luthers als einer theonomen Gewissensreligion bemüht, aus der wiederum ein Neubau der Sittlichkeit ⁴¹ hervorgehe – und nicht umgekehrt. Anders als für Ritschl spielte für ihn auch die Kategorie des Zornes Gottes wieder eine Rolle. In der Rede von 1917 – also zu einem Zeitpunkt, da sich das Scheitern der deutschen Kriegspläne schon abzeichnete – und in seinem wirkungsgeschichtlich bedeutsamen Aufsatzband Luther von 1921⁴² entfaltete Holl ein Lutherbild, das zwar nicht ganz frei war von den nationalen Konstruktionen des 19. Jahrhunderts, das sich aber doch gegen eine nationale Vereinnahmung Luthers wandte und sich in elementarer Weise ganz auf dessen religiöse Entdeckung konzentrierte, nämlich die Botschaft von der Rechtfertigung. Hier lokalisierte Holl das Zentrum der Theologie Luthers. Mit hoher methodischer Präzision rekonstruierte er das Werden von Luthers Verständnis der Rechtfertigung des Menschen durch Gott anhand der frühen Texte, insbesondere der frühen Vorlesungen. In seiner Deutung der Rechtfertigungslehre verknüpfte Holl Dimensionen von menschlicher Erfahrung und Theozentrik: Der Mensch erfährt sich als der Gemeinschaft mit Gott völlig unwürdig; dass Gott aber den Menschen anerkennt und Gemeinschaft mit ihm stiftet, das ist die Erfahrung der Rechtfertigung, gerade in krisenhafter Zeit. Der Ort des Gottesverhältnisses ist dabei für Holl das Gewissen. In seiner Lutherdeutung erscheint Christus als das Werkzeug Gottes, das die Einigung des Menschen mit Gott, und zwar als Einigung K. Holl, Was verstand Luther unter Religion?, Tübingen, 1917. Ders., „Neubau der Sittlichkeit“ (1919), in: ders., Luther. Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 1, Tübingen, 1921, 131– 244. K. Holl, Luther. Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 1, Tübingen, 1921.
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des Willens, vollzieht. Die dieses göttliche Wirken ausdrückende Rechtfertigung soll „analytisch“ verstanden werden, da Gott im Rechtfertigungsurteil bereits die zukünftige Erneuerung des Menschen als stattgefundene Wirklichkeit sehen könne. Da Gottes Wille ein wirksamer Wille ist, verändert Gottes Wille auch die Wirklichkeit des Menschen und ist damit zugleich Gerechterklärung als auch Anfang der Gerechtmachung des Menschen. Die Orientierung am Willen setzt die neukantianische Lutherdeutung fort, die Argumentation in paradoxalen Strukturen („zukünftig – schon jetzt“) verweist auf die existentielle Seite der Lutherdeutung Holls.
7.2 Der Aufbruch der Dialektischen Theologie Der Verweis auf paradoxale Strukturen und existentiale Interpretationsweisen deutet bereits in Richtung des zweiten theologischen Neuaufbruchs dieser Zeit, der zunächst unter der Bezeichnung einer „Wort-Gottes-Theologie“ firmierte, langfristig aber als „Dialektische Theologie“ bezeichnet werden würde. Hier fanden sowohl Theologen mit lutherischem als auch mit reformiertem Hintergrund wie Karl Barth, Friedrich Gogarten, Eduard Thurneysen, Paul Tillich und Rudolf Bultmann zueinander – und auch wieder voneinander fort. Ansatzpunkt dieses theologischen Neuaufbruchs war, angesichts der umwälzenden Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, zu denen auch das Irrewerden an der Vorstellung einer apriorischen Präsenz Gottes in der religiös-sittlichen Selbsterfahrung des Menschen gehörte, wieder aufgrund der Offenbarung von Gott selbst und seinem Handeln zu reden anstatt von seinen Wirkungen in der Religion des Menschen. Unter intensivem Rückgriff auch auf die reformatorische Theologie Luthers versuchte man, das unbegreifliche Handeln Gottes in der Geschichte als sich dialektisch in Gericht und Gnade vollziehend zu verstehen. Gegen die von Holl noch verwendeten Begrifflichkeiten des „Sittlichen“ und des „Gewissens“ zeigte man sich skeptisch. Gogarten edierte unter anderem Luthers De servo arbitrio ⁴³ und sah in der Religion nicht mehr die Spitze, sondern die Krise der Kultur „zwischen den Zeiten“, das heißt den Aporien des 19. Jahrhunderts und einer neu zu formulierenden Theologie des Wortes Gottes zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Zu verstehen ist dies nicht als ein die Aktivität des Menschen hemmender Kulturpessimismus, sondern als Relativierung menschlicher Machbarkeitsvorstellungen im Angesicht des göttlichen Gerichts. In diesem Sinne sieht sich Gogarten auch in Übereinstimmung mit Luther. Unter Berufung auf Luther fragt er nach einem neuen Wirklichkeitsverständnis unter den Vorzeichen von Gesetz und Evangelium.⁴⁴ M. Luther, Vom unfreien Willen, hg. und mit einem Nachwort von F. Gogarten, München, 1924. F. Gogarten, „Theologie und Wissenschaft. Grundsätzliche Bemerkungen zu Karl Holls ‚Luther‘“, in: Die Christliche Welt 38, 1924, 34– 43, 71– 80, 121– 122; Ders., Illusionen. Eine Auseinandersetzung mit dem Kulturidealismus, Jena, 1926.
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Die Frage nach dem Verhältnis von Gesetz und Evangelium sollte vor allem auch für Karl Barth, dessen Lehrer der Ritschl-Schüler Wilhelm Herrmann gewesen war, eine Rolle spielen, der sich als Reformierter zwar ebenfalls mit Luther auseinandersetzte, allerdings kein klar konturiertes Lutherbild gezeichnet hat.⁴⁵ Barth teilte mit Luther die Überzeugung von der lebendigen Kraft des Wortes Gottes und die Christozentrik. Unnachgiebige Kritik äußerte er dagegen zunehmend an Luthers Lehre von Gesetz und Evangelium und seinem Verständnis menschlicher Handlungsoptionen. Nachdem er vor allem in den späten 1920er Jahren sich Luther intensiver zugewandt hatte, ist ab den 1930er Jahren eine deutliche Distanzierung zu beobachten.
8 Luther und die Ordnung der Welt – die Herausforderungen der späten 1920er und 1930er Jahre Zu einer Verbindung der Einsichten der Lutherrenaissance mit Ansätzen der Dialektischen Theologie war es vor allem durch Walther von Loewenichs Studie zur Kreuzestheologie⁴⁶ gekommen. Karl Barth betonte im ersten Band seiner Kirchlichen Dogmatik, ähnlich wie von Loewenich, die Angemessenheit von Luthers Glaubensanalogie und Worttheologie, um zu zeigen, dass – anders als in Holls analytischer Rechtfertigungslehre – in der Rechtfertigung Wort und Glaube die Einwohnung Gottes im Menschen konstituieren.⁴⁷ Barths frühe theologische Kritik an Luther richtete sich auf das Überschreiten der eschatologischen Grenze zwischen Endlichem und Unendlichem, seine spätere Kritik gegen in seinen Augen unangemessene ontologische Gleichungen in der Christologie Luthers.⁴⁸ Politische Relevanz erhielten die theologischen Distinktionen durch die äußeren Entwicklungen der 1930er Jahre. Der ausbrechende Kirchenkampf führte zum Zerbrechen einer gemeinschaftlichen Dialektischen Theologie und gegen Gogartens These vom Aufbrechen des Gesetzes Gottes unter dem Volksnomos⁴⁹ zum Streit um das lutherische Verständnis von Gesetz und Evangelium. Hier war in besonderer Weise das Erlanger Neuluthertum involviert, wo sich unter Paul Althaus⁵⁰ und Werner
Die einzige zusammenhängende Würdigung Luthers findet sich in K. Barth, Lutherfeier 1933, München, 1933, 8 – 12. W. v. Loewenich, Luthers theologia crucis, München, 1929. K. Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. 1/1, München, 1932, 252– 253. Ders., Kirchliche Dogmatik, Bd. 4/1, München, 1953, 586 – 588; Bd. 4/2, 1955, 88 – 90. F. Gogarten, Einheit von Evangelium und Volkstum?, Hamburg, 1933; Ders., Ist Volksgesetz Gottes Gesetz?, Hamburg, 1934. P. Althaus, Theologie der Ordnungen, Gütersloh, 1934; Ders., Kirche und Staat nach lutherischer Lehre, Leipzig, 1935; Ders., Luther und die politische Welt, Weimar, 1937.
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Erlert⁵¹ ein theologischer Ansatz ausgeprägt hatte, der die schöpfungstheologischen Aspekte gegenüber den rechtfertigungstheologischen im Werk Luthers deutlich akzentuierte und durch die Betonung der in der Schöpfung gesetzten Ordnungen die Grundlage für eine Hervorhebung des Volksbegriffs schuf, wie sie für die kirchliche Gegenwartsanalyse bestimmend werden sollte. Auf dieser Grundlage war eine Mehrheit der deutschen Lutherforscher schon vor 1933, mit aller Deutlichkeit dann aber auch nach 1933 anfällig für eine nationalsozialistisch vereinnahmte Lutherdeutung, darunter Gelehrte wie Emanuel Hirsch⁵² oder Erich Seeberg.⁵³ In dieser Auseinandersetzung rückte Barth ab 1933 schließlich immer mehr von Luther ab und sprach sich für die Reihenfolge von Evangelium und Gesetz bzw. für das Gesetz als Form des Evangeliums aus. Der Streit um Luthers Verständnis der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium und die lutherische Zwei-Reiche-Lehre sollte die Lutherforschung im 20. Jahrhundert weiter beschäftigen (unter anderem Wilfried Joest, Hans Iwand, Gerhard Ebeling, Eberhard Jüngel, Oswald Bayer, Bertold Klappert).
9 Lutherforschung nach 1945 Die Entwicklung neuer Wege in der Lutherforschung erfolgte nach 1945 keinesfalls abrupt, sondern – bedingt auch durch die zahlreichen Kontinuitäten im akademischen Lehrbetrieb – allmählich. Beobachten lässt sich, dass aber doch um eine gewisse Kompatibilität des Lutherbildes mit der von Barth geprägten vorherrschenden systematischen Theologie gerungen wurde.
9.1 Gerhard Ebeling – Luther und die Hermeneutik des Wortes Gottes Von besonderer Bedeutung in diesem Ringen sind die Arbeiten von Gerhard Ebeling, der Einsichten von Lutherrenaissance und dialektisch-existentialer Theologie fruchtbar und zukunftsweisend weiterentwickelte. Seine frühen Studien zu Luthers Hermeneutik, allen voran seine Dissertation Evangelische Evangelienauslegung, ⁵⁴ versuchen aufzuzeigen, dass Luther mit mittelalterlichen Auslegungstraditionen gut vertraut war, aber schon in seinen frühen Vorlesungen zu einer eigenen in die Neuzeit weisenden Position strebte, die den historischen Sinn mit der Dimension des an den moralischen Schriftsinn anknüpfenden pro nobis verband. Der Schwerpunkt der
W. Elert, Morphologie des Luthertums, München, 1931. E. Hirsch, Deutsches Volkstum und evangelischer Glaube, Hamburg, 1934. E. Seeberg, Martin Luther. Gedächtnisrede zu seinem 450. Geburtstag. bei der Gedenkfeier der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin 1933, Berlin, 1933. G. Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung. Eine Untersuchung zu Luthers Hermeneutik, München, 1942.
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Theologie Luthers habe sich dabei vor allem in die Hermeneutik verlagert, in deren Kontext auch die Rechtfertigungslehre – entgegen etwa einer individualistischen Engführung im Gefolge Hirschs – zu verstehen sei. Durch das auf die Schrift bezogene extra nos zeigte sich Ebeling auch skeptisch für eine von der Mystik bestimme Lutherinterpretation wie die Seebergs. Zentral für Ebelings Lutherinterpretation sind aber die dialektischen Unterscheidungen, durch die er Luthers Theologie aufgebaut sieht: Buchstabe – Geist, coram deo – coram hominibus, geistlich – weltlich, Glaube – Werk, Wort – Glaube.⁵⁵ Besonders in seinem Spätwerk⁵⁶ spricht Ebeling von der „relationalen Ontologie“ Luthers, die von Verhältnissen und Qualitäten ausgeht und darüber die Seinsweise des Menschen vor Gott bestimmt. Die vielen Schüler Ebelings, zum Beispiel Reinhard Schwarz, Karl Heinz zur Mühlen und Pierre Bühler, haben diesen relationalen Ansatz weitergeführt und zu einer prominenten theologischen Position in der deutschen Lutherforschung der letzten Jahrzehnte entwickelt.
9.2 Ernst Bizer und die Frage des reformatorischen Durchbruchs – sowie die der Methodik der Lutherforschung In den Forschungsdebatten, die sie anstießen, sind für die 1950er Jahre neben Ebeling die Arbeiten von Ernst Bizer von Bedeutung. In seinem Hauptwerk Fides ex auditu ⁵⁷ fragt Bizer nach den Anfängen Luthers als Reformator und plädiert entgegen einer sich auf das große Selbstzeugnis Luthers von 1545 stützenden „Frühdatierung“, wie sie von Holl vertreten worden war, für eine „Spätdatierung“ unter Annahme einer noch mit dem Mittelalter zu verbindenden Demutstheologie, die Luther rezipiert habe. Wie der Titel seines Werkes schon anzeigt, war für Bizer vor allem die Dimension des Wortes, aus dessen Hören der Glaube entsteht, die entscheidende reformatorische Entdeckung Luthers – Anklänge an die zeitgenössische Wort-Gottes-Theologie sind deutlich. Die von Bizer ausgehende und in den 1960er Jahren intensiv, im Grunde bis heute geführte Forschungsdebatte drehte sich um die beiden Fragen, was materialiter der Kern der reformatorischen Entdeckung Luthers sei und wie diese zeitlich einzuordnen ist. Im Hinblick auf die zeitliche Einordnung ging die Tendenz der Forschung im Zuge der Diskussion in Richtung einer Spätdatierung, in deren Zusammenhang Elemente einer allmählichen Entwicklung und einer punktuellen Durchbruchserfahrung unterschiedlich akzentuiert wurden. Umstrittener – da letztlich an den Kern lutherischen Selbstverständnisses rührend – war die Frage nach dem Inhalt der reformatorischen Entdeckung. Methodisch wurden hier die Schwierigkeiten einer Vermittlung zwischen systematisch-theologischen Prämissen und historischer Analyse deutlich. Die aus diesem Ringen hervorgehenden großen Synthesen von Oswald Ders., Luther. Einführung in sein Denken, Tübingen, 1964. Ders., Dogmatik des christlichen Glaubens, 3 Bde., Tübingen, 1979. E. Bizer, Fides ex auditu. Eine Untersuchung über die Entdeckung der Gerechtigkeit Gottes durch Martin Luther, Neukirchen, 1958.
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Bayer⁵⁸ und Karl Heinz zur Mühlen⁵⁹ sind letztlich systematisch-theologisch angelegt. Die Durchbruchsdebatte ist daher auch allgemein für die methodische Ausrichtung der Lutherforschung von Bedeutung gewesen. Kurt Aland war derjenige, der in diesem Zusammenhang Mitte der 1960er Jahre für eine historisch-biographisch ausgerichtete Lutherforschung plädiert hat.⁶⁰ Diese hatte sich in dieser Zeit bereits angebahnt und sollte sich in der Folgezeit durchsetzen – unter anderem abzulesen darin, dass zwischen der Theologie Luthers von Paul Althaus aus dem Jahr 1962⁶¹ und Luthers Theologie von Bernhard Lohse 1995⁶² keine entsprechende Gesamtdarstellung mehr erscheinen sollte.
9.3 Heiko A. Oberman und der mittelalterliche Luther Im Zuge einer konsequenteren „Historisierung“ der Lutherforschung wurden – neben einer weiter unten zu verhandelnden Integration sozialgeschichtlicher Zugänge – auch weiterhin theologiegeschichtliche Themen bearbeitet. Als nachhaltig sollten sich dabei die Arbeiten von Heiko A. Oberman erweisen.⁶³ In großer Dichte untersuchte er die spätmittelalterlichen Voraussetzungen der Theologie Luthers und stellte die Kontinuitäten zwischen Spätmittelalter und Reformation in der Entwicklung Luthers heraus. Sowohl Luthers Anknüpfung an begriffliche und sachliche Themen in der scholastischen Theologie Gregor von Riminis, Wilhelm von Ockhams und Gabriel Biels als auch an Elemente von Mystik und Devotio moderna bringt er hierfür in Anschlag – Bezüge, die die historische Lutherforschung in der Folgezeit vor allem in Deutschland (zum Beispiel Berndt Hamm) und in Amerika (zum Beispiel David Steinmetz) beeinflusst haben.
9.4 Bernd Moeller und Luther im Rahmen der Sozialgeschichte Der zweite Strang der historiographischen Neuorientierung ist vor allem mit dem Namen Bernd Moeller verbunden. 1962 veröffentlichte er seine Studie Reichsstadt und Reformation,⁶⁴ in der er Elemente einer sozialhistorischen Betrachtungsweise in die Reformationsforschung einbrachte. Die Städte als primärer Kontext für die Durch-
O. Bayer, Promissio. Geschichte der reformatorischen Wende in Luthers Theologe, Göttingen, 1971. K. H. zur Mühlen, Nos extra nos. Luthers Theologie zwischen Mystik und Scholastik, Tübingen, 1972. K. Aland, Der Weg zur Reformation. Zeitpunkt und Charakter des reformatorischen Erlebnisses Martin Luthers, München, 1965. P. Althaus, Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh, 1962. B. Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen, 1995. H. A. Oberman, Spätscholastik und Reformation, 2 Bde., Zürich, 1965 – 1977. B. Moeller, Reichsstadt und Reformation, Gütersloh, 1962.
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setzung der Reformation profilierte Moeller im Kontext des durch die Medienrevolution möglich gemachten Aufschwungs der Flugschriftenpublizistik. Für diese ist Luther zwar die zentrale Figur, es zeichnet sich aber bereits eine Entwicklung ab, die innerhalb der Reformationsgeschichte in der Folgezeit den Fokus von Luther weglenken sollte. Neben ihn traten andere städtische Reformatoren. Zudem fragten die sozialgeschichtlichen Zugangsweisen stärker nach Gruppenprozessen und Strukturen.⁶⁵ Die Beschäftigung mit Luther nahm demgegenüber signifikant ab.
10 Die 1980er Jahre, die Internationalisierung der Lutherforschung – und ein Ausblick Das änderte sich erst wieder zu Beginn der 1980er Jahre, in die zumindest koinzidierend das große Lutherjubiläum von 1983 fällt. In dieser Zeit sind es vor allem biographische Arbeiten, die erscheinen: die große und materialreiche Luther-Biographie von Martin Brecht,⁶⁶ eine essayistisch-provokante, gleichwohl fundierte Darstellung Luthers von Heiko A. Oberman,⁶⁷ das sehr filigran Historisches und Theologisches verbindende Luther-Buch von Reinhard Schwarz.⁶⁸ Im Zuge des Lutherjubiläums von 1983 ist zu beobachten, dass auch in der marxistisch geprägten Historiographie der DDR Luther zumindest phasenweise stärker in den Vordergrund rückt. Dort hatte es immer auch Kirchenhistoriker wie Walter Elliger, Franz Lau und Helmar Junghans oder kirchlich geprägte Historiker wie Karlheinz Blaschke gegeben, die sich gegen eine sozialistische Vereinnahmung historischer Forschung wehrten und eine historiographisch eigenständige Luther- und Reformationsforschung betrieben.⁶⁹ Die 1980er Jahre sind darüber hinaus eine Zeit, in der die finnische Lutherforschung vor allem durch Beiträge von Tuomo Mannermaa, Simon Peura und Risto Saarinen zum Motiv der „Theosis“ bei Luther in einen internationalen Diskurs eintritt.⁷⁰ Kritisch setzen sich diese Beiträge mit der seit Ritschl wahrgenommenen Ethisierung des reformatorischen Glaubens und der Vernachlässigung ontologischer Kategorien auseinander. Sie betonen – inspiriert von ökumenischen Dialogen – den Aspekt der „Unio“ mit Christus bei Luther und die damit einhergehende Umwandlung
Vgl. die Arbeiten Peter Blickes zum Kommunalismus oder die von Heinz Schilling, Wolfgang Reinhard und anderen zu Konfessionalisierung und Sozialdisziplinierung. M. Brecht, Martin Luther, 3 Bde., Stuttgart, 1981– 1987. H. A. Oberman, Luther. Mensch zwischen Gott und Teufel, Berlin, 1981. R. Schwarz, Luther, Göttingen, 1986. Vgl. das große Sammelwerk (auch mit Beiträgen aus anderen Ländern): H. Junghans (Hg.), Leben und Werk Martin Luthers von 1516 bis 1546, 2 Bde., Berlin, 1983. T. Mannermaa, Der im Glauben gegenwärtige Christus. Rechtfertigung und Vergottung, Hannover, 1989; S. Peura, Mehr als ein Mensch? Die Vergöttlichung als Thema der Theologie Martin Luthers von 1513 bis 1519, Helsinki, 1990; R. Saarinen, Gottes Wirken auf uns. Die transzendentale Deutung des Gegenwart-Christi-Motivs in der Lutherforschung, Göttingen, 1989.
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des ganzen Menschen. Andere Kategorien als die auf Rechtfertigung und Heilsgewissheit fokussierte deutsche Forschung machte auch die schwedische Forschung stark, die seit den 1920er Jahren vor allem das „Kampfmotiv“ zwischen Gott und Satan bzw. Geist und Fleisch in Luthers Theologie betonte, auch in seinen Auswirkungen auf das Verhältnis von Gesetz und Evangelium und die Zwei-Regimenten-Lehre.⁷¹ Der Finne Lennart Pinomaa knüpfte mit seinen Forschungen zum Zorn Gottes an diese Ansätze an.⁷² Anders als die deutsche Lutherforschung hat sich die US-amerikanische traditionell stärker mit der Biographie Martin Luthers beschäftigt als mit seiner Theologie. Dabei hat sie bestimmte Konjunkturen und Phasen durchlaufen, die verschränkt sind auch mit der populären Kommemoration. So findet die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts intensivierende Beschäftigung mit Luther ihren deutlichen Höhepunkt mit dem Jubiläum von 1883. Um die Jahrhundertwende erschienen mehrere Übersetzungen deutscher wissenschaftlicher Werke.⁷³ Wesentliche Beiträge zur Lutherforschung verbinden sich mit dem der „New History School“ entstammenden Preserved Smith, der sich unter anderem intensiv mit den Tischreden auseinandersetzte.⁷⁴ Blickt man auf die folgenden Jahrzehnte, aus denen rezeptionsgeschichtlich vor allem die Lutherbiographie von Roland Bainton⁷⁵ herausragt, so lassen sich nicht in gleicher Weise systematische Schulbildungen erkennen wie im deutschsprachigen Raum. Es begegnet eine große Vielfalt an methodischen Zugängen und verhandelten Themen, und auch hier hat Heiko A. Oberman – der zuletzt in den USA lehrte – eine Schülergeneration geprägt. Um ein umfassenderes Bild der protestantischen Beschäftigung mit Luther in der Historiographie und Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts zu gewinnen – und das soll im Sinne eines Ausblicks am Ende stehen –, werden in Zukunft Forschungen notwendig sein, die die Transferprozesse zwischen den unterschiedlichen wissenschaftlichen Kulturen in den Blick nehmen und den Protestantismus in seiner ganzen Breite berücksichtigen – baptistische Stimmen werden zum Beispiel tendenziell ein anderes Profil tragen als lutherische – und die auch den Übergang akademischer in populäre literarische Genres untersuchen. Dafür mag abschließend die mehrbändige Reformationsgeschichte Merle d’Aubignes stehen:⁷⁶ Sie wurde nicht nur in zwölf Sprachen übersetzt, sondern hat, zum Teil auch in auf Luther zugespitzten Extrakten,
G. Aulén, Das christliche Gottesbild in Vergangenheit und Gegenwart, Gütersloh, 1930; A, Nygren, Eros und Agape, 2 Bde., Gütersloh, 1930 – 1937; G. Wingren, Luthers Lehre vom Beruf, München, 1952. L. Pinomaa, Der Zorn Gottes in der Theologie Luthers, Helsinki, 1937. J. Köstlin, The Theology of Luther, Philadelphia, 1897; H. Grisar, Luther, St. Louis, 1913 – 1917; H. Denifle, Luther and Lutherdom, Sommerset, OH, 1917. P. Smith, Luther’s Table Talks. A Critical Study, New York, 1907; Ders., The Life and Letters of Martin Luther, Boston, 1911. R. Bainton, Here I Stand. A Life of Martin Luther, Nashville, 1950. J.-H. Merle d’Aubigné, Histoire de la Réformation du seizième siecle, 5 Bde., Paris, 1835 – 1853.
Luther in der protestantischen Historiographie und Theologie
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durch Traktatgesellschaften und religiöse Gesellschaften beiderseits des Atlantiks weite Verbreitung gefunden.⁷⁷
Vgl. etwa The great reformer, or, sketches of the life of Luther. By the author of „Claremont tales“. Chiefly collected from D’Aubignè’s History of the Reformation, Philadelphia, o.D., oder die ab den 1840er Jahren erscheinenden Bände der History of the Reformation in the sixteenth century im Programm der American Tract Society in New York und der Religious Tract Society in London.
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Luther und das Dritte Reich: Konsens und Bekenntnis 1 Politische Theologie und Lutherrenaissance 1.1 Wer die namhaftesten Neuerscheinungen zu Martin Luther am Jahreswechsel 1932/ 33 Revue passieren ließ – am Vorabend der Wahl Hitlers zum Reichskanzler und des 450. Geburtstags des Wittenberger Reformators im November 1933 – konnte sich nur schwer des folgenden Eindrucks entziehen: Die akademischen Wortführer lutherischer Theologie diagnostizierten eine auf Entscheidungen hin zugespitzte Krise von Staatsorganen, republikanischer Verfassung und demokratischer Volkssouveränität, die sie durch geschichtstheologische Deutungskategorien wie „Gericht“ oder „schicksalhafte Not“ überschärften. Sie antworteten auf ihre Diagnose mit Entwürfen „einer werdenden neuen evangelischen Staatslehre“.¹ Drei prominente Titel des Jahres 1932 bilden die Ausgangskonstellation einer Illusion namens „neue evangelische Staatslehre“: Friedrich Gogartens Politische Ethik, Werner Elerts Morphologie des Luthertums und Emanuel Hirschs Traktat Vom verborgenen Suverän. ² Sie zeigen: Die Kontroverse um eine neue evangelische Staatslehre wurde als Kontroverse um Gehalt und Geltung von Martin Luthers Erbe geführt. Zeitgemäß aktualisiert werden sollten Grundfiguren der frühreformatorischen politischen Orientierung Luthers, insbesondere die viel diskutierte Unterscheidung einer weltlich-politischen Geltungssphäre, eines „weltlichen Reiches Gottes“ als Schöpfungssphäre „natürlichen Rechts“ und „weltlicher Obrigkeit“, einer religiös-christlichen Geltungssphäre, eines „geistlichen Reiches Gottes“, sei es in Gestalt von Kirche als „Priestertum aller Getauften“, sei es in Gestalt von „Christenheit“ als Personenverband, der sich in den gesellschaftlichen Berufen als Berufsethik realisiert. In den Aktualisierungen des Jahres 1932 wurden daraus Konzepte eines autoritären oder totalitären Staates im Namen völkischer Souveränität, also Gegenentwürfe zur Herrschaft des liberalen Rechtsstaats. Sie verbanden sich mit einem anderen Reformprogramm, dem Programm einer evangelischen Nationalkirche als „Volkskirche“ aus dem Prinzip des Priestertums aller Getauften als Quelle „charismatischer“, außerweltlicher Autorität. Eine synodale und episkopale Reform der Landeskirche aus diesem Prinzip und der Zusammenschluss der reformierten, unierten und lutheri-
E. Hirsch, „Vom verborgenen Suverän“, in: Glaube und Volk 2, 1933, 4– 13, hier: 5 (Suverän als versuchte Eindeutschung). F. Gogarten, Politische Ethik. Versuch einer Grundlegung, Jena, 1932; W. Elert, Morphologie des Luthertums Bd. 2, Soziallehren und Sozialwirkungen des Luthertums, Mü nchen, 1932; Hirsch, Vom verborgenen Suverän. https://doi.org/9783110498745-058
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schen Bekenntniskirchen zu einem Bund namens Deutsche Evangelische Kirche sollten die staatskirchlichen Kirchenbürokratien ersetzen. Nach dem Ende evangelischer Staatskirchen im Jahr 1918 sollte diese Reform die Selbständigkeit von Volkskirchen (innerhalb des Religionsrechts der Weimarer Reichsverfassung!) innerkirchlich verwirklichen. Diese beiden Reformprogramme trafen im Jahr 1933 auf den gewaltsam sich etablierenden NS-Staat, dessen Gleichschaltungszugriff das innere Reformprogramm der evangelischen Kirchen mit dessen Illusionen konfrontierte und dessen sich schnell manifestierender Charakter als Unrechtsstaat die genannten Staatslehren als Ideologeme erwies. Die kritischen Gegenstimmen in der theologischen Diskussion um Luther, die bei näherem Hinsehen bereits 1932/33 wirksam waren, gewannen bis Ende des Jahres 1934 mehr und mehr an Gewicht. In drei öffentlichen Kontroversen konfigurierte sich die Diskussion um Gehalt und Geltung von Luthers Erbe: (a) Die Anordnung bzw. die Verweigerung eines Treueids auf den Führer in Staat und Kirche machte die konzeptuelle Differenz zwischen einer Option für den völkischen Führerstaat und einer Option für den republikanischen Verfassungsstaat in der evangelischen Staatslehre als unvereinbare Positionen sichtbar. (b) Die Kontroverse um die Übernahme des sogenannten „Arierparagraphen“ in die Kirche (1933) und die Formierung einer Bekennenden Kirche dagegen ließ innerhalb des Luthertums die Differenz zwischen völkischen, latent rassistischen Schöpfungsordnungstheologien und liberalen Voten gegen rassistische Sondergesetze und für die übergeordnete Herrschaft des „natürlichen Rechts“ und der „Rechtsgleichheit“ unvereinbar werden. (c) Die Realität einer volkskirchlichen Bekenntniskirche, die sich im Gefolge der ersten beiden Bekenntnissynoden der Deutschen Evangelischen Kirche im Jahr 1934 kraft eigener Rechtsautonomie bildete, kollidierte unvereinbar mit der Gewaltkonstruktion einer deutsch-christlichen Nationalkirche, in welcher der Führer summepiskopale (höchstbischöfliche) Rechtshoheit haben sollte. Es stellte sich die Entscheidung, wo in Wahrheit Luthers „geglaubte Kirche als allgemeines Priestertum aller Getauften“ zu finden war. Mit dem gewaltsam konsolidierten NS-Unrechtsstaat, also zwischen den Juni-Morden 1934, dem neuen Treueid auf den Führer und Reichskanzler Adolf Hitler im August 1934 und dem Sturz des deutsch-christlichen Kirchenregiments im Oktober 1934, traten diese drei Kontroversen in ein Stadium kirchlicher Entscheidungen ein. Die Diskussion um Luthers Erbe in Fragen der evangelischen Staats- und Rechtslehre und des völkischen Rassismus verfestigte sich hingegen in unvereinbare Positionen. Erst nach einer Phase der Stagnation und Latenz erhielt diese Diskussion um Luthers Erbe ab 1938 von Theologen einer jüngeren Generation neue Impulse. 1.2 Drei Programme der Lutherforschung in der Weimarer Republik riefen zwischen 1917 und 1933 insgesamt eine Renaissance Luthers hervor. Sie trafen jetzt in den ge-
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nannten Kontroversen (dem sogenannten „Kirchenkampf“) aufeinander: die Dialektische Theologie, der lutherische Konfessionalismus und die Lutherrenaissance im engeren Sinn. Diese drei Netzwerke lösten sich zwischen 1933 und 1935 auf und gruppierten sich entlang der Grenzen von Bekennender Kirche und deutsch-christlichen Kirchen, von „volkskirchlichen Mittelparteien“ und homogen lutherischen, sogenannten „intakten Landeskirchen“, neu. Die Darstellung der wissenschaftlichen Positionen der „Interpretation“ kann daher vom öffentlichen „Gebrauch“ Luthers in den kirchlichen Entscheidungen nicht völlig absehen. (a) Das wichtigste Forschungsnetzwerk der Lutherforschung war die deutsche und skandinavische Lutherrenaissance. ³ Sie war eine akademische, konfessionskulturelle und ökumenische Reformbewegung, die in den nationalen Konfessionskulturen in unterschiedlicher Weise wirkte.⁴ Die schwedischen Lutheraner waren republikanisch, demokratisch und wohlfahrtsstaatlich geprägt. Bedingt durch das Lautwerden völkisch-politischer Theologien in der deutschen Lutherrenaissance nach 1933 kam die Internationalität der Lutherforschung in eine Krise. Sukzessive verabschiedeten sich dänische und schwedische Lutherforscher von der deutschen Diskussion. Die deutschsprachige Lutherrenaissance war wesentlich unter dem Einfluss des Berliner Kirchenhistorikers Karl Holl (1886 – 1926) und dessen Buch Luther ⁵ entstanden. Dieses Buch rückte den „jungen Luther“ der Frühreformation ins Zentrum der Forschung, und damit bestimmte Topoi Luthers, die in ihrer Kühnheit nicht zum Allgemeingut der lutherischen Bekenntnisschriften geworden waren. Exemplarisch war das Verständnis von Kirche aus dem „königlichen Priestertum aller Getauften“, einem genuin gewissensreligiösen Typ von Gemeinschaft und geistlich-charismatischer Autorität, den Holl im Rechtfertigungserlebnis des „jungen Luther“ verankerte.⁶ Nach dem frühen Tod Karl Holls besetzten Schüler Holls (Holl-Schule) in den 30er Jahren wichtige Lehrstühle: am prominentesten der älteste Schüler Holls, Emanuel Hirsch (1888 – 1972), Erich Vogelsang (1904 – 1944), Hanns Rückert (1901– 1974), Heinrich Bornkamm (1901– 1977), Hermann Wolfgang Beyer (1898 – 1942) und Hans Georg Opitz (1905 – 1941).⁷ Die Holl-Schule war jene Gruppe, die 1933/34 die soge-
H. Assel, „The Luther Renaissance“, in: D. Nelson und P. Hinlicky (Hg.), Oxford Encyclopedia of Martin Luther, Oxford, erscheint 2017; ders., Der andere Aufbruch. Die Lutherrenaissance – Ursprünge, Aporien und Wege: Karl Holl, Emanuel Hirsch, Rudolf Hermann (1910 – 1935), FSÖTh 72, Göttingen, 1994. D. Lange, „Eine andere Luther-Renaissance“, in: N. Slenczka, W. Sparn (Hg.), Luthers Erben. Studien zur Rezeptionsgeschichte der reformatorischen Theologie Luthers. Festschrift für Jörg Baur zum 75. Geburtstag, Tübingen 2005, 245 – 274. K. Holl: Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 1, Luther, Tübingen 1921, erweitert und überarbeitet 19232+3, 19274+5, 19326, 19487. Holl formuliert mit dem allgemeinen Priestertum kein Herrschaftsprinzip, sondern die Rechtsautonomie von Kirche und Volkskirche aus einem Prinzip geistlich-charismatischer Autorität. T. Kaufmann und O. Harry (Hg.), Evangelische Kirchenhistoriker im „Dritten Reich“, Gütersloh, 2002, darin: B. Hamm, „Hanns Rückert als Schüler Karl Holls. Das Paradigma einer theologischen Anfälligkeit für den Nationalsozialismus“, 273 – 309 und H. Lehmann, „Heinrich Bornkamm im Spiegel seiner Lutherstudien von 1933 bis 1947“, 367– 380; V. Leppin, „In Rosenbergs Schatten. Zur Luther-
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nannten Deutschen Christen am prononciertesten unterstützte, also jene Kirchenpartei, welche die Gleichschaltung der Landeskirchen durch eine deutsch-christliche Glaubensbewegung betrieb und die im Gefolge der Kirchenwahlen vom Juli 1933 weithin kirchliche Synoden und Presbyterien dominierte. Zugrunde lag eine Umfunktionierung des allgemeinen Priestertums aller Getauften zum Herrschaftsprinzip mit dem Ziel plebiszitär exekutierter Gleichschaltung. Emanuel Hirsch, der im Ruf intellektueller Brillanz stand, wurde zum Vordenker des deutsch-christlichen Regimes des Reichsbischofs Müller, mit dem er seit Mai 1933 aufstieg, um im Oktober 1934 mit ihm zu stürzen. Gleichrangig neben der Holl-Schule wirkte in der Lutherrenaissance ein deutschschwedisches Netzwerk um Rudolf Hermann (1887– 1962) und Anders Nygren (1890 – 1978), dem international renommiertesten Luther-Forscher der sogenannten Lunder Schule. Diese Gruppe stand von Frühjahr 1933 an auf der Seite der scharfen öffentlichen Kritiker der NS-Kirchenpolitik und 1934 auf Seiten der Bekennenden Kirchen. Sie kritisierte, über das Kirchenpolitische hinaus, von Anfang an das rassistische und antisemitische Fundament der NS-Ideologie.⁸ Eine Gruppe jüngerer Theologen wie Hans Joachim Iwand (1899 – 1960), Ernst Wolf (1902– 1971), in seinen Anfängen Dietrich Bonhoeffer (1906 – 1945) und später Harald Diem (1913 – 1941) sowie der theologisch ausgebildete Schriftsteller Jochen Klepper (1903 – 1942) waren je unterschiedlich von der Lutherrenaissance Karl Holls und Rudolf Hermanns geprägt. Sie setzten diese Prägung ab Mitte der 30er Jahre für substantielle Revisionen der lutherischen Theologie und politischen Ethik ein, anfangs 1933 noch im Rahmen der sogenannten Jungreformatorischen Bewegung, ⁹ dann ab 1934 auf dem Boden der Barmer Theologischen Erklärung vom Mai 1934. (b) Der lutherische Konfessionalismus, der in homogen lutherischen Landeskirchen und Regionen virulent war, hatte in den Erlanger Theologen Werner Elert (1885 – 1954) und Paul Althaus (1888 – 1966) seine Wortführer. Anders als Karl Holl ordneten sie Luthers Theologie und politische Ethik bruchloser in die pluralen konfessionellen Bekenntnistraditionen der Luthertümer ein, die sie dazu als einheitliche Konfessi-
deutung Erich Vogelsangs“, in:Theologische Zeitung, 61, 2005, 132– 142; I. Garbe, Theologe zwischen den Weltkriegen: Hermann Wolfgang Beyer (1998 – 1942): Zwischen den Zeiten, Konservative Revolution, Wehrmachtsseelsorge, Frankfurt am Main, 2004. Scharfsichtig beobachtete A. Nygren, The Church Controversy in Germany. The position of the evangelical church in the Third Empire, London, 1934. Nygren kommentierte die deutsche Auseinandersetzung seit Oktober 1933 beständig öffentlich, zunächst in schwedischen Publikationen, dann im September 1934 gebündelt als englischsprachiges Buch. Er provozierte kirchenpolitische Initiativen der lutherischen Ökumene, z. B. den Besuch des Erzbischofs von Uppsala Eidem bei Hitler am 02.05. 1934. Die Jungreformatorische Bewegung formierte sich als kirchenpolitische Bewegung im März 1933 im Zuge der Verfassungsreformdebatte im Deutschen Evangelischen Kirchenbund gegen den Gleichschaltungsplan der radikalen Deutschen Christen. Hauptvertreter waren W. Künneth, H. Lilje und M. Niemöller; zunehmend wichtig wurde der Berliner Kreis um M. Niemöller, G. Jacobi, D. Bonhoeffer, F. Hildebrandt und H. Sasse.
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onsgestalt „Luthertum“ konstruierten. Dies signalisiert bereits der Titel von Elerts Hauptwerk Die Morphologie des Luthertums. Konfessionsbildend soll demnach das religiöse Urerlebnis Luthers sein, die abgründige Schicksalsverborgenheit des Heiligen, voller Schrecken und Faszination, wodurch Luthers Rechtfertigungserlebnis rettender Gnade in vernichtender Heiligkeit zur unableitbar widersprüchlichen, irrationalen Größe wird. Daraus entwickelte Elert eine anti-calvinistische, „anti-westliche“ und völkisch-modernistische Interpretation der konfessionellen Bekenntnistraditionen zu einer lutherischen Weltanschauung und einer autoritären Schöpfungsordnungslehre. Paul Althaus, einer der meist gelesenen Theologen des deutschen Luthertums und langjähriger Präsident der Luthergesellschaft (1926 – 1964), flankierte Elert und lehrte bereits 1927 das Erleben der völkischen „Stunde“ Deutschlands als Gericht und Berufung des rechtfertigenden Gottes; so in seinem mehrfach nachgedruckten Vortrag auf dem Zweiten Deutschen Evangelischen Kirchentag in Königsberg Kirche und Volkstum. Der völkische Wille im Lichte des Evangeliums. ¹⁰ Der rhetorisch vermittelnd auftretende Althaus war anpassungsfähig, in seinen völkischen, politisch-theologischen Begriffen oft dissimulierend und darin mentalitätsgeschichtlich für bestimmte Milieus repräsentativ.¹¹ (c) Die Lutherforschung der Dialektischen Theologie wurde vor 1933 v. a. durch Friedrich Gogarten (1887– 1967) prominent vertreten. Die fundamentale Kritik Karl Barths am völkischen Luthertum Gogartens, Elerts und Hirschs fand bei den jüngeren Theologen der Lutherrenaissance (Wolf und Iwand, Bonhoeffer und Diem) produktive Rezeption, auch nachdem Barth 1935 aus Deutschland zwangsemigrierte. Barth hatte bei seinem Abschied mit dem Aufsatz Evangelium und Gesetz ¹² die völkisch-politische Theorie vom Volksgesetz als Gottesgesetz prononciert kritisiert und damit zugleich die gesamte politische Umfunktionalisierung von „Gesetz und Evangelium“ und von Luthers Theologie seit 1923.
2 Drei Kontroversen 1933 und 1934 Die drei Neuentwürfe zur Staatslehre aus dem Jahr 1932 versagten vor der Realität des NS-Staates, wenn auch charakteristisch verschieden. Sie waren aber darin bemerkenswert einig, dass alle drei der Weimarer Republik und der Reichsverfassung die Legitimation entzogen, teils zugunsten eines autoritär faschistischen Staats, teils zugunsten einer totalitär nationalsozialistischen Parteidiktatur. Für eine politische Ethik lutherischer Provenienz war dies ein Bruch. Die restaurationszeitliche lutherische
P. Althaus, Kirche und Volkstum. Der völkische Wille im Lichte des Evangeliums, Gütersloh, 1928. P. Althaus, Die deutsche Stunde der Kirche, Göttingen, 1933/1934; ders., Obrigkeit und Führertum. Wandlungen des evangelischen Staatsethos, Gütersloh, 1936; ders., Juxta vocationem. Zur lutherischen Lehre von Ordnung und Beruf, Luth 48, 1937, 129 – 141. Althaus, der sich ab 1933 Elert anpasste (s.u.), holte 1936 jenes Staatsethos nach, das Hirsch bereits 1932/33 vertrat. K. Barth, Evangelium und Gesetz, Theologische Existenz heute 32, München, 1935.
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Obrigkeitslehre, die bis 1918 das Luthertum mehrheitlich bestimmte, wurde im selben Moment obsolet, in dem hier einer legitimen Obrigkeit, dem Weimarer Staat, die Loyalität weitgehend oder vollständig aufgekündigt wurde. Wichtiger noch: Die in der Auseinandersetzung zwischen Ernst Troeltsch, Max Weber und Karl Holl sozialhistorisch präziser denn je problematisierten frühreformatorischen Begriffe Luthers von „Obrigkeit“ als der Herrschaft säkularer Rechtstraditionen, von „Naturrecht“ und von „Kirche“ als Priestertum aller Getauften charismatischer Autorität, von „protestantischer und lutherischer Berufsaskese“ – sie alle wurden in diesen neuen völkischen Staatslehren zu Kampfbegriffen völkischer politischer Theologie.
2.1 Führerstaat oder Verfassungsstaat? In F. Gogartens Politischer Ethik wird das „Politische“ greifbar in einer Lehre vom autoritären Staat.¹³ „Hörigkeiten“ bilden den Kern des Politischen, „die Souveränität des Staates […], sein ‚heiliges Recht‘ über Leben und Eigentum seiner Untertanen“ (124). Das Lutherische dieser Staatslehre zeigt sich in ihrem Konzept des göttlichen Gesetzes: Die politische und völkische Souveränität, die in der Autorität des Staats und seinem äußeren Rechtszwang wirksam sei, sei für den Schöpfungsglauben Chiffre des Gesetzes, das die göttliche Schöpfungsordnung gegen das Böse erhält und durchsetzt. Das Problem des Staates und seiner Autorität sei „das erste und wichtigste ethische Problem“ und „allein von dem politischen Problem [sc. staatlicher Autorität in notfalls erzwungener Rechtsloyalität] aus“ erhielten alle anderen ethischen Fragen ihre Relevanz. „Allein im Politischen, im Staat und in der mit ihm gegebenen Hörigkeit hat der Mensch gegenüber dieser Erkenntnis [nämlich: seines Verfallenseins ans Böse] noch die Möglichkeit der Existenz.“ (118) Im Politischen, in der Souveränität des Staates soll angesichts der Krise des Zerfalls der Ordnungen die rettende und erhaltende Herrschaft des Schöpfers geltend gemacht werden. Gogarten politisiert dazu den zeitgenössischen Personalismus mit seinen (gegenüber dem liberalen Rechtsprinzip) vermeintlich sittlich substantielleren konkreten Gemeinschaften von Ehre, Nation und Volk.¹⁴ „Kirche“ bildet die Sphäre des Evangeliums, das Jenseits von autoritärem Staat und Rechtszwang.¹⁵ Gogartens Staat verlangt Gehorsam gegen seine Gesetze bis an die Grenze des Glaubensgehorsams. Diese Grenze definiert das Politische des politischen Gehorsams, also das Weltliche, Säkulare des Staats. Als Vertreter eines theologischen Begriffs vom legitim Säkularen, des
Gogarten, Politische Ethik (Seitenzahlen im Text beziehen sich darauf). Zum staatsrechtlichen Antagonismus einer etatistischen Orientierung am „autoritären“ Staat und einer völkischen Option für den „totalen Staat“ vgl. C. Strohm, Theologische Ethik im Kampf gegen den Nationalsozialismus: Der Weg Dietrich Bonhoeffers mit den Juristen Hans von Dohnanyi und Gerhard Leibholz in den Widerstand, München, 1989, 78 – 83. Gogarten, Politische Ethik, 57– 64, 108 – 132, 133 – 208. Ebd., 208 – 220.
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„Politischen“ des Staates, und vom offenbarten „Heiligen“ der Kirche, beanspruchte Gogarten, Erbe Luthers aus dem Geist der Dialektischen Theologie zu sein. Tatsächlich markierte Gogartens Politische Ethik den endgültigen Zerfall der Dialektischen Theologie. Der Abschied Karl Barths vom ursprünglich gemeinsamen Programm einer Dialektischen Theologie machte dies Ende 1933 öffentlich. Unübersehbar auf den Punkt kam diese Kontroverse, als Barth sich im November 1934 weigerte, den persönlichen Treueid auf „den Führer und Reichskanzler Adolf Hitler“ zu leisten. In der Logik einer politischen Ethik wie derjenigen Gogartens war der persönliche Führer-Treueid, der das Modell soldatischer Gefolgschaft auf alle Dienstverhältnisse in Universität, Bürokratie etc. übertrug, der Musterfall einer autoritären Staatshörigkeit. Dass zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 1. Juli 1934 durch politische Ermächtigungs- und rassistische Sondergesetze kein neuer autoritärer Obrigkeitsstaat, sondern ein totalitärer Unrechtsstaat entstanden war, der wesentliche Institutionen des liberalen Rechtsstaats und darin die Herrschaft des Rechts selbst zerstört hatte, war in den Kategorien von Gogartens politischer Ethik nicht vorgesehen. Seine Staatslehre war also bereits Mitte 1934 von der Realität des NS-Unrechtstaats überholt – eine kritische Erkenntnis, die Gogarten mit seiner Staatslehre systematisch verstellte. Das Symbolpolitische der Barthschen Treueidverweigerung zielte provokativ auf diese selbstverschuldete Unmündigkeit. Stets argumentierte Barth bei seiner Verweigerung mit einem politischethischen Begriff der Eidverantwortung aus Glaubensverantwortung. Eidverantwortung sei nur als begrenzte akzeptabel. Barth fügte daher der Treueidformel¹⁶ die reservatio hinzu: „Ich werde dem Führer […] treu und gehorsam sein, soweit ich es als evangelischer Christ verantworten kann […].“ Diese reservatio war für Barth Platzhalter für die im Führerstaat nach dem 30. Juni 1934 zerstörte verfassungsrechtliche Grenze der Eidpflicht. Angesichts ihrer fortgeschrittenen Zerstörung wies also Barth auf rechtsstaatliche Verfassungssouveränität als Existenzbedingung des Bürgerseins und auch des Christseins hin. Barths Treueidverweigerung und Treueidprozess war die symbolpolitische Spitze einer theologischen Lehre von staatlicher Souveränität, die unvereinbar mit Gogarten und Hirsch war. An die Diskussion um die politische Ethik Luthers richtet Barth die Frage nach einem völlig anders zu bestimmenden Verhältnis von weltlichem Reich, als Herrschaft des natürlichen Rechtes Gottes, und geistlichem Reich, als politischer Existenz aus Glauben und aus Gesetz und Evangelium – eine Frage, die Harald Diem 1938 produktiv aufnahm. Aktiv bekämpft wurde Barth im Dezember 1934 durch Emanuel Hirsch. Wahrscheinlich war er es, der jenes eidtheologische Gutachten zum
Die vorgeschriebene Treueidformel lautete: „Ich werde dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, treu und gehorsam sein, die Gesetze beachten und meine Amtspflichten gewissenhaft erfüllen, so wahr mir Gott helfe.“
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Führereid für den Staatsanwalt verfasste, das im Prozess gegen Barth offizielle staatliche Geltung erlangte und zur Verurteilung Barths führte.¹⁷
2.2 Völkische Schöpfungsordnung oder Herrschaft des ‚natürlichen Rechts‘? Werner Elert ließ 1932 dem ersten Band seiner Morphologie des Luthertums ¹⁸ einen zweiten, gegenwartsbezogenen Band folgen: Soziallehren und Sozialwirkungen des Luthertums. ¹⁹ Er bot eine lutherische Weltanschauung völkisch grundierter Führerschaft im autoritären Staatsverband, die solche Führerschaft auch für gesellschaftliche Stände, Schichten und Berufe empfahl. Unter Überschriften wie „Schöpfungsordnung und Dreiständelehre“, „Beruf und Führertum“, „Volkstum und Völker“, „Staatsauffassung Luthers“ und „Wohlfahrtsstaat und Sozialismus“²⁰ projektierte Elert eine lutherische Staatslehre im Rahmen einer Lehre von den Schöpfungsordnungen des Weltlichen. Im Begriff „Schöpfungsordnung“ seien die schicksalhaften und die ethischen Momente, die dieses [sc. weltliche] Reich für Luther einschließt, sinngemäß miteinander verbunden. Schicksalhaft ist die Tatsache und die besondere
M. Beintker, „Barths Abschied von ‚Zwischen den Zeiten‘. Recherchen und Beobachtungen zum Ende einer Zeitschrift“, in: ZThK 106, 2009, 201– 222. H. Assel, „Grundlose Souveränität und göttliche Freiheit. Karl Barths Rechtsethik im Konflikt mit Emanuel Hirschs Souveränitätslehre“, in: M. Beintker, C. Link und M. Trowitzsch (Hg.), Karl Barth in Deutschland (1921 – 1935): Aufbruch – Klärung – Widerstand, Internationales Symposion in Emden 2003, Zürich, 2005, 205 – 222; ders., „‚Barth ist entlassen …‘: Emanuel Hirschs Rolle im Fall Barth und seine Briefe an Wilhelm Stapel“, in: ZThK 91, 1994, 445 – 475. W. Elert, Morphologie des Luthertums. Bd. 1: Theologie und Weltanschauung des Luthertums hauptsächlich im 16. und 17. Jahrhundert, München, 1931. Elert, Morphologie, Bd. 2 (Seitenzahlen im Text beziehen sich darauf). Schon im Untertitel „Soziallehren des Luthertums“ ist der Gegenentwurf zu Ernst Troeltschs Werk (E. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen, 1994 (Neudruck der Ausgabe von 1912, geplant die Edition in Troeltsch, Kritische Gesamtausgabe 9/1– 2)) unüberhörbar. Troeltsch bemaß die Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt nicht an Luthers Frühreformation, sondern an jenen calvinistischen Kirchentümern und puritanischen und radikalreformatorischen Sekten, denen Max Weber seine berühmten Studien gewidmet hatte. Angesichts des „Wahnsinns“ des verlorenen Weltkriegs warb Troeltsch für die „Entwicklung“ Deutschlands hin zu einer republikanischen und massendemokratischen, marktkapitalistischen und verbändebürokratischen Verfassung und zu einer entmilitarisierten, völkerrechtlich eingehegten Neutralität. Vgl. E. Troeltsch, „Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt (1906/1911)“, in: T. Rendtorff und S. Pautler (Hg.), Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906 – 1913), Kritische Gesamtausgabe Ernst Troeltsch (zit. als KGA) 8, Berlin/New York, 2001, (183 – 198) 199 – 316; ders., „Wahnsinn oder Entwicklung? Die Entscheidung der Weltgeschichte (1917/1919)“, in: G. Hübinger (Hg.), Schriften zur Politik und Kulturphilosophie 1918 – 1923, KGA 15, Berlin/New York, 2002, 70 – 94. Vgl. Elert, Morphologie Bd. 2, 37– 64, 65 – 80, 125 – 158, 291– 302, 313 – 334, 409 – 428.
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Bestimmtheit meiner Verflechtung in die menschliche Gesellschaft. Nicht ich, sondern der Schöpfer hat mir diesen Ort, diese Stunde, diesen Nächsten, diesen Beruf bestimmt. Der Schöpfer hat die Gliederung der Gesellschaft, […] die überpersönlichen Einheiten der Ehe, des Staates, des Volkes ‚gestiftet‘.²¹
Elerts Schöpfungsordnung „Staat“ lässt Umrisse eines völkischen und nationalen Führerstaats mit wohlfahrts-, kultur- und erziehungsstaatlichen, militaristischen, beamtenbürokratischen und staatswirtschaftlichen Elementen erkennen.²² Im September 1933 öffnete Elert seine Schöpfungsordnungstheologie für den völkischen Rassismus und reklamierte Volkstum als umgreifende Schöpfungsordnung, die in Staat und Kirche Geltung habe solle, sofern auch die sichtbare Kirche Institution im weltlichen Reich sei. Zusammen mit Paul Althaus verantwortete er ein Theologisches Gutachten über die Zulassung von Christen jüdischer Herkunft zu kirchlichen Aemtern der deutschen evangelischen Kirche, erstellt in Reaktion auf die Generalsynode der altpreußischen Union,²³ datiert auf den 25. September 1933, also auf den Vorabend der deutschen Nationalsynode der Deutschen Evangelischen Kirche am 27. September in Wittenberg. Dieses Gutachten plädiert angesichts des sich bereits formierenden und wirksamen Widerstands gegen diese Maßnahme im sogenannten Pfarrernotbund für die kirchliche Übernahme des staatlichen Arierparagraphen, wenn auch unter mancherlei Kautelen: Die Kirche muß das grundsätzliche Recht des Staates zu solchen gesetzgeberischen Maßnahmen anerkennen. Sie weiß sich selber in der gegenwärtigen Lage zu neuer Besinnung auf ihre Aufgabe, Volkskirche der Deutschen zu sein, gerufen […] Die Kirche muß daher die Zurückhaltung ihrer Judenchristen von den Aemtern fordern. ²⁴
Auch hier verstellt die Lehre vom „schicksalhaft völkischen“ und durch politische Sondergesetze „ethisch gestaltbaren“ Staat, mit Berufung auf Luthers Topos des Weltlichen als Schöpfungsordnung, die Sicht auf die mit dem Arierparagraphen einsetzende rassistische Sondergesetzgebung. Diese Sondermeinung der Erlanger Lutheraner über die freiwillige Implementierung des Arierparagraphen in der Kirche stieß auf scharfen Widerspruch, z. B. eines Gutachtens der Marburger Theologischen Fakultät, das Rudolf Bultmann und Hans von Soden verantworteten. Doch nicht nur dies: Bereits im April 1933, zehn Tage nach
Vgl. ebd., 47. Vgl. ebd., 301 f., 331– 333. Diese sogenannte „braune Synode“ der APU hatte am 5./6. September 1933 die Einführung des sogenannten „Arierparagraphen“ in die Kirche beschlossen. H. Liebing (Hg.), Die Marburger Theologen und der Arierparagraph in der Kirche: Eine Sammlung von Texten aus den Jahren 1933 und 1934. Aus Anlaß des 450-jährigen Bestehens der Philipps-Universität Marburg, Marburg, 1977, 20 – 23, 22; zum unmittelbaren Anlass des Gutachtens: 9; S. Hermle und J. Thierfelder (Hg.), Herausgefordert. Dokumente zur Geschichte der Evangelischen Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart, 2008, 164– 167.
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Erlass des staatlichen „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ und Monate vor der kirchlichen Diskussion, erging unter Federführung Rudolf Hermanns, des Greifswalder Exponenten der Lutherrenaissance, ein offener Solidaritätsbrief für den in München lehrenden Universitätsprofessor und neukantianischen Philosophen Richard Hönigswald an das bayerische Erziehungsministerium, der gegen die Entlassung Hönigswalds aufgrund des „Arierparagraphen“ protestierte.²⁵ Der Protest Hermanns gegen den staatlichen Arierparagraphen ist ein Indiz, dass ein staatliches Recht auf rassistische Sondergesetze keineswegs common sense in der lutherischen Staatslehre des Frühjahrs 1933 war. Rudolf Hermann, der zu den renommiertesten internationalen Lutherforschern zählte, blieb von April 1933 an konstant ein Kritiker dieses Sondergesetzes in Staat und Kirche – ein Protest, der ihn konsequenterweise in die Bekennende Kirche führte. Er nahm an den entscheidenden Bekenntnissynoden der Deutschen Evangelischen Kirche auf Reichsebene, der Barmer Synode (29.–31. Mai 1934) und der Dahlemer Synode (19.–20. Oktober 1934), teil. Wie unvereinbar im Mai 1934 die Differenzen zwischen Hermann und den Erlanger Lutheranern geworden waren, manifestierte sich, als Elert zusammen mit Althaus als Hauptverfasser im Juni 1934 ein Gegenbekenntnis zur Barmer Theologischen Erklärung vom Mai 1934 publizierte, den sogenannten „Ansbacher Ratschlag“. Im Gewand korrekter lutherischer Obrigkeitslehre äußert sich hier ein erschütternder Irrglaube: Als Christen ehren wir mit Dank gegen Gott […] jede Obrigkeit, selbst in der Entstellung, als Werkzeug göttlicher Entfaltung, aber wir unterscheiden auch als Christen gütige und wunderliche Herren, gesunde und entstellte Ordnungen. […] In dieser Erkenntnis danken wir als glaubende Christen Gott dem Herrn, daß er unserem Volk in seiner Not den Führer als ‚frommen und getreuen Oberherren‘ geschenkt hat und in der nationalsozialistischen Staatsordnung ‚gut Regiment‘, ein Regiment mit ‚Zucht und Ehre‘ bereiten will.²⁶
Die Nüchternheit, mit der Hermann der „deutschen Revolution“ und der Realität des NS-Unrechtsstaats Mitte der 30er Jahre begegnete, hebt sich davon deutlich ab. Nicht nur war Hermann weit davon entfernt, die nationalsozialistische Staatsform theologisch zu überhöhen. Er maß diese totalitäre Staatsform an „Gottes Gebot und Auftrag“, also am Topos der Rechtsherrschaft als Konstituens von Luthers Lehre vom weltlichen Regiment: Welche Staatsform für ein Volk, eine Völkergemeinschaft, ein Weltreich, die rechte ist, das zu finden ist eine geschichtliche und politische Aufgabe. Aber jede Staatsform, die Wirklichkeit wird, steht unter Gottes Auftrag, dem Recht und dem Guten zu dienen, dem Unrecht und dem Bösen zu
S. Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden. Bd. 1: Die Jahre der Verfolgung 1933 – 1939, München, 1998, 65. K. D. Schmidt, Die Bekenntnisse und grundsätzlichen Äußerungen zur Kirchenfrage. Bd. 2: Das Jahr 1934, 1935, 103; Hermle, Thierfelder (Hg.), Herausgefordert, 210.
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wehren und danach zu streben, für die unter ihr zusammengefaßten und ihr unterstellten Menschen die rechte Ordnung zu sein.²⁷
Der totale Weltanschauungsstaat, der beanspruche, das Lebensrecht des deutschen Volkes sichern zu können, müsse sich mit diesem Anspruch vor das göttliche Forum „gestellt und sich ihm verantwortlich wissen“.²⁸ Dabei gelte: Wer sich auf sein Lebensrecht beruft, der muß auch recht leben. Die Anmeldung des Anspruchs ist zugleich die Übernahme der Verpflichtung. In ihr aber ist enthalten, daß alle Glieder, die für den Staat einzustehen haben und auf die er sich verlassen will, der Geltung der Gerechtigkeit durch sein Walten versichert sind.²⁹
Im selben Jahr, in dem die Nürnberger Rassegesetze beschlossen wurden, insistierte Hermann auf dem unaufgebbaren „Grundsatz der Gleichheit aller vor dem menschlich-staatlichen Gesetz und Gericht“.³⁰
2.3 Führerkirche oder volkskirchliche Bekenntniskirche? Emanuel Hirsch verstand sich als Vordenker einer radikal völkischen und politischen, schließlich auch antisemitischen Theologie.³¹ Schlüsselbedeutung für seinen Bruch mit der Lehre vom autoritären Staat hat eine im Luthertum präzedenzlose völkische Souveränitätslehre aus dezisionistischer Gewissensreligion. Hirsch griff damit 1932/33 der nationalsozialistischen Gleichschaltungspolitik am entschiedensten vor. Nicht mehr die staatliche Obrigkeit, sondern die „Volkheit“ in ihrer um ihrer Sendung willen notwendigen Selbstbehauptung ist der von Gott eingesetzte Souverän, dem Gehorsam geschuldet wird.³² Der deutsche „Volksnomos“,³³ das Volksgesetz, das gerade nicht in demokratischen Verfahren feststellbar ist, wird zum Maßstab politischer Loyalität.³⁴ Wirksamer noch als das im Gefolge dieser Souveränitätslehre bejahte Revolutions R. Hermann, „Zur Frage der ‚christlichen‘ Geschichtsdeutung“, in: „Wort und Tat“ 12, 1936, 69 – 75, 227– 235, 234 (Hervorhebungen HA). R. Hermann in dem 1935 veröffentlichten Aufsatz „Christlicher Glaube und politisches Handeln“, in: G. Krause (Hg.), Rudolf Hermann. Gesammelte und nachgelassene Werke Bd. 4: Theologische Fragen nach der Kirche, Göttingen, 1977, 113 – 122, 115. Hermann, Christlicher Glaube, (Kursive teilweise HA), ebd. Ebd., 119. H. Assel, „Emanuel Hirsch. Völkisch-politischer Theologe der Lutherrenaissance“, in: M. Gailus und C.Vollnhals (Hg.), Für ein artgemäßes Christentum der Tat. Völkische Theologen im „Dritten Reich“, Göttingen, 2016, 43 – 67. Hirsch, Vom verborgenen Suverän, 5. Zum Bezug Hirschs auf die sogenannte „Volksnomoslehre“ vgl. E. Hirsch, Christliche Freiheit und politische Bindung. Ein Brief an Dr. Stapel und anderes, Hamburg, 1935, 17. Zur sog.Volksnomoslehre: W. Stapel, Der christliche Staatsmann. Eine Theologie des Nationalismus, Hamburg, 1932, v. a. 174. Hirsch, Vom verborgenen Suverän, 7.
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recht erwies sich der dauernde Vorbehalt gegen-über jeder konkreten Form von Rechtsstaatlichkeit unter Rekurs auf den Gehorsam gegen-über der „Volkheit“, den Hirsch ausrief. Hirsch konnte sich nach dem 30. Januar 1933 mit seiner Version einer neuen evangelischen Staatslehre bestätigt wähnen: Nach den unzweideutigen Erklärungen des Führers muss gerade dies als das Eigentümliche der neuen deutschen Lebensverfasstheit gelten, dass das Staatlich-Politische dem Volkstum […] unterworfen wird, ja, lediglich als unentbehrliches Mittel für den Zweck des Volkstums […] angesehen zu werden begehrt.³⁵
Die Schwäche einer permanenten politischen Dezision und Revolution nach Maßgabe einer in ihren konkreten Anforderungen je neu festzustellenden verborgenen „Volkheit“ wurde schnell deutlich. Deshalb trat (nach den Junimorden 1934 und im Zug der Konsolidierung der Führerherrschaft) das andere Element der Lehre vom „verborgenen Suverän“ hervor: „Volkheit“ manifestiert sich in einem stellvertretenden öffentlichen Souverän als politischer Wille. Dieser öffentliche Souverän, der die prinzipielle Legitimität zum Bruch rechtsstaatlicher Legalität haben sollte, wurde je länger desto vorbehaltloser mit der Person des „Führers“ Adolf Hitler identifiziert.³⁶ Hirsch sah sich als Berater des deutsch-christlichen Kirchenregiments ermächtigt, seine Lehre in kirchenpolitische Gleichschaltungsmaßnahmen umzusetzen, die im August 1934 auf eine dritte und letzte theologische Kontroverse um Luthers Erbe zutrieben, über die Hirsch zu Fall kam. Nach dem Abschluss der Gleichschaltung mit der Ausschaltung der SA und dem Tod des Reichspräsidenten Hindenburg schwor am 2. August 1934 die Reichswehr einen neuen Treueid auf Hitler. Schon kurz nach der Vereidigung der Wehrmacht und noch vor dem Gesetz zur Beamtenvereidigung erließ am 9. August 1934 die zweite Nationalsynode der Deutschen Evangelischen Kirche ein Diensteidgesetz, das alle Geistlichen und Kirchenbeamten zum Diensteid auf Hitler verpflichtete. Mit diesem Eid, dessen Formel die Handschrift Emanuel Hirschs trägt,³⁷ sollte die Gleichschaltung der Pfarrerschaft krönend abgeschlossen werden. Die Geistlichen haben folgenden Diensteid zu leisten: Ich, NN, schwöre einen Eid zu Gott dem Allwissenden und Heiligen, daß ich als berufener Diener im Amt der Verkündigung sowohl in meinem gegenwärtigen wie in jedem anderen geistlichen Amte, so wie es einem Diener des Evangeliums in der Deutschen Evangelischen Kirche geziemt, dem Führer des deutschen Volkes und Staates Adolf Hitler treu und gehorsam sein und für das deutsche Volk mit jedem Opfer und jedem Dienst, der einem deutschen evangelischen Manne gebührt, mich einsetzen werde.³⁸
E. Hirsch, Die gegenwärtige geistige Lage im Spiegel philosophischer und theologischer Besinnung, Göttingen, 1934, 60, vgl. 62– 63. Vgl. Hirsch, Die gegenwärtige Lage, 61 mit 64– 65. In den unpublizierten Briefen Hirschs an Wilhelm Stapel von 1933 bis 1945 und an Hans Grimm 1936 (Deutsches Literaturarchiv Marbach) lässt sich dies verfolgen, vgl. die Briefe Hirschs an Stapel vom 3.12.1935, vom 6.12.1935, an Grimm vom 23. 2.1936, an Stapel vom 14.9.1944, an Stapel vom 25. 8.1944. Formulierungen, die auf Hirschs Theologie verweisen, sind kursiv gesetzt. Hermle, Thierfelder (Hg.), Herausgefordert, 217– 218.
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Die religiöse Eidformel dieses kirchlichen Führereides identifiziert Gottes Heiligkeit, sein „Gesetz“, zwar nicht umstandslos mit dem Volksgesetz im Führer. Tatsächlich bindet sich der Schwörende aber ausnahmslos an den Führer des Volkes (und nur insofern an den Reichskanzler des Staates). Da dem Führer die alleinige Auslegung des Volksgesetzes zukommt, umfasst der Gehorsam jedes Opfer, also auch das Opfer des eigenen Gewissens, die Bereitschaft zum Gehorsam gegenüber Terrormaßnahmen, Sondergesetzen, Kriegs- und Vernichtungspolitik. Keinesfalls enthält die Anrufung Gottes als Zeugen einen Gewissensvorbehalt des Schwörenden. So blieb für Eidverweigerer aus religiösen oder moralischen Gründen nur die Zwangsauflösung des Dienstverhältnisses. Dieser Versuch einer abschließenden Gleichschaltung der Pfarrerschaft durch einen persönlichen Treueid auf Hitler scheiterte im Frühherbst 1934. War doch der kirchliche Treueid auf den Führer nichts weniger als der Versuch, Hitler zum obersten Rechtsherren oder „höchsten Bischof“ (summepiskopus) einer Nationalkirche zu machen, die sich in Hirschs Zielperspektive die evangelischen Konfessionen einverleiben sollte. An die Stelle des diskreditierten deutsch-christlichen Reichsbischofs Müller und seiner episkopalen Epigonen sollte der Führer in die Summepiskopatsrechte einer Nationalkirche eingesetzt werden. Angesichts dieser präzedenzlosen Zwangsmaßnahme verweigerten selbst die Mitglieder der Holl-Schule Hirsch die Gefolgschaft. Die restlose Gleichschaltung der evangelischen Kirche zu einer Führerkirche, die ihr Kirchesein und ihre Kirchenordnung statt aus dem Luther’schen Prinzip des allgemeinen Priestertums aller Getauften als Quelle ihrer genuinen Rechtsautonomie aus der summepiskopalen Souveränität des Führers der nationalsozialistischen Bewegung hergeleitet hätte, bildete den Bruch zwischen Hirsch und der Holl-Schule. Hirsch stürzte nicht nur kirchenpolitisch im Oktober 1934, sondern war fortan akademisch fast vollständig isoliert.
3 Entscheidungen und Stagnationen 1934/35 Das Spektrum der theologischen Diskussion um Luther auf dem Höhepunkt der Kontroverse im Oktober/November 1934 stellte sich also wie folgt dar: Nicht wenige Theologen der Lutherrenaissance (z. B. R. Hermann) und der Jungreformatorischen Bewegung hatten im Mai 1934 die Barmer Theologische Erklärung mit beschlossen. Sie verwarfen die Lehre einer doppelten Offenbarung Gottes: im Nomos der Volkheit und in Jesus Christus als dem Evangelium. Aber selbst jene akademisch tätigen Theologen, die sich dieser ersten und zweiten These der Barmer Theologischen Erklärung mit Berufung auf Luther verweigerten – wie nahezu die gesamte Holl-Schule, die Konfessionalisten Elert und Althaus sowie Gogarten – konnten doch jetzt der dritten und
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vierten These dieser Erklärung kaum plausible Argumente entgegensetzen:³⁹ Das Christuszeugnis der Kirche habe nicht nur mit ihrer Lehre, sondern auch mit der Ordnung der Kirche zu erfolgen. Es dürfe keine Ämter in der Kirche geben, welche die Herrschaft der einen über die anderen begründeten. Entsprechend wurde abgelehnt, dass es in der Kirche „mit Herrschaftsbefugnissen ausgestattete Führer“ geben dürfe. Unter dem Einfluss der Luther-Interpretation, die Karl Holl vorgelegt hatte, hatten nämlich auch die Schüler Holls (Hirsch ausgenommen) das Staatskirchentum, das politische Obrigkeiten als oberste „Bischofsgewalt“ der Kirchen vorsah, verworfen. Sie vertraten wie Holl die Errichtung selbstständiger evangelischer Volkskirchen, die nach dem Prinzip des allgemeinen Priestertums aller Getauften aufzubauen waren, die also ihre Selbstständigkeit aus einem genuinen Prinzip „geistlicher Gewalt“, nicht: „weltlicher Obrigkeit“ begründeten. An diesem Punkt reichte der (temporäre) Konsens von den politisch nationalsozialistischen Holl-Schülern oder Theologen wie P. Althaus und F. Gogarten bis hin zu den Kritikern des NS-Unrechtsstaats wie R. Hermann oder D. Bonhoeffer, der noch auf Holls Anregung und in Holls Todesjahr (1926) seine Berliner Dissertation Sanctorum communio begonnen hatte.⁴⁰ Er entwickelte Holls These über Luthers Kirchenbegriff kongenial weiter und verband sie mit Troeltschs Forderung nach soziologischer Aufklärung der Modernität lutherischer Soziallehre. Bonhoeffer konzipierte Geistgemeinschaft als Wesensmerkmal der Kirche. Er entfaltete sie sozialphilosophisch aus personalistischen Gemeinschaftsbegriffen und dogmatisch durch die Unterscheidung von Sünde und Offenbarung als objektiven Geist und als Heiligen Geist. Dies erlaubte ihm einen Begriff der Kirche als Kollektivperson, „Christus als Gemeinde existierend“. Diese Kirchentheorie bildete auch das Modell für Bonhoeffers Frage nach Stellvertretung als „ethische Realität“, z. B. eines stellvertretenden Schuldbekenntnisses der ökumenischen Kirchen angesichts der nationalistischen Kriegsschuldpropanda. Die Verteidigung der selbstständigen Volkskirchen wirkte als Konsensformel in den akademischen Kontroversen um Geltung und Vermächtnis Luthers. Auf dem Höhepunkt im Frühherbst 1934 überbrückte sie temporär die ansonsten nicht zu vereinbarenden Differenzen in der politischen Ethik, in der Staats- und Rechtslehre und in den Haltungen zum rassistischen Antisemitismus. Kehrseite dieses Konsenses im Kirchenverständnis war, dass eine nicht-völkische, nicht-autoritäre evangelische Staatslehre in der 5. These der Barmer Theologischen Erklärung nur im Ansatz angedeutet war. Erst nach 1938 gab es dazu erste Vorschläge. Als selbstständig definierten sich die evangelischen Volkskirchen nach dem Modell der Lutherrenaissance, sofern sie sich auf ein dem religiösen Rechtfertigungserlebnis inhärentes genuines Kirchenprinzip geistlicher Autorität zurückführten. Wie diese weitere Bedeutung von „lutherisch“ im Sinn der Lutherrenaissance mit Trotzdem versuchten sie es: W. Elert, Bekenntnis, Blut und Boden. Drei theologische Vorträge, Leipzig, 1934 (datiert auf den 31. August 1934). D. Bonhoeffer, Sanctorum Communio. Eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche, hrsg. von J. v. Soosten und E. Bethge, DBW 1, München, 1986.
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der engeren Bedeutung von „lutherisch“ im Sinn des Konfessionalismus zu verbinden war, nach welcher die Bekenntnisschriften die selbstständigen Konfessionskirchen definierten, war zu entscheiden. Die historischen Bekenntnisse galten bei vielen akademischen Theologen der Lutherrenaissance als nachrangig. Die Rezeption der Barmer Theologischen Erklärung, vor allem ihrer dritten und vierten These zum Kirchenverständnis, als Auslegung der historischen Bekenntnisse (und die Rückbindung der Theologischen Erklärung an diese Bekenntnistraditionen) entschied diese Kontroverse innerhalb des Luthertums und innerhalb des deutschen Protestantismus. Sie bahnte die innerevangelische Konkordie bzw. Kirchengemeinschaft zwischen Lutheranern und Reformierten an, die nach 1945 zum Durchbruch kam. Bekenntnisgebundene Synoden galten und gelten seit der Barmer Synode vom Mai 1934 als Lehrautorität auch in lutherischen Kirchen. Weithin undiskutiert blieb, inwieweit diese theologische Begründung der Rechtsautonomie der Kirche mit der religionsrechtlichen Begründung der relativen Rechtsautonomie der Kirchen als Körperschaften innerhalb der Weimarer Reichsverfassung korrelierte. Die Frage, ob sich Bekennende Kirchen und Gemeinden kraft eigenen kirchlichen Notrechts konstituieren können – wie dies die 2. Reichssynode der Bekennenden Kirche in Berlin-Dahlem vom November 1934 vertrat – erwies sich als Quelle unabsehbarer theologischer und religionsrechtlicher Konflikte bis 1945.
4 Revisionen der lutherischen politischen Ethik 1938 – 1945 Die Unvereinbarkeit in den Positionen politischer Ethik und Staatslehre ließ die theologische Diskussion um Luthers Erbe nach 1935 stagnieren. Theologen einer jüngeren Generation revidierten jedoch nach 1938 die lutherische politische Theologie und Ethik außerhalb der unter Anpassungsdruck stehenden staatlichen Theologischen Fakultäten und, wie im Fall Iwand und Bonhoeffer, nach Verlust ihres akademischen Lehramts.⁴¹ Die Diskussion der Nachkriegszeit um Martin Luther konnte an diese Stimmen anknüpfen. Namhafte jüngere Theologen fielen allerdings entweder dem Krieg (z. B. Harald Diem) oder nationalsozialistischen Vernichtungsmaßnahmen (z. B. Dietrich Bonhoeffer, Jochen Klepper) zum Opfer.
E. Wolf, „Zur Frage des Naturrechts bei Thomas von Aquin und bei Luther (1935)“, in: ders., Peregrinatio. Studien zur reformatorischen Theologie und zum Kirchenproblem, München, 1954, 183 – 213; H. J. Iwand, „Gesetz und Evangelium I (1937)“, in: ders., Nachgelassene Werke Bd 4: Gesetz und Evangelium, München, 1964, 13 – 230 (Vorlesung im Predigerseminar der ostpreußischen Bekennenden Kirche); D. Bonhoeffer, Nachfolge, München, 1937 (entstanden aus Kursen im Predigerseminar der Berlin-Brandenburgischen Bekennenden Kirche 1935 – 1937); M. Kuske, I. Tödt (Hg.), DBW 4, München, 1989; G. Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung. Eine Untersuchung zu Luthers Hermeneutik, München, 1942 (Dissertation Zürich 1938).
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4.1 Ein weit über 1945 hinaus wirksamer Meilenstein der Revision der politischen Ethik im Rekurs auf Luther wurde Harald Diems Dissertation Luthers Lehre von den zwei Reichen untersucht von seinem Verständnis der Bergpredigt aus. Ein Beitrag zum Problem „Gesetz und Evangelium“ (1938).⁴² Gegen die Vereinnahmung Luthers durch die völkisch-politische Theologie wies Diem den engen Zusammenhang zwischen Luthers Bibelauslegung (Bergpredigt) und den Zentralaussagen Luthers zum geistlichen und weltlichen Reich auf. Er bündelte sie in dem (seit Barths Kritik 1935) so virulenten Problem „Gesetz und Evangelium“. Erstmals prägte Diem für Luthers Aussagen über die christliche Verantwortung in Kirche und Welt den Begriff „Luthers Lehre von den zwei Reichen“, der sich nach 1945 in der Diskussion um die reeducation des deutschen Luthertums auch ökumenisch durchsetzte. Luther gehe es nicht darum, das Weltliche zu verselbstständigen und mit eigener religiöser Würde zu umkleiden, sondern um die „christliche Unterrichtung der Gewissen“, und zwar im Vollzug der Predigt in den beiden Reichen (wobei „Predigt“ Kürzel für christliches Handeln ist). Gesetz und Evangelium sind Formen der politischen Predigt des einen Wortes Gottes, sei es im Weltlichen, wo diese Predigt auf politische und rechtsethische Tugenden der Christenbürger zielt, sei es im Geistlichen, wo diese Predigt auf öffentlich verantwortete Nächstenschaft und auf das Recht des Nächsten zielt.⁴³ Den kritischen Ertrag der Studie seines gefallenen Bruders Harald fasste Hermann Diem 1947 zusammen. Er resümierte die Diskussion um Luthers Staatslehre und politische Ethik im NS-Staat und das weitgehende Versagen der „neuen evangelischen Staatslehren“⁴⁴ Bei Luther gibt es nicht eigentlich eine „Lehre von den zwei Reichen“, sondern vielmehr eine Lehre von der „Predigt in den zwei Reichen“. Diese Lehre ist a.) „in ihrer Anwendung auf die Reformationszeit“ schriftgemäß, weil sich in der damaligen „Christenheit“ das Herrsein Christi über beide Reiche in der Verkündigung des ganzen Christus der Schrift in dem einen Wort der Verkündigung zugleich in Gesetz und Evangelium predigen ließ; b.) „in ihrer Anwendung auf die politische Situation des 20. Jahrhunderts“ nicht schriftgemäß, weil diese Predigt nach der Auflösung jener Christenheit sachlich unmöglich wird und darum auch praktisch nicht mehr geübt wurde.(214) Die kritische, politische Orientierung durch die Predigt von Gesetz und Evangelium sei auf die Innerlichkeit der Gewissensentscheidung reduziert worden. Vier Dekaden nach Max Webers Aufsätzen über die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus (1904/05) und zwei Dekaden nach Karl Holls Auseinandersetzung mit
H. Diem, „Luthers Lehre von den zwei Reichen untersucht von seinem Verständnis der Bergpredigt aus. Ein Beitrag zum Problem ‚Gesetz und Evangelium‘“, in: G. Sauter (Hg.), Zur Zwei-Reiche-Lehre Luthers, München, 1973, 1– 173. H. Diem, Luthers Lehre, 163 – 170. H. Diem, Luthers Predigt in den zwei Reichen (1947), wieder abgedruckt in: G. Sauter (Hg.), Zur ZweiReiche-Lehre Luthers, München, 1973, 175 – 214 (Seitenzahlen im Text verweisen darauf).
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Webers Kritik an Luthers Berufsethik (1924) scheint Diems Fazit Webers Prognose zu bestätigen: Protestantische Berufsaskese aus Gewissensreligion habe den mächtigen Kosmos der modernen Wirtschaftsordnung miterschaffen, aber „Christenheit“ als politische Realität und als berufsprägenden Lebensstil darin eliminiert. Luther, Calvin, die Puritaner wollten Berufsmenschen sein, – wir müssen es sein. Denn indem die Askese aus den Mönchszellen heraus in das Berufsleben übertragen wurde und die innerweltliche Sittlichkeit zu beherrschen begann, half sie jenen mächtigen Kosmos der modernen, an die technischen und ökonomischen Voraussetzungen mechanisch-maschineller Produktion gebundener Wirtschaftsordnung zu erbauen, der heute den Lebensstil aller einzelnen, die in dies Triebwerk hineingeboren werden – nicht nur der direkt ökonomisch Erwerbstätigen –, mit überwältigendem Zwange bestimmt[…].⁴⁵
4.2 Im Jahr 1941 widmete Hans Joachim Iwand sein Hauptwerk Glaubensgerechtigkeit nach Luthers Lehre ⁴⁶ dem im Konzentrationslager inhaftierten Begründer des Pfarrernotbundes Martin Niemöller. Der Traktat entfaltet Hauptstücke der Theologie Luthers zum Umriss einer politisch-theologischen Existenz aus der „Gerechtigkeit Gottes“, die mit der Realität des Internierten konfrontiert wird. Die unter der manifesten Unfreiheit verborgene christliche Freiheit, die das Faktum der göttlichen Gerechtigkeit exponiert, und die liberale Freiheit als kontrafaktisches Ideal, das Kant aus dem Faktum der Vernunft exponiert, sind füreinander offen, obgleich nicht aufeinander rückführbar. Die Rechtfertigungslehre hat insgesamt das Erste Gebot zum Gegenstand, also nicht die subjektiv-innerliche religiöse Gewissheit, sondern den Konflikt um die Wahrheit Gottes angesichts ideologischer Götter. Auch Iwands Gerechtigkeitsbegriff entfaltet die Grundunterscheidung von Gesetz und Evangelium auf die Einheit des Wortes Gottes hin. Trotz mancher Berührungen schließt sich Iwand aber nicht einfach K. Barths Wort-Gottes-Theologie und seiner Kritik an der politischen Theologie des Gesetzes an. Ihn beschäftigt bleibend Luthers Theologie des Kreuzes als kritische, politisch-ethische Lebenspraxis und, wie Diem, die Aufgabe des öffentlichpolitisch gepredigten Gesetzes: Wie kann die darin mitgeteilte Befreiung im NS-Unrechtsstaat wirksam werden? Iwand verfasste, zusammen mit Barth, 1947 das Darmstädter Wort zum politischen Weg unseres Volkes. Er trat nach 1945 für eine Neuordnung der EKD als Union von Lutheranern und Reformierten ein und engagierte sich für politische Versöhnung mit den Völkern des Ostblocks.
M. Weber, „Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus (1904/05). I. Das Problem, II. Die Berufsidee des asketischen Protestantismus“, in: W. Schluchtner und U. Bube (Hg.), Max Weber: Asketischer Protestantismus und Kapitalismus: Schriften und Reden 1904 – 1911, MWG I, 9, Tübingen, 2014, (97– 122) 123 – 215. (222– 241) 242– 425, 422. H. J. Iwand, „Glaubensgerechtigkeit nach Luthers Lehre“, in: Theologische Existenz 75 (1941), wiederabgedruckt in: H.J. Iwand. Glaubensgerechtigkeit. Lutherstudien, hrsg. von G. Sauter, 2. Aufl., TB 64, München, 1991, 11– 125; C. J. Neddens, Politische Theologie und Theologie des Kreuzes. Werner Elert und Hans Joachim Iwand, Göttingen, 2010.
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5 Epilog Am Donnerstagnachmittag, den 10. Dezember 1942 betrat der evangelische Romancier und Lieddichter Jochen Klepper das Gebäude des Reichssicherheitshauptamtes in der Prinz-Albrecht-Straße in Berlin. Wenig später saß er vor dem Leiter des SS-Judenreferates Adolf Eichmann. Auf dem Spiel stand bei dieser Verhandlung das Schicksal von Jochen Kleppers Stieftochter Renate. Renate Klepper-Stein stammte aus der ersten Ehe von Hanni Klepper, der Ehefrau Jochen Kleppers. Das Mädchen trug den gelben Stern. Seit Jahren kämpfte Jochen Klepper um eine Ausreise seiner Stieftochter. An diesem Donnerstagnachmittag entschied sich Renate Klepper-Steins Schicksal. Eichmann lehnte eine Ausreisegenehmigung für sie endgültig ab. Der letzte Ausweg, Deutschland doch noch zu verlassen, war damit verschlossen. In der Nacht vom Donnerstag auf den Freitag wartete die Familie Klepper in ihrem Haus im Berliner Villenvorort Nikolassee stündlich auf die Abholung Renates. Um dem zuvorzukommen, war alles vorbereitet: Das Testament geschrieben, der Ablauf der Beerdigung festgelegt. In der Nacht schrieb Jochen Klepper ein letztes Mal in sein Tagebuch: „Nachmittags die Verhandlung auf dem Sicherheitsdienst. Wir sterben nun – ach, auch das steht bei Gott. – Wir gehen heute nacht gemeinsam in den Tod. Über uns steht in den letzten Stunden das Bild des Segnenden Christus, der um uns ringt. In dessen Anblick endet unser Leben.“⁴⁷ Der Zwangssuizid der Familie Klepper entzog sich theologischen Deutungen. Gewiss war dies kein „Freitod“, auch kein Martyrium im traditionellen Sinn. Jochen Kleppers Lehrer Rudolf Hermann, der von 1925 bis in den Oktober 1942 mit Klepper korrespondierte, schwieg sich darüber aus. In den theologischen Texten, die 1939 und 1941 zwischen Hermann und Klepper ausgetauscht wurden, drehen sich aber manche Reflexionen um Fragen des leidenden Widerstehens. Besonderes Gewicht erhält dabei der Luther-Vers „Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib: lass fahren dahin, sie haben’s kein’ Gewinn, das Reich muß uns doch bleiben.“ (Evangelisches Gesangbuch 262, Strophe 4). Im Brief vom 23. Januar 1940 kommt Jochen Klepper auf diese Zeilen zu sprechen. Er wendet dabei Luthers Lied auf seine familiäre Situation an: Sie schreiben, sehr verehrter Herr Professor, von den Erfahrungen, die einem in dem zuwachsen, was die Arbeit so hemmt. Das ist wahr: die Worte: Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib“ und die Umstände, unter denen sie geschrieben sind, habe ich nun erst begriffen. In welcher Bedrohung steht vor allem unsere Renate, die noch bei uns ist.⁴⁸
Der Sprung von Luthers Lied auf das Geschick Renate Klepper-Steins an dieser Stelle ist nur scheinbar abrupt. Klepper quälte die Frage, ob die Preisgabe seiner Stieftochter J. Klepper, Unter dem Schatten deiner Flügel. Aus den Tagebüchern der Jahre 1932 – 1942, Stuttgart, 1983, 1133 (10. Dezember 1942). H. Assel (Hg.) unter Mitarbeit von A. Wiebel, Der du die Zeit in Händen hast. Briefwechsel zwischen Rudolf Hermann und Jochen Klepper 1925 – 1942, BevTh 113, München, 1992, 75 – 76 (23. Januar 1940).
Luther und das Dritte Reich: Konsens und Bekenntnis
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die äußerste Konsequenz eines leidenden Glaubens und Widerstehens im Sinne Luthers sein müsse. Es wirkt wie ein Echo auf diesen Brief, wenn Hermann in einer großen Abhandlung über das reformatorische Widerstandsrecht gegen den Kaiser aus dem Jahr 1941 formuliert: Es gebe Situationen, in denen die Preisgabe der geschöpflichen Solidarität gerade kein Zeugnis starken Glaubens auf das göttliche Reich sei („das Reich muss uns doch bleiben“). Das Zeugnis für das Recht des Schöpfers auf das Weltliche und im Weltlichen zeige sich eher in der Treue zu Frau und Kind. Man gefährdet das Irdische selbst, wenn man es bloß als Irdisches nimmt. Das gilt, darf man hinzufügen, auch über das „Laß fahren dahin“ hinaus. – Wenn uns Mitmensch, Frau und Kind […] bloß etwas Irdisches, Profanes sind, dann gefährden wir nicht nur uns, sondern auch sie. So sind wir es auch, die unser eigenes Volk über sich selbst hinaus und hinauf zu weisen helfen sollen. Das ist ein Auftrag an die Kirche […]⁴⁹
Am 8. Dezember 1942 – Renate Klepper-Steins Auswanderung ist noch in der Schwebe – kommt Klepper in seinem Tagebuch unvermittelt auf Luthers Lied zurück: Gott weiß, daß ich es nicht ertragen kann, Hanni und das Kind in diese grausamste und grausigste aller Deportationen gehen zu lassen. Er weiß, daß ich ihm dies nicht geloben kann, wie Luther es vermochte: „Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib, laß fahren dahin.“ – Leib, Gut, Ehr – ja! Gott weiß aber auch, daß ich alles von ihm annehmen will an Prüfung und Gericht, wenn ich nur Hanni und das Kind notdürftig geborgen weiß.⁵⁰
Als sich am 10. Dezember 1942 die Auswanderung endgültig zerschlug, ging Klepper mit seiner Frau und seiner Stieftochter in den Tod.⁵¹
R. Hermann, „Luthers Zirkulardisputation über Mt 19,21 (1941)“, in: R. Hermann, Gesammelte Studien zur Theologie Luthers und der Reformation, Göttingen, 1960, 206 – 250, 227. J. Klepper, Unter dem Schatten deiner Flügel, 1131 (8. Dezember 1942). Im voranstehenden Aufsatz sind bestimmte Passagen inhaltsgleich mit meinem Essay „Theologische Diskussion um Martin Luther im NS-Staat“, in: „Überall Luthers Worte …“ Luther im Nationalsozialismus, Sonderausstellung der Stiftung Topographie des Terrors, Berlin, 2017, 183 – 198.
Luther im Bild
Die Lutherrose ist das Symbol des Luthertums. (Peter Hermes Furian / Alamy Stock Photo)
Thomas Albert Howard
Geschichte in der Gegenwart: Gedenken an Luther 1617, 1817 und 1883¹ Einleitung
Das 500-jährige Reformationsjubiläum 2017 lädt dazu ein, über die Rezeption vergangener Gedächtnisfeiern der Reformation nachzudenken. In deutschsprachigen protestantischen Ländern erstreckt sich die reichhaltige Tradition des öffentlichen Gedenkens der Reformation bis hin zur ersten Hundertjahrfeier der Reformation im Jahre 1617.² Ebenso wurden auch Martin Luthers Geburts- und Todesdaten, nämlich 1483 und 1546, im Laufe der Jahrhunderte sowohl im deutschsprachigen Raum als auch darüber hinaus gebührend gefeiert. Sowohl in der Literatur, die sich mit Gedenkfeiern befasst, als auch im sozialen Gedächtnis begegnet man dem Konsens, dass öffentliche Handlungen des Gedenkens als hauptsächliches Ziel eine Stärkung des Gemeinschaftsgefühls haben. Der retrospektive Blick ermöglicht es einer Gruppe (in unserem Fall deutschen Protestanten), sich daran zu erinnern, wer sie sind, und diese Identität in die Zukunft auszuweiten. Wie John Gillis schreibt, wird „die Kernbedeutung jeder individuellen oder gemeinschaftlichen Identität, nämlich ein sich über Raum und Zeit erstreckendes Gleichheitsgefühl, […] durch den Akt des Erinnerns erhalten und das Erinnerte wird durch die wahrgenommene Identität definiert.“³ Anders ausgedrückt streben Handlungen des Gedenkens danach, eine kollektive Identität zu stützen und die „Zeit anzuhalten“, um eine angemessene Vereinheitlichung zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu bewirken.⁴ Ohne gemeinsame Anhaltspunkte in der Vergangenheit wären kollektive Identitäten ephemer oder nicht existent. Anders formuliert müssen Identitäten einer konstanten Reaktivierung durch Rituale des Gedenkens oder Gedächtnisfeiern unterliegen, da sie sonst versanden, und die Vergangenheit, die der Identität einst Signifikanz und Energie verlieh, zu dem wird, was der große Gedächtnis-Theoretiker Maurice Halbwachs einst als „totes Gedächtnis“ bezeichnete.⁵
Übersetzung: Timm Shanks. Eine frühere Version dieses Artikels erschien in T. A. Howard und Mark Noll (Hg), Protestantism after 500 Years, 2016. Ich bin dankbar, Teile des Materials hier wiedergeben zu dürfen. D. E. Kennedy (Hg.), Authorized Pasts: Essays in Official History, Melbourne, 1995, 75 ff. John R. Gillis (Hg.), Commemorations Princeton, 1994, 3. Pierre Nora (Hg.), Realms of Memory: Rethinking the French Past, übers. v. Arthur Goldhammer, New York, 1996, x, 6. Jeffry K. Olick et al. (Hg.), The Collective Memory Reader, Oxford, 2011, 177. https://doi.org/9783110498745-059
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In vielen Fällen sind diese Beweggründe für Gedenkfeiern zweifellos zutreffend. Zusätzlich glaube ich, dass sie grundsätzlich auch für das erste Reformationsjubiläum im Jahre 1617, welches in diesem Kapitel behandelt wird, gelten. Doch Anlässe des Gedenkens können auch als einflussreicher Katalysator und als Gestalter sozialer Innovation und geschichtlicher Wandlung fungieren. Diese These wird anhand einer Auseinandersetzung mit zwei späteren Jubiläumsfeiern untersucht: 1) das 300-jährige Jubiläum der Reformation 1817, gefeiert in den Staaten des neugeformten Deutschen Bundes (1815), und 2) das 400-jährige Jubiläum der Geburt Luthers im Jahr 1883, gefeiert im neu gegründeten Deutschen Reich (1871). Gedächtnisfeiern im 17. und 18. Jahrhundert fanden als zutiefst religiöse Ereignisse im konfessionell geteilten Heiligen Römischen Reich statt. Doch im Zuge der Aufklärung im späten 18. Jahrhundert und den Umbrüchen der revolutionär-napoleonischen Jahre (1789 – 1815) etablierten und weiteten sich distinktiv moderne geschichtliche Kräfte im zentralen Europa aus, nämlich der Liberalismus, der Nationalismus und ein neuartiges geschichtliches Bewusstsein, welchem oft der Oberbegriff „Historismus“ zugewiesen wird.⁶ Diese neuen Kräfte verdrängten die älteren, religiösen Beweggründe des Gedenkens nicht vollständig; das Interessante ist tatsächlich die Frage, wie genau starke, religiöse Elemente ihre Auffälligkeit in Gedächtnisfeiern des 19. Jahrhunderts bewahrten, während sie sich zugleich in einer Art und Weise veränderten, die innovativen, modernen Ideen und Empfindungen entgegenkam und diese sogar förderte.
1617: Die erste Hundertjahrfeier der Reformation Um betrachten zu können, wie sich die Jubiläumsfeiern des 19. Jahrhunderts von vorherigen abheben, müssen wir unseren Blick zunächst auf das Jahr 1617 richten. Es verwundert nicht, dass in einer Zeit der konfessionellen Spaltung in Europa Themen der religiösen Identität im Mittelpunkt der Gedächtnisfeiern standen: Fragen der biblischen Exegese, theologische Polemik und eschatologische Spekulationen durchdrangen die Geschehnisse dieses Jahres. Darüber hinaus verschwamm innerhalb der komplexen Gegebenheiten des Heiligen Römischen Reiches die Grenze zwischen Religion und Politik erheblich, und wir täten besser daran, die Geschehnisse des Jahres 1617 als von Natur aus religionspolitisch zu verstehen.⁷ Die Gedächtnisfeiern im Jahr 1617 erfolgten nicht ohne Vorgeschichte. Im späten 16. Jahrhundert wurde eine Vielzahl von verschieden Terminen für ein jährliches Gedenken ausgewählt. Indessen fokussierte sich der Großteil der Gedächtnisfeiern, die vor 1617 stattfanden, entweder auf Geburt, Taufe oder Tod Luthers oder auf ein
Zum Begriff Historismus siehe Georg Iggers, „Historicism: The History and Meaning of the Term“, in: Journal of the History of Ideas 56, Spring 1995, 129 – 52. R. J. W. Evans et al. (Hg.), The Holy Roman Empire, 1495 – 1806, Oxford, 2011, 8 – 11.
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Datum, welches das Bekenntnis zum Protestantismus eines bestimmten Gebietes kennzeichnete. Der 31. Oktober 1517 und der Thesenanschlag waren in den frühesten Gedächtnisfeiern von nahezu keiner Bedeutung.⁸ Tatsächlich ist im 16. Jahrhundert die einzige Erwähnung des Thesenanschlags, auf welchen bei späteren Gedächtnisfeiern ein besonderer Fokus gerichtet wurde, in einem kurzen „Lebenslauf“ Luthers aufzufinden, der 1547 von Philipp Melanchthon verfasst und in der ersten Sammelausgabe von Luthers Schriften herausgegeben wurde.⁹ Die Umstände und Ereignisse des Jahres 1617 rückten jedoch das Jahr 1517 in das historische Rampenlicht, und bis heute hat es nicht an Relevanz verloren. Mit dem Anbruch des 17. Jahrhunderts waren protestantische Gebiete des Heiligen Römischen Reiches mit einigen Umständen konfrontiert, die das Gedächtnis der Reformation prägen würden. Der erste war die Bedrohung durch die zunehmend aggressive tridentinische katholische Kirche, der zweite war die zunehmende Spaltung innerhalb der eigenen Ränge in lutherische und calvinistische Gebiete. Zuletzt existierten Teilungen innerhalb des Luthertums zwischen strengeren Traditionellen und eher moderaten („philippischen“) Stimmen, die eine Aussöhnung mit ihren reformierten Pendants anstrebten. Diese konfessionelle Dynamik stellte die grundlegenden sozialen Rahmenbedingungen dar, welche die Gedächtnisfeiern des Jahres 1617 umgaben.¹⁰ Mit der Zustimmung anderer katholischer Gebiete führte Maximilian I. aus Bayern im Jahre 1607 den katholischen Glauben in der kleinen Stadt Donauwörth wieder ein, was in vielen protestantischen Gegenden für Aufregung sorgte. Dieser Akt führte 1608 kurzfristig zur Formierung der sogenannten Protestantischen Union unter der Leitung des (reformierten) Kurfürsten Friedrich V. aus der Pfalz. In der Zeit vor 1617 trafen sich jährlich Herrscher und Vertreter aus einigen protestantischen Gebieten, lutherisch und reformiert, um über die katholische Bedrohung sowie weitere Themen zu beraten. Einer den ersten bekannten Aufrufe zu einer Jahrhundertfeier kam in Form der Neujahrspredigt von 1617, gehalten in Heidelberg vom fürstlichen Hofprediger, einem gewissen Abraham Scultetus (1566 – 1625), welcher der Ansicht war, dass vor hundert Jahren „der ewige allmächtige Gott uns voller Gnade anblickte und uns vor der schrecklichen Dunkelheit des Papsttums errettete, und [uns] in das strahlende Licht des Evangeliums führte“.¹¹ Im April 1617, beim jährlichen Treffen der Protestantischen Union in Heilbronn, führte Friedrich V. den Gedanken fort und schlug vor, dass eine Gedenkfeier zwischen dem 31. Oktober und dem 2. November stattfinden sollte, um die
Hans-Jürgen Schönstadt, „Das Reformationsjubiläum 1617: Geschichtliche Herkunft und geistige Prägung“, Zeitschrift für Kirchengeschichte 93, 1982, 5 – 6. Siehe C. G. Bretschneider (Hg.), Philippi Melanchthonis Opera, in: Corpus Reformatorum, Bd. 6, Halle, 1839, 161. Thomas A. Brady, German Histories in the Age of the Reformation, 1400 – 1650, Cambridge, 2009, 259 – 318. Zitiert in Gustav Benrath, Reformierte Kirchengeschichtsschreibung an der Universität Heidelberg im 16. und 17. Jahrhundert, Speyer, 1963, 37 f.
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Anfänge der Reformation zu würdigen. Die treibende Kraft hinter dieser Initiative war das Bestreben, die Spannungen zwischen den Lutheranern und Calvinisten in der Union zu verringern. Zu dieser Zeit waren die Calvinisten im Heiligen Römischen Reich gesetzlich nicht anerkannt und wünschten, im Lichte der katholischen Bedrohung, zu ihren protestantischen Glaubensgenossen Brücken zu schlagen, Differenzen und Bitterkeit zum Trotz. Welche Gedenktage genau zu feiern waren, war zwar den einzelnen Gebieten vorbehalten, doch gemäß einem gemeinsamen Beschluss vom 23. April 1617 verpflichteten sich die Unterzeichner, während der Feiern jegliche Bitterkeit und persönliche Angriffe unter Protestanten zu unterlassen und Gott eine allgemeine Danksagung für die Wiederherstellung und Aufrechterhaltung des wahren evangelischen Glaubens vor etwa 100 Jahren darzubringen.¹² Der calvinistisch-lutherische Bruch ließ sich jedoch nicht ohne Weiteres ignorieren. Während die versöhnlichen Pläne der protestantischen Union entworfen wurden, nutzten Wissenschaftler in Sachsen-Wittenberg zeitgleich die Gelegenheit, ihren eigenen Führungsanspruch über die lutherische Orthodoxie zu erklären und eine Vereinigung der „wahren“ Gebiete – diejenigen, die die Confessio Augustana (1530) und die Konkordienformel (1577), die wesentlichen Eckpunkte des konfessionellen Luthertums, offiziell anerkannten – herbeizuführen. Schon im November 1616 und nochmals im April 1617 erwähnte der Dekan der philosophischen Fakultät in Wittenberg, Erasmus Schmidt, das „Jubeljahr“ (Jobeljahr) oder auch das „feierliche Jahr“ (Halljahr) im Jahre 1617, um damit die hundert Jahre seit dem Beginn von Luthers Wirken zu würdigen.¹³ Am 22. April 1617 wendete sich die theologische Fakultät Wittenberg mit einem Brief an Georg I., Kurfürst von Sachsen, und verlangte, dass „das erste Lutherjubiläum (primus Jubilaeus Lutheranus) mit festlichem und innigem Lobpreis“ zu feiern sei.¹⁴ Der Kurfürst stimmte herzlich zu und kirchliche Obrigkeiten aus Dresden, die allen anderen orthodox lutherischen Gebieten des Reiches vorgeschrieben hatten, die Jahrhundertfeier zu begehen, unterstützten diese Entscheidung. Die Wittenberger Theologen erbaten von Georg I. die Erteilung einer offiziellen „Instruktion und Ordnung“, um den Prozess in Gang zu setzen. Dies erfolgte am zwölften August 1617, als der Kurfürst zur ersten Jahrhundertfeier des „evangelischen Jubel-Festes“ aufrief und die Zeit und Örtlichkeiten der Festlichkeiten, einschließlich einer Liste von Bibelstellen, auf denen die Predigten in den drei Tagen (31. Oktober bis 2. November) basieren sollten, festlegte.¹⁵ Der Dresdner Hofprediger Matthias Hoë von Hoënegg (1580 – 1645), der viele Prediger für ungeeignet hielt, mit der Signifikanz der
Hans-Jürgen Schönstädt, Antichrist, Weltheilsgeschehen und Gottes Werkzeug. Römische Kirche, Reformation und Luther im Spiegel des Reformationsjubiläum 1617, Wiesbaden, 1978, 13 – 15. Schmidts Äußerungen sind die ersten bekannten Hinweise auf ein Bewusstsein der historischen Signifikanz des Jahres 1617. Siehe Schönstädt, Antichrist, 12– 13. Zitiert in Schönstädt, Antichrist, 16. Zitiert in Schönstädt, Antichrist, 18.
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Gegebenheit umzugehen, veröffentlichte exegetische Richtlinien der Bibelstellen, die für die Angelegenheit als angemessen erachtet wurden. Gedruckte Exemplare von Georgs „Instruktion und Ordnung“ und andere Anordnungen wurden in lutherische Gebiete ausgesandt. Offenkundig sah Sachsen das Jahr 1617 als Gelegenheit, seine Autorität sowohl gegenüber der katholischen Bedrohung als auch gegenüber der Verwässerung des protestantischen Glaubens durch die Calvinisten und diejenigen Lutheraner, welche die Konkordienformel ablehnten, zu stärken. Wie es in Predigten und Druckschriften aus der Zeit der Vorbereitung und während der Ereignisse im Zeitraum vom 31. Oktober bis zum 2. November erkennbar ist, wurde die erste evangelische Jahrhundertfeier als Gedenken an den berichtigten Glauben verstanden, im Gegensatz zu den fälschlichen Überzeugungen und überholten Gedächtnisfeiern der Juden und der Katholiken. Rom sei die korrumpierende Instanz, wurde wiederholt behauptet; Luther hätte lediglich die Dinge in ihre rechtmäßige Ordnung gerückt. Weder katholische Gebiete innerhalb des Reiches noch Rom fanden Gefallen an den Entwicklungen im Protestantismus des Jahres 1617. Dabei erwies sich die protestantische Aneignung des Begriffs „Jubeljahr“ als besonders leidig. Im Jahr 1300 fand nach Anordnung des Papstes Bonifatius VIII. das erste katholische Jubeljahr statt.¹⁶ Ursprünglich sollten die Jubeljahre alle 100 Jahre stattfinden. Nach dem biblischen Beispiel des jüdischen Jubeljahres in Lev 25 wurde die Zeitspanne später auf 50 Jahre reduziert. Dann, im Jahre 1470, erfolgte eine weitere Verkürzung auf 25 Jahre. Vor 1617 wurden tridentinische Jubiläen, äußerst triumphalistisch, 1575 und 1600 gefeiert; das nächste Jubiläum sollte planmäßig 1625 stattfinden. Doch in Anbetracht des Schreckgespenstes in Form eines protestantischen Jubeljahres erklärte Papst Paul V. am 12. Juni 1617, dass die katholische Kirche das verbleibende Jahr als extraordinäres Jubeljahr feiern werde.¹⁷ Leider liegt das katholische Jubeljahr jedoch außerhalb des Themenbereichs dieser Untersuchung. Doch was geschah wirklich in den protestantischen Territorien in der Zeit vom 31. Oktober bis zum 2. November 1617? Und worin liegt die grundlegende Bedeutung dieser Geschehnisse für nachfolgende Gedächtnisfeiern der Reformation? In Form von offiziellen Anordnungen und Berichten, Predigten, wissenschaftlichen Schriften, Debatten, Gedichten, Theaterstücken, Gebeten, Druckschriften, Holzschnitten, Gedenkmünzen und Medaillen wurde ein Schatz an Hinweisen hinterlassen. Während die Anordnungen und Berichte zumeist von vorschreibendem Charakter sind und wenig darüber preisgeben, wie einfache Menschen das Jubeljahr erlebt haben, erzählen sie ausgiebig davon, wie die Elite die Feierlichkeiten geplant und inszeniert hat und was sie sich dadurch zu erreichen erhoffte. Stricher, „L’annee jubilaire et la tradition catholique“, in: Foi et Vie, 99, 2000, 73 – 86. Siehe Ruth Kastner, Geistlicher Rauffhandel: Form und Funktion der illustrierten Flugblätter zum Reformationsjubiläum in ihrem historischen und publizistischen Kontext, Frankfurt am Main, 1982, 30 – 33 und Charles Zika, „The Reformation Jubilee of 1617“, in: D. E. Kennedy (Hg.), Authorized Pasts: Essays in Official History, Melbourne, 1995, 84.
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Die Anweisungen (Verzeichnus) für die lutherische Reichsstadt Ulm sind für das größere Phänomen repräsentativ; tatsächlich besitzen sie eine besondere Bedeutung, da die veröffentlichte Version retrospektiv einige Details der tatsächlichen Ereignisse nacherzählt, und diese ermöglichen in der Tat zumindest einen kleinen Einblick in den tatsächlichen Ablauf. Wie in anderen Gegenden feierte man die Gedenkfeier auch in Ulm über einen Zeitraum von drei Tagen, vom 31. Oktober bis zum 2. November. Doch wenige Tage zuvor, nämlich am 26. Oktober, informierte Conrad Dieterich (1575 – 1635), der Superintendant Ulms, die Bürger der Stadt, dass man sich während der Festlichkeiten wie anständige Christen zu betragen habe, und dass Saufen, Ruhestörungen und ebenso jegliches ordnungswidrige Verhalten zu unterlassen sei. Vielmehr sollte man Predigten lauschen, beten, am Abendmahl teilnehmen und über Gottes Gnade, den geläuterten Glauben in die Stadt zu bringen, reflektieren. Die zentralen Örtlichkeiten des Jubiläums waren das Ulmer Münster, die Hauptpfarrkirche der Stadt und die Spital- beziehungsweise Dreifaltigkeitskirche. Da man mit einer hohen Anzahl an Teilnehmern rechnete, wurden zusätzliche Geistliche aus ländlichen Regionen hinzugezogen.¹⁸ Der gesamte Zeitraum sollte als eine Zeit der besonderen Festlichkeit geachtet werden: Kirchenglocken läuteten vor und nach den Gottesdiensten, wobei ein vollbesetzter Chor mit einer Orgel die Gottesdienste begleitete. Die am 31. Oktober im Ulmer Münster gehaltene Predigt widerrief und verhöhnte den Ablasshandel, während die vom 1. November die eigentliche Aufgabe des Gottesdienstes verkündete und den päpstlichen Missbrauch der Messe kritisierte. Am Sonntag, den 2. November, dem Tag der eigentlichen Feier, wurden drei Predigten gehalten, in denen Verbindungen zwischen Bibelstellen und reformatorischen Ereignissen erläutert wurden.¹⁹ Die offiziellen Ulmer Anweisungen weisen auf ähnliche Gottesdienste mit Verwendung derselben Bibelstellen in der Dreifaltigkeitskirche und in anderen, ländlichen Gemeinden unter Aufsicht des Ulmer Kirchenvorstands hin; selbst in den kleinsten Dörfern wurden Kindern Medaillen als Andenken (Geltlein) ausgehändigt. Die Feierlichkeiten dauerten bis in die folgende Woche an. Am Montag las der Rektor der Lateinschule ein Gedicht über das Leben Martin Luthers vor, welches für den Anlass verfasst wurde. Am Dienstag hielt der Assistent des Rektors eine Rede über Luther und die Reformation. Im Laufe der Woche hielten sämtliche Studenten Reden auf Latein, die sich auf Wendepunkte in Luthers Leben fokussierten.²⁰ Der Bericht aus Ulm erlaubt einen kleinen Einblick in das, was in anderen protestantischen Gebieten geschah, trotz einer Fülle an Unterschieden im Detail.²¹ Wie bereits erwähnt, sind die meisten Aufzeichnungen von präskriptiver oder homileti-
Conrad Dieterich, Zwo Ulmische Jubel und Danckpredigten, Ulm, 1618; vgl. Schönstädt, Antichrist, 64– 67. Dieterich, Zwo Ulmische Jubel und Danckpredigten, 9 ff.; vgl. Kastner, Geistlicher Rauffhandel, 62– 63. Zika, „The Reformation Jubilee of 1617“, 86. Schönstadt, Antichrist, 20 – 85.
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scher Natur und zeigen eher die Ziele, welche die Eliten für das Jubiläum verfolgten, als das wirklich Erlebte der einfachen Bürger. Nichtsdestotrotz sind mehrere rote Fäden in den Aufzeichnungen zu erkennen. Erstens, und nicht überraschend, steht die Person Martin Luther sowohl in schriftlichen als auch in visuellen Erzeugnissen von 1617 im Mittelpunkt; Luther geht als der unumstrittene Held der Reformation hervor. Wie Mose wurde Luther als auserwählter Botschafter verstanden, als Gottesmann beziehungsweise Gottes Werkzeug, um die Gläubigen von der Knechtschaft durch „Ägypten,“ hier also dem Papalsystem der ‚falschen‘ Kirche, zu befreien. Luther erschien als Abbildung auf Flugblättern, Gedenkmedaillen und Münzen und wurde auch in Predigten im Jahr 1617 unzählige Male erwähnt. Mittelalterlichen Hagiographien von Heiligen ähnelnd, erzählten Predigten und Abbildungen von den Wendepunkten in Luthers Leben, wie zum Beispiel seinem Entschluss, Mönch zu werden, dem Verbrennen der Bannandrohungsbulle, die von Leo X. ausgesprochen wurde, seinem trotzigen Auftreten vor Karl V. auf dem Reichstag zu Worms 1521, seiner Übersetzung der Schrift auf der Wartburg, seiner Heirat mit Katharina von Bora, seinem Tod und Begräbnis. Dem Kontrast zwischen Luthers Figur – „ein kleiner Mönch“ – und dem aufgeblähten, korrupten Papalsystem, welches er in Angriff nahm, wurde viel Aufmerksamkeit zuteil. Gerade dieser Kontrast wurde als augenscheinlicher Beweis verstanden, dass allein Gott hinter einer solch unwahrscheinlichen Angelegenheit stehen konnte.²² Zweitens fanden Symbole, die schon im 16. Jahrhundert mit Luther verknüpft worden waren, während der Jubiläumsfeier im Jahr 1617 eine weite Verbreitung; sie beeinflussten spätere Gedächtnisfeiern und prägten grundlegend das protestantische geschichtliche Bewusstsein. Drei davon sind besonders erwähnenswert. Das erste ist die sogenannte „Lutherrose“, eine offene weiße Rose auf einem blauen Feld. Im Zentrum der Rose befindet sich ein rotes Herz, welches mit einem schwarzen Kreuz versehen ist. Dem Familienwappen nachempfunden, hatte Luther selbst dieses Siegel entwickelt und theologisch interpretiert. Das schwarze Kreuz steht für Leid und Tod; das rote Herz für Leben; die weiße Rose für Frieden durch Rechtfertigung; und das blaue Feld für himmlische Freude. Im 16. Jahrhundert bereits in weitem Umlauf, erschien die Lutherrose auf unzähligen Flugblättern, Münzen und Medaillen im Jahr 1617.²³ Das zweite Symbol ist das eines Schwans.Während der aufregenden 1520er und 1530er Jahre kursierte die Geschichte vom böhmischen Vorreformator Jan Hus, der aus seiner Gefängniszelle gesagt haben soll, dass, obwohl er vielleicht eine schwache Gans sei, ein mächtigerer Vogel nach ihm kommen werde, um die Kirche zu reformieren. In der Begräbnispredigt Luthers machte Johannes Bugenhagen aus Wittenberg aus diesem ‚kommenden Vogel‘ einen Schwan und schrieb Hus die folgenden Worte zu: „Heute bratet ihr eine Gans, aber in hundert Jahren wird aus der Asche ein
Zika, „The Reformation Jubilee of 1617“, 96. Kastner, Geistlicher Rauffhandel, 183.
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Schwan auferstehen, den ihr nicht verbrennen werden könnt.“²⁴ Das dritte Symbol ist das Bild des Lichts aus Mt 5,14– 15: „Ihr seid das Licht der Welt […]. Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter; so leuchtet es allen, die im Hause sind.“ In Jubiläumsartefakten von 1617 erscheinen die zwei Symbole, Schwan und Licht, als vereint.²⁵ Drittens kehrte im Jahr 1617 die feste Verknüpfung zwischen theologischer und politischer Autorität als Motiv wieder. In Abwesenheit der katholischen Hierarchie erfüllte der Fürst in lutherischen Gebieten erst die Position des Notbischofs und später die des summus episcopus, dem nominellen Oberhaupt der Kirche und deren bewaffnetem Protektor.²⁶ In Sachsen wurde eine direkte Verbindung zwischen der Unterstützung, welche der Kurfürst Friedrich der Weise Luther in der Vergangenheit angeboten hatte, und dem jetzigen Schutz der Kirche, geleistet vom Kurfürst des Jahres 1617, Georg I., gezogen. Ein eindrucksvolles Beispiel dieser Beziehung erscheint in einem Kupferstich von Balthasar Schwan als Teil einer Reihe von Flugblättern, welche 1617 in Nürnberg veröffentlicht wurden. Luther und sein zentraler Verbündeter Philipp Melanchthon stehen beide am Altar, während Luther auf eine aufgeschlagene Bibel mit dem Satz „Das Wort Gottes bleibt in Ewigkeit“ zeigt. Die beiden Reformer sind flankiert von dem Kurfürsten Friedrich auf der Linken, dessen Schwert auf den Altar liegt, ein Zeichen seines bisherigen Schutzes des reinen Glaubens, und von Georg I. auf der Rechten, sein Schwert in die Höhe gehoben, als Zeichen seines bis in die Gegenwart fortwährenden Schutzes.Variationen dieses Kupferstichs wurden vermehrt im Jahre 1617 angefertigt; zahlreiche Münzen und Medaillen zeigen Friedrich den Weisen auf der einen Seite und Georg I. oder einen weiteren protestantischen territorialen Fürsten auf der anderen.²⁷
1817: Die erste moderne Jahrhundertfeier der Reformation Zwischen 1617 und dem Zusammenbruch des Heiligen Römischen Reiches 1806 fanden unzählige zusätzliche Gedenkfeiern reformatorischer Ereignisse statt. 1717 wurde Luthers Vorgehen gegen den Ablasshandel erneut hervorgehoben; 1630 und 1730 erinnerte man an die Confessio Augustana (1530).²⁸ Fortdauernd erfuhren die Geburts-
Zitiert in Robert Scribner, Popular Culture and Popular Movements in Reformation Germany, London, 1987, 327. Heinrich Gottlieb Kreussler, Luthers Andenken in Jubel-Münzen, Leipzig, 1818, Tafel. Lewis Spitz, „Luther’s Ecclesiology and his Concept of the Prince as Notbischof“, Church History 22, 1953, 113 – 41. John Roger Paas, The German Political Broadsheet: 1600 – 1700, Bd. 2, Wiesbaden, 1986, 111 (Tafel 302). Zu 1717 siehe Harm Cordes, Hilaria evangelica academia: Das Reformationsjubiläum von 1717 an den deutschen lutherischen Universitäten, Göttingen, 2006.
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und Todesdaten Luthers und anderer bedeutender Reformatoren eine breite, öffentliche zeremonielle Aufmerksamkeit. Obgleich diese Ereignisse viele Unterschiede aufwiesen, sind es ihre Gemeinsamkeiten, die hervorstechen. Die Festlichkeiten wurden als tief religiöse Festlichkeiten geplant und durchgeführt, die die Realität des konfessionell gespaltenen Römischen Reiches zum Ausdruck brachten. In der Zeit vor dem 19. Jahrhundert waren Reformationsjubiläen, anders ausgedrückt, in erster Linie konfessionelle Angelegenheiten, die von der Staatskirche zu dem Zweck gefördert wurden, über Luthers Wiederherstellung religiöser Wahrheit zu reflektieren sowie über den politischen Schutz, unter den die verschiedenen Staaten des Heiligen Römischen Reichs diese Wahrheit gestellt hatten.²⁹ Im Jahre 1817 dagegen waren wichtige Veränderungen im Gange, welche sich durchaus auf die Reformationsjubiläen auswirkten; diese Veränderungen beeinträchtigten nicht die religiösen Elemente, aber ermöglichten es, gleichzeitig mit ihrem Blick in die Vergangenheit ausgesprochen moderne soziale und intellektuelle Strömungen zu inkubieren und zu übermitteln. Diese Veränderungen passierten nicht über Nacht, doch es ist angemessen, grundsätzlich festzuhalten, dass eine Reihe von Entwicklungen und Ereignissen im 18. Jahrhundert eine Wandlung in Bezug auf die Erinnerung an die Reformation herbeiführten. Manche dieser Veränderungen können sicherlich den revolutionär-napoleonischen Jahren des Umbruchs nach 1789 zugeschrieben werden, mit denen der stürmische Aufstieg eines neuartigen, bürgerlichen Ethos einherging. Doch andere lassen sich auf Entwicklungen im frühen 18. Jahrhundert zurückführen. Insbesondere vier Entwicklungen, die vor 1817 an Fahrt gewannen, verdienen es, näher betrachtet zu werden. Erstens wurde in den Jahren bis 1817 aus dem Bächlein aufklärerischer Neigungen, von denen manche schon 1717 in Gedächtnisfeiern ersichtlich waren, ein reißender Strom, der den Blick auf die Reformation erheblich beeinflusste.Während sich die Figuren der Aufklärung mit Sicherheit nicht in allem einig waren, konvergierten viele doch mit der stadialen Sicht auf die menschliche Geschichte – die Auffassung, dass Geschichte nicht im Bereich von Sünde, Tod und Erlösung stattfindet, sondern ein sich fortbewegendes Vorhaben ist, in welchem eine erkennbare Entwicklung und Fortschritt möglich ist. Für diejenigen, die diese Ansicht teilten, konnte Luther nach wie vor als Wiederhersteller vernünftiger Religion betrachtet werden, doch im Zuge dessen wurde er auch ein Katalysator, der die menschliche Geschichte weg von Aberglaube und Dunkelheit (mittelalterlichem Katholizismus), hin zu Vernunft und Licht (modernem Protestantismus) führte. Zweitens übte die Erneuerungsbewegung des Pietismus einen beträchtlichen Einfluss auf die Rezeption der Reformation im Verlauf des 18. Jahrhunderts aus – tatsächlich fing der Begriff der „Reformation“ zuerst unter Pietisten an, die Bedeutung einer eigenständigen Epoche der Kirchengeschichte anzunehmen. Während man in
Klaus Tanner (Hg.), Konstruktion von Geschichte: Jubelrede, Predigt, Protestantische Historiographie, Leipzig, 2012, 15 ff.
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Bezug auf das 18. Jahrhundert zu Recht eine allzu spitze Unterscheidung zwischen Luthertum und Pietismus (wie auch zwischen Pietismus und Aufklärung) vermeidet, waren Pietisten einer konfessionellen generell weniger rigide bezüglich der Interpretation der Reformation und hatten eine offenere Haltung, deren ethischen und affektiven Aspekten nachzugehen. Bedeutende pietistische Wissenschaftler lenkten die Aufmerksamkeit auf die zentrale, introspektive Frömmigkeit Luthers und kontrastierten diese mit der dogmatischen Rigidität und der staatlichen Kontrolle der lutherischen Kirchen ihrer Zeit. Einige differenzierten auch Luthers Lebensabschnitte, indem sie den jungen Luther als „Befreier“ rühmten und dieses Bild dem gealterten, ergrauten Luther als „Staatsmann und Gemeindebauer“ gegenüberstellten.³⁰ Pietistische Interpretationen und Evokationen der Reformation, die vor allem von der Universitätsstadt Halle ausgingen, dehnten ihren Einflussbereich im Verlauf des 18. Jahrhunderts aus.³¹ Drittens ist das späte 18. und frühe 19. Jahrhundert bekannt als eine Zeit der Umbrüche, welche den Historismus hervorbrachte. Der Historismus ist eine bekanntermaßen schwer zu fassende Idee; zweifellos ist dies zum Teil Wissenschaftlern zuzuschreiben, die den Begriff als Kürzel für einen enormen und vielschichtigen Wandel im modernen deutschen und westlichen Denken verwendeten – Friedrich Meinecke nannte ihn „eine der gewaltigsten intellektuellen Revolutionen, die jemals im menschlichen Denken stattgefunden hat.“³² Seine Repräsentanten, wie der Philologe Friedrich August Wolf, der Jurist Friedrich Carl von Savigny oder der Historiker Leopold von Ranke blickten allesamt in die Vergangenheit und auf die Kategorie der „Entwicklung“, um jegliches menschliche Phänomen zu verstehen – nicht zuletzt auf die Französische Revolution, die nahezu allen Europäern ein geschärftes Bewusstsein für Bruch und Veränderung verlieh.³³ Der „Blick in die Geschichte“ des deutschen Denkens ging einher mit einer erneuerten und vielschichtigen Betrachtung der Reformation als Wendepunkt der nicht allzu fernen Vergangenheit. Darüber hinaus bestand, laut einigen Wissenschaftlern, eine Kausalbeziehung zwischen der reformatorischen Anfechtung der Autorität im 16. Jahrhundert und den liberalen, modernisierenden Impulsen ihrer Zeit. Letztlich beeinflussten im 19. Jahrhundert frühe deutsch-nationalistische Strömungen die Rezeption der Reformation. Im Gedankengut einiger Denker des 18. Jahrhunderts verankert, und aufgrund der Französischen Revolution und der napoleonischen Kriege popularisiert, hatte der Nationalismus eine deutliche Auswirkung auf das Jubiläum im Jahr 1817 und tatsächlich auf nahezu alle Gedenkfeiern des
John Tonkin, „Reformation Studies“, in: Hillerbrand (Hg.), Oxford Encyclopedia of the Reformation, Oxford, 1996, 403. A. J. Dickens und John Tonkin, The Reformation in Historical Thought, Cambridge, 1985, 116 ff. Friedrich Meinecke, Historism: The Rise of a New Historical Outlook, übers. v. J. E. Anderson, New York, 1972, LIV. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 – 1866. Bürgerwelt und starker Staat, München, 441– 71.
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19. Jahrhunderts. Johann Gottfried Herder (1744– 1803) stellte Luther als einen deutschen Helden, eine Quelle nobler Vergangenheit und als Vorbote einer leuchtenden Zukunft für die deutschsprachige Bevölkerung im zentralen Europa dar. „Werde nochmals Lehrer deiner Nation, [Luther], ihr Prophet, ihr Pastor“, rief Herder.³⁴ Gemeinsam mit einer Handvoll Gleichgesinnter begünstigte Herder das idealistisch-romantische Konzept, dass jede Nation einen Geist besitzt, der sich zeitweise in einem „bedeutendem Mann“, einem legendären Genie manifestiert, der diesen Geist in seinem innersten Wesen verkörpert, wenngleich dieser zum geistlichen Gemeinwohl der Menschheit beiträgt. Für Engländer war es Shakespeare; für Italiener Dante; und für die Deutschen Luther.³⁵ Die Darstellung Luthers als Vorbote des deutschen Volkes wurde zum Ende des 18. Jahrhunderts geschürt und wuchs an Popularität nach der Völkerschlacht bei Leipzig im Jahr 1813, einem Ereignis, das das napoleonische Joch gleichsam entfernte und die nationalistische Stimmung, besonders in den jüngeren und gebildeten Klassen, intensivierte. Die miteinander verwobenen Schicksale von Napoleon und dem deutschen Volk schaffen tatsächlich den wesentlichen und unmittelbaren Kontext, um die Reformationsjubiläen des Jahres 1817 zu verstehen. Wie Thomas Nipperdey bekanntlich schrieb: „Am Anfang war Napoleon. Die Geschichte der Deutschen, ihr Leben und ihre Erfahrungen in den ersten eineinhalb Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, in denen die ersten Grundlagen eines modernen Deutschland gelegt worden sind, steht unter seinem überwältigenden Einfluss.“³⁶ Im Bestreben nach europäischer Herrschaft hatten Napoleons Handlungen die massive Umstrukturierung kirchlicher und politischer Einrichtungen herbeigeführt, was zur Demütigung Preußens in der Schlacht bei Jena im Jahr 1806 und zum Ende des Heiligen Römischen Reichs im selben Jahr führte. Unter dem Joch Napoleons entfachten liberale und nationalistische Strömungen und erreichten in der Folge der erwähnten Völkerschlacht ihren Höhepunkt. Jedoch entstand, zum Bedauern der Nationalisten, nach Napoleons Niederlage kein robuster gesamtdeutscher Staat. Stattdessen zwang ihnen das deutsche Volk den sperrigen Deutschen Bund auf, eine Beschwichtigung für das nationalistische Empfinden, der jedoch in Wirklichkeit eine wesentliche Rolle in dem reaktionären Vorhaben spielte, welches Fürst von Metternich sowie andere Befürworter der Restauration auf dem Wiener Kongress (1814– 1815) geschmiedet hatten. Zusammengefasst intendierte der Friedensvertrag, den deutschen Liberalismus und Nationalismus einzudämmen und die Ancien-Régime-Prinzipien von Thron und Altar wiederherzustellen. Doch weder der Liberalismus noch der Nationalismus traten ab. In der Tat erlebten beide im Oktober des Jahres 1817 einen dramatischen Aufschwung, als sich deutsche Studenten aus elf verschiedenen Universitäten auf der Wartburg versam-
Zitiert in Ernst Walter Zeeden, The Legacy of Luther, übers. v. Ruth Mary Bethell, London, 1954, 172. Robert Ergang, Herder and the Foundations of German Nationalism, New York, 1931, 177– 212. Nipperdey, Bürgerwelt und starker Staat, 11.
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melten, um den vierten Jahrestag der Völkerschlacht und das dreihundertjährige Reformationsjubiläum zu feiern. Dies war einer der zwei entscheidenden Momente des Jahres 1817. Der zweite lässt sich auf die Gründung der preußischen Unierten Kirche zurückführen; ein von der Regierung arrangiertes Bemühen, die lutherische und die reformierte Kirche in den Gebieten der Hohenzollern zu vereinigen, um eine einträchtige evangelische Kirche zu schaffen – ein Vorhaben, welches diverse territoriale Kirchen nachahmten. Eine genauere Untersuchung der studentischen Zusammenkunft auf der Wartburg und der Unionskirche, gefolgt von einer Inhaltsprobe festlicher Reden und Festpredigten vom 31. Oktober bis 2. November 1817 werden den Blick auf das dreihundertjährige Jubiläum der Reformation als Aufbruch von den früheren Jubiläen und als Triebkraft historischen Wandels erweitern. Von dem konservativen Abkommen von Wien des Jahres 1815 frustriert, kamen am 18. und 19. Oktober 1817 knapp 500 junge Männer, die alle Mitglieder in Burschenschaften waren, auf der Wartburg zusammen. Viele hatten im Krieg gegen Napoleon gekämpft und ersehnten eine Neuentfachung der exaltierten nationalistisch-liberalen Stimmung, welche sie im Jahr 1813 erlebt hatten. In ihren „Grundsätzen und Beschlüssen“ fassten die Studenten ihre Ziele zusammen: nationale Einheit, verfassungsmäßige Freiheit, eine liberale gesamtdeutsche Regierung und die Beseitigung der Überreste des Feudalismus.³⁷ Die Stätte, an der Luther das Neue Testament 1521– 1522 ins Deutsche übersetzt hatte, schien ein angemessener symbolischer Ort für eine solche Versammlung zu sein. Inmitten des Trinkens, des Singens und der Nostalgie für die jüngste Vergangenheit wurden Reden gehalten, in denen Studenten sich gegenseitig ermahnten, nach einer deutschen Nation zu streben, den Frieden zu lieben, den Partikularismus zu überwinden und dem reaktionären politischen Klima zu trotzen. In Anspielung auf Luthers Verbrennung der Bannbulle inszenierten die Studenten eine Verbrennung von Büchern, deren „undeutscher“ Inhalt ihrer Ideologie nicht entsprach. Der Enthusiasmus des Wartburgfestes reflektierte im Grunde das studentische Gefühl, verraten worden zu sein; die nationalistisch-liberalen Bedürfnisse von 1813 wurden durch das politische Abkommen von 1815 erstickt, und die Studenten sahen das dreihundertjährige Reformationsjubiläum 1817 als Gelegenheit, den Zeitgeist von 1813 wiederzuerwecken. Für die Beteiligten des Wartburgfestes war es ein berauschendes Ereignis und, nach dem Urteil von Historikern, ein Schlüsselmoment bei der Bildung einer deutschen nationalen Gesinnung.³⁸ Das Fest war durchzogen von nationalistischer Hoffnung, historischem Bewusstsein und protestantischer Überzeugung. Wie der Text eines bekanntes Lied lautet: „Wir wollen hier nach unsrer Art / Den großen Festtag halten. / Heut’ ist des Doctor Luther’s Tag, / Zuerst ein Jeder singen mag: / hoch lebe Doctor Luther!“³⁹ Luther war jedoch nicht ausschließlich mit der „Nation“ verknüpft. Nipperdey, Bürgerwelt und starker Staat, 245. James J. Sheehan, German History, 1770 – 1866, Oxford, 1989, 406 – 07. Robert Keil und Richard Keil, Die burschenschaftlichen Wartburgfeste von 1817 und 1867, Jena, 1868, 14.
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Den Beurteilungen der Festbesucher nach hatte die Reformation ein weitläufiges Verständnis von Geistesfreiheit und Innerlichkeit eingeführt. Ebenso wie der preußische General Gebhard von Blücher 1813 Napoleon besiegt hatte, so hatte auch Luther die päpstliche Tyrannei und den Aberglauben, also eine seit Langem bestehende Hinderung des Friedens, besiegt. Die Freiheit, wie die Studenten sie sahen, war jedoch nicht die Freiheit, die oft mit dem westlichem Liberalismus assoziiert wird, sondern eine Freiheit, die sich in der Hoffnung auf eine progressive nationale Einheit und auf die Souveränität des deutschen Volkes manifestierte. Dieses Empfinden durchdrang die Jubelfeier 1817. Obwohl sich die Regierungselite Preußens eine andere Art von Einheit ausmalte, vereinte sich ihre Vorstellung mit nationalistischen Gesinnungen und Zielen in einem Bereich: der Vereinigung der zwei protestantischen Konfessionen in eine gemeinsame evangelische Kirche beziehungsweise Unionskirche – ein Vorhaben, dass in früheren, eher konfessionell geprägten Epochen undenkbar war. Der Drang hin zu einer Union fand ihren Ursprung zum Teil in der persönlichen religiösen Motivation des Königs. In den Jahren vor der Union interessierte sich Friedrich Wilhelm III. (reg. 1797– 1840) für die episkopale Struktur der anglikanischen Staatskirche und die Liturgie der orthodoxen und katholischen Kirchen. Im Vergleich dazu erschienen seine Kirchen in Preußen dürftig organisiert und liturgisch zu divers. Zudem hatte der reformierte König eine lutherische Adlige aus Mecklenburg zur Frau genommen und empfand es als frustrierend, dass sie nicht gemeinsam das Abendmahl feiern konnten.⁴⁰ Doch die Entscheidung zur Vereinigung war nicht ausschließlich der Laune des Königs geschuldet; andere intellektuelle und politische Erfordernisse waren an dieser Angelegenheit beteiligt. Für eine Reihe von preußischen Ministern stellte die Unionskirche eine ansprechende Möglichkeit dar, die Konfessionalisierung zu überwinden und somit ein wachsendes, progressives Religionsverständnis zu schaffen, was wiederum eher im Sinne der aufklärerischen Perspektive und der deutschen idealistischen Philosophie war. Die Union wurde des Weiteren als eine Angelegenheit der Staatsräson verstanden; es gehe darum, Religion „in Einklang mit der Ausrichtung des Staates“ zu bringen, wie der Politiker Karl von Altenstein es formulierte.⁴¹ Zudem würde eine einzige protestantische Kirche, die natürlich an den Staat gebunden wäre, eine „Einheitsfront“ gegenüber der beträchtlichen katholischen und kleineren jüdischen Minderheit bilden. Das doppelte Ziel, den intra-protestantischen Konfessionalismus zu verringern und die (preußische) nationale Einheit zu konsolidieren, erhielt große Unterstützung, nicht zuletzt von dem Philosophen Hegel und dem Theologen Friedrich Schleiermacher, der sowohl von der Kanzel aus als auch in Universitätsvorlesungen lautstark für
Thomas Stamm-Kuhlmann, König in Preußens großer Zeit. Friedrich Wilhelm III. der Melancholiker auf dem Thron, Berlin, 1992, 150 – 80. Thomas Albert Howard, Protestant Theology and the Making of the Modern German University, Oxford, 2006, 235 ff.
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die Vereinigung plädierte.⁴² Der eigentliche Vereinheitlichungsprozess der Kirche nahm seinen Anfang im September des Jahres 1817.⁴³ Im Vorgriff auf die Dreihundertjahrfeier der Reformation im Oktober veröffentlichte der König am 27. September 1817 eine Bekanntmachung, in welcher er sowohl die protestantische Teilung beklagte, als auch darlegte, dass nur Äußerlichkeiten die zwei Kirchen voneinander trennten, und zuletzt die Wiedervereinigung als einen Akt von tiefer religiöser Signifikanz lobte. Der König verdeutlichte, dass weder die Reformierten lutherisch, noch Lutheraner reformiert werden müssten, sondern dass aus ihren separaten Identitäten eine neue „evangelische“ Kirche entstehen werde.⁴⁴ Um das Ereignis festzuhalten, wurde eine Medaille geprägt: Luther und Calvin schmückten die eine Seite, während sich auf der Kehrseite ein Symbol der Mutter Kirche zeigte, die ihre zwei Söhne auf ihrem Schoß umklammert.⁴⁵ Der Prozess in Richtung protestantischer Vereinigung war nicht auf Preußen beschränkt, sondern breitete sich auch in andere deutsche Staaten aus.⁴⁶ Obwohl eine Vielfalt an partikularen Umständen diese Vereinigungen begleitete, ließen sich nahezu alle von der feierlichen Rhetorik der Dreihundertjahrfeier der Reformation und Preußens Exempel inspirieren. Beinahe alle dieser Fälle wurden überdies von oben herab von den Bürokratien des Staats und der Kirchen organisiert und unter dem Banner des „nationalen Interesses“ durchgeführt. Nicht jeder war von diesem Arrangement erfreut. Nach Ansicht eher traditionell ausgerichteter Lutheraner war die von oben bestimmte, vom Staat aufgezwungene Vereinigung ein Gräuel – ein Verrat gegenüber dem, was Luther wünschte, und nicht dessen Erfüllung. Niemand bekundete heftigeren Unmut als der Kieler Pastor Claus Harms (1778 – 1855), der es 1817 auf sich nahm, seine eigenen 95 Thesen gegen die preußische Union zu verfassen und diese gemeinsam mit den 95 Thesen Luthers, die er „die Wiege und die Windeln, in denen unsere lutherische Kirche liegt“ nannte, zu veröffentlichen. Die Entrüstung des unverbesserlichen konfessionellen Lutheraners Harms bezüglich der Ausrichtung der Ereignisse im Jahr 1817 stellt ein starkes Zeugnis über die Unterschiedlichkeit dieses Jubiläums in Vergleich zu den vorherigen dar. Harms interpretiert die „Vereinigung“ als eine beunruhigende Manifestation verschiedener Denkrichtungen des 18. Jahrhunderts, welche er unter dem Sammelbegriff des „Rationalismus“ einordnete. Seiner Meinung nach spielte ein solcher Rationa-
Martin Redeker, Schleiermacher: Life and Thought, übers. v. John Wallhausser, Philadelphia, 1973, 189 – 91. Walter Elliger (Hg.), Die evangelische Kirche der Union, Witten, 1967, 44– 45, 195 – 96. Siehe Klaus Wappler, „Reformationsjubiläum und Kirchenunion (1817)“, in: J. F. Gerhard und Joachim Rogge (Hg.), Die Geschichte der evangelischen Kirche der Union, Bd. 1, Leipzig, 1992, 112 ff. und Elliger (Hg.), Die evangelische Kirche der Union, 45 f. Hugo Schnell, Martin Luther und die Reformation auf Münzen und Medaillen, München, 1983, 75, 231 (Abb. 273). John E. Groh, Nineteenth-Century German Protestantism: The Church as Social Model, Washington, DC, 1982, 41– 43.
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lismus den Fortschritt, das autonome Bewusstsein und die Notwendigkeit theologischer Versöhnung gegen die altbewährten Wahrheiten eines älteren, bekennenden Luthertums aus. Eine Auswahl der Thesen Harms ermöglichen einen Blick auf seine Bedenken: 3. Mit der Idee einer fortschreitenden Reformation, so wie man diese Idee gefasset hat und vermeintlich an sie gemahnen wird, reformiert man das Lutherthum ins Heidenthum hinein und das Christenthum aus der Welt hinaus. 43.Wenn die Vernunft die Religion antastet, wirft sie die Perlen hinaus und spielt mit den Schalen, den hohlen Worten. 77. Sagen, die Zeit habe die Scheidewand zwischen Lutheranern und Reformirten aufgehoben, ist keine reine Sprache. Es gilt, welche sind abgefallen von dem Glauben ihrer Kirche, die Lutheraner oder die Reformirten? oder beide?⁴⁷
Die Veröffentlichung der Thesen Harms’ am 31. Oktober 1817 entfachte eine heftige Debatte; es erschienen über 60 Flugschriften, die sich entweder für oder gegen ihn aussprachen.⁴⁸ In den darauffolgenden Jahrzehnten ebbte die Kontroverse jedoch nicht ab. Im Gegenteil, der Versuch, eine neue einheitliche Liturgie überall in Preußen einzuführen, führte zu einer zusätzlichen Unzufriedenheit einer Vielzahl sogenannter „Altlutheraner“, angeführt von dem schlesischen Pastor Johannes G. Scheibel (1783 – 1843); von denen sich viele entschieden, auszuwandern.⁴⁹ In den Festpredigten und Reden von 1817 tauchten wiederholt Themen des Historismus, Nationalismus und des bürgerlichen Liberalismus auf. Diese verdrängten zwar nicht die älteren konfessionellen Themen, doch die Disparität zwischen 1617 (wie auch 1717) auf der einen und 1817 auf der anderen Seite ist bemerkenswert. Das aufklärerische Thema des historischen Fortschritts stach im Jahr 1817 besonders hervor. Die Reformation mag zwar ein religiöses Ereignis gewesen sein, welches danach strebte, das Christentum zurück zu seinen Wurzeln zu führen, doch das Endergebnis, die nutzbringende Auswirkung dieses gedenkenden Rückblicks war es, eine neue Vision des historischen Fortschritts und der Freiheit einzuführen. So gesehen wurde die Reformation zu einer Vorstufe der modernen Welt, ein Vorbote moderner Aufklärung. Diesem Verständnis nach war der römische Katholizismus weniger eine falsche Kirche (das vielleicht auch) als vielmehr ein erhebliches Hindernis für den historischen Fortschritt. Ein Pastor aus Bayreuth, Johann Gottlieb Reuter (1765 – 1831), verdeutlicht diese Ansicht treffend in einer Predigt von 1817. Die Reformation habe der der gesamten Menschheit gedient, da sie „Aufklärung und Sittlichkeit“ mit sich brachte. Er fährt
Claus Harms, Ausgewählte Schriften und Predigten, hg.v. G. E. Hofmann, Bd. 1, Flensburg, 1955, 204– 22. Rainer Fuhrmann, Das Reformationsjubiläum 1817, Bonn, 1973, 35. Zur altlutherischen Auswanderung siehe Wilhelm Iwan, Die altlutherische Auswanderung um die Mitte des 19. Jahrhunderts, 2 Bde., Ludwigsburg, 1943.
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fort: „Christen, die eingehüllt in einer kläglichen Dunkelheit saßen, erkannten in der Reformation ein willkommenes, glänzendes Licht, welches ihren Geist zu neuem Leben erweckte. Die Fesseln, die zuvor die freie Entwicklung aller denkenden Geister banden, wurden gelöst. Der freie Geist der Erkundigung wurde erweckt und nun darf man sich nicht länger mit heiligen Fehlern, die von Sitten und Aberglaube aufrechterhalten wurden, zufriedengeben.“⁵⁰ In Berlin waren sowohl Friedrich Schleiermacher als auch der Pastor August Ludwig Hanstein (1761– 1821) ähnlicher Auffassung und interpretierten die Reformation als einen gesamtmenschheitlichen Schritt in die richtige Richtung. Schleiermacher hielt am 3. November 1817 als Dekan der theologischen Fakultät in Berlin eine Rede, in welcher er die Reformation für die Einführung eines kritischen Geistes in die Theologie lobte, ohne den die Theologie zum katholischen Dogmatismus, welcher selbst eine Art „jüdischer“ Pfaffenlist sei, zurückkehren würde.⁵¹ Für Schleiermacher repräsentierten Luthers Taten im 16. Jahrhundert „den kompletten Umsturz des Aberglaubens eigenmächtiger Werke und externen Verdienstes.“ Während katholische Universitäten der päpstlichen Autorität zum Opfer fielen, waren protestantische Universitäten „von der Freiheit zu lehren und zu lernen veredelt.“⁵² Anhand einer Reihe von Vorher-Nachher-Szenarien plädierte Hanstein für den progressiven Charakter der Reformation. Die Reformation brachte anstelle des Menschen Wort das Wort Gottes; anstelle gezügelter Interpretation eine befreite Nachforschung der Heiligen Schrift; anstelle eines dunklen, blinden Glaubens die rationale Klarheit freier Überzeugung; anstelle eines von priesterlicher Macht aufgezwängten schlechten Gewissens, die Freiheit von Herz und Geist und einem Bewusstsein Gottes Macht.⁵³
Tatsächlich wurde im Jahr 1817 eine Vielzahl von Predigten und Reden gehalten, die zum Ziel hatten, die Reformation mit den Geburtswehen moderner Vernunft, politischem Liberalismus beziehungsweise bürgerlicher Gesellschaft zu verbinden. Wiederholt wurde betont, dass die Gesamtheit der bedeutenden Reformer – Luther, Melanchthon, Zwingli und andere – nicht aus einem aristokratischen, sondern aus einem bürgerlichen mittelständischen Hintergrund stammten.⁵⁴ K. H. L. Pölitz von der Universität Leipzig fing den Zeitgeist im Titel eines von ihm am 30. Oktober 1817 gehaltenen Vortrags treffend ein: „Die Ähnlichkeit des Kampfes um bürgerliche und poli-
Vgl. Johann Gottlieb Reuter, Fünf Predigten zu und bei der Secularfeier der Kirchenreformation 1817 gehalten, Bayreuth, 1817, 23 – 24. Kurt Nowak, Schleiermacher: Leben, Werk und Wirkung, Göttingen, 2001, 364– 65. Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe, hg.v. Hans-Joachim Birkner et al., Abt. I, Bd. 10, Berlin, 1990, 11. August Ludwig Hanstein, Das Jubeljahr der evangelischen Kirche, Berlin, 1817, 31. Fuhrmann, Das Reformationsjubiläum 1817, 54 ff und Lutz Winckler, Martin Luther als Bürger und Patriot: Das Reformationsjubiläum von 1817 und der politische Protestantismus des Wartburgfestes, Lübeck, 1969, 23 ff.
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tische Freiheit in unserm Zeitalter, mit dem Kampfe um die religiöse und kirchliche Freiheit im Zeitalter der Reformation.“⁵⁵ Der Berliner Bibelwissenschaftler Wilhelm Martin Leberecht de Wette (1780 – 1849) ging noch einen Schritt weiter und behauptete, dass die Reformation die Samen jeglicher Art von moderner Freiheit enthalte; „aber der Geist des Protestantismus“, so de Wette, „bringt notwendig einen Geist der Freiheit und Selbstständigkeit unter das Volk; die evangelische Freiheit wird notwendig zur politischen.“⁵⁶ Die Reformation antizipierte jedoch nicht nur moderne politische Ideale: Ihr Einfluss verbesserte die materiellen und sozialen Lebensumstände. Im Gegensatz zum Katholizismus, der die Gesellschafft dazu anhielt, Autokratie, Faulheit und soziale Verwahrlosung zu akzeptieren, förderte der Protestantismus – vielen Befürwortern zufolge – die Bürgertugend, häusliche Sitten und bürgerliche Ehrenhaftigkeit. Max Webers Vorstellung einer „Protestantischen Ethik“ erahnen lassend, legte zum Beispiel Gottfried Erdmann Petri aus Zittau dar, dass die Reformation durch die Umgestaltung alltäglicher Gepflogenheiten zu einem allgemein verbesserten sozialen und moralischen Zustand führe. „Wo auch immer der Protestantismus triumphiert“, so Petri, „da verbessert sich der Zustand der Ethik, der Industrie und Betriebe, und der des häuslichen Lebens.“ Ähnlich schreibt auch der Erlanger Pastor Carl Georg Friedrich Goes (1762– 1836): „Ein guter [protestantischer] Christ [ist] ein guter Bürger“. Im Zuge der Reformation ergab sich ein Empfinden für „Beruf und Pflicht“; durch diesen Einfluss brachte der Herr „Segen und Wohlergehen dem bürgerlichen Leben und Tun.“⁵⁷ Es war bezeichnenderweise um die Zeit der Dreihundertjahrfeier, dass Bilder von Luthers Thesenanschlag an die Kirchentür in Wittenberg einen „viralen Erfolg erzielten“, wie man heutzutage sagt. Das Bild hatte etliche Variationen. Oftmals stellte der Künstler den Thesenschläger als studentische Hilfskraft dar, während Luther und andere Gelehrte im Vordergrund eine theologische Diskussion führten. Manchmal wurde Luther so dargestellt, als habe er die Thesen selbst an die Tür angebracht; diese jetzt symbolträchtige Darstellung erschien zum ersten Mal in Druckform als Teil eines Lebensporträts Luthers von Georg Paul Buchner im Jahr 1817. Nebst den Bildern, in denen Luther die Bannbulle verbrennt und trotzig vor Karl V. auftritt, formte das Bild des Thesenanschlags eine Art Triptychon für den aufgeklärten, liberalen Zeitgeist: Luther hatte als erstes gezeigt, dass sich die Vernunft nicht immer auf Tradition und Autorität verlassen konnte.⁵⁸
Karl Heinrich L. Pölitz, „Die Ähnlichkeit des Kampfes um …“, in: Friedrich Keyser (Hg.), Reformations Almanach für Luthers Verehrer auf das evangelische Jubeljahr 1817, Erfurt, 1819, 123. W. M. L. de Wette, „Ueber den sittlichen Geist der Reformation in Beziehung auf unsere Zeit“ (1817), in: Reformationsalmanach auf das Jahr 1819, Erfurt, 1819, 286 – 87. C. G. F. Goes, Luthers Kirchenreformation nach ihrer Veranlassung, Eigenthümlichkeit Beschaffenheit und wohlthätigen Wirksamkeit in einigen Kanzelvorträgen am dritten Säkularfeste nebst kurzem Berichte über die hiesige Festfeyerlichkeit, Erlangen, 1817, 65 ff. Hartmut Lehmann, Luthergedächtnis 1817 bis 2017, Göttingen, 2012, 17– 34.
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Zu sagen, dass Themen wie bürgerlicher Anstand, Liberalismus, Nationalismus oder historischer Fortschritt die Dreihundertjahrfeier der Reformation durchdrangen, heißt nicht, dass ältere konfessionelle Themen unbeachtet blieben. Wie bereits erwähnt, nahm der orthodoxe Pastor Claus Harms 1817 am „Rationalismus“ und der „Vereinheitlichung“, die ihm zufolge Luthers wahre religiöse Lehre untergruben, starken Anstoß. Und er war nicht der Einzige, der so dachte.⁵⁹ Stimmen, welche in der strengen Orthodoxie der frühmodernen Ära verankert, aber auch mit der Erweckungsbewegung und dem politischen Konservativismus ihrer Zeit in Berührung waren, strebten vornehmlich nach dogmatischer Reinheit – und besonders nach Luthers Lehre der Rechtfertigung und der Eucharistie.⁶⁰ Nichtsdestotrotz deutet die Tatsache, dass solche Stimmen, von anderen wie auch sich selbst, als Protestbewegung gegen dominantere Neigungen wahrgenommen wurden, darauf hin, dass das Reformationsjubiläum des Jahres 1817 nicht länger als ein Bemühen, konfessionell protestantische Identitäten zu stabilisieren, fungierte. Das Jubiläum wurde das Vehikel, durch welches sich neuere Ideologien – zusammen mit der Modifizierung älterer – artikulieren und, durch die Potenz des kollektiven Gedächtnisses, den künftigen Lauf der deutschen Geschichte gestalten konnten.
1883: Martin Luther und das Deutsche Reich Die Dreihundertjahrfeier 1817 setzte ein Jahrhundert der Gedenkfeiern der Reformation in Gang – ein Phänomen, das ein Wissenschaftler als die „Epidemie“ der Gedächtnisfeiern des 19. Jahrhunderts bezeichnete. Abgesehen von den Geburts- und Todesdaten bedeutender Reformatoren neben Luther sei das 300-jährige Jubiläum der Confessio Augustana im Jahr 1830, das 300-jährige Jubiläum des Todestags Luthers im Jahr 1846, das 200-jährige Jubiläum des Westfälischen Friedens im Jahr 1848, das 300jährige Jubiläum des Augsburger Religionsfriedens im Jahr 1855 und das 350-jährige Jubiläum von Luthers Ausspruch gegen den Ablasshandel im Jahr 1867 erwähnt.⁶¹ Des Weiteren war das 19. Jahrhundert Zeuge der Gestaltung und Errichtung zahlloser Denkmäler zum Gedächtnis an Luther und an die Reformation. Der Grundstein für die erste Lutherstatue, welcher noch viele folgten, wurde in Wittenberg im Jahr 1817 von niemand Geringerem als Friedrich Wilhelm III., dem König von Preußen, gelegt. Sein Nachfolger, Friedrich Wilhelm IV., nutzte Renovierungen der dortigen Schlosskirche als Gelegenheit, bronzene Türen, auf welchen Luthers 95 Thesen eingraviert waren, einbauen zu lassen.
Fuhrmann, Das Reformationsjubiläum 1817, 72. Zur Erweckungsbewegung und deren Einfluss im frühen neunzehnten Jahrhundert siehe Robert M. Bigler, The Politics of German Protestantism: The Rise of the Church Elite in Prussia, 1815 – 1848, Berkeley, 1972, 128. Dorothea Wendebourg, „Die Reformationsjubiläen des 19. Jahrhunderts“, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 108, 2011, 270 – 335.
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Diese Handlungen bildeten jedoch nur ein Vorspiel zu 1883, dem 400-jährigen Jubiläum von Luthers Geburt, einem gewaltigen Jubiläum, und dem ersten nach der Gründung des Deutschen Reichs im Jahr 1871. Im Jahr 1883 blieben, wie im Jahr 1817 auch, religiöse und besonders protestantische, konfessionelle Motivationen und Motive in keiner Weise aus. Bemerkenswert ist jedoch, wie das Gedenken an Luther zum Nutzen neuerer Bewegungen und Entwicklungen dieser Zeit eingebettet wurde: in der Schlüsselrolle der imperialistische Nationalismus und in der Nebenrolle das neue wissenschaftliche Ethos des Historismus. Letzteres war in neuen Bemühungen, tiefere historische Erkenntnis von Luther und der Reformation zu erlangen, erkennbar. Das Erstere war aus der Tatsache ersichtlich, dass Luther im retrospektiven Blick häufig weniger als Wiederhersteller religiöser Wahrheiten und mehr als der Held der deutschen Nation betrachtet wurde, wahrhaftig als der exemplarische, grundlegend deutsche Mann – der Erlöser des „teutonischen Geistes“ von Rom, der Urheber eigentlich jeder deutschen Errungenschaft, und kein Geringerer als der Erschaffer eines neuen Ideals der Menschheit.⁶² Der Lutherwahn des Jahres 1883 kam, wie der Historiker Thomas A. Brady einst scherzte, einem „verspäteten Geburtstag des neuen deutschen Reiches“ gleich.⁶³ Die Ausrichtung des Lutherjubiläums 1883 wurde von oben her bestimmt. Kaiser Wilhelm erließ am 21. Mai 1883 ein Befehl, in dem alle Kirchen im Deutschen Reich dazu aufgefordert wurden, das 400-jährige Jubiläum von Luthers Geburt festlich zu feiern. Die ausgewählten Daten waren das Wochenende vom 9., 10. und 11. November (der Samstag des 10. November war sein eigentlicher Geburtstag). Am Freitag sollten die Kirchglocken geläutet werden; am Samstag sollten Aktivitäten in Bildungsstätten stattfinden; und am Sonntag sollten besondere Erinnerungs- und Lobpreisgottesdienste gehalten werden.⁶⁴ In den Städten und Dörfern quer durch das protestantische Deutschland fanden während dieser Tage eine Reihe von Veranstaltungen statt. Dies beinhaltete Paraden und Fackelmärsche; das Singen von Hymnen, insbesondere „Ein feste Burg ist unser Gott“; die Enthüllung weiterer Denkmäler und Büsten Luthers; die Veröffentlichung von Flugblättern und Historien; Lobreden auf weltliche Mächte für ihren Schutz des Protestantismus in der Vergangenheit und der Gegenwart; die Legung von Grundsteinen für neue Kirchen; und natürlich unzählige Predigten, die Luthers Leben und die weitreichendere Bedeutung der Reformation hervorhoben.⁶⁵ Sicherlich zeichnet sich in diesen Veranstaltungen ein Durcheinander von Themen und Schwerpunkten ab. Unübersehbar war im Jahr 1883 jedoch, wie bereits erwähnt, der Konsens, dass Luther ein deutscher Held war, eine mächtige, frühe Manifestation deutscher Kultur
Stan M. Landry, Ecumenism, Memory, and German Nationalism, Syracuse, 2014, 90 – 91. Thomas A. Brady, The Protestant Reformation in German History, Washington, D. C., 1998, 15. Zur umfangreichen Literatur dieses Jubiläums siehe Hans Dufel, „Das Luther-Jubiläum 1883“, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 95, 1984, 1– 94. Lehmann, Luthergedächtnis, 59. Lehmann, Luthergedächtnis, 74 ff.
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und nationaler Identität, die im Jahr 1871 endlich mit dem deutschen politischen Schicksal zusammentraf. 1883 empfanden quasi alle deutsche Protestanten, wie Hartmut Lehmann schrieb, dass „Luthers Erbe … nichts weniger als die Vollendung der deutschen Vereinigung verlangte.“⁶⁶ In anderen Worten wurden 1871 Potentiale realisiert, die sich 1517 eröffneten und deren Erfüllung 1883 gefeiert wurden. Solch triumphales nationalistisches Gedankengut erschien am deutlichsten in der Rede, „Luther und die deutsche Nation“, die in Darmstadt von dem preußischen Historiker Heinrich von Treitschke gehalten wurde. Er beklagte die Tatsache, dass deutsche Katholiken, die sich von Bismarcks Kulturkampf immer noch nicht erholt hatten, Luthers Vermächtnis nicht recht ermessen konnten; er zeichnete den Wittenberger Reformer als „den Führer der Nation“, als einen Mann, der „fortgerissen von der zwingenden Macht des freien Gedankens“ war und als jemand, „in dessen Adern die ungebändigte Naturgewalt deutschen Trotzes kocht.“⁶⁷ Ein unermüdlicher Verfechter deutscher politischer Vereinigung unter der Führung Preußens, lobte Treitschke Luther für die Befreiung des Staates von der „kirchlichen Weltherrschaft“ und dafür, dass er die Möglichkeit einer staatlichen Souveränität in Gang setzte. Luthers Politik der „zwei Reiche“ verdiente laut Treitschke besondere Belobigung: Erst Luther warf den Satz ‚geistliche Gewalt ist über der weltlichen‘, diese starke Mauer der Romanisten, in Trümmer und lehrte, daß der Staat selber eine Ordnung Gottes ist, berechtigt und verpflichtet, seinen eigenen sittlichen Lebenszwecken, unabhängig von der Kirche, nachzugehen.⁶⁸
Die Konsequenz von Luthers Lehre war laut Treitschke besonders heilbringend für die Zukunft Deutschlands: „Keinem Volke brachte die Befreiung des Staates von kirchlicher Herrschaft so reichen, so lang nachwirkenden Segen wie uns Deutschen.“⁶⁹ Im Jahr 1883 führte Treitschke, gemeinsam mit vielen anderen, die Errungenschaften der deutschen Sprache, Literatur und Bildung auf den „kleinen Mönch“ aus Wittenberg zurück. „Sprachgewaltig wie seitdem nur Einer noch, Goethe, ward er der volksthümlichste aller unserer Schriftsteller“, notierte Treitschke. Durch die Übersetzung des Neuen Testaments auf der Wartburg „empfingen wir unsere Schriftsprache mit einem Male durch die That eines Mannes.“ Somit gestattete Luther, dass „Gott deutsch zu den Deutschen rede.“⁷⁰ Das, was gut für die Sprache war, war ebenso gut für Bildung. Durch die Würdigung der Volkssprache und die Erlaubnis, sich aus Gewissensgründen traditionellen
Hartmut Lehmann, „Martin Luther as a National Hero“, in: J. C. Eade (Hg.), Romantic Nationalism in Europe, Canberra, 1983, 197. Heinrich von Treitschke, Historische und politische Aufsätze, Bd. 4, Leipzig, 1897, 378 – 80, 384. Treitschke, Historische und politische Aufsätze, 387. Treitschke, Historische und politische Aufsätze, 388. Treitschke, Historische und politische Aufsätze, 390 – 92.
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Autoritäten zu widersetzen, setzte Luther einen für die höhere deutsche Bildung heilbringenden Prozess in Gang. Dieser Prozess zeitigte seine Früchte vor allem in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts an der Reformuniversität Halle, verkörpert durch den Universalgelehrten Christian Thomasius, dem ersten Wissenschaftler, der in der Volkssprache dozierte, der sich für den Vorrang des Gewissens vor der Tradition aussprach und entsprechend für aufgeklärte Weltbürger eintrat. Doch ob in Halle oder anderswo, betonte Treitschke, alle Führer der neuen Wissenschaft und Dichtung „gehörten dem Protestantismus an.“⁷¹ Zusammengefasst verfügte das Deutsche Reich im Jahr 1883 über einen historischen Helden, der seiner Bestrebungen in der Gegenwart würdig war. Doch nicht nur das: tatsächlich überragte Luther andere Nationalhelden. Der entschlossene Mönch hatte etwas urweltliches, souveränes und ehrwürdiges an sich. Im Zuge seines Bruchs mit der Kirche hatte Luther unbeabsichtigt und einleitend „Germania“ erschaffen. Luther war die erste Person, die die Nation, den Volksgeist, verkörperte: „Keine andere der neueren Nationen hat je einen Mann gesehen, der so seinen Landsleuten jedes Wort von den Lippen genommen, der so in Art und Unart das innerste Wesen seines Volkes verkörpert hätte.“⁷² Ein scharfer, imperialistischer Nationalismus war ein Aspekt von Treitschkes Werk, der preußische Historiker lieferte jedoch gleichermaßen Hinweise auf den neuen wissenschaftlichen Historismus des 19. Jahrhunderts. Beträchtliche Fortschritte der „Geschichtswissenschaft“ ermöglichten laut Treitschke ein tiefer dringendes Verständnis der Reformation und des Schaffens Luthers. Diesen Standpunkt vertraten diverse Anschriften des Jahres 1883. Der junge Adolf Harnack hielt zum Beispiel eine Rede über „Martin Luther in seiner Bedeutung für die Geschichte der Wissenschaft und der Bildung“, in welcher er argumentierte, dass Luther, obwohl er nach modernen Maßstäben kein großartiger Wissenschaftler sei, durch seinen Trotz half, den mittelalterlichen Obskurantismus zu bezwingen, und somit den Weg für „freie Erkundigung“ ebnete.⁷³ Die Bedeutung dieses Jubiläums für die Geschichte der Wissenschaft wird durch zwei weitere einflussreiche Beispiele aus dem Jahr 1883 hervorgehoben. Erstens brachte das Jubiläum des Jahres 1883 den Beginn der Veröffentlichung der monumentalen „Weimarer Ausgabe“ von Luthers Werken mit sich.⁷⁴ Obwohl frühere Werksausgaben vorlagen, basierten diese, nach Einschätzung der Herausgeber, auf unzureichender wissenschaftlicher Forschung; eine authentische, kritische Gesamtausgabe der Werke Luthers war daher ein „dringendes Bedürfnis.“ Wie im Vorwort des ersten Bandes beschrieben, wandte sich Julius Köstlin, der Teil des Konsistorialrates in Halle war, in Anbetracht des „bevorstehende[n] Lutherjubiläum[s]“ an das preußische Treitschke, Historische und politische Aufsätze, 391. Treitschke, Historische und politische Aufsätze, 393 – 94. Vgl. Adolf von Harnack, Martin Luther, Gießen, 1911. Weimarer Ausgabe (WA) ist der inoffizielle Titel. Der eigentliche Titel lautet D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesammtausgabe.
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Kultusministerium und meldete den Bedarf eines solchen Vorhabens an. Da er auch von der renommierten Akademie der Wissenschaften in Berlin unterstützt wurde, stellte der Kaiser eine „hohe Summe“ zur Verfügung, „um die wissenschaftlichen Vorbereitungen für die Ausgabe fortzusetzten und dieselbe sucherzustellen.“⁷⁵ Die Veröffentlichungen begannen im Jahr 1883 vom Herausgeber Hermann Böhlau, und wurden, trotz diverser Wendungen, mit 121 Bänden bis 2009 fortgeführt. Ein weiteres bedeutendes wissenschaftliches Unterfangen knüpfte an das Lutherjubiläum an und wurde am 13. Februar 1883 in Form des Vereins für Reformationsgeschichte ins Leben gerufen. Mit erstem Vereinssitz in Magdeburg und zunächst von Julius Köstlin geleitet, war der ursprüngliche Zweck des Vereins, „die Resultate gesicherter Forschung über die Entstehung der evangelischen Kirche, über die Persönlichkeiten und Tatsachen der Reformation und über die Wirkungen auf allen Gebieten des Volkslebens dem größeren Publikum zugänglich [zu] machen.“ Diese Ziele verfolgte der Verein hauptsächlich durch Konferenzen und Veröffentlichungen; beachtenswert ist hier der Beginn der Herausgabe einer Serie von Veröffentlichungen im Jahre 1883, in der 200 Bände erscheinen sollten. Wissenschaftliche und religiöse Intentionen vermischten sich jedoch ungehindert, da der Verein zum Ziel hatte, „das evangelische Bewusstsein durch unmittelbare Einführung in die Geschichte unserer Kirche zu befestigen und zu stärken.“⁷⁶ Im späten 19. Jahrhundert bis hin zur Nazizeit verbanden sich solch religiöse Vorhaben auf bedenkliche Art mit nationalistischen. Doch seither richtete sich der Verein auf ausschließlich wissenschaftliche Ziele aus und spielt heute international eine führende Rolle bei der Förderung des Wissens über das 16. Jahrhundert, nicht zuletzt durch die Zeitschrift Archiv für Reformationsgeschichte.
Fazit Wie durch den Verein für Reformationsgeschichte verdeutlicht, ist es nicht immer einfach, religiöse Elemente von anderen Aspekten der Gedächtnisfeiern des 19. Jahrhunderts zu entwirren. Die schwerfällige Wirkungsmacht älterer konfessioneller Realitäten wirkt in den Jahren 1817 und 1883, und in der Tat in nahezu allen der zahlreichen Gedenkveranstaltungen des 19. Jahrhunderts, sicherlich weiter. Andererseits sticht hervor, dass, wenn man die Aktivitäten und Ereignisse dieser beiden Jubiläen mit früheren, nicht zuletzt mit dem Jubiläum des Jahres 1617, vergleicht, die Feierlichkeiten des 19. Jahrhunderts nicht nur bestehende konfessionelle Ideen und Identitäten affirmierten, sondern neuere Entwicklungen widerspiegelten
D. Martin Luthers Werke: kritische Gesammtausgabe, Bd. 1 (Weimar: Hermann Böhlau, 1883), xv-xvi. Vom ersten Artikel der Satzung des Vereins. Siehe http://www.reformationsgeschichte.de/ (besucht am 28. September 2016).
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und beförderten – vor allem, wie erwähnt, Liberalismus, Nationalismus und Historismus, einigen der prägenden Ideologien des 19. Jahrhunderts. Im Lichte dieser Erkenntnis ist also die Behauptung, dass Akte des Gedenkens primär dazu dienen, Identitäten zu stabilisieren beziehungsweise eine Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu erhalten, mit Vorsicht zu genießen. Das ist zwar sicherlich wahr – und vielleicht sogar öfter wahr als nicht; doch die Reformationsjubiläen der Jahre 1817 und 1883 signalisieren, im Gegensatz zu ihren vormodernen Pendants, dass Akte des Gedenkens auch dazu dienen können, neue Impulse zu reflektieren, zu formen und in die Geschichte einzuführen. Diese Jubiläen waren nicht bloße Verbindungsstücke zum Vergangenen, sondern prägende Faktoren und Vorboten des Neuen. In diesem Sinne sind sie der Reformation des 16. Jahrhunderts selbst nicht unähnlich: Wir können sie als eine Reihe von Handlungen betrachten, die von der Sehnsucht nach Wiederherstellung und Erneuerung motiviert waren und letzten Endes ein Vermächtnis weitreichenden Wandels, von Umbrüchen und Innovation in der menschlichen Geschichte hinterließen.
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Reformation und Baukunst Einleitung Die lutherische Reformation und die ihr folgende geschichtliche Entwicklung des konfessionellen Zeitalters sollte weitreichende Veränderungen der Baukunst, insbesondere des Kirchenbaus, befördern und beeinflussen. Eine neue Art der Theologie, Liturgie und Frömmigkeit inspirierte neue Herangehensweisen an das Kirchgebäude und seine gottesdienstliche Funktion sowie seine Ausgestaltung und zeitigte darüber hinausgehend eine ganze Reihe direkter Folgen für sowohl mittelalterliche als auch neu errichtete Kirchenräume, betreffend ihr äußeres Erscheinungsbild, ihren Grundriss, ihre Innenausstattung und den Ort wie auch die Rolle der Prinzipalstücke. Das reziproke Beeinflussungsverhältnis zwischen religiösen Veränderungen und der Entwicklung der Architektur ist dabei von Anfang an komplex, bedingt durch die lokale Vielfalt des Luthertums, durch kontinuierliche Einflüsse mittelalterlicher Frömmigkeit, neuer theologischer Einsichten und Frömmigkeitsbewegungen (etwa des Pietismus) und durch Beziehungen zu anderen Konfessionen sowohl kontroverser wie befruchtender Art. Diese Komplexität wird durch weitere Faktoren aus den Bereichen des sozialen, politischen, künstlerischen und ästhetischen Lebens weiter erhöht, weswegen eine ausgewogene und angemessen differenzierte Darstellung der jeweiligen Anteile eines jeden dieser Felder eine andauernde Aufgabe der Forschung darstellt.
1 Martin Luther über den Kirchenbau Auch wenn Luther weder ein besonderes architektonisches Interesse hatte noch eine systematische Theorie des Kirchenbaus formulierte, sollten sich seine theologischen Überlegungen und konkreten liturgischen Vorschläge sowie Hinweise insbesondere in Bezug auf die Innenausstattung und ein angemessenes Bildprogramm als zentrale Ausgangspunkte für das Verständnis eines protestantischen Kirchenraums erweisen. Alle konkreten Vorschläge und Überlegungen Luthers basieren auf seiner Theologie und insbesondere den sogenannten Exklusivpartikeln „solus Christus“, „sola gratia“, „sola fide“ und „sola scriptura“.¹ Da er seinen Schwerpunkt zunächst auf Konzepte
Übersetzung: Tobias Jammerthal. H. Umbach, „VIVA VOX EVANGELII. Zentrale Aussagen Martin Luthers zu Gottesdienst und Kirchengebäuden als Folge der reformatorischen Rückbesinnung auf das rechtfertigende Wort Gottes als https://doi.org/9783110498745-060
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wie die Rechtfertigungslehre und die Freiheit eines Christenmenschen gerichtet hatte, konzentrierte er sich in kirchenbaulicher Hinsicht mehr auf menschliche Werke, die auf Gebäude und deren Schmuck bezogen waren, als auf die Kirchgebäude selbst, weswegen es nicht überrascht, dass sein diesbezügliches Hauptanliegen darin bestand, sicherzustellen, dass die Finanzierung der Errichtung wie Ausschmückung von Kirchgebäuden in keiner Weise als menschliche Vorleistung mit Aussicht auf himmlischen Zins in Betracht kommen könne. Noch vor seiner reformatorischen Entdeckung kritisierte der Theologie in seiner Vorlesung über den Ersten Korintherbrief von 1516 ausdrücklich die Stellung der kirchlichen Kunst, insofern er die diesbezügliche Stiftertätigkeit als „Schatten von Dingen, die der Kinder würdig“ seien, einschätzte.² Diese Kritik, welche noch einem traditionellen Standpunkt verpflichtet war, entwickelte sich seit seiner Veröffentlichung der 95 Thesen im Sinne eines rechten Verständnisses des Gebots der Nächstenliebe und, daraus folgend, eines Sinns für die sozialen Folgen eines Kirchenbaus weiter (Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute, 1518).³ Für Luthers Meinungsbildung in dieser Frage war nach wie vor die vornehmlich in der polemischen Auseinandersetzung mit der Werkgerechtigkeit gewonnene Lehre von der Rechtfertigung und Errettung leitend: Wie grundsätzlich keinerlei Frömmigkeitsübungen wie Wallfahrten, Gebete, Kniefall, das Entzünden von Kerzen und anderes mehr als mögliche Ursache der Rechtfertigung in Frage kamen, so auch keine frommen Taten in Gestalt von Bau- und bildender Kunst und somit weder die Finanzierung von Kirchbauten noch ihre Ausschmückung. Und auch wenn Luther später schreiben konnte, dass die Finanzierung eines Kirchgebäudes oder die Stiftung eines frommen Bildes für eine Kirche als eine „gute, christliche Tat“ verstanden werden könne, so stand für ihn doch fest, dass sich damit keinerlei eschatologische Folgen verbanden, dass vielmehr der Versuch, über derlei gute Werke Erlösung zu verdienen, nichts weniger als „antichristlichen“ Missbrauch und eine ernsthafte Übertretung des göttlichen Gesetzes darstelle. Wie Luther selbst diese für das christliche Leben potentiell existenzgefährdende Ansicht recht verstanden sehen wollte, geht aus Randpassagen seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“ von 1520 hervor, wenn er fordert, dass die für die Volksfrömmigkeit so zentralen Feld- und Waldkapellen aufgrund ihrer Verbindung mit Werkgerechtigkeit, Ablasswesen und Bildanbetung dem Abriss anheimgegeben werden sollten.⁴ Dennoch wurde auch die Kirche selbst als Ort des Gottesdienstes (wie andere seiner Vorstellung von christlichem Leben und christlicher Gottesverehrung zugehörige Aspekte) bald nach 1517 ein Gegenstand der Gedanken des Reformators: Weil Gott
articulus stantis et cadentis ecclesiae,“ in Protestantischer Kirchenbau der Frühen Neuzeit in Europa. Grundlagen und neue Forschungskonzepte, Hg. J. Harasimowicz (Regensburg, 2015): 27– 36. S. Michalski, The Reformation and the Visual Arts. The Protestant Image in Western and Eastern Europe, (London/New York, 1993), 5. Ebd., 5 – 6. Ebd., 8.
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„im Geist und in der Wahrheit“ angebetet werden will (Joh 4,24), ist es, wie Luther in seinem „Sermon von den guten Werken“ (1520) schreibt, zunächst nicht notwendig, dass für die Verrichtung des Gottesdienstes ein eigens dafür vorgesehenes Gebäude zur Verfügung steht:⁵ Der Gottesdienst kann grundsätzlich überall verrichtet werden, Gebete sind auch im Schweinestall möglich, Predigten können auch unter einem Lindenbaum, in einer Scheune oder im Rathaus gehalten werden, und auch ein Taufstein könnte theoretisch selbst am Ufer der Elbe stehen.⁶ Die Frage nach der Auswahl und Ausstattung liturgischer Orte ist somit weniger eine strikt theologische als vielmehr – als Resultat von funktionalen, Nutzbarkeits-, erzieherischen und sittlichen Gründen – eine Angelegenheit sozialen Decorum.⁷ Kirchgebäude mitsamt ihrem Bildprogramm und den in ihnen zu vollziehenden Riten gehörten für Luther zu den „Mitteldingen“ („Adiaphora“) und somit in den Bereich christlicher Freiheit. Für den Reformator ist es eindeutig, dass ein Kirchenbau nicht für Gott noch zu dessen Ehre errichtet wird und darum zunächst keinerlei Vorzug vor anderen Gebäulichkeiten haben kann: Vielmehr ist es auf den Spuren des Votums des Apostels Paulus („Lasst aber alles ehrbar und ordentlich zugehen“, 1 Kor 14,40) eine Frage des allgemeinen Bedarfs, einen angemessenen Ort für die Versammlung der Gläubigen zu Gebet, Verkündigung und Sakramentsverwaltung einzurichten und entsprechend auszustatten und dafür insbesondere einen für diesen Zweck separierten Ort zu wählen, der nicht zugleich der Völlerei und dem Tanz diene, wie Luther schreibt. Wenngleich aus diesen Äußerungen eine gewisse Zurückhaltung gegenüber der Notwendigkeit eines separaten Gottesdienstortes hervorgeht, so ist doch eine grundsätzlich positive Haltung des Reformators zu derlei Fragen zu beobachten: Er verstand ein Kirchgebäude bemerkenswerterweise als heiligen Raum – wenngleich diese Qualifikation auf anderem Wege als in der mittelalterlichen und auch der nachtridentinischen römisch-katholischen Kirche begründet wurde. So konnte Luther Kirchgebäude einerseits in Anlehnung an Gen 28,17 als Haus Gottes und Pforte zum Himmel bezeichnen, auf der anderen Seite darauf beharren, dass diese Heiligkeit nicht etwa ontologischer Natur, sondern lediglich funktionaler und also aus der Verwendung für die Wortverkündigung und das Gebet resultierender Natur war: „Wo Gottes Wort gepredigt wird, da wohnt Gott wahrhaftig“, so Luther in seinen In Genesim Declamationes von 1527, „und wiederum, wo kein Wort ist, wohnt er auch nicht, auch wenn man ein noch so großes Haus baute.“⁸ Die beiden Elemente der Wortverkündigung und des Gebets fungieren als „conditio sine qua non“ dafür, ein Gebäude mit Recht als Haus Gottes zu bezeichnen. Im Lichte späterer theologischer Traktate und Predigten lutherischer Geistlicher, insbesondere anlässlich einer Kirchweihe oder der
C.C. Christensen, Art and the Reformation in Germany, Studies in the Reformation 2 (Athens, OH/ Detroit, MI, 1979), 58 – 59. Michalski, The Reformation, 41. J. Harasimowicz, Treści i funkcje ideowe sztuki śląskiej Reformacji 1520 – 1650, Acta Universitatis Vratislaviensis 819, Historia Sztuki II (Wrocław, 1986), 21. Umbach, „VIVA VOX“: 27– 36.
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Indienststellung einzelner Einrichtungsgegenstände einer Kirche, lassen sie sich schon beinahe als kanonisch kennzeichnen, wie es etwa die 1680 in Stettin erschienene Schrift Porta Coeli, oder Beweiß / Daß die Lutherische Kirchen und Kantzeln der Lehre wegen / allein Gottes- Häuser / und Pforten des Himmels sind des Conrad Tiburtius Rango zeigt.⁹ Als Zeugnisse kontinuierlicher Prioritätsverschiebung sind sie zugleich Ausdruck der wachsenden Bedeutung eines positiven Verständnisses der architektonischen und künstlerischen Kontexte des Gottesdienstes als „christliches Brauchtum“. Jenseits einzelfallbezogener konkreter Hinweise in Bezug auf bestimmte (im weiteren Verlauf zu erörternde) liturgische Einrichtungsgegenstände hatte Luther kein Interesse an weitergehenden Vorschlägen für Grundriss oder Aussehen von Kirchengebäuden; lediglich einige wenige seiner Äußerungen erlauben es, seine grundsätzlichen Auffassungen zu erschließen. So lässt sich in Aufnahme seiner frühen Betonung der sozialökonomischen Folgen kirchenbaulicher Tätigkeit darauf schließen, dass Christen „jm keine sondere Kirchen noch Tempel dürffen bawen mit grosser kost odder beschwerung“¹⁰, wenngleich Luther sich nicht grundsätzlich gegen den Schmuck von Sakralräumen aussprach, wenn er etwa in seinem Sermon von dreierlei gutem Leben, das Gewissen zu unterrichten (1521) auf die seinerzeit übliche, jahrhundertealte Dreiteiligkeit eines Sakralbaus aus „Atrium“, „Sanctum“ und „Sanctum sanctorum“ hinwies.¹¹ Auch wenn es dem Reformator dabei zunächst um die anhand der Einteilung sowohl der Stiftshütte als auch des salomonischen Tempels zu illustrierenden unterschiedlichen Stufen eines christlichen Lebens ging, so mag diese Äußerung doch als hermeneutischer Schlüssel für die lutherischen Kirchgebäude der folgenden Jahrzehnte dienen, insbesondere insofern, als der Rekurs auf die Selbstverständlichkeit dieser Dreigliedrigkeit deutlich macht, wie stark sich Luther in diesen Fragen an die Tradition anschließen konnte. Entsprechend riet er dazu, den Chorraum als Ort der Abendmahlsfeier beizubehalten, und führte zur Begründung didaktische Aspekte an. Kaum verwunderlich ist angesichts dessen, dass die Dreigliedrigkeit für die lutherischen Theologen der folgenden Generationen ein wichtiger Bestandteil der theoretischen Reflexion blieb und sogar, wie in Philipp Arnoldis 1616 in Königsberg erschienenen Caeremonia Lutheranae,¹² ausführlich als theologisch begründete Regel erörtert werden konnte. Es ist charakteristisch, dass sich diese Art einer biblisch und historisch informierten Theologie, die ihr Anschauungsmaterial aus dem Alten Tes-
C.T. Rango, Porta Coeli, oder Beweiß / Daß die Lutherische Kirchen und Kantzeln der Lehre wegen / allein Gottes- Häuser / und Pforten des Himmels sind […] (Stettin, 1680). WA49,594,31– 32. U. Schlegelmilch, Descriptio templi. Architektur und Fest in der lateinischen Dichtung des konfessionellen Zeitalters (Regensburg, 2003), 463. Umbach, „VIVA VOX“: 27– 36. H. Mai, „Tradition und Innovation im protestantischen Kirchenbau bis zum Ende des Barocks,“ in Geschichte des protestantischen Kirchenbaues, Festschrift für Peter Poscharsky, Hg. Klaus Raschzok und Rainer Sörries (Erlangen, 1994): 11– 26.
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tament und der Alten Kirche bezog, in zahlreichen Predigten und anderen Schriften zeigt.
2 Die Reformation und mittelalterliche Kirchgebäude Am Vorabend der Reformation ist für die Bereiche der kirchlichen Baukunst wie der bildenden Künste im Dienste der Kirche eine intensive Stiftertätigkeit zu beobachten; und auch nachdem die theologischen Neuerungen sich in den Städten innerhalb und außerhalb des Heiligen Römischen Reiches zu verbreiten begannen, wurden weiterhin Kirchen und Kapellen mitsamt Altären, Votivfiguren und Gemälden errichtet. Viele Kirchenbauten befanden sich in der Reformationszeit entweder im Erbauungs- oder in einem umfangreichen Renovierungsprozess; beide kamen oft erst lange nach der Einführung des Augsburger Bekenntnisses in einem Territorium oder einer Stadt zum Abschluss. Eine der wichtigsten Folgen der religiösen Veränderungen bestand angesichts dessen darin, dass die nunmehr vorhandene Anzahl der Kirchengebäude insbesondere in städtischen Ansiedlungen als ausreichend empfunden wurde: Im Laufe der 1520er Jahre ging die Stiftertätigkeit sowohl für sakrale Gebäude selbst als auch für deren Ausstattung schrittweise zurück. Insbesondere die Auflösung der Orden führte dazu, dass eine Reihe gottesdienstlicher Räume liturgisch gesehen unnötig wurde. Mit ausdrücklicher Billigung durch Luther wurde darum eine ganze Reihe von Klosterkirchen weltlichen Zwecken zugeführt und in Krankenhäuser, Schulen,Waisenhäuser, Zeughäuser und Speicher umgewandelt,¹³ andere, insbesondere, wenn sie sich ohnehin in einem schlechten Erhaltungszustand befanden, galten nunmehr als überflüssig und wurden abgerissen, um ihr Baumaterial – wie etwa im Falle der Marienkirche im pommerschen Demmin für die Stadtbefestigungen – anderweitig zu verwenden. Zahlreiche Klosteranlagen, vor allem die außerhalb befestigter Ansiedelungen befindlichen, wurden (wie beispielsweise die sächsischen Benediktinerabteien Döbeln und Pegau) abgerissen oder (wie die Zisterzienserabteien im pommerschen Kolbatz [1539], Dobrilugk in Lausitz [1541] und Bad Doberan in Mecklenburg [1552]) von weltlichen Herrschern als Domänen oder Landsitze übernommen, wobei die entsprechenden Klosterkirchen, da die neuen Herren in aller Regel vor allem an den repräsentativen und wohnlichen Aspekten der früheren Klöster interessiert waren, in aller Regel wenig Aufmerksamkeit erfuhren. Andere Klöster, wie etwa ab 1521 im pommerschen Belbuck, entvölkerten sich und wurden nach einiger Zeit zu Steinbrüchen umfunktioniert. Einige, wie 1529 die Prämonstratenserabtei im nahe Breslau gelegenen schlesischen Elbing, wurden auch aus militärischen Gründen abgerissen. Ein besonders eindrückliches Beispiel für diese Praxis stellt die Anordnung des H. Mai, „Der Einfluss der Reformation auf Kirchenbau und kirchliche Kunst“, in Das Jahrhundert der Reformation in Sachsen, Hg. Helmar Junghans (Leipzig, 2005): 153 – 176.
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schwedischen Königs Gustav I. Vasa aus dem Jahre 1527 dar, alle Pfarrkirchen außerhalb der Hauptinsel Stockholms niederzulegen, was über Jahrzehnte zu erheblichem Mangel an Gottesdienstraum und damit verbunden zu überfüllten innerstädtischen Kirchen führen sollte.¹⁴ Die meisten mittelalterlichen Kirchengebäude indes blieben – insbesondere hinsichtlich ihrer Grundsubstanz – zunächst unangetastet und wurden nur langsam an die Veränderungen der Gottesdienstkultur angepasst, indem etwa, wie 1543 in der Dresdner Kreuzkirche, 1554 in der Hallischen Marktkirche und 1570 in der Thomaskirche zu Leipzig, mithilfe hölzerner oder steinerner Emporen ausreichend Sitzplätze bereitgestellt wurden, damit die Gemeinde die Predigt des Wortes Gottes hören konnte. Davon abgesehen beschränkten sich die Veränderungen meist auf durch Feuer, Krieg oder schlechten Erhaltungszustand notwendig gewordene Reparaturmaßnahmen. Wo Renovierungsmaßnahmen auf die Erweiterung bestehender räumlicher Kapazitäten zielten, fügte man in den ersten Jahrzehnten nach der Einführung der Reformation, wie beispielsweise 1585 im schlesischen Reichenbach und ebenfalls vor 1600 im pommerschen Daber, ein der Kanzel gegenüber situiertes zusätzliches und asymmetrisches Seitenschiff an.¹⁵ Zumindest in weiten Teilen verliefen Veränderungen an der mittelalterlichen Bausubstanz also parallel zu Veränderungen neu errichteter Kirchen.
3 Neubauten 3.1 Schlosskapellen Der neuen Konfession, der für die Ausbreitung der Reformation besonders wichtigen Reichsfürsten angemessenen baulichen Ausdruck zu verleihen, entwickelte sich bald zu einem wichtigen propagandistischen Anliegen, weswegen die Schlosskapellen der fürstlichen Residenzen zu den frühesten neu errichteten protestantischen Kirchenbauten zählen. Auch wenn die für Pfalzgraf Ottheinrich 1540 – 1543 errichtete Schlosskapelle in Neuburg an der Donau ursprünglich als altgläubiger Kirchenraum intendiert war, wurde sie durch die Konversion ihres Stifters von Anfang an protestantisch genutzt. In ihr weist lediglich der von dem Theologen Andreas Osiander konzipierte und von Hans Bocksberger dem Älteren gemalte Erlösungszyklus (ein Zyklus der Erlösungsgeschichte an dem Gewölbe) auf den konfessionellen Charakter dieses Raumes hin. Es ist die Kapelle von Schloss Hartenfels im sächsischen Torgau [Abb. 1], 1543 – 1544 von Nickel Grohmann auf Anweisung Kurfürst Johann Friedrichs P. G. Hamberg, Temples for Protestants: Studies in the Architectural Milieu of the Early Reformed Church and of the Lutheran Church, Acta Universitatis Gothoburgensis, Gothenburg Studies in Art and Architecture 10 (Gothenburg, 2002), 181– 182. Harasimowicz, Treści, 22; M. Wisłocki, Sztuka protestancka na Pomorzu 1535 – 1684, Biblioteka Naukowa Muzeum Narodowego w Szczecinie, Seria Historia Sztuki (Szczecin, 2005), 56.
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Abb. 1. Schlosskapelle Hartenfels in Torgau (1543 – 1544, Nickel Grohmann); nach Harald Marx, Cecilie Hollberg (hrsg. von), Glaube und Macht. Sachsen im Europa der Reformationszeit. Aufsätze, Dresden 2004.
des Großmütigen erbaut, welche zum Prototyp künftiger Bauten ihrer Art wurde: Die von Luther selbst eingeweihte Kapelle in Torgau galt als erster Gottesdienstraum, in dem, wie der Reformator es in seiner Kirchweihpredigt vom 5. Oktober 1544 formulierte, „päpstlicher Götzendienst“ nie gelehrt und nur das „reine Evangelium“ verkündigt worden war.¹⁶ Die Schlosskapelle wollte, auch wenn Luther in seinen Tischreden sagen konnte, dass „Salomo nie einen so schönen Tempel hatte wie den zu
R. Wex, „Oben und unten oder Martin Luthers Predigtkunst angesichts der Torgauer Schloßkapelle,“ Kritische Berichte 11 (1983): 4– 24.
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Torgau“,¹⁷ ausdrücklich anhand alttestamentlicher Vorbilder verstanden werden: Der einschiffige, wandpfeilergestützte Innenraum mit gotischem Kreuzrippengewölbe ist mit zwei Emporen versehen, die der höfischen Hierarchie entsprechend konzipiert und von den herzoglichen Gemächern aus zugänglich waren. Von der mit einer steinernen Passionsszene geschmückten Eingangstür zum Hof abgesehen, ist der Gottesdienstraum vom Rest des Gebäudeflügels, in dem er sich befindet, nach außen hin nicht unterscheidbar; die Schlichtheit seiner Dekoration im Inneren korrespondierte mit Luthers in seiner Kirchweihpredigt zum Ausdruck gebrachten diesbezüglichen Auffassung. Da die in Torgau zu findende besondere Art des Grundrisses bald als dezidiert protestantisch galt, gewann sie schnell den Charakter eines konfessionellen Merkmals, wurde daher von Fürsten und niederen weltlichen Herren innerhalb und außerhalb des Reiches gewählt und konnte unabhängig von sich wandelnden architektonischen Ausdrucksformen bestehen: Neben weiterhin vorherrschenden gotischen Stilelementen (Dresden 1549 – 1555; Schwerin 1560 – 1563) und Bauwerken im niederländischen Stil (Augustusburg in Sachsen, 1568 – 1572 durch Erhardt van der Meer) finden sich auch Beispiele eines reinen italienisierenden Stils wie Stettin (1575 – 1577 unter dem Baumeister Wilhelm Zacharias) [Abb. 2]. Die in alledem formgebende bzw. formstiftende bende Rolle Torgaus lässt sich in geographisch wie chronologisch weiter entfernten Kapellen noch im späten 17. Jahrhundert im lutherischen wie reformierten Bereich beobachten (lutherisch etwa Frederiksborg in Dänemark, 1606 – 1617 durch Giovanni Maria Nosseni, reformiert Carolath in Schlesien für die Freiherren von Schönaich, ca. 1608 – 1618).¹⁸
3.2 Pfarrkirchen Während der ersten Jahrzehnte nach Einführung der Reformation finden sich kaum Innovationen im Kirchbau: Das vorherrschende Charakteristikum bildete in Fragen des Grundrisses wie der Ausstattung die Kontinuität; die im Spätmittelalter häufige gotische Hallenkirche mit polygonalem Chorraum galt den Zeitgenossen als angemessene Verkörperung einer Predigtkirche. Auch für die neue Konfession erwies sich ihre „demokratische“ Raumaufteilung, durch welche der Bedarf an räumlicher Vereinheitlichung gedeckt werden konnte, als sinnvoll.¹⁹ Mit Sachsen finden sich in dem Territorium, in welchem Luthers Lehre sich am frühesten verbreitete, beeindruckende Realisierungen dieses Konzepts, in der Regel vor dem Thesenanschlag begonnen, an
Michalski, The Reformation, 40. Hugo Johannsen, „The Saxon Connection. On The Architectural Genesis of Christian IV’s Palace Chapel (1606 – 1617) at Frederiksborg Castle,“ in On the Opposite Sides of the Balic Sea. Relations between Scandinavian and Central European Countries, Hg. Jan Harasimowicz, Piotr Oszczanowski und Marcin Wisłocki (Wrocław, 2006): 369 – 379. Harasimowicz, Treści, 24– 25. J. Harasimowicz, „Der Kirchenbau im konfessionellen Zeitalter,“ Das Münster 1 (2016): 3 – 12.
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Abb. 2. Schlosskapelle Szczecin/Stettin (1575 – 1577, Wilhelm Zacharias). Archivfoto vor 1945, Muzeum Narodowe Szczecin/Stettin.
denen inmitten religiöser Veränderungen weitergebaut wurde, wie etwa in der 1540 eingeweihten St. Wolfgangs-Kirche in Schneeberg oder der 1546 fertiggestellten Marienkirche zu Pirna. Es ist bemerkenswert, dass diese Art des Kirchenbaus zumindest in Teilen später als Vorbild dienen konnte.²⁰ Die frühesten Neubauten zeigen sowohl die Fortführung wie die Weiterentwicklung traditioneller Grundrisse: Die aufgrund ihrer Silberminen als reich bekannte lutherische Stadtgemeinde im böhmischen Joachimsthal (1534– 1540 durch Hans Kopp und Johann Münich) [Abb. 3] ließ ein außergewöhnlich breites Kirchenschiff mit ursprünglich hölzerner Decke errichten, an das im Osten ein Chorraum mit Apsiden
H.-R. Russell, German Renaissance Architecture (Princeton, NJ, 1981).
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Abb. 3. Jachymov/Joachimsthal in Böhmen (1534 – 1540, Hans Kopp, Johann Münich). Foto: Justyna Chodasewicz.
anschließt. Charakteristisch für dieses Gebäude waren die umlaufenden Emporen; dieses aus spätmittelalterlichen Vorbildern entwickelte und für den protestantischen Kirchbau im Allgemeinen typische Element zitiert im vorliegenden Fall die sächsische Annenkirche im benachbarten Annaberg-Buchholz (Bauabschluss 1525). Die Stadtkirche im sächsischen Marienberg (1558 – 1564) bietet eine dreischiffige Hallenkirche mit rechteckigem Abschluss; dieser Grundriss prägt noch die seit dem frühen 17. Jahrhundert häufigen monumentalen Stadtpfarrkirchen wie St. Marien in Wolfenbüttel (Paul Francke, 1607/08 – 1624) [Abb. 4] und die Stadtkirche in Bückeburg (Giovanni Maria Nosseni, 1611– 1615), die beide aus einer dreischiffigen Halle mit umlaufender Empore bestehen, die durch einen rechteckigen Turm betreten und von einem (in Wolfenbüttel separaten) polygonalen Chorraum abgeschlossen wird, so dass sich auch hier also nach wie vor die traditionelle Dreigliedrigkeit des Kirchenraumes findet. Und auch die Formsprache ist mit gotischen Kreuzrippengewölben und Fenstern mit Maßwerk, in zeitgenössischen Quellen als „kirchisch“ und also als im Sinne der vitruvianischen Kategorie des Decorum angemessen für gottesdienstliche Räume bezeichnet,²¹ von einer bemerkenswerten Kontinuität geprägt. Zugleich ließ
H. Hipp, Studien zur „Nachgotik“ des 16. und 17. Jahrhunderts in Deutschland, Böhmen, Österreich
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Abb. 4. St. Marien in Wolfenbüttel (Paul Francke, 1607/8 – 1624). Foto: commons.wikimedia.org/ wiki/File:Marienkirche_(Wolfenbüttel)02.JPG. CC BY-SA 4.0.
sich mit dieser Kontinuität eine Distanzierung vom aus Rom bekannten „päpstlichen“ Architekturstil zum Ausdruck bringen; wie tief mittelalterliche architektonische Schemata und Formsprache verwurzelt waren, ließe sich an einer Reihe von Beispielen illustrieren, die für Gebiete außerhalb Sachsens teilweise noch konservativer sind als dort – so etwa die Stockholmer Pfarrkirchen, die König Johann III. Vasa errichten ließ, um die durch die erwähnte Order seines Vorgängers entstandenen Engpässe zu beheben: Zu nennen sind hier die einschiffige St. Clara-Kirche (1570er Jahre, Willem Boy) und St. Jakob (1580er Jahre, begonnen von Willem Boy, vollendet von Hans Ferster 1643) [Abb. 5]. Beide folgen einem pseudobasilikalen Grundriss, der durch Querschiffe Kreuzform annimmt und durch einen polygonalen östlichen Chor abgeschlossen wird. Selbst die traditionelle dreischiffige Basilika mit dem einschiffigen Chor und einem doppeltürmigen Westabschluss findet sich, etwa in Gestalt von St. Salvator in Prag (1611– 1614). Die lange Lebensdauer der spätgotischen Formensprache zeigen die einschiffige Pfarrkirche in Tyresö (1638 – 1640, Hans Ferster), die dreischiffige pseudobasilikale Kristinen-Kirche in Falun in Dalarna (1642, Hans
und der Schweiz, 3 Bde. (Hannover, 1979); L.J. Sutthof, Gotik im Barock. Zur Frage der Kontinuität des Stiles außerhalb seiner Epoche: Möglichkeiten der Motivation bei der Stilwahl (Münster, 1990).
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Abb. 5. St. Jakob in Stockholm (1580er Jahre, Willem Boy; 1643, Hans Ferster). Foto: Marcin Wisłocki.
Ferster) und die Dreifaltigkeitskirche in Kopenhagen (1637– 1656, Hans van Steenwinckel der Jüngere) [Abb. 6] als dreischiffige Hallenkirche.
4 Veränderungen im Kirchenraum im konfessionellen Zeitalter 4.1 „Die bewahrende Kraft des Luthertums“ Die ersten Predigten, mit denen die neue Lehre verkündigt wurde, fanden in Kirchenräumen statt, deren Innenaustattung noch keinerlei Veränderung unterworfen worden war, wie überhaupt in den Anfangsjahren der Reformation kaum Kirchenräume verändert wurden. Die ersten tatsächlichen Veränderungen kamen bezeichnenderweise mit den gegen den Willen des Reformators erfolgten Bilderstürmen, einer Welle von Ausschreitungen gegen Altarretabel und Heiligenbilder ab 1521 in Städten innerhalb und außerhalb des Heiligen Römischen Reiches (Treptow Anfang 1521; Wittenberg 1521/1522, Danzig 1523 und 1525), die jedoch letztlich Episode blieb und in den Städten und Territorien Augsburgischer Konfession nur begrenzte Auswirkungen hatte. Dennoch wurde Luthers in Reaktion auf Andreas Bodenstein von Karlstadt und die „Himmlischen Propheten“ entwickelte ausdrückliche Verteidigung kirchlicher Kunst prägend für eine gemäßigte und positive Einstellung gegenüber dem Erbe
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Abb. 6. Dreifaltigkeitskirche in Kopenhagen (1637 – 1656, Hans van Steenwinckel d.J.). Foto: Anna Michalska.
mittelalterlicher Sakralkunst, so dass sich diese als „bewahrende Kraft des Luthertums“ apostrophierte Haltung zu einem Identitätsmarker der neuen Konfession entwickelte und zu dem paradoxen Resultat führte, dass im Allgemeinen in lutherischen Kirchgebäuden mehr mittelalterliche Sakralkunst als in römisch-katholischen Kirchen erhalten blieb.²² Nicht nur Altarretabel, die teilweise sogar theologisch im Widerspruch zur neuen Lehre standen, wenn sie etwa Maria als Himmelskönigin verherrlichten, sondern auch Kanzeln und Taufsteine, letztere als besonders wertvoller Hinweis auf die historische Kontinuität „christliches Brauchtums“, und sogar Votivfiguren und -gemälde blieben wie auch zahlreiche andere Kunstwerke häufig lange Zeit unangetastet (vgl. etwa die Nürnberger Lorenzkirche). In vielen Städten und Ortschaften wurden lediglich diejenigen Seitenaltäre entfernt, deren Fortbestand die Gemeinde an notwendigen Veränderungen hindern würde. Die milde Haltung des Reformators ließ sich in Diskussionen über den Verbleib eines Kunstwerkes als gewichtiges Argument für denselben einbringen, wie etwa das aus dem Jahr 1479 stammende Altarbild Michael Wolgemuts in der Marienkirche im sächsischen Zwickau, das Maria mit dem Jesuskind und mit weiteren weiblichen Heiligen zeigt, nach
J.M. Fritz, Hg., Die bewahrende Kraft des Luthertums: mittelalterliche Kunstwerke in evangelischen Kirchen, (Regensburg, 1997).
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einer Renovierung des Chorraums in den Jahren 1563 – 1565 wieder an seinen ursprünglichen Ort zurückkehrte.²³ Dieser Konservativismus wurde durch die Angst über das Vordringen reformierter Ansichten im Zuge der sogenannten „Zweiten Reformation“ seit den letzten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts mit den damit verbundenen Bilderentfernungen in zahlreichen Städten und Ortschaften des Reichs (etwa in Marburg 1605, Berlin 1615, Güstrow 1618 und Prag 1619) noch verstärkt, wie zahlreiche Streitschriften, die jeden Versuch einer Veränderung des Status Quo als gottlosen Angriff auf die christliche Gottesverehrung brandmarkten, illustrieren können. Vincenz Schmuck verglich im Jahr 1608 das Erscheinungsbild reformierter Kirchen mit dem osmanischer Moscheen, andere Geistliche wie Polycarp Leyser formulierten die noch stärkere Devise „lieber papistisch als calvinistisch“.²⁴ Angesichts dessen vermag es nicht zu verwundern, dass in dieser Zeit eine große Anzahl lutherischer Kirchgebäude nach und nach zu „Bilderräumen“ umfunktioniert wurden, in denen vorreformatorische Kunst in Gestalt insbesondere von Altarretabeln und Taufsteinen mit neuen, reich verzierten und mit figürlichen Darstellungen versehenen Ausstattungsstücken zusammengestellt wurde. Besonders gute Beispiele für diese Entwicklung sind die Kirchen in Klemzig (Neumark), Rothsürben und Groß Bresa (Schlesien) und Woitzel (Pommern).
4.2 Zwischen „sacramentum audibile“ und „verbum visibile“: Kirchenausstattung im Dienst der Liturgie Unabhängig von der „bewahrenden Kraft des Luthertums“ führte die veränderte Liturgie zu einer allmählichen Veränderung der Kirchenausstattung, die mit der Einführung neuer architektonischer Lösungen und Konzepte im Bau neuer Kirchgebäude einherging. Da das verkündigte Wort nach Luther die „conditio sine qua non“ eines Gotteshauses darstellte, erhielt die Kanzel eine gegenüber dem Spätmittelalter deutlich gestiegene Wichtigkeit und wurde, unabhängig davon, ob sie an einem Pfeiler, an einer der Außenwände oder, wie in einigen kleineren Kirchen am Triumphbogen im Übergang zum Chorraum angebracht war, zum zentralen Fokuspunkt des Kirchenschiffs, für das sie eine Art Querachse wurde. Als häufig monumentale Erscheinung, getragen von Figuren, mit reich verzierter Eingangstür, Treppen- und Korbbrüstung sowie mit einem von einem hohen Baldachin gekrönten Schalldeckel (etwa in St. Maria Magdalena im schlesischen Breslau, 1579 – 1583 [Abb. 7] und in den Kathedralen in Magdeburg von 1597 und im sächsischen Freiberg von 1638), diente sie zugleich als
H. Mai, „Zmiany w użytkowaniu kościołów w miastach Saksonii po wprowadzeniu reformacji,“ in Sztuka miast i mieszczaństwa XV-XVIII wieku w Europie Środkowowschodniej, Hg. Jan Harasimowicz (Wrocław, 1990): 261– 281. M. Wisłocki, „Houses of God, Gates of Heaven, Doors of Grace. Changes in perception of Lutheran church interiors as ‚holy places‘,“ in Crossing Cultures. Conflict, Migration and Convergence, Hg. Jaynie Anderson (Melbourne, 2009): 384– 388.
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Abb. 7. Kanzel in St. Maria Magdalena in Wrocław/Breslau in Schlesien (1579 – 1583). Nach Ludwig Burgemeister, Günther Grundmann, Die Kunstdenkmäler der Provinz Niederschlesien, vol. 1: Die Kunstdenkmäler der Stadt Breslau, Teil 2, Breslau 1933.
„dauerhafte Predigt“. Der durch einander ergänzende biblische und allegorische Bildprogramme dargestellte Inhalt dieser Predigt bestand in der Heilsgeschichte und der ewigen Gegenwart des Wortes Gottes in ihr. Letztere Komponente wurde durch eigens ausgewählte „kräftige Sprüche“ aus der Bibel bekräftigt, deren von Luther stark betonter Gebrauch für protestantische Kunst auch darüber hinausgehend charakteristisch wurde.²⁵ Da der Reformator im Gegensatz zur reformierten Lehre das Abendmahl wie auch die Taufe als Sakrament definierte, behielt der feststehende Altar, auch wenn er weder als Opferstätte noch als kultischer Ort galt, seine wichtige Rolle im lutherischen Kirchraum. Die Seitenaltäre verloren indes, da der Altar hinsichtlich seiner Funktion ausschließlich auf die Feier der Kommunion für die ganze Gemeinde beschränkt
H. Preuss, Martin Luther der Künstler (Gütersloh, 1931), 75.
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wurde, ihre bisherige liturgische Rolle, selbst wenn sie an ihrem Ort verblieben. In der Formula Missae et Communionis hatte Luther 1523 ausgeführt, dass der Zelebrant seinen Dienst „versus populum“ verrichten solle, und daher gefordert, dass der Altar die Form eines Tischs haben möge, mit der auch die Idee des „Tischs des Herrn“ dargestellt werden könnte.²⁶ Auch wenn dieser Hinweis in einigen Fällen wie der Torgauer Schlosskapelle (1544) oder in einigen Kirchen in Württemberg befolgt wurde, erwies sich die Kraft der Tradition jedoch hier als stärker als die Meinung des Reformators, so dass die herkömmliche Form des Altars mit Retabel sich weitestgehend durchsetzte und in gewisser Weise selbst Luthers Billigung erhielt, als er sich in seinem Kommentar zu Psalm 111 (1530) ausdrücklich mit dem Altarbild befasste und eine Abendmahldarstellung für diesen Ort anregte.²⁷ So konnte sich die wiederum durch didaktische Zwecke begründete konfessionelle Qualität dieses Ausstattungsstücks mithilfe seines Bildprogramms erweisen, was – nicht zuletzt in der Stadtpfarrkirche St. Marien in Wittenberg selbst (1547) – allgemein gebräuchlich wurde: In den Folgejahrzehnten lässt sich eine kontinuierlich gesteigerte Bedeutung dieses Ausstattungsstückes beobachten, der häufig mit mehreren miteinander korrespondierenden Bildprogrammen ausgestattet wurde, die sich in der Regel auf den zweiten Glaubensartikel bezogen und in etlichen Fällen (etwa Basedow in Mecklenburg, 1592; Pirna in Sachsen, um 1610 [Abb. 8]; Reetz in der Neumark, 1607– 1611) den Chorraum so sehr dominierten, dass sie römisch-katholischen Umsetzungen in nichts nachstanden. Didaktische Gründe standen auch in der Frage der Platzierung des Taufsteins im Vordergrund: In seinem Taufbüchlein (1523 und 1526) hatte sich Luther dafür ausgesprochen, das Taufsakrament in Gegenwart der gesamten Gemeinde zu spenden, weswegen der Taufstein im Chorraum und hier häufig nahe des Altars an der Längsachse zu positionieren war.²⁸ Im Gegensatz zur mittelalterlichen Sitte, den „fons baptismi“ in symbolischer Nähe zum Westportal zu platzieren, sollte die Aufnahme eines neuen Gemeindemitglieds in lutherischen Gemeinden schon deshalb für alle sichtbar sein, weil die Gemeindemitglieder in der im Katechismus gelehrten Tauflehre bestätigt werden sollten. Es ist daher konsequent, dass auch der Taufstein zum Fokuspunkt wurde und außerordentlich reiche Gestalt annehmen konnte, die sich bisweilen mit einer besonderen Gestaltung des unmittelbaren räumlichen Kontextes verband, wenn der Taufstein etwa erhöht auf Stufen platziert und durch Schranken, Gitter oder einen von Säulen getragenen Baldachin umgeben und von einem monumentalen Taufsteindeckel (etwa in der Maria-Magdalena-Kirche in Breslau, 1571– 1576) gekrönt wurde. Auch das Bedeutungsspektrum eines mittelalterlichen Werks ließ sich auf diese Weise erweitern und erneuern, wie die Beispiele der Kathedrale im pommerschen Kammin (1685 [Abb. 9]) oder die Aegidienkirche in Lübeck (1710) zeigen. P. Poscharsky, „Altar. III: Mittelalter, IV: Reformationszeit und Neuzeit,“ TRE 2 (1978): 318 – 327. Michalski, The Reformation, 33; 48. J.D. Trigg, Baptism in the theology of Martin Luther, Studies in the History of Christian Thought 56 (Leiden/New York/Köln, 1994), 67; K. Cieślak, Między Rzymem, Wittenbergą a Genewą. Sztuka Gdańska jako miasta podzielonego wyznaniowo (Wrocław, 2000), 264.
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Abb. 8. Altar St. Marien in Pirna in Sachsen (ca. 1610). Foto: commons.wikimedia.org/wiki/ File:20081002030DR_Pirna_Marienkirche.jpg?uselang=de. CC BY-SA 4.0.
Kanzel, Altar und Taufstein als die Orte von Predigt und Sakramentsverwaltung konstituierten eine theologisch gerechtfertigte Trias mit dem Ziel, die untrennbare Verbindung zwischen dem von Luther im Anschluss an Augustinus so bezeichneten „sacramentum audibile“ auf der einen und dem „verbum visibile“ auf der anderen Seite zu veranschaulichen.²⁹ Daher sprach sich Luther ausdrücklich dafür aus, eine klare räumliche Verbindung dieser drei Hauptausstattungselemente herzustellen, die er mit dem sogenannten „Comma Iohanneum“ (1 Joh 5,6 – 8) in Beziehung zum dreifachen göttlichen Zeugnis von Geist, Blut und Wasser setzte und damit auch Möglichkeiten zur Interpretation in einem weiteren trinitarischen Kontext eröffnete. Dieser Gedanke wurde breit rezipiert und fand Eingang sowohl in Dokumenten des Umbach, „VIVA VOX“: 27– 36.
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Abb. 9. Taufbecken in Kamień Pomorski/Kammin in Pommern (13. Jh., mit Gitter, 1685). Archival photo before 1945, Muzeum Narodowe Szczecin/Stettin.
kirchlichen Rechts wie die Pommersche Agende von 1568 als auch in die Realisierung des Kirchbaus selbst, da dessen Ausstattung ein wesentliches Element seines Innenlebens ausmachte. Selbst die ihres sakramentalen Charakters zwar entkleidete, aber dennoch qua Kirchenrecht bis ins 18. Jahrhundert übliche Individualbeichte fand ihren räumlichen Niederschlag in lutherischen Kirchgebäuden in Gestalt von Beichtstühlen, die – wiederum vornehmlich aus pädagogischen Gründen – üblicherweise im Chorraum aufgestellt wurden, um der Buße einen öffentlichen Charakter vor den Augen der Gemeinde zu verleihen. Die aufgrund ihrer reichhaltigen Verzierungen an Patronatslogen erinnernden Beichtstühle finden sich zuweilen zu beiden Seiten des Altars; ihre Bildprogramme konzentrieren sich wie in Reichenbach in Lausitz (1685), St. Peter und Paul in Görlitz (1694 und 1717) oder auf Rügen (Sagard, 1720; Schaprode, 1722 [Abb. 10]) häufig auf Buße, Sündenvergebung und innere Bekehrung der Seele. Ein besonderer Ausdruck lutherischer konfessioneller Identität war die vom Reformator in seiner Deutschen Messe von 1526 befürwortete Orgel,³⁰ die durch die er-
K. Goldammer, Kultsymbolik des Protestantismus (Stuttgart, 1966), 75; J.L. Irwin, Neither Voice nor Heart Alone. German Lutheran Theology of Music in the Age of the Baroque (Bern/New York/Frankfurt
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Abb. 10. Beichtstuhl in Schaprode auf Rügen (1722). Foto: Marcin Wisłocki.
hebliche Bedeutung der Musik im reformatorischen Gottesdienst schrittweise eine neue Qualität als Instrument erhielt. Die Musik als „Geschenk Gottes“ fungierte infolge von Luthers anhand von Röm 10,17 gewonnener Betonung des „fides ex auditu“ als ein zur Annahme seines heilsamen Wortes hilfreiches Mittel.³¹ Sichtbare Zeichen der immerwährenden Gegenwart der Musik bildeten die mit verschwenderisch ausgeschmückten Prospekten versehenen und auf reich verzierten Emporen aufgestellten Orgeln, wobei das Bildprogramm vom vokalen und instrumentalen Lobpreis Gottes geprägt war [Abb. 11].³² Letzterer Aspekt gewann angesichts der Ablehnung kirchlicher Instrumentalmusik als Götzendienst durch die Reformierten besondere Bedeutung, wie der klar apologetische Charakter der Bildprogramme etwa in Danzig (Dreifaltigkeitskirche, 1616 – 1618; St. Johanneskirche, 1625 – 1653 und 1672) oder in den Niederlanden (Alte Lutherische Kirche zu Amsterdam, 1692) vor Augen führt.³³
am Main, 1993), 1– 7; Ch. Wetzel, „Zur Ursache des Vorranges der Musik vor den anderen Künsten während und nach der Reformation,“ in Harald Marx, Cecilie Hollberg (Hg.), Glaube und Macht. Sachsen im Europa der Reformationszeit. Aufsätze, Dresden 2004, 271– 278. See Luther’s sermon on Psalm 8, held on August, 6, 1545. Luther WA 51,11,29 – 33. Irwin, Neither Voice, passim. Matthias Range, „The material presence of music in church. The Hanseatic city of Lübeck,“ in Lutheran Churches in Early Modern Europe, Hg. A. Spicer (Farnham/ Burlington, 2012): 197– 220. Cieślak, Między Rzymem, 274– 293.
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Abb. 11. Orgel in St. Marien in Stralsund (1653 – 1659). Foto: commons.wikimedia.org/wiki/ File:01_Stralsund_St_Marien_009.jpg?uselang=de. CC BY-SA 3.0.
4.3 Der Kirchenraum als Visualisierung der „Zwei-Reiche-Lehre“ Luthers Die Innenausstattung lutherischer Kirchen war, abgesehen von den liturgischen Hauptausstattungsstücken, vor allem durch eine Vielzahl von Gestühlen und Emporen geprägt, mit denen die erforderlichen räumlichen Kapazitäten für die Teilnahme der Gemeinde am Gottesdienst geschaffen werden sollten. Damit eröffnete sich ein wichtiges Feld kirchlichen Rechts, das, wie 1596 im pommerschen Stargard, teilweise eigene „Kirchstuhlordnungen“ zeitigte. Aus liturgischer und allgemeinarchitektonischer Hinsicht bieten die Gestühle und Emporen verschiedene Versuche, die traditionelle Längsachse mit ihrem Fokus auf den Altar als den Ort der Abendmahlsfeier mit der zunehmend wichtigeren, auf die Kanzel als den Ort der Wortverkündigung
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Abb. 12. Ratsherrenempore in Stralsund (1652). Archivfoto vor 1945, Muzeum Narodowe Szczecin/ Stettin.
konzentrierten Querachse zu verbinden.³⁴ Neben und unabhängig von diesen liturgischen Anforderungen erwies sich indes der soziale Aspekt der Anordnung des Kirchengestühls als von erheblicher Bedeutung und fand seinen Ausdruck in voneinander nach Ort, Aussehen, Verzierung und Bildprogramm klar unterscheidbaren Hierarchien von Sitzmöglichkeiten. Emporen und Logen für königliche, herzogliche oder sonstige adelige Patrone, herausgehobene Sitzplätze für Ratsmitglieder [Abb. 12], Zunftälteste und Geistliche sowie gewöhnliches Gestühl für den gemeinen Mann sorgten dafür, dass eine sozial stratifizierte Gesellschaft auch im Kirchenraum ihren Ausdruck fand. Luther hatte diese sozialen Unterscheide als gottgegeben gerechtfertigt:³⁵ Die Torgauer Predigt von 1544 etwa erinnert an die sozial ausdifferenzierten Sitzmöglichkeiten in der Schlosskapelle.³⁶ Es ist bemerkenswert, dass diese soziale Hierarchie sich auch in der Fortsetzung der mittelalterlichen post-mortem-Memoria in Gestalt von Epitaphien und Grabmälern niederschlug: Auch wenn nach dem in An R. Wex, Ordnung und Unfriede. Raumprobleme des protestantischen Kirchenbaus im 17. und 18. Jahrhundert in Deutschland, Kulturwissenschaftliche Reihe 2 (Marburg, 1984). H. Umbach, Heilige Räume – Pforten des Himmels. Vom Umgang der Protestanten mit ihren Kirchen (Göttingen, 2005). Wex, „Oben und unten“: 4– 24.
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schluss an Luther entwickelten neuen Konzept der „memoria“ diese Art von Kunstwerk nicht nur der Erinnerung an Einzelpersonen, sondern auch katechetischen Zwecken zu dienen hatte,³⁷ bildeten sich sowohl in ihrer Platzierung als auch in ihrer Gestaltung soziale Unterschiede deutlich ab. Während die Innenausstattung eines Kirchenraums verschiedene Bestandteile des Katechismus als Wegleitung auf dem Weg in den Himmel verkörperte, setzte sich die traditionelle Deutung der Decke mit ihren Bögen und Gewölben als Verbildlichung des Himmels durch das 16. und 17. Jahrhundert hindurch und darüber hinaus fort, wie es etwa Deckenverzierungen mit Sternen, Engeln und Engelchören oder Darstellungen der Transzendenz Christi veranschaulichen, die sich beispielsweise in Klemzig in der Neumark (1613), im ostpreußischen Mühlhausen (1693 – 1696) oder im pommerschen Brietzig (1697) finden. Auf diese Weise wurde der gesamte Kircheninnenraum mit seinen Emporen und Gestühlen zu einer Sichtbarmachung der „Zwei-Reiche-Lehre“ Luthers, indem er die christliche Gemeinde sowohl als weltlich und sozial differenziert existierende Größe als auch als eine im theologischen Kontext der Heilsgeschichte verstandene „communio sanctorum“ auf dem Weg in den Himmel abbildete. Auch das Konzept des lutherischen Gotteshauses als eines heiligen Ortes fand aus diesem Grunde seinen Ausdruck in der Gestaltung des Kirchraumes, indem Gemeinden in Aufnahme von Gen 28,17 beispielsweise die Eingangstüren, die Kanzel oder Gewölbe mithilfe entsprechender Bildprogramme und Inschriften in diesen Kontext stellten, oder auch, indem der gesamte Kirchinnenraum – wie in der Hofkapelle in Weimar von 1658 – auf den Spuren der biblischen Jakobsleiter und der dort begegnenden „scala coeli“ als heiliger Ort interpretiert wurde.³⁸
5 Neue Realisierungen des Predigtraums Nach der organisatorischen und dogmatischen Institutionalisierung und Stabilisierung der lutherischen Landeskirchen und der damit verbundenen Selbstverständlichkeit der konfessionellen Identität der lutherischen Gemeinden entwickelte sich eine neue Art von architektonischem Denken: Seit etwa der Mitte des 17. Jahrhunderts ist eine wachsende Anzahl von Experimenten und neuen Zugängen zu beobachten, deren gemeinsames Ziel darin bestand, einen für den Predigtgottesdienst angemessenen Raum zu realisieren. Hinsichtlich Grundriss und Ausstattung mit liturgischen Einrichtungsgegenständen setzte man dabei auf einheitliche Konzepte; ein anderes Charakteristikum des Kirchbaus nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges besteht in einer gewissen Parallelisierung von lutherischer und reformierter Kirchenarchitektur.³⁹ Auch Änderungen der lutherischen Frömmigkeitskultur, insbesondere in Michalski, The Reformation, 41. R. Leeb, „Die Heiligkeit des reformatorischen Kirchenraums oder: Was ist heilig? Über Sakralität im Protestantismus,“ in Protestantischer Kirchenbau, Harasimowicz: 37– 48. Mai, „Tradition“: 11– 26; Harasimowicz, „Der Kirchenbau“: 3 – 12.
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Gestalt des wachsenden Einflusses des Pietismus, führten zu geänderten Anforderungen an den Gottesdienstraum. Die zeitgleich zu beobachtenden ersten Versuche, eine systematische Theorie des protestantischen Kirchenbaus aus rein architektonischer Perspektive zu entwerfen, trugen sowohl zur einen wie zur anderen dieser Entwicklungen bei. Frühe Beispiele einer solchen protestantischen Kirchenbautheorie stellen Joseph Furttenbachs KirchenGebäw (Augsburg 1649) und Leonhard Christoph Sturms (der im Übrigen erklärter Pietist war) Architectonisches Bedencken von Protestantischer Kleinen Kirchen Figur und Einrichtung (Hamburg 1712) sowie seine Vollstände Anweisung alle Arten von Kirchen wohl anzugeben (Hamburg 1718) dar.⁴⁰ Unabhängig von verschiedenen Faktoren, die auf diese neuen Ansätze einer Realisierung des liturgischen Raums jeweils von Einfluss waren, lassen sich die neuen Kirchbaukonzepte bis zu einem gewissen Grade als konsequente Folgerungen aus Luthers Theologie sehen: Die von dem Wittenberger Theologen explizit betonte unauflösliche Wechselbeziehung zwischen Predigt und Abendmahl führte beispielsweise zur Realisierung einer vertikalen Kombination von Kanzel und Altar, die so ein gemeinsames liturgisches Zentrum und eine einzige Raumachse bildeten. Als erste Verwirklichung dieses Konzepts ist die Kapelle der Wilhelmsburg im hessischen Schmalkalden (1585 – 1590) [Abb. 13] anzusprechen, in der alle liturgischen Elemente symbolisch vereint sind, indem der Altartisch, der auch das Taufbecken enthält, unter der Kanzel und der über ihr angeordneten Orgel zu stehen kommt. Erst das sogenannte „Prinzipalstück“, wie es Furttenbach in seiner genannten Schrift von 1649 als eine integrale Einheit von Altar, Kanzel und Orgel beschreibt, wurde jedoch in breiteren Kreisen rezipiert⁴¹ und erreichte als „Kanzelaltar“ eine große Beliebtheit in den Territorien des Reiches und darüber hinaus. Gute Beispiele eines Kanzelaltars finden sich in der Schlosskapelle in Weimar (1658) und in der Concordienkirche im thüringischen Ruhla (um 1680). Im gleichen Zeitraum lässt sich die Tendenz beobachten, die Orgel oberhalb des Altars zu positionieren, selbst wenn die Kanzel traditionell an der Langseite des Kirchenraumes angebracht wurde, wie es etwa in der Gnadenkirche im schlesischen Hirschberg (1724– 1727 und 1733) [Abb. 14] oder in der Dresdner Frauenkirche von 1732– 1736 der Fall war. Neue Realisierungen des Grundrisses eines Kirchenraums in polygonaler Form oder in Form eines griechischen Kreuzes sind ohne klare reformierte Vorbilder sowohl aus dem französischen Hugenottentum als auch aus den Niederlanden kaum vorstellbar.⁴² Dennoch liegen die Gründe für eine Aufnahme dieser Impulse nicht ausschließlich im theologischen, sondern auch im rein künstlichen und im repräsentativen Bereich. Dies zeigt sich beispielhaft in den auf königlich-schwedische Initiative durch Jean de la Vallée in Stockholm errichteten Bauten der Katharinenkirche (1656 – 1695) auf dem Grundriss eines griechischen Kreuzes und der Hedvig-Eleonora-Kirche Ebd. E. Fisher Gray, „The Body of the Faithful. Joseph Furttenbach’s Lutheran Church Plan,“ in The Early Modern Parish Church, Hg. A. Spicer (Aldershot, 2016): 103 – 118. Harasimowicz, „Der Kirchenbau“: 3 – 12.
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Abb. 13. Schlosskapelle der Wilhelmsburg in Schmalkalden in Thüringen, früher Hessen (1585 – 1590, Christoph Müller). Foto: Jan Harasimowicz.
(1669 – 1737) mit ihrem oktogonalen Grundriss, die beide von einer hohen Kuppel bekrönt sind. Der ursprünglich in der Noorderkerk in Amsterdam 1620 – 1623 von Hendrik de Keyser realisierte Grundriss in Form des griechischen Kreuzes verbreitete sich in den Territorien des Reiches insbesondere durch die Stiftertätigkeit der reformierten Fürsten von Brandenburg und Anhalt und fand auch in Kirchgebäuden, die wie die 1683 – 1696 durch den holländischen Architekten Cornelis Ryckwart geplante Heiliggeistkirche im anhaltischen Zerbst für lutherische Gemeinden erbaut wurden, Anwendung, um im folgenden Jahrhundert etwa in der Dresdner Frauenkirche (1723 – 1743 durch Georg Bähr) [Abb. 15], die von den Zeitgenossen nicht nur für ihre Zweckmäßigkeit, sondern auch für die Homogenität und Klarheit ihres Raumes gerühmt wurde, seinen Höhepunkt zu erreichen. Varianten dieses Grundrisses finden sich sowohl in der nördlichen (Finnland: Kiiminki, 1760 und Petäjävesi, 1763 – 1765)
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Abb. 14. Altar und Orgel in der Gnadenkirche in Jelenia Góra/Hirschberg in Schlesien, (1724 – 1727, 1733). Foto: Romuald Sołdek.
wie in der südlichen (Slovakei: Kežmarok, 1717 und Hronsek, 1725 – 1726) Peripherie des lutherischen Europa und entwickelten sich in manchen Gegenden zum vorherrschenden Typus. Eine andere immer häufiger anzutreffende Raumrealisierung war die Querkirche mit einer an einer der Seitenwände platzierten Zusammenstellung von Kanzel und Altar als einzigem liturgischen Zentrum, wie sie erstmals in der lutherischen Schlosskapelle in Stuttgart (1553 – 1560 durch Blasius Berwart) auftritt, bevor sie vor allem im reformierten Bereich auf der Grundlage einer theologisch begründeten Ablehnung des traditionellen Langhaus-Konzepts mit seiner Konzentration auf den am östlichen Gebäudeende befindlichen Altar Verbreitung fand. Dessen ungeachtet begann die Querkirche etwa zeitgleich mit dem Kanzelaltar ihren Siegeszug auch in lutherischen Gegenden, wie sich etwa an der St. Salvator-Kirche in Zellerfeld (1675 –
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Abb. 15. Frauenkirche in Dresden (Georg Bähr, 1726 – 1743). Foto: commons.wikimedia.org/wiki/ File:100130_150006_Dresden_Frauenkirche_winter_blue_sky-2.jpg. CC BY-SA 3.0.
1683 durch Erich Hans Ernst) zeigt.⁴³ Die Suche nach neuen Verwirklichungsformen eines auf ein Zentrum fixierten Raumes für den Predigtgottesdienst zeitigte indes noch zahlreiche weitere Konzepte, wie ein Blick auf die als „Winkelhakenkirche“ 1601– 1608 mit einem Grundriss in L-Form durch Heinrich Schickhardt im neu gegründeten württembergischen Freudenstadt errichtete dortige Stadtkirche, auf die Kirche im sächsischen Großenhain mit ihrem T-Grundriss (1744– 1748 durch Johann Georg Schmidt) und den etwa im norwegischen Rennebu 1669 realisierten Grundriss in YForm [Abb. 16] zeigt.
Mai, „Tradition“: 11– 26; Harasimowicz, „Der Kirchenbau“: 3 – 12.
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Abb. 16. Kirche in Rennebu, Norwegen (1669). Foto: Anna Michalska.
Dieser gemeinsamen Entwicklungen ungeachtet, entwickelte sich lutherische Kirchenarchitektur in charakteristisch lokal differenzierter Art und Weise, da unter bestimmten Umständen, etwa der besonderen Notwendigkeit, in bestimmten Kontexten bestimmte Raumkonzepte realisiert wurden. Ein Beispiel für eine spezifische Realisierung des Kirchenraums im Kontext der Notwendigkeit, die eigene konfessionelle Identität zu verteidigen, stellten die schlesischen Friedenskirchen in Glogau (1652), Jauer (1654– 1655) und Schweidnitz (1656 – 1657) [Abb. 17] dar, welche nach dem Westfälischen Frieden von 1648 in von den römisch-katholischen Habsburgern regierten Grafschaften zu errichten waren. Trotz erheblicher Beschränkungen hinsichtlich Ort, Material und Form und unangesehen ihrer jeweils spezifischen Ausgestaltung gelang es ihrem Architekten Albrecht von Säbisch, monumentale Gebäude zu errichten, wenn etwa die Kirche in Schweidnitz nicht weniger als 7500 Personen aufnehmen konnte. Die weitgehende Homogenität dieser Kirchgebäude resultiert aus der kreativen Rezeption hugenottischer und holländischer Impulse und ist durch eine erstaunlich demokratische Realisierung des Kirchengestühls sowie durch als Manifestation der eigenen, dem römisch-katholischen Bekenntnis des Herrschers entgegengesetzten konfessionellen Identität dienende, verschwenderisch reichhaltige Bildprogramme charakterisiert.⁴⁴
J. Harasimowicz, „Evangelische Kirchenräume der frühen Neuzeit,“ in Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Hg. Susanne Rau und Gerd Schw-
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Abb. 17. Friedenskirche in Świdnica/Schweidnitz in Schlesien (1656 – 1657). Foto: Agnieszka SeidelGrzesińska.
Im Allgemeinen entwickelte sich der lutherische Kirchbau nach dem konfessionellen Zeitalter sowohl durch die Aufnahme von reformierten Kirchenbaukonzepten als auch durch den Einfluss pietistischer Kreise mit ihrer besonderen Frömmigkeit in die Richtung einer zunehmenden Schlichtheit in der Raumaufteilung, wie sie insbesondere Leonhard Christoph Sturm propagierte. Die Aufklärung und das mit ihr Einzug haltende klassizistische Schönheitsideal führte zu weitergehenden Konsequenzen dieser Entwicklung sowohl hinsichtlich einer weiteren Vereinheitlichung und Vereinfachung des Grundrisses mit Folgen für die Innenausstattung in liturgischer wie sozialer Hinsicht als auch in Gestalt einer wesentlichen Reduzierung von Bildprogrammen und Zierrat. Damit begann der Weg hin zum auch heute noch weitverbreiteten Ideal eines strengen und schlichten Raums mit weiß überstrichenen Wänden, der einen vollständigen Rückzug vom Erscheinungsbild der Kirchen zur Zeit Luthers und seiner Nachkommen bedeutete.
erhoff, Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit 21 (Köln/ Weimar/Wien, 2004): 413 – 445.
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6 Einfluss auf weltliche Architektur Die Auswirkungen der Lehre Luthers erstrecken sich nicht nur auf das Gebiet der Kirchenarchitektur, sondern reichen, freilich in eingeschränkter und zumeist erst im konfessionellen Zeitalter sichtbar werdender Weise, bis in den Bereich der öffentlichen wie privaten weltlichen Baukunst hinein. Dies ist vor allem greifbar in Manifestationen des eigenen Bekenntnisstandes durch Wort und Bild oder eine Wort-BildKombination auf der Fassade von Gebäuden, zeigt sich aber auch in der Gestaltung der Innenräume. In Übereinstimmung mit Luthers Rat, „kräftige Sprüche“ der Heiligen Schrift an der Wand anzubringen, finden sich solche Zitate als geeignetes Medium der Kommunikation der eigenen religiösen Überzeugung in Form von Inschriften an Gesimsen, an Friesen oder Portalen. Als besonders eindeutiges Statement diente seit den ersten Jahren der Reformation der lateinische Vers „Verbum Dei Manet in Aeternum“ (1 Petr 1,25; Jes 40,8), der sich nicht nur in zahlreichen Bestandteilen der Kircheninnenausstattung, insbesondere an Kanzeln, fand, sondern, häufig durch die Initialen „VDMIAE“ abgekürzt, auch die Residenzen weltlicher Herren wie das herzogliche Schloss im schlesischen Brieg (1551– 1553), Rathäuser und die Häuser städtischer Bürger wie das Haus „Unter dem grünen Kürbis“ (Marktplatz 23) im schlesischen Breslau (1541) schmückte. Daneben fanden eine Reihe biblischer Sprüche sowie Zitate aus Luthers Katechismen oder anderer reformatorischer Schriften ihren Platz an den Fassaden bürgerlicher Wohnhäuser des 16. und 17. Jahrhunderts. In manchen Fällen bildeten diese Zitate eine Art biblischer „Galerie“, indem sie zentrale Gehalte der erneuerten Lehre und Frömmigkeit vorstellten, wie beispielsweise in Osterwieck in Anhalt der wortzentrierte Ansatz der Reformation mit dem Sola-Scriptura-Prinzip verdeutlicht wird.⁴⁵ Nicht nur das Wort selbst, sondern auch das an Gebäuden angebrachte Bild fand seine Rechtfertigung als katechetisches Medium im Schrifttum Luthers: „Ja wollt Gott, ich kund die herrn und die reychen da hyn bereden, das sie die gantze Bibel ynnwendig und auswendig an den heusern fur ydermans augen malen liessen, das were eyn Christlich werck“, erklärte der Reformator in seiner Schrift „Wider die Himmlischen Propheten“ von 1525. Der Zweck dieser Abbildungen sei vor allem ein didaktischer, „Das wyr auch solche bilder mügen an die wende malen umb gedechtnis und besser verstands willen, Syntemal sie an den wenden ia so wenig schaden als ynn büchern“. Es sei ferner besser, die Wände mit biblischen Szenen zu verzieren, „denn das man sonst yrgent welltlich anverschampt ding malet“.⁴⁶ Entsprechend fanden
K. Thiele, „Osterwieck. Die Fachwerkstadt aus dem Reformationsjahrhundert,“ in Osterwieck. Die Fachwerkstadt aus dem Reformationsjahrhundert, Hg. Ders., Harz-Forschungen 26 (Berlin/Wernigerode, 2010): 9 – 73. WA 18,82,27– 83,5; M. Stirm, Die Bilderfrage in der Reformation, Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 45 (Gütersloh, 1977), 86.
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Abbildungen alt- und neutestamentlicher Szenen ihren Weg auf Wände, Portale, Fensterumrahmungen und Wandfriese als Manifestation der religiösen Überzeugung des Hausherren, wobei sie bisweilen, wie die Reliefdarstellung der Bekehrung des Paulus im Loitzschen Hause in Stettin von 1546, explizit auf seine Bekehrung zum „wahren und unveränderten Evangelium“ verweisen. Kombinierte Bildprogramme aus alt- und neutestamentlichen Szenen wie das im sogenannten „Biblischen Haus“ in Görlitz (1570 – 1572 durch Hans Kramer den Jüngeren) erhaltene sind in der Regel auf Erlösung und Rechtfertigung konzentriert. Auch die Gestaltung der Innenräume durch Wandgemälde und Schmuckelemente an offenen Kaminen, Fliesen oder Ofentüren ließ sich, etwa mit der beliebten „Allegorie von Gesetz und Gnade“ als sichtbarer Entsprechung des lutherischen Sola-Gratia-Prinzips, zu einem Ausdrucksmittel der eigenen konfessionellen Überzeugung gestalten, wie auch Wandteppiche in der Frühen Neuzeit dazu eingesetzt werden konnten, die neue Lehre zu propagieren. Exemplarisch hierfür ist der sogenannte „Croy-Teppich“ von 1554. Er zeigt die beiden Häuser von Pommern und ernestinischem Sachsen als Hörer der Predigt Luthers und veranschaulicht so gut, wie derartige Auftragswerke das Erbe des Reformators auch in weltliche Räume tragen konnten.
Fazit Der durch verschiedene Aspekte gegebene starke Einfluss der lutherischen Reformation auf die Entwicklung der Baukunst traf durchgängig auf eine Reihe andersartiger kultureller, künstlerischer, sozialer und politischer Faktoren. Unabhängig von der Bedeutung der Haltung Luthers zum Kirchengebäude etwa erwiesen sich Veränderungen der Liturgie und ein neues Verständnis bestimmter Einrichtungsgegenstände als leitend für die Entwicklung dieses Bereichs der Architektur. Daneben ist seit den Anfängen der Reformation kontingenten Ereignissen und Entwicklungen wie den Bilderstürmen der frühen 1520er Jahre oder der „Zweiten Reformation“ in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ein zwar bisweilen indirektes, aber nichtsdestoweniger erhebliches Gewicht zuzubilligen, indem sie aus der Notwendigkeit heraus, sich gegen „häretische“ Praktiken und Ansichten abzugrenzen, konkrete Realisierungen kirchenarchitektonischer Fragen herbeiführten. Die zentrale Rolle anderer Konfessionen als der lutherischen erschöpft sich jedoch nicht darin, Anlass zu heftiger Abgrenzung zu bieten: Insbesondere nach der Stabilisierung der Konfessionen sind Prozesse wechselseitiger Befruchtung und Inspiration zu beobachten. Die eintretenden Veränderungen lassen sich auf einer grundsätzlichen Ebene als Reflexion der „bewahrenden Kraft des Luthertums“ auf der einen und seiner innovativen Kraft, die zumindest in manchen Teilen als kontinuierliche Reinterpretation der Lehre des Reformators verstanden werden kann,⁴⁷ auf der anderen Seite verstehen. Diese beiden
Mai, „Tradition“: 11– 26.
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einander scheinbar widersprechenden Aspekte stehen nach wie vor für das Konzept der „Erneuerung als selektive Tradition.“⁴⁸
W. Brückner, „Erneuerung als selektive Tradition. Kontinuationsfragen im 16. und 17. Jahrhundert aus dem Bereich der Konfessionellen Kultur,“ in Der Übergang zur Neuzeit und die Wirkung von Traditionen, Vorträge gehalten auf der Tagung der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg am 13. und 14. Oktober 1977, Veröffentlichungen der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg 32 (Göttingen, 1978): 55 – 78.
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Martin Luther im Bildnis 1 Einleitung Martin Luther ist der bis in die Gegenwart hinein am häufigsten porträtierte Vertreter des Protestantismus. Stets liegen den Porträts Bildfindungen zugrunde, die bereits im 16. Jahrhundert entstanden. Sie gehen sämtlich auf die Bildnisse des Reformators aus der Cranach-Werkstatt zurück. Der kurfürstlich-sächsische Hofmaler Lucas Cranach d. Ä. war persönlich mit Luther bekannt und am Wittenberger Hof im humanistischen Milieu beheimatet.¹ Er begleitete den Reformator in den Phasen seines öffentlichen Wirkens künstlerisch, indem er unterschiedlichen theologischen und kirchenpolitischen Aussagen, die in der öffentlichen Wahrnehmung mit der Person Luthers verbunden waren oder auf diese Weise implementiert werden sollten, in angemessener Weise in Bildnissen, deren Bildsprache humanistisch geprägt ist, Ausdruck verlieh. Sein gleichnamiger Sohn setzte diese Arbeit bis über den Tod des Reformators hinaus fort. Luther selbst gab keine Porträts in Auftrag, doch sind kurfürstliche Protektion und Nachfrage auf dem freien Markt als Auslöser der Bildproduktion gleichermaßen denkbar. Anhand der in der Wittenberger Cranach-Werkstatt entwickelten Bildtypen für das Lutherporträt, die bereits im Jahrhundert ihrer Entstehung als authentische Bildzeugnisse des Reformators betrachtet wurden, bildeten sich Bildtraditionen heraus, die bis in die Gegenwart hinein wirksam sind.
2 Visuelle Rhetorik im Lutherbildnis Der frühneuzeitliche Betrachter eines Bildnisses legte Wert auf die Wahrhaftigkeit der Darstellung. Doch knüpfte sich der Begriff an andere Konzepte als die im 21. Jahrhundert vorherrschenden. Dasjenige, das dem humanistischen Verständnis von Person verpflichtet ist, verweist den Betrachter inschriftlich auf außerbildliche Erkenntnismöglichkeiten, die auf die Offenbarung von Wesen und Geist des Dargestellten abzielen. Diese zeigten sich ausschließlich im geschriebenen Werk und seien bildlich nicht darstellbar, so wird stets argumentiert.² Der Betrachter sieht das Bild also lediglich als Beigabe einer umfassenden Wesensschau, die das geistige Profil zum Gegenstand hat. Das gemalte oder gestochene Bild zeigt dann nur die gegenüber dem unvergänglichen Bild des Geistes zurücktretende vergängliche Hülle, als die der Leib Edgar Bierende, Lucas Cranach d. Ä. und der deutsche Humanismus. Tafelmalerei im Kontext von Rhetorik, Chroniken und Fürstenspiegeln, München/Berlin, 2002, bes. 42 und 259 – 269. Zuerst auf der Porträt-Medaille, die Erasmus von sich selbst in Auftrag gab,vgl.Walther Ludwig, „Das bessere Bildnis des Gelehrtenˮ, in: Philologus 142, 1, 1998, 123 – 161, hier: 131– 133. https://doi.org/9783110498745-061
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nach neuplatonischem Verständnis gesehen wurde. Allerdings finden sich, so wird durch die schiere Existenz des Werkes behauptet, im Kunstwerk beide Gegensätze vereint, zählt dieses doch ebenfalls zu den Werken des Geistes.³ Es erhebt wie dieser einen Ewigkeitsanspruch und löst in diesem Sinne ein Weiterleben des Dargestellten im Bild ein. Auch Aspekte mimetischer Ähnlichkeit haben ihren Platz im Bildnis des 16. Jahrhunderts. Bereits seit der Antike war die Natur die vornehmliche Bezugsgröße jeder bildlichen Darstellung.⁴ Die naturgetreue Wiedergabe von Stoffen und Pelzen, Raumhaltigkeit und Lichtspiel erhöht in Bildnissen der Frühen Neuzeit deren Wahrheitsgehalt und verleiht auch den Dargestellten Authentizität.⁵ Der Porträtierte scheint für alle Zeiten im Bild leibhaftig präsent zu sein als ein Gegenüber, mit dem der Betrachter auch über die zeitliche Distanz hinweg in einen Dialog eintreten kann. Doch die Nähe zur Natur als Bezugsgröße kann mit anderen Konzepten variabel verschränkt sein. So bietet die aus der Antike überlieferte und in humanistischen Kreisen verbreitete Physiognomik die Analyse zahlreicher Gesichtszüge, in denen sich der Charakter des Dargestellten unmittelbar widerspiegelt, so die Annahme.⁶ Anatomische Details wurden dementsprechend betont, überformt und mit künstlerischen Mitteln in Szene gesetzt. Eine weitere Möglichkeit, die wahrhaftige Identität des Dargestellten bildlich zu behaupten, eröffnet sich in der Einbindung von Inschriften, Attributen, Wappen und anderem mehr.⁷
Peter-Klaus Schuster, „Individuelle Ewigkeit. Hoffnungen und Ansprüche im Bildnis der Lutherzeit“, in: August Buck (Hg.), Biographie und Autobiographie in der Renaissance. Arbeitsgespräch in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel von 1. bis 3. November 1982, Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 14, Wiesbaden, 1983, 121– 173, hier: 124. Wobei hier wie dort der Anschein von Unmittelbarkeit und Lebendigkeit gemeint sein konnte, der nicht zwingend mimetische Naturabschilderung einschloss, sondern zu dieser in einem Spannungsverhältnis stand, vgl. für die Nachantike und Frühe Neuzeit Klaus Niehr, „ad vivum – al vif. Begriffsund kunstgeschichtliche Anmerkungen zur Auseinandersetzung mit der Natur in Mittelalter und früher Neuzeitˮ, in: Peter Dilg (Hg.) Natur im Mittelalter. Konzeptionen – Erfahrungen – Wirkungen. Akten des 9. Symposiums des Mediävistenverbandes, Marburg, 14.–17. März 2001, Berlin, 2003, 472– 485, hier: 477 und 484 f. Vgl. hier und im Folgenden Christof Metzger, „Eine Glaubensfrage. Auf der Suche nach der Wahrheit im Bildnis der Dürerzeitˮ, in: Sabine Haag, Christiane Lange, Christof Metzger und Karl Schütz (Hg.), Dürer – Cranach – Holbein. Die Entdeckung des Menschen. Das deutsche Porträt um 1500, Ausstellungskatalog Wien, München; München, 2011, 21– 47. Zu der Rezeption populären pseudo-aristotelischen Physiognomonika in der deutschen Kunst des 16. Jahrhunderts vgl. Ulrich Reißer, Physiognomik und Ausdruckstheorie der Renaissance. Der Einfluß charakterologischer Lehren auf Kunst und Kunsttheorie des 15. und 16. Jahrhunderts, Beiträge zur Kunstwissenschaft 69, München, 1997, bes. 19 – 31 und 308 – 315; Christof Metzger, „ʻWie man den Menschen erkennen soll.ʼ Neue Überlegungen zu den Charakterstudien Hans Schäufelinsˮ, in: Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien 12, 2010, 8 – 39, hier: 18 und 20 f. Vgl. Hans Belting, „Wappen und Porträt. Zwei Medien des Körpersˮ, in: Martin Büchsel und Peter Schmidt (Hg.), Das Porträt vor der Erfindung des Porträts, Mainz, 2003, 89 – 100.
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Sämtliche genannten Strategien wurden ab dem 16. Jahrhundert auf das Bildnis Luthers angewendet, das vor dem Hintergrund der literarischen Rezeption des Reformators und parallel zu ihr in Erscheinung tritt.⁸ Dessen Porträts sind daher zuallererst als Artefakte zu betrachten, mit denen jeweils eine bestimmte Darstellungsabsicht verbunden ist. Diese tritt in Gestalt einer visuellen Argumentation zutage. Im humanistischen Bildverständnis wurzelnd, weisen die Gestaltungskonzepte der Lutherporträts des 16. Jahrhunderts enge Verbindungen zu den aus der Antike überlieferten Strategien der Redekunst auf.⁹ Im Kunstwerk treten rhetorische Figuren in Gestalt visueller Topoi zutage, die den Betrachter von spezifischen Botschaften überzeugen sollen. Bildmotive und Darstellungsmodi nehmen Bezug auf außerbildliche theologische, geistesgeschichtliche sowie künstlerische Diskurse der Zeit, sie verorten die Porträts des Reformators zugleich im Beziehungsgeflecht von Auftraggeber, Künstler und Adressat und legen damit Zeugnis ihres historischen Entstehungsund Geltungskontextes ab. Auf Grundlage der in der Cranach-Werkstatt geschaffenen, in Serie produzierten und zeitnah vielfach rezipierten Bildnistypen prägten sich Bildtraditionen aus, die über Jahrhunderte hinweg die Gültigkeit der Vorbilder belegen. Entscheidend hierfür scheint das Bedürfnis zu sein, die Gestalt des Kirchengründers Luther auch im Bild jeweils für die eigene Zeit zu aktualisieren und damit im visuellen Gedächtnis der protestantischen Kirche dauerhaft zu verankern. Die stetige Aktualisierung der Luthermemoria auch im Bild diente der Findung und der Demonstration eigener Identität in der jeweiligen Gegenwart. Luther wurde zur Erinnerungsfigur.¹⁰ Dabei vollzogen sich Neukontextualisierungen der überlieferten Bildfindungen, die wiederum eine Einbettung in die jeweils zeitgenössischen Diskurse widerspiegeln. Diese Vorgänge lassen sich bereits in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts anhand der Rezeptionsgeschichte der Lutherbildnisse aus der Cranach-Werkstatt nachvollziehen. Diente die Rezeption der ersten Lutherbildnisse außerhalb Wittenbergs der Etablierung eines Mannes, der die Bibel auf neue Weise auslegt, so war mit der Adaption späterer Bildnisse des Reformators die Festigung der sich herausbildenden protestantischen Identität intendiert.¹¹ Dies beinhaltete ebenso eine Abgrenzung gegen
Vgl. Matthias Pohlig, Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung. Lutherische Kirchen- und Universalgeschichtsschreibung 1546 – 1617, Tübingen, 2007, bes. 100 – 107. Vgl. grundlegend zur Verbindung von Rhetorik, Kunsttheorie und Kunst in der Frühen Neuzeit Rensselaer W. Lee, „Ut Pictura Poesis. The Humanistic Theory of Paintingˮ, in: Art Bulletin 22, 1940, 197– 269; Nadja J. Koch, „Die Werkstatt des Humanisten. Zur produktionstheoretischen Betrachtungsweise der Künste in Antike und Früher Neuzeitˮ, in: Joachim Knape (Hg.), Bildrhetorik, Saecula Spiritalia 45, Baden-Baden, 2007, 161– 179; Ludwig, 123 – 161; Lars Olof Larsson, “…Nur die Stimme fehlt!“. Porträt und Rhetorik in der Frühen Neuzeit, Kiel, 2012, bes. 27– 34. Zu dem in Bezug auf das kulturelle Gedächtnis zentralen Begriff der Erinnerungsfigur vgl. Jan Assmann, Das Kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 7. Aufl., München, 2013, 52 f. Zu den komplexen Wechselwirkungen von Konfessionsbildung und Kunst vgl. den knappen Überblick bei Judith Orschler, „Protestantische Lehr- und Erbauungsgraphik. Perspektiven der Erfor-
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andere Glaubensrichtungen wie zugleich eine Selbstvergewisserung unterschiedlicher Gruppen innerhalb des Luthertums. Auch nach dem 16. Jahrhundert spielte dabei der Aspekt der Authentizität des Bildnisses eine besondere Rolle, der durch die Lutherporträts der Cranach-Werkstatt in besonderer Weise gewährleistet schien. Dabei wurden deren Ursprungskontext und Verortung in Diskursen der Entstehungszeit jedoch nicht oder nur teilweise berücksichtigt und durch neue Verortungen ersetzt. Die in den Lutherporträts von Cranach thematisierten Aspekte – geistinspirierter Mönch, Prediger des Evangeliums, universitäre Lehrautorität im Hinblick auf die Implementierung der Neuen Lehre, Kirchengründer, -vater und -lehrer – wurden in stetem Rekurs auf die Bildvorlagen aus der Cranach-Werkstatt neu gewichtet oder gewandelt: verheißener Prophet, Bekenner und Glaubensheld im Kampf gegen die römische Papstkirche und andere Konfessionen, Nationalheld der Deutschen. Die Neukontextualisierung erfolgte durch Attribute, beigegebene Texte, die Art der bildlichen Inszenierung oder den Ort der Präsentation. Das jeweils entstehende Lutherbildnis wurde als überzeitliche Ikone behandelt, indem die Entstehungsbedingungen des Vorbildes nicht thematisiert, der Aspekt des unverändert Überlieferten dagegen betont wurde. In der Kontinuität der Bildtradition wurden Kontinuität und Authentizität des sich im Bildnis pars pro toto darstellenden Luthertums behauptet, insbesondere in der Wendung gegen andere Strömungen innerhalb des Luthertums, die sich derselben medialen Strategien bedienten. Die Verbreitung und Rezeption der Lutherbildnisse aus der Cranach-Werkstatt erfolgte im Wesentlichen im Medium der Druckgraphik. Dieses ermöglicht hohe Auflagen – in Holzschnitttechnik höhere als im Kupferstich – und eine rasche, zeitnahe Verbreitung der Bildfindungen. Dadurch wurde die Rezeption, in der Wandlungen und Neukontextualisierungen zutage treten, beschleunigt. Bereits die Cranach-Werkstatt hatte diese Distributionswege genutzt, um eigene Bildfindungen, die zunächst in gemalter Fassung existierten, einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
schung konfessioneller Bilderwelten, Teil 1ˮ, in: Jahrbuch für Volkskunde, N.F. 20, 1997, 211– 244, hier: 215 f. und 224– 228. Zur Gewichtung Luthers in der entstehenden Orthodoxie vgl. Robert Kolb, „Die Umgestaltung und theologische Bedeutung des Lutherbildes im späten 16. Jahrhundertˮ, in: HansChristoph Rublack (Hg.), Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland. Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte 1988, Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 197, Gütersloh, 1992, 202– 231. Auch wenn Kolb in der entstehenden Orthodoxie ein Zurücktreten der Aspekte als bestimmender Bibelexeget und Gegenautorität zu derjenigen der klerikalen Hierarchie beobachtet, bleiben diese Konnotationen in der bildlichen Überlieferung vielfach lebendig und werden bis ins 19. Jahrhundert und darüber hinaus mit den Cranachschen Bildnistypen verknüpft, wie die noch vorzustellenden Luther-Denkmäler belegen.
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3 Martin Luther im Bildnis – ein chronologischer Überblick Im Folgenden sollen die wichtigsten Bildnistypen, die die Gestalt des Reformators im Einzelbildnis zum Gegenstand haben, vorgestellt werden. Wesentliches Kriterium in Bezug auf die Auswahl ist die Ausbildung einer Bildtradition. Einzelne Beispiele für die Rezeption der Bildnisse aus dem 16. Jahrhundert in ihrer und in späterer Zeit ergänzen deshalb den Überblick.¹² Die geistesgeschichtlichen Diskurse, die die Voraussetzung für Rezeption und Adaption dieser Vorbilder darstellen, können jeweils nur in sehr knapper Form umrissen werden. Dabei liegt das Augenmerk auf Deutschland, da die jeweiligen Bildnistypen hier ihren Ursprung haben.
3.1 Lucas Cranach d. Ä., druckgraphische Lutherbildnisse der 1520er Jahre und ihre Rezeption Die ersten Lutherporträts im Sinne einer physiognomischen Wiedererkennbarkeit stammen aus der Werkstatt Lucas Cranachs d. Ä. und weisen eine komplexe, humanistisch geprägte Bildsprache auf. Im Jahr 1520 schuf der sächsische Hofkünstler einen Kupferstich mit dem Bildnis des Augustiner-Eremiten Martin Luther, dem ein anderer, in drei Zuständen und nur wenigen Exemplaren erhaltener vorausging (Abb. 1).¹³ Der Stich zeigt den Reformator im Hüftbildnis mit Tonsur und Kutte, nach links gewandt, ein aufgeschlagenes Buch in der rechten Hand, die linke im Redegestus erhoben. Luther ist bildfüllend in eine verschattete Nische eingestellt, unterhalb seiner Gestalt ist eine Tafel vorgeblendet, Das Porträt des Reformators in unterschiedlichen ikonographischen Ausprägungen ist seit Beginn des 20. Jahrhunderts Gegenstand der Forschung. Einen Überblick über die Darstellungen im Einzelporträt liefern Christian Rietschel, „Lutherbilder des 16. bis 19. Jahrhundertsˮ, in: Stadt Bad Oeynhausen (Hg.), Luther im Porträt. Druckgraphik 1550 – 1900, bearb. v. Klaus Harlinghausen, Ausstellungskatalog Bad Homburg, Marburg an der Lahn, 1983, 5 – 20, mit Verweis auf ältere Forschungsliteratur, und Rainer Sörries, „Die Ikonographie Martin Luthers. Der Reformator in der Kunst vom 16. bis zum 20. Jahrhundertˮ, in: Harry Eidam und Gerhard Seib (Hg.), “Er fühlt der Zeiten ungeheuren Bruch und fest umklammert er sein Bibelbuch…“. Zum Lutherkult im 19. Jahrhundert, Ausstellungskatalog Mühlhausen, Erfurt, Berlin, 1996, 23 – 53. Die systematische Erforschung von Lutherbildnissen des 17. und 18. Jahrhunderts ist noch immer ein Desiderat, angemahnt bereits von Martin Treu in seinem Vorwort zu Lutherhalle Wittenberg in Verbindung mit Gerhard Seib (Hg.), Luther mit dem Schwan. Tod und Verklärung eines großen Mannes, Ausstellungskatalog Wittenberg; Berlin, 1996, 7 f., hier 7. Zu Lutherbildnissen aus der Cranach-Werkstatt vgl. Martin Warnke, Cranachs Luther. Entwürfe für ein Image, Frankfurt am Main, 1984 und Günter Schuchardt (Hg.), Cranach, Luther und die Bildnisse, Ausstellungskatalog Wartburg, Eisenach; Regensburg, 2015 mit einem Ausblick auf die Rezeption bis ins 20. Jahrhundert. Einen Überblick über Bildnistypen auf Medaillen und Münzen liefert Hugo Schnell, Martin Luther und die Reformation auf Münzen und Medaillen, München, 1983. Vgl. Warnke, 24– 27.
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Abb. 1 Lucas Cranach d. Ä., Martin Luther als Mönch (1520). Kupferstich, Kunstsammlungen der Veste Coburg
die Entstehungsdatum, Künstlersignatur und folgende Inschrift trägt: „AETHERNA IPSE SVAE MENTIS SIMVLACHRA LVTHERVS EXPRIMIT. AT VVLTVS CERA LVCAE OCCIDVOS.“¹⁴ Die Platzierung der Inschrift auf einer Tafel und die Rundbogennische
„Das unvergängliche Abbild seines Geistes drückt Luther selbst aus, doch seine vergänglichen Gesichtszüge das Wachs des Lucas.“ Für die Übersetzung vgl. Ludwig, 134.
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sind Antikenzitate wie die in der Inschrift angedeutete Zweibilderlehre, die Tafel ist dem römischen Totenkult entlehnt, die Nische spielt darüber hinaus auf die Art der Aufstellung von Ehrenstatuen im öffentlichen Raum an. Zugleich verweist sie auf traditionelle Darstellungsmodi christlicher Heiliger. Damit werden sowohl die Sehgewohnheiten des Publikums bedient als auch Luther bildlich in diese Tradition gestellt. Auch in der Inschrift zeigen sich Referenzen auf die Antike: Das Material Wachs verweist sowohl auf wächserne Porträts im römischen Totenkult als auch auf die mit Wachs überzogenen antiken Schreibtafeln, auf denen der Künstler vorgibt zu zeichnen.¹⁵ In Antwort auf Dürers Porträt von Luthers Gegenspieler Albrecht von Brandenburg hatte Cranach selbst ein Bildnis des Kardinals in der neuen Technik des Kupferstichs geschaffen, das diesen nicht sehr vorteilhaft zeigt.¹⁶ Nun stellte er diesem einen von Inspiration erfüllten Luther gegenüber. Eine solche Bildnispolitik musste zumindest mit Billigung des Kurfürsten erfolgen; sie trug der breiten Zustimmung für Luther nicht nur an der Wittenberger Universität Rechnung. Cranachs Lutherbildnis von 1520 verbreitete sich rasch bis in den Süden Deutschlands. In Augsburg erschienen verschiedene Adaptionen als Vorsatzblätter der Ausgaben von Lutherverhören, die anlässlich des Wormser Reichstages gedruckt wurden, und anderer Luther-Schriften.¹⁷ Cranachs Luther ist nun in Verkehrung der Seiten in einer antikisch anmutenden, in die Tiefe fluchtenden Architektur platziert. Die einfache Nische des Vorbildes ist dadurch im Sinne der in Augsburg besonders gepflegten Antikenrezeption erweitert. Das Ornamentdekor der Pfeilerfüllungen ahmt durch italienische Künstler vermittelte römische Architekturdekoration im Detail nach.¹⁸ Luther wird als Humanist inszeniert, als der er durch seine Bibelübersetzung mit Hilfe der von Humanisten entwickelten philologischen Methoden gelten konnte. Er wird damit als Leitfigur der von Humanisten getragenen Reformbewegung innerhalb der katholischen Kirche propagiert.¹⁹ Ein Jahr nach Erscheinen des Bildnisstichs von Cranach entstand eine Holzschnittadaption von der Hand des Straßburger Künstlers Hans Baldung, genannt Grien, ebenfalls in Verkehrung der Seiten (Abb. 2). An die Stelle der Bogennische tritt
Vgl. Ludwig, 134 f. Vgl. Warnke, 20 – 22. Vgl. hier und im Folgenden Ilonka van Gülpen, Der deutsche Humanismus und die frühe Reformations-Propaganda 1520 – 1526. Das Lutherporträt im Dienst der Bildpublizistik, Studien zur Kunstgeschichte 44, Hildesheim/Zürich/New York, 2002, 277– 279. Vgl. auch die Zusammenstellung von Wieder- und Mehrfachverwendungen dieses Bildnistyps bei Robert W. Scribner, For the Sake of Simple Folk. Popular Propaganda for the German Reformation, Oxford, 1994, 263 – 265. Vgl. Claudia Baer, Die italienischen Bau- und Ornamentformen in der Augsburger Kunst zu Beginn des 16. Jahrhunderts, Frankfurt am Main, 1993, 163, 166, zum Humanismus als Auslöser 302 f. Zur Konjunktur von Lutherdarstellungen im humanistischen Milieu vgl. Thomas Kaufmann, Der Anfang der Reformation, Studien zur Kontextualität der Theologie, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung, Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 67, Tübingen, 2012, 269. Zu weiteren bildlichen Formulierungen, die Luther im humanistischen Kontext positionieren, vgl. Warnke, 53 – 56.
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Abb. 2 Hans Baldung, gen. Grien, Martin Luther mit Heiligenschein und Geisttaube (1521). Holzschnitt, Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg
ein Heiligenschein, über Luthers Haupt schwebt der Heilige Geist in Gestalt einer Taube. Der Holzschnitt war bereits zuvor in Umlauf,²⁰ stellt jedoch auch das Titelblatt zu den „Acta et res gestae D. Martini Lutheri“ dar, einer Schrift über die Ereignisse, die Luther auf dem Reichstag zu Worms 1521 widerfahren waren. Dieser Bericht erschien in Straßburg noch während der Dauer des Reichstages. Baldung sympathisierte mit der reformatorischen Bewegung, die Zusammenstellung seiner Bildfindung mit dem Bericht zielte möglicherweise auf die Inszenierung Luthers als Heiliger der Reformation ab.²¹ Den Sehgewohnheiten des Publikums entsprechend, bediente sich Baldung einer Bildsprache, die katholischer Heiligen-Ikonographie entlehnt ist. Luther wird als ein vom Heiligen Geist inspirierter Schriftausleger charakterisiert, der in seinem Tun von Gott erwählt und am Evangelium orientiert ist. Eine Inschrift oberhalb der Darstellung wurde für eine 1523 erschienene Ausgabe einer Predigtsammlung Luthers hinzugefügt und bestätigt die bildliche Formulierung: „Martinus Luther ein dyener Jhesu Christi/und ein wideruffrichter Christlicher leer.“ Hierin spiegelt sich der propagandistisch genutzte Topos von der in der katholischen Kirche untergegangenen Frohen Botschaft. Von Bildern dieser Art ist eine kultische Verehrung durch Gläubige überliefert.²²
Vgl. Gülpen, 287– 291. Vgl. Werner Hofmann (Hg.), Luther und die Folgen für die Kunst, Ausstellungskatalog Hamburg; München, 1983, 153 f. Gülpen betont dagegen den blasphemischen Gehalt der Darstellung, der altkirchliche Kreise provozieren sollte, vgl. Gülpen, 288. Paul Kalkoff, Die Depeschen des Nuntius Aleander vom Wormser Reichstage 1521, 2., völlig umgearb. u. erg. Aufl., Halle, 1897, 58. Wenn auch wohl nicht explizit der Baldung-Holzschnitt gemeint ist, so
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Abb. 3 Lucas Cranach d. Ä., Martin Luther mit Doktorhut (1521). Kupferstich, Melanchthonhaus Bretten
Ein Kupferstich mit dem Bildnis Luthers von Lucas Cranach d. Ä. aus dem Jahr 1521 zeigt den Reformator im knappen Brustbildformat, in strengem Profil nach links, mit Mönchskutte und Doktorhut bekleidet (Abb. 3). Vorgeblendet ist eine Inschrift mit dem Wortlaut: „LVCAE OPVS EFFIGIES HAEC EST MORITVRA LVTHERI AETHERNAM
weisen die verehrten Lutherbilder doch dieselben ikonographischen Charakteristika auf, vgl. Gülpen, 241 f.
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MENTIS EXPRIMIT IPSE SVAE“.²³ Cranach positioniert den Schriftgelehrten im Kontext und mit den Mitteln gelehrter Kommunikation. Dazu zählt die Bezugnahme auf antike Physiognomielehren in der Darstellung physiognomischer Details. Der Wulst über den Brauen zeichnet den Tatmenschen aus, er führt sich, wie die unter dem Hut vorspringende Locke, auf das anatomische Pendant am Kopf des Löwen zurück.²⁴ Die Darstellung im strengen Profil geht auf antike Kaisermünzen zurück und wurde in humanistischen Kreisen auch nördlich der Alpen beliebt als die der Zeit und den Fährnissen des Lebens enthobene Darstellungsweise, die den Dargestellten nobilitierte.²⁵ Die Blockhaftigkeit der Gestalt unterstreicht die Unumstößlichkeit von Luthers Lehre, sie ist bildgewordenes Argument für die Rechtmäßigkeit des Tuns und den Mut, es zu vollziehen.²⁶ Mutmaßlich wurde das Bildnis in direktem Zusammenhang mit Luthers verweigertem Widerruf auf dem Wormser Reichstag für ein an kirchlichen Reformen interessiertes, humanistisch gebildetes Publikum geschaffen. Ein im Jahr 1523 geschaffener Kupferstich des Augsburger Künstlers Daniel Hopfer ist ein Beispiel für die Adaption der sogleich vielfach nachgeahmten Bildfindung Cranachs in anderen Teilen des Deutschen Reiches.²⁷ Hopfers seitenverkehrte Adaption des Cranach-Stiches ist im Sinne einer wetteifernden Nachahmung und eines gelehrten künstlerischen Kommentars zu verstehen. Luthers Haupt ist nun mit einem Strahlenkranz versehen, die Inschrift in deutscher Fraktur lautet: „Des lutters gestalt mag wol verderbenn/sein christlich gemiet wirt nymer sterben“ gefolgt von der Jahresangabe. Mit dem in der Tradition katholischer Heiligendarstellungen stehenden Glorienschein und der Übersetzung der lateinischen Inschrift ins Deutsche bewirkt Hopfer eine Popularisierung des Bildthemas. Anders als in der Vorlage wird Luthers Gemüt als explizit christlich bezeichnet. Diese bewusste Abweichung vom Vorbild kann auch als Anspielung auf eine Propagierung deutscher Identität gelesen werden, wie sie später im Hinblick auf Ulrich von Hutten erläutert werden soll. Luther wäre
„Des Lucas Werk ist dieses sterbliche Bild Luthers, das unvergängliche Abbild seines Geistes drückt er selbst aus“, für die Übersetzung vgl. Ludwig, 135, als Autor kann Spalatin gelten, vgl. Gülpen, 151. Vgl. Wolfgang Holler, „Kat. Nr. 48: Lucas Cranach d. Ä., Profilbildnis Luthers als Augustinermönch mit Doktorhut, 1521ˮ, in: Wolfgang Holler und Karin Kolb (Hg.), Cranach in Weimar, Ausstellungskatalog Weimar; Dresden, 2015, 81. Vgl. Schuster, 127 und Johannes Helmrath, „Bildfunktionen der antiken Kaisermünze in der Renaissance oder Die Entstehung der Numismatik aus der Faszination der Serieˮ, in: Kathrin Schade, Detlef Rößler und Alfred Schäfer (Hg.), Zentren und Wirkungsräume der Antike-Rezeption. Zur Bedeutung von Raum und Kommunikation für die neuzeitliche Transformation der griechisch-römischen Antike, Münster, 2007, 77– 97. In diesem Sinne wird das Bildnis in der Kunstgeschichte gedeutet, vgl. Warnke, 46 – 48. Zu der Darstellung von Körperlichkeit im Lutherbildnis als visuelle Strategie vgl. den interessanten wissenschaftlichen Ansatz von Lyndal Roper, Der feiste Doktor. Luther, sein Körper und seine Biographen, Übers. a. d. Englischen v. Karin Wördemann, Historische Geisteswissenschaften. Frankfurter Vorträge, Göttingen, 2012, 15 – 23. Vgl. Günter Schuchardt, „Katalog – Teil 1ˮ, in: Cranach, Luther und die Bildnisse, 53 – 137, hier: 82 und 83 (Abb.).
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dann als der deutsche Reformator inszeniert, der gegen die römische Papstkirche aufsteht.
3.2 Lucas Cranach d. Ä., gemalte und druckgraphische Bildnisse von Luther als Junker Jörg zu Beginn der 1520er Jahre und die Rezeption in der Druckgraphik Martin Luther wurde nach dem Besuch des Wormser Reichstages von Sympathisanten auf die Wartburg entführt, im Februar 1522 kehrte er nach Wittenberg zurück. Lucas Cranach d. Ä. begleitete den Reformator auch in dieser Situation künstlerisch, möglicherweise entstand ein Bildkonzept nach Augenschein während Luthers kurzem Aufenthalt in Wittenberg im Dezember 1521. Es diente als Vorlage für mehrere gemalte Versionen. Eine davon zeigt Luther in Halbfigur mit der den Redegestus ausführenden rechten Hand (Abb. 4).²⁸ Es handelt sich hierbei um die ersten gemalten Lutherbildnisse, sieht man von einigen wenigen, nicht exakt datierten Gemälden ab, die in Zusammenhang mit den Porträtgraphiken von 1520 und 1521 stehen. Ein Holzschnitt Lucas Cranachs d. Ä. zeigt den Junker Jörg in knappem Brustbildausschnitt unter freiem Himmel.²⁹ Luther hatte, um seine Identität zu verbergen, auf der Wartburg nicht nur das Mönchsgewand ablegen, sondern auch Haar und Bart wachsen lassen müssen. Die Luther zunächst aufgenötigte Veränderung der äußeren Erscheinung stand im Gegensatz zu den kirchlichen Vorschriften für Kleriker und wurde von Luther selbst als Akt des Widerstands gegen das Kirchenrecht und Schritt in die evangelische Freiheit gedeutet.³⁰ Der mit Wams und Schwert angetane Luther in den gemalten Varianten wird als Soldat Christi inszeniert, der wie der heilige Georg (Jörg) gegen den Drachen – die Papstkirche – kämpft.³¹ Die drei bisher vorgestellten Typen des Lutherporträts wurden bis ins 19. Jahrhundert als Erinnerungsfigur aufgerufen. In einem dreiteiligen Bild zusammengeführt erschienen sie bereits 1572 auf dem von Veit Thiem geschaffenen sogenannten Lutherschrein in der Weimarer Stadtkirche.³² Auch hier dienten Cranachs Lutherbildnisse als Vorlagen.³³ Eine Adaption dieser Komposition ist einem in Erfurt von Friedrich Keyser herausgegebenen Reformationsalmanach auf das Jahr 1817 vorge-
Vgl. Günter Schuchardt, „Privileg und Monopol – Die Lutherporträts der Cranach-Werkstattˮ, in: Cranach, Luther und die Bildnisse, 24– 52, hier: 33. Vgl. Schuchardt, „Katalog – Teil 1ˮ, 90, 91 (Abb.). Vgl. Ute Mennecke, „Luther als Junker Jörgˮ, LuJ 2012, 79. Jg., 63 – 99, hier 79. Vgl. Mennecke, 65, Anm. 9. Vgl. Helga Hoffmann, Das Weimarer Luthertriptychon von 1572. Sein konfessionspolitischer Kontext und sein Maler Veit Thiem, Beiträge zur Thüringischen Kirchengeschichte, N. F. 5, Langenweißbach/ Erfurt, 2015, Abb. 1, o. S. Vgl. zu der aus mehreren Typen kompilierten Darstellung des Mönchs mit Gürtelschnalle und geschlossenem Buch Schuchardt, „Privileg und Monopolˮ, 37.
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Abb. 4 Lucas Cranach d. Ä., Martin Luther als Junker Jörg (1522). Öl auf Holz, Klassik Stiftung Weimar
bunden.³⁴ Luther wird in einer Aufschlüsselung der Bildnistypen memoriert, die seinen biografischen Stationen folgt. Diese stehen für unterschiedliche, in den CranachVorlagen bereits angelegte und zur bildlichen Erinnerungsfigur verdichtete Aspekte seines Wirkens: Inspirierter Bibelausleger, wehrhafter Streiter für die Sache Christi sowie Lehrautorität und Kirchengründer.
Friedrich Keyser (Hg.), Reformations-Almanach für Luthers Verehrer auf das evangelische Jubeljahr 1817, Erfurt, 1817.
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Abb. 5 Lucas Cranach d. Ä., Doppelbildnis Martin Luther und Katharina von Bora (1529). Tempera und Öl auf Holz, Melanchthonhaus Bretten
3.3 Bildnisse Martin Luthers in Halbfigur mit Schaube und Barett aus der Cranach-Werkstatt ab Mitte der 1520er Jahre und ihre Rezeption in der Druckgraphik Nach Ablegen der Mönchskutte im Herbst 1524 erscheint Luther in gemalten Bildnissen in Brust- oder Halbfigur im Dreiviertelprofil, zunächst barhäuptig. Aus Anlass seiner Vermählung mit Katharina von Bora entstanden in der CranachWerkstatt zwischen 1525 und 1529 vier Gemäldeserien von Ehepaarbildnissen, wobei einzelne Exemplare auch als Diptychen in Klapprahmen oder als Bildnismedaillons konzipiert sein konnten (Abb. 5).³⁵ Die Doppelporträts sind als bildliche Stellungnahmen gegen Zölibat und Konkubinat der Priester zu verstehen und führen das Idealbild der christlichen Ehe vor Augen. In den ab 1528 entstandenen Serien trägt Luther ein schwarzes Barett. Der damit geschaffene Typus des Kirchenvaters und Repräsentanten der Neuen Kirche wurde zum Ausgangspunkt einer bis in die Gegenwart reichenden Bildtradition. Er findet sich auch in den Doppelbildnissen mit
Vgl. Schuchardt, „Privileg und Monopolˮ, 38 – 42.
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Abb. 6 Heinrich Aldegrever, Martin Luther (1540). Kupferstich, Melanchthonhaus Bretten
Philipp Melanchthon, die in der Cranach-Werkstatt 1532 in Serienproduktion gingen, möglicherweise in Zusammenhang mit dem Augsburger Reichstag von 1530.³⁶ Im Werk des Soester Künstlers Heinrich Aldegrever findet sich eine druckgraphische Rezeption gemalter Cranach-Vorlagen, die wiederum eine eigene Wirkungsgeschichte zeigt (Abb. 6). Der Kupferstich aus dem Jahr 1540 zeigt Luther im Brustbildformat auf dunkel schraffiertem Grund hinter einer gerahmten Inschrifttafel mit
Vgl. Schuchardt, „Privileg und Monopolˮ, 42– 45, bes. 44.
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Entstehungsjahr und folgendem Text: „ASSERVIT CHRISTVM DIVINA VOSE LVTHERVS CVLTIBVS OPPRESSAM RESTITVITQVE FIDEM ILLIVS ABSENTIS VVLTV HAEC DEPINGIT IMAGO PRAESENTE MELIVS CERNERE NEMO POTEST. MARTINVS LVTHERVS.“ Das hell gestaltete Schriftfeld über Luthers Kopf, im Sinne der Suggestion von Raumtiefe von dessen Barett überschnitten, trägt die Inschrift: „IACTA CVRAM TVAM IN DOMINVM ET IPSE TE ENVTRIET.“³⁷ Bereits im Jahr 1530 hatte eine Vorlage aus der Cranach-Werkstatt dem Nürnberger Künstler Jörg Pencz als Vorlage für sein Lutherbildnis gedient. Dieses wiederum könnte Aldegrever als Vorbild genutzt haben.³⁸ In beiden Fällen bildete ein Porträt Melanchthons das Pendant. Das Monogramm Aldegrevers über Luthers linker Schulter lehnt sich an das Dürer-Monogramm an.³⁹
3.4 Gemalte Bildnisse Martin Luthers in Halbfigur aus der Cranach-Werkstatt im Typus des Altersbildnisses ab den 1530er Jahren und ihre Rezeption in der Druckgraphik Der halbfigurige Bildtypus des Reformators in Schaube und Barett wird gefolgt von dem ebenso populären letzten Porträttypus zu Lebzeiten Luthers, der diesen ebenfalls in Halbfigur zeigt, bekleidet mit schwarzer Schaube, nun jedoch barhäuptig, mit ergrautem Haar, rotem Wams und einem Buch in den Händen. Dieser Typus findet sich ab 1539 auf Gemälden aus der Cranach-Werkstatt, die nun wohl von Lucas Cranach d. J. geführt wurde.⁴⁰ Nach Luthers Tod wurde er im Medium der Druckgraphik propagiert, verbreitete sich rasch auch in knapperem Bildausschnitt und bildete eine bis in die Gegenwart fortgesetzte Bildtradition mit verschiedenartigen Neukontextualisierungen aus.
„Luther nahm mit dem göttlichen Wort Christus in Schutz und stellte den durch Kultgebräuche bedrängten Glauben wieder her. Dieses Bildnis schreibt sein Antlitz, während er fern ist; wäre er hier, könnte keiner ihn besser sehen. Martin Luther.“ Und: „Wirf deine Sorgen auf den Herrn und er wird dich ernähren.“ Für die Übersetzung der beiden Inschriften vgl. Klaus Kösters, „Bilderstreit und Sinnenlust (Teil 1). Der Kampf um den rechten Glauben und die Druckgraphikˮ, in: Klaus Kösters und Reimer Möller (Hg.), Bilderstreit und Sinnenlust. Heinrich Aldegrever (1502 – 2002), hg. im Auftrag der Stadt Soest und des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, Ausstellungskatalog Soest, Lippstadt, Unna; Unna, 2002, 15 – 32, hier 31, Anm. 26. Vgl. Eckhard Schaar, „Kat. Nr. 5: Heinrich Aldegrever, Martin Luther, 1540ˮ, in: Werner Hofmann (Hg.), Köpfe der Lutherzeit, Ausstellungskatalog Hamburg; München, 1983, 46, 47 (Abb.) und zum Kupferstich von Pencz vgl. Eckhard Schaar, „Kat. Nr. 105: Georg Pencz, Martin Luther, 1530ˮ, in: Hofmann, Köpfe der Lutherzeit, 236, 237 (Abb.). Vgl. Schuchardt, „Katalog – Teil 1ˮ, 114. Vgl. hier und im Folgenden Schuchardt, „Privileg und Monopolˮ, 45 f. und Schuchardt, „Katalog – Teil 1ˮ, 116 f.
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Abb. 7 Melchior Lorck, Martin Luther am Schreibpult (1548). Kupferstich, Germanisches Nationalmuseum Nürnberg
Melchior Lorck adaptiert den Typus in einem Kupferstich aus dem Jahr 1548 (Abb. 7).⁴¹ Luther ist schreibend hinter einem Pult dargestellt, neben dem ein Tintenfass halb verborgen platziert ist. Prominent ins Bild gesetzt ist ein Bücherstillleben in vorderster Bildebene. Ein Brief mit handschriftlicher Adresse und die Lutherrose im Wappen ergänzen die Szene, ebenso wie zwei lateinische Inschriften im linken oberen Teil und ein polemischer, gegen den Papst gerichteter Vers in Latein. Die zweite der
Zu Lorcks Lutherbildnis vgl. hier und im Folgenden Bernd Schäfer, Wahre abcontrafactur. Martin Luther und bedeutende seiner Zeitgenossen im grafischen Porträt des 16. Jahrhunderts, Ausstellungskatalog Gotha; Gotha, 2010, 68 (Abb.) und 69 und Schuchardt, „Katalogˮ, 126 f.
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Inschriften gibt Kenntnis von den Lebensdaten Luthers und seinem Begräbnisort, die erste nimmt in der Nennung der „gelehrten Hand“ Bezug auf das 1526 entstandene Kupferstichbildnis Melanchthons von Dürer: „Imprimit haec formam viventis imago Lutheri/Mentem nulla potest pingere docta manus./At quanta fueris pietate, labore, fideq[ue]./ Cernitur ex scriptis, sancte Luthere, tuis.“⁴² Lorck orientiert sich in der Komposition seines Stiches an Dürers Bildnisstich des Erasmus von Rotterdam aus dem Jahr 1526, den er im Sinne einer wetteifernden Nachahmung zitiert und variiert. In der Interpretation dieses Stiches wird stets auf die Selbstaussage des Gelehrten hingewiesen, wonach dieser sich als zweiten Hieronymus bezeichnet habe, darin Bezug nehmend auf die eigene Übersetzertätigkeit als christlicher Gelehrter. Flankiert wird diese Bildtradition von mehreren zuvor entstandenen Stichen Dürers, die den heiligen Hieronymus im Gehäus zeigen, in seiner Studierstube, in der ebenfalls ein Bücherstillleben angesiedelt ist. Indem Lorck das berühmte Erasmusbildnis zitiert, überträgt er dessen Deutung auf die Gestalt Luthers. Es handelt sich nun um ein Rollenporträt des Reformators als zweiter Hieronymus. Zugleich nimmt der Künstler den bekannten humanistischen Topos der Undarstellbarkeit des Geistes im Bild auf. Bei Lorck aber weist das Bücherstillleben wie in Dürers Erasmusbildnis auf die Möglichkeit hin, Geist in den eigenen Schriften darzustellen.
3.5 Luther in Ganzfigur aus der Cranach-Werkstatt und die Rezeption in der Druckgraphik ab dem 16. Jahrhundert Auf Geheiß des sächsischen Kurfürsten Johann Friedrich des Großmütigen wurde Luther 1546 in der Wittenberger Schlosskirche in einem Bodengrab beerdigt, in dessen Nähe nacheinander unterschiedliche Epitaphien aufgestellt wurden. Kurz nach Luthers Tod gab der Kurfürst wohl ein Bronzeepitaph in Auftrag, das Luther in Ganzfigur nach einem Entwurf aus der Cranach-Werkstatt mit Schaube und geschlossenem Buch in den Händen zeigt.⁴³ Die Bronzeplatte wurde aufgrund der politischen Verhältnisse jedoch nach Jena verbracht. Für Wittenberg wurde als Ersatz von der dortigen Uni-
„Dieses Bild zeigt die Gestalt des lebenden Luthers. Den Geist vermag keine gelehrte Hand zu malen. Und wie groß du gewesen bist an Frömmigkeit, Mühen und Glauben, wird man aus deinen Schriften, heiliger Luther, ersehen.“ Vgl. für die Übersetzung Susanne Skowronek, Autorenbilder. Wort und Bild in den Porträtkupferstichen von Dichtern und Schriftstellern des Barock,Würzburg, 2000, 61. Zur Inschrift in Dürers Kupferstichbildnis von Melanchthon vgl. Rudolf Preimesberger, „Albrecht Dürer: Das Dilemma des Porträts, epigrammatisch (1526)ˮ, in: Rudolph Preimesberger, Hannah Baader und Nicola Suthor (Hg.), Porträt, Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren, hg.v. Kunsthistorischen Institut der Freien Universität Berlin 2, Berlin, 1999, 220 – 227, hier 220. Vgl. hier und im Folgenden Arwed Arnulf, „Luthers Epitaphien. Die Luther-Memoria, ihre konfessionspolitische Inanspruchnahme, Veränderung und Rezeption: Epitaphgestaltung im Umfeld der Wittenberger Universitätˮ, Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 38, 2011, 75 – 112, zur Bronzeplatte 6 (Abb.), 81.
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Abb. 8 Lucas Cranach d. J., Werkstatt, Martin Luther in Ganzfigur (1646). Öl auf Holz, Schwerin, Staatliches Museum
versität ein heute verlorenes Bildepitaph in der Cranach-Werkstatt in Auftrag gegeben. Luther war in Lebensgröße in einer Rundbogennische abgebildet, bekleidet mit der Schaube, in der Hand ein geschlossenes Buch haltend, wie ein auf dieses Vorbild zurückgehendes Gemälde aus der Cranach-Werkstatt zeigt (Abb. 8). Das Epitaphgemälde wurde an einem Pfeiler neben der Kanzel angebracht.⁴⁴ Luther wandte sich im Bild Gemeinde und Kanzel zu, den Blick auf den Prediger gerichtet, der Gottes Wort in
Vgl. Arnulf, 92– 94.
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Luthers Nachfolge verkündete. Als Lehrautorität stand der Reformator auch für die Gründung der Neuen Kirche. Die Bronzeplatte in der repräsentativen Aufstellung in Jena wurde unter detailgetreuer Wiedergabe der Inschriften in der Druckgraphik rezipiert, ebenso das gemalte ganzfigurige Konterfei.⁴⁵ In Luthers Todesjahr hatte die Cranach-Werkstatt neben dem Holzschnittbildnis des Reformators in Halbfigur bereits einen Holzschnitt mit der Darstellung Luthers in Ganzfigur in Umlauf gebracht.⁴⁶ Auch diese druckgraphische Fassung wurde vielfach rezipiert und in neue Sinnzusammenhänge eingebunden. Zu der ursprünglichen Konnotation Luthers als Kirchenlehrer und Kirchengründer konnten weitere hinzutreten. Die Rezeptionsgeschichte des auf Pergament gemalten Ganzfigurenbildnisses von Luther im sogenannten Cranach-Stammbuch aus dem Jahr 1543 setzte dagegen erst mit einer bebilderten Neuedition im 19. Jahrhundert ein.⁴⁷ Nach Melanchthons Tod 1560 wurde dessen Grablege in der Wittenberger Schlosskirche ebenfalls mit einem Ganzfigurenbildnis aus der Cranach-Werkstatt ausgestattet. Beide Reformatoren gemeinsam repräsentierten nun die Neue Kirche und die Rechtmäßigkeit ihrer Lehre am Ort ihrer Entstehung. Dies spiegelt sich auch in zahlreichen druckgraphischen Blättern, zumeist Gedenkblättern, bis ins 19. Jahrhundert. Der Zusammenstellung der beiden führenden Reformatoren eignete auch angesichts innerprotestantischer Auseinandersetzungen bereits im 16. Jahrhundert programmatischer Charakter.⁴⁸ Bereits vor Luthers Tod, zurückgehend auf Selbstbezeichnungen des Reformators, verstärkt jedoch seit diesem Zeitpunkt, wurde das Auftreten Luthers in dem als Heilsgeschichte erlebten Ablauf der Zeiten in propagandistischer Absicht verankert.⁴⁹
Zur druckgraphischen Rezeption der bronzenen Grabplatte vgl. Otto Kammer, „Non Cultus sed Memoriae causa – zum Gedächtnis des hochwürdigen Mannes. Ein Blick auf die Vorgeschichte der Lutherdenkmälerˮ, in: Luther mit dem Schwan, Berlin, 1996, 33 – 61, hier 35 f. Das gemalte GanzfigurenBildnis wird nach links gewandt in druckgraphischer Technik neben 76 wiedergegeben in: Just Schöpffer, Unverbrandter Luther oder historische Erzählung von D. Martin Luthern und dessen im Feuer erhaltenen Bildnissen. Erster Theil, Zerbst, 1765. Vgl. Arnulf, 94, Abb. 17. Christian von Mechel (Hg.), Lucas Cranachs Stammbuch, enthaltend die von ihm selbst in Miniatur gemalte Abbildung des den Segen ertheilenden Heilandes und die Bildnisse der vorzüglichsten Fürsten und Gelehrten aus der Reformations-Geschichte, Berlin, 1814. Vgl. zur spannungsreichen theologischen und geistesgeschichtlichen Rezeption der beiden Reformatoren im 16. Jahrhundert den Tagungsband Irene Dingel (Hg.), Memoria – theologische Synthese – Autoritätenkonflikt. Die Rezeption Luthers und Melanchthons in der Schülergeneration, Tübingen, 2016 mit weiterführender Literatur. Vgl. zu Luthers eigener Verortung in der Heilsgeschichte Hans Preuss, Martin Luther. Der Prophet, Gütersloh 1933, 36 – 58, 96 – 131. Zur apokalyptischen Komponente vgl. Thomas Kaufmann, Konfession und Kultur, Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts, Spätmittelalter und Reformation, Neue Reihe 29, Tübingen, 2006, 22, 33 – 66. Diese Deutungsperspektive tritt erst am Ende des 17. Jahrhunderts zurück, vgl.Wolfgang Sommer, „Luther – Prophet der Deutschen und der Endzeitˮ, in: Wolfgang Sommer (Hg.), Zeitenwende – Zeitenende. Beiträge zur Apokalyptik und Eschatologie, Stuttgart/Berlin/Köln, 1997, 109 – 128, hier: 109.
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Im druckgraphischen Lutherbildnis schlägt sich der apokalyptische Aspekt nach dem 16. Jahrhundert gelegentlich in der Ausstattung des in Ganzfigur dargestellten Reformators mit Flügeln und Posaune nieder, die ihn als Engel der Apokalypse ausweisen. Die ebenfalls schon zu Lebzeiten des Reformators auftretenden und anlässlich seines Todes verbreiteten Epitheta „verheißener Prophet“, „Apostel“ und „dritter Elias“ schlagen sich dagegen nicht im Bildrepertoire nieder, sondern werden lediglich über beigegebene Texte vermittelt.⁵⁰ Ab dem Beginn des 17. Jahrhunderts wird Luther in Ganzfigur in den Bildmedien gelegentlich durch das Attribut des Schwans gekennzeichnet.⁵¹ Der böhmische Theologe Jan Hus soll sich vor seiner Verbrennung in Anlehnung an die Bedeutung seines Namens als schwache Gans bezeichnet haben, die zu höheren Leistungen nicht fähig sei. Sein Leidensgenosse Hieronymus von Prag habe seinen Richtern zugerufen, sie hätten ihm nach hundert Jahren vor Gottes Stuhl Rechenschaft zu geben. Luther waren diese Aussagen bekannt, er hatte sich erstmals im Rahmen der Leipziger Disputation 1519 als einen Nachfolger von Hus bezeichnet und als Schwan gedeutet, einem Topos antiker Literatur folgend und die Weissagung der Böhmen erfüllend.⁵² Der Nachweis göttlicher Unterstützung der lutherischen Sache wird durch die Erfüllung der Weissagung nach biblischem Muster geführt, Luther somit angesichts wachsender konfessioneller Auseinandersetzungen in heilsgeschichtlicher Dimension legitimiert. Die ganzfigurige Darstellung Luthers wurde in der Druckgraphik seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts häufig um das Interieur der Gelehrtenstube in der Tradition der Hieronymus-Darstellungen erweitert.⁵³ Bereits Wolfgang Stuber hatte um 1580 Dürers berühmte Darstellung des heiligen Hieronymus im Gehäus zitiert, nun mit Luther am Schreibpult.⁵⁴ Interieur und Ausstattungsstücke zeigen auch in den ganzfigurigen Darstellungen Luthers in der Gelehrtenstube eine inhaltliche Verwandtschaft zu Dürers Fassung des Hieronymus-Bildnisses. Zu diesem Deutungsfeld gehören ebenfalls Darstellungen, die Luther bereits in den 1520er Jahren mit der über dem Haupt
Vgl. Sommer, 110 f.Vgl. zu den geistesgeschichtlichen Hintergründen Robert Kolb, 202– 231, und zur bildlichen Darstellung Preuss, 67– 71, 68 f. zu Medaillendarstellungen, die Luther inschriftlich als Propheten benennen, ihn jedoch aus Platzgründen nicht in Ganzfigur zeigen, 103 – 105 zur Bezeichnung als Apostel. Vgl. Jutta Strehle, „Luther mit dem Schwanˮ, in: Luther mit dem Schwan, 81– 118. Vgl. Friedrich Goethe, „So wurde der Schwan zum Luther-Emblemˮ, in: Luther mit dem Schwan, 62– 65 und Strehle, 81, sowie jüngst Martin Treu, „Die Gans und der Schwan. Martin Luther und Jan Hus im Vermächtnis der Bilderˮ, Luther, 2016, 87. Jg., H. 3, 127– 141, hier: 133 f. Vgl. Grit Jacobs, „Widerhall und Kontinuität – Ein Blick auf die Lutherporträts vom späten 16. Jahrhundert bis zur Gegenwartˮ, in: Cranach, Luther und die Bildnisse, 138 – 161, hier 146 f. Vgl. Peter-Klaus Schuster, „Kat. Nr. 82: Wolfgang Stuber (zugeschrieben), Martin Luther als Hl. Hieronymus im Gehäuse, um 1580ˮ, in: Luther und die Folgen für die Kunst, 208, mit Abb. 82.
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schwebenden Geisttaube am Schreibpult zeigen, sie stehen in der Tradition von Evangelistendarstellungen.⁵⁵ Die Leichenreden, die anlässlich von Luthers Tod gehalten wurden, trugen zu einer Verknüpfung der Gestalt des Reformators mit seinem Herkunftsland entschieden bei, wobei hierin nicht durchgängig auf die humanistische Utopie eines Nationalstaates Bezug genommen wurde.⁵⁶ Dies schlägt sich im Topos von Luther als dem Propheten der Deutschen nieder, der den Rang eines alttestamentlichen Propheten bekleidete, Aussagen über das zukünftige Schicksal Deutschlands tätigte und zur Umkehr angesichts des nahenden Weltgerichts aufrief. Vor dem Hintergrund einer apokalyptisch gedeuteten Gegenwart erschienen zahlreiche Schriften mit LutherProphezeiungen bereits bis Ende des 16. Jahrhunderts. Noch im 17. Jahrhundert blieb der Topos lebendig. In der deutschen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts wurde er unter Verzicht auf den apokalyptischen Deutungskontext erneut aufgegriffen. Bildlichen Niederschlag, wenn auch nicht in einem eigenen Bildtypus, sondern nur durch Beischrift angedeutet, findet ein anderer Aspekt der nationalen Komponente jedoch bereits auf einem Flugblatt von 1520, das als Reaktion auf die Freiheitsschrift „Oratio ad Carolum maximum Augustum et Germanos Principes“ von Ulrich von Hutten entstand.⁵⁷ Dort wurde der Mönch Luther in einer Adaption von Cranachs Kupferstichporträt von 1520 in Halbfigur als Bibelexeget Hutten gegenübergestellt, beide gedeutet als Verteidiger des Evangeliums und des Vaterlandes. Das Titelblatt des im Januar 1521 erschienenen „Gespräch büchlin“ von Hutten zeigt im Rahmen eines reichen Bildprogramms in gleicher Absicht den Mönch in Ganzfigur als Gegenüber des Ritters. Luther präsentiert ein geschlossenes Buch, das sich dem Betrachter als Evangelium erschließt.⁵⁸ Die von Hutten beabsichtigte Einbindung Luthers in die humanistisch fundierte nationale Bewegung gründete weniger auf den Inhalten der lutherischen Lehre als auf seiner antirömischen Haltung und seiner Eigenschaft als Ausleger der Heiligen Schrift.⁵⁹ Diese Aspekte bilden auch die geistesgeschichtliche Grundlage der Bildzeugnisse des 19. Jahrhunderts, ohne eigene Bild-
Zur Selbstbezeichnung Luthers als Evangelist vgl. Preuss, 102, 70 zur Darstellung als Evangelist Lukas. Zur Darstellung Luthers als Evangelist Matthäus vgl. Peter-Klaus Schuster, „Kat. Nr. 28: Lucas Cranach der Ältere, Luther als Evangelist Matthäus, 1530ˮ, in: Luther und die Folgen für die Kunst, 154, mit Abb. 28. Vgl. Robert Kolb, 204 f., und im Folgenden Sommer, 111– 127. Zum humanistischen Konzept eines deutschen Nationalstaates vgl. Caspar Hirschi, „Vorwärts in neue Vergangenheiten. Funktionen des humanistischen Nationalismus in Deutschlandˮ, in: Thomas Maissen und Gerrit Walther (Hg.), Funktionen des Humanismus. Studien zum Nutzen des Neuen in der humanistischen Kultur, Göttingen, 2006, 363 – 395, mit Verweis auf ältere Literatur. Vgl. hier und im Folgenden Gülpen, 244– 255 und 461, Abb. 48. Vgl. Gülpen, 255 – 259, 462, Abb. 49. Vgl. Gülpen, 300 f. und 318 zur gleichen Akzentsetzung bei Michael Stifel, der für seine zu Beginn der 1520er Jahre in Straßburg verlegte Schrift „Von der Christförmigen, rechtgegründten leer Doctoris Martini Luthers“ den Typus des ganzfigurigen Mönches Luther aus Huttens Gesprächsbüchlein übernahm.
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typen auszubilden.⁶⁰ Sie spiegeln sich in zwei vielbeachteten Denkmalprojekten, die wiederum eine eigene Rezeptionsgeschichte auslösten.
3.5.1 Luther in Ganzfigur nach Cranach im Denkmal des 19. Jahrhunderts Das Luther-Bildnis trat im 19. Jahrhundert im Zusammenhang neuer Bildgattungen in Erscheinung, von denen die des ganzfigurigen Denkmals zu den künstlerisch innovativsten zählte. War dieses bis ins 18. Jahrhundert Fürsten und Heerführern vorbehalten, so wurde der Darstellung bürgerlicher Persönlichkeiten mit dem ersten Lutherdenkmal im öffentlichen Raum der Weg geebnet, geschaffen von Johann Gottfried Schadow im Jahr 1821 für den Wittenberger Marktplatz (Abb. 9).⁶¹ Der Realisierung des Vorhabens war im Jahr 1803 eine Ausschreibung der „Vaterländisch-literarischen Gesellschaft“ in Mansfeld zu einem Lutherdenkmal vorausgegangen.⁶² Der preußische König hatte die Schirmherrschaft übernommen und zog das Projekt nach den Befreiungskriegen vollständig an sich, um sich in seiner Rolle als Schutzherr der evangelischen Christen zu behaupten. In diesem Sinne verlegte er die Aufstellung des Lutherdenkmals an die Wirkungsstätte des Reformators nach Wittenberg. Er setzte sich in einem die Zeiten überbrückenden Bekenntnis in doppeltem Sinn politisch in Szene, indem er Luther als den sich zur Bibel bekennenden Übersetzer darstellen ließ. Ausgeführt wurde ein bronzenes Standbild, das Luther in der Universitätstracht in Ganzfigur unter einem neugotischen Baldachin zeigt. In der linken Hand hält er ein aufgeschlagenes Buch, das sich im Text als Zusammenstellung des Alten und des Neuen Testaments erweist, „verdeutscht von Doktor Martin Luther“. Der Blick des Reformators scheint den unten stehenden Betrachter zu fixieren, die rechte Hand liegt im Buch und weist auf dessen Text. Luther ist als Bibelübersetzer am Ort seiner Tätigkeit in Szene gesetzt und durch den Kontext der Denkmalsentstehung national überhöht. Der konfessorische Impetus wird in dem 1868 eingeweihten vielfigurigen Lutherdenkmal in Worms noch deutlicher sichtbar (Abb. 10). Um dessen Entstehung rankt sich ein Narrativ, das das Denkmal fest im kulturellen Gedächtnis des deutschen
Vgl. Sörries, 29 – 35 und Martin Scharfe, „Nach-Luther. Zu Form und Bedeutung der Luther-Verehrung im 19. Jahrhundertˮ, in: “Er fühlt der Zeiten ungeheuren Bruch„, 11– 21. Zur Verankerung des nationalen Lutherbildes im gebildeten deutschen Bürgertum und der Legitimierung des protestantischen Kaisertums durch den Nationalhelden Luther vgl. Henrike Holsing, Luther – Gottesmann und Nationalheld. Sein Image in der deutschen Historienmalerei des 19. Jahrhunderts, 2004, 169 – 226, http:// kups.ub.uni-koeln.de/id/eprint/2132, (Zugriff 25.10. 2016). Vgl. zu einer knappen Typologie und Herkunft des Lutherdenkmals im Allgemeinen den Lexikonartikel von Ruth Slenczka, „Luther in der Kunstˮ, in: Volker Leppin und Gury Schneider-Ludorff (Hg.), Das Luther-Lexikon, Regensburg, 2014, 396 – 402, hier: 400 – 402, mit Verweis auf ältere Literatur. Hier und im Folgenden Mario Titze, „Preußen und Luther. Zwei Luther-Denkmale des 19. Jahrhunderts in Wittenbergˮ, Denkmalpflege in Sachsen-Anhalt 4, H. 1, 1996, 62– 74.
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Abb. 9 Johann Gottfried Schadow, Lutherdenkmal Wittenberg (1821). Detail (Foto: Weigel)
Protestantismus verankert.⁶³ Die ersten Planungen für das Denkmal werden, allerdings ohne Nachweis, im Jahr 1817 angesetzt, in dem das erste Reformationsjubiläum nach der Befreiung von der französischen Fremdherrschaft mit einem nationalen Unterton begangen wurde.⁶⁴ Die überlieferten letzten Worte von Luthers Verteidigungsrede vor dem Reichstag zieren den Sockel des Denkmals: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir! Amen!“ Der Befreiungsschlag gegen Rom, der in der protestantischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts auch als Kampf gegen die Hier und im Folgenden Christiane Theiselmann, Das Wormser Lutherdenkmal Ernst Rietschels (1856 – 1868) im Rahmen der Lutherrezeption des 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main/Bern/New York/ Paris, 1992. Theiselmann, 8.
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Abb. 10 Ernst Rietschel, Lutherdenkmal Worms (1868). Detail (Foto: Weigel)
tyrannische Fremdherrschaft über das dem rechten Glauben anhängende Deutschland gedeutet wurde, konnte so bald nach den Befreiungskriegen von 1813 als Ereignis empfunden werden, das Parallelen zur aktuellen politischen Situation in Deutschland zuließ. Wie in Wittenberg, so war es auch in Worms ein bürgerlicher Verein, der die Realisierung des monumentalen Denkmals initiierte. Der in Dresden ansässige RauchSchüler Ernst Rietschel wurde in Kenntnis von Schadows Denkmal als protestantischer Künstler mit der Umsetzung beauftragt.⁶⁵ Inmitten von Fürsten als Beschützern
Theiselmann,19 und 27.
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der Reformation, Personifikationen von beteiligten Städten und umringt von Melanchthon und den schon im 16. Jahrhundert als Vorreformatoren bezeichneten Wyclif und Hus sowie anderen Vorkämpfern der Reformation erhebt sich die Bronzestatue des Hauptreformators auf einem erhöhten Sockel. Porträtmedaillons von Freunden und Helfern sowie szenische Reliefs ergänzen das Bildprogramm. Mehrere Entwürfe der zentralen Figur gingen der realisierten Fassung voraus. Einer von ihnen zeigte Luther als Mönch, in Kutte und mit Tonsur, die rechte Faust auf die geschlossene Bibel legend. Er entsprach der Überlieferung der historischen Situation und wurde von dem Bildhauer im Geiste der herrschenden historistischen Auffassung favorisiert.⁶⁶ Umgesetzt wurde jedoch eine Kombination aus dem Doktor der Theologie als Lehrautorität in der universitären Schaube und dem Motiv der zur Faust geballten Hand, das auf die Szene vor dem Reichstag verweist. Dem Wittenberger Denkmal gegenüber nimmt Rietschels Luther eine Entschlossenheit symbolisierende Pose ein. Das rechte Bein ist weiter als in einer für das Spielbein üblichen Schrittstellung vorangestellt, der Fuß ragt über die Plinthe hinaus. Der Blick ist gen Himmel gerichtet, der rechte Arm mit einer impulsiven, durch die Handhaltung bestimmten Geste über die Körpermitte hinweg geführt.
3.6 Luther im Totenbildnis Die Typologie der Lutherbildnisse endet mit dem Totenbildnis des Reformators. Am Mittag von Luthers Todestag, dem 18. Februar 1546, skizzierte ein nicht namentlich bekannter Künstler aus Eisleben den nachts Verstorbenen auf dem Totenbett.⁶⁷ Der in Halle tätige Maler Lucas Furtenagel fertigte eine weitere Zeichnung des Toten an, desgleichen einen malerischen Entwurf. Eines dieser Exemplare gelangte nach Wittenberg in die Cranach-Werkstatt. Dort entstanden drei Gemälde, die das Schlangensignet der Werkstatt tragen, sowie mindesten sechs weitere, diese möglicherweise jedoch zu einem späteren Zeitpunkt (Abb. 11). Sie zeigen Luther im weißen Hemd, mit ruhigen Gesichtszügen, geschlossenen Augen und übereinander gelegten Händen in Halbfigur. Nur in einem Exemplar fehlt das Kissen, an seine Stelle tritt ein dunkler Hintergrund. Diesen Bildnissen liegt wie den anderen Lutherporträts eine propagandistische Absicht zugrunde, verweisen sie doch, anders als von seinen Gegnern vorhergesagt, auf den friedlichen Tod des Reformators. Auch dieser Typus fand Eingang in die Druckgraphik, wobei neben dem Einzelbildnis die Einbindung in Mehrfachdarstellungen des Reformators in unterschiedlichen Lebensaltern stehen kann.⁶⁸
Theiselmann, 38 und im Folgenden 41. Vgl. hier und im Folgenden Schuchardt, „Privileg und Monopolˮ, 48 – 50 und Schuchardt, „Katalog – Teil 1ˮ, 131– 135 mit Verweis auf die Typologie bei Georg Stuhlfaut, Die Bildnisse D. Martin Luthers im Tode, Weimar, 1927. Vgl. Stuhlfaut, Taf. XIV, Nr. 23 und Nr. 24.
Abb. 11 Cranach-Werkstatt, Wittenberg, Martin Luther auf dem Totenbett (1546). Öl auf Holz, Niedersächsisches Landesmuseum Hannover
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Bildung, Ausbildung und Unterricht während der Reformationszeit 1 Bildungsgeschichte zwischen Spätmittelalter und Reformation „Ohne Universität keine Reformation.“¹ Auch wenn diese Feststellung nahezu ein Allgemeinplatz geworden ist, so erinnert sie dennoch daran, dass die Bildungsgeschichte der Reformationszeit ebenso wenig isoliert von ihrem spätmittelalterlichen Hintergrund betrachtet werden kann wie die Person Martin Luthers. Die Verflechtung spätmittelalterlicher Bildungsgeschichte mit der Reformationszeit lässt sich zudem in drei ähnlichen Formulierungen fassen: Ohne Stadt keine Reformation – ohne Humanismus keine Reformation – ohne Buchdruck keine Reformation. Die urbane und akademische Kultur des Spätmittelalters sowie Buchdruck und Humanismus bilden also unabdingbare historische Voraussetzungen, ohne die eine Reform von Lehre, Leben und Bildung undenkbar sind. Allerdings wäre es ein Trugschluss, zu glauben, dass diese Unabdingbarkeit gleichzeitig eine Zwangsläufigkeit implizieren würde: Trotz einer prinzipiellen Offenheit der Majorität des europäischen Stadtbürgertums für reformatorische Anliegen werden nicht alle Städte evangelisch – nicht einmal im Heiligen Römischen Reich, wie u. a. das prominente Beispiel der Stadt Köln belegt.² Die Reformation wird von den akademischen Milieus zunächst nur zaghaft rezipiert: Die Universität Löwen grenzt sich frühzeitig von Luthers Gedanken ab und versucht, sowohl reformatorischen Äußerungen in Löwen selbst als auch in der gesamten westlichen christianitas entgegen zu wirken. Andernorts – wie z. B. an der Universität Rostock – werden die Ideen der Reformation nur zaghaft rezipiert und setzen sich erst um die Mitte des Jahrhunderts durch.³ Auf der anderen Seite der Skala befinden sich die Universität Wittenberg, an der die absolute Mehrheit der Lehrenden Luthers Ideen folgt, sowie z. B. die ersten evangelischen Universitätsgründungen in Marburg (gegründet 1527) und Königsberg (gegründet 1544). Die Präsenz reformatorischer Ideen im öffentlichen Raum und deren schnelle und effektive Verbreitung ist ohne den Buchdruck nicht vorstellbar. Obwohl die Reformation mehrere Jahrzehnte
Thomas Kaufmann, Universität und lutherische Konfessionalisierung. Die Rostocker Theologieprofessoren und ihr Beitrag zur theologischen Bildung und kirchlichen Gestaltung im Herzogtum Mecklenburg zwischen 1550 und 1675, Gütersloh, 1997, 11. Andreea Badea, Kurfürstliche Präeminenz, Landesherrschaft und Reform. Das Scheitern der Kölner Reformation unter Hermann von Wied, Münster, 2009. Marko A. Pluns, Die Universität Rostock 1418 – 1563. Eine Hochschule im Spannungsfeld zwischen Stadt, Landesherren und wendischen Hansestädten, Köln/Weimar/Wien, 2007, insbes. 487– 488. https://doi.org/9783110498745-062
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lang einen klaren publizistischen Vorsprung gegenüber der altgläubigen Seite aufweist, nutzt selbstverständlich auch die römische Kirche das Druckmedium, um auf die Reformation zu reagieren. Sodann ist Reformation ohne die reziproke Bezogenheit von reformatorischer Lehre und Bildungsinteresse zu humanistischer Gelehrsamkeit kaum denkbar; die Reformation absorbiert mitnichten alle humanistischen Tendenzen, und auch wenn zahlreiche Humanisten ihren Weg ins reformatorische Lager antreten, so tun dies keinesfalls alle.
2 Humanismus und Universitäten 2.1 Theologie und artes Der ursprünglich von Italien ausgehende Humanismus prägt „als Bildungsbewegung der Renaissance“⁴ nachhaltig reformatorische Vorstellungen von Wissenschaftlichkeit sowie das gesamte Bildungsverständnis der Reformation. Eine Verhältnisbestimmung von Reformation zu Renaissance und Humanismus, die nur nach Gegensätzen und Gemeinsamkeiten fragt, greift daher zu kurz.⁵ Vielmehr geht es um ein vielfältiges Inund Miteinander, nur teilweise auch um eine Opposition von Reformation und Humanismus. Nördlich der Alpen wird der Humanismus, der übrigens – wie auch die Reformation – keine monolithische Einheit, sondern eine höchst diversifizierte und aufgegliederte Bewegung bildet, weitgehend von der Reformation absorbiert und transformiert. Die Netzwerke des Humanismus verzweigen sich im süddeutschen Raum, erstrecken sich weit nach Mittel- und Norddeutschland, mit bedeutenden Stationen in Erfurt, Wittenberg und Rostock.⁶ Die Erfurter Humanisten Nikolaus Marschalk und Balthasar Fabritius Phaccus etablieren nicht nur das Griechischstudium in Wittenberg,⁷ sondern Marschalk verlegt auch eine Druckerei dorthin, die unter anderem klassische Arbeiten und griechische Grammatiken erstellt.⁸ Der mit anderen Humanisten – u. a. Johannes Reuchlin – eng verbundene Hermann von dem Busche hält 1502 die Eröffnungsrede an der Leucorea und unterrichtet dort Rhetorik und Poetik bis zu seinem Weggang nach Leipzig. Der italienische Humanist Petrus aus Ravenna liest 1503 – 1504 in Wittenberg. Christoph Scheurl, der auf Veranlassung von August Buck, „Der italienische Humanismus“, in: Notker Hammerstein (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd 1: 15. bis 17. Jahrhundert. Von der Reformation bis zum Ende der Glaubenskämpfe, München, 1996, 1– 56, hier: 1. Renaissance – Reformation. Gegensätze und Gemeinsamkeiten ist der Titel einer von August Buck 1984 herausgegebenen Anthologie. Czaika, Sveno Jacobi: boksamlaren, biskopen, teologen. En bok- och kyrkohistorisk studie, Helsinki/ Skara/Stockholm, 2013, 201– 205. Martin Treu, „Balthasar Fabritius Phaccus – Wittenberger Humanist und Freund Ulrich von Hutten“, in: Archiv für Reformationsgeschichte [= ARG] 80, 1989, 68 – 87. Maria Grossmann, „Humanismus in Wittenberg 1486 – 1517“, in: Luther-Jahrbuch 1972, 11– 30, hier: 25 – 26.
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Johann von Staupitz 1507 nach Wittenberg kommt, hatte nicht nur in Bologna studiert, sondern entwirft auch die Statuten der Leucorea nach dem Vorbild Bolognas. Johann Lang, Georg Spalatin und Martin Luther sind bereits vor 1517 Vertreter eines bibelhumanistischen Programms, das dem humanistischen Pathos für das Studium der grundlegenden Quellen (ad fontes) und der alten Sprachen verpflichtet ist.⁹ Mit dem Humanismus vereint die Wittenberger Gelehrten um und nach 1517 auch das Interesse für das Studium der Kirchenväter,¹⁰ ein durch Studium und Unterweisung zu erreichendes, tugendhaftes Leben, die Kritik an kirchlichen Hierarchien, dem zu sehr an Äußerlichkeiten interessierten Vulgärkatholizismus und der via antiqua bzw. der Scholastik.¹¹ Martin Luther, der gemäß der spätmittelalterlichen akademischen Tradition als Theologieprofessor die Aufgabe hat, sich der Bibelauslegung zu widmen,¹² bricht allerdings mit der Tradition, die Sentenzen des Lombarden auszulegen. Er favorisiert bereits zwischen 1513 und 1515 im Rahmen einer Psalmenvorlesung aus einem humanistischen Impetus heraus die Schriftauslegung.¹³ In diesem Kreis synthetisiert jedoch vor allem Philipp Melanchthon die Kernvorstellungen von Humanismus und Reformation. Melanchthons Bildungsprogramm greift die ciceronische Gelehrsamkeit und Beredsamkeit auf und rekurriert auf die latinitas bzw. eloquenza oder bella lingua als zentrale Anliegen des Humanismus. Es inkorporiert – trotz Luthers dem mittelalterlichen Augustinismus entspringenden, immer wieder pointiert formulierten, aber auch immer wieder eingeschränkten Affekt gegen die mittelalterliche Aristoteles-Rezeption¹⁴ – philosophische Betrachtungen
Helmar Junghans, „Martin Luthers Einfluss auf die Wittenberger Universitätsreform“, in: Irene Dingel und Günter Wardenberg (Hg.), Die Theologische Fakultät Wittenberg 1502 bis 1602. Beiträge zur 500. Wiederkehr des Gründungsjahres der Leucorea, Leipzig, 2002, 55 – 70, hier: 58 – 64. Ders., Der junge Luther und die Humanisten, Göttingen, 1985, 58 – 60. Grossmann, „Humanismus in Wittenberg“, 11– 30. Buck, Der italienische Humanismus, 16. Junghans, „Martin Luthers Einfluss“, 66. Jens-Martin Kruse, „Paulus und die Wittenberger Theologie. Die Auslegung des Römerbriefes bei Luther, Lang und Melanchthon“, in: Dingel und Wardenberg (Hg.), Die Theologische Fakultät Wittenberg, 113 – 132, hier insbes. 114– 116. Markus Wriedt, „Schrift und Tradition. Die Bedeutung des Rückbezugs auf die altkirchlichen Autoritäten in Philipp Melanchthons Schriften zum Verständnis des Abendmahls“, in: Günter Frank, Thomas Leinkauf und Markus Wriedt (Hg.), Die Patristik in der Frühen Neuzeit. Die Relektüre der Kirchenväter in den Wissenschaften des 15. bis 18. Jahrhunderts, Stuttgart-Bad Cannstatt 2006, 145 – 168. Ernest G. Schwiebert, „New Groups and Ideas at the University of Wittenberg“, in: ARG 49, 1958, 60 – 79. Es war generell Aufgabe eines Theologieprofessors, die Bibel auszulegen. Martin Luthers Professur als „lectura in biblia“ unterscheidet sich damit nicht – wie immer wieder behauptet – prinzipiell von anderen theologischen Professuren um 1500. Ulrich Köpf, „Martin Luthers theologischer Lehrstuhl“, in: Dingel und Wardenberg (Hg.), Die Theologische Fakultät Wittenberg, 71– 86, hier: 72– 83. Hierzu u. a. Lawrence Murphy, S. J., „The Prologue of Martin Luther to the Sentences of Peter Lombard (1509): the Clash of Philosophy and Theology“, in: ARG 67, 1976, 54– 75. Ders., „Martin Luther, the Erfurt Cloister, and Gabriel Biel: the Relation of Philosophy to Theology“, in: ARG 67, 1976, 5 – 24. Adolar Zumkeller O.E.S.A., „Die Augustinertheologen Simon Fidati von Cascia und Hugolin von Orvieto und Martin Luthers Kritik an Aristoteles“, in: ARG 54, 1963, 15 – 38.
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und eine positive Aufnahme von Aristoteles’ Philosophie (wenn auch nicht seiner Metaphysik und Ontologie) als Philosophia Christi in die Theologie und Moralphilosophie der Reformation.¹⁵ Die an die mittelalterliche Topik angelehnte Loci-Methode¹⁶ Melanchthons wird durch seine seit 1521 in verschiedenen Versionen herausgegebenen Loci communes,¹⁷ welche die Hauptstücke der reformatorischen Lehre zusammenfassen, das Vorbild für theologische Lehrbücher schlechthin¹⁸ und sogar von Johannes Eck, dem römischen Antipoden der Reformation, kopiert.¹⁹ Vor allem als eine Folge von Philipp Melanchthons enzyklopädischer Gelehrsamkeit, seiner jahrzehntelangen Tätigkeit an der Wittenberger artes-Fakultät sowie seiner umfassenden, viele Bereiche der frühneuzeitlichen Wissenschaft abdeckenden Verfasserschaft werden Dialektik, Rhetorik und Poesie, Mathematik²⁰ und mathematische Astrologie (die übrigens auch Luther „vorbehaltlos unterstützt“²¹), Physik und Medizin, aber auch (Moral‐)Philosophie und Ethik im Bildungskanon protestantischer Universitäten bewahrt und produktiv weiterentwickelt. Melanchthons Interesse an der Historiographie, das sich paradigmatisch an seiner redaktionellen Bearbeitung des Chronicon Carionis ablesen lässt, führt nach seinem Tod zudem zur Verankerung der Geschichte im akademischen Lehrplan.²² Der Geschichtsschreibung
Heinz Scheible, Die Philosophische Fakultät der Universität Wittenberg von der Gründung bis zur Vertreibung der Philippisten, in: ARG 98, 2007, 7– 44, hier: 33 – 35. Günter Frank, „Einleitung: Zum Philosophiebegriff Melanchthons“, in: Günter Frank und Felix Mundt (Hg.), Der Philosoph Melanchthon, Berlin/Boston, 2012, 1– 10, hier: 2. Marcel Nieden, „Wittenberger Anweisungen zum TheologieStudium“, in: Dingel und Wardenberg (Hg.), Die Theologische Fakultät Wittenberg, 133 – 154, hier: 135 – 137. Wilhelm Schmidt-Biggermann: „Topik und Loci Communes: Melanchthons Traditionen“, in: Frank und Mundt (Hg.), Der Philosoph Melanchthon, 77– 94. Ulrich Köpf, „Melanchthons „Loci“ und ihre Bedeutung für die Entstehung einer evangelischen Dogmatik“, in: Irene Dingel und Armin Kohnle (Hg.), Philipp Melanchthon. Lehrer Deutschlands, Reformator Europas, Leipzig, 2011, 129 – 152. Helmar Junghans, „Philipp Melanchthons Loci theologici als Lehrbuch während seiner Lebenszeit“, in: Dingel und Kohnle (Hg.), Philipp Melanchthon, 153 – 162. Günter Frank, „Topische Dogmatik im Zeitalter der Konfessionalisierung. Philipp Melanchthon, Wolfgang Musculus, Melchior Cano“, in: Dingel & Kohnle (Hg.), Philipp Melanchthon, 251– 270. Johannes Eck, Enchiridion locorum communium adversus Ludderanos, Landshut, 1525 [=VD16 E 331] wurde in ca. vierzig Ausgaben während des 16. Jahrhunderts gedruckt. Siehe hierzu: Czaika, Sveno Jacobi, 132. Charlotte Methuen, „Zur Bedeutung der Mathematik für die Theologie Philipp Melanchthons“, in: Stefan Rhein und Günther Frank (Hg.), Melanchthon und die Naturwissenschaften seiner Zeit, Sigmaringen, 1998, 85 – 104; Karin Reich, „Melanchthon und die Mathematik seiner Zeit“, in: Rhein und Frank (Hg.), Melanchthon und die Naturwissenschaften, 105 – 122. Wolfgang Maaser, „Luther und die Naturwissenschaften – systematische Aspekte an ausgewählten Beispielen“, in: Rhein und Frank (Hg.), Melanchthon und die Naturwissenschaften, 25 – 42, hier: 29. Heinz Scheible, „Der Bildungsreformer Melanchthon“, in: Matthias Asche, Heiner Lück, Manfred Rudersdorf und Markus Wriedt (Hg.), Die Leucorea zur Zeit des späten Melanchthon. Institutionen und Formen gelehrter Bildung um 1550, Leipzig, 2015, 93 – 117, hier: 98.
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kommt dabei eine apologetische, gegen den konfessionellen Gegner gerichtete Funktion zu.²³
2.2 Jurisprudenz Die Reformation schließt bündig an zentrale Anliegen des Humanismus an und bewahrt die aus dem Mittelalter überkommene Gestalt der Universität mit ihren vier Fakultäten Artes, Theologie, Jurisprudenz und Medizin. Die Theologie der Reformation forderte und förderte eine juristische Standortbestimmung.²⁴ Das kanonische Recht wurde nicht gänzlich abgelehnt, sondern etwa im Eherecht weiterhin als wegweisend, wenn auch nicht allgemeingültig, anerkannt.²⁵ Reformationsjuristen wie z. B. Melchior Kling²⁶ und Konrad Lagus²⁷ in Wittenberg oder Johannes Oldendorp in Rostock und Frankfurt/Oder²⁸ trugen dazu bei, das kanonische Recht für die Jurisprudenz an evangelischen Universitäten fruchtbar zu machen und entwickelten mit Hinblick auf die reichsrechtliche Lage auch das Notwehr- und Widerstandsrecht weiter,²⁹ wobei Melanchthons Begründung des Naturrechts im „Herzen der Menschen“³⁰ und nicht in der Heiligen Schrift von immenser Bedeutung ist.
2.3 Medizin Obzwar die Medizin weitaus weniger als die Jurisprudenz eine direkte Relevanz für die Reformation besitzt, blieb sie dem akademischen Fächerkanon erhalten und wird
Harald Bollbuck, „Die Geburt protestantischer Kirchengeschichtsschreibung aus theologischer Topik – Zur historischen Methode der Magdeburger Zenturien“, in: Günter Frank und Stephan MeierOeser (Hg.), Hermeneutik, Methodenlehre, Exegese. Zur Theorie der Interpretation in der Frühen Neuzeit, Stuttgart-Bad Cannstatt, 2011, 123 – 146. Heiner Lück, „Einführung: Die Universität Wittenberg und ihre Juristenfakultät“, in: Heiner Lück und Heinrich de Wall (Hg.), Wittenberg. Ein Zentrum europäischer Rechtsgeschichte und Rechtskultur, Köln/Weimar/Wien, 2006, 13 – 35. Christoph Link, „Luther und die Juristen – Die Herausbildung eines evangelischen Kirchenrechts im Gefolge der Wittenberger Reformation“, in: Lück und de Wall (Hg.), Wittenberg, 63 – 82. Anneliese Spengler-Ruppenthal, „Das kanonische Recht in den Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts“, in: Richard H. Helmholz (Hg.), Canon law in protestant lands, Berlin, 1992, 49 – 122. Rolf Lieberwirth, „Melchior Kling (1504.1571), Reformations- und Reformjurist“, in: Lück und de Wall (Hg.), Wittenberg, 35 – 62. Hans Erich Troje, „Konrad Lagus (um 1500 – 1546) und die europäische Rechtswissenschaft“, in: Lück und de Wall (Hg.), Wittenberg, 151– 174. Isabelle Defflers, „Einige Anmerkungen zur Ausstrahlung der Naturrechtslehre Melanchthons“, in: Asche, Lück, Rudersdorf und Wriedt (Hg.), Die Leucorea, 359 – 378, hier insbes.: 368 – 370. Heinz Scheible (Hg.), Das Widerstandsrecht als Problem der deutschen Protestanten 1523 – 1546, Gütersloh, 1969. Defflers, „Einige Anmerkungen“, 365.
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gemäß der neuesten anatomischen Erkenntnisse weiterentwickelt:³¹ Bereits sehr frühzeitig, um 1550, wird Andreas Vesalius’ bahnbrechendes anatomisches Werk De humani corporis fabrica von Melanchthon und seinen Schülern in Wittenberg rezipiert.³² Zahlreiche Wittenberger Studenten, darunter Theologen wie Paul Eber und Nicolaus Selneccer, arbeiten ebenso zu medizinischen und anatomischen Fragen im Geiste des Vesalius wie Melanchthons Schwiegersohn, der Mediziner Caspar Peucer. Die Universität Wittenberg wird somit zu einer Schnittstelle, die neue medizinische und anatomische Kenntnisse über dort ausgebildete Studenten weitervermittelt – der später in Wien tätige Johann Aichholtz (1520 – 1588) hatte ebenso wie der Kopenhagener Mediziner Anders Christensen (1551– 1606) und viele andere in Wittenberg studiert.³³ Während die Jurisprudenz als akademisches Fach eine direkte Relevanz für die Gestaltung der evangelischen Lehre und des christlichen Lebens in der Welt hat, ordnet Luther die Medizin der sapientia oder ratio humana ³⁴ und damit der irdischen Welt zu. „[M]it Luthers Segen und […] vollem Einverständnis“³⁵ sowie Melanchthons enzyklopädischem Interesse kann sich somit die Medizin der Renaissance und Frühneuzeit als akademisches Fach im Luthertum weiterentwickeln.
2.4 Erasmus und jesuitische Bildung Spätmittelalterliche akademische Traditionen und Entwicklungen, Humanismus und Reformation sind selbstverständlich nicht deckungsgleich, doch in vielfältiger Weise miteinander verbunden. Die Reformation stellt keinen markanten Bruch zum Spätmittelalter dar; ebenso wenig kann von einer heftigen Konfrontation zwischen Humanismus und Reformation ausgegangen werden; die wechselseitigen Beziehungen sind weitaus filigraner:³⁶ Dies belegt u. a. die Rezeption von Erasmus’ humanistischen wie kirchenkritischen Ideen durch die Reformation. Trotz der lautstark zwischen Lu-
Maike Rotzoll, „Die Wittenberger Medizin in der Praxis – Leibmedici, Stadtphysici und Medizinpolicey“, in: Asche, Lück, Rudersdorf und Wriedt (Hg.), Die Leucorea, 421– 438. Hans-Theodor Koch, „Melanchthon und die Vesal-Rezeption in Wittenberg“, in: Rhein und Frank (Hg.), Melanchthon und die Naturwissenschaften, 203 – 218, hier: 213. Wolfgang U. Eckart, „Philipp Melanchthon und seine Medizin der Reformation: Erkenntnis, Autorität und Ordnung“, in: Asche, Lück, Rudersdorf und Wriedt (Hg.), Die Leucorea, 397– 420. Ders., Philipp Melanchthon und die Medizin, in: Rhein und Frank (Hg.), Melanchthon und die Naturwissenschaften, 183 – 202. Martin Luther, Disputatio de homine 1536, in: WA 39/1,175 – 177, hier insbes. 175.Vgl. Bengt Hägglund, De Homine. Människouppfattningen i äldre luthersk tradition, Lund, 1959, 58 – 62. Gerhard Ebeling, Disputatio de homine. Teil 1: Text und Traditionshintergrund, Tübingen, 1977, 7– 8. Richard Toellner, „Die medizinischen Fakultäten unter dem Einfluß der Reformation“, in: Buck (Hg.), Renaissance – Reformation. Gegensätze und Gemeinsamkeiten, Wiesbaden, 1984, 287– 297, hier: 297. Junghans, „Martin Luthers Einfluss“, S. 70.
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ther und Erasmus geführten Diskussion um den freien Willen führt die Reformation die Werke und Ideen des Erasmus zum großen Teil weiter.³⁷ Die römische Kirche – u. a. die Sorbonne und die Universität Löwen – diskreditiert nicht nur frühzeitig Erasmus als „lutheranus“,³⁸ sie setzt seine Werke auch auf den Index prohibitorum librorum und bestraft mit harter Hand – wie z. B. in Italien – den bloßen Besitz von Erasmus’ Büchern. Während der „christliche Humanismus“ – oder besser der Humanismus in der römischen Kirche – im Zuge des Tridentinums „als Ganzes scheiterte“³⁹ und Erasmus der „Verniemandung“⁴⁰ anheimfiel, erhielten der große Gelehrte und der Humanismus ein dauerhaftes Bleiberecht im Protestantismus. Ignatius von Loyola richtet sich darum mit dem Jesuitenorden weniger gegen den Protestantismus, sondern bezieht vornehmlich Stellung gegen Erasmus.⁴¹ In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass Loyolas Desinteresse an Jurisprudenz und Medizin dazu führte, dass die „typische Jesuitenuniversität nur aus zwei Fakultäten“,⁴² nämlich der artistischen und der theologischen, bestand. Folglich übernahmen Angehörige der Societas Jesu an bestehenden traditionellen Universitäten mit vier Fakultäten nur artistische und theologische Lehrstühle, während die anderen Lehrstühle weiterbestanden. Die Reformation führt somit tendenziell bruchloser die spätmittelalterliche Bildungsgeschichte fort als der tridentinische Katholizismus. An das „Wittenberger Modell Melanchthons mit seiner Synthese von Reformation und Humanismus“⁴³ schließen die Universitätsneugründungen wie in Marburg, Königsberg und Helmstedt an, gefolgt von der Reform älterer Universitäten wie z. B. in Rostock, welche die aus dem Mittelalter überkommene Aufgliederung der Lehranstalten in vier Fakultäten emanieren.
Czaika, Sveno Jacobi, 109 – 123. Silvana Seidel Menchi, Erasmus als Ketzer. Reformation und Inquisition im Italien des 16. Jahrhunderts, Leiden, 1993, 33 – 50. August Buck, „Christlicher Humanismus in Italien“, in: Ders. (Hg.), Renaissance – Reformation, 23 – 34, hier: 34. Silvana Seidel Menchi, „Humanismus und Reformation im Spiegel der italienischen Inquisitionsprozeßakten“, in: Buck (Hg.), Renaissance – Reformation, 47– 64, hier: 64. Erwin Iserloh, „Evangelismus und Katholische Reform in der italienischen Renaissance“, in: Buck (Hg.), Renaissance – Reformation, 35 – 46, hier: 36 – 37. Matthias Asche, „Bildungsbeziehungen zwischen Ungarn, Siebenbürgen und den deutschen Universitäten im 16. und frühen 17. Jahrhundert“, in: Wilhelm Kühlmann und Anton Schindling (Hg.), Deutschland und Ungarn in ihren Bildungs- und Wissenschaftsbeziehungen während der Renaissance, Stuttgart, 2004, 27– 53, hier: 48. Anton Schindling, „Bildungsinstitutionen als Ziele der studentischen Migration“, in: Márta Fata, Gyula Kurucz und Anton Schindling (Hg.), Peregrinatio Hungarica. Studenten aus Ungarn an deutschen und österreichischen Hochschulen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Stuttgart, 2006, 39 – 54, hier: 48.
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2.5 Zu Frequenz und Besucherprofil der Universitäten Der nach 1517 eskalierende theologische Streit, vor allem Martin Luthers Kritik an Aristoteles und der Scholastik, stellte nicht die Notwendigkeit theologischer Bildung oder die Existenz Hoher Schulen in Frage, sondern ist generell als ein Aufruf dafür zu verstehen, die Kirchenreform über Studien- und Bildungsreformen, eine „gutte reformation der universitetenn“⁴⁴ zu verwirklichen. Der „Wildwuchs“⁴⁵ der Reformation in den Jahren um und nach 1520 und die „bildungsfeindliche Agitation ‚radikaler Prädikanten‘“ lässt in den 1520er Jahren im ganzen Reich die „Immatrikulationsfrequenz […] ins Bodenlose [fallen].“⁴⁶ Die große Frequenzkrise⁴⁷ der 1520er Jahre befördert letztlich den schon vor der Reformation begonnenen – und nicht nur auf protestantische Universitäten begrenzten – Strukturwandel der artistischen Fakultäten: Schon in den ersten beiden Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts hatten Wittenberg, Leipzig und Frankfurt Hörgelder an den Regentien abgeschafft und stattdessen besoldete Lekturen eingeführt. Diesem Vorbild folgte nach 1520 die Mehrzahl der Universitäten. Dieser Strukturwandel führt im Laufe des 16. Jahrhunderts nach dem Einbruch der Immatrikulationszahlen in den 1520er Jahren allerdings zu einer wachsenden Nachfrage an akademischer Bildung und steigenden Hörerzahlen.⁴⁸ Dieser Prozess wird noch durch die Neugründungen von Universitäten oder die Wiederbelebung brachliegender Hoher Schulen befördert – wie z. B. der schwedischen Universität Uppsala, die erst nach 1593 wieder arbeitsfähig wird. In ganz Europa – nicht nur in protestantischen Ländern – entsteht nun das, was als Landesuniversität oder „in den frühen europäischen Nationalstaaten wie Spanien, Frankreich und England [als] die auf eine bestimmte Region ausgerichtete Provinzialuniversität“ bezeichnet wird.⁴⁹ Im Zuge der landesherrlichen Versuche, rechtes Bekenntnis und konfessionell adäquate akademische Bildung zu sichern, werden zunehmend auch die akademischen Peregrinationen konfessioneller Kontrolle unterworfen. Schon vor der Reformation weisen zahlreiche Hochschulen ein eher regionales Gepräge auf. An der Universität Rostock kamen vor und nach der Reformation ca. 40 – 50 % der Studenten „aus dem hansischen Wirtschafts-, Verkehrs- und Kom-
Martin Luther, „An den christlichen Adel deutscher Nation 1520“, WA 6,381– 470, hier: 458. Helmar Junghans, „Plädoyer für ‚Wildwuchs der Reformation‘ als Metapher“, in: Luther-Jahrbuch 65, 1998, 101– 108. Arno Seifert, „Das höhere Schulwesen. Universitäten und Gymnasien“, in: Hammerstein (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, 197– 374, hier: 256. Hierzu insbesondere: Franz Eulenburg, Die Frequenz der deutschen Universitäten von ihrer Gründung bis zur Gegenwart, Leipzig, 1904. Neudruck, Berlin, 1994. Matthias Asche, „Peregrinatio academica in Europa im Konfessionellen Zeitalter. Bestandsaufnahme eines unübersichtlichen Forschungsfeldes und Versuch einer Interpretation unter migrationsgeschichtlichen Aspekten“, in: Jahrbuch für Europäische Geschichte 6, 2005, 3 – 33, hier: 13 – 14. Asche, „Peregrinatio academica“, 20 – 21.
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munikationsraum“.⁵⁰ Im Zuge der Religionskriege verliert die akademische Bildung im 17. Jahrhundert zunehmend ihre Internationalität, vor allem Hohe Schulen in Frankreich und Italien werden fortan nur noch selten von ausländischen Studenten besucht.⁵¹ Allerdings kommen die akademischen Peregrinationen im Zuge von Reformation und Konfessionalisierung weder schnell noch vollständig zum Erliegen. Im Heiligen Römischen Reich gibt es landesherrliche Verordnungen, die den Besuch konfessionsfremder Lehranstalten verbieten, erst nach dem Dreißigjährigen Krieg.⁵² Der Adel besucht im Zuge von Kavalierstouren weiterhin ausländische – und oftmals konfessionsfremde – Lehranstalten.⁵³ Ebenso reisen auch nichtadlige Studenten weiterhin ins Ausland,⁵⁴ wenn auch prozentual gesehen sukzessive in geringerem Umfang als im Spätmittelalter und während des 16. Jahrhunderts. Der Umstand, dass im Heiligen Römischen Reich mitnichten jedes Territorium über eine eigene Landeshochschule verfügte, impliziert eine überregionale Bedeutung der verschiedenen Universitäten. Vor allem Studenten aus kleineren Territorien wie den Reichsstädten verfügten über keine akademischen Ausbildungsmöglichkeiten im eigenen Land und suchten daher meist konfessionsverwandte Universitäten auf.
2.6 Die evangelische Familienuniversität Mit dem Umstand, dass nach der Reformation neue, konfessionell relativ homogene Bildungslandschaften entstehen und sich auf Grund der konfessionell orientierten Bildungsansprüche und -politik der Studienbesuch teils regionalisiert, teils provinzialisiert, sich zumindest aber immer mehr entlang der Konfessionsgrenzen ausrichtet, korreliert die Tatsache, dass sich in protestantischen Ländern der Typus der „Familienuniversität“ herausbildet. Als „Fernwirkung“ von Luthers Eheschließung mit der ehemaligen Nonne Katharina von Bora im Jahre 1525, Luthers Haushaltsführung im ehemaligen Kloster, aber auch als Resultat der häuslichen Gemeinschaft in Luthers und Melanchthons Häusern, die neben Studenten auch andere Personen der frühneuzeitlichen res publica litteraria umfasst, entsteht vielerorts ein Konnex von
Matthias Asche, „Der Ostseeraum als Universitäts- und Bildungslandschaft im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit – Baustein für eine hansische Kulturgeschichte“, in: Blätter für Deutsche Landesgeschichte 135, 1999, 1– 20, hier: 9. Asche, „Peregrinatio academica“, 19 – 20. Rainer A. Müller, Geschichte der Universität. Von der mittelalterlichen Universitas zur deutschen Hochschule, München, 1990, 58 – 59. Hierzu u. a.: Simone Giese, Studenten aus Mitternacht. Bildungsideal und peregrinatio academica des schwedischen Adels im Zeichen von Humanismus und Konfessionalisierung, Stuttgart, 2009. In diesem Zusammenhang sei exemplarisch auf folgende Arbeiten verwiesen: Claudia A. Zonta, Schlesische Studenten an italienischen Universitäten. Eine prosopographische Studie zur frühneuzeitlichen Bildungsgeschichte, Köln/Weimar/Wien, 2004. Fata, Kurucz und Schindling (Hg.), Peregrinatio Hungarica. Herman J. Selderhuis und Markus Wriedt, Konfession, Migration und Elitenbildung. Studien zur Theologenausbildung des 16. Jahrhunderts, Leiden/Boston, 2007. Asche, „Peregrinatio academica“.
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„Bildung, Wissenschaft und Verwandtschaft“.⁵⁵ Die Universitäten in Rostock, Gießen, Marburg und Basel können als Paradebeispiele für solche Familienuniversitäten herangezogen werden, in denen sich nun Gelehrten- und Professorengeschlechter bilden, die über Generationen, manchmal gar mehrere Jahrhunderte einen großen Teil des Lehrpersonals an einer Landeshochschule stellen. Darüber hinaus sind die Universitätsfamilien mit anderen gesellschaftlichen Funktionseliten, Pfarrern und Staatsbeamten, aber auch Patriziern, Kaufleuten oder wie im Falle Basels mit Angehörigen der Druckerzunft durch Konnubien verwandtschaftlich verbunden.⁵⁶ Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf die Zeit um und nach 1550: Bei Neugründungen oder grundlegenden Reformen der Universitäten ist es oft das Wittenberger Lehrpersonal, das andernorts – oft auf Betreiben und Empfehlung von Philipp Melanchthon – akademische Positionen erhält: Sein Schüler David Chytræus geht 1551 nach Rostock,⁵⁷ Georg Sabinus, ein Schüler Melanchthons und dessen Schwiegersohn, war erster Rektor der 1544 gegründeten Universität Königsberg.⁵⁸ Die Gründungsstatuten der Universität Königsberg nehmen dabei ebenso wie die revidierten Statuten der Hohen Schule in Rostock (1563) sowie die Gründungsstatuten der unter starker Rostocker Mitwirkung fundierten Universität Helmstedt (1574) direkt Bezug auf die von Melanchthon 1533 für Wittenberg verfassten Statuten⁵⁹ und unterstreichen deren Charakter als „Schlüsseldokument“⁶⁰ für zahlreiche andere von der Wittenberger Reformation geprägte Lehranstalten. Die Bedeutung der Wittenberger Statuten für Lehranstalten belegt, wie eng verflochten familiäre Beziehungen und das Lehrer-Schüler-Verhältnis mit theologischen und universitären Reformen sind. Die an
Julian Kümmerle, „‚Absinkendes Niveau, fehlende Kritik und geringe Leistung‘? Familienuniversitäten und Universitätsfamilien im Alten Reich“, in: Daniela Siebe (Hg.), ‚Orte der Gelahrtheit‘. Personen, Prozesse und Reformen an protestantischen Universitäten des Alten Reiches, Stuttgart, 2008, 143 – 158, hier: 143. Luise Schorn-Schütte, Evangelische Geistlichkeit in der Frühneuzeit. Deren Anteil an der Entfaltung frühmoderner Staatlichkeit und Gesellschaft, Gütersloh, 1996, passim. Matthias Asche, „Von Konfessionseiden und gelehrten Glaubensflüchtlingen, von Konvertiten und heterodoxen Gelehrten. Mobilitätsphänomene konfessionell devianter Professoren zwischen obrigkeitlicher Duldung, Landesverweis und freiwilligem Abzug“, in: Henning P. Jürgens und Thomas Weller (Hg.), Religion und Mobilität. Zum Verhältnis von raumbezogener Mobilität und religiöser Identitätsbildung im frühneuzeitlichen Europa, Göttingen, 2010, 375 – 409, hier: 367– 378. Otfried Czaika, „David Chytraeus“, in: Frühe Neuzeit in Deutschland 1520 – 1620. Verfasserlexikon des 16. Jahrhunderts, Bd. 1. Berlin/New York, 2011, 511– 522. Matthias Asche, „Von der Viadrina an die Albertina und zurück – der Wittenberger MelanchthonSchüler Georg Sabinus in Frankfurt an der Oder und Königsberg“, in: Asche, Lück, Rudersdorf und Wriedt (Hg.), Die Leucorea, 233 – 262, hier: passim. Matthias Asche, „Über den Nutzen von Landesuniversitäten. Leistung und Grenzen der protestantischen ‚Familienuniversität‘“, in: Peter Herde und Anton Schindling, Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg, Bd. 53, Würzburg, 1998, 133 – 149, hier: 146. Armin Kohnle, „Lehrpersonal- und Lehrprofil der Leucorea zwischen Neufundation (1536) und Melanchthons Tod (1560) – Die Theologische Fakultät“, in: Asche, Lück, Rudersdorf und Wriedt (Hg.), Die Leucorea, 149 – 164, hier: 151.
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protestantischen Universitäten der Frühneuzeit vorherrschende Verwandten- und Klientelpatronage mag „aus heutiger Sicht problematisch erscheine[n] […], die primäre Funktion von Universitäten [war aber] die Bewahrung und Tradierung weithin bekannter Wissensbestände […], sie [nahm] mithin im Dienst des frühmodernen Staates vorrangig Ausbildungs- und Vermittlerfunktionen [wahr]“.⁶¹ Selbstverständlich ist das Phänomen der Familienuniversität durch den Wegfall des Zölibatszwangs für Kleriker in den evangelischen Kirchen zu sehen; eine direkte Weitergabe von akademischen Positionen durch Konnubien war daher in katholischen Ländern so nicht möglich. Allerdings ist es fraglich, ob die protestantische Familienuniversität letztendlich nicht überkonfessionelle Strukturen von Patronage und Klientelpolitik illustriert. Was die Familie im Protestantismus war, konnte der Orden, in der Reformationszeit vor allem die Jesuiten als „Pioniere unter den katholischen Bildungsorden“,⁶² sein. Selbstrekrutierung geschieht an katholischen Lehranstalten nicht ausschließlich im Rahmen eines familiären Verbandes, sondern innerhalb der jeweiligen Ordensstrukturen.⁶³ Allerdings lassen sich familiäre Aspekte, insbesondere die Verbindung des Personals an Jesuitenkollegien bzw. -universitäten zu anderen gesellschaftlichen Funktionseliten ausmachen: In Breslau stammten eine Reihe der Rektoren der Jesuitenuniversität aus hochangesehenen Breslauer Geschlechtern.⁶⁴ Ein konfessionsübergreifender Vergleich der protestantischen Familienuniversität mit ähnlichen Phänomenen im Katholizismus ist bisher nicht möglich, da „für den katholischen Bereich entsprechende prosopographische Untersuchungen […] völlig fehlen“.⁶⁵
3 Das Schulwesen 3.1 Reformansätze Die Reformation trägt das schulpolitische Interesse des Humanismus weiter und überformt es. Dies wird im Gelehrtenschulwesen deutlich, das an humanistische Vorgänger anknüpft, deren bekanntestes Beispiel wohl die von Erasmus von Rotterdam besuchte Lateinschule der Brüder vom Gemeinsamen Leben in Deventer ist. Die territorialen Obrigkeiten im Heiligen Römischen Reich übernehmen seit etwa den 1520er Jahren sukzessive die Ordnung der schulischen Bildung; vormals von der rö-
Asche, „Von Konfessionseiden“, 378. Matthias Asche, „Humanistische Bildungskonzeptionen im Konfessionellen Zeitalter. Ein Problemaufriß in zehn Thesen“, in: Rita Haub und Julius Oswald (Hg.), Jesuitica. Forschungen zur frühen Geschichte des Jesuitenordens in Bayern bis zur Aufhebung 1773, München, 2001, 373 – 404, hier: 392. Asche, „Humanistische Bildungskonzeptionen“, 387. Norbert Conrads, „Zur Eröffnung der Ausstellung in Görlitz“, in: Ders. (Hg.), Die tolerierte Universität. 300 Jahre Universität Breslau 1702 – 2002, Stuttgart, 2004, 10 – 15, hier: 13. Asche, „Über den Nutzen“, 141, Anm. 29.
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mischen Kirche disponierte Ressourcen, wie Klöster, deren Einkünfte, Gebäude etc., werden in zahlreichen evangelischen Territorien für die schulische Bildung umgewidmet. Schulordnungen – entweder als Teil von evangelischen Kirchenordnungen oder als eigene Textkategorie – existieren für die Mehrzahl der evangelischen Gebiete im 16. Jahrhundert und stecken mal mehr, mal weniger detailliert den Rahmen schulischer Bildung ab. Die Schullandschaft im Heiligen Römischen Reich ist aufgrund der Vielzahl unterschiedlicher Territorien freilich noch weitaus zergliederter und unübersichtlicher als die Universitätslandschaft. Martin Luther hatte schon frühzeitig, in der Adelsschrift von 1520, gefordert, dass „in den hohen unnd nydern schulen die furnehmst und gemeynist lection sein [solt] die heylig schrifft“.⁶⁶ Zudem verlieh Luther hier seiner Hoffnung Ausdruck, dass „ein yglich stadt“ auch über Mädchenschulen verfüge, in denen die Bibel auf Latein oder in Deutsch gelesen werden könne.⁶⁷ Die Heilige Schrift vermittelt Luther zufolge also nicht nur die fundamentale reformatorische Einsicht, dass die Rechtfertigung des Menschen allein durch Christi Heilswirken und den Glauben bedingt ist, die Bibellektüre ist auch der Kern der christlichen Bildung. Seine Schrift An die Burgmeister und Ratherren allerlei Städte in deutschen Landen (1524), mit der sich Luther gegen die Effekte von Andreas Karlstadts bildungsfeindlichem Reformprogramm und die Schließung zahlreicher Kloster- und Kirchenschulen in den Anfangsjahren der Reformation abgrenzte, belegt den humanistischen Impetus von Luthers Bildungsidee: Schulische Bildung soll neben Sprach- und Grammatikunterricht auch Kenntnisse in Poesie, Geschichte, Musik und Mathematik vermitteln.⁶⁸ Zentrale Texte und Auslegungstraditionen der mittelalterlichen scholastischen Tradition sind, so Luther, nicht nur theologisch bedenklich, sondern auch der Grund dafür, „dass damit die lateinische Sprache zu Boden ist gangen“.⁶⁹ Die Stadtschulen, die Luther in seiner Schrift an die Bürgermeister und Ratsherren vor Augen schweben, sollen von beiden Geschlechtern besucht werden. Sechs Jahre später entwickelt Luther in der Schrift Eine Predigt, dass man Kinder zur Schulen halten solle ⁷⁰ sodann „den Gedanken einer allgemeinen Schulpflicht.“⁷¹ Seit den späten 1520er Jahren entstanden evangelische Schulen in zahlreichen Städten, z. B. in Magdeburg, Nürnberg, Eisleben, Ulm, Memmingen, Hamburg, Lübeck und Braunschweig. Federführend bei der Organisation der Schulen waren anfangs die Wittenberger Reformatoren Philipp Melanchthon und Johannes Bugenhagen mit ihren kirchenordnenden Einsätzen für verschiedene Territorien im Reich. Melanchthons im
WA 6,461. Ebd. Martin Luther, An die Ratsherren aller Städte Deutsches Lands, dass sie Christliche Schulen aufrichten und halten sollen (1524), WA 15,27– 53, hier insbes. 46. Ebd., 50. Martin Luther, Eine Predigt, dass man Kinder zur Schulen halten solle, WA 30/2,517– 588. Albrecht Beutel, „Kommentar“, in: Ders., (Hg.), Martin Luther, Kirche und Schule: Schriften III, 299 – 382, hier: 333.
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16. Jahrhundert viel rezipierter Unterricht der Visitatoren an die Pfarrherren (1528),⁷² also die kursächsische Kirchenordnung,⁷³ die auch ein Kapitel zu den Schulen beinhaltet, „[behandelt] schon sehr konkrete organisatorische Fragen […], so etwa die Dreiteilung der Schülerschaft je nach dem Stand der Kenntnisse: in die Schüler, die erst das Lesen lernen, in diejenigen, die sich schon mit der Grammatik beschäftigen, und schließlich in die Fortgeschrittenen, die sich mit der zusammenhängenden Lektüre insbesondere antiker Schriften befassen.“⁷⁴ Melanchthon empfahl darüber hinaus zahlreiche begabte Studenten der Leucorea als Lehrmeister weiter.⁷⁵ In den Kirchen- und Schulordnungen der Reformation ist die obrigkeitliche Verantwortung für die Ausbildung mit den religiösen Interessen der Reformatoren verschränkt. Die seit den 1540er Jahren im albertinischen Sachsen gegründeten Fürstenschulen in Schulpforta, Meißen und Grimma erhielten ebenso überregionale Vorbildfunktion wie das von Johannes Sturm 1537 in Straßburg gegründete Gymnasium.⁷⁶ Sturm orientierte sich an den pädagogischen und didaktischen Ideen Melanchthons. Im Jahre 1566 verlieh Kaiser Maximilian II. dem Straßburger Gymnasium das Akademieprivileg, und damit das Recht zur Durchführung von Promotionen.⁷⁷ In den reformierten Gebieten des Reiches, die aus religionspolitischen Gründen (der Augsburger Religionsfrieden umfasste nur Katholiken und Angehörige der Confessio Augustana) kein Privileg für eine Universitätsgründung erhalten konnten, wurde dem Straßburger Vorbild gefolgt. U. a. in Bremen, Zerbst, Hanau und Duisburg wurden akademische Gymnasien (auch Gymnasium illustre genannt), gegründet. Außerhalb des Heiligen Römischen Reiches wie im lutherischen Schweden werden ebenfalls sukzessive akademische Gymnasien gegründet, allerdings in diesem Fall mit einer chronologischen Verschiebung von mehreren Jahrzehnten. Zahlreiche Gymnasien führen allerdings mittelalterliche Schulen weiter, das Duisburger Gymnasium etwa eine 1280 gegründete Lateinschule;⁷⁸ im schwedischen Reich knüpften die Gymnasien in den Bistumsstädten an die mittelalterlichen Domschulen als Vorgänger an. Aus den Gymnasien gingen ihrerseits immer wieder Volluniversitäten hervor, in Straßburg im Jahre 1621 oder 1640 im finnischen Åbo (finn. Turku), als das nur zwölf Jahre zuvor fundierte Gymnasium in eine
Philipp Melanchthon, Vnterricht der Visitatorn an die Pfarhern ym Kurfurstenthum zu Sachssen, Wittenberg: Nickel Schirlentz, 1528 [= VD16 M2600]. Heinz Scheible, „Die Reform von Schule und Universität“, in: Ders., Aufsätze zu Melanchthon, Tübingen, 2010, 152– 172, hier: 162. Horst F. Rupp, „Schule/Schulwesen“, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 15, Berlin/New York, 1999, 591– 627, hier: 599. Heinz Scheible und Christiane Mundhenk, Melanchthons Briefwechsel: Regesten, Bd. 1– 14; Texte, Bd. 1– 17, Stuttgart-Bad Cannstatt, 1977– 2016, passim. Notker Hammerstein, „Die historische und bildungsgeschichtliche Physiognomie des konfessionellen Zeitalters“, in: Hammerstein (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte 57– 102, hier: 68 – 69. Anton Schindling, Humanistische Hochschule und freie Reichsstadt – Gymnasium und Akademie in Straßburg 1538 bis 1621, Wiesbaden, 1977. Werner Hesse, Beiträge zur Geschichte der früheren Universität in Duisburg, Duisburg, 1879, 6 – 7.
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Universitätsgründung mündete.⁷⁹ Gelehrtenschulen wie Fürstenschulen, Gymnasien oder auch andere Formen von Lateinschulen wie die Württemberger fünfklassigen Pädagogien in Tübingen und Stuttgart⁸⁰ oder die flächendeckend über das gesamte dänische Reich verteilten etwa einhundert Lateinschulen⁸¹ waren in erster Linie Ausbildungs- und Rekrutierungsstätten für den akademischen Nachwuchs, insbesondere Theologen und Anwärter auf andere „öffentliche Tätigkeiten, [darunter] „Schreiber-, Verwaltungs- und Rechnungsämter.“⁸² Das höhere Schulwesen, Gelehrten- bzw. Lateinschulen waren als für öffentliche Dienste oder weiterführende akademische Studien selbstverständlich nur Kindern männlichen Geschlechts vorenthalten. Zahlreiche evangelische Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts stipulieren jedoch ausdrücklich, dass an den niederen deutschen Schulen auch Mädchen zu unterrichten seien bzw. gesonderte deutsche Schulen für „Töchter“, „Mädchen“ oder „Jungfrauen“ etabliert werden sollen.⁸³ Andere Kirchenordnungen sprechen generell von deutschen bzw. niederen o. ä. Schulen für „Kinder“ bzw. für die „Jugend“, was den Schluss nahelegt, dass deren Regelungen der schulischen Bildung für Angehörige beider Geschlechter Gültigkeit haben.⁸⁴ Johannes Bugenhagens Braunschweiger Kirchenordnung von 1543⁸⁵ illustriert das auch in anderen Zusammenhängen festzustellende Interesse des Wittenberger Reformators, „die Rechte von Frauen emanzipatorisch zu heben“, er formuliert hier ein „geschlossenes, zudem theologisch untermauertes Konzept der Mädchenbildung.“⁸⁶ Bugenhagen
Timo Joutsivo, „Papeiksi ja virkamiehiksi“, in: Jussi Hanska und Kirsi Vainio-Korhonen (Hg.), Huoneentaulun maailma: Kasvatus ja koulutus Suomessa keskiajalta 1860-luvulle, Helsinki, 2010, 112– 183, hier: 13 – 134. Sabine Holtz, Bildung und Herrschaft. Zur Verwissenschaftlichung politischer Führungsschichten im 17. Jahrhundert, Leinfelden-Echterdingen, 2002, 275. Charlotte Appel und Morten Fink-Jensen, Dansk skolehistorie: Da læreren holdt skole. Tiden før 1780, Aarhus, 2013, 49 – 51. Hammerstein, „Die historische und bildungsgeschichtliche Physiognomie“, 69. Aus dem äußerst umfassenden Schatz der Evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts können hier nur einige Beispiele angeführt werden, z. B.: „Zuchtordnung“ [Ravensburg, 1546], in: Gottfried Seebaß und Eike Wolgast (Red.), Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts [= EKO], Bd. 17: Baden Württemberg IV, Tübingen, 2009, 476 – 494, hier: 491– 492; „Artikel zum Kirchenund Schulwesen“ [Esslingen, 1538], in: Seebaß und Wolgast, EKO, Bd. 17, 392– 393. „Gutachten des Leutpriesters und der Prädikanten zu den ihnen vorgelegten Basler und Strassburger Ordnungen“ [Strassburg, 1526], in: Eike Wolgast (Hg.), EKO, Bd. 20, Elsass, 1. Teilband, Straßburg. Bearb. von Gerald Dörner, Tübingen, 2011, 213 – 217, hier: 215. „Kirchenordnung Kaspar Löners 1544“ [Nördlingen], in: Emil Sehling (Hg.), Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, Bd. 12, Bayern: Schwaben, Tübingen, 1963, 310 – 316, hier: 314. „Kirchenordnung von 1579“ [Nördlingen], in: Sehling (Hg.), Die evangelischen Kirchenordnungen, 335 – 393, hier: 341– 342. „Braunschweig-Wolfenbütteler Kirchenordnung 1543 / Christelike kerken-ordeninge im lande Brunschwig, Wulfenbüttels deles“ [Wittenberg, 1543], in: Rudolf Smend und Ernst Wolf (Hg.), EKO, Bd. 6, Niedersachsen, 1. Teilband, Die welfischen Lande, 22– 81. Tim Lorentzen, Johannes Bugenhagen als Reformator der öffentlichen Fürsorge, Tübingen, 2008, 404.
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empfiehlt nämlich in seinen Ausführungen zur „junkfrauenscholen“, dass Mädchen neben dem Lesen und Memorieren der üblichen Literatur wie geistlichen Liedern, Katechismen und dem deutschen Psalter nach Möglichkeit auch Schreiben lernen sollten. Für den häuslichen Bereich seien die Mütter für die Unterweisung der Töchter zuständig. Bugenhagen begründet die Bildung der Mädchen mit Spr 31,30 („Lieblich und schön sein ist nichts; ein Weib, das den Herrn fürchtet, soll man loben.“) zudem bibeltheologisch.⁸⁷ Neben Luthers Schriften zur Schule illustrieren die kirchen- und schulordnenden Texte der Reformationszeit den Umstand, dass die Reformatoren davon ausgingen, dass prinzipiell alle Kinder Zugang zu Schule haben sollten. Bildungsgedanke und Schriftverständnis, insbesondere die eigene Lektüre biblischer oder religiöser Texte sind im Denken der Reformation untrennbar miteinander verbunden. Bugenhagens Kirchenordnungen – nicht nur seine Braunschweiger – können auch als Beispiel dafür dienen, dass Bildung und Schulgang nicht von der sozialen Stellung der Eltern bzw. dem Einkommen der Eltern abhängen sollten, sondern sich an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Familie orientieren oder aber – gerade bei dem Besuch weiterführender Schulen – nach der Begabung der Kinder richten sollten. Schulgelder sollen daher sozial gestaffelt erhoben werden, für die Bedürftigsten Freiplätze zur Verfügung stehen.⁸⁸ Obwohl Martin Luther und die anderen Akteure der Reformation programmatisch die schulische Bildung forderten und organisch mit einem theologischen Überbau rechtfertigten, wurden auch in katholischen Gebieten – teils schon um 1530, vor den jesuitischen Bildungsreformen – Ansätze zur Neuordnung von Schule und Unterricht sichtbar. Man nutzte für Schulreformen ebenfalls „[d]ie gegenüber dem spätmittelalterlichen Kirchenregiment ‚modernen‘ Instrumente landesherrlicher Kirchenpolitik, nämlich Visitation und Kirchenordnung, wie ferner die staatliche Verordnungstätigkeit“,⁸⁹ wenngleich durch einen anderen theologischen Rahmen begründet. Dennoch: In dem Bemühen, Bildungsstrukturen und -inhalte zu reformieren folgen die verschiedenen Konfessionen einem zeittypischen Trend.
3.2 Schulwirklichkeit Selbstverständlich zeigen normative Quellen wie Kirchen- und Schulordnungen oder programmatische Schriften der Reformatoren nur eine Seite der Münze, die zudem durch wissenschaftliche Moden, nicht zuletzt eine kirchenhistorische Forschung im
Ebd., 404– 407. Ebd., 389 – 399. Johannes Kistenich, „Forschungsprobleme zum katholischen Schulwesen im Alten Reich zwischen Reformation und Aufklärung (ca. 1530 – 1750)“, in: Heinz Schilling und Stefan Ehrenpreis (Hg.), Erziehung und Schulwesen zwischen Konfessionalisierung und Säkularisierung. Forschungsperspektiven, europäische Fallbeispiele und Hilfsmittel, Münster, 2003, 101– 128, hier: 104.
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Geiste der Lutherrenaissance, überbetont wurde. Folglich erfuhr der faktische Ertrag für die Bildungsgeschichte eine Überbetonung. Die Schulwirklichkeit weist oft markante Differenzen zu dem in Schul- und Kirchenordnungen formulierten Anspruch auf, die gesamte Bevölkerung bildungstechnisch erreichen zu wollen. Darauf haben amerikanische Historiker schon vor mehr als einem Vierteljahrhundert u. a. durch Auswertung serieller Quellen „von unten“ verwiesen: In ländlichen, evangelischen Gebieten sind Bildungschancen und –erfolge weitaus geringer zu veranschlagen als normative Quellen dies zunächst nahezulegen scheinen.⁹⁰ Von einem raschen und durchschlagenden Erfolg evangelischer Bildungsprogramme kann also nur ansatzweise gesprochen werden. Konfessionelle Vorlieben – in diesem Fall meist katholisch orientierter (Kirchen‐)Historiker – haben deshalb am anderen Ende der Skala ein negativ konnotiertes Bild evangelischer Bildungserfolge gezeichnet: Die Reformation habe – z. B. in Skandinavien – ein funktionierendes spätmittelalterliches Bildungswesen zerstört und sei daher als kulturfeindlich zu bewerten. Die Schließung von Nonnenklöstern habe die Bildungschancen von Frauen erheblich reduziert. Diese Wertungen evangelischer Bildungsansätze halten den Fakten freilich nicht stand. In Schweden war die akademische Bildung schon vor der Reformation in einer Krise; bezüglich der Bildung von Frauen, u. a. der Lese- und Schreibfähigkeit, lassen sich nach der Reformation keine signifikanten Unterschiede zwischen protestantischen und katholischen Gebieten nachweisen.⁹¹ Eine monokausale Herleitung des nach der Reformation gesteigerten Interesses für Ausbildung durch die reformatorischen Bildungsbemühungen verkennt, dass bereits der Humanismus, in Verbindung mit dem Stadtbürgertum und den nach Kompetenz dürstenden frühneuzeitlichen Staatenwesen, am Vorabend der Reformation begonnen hatte, wichtige Weichenstellungen vorzunehmen. Zweifellos waren es gerade die von Luther in Gang gesetzte Reformation und ihre lokalen, regionalen oder nationalen Phänotypen, die den Ruf nach theologischer Neubestimmung und kirchlichen Reformen mit einem breit gefächerten Bildungsprogramm verbunden hatten. Die Antwort der römischen Kirche war zunächst teils reaktionär, teils reaktiv und wurde erst sukzessive in den Jahrzehnten nach dem Thesenanschlag proaktiv – hier ist in diesem Zusammenhang auf die jesuitische Bildungsreform zu verweisen. Die durch die Reformation hervorgerufene konfessionelle Konkurrenzsituation wirkte sich somit generell positiv, und relativ unabhängig von der Konfessionszugehörigkeit eines Territoriums, auf die Bildungschancen der Bevölkerung aus – auch wenn, wie bereits
Susan C. Karant-Nunn, „The Reality of Early Lutheran Education. The Electoral District of Saxony – a Case Study“, in: Lutherjahrbuch 57 (1990), 128 – 146; Gerald Strauss, Luther’s house of Learning. Indoctrination of the Young in the German Reformation, Baltimore, 1978; James Kittelson, „Successes and failures in the German Reformation. The Report from Strasbourg“, in: ARG 73, 1982, 153 – 175. Anne Conrad, Bildungschancen für Frauen und Mädchen im interkonfessionellen Vergleich, in: ARG 95, 2004, 283 – 300; Charlotte Methuen, „‚And your daughters shall prophesy!‘ Luther, Reforming Women and the Construction of Authority“, in: ARG 104, 2013, 82– 109.
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oben angemerkt, die Bildungswirklichkeit häufig weit hinter den Ansprüchen zurückblieb.
4 Buchdruck und Volkssprachlichkeit Johannes Gutenbergs Erfindung, mit beweglichen Lettern zu drucken, bedeutete einen Quantensprung für die Vervielfältigung von Texten; der Zugang zum geschriebenen Wort war daher schon in den Jahrzehnten vor der Reformation sukzessive erleichtert und verbilligt, cum grano salis also „demokratisiert“ worden. Die causa lutheri zeitigte ein beispielloses Echo im öffentlichen Raum. Nicht nur zwischen den gebildeten Vertretern der frühneuzeitlichen res publica litteraria, sondern auch im öffentlichen Diskurs nehmen Druckwerke eine prominente Stellung ein. Polemische, satirische und volksbildende Texte verbreiten sich millionenfach im Heiligen Römischen Reich und in weiten Teilen Europas.⁹² Nur wenige Seiten umfassende Drucke oder Flugblätter und Einblattdrucke erreichen den gemeinen Mann, zumal das Gros dieser Schriften in Volkssprache veröffentlicht wird. Die Reformation befördert – mit Ausnahme der bereits etablierten Schriftsprachen, wie des Italienischen, Französischen, Deutschen oder Englischen – vielerorts im Norden und Osten Europas die Entstehung neuer Schriftsprachen.⁹³ Dieser Prozess beginnt frühzeitig in den Jahrzehnten bis 1550 und reicht bis in das 18. Jahrhundert. Es sind meist Bibelübersetzungen oder religiöse Texte wie Katechismen und Kirchenlieder, die den Beginn einer neuen Schriftsprache markieren. Auch wenn zu Beginn des 16. Jahrhunderts vermutlich nur ein geringer Prozentsatz der Bevölkerung des Lesens kundig ist, erreichen insbesondere Texte für den kirchlichen Gebrauch wie Katechismen, Gesangbücher oder Fibeln die absolute Mehrheit der Bevölkerung. Gedruckte Texte werden durch Vorlesen im privaten, halböffentlichen oder öffentlichen Raum an illiterate Schichten weitergegeben; das Kirchenlied, das durch die Reformation nachhaltige Impulse erhält, hat zudem durch den Konnex von Wort und Melodie mnemotechnische Vorteile, die eine Weitergabe von Mund zu Mund erleichtern.⁹⁴ Bereits während des 15. Jahrhunderts war der Alphabetisierungsgrad der Bevölkerung sukzessive gestiegen; die Reformation dockte damit an eine bereits bestehende Entwicklung an,⁹⁵ „[schuf aber] einen zusätzlichen
S. hierzu u. a.: Hans-Jörg Künast: „Getruckt zu Augspurg“. Buchdruck und Buchhandel in Augsburg zwischen 1468 und 1555, Tübingen, 1997. Klaus Bochmann, „Die Reformation und die Entstehung neuer Schriftsprachen in Europa“, in: Armin Kohnle et al. (Hg.), Die Reformation. Fürsten – Höfe – Räume [Arbeitstitel/Tagungsband, Sächsische Akademie der Wissenschaften], Leipzig 2017 [im Erscheinen]. Marcel Nieden, „Die Wittenberger Reformation als Medienereignis“, in: Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG) (Hg.), Europäische Geschichte Online (EGO), Mainz, 2012. URL:http://www. ieg-ego.eu/niedenm-2012-de URN: urn:nbn:de:0159 – 2012042305 [Zugriff am 31.10. 2016]. Vgl. hierzu u. a.: Anne Jacobson Schutte, „Printing, Piety and the People in Italy: The First Thirty Years“, in: ARG 71, 1980, 5 – 36.
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Anreiz – [Lesen] um der Seligkeit willen“.⁹⁶ Die Betonung des Gotteswortes durch die Reformation – allen voran durch Martin Luther selbst! – lässt sich nicht nur an der Bedeutung der Predigt für die reformatorische Lehre ablesen, sondern auch am Verhältnis zum gedruckten Buch. Alte Bücher – gedruckt oder handgeschrieben – werden teils ausgesondert oder zerstört,⁹⁷ teils im reformatorischen Deutungsrahmen weiter tradiert und genutzt; vor allem aber nutzt die Reformation die Druckpresse weitaus effektiver und kreativer als die altgläubige Seite.⁹⁸ Intellektualisierung, Traditionsbildung und die Etablierung eines evangelischen kollektiven Gedächtnisses fließen in reformatorischen Druckerzeugnissen, Leseerfahrungen und in neu entstandenen evangelischen Privat-, Schul- oder Kirchenbibliotheken ineinander.⁹⁹ Im Unterschied zur Konfessionskultur des tridentinischen Katholizismus, der eher aktions-, riten- und mysteriumsorientiert ist, sind Luthertum und reformierte Kirche insbesondere auf das Gotteswort und dessen Vermittlung in der Predigt und auf dem Papier konzentriert. Auch wenn konfessionelle Unterschiede in Bezug auf Bildungs- und Alphabetisierungsgrad der Bevölkerung – insbesondere im mehrkonfessionellen Heiligen Römischen Reich – oftmals nur schwer auszumachen sind, so ist es dennoch bezeichnend, dass z. B. das evangelische Schweden trotz markanter regionaler Unterschiede um 1700 einen im europäischen Vergleich – geschlechterübergreifend! –beispiellos hohen Literarisierungsgrad der Menschen in den Städten und auf dem Land aufweist: Sozialdisziplinierende Maßnahmen des frühneuzeitlichen Konfessionsstaates hatten die Lektüre grundlegender religiöser Texte, insbesondere von Luthers kleinem Katechismus, zu einer der wichtigsten Christen- und Bürgerpflichten erklärt.¹⁰⁰
Thomas Kaufmann, Das Ende der Reformation. Magdeburgs „Herrgotts Kanzlei“ (1548 – 1551/2), Tübingen, 2003, 66. Vgl. Rudolf Endres, „Die Verbreitung der Schreib- und Lesefähigkeit zur Zeit der Reformation“, in: Harald Dickerhof (Hg.), Festgabe Heinz Hürten zum 60. Geburtstag, Frankfurt am Main u. a., 1988, 213 – 223. Marc Mudrak, „Zensiert und zerrissen: Alte Bücher und religiöse Differenzierung in Zürich und Biberach, 1520 – 1532“, in: ARG 106, 2015, 39 – 66; Joachim Ott, „Buchdruck, Polemik und Zensur um 1560. Eine Bücherliste des Jenaer Bibliothekars Martin Bott“, in: Enno Bünz, Thomas Fuchs und Stephan Rhein (Hg.), Buch und Reformation. Beiträge zu einer Buch- und Bibliotheksgeschichte Mitteldeutschlands im 16. Jahrhundert, Leipzig, 2014, 241– 276. Andrew Pettegree, Brand Luther. 1517, Printing, and the Making of the Reformation, New York, 2015. Thomas Fuchs, „Prolegomena zu einer evangelischen Theologie der Bibliothek. Die Gründung der Kirchenbibliothek von St. Nicolai in Leipzig“, in: Bünz, Fuchs und Rhein (Hg.), Buch und Reformation, 287– 304, hier: 288 – 290. Knut Tveit, „Schulische Erziehung in Nordeuropa 1750 – 1825 – Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden“, in: Wolfgang Schmale und Nan L. Dodde (Hg.), Revolution des Wissens? Europa und seine Schulen im Zeitalter der Aufklärung – Ein Handbuch zur europäischen Schulgeschichte, Bochum, 1991, 49 – 95, hier: 75 – 76; Egil Johansson, „Kyrkan och undervisningen“, in: Ingun Montgomery, Sveriges kyrkohistoria: Enhetskyrkans tid, Stockholm, 2002, 248 – 258.
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5 Häusliche Erziehung und Familie Auch wenn eine Scheidung in „öffentlich“ und „privat“ während des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit tendenziell anachronistisch ist, gehört die akademische und schulische Bildung selbstverständlich eher in die öffentliche, obrigkeitlich organisierte Sphäre. Der wichtigste Ort für religiöse Bildung ist jedoch die Familie oder vielmehr die frühneuzeitliche oeconomia, also der Haushalt, der weder mit einer Kernfamilie noch mit allein durch Blutsverwandtschaft verbundenen Personen identisch ist, sondern u. a. Dienstboten, Lehrlinge und Gesellen umfasste. Die von Martin Luther dem Kleinen Katechismus (1529) beigefügte Haustafel ¹⁰¹ beschreibt zeitgemäß die Ordnung der Gesellschaft und des Haushaltes bzw. der Familie und erlegt zudem dem Hausvater und den Eltern die Verantwortung für die christliche Lebensführung, religiöse Bildung und die Verwirklichung christlicher Nächstenliebe auf.¹⁰² Auch wenn der Beitrag der Reformation für die Bildungsgeschichte des Reformationsjahrhunderts und der Frühen Neuzeit traditionell in erster Linie – wie auch hier geschehen – an den Formen der institutionalisierten akademischen und schulischen Bildung festgemacht wird, so darf nicht vergessen werden, dass die kleinen Leute über Jahrhunderte hinweg die ersten und womöglich bedeutendsten Bildungserfahrungen in der frühneuzeitlichen oeconomia mit katechetischen Texten, insbesondere Martin Luthers Katechismen oder von diesem Werk nachhaltig beeinflussten Texten, sammelten. Die häusliche Bildung ist dabei immer wechselseitig auf den öffentlichen Bereich bezogen: Sie interagiert mit dem gottesdienstlichen Leben. Auf Haustafel- und Katechismuspredigten von Martin Luther und anderen sei hier nur am Rand verwiesen. Sie wird obrigkeitlich gefordert, gefördert und durch sozialdisziplinierende Maßnahmen überwacht. Durch sie wird das Individuum zu einem vollwertigen Mitglied der Christengemeinde und des frühneuzeitlichen konfessionalisierten Staates. Zugleich schafft die häusliche religiöse Bildung konfessionell bewusste Individuen und einheitliche Konfessionskulturen; sie birgt zudem ein zumindest religiöses Modernisierungs- und Kritikpotential, das u. a. auf Pietismus und Aufklärung wirkt. Sie beeinflusst dadurch auch die Dekonstruktion religiöser Diskurse in Moderne und Postmoderne.¹⁰³
Martin Luther, Kleiner Katechismus, WA 30,239 – 425 [Haustafel, 326 – 339]. Albrecht Peters, Kommentar zu Luthers Katechismen, Bd. 5, Göttingen, 1994, 95 – 118; Julius Hoffmann, Die Hausväterliteratur und die Predigten über den christlichen Hausstand. Lehre vom Haus und Bildung für das häusliche Leben im 16., 17. und 18. Jahrhundert, Weinheim, 1959. Vgl. auch zu diesem Abschnitt: Kaspar von Greyerz, Passagen und Stationen. Lebensstufen zwischen Mittelalter und Moderne, Göttingen, 2010, passim.
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Luther in Film und Fernsehen 1 Einleitung In keinem anderen Medium kann der Wandel des populären Bildes von Martin Luther so deutlich nachverfolgt werden als im Film. Dieses Massenmedium zeigt, wie die wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Reformator – ob nun theologisch, historisch oder psychologisch – und die Interpretation der Reformation als Ganzes im Laufe des letzten Jahrhunderts popularisiert wurden. Darüber hinaus ist das Bild des Reformators im Film Bestandteil einer spezifisch lutherischen Umgangs mit den bildenden Künste.¹ Filme über Luther sind in erster Linie ein deutsches und ein angloamerikanisches Phänomen. Es gibt nur zwei Ausnahmen: Frère Martin (1981) und Martin Luther: Heretic (1983) wurden für das französische bzw. britische Fernsehen produziert. Der letzgenannte Film war dabei eine Koproduktion mit einem US-amerikanischen Produzenten, der für eine Ausstrahlung in den Vereinigten Staaten sorgte. Obwohl das Luthertum in Nordeuropa immer noch eine vorherrschende Stellung besitzt, gibt es keinen einzigen skandinavischen Film über den deutschen Reformator. Dies hat verschiedene Gründe: Zum einen hat Luther in den skandinavischen Ländern nicht den gleichen „Kultstatus“; dort werden andere Reformatoren oder Protagonisten der Glaubenskriege, v. a. König Gustav Adolf II. von Schweden, verehrt. Zum anderen gibt und gab es in Skandinavien keine Filmindustrie beziehungsweise Filmförderung, die ein derart teures Genre wie einen Historienfilm finanzieren könnte. Die Geschichte Luthers als Filmfigur begann im frühen 20. Jahrhundert in Deutschland und war immer eng mit diesem Land verbunden. Die Analyse aller Filme zeigt jedoch, dass die Darstellung des Protagonisten Veränderungen unterworfen war.²
Übersetzung: Stefan Selbmann und Esther Wipfler. Dieser Beitrag fasst Ergebnisse meines Buches Martin Luther in Motion Pictures. History of a Metamorphosis, Göttingen, 2011, zusammen und überschneidet sich teilweise mit meinem Vortrag „ ‚Here I stand I can do no other …‘ Diverging Visions of Martin Luther in German and American Biopics“ auf der Konferenz Reformation on the Screen 2015 in Wittenberg, der 2017 mit den anderen Tagungsbeiträgen veröffentlicht werden soll. Dazu Th. Kaufmann, „Die Bilderfrage im frühneuzeitlichen Luthertum“, in: P. Blickle et al. (Hg.), Macht und Ohnmacht der Bilder. Reformatorischer Bildersturm im Kontext der europäischen Geschichte, München, 2002, 407– 451; E. Wipfler, „Götzenbild oder Adiaphoron – Positionen protestantischen Bildverständnisses“, in: M. Stößl (Hg.), Verbotene Bilder. Heiligenfiguren aus Russland, München, 2006, 41– 48. Dazu genauer Wipfler, Martin Luther in Motion Pictures. https://doi.org/9783110498745-063
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2 Kino Verfolgt man die Entwicklung des Genres „Lutherfilm“, das 1911 aus der sog. Lutherrenaissance hervorging, offenbart sich ein Paradigmenwechsel bei der Darstellung des Reformators innerhalb weniger Jahrzehnte: vom romantischen Schöngeist in dem Film Wittenberger Nachtigall (1913) zum Helden der „deutschen Reformation“ im Film von 1927. Der Grund für diesen Wandel lag nicht in der Stilisierung Luthers zum Nationalhelden. Diese fand viel früher statt: Eine gewisse Heroisierung setzte bereits im 16. Jahrhundert ein und erreichte einen ersten Höhepunkt mit der Institutionalisierung der Luthergedenkstätten in Preußen.³ Die Metamorphose Luthers als Filmfigur ist nicht nur durch den allgemeinen Wandel des Zeitgeists bedingt, sondern auch durch die Intentionen der jeweiligen Produzenten. Diese waren zunächst offenbar wirtschaftlich motiviert. Das mag auch der Grund gewesen sein, weshalb Sentimentalität in den frühen Lutherfilmen eine große Rolle spielte. Die kirchliche Einflussnahme verstärkte sich danach zunehmend. Beim letzten Stummfilm (1927) bestimmte schließlich der Evangelische Bund, welches Bild Luthers vermittelt werden sollte. Während in den deutschen Lutherfilmen bis zum Zweiten Weltkrieg dabei zunehmend das nationalistische Element betont wurde, legten die angloamerikanischen Filme seit 1953 den Schwerpunkt auf die Befreiung von mittelalterlichen Denkmustern sowie Autoritäten und betonten den Neuanfang. Diese Themen sollten die Basis für fast alle späteren filmischen Umsetzungen bilden. Es ist daher gerechtfertigt, von einer Amerikanisierung Luthers im Film zu sprechen, obwohl wichtige Merkmale des Lutherbildes sowohl in den europäischen als auch in den amerikanischen Traditionen zu finden sind. Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass die Rezeption der Lutherfilme ein Indikator für den Säkularisierungsgrad einer Gesellschaft darstellt, denn die Wirkungsgeschichte macht deutlich, ob bzw. wie stark sich die Zuschauer zu einem bestimmten Zeitpunkt mit ihrer Konfession identifizieren. Lutherfilme waren schon immer – abgesehen von einigen Ausnahmen in der Frühzeit dieses Genres – ambitionierte Unternehmen. Soweit bekannt, haben alle Auftraggeber dieser Filme mit Luther und seinen Anliegen sympathisiert. Für sie war es stets wichtig, dessen Status als Nationalmythos in Deutschland⁴ oder Kirchengründer in Amerika angemessen zu würdigen. Im Gegensatz zu anderen Medien – besonders zu den gedruckten⁵ – gab es niemals polemische Filme, die gegen den Reformator gerichtet waren.
M. Steffens, Luthergedenkstätten im 19. Jahrhundert. Memoria – Repräsentation – Denkmalpflege, Regensburg, 2008 (Rezension E. Wipfler in Kunstchronik 62 [2009], H. 5, 224– 229). H. Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin, 2009, 181– 196. Dazu E. Wipfler, „Papstesel contra Lutherischer Narr. Themen und Motive der illustrierten polemischen Druckgraphik der Reformationszeit“, in: L. Andergassen (Hg.), Luther und Tirol. Religion zwischen Reform, Ausgrenzung und Akzeptanz, Ausstellungskatalog, Schloß Tirol 2017, 142– 157.
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Die filmische Umsetzung des Lutherbildes steht am Ende einer Schrift- und Bildtradition, die in die Lebenszeit des Reformators zurückreicht. Verweise auf die damals formulierten Topoi enthalten die meisten Filme – zum Teil auch, um ihnen die Aura der Authentizität zu verleihen. Die Darstellung Luthers im Spielfilm ist dennoch – abgesehen von der äußerlichen Ähnlichkeit des Protagonisten mit den Porträts Lucas Cranachs d. Ä.⁶ – alles andere als einheitlich, nicht einmal, wenn nur seine positiven Seiten dargestellt wurden, denn die Figur war stets darauf angelegt, als sympathischer und bewundernswerter Charakter beispielhaft für ein christliches Leben zu sein. Dabei war das Hervorheben einzelner Aspekte der Persönlichkeit vom jeweiligen Drehbuchschreiber, den theologischen Beratern oder dem Zeitgeist abhängig. Luther erschien deshalb im Kino und später im Fernsehen als romantischer Liebhaber, Titan des deutschen Nationalismus, begabter Künstler und Kinderfreund, geplagt von Zweifeln, als bahnbrechender Theologe oder leidenschaftlicher Gegner geistlicher und weltlicher Machthaber wie auch von Thomas Müntzer und den Bauern. Der Charakter Luthers wurde auch nicht unerheblich von den Schauspielern bestimmt, die ihn verkörperten. Man wählte stets Darsteller, die bekannt waren, auf eine langjährige Bühnenerfahrung zurückblicken konnten und in manchen Fällen sogar den Status eines Stars besaßen. Heute sind viele Namen vergessen (Hermann Litt, Rudolf Essek, Karl Wüstenhagen, Eugen Klöpfer, Niall McGinnis, etc.), während andere wie Stacy Keach und Joseph Fiennes immer noch bekannt sind. Durch sie spricht der filmische Luther nicht nur Deutsch, sondern auch Französisch und Englisch, was die internationale Wahrnehmung des historischen Luther deutlich erweitert hat. Allerdings hatten diese Filme offenbar keinen Bekehrungseffekt. Vielmehr dienten sie eher den Angehörigen der lutherischen Kirche oder anderer protestantischer Konfessionen der Selbstvergewisserung. Fragt man nach den Bedingungen, unter denen das Genre entstanden ist, so ist der Lutherfilm tief in der bürgerlichen deutschen protestantischen Erinnerungskultur verwurzelt.⁷ Lutherjubiläen haben schon immer eine neue Beschäftigung mit dem Reformator hervorgerufen, dies betrifft auch den Film. Allerdings ging dies weit über die offiziell ausgelobten Gedenkjahre hinaus, so wurde für die Jahre 1911, 1913, 1923, 1953, 1974 und 2003 ebenfalls Filme produziert. Dass dabei Luthers Geburtsjahr den zentralen Ereignissen der Reformationsgeschichte – wie der Veröffentlichung der 95 Thesen oder dem Augsburger Bekenntnis – vorgezogen wurde, zeigt, wie sehr sich die Erinnerungskultur der lutherischen Kirche auf das Leben des Reformators konzentriert. Bereits im 16. Jahrhundert bildete sich eine eigene Lutherinszenierung heraus. Ein vielzitiertes Beispiel ist der Holzschnitt von Hans Baldung (bekannt als Baldung
Cranach hat mit seinen Porträts zweifellos die Luther-Ikonographie begründet: M.Warnke, Cranachs Luther. Entwürfe für ein Image, Frankfurt a. M., 1984; I. van Gülpen, Der deutsche Humanismus und die frühe Reformations-Propaganda. 1520 – 1526. Das Lutherporträt im Dienst der Bildpublizistik, Hildesheim u. a., 2002, 160 – 162. Steffens, Luthergedenkstätten, 15 – 25, 32– 58, 325 – 350; W. Flügel, Konfession und Jubiläum. Zur Institutionalisierung der lutherischen Gedenkkultur in Sachsen 1617 – 1830, Leipzig, 2005.
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Grien) aus dem Jahr 1521, der Luther hagiographisch als Mönch mit einem Nimbus und der Taube des Heiligen Geistes darstellt.⁸ Luther selbst hatte bereits zur Stilisierung seiner Person beigetragen: Obwohl er sich 1501 als „Martinus Ludher ex Mansfeldt“ an der Universität Erfurt eingeschrieben hatte, unterzeichnete er seinen Brief vom 31.10. 1517 an den Erzbischof von Mainz zum ersten Mal mit „Luther“, um sich damit als „Eleutherius“, als den (durch Gott) „Befreiten“, in Szene zu setzen.⁹ In den Filmen wird er durchgehend als „Luther“ angesprochen. Vor diesem Hintergrund scheint der Lutherfilm die vielzitierte These zu widerlegen, dass historische Biographien ein Krisenphänomen darstellen.¹⁰ Diese Vorstellung, dass das Biopic als ein Medium der Selbstvergewisserung in Zeiten politischer und ideologischer Unsicherheit dient, trifft nur auf den Lutherfilm aus dem Jahr 1927 zu. Die extrem nationalistische Darstellungsweise des Protagonisten in diesem Film spiegelt die Situation des Luthertums wider, das als ehemalige Staatskirche in der Weimarer Republik in eine defensive Position gedrängt war. Obwohl die Kirchen durch die Weimarer Reichsverfassung von 1919 eine privilegierte Stellung genossen, wuchs die Furcht vor Anarchie während der Revolutionszeit nach dem Ersten Weltkrieg. Diese Furcht hielt an und wurde auch auf die linksgerichteten Parteien (KPD, SPD, USPD) projiziert. Darüber hinaus wurde die weltanschauliche Neutralität der Republik als Schwächung des christlichen Glaubens verstanden. In diesem kritischen Augenblick wollte das Luthertum seinen Anspruch auf geistige Führung im politischen Sinne ausdrücken und benutzte dafür das nationalistische Vokabular. Beim Film von 1927 wird ebenso deutlich, wie das Kino dazu beitrug, den sog. „Kulturkampf“ weiterzuführen, der im späten 19. Jahrhundert vom preußischen Ministerpräsidenten und späteren Reichskanzler Otto von Bismarck (1815 – 1898) begonnen worden war, um den Einfluss der römisch-katholischen Kirche auf Erziehung, Sozialleben und Politik einzudämmen – zuerst in Preußen, dann im Kaiserreich. Obwohl sich das feierliche Gedenken an Luther zumeist am Geburtsjahr des Reformators orientierte und es den Anlass bot, seine Lebensgeschichte erneut darzustellen, beginnen die meisten Lutherfilme nicht mit seiner Geburt, sondern mit einem späteren Wendepunkt seines Lebens wie seinem Klostereintritt oder dem Ablegen der Profess. Das heißt, sie setzen mit dem Anfang seines religiösen Lebens ein. Diese Darstellung ist typisch für die traditionelle Struktur einer Filmbiographie, die oft dort beginnt, wo sich die Idee, die durch den Protagonisten verkörpert wird, zum ersten Mal zeigt.¹¹
G. Bott (Hg.), Martin Luther und die Reformation in Deutschland, Ausstellungskatalog Nürnberg, Frankfurt a.M. 1983, 222; vgl. dazu auch: H. Holsing, Luther – Gottesmann und Nationalheld: sein Image in der deutschen Historienmalerei des 19. Jahrhunderts, Dissertation, Universität zu Köln 2004; online: URL: http://kups.ub.uni-koeln.de/volltexte/2007/2132/, 19, Anm. 41. Cf. B. Möller, „Thesenanschläge“, in: J. Ott und M. Treu (Hg.), Faszination Thesenanschlag – Faktum oder Fiktion, Leipzig, 2008, 11. H. McKean Taylor, Rolle des Lebens. Die Biographie als narratives System, Marburg, 2002, 378. Vgl. ebd., 93.
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Alle Lutherfilme haben ein Repertoire an Szenen gemeinsam, die durch die illustrierten Lutherbiographien, Historiengemälde und die Theaterstücke geprägt wurde: Luthers Eintritt in das Erfurter Augustinereremitenkloster, der Thesenanschlag, das Verbrennen der päpstlichen Bannbulle vor dem Wittenberger Elstertor, der Reichstag zu Worms, Luther inkognito als Junker Jörg auf der Wartburg und der Bildersturm. Zusätzlich spielte die dramatische Szene von Luthers Gelübde, als er 1505 nahe Stotternheim in ein schweres Gewitter geriet und ausrief „Hilf du, Heilige Anna, ich will ein Mönch werden!“¹², mehr als einmal eine zentrale Rolle in diesen Darstellungen (D 1927, BRD 1983, BRD/USA 2003).¹³ Da der Lutherfilm eine Mischung aus biographischem (Biopic)¹⁴ und religiösem Film ist, müssen beide Traditionen bei seiner Betrachtung berücksichtigt werden. Als religiöse Filme präsentieren die Lutherfilme eine spezifisch lutherische Antwort auf die Jesusfilme (z. B. La passion du Christ, 1897; The Life and Passion of Jesus Christ, 1902– 05; The King of Kings, 1927). Diese folgten mehr oder weniger der traditionellen christlichen Ikonographie und wurden durch die römisch-katholische Kirche gefördert, die schon sehr früh das Potenzial dieses neuen Mediums erkannt und genutzt hatte. Sie produzierte bereits seit 1917 eigene Filme. Der Erste Evangelische Filmkongress hingegen trat erst 1931 in Deutschland zusammen. Damals war die richtige Darstellung Jesu für viele Protestanten immer noch problematisch. Es verwundert daher nicht, dass der erste protestantische Film über Jesus, The Jesus Film, eine Produktion evangelikaler Christen in den USA, in Westdeutschland erst 1979 gezeigt wurde. Die Kennzeichen der „christiformitas“ in der Darstellung Luthers sind in vielen Filmen sichtbar, nicht nur im physischen Erscheinungsbild als Asket, sondern auch in den Szenen der Lehre oder der guten Taten. Betrachtet man nun die Erzählweise der Lutherfilme, so ist bemerkenswert, dass die meisten das Leben des Protagonisten diachron zeigen. Nur ein einziges Mal, in dem Fernsehfilm von 1964, wurde dieses Muster aufgebrochen, indem Luthers Leben retrospektiv von seinem Sterbebett aus erzählt wurde. Die ganze Geschichte wird in Rückblenden wiedergegeben. Von dieser Ausnahme abgesehen, bleibt Luther in den Filmen stets die treibende Kraft der Erzählung – ein typisches Element eines traditionellen, geschlossenen biographischen Erzählsystems,¹⁵ das dem Fortschrittsglauben wie auch dem Kult des Genies verpflichtet ist.¹⁶ Luther ist dabei jedoch ein Charakter, der immer wieder neu interpretiert und definiert wird.
WA.TR 4,440. Zu den Quellen dieser Topoi, ihren Formen und den Gründen für ihren Wandel siehe detailliert: Wipfler, Martin Luther. Der Begriff ‚Biopic‘ wird seit 1951 für den biographischen Film verwendet. Biopics hatten ihre Hochzeit zwischen 1927 und 1960: G. F. Custen, Bio-Pics. How Hollywood Constructed Public History, New Brunswick, NJ, 1992; zur neuesten Entwicklung siehe: S. Nieberle, Literarhistorische Filmbiographien: Autorschaft und Literaturgeschichte im Kino. Mit einer Filmographie 1909 – 2007, Berlin, 2008. Vgl. McKean Taylor, Rolle des Lebens, 139. Vgl. ebd., 167.
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Die frühesten Lutherfilme von 1911 (Doktor Martin Luther) und 1913 (Wittenberger Nachtigall) wurden, soweit belegt, nicht durchweg positiv bewertet, so beklagte man bei dem letztgenannten die historischen Ungenauigkeiten. Dessen ungeachtet haben diese Filme einen Kanon an Szenen geschaffen, die für die filmische Ikonographie Luthers prägend wurde – auch wenn der Schwerpunkt sich mit der Zeit änderte. Das Motiv der Hochzeit Luthers beispielsweise – ein Charakteristikum der frühen Stummfilme – verschwand in späteren Filmen, bis es nach dem Zweiten Weltkrieg wiederaufgegriffen wurde, als man mehr Wert auf die menschlichen Qualitäten des religiösen Helden legte. Eine Einflussnahme seitens der lutherischen Kirche kann erst beim Film von 1923 nachgewiesen werden. Allerdings ging die Initiative für die Schaffung dieses Films 1922 – offenbar mit Blick auf die in Eisenach im folgenden Jahr abgehaltene Tagung des Lutherischen Weltkonventes – vom damaligen Dezernenten für Kunst, Sport und Fremdenverkehr der Stadt Eisenach aus, dem Freiherrn von der Heyden-Rynsch. Er wandte sich an die oberste Kirchenbehörde, die sein Vorhaben dann auch förderte und den Film schließlich durch die Evangelische Bildkammer verbreitete. Die Meinungen über diesen Film gingen auseinander. Grund hierfür waren die als schwach angesehene schauspielerische Leistung und die grundsätzlichen Zweifel, ob das Medium „Film“ dem religiösen Thema gerecht werden könnte. Die vom Evangelischen Bund initiierte Produktion von Luther: Ein Film der deutschen Reformation (1926 – 1927) war deutlich professioneller und anspruchsvoller angelegt. Dabei hatte der damalige Vorsitzende des Bundes, der Berliner Domprediger und Universitätsdozent Bruno Doehring, großen Einfluss auf das Drehbuch. Der Film diente der antikatholischen Propaganda im Sinne des Kulturkampfes. Doehring, der 1928 die Deutsche Reformationspartei gründen sollte, wollte mit dem Film eine größere Öffentlichkeit für seine politische Sache gewinnen. Die explizit antikatholische Botschaft hatte viele Facetten: Sie äußert sich in Szenen, die das luxuriöse Leben am päpstlichen Hof, Mönche mit Alkohol und Prostituierten und eine ekstatische Verehrung Mariens zeigen, um somit den von den Reformatoren angeprangerten Götzendienst zu veranschaulichen; darüber hinaus wurde die Figur des Ablasspredigers Johannes Tetzel mit einem damals berühmten Komiker besetzt. Dies führte trotz mehrfacher Zensur zu solch schweren Konflikten mit der römisch-katholischen Kirche, dass die Tradition der Lutherfilme zunächst endete. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der nächste Lutherfilm unter der Leitung und mit der Finanzierung amerikanischer Lutheraner in Westdeutschland realisiert. Der Film Martin Luther wurde 1953 in Minneapolis uraufgeführt und im folgenden Jahr in den westdeutschen Kinos gezeigt (zuerst in Hannover und dann in Nürnberg). Die Produzenten waren nicht daran interessiert, den Reformator als deutschen Nationalhelden zu präsentieren. Vielmehr begannen sie mit der Entmythologisierung Luthers, indem sie diesen vor allem als introvertierten Intellektuellen darstellten. Dafür musste zwar der Kanon der Szenen der Lutherbiographie nicht verändert werden, kritische Aspekte wurden aber nach wie vor ausgeblendet.
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Dies änderte sich mit dem in jeder Hinsicht anspruchsvollen Projekt des American Film Theatre von 1973, dessen Film Luther 1974 uraufgeführt wurde. Der Produzent Ely Landau konnte Broadway- und Hollywoodstars dafür gewinnen: Stacy Keach spielte die Hauptrolle in Luther und Judy Dench Katharina von Bora. Das Neue an diesem Film – dessen Drehbuch sonst weitgehend John Osbornes Theaterstück (1961)¹⁷ folgte – war die Idee, Luthers Leben und Werk von 1506 bis 1530 in einer gotischen Kirche zu inszenieren. 1983 wurde dieses vielschichtige Motiv, das als Metapher für die mittelalterliche Gesellschaft zu verstehen ist, von Rainer Wolffhardt aufgegriffen, als er seinen Lutherfilm in der St.-Lorenz-Kirche in Nürnberg drehte. Bemerkenswerterweise ließ der Regisseur des American Film Theatre, Guy Green, die Szene des Thesenanschlags, die Bestandteil von Osbornes Stück ist, nur erwähnen, aber nicht spielen. Vielleicht wurde sie gestrichen, da sie nicht Teil des kollektiven Gedächtnisses des britischen oder amerikanischen Publikums ist. Green inszenierte allerdings die Verbrennung der päpstlichen Bannbulle vor dem Elstertor als Ausdruck des Ungehorsams und als Protest gegen Autoritäten. Doch scheint die breite Öffentlichkeit diesen Film nicht wahrgenommen zu haben, wie das geringe Echo in den Medien zeigt. Es dauerte etwa dreißig Jahre bis Luther im Kino wieder zu seinen sentimentalen Anfänge zurückkehrte, wenn auch wohl eher unbeabsichtigt. Dieser Film wurde von dem deutschen Produzenten Alexander Thies (neue film production GmbH, Berlin) initiiert und hauptsächlich von Thrivent finanziert, einer amerikanischen lutherischen Versicherungsgenossenschaft. Der Film war an ein weltweites Kinopublikum gerichtet. In dem Interview, das für die DVD des Films von 2003 aufgenommen wurde, betonte der Regisseur Eric Till, dass frühere Darstellungen Luthers Einfühlsamkeit und Leidenschaft vermissen ließen, die man aber dem heutigen Publikum vermitteln müsse. Joseph Fiennes, der die Hauptrolle spielte, erhielt das Etikett „der schöne Luther“ noch vor der offiziellen deutschen Premiere am 31.10., dem Reformationstag – dieser Feiertag wird dann zum bevorzugten Aufführungtermin des Films im deutschen Fernsehen. Luther leidet in dem Film lange an der Welt, begleitet von Johannes Staupitz, den Bruno Ganz als fürsorgliche Vaterfigur verkörpert. Luther streitet dann mit dem päpstlichen Legaten Hieronymus Aleander, als machtgierigen Intriganten gespielt von Jonathan Firth, und Kardinal Cajetan, von Mathieu Carrière intellektuell dargestellt. Der rebellische Mönch wird schließlich beschützt von Kurfürst Friedrich dem Weisen, den die Filmlegende Peter Ustinov vordergründig harmlos, aber insgeheim listig und einfallsreich anlegte. Wie Ustinov im Interview erklärte, hatte der sächsische Kurfürst von Luther gelernt, mutig zu seinen Überzeugungen zu stehen. Von Luther könne man demnach vor allem lernen, an sich selbst zu glauben.¹⁸ In einem Interview, das auf der DVD des Films von 2003 zu sehen ist, führte er aus: „Luther was too good a Catholic to remain a Catholic. […] he was so critical of some of the habits of the clergy […] he was […] scandalized by this commercialization […] he
Siehe Wipfler, Martin Luther, 54– 56. Münchner Wochenblatt, 2003, 45, G5.
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took action against it and started the Reformation. […] It [the film] does speak of the independence of the human being to think and to think deeply.“ Joseph Fiennes erklärte die Botschaft des Films dort weiter folgendermaßen: I think it is very much about the minority and the suppressed […]. It’s about the control the Catholic Church had on the masses during that time through language and interpretation […]. You can’t keep man down and you can’t control [him …], sooner or later he will gain knowledge and through knowledge, power to be liberated in freedom of […] conscience. […] As he starts out he is an innocent man who gets driven by a clause […], an argument in the Testament which, in the interpretation of the Catholic Church, amounts more or less to a debit and credit account […]. Martin Luther very much saw […] it is a gift […], that one doesn’t need to buy […] one’s way into heaven […].
In diesem Film agiert der Reformator normalerweise allein. Das Leitmotiv ist eine Nahaufnahme seines Gesichts. Melanchthon und andere Zeitgenossen Luthers spielen nur eine marginale Rolle im reformatorischen Geschehen.
2 Fernsehen Die Darstellung Martin Luthers im Fernsehen war kein von der Entwicklung im Kino isoliertes Phänomen. Vielmehr war das Fernsehen vom Kino abhängig, besonders im Bereich des Spielfilms. Beinahe alle Nachkriegsproduktionen wurden im Fernsehen gezeigt, der erste Film war Martin Luther von 1953, der schon bald von Fernsehsendern in den USA und Kanada ausgestrahlt wurde. Neue Impulse für Produktionen, die speziell für das Fernsehen gemacht wurden, kamen vom Theater (insbesondere von John Osbornes Drama Luther) und durch eine neue These über Luthers Motivationen: Erik H. Eriksons Young man Luther (1958) machte eine psychologisierende Sicht auf Luthers Taten populär. Diese Perspektive beeinflusste die Darstellung des Reformators in Theater und Film der 1960er Jahre in einer fundamentalen Weise. Zum ersten Mal wurde dies 1964 sichtbar in der deutschen Fernsehproduktion Der arme Mann Luther nach einem Drehbuch von Leopold Ahlsen, die 1965 ausgestrahlt wurde. Der Film war als Bühnenproduktion konzipiert. Tatsächlich wurde das Stück noch 1967 im Theater aufgeführt, nachdem er bereits im ausländischen Fernsehen ausgestrahlt worden war (in Finnland, der Schweiz und den Niederlanden).¹⁹ Die minimalistische Inszenierung verleiht der historischen Thematik eine zeitlose Qualität, betont das allgemein Menschliche: Zuerst wird – ohne Bilder – Luthers Welt der Ängste unterlegt mit den dissonanten Klängen eines a cappella gesungenen „Mitten wyr ym leben sind / mit dem tod vmbfangen“. Die Kamera zeigt daraufhin Luther in seinem Priestergewand auf einer Bahre, die Augen geschlossen, in Aufsicht, dann in extremer Nahaufnahme, während ein unsichtbarer Erzähler erläutert, dass Luther 1546 in Eisleben gestorben sei – ein armer Mann, der sein ganzes F. Kraft, „Die bösen Bälge“, in: Luther als Bühnenheld, Hamburg, 1971, 82.
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Leben lang den gnädigen Gott suchte. Die Rückblenden beginnen, als Luther seine Augen öffnet und Tetzel eine Hasstirade hält. Zum ersten Mal erscheint hier Luther als passiver Charakter, auch im weiteren Verlauf des Films reagiert er häufiger, als dass er agiert. Sein externalisierter innerer Monolog vermittelt dem Zuschauer eine unmittelbare Nähe zum Protagonisten – ein Effekt, der von der Kamera unterstützt wird, die bei den Aufnahmen seines Gesichts ständig heran- und herauszoomt. Das Hauptthema von Der arme Mann Luther ist der persönliche Konflikt mit den Autoritäten. Dieser ist als Retrospektive vom Sterbebett, in traumgleichen Sequenzen inszeniert. Schließlich steht Luther alleine auf der (Welt)bühne, von allen früheren Gefährten und Anhängern verlassen: Karlstadt, Sickingen, Staupitz und Müntzer zweifeln an seinem Werk. Allein Käthe hält zu ihm. Das diabolische Alter Ego des Reformators (dargestellt von Hannes Messemer) versucht Luther (gespielt von Dieter Zeidler) noch in der Todesstunde zum Widerruf zu bringen. Doch Luther weigert sich und vertraut auf die Gnade Gottes. John Osbornes Theaterstück Luther wurde zweimal von der BBC verfilmt. Im Jahr 1965 wurde es als „play of the month“ beworben und 1968, von einem anderem Regisseur mit einer anderen Besetzung inszeniert, im Vorweihnachtsprogramm gezeigt. Die Tatsache, dass die erste Produktion vom Kritiker der Londoner Times verrissen wurde, kann erklären, warum sie abgesetzt wurde. Die zweite Produktion hingegen wurde positiv in den Medien aufgenommen und auch einmal in den USA auf ABC ausgestrahlt. Die fortwährende Popularität von Osbornes Interpretation Luthers als antiautoritärer Rebell entsprach dem Geist der Protestbewegungen jener Zeit. Der zweiteilige französische Spielfilm Frère Martin (Bruder Martin) mit Bernard Lincot als Martin Luther ist, wie schon zu Anfang betont, ein Sonderfall: Bislang gibt es keinen anderen französischen Spielfilm über den Reformator. Frère Martin wurde 1981 erstmals in Frankreich ausgestrahlt und dann in der ARD im Lutherjahr 1983 gezeigt. Der Regisseur Jean Delannoy hatte sich bereits in anderen Filmproduktionen mit dem Protestantismus auseinandergesetzt,²⁰ was vielleicht mit seiner hugenottischen Abstammung zu erklären ist. Das Drehbuch von Frere Martin basiert auf einem Skript von Alexandre Astruc (1923 – 2016) aus den 1950er Jahren.²¹ Astruc, Sohn einer deutschen Lutheranerin,²² kannte möglicherweise die Biographie Un destin – Martin Luther von Lucien Febvre (1878 – 1956), die seit 1928 in mehreren Auflagen erschienen war. Febvre analysierte die Reformation mit Blick auf ihre sozioökonomischen Bedingungen und Langzeitwirkungen, weshalb er auch Luther in seinem Kontext als
Wipfler, Martin Luther, 157, Anm. 119. „Interview mit Alexandre Astruc“, in: M. Trapmann und F. Hufen (Hg.), Martin Luther. Reformator – Ketzer – Nationalheld. Texte, Bilder, Dokumente in ARD und ZDF, Materialien zu Fernsehsendungen, München, 1983, 152– 155, hier: 152; G. Ph. Wolf, Das neuere französische Lutherbild, Wiesbaden, 1974. Siehe M. Lecoq, „Alexandre Astruc et le Dieu caché“, in: Bulletin de la Société de l’Histoire du Protestantisme Francais, Bd. 154, April-Mai-Juni 2008, 255 – 261.
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innovativen Denker ohne jede Stilisierung porträtierte.²³ Der Film basierte auf ähnlichen Ideen. Die Handlung beginnt 1507 in Erfurt und zeigt Luther als Bettelmönch, wie er von Bauern Almosen erbittet und die Ausbeutung der Armen in Frage zu stellen beginnt. Die Erzählung endet mit Luthers Rückkehr von der Wartburg nach Wittenberg 1522, wo er die Kirchen leer und religiöse Kunst zerstört vorfindet. Astruc interpretiert Luther einerseits aus der Perspektive des Philosophiehistorikers als Vorboten einer intellektuellen Emanzipationsbewegung. Andererseits sieht er ihn aus einer sozialkritischen Perspektive als jemanden, der das Feudalsystem in Frage gestellt hat. Bereits der Titel Bruder Martin scheint sich nicht nur auf Luther als Augustinermönch zu beziehen, sondern auch als Verkörperung egalitärer Prinzipien. In der ersten Szene wird der bettelnde Luther beinahe von einer Jagdgesellschaft überrannt, die damit die Exzesse des „ancien régime“ vor Augen führt. Der Umsturz der bestehenden Sozialordnung – in Astrucs Sicht ausgelöst durch Luther – fand sicherlich nicht im frühen 16. Jahrhundert statt. Dennoch gelingt es Astruc, Luther zu entmythologisieren, auch indem er ihm ein junges Paar an die Seite stellte, mit deren Denken und Handeln sich der Zuschauer identifizieren konnte. Dieses Modell eines parallelen Handlungsstrangs ‚im Volk‘ wurde 1983 in der DDR-Produktion noch ausgeweitet. In Astrucs Film werden Luthers Taten als „coup d’état spirituel“ interpretiert, der mit dem Bildersturm endet und die Parolen der Französischen Revolution vorwegnimmt: „Mort au pape et aux curés“; „Brûlons les églises, brûlons les châteaux“. Die starken Unterschiede in der Ausrichtung der Interessen der sozialen Gruppen, die am Bauernkrieg beteiligt waren, und Luthers Reformation wurden hier unterschiedslos miteinander vermischt, ohne artikuliert zu werden. Die BBC-Produktion Martin Luther, Heretic, die für das Lutherjahr 1983 unter der Regie von Norman Stone nach dem Buch von William Nicholson²⁴ entstand, konzentriert sich ebenfalls auf Luthers Leben von 1506 bis 1522. Dieses Mal wurde die Erzählung aber gänzlich auf die Perspektive des Protagonisten ausgerichtet. Jonathan Pryce, der den Titelhelden spielt, zeigt Luther dabei als den geistigen Anführer einer homogenen Massenbewegung. In diesem Film wird die Motivation des Reformators auf seine Kindheit zurückgeführt, in der er ein Mysterienspiel sah, das einen furchterregender Teufel zeigte, der die Seele eines Sünders fängt, um sie in die Hölle zu zerren. Als Erwachsener lebt er deshalb in der Angst vor dem Jüngsten Gericht: „I’ve lived my life in terror of that judgment.“ Die Ähnlichkeit dieser Szene mit jener, in der Johann Tetzel seine Ablässe anpreist, soll erklären, wie die Kirche von den Ängsten profitierte und warum Luther, als er diese Praxis kritisierte, als Häretiker verdammt wurde. Wie im Film der American-Film-Theatre-Produktion spielte Maurice Denham die Rolle des Johannes Staupitz. Er repräsentiert ein Mitglied der alten Kirche, das mit Vgl. Th. Etzemüller, Biographien: Lesen – erforschen – erzählen, Frankfurt a.M. etc., 2012, 109 – 111. Siehe auch Wolf, Lutherbild, 69 – 75 und 318 f. Der Produzent David Thompson kooperierte mit „Concordia Films“ in St. Louis, Missouri, einem auf religiöse Filme spezialisierten Unternehmen. Diese organisierte die Ausstrahlung im nordamerikanischen Fernsehen, wo die Produktion wie in Großbritannien im Jubiläumsjahr 1983 gezeigt wurde.
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seinem Schüler Martin und dessen Reformen sympathisiert, aber das alte System weder verlassen noch abschaffen will. Abgesehen von dieser Parallele und der Tatsache, dass beide Filme die dunklen Seiten der Reformation wie den Bauernkrieg und den Bildersturm auslassen, gibt es zwischen den beiden Filmen keine Ähnlichkeiten. In der schriftlichen Zusammenfassung über die Folgen der Reformation im Abspann des Films ist von 350 Millionen Protestanten weltweit die Rede. Eine ähnliche Information gibt es auch am Ende des Films von 2003, dort wird allerdings die Zahl von 540 Millionen genannt. Darüber hinaus sind aber Alter und Erscheinungsbild der Protagonisten dieser beiden Filme so ähnlich, dass man annehmen kann, dass sich Regisseur Till von diesem Film inspirieren ließ. In den beiden deutschen Staaten führte das Lutherjahr 1983 zu sehr unterschiedlichen Darstellungen des Reformators: In der DDR in Form eines fünfteiligen, mehr als sieben Stunden dauernden Historienfilms, der auch an Originalschauplätzen spielte, in der Bundesrepublik wurde ein Zweiteiler in der St.-Lorenz-Kirche in Nürnberg inszeniert. So stellte man die Geschichte Luthers in den beiden Staaten in vollkommen unterschiedliche Kontexte. Dadurch, dass Rainer Wolffhardts Film für das ZDF nach dem Drehbuch von Theodor Schübel fast ausschließlich in und vor einer mittelalterlichen Kirche gedreht wurde,²⁵ wurden Luthers Anliegen untrennbar mit dem kirchlichen Kontext verbunden. Wolffhardt, der sich, wie erwähnt, durch die Verfilmung von John Osbornes Theaterstück Luther inspirieren ließ, hatte seinen Film damit in die theologische und ikonographische Tradition gestellt, nach der das Kirchengebäude eine Metapher für die Kirche selbst darstellt.²⁶ Wie Wolffhardt 1983 erklärte, bestand die Herausforderung dieses Drehort darin, „sie [die St. Lorenz Kirche] immer vor Augen zu haben, sie aber auch ständig zu verwandeln, sie einer immerwährenden Metamorphose zu unterziehen: Von der Etablierung des mittelalterlichen Katholizismus bis zur In-Frage-Stellung all der enthaltenen Werte und der Etablierung des Protestantismus, der dann aber wiederum auch immer mehr in Frage gestellt wurde, im Zuge der Politisierung und Institutionalisierung.“²⁷ Ein Kritiker charakterisierte dies als „sinnbildhaftes Welttheater“.²⁸ Der Regisseur, der mit Bertolt Brecht an den Münchener Kammerspielen gearbeitet hatte, war überzeugt, dass Objektivität unmöglich sei. Man könnte sich der historischen Wahrheit bestenfalls nähern. Und indem man dies tue, müsse man selektiv vorgehen. Im Falle Luthers, so Wolffhardt, habe er die antisemitische Seite des Reformators ausgelassen, wofür er jede Menge
Th. Schübel, Martin Luther, München, 1983. O. Linton, „Ekklesia I (bedeutungsgeschichtlich)“, in Reallexikon für Antike und Christentum [RAC] 4, 1959, 915 f.; E. Dassmann, „Kirche II (bildersprachlich)“, in RAC 20, 2004, 967 f. und 989 – 993. R. Wolffhardt, „‚Am farb’gen Abglanz haben wir das Leben‘. Versuch über den Versuch der Versinnlichung des Stoffes“, in: Trapmann und Hufen, Reformator, 60 – 69; hier 68. Katholisches Institut für Medieninformation (Hg.), Religion im Film. Lexikon mit Kurzkritiken und Stichworten zu 2400 Kinofilmen, 3. Aufl., Köln, 1999, 343 (hier wird der Film fälschlicherweise auf das Jahr 1996 datiert).
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Kritik geerntet habe.²⁹ Lambert Hamel spielt in diesem Film den Reformator als energischen und leidenschaftlichen Prediger und Familienvater, der am Ende einsehen muss: „hätte [ich] allen Glauben, so dass ich Berge versetzte, und hätte die Liebe nicht, so wär ich nichts.“³⁰ Der Film der DDR, Martin Luther, wurde unter der Regie von Kurt Veth vom DEFA Studio für Spielfilm mit Unterstützung des Studios Barrandov in Prag produziert. Der fünfteilige Film mit Ulrich Thein in der Hauptrolle stellt das größte filmische Monument dar, das dem Reformator bislang gewidmet wurde. Die Drehbuchautoren wurden von den Mitgliedern des „Martin-Luther-Komitees der DDR“ beraten, das gegründet wurde, um die Feierlichkeiten des Luther-Jubiläums zu koordinieren. Erich Honecker, Generalsekretär der SED von 1971 bis 1989, war Vorsitzender dieses Komitees, dem Experten wie der Theologieprofessor Herbert Trebs und dem Historiker Gerhard Brendler angehörten, der 1983 zwei Bücher über seine Sicht Luthers geschrieben hatte: „Martin Luther. Theologie und Revolution. Eine marxistische Darstellung“ und „Martin Luther und die Bibel“. Nach Detlev Urban hatte „die SED offiziell das Jahr 1983 zum Karl-Marx-Jahr deklariert, aber für Martin Luther und dessen fünfhundertsten Geburtstag ist den Genossen nichts zu teuer“.³¹ Der Film war nicht nur ein äußerst aufwendiger Beitrag zum Nationalgedenken der DDR, sondern definierte auch das Verhältnis des Reformators zu Thomas Müntzer offiziell neu.³² Die Vorbereitungen für den Film begannen bereits 1978. Er wurde, soweit belegt, durchaus positiv aufgenommen. 1983 hatte er in der DDR 2,34 Millionen Zuschauer. Thein zeigte Luther als einen Kämpfer, der von Selbstzweifeln geplagt wird, mit dem Teufel ringt, aber letztlich gewinnt. Der Film wurde schon früh von Eckart Kroneberg als Teil eines neuen Umgangs mit der Figur Luther in der DDR-Geschichtsschreibung gesehen: Luther wird nicht weißgewaschen, er scheitert an seinen Grenzen. Aber er wird rehabilitiert. Der Volksverräter von damals ist heute ein frühbürgerlicher Revolutionär. Der Film unterließ es, ihm anstelle der theologischen politische Motive unterzuschieben. Das hatte er auch nicht mehr nötig. Mit diesem Film hat die DDR Luther für sich vereinnahmt – er soll Teil des nationalen Selbstbewusstseins sein.³³
So Wolffhardt im Geschichtsdidaktischen Kolloquium an der Ludwig-Maximilians-Universität München, 14.05. 2002. Vgl. 1 Kor 13,2. D. Urban, „‚Ein Genie sehr bedeutender Art‘. Bemerkungen zu einem Lutherfilm im DDR-Fernsehen“, in: Deutschland Archiv. Zeitschrift für das vereinigte Deutschland 16, 1983, H. 12, 1253 – 1255; hier: 1253. G.Vogler, „Luther oder Müntzer? Die Rolle frühneuzeitlicher Gestalten für die Identitätsfindung der DDR“, in: Hans-Joachim Gehrke (Hg.), Geschichtsbilder und Gründungsmythen, Würzburg, 2001, 417– 436. Tagesspiegel, 30.10.1983.
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Allerdings waren Luthers letzte Worte ein offensichtlich politischer Aufruf, der vor dem Hintergrund der weltweiten Aufrüstung verstanden werden muss: „So lange ich lebe, werde ich Gott anflehen: Deutschland möge niemals durch Krieg in Not geraten […].“ Parallel zum Spielfilm produzierte die DEFA im Auftrag des Fernsehsenders DDR 1 eine dreiteilige Dokumentation. Der erste Teil behandelte die Jugend Luthers (Ein Schüler aus Mansfeld. Die Jugendjahre Martin Luthers [27 Min.]), der zweite befasste sich mit seinem Exil (Der die Zeit beim Worte nahm. Martin Luther auf der Wartburg [28 Min.]); der letzte und längste Teil widmete sich den zentralen Ereignisse in Luthers Leben bis zu seinem Tod (Bürger Luther 1508 – 1546 [45 Min]). Der Dokumentarfilm wurde auch in den Kinos gezeigt und später für Schulzwecke in der DDR verwendet.³⁴ In diesem Filmformat wurde auch Luthers Klassenzugehörigkeit thematisiert und das, was Honecker als die Tragik von Luthers Leben ansah: Dass Luther nicht verhindern konnte, dass der revolutionäre Prozess, den er in Gang gebracht hatte, in einem Gemetzel endete.³⁵ Darüber hinaus produzierten die DEFA-Trickfilmstudios einen kurzen Trickfilm, Copyright by Martin Luther, der die Reformation humorvoll als Medienrevolution darstellte. Nach dem Ende der DDR produzierte Lew Hohmann einen Dokumentarfilm mit gespielten Szenen unter dem Titel Martin Luther. Ein Leben zwischen Gott und Teufel ³⁶ als Teil einer Gesamtdarstellung der Geschichte Mitteldeutschlands. Er wurde im MDR am 16.11. 2003 ausgestrahlt. Die Szenen zeigen Luther (Matthias Hummitzsch) als Tabubrecher, dessen Worte einerseits in Krieg und Tod enden, andererseits Hoffnung, Frieden und Selbstbestimmung stiften. Auf diese Weise wurde Luther zu einem „Helden wider Willen“, der ein neues Zeitalter einleitet. Der DDR-Held und Protagonist einer frühbürgerlichen Revolution wurde offensichtlich in einen postkommunistischen Helden Mitteldeutschlands verwandelt, der liberale christlichdemokratische Werte repräsentierte. Nur ein einziger Film des Jahres 1983 zeigt Martin Luther als Reaktionär: Der Spielfilm Huldrych Zwingli, Reformator über den schweizerischen Reformator Ulrich Zwingli (1484– 1531) wurde vom Kirchenrat der Evangelisch-Reformierten Landeskirche des Kantons Zürich in Auftrag gegeben, Regie führte Wilfried Bolliger. In diesem Film trifft Zwingli, gespielt von Wolfram Berger, im Marburger Religionsgespräch von 1529 auf Luther (Wolfgang Reichmann), um die Bedeutung des Abendmahls zu diskutieren. In dieser Szene verteidigt Zwingli seine Lehre, Brot und Wein seien nur von symbolischer Bedeutung, gegen den bereits etablierten Professor Luther, der in etwas arroganter Art auf der Realpräsenz Christi in Brot und Wein besteht. Dies kommentiert der Schweizer dann mit dem wenig schmeichelhaften Bild von Luther als einem Tintenfisch in seinem schwarzen Saft, den man nicht zu fassen bekommen könne. Dazu: R. Simons, „Das DDR-Fernsehen und die Luther-Ehrung“, in: H. Dähn und J. Heise (Hg.), Luther und die DDR. Der Reformator und das DDR-Fernsehen 1983, Berlin, 1996, 99 – 185. Vgl. den Bericht dieser Vorschau bei Yvonne Matthes in einem Brief an Kurt Eifert, DEFA-Dokumentarfilmstudio, vom 06.05.1982 (DRA, Standort Potsdam, HA Kultur Luther Wittenberg). Auf DVD veröffentlicht am 16.06. 2005 von Ottonia Media GmbH; Länge: 45 Minuten.
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Einen gänzlich neuen Einstieg wählte man für den Dokumentarfilm über Luther im Rahmen der ZDF-Serie Giganten im Jahr 2007. Hier bildet der Wartburgaufenthalt den Rahmen für Rückblenden auf Luthers Leben und Werk. Das Feature unter der Regie des Theologen Günther Klein zeigt die Geschichte Luthers als internen Konflikt mit dem Teufel, der in unterschiedlicher Gestalt erscheint. Nach Klein hat der Reformator nicht nur den Teufel metaphorisch mit Tinte besiegt, sondern auch das Mittelalter überwunden, indem er eine neue Kategorie in das (religiöse) Denken einführte: die Freiheit. In der Dokumentation Luther und die Nation, die im folgenden Jahr auf dem gleichen Kanal als Teil der Serie Die Deutschen zu sehen war, wurden Luthers Errungenschaften historisch kontextualisiert, indem man ihre politischen und kulturellen Langzeitwirkungen betonte wie die Herausbildung einer einheitlichen deutschen Sprache und den katalytischen Effekt der Reformation auf die Entwicklung der modernen Territorialstaaten, die die Grundlage des Föderalismus in Deutschland bilden. Aus diesem Grund verschob sich der Schwerpunkt von interpretativen Statements und gespielten Szenen deutlich zugunsten des Kommentars.
3 Fazit Nach diesem Überblick über den Wandel des Lutherbildes im Laufe der Zeit mag die Frage aufkommen, wie sich der Charakter innerhalb der filmischen Erzählung entwickelt. Für Luther heißt das: Beginnen die Filme mit einem Luther, der immer noch Katholik ist? Vermitteln sie den Eindruck, dass sich Luthers Lehren in einem graduellen Prozess entwickelt haben? Beide Fragen lassen sich verneinen. Im Stummfilm wurde der junge Luther als ‚puer senex‘ charakterisiert, der bereits alle Tugenden und Fähigkeiten besitzt, die er später als Reformator benötigen wird. Im Film von 1923 wird Luther sogar durch göttliche Vorsehung gerettet – von Christus selbst –, um seine zukünftige Mission der Befreiung zu vollenden. Luther ist stets ein Mann, der Gott sucht und mit sich selbst ringt. Er beschreitet einen selbstgewählten Weg, der allerdings auch von externen Ereignissen bestimmt wird (das Gewitter bei Stotternheim, das Verhalten des säkularen Klerus in Rom, Tetzels Ablasshandel, etc.). Die Kernthesen von Luthers Lehre erscheinen ausgelöst durch diese Ereignisse. Sie werden nicht als Frucht seiner intellektuellen Beschäftigung mit der Bibel oder der Auseinandersetzung mit den Kirchenvätern gezeigt. Daher widerspricht die filmische Darstellung dem, was wir heute über die Entwicklung von Luthers Theologie wissen. Lutherfilme bleiben einem konstant positiven Bild des Helden verhaftet. Andere einflussreiche historische Persönlichkeiten der Reformation wie Philipp Melanchthon³⁷ bleiben im Hintergrund. Dieser Fokus auf Luther befördert die überholte
Zu dieser Darstellung siehe: E. Wipfler, „‚Reformator wider Willen‘ und ‚Melanchthon-Rap‘. Der Lehrer Deutschlands in den modernen Medien – Ein Überblick mit Schwerpunkt auf dem Jubilä-
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Vorstellung, dass ‚große Männer‘ alleine die ‚Geschichte machen‘. Während der Blick auf Luther in deutschen Filmen bis 1927 das nationalistische Element deutlich betonte, legte man in den Nachkriegsfilmen die Schwerpunkte auf die Themen Emanzipation und Befreiung. Sie heben die Überwindung des ausbeuterischen Systems des Ablasshandels durch Luthers Rechtfertigungslehre hervor. Einige Aspekte haben alle Filme gemeinsam: Das Auslassen der Judenfeindschaft des späten Luther und seiner Toleranz der Bigamie Landgrafs Philipps I. von Hessen. Darüber hinaus ist bei Filmen bis in die 1960er Jahre eine mehr oder weniger offensichtliche Rechtfertigung seiner Gegnerschaft gegenüber der Sache der Bauern erkennbar. Die genannten Aspekte werden erst später oder in anderen Filmformaten wie Dokumentarfilmen thematisiert.³⁸ Seinem Familienleben wird zunehmend mehr Platz eingeräumt, angefangen mit der Filmadaption von John Osbornes Theaterstück im Jahr 1973. Luthers Krankheit in den späten Jahren, seine sechs Kinder und der Tod seiner Tochter Magdalene werden erst in den Fernsehproduktionen von 1983 erwähnt. Insgesamt wandelte sich das Bild des Reformators nach dem Zweiten Weltkrieg vom deutschen Nationalhelden zu einem Verfechter von Gedankenfreiheit und Rebellen gegen traditionelle Autoritäten. Allerdings bleibt er eine Figur der gesellschaftlichen Mitte, mit dem sich das bürgerliche Publikum identifizieren kann, denn der Reformator personifiziert auch die protestantische Kirche und ihre Werte. Deshalb ist der Luther im Kino absolut kein „anti-kirchlicher“ Charakter, wie ihn Werner Schneider-Quindeau beschrieb.³⁹ Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass die Reaktion des Publikums gegenüber Lutherfilmen ein Indikator für den Säkularisierungsgrad einer Gesellschaft ist. Zwischen 1953 und 2003 gab es einen deutliche Wechsel von einer emotional aufgeladenen Reaktion, die sich in extremer Polemik der Befürworter wie auch der Gegner des Films von 1953 ausdrückte⁴⁰ – zu durchweg moderaten Kommentaren 2003.⁴¹ Auch die Interviews auf der DVD des deutschen Films von 2003 zeigt einen signifikanten Rollenwechsel: Luthers Leben wird dort vom Schauspieler Joseph Fiennes interpretiert, während der Theologe Dr. Hans Christian Knuth, der damals Bischof der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche war, dazu degradiert wird, Luthers Kleinen Katechismus ohne weiteren Kommentar vorzulesen. Das offenbart ein Phänomen, das
umsjahr 2010“, in: St. Rhein und M. Treu (Hg.), Philipp Melanchthon. Zur populären Rezeption des Reformators, Leipzig, 2016. Beispielsweise der Dokumentarfilm Luther und die Juden (ZDF, 12.11.1983); Dazu der Drehbuchautor: Paul Karalus, „ ‚Erstlich, dass man ihre Synagoge oder Schule mit Feuer anstecke …‘“, in: Trapmann und Hufen, Martin Luther. Reformator, 223 – 240. Nur ein Dokumentarfilm mit Spielfilmelementen erwähnt Luthers Judenfeindschaft, die vom MDR in Auftrag gegebene Produktion wurde 2003 ausgestrahlt. W. Schneider-Quindeau, „Der Reformator als Leinwandheld: Lutherfilme zwischen Geschichte und Ideologie“, in: Thomas Bohrmann, Werner Veith und Stephan Zöller (Hg.), Handbuch Theologie und populärer Film, Bd. 2, Paderborn etc., 2009, 195 f. Siehe Wipfler, Martin Luther, 115 – 125. Ebd., 126 f.
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bereits 1962 Hermann Gerber beschrieben hat, nämlich „daß ein gut Teil der Verkündigung von den Theologen auf die Laien übergangen ist“⁴². Das bedeutet nicht, dass die Religion verschwindet,⁴³ sondern, dass sich der Umgang mit ihr verändert hat. Da jede Zeit ihre Helden braucht, verwundert es nicht, dass für das Reformationsjubiläum 2017 auch ein neuer Spielfilm produziert wurde. Der Film Katharina Luther, der in der ARD gezeigt wurde, stellt jedoch die Frau des Reformators in den Mittelpunkt.⁴⁴ Durch den Perspektivwechsel war es offenbar möglich, auch die Schattenseiten des Reformators zu thematisieren. Darüber hinaus zeichnet sich ein weiterer Paradigmenwechsel ab, Martin Luther wird nun offenbar stärker im Kontext seiner sozialen Beziehungen gezeigt, aus den vermeintlichen Randfiguren der Reformation werden nun Protagonisten.
H. Gerber, Problematik des Religiösen Films, München, 1962, 7. Vgl. A. J. Bergesen und A. M. Greeley, God in the Movies, New Brunswick etc., 2000, 177. Der von Mario Krebs produzierte Film unter der Regie von Julia von Heinz nach dem Drehbuch von Christian Schnalke wurde in Sachsen-Anhalt und Thüringen gedreht. Karoline Schuch spielte die Hauptrolle, Devid Striesow stellte Martin Luther dar (J. Braband, „Die starke Frau an seiner Seite. Dreharbeiten über ‚Katharina Luther‘ im Schloß Reinhardsbrunn“, in: Evangelisches Sonntagsblatt aus Bayern, 10.07. 2016, 11).
Luther weltweit
Partitur der chinesischen Übersetzung des Lobliedes “Ein feste Burg ist unser Gott”
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Von den Religionskriegen zur nachwestfälischen Welt Nach der Reformation gehört im populären Geschichtsbild zu den wohl bekanntesten historischen Ereignissen der Dreißigjährige Krieg, der seine außergewöhnliche Länge schon im Namen anzeigt. Davon lebt eine der in Wien erzählten Erzherzog-Scherzfragen. Der junge Erzherzog sollte auch etwas von der Geschichte wissen, war aber etwas begriffsstutzig. Mit Rücksicht auf seine hohe Geburt durften seine Antworten jedoch nicht als ‚falsch‘ deklariert werden, was die ganze Kunst des Lehrers erforderte. Der Lehrer: „Wie lange dauerte der Dreißigjährige Krieg?“ Der Erzherzog: „15 Jahre.“ Der Lehrer: „In gewisser Weise: ja! Denn nachts wurde ja nicht gekämpft.“ Der etwas alberne Scherz, der mehr Sinn machen würde, wenn man an die Winterlager und mehrere Friedenspausen denkt, kann daran erinnern, dass um die Bezeichnung „Dreißigjähriger Krieg“ auch in der Forschung einmal gestritten worden ist. Denn der Dreißigjährige Krieg besteht eigentlich aus einer Serie von vier Einzelkriegen, die nach den jeweiligen Gegnern des habsburgischen Kaisertums benannt sind: Böhmisch-Pfälzischer Krieg, Niedersächsisch-Dänischer Krieg, Schwedischer Krieg und Schwedisch-Französischer Krieg. Dazu kann man noch den Mantuanischen Erbfolgekrieg als einen Stellvertreterkrieg zwischen Frankreich und Habsburg in den 1620er Jahren stellen und ab 1621 die lange letzte Phase des 80jährigen niederländischen Unabhängigkeitskriegs rechnen. Der Kampf um die Ostsee begann schon viele Jahre vorher, und der Krieg zwischen Frankreich und Spanien endete erst ein Jahrzehnt später. Der amerikanische Forscher Sigfrid Henry Steinberg hat darum einmal die lange kolportierte Behauptung aufgestellt, der dramatisierende Begriff „Dreißigjähriger Krieg“ sei überhaupt erst eine willkürliche und nachträgliche Benennung rückblickender Historiker.¹ Diese Behauptung ist irrig. Zwar konnte man, solange der Krieg anhielt, noch nicht wissen, dass er dreißig Jahre dauern würde. Aber Konrad Repgen hat gezeigt, dass die Kriegsjahre von Anfang an mitgezählt und in Dutzenden von Kriegspublikationen schon in Titeln als „jetzt 5, 6, 10, 14, 20, 29 Jahre währender“ und schließlich „30jähriger Krieg“ herausgestellt wurden, also durchaus als ein einziger Krieg, und zwar als der längste Krieg überhaupt – sogar länger als der Peloponnesische Krieg, wie
S.H. Steinberg, The „Thirty Years War“ and the conflict for European hegemony 1600 – 1660 (London, 1981 [1966]), 1: „a figment of retrospective imagination“. In deutscher Übersetzung: S.H. Steinberg, Der Dreißigjährige Krieg und der Kampf um die Vorherrschaft in Europa 1600 – 1660 (Göttingen, 1967); S.H. Steinberg, „Der Dreißigjährige Krieg. Eine neue Interpretation,“ in Der Dreißigjährige Krieg, Hg. H.U. Rudolf (Darmstadt, 1977): 51– 67. https://doi.org/9783110498745-064
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die Dichter und Gelehrten wussten – erlebt wurde.² Die Einheit dieses „Krieges der Kriege“ (Burkhardt)³ – im Sinne eines aus Kriegen zusammengesetzten wie auch als ein alle anderen überbietenden – war die Einheit des Kriegsschauplatzes in Mitteleuropa, wo die europäischen Mächte aufeinandertrafen. Es war für das Reich deutscher Nation eine schreckliche Einheit. Vom Nordosten zum Südwesten zog sich quer durch Deutschland eine Zerstörungsdiagonale, und dieser klassische demographische Befund pflegt sich bei jeder statistischen Nachprüfung zu vergrößern.⁴ Die unheilige Trinität von Gewalt, Seuchen und Hunger kostete einem Drittel und mancherorts zwei Dritteln der Bevölkerung das Leben. Was mochten die Überlebenden dabei empfunden haben? Schon in der hohen Zahl der Jahre ist die traumatische Erfahrung dieser Serie von Kriegen und Feldzügen mit Epidemien und Hungerkrisen im Gefolge gespeichert, die unaufhörlich fortgingen und irgendwann fast alle deutschen Landschaften erreichten und fast zugrunde richteten. Das zivilisationsgefährdende Ausmaß dieses Krieges war schon den Zeitgenossen offenkundig. Der Krieg ist im letzten Moment zum Halten gekommen, bevor die Schädigung irreversibel und irreparabel geworden wäre. Diese Sonderstellung unter den Kriegen hat eine große Zahl von Dichtern und Historikern wie auch Publizistik und Medien immer wieder zu großen Werken und bildkräftigen Darstellungen angeregt. Ebenso wie das 500jährige Reformationsjubiläum bietet die 400jährige Wiederkehr des Kriegsbeginns von 1618 einen nochmaligen Anlass für die historische Verortung und die aktuelle Bedeutung eines außergewöhnlichen historischen Großereignisses. Neben verschiedenen Neuerscheinungen, die von Historikern vom Fach wie von medienwirksamen Publizisten verfasst wurden, wirft darüber hinaus ein bekannter Politologe sein Wort in die Waagschale. In der Verlagsankündigung wird den Lesern dieser Krieg denn auch als „der längste und blutigste Religionskrieg der Geschichte“ vorgestellt.⁵
K. Repgen, „Seit wann gibt es den Begriff ,Dreißigjähriger Krieg‘?,“ in Weltpolitik, Europagedanke, Regionalismus, FS H. Gollwitzer, Hg. H. Dollinger et al. (Münster 1982): 59 – 70; Ders., „Noch einmal zum Begriff ,Dreißigjähriger Krieg‘,“ Zeitschrift für Historische Forschung 9 (1982): 347– 352; Ders., „Über die Geschichtsschreibung des Dreißigjährigen Krieges,“ in Krieg und Politik 1618 – 1648, Hg. Ders. (München, 1988). Eingeführt in J. Burkhardt in Der Dreißigjährige Krieg, Neue Historische Bibliothek 542 (Frankfurt a. M., 1992), 15. Demnächst Ders., Der Krieg der Kriege. Eine neue Geschichte des Dreißigjährigen Krieges (Stuttgart, 2017). G. Franz, Der Dreißigjährige Krieg und das deutsche Volk (Stuttgart, 41979); W. Lengger, Leben und Sterben in Schwaben. Studien zur Bevölkerungsentwicklung und Migration zwischen Lech und Iller, Ries und Alpen im 17. Jahrhundert, 2 Bde. (Augsburg, 2002). So die Ankündigung des Rowohlt-Verlags zu: H. Münkler, Der Dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe, deutsches Trauma 1618 – 1648 (Berlin, 2017). Die Verlagsankündigung ist online zugänglich unter: https://www.rowohlt.de/hardcover/herfried-muenkler-der-dreissigjaehrige-krieg.html (03.05. 2017).
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1 Eine Zeit der Religionskriege Unter den Religionskriegen, die in der Frühen Neuzeit allein für die gewaltsame Auseinandersetzung zwischen den streitenden Religionsparteien seit der Reformation geführt wurden, erscheint der Dreißigjährige Krieg sicher als ein Höhe- und Wendepunkt einer ganzen Serie. Schon die ersten Schweizerkriege zwischen dem Zürich Ulrich Zwinglis und den nichtreformatorischen Inneren Orten wurden 1529 von beiden Seiten ausdrücklich „wegen des gloubens“ geführt. Als „Religionskriege“ gelten der Schmalkaldische Krieg Kaiser Karls V. mit den evangelischen Reichsständen und die darauffolgende Fürstenerhebung, die Reihe der französischen Bürger- und Hugenottenkriege oder „guerres de religion“ in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts sowie anfangs der niederländische Unabhängigkeitskrieg mit dem katholischen Spanien. „This war is for religion“, hieß es aber auch in England beim Untergang der spanischen Armada. Nicht zuletzt in der päpstlichen Diplomatie war „guerra di religione“ geläufig, und selbst als der Begriff im 18. Jahrhundert schon tabuisiert war, konnte es heißen, wenn man auch nicht von einem Religionskrieg sprechen dürfe, sehe es doch ganz wie einer aus: „se non può dirsi guerra di religione, ne ha almeno tutte le apparenze“. Bereits zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges stand der Begriff in den meisten europäischen Sprachen zur Verfügung, und es wurde diskutiert, ob es sich überhaupt um einen Religionskrieg handele und ob es legitim sei, „umb die wahre religion zu kriegen“, was die zitierte Schrift bejahte.⁶ In Rechnung zu stellen ist hier besonders die nicht nur persönliche, sondern „strukturelle Intoleranz“⁷ des Zeitalters.Wenn Kriegsgegner verschiedenen Religionen angehören, ist das für die Intensität der Feindbilder meist schlimm genug; noch schlimmer ist es, wenn sie ein und derselben christlichen Religion angehören, aber jede Konfession der ehrlichen Überzeugung ist, dass nur sie allein im Besitz der ganzen christlichen Wahrheit sei, während die konfessionelle Konkurrenz bösartig davon abweiche. Das war in dieser Frühzeit der Konfessionsbildung und Konfessionalisierung noch voll der Fall.⁸ Schon Martin Luther selbst war von der Wahrheit und Alleingültigkeit seiner religiösen Einsichten so tief durchdrungen, dass man ihn eher als Fundamentalisten denn als Helden der Gewissensfreiheit und einer daraus abgeleiteten Toleranz sehen kann.⁹ Er nahm die Gewissensfreiheit für sich in Anspruch,
Alle Zitate finden sich nachgewiesen in J. Burkhardt, „Religionskrieg,“ TRE 28 (1997): 681– 687. Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg, 143. Zum grundlegend von Ernst Walter Zeeden, Wolfgang Reinhard und Heinz Schilling begründeten frühneuzeitlichen Konfessionalisierungsparadigma jetzt ein umfassender Forschungsbericht von J. Burkhardt, „Das Konfessionsbildungskonzept von Ernst Walter Zeeden: Eine Erfolgsgeschichte und zwei Problemlösungen,“ in Ernst Walter Zeeden (1916 – 2011) als Historiker der Reformation, Konfessionsbildung und „Deutschen Kultur“. Relektüren eines geschichtswissenschaftlichen Vordenkers, Hg. M. Gerstmeier und A. Schindling (Münster, 2016): 59 – 88. H. Schilling, Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs. Eine Biographie (München, 22013), 627. Der Luther-Biograph Heinz Schilling verwendet den Begriff Fundamentalismus für Luther nicht, ver-
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weil er recht zu haben glaubte, und schloss alle anderen, selbst die „Sakramentierer“ in Zürich und vor allem die „Papisten“ oder gar Anhänger des in Rom sitzenden „Antichrist“ aus der Christenheit aus. Das sah die katholische Seite umgekehrt genauso und verteufelte den „Erzketzer“ von Wittenberg. So wurde es ein scheltwortreiches Jahrhundert und so ging es auch in die frühen Konfessionsbildungen ein.¹⁰ Die einen hatten das „wahre, alte Evangelium“ und schlossen alle anderen kategorisch aus, die es nicht so lehrten, die anderen gehörten der „wahren, alten Kirchenorganisation“ an und sprachen allen anderen das Existenzrecht ab. Doch selbst Religionskriege wurden nach dem Schlachtentod Zwinglis und Sonderfällen wie der Bartholomäusnacht nicht von den Reformatoren, Konfessionsbildnern und konfessionellen Großgruppen selbst geführt, sondern von den politischen Gewalten und von diesen Kriegsherren in Dienst genommenen Heeren. Es galt als Herrscherpflicht, für die wahre Religion im Inneren zu sorgen, und das konnte in unterschiedlicher Weise und Stärke über Widerstands- und Missionierungstheorien zugleich nach außen durchschlagen. Die Politiker nutzten diese konfessionelle Dynamik zur Abgrenzung und Mobilisierung, wurden von ihr aber auch unter Druck gesetzt. Die Geister, die man rief, wurde man nur schwer wieder los. Doch auch Religionskriege mussten einmal beendet und der Frieden wiederhergestellt werden. Nach dem Schweizer Vorlauf erlangten vor allem der Augsburger Religionsfrieden und das Edikt von Nantes nachhaltige Bedeutung. Auch in den Friedensschlüssen waren es nicht die Theologen, die eine friedliche Koexistenz der Religionen ermöglichten, sondern die Politiker, die sie erzwangen. Noch vor dem aus einer schiedsrichterlichen Position heraus die Französischen Religionskriege beendenden Edikt König Heinrichs IV. schlug der sogenannte Augsburger Religionsfrieden diesen politischen Weg eines Gewaltverzichts der konfessionsverschiedenen Reichsglieder ein, den sie zuvor in Passau ausgehandelt und auf dem Augsburger Reichstag als Reichsgesetz verabschiedet hatten. Die Grundregel, die Konfessionswahl den jeweiligen Landesherren zu überlassen mit Ausnahmeregelungen für die Fürstbistümer und Reichsstädte sowie einigen Sonderbestimmungen, hat Deutschland mehr als ein halbes Jahrhundert einen eher geringfügig gestörten Frieden eingebracht – bis er 1618 zerbrach. Ob dafür die Streitigkeiten über die Auslegung des Friedens zu den konfessionellen Zugehörigkeiten und Besitzrechten und ihre Auswirkungen auf die Kommunikations- und Funktionsfähigkeit der Reichsinstitutionen verantwortlich war,¹¹ ist heute fragwürdig geworden, denn keiner dieser Konfliktfälle hat direkt in
weist aber sachlich übereinstimmend darauf, dass „Pluralität und Toleranz […] nicht die Kinder, sondern allenfalls die Urenkel der Reformation waren.“ B. Jörgensen, Konfessionelle Selbst- und Fremdbezeichnungen. Zur Terminologie der Religionsparteien im 16. Jahrhundert, Colloquia Augustana 32 (Berlin, 2014), 49 – 128. An dieser klassischen Sehweise hält unter dem Eindruck südwestdeutscher Archivrecherchen und aufgefrischter Terminologie eine meinen Ansatz kritisierende Religionskriegslesart fest: A. Gotthard, „Der deutsche Konfessionskrieg seit 1619 – ein Resultat gestörter politischer Kommunikation,“ Historisches Jahrbuch 122 (2002): 141– 172. Meine Erwiderung: J. Burkhardt, „Auf der Suche nach dem
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den Krieg geführt, ja das Reichsmanagement arbeitete bereits an der Krisenbeilegung, und die Reichskreise wie auch andere Institutionen funktionierten sogar konfessionsübergreifend über den ganzen Krieg hinweg.¹² Eher kamen hier die auswärtigen Einwirkungen der päpstlich-jesuitischen Konfessionalisierungsmilitanz (früher „Gegenreformation“) einerseits mit ihren Anlaufstellen in Wien und München und andererseits der „calvinistischen Internationale“ (Heinz Schilling) mit ihren pfälzischen Außenposten ins neue Kriegsspiel. Denn das in Mitteleuropa in seiner Grundsubstanz eigentlich längst gesicherte Reichsreligionsrecht wurde von außen her von einer phasenverzögerten Konfessionalisierungsmilitanz in Frage gestellt. Und dazu kam noch etwas ganz Anderes.
2 Die mediale Remobilisierung des Religionskriegs im Dreißigjährigen Krieg und ihre Grenzen Der Dreißigjährige Krieg war sicher im Vergleich zu den genannten Kriegen in der Tat der „längste und blutigste“ Krieg, aber war seine Länge und Schwere wirklich der Religion geschuldet? So ist in der Tat die allgemeine Wahrnehmung und klassische Deutung des Krieges. Länge und Schwere der Katastrophe auf den unlösbaren Religionskonflikt zurückzuführen erscheint plausibel. Den erstaunlichsten Hinweis liefert eine erst in jüngster Zeit in ihrer Bedeutung erkannte Entdeckung. Denn es besteht eine direkte Beziehung zwischen Reformation und Beginn des Dreißigjährigen Krieges. Der Krieg nämlich begann fast exakt 100 Jahre nach der Thesenaufstellung Martin Luthers im Jahre 1517, die Ende Oktober 1617 erstmals als großes Reformationsjubiläum begangen wurde, und zwar im ganzen evangelischen und zugleich im reformierten Deutschland, mehrtägig und mit öffentlichkeits- und medienwirksamen Publikationsaufwand. Das musste auf der katholischen Seite als eine ungeheuerliche Provokation wirken. Denn ein „Jubiläum“ auszuschreiben, war seit dem Jahr 1300 Sache des Papstes, und das Wichtigste daran war stets der zu diesem Termin zu gewinnende Ablass. Nun aber schrieben die Evangelischen ein „Pseudojubiläum“ aus, wie es sofort hieß, nicht auf das Geburtsjahr Christi, sondern auf Luther und ausgerechnet auf dessen Symboltat gegen den Ablass. Der Papst setzte denn auch prompt ein Gegenjubiläum zur Abschaffung der „Ketzereien“ an, und nichts als ein solch kontradiktorisches Doppeljubiläum konnte geeigneter sein, die ganze Reformationsgeschichte noch einmal kontrovers durchzuspielen. So ging dem Fenstersturz im Frühjahr 1618 wenige Monate zuvor eine religionspolitische Mobilmachung voran.
Dissens. Eine Bemerkung zu einer kritischen Auseinandersetzung mit meinem ,Dreißigjährigen Krieg‘,“ Historisches Jahrbuch 123 (2003): 357– 363. W. Schulze, S. Ehrenpreis, Friedliche Intentionen – kriegerische Effekte. War der Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges unvermeidlich? Studien zur neueren Geschichte 1 (St. Katharinen, 2002); F. Schulze, Die Reichskreise im Dreißigjährigen Krieg (Augsburg: Dissertation, 2017), erscheint in Kürze.
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Schon zeitgenössische Chronisten in Ulm und Augsburg haben hier einen Zusammenhang gesehen und das Jubiläum mit der katholischen Gegenpublizistik als „Anfang“ des Krieges bezeichnet.¹³ Eine empirische Überprüfung dieser These an Quellen gemischtkonfessioneller Grenzregionen hat bestätigt, dass das Jubiläum polarisierend gewirkt und die Wahrnehmung des Krieges als Religionskrieg gefördert hat.¹⁴ Fast unglaublich ist eine Duplizität der Ereignisse, die mit einem Rückgriff auf die Reformationsgeschichte nicht nur beim Ausbruch, sondern auch bei der Verlängerung des Krieges noch einmal eine Rolle spielte. Nach einem reichlichen Kriegsjahrzehnt war der Krieg eigentlich schon zu Ende: Der Kaiser hatte im Verein mit den Spaniern und der katholischen Liga die böhmische Erhebung niedergeschlagen, den konkurrierenden Pfalzgrafen besiegt, die Pfalz besetzt und die dänische Intervention mit dem Frieden von Lübeck 1629 siegreich beendet. Der Kaiser hatte den Krieg gewonnen und die Kriegshandlungen waren bereits völlig zum Erliegen gekommen. Da landete 1630 der Schwedenkönig Gustav Adolf an der deutschen Ostseeküste. Das geschah nicht primär um der Religion willen,¹⁵ doch so wurde es dem Reich präsentiert und in Deutschland verstanden. Das war in der Situation durchaus glaubwürdig, denn mit dem Restitutionsedikt Kaiser Ferdinands von 1629 kamen die evangelischen Reichsstände in eine schwierige Situation. In der umstrittenen Frage, ob die Fürsten bei der Inanspruchnahme ihres Konfessionsbestimmungsrechtes auch über den geistlichen Besitz verfügen durften, hatte der Kaiser auf dem Höhepunkt seiner Waffenerfolge zugunsten der katholischen Rechtsauffassung entschieden und Restitutionen von Die Belege bei Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg, 225 – 232; Ders., „Reformations- und Lutherfeiern. Die Verbürgerlichung der reformatorischen Jubiläumskultur,“ in Öffentliche Festkultur im 19. Jh. Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg, Hg. D. Düding, P. Friedemann und P. Münch (Reinbek bei Hamburg, 1988): 212– 236. Vorher, jedoch mit schwächerer Gewichtung des Kriegsbezugs, R. Kastner, Geistlicher Rauffhandel. Form und Funktion illustrierter Flugblätter zum Reformationsjubiläum 1617 in ihrem historischen und publizistischen Kontext (Frankfurt a. M./Bern, 1982). Zum Reformationsjubiläum 1617 zuletzt V. Leppin, „,… das der Römische Antichrist offenbaret das helle Liecht des Heiligen Evangelii wiederumb angezündet‘. Memoria und Aggression im Reformationsjubiläum 1617,“ in Konfessioneller Fundamentalismus, Hg. H. Schilling (München, 2007): 115 – 134. C. Kohlmann, „,Von unsern Widersachern den Bapisten vil erlitten und ussgestanden‘. Kriegs- und Krisenerfahrung von lutherischen Pfarrern und Gläubigen im Amt Hornberg des Herzogtums Württemberg während des Dreißigjährigen Krieges und nach dem Westfälischen Frieden,“ in Das Strafgericht Gottes. Kriegserfahrungen und Religion im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges, Hg. M. Asche und A. Schindling (Münster, 2001): 123 – 211, 149 – 160, vor allem 124.211. Nicht weniger als elf Interventionsgründe, die in der Forschungsgeschichte diskutiert wurden, erfasst: S. Oredsson, Geschichtsschreibung und Kult. Gustav Adolf, Schweden und der Dreißigjährige Krieg (Berlin, 1994); Die offiziellen Kriegsmanifeste erwähnen generell wie auch hier den Religionskonflikt nicht oder kaum, weil sie den Krieg legitimieren, indem sie den Gegnern einen Bruch gemeinsamer Normen und Rechte unterstellen. A. Tischer, Offizielle Kriegsbegründungen in der Frühen Neuzeit. Herrscherkommunikation in Europa zwischen Souveränität und korporativem Selbstverständnis (Münster, 2012), 165 – 171. Bibliographischer Nachweis der Manifeste um die schwedische Intervention ebd., 238.
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Abb. 1. Aus der Bildpropaganda: Auf Bitten der evangelischen Kirche (rechts) rollt Gustav Adolf, geschoben von deutschen Fürsten, ins Reich und auf das Kaisertum zu (Bildarchiv des Instituts für Europäische Kulturgeschichte, Augsburg)
Klöstern und Bistümern verfügt. Propagandistisch wichtig wurde dabei, dass ausgerechnet im Sommer 1630 das erste hundertjährige Jubiläum der Confessio Augustana anfiel, der auf dem Augsburger Reichstag 1530 vorgelegten evangelischen Bekenntnisschrift, das von beiden Seiten auf ihre Weise begangen wurde. Einige katholische Publizisten prophezeiten der evangelischen Religion schon ihren Untergang, sodass sie ihr Jubiläum kaum noch erleben würde. Die Evangelischen aber gaben ihrer Hoffnung auf einen Retter Ausdruck, der immer deutlicher die Gestalt des termingerecht gelandeten Schwedenkönigs annahm. Die professionelle Bildpropaganda erlebte hier ihren Höhepunkt, und der Krieg der Flugblätter erleichterte eine konfessionelle Remobilisierung, die den Weg zum Frieden erst einmal verbaute.¹⁶ Was hier an den Jubiläumsterminen besonders ins Auge springt, galt letztlich auch für den ganzen Krieg. Es war wie keiner zuvor und so schnell nicht danach ein Medienkrieg. Die neuzeitlichen Druckmedien, ohne die schon Luther und die Reformation undenkbar gewesen wären, fanden zum zweiten Mal ein großes aktuelles Thema und trugen dazu bei, den Krieg am Laufen zu halten. Wie die Flugblätter und J. Burkhardt, „Die kriegstreibende Rolle historischer Jubiläen im Dreißigjährigen Krieg und im Ersten Weltkrieg,“ in Krieg und Frieden in der historischen Gedächtniskultur. Studien zur friedenspolitischen Bedeutung historischer Argumente und Jubiläen von der Antike bis in die Gegenwart, Hg. Ders. (München, 2000): 91– 102.
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Flugschriften der Lutherzeit waren es hier wieder vornehmlich die wirkmächtigen Bild-Text-Kombinationen der Einblattdrucke, oft propagandistisch oder satirisch aufbereitet, wie auch eine diskursive oder agitatorische aktuelle Traktatistik. Die Bildpublizistik, die einer neugierigen Öffentlichkeit die Spektakel und Gestalten des Krieges vorführte, griff mit Vorliebe auf die eingängige Reformationspolemik des Genres zurück und übertrug sie auf die aktuellen Ereignisse. Da wird der flüchtende böhmische „Winterkönig“ in einer Serie von Kupferstichen verspottet und Luther mit Frau und weiteren Reformatoren gleich mitvertrieben, und umgekehrt werden Papstsatiren nachgestochen, nunmehr mit Jesuiten angereichert, die auf Kanonen sitzen oder als apokalyptische Monster auftreten. Diese religionspolitische Vorzugsagenda mag in besonders drastischen Fällen wie der Ikonisierung Gustav Adolfs dazu beigetragen haben, die Akzeptanz des Schwedenkönigs, den die Reichsfürsten nicht gerufen hatten und eigentlich auch nicht haben wollten, zu erhöhen. Der Konflikt wurde dadurch gern insgesamt als Religionskrieg wahrgenommen, und dies hat die Überlieferung des Krieges als Religionskrieg bis heute mitbestimmt. Es könnte aber auch sein, dass wir auf die Macht der Bilder, die seit dem 19. Jahrhundert liebevoll gesammelt und immer wieder nachgedruckt wurden und werden, hereingefallen sind, wie dies in der Kriegsinszenierung durch Bildpropaganda seither immer wieder geschieht. Denn die Lesart des Dreißigjährigen Krieges als Religionskrieg hat auch ihre Grenzen. Wenn es gerade passte, spielte zwar im Dreißigjährigen Krieg der Konfessionsgegensatz kräftig hinein. Dabei wird jedoch oft übersehen, dass die Episode um Gustav Adolf in den Jahren 1630 – 1632 die einzige ist, in der die religiösen und politischen Parteien wirklich übereinstimmten. Zuvor stand das evangelische Sachsen auf der Seite des katholischen Kaisers gegen die glaubensverwandten Böhmen, danach griff das katholische Frankreich auf der konfessionell falschen Seite ein. Das damals mächtigste und führende Kurfürstentum Sachsen, Symbolland der Reformation und Gedächtnisort schon im Jubiläum von 1617, hatte immer wieder eine Mitgliedschaft in der evangelischen Union abgelehnt, die sich denn auch gleich bei Kriegsbeginn auflöste, ohne einen Schuss abzugeben. Kurfürst Johann Georg I. wies jede Unterstützung der böhmischen Erhebung oder gar die Annahme der böhmischen Krone ausdrücklich mit dem Argument zurück, dass es bei der böhmischen Insubordination nicht um Religion gehe, sondern um Politik.¹⁷ Diese Absage an den Religionskrieg wirkte auch ins Reich hinein und erlaubte es evangelischen Reichsständen mit dem Reichsoberhaupt zu kooperieren. Selbst von katholischer Seite wurde dem Kaiser dann vom Erlass des Restitutionsedikts, das ohnehin den Augsburger Religionsfrieden nur einseitig auslegte, nicht aber widerrief, wie später das Religionsedikt von Nantes durch Ludwig XIV., von besonnenen Kräften abgeraten, weil es die Gefahr eines Religionskrieges heraufbeschwöre. Bisher sei es kein Religionskrieg gewesen, jetzt jedoch sei es einer, meinte denn auch der stets um Ausgleich bemühte sächsische Kurfürst resi-
F. Müller, Kursachsen und der böhmische Aufstand 1618 – 1622 (Münster, 1997).
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gniert, als er auf die schwedische Seite wechselte. Nicht für lange. Der vom Signalgeber Sachsen initiierte und geschlossene konfessionsübergreifende Frieden zu Prag mit dem Kaiser suspendierte mit dem Restitutionsedikt auch den Religionskrieg in Deutschland. Und als Frankreich an der Seite des evangelischen Schwedens offen gegen den katholischen Kaiser in den Krieg eingriff, verlor das ursprüngliche Ziel struktureller Intoleranz, die Religionseinheit nach Maßgabe der eigenen konfessionellen Vorleistung mit politischer Gewalt zu erzwingen, vollends jede Grundlage. Die Konfessionsfrage trägt nicht durch den Krieg und kann nicht der Hauptkonflikt gewesen sein.¹⁸
3 Der militärische Verlängerungsfaktor Was neben der Religion noch besonders wirksam wurde, war die Eigendynamik des Militärischen.¹⁹ Denn auch mit Blick auf die Heere spielte die Religion nur teil- und zeitweise eine Rolle. Einige Armeen scheinen konfessionell am Anfang noch einigermaßen homogen gewesen zu sein, wie etwa das katholische Liga-Heer unter dem frommen Feldherren Tilly oder dann die im evangelischen Schweden ausgehobenen Kerntruppen Gustav Adolfs. Aber die größte Armee unter dem kaiserlichen Generalissimus Wallenstein war von Beginn an bis in die Offiziersränge multiethnisch und konfessionsverschieden zusammengesetzt, und nach diesem Beispiel rekrutierten die Kriegsunternehmer, wen sie bekommen konnten, ja am Ende waren „die Schweden“ fast keine Schweden mehr. Denn die Soldaten dienten für Sold und Beute, nicht für Nation oder Religion. Die Bevölkerung litt denn auch nicht unter einem militanten Glaubenskampf, sondern unter der militärischen Kriegsgewalt der durchziehenden oder einquartierten Heere, die von Freund und Feind, wie es immer wieder hieß, gleichermaßen ausgeübt wurde.²⁰ Wenn dabei die evangelischen Pfarrhäuser wie die katholischen Abteien besonders betroffen erscheinen, so liegt das weniger an besonderen konfessionellen Animositäten als daran, dass in dem verarmten Land dort in den Kellern und Kirchen noch etwas an Vorräten und Wertgegenständen zu holen war und es hier auch die meisten Literaten und Chronisten gab, die Plünderungen und Gewalttaten festhielten und der Nachwelt überlieferten.²¹ Nicht die Konfessionen standen sich hier antagonistisch gegenüber, sondern Militär und Zivilbevölkerung, die
Anders A. Gotthard, Der Dreißigjährige Krieg. Eine Einführung (Köln/Weimar/Wien, 2016), 292s. Zum Hintergrund der Sammelband mit den klassischen Positionen C.J. Rogers, Hg., The military revolution debate. Readings on the military transformation of early modern Europe (Boulder/San Francisco/Oxford, 1995). So etwa O. Fina, Hg., Klara Staigers Tagebuch (Regensburg, 1981). B.v. Krusenstjern, Hg., Selbstzeugnisse der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, Selbstzeugnisse der Neuzeit 6 (Berlin, 1997); H. Medick und N. Winnige, Hg., Mitteldeutsche Selbstzeugnisse der Zeit des Dreißigjährigen Krieges online zugänglich unter: http://www.mdsz.thulb.uni-jena.de/sz/index.php (12.05. 2017).
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gegen- und miteinander ums Überleben kämpften. Es ging nicht um die Religion, sondern um die letzten Ressourcen. Die Länge und Schwere des Konfliktes ist hier nicht der Religion anzulasten, sondern der sich verselbständigenden Militärgewalt. So wäre der Tod Gustav Adolfs 1632 eigentlich ein guter Grund gewesen, mit dem Krieg aufzuhören. Aber nun stand das schwedische Heer in Deutschland, zunächst sogar in Süddeutschland. Und es war nicht das einzige. Zudem gab es noch Wallensteins Heer, das Liga-Heer sowie das spanische Heer im Westen und bald auch noch das französische Heer. In dieser Zeit des Kriegsunternehmertums lebten die Söldner vom Krieg und verloren im Falle eines Friedens ihre Existenzgrundlage. Der Krieg war nicht zuletzt eine makabre Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, obwohl an eine reguläre Entlohnung immer weniger zu denken war und die Armeen stattdessen durch Kontributionen, Requirierung und Erpressung unterhalten wurden.Was sollte also mit den Heeren geschehen? Auf Friedensgerüchte hin hat das schwedische Heer einmal in einer Art Militärrevolte der politischen Führung die Zusicherung abgetrotzt, dass Schweden keinen Frieden schließen werde, ohne die militärische Führung zu fragen. Es war gar nicht daran zu denken, dass das arme Schweden jemals den rückständigen Sold und die fälligen Abfindungen bei einem Friedensschluss würde aufbringen können. Ein guter Teil der sich hinziehenden Verhandlungen galt darum der schwedischen Forderung nach „Satisfaktion“ für das Militär. Für die unerbetene Hilfe an die deutschen Reichsstände forderte Schweden 20 Millionen Reichstaler. Da man anders nicht zum Frieden kommen konnte, erklärten sich schließlich die Reichsstände zur Aufbringung von fünf Millionen Reichstalern bereit. Das war eine gewaltige Herausforderung angesichts der Kriegszerstörungen. Ein Jahr musste man in Nürnberg auf einem Exekutionskongress verhandeln, um die Kosten auf die Reichsstände zu verteilen. Die Aufbringung dieser Sondersteuer von 300 Einzelschuldnern zu organisieren gelang tatsächlich und wurde mit einem großen Festmahl gefeiert. Zug um Zug mit der Auszahlung ihrer rückständigen Forderungen zogen die fremden Heere ab.²² Auf diesem Felde gab es künftig durchaus Ansätze zur Lösung dieses Problems. Die „stehenden Heere“ der nachwestfälischen Zeit, manchmal war es auch ein aus dem Dreißigjährigen Krieg „stehengebliebenes Heer“,²³ hätten dem Militär eine Existenzgrundlage bieten können, ohne dass man dazu immer wieder hätte Krieg führen müssen. Die Soldaten wurden nun nicht mehr nur für den Kriegsfall angeworben, sondern die Herrscher ließen sie auch in Friedenszeiten exerzieren und üben. Aber eine volle Verstaatlichung im Sinne einer institutionellen Einbindung wurde nicht erreicht. Das Heer blieb ein Instrument in der Hand des Monarchen, ohne Kontrolle durch die politischen Funktionsträger und Institutionen, und war damit der Grundlegend dazu A. Oschmann, Der Nürnberger Exekutionstag 1649 – 1650. Das Ende des Dreißigjährigen Krieges in Deutschland (Münster, 1991). Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg, 213. Zu diesem von mir eingeführten Begriff kritisch modifizierend B.R. Kroener, Kriegswesen, Herrschaft und Gesellschaft 1300 – 1800, Enzyklopädie deutscher Geschichte 92 (München, 2013), 36 – 43.
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Abb. 2. Friedensmahl nach Organisation der Heeressatifikationen in Nürnberg. Kupferstich nach einem Gemälde von Joachim v. Sandrart (Bildarchiv des Instituts für Europäische Kulturgeschichte, Augsburg)
Herrscherwillkür unterworfen. Die weitere bellizistische Wirkung in der nachwestfälischen Welt lässt sich an den stehenden Heeren von Kriegsherren wie Ludwig XIV. oder Friedrich dem Großen leicht erkennen. Es gibt jedoch noch eine bessere deutsche Tradition, die vom Westfälischen Frieden ausgeht. Dort nämlich bekam der Reichstag, nicht etwa die Einzelfürsten, die Kompetenz über Krieg und Frieden zugesprochen. Eine Reichsarmee wurde nur auf Beschluss dieses von den Reichsständen beschickten ersten deutschen Parlamentes aufgestellt und eingesetzt. Entsprechend den Reichstraditionen ist davon stets nur defensiv Gebrauch gemacht worden.²⁴ Wenn heute in Deutschland das Parlament über Bundeswehreinsätze entscheiden muss, die nicht unmittelbar der Landesverteidigung dienen, dann entspricht das durchaus dieser historisch gewachsenen Tra H. Neuhaus, „Das Problem der militärischen Exekutive in der Spätphase des Alten Reiches,“ in Staatsverfassung und Heeresverfassung in der europäischen Geschichte der frühen Neuzeit, Hg. J. Kunisch, Historische Forschungen 28 (Berlin, 1986): 297– 346; Ders., „,Defension‘. Das frühneuzeitliche Heilige Römische Reich als Verteidigungsgemeinschaft,“ in Lesebuch Altes Reich, Hg. S. Wendehorst und S. Westphal, Bibliothek Altes Reich 1 (München, 2006): 119 – 126.
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dition deutscher Geschichte. Aber eine solche institutionelle Kontrolle und Defensivbindung war nicht die Regel in Europa, und gerade die spätere deutsche Geschichte hat sich leider oft nicht daran gehalten.
4 Der Staatsbildungskrieg und seine westfälische Lösung Damit rückt die eigentlich politische Perspektive der Kriegsverlängerung in den Blick: die Intervention der auswärtigen Mächte. Der Dreißigjährige Krieg war in den 1620er Jahren keineswegs ausschließlich, aber zugleich ein deutsches Problem gewesen, und nach den Schwedenbündnissen kehrten die Reichsstände zu Kaiser und Reich zurück. Mit dem Prager Frieden von 1635, der zwischen Kaiser und Kursachsen geschlossen war und dem sich fast alle Reichsstände anschlossen, war der deutsche Krieg eigentlich zu Ende. Doch noch standen die fremden Mächte im Reich, als Verbündete des habsburgischen Kaisertums die Spanier, vor allem aber die Schweden, und bald sollten auch noch die Franzosen dazukommen. Schon im Friedensvertrag verpflichteten sich die Reichsstände dazu, nun gemeinsam mit dem Kaiser diese Mächte zum Abzug aus Deutschland zu bewegen. Dafür wurde zunächst mit attraktiven Friedensangeboten gar nicht chancenlos verhandelt, aber die schwedischen, französischen und habsburgischen Mächte lehnten ab. Warum eigentlich? Was steckte dahinter, wenn der Krieg nun endgültig zum europäischen Krieg wurde? Europa galt als eine politische Einheit, die aber noch nicht aus einem Nebeneinander gleichberechtigter Staaten bestand. Das politische Ordnungsideal war noch von den hierarchischen Vorstellungen einer Ständegesellschaft geprägt, die wie bei einem Dreieck oder einer Pyramide auch eine Spitze haben musste. Wer aber sollte an der Spitze stehen? Der Kaiser, der spanische König oder die gesamthabsburgische Dynastie? Der französische König, der mit dem Titel der „Allerchristlichste“ („Très Chrétien“) gleichermaßen eine politische Vorrangstellung im christlichen Europa reklamierte? Oder der Schwedenkönig Gustav Adolf, der mit der Ostsee das Weltmeer des Nordens beanspruchte und unter Berufung auf seine gotischen Vorfahren schon wie ein neuer Völkerwanderungskönig durch halb Europa zog und nach dem Kaisertum zu greifen drohte? Alle drei universalistischen Konkurrenten hatten phasenweise ihre Chance.²⁵ Es wurde jedoch in den späten dreißiger Jahren klar, dass es keiner mehr schaffen konnte, weshalb man irgendwie zu einem Kompromiss kommen musste. Aber wie? In dem alten Ordnungsideal war der Spitzenplatz wie eine Planstelle vorgesehen und darum auch zu besetzen. Wenn man ihn selbst nicht einnahm, dann hieß das
Dazu umfassend Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg, 30 – 127; Pointiert auch: A. Zellhuber, Der gotische Weg in den deutschen Krieg. Gustav Adolf und der schwedische Gotizismus, Documenta Augustana 10 (Augsburg, 2002).
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nicht, dass ihn niemand einnahm, sondern man fürchtete, dass ihn jemand anderes besetzen könnte. Und selbst wenn man sich einigte, den Platz vakant zu lassen, dann hatte man innerhalb dieses Modells eigentlich keine Dauerordnung, sondern ein Interregnum oder gar eine Anarchie hergestellt. Es brauchte einen Modellwechsel oder ein neues Ordnungsideal: das Staatensystem. Die Staatsrechtslehren von Bodin bis Grotius und Hobbes haben mit völkerrechtlichen Kategorien und Begriffen wie Souveränität und Staatsräson ein Konzept der Mehrstaatlichkeit entwickelt, das es aber erst theoretisch zu rezipieren und praktisch umzusetzen galt.²⁶ Der langwierige Zeremonialstreit bei den Westfälischen Friedensverhandlungen – wer gehört dazu, wer nicht? – versteht sich nicht zuletzt aus dieser neu zu setzenden und auszudifferenzierenden Ordnung. So mussten die ehemaligen Universalmächte ihren Anspruch reduzieren und wurden zu völkerrechtlichen Subjekten, die sich als politische Akteure und gleichermaßen handlungsberechtigt in Krieg und Frieden gegenseitig anzuerkennen hatten.²⁷ Hier ging es nicht nur um ein paar Länderwechsel und Grenzregelungen, sondern um ein neues Ordnungssystem und seine völkerrechtliche Ausformung, das erst einmal gefunden, eingeführt und ausbalanciert werden wollte, und das nahm Zeit in Anspruch – jahrelange Vorüberlegungen und vier Jahre Verhandlungen in Münster und Osnabrück, währenddessen die Kampfhandlungen weitergingen. Das wurde so nicht thematisiert, aber es ist der Subtext in den Verhandlungen, den man erkennen muss.²⁸ Das Ergebnis war, dass der Friede zunächst einmal zwischen den ehemaligen Konkurrenten um die Universalmacht – so kann man diese Konflikte seit der schon halb Europa umfassenden monarchia universalis Kaiser Karls V. nennen²⁹ – ge-
Neben den bekannten Werken ist eine erstaunliche Verbindung von Hobbes zur Publizistik des Kriegsanfangs entdeckt worden. Der englische Theoretiker hat eine als Gutachten bezeichnete Schrift über die politischen Chancen Friedrichs V. von der Pfalz aus dem Lateinischen ins Englische übersetzt, die von einem gebildeten Mitglied der Augsburger Handelsfamilie der Welser verfasst wurde und über viele Auflagen verbreitet worden ist. Englische Edition und Kommentar: N. Malcolm, Reason of State, Propaganda, and the Thirty Years’s War. An Unknown Translation by Thomas Hobbes (Oxford/New York, 2007); Zuvor im lateinischen und deutschen Original nachgedruckt und kommentiert: W.E.J. Weber, Hg., Secretissima Instructio – Allergeheimste Instruction. Friderico V. Comiti Palatino Electo Regi Bohemiae, Data an Friederichen, Pfaltzgrafen, erwehlten König in Böhmen (1620), Documenta Augustana 9 (Augsburg, 2002). Gegenüber zu weitgehenden Vorstellungen einer gänzlich fixierten egalitären Staatenordnung hat die neueste Forschung herausgearbeitet, dass auch nach 1648 hierarchische Rangvorstellungen in völkerrechtlichen Beziehungen fortbestanden und als flexible Verhandlungsmasse selbst politische Bedeutung erlangten. Vgl. R. Dauser, Ehren-Namen. Herrschertitulaturen im völkerrechtlichen Vertrag, 1648 – 1748, Norm und Struktur 46 (Köln, 2017). Wichtigste Themenbände von den Experten zum 350. Friedensjubiläum: H. Duchhardt, Der Westfälische Friede. Diplomatie – politische Zäsur – kulturelles Umfeld – Rezeptionsgeschichte (München, 1998); K. Bußmann und H. Schilling, Hg., 1648 – Krieg und Frieden in Europa, 2. Bde. (Münster, 1998). Die Bilanz des Jubiläums festgehalten bei: I. Schmidt-Voges und S. Westphal, Hg., Pax perpetua. Neuere Forschungen zum Frieden in der Frühen Neuzeit, Bibliothek Altes Reich 8 (München, 2010). F. Bosbach, Monarchia Universalis. Ein politischer Leitbegriff der Frühen Neuzeit (Göttingen, 1988).
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schlossen wurde. Der Kaiser schloss Frieden, in Münster mit Frankreich und in Osnabrück mit Schweden, und das mit allem zeremoniellen und verbalen Aufwand, der eine prinzipielle völkerrechtliche Nebenordnung dieser Mächte kodifizierte. Das wurde zum Kern des europäischen Staatensystems. Der Dreißigjährige Krieg war also ein „Staatsbildungskrieg“.³⁰ Mit diesem 1991 von mir in die Debatte eingeführten Begriff, der mittlerweile weite Akzeptanz gefunden hat,³¹ ist nicht gemeint, dass Staaten zu bilden und ein mehrstaatliches System zu erreichen Absicht und Kriegsziel dieser Mächte gewesen wäre. Das war vielmehr erst das Ergebnis des Krieges. Es galt jedoch ganz unmittelbar schon für einige sezessionistische Staatsbildungen von unten, die sich alle von der habsburgischen Universalmacht lösen wollten. Zuerst die Böhmische Erhebung, deren Staatsbildungsversuch mit der „Confoederatio Bohemica“, bestehend aus den fünf Ländern Böhmen, Mähren, Schlesien, den beiden Lausitzen und einer an die Pfalz gefallenen Wahlkrone, in der Schlacht am Weißen Berg scheiterte, aber den Dreißigjährigen Krieg auslöste. Am Ende noch die „Confoederatio Helvetica“, für die der Westfälische Friede zu einem erfolgreichen Schritt in die Schweizer Unabhängigkeit wurde. Und vor allem die Sieben Provinzen der Vereinigten Niederlande, für die fast der ganze Dreißigjährige Krieg zum letzten Akt ihres erfolgreichen Staatsbildungskriegs gegen die spanischen Habsburger wurde. Für die einander bekämpfenden Universalmächte war jedoch die Akzeptanz von Einzelstaaten das Lösungsmittel, mit dem man zum Frieden kam, und das Resultat des Krieges. All das aber, die im alten Modell unlösbare universalistische Konkurrenz, die Suche nach dem Lösungsweg jenseits des alten hierarchischen Ordnungsideals und die Verwirklichung eines neuen pluralistischen Konzepts, prägte die zweite Hälfte des Krieges und zog sich hin. So gesehen wird die Dauer des Krieges etwas verständlicher, und es bedurfte kreativer Phantasie und organisatorischer Kraft, um ein neues politisches Modell für Europa einzuführen, auf dessen Grundlage Frieden möglich wurde.³² Nicht umsonst wurde dieses bis an die Schwelle der Gegenwart nachwirkende politische System, das die hierarchisch-universalistische Ordnung Europas überwand und durch die Legitimierung gleichartiger, souveräner Einzel-
J. Burkhardt, „Der Dreißigjährige Krieg als frühmoderner Staatsbildungskrieg,“ Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 45 (1994): 487– 499; Ders., „Wars of States or Wars of State-Formation?,“ in War, the State and International Law in Seventeenth-Century Europe, Hg. O. Asbach und P. Schröder (Burlington, 2010): 17– 34. Umfassendste Rezeption und Diskussion: E. Wolfrum, Krieg und Frieden in der Neuzeit. Vom Westfälischen Frieden bis zum Zweiten Weltkrieg, Kontroversen um die Geschichte (Darmstadt, 2003), 35 – 37.67– 69. Zuletzt konzise H.-J. Müller, Der Dreißigjährige Krieg. Leben und Überleben im konfessionellen Zeitalter, Kompaktwissen Geschichte (Stuttgart, 2015), 113 – 115. Andere Verzögerungen durch ideelle Vorbedingungen, wie die Suche nach einem „Ehrenvollen Frieden“, bei C. Kampmann, Europa und das Reich im Dreißigjährigen Krieg. Geschichte eines europäischen Konflikts (Stuttgart, 22013), 180 – 187.
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Abb. 3. Grundlage des Westfälischen Systems: Der Kaiser schließt mit Christine von Schweden (links) und dem jungen Ludwig XIV. (rechts) Frieden (Bildarchiv des Instituts für Europäische Kulturgeschichte, Augsburg)
staaten in Europa und in der Welt ersetzte, als „Westfälisches System“ („Westphalian System“) bezeichnet.³³ Einen anderen Weg ging jedoch die deutsche Staatsbildung, denn die deutschen Länder sind nicht zu souveränen Einzelstaaten geworden, wie die ältere deutsche Forschung glaubte, sondern hier wurde ein Staatsaufbau auf zwei Ebenen vollendet, einer einzelstaatlichen und einer gesamtstaatlichen Ebene, der die ganze deutsche Geschichte von den Anfängen bis in ihre Gegenwart bestimmt. Diese doppelstaatliche Struktur war im Dreißigjährigen Krieg noch einmal gefährdet, als der Kaiser auf dem Höhepunkt seiner Erfolge seine Machtstellung auszubauen drohte und andererseits Einzelbündnisse einiger Fürsten mit seinen Kriegsgegnern die Gefahr des Sezessionismus am Horizont erscheinen ließen. Doch bald ordneten sich alle Reichsstände wieder ins Reich ein, beteiligten sich aktiv an den Friedensverhandlungen und erzwangen am Ende geradezu den überfälligen Friedensschluss.³⁴ Im Westfälischen Zu diesem Begriff kritisch abwägend und mit weiteren einschlägigen Aufsätzen des maßgeblichen Friedenshistorikers H. Duchhardt, Frieden im Europa der Vormoderne. Ausgewählte Aufsätze 1979 – 2011, Hg. M. Espenhorst (Paderborn/München, 2012). So jetzt pointiert S. Westphal, Der Westfälische Frieden (München, 2015).
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Frieden aber wurde das föderale System wiederhergestellt und in der nachwestfälischen Welt weiter ausgebaut. Landesherrschaft und Bündnisfähigkeit der einzelnen Reichsstände hatte der Friedensvertrag in der bisherigen reichsverträglichen Form bestätigt, eine übergeordnete Gesamtstaatlichkeit, die sich auch durch die interkonfessionelle Regelungskompetenz profilierte, wurde nun mit dem von den Kurfürsten zu wählenden Reichsoberhaupt und den erneuerten staatlichen Institutionen, Reichskreisen, Reichsgerichten und einem seit 1663 ständig präsenten Reichstag,³⁵ als eine alternative Staatsform etabliert, während man in Europa zunächst andere Weg ging.
5 Die nachwestfälische Welt und die Abschaffung des Religionskriegs im föderalen Reich deutscher Nation Warum ist dann aber nach dem Westfälischen Frieden, dessen plurale Friedensordnung 1648 als eine für Europa ewig gültige präsentiert wurde, die Serie der Kriege in der zweiten Hälfte der Frühen Neuzeit nicht wirklich beendet worden? Zur Beantwortung dieser Frage ist zu bedenken, dass zwar 1648 die Gleichordnung der europäischen Staaten als neue Norm aufgestellt wurde – darum bezogen sich auch alle künftigen Friedensverträge immer wieder ausdrücklich auf den Westfälischen Frieden³⁶ –, doch nun musste sie gegen Rückfälle ehemaliger Universalmächte verteidigt werden, und das erforderte erst einmal erneut Kriegsgewalt. Und außerdem gab es eine Vielzahl weiterer Faktoren, die von den Staaten für ihren weiteren Aufbau in Anspruch genommen wurden, doch dabei kriegstreibende Nebenwirkungen entfalteten. Wenn man sich diese Faktoren vor Augen führt – ich habe sie in einer Theorie der frühneuzeitlichen Bellizität einmal zu einer Kriegstypologie zusammengestellt³⁷ –, dann sieht man, dass viele militärpolitische, dynastisch-erbrechtliche oder wirtschaftspolitische Staatsdefizite über den Dreißigjährigen Krieg hinaus wirksam blieben. Einige traten aber auch zurück. Am deutlichsten gilt das in der nachwestfälischen Welt für den Religionskrieg.
H. Rudolph und A. Schlachta, Hg., Reichsstadt – Reich – Europa. Neue Perspektiven auf den Immerwährenden Reichstag zu Regensburg (1663 – 1806) (Regensburg, 2015); S. Friedrich, Drehscheibe Regensburg. Das Informations- und Kommunikationssystem des Immerwährenden Reichstags um 1700, Colloquia Augustana 23 (Berlin, 2007). Zur Bedeutung und Funktion der großen Sammlungen und ihrer Übersetzungen jetzt: B. Durst, Archive des Völkerrechts. Gedruckte Sammlungen europäischer Mächteverträge in der Frühen Neuzeit, Colloquia Augustana 34 (Berlin, 2016). J. Burkhardt, „Die Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit. Grundlegung einer Theorie der Bellizität Europas,“ in Zeitschrift für Historische Forschung 24 (1997): 509 – 574.
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Denn obwohl konfessionelle Argumente in den internationalen Beziehungen weiter eine Rolle spielen konnten, ging es dabei nicht mehr um die genuine Glaubensfrage oder gar die Durchsetzung einer vermeinten religiösen Wahrheit mit Gewalt, sondern um Religion als bloßes Mittel zum politischen Zweck oder leere Propaganda. Noch im 18. Jahrhundert hat Staatskanzler Kaunitz seinen Pariser Gesandten angewiesen, alle Argumente zu nutzen, die für einen Bündniswechsel des französischen mit dem Wiener Hof sprechen könnten, wenn es ihm nützlich scheine, auch die Religion. Aber das war weder Grund noch Sinn des als „Diplomatische Revolution“ in die Geschichte eingegangenen Bündniswechsels, sondern die Suche nach ins Auge springenden Gemeinsamkeiten zur Überwindung des französisch-habsburgischen Antagonismus. Und im darauffolgenden Siebenjährigen Krieg suchte ausgerechnet Friedrich der Große sich in Europa propagandistisch zum protestantischen Helden zu stilisieren, doch das nahmen in Deutschland selbst die protestantischen Reichsstände dem aufgeklärten Sarkasten nicht ab, wenn er doch zugleich in Sachsen einmarschierte und sich anschickte, das evangelische Land auszuplündern und zu annektieren.³⁸ Wie schon im Augsburger Religionsfrieden wurde das innerreligiös nicht lösbare Problem auf der politisch-rechtlichen Ebene verhandelt und im Osnabrücker Friedensvertrag gelöst, der in Deutschland Verfassungscharakter gewann. Denn nun wurden die Religionsparteien endgültig selbst in die Reichsverfassung eingebaut, diesmal auch ausdrücklich die Reformierten calvinistischer Herkunft, die am Kriegsanfang als Aktionspartei eine kriegstreibende Rolle gespielt hatten. Diese Verrechtlichung der Religionsparteien fand mit dem gleichstellenden Begriff der „Parität“ nach Zahl oder Verfahren in den Reichsgremien seine reichsrechtliche Vollendung. Die komplexen Verhältnisse, die durch unterschiedliche Interpretationen des Augsburgischen Religionsfriedens, mehrfache Konfessionswechsel von Herrschern und Untertanen und Kriegsverwerfungen entstanden waren, konnten durch ein geniales Lösungsmittel entschärft werden: eine Stichjahrregelung.³⁹ Nach diesem sogenannten Normaljahr wurde die Konfessionsverteilung in Deutschland mit allen Mehrheiten und Minderheiten festgeschrieben. Welcher Termin aber sollte das sein? Die evangelische Seite hätte als Stichdatum lieber den Vorkriegsstand 1618 gehabt, die katholische lieber den im Prager Frieden schon zugestandenen Termin 1627, der einige territoriale Gewinnmitnahmen erlaubt hätte. Auf Vorschlag des stets kompromissbereiten Kursachsens einigte man sich auf ein Jahr dazwischen, das Normaljahr 1624. Ob die Deutschen heute evangelisch oder katholisch sind, hängt weitgehend davon ab, ob ihre Vorfahren am 1. Januar 1624 in eine katholische oder eine evangelische Kirche gegangen sind. Das entspricht nicht unseren Vorstellungen von freier Selbstbestimmung, aber es war unter dem Gesichtspunkt der religiösen J. Burkhardt, Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches 1648 – 1763, Handbuch der deutschen Geschichte 11 (Stuttgart, 2006), 396 – 417, vor allem 408 – 411. R.-F. Fuchs, Ein ‹Medium zum Frieden›. Die Normaljahrsregel und die Beendigung des Dreißigjährigen Krieges, Bibliothek Altes Reich 4 (München, 2010).
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Friedenswahrung effektiv. Die Garantie der konfessionellen Untertanenrechte auch gegenüber dem eigenen Fürsten nach dem Stand von 1624 führte zum Beispiel dazu, dass der Übertritt des sächsischen Kurfürsten August der Starke zur katholischen Kirche, um König von Polen werden zu können, für das evangelische Kursachsen keine Folgen hatte – außer dass die Residenzstadt Dresden gleich zwei wiederhergestellte Sakralbauten von Weltruhm aufweist: die Frauenkirche für die evangelische Stadtbevölkerung und die katholische „Hofkirche“ von Gaetano Chiaveri. Dank einer entschlossenen Generation von Verfassungsjuristen, die diese friedwirkende Deutung des Normaljahres durchsetzten, war fortan die deutsche Landkarte der Konfessionen festgeschrieben. Diese Konfliktlösungsmittel, unlösbare Konflikte nicht zu lösen, sondern auf dem Status quo einzufrieren (im Englischen: freeze), das hier nicht nur politisch ausprobiert, sondern verrechtlicht worden ist, hat sich auch danach und bei anderen welthistorischen Gelegenheiten bewährt. Der „Kalte Krieg“, der den heißen Krieg im 20. Jahrhundert durch Respektierung einmal entstandener Einflusszonen verhinderte, wurde zum wohl bekanntesten Beispiel für diese Friedensstrategie, und es ist noch einmal als eine Option in den Nahost-Konflikten diskutiert worden. Vor allem aber gelang nun durch diese nachgebesserte Verrechtlichung dieses Konfessionskonfliktes in Deutschland die Abschaffung des Religionskrieges. Zu einem Religionskrieg konnte sich nach dem Westfälischen Frieden niemand mehr bekennen. Das Wort stand oft, ob ganz zu Recht oder nicht, für die Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges, die in der nachwestfälischen Welt niemand mehr erleben wollte. Im am schwersten in Mitleidenschaft gezogenen Deutschland genügte es fortan, die Religionskriegsgefahr an die Wand zu malen, um die fortlaufende konfessionspolitische Streitkultur in zivilen Grenzen zu halten. In zwei Fällen war noch einmal von einem drohenden Religionskrieg in Deutschland die Rede. Im Jahre 1721 wehrte die Interessenorganisation der evangelischen Reichsstände, das Corpus Evangelicorum, von außen in das Reich getragene katholische Übergriffe mit politisch so stark auftrumpfenden Mitteln ab, dass eine Eskalation befürchtet wurde, die aber von besonnenen Reichspolitikern dann unter Verweis auf das Abschreckungsexempel des Dreißigjährigen Krieges doch verhindert werden konnte.⁴⁰ Und im Siebenjährigen Krieg standen sich durch die Diplomatische Revolution unverhofft katholische und evangelische Mächte gegenüber, eine Konstellation, die das Papsttum wie auch Preußen und England auf der anderen Seite zu einem Konfessionskrieg stilisieren wollten. Aber da Kaiser und Reich entschlossen gegensteuerten, wurde dieser Abschied vom Religionskrieg nun ein endgültiger.⁴¹ In beiden Fällen hat ein geschicktes Krisenmanagement des Reiches einen solchen Rückfall in den Religionskrieg verhindert. In diesem Punkt hatte man in Deutschland
Burkhardt, Vollendung und Neuorientierung, 326 – 341. J. Burkhardt, Abschied vom Religionskrieg. Der Siebenjährige Krieg und die päpstliche Diplomatie, Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 61 (Tübingen, 1985).
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etwas aus der Geschichte gelernt, und das Zeitalter der Religionskriege war wirklich zu Ende.
6 Fazit Aus diesen Beobachtungen und Überlegungen lässt sich nun ein Gesamtbild des Weges der Geschichte von den Religionskriegen zur nachwestfälischen Welt gewinnen. Luthers Reformation und die dadurch ausgelöste Konfessionsbildung, die reichhaltige gesamtkulturelle Impulse gegeben hat, hat andererseits durch den von allen Seiten erhobenen exklusiven religiösen Wahrheitsanspruch ein Toleranzproblem heraufgeführt. Diese strukturelle Intoleranz generierte und legitimierte in ganz Europa Religionskriege, als deren nach Länge und Schwere größter der Dreißigjährige Krieg gilt.Von diesem Referenzkrieg wurde hier ausgegangen, aber gerade dabei zeigte sich, dass das situationsbedingt, memorial und medial mitspielende Religionsproblem eine wichtige, jedoch nicht die ausschlaggebende Ursache für diese außergewöhnliche Kriegskatastrophe darstellt. Die Eigendynamik des Militärischen wirkte mit und noch stärker die politische Grundproblematik dieser Epoche, die Staatsbildung, die in diesem Krieg ausgetragen wurde. Die missglückten oder geglückten Staatsbildungen von unten wie die Konkurrenz der zu reduzierenden Universalmächte hielt seit der Prager Defenestration den nicht enden wollenden Krieg offen oder verdeckt am Laufen, bis das mehrstaatliche Westfälische System für Europa gefunden und allseitig anerkannt worden war. Die nachwestfälische Welt musste die neue Ordnung gegen universalistische Rückfälle verteidigen und verwickelte sich gegen ungute Staatskontaminationen und Autonomiedefizite weiter in Kriege. Aber der Religionskrieg, der schon im Dreißigjährigen Krieg in einen Staatsbildungskrieg umgeschlagen war, wurde zurückgefahren und abgeschafft. Im föderalen Reich ermöglichte die Kooperation der einzelstaatlichen und gesamtstaatlichen Ebene eine nachhaltige Neuregelung des Reichsreligionsrechts. So gelang zuerst im mehrkonfessionellen Land der Reformation die Überwindung des Religionskrieges und der strukturellen Intoleranz auf politisch-rechtlichem Wege, bevor in einem zweiten Schritt die europäische Aufklärung mit ihren Idealen die Religion weltanschaulich auf den Weg der Toleranz brachte.
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Studium und Übersetzung der Bibel in Ungarn zur Zeit der Reformation (1540 – 1640) 1 Heilige Schrift – geheiligte Schrift 1.1 Theologie Von Beginn an hatte sich die Reformation in Ungarn wie im Rest Europas an die Bibel gebunden: „Mein Gewissen ist durch Gottes Wort gefangen“, wie Martin Luther (1483 – 1546) es 1521 auf dem Wormser Reichstag zum Ausdruck brachte.¹ Diese Selbstbindung führte paradoxerweise zu einer signifikanten Transformation ihrer Determinanten. Was in der Retrospektive des 21. Jahrhunderts auf das „Jahrhundert der Reformation“² als ein Lese-, Interpretations- und Rezeptionsprozess des geschriebenen Wortes („Heilige Schrift“) erscheinen mag, erweist sich bei näherem Hinsehen auf die unterschiedlichen Etappen der Perzeption und Rezeption der Bibel in einem spezifischen historischen Kontext faktisch als Gegenteil: die jeweiligen Leser der Bibel – vom ersten protestantischen Druck einer ungarischen Bibelübersetzung bis hin zur Veröffentlichung der ersten römisch-katholischen ungarischen Bibel – näherten sich dem Text vom Ausgangspunkt ihrer als ewig und kontextunabhängig angenommenen interpretativen Grundsätze, insbesondere von der Überzeugung einer absoluten Geltung des geschriebenen Wortes. Die häufig anzutreffende Formulierung, die Reformation habe die Bibel zur Grundlage des Glaubens gemacht, trifft nur insofern zu, als von Glaube in inhaltlicher Hinsicht die Rede ist: sobald der Begriff des Glaubens im Sinne des Heilserwerbs in den Blick gerät, kehrt sich das Verhältnis um: es ist der Glaube, von dem ausgehend biblische Kritik geübt wird – und nicht umgekehrt. Das Prinzip „sola fide“ geht, anders formuliert, dem Prinzip „sola scriptura“ voraus, wie es in einem Gemälde aus der Lutherischen Pfarre Jerking (Györköny, Landkreis Tolna) treffend ins Bild gesetzt ist:³ gezeigt werden Luther und Friedrich der Weise (1463 – 1525) zuseiten der Bundeslade, welche auf einem als „Glauben“ bezeichneten Fels ruht. Die Bibel befindet sich auf der
Übersetzung: Tobias Jammerthal. R. H. Bainton, Here I stand. A Life of Martin Luther (Nashville, 1980 [1950]), 185; L. D. Mansch und C. Peters, Martin Luther. The Life and Lessons (Jefferson, NC, 2016), 119. P. Ács und H. Louthan, „Bibles and Books. Bohemia and Hungary,“ in A Companion to the Reformation in Central Europe, Hg. H. Louthan und G. Murdock (Leiden/Boston, 2015): 402. J. Heltai und B. Gáborjáni Szabó, Hg., Biblia Sacra Hungarica. ‚A könyv, mely örök életet ád‘ [Biblia Sacra Hungarica. Das Buch, das ewiges Leben bringt], Exhib. Cat. Hungarian National Széchényi Library, 21.11. 2008 − 29.03. 2009 (Budapest, 2008), 158. https://doi.org/9783110498745-065
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Abb. 1 Anonym, Allegorie der Confessio Augustana mit Friedrich dem Weisen und Martin Luther, um 1724, Öl auf Leinwand, Kopie eines Stichs von Jacob van der Heyden (1573−1645) (Luther-Museum Budapest)
Lade, auf ihr steht eine Menorah als Symbol der Confessio Augustana und der unterschiedlichen Glaubenswege. Ihrer religiösen Zugehörigkeit ungeachtet erblickten die meisten Bibelleser der Reformationszeit in der Heiligen Schrift das im Glauben erschließbare Wort Gottes. Erst die Formula Consensus Helvetica von 1675 formulierte, dass die Bibel wortwörtlich diktiert worden sei und dehnte somit die Inspiriertheit des Bibeltextes nicht nur auf
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die Konsonanten, sondern sogar auf die masoretische Vokalpunktation des hebräischen Textes des Alten Testamentes aus.⁴ Der transylvanische protestantische Bibelübersetzer István Gyulai formulierte 1551 entsprechend: „solche Kenntnis kam nicht von einem Manne noch von einem Engel, sondern von Gott dem Allmächtigen und allein Weisen selbst.“⁵ Ähnlich heißt es 1626 in der Vorrede zur jesuitischen Bibelübersetzung von György Káldi (1573 – 1634), dass der Heilige Geist der „Schöpfer der Heiligen Schrift“⁶ sei, und der Protestant Gáspár Károlyi (1529 – 1591) erläutert in der Widmungsvorrede zu seiner Vizsoly-Bibel von 1590, dass Gott bis zum Auftreten des Mose „aus seinem eigenen heiligen Munde“ mit den Erzvätern geredet habe. Danach habe er sich Mose und den Propheten und schließlich „durch seinen Sohn“ geoffenbart.⁷ Gott spricht also, schreibt anschließend selbst auf die Steintafeln des Mose und lässt erst danach seine „Worte“ durch die vom Heiligen Geist inspirierten Propheten und Evangelisten niederschreiben. Dass das aus dem Griechischen übernommene Lexem „Wort Gottes“ nicht einfach ein Buch bezeichnet, war einem jeden, der mit der Bibel einigermaßen vertraut war, selbstverständliche Tatsache: der berühmte Johannesprolog bezeichnet nach Auffassung seiner meisten Interpreten eine ewige Person („Hypostasis“) des einen und unteilbaren Gottes als das Wort,⁸ weswegen das Wort einerseits der Sohn Gottes und andererseits Gottes Schöpferwort („alle Dinge sind durch dasselbe gemacht“), aber auch die konkrete, durch den Heiligen Geist, der nach der bekannten Erweiterung des Nicaeno-Constantinopolitanischen Glaubensbekenntnisses aus dem Vater „und dem Sohn“ (filioque) hervorgeht,⁹ gewirkte Kunde von Gott durch Propheten und Evangelisten als Sprecher oder besser Schreiber des Wortes Gottes bezeichnen kann. Die erschaffene Welt und die Bibel sind insofern beides „Bücher“ von Gott, Ausdruck seines Wortes, wie alle ungarischen Bibelübersetzer betonen. Káldi führt Paulinus von Nola (353/54– 431) als Beispiel an, der in seiner Kirche je ein Tabernakel für die Hostien und ein Tabernakel für die Heilige Schrift gehabt habe,¹⁰ um die doppelte (mystische und konkrete) Gegenwart des Wortes im Leben der Gemeinde zu verdeutlichen. Luthers (von den ungarischen Reformatoren übernommener) Ausdruck, „durch das Wort Gottes gebunden“ zu sein, hatte somit einen mindestens dreifachen Aussagegehalt: Bezugspunkt konnte einerseits Christus als Gottes Wort sein, insofern
J. L. Borges, „A Defense of the Kabbalah,“ in Selected Non-Fictions, Ders., Hg. E. Weinberger: 83. G. Heltai et al., Biblia [Die Heilige Bibel], 7 Bde. (Kolozsvár, 1551−1565); E. Zvara, Hg., ‚Az keresztyén olvasóknak‘. Magyar nyelvű bibliafordítások és -kiadások előszavai és ajánlásai a 16−17. századból [‚An die christlichen Leser‘. Vorworte und Widmungen in ungarischen Bibelübersetzungen und -editionen im 16. und 17. Jahrhundert] (Budapest, 2003), 72. Ebd., 212. Ebd., 175. R. Bultmann, Theology of the New Testament, übers. v. Kendrick Grobel (Waco, TX, 1951), 2:21−25. A. E. Siecienski, The Filioque. History of a Doctrinal Controversy (Oxford, 2010). Zvara, ‚Az keresztyén olvasóknak‘, 211.
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Luther und seine ungarischen Nachfolger sich als Jünger Christi verstanden. Zweitens war es möglich, das „Wort“ als die Heilige Schrift zu verstehen, weil und insofern damit der Überzeugung, in ihr Gottes niedergeschriebene Botschaft zu finden, Ausdruck verliehen wurde, und drittens konnte das „Wort“ als unmittelbare Eingebung des Heiligen Geistes an seine Propheten, als deren Erben im Hören auf das Wort sie sich verstanden, aufgefasst werden. Charakteristisch fasst dies András Farkas (Andreas Lupus) in seinem als eines der frühesten und bedeutendsten Werke der ungarischen Reformationsliteratur geltenden Gedicht Über das Jüdische und Ungarische Volk von 1538 zusammen: Gott sandte uns Eine Wolke von Weisen und redlichen Lehrern Zu predigen uns durch das Wort Die Rettung durch Jesus Christ, den Gesegneten …¹¹
Die ersten ungarischen Reformatoren, insbesondere der als „Luther Ungarns“ bekannte Mátyás Dévai (gest. 1547),¹² vertraten zudem den Gedanken des Priestertums aller Gläubigen¹³ – ohne sich zu diesem Zeitpunkt über die Risiken einer die unmittelbare Inspiration betonenden Frömmigkeit im Klaren zu sein.
1.2 Hermeneutik Unstrittig ist, dass die frühe Reformation hinsichtlich ihrer Bibelauslegung zunächst an mittelalterliche Häresien anschloss.¹⁴ Die Bemühungen des seit 1533 in Wien für seine protestantischen Überzeugungen eingekerkerten Dévai, eine allgemeine Predigtfähigkeit, die er auch auf Frauen ausdehnte, herbeizuführen, rührten an einen wunden Punkt:¹⁵ die Berechtigung zur Auslegung der Bibel bildete seit langem einen Streitpunkt innerhalb des Christentums. Die mittelalterliche Kirche unterschied zwischen erzählenden und moralisch erziehenden Passagen der Heiligen Schrift („aperta“) und den als „profunda“ bezeichneten dogmatisch wichtigen Bestandtei-
B. Varjas, Hg., Balassi Bálint és a 16. század költői [Bálint Balassi und die Dichter des 16. Jahrhunderts] (Budapest, 1979), 1:393. J.-A. Bernhard, Konsolidierung des reformierten Bekenntnisses im Reich der Stephanskrone. Ein Beitrag zur Kommunikationsgeschichte zwischen Ungarn und der Schweiz in der frühen Neuzeit (1500 −1700) (Göttingen, 2015), 188−206. Z. Csepregi, A reformáció nyelve. Tanulmányok a magyarországi reformáció első negyedszázadának vizsgálata alapján [Die Sprache der Reformation. Studien zur Reformation im Königreich Ungarn im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts] (Budapest, 2013), 228−238. A. J. Hauser und D. F. Watson, A History of Biblical Interpretation, Bd. 2: The Medieval through the Reformation Periods (Grand Rapids, MI/Cambridge, UK, 2009), passim. Csepregi, A reformáció nyelve, 229−230.
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len.¹⁶ Während erstere keinerlei Restriktionen unterlagen, war die Auslegung letzterer ebenso wie die Kommunion unter beiderlei Gestalt ein Privileg des geweihten Priesters, woran sich Häretiker stießen, die darum nicht zufällig auf dem ganzen europäischen Kontinent Buch und Kelch als Symbole verwendeten.¹⁷ Um ihren Predigern die freie Auslegung des Wortes Gottes zu erleichtern, übersetzten sie die Bibel in ihre jeweilige Volkssprache – wie auch die protestantischen Bibelübersetzungen das Wort „frei“, also ohne die Notwendigkeit eines menschlichen Mittlers, nicht in erster Linie aus Gründen der besseren Lesbarkeit, sondern zur Beförderung der Predigt darboten. Und auch mit der auf der Bestreitung der Behauptung, dass die in göttlicher Vollmacht gesprochenen Worte des geweihten Priesters eine Substanzveränderung der Elemente von Brot und Wein zur Leib und Blut Christi herbeiführten, beruhenden Auslassung der mit der Transsubstantiation zu verbindenden Gesten im protestantischen Abendmahlsgottesdienst konnten die Protestanten an mittelalterliche häretische Bewegungen anschließen. Von der von Dévai geforderten praktischen Realisierung des Priestertums aller Gläubigen und der freien, geistgewirkten Auslegung der Bibel ließen sich die Reformatoren durch das europaweite Auftreten von als revolutionär empfundenen täuferischen Bewegungen, welche die radikal interpretierte Heilige Schrift in teilweise blutige Taten umsetzten,¹⁸ schnell abbringen. Ungarn indes wurde von diesen Konflikten nur am Rande, aber dennoch ausreichend berührt,¹⁹ um hinfort größere Vorsicht nahezulegen. Die Herausforderung für die Reformatoren bestand darin, die Freiheit der Bibelauslegung nicht aufzugeben, ohne zugleich darauf zu verzichten, ungezügelten Auslegungsansätzen gegenüber ein gewisses Maß an Regelhaftigkeit einzufordern. Die Widmungsvorrede der Vizsoly-Bibel fasst daher mehrere Jahrzehnte vorsichtiger protestantischer Hermeneutik wie folgt zusammen: „Nicht jede Auskunft aus jedermanns Munde sollen wir annehmen, wir sollen sie vielmehr an den Schriften der Apostel und Propheten messen, wie der Heilige Geist es uns gebietet.“ Die dahinterstehende Aussage ist eindeutig: da der Heilige Geist sich selbst erklärt, können weder Engel noch Teufel noch Synoden die Bibel auslegen – es ist letztlich Christus selbst, der die Heilige Schrift erleuchtet, da, wie Károlyi den Evangelisten Johannes zitierte, niemand außer dem Sohn Gott je gesehen habe.²⁰ In der interpretatorischen Praxis bedeutete dies die Wahrnehmung der dogmatisch relevanten Passagen (profunda) des Alten Testaments durch den Spiegel des Neuen Testaments. Gyulai, ein Mitglied der Übersetzergruppe um Gáspár Heltai
J. Le Goff, Saint Francis of Assisi (London/New York, 2004), 10. Th. A. Fudge, Jan Hus. Religious Reform and Social Revolution in Bohemia (London/New York, 2010); N. Nowakowska, „Reform before Reform? Religious Currents in Central Europe, c. 1500,“ in A Companion to the Reformation, Louthan und Murdock: 121−143; Ph. Haberken, „The Lands of the Bohemian Crown. Conflict, Coexistence/the Quest for the True Church,“ in ebd., 11−39. A. Hamilton, The Family of Love (Cambridge, 1981), 14−17. Csepregi, A reformáció nyelve, 187−193. Joh 1,18; Zvara, ‚Az keresztyén olvasóknak‘, 176.
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(1520 – 1574), betont, dass die ersten Worte der Genesis als ein Zeugnis für die Trinität zu verstehen seien, „denn, der die Welt erschuf, ist der Vater, das Wort, welches er sprach, ist – wie St. Johannes lehrt – der Sohn, und die Seele Gottes, welche über den Wassern schwebte und ihm Leben gab, ist Gott der Heilige Geist, der aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht.“²¹ Die figurative protestantische Auslegung zahlreicher alttestamentlicher Texte, insbesondere der Psalmen, des Hohenlieds, des Jonabuches, des Danielbuches oder des Buches des Propheten Ezechiel, aber auch der neutestamentlichen Johannesoffenbarung als Verheißung von Zukünftigem wandte letztlich die als „Pesher“ („Erfüllung“)²² benannte jüdische Auslegungsmethode an, welche sich in der Alten Kirche besonderer Beliebtheit und Verbreitung erfreut hatte (die Auslegung der Johannesoffenbarung gehörte zu den beliebtesten hermeneutischen Aufgaben dieser apokalyptisch sensiblen Zeit).²³ Die auch von den Autoren des Neuen Testaments gebrauchte jüdische Auslegungsweise biblischer Texte entwickelte sich in jüdischer wie christlicher nachbiblischer Hermeneutik weiter zur Auffassung vom vierfachen Sinn der Heiligen Schrift: man unterschied literale (historische), moralische, allegorische und anagogische (mit Blick auf das Kommende) Bedeutungsebene. Die scholastische Bibelauslegung gründete sich ebenfalls auf die Lehre vom vierfachen Schriftsinn,²⁴ wie Dante Alighieri (1265 – 1321) sie im Bereich der literarischen Ästhetik anwandte,²⁵ woraus Coluccio Salutati (1331– 1406) sie mit der Bemerkung, Gott sei der größte Dichter,²⁶ und die Bibel sei nicht „historia“, sondern „fabula“,²⁷ da ihre tiefere Bedeutung wie die poetischer Werke in allegorischer Weise darzulegen sei, wiederum in die Theologie zurückführte. Ungeachtet dessen beziehen alle im reformatorischen Kontext entstandenen Bibelübersetzungen Stellung gegen diejenigen, welche „im gesamten Alten Testamente geistlichen Sinn suchen.“²⁸ Protestanten zeigten sich bemüht, ungebremste Allegorese und „Origenisiererei“ – benannt nach dem als Erfinder dieser Methode geltenden alexandrinischen Theologen Origenes (ca. 185 – 254) –, welche auf dem vierfachen
Ebd., 81. G. Vermes, The Changing Faces of Jesus (London, 2000), passim. C. L. Beckwith, Hg., Reformation Commentary on Scripture. Old Testament, Bd. 12: Ezekiel, Daniel (Downers Grove, IL, 2012); S. Bene, „Ratio temporum. Dániel próféta és a magyar történetírás [Ratio temporum. Der Prophet Daniel und die ungarische Historiographie],“ in Clio inter arma. Tanulmányok a 16−18. századi magyarországi történetírásról [Clio inter arma. Studien zur ungarischen Historiographie vom 16. zum 18. Jahrhundert], Hg. G. Tóth (Budapest, 2014): 87−116; S. Őze, Apocalypticism in Early Reformation Hungary (Budapest/Leipzig, 2015). P. Ács, „‚Én fiam vagy, Dávid …‘ A historikus értelmezés korlátai a 2. zsoltár unitárius fordításában [‚Du bist mein Sohn, David …‘ Grenzen der historischen Interpretation bei der unitarischen Übersetzung des Psalms 2],“ Irodalomtörténeti Közlemények 111 (2008): 632−644. Ch. S. Singleton, „Allegoria,“ in La poesia della Divina Commedia, Ders. (Bologna, 1990): 17−35. P. R. Blum, Philosophy of Religion in the Renaissance (Farnham, 2010), 65. P. G. Bietenholz, Historia and Fabula. Myths and Legends in Historical Thought from Antiquity to the Modern Age (Leiden, 1994). Zvara, ‚Az keresztyén olvasóknak‘, 83.
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Schriftsinn beharrte,²⁹ zu begrenzen. Für Luther und seine ungarischen Parteigänger galten Allegorien als „Hurenbalg, fein geputzt und halten doch den Stich nicht“,³⁰ denen gegenüber ausschließlich die auf den „sensus historicus“ bezogene literale Interpretation des Bibeltextes legitim war. Auf den ersten Blick waren damit mit einem Mal Scholastik und Literatur aus dem Blickfeld der protestantischen Schriftausleger verbannt: während Erasmus von Rotterdam (1466 – 1536) die „copia verborum“ pries, sprach Luther von der „inutilis verborum copia“.³¹ Gerade angesichts dessen erscheint die Frage naheliegend, wie es möglich war, dass protestantische Bibelausgaben weiterhin Allegorese betrieben, indem sie etwa bestimmte alttestamentliche Passagen als „Verheißungen“ auf das Neue Testament bezogen. Eine Antwort hat wahrzunehmen, dass protestantische Hermeneutik etwa im Falle der als auf Christus bezogen wahrgenommenen prophetischen Messiastexte figurativen Bedeutungsaspekten literale Bedeutung zuzuschreiben bereit war und sie eben nicht als Allegorien auffasste: die Reformation unterdrückte typologisches Denken nicht, sondern integrierte es ausgehend von der Grundannahme einer engen Beziehung zwischen Altem und Neuem Testament in ein hermeneutisches Regelwerk. Eine größere reformationsbedingte hermeneutische Umstellung betraf die Ersetzung der mystischen durch eine prophetische Bedeutungsebene.³² Dass es sich jedoch bei der Bibel um einen Text mit einer literalen und einer geistlichen Bedeutungsebene handelte, war in der Reformationszeit unumstritten. Gyulai etwa schreibt: „Darum weiset unser Herr Christus die Juden in die Schrift [das Alte Testament], da diese von ihm zeuget“.³³
1.3 Philologie Die Gruppe der Übersetzer um Heltai waren sich dessen bewusst, dass „auch die Türken der Meinung sind, dass das Alkoran genannte Buch die Offenbarung Gottes sei … und sie sagen auch, dass … ihre Schriften vom Engel Gabriel von Gott selbst her gebracht worden seien“³⁴ – eine Anspielung auf die muslimische Überzeugung, dass die Offenbarung Gottes auf einen himmlischen Ursprungstext als Mutter des „Buches“ („Umm-ul-Kitab“) zurückgehen, dessen Abschriften die irdischen Ausgaben sind.³⁵
H. G. Reventlow, History of Biblical Interpretation, Bd. 3: Renaissance, Reformation, Humanism (Atlanta, 2010). WA TR 1,607,6 (zu Nr. 1219). C. H. Miller und P. Macardle, Hg., Erasmus and Luther. The Battle over Free Will (Indianapolis, IN, 2012), 83. Ács, „‚Én fiam vagy, Dávid‘“: 638. Zvara, ‚Az keresztyén olvasóknak‘, 83. Ebd., 77. R. Simon, A Korán világa [Die Welt des Koran] (Budapest, 1987), 79; J. D. McAuliffe, Hg., The Cambridge Companion to the Quran (Cambridge, 2006), 3; Borges, „A Defense of the Kabbalah“: 83.
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Christliche Vorstellungen von der Bibel waren damit in hohem Maße vergleichbar: manche lutherische Theologen etwa rechneten die Heilige Schrift als die Verkörperung des Heiligen Geistes nicht unter die geschaffenen Dinge.³⁶ Dass unterschiedliche Strömungen unterschiedliche Auffassungen bezüglich der konkreten irdischen Ausgabe des „himmlischen Originals“ hatten, vermag dabei kaum zu überraschen: während orthodoxe Christen unter Berufung auf das Übersetzungswunder der 70 die Septuaginta für fehlerfrei hielten,³⁷ genoss in der westlichen Christenheit – mit den Worten Káldis – „die ‚Vulgata Editio‘ genannte alte lateinische [Übersetzung]“ höchstes Ansehen, mit welcher es dem Kirchenvater Sophronius Eusebius Hieronymus (347– 420) dank des „großen, der Kirche gegebenen Schatzes“ des Heiligen Geistes gelungen sei, die „wahre Bedeutung“ der Heiligen Schrift zu erhalten.³⁸ Inzwischen wissen wir, dass diese dogmatisch so wertgeschätzte Bibelausgabe, wie schon der Bibelübersetzer Károlyi vermutete, tatsächlich eine im Paris des 13. Jahrhunderts standardisierte Version der im 9. Jahrhundert durch den karolingischen Gelehrten Alcuin von York (735 – 804) bearbeiteten Ausgabe darstellt.³⁹ Humanistische Bibelgelehrte brachten gegen die der Vulgata zugeschriebene Autorität das lange vernachlässige Studium des Griechischen in Stellung: gleich mehrfach korrigierte Laurentius Valla (1405/07– 1457) den Vulgatatext auf der Grundlage seiner ausführlichen Studien griechischer Manuskripte;⁴⁰ Erasmus übersetzte das Neue Testament aus dem Griechischen (Novum instrumentum omne, 1516)⁴¹ – eine wichtige Grundlage für die Arbeit erasmianischer ungarischer Bibelübersetzer⁴² – und die Schriften von Pico della Mirandola (1463 – 1494) und Johannes Reuchlin (1455 – 1522) boten wichtige Hilfsmittel für eine christliche Hebraistik, welche die Lektüre, Untersuchung und Übersetzung des Alten Testaments aus dem Hebräischen ermöglichte.⁴³ In Alcalá de Henares erschien mit der Biblia Polyglotta Complutensia (1514– 1517) die erste mehrsprachige Bibelausgabe im Druck,⁴⁴ die auch in Ungarn weite Verbreitung finden sollte, und in Löwen wurde mit dem Collegium Trilingue 1517
Ebd. N. Fernández Marcos, The Septuagint in Context. Introduction to the Greek Version of the Bible (Leiden, 2000). Zvara, ‚Az keresztyén olvasóknak‘, 214. A. Hamilton, „Humanists and the Bible,“ in The Cambridge Companion to Renaissance Humanism, Hg. J. Kraye (Cambridge, 1998): 102. J. Monfasani, „Criticism of Biblical Humanists in Quattrocento Italy,“ in Biblical Humanism and Scholasticism in the Age of Erasmus, Hg. E. Rummel (Leiden, 2008): 15−38. Heltai und Gáborjáni Szabó, Biblia Sacra Hungarica, 148−157. Hamilton, „Humanists and the Bible“: 111−112. A. Coudert und J. S. Shoulson, Hg., Hebraica Veritas? Christian Hebraists and the Study of Judaism in Early Modern Europe (Philadelphia, PA, 2004). E. Rummel, Jimenez de Cisneros. On the Threshold of Spain’s Golden Age (Tempe, AZ, 1999), 53−65; F. Luttikhuizen, Underground Protestantism in Sixteenth Century Spain. A Much Ignored Side of Spanish History (Göttingen, 2017), 41−43.
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ein Institut zum Studium der drei heiligen Sprachen im Geiste des Erasmus gegründet.⁴⁵ Auch die Bibelübersetzung der ungarischen Reformation wandte sich den antiken Quellen der heiligen Texte zu, um der Aufforderung des Erasmus Folge zu leisten, die Heilige Schrift „jedem Volk in seiner Zunge“ zur Verfügung zu stellen⁴⁶ – freilich vielfach in anderer Weise als die erasmianischen Übersetzungen der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts.⁴⁷ Die um Heltai gescharte Gruppe, aus der die erste fast vollständige ungarische Bibel hervorging, orientierte sich am Übersetzungskonzept Luthers, dessen 1522– 1534 entstandene deutsche Bibel sie als autoritatives Vorbild sah. Der Wittenberger Reformator teilte seine Übersetzungsprinzipien in seinen Tischreden mit: „so musten sie den nemen, der sich […] mitt dem neuen testament reumet“⁴⁸ Demnach legt Christus selbst die Schrift aus, insofern Theologie, Hermeneutik, Grammatik und Philologie betroffen sind: „da der Heilige Geist nicht in allen Fällen der Grammatik folgt, … muss die Grammatik stets dem Sinn des Heiligen Geistes folgen“, wie Gyulai es, klar von Luther inspiriert, formulierte.⁴⁹ Die biblische Wissenschaft ist somit nach wie vor „ancilla theologiae“ – eine signifikante theoretische Differenz zwischen humanistischer und protestantischer Bibelwissenschaft anzunehmen, wäre ein Missverständnis. Humanistische Gräzisten, christliche Hebraisten und Protestanten waren sich darin einig, dass die Bibel auf einen himmlischen Urtext zurückgeht; sie unterschieden sich lediglich hinsichtlich der zu dessen Rekonstruktion für geeignet erachteten Methoden. Um die eigenen Überzeugungen zu begründen und die der jeweiligen Gegenseite zu widerlegen, wandte sich ein jeder von ihnen „ad fontes“. Franzisco Kardinal Jiménez de Cisneros (1436 – 1517) gibt diesem Programm in seiner Vorrede zur Complutensischen Polyglotte einen charakteristischen Ausdruck: er vergleicht die wahre, lateinische Heilige Schrift (der lateinische Text kommt in dieser Ausgabe zwischen griechischem und hebräischem Text zu stehen) mit dem zwischen den beiden Verbrechern gekreuzigten Herren, welche er mit Synagoge und östlichem Christentum identifiziert.⁵⁰ Die Funktionsweise der theologisch inspirierten Philologie des 16. und 17. Jahrhunderts lässt sich an der Übersetzung eines einzigen Wortes einer einzigen Bibelstelle besonders gut veranschaulichen: seit alters interpretiert die Kirche Psalm 22 als Vorhersage der Kreuzigung Christi. Vers 17 (oder, nach hebräischer Zählung, 16) lautet in der Übersetzung der ungarischen Bibel des Károlyi⁵¹ ganz ähnlich wie in der Lu-
H. de Vocht, History of the Foundation and the Rise of the Collegium Trilingue Lovaniense, 1517−1550, 4 Bde. (Löwen, 1951−1955). Á. Ritoók-Szalay, „Erasmus und die ungarischen Intellektuellen des 16. Jahrhunderts,“ in Erasmus und Europa, Hg. A. Buck (Wiesbaden, 1988): 111−128. Zvara, ‚Az keresztyén olvasóknak‘, 125. WA TR 5,218,19 f. Zvara, ‚Az keresztyén olvasóknak‘, 79. Heltai und Gáborjáni Szabó, Biblia Sacra Hungarica, 188. G. Károlyi, Szent Biblia [Die Heilige Bibel] (Vizsoly, 1590), 1:547r.
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therübersetzung von 1545: „Denn Hunde haben mich vmbgeben / Vnd der bösen Rotte hat sich vmb mich gemacht / Sie haben meine Hende vnd Füsse durchgraben.“ Das Wort „durchbohren“ ([mit Nägeln] durchbohren) ist Gegenstand einer jahrhundertalten Auseinandersetzung zwischen jüdischen und christlichen Bibelübersetzern: die hebräische Bibel liest – in Übereinstimmung mit dem Psalmtext – כארי („kaari“), „wie ein Löwe“. In sämtlichen christlichen Bibelübersetzungen beider Konfessionen in Ungarn wie Europa insgesamt seit Septuaginta und Vulgata wird diese Lesart unter der Annahme, dass jüdische Kopisten die Buchstaben Waw ( )וund Jod ( )יin einem einfachen Abschreibfehler verwechselt hätten, durch die Variante כארו („kaaru“, durchbohren) bereinigt. Dass dieses Lexem in der hebräischen Sprache nicht vorkommt, wurde auf christlicher Seite ebensowenig zur Kenntnis genommen wie die Tatsache, dass für die Korrektur zum dann in der Tat „durchbohren“ bedeutenden Lexem „( כרוkaru“), das freilich durch kein einziges erhaltenes Manuskript für diese Stelle belegt ist, die Eliminierung des Konsonanten Aleph ( )אvonnöten wäre. Christliche Philologen entschieden eine philologische Frage somit dogmatisch, was jedoch mehr als eine bloße Konjektur sein kann: die Übersetzung der Septuaginta (ὢρυξαν) zeigt, dass die Minoritätslesart („durchbohren“) bereits um die Zeitenwende gängig war.⁵² Sie wird – auch wenn nach wie vor starke Argumente für die Mehrheitslesart „wie ein Löwe“ sprechen – offenbar durch ein in Qumran gefundenes Papyrusfragment aus dem 1. oder 2. Jahrhundert gestützt⁵³ und begegnet in jeder ungarischen Bibelübersetzung, ob es sich nun um die lutherische Psalmenübersetzung von István Bencédi Székely (1505 – 1565),⁵⁴ die reformierte Károlyis oder um die unitarische Übersetzung von Miklós Bogáti Fazakas (1548 – 1592)⁵⁵ handelt, obwohl ihnen allen dieses philologische Problem bekannt war. Der versierte Hebraist Péter Melius (1532– 1572) unternahm es sogar, die „Gotteslästerung der Rabbinen“ in einem eigenen Aufsatz über dieses und einige andere textkritische Probleme zu widerlegen.⁵⁶ Angesichts dessen vermag es kaum zu überraschen, dass nur die auf 1624– 1629 zu datierende sabbatianischen Psalmenübersetzung des Simon Péchi (1575 – 1642) aus Respekt gegenüber der jüdischen Tradition dem masoretischen Textbestand entsprechend „wie ein Löwe“ übersetzt. Péchi bemerkt dazu: „da foderunt in keiner jüdischen Schrift begegnet, musste ich bei diesem sensus bleiben.“⁵⁷
H. F. W. Gesenius, Hebrew and Chaldee Lexicon to the Old Testament Scriptures, übers. u. hg.v. S. P. Tregelles (London, 1860), CCCLXXXVIII. P.W. Flint, „The Dead Sea Psalms Scrolls. Psalms Manuscripts, Editions/the Oxford Hebrew Bible,“ in Jewish and Christian Approaches to the Psalms. Conflict and Convergence, Hg. S. Gillingham (Oxford, 2013): 11−34. I. Székely, Zsoltárkönyv [Der Psalter] (Krakow, 1548), 20r. M. Bogáti Fazakas, Magyar zsoltár [Ungarischer Psalter], Hg. G. Gilicze und G. Szentmártoni Szabó, Nachwort R. Dán (Budapest, 1979), 49. R. Dán, Humanizmus, reformáció, antitrinitarizmus és a héber nyelv Magyarországon [Humanismus, Antitrinitarianismus und hebräische Sprache in Ungarn] (Budapest, 1973), 86; vgl. R. G. Finch und G. H. Box, Hg., The Longer Commentary of R. David Kimhi on the first Book of Psalms (London, 1919), 102−103. S. Péchi, Psaltérium [Der Psalter], hg.v. Á. Szilády (Budapest, 1913), 36.
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2 Die Ungarische Bibel 2.1 Protestantische Übersetzungen In der hier zu erörternden Zeitspanne entstanden mehrere ungarische Bibelübersetzungen „im Kontext der Reformation“,⁵⁸ die jeweils ihrer eigenen Herangehensweise hinsichtlich Übersetzung und Erstellung und ihren spezifischen theologischen Konzepten mit jeweils eigenen Zugängen zur Kanonfrage folgten sowie auf spezifische Unterstützerkreise zurückgingen. Die chronologisch erste Stelle nimmt die kommentierte Psalmübersetzung des Székely von 1548 ein,⁵⁹ deren Anspruch, dass in ihr „David weder Hebräisch, noch Latein, noch Griechisch, sondern Ungarisch“ spreche, eindeutig reformatorisch ist.⁶⁰ Wie der Erasmianer János Sylvester (1504– 1551)⁶¹ war Székely ein „homo trilinguis“, der durch seine Kenntnis der drei heiligen Sprachen in der Lage war, aus dem hebräischen Originaltext statt aus der Vulgata zu übersetzen.⁶² Da seine Informationen so gut wie ausschließlich aus der berühmten Basler hebräisch-deutschen Bibelausgabe Sebastian Münsters (1488 – 1552) von 1534– 1535 stammen, ist es nicht ohne weiteres möglich, die Qualität seiner Hebräischkenntnisse näher zu beurteilen.⁶³ Wie Münster beabsichtigten Székely und andere christliche Hebraisten, auf der Grundlage des auf Hieronymus zurückgehenden Prinzips der „hebraica veritas“ durch das Studium der hebräischen Quellen auf einen mit christlichen Glaubensüberzeugungen übereinstimmenden Text zu stoßen.⁶⁴ Auch für sie stellte der Antagonismus zwischen Christentum und Judentum einen Ausgangspunkt dar.⁶⁵ Ungeachtet ihrer protestantischen Überzeugung gehörten sie freilich der der Reformation vorangehenden Generation der Humanisten an, weswegen es kaum zu überraschen vermag, dass Luther Münster dafür kritisierte, zu wenig Distanz zu den Lehren gebildeter mittelalterlicher Rabbinen wie Schlomo ben Jizchak, genannt Rashi (1040 – 1105), David ben Josef Kimchi, genannt Radak (1160 – 1235), und anderen zu halten.⁶⁶ Székely verheißt in der Vorrede seiner Psalmenübersetzung, „bald die ge J. Horváth, A reformáció jegyében. A Mohács utáni félszázad irodalomtörténete [Im Geiste der Reformation. Die Geschichte der ungarischen Literatur, ein halbes Jahrhundert nach der Schlacht bei Mohács] (Budapest, 1957). Székely, Zsoltárkönyv. Zvara, ‚Az keresztyén olvasóknak‘, 70. Die von János Sylvester 1541 in Sárvár-Újsziget veröffentlichte vollständige Übersetzung des Neuen Testaments lehnt sich eng an die Übersetzungen und Kommentare des Erasmus an. Bis zum Ende seines Lebens blieb Sylvester ein Anhänger der altgläubigen Kirche und schloss sich nicht der Reformation an. Vgl. zu ihm Ritoók-Szalay, „Erasmus und die ungarischen Intellektuellen“. Dán, Humanizmus, reformáció, 47−60. Heltai und Gáborjáni Szabó, Biblia Sacra Hungarica, 178−179. E. Rummel, „Humanists, Jews/Judaism,“ in Jews, Judaism/the Reformation in Sixteenth-Century Germany, Hg. D. Ph. Bell und S. G. Burnett (Leiden, 2006): 7−10. See S. P. Markish, Erasmus and the Jews (Chicago, 1986). WA TR 5,218.
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samte Bibel“ zu veröffentlichen,⁶⁷ wozu er nicht mehr kam, auch wenn seine Anmerkungen zu den Psalmen darauf hindeuten, dass er in der Tat eine Übersetzung der Genesis anvisiert hatte. Die ungeachtet ihrer Verdienste weithin vergessene siebenbändige Ausgabe, welche zwischen 1551 und 1565 durch eine Übersetzergruppe um Heltai in Klausenburg (Kolozsvár, heute Cluj-Napoca in Rumänien) in den Druck gelangte, stellt einen Meilenstein des Bibeldrucks dar.⁶⁸ Dass Heltai, der über eine Druckerei, eine Papiermühle und ein Verlagshaus verfügte, die Erfindung Gutenbergs nach einem in Europa weit verbreiteten Vorbild dazu nutzte, die Bibel der ungarischen Reformation in Umlauf zu bringen, ist offensichtlich.⁶⁹ Das Werk umfasst nahezu den gesamten Bibeltext, die Drucklegung wurde durch Fürst Johann Sigismund Zápolya (1540 – 1571) und andere transylvanische Adlige finanziert,⁷⁰ sollte jedoch nicht nur in Transylvanien, sondern auch im Königreich Ungarn selbst Verbreitung finden, weswegen einige Exemplare keine Widmung an den Fürsten enthalten. Der altgläubige Adlige Lukács Ormosdi Székely im von Transylvanien weit entfernten West-Transdanubien schätzte die Bände sehr,⁷¹ und auch Calvinisten drängten auf die Vollendung der Heltai-Bibel. Bischof Péter Károlyi begann 1574 mit der Übersetzung der von Heltai und seiner Gruppe nicht übersetzten Bücher des Alten Testaments, sein Tod ein Jahr später verhinderte jedoch die Vollendung des Werks.⁷² Heltais Übersetzergruppe bestand aus Schülern bekannter Bibelgelehrter in Krakau und Wittenberg, darunter einigen qualifizierten Gräzisten und Hebraisten – Gergely Vizaknai etwa veröffentlichte auch einen lateinischen Kommentar des Buches Genesis. Im osmanischen Tolna übersetzten Mátyás Tövisi und Imre Szigeti das Buch Sirach ins Ungarische, die Gruppe um Heltai übernahm die Redaktionsarbeit.⁷³ Gyulai beschreibt für die Übersetzung des Alten Testaments: „wir folgten der hebräischen Bibel, nahmen aber auch oft Abstand vom hebräischen Wortlaut, damit wir um der eigentlichen Bedeutung willen der ungarischen Sprache folgen konnten.“⁷⁴ (Die hier anklingenden horatianischen Übersetzungsgrundsätze begleiten die Geschichte der
Zvara, ‚Az keresztyén olvasóknak‘, 70. Heltai, Biblia. Heltai und Gáborjáni Szabó, Biblia Sacra Hungarica, 166−169. M. Balázs, „Heltai Gáspár zsoltárfordításáról [Über die Pslamenübersetzung von Gáspár Heltai],“ in Biblia Hungarica Philologica. Magyarországi Bibliák a filológiai tudományokban [Biblia Hungarica Philologica. Philologische Studien zu gedruckten Bibeln in Ungarn], Hg. J. Heltai (Budapest, 2009): 55. F. Szakály, „A magyar nyelvű bibliafordítás terjedéséhez [Der Vertrieb ungarischer Bibelübersetzungen],“ in Művelődési törekvések a korai újkorban. Tanulmányok Keserű Bálint tiszteletére [Kulturelle Unternehmen in der Frühen Neuzeit. Studien zu Ehren von Bálint Keserű], Hg. M. Balázs et al. (Szeged, 1997): 545−554. Vgl. P. Károlyi, Az halálról, feltámadásról és az örök életről hasznos és szükséges könyvecske [Nützliches und notwendiges Büchlein über Tod, Auferstehung und ewiges Leben] (Debrezin, 1574). G. Kathona, Fejezetek a török hódoltságkori reformáció történetéből [Einige Kapitel der Reformationsgeschichte im osmanischen Ungarn] (Budapest, 1974), 27−29. Zvara, ‚Az keresztyén olvasóknak‘, 79.
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ungarischen Bibelübersetzungen durchgängig.) Diese Übersetzungsmethode und die dabei eingenommene theologische Perspektive befand sich im Einklang mit den Ansichten Luthers und seiner Bibel.⁷⁵ So unterscheidet etwa Heltai klar zwischen dem Wort Gottes und literarischem Stil: „Es ziemt sich nicht, dass wir diese Bücher und Erzählungen als solche Fabeln oder Schriften, die menschlichem Gefühl entwachsen sind, erachten … sie sind nicht eitle Wortklaubereien noch einfältige Fabeln, sondern die wahren Worte des Herrn, des gelobten.“⁷⁶ Heltai selbst übersetzte den von Luther als „kleine Bibel“ bezeichneten Psalter ins Ungarische. Ein Vergleich mit der früheren Übersetzung von Székely ist instruktiv: an die Stelle humanistischer Philologie und ihrer Einsichten ist Luthers eindeutige Botschaft getreten: „In diesem Buch vergleicht der Heilige Geist die beiden Länder unseres Herren Jesu Christi und des Heiligen Königs David.“⁷⁷ Die ganze Folge der Bücher vermittelt Luthers Evangelium an die Ungarn: „lass diese Welt toben und feiern: sie wird bald enden.“ Unterdes veränderten sich die äußeren Bedingungen der Reformation in allen drei Teilen Ungarns: im Laufe der 1560er Jahre gewannen Anhänger der Schweizer Reformation in vielen Gebieten an Unterstützung, während es in den 1570er Jahren, vor allem in Transylvanien und im osmanischen Teil Ungarns die Antitrinitarier waren, die eine wichtige Rolle spielten. Unter diesen sich schnell verändernden Kontexten entstand die Bibelübersetzung des einflussreichen calvinistischen Pfarrers von Debrezin, Péter Melius. Mit János Enyingi Török (1529 – 1562) war der Grundherr von Debrezin sein wichtigster finanzieller Förderer. Auch Melius wollte die gesamte Bibel übersetzen, kam jedoch lediglich dazu, die Samuelis- und Königebücher (1565), das Buch Hiob (1565) und das Neue Testament (1567) zu übersetzen, wobei sich von letzterem keine Exemplare erhalten haben. Bei einem Blick auf die Übersetzung des Melius fällt zunächst auf,⁷⁸ dass der eigentliche Bibeltext unter der Fülle von Marginalien beinahe versteckt wirkt, wodurch der Eindruck entsteht, dass das Wesentliche am Rand und nicht im Text selbst zu finden sei. Melius als engagierter Reformator machte von der Bibel Gebrauch als Waffe in seinem Kampf gegen Römisch-Katholische, Antitrinitarier und Täufer: „Siehe, die Gnade des Herren kommt zu uns Tag für Tag, sein Reich wird auferbaut und das Reich des Satans vernichtet. Von Tag zu Tag nimmt zu der Glanz des Wortes Gottes und seine Klarheit“, wie Melius formuliert.⁷⁹ Dabei erscheint es offensichtlich, dass für den Pfarrer von Debrezin nicht länger die Hermeneutik im Sinne einer Einführung in die Bedeutung der Bibel, sondern die Exegese im Sinne einer Auslegung oder Überführung der hermeneutischen Einsichten in die Herausforderungen des täglichen Lebens im Mittelpunkt steht. Seine Randkommentare erweisen sich daher als wichtige Quellen für das ungarische Alltagsleben der Zeit. Melius hatte sich intensiv mit der Exegese befasst und Kommentare zu na
Balázs, „Heltai Gáspár zsoltárfordításáról“: 79. Zvara, ‚Az keresztyén olvasóknak‘, 131. Ebd., 121−122. Heltai und Gáborjáni Szabó, Biblia Sacra Hungarica, 170. Zvara, ‚Az keresztyén olvasóknak‘, 170.
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hezu allen biblischen Büchern verfasst; seine Übersetzungsbemühungen reihen sich in diese exegetischen Anstrengungen ein. Hebräische Texte übersetzte er ausgehend von den Editionen, lateinischen Übersetzungen und Kommentaren Münsters, des Vatablus (François Vatable, 1495 – 1547) und den Genfer Übersetzern ins Ungarische,⁸⁰ auch die Kabbalah als wichtiges Zeugnis nachbiblischer jüdischer Lehre benutzte er (selbstverständlich unter christlichen Voraussetzungen), indem er beispielsweise ihre Zahlenlehre dafür einsetzte, verborgene Botschaften des Bibeltextes ans Licht zu bringen – etwa, dass es sich beim in apokalyptischen Texten vorkommenden „apokalyptisch Tier“ um den Papst handle. An den Diskursen eidgenössischer Theologen nahm Melius auf prominenter Ebene teil, einem seiner Briefe an Bullinger lag eine inzwischen verloren gegangene Abhandlung bei, in der er die textkritische Argumentation der sonst von ihm hoch geschätzten Exegeten Joseph Albo (1380 – 1444), David ben Josef Kimchi und anderer zu Fragen wie den oben anhand von Psalm 22 dargestellten zu widerlegen unternahm. Auf den Spuren seines Wittenberger Lehrers Johannes Forster (1496 – 1558) versuchte Melius somit, von der „hebraica veritas“ zu lernen und schloss doch zugleich jüdische Ansätze aus. Gott begegnet des Öfteren als „Jahwe Elohim“, auch wenn es Melius bewusst war, dass der erste hebräische Gottesname eine Singular- und der zweite eine Pluralform darstellt: charakteristisch für Melius ist, dass er die Kombination als „Heilige Dreifaltigkeit, ein Gott“ ins Ungarische übertrug.⁸¹ Die Übersetzung des Neuen Testaments durch Tamás Félegyházi (1540 – 1586) erschien 1586 in Debrezin.⁸² Félegyházi, ursprünglich ein reformierter Lehrer und enger Mitarbeiter des Melius, verließ Debrezin 1570 mitsamt seinen Schülern in Richtung des antitrinitarischen Klausenburg,⁸³ nur, um im Folgejahr erneut nach Debrezin und zu Melius zurückzukehren, dem er nach dessen Tod im dortigen Pfarramt nachfolgte. Seine zeitgenössisch weit verbreitete Übersetzung, die inzwischen fast in Vergessenheit geraten ist, atmet den Geist des Calvinismus: wie Melius stellt er reiches exegetisches Material in Form von Randbemerkungen zur Verfügung, dessen Umfang immer wieder den des auf der jeweiligen Seite befindlichen Bibeltextes übertrifft. Die Quellen seiner Übersetzung konnten bisher nicht in ausreichendem Maße ermittelt werden; angesichts des hohen Interesses dieses gelehrten Theologen an den Werken des Genfer Reformators Theodor Beza (1519 – 1605) erscheint es naheliegend, dessen – dezidiert als Ersatz für die inzwischen verdächtig gewordene Arbeit des Erasmus konzipierte – lateinische Übersetzung des griechischen Neuen Testaments (erste Auflage Genf, 1556)⁸⁴ und die ihr beigegebenen Ma-
J. P. Vásárhelyi, „Robert Estienne magyarországi hatása [Der Einfluss von Robert Estienne in Ungarn],“ in Biblia Sacra Hungarica, Heltai und Gáborjáni Szabó: 65−75. Dán, Humanizmus, reformáció, 71−87. Heltai und Gáborjáni Szabó, Biblia Sacra Hungarica, 172−173. Horváth, A reformáció jegyében, 301. B. Roussel, „Le Novum Testamentum de Théodore de Bèze. L’édition, la traduction, ez l’annotation de l’Épître de Jude,“ in Theodore de Bèze, 1519−1605, Hg. I. D. Backus (Genf, 2007): 185−194.
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terialien als Ausgangspunkt der Übersetzung anzunehmen. Auch Félegyházi starb vor der Vollendung seines Übersetzungsprojekts; sein Kollege György Gönci unternahm es, die Lücken zu schließen, indem er beispielsweise den Judasbrief übersetzte und ein Vorwort zur Verfügung stellte (während die Kommentierung der Johannesoffenbarung wohl nicht von ihm stammt). Vier Jahre später, 1590, erschien mit der Vizsoly-Bibel unter der Herausgeberschaft des Dekans von Gönc, Gáspár Károlyi,⁸⁵ die beeindruckendste ungarische Bibelübersetzung,⁸⁶ ein von den reichen calvinistischen Adligen András und Gáspár Mágócsy sowie dem späteren Fürsten von Transylvanien, Sigismund Rákóczi (1544– 1608) finanziertes ambitioniertes Unterfangen: Rákóczi hatte den Drucker Bálint Mantskovit (gest. 1596) damit beauftragt, mitsamt seiner Werkstatt von Galgóc (heute Hlohovec/Slowenien) nach Vizsoly umzuziehen, wo er die Bibel veröffentlichen sollte. Der Übersetzungsvorgang nahm etwa 15 Jahre in Anspruch, die Drucklegung erfolgte in den eineinhalb Jahren zwischen Februar 1589 und Juli 1590.Während es sich bei der Übersetzung selbst nicht um das Werk eines Einzelnen, sondern wie bei der Bibelübersetzung Heltais um das einer Übersetzergruppe handelte, lag die redaktionelle Arbeit vollständig bei Károlyi.⁸⁷ Zumindest Teile des Alten Testaments der VizsolyBibel zeigen, dass den Übersetzern die Heltai-Bibel vorlag, wenngleich die beiden Übersetzergruppen unterschiedlich arbeiteten: während Heltai und seine Kollegen tatsächlich als Gruppe gearbeitet hatten, scheint Károlyi die Arbeit unter seinen Mitarbeitern verteilt zu haben. Ein Zufallsfund in den 1980er Jahren förderte eine Seite der Druckvorlage der Vizsoly-Bibel mit den handschriftlichen Korrekturvermerken Károlyis am Rande zutage.⁸⁸ Dieser Fund erwies sich als hilfreich für die Rekonstruktion der unterschiedlichen Phasen der Redaktion und Drucklegung: Károlyi, dessen Vorrede zur Vizsoly-Bibel bereits oben zitiert wurde, nahm im nachtridentinischen Katholizismus vorherrschende Ansichten ins Visier, indem er zahlreiche Argumente ins Feld führte, um die Autorität der Vulgata zu untergraben und ihr ein eindeutig protestantisches Programm von Verständnis und Verwendung der Bibel gegenüberzustellen:⁸⁹ „Ich werde es nie unterlassen, euch zu erinnern, dass es nicht ausreicht, darauf zu hören, was wir hier darlegen: ihr müsst die Bibel auch zu Hause lesen!“⁹⁰ Da die Vizsoly-Bibel schon durch ihren Umfang und ihr Gewicht weit davon entfernt war, für jedermann erschwinglich zu sein, sollte es noch Jahrhunderte dau A. Szabó, Hg., Károlyi Gáspár a gönci prédikátor [Gáspár Károlyi, Prediger von Gönc] (Budapest, 1984). Heltai und Gáborjáni Szabó, Biblia Sacra Hungarica, 194−195. A. Szabó, A rejtőzködő bibliafordító: Károlyi Gáspár [Der verborgene Bibelübersetzer Gáspár Károlyi] (Budapest, 2012). A. Szabó, „A Vizsolyi Biblia nyomdai kéziratának töredéke [Ein Fragment des gedruckten Manuskripts der Vizsoly Bibel],“ Irodalomtörténeti Közlemények 87 (1983): 523−527. K. Péter, „Bibellesen. Ein Programm für jedermann im Ungarn des 16. Jahrhunderts,“ in Iter Germanicum. Deutschland und die Reformierte Kirche in Ungarn des 16 – 17. Jahrhundert, Hg. A. Szabó (Budapest, 1999): 7– 38. Zvara, ‚Az keresztyén olvasóknak‘, 178.
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ern, bis dieses bedeutsame theoretische Programm in die Tat umgesetzt werden konnte. Die Übersetzergruppe um Károlyi erweiterte die bereits verwendeten Quellen um die neue Übersetzung des Heidelberger Hebraisten Immanuel Tremellius (1510 – 1580), „der ein geborener Jude ist.“⁹¹ Neuere Forschungen konnten in Peter Martyr Vermiglis (1499 – 1562) kommentierter Übersetzung des Ersten Buches Samuelis die Grundlage der entsprechenden Bestandteile der Vizsoly-Bibel identifizieren.⁹² Károlyi und seine Mitarbeiter führten ihre Leser in einen in zunehmendem Maße vereindeutigten protestantischen Kosmos der Bibel, behielten jedoch auf der anderen Seite bestimmte Traditionen bei: das Buch Esther, dessen Textbestand durch große Unterschiede zwischen seinen hebräischen, griechischen und lateinischen Versionen gekennzeichnet ist, wird zunächst aus dem Hebräischen, danach aus Septuaginta und Vulgata übersetzt, während „Teile unauffindbar blieben“,⁹³ wie es eine Marginalie mitteilt. Dies zeigt, dass die zügige Drucklegung in Vizsoly bisweilen auch auf Kosten der Qualität der philologischen Arbeit erfolgte. Eine erneute Durchsicht dieser Übersetzung entsprechend der zeitgenössischen calvinistischen Standards nahm Albert Szenci Molnár (1574– 1634) vor, der die Fehler unter Berücksichtigung der besten ihm zu Gebote stehenden Quellen überarbeitete (erschienen Hanau, 1608; Oppenheim, 1612).⁹⁴ Seine Ausgaben trennten deuterokanonische (oder, in protestantischer Terminologie: apokryphe) Schriften von kanonischen und boten die biblischen Bücher in einer protestantischen Grundsätzen entsprechenden Ordnung. Sie zeigen, dass die Bibelübersetzung der Gruppe um Károlyi fortlaufend entsprechend der jeweils vorherrschenden Tendenzen der protestantischen biblischen Wissenschaft weiterentwickelt und modifiziert wurde. Gleichzeitig wurde die Vizsoly-Bibel nie zur Heiligen Schrift einer einzigen Konfessionskirche, da sie lange Zeit auch von ungarischen Lutheranern verwendet wurde – erst im 18. Jahrhundert kam der Gedanke einer eigenständigen lutherischen Übersetzung auf.⁹⁵
2.2 Römisch-katholische Übersetzungen Die römisch-katholische Kirche hat sich stets gegen die Anschuldigung verwahrt, die Lektüre der Bibel in der Volkssprache zu verbieten. Tatsächlich entsprach es mittelalterlichem Herkommen, dass der Priester bestimmte Bibelstellen auf Ungarisch verwendete: die dreibändige Predigtsammlung des Miklós Telegdi (1535 – 1586), er-
Ebd., 179; Heltai und Gáborjáni Szabó, Biblia Sacra Hungarica, 182−183. M. Imre, A Vizsolyi Biblia egyik forrása: Petrus Martyr [Peter Martyr, One of the Sources of the Vizsoly Bible] (Debrezin, 2006). Károlyi, Szent Biblia, 1:507r. Vásárhelyi, „Robert Estienne“: 70. Z. Csepregi, „Evangélikus bibliafordítások a 18. században [Evangelikal-Lutherische Bibelübersetzungen im 18. Jahrhundert],“ in Biblia Hungarica Philologica, Heltai: 171−184.
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schienen in Wien und Nagyszombat [heute Trnava/Slowakei] 1577– 1580,⁹⁶ welche von der Vulgata ausgehende eigene Übersetzungen der Sinn- und Feiertagsperikopen bot, stellte lange Zeit die umfangreichste altgläubige Teilausgabe der Bibel in Ungarn dar. Erst mit den Jesuiten, und somit nach der Klärung der Position der Bibel auf dem Konzil von Trient, veränderte sich die Situation: während die Jesuiten auf den ersten Blick lediglich die Autorität der Vulgata erhalten wollten, beantworteten sie auf den zweiten Blick die protestantische mit einer katholischen Reformation,⁹⁷ wobei sie sich der Argumentationsweise ihrer Gegner bedienten und sie gegen die Protestanten einzusetzen begannen. Das Manuskript der von István Szántó Arator (1540 – 1612) begonnenen Bibelübersetzung ist verschollen.⁹⁸ Der Erzbischof von Gran, Péter Pázmány (1570 – 1637),⁹⁹ selbst ein früherer Jesuit, verspottete die protestantischen Bibelübersetzungen, indem er behauptete, dass „neue Übersetzungen nichts anderes als unsichere, unverlässliche und widersprüchliche Grammatikübungen“ darstellten.¹⁰⁰ In diesem Geist folgte ihm sein jesuitischer Bruder Káldi, der auf der Grundlage der Vulgata eine römisch-katholische ungarische Bibel, die, nachdem sie infolge eines umständlichen römischen Genehmigungsprozesses erst 1626 in Wien gedruckt werden konnte, über Jahrhunderte im Gebrauch sein sollte, erstellte. Unlängst wurden handschriftliche Fragmente dieser Übersetzung entdeckt.¹⁰¹ Auch Káldi griff in seiner Vorrede protestantische Übersetzer an. Insbesondere Károlyi und Szenci Molnár warf er vor, dass sie, anstatt Gottes reines und eindeutiges Wort zu übersetzen, willkürlich und selektiv vorgingen.¹⁰² Besonders geschickt erscheint sein Hinweis darauf, dass sich mit der Meinung der protestantischen Bibelwissenschaftler zugleich die Grundlage der Übersetzung häufig veränderten, weil dieser es ihm ermöglichte, den Versuch zu unternehmen, die offensichtlichen exegetischen Meinungsverschiedenheiten auf protestantischer Seite zu seinem Vorteil auszunutzen. Die Geschichte seiner eigenen Übersetzung ist noch nicht ausreichend erforscht, aber es scheint, dass er nicht die verschollene Arbeit Arators nutzte, sondern eigenständig arbeitete, auch wenn es Heltai und Gáborjáni Szabó, Biblia Sacra Hungarica, 202. M. A. Mullett, The Catholic Reformation (London, 1999). A. Molnár. „A horvát és magyar katolikus bibliafordítás és a római inkvizíció [Die kroatische und ungarische katholische Bibelübersetzungen und die Römische Inquisition Inquisition],“ Magyar Könyvszemle 119 (2002): 24−37. P. Ács, „Historischer Skeptizismus und Frömmigkeit. Die Revision protestantischer Geschichtsvorstellungen in den Predigten des ungarischen Jesuiten Péter Pázmány,“ in Jesuitische Frömmigkeitskulturen. Konfessionelle Interaktion in Ostmitteleuropa 1570 – 1700, Hg. A. Ohlidal und S. Samerski (Stuttgart, 2006): 279−294. P. Pázmány, Hodogeus (Pozsony [heute Bratislava, Slovakia], 1637); vgl. E. Hargittay, „Pázmány Péter a Szentírásról és az Anyaszentegyházról [Péter Pázmány über die Heilige Schrift und die Mutter Kirche],“ in ‚Tenger az igaz hitrül való egyenetlenségek vitatásának eláradott özöne…‘ Tanulmányok 16 – 19. századi hitvitáinkról [Studien zu den theologischen Disputen in Ungarn, 16.−19. Jahrhundert], Hg. J. Heltai und R. Tasi (Miskolc, 2005): 79 – 84. P. Erdő (ergänzende Bemerkungen), A Káldi-biblia kéziratos töredékei [Handgeschriebene Fragmente der Káldi Bibel], Faksimile (Budapest, 2015). Zvara, ‚Az keresztyén olvasóknak‘, 247.
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nicht unplausibel ist, dass es sich bei der von ihm erwähnten „zweihundert Jahre alten“ Teilübersetzung um die mittelalterliche ungarische Bibelübersetzung des Jordánszky-Codexes handelte.¹⁰³ In jedem Fall führte die als altgläubiges Bollwerk gegen die Vizsoly-Bibel konzipierte Káldi-Bibel dazu, dass sich die konfessionelle Trennung zwischen Altgläubigen und Protestanten nun auch im Gebrauch der Heiligen Schrift niederschlug.
3 Bibel und Literatur 3.1 Psalmus Hungaricus Im Jahrhundert vor der Reformation blühte in Ungarn eine reichhaltige biblische Literatur in Gestalt von biblischen Erzählungen, Jeremiaden, poetischen Kommentaren und Paraphrasen. Spuren von Bibelrezeption würden sich bei näherem Hinsehen in nahezu dem gesamten erhaltenen literarischen Corpus der ungarischen Sprache finden lassen. Bei Paraphrasierungen biblischer Texte handelt es sich indes um Texte der Frömmigkeit; sie galten zu keinem Zeitpunkt als Heilige Schrift. Anders verhält es sich mit den ungarischen Psalmbereimungen der Reformation.¹⁰⁴ Im Singen dieser Psalmlieder, das für die Gläubigen selbst als Rezitation göttlich inspirierter Worte galt, verbanden sich im Leben protestantischer Gemeinden Frömmigkeit und die Welt der Bibel aufs Engste; die wichtigsten protestantischen Dichter des 16. Jahrhunderts wie Mihály Sztárai (gest. 1575), Gergely Szegedi, Máté Skaricza (1544– 1591) und viele andere trugen dazu bei, dass sich die Zahl der von Gemeinden zu ungarischen Weisen zu singenden Psalmbereimungen stets vermehrte, bis das Corpus der ungarischen Psalmlieder gegen Ende des Jahrhunderts beinahe den gesamten Psalter umfasste.¹⁰⁵ Zu diesem Zeitpunkt standen sie freilich bereits unter Kritik, weil sie sich zu weit vom ursprünglichen biblischen Text entfernt hätten. Imre Újfalvi, Herausgeber eines protestantischen Gesangbuchs (Debrezin, 1602) formulierte: „Vom [biblischen] Text sollen wir nichts wegnehmen, noch ihm etwas hinzufügen – geschweige denn Dinge, die seinem Geiste fremd wären.“ In den Augen eines zunehmend biblizistischen Protestantismus konnten etwa die Eingangs- und Schlussverse der Psalmlieder als nicht nahe genug am Wort Gottes fragwürdig erscheinen: zulässig waren ausschließlich
Heltai und Gáborjáni Szabó, Biblia Sacra Hungarica, 128−129. É. Petrőczi und A. Szabó, Hg., A zsoltár a régi magyar irodalomban [Der Psalm in der alten ungarischen Literatur] (Budapest, 2011). L. Bóta, „A magyar zsoltár Szenci Molnár Albert előtt [Ungarische Psalmen vor Albert Szenci Molnár],“ in Szenci Molnár Albert és a késő-reneszánsz [Albert Szenci Molnár und die Spätrenaissance], Hg. S. Csanda und B. Keserű (Szeged, 1978): 163−178.
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Vertonungen des Bibeltextes „ohne neue Bedeutungen“, „ohne jedwede Anhängsel“.¹⁰⁶ Die neue reformierte Psalmübersetzung durch Szenci Molnár (Herborn, 1607) wurde mit dem expliziten Anspruch, nichts anderes als „reine“ Lieder entsprechend dem „wahren Wortlaut“ zu enthalten, gedruckt. Szenci Molnár hatte sich aus diesem Grunde für eine Übertragung des Genfer Psalters entschieden, der sich zwar in bester Übereinstimmung mit den zeitgenössischen kanonischen Prinzipien des Calvinismus befand, dessen an den von den französischen Originalmelodien orientierte Art der Versifikation ungarischen Ohren jedoch fremd klang.¹⁰⁷ Der ansonsten durchaus verdienstvolle Szenci Molnár-Psalter wurde Teil der revidierten „Károlyi-Bibel“ und erreichte so beinahe den Status eines heiligen Textes. Auch wenn der Genfer Psalter den gleichermaßen traditionelleren wie hinsichtlich der Texttreue liberaleren „Psalmus Hungaricus“¹⁰⁸ nicht gänzlich aus den calvinistischen Kirchen vertreiben konnte, verstummte doch die freie Stimme des Heiligen Geistes zunehmend, während ungarische Unitarier (einschließlich der zu dieser Zeit noch unitarischen Sabbatianer) auf der Grundlage ihrer weniger calvinistischen Auffassung von der Heiligkeit der Psalmtexte drei vollständige ungarische Übersetzungen dieses biblischen Buches vorlegen konnten. Bogáti Fazakas¹⁰⁹ und János Thordai (1597– 1636)¹¹⁰ entwickelten unter Zuhilfenahme beträchtlicher poetischer Freiheit einen ungarischen Psalter anhand von an ungarischen Melodien angelehnten Versformen, während Péchi¹¹¹ für seine Übersetzung der Psalmen aus dem Hebräischen die Erkenntnisse nachbiblischer jüdischer Gelehrsamkeit fruchtbar machte.
3.2 Im Kontext der „arianischen Bibel“ Ab den 1570er Jahren gewannen antitrinitarische Strömungen in Transylvanien und im osmanischen Teil Ungarns stetig an Anhängern, was zu scharfen Debatten über dogmatisch relevante Teile der Bibel (profunda) führte, welche die schlimmsten Albträume der altgläubigen Kirche und der humanistischen Bibelwissenschaft zu Leben zu erwecken schienen.¹¹² Ohne sich um die Warnung des (ansonsten hoch geschätzten) Erasmus, dass Theologie nichts für Ungebildete sei, zu kümmern, dis I. Újfalvi, Keresztyéni énekek [Christliche Hymnen] (Debrezin, 1602), Faksimile mit ergänzenden Bemerkungen von P. Ács (Budapest, 2004), 20−21. I. Bán, „Szenci Molnár Albert, a költő [Albert Szenci Molnár, der Dichter],“ in Szenci Molnár, Csanda und Keserű: 137−153. Psalm 55 in seiner Übersetzung durch Mihály Kecskeméti Vég aus dem 16. Jahrhundert bildet die Grundlage von Zoltán Kodálys berühmter Vokalkomposition „Psalmus Hungaricus“ (1923). Bogáti, Magyar zsoltár. B. Stoll, M. Tarnócz und I. Varga, Hg., Az unitáriusok költészete [Die Dichtung der ungarischen Unitarier] (Budapest, 1967), 156−391. Péchi, Psaltérium. Ács, „‚Én fiam vagy, Dávid‘“: 640.
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kutierte man Fragen der spezielleren Trinitätslehre in Wirtshäusern und auf dem Markt; in Nagyharsány im osmanischen Teil Ungarns konnten die Antitrinitarier ihre Gegner 1574 sogar zu einer öffentlichen Debatte herausfordern. Der antitrinitarische Geistliche György Alviniczi vertrat die Position, dass „wie Pferdekot, so auch die Heilige Schrift auch nützliche Dinge“ enthalte. Da er diese Position auch in Bezug auf den Koran vertrat, wurde er von den Osmanen hingerichtet. Bald danach bekräftigten Antitrinitarier in der Disputation von Buda gegen Calvinisten ihre Auffassung, wonach die Bibel in ihrer derzeit bekannten Form Menschenwerk sei und also gleichermaßen wahre wie falsche Bestandteile enthalte – weswegen es das Beste wäre, im Druckbild von Bibelausgaben menschliche Zusätze in Petit- und göttliche Bestandteile im Großdruck zu bieten.¹¹³ Unschwer lassen sich hinter diesen Formulierungen die Ansichten von aus Transylvanien geflohenen häretischen Theologen erkennen. Auf einem nur kurz vor den Ereignissen von Buda einberufenen Tag in Torda (heute Turda) hatte der griechische Freigeist Jacobus Palaeologus (1520 – 1585),¹¹⁴ dessen Einfluss auf den ungarischen Unitarismus beträchtlich war, verkündet, dass er im Besitz einer alten Handschrift des Johannesevangeliums sei, nach der Jesus nicht „Gott war das Wort“, sondern „Gottes war das Wort“ gesagt habe. Nach Palaeologus hätten der Trinität anhängende alexandrinische Theologen den originalen Text des Evangeliums bewusst verfälscht. Aus jesuitischen Quellen ist bekannt, dass Pläne zur Einrichtung eines Übersetzungszentrums in Klausenburg unter Führung des Palaeologus bestanden, in der die bekannten transylvanischen häretischen Bibelgelehrten Johannes Sommer und Matthias Vehe-Glirius (1545 – 1590) dabei zusammenarbeiten sollten,¹¹⁵ eine neue lateinische Übersetzung der Bibel anstelle der von Michael Servet (1509 – 1553) annotierten Santes Pagninus-Bibel (Lyon, 1542)¹¹⁶ und der 1551 in Basel veröffentlichten Bibel des Sebastian Castellio (1515 – 1563)¹¹⁷ zu erstellen. Bei beiden Übersetzungen handelte es sich um die von Theologen der radikalen Reformation bevorzugte Versionen. Diese „Arianerbibel“ von Klausenburg kam nicht zustande; das tatsächliche Alter des inzwischen verschollenen Manuskripts des Palaeologus ist unbekannt. Darüber hinaus ist zu beachten, dass auch die unitarische Bibelkritik nicht als im modernen Sinne akademisch-objektiv gelten kann, insofern auch sie
M. Balázs, Teológia és irodalom. Az Erdélyen kívüli antitrinitarizmus kezdetei [Theologie und Literatur. Der Beginn des Antitrinitarismus außerhalb von Siebenbürgen] (Budapest, 1996), 45−74 M. Rothkegel, „Iacobus Palaeologus und die Reformation. Antireformatorische Polemik in der verlorenen Schrift Pro Serveto contra Calvinum,“ in Radikale Reformation. Die Unitarier in Siebenbürgen, Hg. U. A. Wien, J. Brandt und A. F. Balogh (Köln/Weimar/Wien, 2013): 91−134. A. Pirnát, „A bibliakritika történetének egy ismeretlen fejezete [Ein unbekanntes Kapitel der Bibelkritik],“ in Válogatott eretnekségek. Kiadatlan tanulmányok [Ausgewählte Häresien. Unveröffentlichte Studien], Hg. P. Ács und M. Balázs (Budapest, 2017). N. Fernández Marcos und E. Fernández Tejero, „Pagnino, Servet y Arias Montano. Avatares de una traducción latina de la Biblia Hebrea,“ Sefarad 63 (2003): 283−329. C. Gilly, Spanien und der Basler Buchdruck bis 1600. Ein Querschnitt durch die spanische Geistesgeschichte aus der Sicht einer europäischen Buchdruckerstadt (Basel/Frankfurt a. M., 1985), 193; Ács, „‚Én fiam vagy, Dávid‘“: 638.
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ebenso auf dogmatischen Vorannahmen beruhte wie die Arbeit der trinitarischen Theologen.¹¹⁸ Wichtiger ist indes, dass Palaeologus und seine Anhänger eine von ihren Zeitgenossen radikal verschiedene Auffassung von der Autorität der Bibel hatten. Die von ihnen anvisierte Bibelausgabe sollte auf der Grundlage allgemein-vernünftiger Annahmen und dogmatisch wie philologisch für authentisch erachteter Quellen erfolgen; eine besondere Heiligkeit maßen sie der Schrift nicht zu. In der Nachfolge von Valla, Erasmus und anderen humanistischen Bibelgelehrten¹¹⁹ gingen sie davon aus, dass biblische Philologie sich der gleichen kritischen Kriterien wie die Arbeit mit profanen Texten zu bedienen hätte. Insofern lässt sich die antitrinitarische Bibelkritik als ein wichtiger Schritt darin sehen, die Heilige Schrift nicht mehr nur wie einen literarischen Text zu behandeln, sondern sie auch für einen solchen zu halten.
3.3 Literarkritik und Bibelwissenschaft Auch andere Wege wurden beschritten, um die enge Verbindung zwischen der Entwicklung der Bibelwissenschaften und dem zunehmenden literarischen Reichtum zu ziehen: János Rimay (1570 – 1631)¹²⁰ erörterte in seiner Vorrede zu einer Sammlung der Liebesdichtung Bàlint Balassis (1554 – 1594) erstmals allgemein-literaturhistorische Fragen.¹²¹ Der Text beginnt mit einer ehrgeizigen Zusammenfassung der Entwicklung der Kultur, wobei die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert als Gipfelpunkt umfassender geistlicher Veränderungen apostrophiert wird: „Das Werk der Hände“ oder besser die Künste der „techne“ hatten sich, so Rimay, zu diesem Zeitpunkt weit genug entwickelt, um mit den „Werken der Vorzeit“, des klassischen Altertums, in Konkurrenz treten zu können. Eine ähnliche Entwicklung habe in „den Künsten der Schrift“ stattgefunden: „Wir erleben darin ein wunderbares Geschenk unseres Herren, dass diese Zeiten mit der Fülle seines Wortes, der wahren Kunde seines Heiligen Sohnes und der klaren Offenbarung seines Willens geziert sind.“ Diese Einschätzung kann nur dergestalt verstanden werden, dass für Rimay der Humanismus zur rechten Kenntnis der Bibel und diese ihrerseits zur Reformation führte. Der wahre Glaube als Licht der „himmlischen Leuchte“ trieb die Dummheit vor sich her, die lateinische Sprache wurde in ihren ursprünglichen Zustand zurückversetzt, „jede Sprache eines Volkes“ gestärkt. Nach Rimay stellt die von vielen Unwissenden kritisierte Liebesdichtung Balassis ein
D. A. Frick, Polish Sacred Philology in the Reformation and the Counter-Reformation. Chapters in the History of Controversies 1551−1632 (Berkeley, 1989), 81−115. A. Rabil, Jr., Erasmus and the New Testament. The Mind of a Christian Humanist (Lanham, MD, 1972); Hamilton, „Humanists and the Bible“; Monfasani, „Criticism of Biblical Humanists“. János Rimay (1570−1631) Schüler des wichtigsten ungarischen Renaissancedichters Bálint Balassi (1554−1594) war selbst ein bekannter Poet. Vgl. zu ihm P. Ács, „Ratio e oratio. Tipologie poetiche in János Rimay,“ Annali dell’ Istituto Universitario Orientale di Napoli. Studi Finno-Ungarici 1 (1995): 149 −172. J. Rimay, Összes művei [Gesammelte Werke], Hg. S. Eckhardt (Budapest, 1955), 39 – 40.
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krönendes Ergebnis dieser Erneuerung und Reformation im Einklang mit Gottes Willen dar. Für ihn, so scheint es, stellen sich Humanismus, Renaissance und Reformation, die Entwicklung der Volkssprache genauso wie die der lateinischen Sprache, der biblischen Wissenschaften wie der „bonae litterae“ als Bestandteile eines unaufhaltsamen Fortschritts dar,¹²² der sich freilich nicht im Sinne eines Bruchs mit der Vergangenheit, sondern im Gegenteil als „re-formatio“ im ursprünglichen Sinne des Wortes¹²³ vollzog, indem er vergangene Vollkommenheit wiederherstellte. Mit der Erwähnung einer Verbindung zwischen Renaissance und Reformation führte Rimay den Geist des erasmianischen Bibelhumanismus fort. Die Bekehrung der Heiden hatte für Erasmus die Heiligung der Antike insgesamt bedeutet.¹²⁴ Für ihn hatte sich Gott nicht nur den Juden offenbart, sondern den Samen seines Evangeliums im Mutterboden heidnischer Jahrhunderte vor der Geburt Christi eingepflanzt, weswegen auch die klassisch-antike Kultur den Samen einer besseren, christlichen Philosophie enthielt. Christlicher Humanismus war also nach der Überzeugung der Intellektuellen der Renaissance nicht nur die Indienststellung der „artes liberales“ für die biblischen Wissenschaften, sondern vielmehr eine umfassendem Heil dienende reziproke Heiligkeit.
Ács und Louthan, „Bibles and Books“: 404. Z. Csepregi, „Die Auffassung der Reformation bei Honterus und seinen Zeitgenossen,“ in Radikale Reformation, Wien, Brandt und Balogh: 1−17. P. Ács, „The Reception of Erasmianism in Hungary and the Contexts of the Erasmian Program. The ‚Cultural Patriotism‘ of Benedek Komjáti,“ in ‚Whose Love of Which Country.‘ Composite States, National Histories and Patriotic Discourses in Early Modern East Central Europe, Hg. B. Trencsényi und M. Zászkaliczky (Leiden, 2010): 75−90.
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Der Anfang allen Übels: Bilder und Auslegungen der Reformation und Luthers im frühneuzeitlichen Italien 1 Einleitung Peu de personnes prirent le parti de Luther en Italie. Ce peuple inge´nieux, occupe´ d’intrigues et de plaisirs, n’eut aucune part a` ces troubles. Les Espagnols, tout vifs et tout spirituels qu’ils sont, ne s’en mê le`rent pas. Les Français, quoiqu’ils aient avec l’esprit de ces peuples un goû t plus violent pour les nouveaute´s, furent longtemps sans prendre parti. Le the´â tre de cette guerre d’esprit e´tait chez les Allemands, chez les Suisses, qui n’e´taient pas re´pute´s alors les hommes de la terre les plus de´lie´s, et qui passent pour circonspects. La cour de Rome, savante et polie, ne s’e´tait pas attendue que ceux qu’elle traitait de barbares pourraient, la Bible comme le fer a` la main, lui ravir la moitie´ de l’Europe et e´branler l’autre.¹
In der „ethnischen“ Geopolitik der Reformation, die von Voltaire in seinem Essai sur les moeurs (1756) geschildert wurde, erscheint Italien als wenig feinfühlig gegenüber der protestantischen Lehre und auf den dekadenten, parasitären und intriganten römischen Hof konzentriert. Die Geschichte der Gleichgültigkeit der Italiener bezüglich der in den nördlichen Regionen entstandenen religiösen Reformen entstand lange bevor Voltaire seine Universalgeschichte veröffentlichte. Diese Ansicht teilten die italienischen Intellektuellen und Zeitgenossen Luthers und des Trienter Konzils – des Heilmittels, das dazu gedacht war, die Verbreitung des Protestantismus auf italienischem Boden aufzuhalten – sogar selbst und formten daraus ein langlebiges Klischee.
2 Die Sicht auf die Reformation in Italien Francesco Guicciardini,² Paolo Sarpi und viele andere haben über die Fehleinschätzungen aufseiten Roms und über die Gleichgültigkeit Leos X. angesichts der Re-
Übersetzung: Antje Foresta. Voltaire, Essai sur les moeurs et l’esprit des nations, mit Vorwort, Anmerkungen etc. von M. Beuchot (Paris, 1829), 3:192 (Kap. CXXVIII). F. Guicciardini, Ricordi, Einleitung v. M. Fubini (Mailand, 1997; 19511), 114: „Nondimeno el grado che ho avuto con più pontefici, m’ha necessitato a amare per el particulare mio la grandezza loro, e se non fussi questo rispetto, arei amato Martino Luter quanto me medesimo: non per liberarmi dalle legge indotto dalla religione cristiana nel modo che è interpretata e intesa communemente, ma per vedere ridurre questa caterva di scelerati a termini debiti, cioè arestare e sanza vizi o sanza autorità“; Ders., https://doi.org/9783110498745-066
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formbitten aus dem deutschen Raum geschrieben.³ Sarpi hat dem eine Überlegung hinzugefügt, die vor dem politisch-sozialen Hintergrund Italiens den Sieg des Papsttums über die Reformation ausweitete, indem er behauptete, dass anche recentemente, gli italiani vogliono salva la curia romana: infatti questa sembra portare e dignità a questa terra, e utilità per la quantità di denaro che vi entra per via della curia. E resteranno fermi nella loro opinione, purché anche la curia, come un tempo, così anche ora li faccia partecipi come figli della grandezza della sua fortuna e si comporti come protettrice della libertà italica e non tenti di dominare dispoticamente.⁴
Ohne auf die eigentlichen doktrinären Gesichtspunkte einzugehen, legte Sarpi scharfsichtig die enge Verbindung zwischen päpstlichem Hof, seinem Nepotismus und der führenden Schicht Italiens nahe; er zeigte die Kompaktheit und die geschlossenen Reihen, die die italienische Gesellschaft angesichts der fortschreitenden Reformation gebildet hatte und die somit geschlossen hinter dem Papst stand. Auf die politische Dimension der fehlenden Erneuerung der „italischen“ Gepflogenheiten hatte bereits Niccolò Machiavelli, dem synthetischen Ausdruck Francesco de Sanctis’ zufolge der „italienische Reformator“, in seinen Analysen hingewiesen.⁵ Der Florentiner Sekretär hatte sich lange damit aufgehalten, das Ausmaß der Korruption in verschiedenen Bereichen des italienischen Lebens aufzuzeigen. Für Machiavelli „la rovina è avvenuta perché son mancati in prìncipi e repubbliche quella virtù, forza, impeto, quella intelligenza politica e quella sicura cognizione delle leggi reali della politica, prudenza critica o senno“, aber er erweiterte die Betrachtungen um eine Sicht, bei der alle verantwortlich waren, weil Schuld und Mangelhaftigkeit „nelle
Storia d’Italia, Hg. S. Seidel Menchi (Turin, 1971), 2:1373: „Sforzavasi ne’ principi suoi di spegnere questa pestifera dottrina il pontefice, non usando per ciò i rimedi e le medicine convenienti a sanare tanta infermità“. „[Leone X] sarebbe stato un perfetto pontefice, se con queste avesse congionto qualche cognizione delle cose della religione, et alquanto più d’inclinazione alla pietà: dell’una e dell’altra delle quali non mostrava aver gran cura“: P. Sarpi, Istoria del concilio tridentino, Hg. C. Vivanti (Turin, 2011; 19741), 1:10. Ferner zur Reaktion auf die Bulle zur Verurteilung Luthers: „Altri, passando poco più inanzi, consideravano che l’aver proposto 42 proposizioni e condannate come eretiche, scandalose, false, offensive delle pie orecchie et ingannatrici delle menti semplici, senza esplicare, quali di loro fossero le eretiche, quali le scandalose, quali le false, ma con vocabolo „respettivamente“ attribuendo a ciascuna di esse una qualità incerta, veniva a restare maggior dubio che inanzi, il che era non diffinir la causa, ma renderla più controversa che prima, e mostrar maggiormente il bisogno che vi era d’altra autorità e prudenza per finirla“ (ebd., 25). „Auch in der heutigen Zeit wollen die Italiener die römische Kurie in Sicherheit wissen, denn in der Tat scheint diese sowohl Würde auf diese Erde zu bringen als auch Gewinn angesichts der Geldmenge, die über die Kurie dort hingelangt. Und so werden sie fest bei ihrer Meinung bleiben, vorausgesetzt, dass die Kurie sie auch heute, so wie einst, wie Söhne an der Größe ihres Vermögens teilhaben lässt und sich als Beschützerin der italischen Freiheit verhält und nicht versucht, auf despotische Art zu dominieren“. P. Sarpi, „Lettera a Jacques Leschassier del 13 maggio 1608,“ in Opere, Ders., Hg. G. Cozzi und L. Cozzi (Mailand/Neapel, 1969): 252. F. De Sanctis, Storia della letteratura italiana (Neapel, 1879), 2:41.
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popolazioni a cominciare dai consiglieri, cancellieri, segretari fino ai contadini“ lagen, die alle ohne „quella serietà e pubblica solidarietà fondate sulla religione, che costituiscono la solidità dei prìncipi e delle repubbliche e la sostanza della energia politica e militare vera“, waren.⁶ Neben den politischen Analysen, den Gedanken der Intellektuellen zu den Folgen der fehlenden politischen Reform und zu den Sitten der Römischen Kirche hatten die Italiener nur wenige und verfälschte Nachrichten über Luther, die jedoch bedeutsam waren, weil sie eine nachhaltige Konstante auf der Halbinsel blieben.⁷ Martin Luther war des Vorläufer des Antichrists; der Zerstörer der Einheit der Kirche; der skrupellose Demagoge, dessen Ideen das Bewusstsein und die bestehende Ordnung entartet hatten; der Meister allen Frevels. Die zerstörerische Macht seines Denkens entsprach keiner systematischen oder ernsthaft kontroversen Diskussion über seine Lehre. Die Literatur, und zwar nicht nur die des sechzehnten Jahrhunderts, hielt sich nur wenig mit doktrinären Fragen auf, sie war eher an der Figur Luthers und an seinen physischen und geistigen Charakterzügen interessiert, die freilich missgestaltet und deformiert waren und somit wesentliches Spiegelbild der Umkehr der natürlichen Ordnung. Die Verachtung für die guten Gepflogenheiten (angefangen beim Sakrament der Ehe), der Angriff auf die Autorität der Kirche, auf ihre Doktrin und auf ihre Lebensregeln entsprachen einem Bild, das nichts mehr von einem menschlichen Wesen an sich hatte; eine Darstellung, die im Lauf der Zeit die im frühen sechzehnten Jahrhundert beschriebenen phantasievollen und abergläubischen Eigenschaften verlor und um Eigenschaften und „Abweichungen“ bereichert wurde, die von den neuen sozialwissenschaftlichen Disziplinen ausgearbeitet wurden, und um ebenso extravagante psychologische Auslegungen, wie etwa die eines paranoiden Ursprungs seiner Doktrin.⁸ In seiner Chronik der Stadt Modena schrieb Tommasino Lancellotti am 26. März 1523: Fu portato in Modena una depintura de uno monstro nato in Saxonia de una vacha, el qual ha una testa quasi humana et ha una chiericha et uno scapulario de pele come uno scapulario de frate et le braze denanze e le gambe e pede come de porcho, e la coda de porcho; se dice è uno frate che se domandava Martin Utero che è morto, el quale pochi anni fa predicava la heresia in Lamagna.⁹
D. Cantimori, Niccolò Machiavelli: il politico e lo storico, in Storia della letteratura italiana, Hg. E. Cecchi und N. Sapegno, Bd. 4 (Mailand, 1966) jetzt in Ders., Machiavelli, Guicciardini, le idee religiose del Cinquecento, Hg. A. Prosperi (Pisa, 2013), 41. Zur geringen Kenntnis der lutherischen Lehre vgl. die Überlegungen von V. Vinay, „Il piccolo catechismo di Lutero come strumento di evangelizzazione fra gli italiani dal XVI al XX secolo,“ Protestantesimo 35 (1970): 65 – 84. Zum langen Bestand dieser Beschreibungen, die durch die Beiträge der Sozialwissenschaften erweitert wurden (samt mancher kuriosen psychopathologischen Interpretation), vgl. G. Dall’Olio, Martin Lutero (Rom, 2013), cap. 6: „Interpretazioni di Lutero“: 161– 206. „Nach Modena wurde ein Gemälde eines von einer Kuh in Sachsen geborenen Monsters gebracht, welches einen fast menschlichen Kopf hat und eine Tonsur und ein Skapulier aus Haut wie ein Ska-
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Bei der geringen Menge an Nachrichten über das „Monster aus Sachsen“ haben die Studien das propagandistische, tendenziöse und falsche Element hervorgehoben, das ganz auf die Häresie konzentriert war und als Rebellion gegen Rom oder ihre Anstößigkeit verstanden wurde;¹⁰ ein Aspekt, der die dennoch rasche Ausbreitung der Lehre auszubremsen half.¹¹ Obwohl dies die auf unterschiedlichen Niveaus meistverbreitete Ansicht über die Figur Luthers in Italien war, lohnt es daran zu erinnern, dass im Verlauf des achtzehnten Jahrhunderts andere Lesarten mit vorsichtigen Unterscheidungen und neuen Annäherungsweisen an die theologische und historische Frage trotz allem nicht fehlten und neue Prämissen ins Auslegungsspektrum einbrachten. Beispielsweise begann sich die Vorstellung einer Art Mitverantwortlichkeit für die protestantische Reformation aufseiten eines für die deutschen Belange und für den Wunsch nach einer inneren Reform des päpstlichen Hofs und seiner Korruption unempfindlichen Papsttums durchzusetzen. Auf einigen Seiten der Annali d’Italia lässt sich Ludovico Antonio Muratori zu – später kritisierten – Anspielungen auf den Zustand der Dekadenz im Italien des sechzehnten Jahrhunderts hinreißen: Il gran mercato che si faceva allora delle indulgenze per raunar danaro in tutta la cristianità d’Occidente, in apparenza per la fabbrica della basilica vaticana, ma in sostanza anche per altri mondani fini, quel fu che accese un fuoco in Germania, che di giorno in giorno sempre più crescendo, arrivò a formar quella gran piaga nella Chiesa del Signore che tuttavia deploriamo e che Dio solo saprà saldare, quando gli altri suoi giudizi saranno adempiuti.¹²
Zur traditionellen und kontroversen Darstellung gesellte sich die des Historikers, der die Reformation nicht nur als einen Moment des Bruchs durch einen „Fanatiker“ sah,
pulier eines Mönchs und die Arme vorne und die Beine und Füße wie vom Schwein und den Schwanz vom Schwein; man sagt, es sei ein Ordensbruder und heiße Martin Utero (Anm. d. Übers.: Utero = Gebärmutter), welcher tot ist und vor wenigen Jahren in Deutschland die Häresie predigte“. Zitiert bei O. Niccoli, „Il mostro di Sassonia. Conoscenza e non conoscenza di Lutero in Italia nel Cinquecento (1520 – 1530 ca),“ in Lutero in Italia, Studi storici nel V centenario della nascita, eingeleitet v. G. Miccoli, Hg. L. Perrone (Casale Monferrato, 1983): 5 – 25, 8. Außer dem bereits zitierten Beitrag von O. Niccoli vgl. S. Cavazza, „,Luthero fidelissimo inimico de messer Jesu Christo‘. La polemica contro Lutero nella letteratura religiosa in volgare della prima metà del Cinquecento,“ in Lutero in Italia, Perrone: 65 – 94. Vgl. S. Seidel Menchi, „Le tradizioni di Lutero nella prima metà del Cinquecento,“ Rinascimento 17 (1974): 31– 108, hier 36. Zu den italienischen Reformatoren vgl. M. Firpo, „La Riforma italiana del Cinquecento. Le premesse storiografiche,“ in „Disputar di cose pertinente alla fede“. Studi sulla vita religiosa del Cinquecento italiano, Ders. (Mailand, 2003): 11– 66. „Das große Geschäft, das man damals mit den Ablassbriefen machte, um in der gesamten Christenheit des Abendlands Geld zu sammeln und das dem Anschein nach für den Bau der vatikanischen Basilika, in der Substanz aber auch für andere weltliche Zwecke war, das war es, was in Deutschland ein großes Feuer entzündete, das sich von Tag zu Tag immer mehr ausbreitete und schließlich diese große Plage in der Kirche des Herrn bildete, die wir trotzdem bedauern und die Gott wird abgelten können, wenn seine anderen Urteile vollstreckt sind“. L.A. Muratori, Opere, Hg. G. Falco und F. Forti (Mailand/Neapel, 1964), 2:1360 – 1361.
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sondern seine Aufmerksamkeit auf die zahlreichen Hinweise auf die „mancanza di un un’autentica volontà di rigenerazione religiosa da parte delle autorità cattoliche“ lenkte.¹³ Es handelte sich freilich um einen ersten Schritt, der dazu führte, die Anklagen katholischer Seite gegenüber der „protestantischen Revolution“ abzuschwächen, die damit strukturell nur deshalb nötig waren, um Luther vorzuwerfen, er habe es nicht geschafft, seine eigenen Kräfte den Reformatoren Italiens – Gasparo Contarini, Reginald Pole und andere – an die Seite zu stellen, die gern die Kirche reformieren wollten, um dort Korruption und Missbrauch abzustellen, so wie in dem irenistischen Projekt zur Wiedervereinigung der Konfessionen aus dem achtzehnten Jahrhundert, das Angelo Maria Querini ausgearbeitet hatte.¹⁴ Bis ungefähr zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hat die katholische Historiographie nicht viele Interpretationen der Reformation angeboten, oder zumindest nicht so viele, wie das natürlich die protestantische Historiographie getan hat.¹⁵ Sie scheint nicht nur davon beherrscht zu sein, ein monströses und krankes Bild des Reformators zu verewigen und den Begriff Protestantismus ungenau zu gebrauchen (der häufig mit der Persönlichkeit Luthers verwechselt wird), sondern sie scheint zugunsten einer rein politischen Erklärung der Reformation sogar zu Auslassungen beim lutherischen theologisch-doktrinären Denken bereit zu sein. Es handelte sich um eine Rekonstruktion des italienischen Kontexts, der in einem Land, in dem die weltliche Macht der Päpste sich bis 1870 hinziehen sollte, zu einem langen Leben verurteilt war. Die Renaissance – auch als historiographische Kategorie, die Rom und ihren Hof aus dem Kreis ihrer Protagonisten ausschließt¹⁶ – sei die eigentliche „italienische Reformation“ gewesen, und auch die gehasste „Gegenreformation“ mit ihrer Repression, Disziplin und Unbeweglichkeit habe die Charakteristik eines positiven Augenblicks für Italien und einer Neubewertung der Rolle der Kirche angenommen. Letztere D. Menozzi, „La figura di Lutero nella cultura italiana del Settecento,“ in Lutero in Italia, Perrone: 141– 166, 150. Ebenda, S. 154. D. Cantimori, „Interpretazioni della Riforma protestante,“ in Storici e storia. Metodo, caratteristiche e significato del lavoro storiografico, Ders. (Turin, 1972): 624– 656, hier 630. Vgl. auch B. Gherardini, „Lutero nella recente storiografia cattolica,“ Protestantesimo 38 (1983): 129 – 150, und G. Miccoli, „,L’avarizia e l’orgoglio di un frate laido …‘ Problemi e aspetti dell’interpretazione cattolica di Lutero,“ in Lutero in Italia, Perrone: VII – XXXIII. Zur italienischen Historiographie über die Reformation vgl. die Beiträge von P. Simoncelli, „La storiografia italiana sulla Riforma e i movimenti ereticali in Italia (1950 – 1975). Note e appunti,“ und G. Dall’Olio, „La storiografia italiana sulla Riforma in Italia (1975 – 1997),“ beide in S. Peyronel, Hg., Cinquant’anni di storiografia italiana sulla Riforma e i movimenti ereticali in Italia. 1950 – 2000, XL Convegno di studi sulla Roma e sui movimenti religiosi in Italia, Torre Pellice, 2 – 3 settembre 2000 (Turin, 2002): 15 – 36 und 37– 67. Vergleichbare Lücken bis zum zwanzigsten Jahrhundert gibt es auch in den eigentlichen theologischen Traktatwerken. Vgl. dazu M. Marcocchi, „L’immagine di Lutero in alcuni manuali di storia ecclesiastica tra ’800 e ’900,“ in Lutero in Italia, Perrone: 167– 199. Man vergleiche die gelungene Zusammenfassung bei G. Signorotto, „Roma nel Rinascimento,“ in Il Rinascimento italiano e l’Europa, Bd. 1: Storia e storiografia, Hg. M. Fantoni (Vicenza, 2005): 331– 354.
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sei in der Tat zum praktisch-politischen Subjekt geworden, das die Stabilität der Halbinsel möglich gemacht habe, während Krieg, Blut und Revolutionen in ganz Europa um sich gegriffen hätten. Luther war das Symbol der Arroganz und des Hochmuts; seine Lehre war ein einziger theologischer Fehler; aber seine Reformation war an erster Stelle die Ursache der Kriege und der Zerstörungen, die aus dem Verlust des Universalismus und aus den politisch-sozialen Unruhen entstanden, welche aus einem derartigen Verlust hervorgegangen waren.¹⁷ Benedetto Croce vollzog in seiner Beschreibung der ganzen Dekadenz im Italien des siebzehnten Jahrhunderts – also des Jahrhunderts, in dem „tutto decadde, dall’amor di patria e della vita politica e militare, dalla religiosità al costume sociale, dal pensiero alla lingua“ –, eine Kehrtwende, indem er betonte, wie dank der Kirche und der Jesuiten, „che spensero le faville delle divisioni religiose qua e là accese anche nella nostra terra“, verhindert worden sei, „che agli altri contrasti e dissensi si aggiungessero tra gli italiani anche quelli di religione“.¹⁸ Mit dem Risorgimento und der nachfolgenden Historiographie seien die Traditionen gegen die weltliche Macht der Kirche und gegen die Rolle, die sie in der Unmodernität Italiens ausübte, wiederbelebt worden. Das Fehlen einer italienischen Reformation und die leitende Funktion der Kirche hätten zunehmend das Kolorit der Merkmale historischer Verspätung angenommen, welche sich in Italien im Vergleich zu den anderen, protestantischen Nationen angesammelt hätten, und sei eine mögliche Erklärung für den Zustand politischer, wirtschaftlicher, sozialer und moralischer Rückständigkeit in der Dekadenz der italischen Sitten, in der Korruption des Klerus, in der Existenz einer kirchlichen Hierarchie als konservative politische Kraft, in der Scheinheiligkeit und Gleichgültigkeit, im Konformismus und sogar im „Jesuitentum“, bis hin zur Hervorhebung des Gebrauchs geistlicher Instrumente vonseiten der Kirche zur Förderung von Ignoranz, Abergläubigkeit und simpler Devotion im Volk. „Si deve giungere alla conclusione che la penisola costituisce un’area culturale sostanzialmente immobile davanti al profilarsi di problemi che altrove inducono a ripensare la figura di Lutero?“,¹⁹ fragte sich Daniele Menozzi und schlug einige Lesarten vor, die im Wesentlichen einen Pfad zu neuen Wegen schlugen. Neben den traditionellen Vermächtnissen der Interpretation Luthers und des Protestantismus gab der Autor Sichtweisen und Arbeitshypothesen an, die Raum für eine offenere
Eindrucksvoll ist in dieser Hinsicht das Bild von Domenico Bernini (1657– 1723), der in seiner Historia di tutte l’heresie schrieb: „horridezza di sanguinosi avvenimenti, di rivoluzioni, di battaglie, di saccheggiamenti e di rapine, circostanze a nissuna Heresia delle tante sin hora descritte, maggiormente annesse, che alla Luterana, che si sa è resa poderosa nel Mondo, non men per esecrabilità di dogmi, che per falsità di Politica, maneggiata a forza d’armi, e non di ragione“: D. Bernino, Historia di tutte l’heresie (Rom, 1709), 4:244. Zum Autor vgl. A. Rotondò, „Bernini Domenico,“ Dizionario Biografico degli italiani 9 (1967): 364– 365. B. Croce, Storia dell’età barocca in Italia (Bari, 1953), 9 – 14. Zu diesem Thema vgl. F. De Giorgi, La Controriforma come totalitarismo. Nota su Croce storico (Brescia, 2013). Menozzi, „La figura di Lutero“: 143.
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Sichtweise ließen. Einige dieser Wege werden in diesem Artikel beschritten, und zwar anhand von einigen Protagonisten der Frühen Neuzeit: Jansenisten, Jesuiten und Vertreter der Aufklärung. Luther und seine Lehre wurden nämlich als Ursprung weitaus gefährlicherer Lehren für die Kirche angegeben.
3 Luther, der Atheismus und der freie Ideenaustausch Mit der Bulle Ut pestiferarum opinionum entstand 1572 die Kardinalsindexkongregation. Schon mit dem Titel wurde die Kontrolle deutlich, die die Kongregation über Zensuren und das Verbot von Büchern und Ideen, die als gefährlich angesehen wurden, ausüben wollte, und zwar solche klassischer Kultur ebenso wie solche mit Neuheiten des Jahrhunderts. Ziel war die Verteidigung von Kirche und Religion. Die Folgen für das kulturelle Leben Italiens waren von langer Dauer und werden noch von der Geschichtswissenschaft als eine der Ursachen des ursprünglichen Charakters der Italiener, ihrer kollektiven Mentalität und auch der fehlenden Modernität Italiens angegeben.²⁰ Ein Gegenindex, eine Liste dessen, was der gute Katholik lesen konnte und durfte, wurde von dem Jesuiten Antonio Possevino in seiner Bibliotheca selecta (1593) geliefert.²¹ Diese Liste enthielt das Beste, was im kulturellen Panorama des 16. Jahrhunderts aus einem triumphierenden Blickwinkel des Katholizismus erhältlich war und aus einer Epoche stammte, die wegen der neuen und außergewöhnlichen Kenntnisgewinne aus der Neuen Welt, der politischen und militärischen Siege und wegen der von der Kirche dank der neuen religiösen Orden und ihrer missionarischen Tätigkeit, bei der der Jesuitenorden die Hauptrolle spielte, erreichten Fortschritte der vergangenen Epoche überlegen und reicher an Wissen schien. Eine Epoche, die auch dank der Ausrottung der Zwietracht, also der Häresie, überlegen schien, denn wenn alcuni Professori cercano libertà (per non dire licenza) in trovare et havere opinioni più di quel che veramente doverebbe desiderarsi, et se tali sono ritirati dentro i termini della mediocrità, si dolgono loro sia diminuito il vigore et potere della perspicacia et solertia, la quale da Dio hanno
Vgl. dazu jeweils G. Fragnito, La Bibbia al rogo. La censura ecclesiastica e i volgarizzamenti della Scrittura (1471 – 1605) (Bologna, 1997), 20 und Firpo, „La Riforma italiana“: 19 – 20; V. Frajese, La censura in Italia. Dall’Inquisizione alla Polizia (Rom/Bari, 2014). A. Possevino, Bibliotheca Selecta qua agitur de ratione studiorum in historia, in disciplinis, in salute omnium procuranda (Rom, 1593). Zur Bibliotheca sei erinnert an L. Balsamo, La bibliografia. Storia di una tradizione (Florenz, 1984), 24– 48; C. Carella, „Antonio Possevino e la biblioteca ‚selecta‘ del principe cristiano,“ in ,Bibliothecae selectae‘ da Cusano a Leopardi, Hg. E. Canone (Florenz, 1993): 507– 513; L. Balsamo, „How to Doctor a Bibliography: Antonio Possevino’s Practice,“ in Church, Censorship and Culture in Early Modern Italy, Hg. G. Fragnito (Cambridge, 2001): 50 – 78.
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ricevuto, però sappiano che i modesti et pii ingegni non debbono desiderare qualsivoglia libertà, ma quella solamente la quale sia congiunta colla virtù e pietà.²²
Die Bibliotheca selecta war nicht nur ein Spiegelbild der verbotenen Kultur. Sie enthielt Hinweise für die expurgatio von Werken, die später auf dem Index landeten, und bemühte sich selbstverständlich darum, Texte und Lehrmeinungen bereits verurteilter Autoren zu widerlegen. Beim Durchblättern der mehreren hundert Seiten findet man im VIII. Buch „de theologia et atheismis haereticorum“²³ eine lange und detaillierte Beschreibung von Ansichten Luthers und Calvins, die als atheistisch qualifiziert werden. Die perspektivische Darstellung beschäftigt sich nicht nur mit dem Ursprung ihrer Lehrmeinungen, die allgemein argumentativ im Kontext der älteren Häresien verortet werden, sondern geht in die doktrinären Details der eucharistischen Lehre, der Willensfreiheit, der Heiligen Dreifaltigkeit und der Attribute Gottes sowie der Doktrin des Fegefeuers. Was der Jesuit Possevino im Sinn hatte, als er die lutherische Lehre und Luther (dem er immer Calvin zur Seite stellte) des Atheismus beschuldigte, ist schwer zu sagen. Das Wort Atheismus war erst seit Kurzem im Kontext des sechzehnten Jahrhunderts aufgetaucht²⁴ und schien noch unklar besetzt zu sein. Es hatte noch nicht die ganze theologische Bedeutung unserer Gegenwart, sondern befindet sich näher an der Negierung irgendeines Aspekts der orthodoxen Lehre, an der „gottlosen“ politischen Sichtweise und damit an der Weigerung, die Autorität der Kirche, des Papsts und der Konzilien auf das Leben des Staats und seiner Bürger anzuerkennen.
„Einige Professoren suchen nach der Freiheit (um nicht zu sagen der Anmaßung), um Meinungen aufzufinden und zu haben, die mehr als das sind, was man sich wünschen sollte, und wenn solche in die Grenzen des Gemäßigten zurückgebracht werden, so beklagen sie, es werde ihnen sowohl die Stärke als auch die Kraft ihrer Tiefsinnigkeit und Gründlichkeit verringert, die sie von Gott erhalten hätten, doch möchten sie wissen, dass die bescheidenen und frommen Talente nicht jede beliebige Freiheit begehren sollten, sondern einzig jene, die mit Tugend und Frömmigkeit verbunden ist“. A. Possevino, Coltura degl’ingegni, Hg. A. Arcangeli (Bologna 1990; unveränderter ND Vicenza, 1598), 61. Zu diesem Thema vgl. A. Prosperi, „La Chiesa e la circolazione della cultura nell’Italia della Controriforma. Effetti involontari della censura,“ in La censura libraria nell’Europa del secolo XVI, Convegno internazionale di Studi, Cividale del Friuli, 9 – 10 novembre 1995, Hg. U. Rozzo (Udine, 1997): 147– 161. Possevino, Bibliotheca Selecta, 452– 457. Beim achten Buch der Bibliotheca selecta handelt es sich um eine Wiederaufnahme des bereits 1586 in Vilnius unter dem Titel De Atheismis Lutherani, Melanchtonis, Calvini, Bezae … gedruckten Textes. Zum Atheismus der Reformatoren in den katholischen Schriften des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts vgl. G. Spini, „Ritratto del protestante come libertino,“ in Ricerche su letteratura libertina e letteratura clandestina nel Seicento, Atti del Convegno di studio di Genova, 30 ottobre – 1 novembre 1980 (Florenz, 1981): 177– 188. C. Bianca, „Per una storia del termine Atheus nel Cinquecento: fonti e traduzioni greco-latine,“ Studi filosofici 3 (1980): 71– 104.
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An die sicher nicht neue Verbindung zwischen Häresie und Atheismus²⁵ hatte auch Pierre Bayle in seinem Dictionnaire historique et critique (1697) erinnert, in welchem die zahlreichen Luther gewidmeten Seiten das besondere Ziel hatten, alle Lügen zu hinterfragen, die über den Reformator geschrieben worden waren. Im Eintrag zu dem Jesuiten François Garasse²⁶ erinnerte Bayle daran, dass Luther beschuldigt worden war, „d’avoir avoué qu’aiant combattu dix ans contre sa conscience, il étoit enfin venu à bout de n’en avoir point du tout et d’être tombé dans l’Athéisme“.²⁷ Einem Luther und seiner Lehre den Atheismus zu attestieren hatte einen bescheidenen Erfolg in der katholischen Auseinandersetzung, als sich am Horizont nicht nur, oder nicht mehr nur, die von Luther vorgebrachte Infragestellung der Autorität der Kirche und das Prinzip der Gewissensfreiheit abzuzeichnen begannen, sondern auch die Möglichkeit der Existenz einer Gesellschaft ohne Religion, welche sogar aus tugendhaften Atheisten zusammengesetzt sein könnte. In seinem Aufruf An den christlichen Adel deutscher Nation von 1520 hatte Luther die Unmöglichkeit der Existenz zweier Körper in Christo, des weltlichen und des religiösen, festgestellt und auch, dass im Inneren der religiösen Gemeinschaft „Gleych wie nw die, szo mann itzt geystlich heyst, odder priester, bischoff odder bebst, sein von den andern Christen nit weytter noch wirdiger gescheyden, dan das sie das wort gottis unnd die sacrament sollen handeln, das ist yhr werck unnd ampt. Alszo hat die weltlich ubirkeit das schwert unnd die ruttenn in der hand, die boszen damit zustraffenn, die frummen zuschutzen“.²⁸ Vereinfachend gesagt, wurden mit einem Schlag die antike Ekklesiologie und der Wert des Charismas eliminiert und zugleich die christliche Freiheit bestätigt, ein individuelles und subjektives Kriterium, das „Dio dal ruolo di governante responsabile del mondo umano“²⁹ entthronte. Auch nach der Passage in Von weltlicher Obrigkeit, wieweit man ihr Gehorsam schuldig sei (1523) und der Ausarbeitung der „Zwei-Reiche-Lehre“ war die Anwendung dieses Prinzips der religiösen Selbstbestimmung und der Unantastbarkeit des Gewissens im Kontext der politischen Veränderungen in Deutschland schwierig, doch man brachte die Prämissen der Einschränkung der irdischen Macht und der Verantwortung des Gewissens in eine unmittelbare Verbindung des Gläubigen zu Gott und legte das Grundrecht jedes menschlichen Wesens fest, „solch heymlich, geystlich, verporgen ding, als der glaub
L. Simonutti, „Pittura detestabile“. L’iconografia dell’eretico e dell’ateo tra Rinascimento e Barocco,“ Rivista Storica Italiana 118/2 (2006): 557– 606, und D. Pastine, „L’immagine del libertino nell’apologetica cattolica del XVII secolo,“ in Ricerche su letteratura libertina: 143 – 173. Zu François Garasse vgl. R.H. Popkin, La storia dello scetticismo. Da Erasmo a Spinoza, Einleitung v. S. Morini (Mailand, 1995, 11979), 156 – 160, und vor allem T. Gregory, Theophrastus redivivo. Erudizione e ateismo nel ’600 (Neapel, 1979). P. Bayle, Dictionnaire historique et critique (Amsterdam, 1730), 3:222. Vgl. dazu http://artflsrv02.uchicago.edu/cgi-bin/philologic/getobject.pl?c.2:143.bayle.3262494 (02.11. 2016). Auf das gleiche Thema kam Bayle in seiner Continuation des Pensées diverses (1704) zurück. M. Luther, An den christl. Adel deutscher Nation von des christl. Standes Besserung, WA 8,409,1– 5. P. Adamo und G. Giorello, „Un altro cristianesimo,“ in La rivoluzione protestante. L’altro cristianesimo, Hg. W.G. Naphy (Mailand, 2010, 12007), XII.
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ist, zu richten und meystern“.³⁰ In der von Pierre Bayle entworfenen „società di atei virtuosi“ existierte Tugendhaftigkeit unabhängig von der Religionsausübung, sie wurde im Gegensatz auch denjenigen zugänglich, die ohne Glauben waren und eine Art Unvereinbarkeit zwischen Religion und Zivilgesellschaft markierten: „Per quale motivo dunque – mi si dirà – si rappresentano gli atei come i più scellerati del mondo, gente che uccide, che profana, e che fa man bassa di tutto ciò che riesce a raggiungere? Perché ci si immagina falsamente che un uomo agisca sempre secondo i suoi principi, cioè secondo le convinzioni religiose?“.³¹ An einem Kreuzungspunkt verschiedener kultureller Traditionen (Skeptizismus, Kartesianismus, Libertinismus und Augustinismus in seiner jansenistischen und protestantischen Ausprägung) vollführte Bayle ein Werk der extremen Relativierung, die es ihm gestattete, zu „assicurare a ogni individuo la possibilità di operare in coscienza una qualsiasi scelta religiosa che risulti anche contraddittoria“.³² Die Entstehung einer Verbindung zwischen Atheismus und Luther ist ein Leitmotiv, das sich ohne Unterbrechung durch die gesamte Frühe Neuzeit zog und im achtzehnten Jahrhundert eine größere Intensität erfuhr, als die „peste dell’ateismo“ das Symptom der Modernität wurde, die gerade eine traumatische Geburt erlebte.³³ Im Jahr 1714 ließ der Theologe Costantino Roncaglia in Lucca das Werk Effetti della pretesa riforma di Lutero e Calvino e del giansenismo drucken. Als Verbreiter von Bossuet und Herausgeber der Historia ecclesiastica di Noël d’Alexandre³⁴ machte Roncaglia im Atheismus nicht nur „il centro di ogni eresia“³⁵ aus, sondern auch die achte Auswirkung der Reformation: „Il mio oggetto dunque è far conoscere che in essi è stato l’Ateismo e che l’hanno ad altr’insegnato con togliere a Dio ciò che gli conviene e con attribuirgli molte cose ad esso ripugnanti, il che è lo stesso, che veramente negarlo“.³⁶ Die Reformation sei nur eine Anmaßung gewesen, denn in Wahrheit sei sie nichts anderes als der Ausdruck von etwas viel Älterem und Teuflischerem.
Vgl. H. Schilling, Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs (München, 22013), 481; WA 19,264,9 – 10. P. Bayle, Pensieri diversi scritti a un dottore di Sorbona in occasione della cometa apparsa nel mese di dicembre 1680, Hg. G. Cantelli (Rom/Bari, 1979), 2:334. Vgl. L. Bianchi, „Bayle e l’ateo virtuoso. Origine e sviluppo di un dibattito,“ in I filosofi e la società senza religione, Hg. M. Geuna und G. Gori (Bologna, 2011): 61– 80, hier 74. Vgl. auch G. Mori, L’ateismo dei moderni. Filosofia e negazione di Dio da Spinoza a d’Holbach (Rom, 2016), insbesondere 102– 110. Vgl. M. de Certeau, La possession de Loudun, Hg. L. Giard (Paris 2005; 11973), 193. Die Aussage bezieht sich auf die berühmte Episode teuflischer Besessenheit, die sich in Loudun vom Oktober 1632 an abspielte. P. Stella, Il giansenismo in Italia, Bd. 1: I preludi tra Seicento e primo Settecento (Rom, 2006), 117 Anm. 60. C. Roncaglia, Effetti della pretesa riforma di Lutero e Calvino e del giansenismo (Lucca, 1714), 229. Ebd., 202. Die anderen sieben Auswirkungen der Reformation betrafen die Abänderungen, Konfusion und Uneinigkeit bezüglich der Dogmen, die Heiligenlästerei, den Geist der üblen Nachrede und der Lügen, die Verderbtheit der Sitten und die Prinzipienlästerei.
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Gelegentlich zeigte sich der Prozess in der katholischen Literatur umgekehrt und die Genealogie auf den Kopf gestellt. Im Werk De’ Diritti dell’uomo (1791) von Nicola Spedalieri³⁷ wird die freie Untersuchung als fataler Prozess angegeben, der vom Protestantismus zum Deismus und Atheismus führe: „Il protestante rifiuta l’autorità della Chiesa, e pretende che le controversie sulla dottrina rivelata si decidano colla sola interna inspirazione della grazia“.³⁸ Das Werk war in einem revolutionären Klima abgefasst worden und wollte eine Analogie zwischen den Reformatoren und den Aufklärern entwerfen, wobei erstere als Vorläufer der letzteren bezeichnet wurden. In der Ausbildung politisch-sozialen Verhaltens waren die Reformatoren nun die philosophes und, die einen wie die anderen, Träger von Korruption und Subversion in Kirche und Gesellschaft, mit tragischen Folgen für das zivile Leben.³⁹ Spedalieri leugnete die Möglichkeit eines öffentlichen Glücks außerhalb von Kirche und Religion und zog eine gerade Linie vom Protestantismus über den Sozinianismus zum Deismus und Atheismus.⁴⁰ Luthers Schisma wurde dabei zu den Haupthäresien gerechnet, die die Wahrheit korrumpiert hätten. In der von Clemens XIII. 1759 erlassenen Verurteilung der Encyclopédie selbst wurde unterstrichen, dass „l’indifferentismo in materia di religione, il materialismo, il fatalismo, il deismo, e le sfrenate libertà del pensiero“ eine ansteckende Krankheit seien, die „ne’ Paesi infetti dell’eresia“ entstanden sei.⁴¹ Diese Länder wurden, wie Patrizia Delpiano geschrieben hat, keineswegs klar genannt; sie lagen irgendwo dort, jenseits der Alpen, in einem unbestimmten Gebiet, das von England über Holland nach Frankreich reichte, waren aber stets an den Protestantismus gebunden. Der Naturalismus, das Zurückgreifen einzig und allein auf die Vernunft, hatte seine Wurzeln bei Luther; vom lutherischen Prinzip der Freiheit seien die Maßnahmen der Nationalversammlung inspiriert worden, wie Pius VI. in seinem Breve zur Verurteilung der Zivilverfassung des Klerus (1791) angeben wird:⁴² Alle großen Katastrophen und Gottlosigkeiten des achtzehnten Jahrhunderts hätten ihren Ursprung in Luther, in Vgl. G. Ruggieri, „Teologia e società. Momenti di un confronto sul finire del Settecento in riferimento all’opera di Nicola Spedalieri,“ Cristianesimo nella storia 2 (1981): 437– 486, und A. Pisanò, Una teoria comunitaria dei diritti umani: i Diritti dell’uomo di Nicola Spedalieri (Mailand, 2004). Man vergleiche zudem A. Prandi, Cristianesimo offeso e difeso. La sfida libertino-illuministica al cristianesimo e i tentativi di risposta apologetica in uno studio analitico inteso a valutarne il significato culturale e politico (Bologna, 1975), 349 – 380 ff. N. Spedalieri, De’ diritti dell’uomo libri VI … far rifiorire essa religione (Venedig, 1797), 2:266. Vgl. D. Menozzi, Chiesa e diritti umani. Legge naturale e modernità politica dalla Rivoluzione francese ai nostri giorni (Bologna, 2012). Menozzi, „La figura di Lutero“: 163. Vgl. auch P. Delpiano, Liberi di scrivere. La battaglia per la stampa nell’età dei Lumi (Rom/Bari, 2015), 158 – 159. Zur Verbindung zwischen Sozinianismus und Deismus vgl. den Beitrag von L. Addante, „Dall’eresia al libertinage e al deismo: vecchie e nuove prospettive sugli esiti del radicalismo religioso italiano,“ in Ripensare la riforma protestante. Nuove prospettive degli studi italiani, Hg. L. Felici (Turin, 2016): 173 – 198. P. Delpiano, Il governo della lettura. Chiesa e libri nell’Italia del Settecento (Bologna, 2008), 96. Menozzi, „La figura di Lutero“: 164.
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jenem „sistema de’ novatori, i quali separati dalla Chiesa ortodossa infallibil maestra di verità hanno lasciato in balia d’ognuno d’essere da sé giudice della religione e della fede“.⁴³ Auch wenn andere Aspekte hinzugezogen wurden und die Frage aus einem anderen Blickwinkel betrachtet wurde, führten die Überlegungen die katholische Polemik zu den gleichen Schlussfolgerungen und dazu, in der lutherischen Häresie die Quelle der Ungläubigkeit des achtzehnten Jahrhunderts auszumachen. In den Werken von Alfonso Maria de Liguori leben noch die gegenreformatorischen Elemente der lutherischen Darstellung nach,⁴⁴ doch es erscheinen auf explizitere Weise die wesentlichen Fragen des Jahrhunderts wie das Auseinanderfallen von sichtbarer und unsichtbarer Kirche. Es handelte sich nicht nur darum, ihre lange Genealogie hervorzuheben, sondern die Autorität der römischen Kirche zu beanspruchen, die „è stata sempre la medesima in tutti i tempi sicché quelle verità che oggi crediamo, furono già credute nei primi secoli“.⁴⁵ Es ist eine Verteidigung des Autoritätsprinzips, denn wenn die Kirche verborgen wäre, „a chi allora dovrebbero gli uomini ricorrere per sapere ciò che hanno da credere o da operare per conseguire l’eterna salute“? Ein Angriff auf die reformierte – und jansenistische – Welt, der sein wahres Ziel in denen hat, die er für ihre Fortführer hält, denn „non ostante l’autorità e l’infallibilità […] pure l’Italia abbonda di deisti, materialisti“. Letzteren hatte Liguori viele Werke gewidmet wie die 1756 erschienene Breve dissertazione contra gli errori dei moderni increduli, generalmente oggidì nominati materialisti e deisti und die 1767 veröffentlichte Verità della fede contro i materialisti che negano l’esistenza di Dio, i deisti che negano la religione rivelata, ed i settari che negano la Chiesa cattolica essere l’unica vera. Liguori, der vollkommen von den Unruhen und Sorgen seiner Zeit in Mitleidenschaft gezogen war, stellte sich gegen das Chaos und die Unsicherheit, die sich seiner Ansicht nach von der Moral auf das politische, soziale und wirtschaftliche Leben erstreckten. So schrieb er: „Finché dunque gli eretici non trovino una regola stabile che li assicuri con certezza di fede del vero senso della scrittura, essi non possono mai avere certa regola di fede. Onde è che questi evangelici riformatori stanno sempre in continua discrepanza, non solo colle altre Chiese riformate, ma anche tra di loro“.⁴⁶ Die größte Anstrengung Liguoris galt dem Gedanken, der aus den Büchern stammte, jenen „tenebrosi“ Büchern, die „si pubblicano di là da monti“ und die „il reo costume di ragionare A. Valsecchi, De’ fondamenti della religione e de’ fonti dell’empietà libri III (Padova, 1868), 3:VIII (Zitat aus Delpiano, Liberi di scrivere, 157). Vgl. D. Menozzi, La chiesa cattolica e la secolarizzazione (Turin, 1993). Menozzi, „La figura di Lutero“: 155. So in seiner Evidenza della fede. Ossia verità della fede fatta evidente per i contrassegni della sua credibilità (1762). Dieses und die folgenden Zitate sind entnommen aus G. Lissa, „Alfonso e l’illuminismo,“ in Alfonso M. de Liguori e la civiltà letteraria del Settecento, Atti del Convegno internazionale per il tricentenario della nascita del Santo (1696 – 1996), Napoli 20 – 23 ottobre 1997, Hg. P. Giannantonio (Florenz, 1999): 233 – 267, 255 und 257. A. de’ Liguori, Opera dommatica contro gli eretici, in Opere di S. Alfonso Maria de Liguori (Neapel, 1871), 8:14– 15.
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all’impazzata su dei dogmi della santa religione“ eingeführt haben.⁴⁷ Dass das Problem im Austausch von Ideen und der Doktrin bestand, wurde auch von jenen wahrgenommen, die auf spiegelbildliche Weise die Ursache des Verfalls im Index der verbotenen Bücher sahen: „mentre il cattolicesimo proscriveva nell’indice le maggiori opere dell’intelligenza umana, e sebbene ostile all’autonomia della potestà laica combattea le manifestazioni della libertà popolare, la Riforma stabiliva il principio della libertà d’esame, e propugnando la libertà religiosa favoriva lo sviluppo della libertà politica“,⁴⁸ schrieb Bertrando Spaventa 1855. Die Ursache der kulturellen Rückständigkeit Italiens habe in den repressiven Systemen gelegen, die den Meinungsaustausch verhindert hätten. Noi [italiani] siamo cattivi sudditi, cattivi cittadini, e cattivi uomini perché siamo cattivi Cristiani. E siamo cattivi Cristiani perché veniamo malamente nella nostra Religione istrutti. Come Cristiani, dovremmo imparare, e venerare sopra tutti i Precetti di Dio, e poi quelli della Chiesa; come discepoli de’ Preti, e Frati noi appena conosciamo la volontà di Dio, ed all’incontro ogni giorno ci sentiamo rimbombare le orecchie dei Precetti della Chiesa,
schrieb der Trentiner Carlo Antonio Pilati in seinem Werk Di una riforma d’Italia, ossia dei mezzi di riformare i più cattivi costumi e le più perniciose leggi d’Italia (zwei Bände, Coira, 1767– 1769), das bald ins Französische, Englische und Deutsche übersetzt wurde. Pilati bezeichnete sich zwar als katholisch, war aber einigermaßen mit der protestantischen Welt und der deutschen Kultur vertraut⁴⁹ und hatte eine gewisse Sympathie für dieses Umfeld. Seine Kritik richtete sich gegen das christliche Erziehungssystem, das dazu geführt habe, dass man „poltroni, timidi, solitarj, miseri, avari, tristi, malinconici, stupidi, inabili ad ogni cosa, e ad ogni azione“ worden sei, wohingegen „per il recare il tutto in uno come Cristiani dovremmo essere buoni cittadini, buoni sudditi, e buoni uomini“. Doch das originellste und unausgegorenste Element seines Denkens bestand in seinem Aufruf zum Kampf gegen die Kirche und den Klerus, denn er war der Überzeugung, dass die praktische Überlegenheit und der Reichtum der Länder, in denen die Reformation erfolgreich war, daher rühre, dass der Aberglaube hinweggefegt worden sei. Es war gerade in den „città della Magna dove parte de’ cittadini è allevata nella setta di Lutero e parte nella fede della Chiesa romana“, wo er die Richtigkeit seines Denkens ausfindig machte. Während die Luthe E. da Domodossola, Dissertazione in forma di dialoghi […] megliorata ed accresciuta (Rom, 1784– 1785) (aus Delpiano, Liberi di scrivere, 154). B. Spaventa, Del principio della riforma religiosa, politica e civile nel secolo XVI (1855). Zur Auffassung Luthers und seiner Reformation in der italienischen Kultur des achtzehnten Jahrhunderts vgl. Miccoli, „L’avarizia e l’orgoglio“: XXIIIff. „Wir [Italiener] sind schlechte Untergebene, schlechte Bürger und schlechte Menschen, weil wir schlechte Christen sind. Und wir sind schlechte Christen, weil wir schlecht in unserer Religion unterrichtet werden. Als Christen sollten wir lernen, und wir sollten vor allem die Gebote Gottes, dann die der Kirche ehren; als Schüler von Priestern und Ordensmännern kennen wir kaum den Willen Gottes, und beim Treffen dröhnen uns täglich die Ohren von den Geboten der Kirche“. F. Venturi, Settecento riformatore, Bd. 2: La Chiesa e la Repubblica dentro i loro limiti (Turin, 1976), 250 – 325.
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raner in der Tat „per la mancanza di benefici ecclesiastici, sono necessitati di darsi all’industria e però ricchi e buoni cittadini riescono“, lebten die Katholiken „nella copia di spirituali prebende […] nella povertà e nella dissolutezza“.⁵⁰ Die Reformation wurde mit Interpretationen und Bedeutungen überladen, die an die Sichtweise der gesamten historischen Entwicklung des Westens gekoppelt waren: ein Aspekt, der zwar schon auf den Buchseiten Machiavellis zu finden war, aber gründlich von der Literatur des Risorgimento aufgegriffen wurde.
4 Luther, Jesuiten und Jansenisten 1757 wurde von dem jansenistischen Priester Nicole Mesnier das Werk Problème historique qui des jésuites ou de Luther et Calvin ont le plus nuit à l’église chrétienne? veröffentlicht, dem ein langer Untertitel beigefügt wurde: La solution de ce problème découvrira la véritable cause des maux qui affligent l’église et le royaume de France et le seul moyen efficace qu’on puisse prendre pour les faire cesser. ⁵¹ Obwohl das Werk am 17. Mai 1759 auf den Index gesetzt wurde,⁵² wurde der Text ins Italienische übersetzt⁵³ und 1763 in Lausanne veröffentlicht. Der Autor setzte die Häresie Luthers und Calvins ausdrücklich mit der Gesellschaft Jesu in Verbindung, indem er sowohl die Moral als auch die Praxis, die Sakramente und die Beziehung zur Obrigkeit, die die Jesuiten verbreitet hatten, der rhetorischen Frage „wer hat der Kirche den größten Schaden zugefügt?“ aussetzte. Mesnier ließ sich von Bossuet inspirieren (bezog aber Calvin in seine Überlegungen mit ein) und begann mit einer systematischen Gegenüberstellung, bei der, wie man aus den langen, den Text begleitenden Anmerkungen entnehmen kann, seine wahre Zielscheibe die Gesellschaft Jesu war. Mesnier war bestens mit sämtlichen Polemiken im Inneren der Societas wie den kontroversen Beziehungen zum Papsttum und der antijesuitischen Literatur katholischer Seite vertraut, die vom dominikanischen Theologen Melchor Cano an die Aufmerksamkeit auf die jesuitische Häresie oder auf die unterschiedlichen auf dem Trienter Konzil vertretenen Positionen gelenkt hatte, und legte dem Leser die komplexe und grundlegende Frage vor: chi di questi due creda egli [il lettore] che più abbiano nociuto alla Chiesa, o quei che per istabilirvi una pretesa riforma, che essi avevano in mira, hanno rovesciato i dommi, e la disciplina; o
Vgl. ebd., 267. Zu diesem 1757 in Avignon (Paris) und 1763 in Utrecht veröffentlichten Werk vgl. O. Barbier, R. Billard und P. Billard, Dictionnaire des ouvrages anonymes (Paris, 1875), 3:1047. J.M. De Bujanda, Index Librorum Prohibitorum, 1600 – 1966 (Montréal/Genf, 2002), 11:612. N. Mesnier, Problema istorico in cui si domanda chi abbia più nociuto alla Chiesa cristiana o i gesuiti, o Lutero e Calvino (Lausanne, 1763). Das Werk wurde mit einigen Hinzufügungen und Auslassungen auch unter dem Titel Esame istorico delle massime, e dottrine de’ gesuiti e di Lutero e Calvino (Venedig, 1767) gedruckt.
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quei che si sono proposti d’introdurvi la rilassatezza, e che per riuscirvi hanno impugnata la purità della dottrina in quasi tutti gli articoli, e la santità della sua morale in tutti i suoi punti?⁵⁴
Oder, weiter noch, ma chi dunque vi sembra più colpevole, quei che degradano un’autorità legittima, o quei che ne formano una immaginaria; quei che tolgono al Papa ciò che egli ha, o quei che egli danno ciò che non gli compete, quei che lo riguardano come un uomo o quei che lo eriggono in Dio?.⁵⁵
Die von dem Jansenisten vorgebrachten Anschuldigungen entsprachen in vielerlei Hinsicht dem üblichen Katalog der antijesuitischen Polemik in der katholischen Welt, die in jenen Jahren noch von den großen Kontroversen gegen die Gesellschaft Jesu verstärkt wurde, dem Vorspiel zu ihrer Vertreibung aus den wichtigsten europäischen Staaten und zu ihrer darauffolgenden Aufhebung. Den Jesuiten wurde vorgeworfen, dass sie die Autorität Jesu Christi leugneten; dass sie die päpstliche Autorität aus reinem Körperschaftsinteresse verherrlichten;⁵⁶ dass sie die beiden Reformatoren übertroffen hätten, indem sie die Heilige Schrift ablehnten und verdrehten, und zwar sowohl das Alte als auch das Neue Testament;⁵⁷ dass sie die Gläubigen von der Schrift entfernt hätten, indem sie sie versteckten, verböten und „come un libro oscuro, atto a farli traviare; e come pericoloso a’ medesimi teologi“, und sie so „marcire […] nell’ignoranza che infiacchisce i veri doveri, che restituisce alla Legge di Dio le tradizioni degli uomini“⁵⁸ ließen; und schließlich, dass sie die Kirche in einen politischen Körper verwandelt hätten.⁵⁹ Die Gesellschaft Jesu wurde alles in allem als Hauptursache für den moralischen und politischen Verfall der Christenheit dargestellt. Die rhetorische Struktur, das sei nebenbei gesagt, unterschied sich nicht wesentlich von der von den Jesuiten selbst verwendeten, die ihrerseits einmal Parallelen zwischen Epikureern und Reformatoren zogen,⁶⁰ einmal sich ereiferten, eine lange
„Wer von diesen beiden, glaubt er [der Leser], hätten der Kirche mehr geschadet; entweder diejenigen, die, um eine vorgebliche Reform einzurichten, welche sie zum Ziel hatten, die Dogmen und die Disziplin auf den Kopf gestellt haben; oder diejenigen, die vorgeschlagen haben, selbst dort die Laxheit einzuführen, und die, damit dies gelinge, die Reinheit der Lehre in fast allen Artikeln und die Heiligkeit der Moral in allen ihren Punkten angefochten haben?“. Mesnier, Problema istorico, 1:47– 48. Ebd., 149. Ebd., 163: „Essi vogliono far regnare i Papi al fine di regnare col mezzo di essi, e farne l’istromento del regno loro“. Ebd., 190. Ebd., 197– 198. Ebd., 521– 522: Wenn Luther und Calvin der Meinung waren, dass die Kirche keine Befehlsbefugnis mehr habe, so meinten die Jesuiten, „ch’ella non può comandare se non gli atti esterni e che non ha verun diritto sopra gl’interni; e che la sua potestà si stende solamente ai corpi, non agli spiriti, i quali sono sempre liberi e indipendenti“. Wie in den Libri tres de continentia Christiana adversus Epicuraeos hujus temporis, impios Lutheri et Calvini asseclas, Duaci, ex typographia Balthazarius Belleri, 1638 des Jesuiten Jean Bourgeois (1574– 1653). Vgl. C. Sommervogel, Bibliothèque de la Compagnie de Jésus (Brüssel/Paris, 1891), 2:34– 35.
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Liste schrecklicher Ereignisse zu erstellen, die die reformatorischen Häresien der anfänglichen Frühen Neuzeit mit Quesnel und sogar dem Finanzminister Pedro Rodríguez de Campomanes verbanden, wie im Fall des Missionars Pedro Antonio de Calatayud.⁶¹ Bei Letzterem handelt es sich um ein Schema, das auch vom römischen Hof auf die Fürsten angewendet worden war, die die savoyische Kirchenpolitik animierten, der wiederum vorgeworfen wurde, von der calvinistischen und lutherischen inspiriert zu sein.⁶² Dem jansenistischen Professor Pietro Tamburini⁶³ aus Pavia schien es offensichtlich, dass die protestantische Welt und die Gesellschaft Jesu von dem Wunsch vereint wurden, die Kirche und die kirchliche Disziplin zu zerstören: eine perfekte Einheit zwischen dem Geist der Reformation Luthers, welcher „portato a distruggere, non a edificare“ war, und der Haltung der Jesuiten, die mit „nuovi sistemi“ sowohl bezüglich der Sitten als auch bezüglich des Glaubens auf die kirchliche Disziplin eingeschlagen hatten.⁶⁴ Seinerseits widerlegte Giuseppe Piatti die Werke Tamburinis und konnte nicht anders als hervorzuheben, wie die „teorie di quei pretesi riformatori tanto encomiati dal Tamburini“ hinsichtlich der Ablassbriefe „[…] le dottrine del Wicleffo, di Giovanni Hus, di Girolamo de Praga, di Calvino, di Lutero“ erneuert hätten;⁶⁵ Francisco Gustà stellte eine Analogie zwischen dem Jansenisten Tamburini und Luther bezüglich der Ehe fest.⁶⁶ Gegen den sächsischen Reformator und die protestantische Welt vereinigten sich alle Kräfte, die sich sonst untereinander bekämpften. Wenn die Jansenisten die Jesuiten der moralischen Korruption beschuldigten und den Ursprung dafür in der lutherischen Lehre sahen, so behaupteten die Jesuiten ihrerseits, dass die jansenistische Lehre ein Ausdruck des freien Denkens, Keim des Atheismus sowie Ausdruck protestantischer und damit antimonarchistischer Tendenzen sei. Im italienischen Umfeld, das keinen Raum für Reformen bot, waren die Anschuldigungen, die gegen die philosophes als Erben der Reformatoren vorgebracht wurden, dahingehend verallgemeinert worden, was vom jansenistischen Geist in Italien überlebte. Das Giornale ecclesiastico di Roma von 1796 bestätigte die bestehende Verbindung zwischen pro-
Tratado en que se vuelve por la indemnidad […] con algunas del Señor Fiscal Campomanes, author de ella y ellas: vgl. Sommervogel, Bibliotèque de la Compagnie, 2:534– 535. Zum Autor, der am 27. Februar 1773 in Bologna in der Verbannung gestorben ist, vgl. den entsprechenden Eintrag von E. Gil, in Diccionario histórico de la Compañía de Jesús 1 (2001): 599 – 600. Stella, Il giansenismo in Italia, 1:208 Anm. 33. Zu Tamburini vgl. E. Verzella, Nella rivoluzione delle cose politiche e degli umani cervelli. Il dibattito sulle Lettere teologico-politiche di Pietro Tamburini (Turin, 1998), und P. Corsini und D. Montanari, Hg., Pietro Tamburini e il giansenismo lombardo, Atti del convegno internazionale in occasione del 250° della nascita, Brescia, 25 – 26 maggio 1989 (Brescia, 1993). Menozzi, „La figura di Lutero“: 161. G. Piatti, La cattiva logica del giansenista D. Pietro Tamburini (Turin, 1795), 77– 78. F. Gustà, Gli errori di Pietro Tamburini nelle prelezioni di etica cristiana (Fuligno, 1804). Zur Gestalt von Francisco Gustà vgl. M. Batllori, Francisco Gustà apologista y crítico (Barcelona, 1943).
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testantischem Bruch und Ungläubigkeit und machte in Luther und Calvin diejenigen aus, die hätten „appestato l’universo“; doch schon im darauf folgenden Jahr wurde die Anschuldigung von der philosophischen „setta“, die „sotto il nome di Logge“ organisiert worden sei, auf alle Rückstände jansenistischen Denkens ausgedehnt: Schlimmer als alle Erneuerer seien alle jene, die zwar in der Kirche blieben, aber „gridano alla Riforma, perpetuamente declamano contro la Chiesa Romana e contro il dispotismo che chiamano papale, ed episcopale“.⁶⁷ Die philosophes waren auf mehreren Ebenen an der katholischen Debatte beteiligt; an einem Kampf, bei dem die Gegenaufklärung „costituì per vari aspetti una ripresa (o prosecuzione) della Controriforma“.⁶⁸ Obwohl sie als Erben der Reformatoren angesehen wurden, richteten sie eine völlig andere Aufmerksamkeit auf die religiöse Reform. Ihr Kampf gegen den „Fanatismus“ – und gegen jene gefühlsbetonte Religiosität, die Trägerin von Korruption und Anarchie in der Geschichte der Menschheit sei – traf die Religion tout court und unabhängig davon, ob sie römisch, reformiert oder heidnisch war. Für die Welt der Aufklärer und Anhänger der Toleranz stellten die Reformation und der Widerstand gegen sie von katholischer Seite den Beginn der blutigen Kriege dar, sie sich für lange, ja für zu lange Zeit in Europa hinzogen. Fürchterliche Auseinandersetzungen insbesondere für diejenigen, die den Frieden anstrebten, die sich von den Schlachtfeldern auf die theologischen Fakultäten ausgedehnt hatten; „guerres des cannibales“,⁶⁹ die nun als nicht mehr lebendig angesehen und daher verachtet wurden. Der Kampf der Aufklärung war ein Kampf gegen alle Dogmen und für die religiöse Toleranz. Der Ursprung der politisch-religiösen Auflösung und der fortwährenden und grausamen Konflikte, die daraus hervorgingen, wurde also in der Reformation gesehen, doch letztere musste sich die Verantwortlichkeit mit der Kirche von Rom teilen. Anders dachte man auf der anderen Seite der Barrikaden, wo nämlich unter den vielen Ursachen, die den Zustand der europäischen Schwäche bestimmt hatten – wirtschaftliche, politische, kulturelle, finanzielle und soziale Faktoren –, die französische Revolution im Entstehen begriffen war und bei der man ihre Verbindung zu und ihren Ursprung in der Aufklärung hervorhob. Der Priester und ehemalige Jesuit Nikolaus Joseph Albert von Diessbach, Gründer der „Christlichen Freundschaft“, behauptete in einem Brief aus dem Jahr 1790 an Kaiser Leopold II., dass die französische Revolution nichts anderes sei „che la piena esplicitazione di quei germi „satanici“ di dissoluzione dell’autorità introdotto da Lutero nella Chiesa“.⁷⁰ Luther und die philosophes waren Verbündete, und ein weiteres Mal wurde der Reformator an den Ursprung von Unordnung und Chaos gesetzt: „Perfido Lutero! Tu la prima cagione ne sei di questa nuova guerra che alla religione muove con nuova baldanza e furore l’empia incre Cfr. G. Ricuperati, „Politica, cultura e religione nei giornali italiani del ’700,“ in Cattolicesimo e Lumi nel Settecento italiano, Hg. M. Rosa (Rom, 1981): 49 – 76, 71– 73. Delpiano, Liberi di scrivere, 177. Voltaire, Essai sur les moeurs, 188. M. Rosa, La contrastata ragione. Riforme e religione nell’Italia del Settecento (Rom, 2009), 205.
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dulità“.⁷¹ Ein einzigartiges Schicksal für einen, der – ohne jede revolutionäre Absicht – einfach nur die Sitten der Kirche und der christlichen Welt reformieren wollte.
N.J.A. von Diessbach, Il zelo meditativo di un pio solitario cristiano e cattolico espresso in una serie di riflessioni e di affetti (Turin, 1774), 29 (aus Delpiano, Liberi di scrivere, 155 – 156).
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Protestantismus und Aufklärung, 1691 – 1780 1 Einführung Dem Lutheraner Ernst Troeltsch zufolge ist „aus dem inneren religiösen Drange des Protestantismus […] dagegen die Aufklärung nicht hervorgegangen. Sie bedeutet überhaupt wesentlich ein Nachlassen des Religiösen und eine Rettung vor dem drückend gewordenen Religiösen zum Moralischen und Humanen“.¹ Mit dieser Trennung hatte Troeltsch die Absicht, den lutherischen Glauben vor den aufklärerischen Angriffen zu bewahren; eine gegenteilige, aber im Ergebnis ähnliche Position bestand seit dem Idealismus Hegels hingegen darin, in der Aufklärung die Beseitigung des Glaubens zu sehen. Man muss allerdings einräumen, dass sich die Aufklärung bei ihrer Säkularisierungsarbeit die Frage der Religion zu eigen gemacht hat, um zunächst ihre emotionalen Wurzeln zu verstehen und dann ihre soziale Bedeutung anzupassen. Bei dieser Auseinandersetzung spielte der Protestantismus eine entscheidende Rolle, denn auf ihn bezogen sich die Aufklärer, wenn sie über die Religion nachdachten. Hier werden fünf Kernpunkte dieser Auseinandersetzung in den Blick genommen: die Theodizee und die Natur Gottes in der zwischen 1691 und 1699 sich abspielenden Polemik zwischen Pierre Bayle und dem Calvinisten Pierre Jurieu, die den Terminus a quo unserer Zeitspanne darstellt; Bayle kritisierte in der Tat das grausame Paradox der protestantischen Idee von Göttlichkeit und schlug eine Ansicht vor, die sich sowohl von der calvinistischen als auch von der atheistischen eines Spinoza unterschied, und spann damit den Bogen für die folgenden aufklärerischen Debatten. Aber die theologische Diskussion stellte nicht die einzige polemische Front zwischen Aufklärung und Protestantismus dar: „Après avoir pesé devant Dieu le christianisme dans les balances de la vérité, il faut le peser dans celles de la politique“.² Die historische und politische Analyse des Protestantismus bildete einen weiteren, essentiellen Aspekt jener Auseinandersetzung. Das regelrechte Bedürfnis, politisch die Natur des protestantischen Glaubens zu verstehen, war sogar eines der wichtigsten ressorts in der Ausbildung des historiographischen Denkens der Aufklärung, auch wenn es oft vernachlässigt wird. Aus einem solchen Blickwinkel gelangten Voltaire und David Hume zur gleichen Beurteilung der historischen Erfahrung des Protestantismus, die darin –
Übersetzung: Antje Foresta. E. Troeltsch, „Die Aufklärung (1897),“ in Gesammelte Schriften, Bd. 4: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, Hg. H. Baron (Tübingen, 1925): 338 – 374 sowie Zusätze 834– 844, insbesondere 843 – 844; hier 844. Voltaire, „Examen important de milord Bolingbroke ou le tombeau du fanatisme,“ in Mélanges, Hg. J. van den Heuvel (Paris, 1961): 1117. https://doi.org/9783110498745-067
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wenn auch mit gegensätzlichen anthropologischen und philosophischen Theorien – die Gefahr der unkontrollierbaren déraison erblickten. Zum Abschluss eines Jahrhunderts mit als gelehrt und philosophiques zu bezeichnenden Forschungen zur Religionsgeschichte, die von Hugo Grotius bis Baruch Spinoza reichten, gingen Edward Gibbon und Hermann Samuel Reimarus in den 1760er Jahren über diese Sichtweise hinaus und leugneten in stärkerer Anlehnung an Hume und Voltaire den göttlichen Charakter der christlichen Lehre und der Erfahrung Christi. Jean-Jacques Rousseau, der sowohl Voltaire als auch Hume fernstand, war für das Thema der Theodizee empfänglich und wühlte den Calvinismus auf. Aus der Religion machte er eine republikanische Kraft bzw. eine Kraft der Freiheit. Am Ende dieses Bogens dramatischer Fragen zur Geschichte und Natur der Religion und beinahe mit dem Wunsch versehen, Bilanz zu ziehen und eine aufklärerische Perspektive aufzuzeigen, diskutierte Denis Diderot 1780 auf der einen Seite den Protestantismus als eine Kraft der europäischen civilisation, auf der anderen Seite löste er seinen doktrinären Inhalt auf, um die Religion als soziale Energie der Zivilisation zu definieren.
2 Voltaire und David Hume Voltaire äußerte sich eindeutig zu seiner Vorstellung von Religion: Des savants pasteurs des Églises protestantes, et même les plus grands philosophes ont embrassé ses sentiments et ceux de Socin. Ils ont encore été plus loin qu’eux: leur religion est l’adoration d’un Dieu par la médiation du Christ.³
D’Alembert vertrat dieselbe Position im Artikel Genève seiner Encyclopédie. Am Ursprung der christlichen Theologie des Deismus, der einzigen Form vernünftiger Religion und wahren Errungenschaft der Aufklärung, stand eine Geschichte von Gewalt und Verfolgungen. Auf doktrinärer Ebene gab Voltaire eine beachtliche Homogenität zwischen Luther und Calvin zu und überging dabei gelegentlich die Unterschiede zwischen Calvinisten und Lutheranern hinsichtlich der Prädestination – ein Thema, das nicht mehr im Mittelpunkt der philosophischen („philosophique“) Debatte stand.⁴ Der Unterschied zwischen Luther, Calvin und den Katholiken bei der Transsubstantiation wird dennoch mit Ironie herausgestellt. Luther retenait une partie du mystère, et rejetait l’autre. Il avoue que le corps de Jésus-Christ est dans les espèces consacrées; mais il est, dit-il, comme le feu est dans le fer enflammé […] Ainsi, tandis que ceux qu’on appelait papistes mangeaient Dieu sans pain, les luthériens mangeaient du
Voltaire, Essai sur les Mœurs (Paris, 1963), 2:247. Voltaire, „Histoire de Charles XII,“ in Œuvres historiques, Hg. R. Pomeau (Paris, 1957): 288.
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pain, et Dieu. Les calvinistes vinrent bientôt après, qui mangèrent le pain, et qui ne mangèrent point Dieu.⁵
Trotzdem fiel zugunsten der Protestanten aus, das „Recht auf freie Gewissenserforschung“ für alle verteidigt zu haben.⁶ Wenn man das Christentum nach dieser Logik betrachtete, musste man den Protestantismus dem Katholizismus vorziehen.⁷ „Si les protestants se trompent comme les autres dans le principe, ils ont moins d’erreur dans les conséquences; et puisqu’il faut traiter avec les hommes, j’aime à traiter avec ceux qui trompent le moins“.⁸ Voltaire schlug scharfe Kritik entgegen, als er sich dazu bekannte, eine Religion so auszuwählen „[…] comme on achète des étoffes chez les marchands: vous allez chez qui vend le moins cher“. Auf dem Markt der Religionen, den Voltaire in London angetroffen und in seinen Lettres philosophiques beschrieben hatte, müsse man die „menschliche Klugheit „ ausschließen und die göttliche wählen, die zu allen spreche: „La conscience qu’il a donnée à tous les hommes est leur loi universelle“.⁹ Das Prinzip der wahren Religion bestehe darin, dem Wort der Natur in der Rationalität des Gewissens zuzuhören. Die Existenz der Göttlichkeit werde von der rationalen Notwendigkeit eines Weltenschöpfers bewiesen.¹⁰ Religion ist für Voltaire eine Ideologie auf zwei Ebenen: Neben der Universalität der Religion gebe es die Glaubensformen des Volks, das noch nicht für den Deismus bereit sei. Eine dieser Glaubensformen sei die der Göttlichkeit Christi. Es sei unmöglich, den Tod Gottes zu denken: „Un charlatan est parvenu jusqu’à dire, […] en parlant de l’angoisse et de la passion de Jésus-Christ, que si Socrate mourut en sage, Jésus-Christ mourut en dieu; comme s’il y avait des dieux accoutumés à la mort, comme si on savait comment ils meurent, comme si une sueur de sang était le caractère de la mort de Dieu, enfin comme si c’était Dieu qui fût mort“.¹¹ Christus blieb vom Deismus und der religiösen und rationalen Begründung der Moral ausgeschlossen. „II est arrivé la même chose à Jésus qu’à saint Ignace: c’était un fou“.¹² Um aus dem Kreis von abergläubischer Religion und Atheismus auszusteigen,¹³ müsse man zum Deismus gelangen, der eine
Voltaire, Essai sur les Mœurs, 2:219. In Wahrheit hatte die calvinistische Tradition stets die leicht andere Interpretation verteidigt, dass das Heil allein nicht durch das freie oder angeleitete (Katholizismus) Studium der Heiligen Schrift komme, sondern durch die Gnade. Vgl. R. Voeltzel, Vraie et fausse église selon les théologiens protestants français du XVIIe siècle (Paris, 1956), 139 ff. Im Gegenteil, man müsse zugeben, dass „en général le clergé a été corrigé par les protestants, comme un rival devient plus circonspect par la jalousie surveillante de son rival“,Voltaire, Essai sur les Mœurs, 2:218. Voltaire, „Catéchisme de l’honnête homme,“ in Mélanges: 668. Ebd. R. Pomeau, La religion de Voltaire (Paris, 1956). Voltaire, „Brief an Pierre-Joseph Thoulier d’Olivet vom 5. Januar 1767,“ in Correspondance (Paris, 1983): 8:824– 825. Der Hinweis bezieht sich auf Rousseau. Voltaire, Piccini Notebooks, Hg. T. Besterman (Genf, 1952), 2:537. Voltaire, „Homélies,“ in Mélanges: 1134, insbesondere 1127.
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rationale Praxis der Toleranz gestatte, so lehrt Voltaire stets edelmütig. Sein großer Kampf für Calas rief die Bewunderung der Aufklärer und die Dankbarkeit der protestantischen Welt für sein Werk hervor.¹⁴ „Je conclus que tout homme sensé, tout homme de bien, doit avoir la secte chrétienne en horreur“.¹⁵ Die Geschichte habe gezeigt, dass die christliche Religion Wahnsinn, religiöser Glaubensschwindel und Integration in die irdische Logik von Machtwille sei.¹⁶ Das Christentum war somit schlichtweg Gewalt. „Il est affreux sans doute que l’Église chrétienne ait toujours été déchirée par ses querelles, et que le sang ait coulé pendant tant de siècles par des mains qui portaient le Dieu de la paix. Cette fureur fut inconnue au paganisme“.¹⁷ Das Heidentum habe nur moralische und zeremonielle Regeln gehabt und den „dogmatischen Geist“ (l’esprit dogmatique) nicht gekannt, welcher zahlreiche Religionskriege hervorgerufen habe. Das war für Voltaire das Problem der Geschichte des Christentums, ihr Rätsel. „J’ai recherché longtemps comment et pourquoi cet esprit dogmatique, qui divisa les écoles de l’antiquité païenne sans causer le moindre trouble, en a produit parmi nous de si horribles“. Der Fanatismus reichte als Erklärung nicht aus. Fanatisch waren auch die Brahmanen, die jedoch sich selbst schadeten und nicht anderen. Die Wurzeln dieser „neuen Pest“ (nouvelle peste) lagen „dans ce combat naturel de l’esprit républicain, qui anima les premières Églises, contre l’autorité, qui hait la résistance en tout genre“.¹⁸ Der Kurzschluss zwischen primitiver Kirche und Protestantismus ist die Lösung jenes Rätsels und erklärt, warum in der historischen Rekonstruktion Voltaires zu Luther dessen Nachfolger überwiegen, die Anabaptisten¹⁹ und Calvinisten. Für Voltaire gehörten weder Luther noch Calvin der Renaissance an. In seiner Beschreibung von L’idée générale du XVIe siècle und davon, wie Europa im frühen sechzehnten Jahrhundert „schöne Tage heraufziehen sah“, erinnert Voltaire an die soziale Kraft des Handels, an die außereuropäische Expansion und an die révolutions in Kultur und Politik; wohingegen „les querelles de religion, qui déjà commençaient à naître, souillèrent la fin de ce siècle: elles la rendirent affreuse, et y portèrent enfin une espèce de barbarie que les Hérules, les Vandales et les Huns, n’avaient jamais connue“.²⁰ Voltaire nahm Luther, der kein Zeitgenosse von Raphael, Ariost oder Erasmus mehr war, von der Bühne des sechzehnten Jahrhunderts und setzte ihn in die nebulöse Welt der spätmittelalterlichen Häresien. Petrus Valdes schuf im zwölften Jahrhundert die Sekte der Waldenser, „qui ressemblait à celle des Albigeois, de Wiclef, de Jean Hus,
Vgl. G. Gargett, Voltaire and Protestantism (Oxford, 1980), 14. Voltaire, „Examen“: 1116. In den „Dialogues chrétiens“ sagt der Priester zum Pastor: „Ah, fi, donc! Quoi l’intérêt peut trouver place dans votre cœur, quand il s’agit de celui de la religion! vous pouvez balancer entre Dieu et Mammon!“, in Mélanges: 365. Voltaire, „Le siècle de Louis XIV,“ in Œuvres historiques: 1041 (XXXVI). Ebd. Voltaire, Essai sur les Mœurs, 2:238 (CXXXII). Ebd., 2:136 (CXVIII).
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de Luther, de Zuingle, sur plusieurs points principaux“.²¹ Mehr noch als ins Mittelalter gehörten Luther und Calvin in die Zeit der Jerusalemer Kirche. Il me semble que la religion protestante n’est inventée ni par Luther ni par Zwingle. Il me semble qu’elle se rapproche plus de sa source que la religion romaine, qu’elle n’adopte que ce qui se trouve expressément dans l’Evangile des chrétiens, tandis que les Romains ont chargé le culte des cérémonies et des dogmes nouveaux.²²
Dieselbe Idee findet sich in Siècle de Louis XIV, aber mit einer bedeutenden Präzisierung: Les anciens dogmes embrassés par les Vaudois, les Albigeois, les Hussites, renouvelés et différemment expliqués par Luther et Zuingle, furent reçus avec avidité dans l’Allemagne, comme un prétexte pour s’emparer de tant de terres dont les évêques et les abbés s’étaient mis en possession, et pour résister aux empereurs, qui alors marchaient à grands pas au pouvoir despotique.²³
Die Geschichte enthülle, dass hinter den positiven religiösen Glaubensrichtungen nichts Anderes stecke als politische Notwendigkeiten und der Wunsch nach wirtschaftlicher Macht. Wiewohl an der Vernunft und an der Renaissancekultur unbeteiligt, habe der Calvinismus deren Ende bedingt und blutige Konflikte geschaffen. Die Geschichte von Ludwig XIV. zeige, wie die Protestanten die religiöse Frage zu einer sozialen und politischen Frage machten. „Le calvinisme devait nécessairement enfanter des guerres civiles, et ébranler les fondements des États“.²⁴ Es habe sich um einen „Bürgerkrieg“ gehandelt,²⁵ der wie jeder andere Religionskrieg von der vorherrschenden Kontroverse bezüglich des moralischen Lebens entfesselt worden sei. Die Religionskriege stellten für Voltaire keinen Zivilisationsfaktor dar. Kein Konflikt, weder ein religiöser noch ein politischer, zivilisiere jemals. Eine solche Darstellung finden wir auch bei Hume, doch die Religionstheorie Humes unterschied sich radikal von dieser rationalistischen und deistischen, weil sie auf der Vorstellung von belief beruhte, auf dessen Grundlage die Vernunft zwar Nachprüfungen und Kontrollen vollziehen, aber nie ihre leidenschaftlichen Wurzeln eliminieren konnte. Religion ist Glaube, Ergebnis primitiver Leidenschaften wie der Angst; sie entsteht nicht aus Bewunderung für die Ordnung des Kosmos, sondern aus der Erschütterung und der Furcht angesichts ihrer Unverständlichkeit. Für Hume hat die Religion nicht die Struktur des Deismus, sondern stattdessen die notwendigen
Ebd., 2:275 (CXXXVIII). Voltaire, „Catéchisme de l’honnête homme“: 667. Voltaire, „Le siècle de Louis XIV“: 1043. Ebd.: 1063. Voltaire, „Du protestantisme et de la guerre des Cévennes (1763),“ in Œuvres historiques: 1278 und 1280.
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Formen des Aberglaubens und der Begeisterung,²⁶ und daher ist die Schaffung von Institutionen, anhand derer jene irrationale Dynamik kontrolliert werden kann, unverzichtbar. Der jeweilige Nutzen, den die Kirche von England und die Monarchie in Hannover aus der gegenseitigen Unterstützung zogen, war für Hume der Beweis dafür, denn so wurden die Puritaner, die als Fanatiker eine Bedrohung für die soziale Stabilität waren, aufgehalten.²⁷ Hume griff auf die Kategorie der Verfolgung zurück, um die Dynamik zu erklären, die dem Fanatismus des Christentums eigen war.²⁸ Der historische Sinn des Problems war der von Voltaire formulierte: „Le détail de ces horreurs vous fait dresser les cheveux; mais la multiplicité est si grande qu’elle ennuie. On faisait périr des milliers d’imbéciles, en leur disant qu’il fallait entendre la messe en latin“. Dem christlichen Wahnsinn fielen zugleich diejenigen anheim, die sich zum Martyrer machen ließen, und diejenigen, die sich zum Verfolger aufschwangen.²⁹ „Les réformés firent ensuite ce qu’avaient fait les chrétiens des IVe et Ve siècles: après avoir été persécutés, ils devinrent persécuteurs à leur tour“.³⁰ Zahlreich sind die Fälle, die Voltaire in Erinnerung ruft. Im Werk Du protestantisme et de la guerre des Cévennes ist seine Sympathie für „la populace sauvage“ ausgeprägt, denn ihm erschien die Grundlosigkeit der katholischen und königlichen Verfolgung offensichtlich; aber rein beispielhaft ist das Schicksal von Antoine, von dem im Commentaire sur le livre des délits et des peines die Rede ist. Als Katholik wurde er zunächst Protestant, dann Jude in Venedig; schließlich kehrte er nach Genf zurück, wo er 1632 hingerichtet wurde. Es war ihm nicht gelungen, im eigenen Gewissen den Konflikt zwischen Calvinismus, den zu predigen er verpflichtet war, und der mosaischen Religion, an die er glaubte, zu lösen.³¹ Trotz immerhin erheblicher Differenzen waren Protestanten und Katholiken intolerant und liebten es auf gleiche Weise, die philosophes zu „verfolgen“; erstere „behutsam“, letztere „ohne Unterlass“ (wegen „les voies abrégées“).³² Die Antworten, die Voltaire und Hume der Geschichte zur Natur der Göttlichkeit entnahmen, waren unterschiedlich. Hume entnahm aus der Menschheitsgeschichte, dass Gott ein durch Angst geschaffener Fetisch war, der schließlich als Theismus gedacht werden konnte,³³ während für Voltaire in der Geschichte keine Antwort zu finden war.³⁴ Man konnte nicht erklären, warum man sich Praktiken und Schwinde-
D. Hume, The History of Great Britain, Bd. 1: The Reign of James I and Charles I (Harmondsworth, 1970), 71. J. Seed, „The Spectre of Puritanism. Forgetting the Seventeenth century in David Hume’s History of England,“ Social History 30 (2005): 444– 462. Hume, The History of Great Britain, 1:339 ff. Voltaire, „Conseils raisonnables à M. Bergier,“ in Œuvres complètes, Hg. L. Moland (Paris, 1879): 27:51. Voltaire, „Examen“: 1113. Voltaire, in Mélanges, 799. Voltaire, „Dialogues chrétiens“: 367. D. Hume, The Natural History of Religion (London, 1757). Voltaire, „Homélies“:1122 ff.
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leien unterwarf, die wider die Vernunft waren; ihr Entstehungs- und Behauptungsprozess war ebenso unverständlich wie die Beweisführungen bezüglich des Übels in der Welt, des Manichäismus, des als méchant oder impuissant bezeichneten Gottes und der nicht nachvollziehbaren Gerechtigkeit und des Optimismus, der sich ins System einer „hoffnungslosen Fatalität“ umkehrte. Man musste ganz einfach die natürliche Religion annehmen, die zumindest nicht das ganze „mal qu’il était impossible que le fanatisme chrétien n’en fît pas“ produzierte,³⁵ die so entdeckte Göttlichkeit anbeten und „être honnête homme“. Voltaire hatte erzählt, was aus dem Luthertum in der Geschichte geworden war, aber woraus jene Religion bestand – die Religion – blieb ihm verborgen.
3 Edward Gibbon und Hermann Samuel Reimarus Die Diskussion über die Geschichte des Christentums fand ihren Abschluss in Gibbon: In the connection of the church and state I have considered the former as subservient only and relative to the latter: a salutary maxim, if in fact, as well as in narrative, it had ever been held sacred. The oriental philosophy of the Gnostics, the dark abyss of predestination and grace, and the strange transformations of the Eucharist from the sign to the substance of Christ’s body,1 I have purposely abandoned to the curiosity of speculative divines. But I have reviewed, with diligence and pleasure, the objects of ecclesiastical history, by which the decline and fall of the Roman empire were materially affected, the propagation of Christianity, the constitution of the Catholic church, the ruin of Paganism, and the sects that arose from the mysterious controversies concerning the Trinity and incarnation.³⁶
Die Abneigung Gibbons angesichts der Härte der presbyterianischen Tradition³⁷ wurzelte in seinem Nachempfinden der Philosophie Humes und in der Gewissheit
Voltaire, „Examen“: 1117. Edward Gibbon, The History of the Decline and Fall of the Roman Empire, 12 Bde., Hg. J. B. Bury mit einer Einleitung von W. E. H. Lecky (New York: Fred de Fau and Co., 1906), Hier: Bd. 8 [2/6/2017]: http:// oll.libertyfund.org/titles/gibbon-the-history-of-the-decline-and-fall-of-the-roman-empire-vol-8. „Bey der Erörterung der zwischen Kirche und Staat eintretenden Verhältnisse, habe ich die erstere bloß als jenem untergeordnet, und von ihm abhängig, betrachtet; ein heilsamer Grundsatz, wenn er in der Wirklichkeit, so wie in der Erzählung, immer unverbrüchlich befolgt worden wäre. Die orientalische Philosophie der Gnostiker, den dunklen Abgrund der vorherbestimmten Gnade, habe ich, so wie die seltsame Verwandlung der geweihten Hostie, von dem Zeichen in die wirkliche Substanz des Körpers Christi absichtlich dem scharfsinnigen Forschungsgeiste der Gottesgelehrten überlassen. Gern und sorgfältig hingegen habe ich mich bey solchen Gegenständen der Kirchengeschichte verweilt, wodurch der Verfall und Untergang des Römischen Reichs merklich beschleuniget worden ist, die allgemeine Verbreitung des Christenthums, die Verfassung der katholischen Kirche, der Untergang des Heidentums, und die Sekten, welche aus den geheimnisvollen Streitigkeiten über die Dreyeinigkeit, und über die Menschwerdung Christi, sich allmählig hervor hoben.“ (Edward Gibbon, Geschichte des Verfalls und Untergangs des Römischen Reichs, Bd. 13, Leipzig: Hinrichs, 1805, 171 f.). E. Gibbon, Miscellaneous Works (London, 1814), 1:85, Brief an Catherine Porten.
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bezüglich des Werts der Vernunft. Die Verurteilung Servetos vonseiten Calvins sei das Werk eines Mannes von „aufgeklärtem Geist“ („esprit eclairé“) und „grausamer Seele“ („âme atroce“) gewesen,³⁸ eines „Théologien atrabiliaire, qui aimoit trop la liberté, pour souffrir que les Chrétiens portassent d’autres fers que les siens“.³⁹ Sein Urteil über den Protestantismus war eindeutig: „After a fair discussion we shall rather be surprised by the timidity, than scandalised by the freedom, of our first reformers“.⁴⁰ Die Reformatoren hatten die Traditionen und Bilder des Alten Testaments akzeptiert, die absurde Natur Christi und die „great mysteries of the Trinity and Incarnation“, ja sogar die Transsubstantiation, welche der „evidence of their senses“ überlegen sei.⁴¹ Mit Ironie beobachtete er, dass der Zwingli geschuldete Verlust des eucharistischen Mysteriums „was amply compensated by the stupendous doctrines of original sin, redemption, faith, grace, and predestination, which have been strained from the epistles of St. Paul“.⁴² Der calvinistische Gott sei grausam und irrational. „Hitherto the weight of supernatural belief inclines against the Protestants; and many a sober Christian would rather admit that a wafer is God, than that God is a cruel and capricious tyrant“. Auch wenn die vergleichende Religionsgeschichte den Aberglauben der einen und der anderen jeweils gegenüberstelle, müssten die philosophes Luther und seinen Erben und „rivals“, „fearless enthusiasts“, trotzdem zwei Verdienste zuerkennen: Sie zerstörten das „lofty fabric of superstition“ und zerbrachen „the chair of authority […], which restrains the bigot from thinking as he pleases, and the slave from speaking as he thinks“.⁴³ Vom achten bis zur Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts herrschte „During a long dream of superstition, the Virgin and the Saints, their visions and miracles, their relics and images, were preached by the monks and worshipped by the people; and the appellation of people might be extended without injustice to the first ranks of civil society“.⁴⁴ Von den Reformatoren „the imitation of Paganism was supplied by a pure and spiritual worship of prayer and thanksgiving, the most worthy of man, the least unworthy of the Deity“ [Kap. LIV, 22]. Was den Aberglauben betrifft, so „the nature of the tiger was the same, but he was gradually deprived of his teeth and
E. Gibbon, Journal de Lausanne (Lausanne, 1945), 131– 133. E. Gibbon, Miscellanea Gibboniana (Lausanne, 1952), 133 – 134. Gibbon, The History of the Decline and Fall of the Roman Empire, 10:21 (LIV); Edward Gibbon, Geschichte des Verfalls und Untergangs des Römischen Reichs, Bd. 15, Leipzig: Hinrichs, 1805, 272: „Nach einer unbefangenen Untersuchung wird man mehr über die Furchtsamkeit unserer ersten Reformatoren erstaunen, als ihre Freymütigkeit anstößig finden“ (272). Ebd., 10:21 (LIV). Ebd., 10:22 (LIV): „Aber der Verlust eines Geheimnisses wurde durch die erstaunenswürdigen Lehren von der Erbsünde, der Erlösung, dem Glauben, der Gnade, und der Vorherbestimmung, welche man aus den Episteln des heiligen Paulus herzuleiten gewußt hat, ersetzt. […] Bisher scheint die Wagschale des übernatürlichen Glaubens sich nicht für die Protestanten zu neigen; und mancher wackere Christ würde lieber zugeben, daß eine Hostie Gott, als daß Gott ein grausamer und eigensinniger Tyrann sey.“ (ebd., 273 f.). Ebd., 10:22– 23 (LIV). Ebd., 10:2 (LIV). Vgl. auch Bd. 5: Kap. XXVIII.
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fangs [Kap. LIV, 24]“. Die ersten Christen seien unwissend, intolerant, ja sogar kriminell gewesen, und die Jerusalemer Kirche habe sich von ihrer schlimmsten Seite gezeigt. Die Aufrechnung der Märtyrer gestattete es Gibbon, die Kategorie der Verfolgung zu verwenden, um deren Unfähigkeit aufzuzeigen, auf die wahre Religion hinzuweisen. The most furious and desperate of rebels are the sectaries of a religion long persecuted, and at length provoked. In a holy cause they are no longer susceptible of fear or remorse: the justice of their arms hardens them against the feelings of humanity; and they revenge their fathers’ wrongs on the children of their tyrants. Such have been the Hussites of Bohemia and the Calvinists of France, and such, in the ninth century, were the Paulicians of Armenia and the adjacent provinces.⁴⁵
Calvin und Thomas Cranmer hatten ihrerseits die protestantischen Häretiker verfolgt. Doch die Reformation hatte einen Keim der Freiheit gegen jedwede calvinistische oder lutherische Orthodoxie zu verteidigen. „The struggles of Wickliff in England, of Huss in Bohemia, were premature and ineffectual; but the names of Zuinglius, Luther, and Calvin are pronounced with gratitude as the deliverers of nations“.⁴⁶ Jene Freiheit war in der Tat „the consequence, rather than the design, of the Reformation“ [LIV, 23]. Es handelte sich um einen Prozess der Heterogonie zur Erreichung der Toleranz. „Since the days of Luther and Calvin, a secret reformation has been silently working in the bosom of the reformed churches; […] and the disciples of Erasmus diffused a spirit of freedom and moderation“. Gibbon achtete darauf, die beiden Reformen zu trennen: die protestantische von der der Aufklärer, in welcher „the liberty of conscience has been claimed as a common benefit, an inalienable right“.⁴⁷ Die Gefahr der Verherrlichung war trotzdem nicht gebannt und tauchte später in der christlichen Logik von Verfolgung und Fanatismus immer wieder auf. Der Geist und die Prinzipien Luthers wiesen eine innere Widersprüchlichkeit auf, die den Ver-
Ebd., 10:11– 12 (LIV). Vgl. auch Bd. 5: Kap. XXXI. („Es giebt keine wüthendern und schrecklichern Rebellen, als die Anhänger einer lang verfolgten und zum Widerstande gereizten Religions-Parthey. Im Kampfe für die Sache des Himmels sind sie für Eindrücke der Furcht oder der Reue nicht mehr empfänglich: die Gerechtigkeit ihrer Waffen verhärtet sie gegen die Gefühle der Menschlichkeit; und sie rächen die Bedrückungen ihrer Väter an den Kindern ihrer Tyrannen. Diß war der Fall der Hussiten in Böhmen, und der Kalvinisten in Frankreich; und ebenso machten es, in dem neunten Jahrhunderte, die Paulicianer in Armenien und den benachbarten Provinzen.“ ebd., 256 f.) Ebd., 10:20 (LIV). („Wickliffs Versuche in England, so wie Hussens in Böhmen, waren zu frühzeitig und unwirksam; aber die Namen eines Zwingli, Luther, und Kalvin, werden als die Befreyer der Nazionen mit Dankbarkeit ausgesprochen.“ ebd., 271). Ebd., 10:24 (LIV; Kursivsetzungen durch den Autor). („Seit Luthers und Kalvins Zeiten hat eine geheime Reformazion in dem Schooße der reformirten Kirchen fortgewirkt; manches tief eingewurzelte Vorurtheil wurde ausgerottet; und die Schüler des Erasmus verbreiteten einen Geist der Freymüthigkeit und der Mäßigung. Die Gewissens-Freyheit ist als ein allgemeines und unveräußerliches Recht in Anspruch genommen worden.“ ebd., 277 f.)
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lust der positiven Hinterlassenschaft riskierte. Es war in der Tat fraglich, ob man auf den protestantischen doktrinären corpus verzichten konnte. The web of mystery is unravelled by the Arminians, Arians, and Socinians, whose numbers must not be computed from their separate congregations; and the pillars of revelation are shaken by those men who preserve the name without the substance of religion, who indulge the licence without the temper of philosophy.⁴⁸
Alle bereits in der christlichen Lehre der Väter und der Scholastik vorhandenen Fragen hatten eben dank der ersten Reformatoren, „who enforced them as the absolute and essential terms of salvation“,⁴⁹ in der Reformation eine entscheidende Perfektionierung zum „popular use“ erfahren. Es war in der Tat wahrscheinlich, dass die protestantische „sublime simplicity“ der „popular devotion“ bestens gelegen kam.⁵⁰ Gibbon pries wie Hume die Stärke der kirchlichen Institution⁵¹ und vertraute sich der Philosophie an, um korrigierend einzugreifen, ohne die protestantischen Prinzipien aufzuheben. Seine Geschichte der christlichen Religion hatte die Kategorie der Biblischen Geschichte vereitelt. Es gab keine wahre Religion, deren Geschichte ihre heilige Wahrheit garantieren würde; alle Religionen waren falscher Glaube – oder vielleicht auch richtiger Glaube –, dessen Entwicklung und Konflikte sich im Gebiet der profanen Geschichte abspielten und sich mit den politischen Kämpfen mischten. Durch die Geschichte des Protestantismus trennte Gibbon die Frage nach der Gottesidee, die man zurückstellen konnte, von der Frage nach der Natur der Religion, die eine genaue Antwort verdiente. Es handelt sich um den essentiellen belief an das soziale Leben. Als Leser Humes wusste Gibbon, dass man ohne Glauben nicht leben konnte, und hatte eine tiefgreifende Vorstellung von der menschlichen Natur, die die déraison einschloss, mit welcher er das ursprüngliche und das moderne Christentum umfasste. Das Ziel Gibbons, der nicht an die Offenbarung glaubte und Atheist war, „was not to attack religion but to write its history“,⁵² und über diese Geschichte zu zeigen, worin „die Substanz der Religion“ bestand. Denn auch wenn der göttliche Fetisch unnütz war, so brauchte man doch die Religion. Durch die Figur Christi und folglich durch die Lehre Luthers wurde Gibbon nicht dazu verleitet, den Protestantismus und das
Ebd., LIV, 25. („Die Prophezeiungen der Katholiken sind eingetroffen: der Schleyer des Geheimnisses ist von den Arminianern, Arianern, und den Socinianern, deren Anzahl man nicht nach ihren abgesonderten Gemeinen schätzen muß, zerissen worden; und die Grund-Pfeiler der Offenbarung werden von denjenigen erschüttert, die den Namen der Religion, aber nicht ihr Wesen, beybehalten, die sich die Freyheiten der Philosophie erlauben, ohne ihre Mäßigung zu besitzen.“ ebd, 279) Ebd., 10:22 (LIV). Ebd. Ebd., 24. Hier setzte Gibbon seine berühmte Anmerkung, in der er das Denken von Joseph Priestley in der History of the Corruptions of Christianity auf die „public animadvertion“ und auf die Priester und Magistrate hinwies. J.G.A. Pocock, Barbarism and Religion, Bd. 5: Religion: The First Triumph (Cambridge, 2010), 380.
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Christentum zu verteidigen, sondern die bittere Notwendigkeit des Mythos, die in jeder elitären Gesellschaft die Aufgabe der Kontrolle hatte. Während sich die protestantischen Deisten und Voltaire Gott ohne Religionen vorstellten, dachte sich der nicht gläubige Gibbon die Religion ohne Gott. Er veröffentlichte den ersten Teil von Decline 1776; Lessing bereitete damals noch einige Fragmente des Werks von Reimarus, Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes,⁵³ für den Druck vor, welcher bereits 1754 seine Abhandlungen von den vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion veröffentlicht hatte. Er bestätigte darin die Existenz Gottes und zeigte, dass dieser Glaube keinen Kult verlange, sondern eine Gläubigkeit, die in der Lage war, moralisches Verhalten hervorzurufen, das den Lehren des Evangeliums entsprach. Reimarus wollte nicht den Übergang von der Naturreligion zu den positiven Religionen studieren, wie es die Deisten gemacht hatten; sein Ziel bestand darin, die Naturreligion als einzige des Glaubens würdige zu präsentieren.⁵⁴ In der Apologie verwendete Reimarus die Bibelexegese des siebzehnten Jahrhunderts, um zu zeigen, dass es im Alten und Neuen Testament nichts Übernatürliches gebe. Die Gestalt Christi⁵⁵ sei nicht die abstrakte Stimme der göttlichen Vernunft, sondern eine historische Figur. Für Reimarus war die messianische Lehre Christi in den jüdischen Glaubensformen seiner Zeit verortet und verschwand mit seinem Tod. Seine Jünger hätten seinen Körper geborgen, seine Wiederauferstehung erfunden – und so auch die Voraussetzungen für das Dogma der Inkarnation geschaffen – und seine Predigten in die apokalyptische Doktrin des Wartens auf die ruhmreiche Rückkehr Christi verwandelt. Nach Spinoza sei Christus losgelöst von der Welt der Glaubensformen, die sofort nach seinem Tod aufgeblüht seien und dann in den ersten folgenden Jahrhunderten in der christlichen Doktrin formalisiert worden seien. Das Christentum sei eine Religion wie jede andere, und die Antwort, die es auf das Bedürfnis nach Errettung gegeben habe, sei, wie bei jeder anderen auch, zu einer Art Schwindel geworden. Christus sei eine Erfindung der Apostel gewesen. Indem er den Protestantismus kritisierte, begann Reimarus, der deutschen Kultur die Frage nach der symbolischen Natur der religiösen Erfahrung zu stellen.
4 Gott und das Böse in der Welt Allerdings war die neue Frage nach der Natur Gottes vom Protestantismus gestellt worden, auch wenn gerade Calvin das Paradox darin festgestellt hatte: „Deshalb ist es unnützes Gedankenspiel, wenn einige sich eifrig um die Frage nach Gottes ‚Sein‘ und H.S. Reimarus, I frammenti dell’Anonimo di Wolfenbüttel pubblicati da G.E. Lessing (Neapel, 1977). Vgl. G. d’Alessandro, Illuminismo diementicato. Eichorn e il suo tempo (Neapel, 2000). Es handelt sich um das VII. von Lessing veröffentlichte Fragment, Von dem Zwecke Jesu und Seiner Jünger, noch ein Fragment des Wolfenbüttelschen Ungenannten (Braunschweig, 1778), in italienischer Übersetzung Reimarus, I frammenti, 351– 534.
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‚Wesen‘ mühen.“.⁵⁶ Sie befand sich nun mit der neuen europäischen Kultur im Zeitalter der europäischen Gewissenskrise im Zentrum der Debatte des Calvinismus. Als sich am Ende des siebzehnten Jahrhunderts die protestantische Orthodoxie stabilisiert hatte,⁵⁷ war die zentrale religiöse Frage die der Versöhnung, der göttlichen Gerechtigkeit und des Bösen. Die reformatorischen Apologeten der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts (aber auch Pascal) verknüpften drei polemische Ziele: die Idolatrie; die Gegner der protestantischen Orthodoxie, vor allem die Sozinianer, wie zum Beispiel Johannes Crell, der 1630 De Deo veröffentlicht hatte; der moderne Atheismus und Spinoza. Die Polemik zur Theodizee, die Bayle von dem Calvinisten Jurieu zwischen 1691 und 1699 entgegengebracht wurde,⁵⁸ brachte den enjeu jener Diskussionen ans Licht, denn die Antwort Bayles auf die calvinistische Doktrin war auf theologischer Ebene so radikal, dass sie eine wahre Zensur und eine Schwelle in Richtung aufklärerische Kultur darstellte. Für die Toleranzprinzipien und den Atheismus hatte Jurieu außer den Pensées diverses und dem Commentaire von Bayle auch das Dictionnaire critique in Erinnerung gerufen, insbesondere die Artikel Manichéens, Marcionites und Pauliciens, in denen Bayle die Frage der Theodizee behandelt hatte. Jurieu stellte sich gegen jede Form des Anticalvinismus: gegen das Luthertum, gegen die Sozinianer, die Atheisten und Spinoza, gegen die Arminianer und die laxistischen Jesuiten. Seine Position hatte den Vorzug, radikal zu sein: Der calvinistische Gott sei der Gipfel des christlichen Denkens und nicht nur deshalb in Ehren zu halten, weil die Menschen den calvinistischen sensus divinitatis kannten, sondern er sei gerade deshalb anzubeten, weil er Ursache des Bösen sei, reine Kraft und dem menschlichen Schicksal gegenüber gleichgültig, und auf die menschlichen Erwartungen keine Antworten gebe.⁵⁹ Die Antwort Bayles auf eine dergestaltige Gottesvorstellung, welche „la plus monstrueuse doctrine, et le plus absurde paradoxe, qu’on ait jamais avancé en Théologie“ sei, war gründlich und empört. Im Artikel Pauliciens breitete er die Thesen Jurieus aus: Die Lösung des Bösen zwischen Gott und Mensch bilde die Schwierigkeit des Christentums, und Jurieu habe die rigoristische Lösung gut beschrieben, die darin bestehe, durch den Glauben die Unergründbarkeit des göttlichen Verhaltens anzunehmen, doch dann habe er einen Fehler begangen und auf die menschliche Logik zurückgegriffen, um sie zu rechtfertigen.⁶⁰ Die Widerlegung befindet sich in der Remarque I. Glaube und Vernunft J. Calvin, Institution de la religion chrétienne, I, II, 2; dt. Unterricht in der christlichen Religion = Institutio Christianae religionis, Hg. O. Weber u. M. Freudenberg, Neukirchen-Vluyn 1997, 3. Vgl. M. Greschat, Hg., Gestalten der Kirchengeschichte, Bd. 7: Orthodoxie und Pietismus (Stuttgart, 2 1994). H. Bost und A. McKenna, Hg., L’„affaire Bayle“. La bataille entre Pierre Bayle et Pierre Jurieu devant le consistoire de l’Église wallonne de Rotterdam (Saint-Etienne, 2006); S. Landucci, La teodicea nell’età cartesiana (Neapel, 1986), cap. V. P. Jurieu, Jugement sur les méthodes rigides et relâchées d’expliquer la Providence et la Grâce, 2 Bde. (Rotterdam, 1686). P. Bayle, „Pauliciens,“ Dictionnaire historique et critique (Amsterdam, 1734), 4:536a.b. So präsentiert Bayle die These Jurieus: Die rigoristische Hypothese führe zur Religion, weil „elle pose la divinité dans
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konnten nicht nebeneinander bestehen. Das Christentum in seiner schlüssigsten Version, nämlich entweder dem Calvinismus oder dem Sozinianismus (welcher Gott in der Tat das Vorauswissen abgesprochen hatte), konnte jenes Einvernehmen mit der Vernunft nicht garantieren, welches Calvin behauptet hatte. Bayle schlug deshalb eine neue und wesentlich längere Definition von Religion vor, die von der Vorstellung von Gott als Güte beherrscht war: „Tout grand raisonneur, qui ne consulte que la lumière naturelle, et cette idée brillante d’une bonté infinie, qui moralement parlant constitue le principal caractere de la nature divine, se choquera de ce que dit l’Ecriture“.⁶¹ Das war die Kritik, die Bayle auch am System Spinozas anbrachte. „Cette cause nécessaire, ne mettant aucunes bornes à sa puissance, et n’ayant pour regle de ses actions ni la bonté, ni la justice, ni la science, mais la seule force infinie de sa nature, a dû se modifier selon toutes les réalitez possibles“,⁶² sodass Spinoza für Bayle sein eigenes System eben zu dem Zweck errichtet hatte, auf den manichäischen Einwand gegen das einzige Wirklichkeitsprinzip zu antworten. Um auf den Atheismus zu antworten, reiche es folglich nicht, „ein erstes Prinzip und Schöpfer aller Dinge anzuerkennen“. Straton et quelques autres philosophes parmi les anciens et Spinoza parmi les modernes reconnaissent ce premier principe. Il faut donc pour se distinguer de l’athéisme reconnaitre que ce premier être n’agit pas par voie d’émanation, que l’action par laquelle il produit le monde n’est point immanente, qu’il n’est point déterminé par une nécessité naturelle, qu’il dispose de la Nature selon son bon plaisir, qu’il entend nos prières et qu’elles le peuvent induire à changer le cours naturelle des choses.⁶³
Bayle formulierte seine Vorstellung von Gott und Religion folgendermaßen. Qu’on reconnaisse tant qu’on voudra un premier être, un Dieu suprême, un premier principe, n’est pas assez pour le fondement d’une religion: […] il faut de plus établir que ce premier être par un acte unique de son entendement connait toutes choses et que par un acte unique de sa volonté il maintient un certain ordre dans l’Univers, ou le change selon son bon plaisir. De-là l’espérance d’être exaucé quand on le prie, la crainte d’être puni quand on se gouverne mal, la confiance d’être récompensé quand on vit bien, toute la Religion en un mot, et sans cela point de Religion.⁶⁴
le plus haut degré de grandeur et d’élévation où elle peut être conçue. Car elle anéantit tellement la Créature devant le Créateur, que le Createur dans ce système n’est lié d’aucune espèce de loix à l’égard de la créature, mais il en peut disposer comme bon luy semble, et la peut faire servir à sa gloire par telle voye qu’il lui plaist, sans qu’elle soit en droit de le contredire“. Bayle, „Socin“, Dictionnaire historique: V:174b. Bayle, „Spinoza“, Dictionnaire historique: 214b. P. Bayle, „Continuation des pensées diverses,“ in Œuvres diverses (La Haye, 1737): 3:312 (LXXXV). Ebd.: 329 (CIV).
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5 Jean-Jacques Rousseau Auf ein Echo auf jene Debatten über die Theodizee stößt man bei Rousseau. Vom Protestantismus empfing Rousseau die Offenbarung als Grundlage der Religion, aber er lehnte das Dogma der Dreieinigkeit ab. Eine Definition Gottes⁶⁵ sei unmöglich, ohne auf die Vorstellungen vom Unendlichen in Intelligenz, Weisheit, Gerechtigkeit, Gewalt und jener Güte zurückzugreifen, welche der Sicht von der Weltordnung entsprang.⁶⁶ Wie für Bayle trennte die Theodizee den philosophe nicht von Gott, sondern von Calvin. Man musste négliger und folglich keinen calvinistischen Glauben an „tous ces dogmes mistérieux qui ne sont pour nous que des mots sans idées“ haben.⁶⁷ Die Geschichte des Christentums, seine Neuheit gegenüber dem Heidentum und die Veränderungen, die der Protestantismus hineinbrachte, kondensierten für ihn in der Gestalt Christi, der von göttlicher Natur war. „La vie et la mort de Jesus sont d’un Dieu“.⁶⁸ Rousseau wusste ebenso wie die anderen philosophes, dass die kritische Exegese des siebzehnten Jahrhunderts eine Antwort auf die Kritiken hinsichtlich der Unwahrheit der evangelischen Erzählung gegeben hatte, welche jedoch „plein de choses incroyables, de choses qui répugnent à la raison […]“ sei, und man daher „respecter en silence ce qu’on ne sauroit ni rejetter ni comprendre, et s’humilier devant le grand Etre qui seul sait la vérité“ müsse.⁶⁹ Rousseau entdeckte die religiöse Erziehung in der Kindheit wieder, um „les basses et sotes interpretations que donnoient à Jesus-Christ les gens les moins dignes de l’entendre“ zu widerlegen.⁷⁰ Teilweise die philosophie und das artifizialistische Argument des Deismus („die Zweckursachen“ und „die Intelligenz“, die das Universum und die Menschheit leiteten) aufnehmend und zum Evangeliumstext zurückkehrend, gewann Rousseau „das Wesentliche der Religion“ zurück und befreite sie vom „Gewirr“ der Zeremonien und „Förmelchen“. Nachdem er den Discours sur l’inégalité verfasst hatte, dachte er: „Voulant être Citoyen je devois être Protestant et rentrer dans le culte établi dans mon pays“.⁷¹ Im Lettre à M. de Franquières (1769) pries Rousseau, ein Bewunderer von Sokrates und Christus, letzteren, indem er sich auf die protestantische exegetische Tradition stützte, die gezeigt hatte, dass Christus keine Wunder vollbracht oder verlangt habe. Nachdem so die
J.-J. Rousseau, „[Sur Dieu,] Fragments sur Dieu et sur la révélation,“ (vielleicht aus dem Jahr 1735) in Œuvres Complètes (Paris, 1969): 4:1033. Über die „source du mal“ schrieb Rousseau nach dem Erdbeben von Lissabon, dass „la question n’est point, pourquoi l’homme n’est pas parfaitement heureux, mais pourquoi il existe“, „Lettre à Voltaire,“ in Œuvres Complètes: 4:1061.Vgl. E. Cassirer, Das Problem Jean Jacques Rousseau (Darmstadt, 1975). Vgl. auch Archiv für Geschichte der Philosophie 41 (1933): 337– 754. Rousseau, „Emile,“ in Œuvres Complètes: 4:729. Ebd., 626. Ebd., 627. J.-J. Rousseau, „Les Confessions,“ in Œuvres Complètes: 1:392. Ebd.
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„objection terrible“ beseitigt war, blieb der Christus des Evangeliums übrig, welcher das Modell für die imitatio Christi Rousseaus war. „Son noble projet étoit de relever son peuple, d’en faire derechef un peuple libre et digne de l’être; car c’étoit par là qu’il falloit commencer“. Von seinen „lâches compatriotes“ missverstanden und verachtet, sei Christus klargeworden, dass er keine „révolution“ bei seinem Volk auslösen könne: „il voulut en faire une par ses disciples dans l’Univers“.⁷² Das Verhältnis zwischen Religion und Politik wies schwer zu überwindende Distanzen auf. Der theokratischen calvinistischen Logik der Verbindung von Religion und Politik zu folgen war unmöglich, man musste eine Wahl treffen. Calvin sei ein außergewöhnlicher Mensch gewesen, „mais enfin c’étoit un homme, et qui pis est, un Théologien“⁷³; sein génie ⁷⁴ hingegen rage hervor, wenn man ihn als Gesetzgeber betrachte. Die Theologie Calvins befindet sich im Hintergrund; im Vordergrund steht der soziale und politische Wert des Christentums, der vor allem im letzten Kapitel des Contrat sociale, De la religion civile, erforscht wird. Diese Dissoziation vom Erbe Calvins war möglich, weil Rousseau der üblichen Dreiteilung von Religionen (Kult und „le dogme et la morale“⁷⁵) eine neue Lesart verpasste, um die von der Genfer Republik verwehrte Freiheit und Toleranz zu garantieren. In einem politischen Staat hatte das Christentum eine positive moralische Kraft wie „sentiment, opinion, croyance […]“, durfte aber nicht Teil der Verfassung sein: „comme loi politique, le Christianisme dogmatique est un mauvais établissement“.⁷⁶ Die zivile Religion war ein außergewöhnliches Projekt, das Rousseau vom Protestantismus trennte.
6 Diderot „Il seroit à souhaiter que quelqu’un nous donnât une histoire des hérésies; elle supposeroit des connoissances très-étendues, expliqueroit beaucoup de faits obscurs, et formeroit le tableau le plus humiliant, mais le plus capable d’inspirer aux hommes l’esprit de la paix“.⁷⁷ Diderot hebt hervor, dass die gelehrte kirchengeschichtliche Historiographie bis zum damaligen Zeitpunkt gelehrt und parteiisch gewesen sei; nun müsse sie philosophique sein. Obwohl Diderot die gleiche philosophie wie Hume vertrat, denn er übernahm dessen Theorie zum Fetischismus,⁷⁸ lieferte er eine unterschiedliche Rekonstruktion der protestantischen Bewegung. Man konnte sehen, dass
J.-J. Rousseau, „Lettre à M. de Franquières,“ in Œuvres Complètes: 4:1145 – 1146. J.-J. Rousseau, „Lettres écrites de la montagne,“ in ebd.: 3:715 (II). Der Brief ist eine Antwort auf die calvinistische Orthodoxie in Verteidigung des Contrat social und von Emile. J.-J. Rousseau, „Du contrat social,“ in Œuvres Complètes: 2:382 (II). Rousseau, „Lettres écrites,“ in ebd., 1:694. Ebd., 706. D. Diderot, „Hématites,“ in Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (Paris, 1765): 8:110. Diderot, „Oindre,“ in ebd., 11:432.
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Hume die Religion als etwas beschrieb, das zwischen Aberglaube und Fanatismus hinund herschwang, und dabei ersteren den Katholiken und letzteren den Protestanten zuschrieb. In der Institution der Kirche fand er den Schutz vor den negativen Ausprägungen dieser Glaubensformen wieder. Gibbon hatte diese Schlussfolgerung geteilt. Rousseau hatte hingegen an einen protestantischen Deismus gedacht, aber vor allem hatte er innerhalb des Calvinismus das Potential für die Errichtung einer politisch freien und moralisch religiösen Gemeinschaft erblickt. Die Entwicklung bei Diderot war eine andere. Im Artikel Credulité ⁷⁹ seiner Encyclopédie definierte Diderot die Ungläubigkeit als spezifisch protestantisch, und man würde sagen, dass er eine Stelle aus der Histoire des variations des Eglises protestantes von Jacques-Bénigne Bossuet vorliegen hatte,⁸⁰ welcher eine Genealogie erstellt hatte, die von Luther und Zwingli zu den Anabaptisten und schließlich dem Sozinianismus reichte, der folglich nicht das Produkt bereits zuvor bestehender Häresien war, sondern der protestantischen. Diese Anregung, die auch im Artikel Unitaires von Jacques-André Naigeon entwickelt wurde,⁸¹ findet sich später in der Histoire philosophique et politique des deux Indes wieder, dem Werk Diderots und Raynals: „Par une impulsion fondée dans la nature même des religions, le catholicisme tend sans cesse au protestantisme; le protestantisme au socinianisme; le socinianisme au déisme; le déisme au scepticisme“.⁸² Bossuet war auf den Kopf gestellt. Für den katholischen Apologeten war der Sozinianismus Ausdruck der Unwahrheit der protestantischen Lehre, für Diderot drückte er die Wahrheit des Christentums und jeder Religion aus, wurde aber, wenn auch stets im Bereich der Religion, als eine höhere Form des Fetischismus oder vielmehr des Aberglaubens interpretiert. Diderot verfasste darin nicht die „natürliche“ Hume’sche Geschichte der Häresie, die er sich vorgestellt hatte, sondern zog daraus eine als philosophique et politique zu bezeichnende Geschichte. Das Christentum schritt nicht, wie man es sich erwarten würde, „von der Idolatrie zum Theismus“, weil die barbarischen Bevölkerungen ihm eine Wendung zum Wunderbaren verabreichten, welche auf der natürlichen religiösen Dimension die Entstehung des kirchlichen Schwindels gestattete. Gegen diesen Schwindel erhob sich Luther. Auch für Diderot war das Thema der freien Gewissenserforschung im Zusammenhang mit der Kritik am Katholizismus der Grund für den großen Erfolg des Protestantismus.⁸³ Le luthéranisme, qui devoit changer la face de l’Europe, ou par lui-même, ou par l’exemple qu’il donnoit, avoit occasionné dans les esprits une fermentation extraordinaire; lorsqu’on vit sortir de
Diderot, „Crédulité,“ in ebd.: 4:452a. In J.-B. Bossuet, Histoire des variations des Eglises protestantes, in Œuvres Complètes, vol. XV, Paris 1885, 134– 138. J.-A. Naigeon, „Unitaires,“ in Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers: 17:400. G.T. Raynal, Histoire philosophique et politique des Établissements et du commerce des Européens dans les deux Indes (Genf, 1780), 4:468 (XIX). Ebd., 2:335 und 333 (VIII).
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son sein orageux une religion nouvelle, qui paroissoit bien plus une révolte conduite par le fanatisme, qu’une secte réglée qui se gouverne par des principes. La plupart des novateurs suivent un systême lié, des dogmes établis, et ne combattent d’abord que pour les défendre, lorsque la persécution les irrite et les révolte jusqu’à leur mettre les armes à la main. Les anabaptistes, comme s’ils n’avoient cherché dans la bible qu’un cri de guerre, levèrent l’étendard de la rébellion, avant d’être convenus d’un corps de doctrine.⁸⁴
Die Geschichte des französischen Protestantismus war von entscheidender Bedeutung, wenn auch in einem anderen Sinn als bei Hume und Voltaire. Diderot unterschied in der Tat zwischen Fanatismus und Enthusiasmus, wobei er in letzterem einen positiven Zwiespalt ausmachte, der von grundlegender Wichtigkeit für die Herausbildung der menschlichen Zivilisation sei. Trotz des ganzen vergossenen Bluts habe es in jenen Kämpfen ein positives Element gegeben: den Konflikt, die Kategorie, die das Fundament der europäischen Zivilisation darstellte: „Quelle est la cause des progrès et de l’éclat des lettres et des beaux-arts chez les peuples tant anciens que modernes? La multitude d’actions héroïques et de grands hommes à célébrer. […] Ce fut au milieu des troubles civils en Angleterre, en France après les massacres de la Ligue et de la Fronde, que des auteurs immortels parurent“.⁸⁵ Die Kultur sei das Ergebnis des Konflikts und des Enthusiasmus, der folglich nicht zu verurteilen, sondern als Zivilisationsfaktor anzuerkennen sei. Es gebe nun einen anderen Fanatismus: „Un fanatisme plus heureux, né de la politique et de la liberté“,⁸⁶ an dessen Wurzel sich ein Gefühl befinde, was nicht jenes natürliche der Religion sei, welches als „la crainte du mal, et l’ignorance de ses causes, et de ses remèdes“⁸⁷ gelte. Diese Leidenschaft, deren Ausformung von den Protestanten bezeugt werde, sei der Enthusiasmus. Das sei der positive Antrieb des Säkularisierungsprozesses gewesen. Doch als Religion habe der vernunftfreie Protestantismus seine eigene Funktion verloren. Mais s’il m’étoit permis de m’expliquer sur une matière aussi importante, j’oserois assurer que ni en Angleterre, ni dans les contrées hérétiques de l’Allemagne, des Provinces-Unies et du Nord, on n’est remonté aux véritables principes. Mieux connus, que de sang et de troubles ils auroient épargné; de sang païen, de sang hérétique, de sang chrétien, depuis la première origine des cultes nationaux jusqu’à ce jour.⁸⁸
Diderot durchbrach den Kreis des religiösen Fanatismus und schuf einen neuen Gegensatz, den des Enthusiasmus und der Vernunft. Der Enthusiasmus als säkularisierte Religion sei die Form der idealen und sozialen Energie der Gesellschaft, die von drei Prinzipien kontrolliert und geleitet werden müsse.
Ebd., 4:267 (XVIII). D. Diderot, Fragments politiques (Paris, 2011), 129. Raynal, Histoire philosophique, 4:403 (XVIII). Ebd., 2:334 (VIII). Ebd., 4:533 (XIX).
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L’état, ce me semble, n’est point fait pour la religion, mais la religion est faite pour l’état; […] L’intérêt général est la règle de tout ce qui doit subsister dans l’état; […] Le peuple, ou l’autorité souveraine dépositaire de la sienne, a seule le droit de juger de la conformité de quelque institution que ce soit avec l’intérêt général.⁸⁹
Die Religion verschwinde nicht. „Nous vivons sous trois codes, le code naturel, le code civil, le code religieux. Il est évident que tant que ces trois sortes de législations seront contradictoires entre elles, il est impossible qu’on soit vertueux“.⁹⁰ Die Identität, deren drei Gesichter die drei Kodizes seien, bestehe aus der Natur und aus ihren Transformationen in der Geschichte. Die Religion sei neben dem natürlichen und dem politischen der kulturelle Kodex, der die unverzichtbare soziale und symbolische Energie herstelle, von der eine Gesellschaft lebe. Die Religion habe sich in eine symbolische Form verwandelt; ihr Symbol sei nicht der calvinistische Christus vom Kreuz, sondern derjenige der menschlichen Gemeinschaften. „Avons-nous deux différents caractères du Christ: le Christ sur la Croix est autre chose que le Christ au milieu des apôtres“.⁹¹
Ebd. „Il faudra tantôt fouler aux pieds la nature, pour obéir aux institutions sociales, et les institutions sociales, pour se conformer aux préceptes de la religion. Qu’en arrivera-t-il? C’est qu’alternativement infracteurs de ces différentes autorités, nous n’en respecterons aucune; et que nous ne serons ni hommes, ni citoyens, ni pieux. Les bonnes mœurs exigeroient donc une réforme préliminaire qui réduisît les codes à l’identité. La religion ne devroit nous défendre ou nous prescrire que ce qui nous seroit prescrit ou défendu par la loi civile, et les loix civiles et religieuses se modeler sur la loi naturelle qui a été, qui est, et qui sera toujours la plus forte“, ebd., 4:694 (XIX). D. Diderot, „Salon de 1765,“ in Œuvres Complètes (Paris, 1984): 14:378. Von einem anderen Gesichtspunkt aus gibt Diderot nicht nur die emotive Kraft der „cérémonies extérieures sur le peuple“ und auf sich selbst zu, sondern auch ihren sozialen Nutzen: „supprimez toute représentation et toute image, et bientôt ils ne s’entendront plus et s’entr’égorgeront sur les articles les plus simples de leur croyance“, ebd.
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Einige Wahrnehmungsmuster Luthers in der hispanischen Welt vom 16. Jahrhundert bis heute Bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil mit der Öffnung zum modernen Verständnis der Religionsfreiheit galt die hispanische Welt insgesamt als katholischer Raum, der durch die Tridentinische Reform des 16. und den Ultramontanismus des 19. Jahrhunderts seine wesentliche Prägung erhalten hatte. In diesem Beitrag möchte ich einige Wahrnehmungsmuster Luthers (und des Luthertums) nachzeichnen, die im Wandel der Zeit entstanden und für diesen Raum typisch sind. Es geht um die Inquisition, die scholastische Theologie (Melchior Cano) und die Franziskaner der Mexiko-Mission (Bernardino de Sahagún / Jerónimo de Mendieta) im 16. Jahrhundert, die katholische Apologetik Jaime Balmes’ im 19. Jahrhundert, die philosophische Perspektive von Miguel de Unamuno und José Luis Aranguren sowie die kirchengeschichtliche Deutung von Ricardo García-Villoslada im 20. Jahrhundert.
1 Die „deutsche Häresie“ der Inquisition Zwischen 1523 und 1525 wurden in Spanien viele Bücher Luthers entdeckt und verbrannt.¹ Am 8. Februar 1525 schrieb Martín de Salinas an Prinz Ferdinand, den Bruder des Kaisers, dass drei Galeeren voller Bücher Luthers von Venedig zu einem Hafen an der Küste Granadas unterwegs seien. So konnte die Ankunft dieses Transports gerade noch vereitelt werden. Der Weg der Werke Luthers und anderer protestantischer Autoren nach Spanien via Antwerpen konnte allerdings nie ganz kontrolliert werden. Die Adressaten waren nicht nur die Conversos (Neuchristen aus dem Judentum und dem Islam), sondern auch mit der Sache Luthers sympathisierende Mönche (vor allem Augustiner und Hieronymiten) und Anhänger der sogenannten alumbrados. Wir können also von einer „lutherischen Offensive“ zwischen 1523 und 1525 sprechen, „was die Maßnahmen gegen die ersten alumbrados erklären könnte“.² Der erste Prozess gegen sie fand in der Tat 1524– 1525 nach der Verhaftung von Pedro Ruiz de Alcáraz und Isabel de la Cruz statt. Die alumbrados, ein heimisches Gewächs auf dem spirituellen Humus eines Spanien, das neben den Einflüssen der
Vgl. vor allem A. Redondo, „Luther et l’Espagne de 1520 à 1536“, in: Mélanges de la Casa de Velázquez, Bd. 1, Madrid, 1965, 109 – 165; W. Thomas, La represión del protestantismo en España, 1517 – 1648, Leuven, 2001; ders., Los protestantes y la Inquisición en España en tiempos de Reforma y Contrarreforma, Leuven, 2001; E. H. J. Schäfer, Beiträge zur Geschichte des spanischen Protestantismus und der Inquisition im 16. Jahrhundert, 3 Bde., Aalen, 1969 [Erstauflage 1902]. Redondo, „Luther et l’Espagne“, 137. https://doi.org/9783110498745-068
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Devotio moderna und des Humanismus auch die des Judentums und des Islam kannte, neigten zur Verabsolutierung des inneren Betens, zur Betonung der Unmittelbarkeit vor Gott als lebendigem Buch, zum Lob der Ehe und zur Geringschätzung des Ordenslebens sowie der kirchlichen Sakramente, der Prozessionen und des Heiligenkultes. Letzterer galt für sie als Götzendienst.Viele davon waren Conversos, gingen von der Berufung aller zur geistlichen Vollkommenheit aus und befürworteten das Erlangen derselben mittels des dejamiento (= sich gänzlich der Gnade Gottes überlassen unter Geringschätzung der Frömmigkeitsriten und der aktiven Beteiligung am Reinigungsprozess). Schließlich erwarteten sie ein nahes Ende der Welt, etwa in den nächsten zwölf Jahren. Ihr Gedankengut hatte nicht nur erasmianische, sondern auch protestantische Anklänge – so jedenfalls nach dem Inquisitionsedikt von 1525 in Toledo, das einen Versuch darstellt, das Ergebnis der Verhöre gegen die zwei genannten alumbrados zu systematisieren.³ Die Forschung konnte allerdings nicht klären, ob sie die Werke Luthers wirklich gelesen hatten. Die Werke Luthers und anderer Protestanten gelangten weiterhin – schöngefärbt unter den Titeln unverdächtiger Autoren – nach Spanien, und ihre Besitzer waren beim Verstecken derselben sehr geschickt. Seit 1530 intensivierte die Inquisition die Suche nach diesen Werken sowie nach denen der alumbrados, die in einem Atemzug mit den Lutheranern genannt wurden.⁴ Aber eher als mit Luthertum haben wir es bis 1536 mit einem „Hauch“ lutherischen Geistes zu tun, der Spanien in Wellen erfasste: 1521, 1523 – 1525, 1528 – 1531 und 1535.⁵ In der Folge und bis in die 1550er Jahre hinein finden wir kaum eine ernsthafte Nennung Luthers in den Inquisitionsakten, dafür aber einen wachsenden Verdacht gegen den Einfluss des Erasmus. Die Edikte der Inquisition, so bereits am 9. Januar 1536, fragen, ob man „Bücher Luthers oder seiner Adepten oder Bücher des Erasmus“ besitze.⁶ In den 1550er Jahren findet eine Verschärfung der Buchzensur statt. Bücher und kommentierte Bibelübersetzungen protestantischer Autoren gelangten weiterhin nach Spanien, so dass die Entstehung eines Kryptoprotestantismus zu befürchten war. Dies führte zu einer geistigen Wende gegen jene Tendenzen im Schatten des spanischen Katholizismus, die als „philoprotestantisch“ galten, nämlich gegen alumbrados und Erasmianer, gegen die Bibelübersetzungen in der Volkssprache und die geistlichen Autoren, die ebenso in der Volkssprache schrieben und das innere Gebet befürwor-
Vgl. A. Márquez, Los Alumbrados. Orígenes y filosofía 1525 – 1559, Madrid, 1972, darin: „Das Edikt von 1525“, 273 – 283; vgl. dazu ders., „Alumbrados o iluminados“, in: Qu. Aldea Vaquero (Hg.), Diccionario de Historia Eclesiástica de España, Bd. 1, Madrid, 1972, 47– 50; Á. Huerga, Historia de los alumbrados (1570 – 1630), 5 Bde., Madrid, 1978 – 1994; A. Hamilton, Heresy and mysticism in sixteenth-century Spain. The Alumbrados, Cambridge, 1992. Vgl. so etwa in einem Edikt vom 17.08.1530. 1532 wurde sogar der – letztlich wenig glaubwürdige – Verdacht geäußert, dass in Aragón und Valencia Werke Luthers gedruckt wurden. Vgl. Redondo, „Luther et l’Espagne“, 164. Ebd., 160.
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teten. Zugleich wurde der theologische Aristokratismus der Scholastiker gefestigt, wonach die Bibel und die geistliche Literatur nur dem Klerus reserviert seien, nicht den Laien und schon gar nicht den Frauen. Immer enger wurde der Spielraum für die Toleranz nach der zufälligen Aufdeckung 1557 und 1558 von kryptoprotestantischen Konventikeln in Sevilla und Valladolid, denen es bis dahin gelungen war, Bücher protestantischer Autoren einzuschmuggeln. Die Aufdeckung geschah, als in Andalusien ein gewisser Julianillo (Julián Hernández, †1560) mit einer tonnenschweren Ladung von Exemplaren der in Genf 1556 gedruckten Übersetzung des Neuen Testamentes von Juan Pérez de Pineda (†1567) und Büchern protestantischer Autoren verhaftet wurde. Danach war es ein Leichtes, die Empfänger der „gefährlichen“ Importware in Erfahrung zu bringen. Dies führte zu einer allgemeinen Bestürzung, hatte man nun doch im eigenen Hinterhof das Problem, das man in Europa zu bekämpfen trachtete. Man fürchtete Zustände „wie in Deutschland“, wenn nicht rasch und radikal Abhilfe geschaffen würde. Aus seinem beschaulichen Alterssitz im Kloster Yuste in der Extremadura schrieb Karl V. (†1558) an seine Tochter Johanna (†1573) nach Valladolid, die in Abwesenheit Philipps II. (†1598) Regentin war, und an seinen Sohn, der in Brüssel weilte, man müsse gegen die Dreistigkeit dieser „Lumpenkerle“ (piojosos) mit aller Strenge (mucho rigor y recio castigo) vorgehen, kurzen Prozess machen (breve remedio) und ein Exempel statuieren (ejemplar castigo).⁷ Der Generalinquisitor Fernando de Valdés (†1566) begrüßte diese harte Linie und ging ans Werk. Die Chronik berichtet, dass am 21. 5.1559 in Valladolid nach einer Predigt des Dominikaners Melchior Cano (†1560) und in Anwesenheit des Infanten Don Carlos (†1568) vierzehn Personen zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt und sechzehn konziliiert wurden, während man am 24.9. 1559 in Sevilla neunzehn Ketzer (einen von ihnen ‚in effigie‘) verbrannte und sieben als Konziliierte glimpflich davonkamen. Nachdem Philipp II. in Spanien angekommen war, fand am 8.10.1559 in Valladolid in seiner Gegenwart ein weiteres Autodafé mit der Hinrichtung von zwölf Menschen durch das Feuer statt, während achtzehn andere öffentlich konziliiert wurden. Dazu kam noch das Autodafé vom 22.12.1560 in Sevilla mit der Verbrennung von siebzehn Personen (davon drei ‚in effigie‘) und der Konziliation von 37.⁸ Marcel Bataillon hat treffend bemerkt, dass in diesen schweren Zeiten Menschen verbrannt wurden, „die einige Jahre vorher mit einer kleinen Bußstrafe ihre Schuld gesühnt hätten“.⁹ Diese Aussage kann man mit dem Schicksal des Juan Gil illustrieren, eher bekannt unter der latinisierten Namensform Dr. Egidio, der im November 1555 (bzw. Anfang 1556 nach anderen Quellen) friedlich starb, nun aber posthum zu den 1560 in Sevilla ‚in effigie‘ Verbrannten gehörte. Er war Domherr zu Sevilla mit dem wichtigsten Vgl. J. I. Tellechea, El arzobispo Carranza y su tiempo, 2 Bde., Madrid, 1968, hier: Bd. 2, 233 (232– 234). Vgl. A. Milhou, „Die iberische Halbinsel: I. Spanien“, in: M. Venard (Hg.), Die Zeit der Konfessionen (1530 – 1620/30), Geschichte des Christentums Bd. 8, Freiburg, 1992, 662– 726, hier: 685 f. Vgl. M. Bataillon, Erasmo y España. Estudios sobre la historia espiritual del siglo XVI, México, 1986, 709.
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Predigeramt. Seinem Ruf als Prediger ist zu verdanken, dass Karl V. ihn 1549 als Bischof für das Bistum Tortosa vorschlug. Doch bald darauf wurde er bei der Inquisition angezeigt und von dieser verhaftet. Er wurde des „Luthertums“ bezichtigt und gilt daher als spanischer Protoprotestant; aber die Forschung ist eher der Meinung, dass es sich um eine für die heterodoxen Bewegungen im damaligen Spanien typische Mischung aus Erasmianismus, Valdesianismus und Illuminismus handelte, wenn auch nicht frei von einer „lutherisch“ klingenden Färbung. Eine Theologenkommission, zu der die Dominikaner Domingo de Soto (†1560) und Bartolomé Carranza (†1576) gehörten, kam zum Schluss, dass Dr. Egidio einige Sätze feierlich (de vehementi) widerrufen sollte, bevor er nach einer kleinen Bußstrafe in die Freiheit entlassen werden konnte. Zum Widerruf kam es dann auch am 21. 8.1552 bei einem feierlichen Akt in der Kathedrale von Sevilla. Danach wurde er zu einem Jahr Haft verurteilt, das er nicht ganz erfüllte und unter guten Bedingungen in einem Kloster verbringen durfte. Mitte 1553 wurde er in sein pfründenreiches Domherrenamt wiedereingesetzt, das er bis zu seinem Tod bekleidete. Nur predigen durfte er nicht mehr. Unter dem Schock der Aufspürung der Kryptoprotestanten 1557– 1558, zu denen einige Freunde und Weggefährten des Dr. Egidio gehörten, wurde er von Großinquisitor Valdés als „Vater des Sevillaner Protestantismus“ bezeichnet. Die Sevillaner Kryptoprotestanten galten dann als „leidenschaftliche Anhänger und Gefolgsleute des Dr. Egidio, von dem sie die Sprache, die Irrtümer und die falsche Lehre“ übernommen hätten.¹⁰ Eine erste Folge dieser Ereignisse war die Verschärfung der Buchzensur. Am 7.9. 1558 wird Philipp II. eine Pragmatische Sanktion über den Buchdruck und die Buchkontrolle verabschieden, die als die schwerwiegendste Zensurmaßnahme in der Geschichte der Spanischen Inquisition anzusehen ist. Entgegen den Wünschen des Inquisitors ist darin von einer Belohnung für die Denunziation nicht die Rede, auch nicht von einer Betrauung der Inquisition mit der Sichtung der Bücher vor dem Druck, vielmehr wird bekräftigt, dass die Druckgenehmigung allein dem Kronrat obliege – unter Androhung der Todesstrafe für diejenigen, die Bücher ohne besagte Druckgenehmigung „drucken oder drucken ließen oder am Druck beteiligt wären“.¹¹ Ansonsten wird den Universitäten von Salamanca, Valladolid und Alcalá sowie den Erzbischöfen, Bischöfen, Prälaten und den Ordensoberen „aller Orden dieser Kronreiche“ befohlen, „sehr behutsam und schnell“ die Bibliotheken in ihrem Zuständigkeitsbereich zu visitieren: Über die verdächtigen oder verworfenen Bücher, oder über solche, die Irrtümer und falsche Lehren enthielten oder von unzüchtigen Sachen handelten und ein schlechtes Beispiel gäben, gleich wie sie verfasst und gemacht wären, sei es auf Lateinisch oder in den Volkssprachen, auch wenn es sich um solche Beide Belege hier zitiert nach M. Delgado, „Sevilla. Dr. Egidio,“ in: Europa Reformata. Reformationsstädte Europas und ihre Reformatoren. Hg. M. Welker, M. Beintker, A. de Lange, Leipzig 2016, 365 – 374, hier: 370. F. Reyes Gómez, El libro en España y América. Legislación y censura (siglos XV–XVII), 2 Bde., Madrid, 2000, hier: Bd. 2, 801.
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Bücher handeln sollte, die mit Königlicher Genehmigung gedruckt worden waren, sollten sie einen mit ihrem Namen unterzeichneten Bericht an den Kronrat zusenden, „damit man dort die Sache prüfe und das Nötige verfüge“.¹² Ein weiterer Erlass untersagte den Universitäten, die Buchzensur nach dem Druck zu praktizieren, da dies ausschließlich der Inquisition zustehe. Am 17.08.1559 veröffentlicht Valdés – nicht zuletzt auf Anraten des Salmantiner Theologen Melchior Cano – einen vielsagenden Index, der zur Konfiszierung und Verbrennung vieler Bücher führte; dazu zählten alle Übersetzungen der Bibel oder einzelner ihrer Bücher in die Volkssprache; ferner zahlreiche Werke protestantischer Autoren und des Erasmus, die Werke seiner Schüler Alfonso und Juan de Valdés; die damals dem rheinischen Mystiker Johannes Tauler zugeschriebenen Institutiones und sogar einige geistliche Werke in der Volkssprache von spanischen Mystikern wie Francisco de Osuna OFM, Juan de Ávila, Francisco de Borja SJ und Luis de Granada OP. Besonders folgenschwer war das Verbot der Bibelübersetzung in der Volkssprache, denn die genannten geistlichen Bücher von spanischen Autoren konnten sechs bzw. sieben Jahre später mit geringfügigen Änderungen betreff des inneren Gebets wieder erscheinen. Die verhältnismäßig große Verbreitung protestantischer Literatur trotz der erwähnten Inquisitionsmaßnahmen wird von der Inquisition selbst bestätigt. In einem Inventar der konfiszierten Bücher, die von der Inquisition zu Sevilla nach der Verbrennung vieler anderer Werke für den Fall unter Verschluss aufbewahrt wurden, „dass einmal eins derselben zu irgend einer Feststellung benötigt wird“,¹³ werden u. a. viele Werke Luthers (Omnium operum tomus primus, secundus, tertius, quartus et sextus), Bullingers, Zwinglis, Calvins, Ökolampads, Bucers, Melanchthons und Biblianders aufgezählt, um nur die wichtigsten protestantischen Autoren zu nennen. Was für die Inquisition als „lutherisch“ galt, geht aus den Prozessakten und -urteilen sowie aus den Gutachten und Qualifikationen der Zensoren der Inquisition hervor. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Auflistung der Irrtümer der Personen, die 1558 und 1559 in Valladolid als Kryptoprotestanten verurteilt wurden, erstellt von den namhaften Theologen Andrés Pérez, Domingo de Soto, Melchior Cano, Alonso de Horozco und Rodrigo Vadillo.¹⁴ Die Palette reicht von der Rechtfertigung allein durch den Glauben bis zur Ablehnung der Gelübde und des Heiligenkultes, des Fegefeuers, der Frömmigkeitsriten wie Fasten oder der häufigen Messe und des Stundengebets; dazu gehört auch die Bezeichnung des Papstes als Antichrist und die Infragestellung des Ordenstands, die Behauptung, dass die verheirateten Laien bzw. das gesamte Christenvolk konsekrieren könne, weil alle Priester seien, etc. Aber diese „lutherischen Irrtümer“ waren in globo in keinem einzigen Werk oder in keiner Predigt der Verurteilten enthalten, sondern sie wurden von der Inquisition aufgrund der Prozessverhöre
Ebd., Bd. 2, 803. Schäfer, Beiträge, Bd. 2, 392– 400. Ebd., Bd. 3, 88 – 101.
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aufgelistet, zumeist so, dass die Aussagen im Zweifelsfalle gegen den Angeklagten (als lutherische) interpretiert wurden.
2 Melchior Cano: Luther als „übelriechende Lagune, in die die Irrlehren aller Ketzer zusammenfließen“ In der Enzyklika Pascendi (8.9.1907) bezeichnet Pius X. bekanntlich den Modernismus als „Sammelbecken aller Häresien“ (omnium haereseon collectum).¹⁵ Diese Betrachtungsform finden wir auch gegenüber Luther, etwa beim scholastischen DominikanerTheologen Melchior Cano, für den in Luther die Irrlehren aller Ketzer wie in eine übelriechende Lagune zusammenfließen (Lutherus etiam, qui omnes omnium haereticorum haeresesin unam fecit Camarinam confluere). ¹⁶ Aus seinem Gutachten 1559 zum Katechismuskommentar seines Dominikaner-Mitbruders Bartolomé Carranza (Comentarios al Catechismo christiano, Antwerpen 1558) können wir drei Kostproben dessen vorstellen, was Cano unter „lutherisch“ verstand: (1) Als „eine der gefährlichen Sachen, die es im Buch gibt und auf die viele Irrtümer der Lutheraner zurückgehen“, bewertet Cano den Satz Carranzas, „in allen Sachen unserer Religion halte ich das Älteste für das Gesundeste und Sicherste“. Nach Cano bedeutet dies, keinen Sinn für die Geschichte und die Entwicklung der Kirche zu haben. Für ihn gab es in der Urkirche viele Dinge, die heute keineswegs klug wären, auch wenn wir sie heute praktizieren möchten: „denn die Zeiten und die Menschen sind anders […] und die Umstände sind anders“.¹⁷ In Urteilen dieser Art zeigt uns Cano kein rigoristisches Gesicht, sondern eher die Fähigkeit zur „Kontextualität“. Es ist dies übrigens nicht der einzige Fall, wo Cano aus heutiger Sicht moderner wirkt als Carranza. Für Carranza ist „das Sich-Schminken und -Zurechtmachen eine sehr schlechte Sache“; da sich aus der luftigen Bekleidung so viele Schäden ergäben, „ist die Frau nicht gehalten, in solchen Fällen dem Mann zu gehorchen; vielmehr sündigt sie damit“. Cano qualifiziert dies als „unbedachten Rat, an dem die Frauen leicht stolpern werden, so dass sie den Frieden und das Gewissen ihrer Männer beunruhigen werden“.¹⁸ Und Cano nutzt diese Schelte, um zu betonen,
http://w2.vatican.va/content/pius-x/la/encyclicals/documents/hf_p-x_enc_19070908_pascendidominici-gregis.html (Zugriff: 23. 2. 2017). M. Cano, De locis theologicis. Hg. J. Belda Plans, Madrid 2006. Die arabischen Seitenzahlen in Klammern beziehen sich hier immer auf die spanische Ausgabe, während Buch und Kapitel davor auf die lateinische verweisen, hier: IX, 3 (S. 499). Vgl. die spanische Version dieses Gutachtens in: F. Caballero, Conquenses ilustres, Bd. 2: Melchor Cano, Madrid, 1871, 536 – 615, hier: 543. Zu Canos Gutachten vgl. U. Horst, „Die Loci Theologici Melchior Canos und sein Gutachten zum Catechismo Christiano Bartolomé Carranzas“, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 36, 1989, 47– 92. Caballero, Conquenses ilustres, 580.
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dass sich auch im Ordensleben die Zeiten geändert haben, auch wenn der heilige Franziskus und der heilige Dominikus ihre Söhne und Töchter heute angesichts ihres Ordensgewands für schlechte Ordensleute halten und in den Kerker werfen würden: „In diesen unseren Zeiten ist also nicht jedes Sich-Schminken oder luftiges Kleid notwendigerweise schlecht“.¹⁹ (2) Als „lutherisch“ kritisiert Cano auch diese Aussage Carranzas: „Der Glaube an und die Kenntnis des Erlösers ist der Schlussstein des gesamten christlichen Gebäudes“. Für Cano ist dies lutherisch, weil der Glaube nach der katholischen Lehre der Grundstein oder das Fundament des Gebäudes ist, der erste Stein, auf den die anderen christlichen Tugenden gründen; und wer Schlussstein sagt, meint den letzten Stein, mit dem das Gebäude vollendet wird, daher ist die Liebe der Schlussstein; diese vollendet nicht nur das Gebäude und verbindet alle Steine miteinander; vielmehr vervollkommt sie auch den Glauben selbst, so dass der heilige Thomas meint, dass sie ihm den Tugendcharakter und das Leben verleiht, während der Glaube ohne dies ein toter und nichts tuender Stein ist.²⁰
(3) Kritisiert wird schließlich die Aussage, dass die geistlichen Menschen und die vollkommenen Christen nicht auf den Kirchenkalender zu achten bräuchten, also auf die Sonntage und die kirchlichen Feste, „weil für sie alle Tage Festtage sind, da sie sich immer an Gott erfreuen“. Für Cano führt diese Geringschätzung des kirchlichen Gebots, Sonn- und Feiertage zu heiligen, nicht nur zu den alumbrados, sondern auch zu den Lutheranern, denn diese verbreiten „eine falsche Geistesfreiheit, die darin bestehe, die Vollkommenen und die Geistlichen von den äußerlichen Riten und Zeremonien der Kirche zu befreien: Lutherus docuit praeceptum hoc de externo cultu cessase quo ad perfectos christianos, quibus non opus praeciptur, sed quies“.²¹ Eine solche Geringschätzung des Kirchganges ist für Cano „häretisch“, weil sie genauso wie die Vernachlässigung des mündlichen Betens zum „Quietismus“ führe, den er als Schnittmenge zwischen alumbrados und Lutheranern ausfindig gemacht hat.²² Aber daraus geht auch die verengte Blickoptik Canos hervor: Die Freiheit eines Christenmenschen, die prinzipiell auch in der katholischen Tradition hoch gehalten wird, wird nun in diesen schweren Zeiten ausschließlich mit den alumbrados und Lutheranern identifiziert. Derselbe Cano, der so streng (in rigore ut iacent) das Buch Carranzas und die Prozesse gegen die Protestanten von Valladolid zugunsten des Häresieverdachts begutachtete, hat mit seinem 1563 posthum erschienenen Werk De locis theologicis das nachtridentinische Paradigma katholischer Theologie nachhaltig geprägt. Canos Buch betont das katholische Selbstverständnis, etwa wenn er sagt, dass die Heilige
Ebd., 581. Ebd., 559. Ebd., 572. Ebd., 593.
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Schrift, jedenfalls das Neue Testament, im Schoße der Kirche entstanden sei, also nicht vor der Kirche da war, weshalb die Kirche, repräsentiert durch die verschiedenen Stufen des Lehramtes, die legitime Interpretin der Schrift sei: Die Deutung durch die Kirche ist das genuine Verständnis der Schrift, aus dem man – auch wenn der Ketzer knirscht – nicht nur ein gewisses Zeichen der ‚katholischen Wahrheit‘ erlangen wird, sondern auch die Unterscheidung dieses wahren Argumentes, das wir suchen, um die theologischen Schlüsse zu beweisen […] Die Kirche hütet also beides und wird immer beides hüten: sowohl den Wortlaut als auch den Geist des Wortes.²³
Cano empfahl zwar das Studium der biblischen Sprachen, beteuerte aber, dass in allen den Glauben betreffenden Dingen die lateinischen Bibelausgaben nicht durch hebräische oder griechische korrigiert werden dürften. Seine theologische Methode besteht in der Suche nach positiven Autoritäten oder Fundorten für die Glaubensaussagen. Die Reihenfolge der Fundorte wird so bestimmt: Heilige Schrift, Überlieferung, Lehramt der Katholischen Kirche, Lehramt der Konzilien, Lehramt der Römischen Kirche, Lehramt der Kirchenväter, Lehramt der scholastischen Theologen (zu denen auch die Kanonisten gezählt werden), natürliche Vernunft, Autorität der Philosophen, Autorität der Geschichte.²⁴ Die Methodenhierarchie Canos ist eine Antwort auf die reformatorische Überbetonung der Schrift bei gleichzeitiger Geringschätzung von Überlieferung, Lehramt und Vernunft. Er betont, dass die ersten zwei Loci, also Schrift und Tradition, von einer ganz anderen Qualität als die restlichen seien. Sie seien vielmehr das Fundament des gesamten theologischen Gebäudes: „Jene sind die Fundamente der theologischen und kirchlichen Lehre, die Christus durch die Apostel setzte; die anderen [Loci], gleich ob es sich um die Konzilien, die Päpste oder die heiligen Kirchenlehrer handelt, bauen lediglich darauf“.²⁵ Mit anderen Worten: „Von den zehn theologischen Fundorten enthalten die ersten zwei die ‚eigentlichen und legitimen Prinzipien‘ der Theologie, während die letzten drei die ‚externen und fremden‘ enthalten und die fünf mittleren entweder die Interpretation der eigentlichen Prinzipien oder die Schlüsse, die aus ihnen entstehen und gezogen werden, enthalten.“²⁶ Darin sieht man, dass es Cano – anders als Melanchthon oder Calvin, die er „sehr eloquente, wenn auch unfromme Männer“ nennt²⁷ – nicht um eine Sichtung der wichtigsten Fragen der Theologie nach der eigenen konfessionellen Identität geht, sondern um eine Klarlegung der Methode katholischer Theologie, nicht zuletzt angesichts der protestantischen Art, Theologie zu betreiben. Cano selbst meint, er möchte für die Theologie etwas Ähnliches leisten wie Aristoteles mit seiner Topik, d. h. allgemeine Fundorte begründen, aus denen man für jedwede theologische Frage die
Übers. d. Verf.; Cano, De Locis, XII, 5 (S. 717). Ebd., I, 3 (S. 9 f.). Ebd., XII, 2 (S. 690). Ebd., XII, 2 (S. 692). Ebd., I, 3 (S. 9).
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Argumente zur Beweisführung oder zur Widerlegung gewinnen könnte:²⁸ „Denn eines ist, Argumente zu häufen bzw. sie zu zerstreuen und zu vergeuden, und etwas anderes ist, sie mit Methode und technischem Wissen zu beherrschen.“²⁹ Cano hatte nicht nur Melanchthon und Calvin gelesen, sondern auch und vor allem Luther, den er in seinem Werk immer wieder „Fahnenträger der deutschen Häresie“ (signifer impietatis Germanica) und Schüler des John Wyclif nennt.³⁰ Luther wird unter allen Reformatoren von Cano am meisten zitiert – natürlich um sich von ihm zu distanzieren oder die Unlogik bzw. Leichtfertigkeit seiner Argumente zu entlarven. Einige Beispiele mögen hier genügen. Wenn es um die Auslegung der Heiligen Schrift geht, kritisiert Cano die Meinung Luthers, wonach die Laien über genug Verstand verfügten, um die Schrift allein zu deuten.³¹ Cano hält Luther zudem vor, dass er sich wie ein stolzer Sieger benehme, als ob die Schlacht gewonnen wäre, bevor sie stattgefunden habe. Ebenso wirft ihm Cano vor, die Kanonizität des Jakobusbriefs zu verwerfen: Entgegen der vielen positiven Zeugnisse der Kirchengeschichte, alle Konzilien eingeschlossen, vertraue Luther offenkundig nur seinem eigenen, integren und unverdorbenen Zeugnis (integro atque incorrupto).³² Cano bestreitet auch Luthers Meinung, dass der Hebräerbrief weder von Paulus noch von einem anderen Apostel sei, weil es mit der Betonung der Werke der Rechtfertigung allein durch den Glauben widerspreche. Für Cano argumentiere Luther hier mit Frivolität³³ – aber die Bibelforschung kann bis heute den Autor dieses Briefes nicht bestätigen, und man vermutet, dass es sich nicht um Paulus handelte, sondern um einen Judenchristen aus dem paulinischen Umfeld. Cano meint, es sei wohl absurd, nur auf Luther oder Ökolampad in einer Ecke der Kirche zu hören, wie sie ihre Tiraden auf die Tradition loswerden und unsere Vorfahren seit den Aposteln achten.³⁴ Was die wahre Kirche betreffe, meint Cano u. a., allein schon die Tatsache, dass wir uns „katholisch“, d. h. universal oder für den ganzen Erdkreis nennen, während sie sich als „Lutheraner“ bezeichnen, zeige, dass die wahre Kirche nur die Katholische sein könne.³⁵ Im Zusammenhang mit der Autorität der Konzilien hält Cano Luther vor, dieser erledige wie üblich das profunde Thema mit einem einzigen Satz – etwa das irrende Konzil von Konstanz – und liefere dazu keine Beweisargumente: „Saepius erraverunt concilia, praesertim Constantiense, quod omnium impiissime erravit“.³⁶
Vgl. ebd. Ebd., XII, 2 (S. 681). So u. a. ebd., VIII, 1 (S. 455). Ebd., II, 6 (S. 41): „Quo testimonio Lutherus quasi re confecta gloriatur, et nondum collata manu, tamquam ferox victor insultat.“ Vgl. ebd., II, 9 (S. 69). Ebd., II, 10 (S. 77 f.). Ebd., III, 6 (S. 204 f.). Vgl. ebd., IV, 6 (S. 287). Ebd., V, 1 (S. 294).
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Ähnliches gelte für Luthers Kritik der Scholastik als „Unkenntnis der Wahrheit und nutzlose Sophisterei (asserit Theologiam scholasticam esse aliud nihil quam ignorantiam veritatis inanemque fallaciamn seinem eigenen)“.³⁷ Mit süffisanter Ironie vermerkt Cano über sich selbst, er sei ja in der scholastischen Disputation bis zur Vollendung geschult und werde hier nicht sein ganzes dialektisches Arsenal gegen den armen Luther auffahren.³⁸ Luther habe nicht nur behauptet, dass die Philosophie für den Theologen schädlich sei, sondern auch, dass alle spekulativen Wissenschaften irrten.³⁹ So etwas kann Cano, der die menschliche Vernunft zu den zehn Fundorten der Theologie zählt, sehr ärgern. Und er kann seinen scholastischen Aristokratismus nicht zurückhalten. Das habe dazu geführt, dass in Deutschland Zimmerleute, die das Neue Testament auswendig gelernt haben, als große und erhabene Theologen betrachtet würden: „Selbst einfältige Frauen, die die Evangelien und die paulinischen Briefe auswendig sagen konnten, forderten die Theologen aller Universitäten zum Disput heraus und wagten es, die Männer anzugreifen – nicht als ehrbare Frauen, sondern als verdorbene“. „In der Tat“, folgert Cano, „so ist die lutherische Theologie“.⁴⁰
3 Die Franziskaner der Mexiko-Mission: Hernán Cortés als providentielle Gestalt gegen Luther Während die scholastischen Theologen an den Universitäten Spanisch-Amerikas im Fahrwasser Canos bleiben,⁴¹ entwickeln die Franziskaner der Mexiko-Mission eine kompensatorische Vorsehungstheologie für die Erklärung ihrer Missionserfolge. Dieses Selbstbewusstsein finden wir etwa, wenn der Franziskaner Bernardino de Sahagún, der größte Ethnograph der Religion und Kultur der Azteken, im Vorwort seines Werkes Historia general de las cosas de Nueva España um 1570 Folgendes schreibt: „Es scheint sicher, dass unser lieber Herrgott in dieser unserer Zeit, in diesen Ländern und mit diesem Volk der Kirche das zurückgeben wollte, was ihm der Teufel in England, Deutschland und Frankreich, in Asien und Palästina geraubt hatte. Daher sind wir zutiefst verpflichtet, unserem Herrn zu danken und gläubig in diesem unseren NeuSpanien zu arbeiten.“⁴² Ausführlicher entfaltet diese Deutung der Franziskaner Jeró-
Ebd., VIII, 1 (S. 455). Ebd., VIII, 1 (S. 455 f.). Ebd., IX, 3 (S. 499). Ebd., IX, 3 (S. 500). Vgl. für Mexiko A. Mayer, Lutero en el Paraíso. La Nueva España en el espejo del reformador alemán, Méxiko, 2008. Für ganz Spanisch-Amerika vgl. J. Ignasi Saranyana et al. (Hg.), Teología en América Latina, 4 Bde., Madrid/Frankfurt am Main 1999 – 2008. [Fray Bernardino de Sahagún], Aus der Welt der Azteken. Die Chronik des Fray Bernardino de Sahagún. Mit einem Vorwort von J. Rulfo. Übersetzung von L. Schultze Jena, E. Seler und S. DedenbachSalazar-Sáenz. Ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von C. Litterscheid, Frankfurt am Main, 1989, 15.
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nimo de Mendieta in seiner 1596 beendeten Historia eclesiástica indiana. Darin parallelisiert er Hernán Cortés, den Eroberer Mexikos, aus dem er einen neuen Moses macht, um die Indianer aus ihrer ägyptischen Knechtschaft zu befreien, mit dem Schaden, den der „verdammte Luther“ in der alten Christenheit verursacht habe. Und diese Parellelisierung geht so weit, dass für Mendieta Cortés im selben Jahr wie Luther (1483) geboren wurde (heute wissen wir, dass Cortés in Wirklichkeit 1485 geboren wurde), und auch die Eroberung Mexikos begann im Jahr von Luthers Turmerlebnis (1519): Es ist sehr zu bedenken, wie ohne jeden Zweifel Gott diesen tapferen Hauptmann D. Hernán Cortés als sein besonderes Werkzeug auswählte, um das Tor und den Weg für die Prediger des Evangeliums in dieser Neuen Welt frei zu machen, damit hier die katholische Kirche mit der Bekehrung vieler Seelen errichtet und für den Verlust und den Schaden, die der verdammte Luther zur selben Zeit in der alten Christenheit verursacht hatte, entschädigt wird. So wird der Verlust auf der einen Seite durch den Gewinn auf der anderen kompensiert. In der Tat: es ist rätselhaft, dass im selben Jahr, in dem Luther in Eisleben, einer Stadt aus Sachsen, geboren wurde, Hernán Cortés in der spanischen Stadt Medellín das Licht der Welt erblickte: jener um die Welt durcheinander zu bringen und viele Gläubige, die von ihren Eltern und Großeltern und seit längerer Zeit her katholisch waren, unter das Banner des Teufels zu stellen; dieser um unzählige Menschen, die von alters her unter der Herrschaft Satans standen, in Lastern befangen und von der Idolatrie geblendet, in die Kirche einzuführen. Und so wie zur selben Zeit, d. h. 1519, Luther begann, das Evangelium unter den Gläubigen, die es von alters her empfangen hatten und kannten, zu verderben, begann Cortés, es treu und ehrlich unter den Menschen zu verkünden, die bisher niemals Kenntnis davon erhalten und die christliche Predigt nie gehört hatten.⁴³
Dieses Bewusstsein finden wir etwa in den zumeist in den spanischen Territorien (auch in Übersee) entstandenen katholischen Kunstwerken des Barocks, die zur Gattung „Triumph der Kirche“ gehören und Allegorien des katholischen Sieges über Heidentum, Götzendienst und Ketzerei darstellen.⁴⁴ Erst in der protestantischen Geschichtsphilosophie und Historiographie des 19. Jahrhunderts, etwa bei Hegel und Leopold von Ranke, wird eine Interpretation der Frühen Neuzeit konstruiert, die diese auf agierende, leuchtende Reformation und reagierende, finstere Gegenreformation reduziert. Für Hegel war die Reformation bekanntlich „die alles verklärende Sonne […] nach der langen folgenreichen und furchtbaren Nacht des Mittelalters“.⁴⁵
Übers. d. Verf.; J. de Mendieta, Historia eclesiástica indiana, 2 Bde. Hg. v. F. Solano y Pérez-Lila (Biblioteca de Autores Españoles 260, 261), Madrid, 1973, hier: Bd. 1, 107 f. (Buch III, Kap. 1). Vgl. einige Beispiele aus dem mexikanischen Barock in: Mayer, Lutero en el Paraíso, Bilderheft zwischen den Seiten 288 – 289. G.W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Theorie Werkausgabe 12, Frankfurt/ M., 1970, 491.
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4 Jaime Balmes: ein ultramontaner Apologet der katholischen Prägung Europas Es ist nicht leicht, den katalanischen Priester Jaime Balmes (1810 – 1848) einzuordnen.⁴⁶ Er ist ein guter philosophischer Vertreter des Ultramontanismus und der katholischen Apologetik des 19. Jahrhunderts, aber sein Werk El protestantismo comparado con el catolicismo en sus relaciones con la civilización europea (1842) ist nicht so sehr ein kontroverstheologischer Traktat, sondern eher ein geschichtsphilosophischer Essay mit Affinitäten und auch Unterschieden zum Denken Chateaubriands – und nicht zuletzt auch eine Antwort auf die Histoire générale de la civilisation en Europe (1828) des französischen Calvinisten François Guizot (1787– 1874). Darin sieht dieser die europäische Geschichte auf dem Boden von Protestantismus, Liberalismus, Rationalismus und Fortschrittsdenken der Vorsehung entsprechend „auf Gottes Wegen“ marschieren. Der Protestantismus habe dabei das Tor zur Toleranz und Rationalität weit aufgestoßen und somit die Grundlage für diese Entwicklung gelegt. Demgegenüber versucht Balmes in seinem Werk die neuzeitliche Entwicklung Europas aus katholischer Sicht ins rechte Licht zu rücken. Die Intoleranz gehöre zur Menschennatur und sei historisch eher dem Protestantismus als dem Katholizismus anzulasten. Die Reformation sei keine wahre Reform gewesen, denn „Reformieren heißt nicht Zerstören“.⁴⁷ Balmes verteidigt als Grundthese gegenüber Guizot, dass nicht der Protestantismus die Gewissensfreiheit geschaffen habe, sondern diese den Protestantismus. So sei Letzterer eher eine Wirkung als eine Ursache. Die Abwesenheit des Autoritätsprinzips habe zur Glaubensanarchie des Protestantismus geführt.⁴⁸ Dieser habe die europäische Zivilisation aus ihrer Bahn geworfen und „drei Jahrhunderte voller Übel“ verursacht.⁴⁹ Sich auf Bossuet stützend, sieht Balmes im ersten Teil seines Werkes die Falschheit protestantischer Lehren in ihrer immerwährenden Veränderung begründet. Demgegenüber lobt Balmes in Glaubensfragen das von der katholischen Kirche verkörperte Autoritäts- und Einheitsprinzip. Diese, und nicht der Protestantismus, der Liberalismus oder der Klassenkampf, sei der wahre Motor der Geschichte. Balmes kehrt also die These Guizots ins Gegenteil um – und zeigt dabei seine große Fähigkeit zur intellektuellen Polemik. Im Protestantismus sieht er letztlich nicht die Grundlage politischer Freiheiten, sondern eher die Bedingung der Möglichkeit für die Entstehung tyrannischer, totalitärer Mächte, gegen die er die katholische Lehre von Tyrannenmord und Widerstandsrecht verteidigt.⁵⁰ Im Großen und Ganzen handelt es sich bei Balmes um eine geschichtsphilosophische Apologetik aus dem Geist der Zeit
Vgl. dazu J. Barraycoa Martínez, „El Balmes apologeta en El protestantismo comparado con el catolicismo“, in: Espíritu LX, Nr. 142, 2011, 379 – 398, hier: 381– 385. J. Balmes, El protestantismo comparado con el catolicismo, Madrid, 1949, 685. Vgl. Barraycoa Martínez, Balmes, 393. Balmes, El protestantismo, 685. Vgl. Barraycoa Martínez, Balmes, 395.
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heraus: Wie andere Katholiken (Chateaubriand, Donoso Cortés, Joseph de Maistre) wehrt er sich gegen die hegelianisch beeinflusste geschichtsphilosophische Deutung protestantischer Autoren des frühen 19. Jahrhunderts, die, wie oben angemerkt, in der Reformation den Gipfel der Geschichte des Christentums und des Abendlands sahen. Andere Spanier, wie etwa der Politiker Emilio Castelar 1883, werden hingegen die hegelianische Sicht übernehmen.
5 Miguel de Unamuno und José Luis Aranguren: ein existentialistischer Blick auf den Protestantismus Beide gehören zu den spanischen Philosophen, die sich im 20. Jahrhundert eingehend mit dem Protestantismus im Allgemeinen, darunter auch mit der lutherischen Prägung, auseinandergesetzt haben. Unamuno (1864– 1936) tut dies eher sporadisch etwa in seinem Essay La agonía del cristianismo (1925), Aranguren (1909 – 1996) u. a. in seinem grundlegenden und viel zitierten Werk Catolicismo y protestantismo como formas de existencia (1952). Unamuno hatte eine Religion sui generis, die er 1907 in seinem Essay Mi religión so definiert: Er wehre sich vehement dagegen, dass er mit Etiketten versehen werde, verteidige seine Individualität und Einmaligkeit, keiner habe ihn von der Existenz oder der Nicht-Existenz Gottes überzeugen können: „Und wenn ich an Gott glaube, oder mindestens glaube, an ihn zu glauben (creo creer en El), ist es vor allem, weil ich möchte, dass Gott existiert, dann auch weil er sich mir von Herz zu Herz offenbart, und zwar im Evangelium, durch Christus und in der Geschichte. Es ist eine Sache des Herzens“.⁵¹ Im Kapitel „Wort und Buchstabe“ (Verbo y letra) seines Werkes La agonía del cristianismo apostrophiert er den Protestantismus als „Tyrannei des Buchstabens“.⁵² Das Kapitel hatte er mit den Worten des Johannesprologs eröffnet und so kommentiert: „Und dieses Wort, das Fleisch wurde, starb nach seinem Leiden, seiner Agonie, danach wurde das Wort zum Buchstaben“.⁵³ Die von Hus, Wyclif und Luther eingeleitete Reformation nennt Unamuno „die größte aller Häresien“ nach dem Arianismus: Die Reformation, die die Explosion des Buchstabens war, versuchte das Wort zur Geltung zu bringen, aus dem Buch das Wort zu retten, aus der Geschichte das Evangelium; aber es belebte wieder den alten Widerspruch. Und dann fand wirklich die Agonie des Christentums statt! Die Protestanten, die das Sakrament des Wortes einrichteten – ein Sakrament, das die Eucharistie
M. de Unamuno, „Mi religión“, in: ders., Obras completas, Bd. 9, Madrid, 2008, 51– 56. M. de Unamuno, „La agonía del cristianismo“, in: ders., Obras completas, Bd. 10, Madrid, 2009, 535 – 620, hier: 557– 562, 559. Ebd., 557.
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tötete –, haben das Wort an den Buchstaben angekettet. Und sie machten es sich zur Aufgabe, den Völkern nicht so sehr das Hören als das Lesen beizubringen.⁵⁴
Das Wort hören mit dem Herzen ist für Unamuno der Weg, und hier klingt ein wenig die mystische Tradition durch, die in Joh 14,23, der Lieblingsstelle der Teresa von Ávila, verkörpert wird: „Wenn jemand mich liebt, wird er an meinem Wort festhalten; mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und bei ihm wohnen“. Teresa erlebt Christus als „lebendiges Buch“: „Seine Majestät war das wahre Buch, in dem ich die Wahrheiten sah“.⁵⁵ Dem entspricht, dass bei der Christozentrik Teresas, vielleicht deutlicher als bei Luthers Sola scriptura, ein wichtiger Grundzug des Christentums durchschimmert, der Unamuno anzog: Das Christentum ist keine bloße Schriftreligion, Gottes Wort ist in der Nacht zu Betlehem nicht als „Schrift“ vom Himmel hinabgestiegen wie der Koran in der Nacht al-Qadr (Sure 97). Für Christen ist das Wort Fleisch/Mensch in Jesus Christus geworden. Er ist das lebendige Wort Gottes – und er teilt es den Seinen „von Herz zu Herz“ selbst unmittelbar mit, wenn die Kirche den Zugang zur Schrift mit Schranken versieht. Bereits in seiner philosophischen Dissertation, die erst 1954 unter dem Titel El protestantismo y la moral erschien, hatte sich Aranguren mit der Reformation beschäftigt. Eine breitere Wirkung hatte aber sein 1952 publiziertes Werk Catolicismo y protestantismo como formas de existencia. Es gehörte mehr oder weniger zur Pflichtlektüre progressiver hispanischer Katholiken vor dem Konzil. Im Vorwort zur Ausgabe von 1980 sagt Aranguren, das Buch trage die Signatur der Zeit, in der es entstand und die durch die existenzielle Philosophie geprägt war.⁵⁶ Ausgehend von den deutschen Begriffen „Stimmung“ und „Haltung“, die er mit „talante“ übersetzt, versucht er, so etwas wie eine existenzielle Korrespondenz zwischen der Theologie Luthers u. a. und seiner Lebenshaltung, ebenso zwischen der katholisch-tridentinischen Theologie und dem Geist des Barocks zu konstruieren. Noch 1980 ist er sich dessen bewusst, dass man im katholischen Raum noch weit davon entfernt ist, Luther (und Calvin und dem Jansenismus) hermeneutisch gerecht zu werden.⁵⁷ Aranguren – nun ein kritischer postkonziliarer Katholik geworden – bricht darin eine Lanze für die Heterodoxie („die Heterodoxie ist das Salz, das die Frische der Kirche aufrecht erhält“), nennt Luther mit Bewunderung „den größten aller Ketzer“ und plädiert für „eine pluriforme Gemein-
Ebd., 561. Für eine weitergehende Auseinandersetzung mit Unamunos Sicht des Protestantismus in seinem Gesamtwerk vgl. u. a. Manuel Gutiérrez Marín, Unamuno und der Protestantismus, Utrecht, 1963. Teresa von Ávila, Werke und Briefe. Gesamtausgabe, 2 Bde. Hg. v. U. Dobhan und E. Peeters. Freiburg, 2015, hier: Buch meines Lebens 26,5. Darin berichtet Teresa von ihrer Traurigkeit, als die Diener der Inquisition zu ihr in die Klosterzelle kamen und aus dem Regal einige Bücher auf Spanisch wegnahmen, die ihr viel Trost gespendet hatten. Aber im selben Augenblick erfuhr sie Trost in der Unmittelbarkeit der mystischen Erfahrung: „Da sagte der Herr zu mir: ‚Sei nicht betrübt, denn ich werde dir ein lebendiges Buch geben‘“. Vgl. J. L. Aranguren, Catolicismo y protestantismo como formas de existencia, Madrid, 1980, 10. Ebd.
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schaft, eine Geschwisterlichkeit verschiedener dezentralisierter ‚Kirchen‘.“ Das wäre für ihn „die einzige praktikable Alternative gegenüber dem kirchlich-kurialen Absolutismus des Vatikans“.⁵⁸ Das Interessanteste an seinem Werk ist, wie Aranguren in Luther die Grundlage für die philosophische Entwicklung von Hegel, Kant und Kierkegaard sieht. Seine Luther-Sicht, die der neueren Lutherforschung nicht ganz entspricht, fasst Aranguren sehr schematisch am Ende seines Kapitels über „Luther und seine Theologie“ zusammen. Die religiöse Existenz Luthers sieht er polarisiert zwischen zwei Extremen der Frömmigkeitserfahrung: „auf der einen Seite ist da das tragische Lebensgefühl der menschlichen Bosheit, seine Feindschaft mit Gott, die Unmöglichkeit, ihm zu genügen, die Sünde unserer Existenz, die nichts und niemand tilgen kann: Kreuzestheologie“; und auf der anderen Seite steht die Frömmigkeit „der reinen Hingabe, des Vertrauens und des Trostes in Gott: Trosttheologie“.⁵⁹ Angesichts dieser Dichotomie nennt Aranguren Luthers Christentum „seine einzige psychisch mögliche Heilsmöglichkeit, aber auch die schwerste Last, die man jemals auf die Schultern des Menschen gelegt hat“.⁶⁰
6 Ricardo García-Villoslada: katholische Kirchengeschichtsschreibung auf der Höhe der Zeit 1973 publizierte der Jesuit und Kirchenhistoriker Ricardo García-Villoslada sein zweibändiges Standardwerk Martín Lutero. ⁶¹ Bereits die ersten Zeilen bekunden eine gewisse Sympathie und einen bei katholischen Autoren spanischer Zunge bisher vermissten Ton: „Mit diesem Werk beabsichtige ich, die dramatische Geschichte eines der Menschen mit der stärksten und reichsten Personalität zu erzählen, die das fruchtbare deutsche Land hervorgerufen hat.“⁶² Anhand von Dokumenten will GarcíaVilloslada eine kritische Biographie Luthers von Geburt an erzählen und ihm dabei gerecht werden, indem er ihn oft zitiert. Dabei bekundet der Autor, dass er öfters, „aus Angst vor einem vielleicht leidenschaftlichen Subjektivismus“, sein Urteil und seinen Kommentar zurückhalten werde; er ziehe es vor, einfach über die Fakten und Haltungen zu berichten, „auf die Gefahr hin, dass mein Bericht unpersönlich und eher analytisch als synthetisch wirkt“.⁶³ Es geht ihm nicht so sehr um ein leicht lesbares,
Ebd., 11. Ebd., 76. Ebd., 77. Zur Religion bei Aranguren vgl. u. a. A. Cortina, J. L. Aranguren, „Religion pensada, religión vivida“, in: Isegoría. Revista de Filosofía, Moral y Política Nr. 52, 2015, 167– 185. R. García-Villoslada, Martín Lutero, Bd. 1: El fraile hambriento de Dios, Bd. 2: En lucha contra Roma, Madrid, 1973. Ebd., Bd. 1, 15. Ebd., Bd. 1, 22.
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sondern um ein wissenschaftlich nützliches Werk. García-Villoslada hat sich mit Luther – erstmals, wie gesagt, in der hispanischen Kultur – auf der Höhe des Forschungsstandes seiner Zeit auseinandergesetzt. Er rezipiert nicht nur die Beiträge katholischer Autoren wie Joseph Lortz, Erwin Iserloh und Otto H. Pesch, sondern auch den Stand der protestantischen Lutherforschung seiner Zeit. Das Ergebnis kann sich sehen lassen, auch wenn der heutige Leser die oben erwähnte Zurücknahme des Autors hier und da bedauern mag. García-Villoslada würdigt darin den jungen Luther als Mystiker mit Gottessehnsucht und respektiert den Reformator einschließlich seiner radikalen, folgenreichen Wende, auch wenn er als Jesuit natürlich zu einem anderen Kirchenbild neigt. Es ist bis heute die beste spanische Studie über Luther und hat andere Autoren wie Rafael Lazcano⁶⁴ tief geprägt.
7 Ausblick Luther in Spanien und in der hispanischen Welt bzw. die gesamte Auseinandersetzung zwischen Protestanten und Katholiken in der Frühen Neuzeit ist z.T. das Ergebnis einer Kommunikationsstörung – aus religions- und machtpolitischen, mentalitätsund kulturgeschichtlichen Gründen. Man hat dabei übersehen, dass es allen Reformationen des 16. Jahrhunderts, die katholische Reform eingeschlossen, um ein Ringen um das Wesen des Christentums (substantia christianismi, wie man damals sagte) ging. Man hat die eigene Sicht verabsolutiert und dabei die grundlegenden Gemeinsamkeiten mit der anderen Seite übersehen. Man ist Jahrhunderte lang in kontroverstheologischen Schablonen gefangen geblieben, die eine verzerrte Wahrnehmung des Anderen förderten – bis wir seit der Mitte des 20. Jahrhunderts anfingen, mit Sachkenntnis und ohne Polemik die Wahrheit des Anderen zu sehen.
Vgl. R. Lazcano, Biografía de Martín Lutero (1483 – 1546), Madrid, 2009.
Christine Helmer
Luther in Amerika
Luther wusste vermutlich nichts von Amerika, aber Amerika würde schon bald auf ihn aufmerksam werden. Als Lutheraner aus Deutschland und den nordischen Ländern sich in den neuen Gebieten ansiedelten, brachten sie ihr lutherisches Erbe mit sich; und dann veränderten sie dieses Erbe und passten es dem sozialen, kulturellen und politischen Umfeld an, in dem sie sich wiederfanden. So ist ‚Luther in Amerika‘ oder die Art und Weise, wie Luther von US-amerikanischen lutherischen Theologen und Wissenschaftlern interpretiert wird, zu einer einzigartigen Dimension der fortdauernden Auseinandersetzung mit Luther geworden, genauso wie Luther in den Vereinigten Staaten weiterhin als theologische Quelle genutzt wird, um drängende Fragen zu Religion, Kultur und Politik heute zu erörtern. Mein Ziel in diesem Beitrag ist es, die Leistungen von Lutherforschern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Amerika oder genauer Nordamerika zu beleuchten, die einen maßgeblichen Einfluss darauf hatten, wie Luther weltweit thematisiert wurde. Mein Schwerpunkt ist dabei eher ein theologischer als ein historischer. Ich werde Bewegungen skizzieren, die ich mit verschiedenen, für sie repräsentativen Personen in Verbindung bringe, anstatt die vielen einzelnen Wissenschaftler zu untersuchen, die in Amerika über Luther schreiben.¹ In diesem Sinne befasse ich mich auf den folgenden Seiten mit vier verschiedenen ‚Luthern‘. Der ‚Gesetz/Evangelium-Luther‘ stellt einen Zweig der US-amerikanischen Lutherforschung dar, der die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium als wichtigsten Aspekt des reformatorischen Denkens Luthers sieht. Dieser Luther ist geprägt von der US-amerikanischen Rezeption der lutherischen Theologie Werner Elerts, dem berühmtesten lutherischen Theologen in Deutschland in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Lehrer vieler amerikanischer Lutheraner, die nach Deutschland gingen, um bei ihm zu studieren. Der ‚katholische Luther‘ wird von einem anderen Zweig lutherischer Theologen erforscht, die vor allem mit dem zeitgenössischen USamerikanischen Theologen George A. Lindbeck in Verbindung zu bringen sind. Theologen dieser Gruppe hinterfragen die Konstruktion Luthers als moderner protestantischer Theologe, mit der sich die deutsche Lutherforschung seit dem frühen 20. Jahrhundert hauptsächlich beschäftigt hat, und verortet Luther in einer Forschungsagenda, die von ökumenischen Anregungen zur Annäherung zwischen Lutheranern und Katholiken motiviert ist. Der ‚feministische Luther‘ ist der Luther, der von zeitgenössischen feministischen Theologinnen in Amerika erforscht wird, die jene Lutherforschung kritisch sehen, die darin verharrt, männliche Strukturen der UnterÜbersetzung: Lea Sophie Stolz. Mehr zum Thema ‚Luther in Amerika‘ findet sich in meinem Artikel „The American Luther“, in: Dialog: A Journal of Theology 47.2, Sommer 2008, 114– 124. https://doi.org/9783110498745-069
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drückung hervorzuheben. Der Aufsatz schließt mit dem ‚globalen Luther‘. Hier überlege ich, wie Lutherforscher in Amerika theologisch kreative und historisch fundierte Untersuchungen zu Themen beitragen, die in der heutigen Welt wichtig sind.
1 Der ‚Gesetz/Evangelium-Luther‘ Die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und besonders das Jahrzehnt der 1950er Jahre waren geprägt von neuen Entwicklungen in den akademischen Ansprüchen von Lutherforschern und lutherischen Theologen in Amerika. Ausgebildet an Spitzenuniversitäten, stiegen viele der Theologen, die in diesem Jahrzehnt erwachsen wurden, in akademische Positionen an führenden theologischen Seminaren und universitären theologischen Fakultäten auf. Sie lehrten Bibelwissenschaften, Kirchengeschichte und systematische Theologie für eine junge Generation von Geistlichen, Gemeindeleitern und Theologen vieler verschiedener christlicher Konfessionen. Jaroslav Pelikan, Sydney Ahlstrom und George A. Lindbeck an der Yale Divinity School und der Yale University, Martin Marty an der University of Chicago Divinity School und Ronald F. Thiemann an der Harvard Divinity School gehörten zu den intellektuellen Anführern der lutherischen Theologen der Nachkriegszeit, die die konfessionellen Grenzen überwunden hatten und halfen, das theologische Gespräch in einem weiteren US-amerikanischen Kontext zu gestalten. Andere Theologen, die ebenfalls an führenden Forschungseinrichtungen ausgebildet worden waren, lehrten an lutherischen Seminaren. Während diese Zeit auch eine maßgebliche und folgenreiche kirchliche Ausdifferenzierung in der Missouri Synod Lutheran Church erlebte, als einzelne Theologen in der Diskussion über die Herkunft der Bibel das ‚Seminary in Exile‘ gründeten, war dies die Generation lutherischer Theologen, die Luther aus engen konfessionellen Interessen herausbrachte und populär machte. Während lutherische Theologen sich in breitere theologische Gespräche in Amerika einbrachten, war der ‚Luther‘, den sie erforschten, größtenteils das Produkt deutscher Wissenschaft. Wie Hartmut Lehmann in seinem Buch Martin Luther in the American Imagination (1988) schreibt, war der kulturelle Wissenstransfer von Europa in die Vereinigten Staaten während der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ein einseitiger. Während die deutschen Lutherforscher insgesamt der US-amerikanischen Forschung keine Beachtung schenkten, tendierten amerikanische Lutheraner dazu, die deutsche Lutherwissenschaft als überlegen anzusehen, und sie zitierten sie deswegen öfter als ihre eigene Forschung.² Die zwei Ausnahmen, eindeutig amerikanische Arbeiten über Luther, wurden in Wirklichkeit überhaupt nicht von Lutheranern geschrieben. Roland Bainton, ein Quäker und Kirchenhistoriker an der Yale Divinity
Vgl. Hartmut Lehmann, Martin Luther in the American Imagination, American Studies / A Monograph Series 63, München, 1988, 11– 12.
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School, veröffentlichte seine Lutherbiographie Here I Stand erstmals 1950.³ Dieses Buch wurde in viele Sprachen übersetzt und wird selbst heute noch weltweit gelesen. Der europäische Psychoanalytiker Erik H. Erikson hatte eine jüdisch-dänische Mutter. Seine psychoanalytische Studie Young Man Luther, die 1958 veröffentlicht wurde, wurde schnell weit über lutherische Kreise hinaus zu einem der bekanntesten Bücher über Luther.⁴ Eriksons Buch traf auf Widerstand unter den Lutherforschern. Sein psychologischer Schwerpunkt wurde als Infragestellung der grundlegenden Kategorie wahrgenommen, die auf die conditio humana anzuwenden Lutheraner von Luther gelernt hatten. Diese lutherischen Theologen hatten gelernt, scharf zwischen dem Reich der Welt und dem Reich der Gnade zu unterscheiden. Gnade war eine von der Welt, die auch die menschliche Psyche einschloss, gänzlich unterschiedene Wirklichkeit. Nach diesen Theologen kennzeichnete die Gnade Gottes Heilshandeln für die Menschen. Sie ließ sich nicht in die Welt integrieren, ohne dass ihr göttlicher Charakter zerstört werden würde. Jegliche Andeutung, dass die menschliche Psyche irgendwie von der Gnade beeinflusst war, drohte, den grundlegenden Anspruch zu untergraben, dass die Gnade Gottes nicht mit irgendeiner Beständigkeit im menschlichen Bewusstsein festgehalten werden könnte. Vielmehr müsse die Gnade den Menschen immer aufs Neue durch das externe Wort vermittelt werden. Das Evangelium, das den Sündern gepredigt werde, rufe Glauben hervor, der gerecht mache. Dennoch sei diese rechtfertigende Gnade ein unbeständiger Zustand, eine Funktion der göttlichen Wirklichkeit, die notwendigerweise extern für jede menschliche Beanspruchung derselben bleibt. Die Lutherforscher, die nicht nur Eriksons These, sondern ein ganzes Forschungsprojekt zurückwiesen, das Luthers theologischen Genius mit seiner geistiggeistlichen Persönlichkeit verband, hatten ‚ihren Luther‘ in Deutschland gelernt.Viele Theologen der Generation nach dem Zweiten Weltkrieg hatten über Jahresstipendien in Deutschland studiert. Erlangen, das als Zentrum des konfessionellen Luthertums bekannt war, war das bevorzugte Ziel. Dort begegneten amerikanische Lutheraner Werner Elert (1885 – 1954), der als der prominenteste Lutherforscher in Nachkriegsdeutschland galt.Von Werner Elert lernten die US-amerikanischen Lutherforscher, die Unterscheidung zwischen Gesetz und Gnade nicht nur auf die Bibel, sondern auf die gesamte Wirklichkeit anzuwenden. Elerts Verständnis der Dialektik Luthers zwischen Gesetz und Evangelium war weit von dem entfernt, was Luther eigentlich meinte. Elerts theologische Perspektive war, so wie die einer ganzen Generation protestantischer Theologen, geprägt von der Erfahrung des Ersten Weltkriegs. Diese Nachkriegsgeneration war fixiert auf die Krise, die die Synthese zwischen Theologie und Kultur hatte scheitern lassen, die von früheren protestantischen Theologen erreicht worden war. Nun war stattdessen zwischen
Roland H. Bainton, Here I Stand: A Life of Martin Luther, New York, 1955. Erik H. Erikson, Young Man Luther: A Study in Psychoanalysis and History, New York, 1993.
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Gott und der Welt radikal zu unterscheiden. Gottes Urteil über die Welt wurde zu einem Leitmotiv in ihrem Denken. Luther wurde während dieser Zeit nicht so sehr als historische Figur, sondern als zeitgenössischer Dialogpartner verwendet, der nach Deutschlands kulturellem und politischem Zusammenbruch den Aufbau einer neuen Art, Theologie zu treiben, ermöglichte. Elerts konstruktive Theologie ist bestimmt von zwei Strukturmarkern, die Elert, wie der deutsche lutherische Theologe Oswald Bayer gezeigt hat, schon 1921 während seines frühen Schaffens entwickelte.⁵ Nach Elert gibt es eine fundamentale „Diastase“ – das heißt eine Trennung oder eine Differenz – zwischen zwei Seiten Gottes. Der göttliche Zorn äußert sich im göttlichen Urteil über die Welt durch das Gesetz, das in Christus geoffenbarte Evangelium bringt Frieden zwischen Gott und dem Sünder. Zorn und Evangelium stellen zwei Aspekte von Gottes Verhältnis zur Welt dar, die sich, so wie Bayer sie interpretiert, nicht in einer „monistischen“ Synthese relativieren lassen.⁶ Die Idee einer „Diastase“ war Elerts kritische Antwort auf die Krise der Nachkriegsjahre, und er entwickelte diese zentrale Einsicht in den 1940er Jahren weiter, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Debatten unter protestantischen Theologen in den 1930er Jahren hatten mit der Frage nach einer Reaktion auf die Gleichschaltung der deutschen Kirche durch die Naziideologie zu tun. Diese Debatten, die mit der Barmer Erklärung von 1934 entschieden wurden, eröffneten einen Bruch zwischen den Anhängern von Karl Barths theologischem Beharren auf Jesus Christus als dem einen Wort Gottes in Gesetz wie auch Evangelium und jenen lutherischen Theologen, die beide Worte als voneinander unterschieden bestimmten.⁷ Gesetz und Evangelium, darauf beharrten diese lutherischen Theologen, hätten jeweils spezifische Funktionen in der Welt; das Gesetz verurteile die Welt für ihre Sünde, während das Evangelium Vergebung schenke. Die Gefahr, die lutherische Theologen wie Elert in der Position Barths erkannten, war, dass die Integrität des Evangeliums als Geschenk Gottes aufs Spiel gesetzt würde, wenn es mit dem Gesetz verwechselt würde, und dass die Härte des Gesetzes verlorenginge, wenn es zusammen mit dem Evangelium gedacht würde. Von der „Diastase“ zu einem beinahe hermetischen theologischen Weltbild war es nur ein kleiner Schritt. Der amerikanische lutherische Theologe David Yeago hat auf den Grundtenor unter den konfessionellen Lutheranern des 20. Jahrhunderts hingewiesen, die „have, indeed, widely assumed that the law/gospel distinction is the proper structuring horizon of all Christian thought and action.“⁸ Das Ergebnis sei „a
Vgl. Oswald Bayer, „Werner Elert“, Kap. 2 in Theologie, Handbuch Systematischer Theologie, Bd. 1, Gütersloh, 1994, 281– 309. Bayer, Theologie, 295. Vgl. Matthew Becker, „Werner Elert (1885 – 1954)“, in: Mark Mattes (Hg.), Twentieth-Century Lutheran Theologians, Refo500, Göttingen, 2013, 95 – 135, hier: 113 – 114. David S.Yeago, „Gnosticism, Antinomianism, and Reformation Theology: Reflections on the Costs of a Construal“, in: Pro Ecclesia 2.1, Winter 1993, 39.
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kind of ontology of human existence“,⁹ die die Sphäre des Gesetzes oder der Welt vom Evangelium, der Sphäre göttlicher Vermittlung, die niemals in der Welt Bestand haben kann, trennt. Lutherische Theologen in Amerika, die von Elert inspiriert waren, unterstrichen die Spannung, den Kontrast oder sogar den Gegensatz zwischen beiden Sphären. Gerhard Forde zum Beispiel wandte die Trennung zwischen den zwei Sphären auf das Wissen von Gott an. Sich des Gegensatzes zwischen der theologia gloriae und der theologia crucis aus Luthers Heidelberger Disputation bedienend, sprach er von einem „combat“ zwischen einer „theology of glory“ als einem „virtual catchall for all theologies and religions“ und dem Kreuz, das „apart from and over against all of these“¹⁰ steht. Ein fundamentaler und unvereinbarer Gegensatz wird zwischen Sünde und Gnade, Gesetz und Evangelium, Welt und Kreuz aufgemacht. Der Kontrast prägt auch einen dominanten Zweig in der lutherischen homiletischen Theorie. Das Werk des deutschen Einwanderers und US-amerikanischen lutherischen Theologen C. F. W. Walther war verbreitet an lutherischen Seminaren. In seinem Text über Gesetz und Evangelium macht Walther den Gegensatz in besonders vehementer Sprache deutlich. Darauf beharrend, dass das Gesetz in „full sternness“ gepredigt werden müsse, erklärt er: „If you do this, you will be handling a sharp knife that cuts into the life of people […]. From the effects of your preaching they will go down on their knees at home“ und „see how awfully contaminated with sins they were and how sorely they needed the gospel.“¹¹ Während Walthers Arbeit die Unterscheidung in Gesetz und Evangelium als fundamentale Kategorie für das Predigen verordnet, unterstreicht die jüngste Übersetzung dreier Bücher Oswald Bayers ins Englische die Wichtigkeit der Unterscheidung in Gesetz und Evangelium als zentral für heutige lutherische Theologie.¹² Bayer entwickelt seine zentrale Einsicht in Luthers Verständnis des Evangeliums als dem Wort der Verheißung, das in seiner mündlichen Erklärung in der Liturgie Vergebung schafft. Dieses Wort des Evangeliums wird durch das Wort des Gesetzes vorbereitet, das die Versuche des Sünders zur Rechtfertigung seiner selbst verurteilt. Obwohl amerikanische lutherische Theologen im letzten halben Jahrhundert von Elerts Unterscheidung inspiriert worden sind, haben sie sein politisches Engagement
Yeago, „Gnosticism“, 41. Gerhard O. Forde, On Being a Theologian of the Cross: Reflections on Luther’s Heidelberg Disputation, 1518, Grand Rapids, 1997, 2. C. F. W. Walther, The Proper Distinction Between Law and Gospel, St. Louis, Mo., 1928, 79, 81, 83 [verweist auf die englische Übersetzung der Vorlesungen von 1897], zitiert nach Marit Trelstad, „Charity Terror Begins at Home: Luther and the ‘Terrifying and Killing’ Law,“ in: Christine Helmer und Bo Kristian Holm (Hg.), Lutherrenaissance: Past and Present, Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 106, Göttingen, 2015, 247– 248. Oswald Bayer, Living By Faith: Justification and Sanctification, übers. v. Geoffrey W. Bromiley, Lutheran Quarterly Books; Grand Rapids, 2003; Oswald Bayer, Theology the Lutheran Way, hg. u. übers. v. Jeffrey G. Silcock und Mark C. Mattes, Lutheran Quarterly Books, Grand Rapids, 2007; Oswald Bayer, Martin Luther: A Contemporary Interpretation, übers. v. Thomas H. Trapp, Lutheran Quarterly Books, Grand Rapids, 2008.
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größtenteils ignoriert. Es war ein kanadischer Historiker namens James Stayer, der erstmals Elerts Verbindung zu den Nazis in Deutschland während der Zeit des Dritten Reichs dokumentierte. Elert hatte am 11. Juni 1934 den „Ansbacher Ratschlag“ verfasst, ein Dokument das, wie Stayer zeigt, eine Reaktion auf die Barmer Erklärung (31. Mai 1934) war, „stak[ing] out an orthodox Lutheran tradition that was pro-Nazi, although distinct from that of the German Christians and their Luther Renaissance advisers.“¹³ Elert hatte dieses Dokument zusammen mit seinem Erlanger Kollegen, dem Lutherforscher Paul Althaus (1888 – 1966), unterschrieben. Wie Elerts Arbeiten wurde auch Althaus’ Die Theologie Martin Luthers, das 1966 erstmals ins Englische übersetzt wurde, viel in Amerika gelesen.¹⁴ Doch auch Althaus hatte sich mit dem Nationalsozialismus verbündet und den Ansbacher Ratschlag nach zwei Entwürfen unterschrieben, obwohl er vorgeblich Kritik an der Rassenpolitik der Nazis und den theologischen Entstellungen durch die Deutschen Christen äußerte. Die Dialektik von Gesetz und Evangelium ist in den vergangenen Jahren kritisiert worden – nicht nur wegen ihrer Ausweitung zu einer ontologischen Kategorie, sondern auch wegen ihres antisemitischen Ausmaßes. Der schwedische Bischof und amerikanische Neutestamentler Krister Stendahl identifizierte den drohenden Antisemitismus im lutherisch-theologischen (Miss‐)Verständnis des Begriffs ‚Gesetz‘. Stendahl stellte den historischen Unterschied zwischen Paulus’ Auffassung vom Gesetz und Luthers eigener, sekundärer Verwendung des Gesetzes klar, nämlich seiner anklagenden Funktion, und zerlegte einen Begriff in zwei Bedeutungen, den lutherische Theologen zu einem Begriff verbunden hatten – dem Gesetz –, den sie mit einer antisemitischen Konnotation verwandten.¹⁵ Das ‚Gesetz‘ in der Dialektik von Gesetz und Evangelium hat mit dem göttlichen Gesetz zu tun, das Menschen für ihre Sünde anklagt, nicht mit den Geboten jüdischer Frömmigkeit. Auch George Lindbeck eröffnete einen anderen Weg für die Deutung Luthers hinsichtlich des ‚Gesetzes‘, nämlich die erste Verwendung des Gesetzes oder das politische und bürgerliche Gesetz. In einem starken Aufsatz zeigt Lindbeck, wie Luther sich der rabbinischen Wertschätzung des Gesetzes in der Schöpfung annähert. Lindbeck argumentiert, der Gehorsam gegenüber den Geboten werde überhaupt erst durch die Güte Gottes ermöglicht.¹⁶ Die theologische Verengung der Kategorie von Gesetz/Evangelium hinter sich zu lassen ist grundlegend, um Luthers weiterreichende Theologie mit heutigen Interessen an interreligiösem Dialog, Ethik und Politik ins Gespräch zu bringen. Wo amerikanische lutherische Wissenschaftler sich bei der Interpretation Luthers aus ihrer Abhängigkeit von den deutschen Theologen nach dem
James M. Stayer, Martin Luther, German Saviour: German Evangelical Factions and the Interpretation of Luther, 1917 – 1933, McGill-Queen’s Studies in the History of Religion, Montreal/Kingston, 2000, 131. Paul Althaus, Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh, 1962. Vgl. Krister Stendahl, Paul among Jews and Gentiles, and Other Essays, Minneapolis, 1976. Vgl. George A. Lindbeck, „Martin Luther and the Rabbinic Mind,“ in: Peter Ochs (Hg.), Understanding the Rabbinic Mind: Essays on the Hermeneutics of Max Kadushin, South Florida Studies in the History of Judaism 14, Atlanta 1990, 141– 164, hier: 155.
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Zweiten Weltkrieg lösen, sind sie freier, andere theologische und kulturelle Ressourcen zu entdecken, die hilfreicher sind, eine Theologe zu formulieren, die die Welt sowohl als Sphäre des menschlichen Einsatzes für Gerechtigkeit als auch der göttlichen Gnade betrachtet.
2 Der katholische Luther Während der ‚protestantische Luther‘ im Lichte von Gesetz und Evangelium gezeichnet wurde, wurde ein weiterer konfessioneller Aspekt zum Gegenstand einer anderen Untersuchung. Die Suche nach dem katholischen Luther begann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als der deutsche römisch-katholische Theologe und Lutherforscher Peter Manns anregte, dass Luther nicht das verteufelte protestantische Objekt katholischer Polemik sei, sondern ein katholischer Reformator, der tief vom mittelalterlichen Denken und der mittelalterlichen Frömmigkeit geprägt war.¹⁷ Der ‚katholische Luther‘ war auch der Forschungsgegenstand zweier weiterer europäischer Wissenschaftler, die Luthers Verbindungen zum mittelalterlichen Denken zu ihrem Forschungsgegenstand gemacht hatten. 1963 veröffentlichte der nach Amerika ausgewanderte niederländische Historiker Heiko A. Oberman, was zu einem der wichtigsten Bücher über Luthers katholisches Erbe werden würde. Harvest of Medieval Theology (1963) war eine Studie verschiedener Aspekte der Theologie Luthers, beispielsweise der Christologie und der Rechtfertigung, die sein Denken in Beziehung zu seinen mittelalterlichen Wegebereitern („forerunners“)¹⁸ verorteten. Oberman betrachtete die mittelalterlichen Denker, die Luther als Theologiestudent in Erfurt gelesen hatte, unter ihnen Petrus Lombardus,Wilhelm von Ockham und Gabriel Biel. Er zeigte, dass Luthers reformatorische Einsichten nicht in einem Vakuum entstanden, sondern ihnen mittelalterliche Fragen zur Natur Christi, zum Willen Gottes und zur menschlichen Freiheit vorausgegangen waren, von denen sie tief geprägt waren. 1967 wurde eine weitere wichtige Studie über Luther und das Mittelalter veröffentlicht. Der deutsche Dominikaner Otto Hermann Pesch verglich Luther und Thomas von Aquin hinsichtlich der Rechtfertigungslehre in einem Buch, das zu einem Vorbild für die komparative Theologie werden würde, Theologie der Rechtfertigung bei Martin Luther und Thomas von Aquin. ¹⁹ Was über Jahrhunderte hinweg als Lehre betrachtet worden war, die Lutheraner und Katholiken voneinander trennte, stellte sich bei der Untersuchung der Theologen hinsichtlich der Herkunft der jeweiligen Positionen zur
Peter Manns (Hg.), Martin Luther: „Reformator und Vater im Glauben“; Referate aus der Vortragsreihe des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, VIEG 18, Suttgart, 1995. Heiko A. Oberman, Harvest of Medieval Theology: Gabriel Biel and Late Medieval Nominalism, Cambridge, Mass., 1963, [Nachdruck: Grand Rapids, 2000]. Otto Hermann Pesch, Theologie der Rechtfertigung bei Martin Luther und Thomas von Aquin: Versuch eines systematisch-theologischen Dialogs, Walberger Studien/Theologische Reihe 4, Mainz, 1967.
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Rechtfertigung eher als ähnlich denn als unterschiedlich heraus. Obermans Arbeit würde weiterhin eine ganze Generation an Historikern beeinflussen, die daran interessiert waren, die künstliche Trennung zwischen der Erforschung des Mittelalters und der Erforschung der Frühen Neuzeit zu dekonstruieren, während Pesch amerikanische lutherische Theologen dazu inspirieren würde, ein neues Modell ökumenischer Theologie auszuformulieren. George Lindbeck hatte sich schon vorher für die Verbindung zwischen Luther und dem spätmittelalterlichen Denker Pierre D’Ailly interessiert, als er als protestantischer Beobachter zum Zweiten Vatikanischen Konzil eingeladen wurde. Das Konzil hinterließ einen bleibenden Eindruck auf Lindbeck, und durch die Lektüre von Peschs Buch entwickelte er die Überzeugung, dass die Unterschiede zwischen Katholizismus und Luthertum durch Jahrhunderte gegenseitiger Polemik übertrieben dargestellt worden waren. Die Sackgasse der Grunddifferenz zwischen den beiden westlichen Kirchen war mindestens seit Friedrich Schleiermacher ein Kerngedanke protestantischer Theologie gewesen. In §24 seiner Glaubenslehre fordert Schleiermacher, jede Aussage protestantischer Theologie müsse den fundamentalen Gegensatz zur römisch-katholischen Theologie im Hinblick auf die Verbindung Selbst – Christus – Kirche reflektieren. Protestanten sähen den Zusammenhang zwischen Selbst und Christus als primär, während es bei Katholiken andersherum sei: Die Kirche vermittle dem Gläubigen Christus.²⁰ Während Schleiermacher behauptete, historischer Fortschritt könne letztlich zur Beseitigung dieses Unterschieds führen, gingen die Auffassungen von Katholizismus und Protestantismus, zumindest im Preußen des 19. Jahrhunderts, von einer radikalen Unterscheidung aus. Lindbeck forderte diese theologische Annahme in seinem berühmten Band The Nature of Doctrine, der 1984 erstmals veröffentlicht wurde, heraus.²¹ Statt die Differenz als grundlegend zu erachten, dachte Lindbeck Unterschiede zwischen den christlichen Konfessionen vielmehr anhand der Analogie eines Sprachspiels. Christen sprechen dieselbe Sprache; sie verwenden alle Formulierungen wie ‚die neue Kreatur in Christus‘ auf eine Weise, die auf Christi Handeln zur Befreiung von Menschen zu ei-
Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhang dargestellt, 2. Aufl. 1830/31, hg.v. Rolf Schäfer, §24, Leitsatz, 163 – 64: „Sofern die Reformation nicht nur Reinigung und Rükkehr von eingeschlichenen Mißbräuchen war, sondern eine eigenthümliche Gestaltung der christlichen Gemeinschaft aus ihr hervorgegangen ist, kann man den Gegensatz zwischen Protestantismus und Katholizismus vorläufig so fassen, daß ersterer das Verhältniß des Einzelnen zur Kirche abhängig macht von seinem Verhältniß zu Christo, der letztere aber umgekehrt das Verhältniß des Einzelnen zu Christo abhängig von seinem Verhältniß zur Kirche.“ Für eine kritische Lektüre zu Schleiermachers Sicht auf den Katholizismus siehe Julia A. Lamm, „Schleiermacher on ‘The Roman Church’: Anti-Catholic Polemics, Ideology, and the Future of HistoricalEmpirical Dogmatics“, in: Brent W. Sockness und Wilhelm Gräb (Hg.), Schleiermacher, the Study of Religion, and the Future of Theology: A Transatlantic Dialogue, TBT 148, Berlin, 2010, 243 – 256. George A. Lindbeck, The Nature of Doctrine: Religion and Theology in a Postliberal Age, Philadelphia, 1984. Der Band wurde in einer Jubiläumsauflage zum 25. Jahrestag mit einem Vorwort von Bruce D. Marshall und einem neuen Nachwort des Autors wiedergedruckt [Louisville, Ky., 2009].
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nem neuen Leben in ihm besteht. Bei Unterschieden gehe es folglich nicht darum, welche Begrifflichkeiten verwendet werden, sondern wie sie verwendet werden. Die Frage nach dem ‚Wie‘ setzt eine kohärente Sprechweise voraus, die von bestimmten Regeln geprägt ist.Wörter werden in ihrer Bedeutung als Funktionen des semiotischen Systems genutzt, in dem sie angewandt werden.²² Lindbeck verweist auf die Grammatik, um zu erklären, wie verschiedene Konfessionen Begriffe als eine Funktion konstitutiver Grammatik oder linguistischer Struktur einsetzen. Eine konfessionelle Grammatik strukturiere den Diskurs, der jedem konfessionellen Sprachspiel zu eigen sei. Lindbecks Anregung zu einer ökumenischen Theologie war also, eine dogmatische Theorie entlang der Linien seiner linguistischen Analogie zu bilden. Lehren fungieren als die zugrundliegende Grammatik und regulieren die Verwendung von Begriffen auf eine Weise, die gegenüber anderen Konfessionen eine Besonderheit darstellt, doch als christliche Lehren sind sie ähnlich genug, um als dem christlichen Sprachspiel zugehörig identifiziert zu werden. Lindbecks neues Verständnis von Lehre beeinflusste eine Generation ökumenischer Theologen und Lutherforscher. Lindbecks Anregung ebnete nicht nur den Weg zur Unterschrift der Joint Declaration between Lutherans and Roman Catholics am 31. Oktober 1999,²³ sondern sie inspirierte Lutheraner, Luther als katholischen Reformator ernst zu nehmen. David Yeago hielt an dieser ökumenischen Orientierung in dem Artikel The Catholic Luther (1996) fest, indem er die gemeinsame katholische Wurzel als Grundlage politischer und kirchlicher Aufteilung in Protestantismus und Katholizismus bestimmte.²⁴ Die Erforschung Luthers als spätmittelalterlicher Theologe erforderte jedoch das Erlernen nominalistischer Philosophie – eine Aufgabe, für die Lutherforscher, die es gewohnt waren, Luther als Menschen der Frühen Neuzeit zu sehen, nicht gerüstet waren. Das Buch des britischen Philosophen Graham White von 1994, Luther as Nominalist. A Study of the Logical Methods Used in Martin Luther’s Disputations in the Light of Their Medieval Background, bot die gründliche philosophische Vorarbeit. White untersuchte Luthers späte Disputationen und zeigte, dass Luther philosophisch-theologische Strategien mittelalterlicher Theologen wie Wilhelm von Ockham, Robert Holcot und Pierre D’Ailly bei seiner Formulierung der Christologie und der
Vgl. Lindbeck, Nature of Doctrine, 114: „Meaning is more fully intratextual in semiotic systems […] than in other forms of ruled human behavior such as carpentry or transportation systems; but among semiotic systems, intertextuality (though still in an extended sense) is greatest in natural languages, cultures, and religions which (unlike mathematics) are potentially all-embracing and possess the property of reflexivity.“ Zum Text siehe Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre, http://www.vatican.va/roman_curia/pontifical_councils/chrstuni/documents/rc_pc_chrstuni_doc_31101999_cath-luth-jointdeclaration_ge.html (Zugriff am 22.05. 2017). Vgl. David S. Yeago, „The Catholic Luther,“ in: First Things 61, März 1996, 41.
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Trinitätslehre anwandte.²⁵ Luther sah die Philosophie nicht als Feind der Theologie, sondern als den notwendigen Helfer darin, die in der christlichen Lehre wirkende Logik und Semantik zu klären. Meine eigene Arbeit zu Luthers Verständnis der Trinität (1999) nahm Whites grundlegende Einsichten auf, und gemeinsam mit Marilyn McCord Adams zweibändigem Werk zu Wilhelm von Ockham habe ich gezeigt, dass Luthers spekulative Schilderung der Trinität im Kontext spezifischer spätmittelalterlicher philosophisch-theologischer Debatten interpretiert werden muss.²⁶ Eine jüngere Generation talentierter Lutherforscher vertieft nun weiter unser Verständnis davon, wie tief Luthers Theologie mit Fragen mittelalterlicher Philosophie verwoben war. David Luy,²⁷ Candace Kohli und Aaron Moldenhauer arbeiten alle zur Dogmatik in Luthers Disputationen.²⁸ Sie nutzen die Quellen spätmittelalterlicher Philosophie, die der finnische Lutherforscher Risto Saarinen²⁹ zusammen mit Philosophen und Theologen der Universität Helsinki in den letzten Jahren zusammengestellt hat, zusätzlich zu der Arbeit an Texten von Gabriel Biel und anderen nominalistischen Denkern. Der katholische Luther ist ein aufregendes historisches, philosophisch anspruchsvolles Forschungsprogramm, das sowohl Lutherforscher als auch Philosophen, die sich mit dem Mittelalter auseinandersetzen, für viele weitere Jahre beschäftigen wird.
3 Der feministische Luther Die Hauptakteure der Lutherforschung sind seit Jahrhunderten Männer gewesen. Männer genossen Zugang zu höherer Bildung, die ihnen das nötige Handwerkszeug lieferte, theologische Forschung durchzuführen, und die Berechtigungsnachweise dafür, Theologie zu lehren. Diese Generationen männlicher Wissenschaftler genossen Graham White, Luther as Nominalist. A Study of the Logical Methods Used in Martin Luther’s Disputations in the Light of Their Medieval Background, Schriften der Luther-Agricola Gesellschaft 30, Helsinki, 1994. Marilyn McCord Adams, William Ockham, 2 Bde., Publications in Medieval Studies, Notre Dame, Ind., 1989; Christine Helmer, The Trinity and Martin Luther: A Study of the Relationship Between Genre, Language, and the Trinity in Luther’s Late Works (1523 – 1546), Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte/Abteilung Abendländische Religionsgeschichte 174, Mainz, 1999. David J. Luy, Dominus Mortis: Martin Luther on the Incorruptibility of God in Christ, Minneapolis, 2014. Candace Kohli stellt zur Zeit ihre Dissertation „Help for the Good: Martin Luther’s Understanding of Human Agency and the Law in the Antinomian Disputations (1537 – 40)“ an der Northwestern University fertig; Aaron Moldenhauer stellt zur Zeit seine Dissertation „The Metaphysics of Martin Luther’s Christology,“ an der Northwestern University fertig. Siehe dazu die kürzlich veranstaltete Konferenz „Beyond Oberman: Luther and the Middle Ages“, die von den Arbeiten Obermans und Whites inspiriert wurde, online über http://sites.northwestern.edu/luther2016/ (Zugriff am 30. November 2016). Ein exemplarisches Buch hierfür ist Risto Saarinen, Weakness of Will in Reformation and Renaissance Thought, Oxford, 2011.
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die Vorteile patriarchaler Institutionen höherer Bildung, indem sie Zugang zu Stellen an der Universität erhielten, wo die Mehrzahl der Lutherforscher männlich war. Männer waren auch in führenden Kirchenämtern privilegiert. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts konnten Frauen in manchen lutherischen Kirchen dieser Welt ordiniert werden. Und selbst dann wird die Frauenordination, wie der jüngste Fall in der Evangelisch-Lutherischen Kirche Lettland (LELB) klargemacht hat, nicht als Recht für immer betrachtet, sondern als eines, das widerrufen werden kann, wie es dort im Juni 2016 der Fall war.³⁰ Die Frauenordination wird in den Vereinigten Staaten weiterhin in zwei lutherischen Kirchen verweigert, der Synode von Missouri und der Synode von Wisconsin. Der Lehrkörper an den dortigen Seminaren ist ebenfalls ausschließlich männlich. Theologische Ausbildung und Ordination sind jedoch nur zwei Themen, die die geschlechterdominierte Vertretung in der Lutherforschung beeinflussen. Andere Faktoren, soziale und kulturelle, prägen weiterhin den Inhalt der Lutherforschung, die Formen, in der akademische Debatten stattfinden, und wie Frauen grundsätzlich in der Welt der Wissenschaft betrachtet werden. Wenn Männer an systembedingten Strukturen teilhaben, die Frauen auf allen Ebenen ihrer Existenz unterdrücken, dann ist männliche Lutherforschung von dieser soziokulturellen Auswirkung nicht ausgenommen.Von kleineren Angriffen und stillschweigender Voreingenommenheit bis hin zu explizitem Sexismus kann jede Lutherforscherin, die ich kenne, von Gelegenheiten berichten, als männliche Lutherforscher sie mit herabwürdigendem Sexismus und klarer Ausgrenzung behandelt haben. Statt während der letzten beiden Jahrzehnte einen Anstieg der Zahl weiblicher Lutherforscher zu erleben, ist diese Zahl in Wirklichkeit zurückgegangen. Wenn Lutherforscher sich weigern, sich mit der wissenschaftlichen Arbeit von Autorinnen zu beschäftigen, und wenn Frauen Möglichkeiten, zu publizieren, zu lehren und zu forschen weiterhin verweigert werden, dann ist es keine Überraschung, dass Wissenschaftlerinnen sich andere Forschungsgebiete als Luther aussuchen (wie ich es tat, als ich ein Jahrzehnt meiner wissenschaftlichen Laufbahn mit Friedrich Schleiermacher verbrachte, nachdem ich ein Buch über Luther geschrieben hatte).³¹ Die Arbeit von Frauen in der Lutherforschung hat, trotz Widerstand und Ausschluss, kritische und konstruktive Perspektiven eingebracht. Während anerkannt Vgl. http://www.baltictimes.com/latvian_lutheran_church_officially_bans_women_s_ordination/ (Zugriff am 30. November 2016). Marit Trelstad bringt ein ähnliches Argument ein: „For example, international Lutheran women scholars have noticed the stunning paucity of reference to their work in much of Lutheran scholarship still today. In addition, women’s historical writings in relation to the Lutheran tradition have received little attention in the past and in the present. Within the last years, however, the careful work of Kirsi Stjerna reveals that there is much to discover concerning women’s impact on the Reformation. For the most part, however, the birthing and rebirth of Lutheran scholarship oddly seems to have been done entirely without women […]. Lutheran theology has lagged in its genuine integration of feminist and liberation theological insights where other mainline Christian traditions have opened themselves to transformation by these voices.“ Trelstad, „Charity Terror,“ 237.
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wird, dass Luther ein Vertreter der patriarchalischen Weltsicht des frühen 16. Jahrhunderts war, haben sich Wissenschaftlerinnen mit Dimensionen seines Werks beschäftigt, um ein Verständnis des Menschseins zu fördern, das die Befreiung des Nächsten – eine Kategorie, die unter anderem Frauen einschließt – von individueller und systembedingter Unterdrückung mit sich bringt. Die Dialektik von Gesetz und Evangelium, die in der männerdominierten Lutherforschung des 20. Jahrhunderts so etabliert ist, ist der besondere, kritische Forschungsgegenstand in einem überzeugenden Artikel der US-amerikanischen feministischen lutherischen Theologin Marit Trelstad. In dem Aufsatz Charity Terror Begins at Home. Luther and the „Terrifying and Killing“ Law (2015) verweist Trelstad auf die auffallende Analogie zwischen dem Verhältnis von Gesetz und Evangelium und dem Missbrauch von Frauen. Das Gesetz zieht in einer ewigen Gewaltspirale nach unten, während das Evangelium paradiesische Zustände verspricht. Trelstad verweist auf C. F. W. Walthers brutale Sprache, die sich auf das Gesetz bezieht, um seine missbrauchenden Konnotationen zu unterstreichen.³² Eine Theologie des Gesetzes in diesem Sinne verstärkt Strukturen von Gewalt gegen Frauen. Doch Trelstad unterschied zwischen zwei Arten, das Gesetz zu predigen. Unter Verwendung von Luthers Disputationen gegen die Antinomer von 1537 als Primärtexte argumentiert Trelstad, dass es die deskriptive Funktion des Gesetzes sei, die Sünde ehrlich zu benennen und sich dafür einzusetzen, die Wahrheit zu sagen, während es die performative Funktion des Gesetzes sei, die das Gesetz in ein missbrauchendes Werkzeug korrumpiert, um Menschen niederzuzwingen. Trelstad schreibt: „It is one thing for loved ones to hold themselves accountable to each other’s expectations of love, trust, and respect in a relationship. It is quite another thing for one partner to wield expectations over the other as a tool for abasement and humiliation―killing and striking at their self-esteem so that they would be all the more grateful for their abuser’s love―and to do this without end.“³³ Die Kategorisierung in Gesetz und Evangelium bedarf also einer kritischen Revision, um Luthers theologische Absicht konstruktiv herauszuarbeiten. Sünde muss benannt werden, besonders Sünde, die Gottes gute Schöpfung entwürdigt. Doch die Konzeptualisierung und Sprache der Gewalt in Anbetracht des Gesetzes muss kritisiert werden, weil es diese Sprache ist, die die Gewaltspirale für Frauen aufrechterhält. Ein weiterer Schwerpunkt der feministischen Beschäftigung mit lutherischer Theologie hat mit Epistemologie oder Theorien des Wissens zu tun. Jüngere Arbeit in der feministischen Theorie und feministischer Religionsphilosophie hat verschiedene Wissensformen als spezifisch weiblich ermittelt, unter ihnen die Mystik und andere Wissensformen, die rationales und normatives Wissen destabilisieren und kritisieren, das mit männlicher geistlicher und theologischer Macht in Verbindung gebracht wird. Mystischere, intuitivere und heterodoxere Epistemologien prägen die Weisen, auf die
S.o., Fußnote 11. Trelstad, „Charity Terror,“ 248.
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Frauen theologische Inhalte bestimmen. Themen, mit denen sich feministische Theologeninnen beschäftigen, konzentrieren sich also darauf, die geistlich, theologisch und politisch unsachgemäßen Verwendungen aufzudecken, die traditionelle Theorien von Sünde und Erlösung verstetigt haben. Die Sünde der Selbstliebe beispielsweise ist eine Sünde, für die zurückhaltende Frauen nicht anfällig sind, während eine Rechtfertigung, die Gerechtigkeit meidet, für unangemessen und Machtinteressen dienstbar erachtet wird. Feministische Lutherforscherinnen in Amerika haben an weltweiten Debatten feministischer Theologie teilgenommen und sie haben Luthers theologia crucis als entscheidenden Beitrag aufgenommen. Mary M. Solbergs starke Arbeit Compelling Knowledge: A Feminist Proposal for an Epistemology of the Cross (1997) ist hierfür richtungsweisend.³⁴ Solberg baut ihr Buch anhand der Unterscheidung zwischen einer Theologie des Kreuzes und einer Epistemologie des Kreuzes auf. Im Rückgriff auf Luthers Heidelberger Disputation von 1518 argumentiert Solberg, Luthers Theologie des Kreuzes stelle einen radikalen, Macht dekonstruierenden, mutigen Gott dar, der auf unerwartete Weise errettet. Durch eine Epistemologie des Kreuzes gewinnt Solberg auf konstruktive Weise Luthers Theologie des Kreuzes wieder, um Gottes Transformation der Wirklichkeitserkenntnis und des Lebens in der Wirklichkeit herauszustellen. Die soteriologische Bedeutung des Kreuzes hat ernsthafte Implikationen für Wissen und Tun; seine kritische Funktion dient dazu, weltliche Macht und weltlichen Ehrgeiz einer mitfühlenden Existenz gegenüberzustellen. In Crossing the Divide: Luther, Feminism, and the Cross (2004) beschäftigt sich Deanna Thompson gewinnbringend mit der Schnittstelle zwischen feministischer Theologie und Lutherforschung, um eine soteriologisch und politisch tragfähige Theologie zu entwickeln, die für die Freiheit von Frauen von missbrauchenden Strukturen, unschuldigem Leiden und patriarchalischer Macht einsteht.³⁵ Eine kritische Lektüre Luthers muss nach Thompson feministische Theologien aufnehmen, um traditionelle Theorien der Buße infrage zu stellen, die dazu verwendet worden sind, die Unterdrückung von Frauen zu rechtfertigen. Eine kritische Aneignung Luthers als „Theologe des Kreuzes“ kann Erlösung als die Freiheit von Frauen als ganze Personen in freundschaftlicher Verbindung mit anderen erklären. Marit Trelstads 2006 herausgegebene Sammlung Cross Examinations: Readings on the Meaning of the Cross Today befasst sich ebenfalls mit einer kritischen Rezeption von Luthers Theologie des Kreuzes, die dazu verwendet worden ist, das Leiden von Frauen zu legitimieren.³⁶ Die Rechtfertigung des Kreuzes von missbrauchenden Theologien muss infrage gestellt werden, und stattdessen müssen konstruktive Theologien formuliert werden, die das Kreuz als Freiheit von Sexismus und Unterdrückung sehen. Mary M. Solberg, Compelling Knowledge: A Feminist Proposal for an Epistemology of the Cross, Albany, 1997. Deanna A. Thompson, Crossing the Divide: Luther, Feminism and the Cross, Minneapolis, 2004. Marit Trelstad (Hg.), Cross Examinations: Readings on the Meaning of the Cross Today, Minneapolis, 2006.
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Doch die Frage bleibt, wie lange die „Trennung“ zwischen feministischer Theologie und Lutherforschung, wie Deanna Thompson sie beschrieben hat, anhalten wird. Themen, die feministische Theologinnen in die Lutherforschung eingebracht haben, sind Gleichberechtigung von Frauen, reproduktive Gerechtigkeit und menschliche Sexualität. Diese Themen wurden von der ELCA (Evangelical Lutheran Church in America) Churchwide Assembly in einer Stellungnahme zu menschlicher Sexualität von August 2009 aufgegriffen und angenommen.³⁷ Diese Bewegung beschleunigte den Aufbruch mancher Gemeinden der ELCA, neue lutherische Institutionen zu gründen. Es bleibt pastorale und theologische Arbeit zu tun, um Lutheraner jenseits ihrer synodalen Trennlinien zu überzeugen, dass theologischer Revisionismus und eine kritische Aufnahme der Tradition zusammen mit einer Verpflichtung gegenüber der lutherischen Identität wie auch der intellektuell gründlichen Erforschung Luthers erreicht werden kann.
4 Der globale Luther Lutherforscher in Amerika haben während der letzten beiden Jahrzehnte ihre Debatten über jene mit deutschen Kollegen hinaus ausgeweitet. Eine neue Ära weltweiter Dialoge hat den wissenschaftlichen Fragestellungen neue Themen hinzugefügt und die Perspektiven auf Luther wie auch die zeitgenössische Rezeption seiner Ideen diversifiziert. Die Rezeption der finnischen Lutherforschung hat beispielsweise amerikanische Lutherforscher inspiriert, die ökumenische Orientierung als wertvolles Ziel zu verfolgen. Die dänischen Lutherforscher Bo Kristian Holm, Niels Henrik Gregersen und Else Marie Wiberg Pedersen haben die Fixierung auf Gesetz und Evangelium in der deutsch-amerikanischen Debatte korrigiert und die Erforschung Luthers um eine neue Wertschätzung für die der Schöpfung innewohnende Güte ergänzt. Außerdem hat die Tatsache, dass sowohl Englisch als auch Deutsch die Sprachen internationaler Konferenzen und Publikationen sind, die Teilnahme amerikanischer Wissenschaftler erleichtert. Luther ist nun eine globale Figur, jemand, der seine eigenen sächsischen Wurzeln des 16. Jahrhunderts hinter sich ließ, und dessen Rezeption nicht länger maßgeblich von Wissenschaftlern aus Deutschland bestimmt wird. Dadurch ist der globale Luther als bedeutender Gesprächspartner für Fragen von historischem Interesse wie auch für solche von aktueller Dringlichkeit in Erscheinung getreten. Eine der wichtigsten Entwicklungen in dieser Hinsicht ist die Forschung gewesen, die von nordamerikanischen Historikern und Theologen zu dem Luther angestoßen worden ist, der mit den Implikationen des ‚germanischen Luthers‘ des 20. Jahrhunderts in Deutschland verbunden wurde. Die Frage nach Luther und den Juden ist bis vor kurzem von Lutherforschern in Europa und Nordamerika verdrängt und margi-
Online über https://www.elca.org/en/Faith/Faith-and-Society/Social-Statements/Human-Sexuali ty (Zugriff am 30. November 2016).
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nalisiert worden. Ein Teil dieser Verschleierung hat damit zu tun, wie die deutschen Lutherforscher und Theologen beschlossen haben, mit ihrer eigenen Vergangenheit zu ringen, die die aktive Teilhabe mancher lutherischer Theologen am Nationalsozialismus einschloss. Ein anderer ist die Unfähigkeit der Lutherforscher gewesen, sowohl die Zentralität von Luthers Antisemitismus als auch die Vereinnahmung seines Werks durch die Nazis anzuerkennen. Dass der Novemberpogrom für den Vorabend von Luthers Geburtstag am 9. November 1938 angekündigt worden war, war kein historischer Zufall. Luthers Text von 1543 Von den Juden und ihren Lügen verkündete explizit die Verbrennung jüdischer Synagogen und Gewalt gegen Juden – ein Auftrag, der in Nazideutschland Wirklichkeit wurde. Es ist im Speziellen die Forschung, die außerhalb Deutschlands durchgeführt wurde, die zur Kenntnis der Rezeption von Luthers antijüdischer Perspektive in Nazideutschland und der zentralen Rolle, die sein Antisemitismus in seiner eigenen Theologie hatte, beigetragen hat. Der kanadische Historiker James M. Stayer ebnete den Weg für Anfragen zum Nationalsozialismus bedeutender deutscher lutherischer Theologen mit seinem wichtigen Werk Martin Luther, German Saviour (2000).³⁸ Die Verbindungen von Theologen, deren Arbeiten in Amerika gelesen worden waren, wie Paul Althaus und Werner Elert, zur Nazipolitik und ihrem rassistischen Antisemitismus wurden entlarvt. Die amerikanische Historikerin Susannah Heschel hat auch die Naziideologie von Theologen im Dritten Reich erforscht, besonders an der theologischen Fakultät in Jena. Dort gründeten die Nazis das Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben, um lutherische Kirchenlieder, Katechismen und Bibeln von jeglichen Assoziationen mit hebräischen Begriffen oder dem Judentum zu befreien.³⁹ Dieses Institut wurde am 6. Mai 1939 auf der Wartburg eingeweiht, wo Luther das Neue Testament ins Deutsche übersetzt hatte. Ein weiterer amerikanischer Historiker, Dean Bell, hat genaue und stringente historische Arbeit geleistet, die Geschichte des Antijudaismus im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa zu erfassen.⁴⁰ An Bell schlossen sich die lutherischen Theologen Brooks Schramm und Kirsi Stjerna an, die jüngst eine Sammlung vieler Texte Luthers ediert haben, die seinen Antijudaismus offenlegen.⁴¹ Ihre Arbeit zeigt, dass sich Luthers Antisemitismus nicht auf die klassischen vier Texte, die er verfasste, beschränken lässt, sondern als zentral für sein gesamtes Werk zu erachten ist.⁴²
S.o., Fußnote 13. Susannah Heschel, The Aryan Jesus, Christian Theologians and the Bible in Nazi Germany, Princeton, N.J., 2010. Dean Phillip Bell, Jews in the Early Modern World, Lanham, Md., 2008; Dean Phillip Bell, Jewish Identity in Early Modern Germany: Memory, Power, and Community, Neuaufl., Aldershot, 2016 [2007]; Dean Phillip Bell und Stephen G. Burnett (Hg.), Jews, Judaism and the Reformation of Sixteenth-Century Germany, Studies in Central European Histories 37, Leiden, 2006. Brooks Schramm und Kirsi Stjerna (Hg.), Martin Luther, the Bible, and the Jewish People: A Reader, Minneapolis, 2012. Siehe den Beitrag von Brooks Schramm in diesem Handbuch.
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Aufsätze der amerikanischen Lutheraner Craig Nessan und Bischof Munib Younan haben zur Offenlegung von Luthers Gewalt gegenüber Juden, Muslimen, Täufern und anderen beigetragen und zeigen, im Fall von Bischof Younans Aufsatz, wie nötig zeitgenössische interreligiöse Initiativen in der heutigen Welt sind.⁴³ Während die Anerkennung der Zentralität des Antijudaismus in Luthers Werken auf diesem Gebiet noch ein Desiderat ist, hat die Erforschung von Luthers Leben mit all seinen Ambivalenzen, seiner Komplexität und seiner Dramatik das Interesse vieler nordamerikanischer Denker geweckt. In die Fußstapfen von Bainton tretend, untersuchen Biographen weiterhin die wesentlichen historischen Konflikte, weltgeschichtlichen Ereignisse und religiösen Vorstellungen, die Luthers Biographie zu einem fünfhundertjährigen Gegenstand der Faszination gemacht haben. Heiko Obermans Biographie dramatisiert die Gegnerschaft von Gott und Teufel als Parameter für Luthers Leben,⁴⁴ während Paul Hinlicky sich ein Gespräch zwischen Luther und dem Papst, der ihn von Rom aus exkommunizierte, im Himmel vorstellt.⁴⁵ James Kittelson, Martin Marty und Scott Hendrix sind Lutheraner, die über Luthers Leben geschrieben haben, während Richard Marius, seit Jahrzehnten ein Dozent für wissenschaftliches Schreiben an der Harvard University, einen entscheidenden Beitrag zu dieser Forschung geleistet hat.⁴⁶ Eine weitere Biographie Luthers in Verknüpfung mit der von Desiderius Erasmus ist von dem zeitgenössischen amerikanischen Journalisten Michael Massing verfasst worden. Dieses Buch, Fatal Discord: Erasmus, Luther, and the Fight for the Western Mind (2018), zeigt die komplizierten theologischen und religiösen Ebenen auf, die notwendig sind, um die katholische Reformation des 16. Jahrhunderts und ihre anhaltenden Spannungen bis ins heutige Amerika zu verstehen.⁴⁷ Verschwunden sind die ‚Hier-stehe-ich‘-Darstellungen Luthers aus den 1950er Jahren. Ein zaghafterer, prüfender und ängstlicher Luther ist entstanden, dessen theologische Gedanken eng an seine Spiritualität angelehnt sind und dessen seelische Schwankungen zwischen Mitgefühl und Gewalt ebenfalls Teil des komplexen Bildes sind. Die protestantische Reformation wird nun nicht mehr so sehr als Produkt eines Mannes gesehen, sondern als stark verflochtener Komplex an Faktoren, Beziehungen
Munib A. Younan, „Beyond Luther: Prophetic Interfaith Dialogue for Life“, in: Christine Helmer (Hg.), The Global Luther: A Theologian for Modern Times, Minneapolis, Minn., 2009, 49 – 64; Craig L. Nessan, „Beyond Luther to Ethical Reformation: Peasants, Anabaptists, Jews“, in: Ulrich Duchrow und Craig Nessan (Hg.), Befreiung von Gewalt zum Leben in Frieden / Liberation from Violence for Life in Peace, Die Reformation radikalisieren / Radicalizing Reformation 4, Berlin, 2015, 77– 104. Heiko A. Oberman, Luther: Man Between God and Devil, übers. v. Eileen Walliser-Schwartbart, New Haven, 1989, Nachdruck: 2006. Paul R. Hinlicky, Luther vs. Pope Leo: A Conversation in Purgatory, Nashville, 2017. James M. Kittelson, Luther the Reformer: The Story of the Man and His Career, Minneapolis, 1986; Martin Marty, Martin Luther, New York, 2004; Scott H. Hendrix, Martin Luther: Visionary Reformer, New Haven, Conn., 2015; Richard Marius, Martin Luther: Christian Between God and Death, Cambridge, 1999. Michael Massing, Fatal Discord: Erasmus, Luther, and the Fight for the Western Mind, San Francisco, 2018.
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und historischen Vorkommnissen, von denen Luther ein Teil, nicht der alleinige Urheber oder der einzige Protagonist war. Die Vergangenheit ist jedoch nur in dem Maß von historischen Interesse, als sie produktiv dafür genutzt werden kann, aktuelle Probleme und Fragen anzusprechen. Es ist vermutlich dieser doppelte Fokus auf Vergangenheit und Gegenwart, der amerikanische Beiträge zum globalen Luther kennzeichnet. Besonders bedeutend ist das Thema wirtschaftlicher und politischer Gerechtigkeit. In Healing a Broken World: Globalization and God (2002) stellt Cynthia D. Moe-Lobeda Luthers theologia crucis dem globalen Kapitalismus und der Umweltkrise gegenüber.⁴⁸ Diese Studie zeigt mit starkem empirischen Beweismaterial die schädlichen Effekte eines weltweiten Markts auf Armut und Umwelt auf. Ihre Analyse wird ergänzt um ein konstruktives ethisches Handlungsmodell, das sich Luthers Theologie der Rechtfertigung zu eigen macht. Moe-Lobeda findet Inspiration für eine subversive Sicht auf menschliches Handeln in der finnischen Lutherforschung, die, wie sie argumentiert, transformatives und wirtschaftlich verantwortungsvolles Handeln besser erklärt als das vorherrschende forensische Modell. Walter Altmanns Luther and Liberation: A Latin American Perspective (1992; übersetzt von Mary Solberg) stellt Luthers Rechtfertigungslehre in einen Zusammenhang mit der Aufgabe der Kirche, sich für wirtschaftliche und politische Gerechtigkeit einzusetzen.⁴⁹ Luthers Theologie ist von fünfhundert Jahren Bekanntheit nicht gezähmt oder erschöpft worden, so macht Altmann klar; ihr Befreiungsmoment kann weiterhin produktiv für die heutige Welt ausgeschöpft werden. Auch Marion Gau hat Luthers berühmte Lehre der communicatio idiomatum durch die Brille von Wirtschaftsbeziehungen im brutalen Kontext des weltweiten Kapitalismus kreativ gedeutet und dabei das kritische Potential von Luthers tiefen theologischen Einsichten für die wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten, die von der Globalisierung angerichtet werden, gezeigt.⁵⁰ Vítor Westhelles jüngstes Buch The Scandalous God: The Use and Abuse of the Cross (2006) beruft sich auf Luthers theologia crucis als ein Korrektiv für missbrauchende Bußtheorien und arbeitet Luthers zwei Reiche mit einem ausgeprägten Blick auf wirtschaftliche Gerechtigkeit heraus.⁵¹ Diese amerikanischen Autoren zeigen, dass Luthers Bedeutung als historische Gestalt nur im Blick auf weltweite Herausforderungen heute bestimmt werden kann. Der Begriff ‚globaler Luther‘ lässt sich auf zwei Weisen lesen. Die eine versteht ‚global‘ in Bezug auf die Vertretung von Wissenschaftlern aus der ganzen Welt. Organisationen wie der Lutherische Weltbund und das kürzlich gegründete International Women’s Theological Network zielt darauf ab, Lutherforschung, wie sie auf der ganzen Welt produziert wird, zu verbinden. Die zweite versteht den globalen Luther als Ver Cynthia D. Moe-Lobeda, Healing a Broken World: Globalization and God, Minneapolis, 2002. Walter Altmann’s Luther and Liberation: A Latin American Perspective, übers. v. Mary Solberg, Minneapolis, 1992. Marion Gau, Of Divine Economy: Refinancing Redemption, Edinburgh, 2004. Vítor Westhelle, The Scandalous God: The Use and Abuse of the Cross, Minneapolis, 2006.
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treter theologischer Themen, die für lutherische Theologen, Pfarrer und Laien auf der ganzen Welt von Bedeutung sein können. Dies hat die Entstehung der von mir herausgegebenen Sammlung The Global Luther: A Theologian for Modern Times inspiriert.⁵² Die Autoren in diesem Band besprechen Luther mit dem Ziel, aktuelle Fragen zu beantworten. Religiöser Pluralismus und soziale Gerechtigkeit, Rechtfertigung und Literaturkritik, Musik und Emotionen, Psychologie und Theologie sind Themen und Forschungsbereiche, die in den vergangenen Jahren im Verhältnis von globalem Norden und Süden aufgekommen sind und zu denen Luther eine wichtige Perspektive beitragen könnte. Die Beschäftigung mit Luther wird zukünftig erfordern, dass Wissenschaftler aktuelle Probleme des weltweiten Kapitalismus, Schutz von Frauen- und Kinderrechten, Rassenungerechtigkeit, Ausbeutung durch dominante Wirtschaftsmächte und die Flüchtlingskrise aufgreifen; sie bedürfen der theologischen Untersuchung und des politischen Aktivismus. Wenn Luthers Einsichten in die tatsächlichen Wirkungen des Evangeliums unter den Bedingungen einer sich selbst zerstörenden Menschheit ernst zu nehmen sind, dann muss sein Werk in aktuelle Debatten eingebracht werden. Luthers Theologie hat eine Rezeptionsgeschichte von 500 Jahren und seine Gedanken fordern Theologen im amerikanischen Kontext weiterhin heraus.⁵³ Luther besteht hartnäckig auf Gnade in einem Zusammenhang, in dem Heiligkeit dominiert; er verpflichtet sich dem äußeren Wort göttlicher Vergebung in einem Land, in dem Introspektion und biblischer Buchstabenglaube wesentliche Gegenstände von Frömmigkeit sind; sein Antijudaismus und seine Gewalt gegenüber denen, die nicht mit ihm einig waren, müssen in einer Landschaft, die von religiöser Diversität und oft genug von religiösen Konflikten geprägt ist, weiterhin aufgedeckt werden. Außerdem kann sich die amerikanische Lutherforschung, während sie historische und philosophische Themen angeht, auch über diese hinausbewegen, indem sie das amerikanische Christentum, das die Kultur von Materialismus und Rassismus angenommen hat, herausfordert. Eines ist sicher: dass Amerika Luther nach dem 500. Jahrestag seiner Reformation vor neue Aufgaben stellen wird.
Christine Helmer (Hg.), The Global Luther: A Theologian for Modern Times, Minneapolis, 2009. Zu Luthers Einfluss auf den modernen Westen siehe meinen kostenlosen Onlinekurs: www.coursera.org/learn/luther-and-the-west (Zugriff am 22.05. 2017).
Rady Roldán-Figueroa
Martin Luther in Lateinamerika Vom Mythos der Gegenreformation des lateinamerikanischen Katholizismus bis zu Luther als religiösem Caudillo Die Erforschung des Protestantismus in der lateinamerikanischen Kolonialgeschichte bezog sich bisher auf die Berichte der Inquisition in Neuspanien und Peru.¹ Unter den Experten herrscht Konsens, dass erst ab dem 19. Jahrhundert eine stabile protestantische Präsenz in Lateinamerika zu verzeichnen ist.² Dieses Essay verfolgt eine andere Strategie. Zunächst werden Autoren der Kolonialzeit betrachtet, um zu untersuchen, wie das Bild Luthers und des Luthertums benutzt wurde, um der Kolonialisierung einen Sinn zu geben. Dabei wird erörtert, auf welche Weise Figuren wie Gonzalo Fernández de Oviedo y Valdés (1478 – 1557), Bartolomé de las Casas (1484– 1566) und Jerónimo de Mendieta (1525 – 1604) die Figur Luthers in ihren Erzählungen konstruierten, um die Eroberung und Kolonialisierung der Neuen Welt zu erklären. Es soll gezeigt werden, dass alle drei das Luthertum als ein Ereignis wahrnahmen, das die laufenden Anstrengungen der Zivilisierung und Christianisierung unterbrach. Eine der Hauptaussagen ist, dass vor allem Mendieta die Kernelemente zu einem theologisch-politischen Mythos lieferte, der die spanischen Besitztümer im Rahmen einer auf Europa bezogenen Erzählweise der Gegenreformation verortete. Der zweite Teil des Essays untersucht dann, wie die protestantischen Missionare eine neue Sicht auf Luther eröffneten. Schließlich wird erklärt, wie Luther durch die Schriftsteller des 19. Jahrhunderts als Evangelist, Pädagoge und gemäßigter Revolutionär dargestellt wurde.
Der Luther-Affäre und der Mythos Gegenreformation im lateinamerikanischen Katholizismus Vielleicht ist es übertrieben, zu behaupten, dass das Bild Luthers in den spanischen Überseegebieten eine prominente Rolle für den Charakter des Christentums spielte, wie es sowohl von den Spaniern der Alten Welt als auch von den Criollos verstanden wurde. Dennoch war das Luthertum ein wichtiger Bezugspunkt in den Köpfen einiger Menschen, die der Eroberung und Kolonialisierung der Länder und Völker jenseits des
Übersetzung: Irene Reinhold. Gonzalo Báez Camargo, Protestantes enjuiciados por la Inquisición en Iberoamérica, Mexiko-Stadt, 1960; Jean-Pierre Bastian, Historia del protestantismo en América Latina, Mexiko-Stadt, 1990. Jean-Pierre Bastian, Protestantes, liberales y francomasones: sociedades de ideas y modernidad en América Latina, siglo XIX, Mexiko-Stadt, 1990. https://doi.org/9783110498745-070
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Atlantiks einen theologischen und historischen Sinn geben wollten. Gewöhnlich wurde Luther als der deutsche Häresiarch wahrgenommen, auch wenn gar nicht klar war, wofür Luther überhaupt stand. Genauso verbreitet war die Behauptung, das Luthertum sei eine unglückliche Verirrung, die Karl V. ablenkte und ihn daran hinderte, sich angemessen um seine amerikanischen Besitztümer zu kümmern. Gonzalo Fernández de Oviedo y Valdés (1478 – 1557) widmete fast 35 Jahre seines Lebens seiner Historia general de las Indias, die er zwischen 1514 und 1549 schrieb.³ Die Jahre seiner Arbeit an dieser umfangreichen Chronik der spanischen Eroberung Amerikas fielen zusammen mit dem Aufkommen und der Verbreitung des Protestantismus in Deutschland und anderen Teilen Europas. Interessanterweise befasste er sich nicht sonderlich eingehend mit Luther oder der Bedeutung der Bewegung, die dieser anführte. Trotzdem formulierte er eine zu jener Zeit gängige Meinung und konservierte sie für die Nachwelt: Karl V. war zu beschäftigt und festgefahren in den Angelegenheiten des Kaiserreichs, um sich signifikant um Amerika zu kümmern. Fernández de Oviedo veröffentlichte die Historia general de las Indias um 1535.⁴ Ein aus zwölf Büchern bestehender dritter Teil blieb unveröffentlicht, bis ihn José Amador de los Ríos (1818 – 1878) zwischen 1851 und 1855 verlegte.⁵ Unter den Ereignissen, die Fernández de Oviedo im dritten Teil der Historia General aufzeichnete, waren die Bürgerkriege von Peru, die von 1537 bis 1554 dauerten. Die „Bürgerkriege“ waren eine Serie bewaffneter Konflikte zwischen einzelnen spanischen Konquistadoren um die Herrschaft über die gerade eroberte Stadt Cuzco. In diesem Moment standen sich die Parteien der Pizarristen, der Anhänger Francisco Pizarros (ca. 1475 – 1541) und seiner Brüder, und die Almagristen gegenüber. Letztere unterstützten Diego de Almagro (1475 – 1538), Pizarros ehemaligen Freund, der ebenfalls Generalkapitän war. Im „Krieg von Salinas“ um 1538 wurde Almagro besiegt und schließlich auf Befehl des Bruders von Francisco Pizarro, Hernando Pizarro (gest. 1578), hingerichtet. Daraufhin griffen die Almagristas unter der Führung von Juan de Rada (gest. 1541) Francisco Pizarro an und ermordeten ihn im Jahr 1541.⁶ Insbesondere bemühte sich Fernández de Oviedo, die Umstände zu erklären, die Juan de Rada dazu bewogen, den Tod Diego de Almagros zu rächen. Der Zeitraum von drei Jahren zwischen Almagros und Pizarros Tod war ein anschauliches Beispiel für die Ineffizienz der kolonialen Gesetzgebung der Zeit. Die Unzulänglichkeit der Rechtsprechung war für Zeitzeugen wie Fernández de Oviedo offensichtlich und bewog ihn zu Spekulationen über eine Erklärung für dieses Machtvakuum und die daraus resultierende Zersplitterung. Er beharrte darauf, dass niemand anders als der König selbst die Legitimität habe, sich mit dem Unrecht, das Almagro widerfahren
Kathleen Ann Myers, Fernández de Oviedo’s Chronicle of America, Austin, 2007, 2. Gonzalo Fernández de Oviedo y Valdés, La historia general de las Indias, Sevilla, Juan Cromberger, 1535. Gonzalo Fernández de Oviedo y Valdés, Historia general y natural de las Indias, islas y tierra firme del mar océano, hg.v. José Amador de los Ríos, 4 Bde., Madrid, 1851– 1855. James Lockhart, Spanish Peru, 1532 – 1560: A Social History, 2. Aufl., Madison, 1994, 2– 5.
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war, zu befassen: „Der Angriff gegen Almagro konnte durch niemand anderen bestraft werden als durch den König oder seinen direkten Gesandten.“⁷ Doch Rada und die Almagristen (beziehungsweise „los de Chile“, wie Oviedo sie nannte) warteten „drei Jahre lang auf ein rechtmäßiges Urteil“ bevor sie ohne Rücksicht auf königliche Befehle aktiv wurden.⁸ Warum wurde die Rechtsprechung verzögert? Warum vernachlässigte Karl V. seine königlichen Pflichten und überließ das gerade eroberte Peru den Unruhen und dem Chaos? Den Consejo de Indias traf bestimmt keine Schuld; Fernández de Oviedo hielt ihn für „eine große Gruppe hoch gebildeter und erfahrener Väter der guten Rechtsprechung“.⁹ Stattdessen schloss er, dass die Antwort auf diese Frage im Luthertum zu finden war. Fernández de Oviedo zufolge war der Consejo de Indias „aufgrund der Abwesenheit des Kaisers, unseres Herrn, der in Deutschland den Glauben und die christliche Religion verteidigte“,¹⁰ nicht in der Lage, rechtzeitig auf die Unruhen in Peru zu reagieren. Die „Angelegenheit des Ketzers Luther und seiner Knechte“ war in den Augen Fernández’ de Oviedo das „größte aller Hindernisse“ bei der Rechtspflege in Peru.¹¹ Fernández de Oviedo fand im Luthertum eine zweckmäßige Erklärung für eine der frühesten Erscheinungsformen des langfristigen und immer wieder aufkommenden Scheiterns europäischer imperialistischer Vorhaben. Die Europäer konnten ihr Versprechen der Zivilisierung nicht in der Form umsetzen, wie es zur ideologischen Untermauerung ihrer Expansionspläne dienlich gewesen wäre. Bartolomé de las Casas war eine weitere spanische Persönlichkeit, die auf die zivilisatorischen Pannen während der Errichtung kolonialer Rechtsstrukturen in Amerika reagierte. Als neu eingesetzter Bischof von Chiapas beklagte er 1545 das Fehlen stabiler und zuverlässiger öffentlicher Verwaltungsinstanzen. Am 19. Oktober 1545 entwarf er zusammen mit den Bischöfen von Guatemala und Nicaragua, Francisco Marroquín und Fray Antonio de Valdivieso, die „Representación a la Audiencia de los Confines“.¹² Darin forderten sie, in Fällen, in denen Arme betroffen waren, kirchliches Recht durch die Bischöfe sprechen zu dürfen. Außerdem gaben sie an, dass die Armen, Unterdrückten und Geschädigten „unter dem Schutz und der Obhut der Kirche“ stünden.¹³ Das von ihnen gezeichnete Bild ist eines der Unbotmäßigkeit und Unsicherheit. Die Magistrate
Fernández de Oviedo, Historia general y natural, Bd. 4, 1855, 362. Ebd. Ebd. Fernández de Oviedo, Historia general y natural, Bd. 4, 1855, 363. Ebd. Bartolomé de las Casas, „Representación a la Audiencia de los Confines (19. Oktober 1545),“ in: Paulino Castañeda (Hg.), Obras completas, Bd. 13, Madrid, 1995, 199 – 205; Francesca Cantù, „Per un rinnovamento della coscienza pastorale del cinquecento: il vescovo Bartolomé de las Casas ed il problema indiano,“ in: Annuario dell’Istituto Storico Italiano per l’età Moderna e Contemporanea 25 – 26, 1973 – 1974, 5 – 118. Las Casas, „Representación a la Audiencia de los Confines (19. Oktober 1545),“ in: Obras completas, Bd. 13, 201.
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waren sowohl ineffizient als auch verwickelt in das Unrecht, das die lokale Bevölkerung, sowohl Indigene als auch ärmere Spanier, erlitt. Während Marroquín sehr bald seine Kollegen verließ, blieb Las Casas standfest bei seiner Fürsprache. Trotzdem kam er später zu dem Schluss, dass sein Wirken nur durch seine Rückkehr nach Spanien Bestand haben würde. In einem Brief von 1535 kritisierte Las Casas auch die zerstörerischen Konsequenzen des kurzlebigen deutschen Kolonisationsvorhabens in Venezuela.¹⁴ Er bedauerte die Entscheidung Karls V. von 1528, der Kaufleutefamilie der Welser das Recht erteilt zu haben, das Gebiet östlich des Kaps La Vela und westlich des Kaps Maracapana zu besiedeln.¹⁵ Karl V. hatte hohe Schulden bei den Welsern und gab Venezuela als Lehen für seine finanziellen Verpflichtungen.¹⁶ Die Hoheit der Welser über Venezuela endete 1556. Trotzdem verursachte die Behandlung der lokalen Bevölkerung durch die deutschen Kolonisten eine große Anzahl an Flüchtlingen, von denen die meisten sich in Curaçao ansiedelten.¹⁷ Das Schicksal der indigenen Bevölkerung, die der Willkür der deutschen Rechtsprechung ausgesetzt war, begründete er durch mehrere Faktoren, darunter das schlechte Urteilsvermögen Karls V. sowie das Luthertum. Er schimpfte über „die Verbrechen und die Verwüstung“, die die deutschen Entdecker in der Region verursachten.¹⁸ Er bemerkte, dass der König schlecht beraten worden war, diese Länder als Sicherheit für die umfangreichen Finanzhilfen der Welser hinzugeben. Las Casas schloss, dass Karl V. durch diesen Handel die friedlichen Bewohner der Region dem Schrecken und der Zerstörung preisgegeben hatte. Statt Predigern hätte der Kaiser „hungrige Wölfe gesandt, um die Schafe zu hüten“. Obendrein, fügte er hinzu, seien die Deutschen, die zur Besiedlung dieser Gebiete gekommen waren, allesamt „Ketzer und Ausgeburten dieses grimmigen Biests Luther“.¹⁹ Das Luthertum hingegen bot ebenfalls einen Hintergrund, vor dem die Eroberung interpretiert werden konnte. Tatsächlich sahen die post-tridentinischen Kommentatoren die Verbreitung des Katholizismus außerhalb Europas als eine Entwicklung der göttlichen Vorsehung. So gesehen war die Conquista eine Erscheinung, durch die die göttliche Vorsehung die Kirche nach Verlust von Teilen Europas an den Protestantismus mit Ländern und Menschen der Neuen Welt entschädigte. Faktisch war dieser
Bartolomé de las Casas, „Carta a un personaje de la corte (15. Oktober 1535),“ Obras completas, Bd. 13, 87– 98; Susanne Zantop, Colonial Fantasies: Conquest, Family, and Nation in Precolonial Germany, 1770 – 1870, Durham/London, 1997, 12; Christine R. Johnson, The German Discovery of the World: Renaissance Encounters with the Strange and Marvelous, Charlottesville/London, 2008, 187. Milagros del Vas Mingo, Las Capitulaciones de Indias en el siglo XVI, Madrid, 1986, 251– 255. Cornelis Ch. Goslinga, A Short History of the Netherlands Antilles and Surinam, Den Haag, 1979, 16 – 17. Goslinga, A Short History of the Netherlands Antilles, 17; Johnson, The German Discovery of the World, 188. Bartolomé de las Casas, „Carta a un personaje de la corte (15. Oktober 1535),“ Obras completas, Bd. 13, 97. Ebd.
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Mythos charakteristisch für die katholische Gegenreformation. In seiner 1593 veröffentlichten Segunda parte de la historia del cisma de Inglaterra nennt der Jesuit Pedro de Ribadeneira die Verbreitung des Katholizismus in Japan einen Weg Gottes, um die Verluste in England zu kompensieren.²⁰ Dieser Mythos bestimmte lange Zeit das katholische Selbstverständnis in ganz Lateinamerika. Fray Jerónimo de Mendieta (1525 – 1604) artikulierte fast zur gleichen Zeit wie Ribadeneira eine ähnliche Anschauungsweise. Der 1540 ordinierte Franziskaner kam 1554 in Veracruz an. Eine Zeit weilte er in Tlaxcala, wo er Toribio de Motolinia kennenlernte, einen der ersten Franziskanermissionare in Mexiko. Er lernte Nahuatl und begann 1556, mit den Nahua-Indianern rund um Toluca zu arbeiten.²¹ Während eines Spanienbesuchs 1571 wurde er beauftragt, die Geschichte der Franziskanischen Provinz des Heiligen Evangeliums Neuspanien zu schreiben.²² Ergebnis war die Historia eclesiástica indiana, ein Werk, das durch seine tausendjährige Betrachtungsweise der Christianisierung Mexikos Beachtung fand.²³ Phelan zufolge schrieb Mendieta eine „mystische Interpretation der Eroberung“.²⁴ Zwar konnte Mendieta die Arbeit vor seinem Tod 1604 fertigstellen; sie blieb jedoch bis 1870 unveröffentlicht.²⁵ Ebenso wie zuvor Fernández de Oviedo und Las Casas behandelte Mendieta nicht ausführlich das Thema Luthers oder die weiter reichenden Entwicklungen, die mit der Verbreitung des Protestantismus in Europa zusammenhingen. Er schloss sich ihrer Meinung an und bemerkte, dass in den 1520er-Jahren Karl V. nicht die nötigen Ressourcen zur Christianisierung Mexikos bereitstellte. Diese Vernachlässigung schob er zu einem Teil Luther zu, zum anderen Teil den kastilischen Comuneros. ²⁶ Darüber hinaus schrieb er die Historia mit Blick auf die neue konfessionelle Symbolik der
Pedro de Ribadeneira, Segunda parte de la historia del cisma de Inglaterra, Alcala, En casa de Juan Iñiguez de Lequeirica, 1593; Rady Roldán-Figueroa, „Father Luis Piñeiro, S.J., the Tridentine Economy of Relics, and the Defense of the Jesuit Missionary Enterprise in Tokugawa Japan,“ in: Archiv für Reformationsgeschichte 101, 2010, 226. Luis González, Jerónimo de Mendieta: vida, pasión y mensaje de un indigenista apocalíptico, Zamora, 1996, 21– 22. Jerónimo de Mendieta, Historia eclesiástica indiana, hg.v. Joaquín García Icazbalcetam, Mexiko, 1870, xix; Jerónimo de Mendieta, Historia eclesiástica indiana, hg.v. Francisco Solano y Pérez-Lila, 2 Bde., Madrid, 1973, Bd. 1, 1; Carlos Sempat Assadourian, „Memoriales de Fray Gerónimo de Mendieta,“ in: Historia Mexicana 37, 1988: 357– 422. John Leddy Phelan, The Millennial Kingdom of the Franciscans in the New World, 2. überarb. Aufl., Berkeley / Los Angeles, 1970; Steven E. Turley, Franciscan Spirituality and Mission in New Spain, 1524 – 1599: Conflict Beneath the Sycamore Tree, Burlington, 2013. Phelan, The Millennial Kingdom, 6; Rodolfo De Roux López, „Entre el aquí y ahora y el después y más allá: milenio, nuevo mundo y utopía,“ in: Caravelle 76/77, 2001, 375 – 87. García Icazbalceta zufolge hat Mendieta das Werk 1596 vollendet, siehe Mendieta, Historia eclesiástica indiana, 1870, xxiii; Solano jedoch behauptet, Mendieta hätte daran noch bis zu seinem Tod gearbeitet, siehe Mendieta, Historia eclesiástica indiana, 1973, Bd. 1, xxxvii. Mendieta, Historia eclesiástica Indiana, 1870, 191; Mendieta, Historia eclesiástica Indiana, 1973, Bd. 1, 117; zu den Comuneros siehe Stephen Haliczer, The Comuneros of Castile: The Forging of a Revolution (1475 – 1521), Madison, 1981.
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römisch-katholischen Kirche. Seine Verweise auf das Konzil von Trient verliehen dem Werk eine implizite Druckgenehmigung, wenngleich der Ansatz der Tausendjährigkeit zur offiziellen Zensur und anschließendem Versinken in Vergessenheit führte.²⁷ Dennoch fand er eine spezielle Verortung für Luther in seiner Erzählweise. Die Figur des deutschen Häresiarchen stellte er in Kontrast zu der des spanischen Konquistadoren Hernán Cortés (1485 – 1547). Mendieta postulierte, dass Cortés mit Sorgfalt „auserwählt“ worden war und Gott ihn als „Instrument“ nutzte. Darüber hinaus „öffnete Gott durch ihn die Tür und machte den Weg frei für die Prediger des Evangeliums in der Neuen Welt“. Mendieta zufolge „restaurierte und kompensierte“ die Conquista die katholische Kirche. In seinen Worten führte die Konquista zur „Konversion vieler Seelen für den Verlust und das große Verderben, das der verfluchte Luther verursacht hatte“.²⁸ Mendieta sah bedeutungsschwere Parallelen zwischen Luther und Cortés. Er glaubte, sie seien im selben Jahr geboren, jedoch unter verschiedenen Vorzeichen. Luther war geboren, um Unruhe in der Welt zu stiften und viele Katholiken vom Glauben abzubringen. Cortés wiederum war geboren, um zahllose Menschen dem Glauben zuzuführen und sie von der Idolatrie zu befreien.²⁹ Außerdem begannen Mendieta zufolge beide mit ihrer jeweiligen Lebensaufgabe im selben Jahr. So begann für Mendieta das Luthertum mit dessen achtzehn Tage dauernder Debatte mit Johannes Eck im Juli 1519. Auf der anderen Seite des Atlantiks startete Cortés im selben Jahr seinen Marsch zur Eroberung Tenochtitlans.³⁰ Auf diese Weise wurde das, was in Europa verloren war, in Amerika wiedergewonnen. Mendietas Gegenüberstellung von Luther und Cortés stellte die Konquista in einen weiter gefassten Referenzrahmen. Sie war ein Versuch, die Christianisierung der Neuen Welt so zu erklären, dass sie aus der Perspektive der europäischen Gegenreformation einen Sinn bekam. Die Begrifflichkeit wurde angenommen und in den späteren Jahrhunderten immer wieder aufgegriffen. So war es Patricio Fernández de Uribe (1742– 1796) zufolge der Schutz der Jungfrau von Guadalupe, der die Verbreitung von Luther und Calvin in den spanischen Kolonien verhinderte. 1778 schrieb Fernández de Uribe, ein Pfründner der Kathedrale von Mexiko, eine „historisch-kritische“ Abhandlung über die Erscheinung der Jungfrau von Guadalupe.³¹ In der Disertación
Zu Mendietas Verweis auf das Konzil von Trient siehe Mendieta, Historia eclesiástica indiana, 1870, 306, 365, 678; Mendieta, Historia eclesiástica indiana, 1973, Bd. 1, 184 und Bd. 2, 12, 195. Mendieta, Historia eclesiástica indiana, 1870, 174; Mendieta, Historia eclesiástica Indiana, 1973, Bd. 1, 108. Mendieta, Historia eclesiástica, 175; Mendieta, Historia eclesiástica Indiana, 1973, Bd. 1, 108. Mendieta, Historia eclesiástica, 175; Mendieta, Historia eclesiástica Indiana, 1973, Bd. 1, 108. Mendietas Vergleich von Luther und Cortes fand Beachtung bei mehreren Gelehrten, siehe z. B. Phelan, The Millennial Kingdom, 32; Frank Graziano, The Millennial New World, New York / Oxford, 1999, 29. José Patricio Fernández de Uribe, „Disertación histórico-crítica en que el autor del sermón que precede sostiene la celestial imagen de María Santísima de Guadalupe de México, milagrosamente aparecida al humilde neófito Juan Diego,“ in: Sermón de Nuestra Señora de Guadalupe de México predicado en su santuario el año de 1777 día 14 de diciembre de la solemne fiesta con que su ilustre
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histórico-crítica behauptete er, die römisch-katholische Kirche stünde in der Pflicht, das Schwert der Tradition gegen die Anhänger Luthers und Calvins zu schwingen.³² Er argumentierte, dass just zu der Zeit, als die Häresien Luthers und Calvins sich wie eine ansteckende Krankheit in Europa ausbreiteten, Spanien die Idolatrien in den jüngst unterworfenen und von ihm geleiteten Ländern ausrottete. Darüber hinaus habe in den 258 Jahren nach Hernán Cortés’ Feldzug gegen Tenochtitlán keine Häresie in Neuspanien Fuß fassen oder aufblühen können. Das Glück der spanischen Kolonien sei zum Teil Ergebnis der harten Arbeit der spanischen Krone sowie der allzeit aufmerksamen Intervention der Heiligen Inquisition gewesen.³³ Dennoch sei die Tatsache, dass die heimtückischen Ketzereien Luthers und Calvins Neuspanien verschonten, ein Wunder für sich, das der Intervention der Jungfrau von Guadalupe zugeschrieben werden könne.³⁴ Der Mythos vom gegenreformatorischen Charakter des lateinamerikanischen Katholizismus überdauerte das 18. Jahrhundert und beschränkte sich keineswegs auf Neuspanien. Tatsächlich verbreitete sich der Mythos im 19. Jahrhundert nach Gründung der amerikanischen Republiken noch weiter. Luther und das Luthertum – und nicht das Wachstum und die Verbreitung der protestantischen missionarischen Aktivität in jener Zeit – gaben weiterhin die Kulisse ab, vor der die Reinheit des lateinamerikanischen Katholizismus gemessen werden konnte. Natürlich bot der Mythos in diesem neuen Kontext den konservativen Sektoren der lateinamerikanischen Gesellschaft eine Verteidigungslinie gegen das Aufkommen der Illustration und der säkularen Tendenzen des politischen Liberalismus. Schließlich war es niemand anderes als Simón Bolívar selbst, der 1826 die bolivianische verfassungsgebende Versammlung darüber instruierte, welchen Platz die Religion im neuen politischen System einnehmen sollte: „Heilige Gebote und Dogmen sind nützlich, erleuchtend und im metaphysischen Sinne offensichtlich; wir sollten sie alle haben, doch diese Verpflichtungen sind moralisch und nicht politisch.“³⁵ Letzten Endes war es die Kombination der Einflüsse dieser intellektuellen Strömungen, die Luther beziehungsweise das Bild Luthers zum ersten Male wirklich attraktiv für Lateinamerika machte. In Peru bettete José María de Córdova y Urrutia den Mythos in eine faszinierende Erzählung zur Geschichte Perus ein. In seinem Werk Las tres épocas del Perú entwarf Córdova y Urrutia eine Geschichte der Dynastien von Manco Capac (ca. 1200) bis zum
congregación celebra su aparición milagrosa, el que dio motivo para escribir la adjunta disertación, como en ella misma se expresa, Mexiko-Stadt, 1801. Fernández de Uribe, „Disertación histórico-crítica,“ 42. Fernández de Uribe, „Disertación histórico-crítica,“ 120 – 21. Fernández de Uribe, „Disertación histórico-crítica,“ 124– 25. Simón Bolívar, Proyecto de Constitución para la República de Bolivia, y discurso del libertador, Buenos Aires, 1826, 15.
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Präsidenten Ramón Castilla (1797– 1867).³⁶ Córdova y Urrutia war zur Zeit der Veröffentlichung von Las tres épocas Beamter und wurde unter Castilla im Jahr 1846 befördert.³⁷ Höchstwahrscheinlich war er mit Castilla ideologisch auf einer Linie; letzterer brachte die Conservadores im peruanischen Kongress dazu, die Verfassung von 1860 anzunehmen.³⁸ Gemäß dieser neuen Verfassung „praktiziert die Nation die katholische, apostolische und römische Religion, der Staat schützt sie und erlaubt keine öffentliche Ausübung anderer Religionen.“³⁹ Córdova y Urrutia vereinnahmte den Mythos der Gegenreformation auf durchdachte Weise. Wie der Titel seiner Arbeit suggeriert, organisiert er den Erzählstoff in drei Epochen oder Dynastien. Die Struktur entsprach der politischen Geschichte Perus. Tatsächlich beschrieb Thurner ihn als den Erfinder der „großen Erzählstruktur“ der peruanischen Nachkolonialzeit.⁴⁰ Der erste Teil des Werks ist der Gründung des Inkareiches gewidmet. Die zweite Epoche identifiziert er als „überseeische Dynastie“. Schließlich ist die dritte Epoche das „unabhängige Peru“. Den Mythos gebrauchte er als Erklärung für den Übergang zwischen Inkareich und „überseeischer Dynastie“, die durch Karl V. von Europa aus angeführt wurde.⁴¹ Das Luthertum wurde einmal mehr gesehen als Teil eines komplexen Netzwerks von Entwicklungen, das seine Spuren in der Geschichte Lateinamerikas hinterlassen hatte. Obwohl die „Entdeckung“ eines der bedeutendsten Ereignisse der Geschichte sei, sei es bedauerlich, dass die Konquista die Implementierung einer Regierungsform verhindert habe, die ihre Einwohner auf die „höchste Stufe der Zivilisation, der sie fähig wären“ gehoben hätte.⁴² Die Arbeit von Jahrhunderten sei durch „unstillbare Gier“ zerstört worden. Inmitten solch traumatischer Ereignisse habe eine Handvoll Verwalter die „fügsame Natur der Peruaner“ ausgenutzt und ihre „heilige Religion“ eingeführt. Auf diese Weise holten sie zurück, was in Europa verlorengegangen war. So wie Ribadeneira 1593 die göttliche Vorsehung darin sah, Japan zur Wiederherstellung des Gleichgewichts in Europa zu nutzen, sah Córdova y Urrutia in einer interessanten Wendung die göttliche Vorsehung zur Benutzung Perus für denselben Zweck. Namentlich sah er in der Christianisierung Perus eine Art Restaurierung dessen, was in
José María Córdova y Urrutia, Las tres épocas del Perú, o compendio de su historia, in: Manuel de Odriozola (Hg.), Colección de documentos literarios del Perú, Bd. 7, Lima, 1875; Sebastián Lorente, Escritos fundacionales de historia peruana, hg.v. Mark Thurner, Lima, 2005, 49 – 50. José María Córdova y Urrutia, Estadística histórica, geográfica, industrial y comercial de los pueblos que componen las provincias del departamento de Lima, hg.v. César Coloma Porcari, Lima, 1992, 14. Lorente, Escritos fundacionales, 49. John Lynch, „La América Andina y el viejo mundo,“ in: Juan Maiguashca (Hg.), Historia de América Andina, Bd. 5, Quito, 2003, 492; Constitución política del Perú, reformada por el Congreso de 1860, Edición Oficial, Lima, 1860, Título II, art. 4. Mark Thurner, „Peruvian Genealogies of History and Nation,“ in: Mark Thurner und Andrés Guerrero (Hg.), After Spanish Rule: Postcolonial Predicaments of the Americas, Durham/London, 2003, 147. Córdova y Urrutia, Las tres épocas, 31. Ebd.
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England verlorengegangen war. Letzten Endes waren die Anhänger Luthers und Calvins verantwortlich für die Apostasie Heinrichs VIII. sowie die Lossagung Englands von der katholischen Welt.⁴³ Francisco Bauzá (1849 – 1899) war Autor einer weiteren historischen Erzählung, dieser beschrieb die Kolonialgeschichte Uruguays. Er war einer der bedeutendsten Historiker Uruguays im 19. Jahrhundert.⁴⁴ Als Politiker hielt er standhaft an der Meinung fest, dass die religiöse, d. h. die römisch-katholische, Bildung in den öffentlichen Schulen stattzufinden hatte.⁴⁵ 1879 schuf er einen Gesetzesentwurf zur Nachbesserung des Statuts, das die uruguayische staatliche Bildung seit 1877 regelte.⁴⁶ Seine Maßnahme sollte die religiöse Bildung in den öffentlichen Schulen des Landes einführen, doch wurde sie nicht umgesetzt. In jenem Jahr veröffentlichte er das Essay De la educación común, in dem er die religiöse Bildung an staatlichen Schulen verteidigte, und 1884 beteiligte er sich an der Gründung des „Instituto Pedagógico“, einer Privatschule, die seine Ideen zur Rolle der religiösen Bildung verkörperte.⁴⁷ Bauzá veröffentlichte seine Historia de la dominación española en el Uruguay im Jahr 1880, kurz nachdem er seinen öffentlichen Kreuzzug für die religiöse Bildung begonnen hatte.⁴⁸ Er schrieb einen Bericht über Uruguays Kolonialgeschichte, in dem er das Aufkommen einer protonationalen Identität im Land beschrieb. Auch er nutzte den Mythos der Gegenreformation des lateinamerikanischen Katholizismus als Erklärung für die „Entdeckung“ und Eroberung der Neuen Welt. Als Rahmen für den Mythos stellte er ihn in Bezug zu zwei Männern, König Ferdinand von Aragon (der 1479 – 1516 regierte) und Papst Leo X. (im Amt 1513 – 1521). „Ferdinand von Aragon“, erklärte er, „war Zeuge des Niedergangs seines mächtigen Königreichs aufgrund der Einsetzung einer schwachen Familie, und Leo X. stand vor dem Szenarium von Luthers Schisma als erstem Zeichen für die rasche politische Zerstörung Roms“.⁴⁹ Dennoch widerfuhr beiden Männern großer Trost, denn gerade als der spanische Monarch seine europäischen Besitztümer in Gefahr sah, wurde er Zeuge, wie „immense Gebiete, die den Keim für mächtige Nationen in sich trugen, das Erbe der Sprache und Gebräuche Spaniens übertragen bekamen.“ Auf ähnliche Weise erhielten just zu der Zeit, als die Macht des römischen Pontifikats erschüttert wurde, „neu eroberte Menschen in Amerika, Asien und Afrika die Belehrung über das Evangelium,
Ebd. Tomás Sansón Corbo, „La Revolución de Mayo en la historiografía uruguaya de orientación nacionalista,“ Anuario del Instituto de Historia Argentina 10, 2010, 87– 106; ders., „La historiografía colonial y los fundamentos de la tesis independentista clásica en Uruguay,“ in: Anuario del Instituto de Historia Argentina 12, 2012, 1– 26. Susana Monreal, „Francisco Bauzá y su proyecto educativo de alternativa,“ in: A la búsqueda de Francisco Bauzá (1849 – 1899), Prisma 14, 2000, 72– 95. Monreal, „Francisco Bauzá,“ 77. Monreal, „Francisco Bauzá,“ 77 und 81; Francisco Bauzá, De la educación común, Montevideo, 1879. Francisco Bauzá, Historia de la dominación española en el Uruguay, Montevideo, 1880. Bauzá, Historia de la dominación, 27– 28.
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und die Zahl der Anhänger seines Glaubens stieg um Millionen.“ Allerdings distanzierte er sich etwas von der Eroberung, indem er sie eine „Katastrophe“ nannte und seine Glaubensbrüder als „Sektierer“ bezeichnete.⁵⁰ Trotzdem hatte das Luthertum seiner Auffassung zufolge eine globale Resonanz, die das Schicksal Amerikas für immer beeinflusste. Auch in Ecuador tauchte der Mythos auf. Der Franziskaner José María Aguirre (1851– 1919) benutzte ihn 1892, um die theologische Bedeutung der „Entdeckung“ zu erklären. Als gebürtiger Ecuadorianer war Aguirre ein sehr bekannter Prediger in seinem Land. Seiner Redegewandtheit verdankte er die Ehre, zum Gedenken des vierhundertsten Jubiläums der „Entdeckung“ Amerikas bei der offiziellen, durch die Regierung finanzierten Messe zu predigen. Diese fand am 12. Oktober 1892 in der Kathedrale von Quito statt. Der ecuadorianische Poet und Journalist Antonio Alomía Llori (1867– 1918) schrieb einen Bericht über die Feier und veröffentlichte ihn zusammen mit Aguirres Predigt.⁵¹ Aguirres Predigt war getränkt vom Stolz auf die Rolle, die sein religiöser Orden in der Christianisierung der Neuen Welt spielte. Unter den franziskanischen Berühmtheiten, die er erwähnte, waren Christoph Kolumbus (1451– 1506), der enge Verbindungen zum Orden unterhielt, Francisco Solano (1549 – 1610), Missionar in Peru, sowie Felipe de Jesús, der 1597 in Nagasaki als Märtyrer starb.⁵² Die Franziskaner bemühten sich nicht nur um die bloße Christianisierung oder „Evangelisierung“ der Neuen Welt. Vielmehr „arbeiteten sie an der Zivilisierung Amerikas“.⁵³ Seine Predigt eröffnete er mit der These, die „rechte Philosophie der Geschichte“ zöge die übernatürliche Intervention bei den großen Ereignissen der Menschheit in Betracht. Dementsprechend sei zweifellos die „Entdeckung“ Amerikas von Gott zur Erfüllung hehrer Zwecke vorgesehen gewesen. Aguirre stellte die Figuren Kolumbus’ und Luthers einander gegenüber. Genau in dem Moment, als die „große Einheit Europas, geformt und zusammengehalten“ durch den katholischen Glauben, am Ende war,⁵⁴ setzte Kolumbus ein Zeichen. Martin Luther hingegen war „der Apostel Luzifers“, der Verderben auf die Erde brachte wie der gefallene Engel zuvor im Himmel. Luther „trieb einige Nationen in den Abgrund der Häresie“.⁵⁵ Diese Nationen „leuchteten [einst] wie Sterne durch ihren Katholizismus“.⁵⁶ In diesem Kontext brauchte die katholische Kirche neue Nationen, um „diese gefallenen Engel zu ersetzen“. Er verglich den christlichen Glauben mit einer „weißen
Ebd. Antonio Alomía Llori, Celebración en Quito del cuarto centenario del descubrimiento de América, Quito, 1893. Alomía Llori, Celebración, 13. Ebd. Alomía Llori, Celebración, 14. Ebd. Alomía Llori, Celebración, 15.
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Taube“ und erzählte, dass dieser zur Zeit der Entdeckung dabei war, seine alte Herberge in Europa hinter sich zu lassen, um eine neue Heimat zu finden. „Welche wird die gesegnete Region sein“, fragte er rhetorisch, „die diese Taube in ihrem Schoß empfangen wird, die da bei Sonnenuntergang über die Meere fliegt und den Ölbaumzweig des Friedens aus jenen alten Feldern mitbringt?“⁵⁷ Welchen Boten hatte Gott auserwählt, um zum Gelingen dieser „Auswanderung“ beizutragen? Es war „Christoph Kolumbus“, dessen Name Aguirre zufolge „Taube, die Christus trägt“ bedeutet.⁵⁸
Martin Luther als Evangelist, Lehrer und religiöser Caudillo Im 19. Jahrhundert hielt sich der Mythos der Gegenreformation des lateinamerikanischen Katholizismus parallel zu einer Reihe neuer Lesarten Martin Luthers. Ein weit verbreiteter Gedankengang war die Sicht auf Martin Luther als Vorläufer der Moderne. Seine reformatorische Bewegung wurde in weiten Kreisen als Revolte gegen die römisch-katholische Hierarchie gesehen. Mehr als die komplexen theologischen Fragestellungen aus Luthers Zeit war es diese Haltung, die die Imagination einer Unmenge von Denkern anfachte. Trotz vieler regionaler und nationaler Unterschiede teilten diese neuen „Leser“ eine gemeinsame Sichtweise, die durch den wachsenden Einfluss des Positivismus, Begrifflichkeiten des sozialen Fortschritts und eine allgemeine Stimmung gegen den Klerus geprägt war. Mindestens zwei Elemente trugen zu einer neuen Sichtweise auf Martin Luther in Teilen Lateinamerikas bei: zum einen das wachsende wirtschaftliche Interesse Großbritanniens an der Region sowie die deutsche Einwanderung in Länder wie Argentinien, Brasilien und Uruguay, zum anderen die gleichzeitig wachsende Aktivität protestantischer Missionare in der gesamten Region. Diese beiden Elemente arbeiteten oft Hand in Hand bei der Einführung einer differenzierten Sichtweise auf Luther, die Luther als Evangelisten charakterisierte. Protestantische Druckereien sowie Veröffentlichungen sind gute Belege dafür, wie diese beiden Elemente zusammengewirkt haben. 1877 gründete der methodistische Missionar aus Indiana Thomas Bond Wood (1844 – 1922) eine protestantische Zeitschrift in Montevideo/Uruguay.⁵⁹ Bis zum Ende seines Lebens hatte Wood eine geschäftige Karriere als Missionar in Argentinien, Uruguay und Peru. Die wöchentliche Publikation El Evangelista verbreitete Artikel, die den Protestantismus als modernisierende Alternative für die Region bewarben.
Ebd. Ebd. Frederick V. Mills. „Wood, Thomas Bond“; http://www.anb.org.ezproxy.bu.edu/articles/08/ 08 – 01698.html, American National Biography Online, Feb. 2000. (Zugriff am 18.01. 2017).
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Frederick V. Mills zufolge war El Evangelista die „erste spanischsprachige evangelische Zeitschrift der Welt“.⁶⁰ Die Gründung des Magazins in Montevideo war kein Zufall. 1843 wurde die Iglesia Evangélica del Río de la Plata von deutschen Einwanderern in Buenos Aires gegründet und 1857 kam ein Ableger in Montevideo hinzu.⁶¹ Somit gab es, als Wood mit seiner Arbeit in der uruguayischen Hauptstadt begann, bereits einen stabilen Kern protestantischer Gläubiger, die mit Begeisterung an der missionarischen Unternehmung mitarbeiteten. Als Teil des Inhalts druckte El Evangelista regelmäßig Artikel, die von Wood selbst aus dem Englischen oder Deutschen übersetzt worden waren und die Luther in einem freundlichen Licht erscheinen ließen. Ebenso diente das Blatt als Plattform, über die römisch-katholische Darstellungen des Protestantismus widerlegt werden konnten. Wood verfasste mehrere kurze Essays, in denen er den Protestantismus sowie die Figur Martin Luthers verteidigte. In einer vierteiligen Extrabeilage bot er eine polemische Erwiderung auf einen Artikel, den ein katholischer Priester gegen den Protestantismus veröffentlicht hatte.⁶² Mariano Soler (1846 – 1908), späterer Erzbischof von Montevideo, hatte seine Abhandlung in La Tribuna unter dem Titel „El protestantismo, bajo el aspecto histórico, filosófico y religioso“ drucken lassen.⁶³ In „Análisis y refutación de la crítica del Dr. Soler sobre el protestantismo“ focht Wood in 24 Punkten Solers Interpretation der protestantischen Reformation an, einschließlich dessen Darstellung Martin Luthers. Bei dieser Gelegenheit trieb er eine differenzierte Sichtweise des deutschen Reformators voran. Tatsächlich beschrieb Soler Luther als „den abtrünnigen Mönch aus Eisleben“.⁶⁴ Wood nannte diese Charakterisierung einen „subtilen, aber schwerwiegenden Irrtum“.⁶⁵ Ebenso wenig war er einverstanden mit Solers Beschreibung Luthers als „vulgärer“, „korrupter“ und „ungläubiger“ Mönch. Stattdessen stellte er heraus, dass Luther ein Gelehrter mit breiter akademischer Bildung war, der den höchsten von einer Universität verliehenen Grad innehatte. Darüber hinaus war er, bevor er sich dem Augustinerorden anschloss, ein gläubiges „Kind der Kirche“. Trotz allem „entsagte Luther seiner Karriere, um sich im Kloster selbst zu begraben und den fanatischen Lehren der Kirche zu gehorchen, die ihn glauben machten, es sei leichter, seine Seele in einem lebenden Grab zu retten als die Pflichten zu erfüllen, die die
Ebd. Fortunato Mallimaci, Guía de la diversidad religiosa de Buenos Aires, Buenos Aires, 2003, 141. Thomas Bond Wood, „Análisis y refutación de la crítica del Dr. Soler sobre el protestantismo,“ in: El Evangelista, Bd. 1, Nr. 14 (1. Dezember 1877), Beilage [#1], 113 – 116; Bd. 1, Nr. 15 (8. Dezember 1877), Beilage [#2], 125 – 128; Bd. 1, Nr. 16 (15. Dezember 1877), Beilage [#3], 137– 140; Bd. 1, Nr. 17 (22. Dezember 1877), Beilage [#4], 149 – 152. Vgl. Mariano Soler, Catolicismo y protestantismo: razones decisivas y perentorias por las que un verdadero cristiano no puede ser protestante sino católico-romano: pastoral, Montevideo, 1902. Über Mariano Soler siehe Alberto Hein et al., Mariano Soler y el discurso modernizador, Cuadernos franciscanos del sur, Nr. 2, Montevideo, 1990. So zitiert durch Wood, „Análisis y refutación,“ Beilage [#1], 113. Wood, „Análisis y refutación,“ Beilage [#1], 114.
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Vorsehung ihm auferlegt hatte.“ Luther wurde sich bewusst, dass dies ein Fehler gewesen war. „Ein Genie wie er“, formulierte Wood, „bleibt nicht lebendig begraben.“⁶⁶ Luthers Lektüre der Bibel „öffnete ihm das Herz für die Einfachheit, Reinheit und großartige Wirkungskraft der Religion des Jesus Christus auf die Art und Weise, wie Jesus Christus sie gelehrt hatte.“⁶⁷ Er betonte den Charakter des Reformators als Prediger und Evangelist. Seit dem Moment seiner Konversion verwandte Luther sein gesamtes Leben auf die Verkündung seiner eigenen Erfahrung. „Diese Seelen“, fuhr er fort, „die durstig nach Wahrheit und Rettung waren, erkannten in ihm den Botschafter jenes Evangeliums, nach dem die Christenheit sich sehnte und das Rom ihm verweigerte.“⁶⁸ Wood beschrieb Luther auch als Vorboten des sozialen Fortschritts. Luther ebnete den Weg für „drei Jahrhunderte des größten bekannten Fortschritts in der Geschichte.“ Seine Beschreibung formulierte er in dem Optimismus, der den Glauben der Zeit in die Kraft der Moderne charakterisierte. Die Folgen von Luthers Reformation wurden fortwährend „perfektioniert“, indem sie sich „ausbreiteten“ und allgemeingültiger wurden. Er zeichnete einen krassen Kontrast zum „unreformierbaren“ und „statischen“ Charakter der „obsoleten römischen Hierarchie“.⁶⁹ Wood trug noch auf andere Weise zur Ausbreitung eines angenehmeren Bildes von Luther und dem Protestantismus bei. Er sammelte ein aktives Netzwerk von Missionaren und religiösen Laien um sich, die fest entschlossen waren, ihren Glauben in der Region zu verbreiten. Die Verteilung protestantischer Literatur war ein zentraler Bestandteil dieser Anstrengungen. Zu diesem Zweck verwaltete die Gruppe ein zentrales Lager in der Calle Florida in Montevideo. Diese Einrichtung wurde von Manuel A. Balverde beaufsichtigt. Die wöchentliche Publikation enthielt oft einen „Katalog“, eine Art loser Broschüre über Bücher und Streitschriften, die in ihrem Lager verfügbar waren. Ein Katalog aus dem Jahr 1879 enthielt über 100 Buchtitel und Schriften über Themen angefangen von Bibelübersetzungen und biblischen Studien bis hin zum Familienleben.⁷⁰ Viele der Abhandlungen waren kontroverser Art und richteten sich gegen das römisch-katholische Dogma. Interessanterweise zeigt der Katalog, dass es nur in sehr begrenzter Zahl Schriften speziell zu Martin Luther gab. Tatsächlich handelte nur ein Titel der Liste direkt von Luther, und zwar seine Biografie Martín Lutero, biografía auténtica (1878).⁷¹ Das Werk war eine Übersetzung, wahrscheinlich aus dem Englischen, des Werks eines unbekannten Autors, veröffentlicht in Madrid durch die Librería Nacional y Extranjera als
Ebd. Wood, „Análisis y refutación,“ Beilage [#1], 115. Ebd. Ebd. „Catálogo de los libros y folletos que se hallan de venta en el depósito central de tratados religiosos en Montevideo,“ ungebundene Broschüre als Teil der digitalisierten Kopie von El Evangelista, Bd. 3, 1879/1880, Original in der Harvard University, Andover-Harvard Theological Library, Period. 576.58. Anonym, Martín Lutero. Biografía auténtica, Madrid, 1878.
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Teil der Reihe „Galería de Reformadores“. Die Librería Nacional y Extranjera war Tochter der Religious Tract Society, einer Publikationsagentur mit Sitz in London, die sich der Ausbreitung protestantischer religiöser Literatur widmete.⁷² Im Jahresbericht von 1880 listete die Religious Tract Society Martín Lutero, biografía auténtica als eine ihrer spanischen Übersetzungen auf.⁷³ Der Katalog enthielt weitere Bücher, die nennenswert sind, da sie die materielle Zirkulation protestantischer Ideen illustrieren und den indirekten Zugang unterstreichen, den spanische Leser der Region zu Martin Luther hatten.⁷⁴ Beispielsweise nannte der Katalog eine zweibändige Historia de la Reformación. Das betreffende Werk war Jean Henri Merle d’Aubignés Histoire de la Reformation au XVIe siècle in der spanischen Übersetzung von Ramón Monsalvatge, Historia de la reformación del siglo decimosecsto [sic] (1850), das in New York veröffentlicht worden war.⁷⁵ Monsalvatge selbst war ein ehemaliger Kapuziner, der zum Protestantismus konvertiert war.⁷⁶ Zusätzlich konnten interessierte Buchkäufer eine Ausgabe aus dem 19. Jahrhundert der Epístola consolatoria des spanischen Protestanten aus dem 16. Jahrhundert, Juan Pérez (ca. 1500 – 1568), Auszüge in Flugblattformat von Michael Hobart Seymour (1800 – 1874) sowie Werke von Javier Galvete (1852– 1877) erwerben.⁷⁷ Zuletzt schraken die protestantischen Propagandisten nicht einmal vor kontroversen Werken römischkatholischer Autoren zurück. Beispielsweise stand im evangelikalen Lager eine spanische Übersetzung von Johann Joseph Ignaz von Döllingers Der Papst und das Concil (1869), das in Valparaiso (Chile) unter dem Titel El Papa y el concilio (1870) erschienen war.⁷⁸ Bekanntermaßen widersprach der deutsche Theologe in seinem Werk der römisch-katholischen Doktrin von der päpstlichen Unfehlbarkeit. Mangels genügender Zahl an Primärquellen griffen die lateinamerikanischen Intellektuellen auf Sekundärliteratur über Martin Luthers Leben und Zeit zurück. Sie beschränkten sich außerdem nicht auf Übersetzungen aus dem Englischen oder die sehr wenigen Arbeiten in spanischer Sprache. Stattdessen zogen sie auch französische Aileen Fyfe, „The Religious Tract Society,“ in: The Oxford History of the Irish Book, Bd. 4, The Irish Book in English (1800 – 1891), hg.v. James H. Murphy, Oxford, 2011, 357– 363. Religious Tract Society, The Eighty-First Annual Report of the Religious Tract Society, London, 1880. „Catálogo de los libros y folletos,“ c. 1879/1880. Jean Henri Merle d’Aubigné, Histoire de la Réformation du seizième siècle, Brüssel, 1844; ders., Historia de la reformación del siglo decimosecsto [sic], übers. V. Ramón Monsalvatge, 2 Bde., New York, 1850. Ramón Monsalvatge, The Life of Ramon Monsalvatge, a converted Spanish monk, of the Order of the Capuchins, New York, 1845. Folgende sind im „Catálogo de los libros y folletos“ aufgelistet; ich habe bibliografische Daten hinzugefügt, da der Katalog eine einfache Titelliste ist: Juan Pérez, Epístola consolatoria, hg.v. Benjamin B. Wiffen, London, 1871; Michael Hobart Seymour, El sacrificio de la misa y el capítulo sexto de san Juan, New York, o.J.; zwei Kapitel aus Michael Hobart Seymour, Noches con los romanistas: con un capítulo preliminar sobre los resultados morales del sistema romano, übers. v. Henry Barrington Pratt, New York, 185?; Javier Galvete, Fragmentos y ensayos, Madrid, 1879. Johann Joseph Ignaz von Döllinger, Der Papst und das Concil, Leipzig, 1869; ders., El Papa y el concilio, Valparaíso, 1870.
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Quellen hinzu. Zum Beispiel veröffentlichte Mark Monnier (1827– 1885) kurz vor seinem Tod den ersten Band seiner Histoire de la littérature moderne, La Renaissance de Dante a Luther (1884). Monniers Tod im Jahr 1885 wurde von den lateinamerikanischen Literaten sehr betrauert. Der Herausgeber der Revista cubana: periódico de ciencias, literatura y bellas artes bezog sich auf sein Ableben und räumte seinem letzten Werk große Bedeutung ein, in dem er es als „eins der lebendigsten und interessantesten Portraits, das bis dato über diese für die Erforschung des menschlichen Geistes so reiche und fruchtbare literarische Epoche, die wir unter dem Namen Renaissance kennen, gezeichnet wurde“ bezeichnete.⁷⁹ Ein weiterer Mitwirkender, Enrique Piñeyro, schrieb aus Paris eine Rezension über Monniers Histoire. ⁸⁰ Er stellte Monniers Entscheidung in Frage, die Renaissance auf die Zeit zwischen Dante und Luther zu beschränken, und führte diese Entscheidung auf Monniers Verbindung zur Universität zu Genf zurück.Was Luther betraf, befand Piñeyro den Vergleich mit Dante für asymmetrisch. „Einer der beiden“, bemerkte er, „ist ein großer Künstler, ein herausragender Schriftsteller, ein Stern erster Ordnung im Universum der Künste, der Orbit des anderen hingegen bewegt sich in eine andere Richtung, auf anderer Ebene und sogar in einer anderen Welt.“⁸¹ Während Piñeyro Luther für inadäquat befand, sahen andere den Reformator als wichtigen und unvermeidlichen Orientierungspunkt. In der Tat sahen einige führende Intellektuelle, die die jungen lateinamerikanischen Republiken formten, Luther und die deutsche Reformation als Meilenstein, der einen Höhepunkt in der Geschichte des menschlichen Fortschritts markierte. Dies war auch die Sichtweise auf Luther durch Domingo F. Sarmiento (1811– 1888).⁸² Er begann als Lehrer an ländlichen Schulen und verließ Argentinien 1841 in Richtung Chile, um der Militärdiktatur unter Juan Manuel de Rosas (1793 – 1877) zu entgehen. 1842 gründete er die Escuela Normal de Preceptores zur Lehrerausbildung in Santiago.⁸³ Er reiste durch Europa und die Vereinigten Staaten und entwickelte sich zum tiefen Bewunderer des Bildungssystems der USA.⁸⁴ Er schrieb eine kurze Biografie des nordamerikanischen Lehrers Horace Mann (1796 – 1881) und hielt an den historiografischen Ideen von Thomas Carlyle (1795 – 1881) fest.⁸⁵ 1868 wurde Sarmiento zum Präsidenten Argentiniens gewählt und regierte das Land bis 1874. Als produktiver Autor schrieb er zahlreiche Bücher und Artikel; sein be-
Anonym, „Marc Monnier,“ in: Revista cubana: periódico de ciencias, literatura y bellas artes, 1885, 478 – 479. Enrique Piñeyro, [Brief ohne Titel unter „Correspondencia Literaria“], in: Revista cubana: periódico de ciencias, literatura y bellas artes, 1885: 517– 523. Piñeyro, [Brief ohne Titel], 518. Alejandro Ulloa, Domingo F. Sarmiento, un hombre de su tiempo, Buenos Aires, 2009. Ricardo Donoso, Sarmiento, director de la Escuela Normal, 1842 – 1845, Santiago de Chile, 1942. Luis M. Savino und Javier F. García Basalo, Sarmiento, los Estados Unidos y la educación pública, Buenos Aires, 2015. Domingo F. Sarmiento, Vida de Horacio Mann, in: Obras de D. F. Sarmiento, hg.v. A. Belin Sarmiento, Bd. 43, Buenos Aires, 1900, 323 – 362.
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kanntestes Werk war Facundo (1845) das weithin als das argentinische Epos des 19. Jahrhunderts gefeiert wurde.⁸⁶ In seinem Discurso en honor a Darwin drückte Sarmiento sein eigenes Festhalten an der Evolutionstheorie oder -„doktrin“ aus.⁸⁷ Er beschrieb die Evolution als allgemeinen Fortschritt, der im gesamten Kosmos zu beobachten war, von den Sternen der Galaxien bis hin zu den einfachsten geologischen Formationen. Auch im menschlichen Fortschritt war die Evolution zu beobachten, von der Entwicklung der Menschheit bis hin zum menschlichen Lernen, vor allem in Disziplinen wie der Linguistik und der Soziologie. Er beschrieb die Evolution als allgemeine Bewegung vom „Einfachen zum Zusammengefügten, vom Embryonischen zum Komplexen, von der Formlosigkeit zur Schönheit.“⁸⁸ Außerdem sah er die Evolutionstheorie als „Fortschritt des Geistes“, als „harmonisches und schönes“ Prinzip, durch das er Trost fand und das seine „Zweifel, die Folter für die Seele sind“, stillte.⁸⁹ Sarmiento wandte das Konzept der Evolution auf die Entwicklung der westlichen Kultur an und nutzte Rassistische Kategorien zur Erklärung des sozialen Fortschritts. Er postulierte die Überlegenheit der griechisch-römischen „Zivilisation, Künste und Gesetze“. Zwar nannten sich die westlichen Nationen auch „christliche Länder“, doch eigentlich hatten sie ihre Zivilisation von den Griechen und Römern geerbt. Die „nordischen Barbaren“ führten ihre Institutionen ein, vor allem das repräsentative System. Nach dem Untergang des Römischen Reiches wurde das Christentum zum „Bündnis zwischen den halbgebildeten Menschen“. Doch die religiösen Ideen des hebräischen Volks „infiltrierten“ die christlichen Begrifflichkeiten des Regierens. Infolgedessen seien die Prinzipien und Institutionen wie die „Freiheit des Denkens und die Künste der Griechen“, der „Senat, die Stadtverwaltung und die Gesetzgebung“ der Römer und das Repräsentationsrecht der Angelsachsen durch den semitischen Einfluss im Christentum untergraben worden.⁹⁰ Aus dieser sozial-evolutionistischen Perspektive heraus verstand er die historische Verortung Luthers und des Luthertums. Sarmiento zufolge war zur Zeit Alexanders VI. der „moralische Geist des Christentums“ nicht mehr richtungsweisend für die Gesellschaft. Tatsächlich verkam dieser moralische Geist, da „Könige, Prinzen und Päpste sich skandalösester Regellosigkeit hingaben“. Dem anti-römisch-katholischen Gefühl, das den Liberalismus der Zeit charakterisierte, gab er eine Stimme. Dementsprechend zeichnete er ein Bild Luthers als „geschockt vom Horror der Prostituierten“, wie ihm zufolge das „Rom der Borgias“ gesehen wurde. Er begann mit der Untersuchung der Ansichten, die jenes Rom möglich gemacht hatten, und kam zu dem
Domingo F. Sarmiento, Civilización y barbarie: Vida de Juan Facundo Quiroga, Santiago de Chile, 1845. Domingo F. Sarmiento, Darwin en una conferencia, seguido de, El congreso de Tucumán y su espíritu, Buenos Aires, 1882. Sarmiento, Darwin, 21. Ebd. Sarmiento, Darwin, 22.
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Schluss, dass es ohne Alexander keinen Luther gegeben hätte.⁹¹ Seiner Meinung zufolge verlangte die Reformation nur nach „mehr Christentum, mehr Moral, mehr Reinheit, weniger Mysterien, weniger Autorität und weniger kirchliche Hierarchien.“⁹² Der protestantische Forschergeist ließ den historischen Kritizismus der Kirche entstehen; gleichzeitig schritt mit dem Buchdruck die Säkularisierung des Lebens fort. Wenn Sarmiento Luther nur im Licht der Exzesse der Borgias begreifen konnte, so stimmt es ebenfalls, dass er Ignatius von Loyola nur im Lichte Luthers verstehen konnte. Ignatius war „Kopf der Miliz“, die „eine Armee kluger und listiger Politiker organisierte“, die einzig zum Ziel hatten, den Fortschritt der Menschheit aufzuhalten. In diesem Sinne resümierte Sarmiento den Kulturstreit seiner Zeit als einen Wettstreit zwischen den Kräften des Fortschritts, die durch Luthers Revolte gegen die römische Hierarchie repräsentiert wurden, und den Kräften der Tradition, verkörpert durch die Figur des Ignatius von Loyola. Interessanterweise verstanden die Liberalen in ganz Lateinamerika Luther und den Protestantismus als Quelle der Inspiration für Bildungsreformen. Der puertoricanische Philosoph Eugenio María de Hostos (1839 – 1903) in der staatlichen Bildung das Mittel zum Vorantreiben seines fortschrittlichen Bestrebens für die Region. Hostos war in Spanien ausgebildet und glühender Verfechter der Unabhängigkeit Kubas und Puerto Ricos. 1871 reiste er nach Chile, um für die patriotische Mission der zwei verbliebenen spanischen Besitztümer der westlichen Hemisphäre zu werben. Schnell wurde er in den Kreisen der intellektuellen Elite Santiagos aktiv. Hier veröffentlichte er einige seiner wichtigsten Werke, darunter die Neuausgabe von La Peregrinación de Bayoán (1873) und seine Vorlesungen über die „wissenschaftliche Bildung von Frauen“, La enseñanza científica de la mujer (1873).⁹³ Im selben Jahr besuchte er Brasilien und ließ sich anschließend in der Dominikanischen Republik nieder. Dort verfasste er seine ausgereiftesten Werke: Lecciones de derecho constitucional (1887) und Moral social (1888).⁹⁴ 1889 kehrte er auf Geheiß des Präsidenten José Manuel Balmaceda (1840 – 1891) nach Chile zurück. Er spielte eine bedeutende Rolle im staatlichen Bildungssystem Chiles. Zu jener Zeit hatte Hostos sein Augenmerk auf die Pädagogik gerichtet und interessierte sich für die Bildungsreform. Infolgedessen erarbeitete er mehrere neue Werke, die seine positivistische Sehweise und amerikanistischen Ideale in verschiedenen Schulfächern einbanden. Unter diesen Arbeiten
Sarmiento, Darwin, 29. Sarmiento, Darwin, 29 – 30. Eugenio María de Hostos, La peregrinación de Bayoan: diario, Santiago de Chile, 1873. Seine drei Vorlesungen über die „wissenschaftliche Bildung von Frauen“ wurden separat veröffentlicht: Eugenio María de Hostos, „La educación científica de la mujer,“ in: Revista Sud-América [Santiago, Chile], 10. Juni 1873, 232– 240; ders., „La educación científica de la mujer“ (Segunda conferencia), in: Revista Sud-América, 25. Juni 1873, 324– 337; ders., „La educación científica de la mujer. Carta-Contestación al señor Luis Rodríguez Velasco,“ in: Revista Sud-América, 25. Juli 1873, 608 – 632. Eugenio María de Hostos, Lecciones de derecho constitucional, Santo Domingo, 1887; ders., Moral social, Santo Domingo, 1888.
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war das Programa de geografía e historia (1893) sowie das Programa de castellana (1893).⁹⁵ Nachdem er einige Zeit in den Vereinigten Staaten verbracht hatte, kehrte er in die Dominikanische Republik zurück und setzte dort seine Arbeit am Bildungssystem bis zu seinem Tod fort. Sein Werk Ciencia de la pedagogía wurde posthum im Jahr 1939 veröffentlicht.⁹⁶ In dem Band sind seine Notizen zu grundsätzlichen Konzepten und der Geschichte der Pädagogik versammelt. Diese Notizen hatte er 1881 und 1882 in der Lehrerausbildung in der Dominikanischen Republik benutzt. Hier zeigte er die Verdienste Martin Luthers in der Schaffung der Grundlagen für die moderne öffentliche Schule auf.⁹⁷ Luther beschrieb er sowohl als Reformator als auch als Pädagogen und betrachtete die öffentliche Schule als „Tochter des Protestantismus“.⁹⁸ Hostos zufolge war die Gedankenfreiheit ein Produkt der Reformation. Die „Freiheit der Gedanken“ beschrieb er als den „politischen Akt der Anwendung individueller Vernunft auf die Überprüfung von religiösen Dogmen sowie philosophischen, politischen und sozialen Doktrinen“.⁹⁹ Hostos glaubte, dass Protestanten den Beitrag von Wissen zum Fortschritt und zur Verbesserung der Menschheit besser begriffen als Katholiken. Luther und anderen europäischen Protestanten komme der Verdienst zu, die Grundlagen für öffentliche Schulen geschaffen zu haben, weil sie die staatlich geförderte Grundschulbildung für Kinder einforderten. Sie verstanden, dass die Schaffung von Schulen und die Organisation des Lehrens dem Staat oblag und infolgedessen „deutsche, schweizerische und skandinavische Protestanten sich höchst „verdient um die Zivilisation“ gemacht hatten. Aus den öffentlichen Grundschulen wurden durch sie „unverzichtbare Organe der Kultur“ und der „Zivilisation“ der Menschheit. „In diesem Sinne“, schloss er, „war Luther nicht nur einfach ein Reformator, sondern ein wirklicher‚ Zivilisator‘.“¹⁰⁰ In seiner Hochachtung für den Protestantismus war Hostos einzigartig. „In der Geschichte der westlichen Zivilisation“, bemerkte er, „war die Organisation protestantischer Schulen ein wahrhaftiges Standbein der sozialen Ordnung“.¹⁰¹ Nichtsdestotrotz kannten Luther, Melanchthon und Calvin zwar die Wichtigkeit der Schulen für die „Einheitlichkeit“ der Religion, doch seien sie sich des Werts derselben für die soziale Ordnung nicht bewusst gewesen. Luther sei kein „weitsichtiger“ Mann gewesen, ebenso hatte er keine breite Bildung. Dennoch habe er die nötige Beharrlichkeit besessen, um die Idee der öffentlichen Bildung zu verbreiten. Darüber hinaus sei Luther nicht damit zufrieden gewesen, zu lehren, wie man die Bibel zu lesen hatte,
Eugenio María de Hostos, Programa de jeografía [sic] e historia, Santiago de Chile, 1893; ders., Programa de castellano, Santiago de Chile, 1893. Eugenio María de Hostos, Ciencia de la pedagogía, in: Obras completas (edición crítica), hg.v. Julio Cesar López und Vivian Quiles Calderín, Bd. 6/1, Rio Piedras, 1991, 13. Hostos, Ciencia de la pedagogía, 153. Hostos, Ciencia de la pedagogía, 163. Hostos, Ciencia de la pedagogía, 164. Hostos, Ciencia de la pedagogía, 164– 165. Hostos, Ciencia de la pedagogía, 165.
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und in diesem Sinne setzte er ein Beispiel, dem sogar die Katholiken folgen konnten.¹⁰² Seine Schlüsse zog er aus Luthers „Brief [sic] An die Ratherrn aller Städte deutsches Lands, daß sie christliche Schulen aufrichten und erhalten sollen“ (1524).¹⁰³ In seiner Interpretation von Luthers „Brief“ unterstreicht Hostos, dass die Einführung von Hebräisch, Griechisch und Latein an öffentlichen Schulen zur Untergrabung der römisch-katholischen Hierarchie führte. Außerdem lobte er Luthers Idee, Jungen und Mädchen zusammen zu unterrichten, damit sie Zugang zur selben Art von Bildung erhielten. Die Einrichtung öffentlicher Bibliotheken war ein weiterer programmatischer Aspekt von Luthers Bildungsgedanken, den Hostos nun seinen Studenten in der Dominikanischen Republik vorstellte.¹⁰⁴ Hostos kontrastierte Luthers progressive Bildungsideen mit der Rolle der Inquisition, die für die Unterdrückung von Lernen und Buchbrennen verantwortlich war. Durch diesen Vergleich kam er zu dem Schluss, dass protestantische Bildungsreformen die Entwicklung Deutschlands vorangebracht hatten, während die restriktive Anschauung des Katholizismus für die Verarmung der katholischen Länder verantwortlich war.¹⁰⁵ Trotz allem sah Hostos auch, dass Luthers Neigung zu den freien Künsten auf lange Sicht schädliche Folgen für die Entwicklung der „positiven“ Wissenschaften haben könnte.¹⁰⁶ Hostos’ Moral social (1888) war eine der frühesten systematischen soziologischen Abhandlungen durch einen lateinamerikanischen Gelehrten. Hier beschrieb er den Protestantismus als progressive Bewegung, als eine viel weiter fortgeschrittene Form des Christentums als der römischen Katholizismus.¹⁰⁷ Der ursprüngliche Impuls hinter Luthers Protest hingegen sei die progressive Kraft der Geschichte gewesen. Hostos’ Meinung zufolge bereute Luther seine eigenen Taten, obwohl es unmöglich war, die Entwicklungen zu unterbrechen oder aufzuhalten. In diesem Sinne betrachtete er Luthers Protest als die erste moderne Manifestation des freien Denkens („libre examen“). Von Anfang an sei die Reformation geprägt gewesen durch die freie Ausübung der Eigeninitiative. Dieses Prinzip eröffnete den Krieg gegen alle Aktivitäten, die durch das Prinzip der Hierarchie geleitet wurden. Die Puritaner, die zwar auch durch Luther inspiriert worden seien, aber auch auf dieselbe progressive Kraft der Geschichte reagierten, ersetzten ihm zufolge die hierarchische Autorität auf geistiger Ebene durch die der „persönlichen Inspiration“.¹⁰⁸
Ebd. WA 15,9 – 53. Die Ausgabe beziehungsweise Übersetzung des „Briefs,“ die Hostos selbst genutzt hat, ist unbekannt. Hostos, Ciencia de la pedagogía, 166. Hostos, Ciencia de la pedagogía, 167. Ebd. Eugenio María de Hostos, Moral social, 2. Aufl., Madrid, 1906, 165 – 170. Hostos, Moral social, 1906, 165.
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In der Bilanz allerdings verstand Hostos Luther vor allem als religiösen Reformator. Infolgedessen bewertete er Luthers Ideen als nicht weitreichend genug und unzulänglich, um ein Bild der Geschichte und der Fortschritte der Menschheit zu vermitteln. Überdies kam Puerto Rico nach dem Spanisch-Amerikanischen Krieg 1898 in den Besitz der Vereinigten Staaten. Sehr bald wurde klar, dass die USA nicht interessiert waren, auf die Kontrolle über die Insel zu verzichten. Hostos selbst nahm im Januar 1899 an diplomatischen Gesprächen mit Präsident William McKinley (1843 – 1901) teil. Die neue politische Wirklichkeit der Insel ließ ihn kritischer gegenüber dem Protestantismus und folglich auch der Figur Martin Luthers werden. Dies brachte er in bemerkenswert kreativer Weise in seinem kurzen Dialog „Barrenderos e iluminadores“ auf den Punkt.¹⁰⁹ In diesem kurzen Stück lässt er Goethe ein Gespräch mit einer namenlosen Figur über die Französische Revolution führen. Diskussionsthema war der Unterschied zwischen politischen und intellektuellen Revolutionen beziehungsweise Revolutionen der „Barbaren“ und denen der „Erleuchteten“. Goethe argumentierte, dass politische Revolutionen bloße Mechanismen zur Beseitigung einer Anhäufung sozialer Missstände waren. Politische Revolutionen wären nicht nötig, wenn es intellektuellen Revolutionen gestattet wäre, ihre logischen Schlussfolgerungen umzusetzen. Um diesem Muster zu folgen, positionierte er Luther in eine Reihe mit Oliver Cromwell (1599 – 1658) und Maximilien Robespierre (1758 – 1794). Luther war Anführer einer politischen, nicht aber einer intellektuellen Revolution, d. h. er war Kopf einer Revolution der „Barbaren“ und nicht der „Erleuchteten“. Ferner stellte Goethe die Figur Luthers denen Francis Bacons (1561– 1626), Isaac Newtons (1643 – 1727) und Jean-Baptiste Lamarcks (1744– 1829) entgegen, die er als Vorreiter der intellektuellen Revolutionen betrachtete, die den Fortschritt der westlichen Zivilisation markierten. Der Dialog erklärt einiges, zumal Hostos Luther im Zentrum positionierte. Das Stück handelte mehr vom Charakter der Revolutionen als von der historischen Bedeutung Martin Luthers.¹¹⁰ Eigentlich war Hostos’ Betrachtung Luthers als Revolutionär relativ weit verbreitet. Beispielsweise beschrieb Mariano A. Pelliza in der Einleitung seiner Historia argentina (1888) Luther als revolutionären Caudillo. Luthers historische Bedeutung lag darin, dass „er erschien wie der Caudillo neuer Ideen, und dass diese neuen Ideen eine Revolution gegen die katholische Theokratie waren.“¹¹¹ Gegen 1901 teilte Hostos diese mythische politische Lesart Luthers aber nicht mehr. Er sah Luther und den Protestantismus nicht länger als den Weg in die Zukunft und weg
Eugenio María de Hostos, „Barrenderos e iluminadores,“ in: Revista literaria: publicación quincenal de ciencias, artes y letras [Santo Domingo, Dominikanische Republik] 1.1, 23. März 1901, 13 – 14. Der Dialog erschien erstmals 1901 in der Dominikanischen Republik und nicht, wie durch die Herausgeber der Obras completas (edición crítica), 1992, angegeben, 1904– 1905 auf Kuba. S.a. ders., „Barrenderos e iluminadores,“ in: Obras completas (edición crítica), hg.v. Julio César López und Vivian Quiles Calderín, Bd. 1/2, Río Piedras, 1992, 359 – 363, hier: 359, n. 333. Ebd. Mariano A. Pelliza, Historia argentina, Bd. 1, Buenos Aires, 1888, 11.
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von dem, was er als den Obskurantismus der römisch-katholischen Tradition erachtete. Stattdessen verband er Luther nun mit dem Protestantismus, der die frühe Geschichte der Vereinigten Staaten prägte, und dieser Logik folgend betrachtete er den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg als Revolution von „Barbaren“.¹¹²
Ebd.
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Lutherische Mission und Kirchen in Afrika Theologische Perspektiven Europäische lutherische Mission gestaltete sich von Beginn an überkonfessionell. Dezidiert lutherisch waren in den ersten mehr als hundert Jahren der evangelischen Mission zumeist individuelle Missionare, auch manche Ausgangsgemeinschaften, aber in der Regel nicht ganze Missionsvereine – und was „lutherisch“ bedeutete, wurde je nach Ort und Zeit in der Tradition der beteiligten Missionare und aussendenden Gemeinschaften sehr unterschiedlich definiert. Die organisierte evangelische Mission begann mit der Dänisch-Halleschen Mission Anfang des 18. Jahrhunderts, als August Hermann Francke (1663 – 1727) in Verbindung mit dem dänischen König Friedrich IV. (reg. 1699 – 1730) die beiden Theologiestudenten Bartholomäus Ziegenbalg (1682– 1719) und Heinrich Plütschau (1677– 1752) nach Tranquebar (heute: Tharangambadi) in Südindien sandte. Die lutherische Mission war seit ihren Anfängen ein europäisches Unternehmen, und das hieß auch: Sie war von Beginn an durch unterschiedliche Strömungen innerhalb des Luthertums und unterschiedliche Konfessionskulturen geprägt. Dieses Charakteristikum sollte sich bis in die Gegenwart durchziehen und prägt auch die heutigen lutherischen Missionen und Kirchen, nicht nur in Europa, sondern auch und besonders in Afrika. Hinzu kommt, dass nur vier Jahre nach der Aussendung von Ziegenbalg und Plütschau die anglikanische Society for Promoting Christian Knowledge (SPCK) sich an der Dänisch-Halleschen Mission zu beteiligen begann. Damit war die Dänisch-EnglischHallesche Mission (DEHM) nicht mehr ausschließlich lutherisch geprägt, auch wenn ihre Missionare weiterhin in der Regel ihre Ausbildung im lutherischen Halle und in Teilen in Kopenhagen durchliefen. Als zweite evangelische Gemeinschaft fing die Herrnhuter Brüdergemeine Anfang des 18. Jahrhunderts schon kurz nach ihrer Gründung an, außerhalb Europas zu missionieren. Auch hier ist die Zuordnung zu den Begriffen „ökumenisch“, „lutherisch“ oder anderen Konfessionszugehörigkeiten nicht ganz einfach. Ebenso durch Theologie und Tradition der Böhmischen Brüder wie durch Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorfs (1700 – 1760) spezifische Auslegung des Luthertums geprägt, und auch von reformierter Theologie nicht unbeeinflusst, sind die Herrnhuter als lutherisch und überkonfessionell zugleich anzusehen. Was heißt also „lutherisch“ in der Mission, in Afrika und darüber hinaus? Dieser Beitrag zeigt die Vielfalt „lutherischer“ europäischer Mission und lutherischer Kirchen auf dem afrikanischen Kontinent. Dabei können bei der Größe des Kontinents und Länge des Untersuchungszeitraums nur einige Schlaglichter beleuchtet werden, die die Diversität von lutherischen Missionen und Kirchen illustrieren. Der Beitrag konzentriert sich zudem erstens auf deutschsprachige Missionen. Ein bedeutender Teil der aus lutherischer Mission entstandenen Kirchen in Afrika geht auf deutsche Mishttps://doi.org/9783110498745-071
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sionen zurück. Daneben standen lutherische Missionen aus Schweden, Norwegen, Finnland und Nordamerika. Der Schwerpunkt der deutschen Missionen lag im südlichen und östlichen Afrika, wo das deutsche Kaiserreich Kolonien errichtet hatte. Zweitens fokussiert der Beitrag auf das Afrika südlich der Sahara. Selbst dort ist die Vielfalt an Ansätzen, Erfahrungen und Traditionen groß; Nordafrika mit seinen Jahrhunderte, ja, Jahrtausende alten christlichen Kirchen müsste in einem eigenen Rahmen diskutiert werden, da dort die Begegnung mit dem Luthertum auf völlig anderem Hintergrund stattfand als im Afrika südlich der Sahara. An dieser Stelle kann nur auf die Existenz des Christentums in Afrika seit seinen Anfängen verwiesen werden.¹ Im Folgenden soll ein Überblick gegeben werden, der die Diversität von lutherischer Mission, Konfession und Kultur in Afrika aufzeigt. Dazu ist in einem ersten Teil auf die Gründung dezidiert lutherischer Missionsgesellschaften im 19. Jahrhundert in Beziehung zur Mission durch Lutheraner und Lutheranerinnen innerhalb von überkonfessionellen Missionsgesellschaften einzugehen. Dabei wird auch in aller Kürze auf das Verhältnis zwischen konfessioneller Theologie und pietistischer bzw. erweckter Überzeugung in den Missionen hingewiesen. Die Mission des 19. Jahrhunderts fand im Kontext von Kolonialismus und Imperialismus statt, der nicht nur ihre Strategien, die Auswahl der Missionsgebiete und ihre jeweiligen Missionsansätze sowie ihre Ansichten über die Menschen in Afrika prägte, sondern zudem in direktem Zusammenhang zu konfessionellen Ausrichtungen und Überzeugungen zumindest einiger der Missionsgesellschaften stand. Dies wird in einem zweiten Teil erörtert. Der dritte Teil beschäftigt sich mit der Gründung von lutherischen Kirchen in Afrika. In einem vierten Teil wird das Spannungsfeld zwischen europäisch geprägter Theologie und Religiosität und ersten Versuchen von kontextueller Mission aufgezeigt. Schon früh entstanden im Afrika südlich der Sahara indigene Kirchen, die unabhängig von den Missionskirchen organisiert waren und eine eigene Theologie entwickelten, sogenannte AICs (African Indigenous / Instituted / Initiated / Independent Churches).² Deren Bedeutung wird im fünften Teil dargestellt. Der sechste Teil beschäftigt sich mit afrikanischer Theologie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Beitrag schließt mit einigen theologischen Perspektiven für die Lutherforschung im Dialog mit in Afrika entwickelten Theologien.
Für einen theologisch integrativen Ansatz aus afrikanischer Perspektive vgl. K. Bediako, Theology and Identity. The Impact of Culture upon Christian Thought in the Second Century and in Modern Africa, Oxford, 1992. Einen Überblick bieten O. U. Kalu (Hg.), African Christianity. An African story, Perspectives on Christianity Series 5, 3, Pretoria, 2005 und B. Sundkler und Ch. Steed, A History of the Church in Africa, Studia Missionalia Upsaliensia 74, Cambridge, 2000. Zur Benennung und auch zur Schwierigkeit, die AICs konfessionell einzuordnen, vgl. aus Sicht der Jahrtausendwende: J. S. Pobee und G. Ositelu II, African Initiatives in Christianity. The growth, gifts and diversities of Indigenous African Churches – a challenge to the ecumenical movement. Vorwort von W. Hollenweger, Risk book 83, Genf, 1998. Vgl. auch P. D. Mazambara, The Self-Understanding of African Instituted Churches. A study based on the Church of Apostles founded by John of Marange in Zimbabwe, Perspektiven der Weltmission 29, Aachen, 1999, 27– 38.
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1 Lutherische Missionare und lutherische Missionsgesellschaften Gegen Ende des 18. Jahrhunderts begann die große Zeit der europäischen Mission. In vielen europäischen Ländern wurden Missionsgesellschaften gegründet, die die vergleichsweise zaghaften Anfänge aus dem frühen 18. Jahrhundert bald ablösten. Die ersten dieser Neugründungen fanden in Großbritannien statt, die Baptist Missionary Society (BMS, 1792), die London Missionary Society (LMS, 1795) und die Church Missionary Society (CMS, 1799).³ Im deutschsprachigen Bereich wurden Anfang des 19. Jahrhunderts zunächst Missionsgesellschaften gegründet, die Missionare für andere europäische Gesellschaften ausbilden sollten, bevor sie entschieden, selbst Männer (und später auch Frauen) in außereuropäische Länder zu senden. Diese ersten deutschsprachigen Missionsgesellschaften waren alle überkonfessionell. Ihnen kam es explizit auf den rechten Glauben an, nicht auf die rechte Konfessionszugehörigkeit. Die erste und größte dieser neu gegründeten Missionsgesellschaften war die Basler Mission (1815).⁴ In ihrem Leitungsgremium, dem Komitee, waren hauptsächlich reformierte Basler Bürger vertreten. Die Präsidenten kamen bis ins 20. Jahrhundert hinein ausschließlich aus dem Basler Bürgertum. Die Inspektoren, d. h. die Direktoren der Missionsschule, die auch die täglichen Geschäfte der Mission führten, waren hingegen zu dieser Zeit bis auf eine Ausnahme Württemberger. Sie waren durch den württembergischen lutherischen Pietismus bzw. die Erweckungsbewegung geprägt. Deshalb versuchte die (lutherische) Kirche Württembergs Einfluss auf die Basler Mission zu nehmen, insbesondere nachdem württembergische Missionare durch die als reformiert wahrgenommene anglikanische CMS ausgesandt wurden. Wichtiger aber als diese kirchlichen Beziehungen war die Prägung der einzelnen Missionare. Insbesondere in den ersten Jahrzehnten besaßen sie in den Missionsge-
B. Stanley, The History of the Baptist Missionary Society, 1792 – 1992, Edinburgh, 1992; R. Lovett, The History of the London Missionary Society 1795 – 1895, 2 Bde., London, 1899; E. Stock, The History of the Church Missionary Society. Its Environment, its Men and its Work, 4 Bde., London, 1899 – 1916; K. Ward, B. Stanley (Hg.), The Church Mission Society and World Christianity, 1799 – 1999, Studies in the History of Christian Missions, Grand Rapids/Cambridge, 2000. Zur Geschichte der Basler Mission in Afrika vgl. W. Schlatter, Die Geschichte der Basler Mission in Afrika, Geschichte der Basler Mission 1815 – 1915. Mit besonderer Berücksichtigung der ungedruckten Quellen 3, Basel, 1916; J. Miller, Missionary zeal and institutional control. Organizational contradictions in the Basel Mission on the Gold Coast, 1828 – 1917, Studies in the History of Christian Missions, Grand Rapids/Cambridge, 2003; zu Frauen in der Mission vgl. U. Sill, Encounters in Quest of Christian Womanhood. The Basel Mission in Pre- and Early Colonial Ghana, Studies in Christian Mission 39, Leiden, 2010. Sigvard von Sicard bezeichnet die Basler wie die Berliner Mission aufgrund ihrer faktischen konfessionellen Orientierung in Afrika als „lutherisch“: S.von Sicard, The Lutheran Church on the Coast of Tanzania, 1887 – 1914 with special reference to the Evangelical Lutheran Church in Tanzania, Synod of Uzaramo-Uluguru, Studia Missionalia Upsaliensia 12, [Lund], 1970, 19. In dem Buch finden sich allerdings einige Sachfehler und falsche Zuordnungen, z. B. von Missionaren zu Missionsgesellschaften.
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bieten einen großen Spielraum, ihre Vorstellungen von „echtem“ Christentum durchzusetzen, bevor die Basler Mission unter Joseph Josenhans (Inspektorat 1850 – 1879) stärker strukturiert und hierarchisiert wurde. Damit wurden trotz der offiziellen Überkonfessionalität der Basler Mission auch die lutherische Konfessionszugehörigkeit und lutherische Charakteristika in manche Missionsgebiete getragen. Einige Missionare führten in ihren Gemeinden lutherische Bekenntnisschriften ein, vor allem Luthers Katechismen, andere Württemberger bevorzugten hingegen den Katechismus von Johannes Brenz (vor allem aufgrund seiner Darstellung der Tauftheologie)⁵ oder schrieben eigene, auf die Missionssituation zugeschnittene Katechismen, Ordnungen, Lehr- und Bekenntnisschriften.⁶ In Liturgie und Gemeindeorganisation modifizierten sie lutherische Vorstellungen in der Regel so, dass sie der Situation der jungen Gemeinde angepasst waren. Eines der bekanntesten Beispiele war der rheinische Missionar Carl Hugo Hahn, denn dieser geriet in Fragen der Konfessionszugehörigkeit in Konflikt mit seiner Missionsleitung.⁷ Hahn bestand nicht nur darauf, in seinen Missionsgemeinden das lutherische Bekenntnis einzuführen, sondern auch, reformierte Christinnen und Christen auszuschließen. Das widersprach der offiziellen konfessionsneutralen Linie der Rheinischen Missionsgesellschaft (RMG). Hahn gründete 1844 die erste deutsche Missionsstation im Herero-Gebiet, NeuBarmen in Otjikango, nachdem zwei Jahre zuvor Franz Heinrich Kleinschmidt die erste Station der RMG unter den Nama gegründet hatte.⁸ Dies waren die ersten deutschen Missionsstationen im südwestlichen Afrika. In Westafrika waren deutsche Missionare im Auftrag der Basler Mission ab 1827 in Liberia und ab 1828 an der damaligen Goldküste (Ghana) tätig. Viele der Missionsgesellschaften, deren Arbeit heute rückblickend als lutherisch wahrgenommen wird, waren offiziell überkonfessionelle Gesellschaften, deren Missionare vor Ort lutherische Lehre und Riten einführten.
Vgl. z. B. Der evangelische Heidenbote, 1843, 5, hier ein Zitat aus der Basler Indienmission, sowie die Argumentation des Indienmissionars Hermann Gundert in Archiv der Basler Mission, C-1.7 Talatscheri 1841, Nr. 4, H. Gundert, April 1841, 2r. Vgl. z. B. S. von Sicard, The Lutheran Church on the Coast of Tanzania, 1887– 1914, 154– 158. Zur Rheinischen Missionsgesellschaft vgl. G. Menzel, Aus 150 Jahren Missionsgeschichte. Die Rheinische Mission,Wuppertal, 1978; zu Hahn: ebd., 100 – 103.Vgl. auch K.Ward, „Deutsche Lutheraner und englische Anglikaner im südlichen Afrika bis 1918. Eine gemeinsame und eine divergierende Geschichte“, in: H. Lessing, J. Besten, T. Dedering, C. Hohmann, L. Kriel (Hg.), Deutsche Evangelische Kirche im kolonialen südlichen Afrika. Die Rolle der Auslandsarbeit von den Anfängen bis in die 1920er Jahre, Studien zur Aussereuropäischen Christentumsgeschichte (Asien, Afrika, Lateinamerika) 18, Wiesbaden, 2011, 435 – 453. Th. Altena, ‚Ein Häuflein Christen mitten in der Heidenwelt des dunklen Erdteils‘. Zum Selbst- und Fremdverständnis protestantischer Missionare im kolonialen Afrika 1884 – 1918, Internationale Hochschulschriften 395, Münster, 2003, 33.
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Einer der wichtigsten Gründe für die relative konfessionelle Indifferenz der meisten Missionsgesellschaften und vieler Missionare bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts war ihre Frömmigkeitsprägung. Auch für viele der lutherischen Missionare – mit Ausnahme solch auffallender Gestalten wie Carl Hugo Hahn – galt, dass sie lutherische Konfession vermittelten, weil sie mit dieser groß geworden waren und dies die Theologie, Ekklesiologie und Spiritualität waren, die sie kannten und als „richtig“ kennengelernt hatten. Viele waren aber durchaus bereit, in den Missionsgebieten von der konfessionellen Theologie Abstand zu nehmen, wenn sie Missionserfolgen im Wege zu stehen schien. Wichtiger waren ihnen andere Aspekte, der „echte“ Glaube und der „richtige“ Lebenswandel. Dieser vermischte sich in den Missionsgebieten, sodass manches, was allgemein durch die europäische Christentumsgeschichte geprägt oder in der Erweckungsbewegung verankert war, später als „lutherisch“ (oder wahlweise „reformiert“ oder „anglikanisch“) wahrgenommen wurde. Dazu gehört zum Beispiel das Schweigen der Gemeinde im Gottesdienst.⁹ Innere und äußere Ruhe galten unter Erweckten als eines der prägenden Merkmale „echten“ christlichen Glaubens und „echter“ Bekehrung.¹⁰ In den 1830er Jahren fand eine Rückbesinnung auf konfessionelle Zugehörigkeiten statt.¹¹ Nun wurde auch die überkonfessionelle Mission zunehmend kritisch gesehen. Als expliziter Gegenentwurf zur Basler Mission wurde 1836 die EvangelischLutherische Missionsgesellschaft zu Dresden gegründet. Sie war eine der ersten bewusst konfessionellen, lutherischen Missionsgesellschaften und ist eine der wenigen, die den Konfessionsbezug im Namen tragen.¹² 1848 zog die Mission nach Leipzig um; sie arbeitet heute unter dem Namen Evangelisch-Lutherisches Missionswerk Leipzig (Leipziger Mission). Die Leipziger Mission übernahm in den 1840er Jahren die Missionsstation in Tranquebar von der DEHM und gründete später auch Missionsstationen in Afrika. Während des Imperialismus war sie besonders im heutigen Tansania aktiv. Schon 1842 hatte Wilhelm Löhe (1808 – 1872) in Neuendettelsau „Nothelfer“ nach Nordamerika ausgesandt. In den folgenden Jahrzehnten wurden immer mehr Prediger von dieser lutherischen Initiative hochkirchlich erwecklicher Prägung in außereuro-
Vgl. z. B. B. J. Katabaro, „Ist das noch lutherisch? Das reformatorische Erbe der ELCT in Tansania“, in: „Jahrbuch Mission“, 47, 2015, 83 – 88. Vgl. dazu am Beispiel der Basler Mission in Südindien J. Becker, Conversio im Wandel. Basler Missionare zwischen Europa und Südindien und die Ausbildung einer Kontaktreligiosität, 1834 – 1860, Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 238, Göttingen, 2015, 244– 251. Olaf Blaschke hat dafür den Ausdruck „zweites konfessionelles Zeitalter“ geprägt. O. Blaschke, „Das 19. Jahrhundert: Ein zweites konfessionelles Zeitalter?“ in: „Geschichte und Gesellschaft“, 26, 2000, 38 – 75. Bei Missionsgesellschaften aus anderen europäischen Ländern war aufgrund der Konfessionszugehörigkeit der Mehrheits- bzw. Staatskirche die konfessionelle Prägung der durch diese Kirchen oder ihre Mitglieder getragenen Gesellschaften eindeutiger als im deutschen Sprachraum, und zugleich waren diese Gesellschaften mangels anderskonfessioneller Konkurrenz weniger auf Abgrenzung bedacht. Dies gilt insbesondere für die skandinavischen Missionen. Doch auch dort war die Mission größtenteils stärker erwecklich als konfessionell geprägt.
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päische Länder gesandt, jedoch zunächst ausschließlich mit dem Auftrag, deutsche Auswanderer geistlich zu betreuen. Erst 1886 begann die Missionsarbeit unter indigenen Menschen, zunächst in Neuguinea. Bis auf diese ersten Anfänge fand eine bewusst lutherische, konfessionell gebundene Mission aus Deutschland in größerem Umfang jedoch erst zu Zeiten des deutschen Imperialismus 1884/85 statt. Mission und Kolonialpolitik gingen hier wie andernorts eine viel engere Bindung ein als zuvor. Dies war ein gesamteuropäisches Phänomen. Auch in anderen Ländern wurden nun Missionsgesellschaften gegründet, in denen nationale und konfessionelle Zugehörigkeit Hand in Hand gingen. So wurde zum Beispiel die lutherische Svenska kyrkans mission (SKM) als Missionsgesellschaft der schwedischen (Staats)kirche 1874 gegründet,¹³ und auch die Church of England zeigte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer größeres Interesse an der CMS. In Deutschland wurde in den letzten Jahrzehnten des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts die lutherische Konfessionszugehörigkeit vielerorts mit dem „Deutschsein“ verbunden.¹⁴ Nun sollte bewusst Luthertum in alle Welt exportiert werden; auf diese Weise sollten „deutsche“ Religion und „deutsche“ Kultur zugleich in die Kolonien eingeführt werden. Ein Beispiel für diese Verbindung von lutherischer Mission und deutschem Imperialismus bietet die von dem Kolonialisten Carl Peters 1886 gegründete DeutschOstafrikanische Missionsgesellschaft. Peters verließ die Gesellschaft schon 1887, die sich nun in Evangelische Missionsgesellschaft für Deutsch-Ostafrika (EMDOA) umbenannte.¹⁵ Ihren Aufschwung erlebte sie, nachdem sie ab 1890 von Friedrich von Bodelschwingh geleitet wurde. 1906 zog sie nach Bethel um, was ihr den Namen Bethel Mission einbrachte. Sie arbeitete zunächst im heutigen Tansania, später auch in Ruanda. In der EMDOA / Bethel Mission kamen lutherisches Bekenntnis, Staatstreue und mehr oder weniger offen kolonialistische Auffassungen zusammen. Die Missionare hatten größtenteils in Bethel Theologie studiert und waren durch von Bodelschwinghs spezifischen Ansatz und die Verbindung von innerer und äußerer Mission geprägt. Die lutherischen Gesellschaften arbeiteten parallel zur weiterhin erfolgreichen Missionsarbeit der überkonfessionellen Gesellschaften und der lutherischen Arbeit von konfessionell gebundenen Missionaren innerhalb der überkonfessionellen Mis-
Schweden unterhielt allerdings keine Kolonien und beteiligte sich bewusst nicht am Imperialismus. Eine Chronologie bietet G. Scriba, „Chronologie der lutherischen Kirchengeschichte Südafrikas (1652– 1928)“, in: H. Lessing, J. Besten, T. Dedering, Ch. Hohmann, L. Kriel (Hg.), Deutsche Evangelische Kirche im kolonialen südlichen Afrika. Die Rolle der Auslandsarbeit von den Anfängen bis in die 1920er Jahre, Studien zur Aussereuropäischen Christentumsgeschichte (Asien, Afrika, Lateinamerika) 18, Wiesbaden, 2011, 285 – 305. Zur Geschichte der Bethel Mission vgl. G. Menzel, Die Bethel-Mission. Aus 100 Jahren Missionsgeschichte, Neukirchen-Vluyn, 1986.
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sionsgesellschaften. Schon die Spannbreite der Vermittler und Vermittlungswege lässt die Vielfalt lutherischer Kulturen in der Mission erahnen.
2 Mission und Kolonialismus Die EMDOA / Bethel Mission ist eines der herausragenden Beispiele für die Verbindung von lutherischer Mission und Kolonialismus. Zwar war die Rheinische Missionsgesellschaft zu Beginn der 1880er Jahre noch stärker als die EMDOA von kolonialistischen Auffassungen beeinflusst, aber sie war im Gegensatz zu jener offiziell überkonfessionell. Der Inspektor der RMG, Friedrich Fabri (1824– 1891), gilt indessen als einer der wichtigsten Vertreter des Imperialismus in der Missionsbewegung. Die Rheinische Missionsgesellschaft wurde ab 1857 von Friedrich Fabri geleitet. Fabri hatte sich intensiv und zunehmend in der deutschen Kolonialbewegung engagiert und 1879 einen Traktat publiziert unter dem Titel Bedarf Deutschland der Colonien? Eine politisch-ökonomische Betrachtung. ¹⁶ 1884 verließ er die RMG, um sich ganz der Kolonialpolitik und ihrer Propagierung widmen zu können. Seine kolonialistischen Tätigkeiten waren zunehmend mit der Missionsleitung unvereinbar geworden. Fabri war kein „Missions-Insider“, sondern hatte sich bis zu seiner Berufung nach Barmen stärker für die Innere als für die äußere Mission engagiert. Attraktiv wurde er für die RMG, die sich in schweren konfessionellen Streitigkeiten befand, durch seine Unterstützung der konfessionellen Union – dass er als Süddeutscher darunter etwas Anderes verstand als die im Rahmen der Kirche der altpreußischen Union gegründete RMG, fiel erst später auf.¹⁷ Im Gegensatz zu anderen Missionstheologen integrierte Fabri rassistische Konzeptionen in seine Theologie: Die verschiedenen Völker stünden dem Reich Gottes unterschiedlich nahe, manche hätten an in der biblischen Urgeschichte erzählten Abfallbewegungen Anteil gehabt – und das sehe man ihnen physiognomisch ebenso an wie es in ihren Kulturen und Sozialordnungen sichtbar sei.¹⁸ Schon in der Urgeschichte fand Fabri damit eine Spaltung der Menschheit in unterschiedliche Völker angelegt, die die Führungsrolle der einen, der Weißen, und die Unterwerfung (wenn auch nicht unbedingt Unterdrückung) der anderen zur Folge habe. Zudem war Fabri überzeugt, dass es die Aufgabe von Christinnen und Christen sei, sich in der Welt zu engagieren. Dies, in Verbindung mit der unhinterfragten Annahme, Gehorsam gegenüber der weltlichen Obrigkeit sei unabdingbar für einen christlichen Lebenswandel, verstärkte sein Engagement für den deutschen Imperialismus. Gleichzeitig propagierte er die Trennung von Kirche und Staat.¹⁹
Vgl. F. Fabri, Bedarf Deutschland der Colonien? Eine politisch-ökonomische Betrachtung, Gotha, 1879. Vgl. Menzel, Rheinische Missionsgesellschaft, 71– 72. Vgl. ebd., 76. Vgl. ebd., 77.
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Der Einsatz für den Kolonialismus war aber in Fabris sozialem Engagement begründet: Er hatte sich schon vor der Arbeit für die RMG in der Inneren Mission engagiert und sah für die in den 1870er Jahren zunehmende Armut in Deutschland nur eine Lösung: die „gelenkte Auswanderung nach Übersee“. Deshalb, so Fabri, benötige Deutschland Kolonien. Infolge dieses Traktats wurde Fabri innerhalb der deutschen Kolonialbewegung bekannt und berühmt und schließlich „zu einer Schlüsselfigur in der kolonialen Bewegung“.²⁰ Er erhielt leitende Positionen in verschiedenen Kolonialvereinen und wurde später sogar Berater Otto von Bismarcks. Zehn Jahre nach seinem Traktat veröffentlichte er freilich 1889 einen recht kritischen Rückblick auf die bisherige Kolonialpolitik.²¹ Eine Gegenposition vertraten besonders prominent Gustav Warneck (1834– 1910) und Franz Michael Zahn (1833 – 1900), die sich ausdrücklich gegen eine „Verweltlichung“ der Mission und aus diesem Grunde gegen die Verbindung von Evangelisation und „Zivilisierung“ sowie gegen die organisierte und institutionalisierte Verbindung von Mission und Kolonial- bzw. Imperialverwaltung wandten²² – was nichts daran änderte, dass die Mission Teil des Kolonialsystems war, von ihm profitierte und nur sehr wenige Missionare und Missionarinnen den Kolonialismus an sich infrage stellten. Die zeitgenössische Interpretation der lutherischen Zweiregimentenlehre schien diese Auffassung theologisch zu legitimieren. Bis zur Jahrhundertwende hatten vier deutschsprachige Gesellschaften mit der Mission in Deutsch-Ostafrika begonnen: EMDOA, Basler Mission, Herrnhuter und Leipziger Mission.²³ Sie wurden hier zu Kolonialmissionen. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg kamen weitere deutsche Missionsgesellschaften hinzu. In anderen Teilen Afrikas, wo keine deutschen Kolonien bestanden, mussten die Missionsgesellschaften ebenfalls zur jeweiligen Kolonialverwaltung Stellung beziehen. Fast alle Missionsgesellschaften unterstützten die Kolonialverwaltungen zumindest soweit, wie sie von ihnen profitieren konnten.²⁴ Dies galt, wenn auch in geringerem Ausmaß, selbst für die Glaubensmissionen.
Ebd., 78. Vgl. F. Fabri, Fünf Jahre deutscher Kolonialpolitik. Rück- und Ausblicke, Gotha, 1889. Vgl. insbes. G. Warneck, Abriß einer Geschichte der protestantischen Missionen von der Reformation bis auf die Gegenwart. Mit einem Anhang über die katholischen Missionen (1882), 9. Aufl., Berlin, 1910. Vgl. Altena, ‚Häuflein Christen‘, 52– 71. Vgl. als umfassende Untersuchungen zu englischen Missionen im Kolonialismus A. Porter, Religion versus empire? British protestant missionaries and overseas expansion, 1700 – 1914, Manchester [u. a.], 2004; B. Stanley, The Bible and the Flag. Protestant missions and British imperialism in the nineteenth and twentieth centuries, Leicester, 1990.
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3 Lutherische Kirchen in Afrika Einige Missionsgesellschaften, besonders prominent die CMS, forderten seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, die neu gegründeten Kirchen sollten möglichst bald selbstständig werden. Henry Venns Three-Self-Prinzip (self-supporting, self-governing, selfpropagating) ist zum berühmten Schlagwort für diese Auffassung geworden.²⁵ Faktisch dauerte es viele Jahrzehnte, bis die westlichen Missionsgesellschaften die Gemeinden der Missionierten für tatsächlich fähig zur Selbstständigkeit hielten.²⁶ In den meisten Ländern war es nicht die Entscheidung westlicher Missionsgesellschaften, die zur Selbstständigkeit der indigenen Kirchen führte, sondern das Ende des politischen Kolonialismus. In den deutschsprachigen Missionskirchen wirkte der Erste Weltkrieg mit den Inhaftierungen bzw. Ausweisungen der deutschen und Schweizer Missionare vielerorts als Katalysator, der den indigenen Kirchen einen ersten Schritt in die Selbstständigkeit ermöglichte. Dabei divergierte die konkrete Situation in den unterschiedlichen Gebieten Afrikas enorm. Im Folgenden sollen anhand der lutherischen Kirchen im heutigen Südafrika und der lutherischen Kirche in Tansania zwei Zugänge exemplarisch vorgestellt werden. Im südlichen Afrika entstanden die ersten lutherischen Kirchen unter weißen Immigranten; in Ost- und Westafrika hingegen gehen die lutherischen Kirchen auf unmittelbare Mission unter indigenen Afrikanerinnen und Afrikanern zurück. Seit dem 17. Jahrhundert waren weiße Siedler nach Südafrika emigriert, teils aus ökonomischen, teils aus religiösen Gründen. 1652 errichtete die Verenigde Oostindische Compagnie (VOC) eine Versorgungsstation in Südafrika.²⁷ Mit den niederländischen Händlern kamen zu dieser Zeit auch Deutsche ins Land. Zu den ersten Glaubensflüchtlingen gehörten hugenottische, also französische reformierte, Exilanten, die der Verfolgung in Frankreich nach der Révocation des Edikts von Nantes entgehen wollten. Bis ins 19. Jahrhundert hinein wandte sich die geistliche Versorgung sowohl der Reformierten als auch der Lutheraner fast ausschließlich an Weiße. Allerdings waren die Grenzen zu dieser Zeit fließend. Manche Europäer begannen Beziehungen Für das American Board of Commissioners for Foreign Missions vertrat Rufus Anderson dieselbe Ansicht.Vgl. D. L. Robert, „Introduction“, in: dies. (Hg.), Converting Colonialism. Visions and Realities in Mission History, 1706 – 1914, Studies in the History of Christian Missions, Grand Rapids, 2008, 1– 20, hier: 13 – 16. Vgl. die Auslegung des „not yet“ bei D. Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial thought and historical difference, Princeton, N.J. / Oxford, 2000. Vgl. Ch. Hohmann, Auf getrennten Wegen. Lutherische Missions- und Siedlergemeinden in Südafrika im Spannungsfeld der Rassentrennung (1652 – 1910), Studien zur Aussereuropäischen Christentumsgeschichte (Asien, Afrika, Lateinamerika) 16, Wiesbaden, 2011, 22; vgl. auch ders., „Die Beziehungen der deutschsprachigen lutherischen Gemeinden in der Kapregion zur Lutherischen Kirche in Hannover (1862 bis 1895)“, in: H. Lessing, J. Besten, T. Dedering, Ch. Hohmann, L. Kriel (Hg.), Deutsche Evangelische Kirche im kolonialen südlichen Afrika. Die Rolle der Auslandsarbeit von den Anfängen bis in die 1920er Jahre, Studien zur Aussereuropäischen Christentumsgeschichte (Asien, Afrika, Lateinamerika) 18, Wiesbaden, 2011, 393 – 418. Eine Auflistung der Ereignisse bietet Scriba, „Chronologie“.
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mit indigenen Sklavinnen, einige heirateten Afrikanerinnen.²⁸ Noch war die Bevölkerung nicht anhand von Hautfarben in gänzlich getrennte Gruppen geschieden.²⁹ Ab dem frühen 18. Jahrhundert missionierten die Herrnhuter als einzige europäische Gesellschaft auch unter der indigenen schwarzen Bevölkerung.³⁰ Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ging die Kapkolonie in britischen Besitz über, ab 1814 war sie britische Kronkolonie.³¹ Dies bedeutete für die religionsgeschichtliche Entwicklung eine Stärkung des Luthertums. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts war die Kirche offiziell noch reformiert gewesen, den Lutheranern wurden Gottesdienst- und Abendmahlsteilnahme lediglich erlaubt. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts entstand eine inoffizielle lutherische Gemeinde in Kapstadt. 1779 erhielten die Lutheraner Religionsfreiheit am Kap, 1780 wurde die erste lutherische Kirche gegründet – 400 der 401 Gründungsmitglieder kamen ursprünglich aus Deutschland. Ende des Jahres nahm der erste lutherische Pfarrer seine Arbeit auf. Sein Nachfolger wurde von der Lutherischen Kirche in Hannover gestellt, nachdem das lutherische Konsistorium in Amsterdam nicht auf die Bitten um einen neuen Pfarrer reagiert hatte.³² Damit bekam die Hannoversche Kirche Einfluss auf die konfessionellen Entwicklungen in der Kapkolonie. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden (unter anderem wegen Kirchenspaltungen) neue lutherische Gemeinden am Kap gegründet; 1861 entstand so in Abspaltung von der niederländischen die deutsche lutherische Gemeinde in Kapstadt. 1895 wurde die Deutsche Evangelisch-Lutherische Synode Südafrikas gegründet.³³ Evangelisation unter der indigenen Bevölkerung wurde unter anderem auch deshalb bis auf die Herrnhuter-Mission zunächst nicht in Angriff genommen, weil die Taufe die schwarzen Konvertiten mit den weißen Siedlern zunächst rechtlich und ökonomisch gleichgestellt hätte.³⁴ Der Herrnhuter Georg Schmidt (1709 – 1785) missionierte am Kap ab 1737,³⁵ allerdings wurde die Mission bald wieder für mehrere Jahrzehnte unterbrochen: Schmidt musste 1744 nach Europa zurückkehren, und die nächsten Herrnhuter Missionare erreichten das Kap erst 1792.³⁶ 1829 begann die Rheinische Mission in Südafrika mit der Evangelisation, 1834 die Berliner Mission. Wie in anderen afrikanischen Ländern,
Vgl. Hohmann, Auf getrennten Wegen, 26. Dies weist auch auf die Problematik hin, die Bezeichnungen „schwarz“ und „weiß“ eindeutig zuzuordnen. Mit der Zeit wurden die Kategorisierungen verfeinert, die Schwierigkeit der Zuordnung blieb bestehen. Sie illustriert die Unmöglichkeit, die Menschheit anhand bestimmter Eigenschaften in Kategorien aufzuteilen. Zu den Herrnhutern als weltweiter Gemeinschaft vgl. G. Mettele, Weltbürgertum oder Gottesreich. Die Herrnhuter Brüdergemeine als globale Gemeinschaft 1727 – 1857, Bürgertum N.F. 4, Göttingen, 2009. Vgl. Hohmann, Auf getrennten Wegen, 32. Vgl. ebd., 66 – 72. Vgl. ebd., 117– 128. Vgl. ebd., 74, 76 – 78. Vgl. ebd., 81. Vgl. ebd., 90.
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so markierte im südlichen Afrika der Erwerb der Kolonie Deutsch-Südwestafrika, des heutigen Namibia, 1884 den Beginn der Kolonialmission. Aufgrund der unterschiedlichen im südlichen Afrika missionierenden lutherischen Missionsgesellschaften entstanden verschiedene lutherische Kirchen. So existieren in Namibia aufgrund der Konkurrenzgeschichte der europäischen Missionen allein drei lutherische Kirchen.³⁷ Die Herrnhuter Mission propagierte in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die Selbstständigkeit der afrikanischen Missionsgemeinden.³⁸ Allerdings wurden die Gemeinden bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs faktisch nicht in die Unabhängigkeit entlassen. Die Europäer und Europäerinnen fanden immer wieder Gründe, ihre Vormachtstellung zu behalten. Unter anderem aufgrund der Ungleichheit zwischen indigenen Afrikanern und Missionaren in finanziellen, ökonomischen und organisatorischen Belangen und in Fragen von Theologie und Gemeindeleitung, sowie aufgrund des Paternalismus der Europäer, suchten immer mehr Gemeinden der Herrnhuter aktiv die Unabhängigkeit und tendierten zum Anschluss an die neu entstehenden AICs.³⁹ Die lutherische Mission unter indigenen Afrikanerinnen und Afrikanern begann in Westafrika Anfang des 19. Jahrhunderts, zunächst durch von der anglikanischen CMS ausgesandte lutherische Deutsche: 1806 wurden die im Berliner Missionsseminar von Johannes Jaenicke ausgebildeten und lutherisch ordinierten Missionare Gustav Reinhold Nylander und Leopold Butscher nach Sierra Leone gesandt.⁴⁰ Aus der Mission der CMS wurden später trotz der lutherischen Konfession der ersten Missionare anglikanische Kirchen gegründet. Die Missionen der Basler in Westafrika, die ab 1827 entstanden und ebenfalls in den ersten Jahren hauptsächlich von Lutheranern ausgeübt wurden, führten aufgrund der überkonfessionellen Orientierung der Basler Mission gleichfalls nicht zur Gründung von dezidiert lutherischen Kirchen, sondern zu reformierten Kirchen oder Unionskirchen. Anders sieht das in Ostafrika aus, wo vor allem während des deutschen Imperialismus dezidiert lutherische Evangelisation betrieben wurde. Dort wird die Mission zumeist auf die Entdeckungsreisen und Pläne der beiden in Basel ausgebildeten Missionare Johann Ludwig Krapf (1810 – 1881) und Johannes Rebmann (1820 – 1876)
Vgl. Ward, „Deutsche Lutheraner und englische Anglikaner“. Zur Hermannsburger Mission im südlichen Afrika vgl. K. E. Böhmer, August Hardeland and the ‚Rheinische‘ and ‚Hermannsburger‘ Missions in Borneo and Southern Africa (1839 – 1870). The History of a Paradigm Shift and its Impact on South African Lutheran Churches, Oberurseler Hefte Ergänzungsband 18, Göttingen, 2016. Vgl. Hohmann, Auf getrennten Wegen, 175 – 177. Vgl. ebd., 202– 203. Zu der Bezeichnung der AICs s.o. FN 2. Church Missionary Society, Register of Missionaries (Clerical, Lay & Female), and Native Clergy, From 1804 to 1904. 2 Bde., University of Birmingham, Special Collections Archives, Sign.: CMS BV 2500, [1904], Nr. 3+4.
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zurückgeführt, auch wenn sie erst deutlich später entstand. Krapf und Rebmann waren 1844 nach Ostafrika gekommen.⁴¹ Die Mission war jedoch von Beginn an nicht allein ein westliches Unternehmen. Afrikanische Christinnen und Christen missionierten unter ihren Verwandten, Nachbarn und Freunden und auch in abgelegenen Gegenden, die nicht mehr zu ihrer Heimat gehörten, effizient und effektiv. Ohne diese indigene Mission wären die westlichen Missionsbemühungen bald gescheitert. Hinzu kam die Bedeutung indigener Menschen als Sprachlehrer für die Missionarinnen und Missionare, Schullehrer (und später auch Lehrerinnen) für die einheimischen Kinder, als Übersetzer, Informatoren über einheimische Bräuche und Traditionen und vieles andere mehr.⁴² In den meisten Fällen, in denen Missionare in neue Gebiete gingen, um dort eine Mission aufzubauen, wurden sie von einheimischen Katechisten oder anderen Mitarbeitern aus angrenzenden Regionen begleitet. Nur selten und erst in neuerer Zeit finden diese afrikanischen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in der Missionsgeschichtsschreibung freilich Erwähnung.⁴³ Die frühe missionsstrategische Überlegung, Afrikaner in Afrika als Missionare einzusetzen, entwickelten europäische Missionsgesellschaften indes weniger aus einer Hochschätzung der indigenen Bevölkerung heraus als vielmehr aus der Erfahrung, dass die deutschen Missionare häufig das erste Jahr in Afrika nicht überlebten. Man ging davon aus, dass Menschen schwarzer Hautfarbe, egal wo sie geboren waren, besser für Klima und Lebensbedingungen in Afrika geeignet seien. Deshalb begann die Basler Mission zum Beispiel 1843, Christinnen und Christen aus karibischen Kirchen zur Evangelisation in Westafrika einzusetzen.⁴⁴ Den ersten afrikanischen Bischof, Samuel Crowther (1809 – 1891), ordinierte die CMS 1881 im heutigen Nigeria. In Tansania brachte der Erste Weltkrieg, in dessen Folge 1920 alle deutschen Missionare und Missionarinnen ausgewiesen wurden, den Vgl. K. F. Ledderhose, „Krapf, Johann Ludwig“, in: „Allgemeine Deutsche Biographie“, 17, 1883, 49 – 55 [Onlinefassung]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/gnd118715496.html#adbcontent [Zugriff: 25.11. 2016] und K. F. Ledderhose, „Rebmann, Johann“, in: „Allgemeine Deutsche Biographie“, 27, 1888, 485 – 489 [Onlinefassung]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/gnd116368705. html#adbcontent [Zugriff: 25.11. 2016]. Ein Beispiel unter vielen bietet G. D. Yigbe, „Von Gewährsleuten zu Gehilfen und Gelehrigen. Der Beitrag afrikanischer Mitarbeiter zur Entstehung einer verschriftlichten Kultur in Deutsch-Togo“, in: R. Habermas, R. Hölzl (Hg.), Mission global. Eine Verflechtungsgeschichte seit dem 19. Jahrhundert, Köln [u. a.], 2014, 159 – 175.Vgl. auch, aus einer Perspektive der Hochschätzung der Mission, J.W. Parsalaw, A History of the Lutheran Church, Diocese in the Arusha Region from 1904 to 1958, Makumira publications 12, Erlangen, 1999. Vgl. z. B. L. A. Mtaita, The Wandering Shepherds and the Good Shepherd. Contextualization as the Way of Doing Mission with the Maasai in the Evangelical Lutheran Church in Tanzania, Pare Diocese, Makumira publication 11, Erlangen, 1998, 116 – 117 über die Anfänge der Mission unter den Maasai. Vgl. z. B. K. Füllberg-Stolberg, „‚Ein Sauerteig christlichen Lebens in der Masse afrikanischen Heidentums‘ Westindische Konvertiten an der Goldküste (1843 – 1850)“, in: R. Habermas, R. Hölzl (Hg.), Mission global. Eine Verflechtungsgeschichte seit dem 19. Jahrhundert, Köln [u. a.] 2014, 31– 57; Schlatter, Basler Mission, 6 – 12, 32– 36.
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Umschwung. Nun waren die afrikanischen Gemeinden unabhängig, zumindest für einige Jahre, bis die Stationen von anderen Missionsgesellschaften übernommen wurden und/oder die Missionare zurückkehrten. Lehrer und Evangelisten übernahmen sowohl die Kirchenleitung als auch Missionsinitiativen.⁴⁵ Weitgehende Autonomie erhielten die Kirchen aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg; der erste indigene Bischof der Lutheran Church of Northern Tanganmyika, Stefano Ruben Moshi (1906 – 1976), Sohn des ersten indigenen Missionars der Leipziger Mission, Ruben Moshi, wurde 1960 gewählt.⁴⁶
4 Europäische Mission und afrikanische Kulturen Der Zugang lutherischer Missionarinnen und Missionare zu den indigenen afrikanischen Religionen und Kulturen differierte beträchtlich je nach Zeit, Ort und Persönlichkeit der Missionare.⁴⁷ Er variierte zudem je nach der afrikanischen Kultur, auf die sie trafen – wobei afrikanische Religion und Kultur in den meisten Fällen weniger Einfluss auf die Wahrnehmungen hatten als die in Europa geprägten Vorannahmen. Das südliche Afrika, wo es schon relativ starke weiße Siedlergemeinschaften, ja teils etablierte lutherische Kirchen gab, als die große Zahl der europäischen und nordamerikanischen Missionare ankam, hatte eine ganz andere Geschichte als West- und Ostafrika. Im südlichen Afrika traten die indigenen Gemeinden neben die weißen Gemeinden und wurden häufig von jenen abgelehnt, während sich in West- und Ostafrika der Blick der Missionare stärker auf die indigene Bevölkerung richtete. Im Folgenden wird – nach einem kurzen Überblick – mit Tansania ein Beispiel aus Ostafrika im Mittelpunkt stehen. Für fast alle Gebiete aber gilt, dass die Missionare nur selten Bekenntnisschriften, Katechismen und Riten unverändert aus Europa nach Afrika übertrugen. Deutlich häufiger wurden sie den lokalen Gegebenheiten und Bedürfnissen angepasst.⁴⁸ Die ersten lutherischen deutschen Missionare, die, von der CMS ausgesandt, zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Westafrika ankamen, hatten den expliziten Auftrag, die Vergehen, die Europäer an Afrikanern mit der Sklaverei begangen hatten, durch christliche Missionierung – die Hinführung der Menschen zum Reich Gottes und
Vgl. Sundkler und Steed, History, 879 – 80; Maanga, Church Growth. Vgl. Sundkler und Steed, History, 882. 1963 schloss sich die Kirche mit zwei anderen Regionalkirchen zur ELCT zusammen. Eine Analyse und Kategorisierung der kulturellen Zugänge von deutschen Missionaren im Imperialismus bietet Altena, ‚Häuflein Christen‘, 98 – 144. Vgl. z. B. von Sicard, The Lutheran Church on the Coast of Tanzania, 154– 158, 180 – 183. Manche Missionare nahmen diese Anpassungen mit Billigung der Missionsleitung vor, andere ohne das Wissen der Missionsleitung, selten gegen ausdrückliche Anweisungen. Diskussionen über die rechte Form von Bekenntnis und Katechismus finden sich in den Missionsquellen zuhauf.
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ewiger Seligkeit – wiedergutzumachen.⁴⁹ Sie standen den Afrikanerinnen und Afrikanern als Menschen sehr aufgeschlossen gegenüber, in den Missionsberichten wurden diese zuweilen explizit Europäern und Europäerinnen gleichgesetzt oder es wurden ihnen gar eine höhere Intelligenz, mehr Fähigkeiten zugeschrieben.⁵⁰ Die afrikanische Kultur, auf die die Missionare trafen, beschrieben sie hingegen zumeist negativ. Als problematisch angesehene Eigenschaften führten sie jedoch auf die lange Zeit von Unterdrückung und Sklaverei zurück.Wie in Europa, so hofften die erweckten Lutheraner auch hier auf eine Lösung von sozialen Problemen durch Evangelisierung. Der Fortschrittsgedanke war dieser frühen Mission inhärent, wobei das Ziel des Fortschritts in der Welt eine Europäisierung ohne die als negativ wahrgenommenen Aspekte der europäischen Gegenwart war (Industrialisierung, Verstädterung, Pauperismus, Dechristianisierung, „moralischer Verfall“). Die Missionare versuchten schon früh, „rein christliche“ Orte in Afrika aufzubauen, die nach ihren Vorstellungen von christlichem Leben organisiert waren. Gleichzeitig kämpften sie nicht nur gegen Sklavenhandel und Sklavenhaltung, sondern auch sehr intensiv gegen den Branntweinhandel und andere als zum „moralischen Verfall“ führend wahrgenommene und aus Europa importierte Praktiken.⁵¹ Als die Afrikanerinnen und Afrikaner sich nicht schnell und in Scharen zu der von den Missionaren propagierten Form christlichen Lebens bekehren ließen, setzte eine Zeit der Desillusionierung ein. Nun wurden afrikanische Religionen, Kulturen und Menschen nicht mehr so positiv wahrgenommen. Parallel zu diesen Erfahrungen und größtenteils unabhängig von ihnen fanden in Europa Theorien der Hierarchisierung von „Rassen“ immer weitere Verbreitung. Menschen mit schwarzer Hautfarbe landeten am unteren Ende der Skala, obgleich sie zuvor als die „guten Wilden“ als vorbildlich auch für Europa gegolten hatten.⁵² In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts veränderte sich die Missionstheologie erneut. Nun gab es, vereinfachend gesprochen, zwei Ansätze: Die eine Richtung suchte mit dem Christentum europäische, genauer: deutsche, britische, französische Kultur nach Afrika zu übertragen. Afrikanische Gemeinden sollten nach europäischem Vorbild gegründet und organisiert werden; das Luthertum in Afrika
Darauf wies schon der ursprüngliche Name der CMS „Society for Missions to Africa and the East“ hin. Eine explizite Begründung lieferte die erste Nummer der 1830 neu gegründeten Zeitschrift der CMS Church Missionary Record, 1, 1830, 1– 2. Vgl. z. B. Der evangelische Heidenbote, 1840, 89: „Seitdem hat es sich auch hinlänglich bewiesen, daß der Neger dieselbe Fähigkeit besitze, wie der Europäer“. Vgl. als ein Beispiel unter vielen, mit sprechenden Bildern und vor allem Bildunterschriften versehen: Der evangelische Heidenbote, 1914, 64– 66. Die Hermannsburger Mission trieb das Konzept der „christlichen“ Dörfer durch die Aussendung von explizit nicht akademisch gebildeten Landarbeitern und Handwerkern am weitesten. Vgl. z. B. Böhmer, August Hardeland, 173 – 175. Vgl. z. B. U. Frevert, Eurovisionen. Ansichten guter Europäer im 19. und 20. Jahrhundert, Fischer 60146: Europäische Geschichte, Frankfurt am Main, 2003, 82.
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sollte aussehen fast wie das Luthertum in Deutschland.⁵³ Damit konnte die Einheit lutherischer Kirchen weltweit gestärkt werden, aber es bedeutete auch einen Export deutscher Kultur, und dies war durchaus bewusst und gewollt. Die Mission stand teils im Dienst des Imperialismus, teils nutzte sie koloniale und imperiale Strukturen für ihre Arbeit. Die Missionare und Missionarinnen verstanden sich um die Jahrhundertwende immer stärker auch als Deutsche (Engländer, Franzosen, Schweden). Daneben stand eine andere Richtung der Mission, die, gerade weil auch in Europa die Nation, das „Volk“, immer wichtiger wurde, in den Missionsgebieten ebenfalls die Bedeutung der einheimischen Kultur, der Sprache, all dessen, was man unter „Volk“ verstand, in den Vordergrund stellte. Das Christentum sollte in die indigene Kultur integriert werden (und diese dann von innen heraus verändern). Dafür hielt man es für notwendig, die Kultur vor Ort zu erhalten. Ein Beispiel für diese Art der lutherischen Mission ist Bruno Gutmann (1876 – 1966), der von 1902 bis 1938, unterbrochen durch eine Ausweisung 1920 – 1926 infolge des Ersten Weltkriegs, am Kilimandscharo im heutigen Tansania arbeitete, nach einer Einarbeitungsphase erst bei den Chagga in Masama und später in Moshi. Gutmann wurde von der Leipziger Mission ausgesandt, stand theologisch in der Tradition von deren erstem Missionsinspektor Karl Graul (1814– 1864) und war zudem stark von dem Inhaber des ersten Lehrstuhls für Missionswissenschaft in Deutschland, Gustav Warneck, beeinflusst. In dieser Tradition betonte auch Gutmann die Bedeutung des Volkes, des „Volkscharakters“ und der lokalen Traditionen für die Christianisierung. In Masama und Moshi bemühte er sich daher um die Erhaltung der indigenen Kultur. Dies führte einerseits dazu, dass er traditionelle Geschichten und Erzählungen sammelte und verschriftlichte. Dadurch besitzen die Chagga heute Aufzeichnungen ihrer Geschichte, die sonst wohl verloren wären. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als eine Rückbesinnung auf die Tradition stattfand, waren diese von Gutmann und anderen Missionaren gesammelten Traditionen eine wichtige Quelle. Andererseits hatte gerade die Hochschätzung der indigenen Kultur für die Chagga negative Folgen. Gutmann, der die Kultur bewahren wollte, verhinderte damit auch aktiv eine kulturelle Entwicklung der Chagga. Der konservative Missionar wollte auch hier die Vergangenheit bewahren. Manche fortschrittsorientierte Chagga wandten sich deshalb von der Mission ab. Sie suchten ihren Einfluss und ihre Bedeutung zu stärken, indem sie sich europäisch kleideten, europäische Sprachen – vor allem Englisch – sprachen und europäische Praktiken übernahmen. Gutmann indessen suchte dies zu verhindern.⁵⁴ Die Bewahrung der indigenen Kultur ging mit einer Verweisung der indigenen Menschen an eine den Europäern untergeordnete Stelle einher. Beides, Kultur und Hierarchie, sollten erhalten bleiben. Zur Mimesis und der Erwartung, dass Afrikaner und Afrikanerinnen Europäern eben doch nicht völlig gleich wurden, vgl. insbesondere H. K. Bhabha, The Location of Culture, 2. Aufl., Hoboken, 2012 (1994), 121– 131. Vgl. K. Fiedler, Christentum und afrikanische Kultur. Konservative deutsche Missionare in Tanzania 1900 – 1940, Missionswissenschaftliche Forschungen 16, Gütersloh, 1983, 111.
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Für die politische wie die kirchliche Ordnung bedeutete dies, dass Personengruppen an Einfluss gewannen, die zuvor eine niedrigere Leitungsfunktion eingenommen hatten. Nicht in der ekklesiologischen Theorie, aber in der Praxis der Gemeinde erhielten zum Beispiel in Moshi die Kirchenältesten, die den Missionar unterstützten, immer mehr Gewicht, während die Lehrer und andere hauptamtliche Mitarbeiter an Einfluss verloren.⁵⁵ Theologisch bedeutete es, dass Gutmann eine auf die Chagga-Kultur, wie er sie wahrnahm, bezogene Theologie entwarf, die in der europäischen Christentumsgeschichte ausgebildete Elemente mit solchen der Chagga-Kultur verband. Im Zentrum seiner theologischen Verkündigung stand die Gemeinschaft, wegen der großen Bedeutung der Gemeinschaft für die Chagga. In diesem Topos sah Gutmann eine Möglichkeit, Christentum und indigene Kultur zu verbinden. Die Betonung der Gemeinschaft und insbesondere ihre Hervorhebung als unbedingt zu bewahrendes Element der indigenen Kultur implizierte für Gutmann, dass keine soziale Differenzierung stattfinden durfte. Dies war ein weiterer Grund, warum er eine Entwicklung der Chagga ablehnte, ebenso wie eine soziale Stratifizierung (die zudem seine herausgehobene Stellung als weißer Missionar im Laufe der Zeit relativiert hätte). Die Bewahrung von Kultur bedeutete in Gutmanns Interpretation Bewahrung der Vergangenheit – ein Verständnis, das die Mitglieder seiner Frömmigkeitsströmung auch in Europa vertraten. Im afrikanischen Kontext legten die europäischen Missionare und Missionarinnen diese Auffassung so aus, dass sie selbst entschieden bzw. zu entscheiden suchten, welche Elemente afrikanischer Kulturen wichtig und bewahrenswert seien. Die Hochschätzung afrikanischer Kulturen ging daher um die Wende zum 20. Jahrhundert allzu oft mit einer Entmündigung afrikanischer Menschen einher. Diese Form der Indigenisierung lutherischer Kirchen durch die Zentralstellung des „Volkes“ stärkte freilich auch die Bewusstwerdung der Bedeutung von Volk und Nation in Afrika. Frühe Fürsprecher afrikanischer Unabhängigkeit, kirchlich wie politisch, waren häufig in Missionsschulen ausgebildet oder auf andere Weise in engem Kontakt mit Missionen aufgewachsen, die solche auf die Vermittlung in die indigene Kultur bedachte und von der Hochschätzung des Volkskonzepts geprägte Strategien verfolgten. Die Entmündigung afrikanischer Christinnen und Christen in Verbindung mit der Nationalisierung gehörte zudem zu den Faktoren, die zur Gründung von AICs führten. Mission war aber von Beginn an nicht nur ein europäisches Unternehmen. Schon die erste Generation afrikanischer Konvertitinnen und Konvertiten wirkte selbst missionarisch. Je länger das Christentum in einer Region existierte, desto zentraler wurde die Rolle indigener Christinnen und Christen bei seiner Verbreitung. Für Tansania und
Vgl. ebd., 52.
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insbesondere für die Chagga zeigte sich dies ab der Mitte der 1910er Jahre.⁵⁶ Bemerkenswert ist, dass die Chagga sich selbst primär als Lutheraner und erst sekundär als Christinnen und Christen verstanden. Die konfessionelle Bindung war dieser Gruppe so inhärent, dass Christentum und Luthertum gleichgesetzt wurden.⁵⁷ Diese Prägung vermittelten sie auch in ihren Missionen. Die Mission unter den Maasai, ebenfalls in Tansania, begann 1904 in der Region von Arusha⁵⁸ und 1927, in der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts, in größerem Umfang. Die vor dem Ersten Weltkrieg durch deutschsprachige Missionare gegründeten afrikanischen Gemeinden hatten inzwischen Selbstständigkeit erfahren. Unter den Maasai waren neben den Leipziger Missionaren von Beginn einheimische Evangelisten aus anderen Gebieten Tansanias tätig. Ihre Mitwirkung trug wesentlich zum Gelingen der Mission unter den Maasai bei, deren nomadischer Lebenswandel den deutschen Missionaren nicht nur fremd war, sondern auch ihrer Auffassung von Sesshaftigkeit als grundlegend für ein christliches Leben widersprach.⁵⁹ Auch hier wurden die ekklesiologischen Konzeptionen in den lokalen Kontext übersetzt: Kirche als „the New Brotherhood of God“.⁶⁰ Die Maasai-Vorstellung der Brüderschaft (orporror) als Zusammenhalt innerhalb einer Altersgruppe wurde dabei ausgeweitet auf die Gemeinschaft aller Christen.
5 Afrikanische lutherische Kirchen und AICs Afrikanische lutherische Kirchen sind in der Regel aus einer bestimmten Mission hervorgegangen; die Evangelisch-Lutherische Kirche in Tansania (ELCT) zum Beispiel besteht aus einem Zusammenschluss der früheren Missionskirchen von EMDOA / Bethel Mission, Berliner und Leipziger Missionsgesellschaft sowie lutherischer Missionen aus Skandinavien und den USA.⁶¹ Die meisten afrikanischen lutherischen Kirchen beziehen sich positiv auf ihre Missionsgeschichte und betonen die Gemeinsamkeiten. Manche fühlen sich dem lutherischen Erbe stärker verbunden als sie es in heutigen europäischen lutherischen Kirchen finden. Der Einfluss der europäischen Missionen hat sich in einigen dieser Kirchen lange gehalten.
Vgl. G. S. Maanga, Church Growth in Tanzania: The Role of Chagga Migrants within the Evangelical Lutheran Church in Tanzania, Makumira Publication 20, Neuendettelsau, 2012. Vgl. ebd., 18, 404. Vgl. zur Mission in Arusha Parsalaw, History of the Lutheran Church. Zur Maasai-Mission vgl. Mtaita, Wandering Shepards; Ch. Kiel, Christen in der Steppe. Die MáasaiMission der Nord-Ost-Diözese in der Lutherischen Kirche Tansanias, Erlanger Monographien aus Mission und Ökumene 25, Erlangen, 1996. Zur Sesshaftigkeit vgl. J. Becker, „‚Gehet hin in alle Welt …‘. Sendungsbewusstsein in der evangelischen Missionsbewegung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, in: „Evangelische Theologie“, 72, 2012, 134– 154. Vgl. Mtaita, Wandering Shepards, 162. Vgl. Katabaro, „Ist das noch lutherisch?“ 83 – 84. Die ELCT wurde 1963 gegründet.
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Grob kategorisierend können drei Arten von afrikanischen Kirchen unterschieden werden: konservativ konfessionelle Kirchen, moderat traditionelle Kirchen und AICs, welche ihrerseits, nach einer mehr als hundertjährigen Geschichte, konservative Züge angenommen haben können. Als Gegenbewegung zu den Missionskirchen entstanden ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts AICs.⁶² In Basutoland wurde 1872 eine AIC gegründet.⁶³ Große Sichtbarkeit erlangten sie ab den 1890er Jahren. Sie grenzten sich vom kulturellen, theologischen und zumeist auch vom konfessionellen Erbe der europäischen Missionen ab; die meisten stellten als afrikanisch wahrgenommene Charakteristika in den Vordergrund. Dazu gehören bestimmte Praktiken wie die Polygamie ebenso wie ein spezifischer Umgang mit Geistern, das Interesse an Heil und Heilung sowie weitere Fragen, die in Europa seit der Aufklärung in den meisten protestantischen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften in den Hintergrund getreten sind.⁶⁴ Eine Disziplinierung der AICs mithilfe einer Kategorisierung ist mehrfach versucht worden. Einer der ältesten Ansätze stammt von dem schwedischen Missionswissenschaftler und ehemaligen Bischof in Tansania Bengt Sundkler (1908 – 1995). Er unterschied zwei Typen von AICs: äthiopische und zionistische Kirchen.⁶⁵ Die äthiopischen Kirchen ähnelten den Missionskirchen häufig in Ekklesiologie und Theologie – unter Verwendung von als genuin afrikanisch verstandenen Elementen. Die zionistischen Kirchen seien zumeist den Pfingstkirchen zuzuordnen. Geisterfahrungen und Heilungen stünden hier im Vordergrund. In den 1890er Jahren entstand die Vorstellung der äthiopischen Kirche als genuin afrikanischer Kirche, die zum Vorbild mancher anderer afrikanischer Kirchen wurde.⁶⁶
Zur Soziologie dieser Kirchen vgl. u. a. W. Korte, Wir sind die Kirchen der unteren Klassen. Entstehung, Organisation und gesellschaftliche Funktionen unabhängiger Kirchen in Afrika, Studien zur interkulturellen Geschichte des Christentums 15, Frankfurt a.M., 1978.Vom Primas einer der größten AICs stammt der Überblick R. O. O. Ositelu, African Instituted Churches. Diversities, Growth, Gifts, Spirituality and Ecumenical Understanding of African Initiated Churches, Beiträge zur Missionswissenschaft und Interkulturellen Theologie 18, Hamburg, 2002. Vgl. Hohmann, Auf getrennten Wegen, 195. Mazambara, Self-Understanding, 23, datiert die früheste AIC auf 1815. Eine kontexualisierende Diskussion der Polygamie findet sich bei Mtaita, Wandering Shepards, 211– 231; zur Besessenheit vgl. ebd., 236 – 254. B. Sundkler, Bantupropheten in Südafrika, Die Kirchen der Welt. Reihe B 3, Stuttgart 1964, bes. 60 – 67. Zur Rolle von Aposteln in AICs vgl. Mazambara, Self-Understanding; dort auch 52– 76 eine Darstellung unterschiedlicher Typologisierungsansätze. E.W. Blyden, African Life and Customs. Reprinted from the Sierra Leone Weekly News, London, 1969; J. Hanciles, „Back to Africa: White Abolitionists and Black Missionaries“, in: O. U. Kalu (Hg.), African Christianity. An African Story, Perspectives on Christianity Series 5, 3, Pretoria, 2005, 191– 216; O. U. Kalu, „Ethiopianism in African Christianity“, in: ders. (Hg.), African Christianity. An African Story, Perspectives on Christianity Series 5, 3, Pretoria, 2005, 258 – 277; ders., „West African Christianity. Padres, Pastors, Prophets, and Pentecostals“, in: Ch. E. Farhadian (Hg.), Introducing World Christianity, Chichester, West Sussex / Malden, MA, 2012, 36 – 50. In Äthiopien existierte eine große orthodoxe Kirche. Ab dem Beginn des 19. Jahrhunderts begannen
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Im Rückgriff auf Psalm 68,32, in dem Kusch (Nubien, Ägypten) „seine Hände ausstrecken [werde] zu Gott“,⁶⁷ wurde der äthiopischen Kirche die älteste Tradition zugesprochen. Zudem hatte Äthiopien als einziges afrikanisches Land eine europäische koloniale Invasion zurückgeschlagen.⁶⁸ Die AICs, die den Paternalismus der europäischen Missionare und Missionarinnen aktiv zurückweisen wollten und gleichzeitig Wert auf Tradition legten, bezogen sich auf die äthiopische Kirche.⁶⁹ Gemeinsam ist insbesondere den konservativ konfessionellen Kirchen und manchen AICs ein strenger Biblizismus. Hinzu kommt eine Theologie, die häufig weniger auf einem theologischen System beruht, als vielmehr auf bestimmten Praktiken, und aus diesen generiert wird. „Doing theology“ wird zumeist als wichtiger erachtet, denn theologische Theorie und Systematik. Dies verbindet sich mit einer spezifischen Form von Biblizismus, wenn versucht wird, Antworten auf gegenwärtige Probleme direkt aus der Bibel abzuleiten.⁷⁰ Ein drittes Charakteristikum vieler afrikanischer Kirchen ist eine explizite Auseinandersetzung mit Fragen von Spiritualität und Geisterglauben. Die Ansätze konnten variieren, aber in den meisten Regionen und Kirchen Afrikas wurden die europäischen – aufgeklärten – Antworten als nicht befriedigend wahrgenommen, ja häufig fühlten sich afrikanische Christinnen und Christen von den europäischen Missionen nicht ernst genommen – ein weiterer Grund für die Gründung von AICs. Zudem entstanden viele AICs aus spirituellen bzw. prophetischen Bewegungen.⁷¹ Am Ende des 20. Jahrhunderts lehnten fast alle AICs Weissagung und Zauberei ab; ihre Haltung zu Ahnenverehrung war hingegen nicht so eindeutig.⁷² Die AICs haben in Afrika eine so große Zahl an Mitgliedern und einen so weitreichenden Einfluss, dass der in Zimbabwe aufgewachsene Missionswissenschaftler Allan Anderson sie um die Wende zum 21. Jahrhundert mit der europäischen Refor-
evangelische Missionsgesellschaften, dort zu arbeiten. Im 20. Jahrhundert hatten vor allem verschiedene lutherische Missionen Erfolg, insbesondere unter denjenigen, die nur zur leitenden Gruppe, den Amhara, gehörten. 1959 wurde die Ethiopian Evangelical Church Mekane Yesus (EECMY) gegründet, 1969 umbenannt in Evangelical Church Mekane Yesus in Ethiopia (ECMY). Dabei handelt es sich um eine lutherische Unionskirche. Vgl. G. Are´n, Evangelical Pioneers in Ethiopia. Origins of the Evangelical Church Mekane Yesus, Studia Missionalia Upsaliensia 32, Stockholm / Addis Abeba, 1978; Ø. M. Eide, Revolution & Religion in Ethiopia. The Growth & Persecution of the Mekane Yesus Church, 1974 – 85, Eastern African Studies, Oxford [u. a.], 2000; O. Sæverås, On Church-Mission Relations in Ethiopia 1944 – 1969 with special reference to the Evangelical Church Mekane Yesus and the Lutheran Missions, Oslo, 1974. Im heutigen Äthiopien werden unter anderen kuschitische Sprachen gesprochen. Vgl. A. Anderson, African Reformation. African Initiated Christianity in the 20th Century, Trenton, NJ, 2001, 16. Vgl. Pobee und Ositelu, African Initiatives, 21– 23. Vgl. Anderson, African Reformation, 222. Vgl. ebd., 34. Vgl. ebd., 195, 202.
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mation des 16. Jahrhunderts verglich. Sie hätten für das weltweite Christentum eine ähnlich umfassende Bedeutung wie die Reformation.⁷³
6 Theologie in Afrika in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Christliche Theologie in Afrika zeichnet sich durch eine große Bandbreite aus. Auf die sehr unterschiedlichen Einflüsse der verschiedenen Missionsgesellschaften und Missionarinnen und Missionare reagierten afrikanische Christinnen und Christen nochmals in Verschiedenheit, sodass sich die Ansätze und Positionen vervielfältigten. Hier sollen im Folgenden vier Richtungen vorgestellt werden: konservativ konfessionelle Positionen aus bewusst lutherischen Kirchen, ergänzt von einem lutherischen Ansatz, der aufzuzeigen versucht, wie lutherische Lehren in den afrikanischen Kontext übertragen werden könnten, Konzeptionen der Black Theology sowie Theologien, die Gemeinsamkeiten zwischen afrikanischer und europäischer Christentumsgeschichte herausarbeiten und dabei auch auf reformatorische Erfahrungen in Europa zurückgreifen. Sie tun dies, um ein für das europäische Christentum zentrales Ereignis in ihre Theologie zu integrieren und so erst recht im Sinne einer World Christianity die Gemeinsamkeiten herauszustreichen. Konservativ konfessionelle lutherische Theologie in Afrika blickt auf die im 19. Jahrhundert als „echt“ christlich vermittelte lutherische Theologie. Ihr Bezugspunkt ist die jeweilige Gründungsgeschichte ihrer Kirche. Dadurch werden sowohl im theologischen Denken als auch in ekklesiologischer Ordnung und ethischen Haltungen Positionen zugrunde gelegt, die im europäischen erweckten lutherischen Konfessionalismus des 19. Jahrhunderts wurzeln. Eine Entwicklung weg von den Konzeptionen der Missionare des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts sieht diese Theologie als Abfall vom „echten“ Glauben. Dies gilt zum einen für Entwicklungen in Afrika, wenn zum Beispiel traditionelle Musik in Gottesdienste aufgenommen wird, und zum anderen ebenso für Entwicklungen in Europa und im weltweiten Christentum. Dazu gehören auch im Lutherischen Weltbund vertretene Positionen. Brighton Juel Katabaro, Pfarrer in der Evangelical Lutheran Church in Tanzania (ELCT), sieht „das lutherische Erbe“ gefährdet durch die Predigt vom Wohlstandsevangelium, durch Heilungsgebete und Dämonenaustreibung ebenso wie durch „Geschrei beim Gebet“. „Generell fehlt die Stille im Gottesdienst, die wir als ELCT von den lutherischen Missionaren geerbt haben“.⁷⁴ Die Ursache für diese Veränderungen findet er in dem Einfluss von pfingstlerischen und charismatischen Kirchen, deren Praktiken auch in der ELCT aufgenommen würden. Sein Anliegen ist, die lutherische Tradition, wie sie im europäischen Gewand vermittelt wurde, zu erhalten, wobei ihm Vgl. ebd., 4, 7. B. J. Katabaro, „Ist das noch lutherisch?“, 84, 86 – 87.
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das europäische Gewand ganz im Sinne der ersten Missionare unbewusst als konstitutiv für die lutherische Lehre gilt. Im Namen der Evangelical Lutheran Church in Kenya (ELCK) sprach Bischof Walter Obare Omwanza 2004 in Wittenberg über die Verteidigung als „echt“ wahrgenommener lutherischer Positionen durch seine Kirche.⁷⁵ Als richtig galten ihm die Lehren, die lutherische deutsche und skandinavische Missionare und Missionarinnen aus pietistischen Traditionen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in den Gebieten vertraten, die heute zu Kenia gehören. Diese scheinen stärker noch als genuin reformatorische lutherische Lehren die Definition von „Luthertum“ in der ELCK bzw. der Strömung innerhalb der ELCK zu bilden, die Obare Omwanza vertritt. Aus konfessionellen theologischen, kirchenpolitischen und ethischen Gründen werden Unionen und Ökumene ebenso abgelehnt wie zum Beispiel der Lutherische Weltbund, dem Obare Omwanza vorwirft, zentrale lutherische Positionen aufgegeben zu haben. Die Ablehnung der Frauenordination und der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre führt er als Belege für die Bekenntnistreue seiner Kirche an.⁷⁶ Wie wenig diese Positionen in Europa als vermittelbar gelten, zeigt die einführende Fußnote zum Beitrag Obare Omwanzas in den konfessionell-konservativen Lutherischen Beiträgen der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland: „Naturgemäß sieht ein Afrikaner die Strömungen, die die neuere Geschichte, Philosophie und Theologie in Europa bewegt haben, mit seinen Augen“.⁷⁷ Die Fußnote illustriert gleichzeitig eine Distanzierung der Herausgeber von den im Artikel vertretenen Positionen und das Werben um Verständnis. Sie weist aber auch auf das erwartete Überlegenheitsgefühl deutschsprachiger Leserinnen und Leser hin, die diesen Beitrag als rückständig empfinden könnten. Neben diesen konservativen Entwürfen stehen einige wenige Ansätze, die aus dezidiert lutherischer Sicht und auf genuiner Lutherforschung beruhend Perspektiven für eine konfessionelle nicht-konservative afrikanische lutherische Theologie aufzeigen.⁷⁸ Tom Joseph Omolo gab in einem Aufsatz 2014 einen kurz gefassten Überblick über lutherische Lehren und ihre mögliche Bedeutung im afrikanischen Kontext. Als Beispiel nannte er unter anderem das Verständnis vom Menschen als relationales Wesen. „Such an anthropological framework would perhaps be more applicable to African socio-religious life than to any other continent in the twenty-first century“.⁷⁹
Vgl. W. O. Omwanza, „Konfessionelles Luthertum in Ostafrika“, in: Lutherische Beiträge 10, 2005, 43 – 51. Vgl. ebd., 49. Ebd., 43. Vgl. T. J. Omolo, „Luther in Africa“, in: R. Kolb, I. Dingel, L. Batka (Hg.), The Oxford Handbook of Martin Luther’s Theology, Oxford, 2014, 621– 626, hier: 621. Vgl. auch K. G. Appold, „Luther’s Abiding Significance for World Protestantism“, in: R. Kolb, I. Dingel, L. Batka (Hg.), The Oxford Handbook of Martin Luther’s Theology, Oxford, 2014, 598 – 610. Vgl. ebenfalls die Darstellung der Theologie Naaman Láisers bei Christel Kiel. Ch. Kiel, Christen in der Steppe, 357– 369. Omolo, „Luther in Africa“, 623.
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Bisher konnten sich solche Ansätze jedoch weder innerhalb der weltweiten lutherischen Gemeinschaft noch innerhalb der afrikanischen Theologien besonderes Gehör verschaffen. Sehr einflussreich für viele afrikanische Theologien waren befreiungstheologische Entwürfe der Black Theology. Sie nutzten aus der lateinamerikanischen Befreiungstheologie kommende Ansätze und verbanden sie mit spezifisch afrikanischen Erfahrungen. Als Beispiel sei hier einer der wirkmächtigsten Vertreter der Black Theology angeführt, der südafrikanische Theologe Allan Aubrey Boesak. Aus der Erfahrung der Apartheid, in der selbst schwarze und weiße Kirchen einer Konfession getrennt waren und schwarze von weißen Christen unterdrückt wurden, entwickelte er im Gespräch mit der Bibel und der christlichen Tradition eine Theologie, die die Erfahrung der Unterdrückung (des „Schwarz-Seins“) ins Zentrum stellt. Wie die lutherische Tradition (doch ohne direkten Bezug auf sie) erklärte er die Rechtfertigungslehre zum Zentrum des Glaubens.⁸⁰ Hier ist die Rechtfertigung nicht primär als geistliche Gerechtsprechung zu verstehen, sondern Boesak erklärte „God’s liberation of the oppressed“ als „the truth of the biblical revelation“.⁸¹ Davon ausgehend entwickelte er eine Ethik der Befreiung und Gleichstellung aller Menschen. Sein Ansatz illustriert in Bezug auf lutherische Lehre und Leben zweierlei: Zum einen wurde hier die Rechtfertigungslehre für den afrikanischen Kontext fruchtbar gemacht, von einem anderen Hintergrund kommend und mit viel mehr direkten politischen und sozialen Implikationen als knapp vierzig Jahre später in einer ausdrücklich lutherischen Theologie von Omolo. Selbstverständlich ist die Rechtfertigungslehre kein ausschließlich lutherischer Ansatz, und Boesak selbst gehörte der Nederduitse Gereformeerde Kerk an. Dass die Rechtfertigungslehre so deutlich ins Zentrum der Theologie gerückt wurde, aber verwies auf die Reformation und bietet einen Ansatzpunkt für reformatorisch-befreiungstheologische Gespräche. Zum anderen beschäftigte Boesak sich auch explizit mit der Christentumsgeschichte. Er beschrieb sie als Verfallsgeschichte, die aus der vorkonstantinischen Kirche, in der alle Menschen gleich gewesen seien, zur Staatskirche wurde, die zwischen den Menschen diskriminierte. Den Reformatoren warf er vor, sich weder für Menschen außerhalb Europas interessiert zu haben, die auch damals schon versklavt und unterdrückt wurden, noch sich für die innerhalb Europas Unterdrückten (die nach Boesaks Definition ebenfalls als „black“ gelten) engagiert zu haben. Für die Wirkungsgeschichte war sicher weniger wichtig, ob diese Sicht wissenschaftlich korrekt ist, als ihre Einbettung in einen überzeugenden theologischen Entwurf, der die Reformationsgeschichte auf die Erfahrungen der schwarzen Menschen in Afrika bezog.
Vgl. auch E. Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens. Eine theologische Studie in ökumenischer Absicht, Tübingen, 1999. A. A. Boesak, Farewell to Innocence. A Social-Ethical Study of Black Theology and Black Power, New York, 1977, 105.
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Die Frage, wie europäische und afrikanische Religionsgeschichte im Sinne einer World Christianity in Beziehung gesetzt werden können, beschäftigte insbesondere den ghanaischen Theologen Kwame Bediako (1945 – 2008). Er suchte nach einem Weg, die afrikanische Religionsgeschichte als integralen Teil der weltweiten Christentumsgeschichte – der sie ist – darzustellen und Gemeinsamkeiten in der Geschichte hervorzuheben.⁸² In diesem Sinne ging er in einem Aufsatz 2011 auch explizit auf die Reformationsgeschichte ein – einer der sehr wenigen solcher Ansätze von einem afrikanischen Theologen.⁸³ Wie Boesak fand er strukturelle Parallelen, aber auf einer ganz anderen Ebene: in der kulturellen Vermittlung. Wie es im gegenwärtigen Afrika Aufgabe der Theologie sei, den durch eine lange europäische Geschichte geprägten christlichen Glauben in afrikanischen Kulturen zu vermitteln und zu übersetzen, so sei die Reformation eine Zeit gewesen, in welcher der durch eine lange universitäre und monastische Tradition geprägte lateinische Glaube in die Sprachen der „Barbaren“ im Norden vermittelt und übersetzt worden sei.⁸⁴ In beiden Fällen handele es sich um eine Überschreitung kultureller Grenzen. Mit der Bezeichnung der ungebildeten Christinnen und Christen im Europa der Reformationszeit als „Barbaren“ weist Bediako auf eine weitere Parallele zwischen Afrikanerinnen und Afrikanern und Menschen des 16. Jahrhunderts hin – in der Wahrnehmung, nicht im Sein – und verweist zugleich die Europäerinnen und Europäer auf ihren Platz, um dann einen Dialog unter Gleichen zu beginnen.
7 Die lutherische Reformation und Afrika: theologische Perspektiven Die Geschichte des Luthertums in Afrika ist lang und vielfältig. Heute gibt es lutherische Kirchen, die Mitglieder in ökumenischen Gemeinschaften sind, solche, die Mitglied im Lutherischen Weltbund sind, und diejenigen, die wie die ELCK dem Lutherischen Weltbund vorwerfen, die Basis der lutherischen Lehre verlassen zu haben. Daneben stehen nicht nur Kirchen anderer Denominationen westlicher Provenienz, sondern auch genuin afrikanische AICs, und in der Theologie werden afrikanische Anliegen zumeist – nicht immer! – als wichtiger erachtet denn konfessionelle Unterscheidungslehren. Sowohl die bewusste Zugehörigkeit zur lutherischen Kon-
In diesem Sinne auch schon in seiner Dissertation: K. Bediako, Theology and Identity. Vgl. K. Bediako, „Conclusion: The Emergence of World Christianity and the Remaking of Theology“, in: W. R. Burrows, M. R. Gornik, J. A. McLean (Hg.), Understanding World Christianity. The Vision and Work of Andrew F. Walls, Maryknoll, NY, 2011, 243 – 255. Ausführlicher zur Historiographie und afrikanischer Theologie ist ders., Christianity in Africa. The Renewal of a Non-Western Religion, Studies in World Christianity, Edinburgh, 1995. Vgl. Bediako, „Conclusion“, 249. Zu Übersetzungen im Christentum, ebenfalls unter Bezug auf die Reformationsgeschichte, vgl. grundlegend L. O. Sanneh, Translating the Message. The Missionary Impact on Culture, 2. Aufl., American Society of Missiology Series 13, Maryknoll, NY, 2001 (1989).
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fession als auch die bewusste Abgrenzung vom westlichen Konfessionalismus haben sich in der Begegnung mit westlicher Mission und im Gespräch mit durch die europäische Geschichte geprägter Theologie entwickelt. Eine Strömung innerhalb der breit gefächerten afrikanischen Theologie sucht Ansätze zu entwickeln, afrikanische mit westlichen Anliegen ins Gespräch zu bringen oder unter Rückbezug auf die europäische Christentumsgeschichte und insbesondere die Reformation als zentralem Ereignis in der Geschichte des Protestantismus die Christentumsgeschichtsschreibung selbst global zu gestalten. Es werden Gemeinsamkeiten aufgezeigt, um auf diese Weise Verbindungen zwischen Afrika und dem Westen hervorzuheben. An dieser Stelle können westliche Theologien im Allgemeinen und lutherische Theologie im Besonderen ansetzen. Im Dialog mit lutherischen Theologien aus Afrika sowie mit überkonfessionellen afrikanischen Theologien können Ansätze entwickelt werden, welche Erkenntnisse und Erfahrungen der Reformation zukunftsfähig in die Gegenwart vermitteln. Dies gilt sowohl für die theologische Interpretation der Lehre Luthers und der Reformation als auch für die kulturellen Transfers, die im 16. Jahrhundert mit der Reformation einhergingen und die immer wieder aufs Neue vollzogen werden müssen. Für die christentumsgeschichtliche Forschung bedeutet dieser Ansatz eine Konzentration auf gemeinsame Themen und Anliegen ebenso wie die Hervorhebung und Vermittlung der Diversität, die die mancherorts noch vorhandene wechselseitige eindimensionale Wahrnehmung von „Afrika“ oder „der“ Reformation ersetzen muss. Dies widerspricht einer monolithischen Luther-Darstellung ebenso wie der Fixierung auf einen bestimmten Zustand. Die Voraussetzung für einen solchen Dialog, eine genaue historische Kontextualisierung von Reformation wie von Kulturen und Religionen in Afrika, ist vielerorts geleistet. Die gegenseitige Vermittlung der Ergebnisse steht zumeist noch aus. Dies aber könnte der Lutherforschung sowie der Untersuchung der Geschichte des weltweiten Luthertums nicht nur in Afrika, sondern auch im Westen, wertvolle Impulse geben.
Daniel Jeyaraj
Luther in Asien: Indien 1 Die rechtliche Grundlage des Luthertums in Indien Die Geschichte des Luthertums in Indien begann mit der Eintragung der Rechtsvorschrift in das Handelsabkommen der dänischen Kolonie von Tranquebar, welche auf der Coromandelküste, im Südosten Indiens, lag. König Ragunatha Nāyak von Tanjore unterschrieb im November 1620 dieses Abkommen mit Ove Giedde, dem Oberhaupt der dänischen Schiffe, welche von Sri Lanka zurückgekommen waren. Laut dem dritten Paragraphen dieses Abkommens, durften die Dänen in Tranquebar ihren Glauben – „Religion von Augsburg“ genannt – frei ausüben. Die Angestellten der Danish East India Company, bemühten sich sowohl mit den Hindus als auch den Muslimen des Königreichs von Tanjore politische, militärische, Handels- und andere wichtige Beziehungen aufzubauen. Der Augsburger Religionsfrieden (von 1555), welcher die Kriege zwischen den Lutheranern und den Katholiken mit der Übereinkunft cuius regio, eius religio („Wessen Gebiet, dessen Religion“) im westlichen Europa beendete, galt nicht für das dänische Gebiet von Tranquebar. Der elfte Paragraph des zuvor genannten Handelsabkommens sah vor, dass die Dänen zu den portugiesischen Händlern, Verwaltern und portugiesisch sprechenden Christen freundliche Beziehungen aufrechterhalten sollten. Diese lebten in vielen Gebieten des Tanjore Königreiches und entlang der Coromandelküste. Die in Tranquebar lebenden römisch-katholischen Christen hatten ihre eigenen Gemeinden. Auf der anderen Seite machten die ansässigen Muslime einen bedeutenden Anteil der Bevölkerung in Tranquebar aus, die in zwei verschiedenen Moscheen beteten. Ihre Händler spielten eine wichtige Rolle bei der Etablierung des dänischen Handels. Andere indische Bewohner Tranquebars gehörten diversen bhakti Religionen an, wie zum Beispiel dem Śaivismus, Vaiṣṇavismus und dem Śaktismus. Sie unterhielten 51 Tempel, die den unterschiedlichen Göttinnen und Göttern des Śaivismus und Vaiṣṇavismus gewidmet waren. Einer dieser Tempel befand sich in der Nähe des offiziellen Sitzes des Gouverneurs von Tranquebar, der den Glockenschlag dieses Tempels hören konnte. Der Mācilāmaṇinātar Tempel, welcher mittlerweile von den gewaltigen Wellen des Meeres ramponiert und zerstört ist und dem Śiva, dem Gott der makellosen Form gewidmet war, verkörperte einen wichtigen sozialen und religiösen Treffpunkt im Leben der Einwohner Tranquebars. Weil deren Existenz an dem Wohlwollen und der Kooperation der muslimischen und auch „hinduistischen“ Händler, Spione, Soldaten, Dolmetscher, dem Büropersonal und Anbietern anderer Leistungen
Übersetzung: Irene Askani.
https://doi.org/9783110498745-072
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hing, ignorierten die Verwalter der ersten Danish East India Company den Grundsatz cuius regio, eius religio. Sich im Ausland vollziehende Ereignisse, wie zum Beispiel der dreißigjährige Krieg (1618 – 1648), verhinderten, dass dänische Schiffe nach Tranquebar reisen konnten (1640 – 1669). Nachdem die erste Danish East India Company aufgelöst worden war, wurde die zweite Danish East India Company (1670 – 1729) gegründet. Deren Verwalter, errichteten kühn die Zionskirche (1701) als den einzigen europäischen Ort für eine gemeinsame Anbetung.Weder die Anteil-Habenden in Kopenhagen, noch deren Verwalter in Tranquebar oder deren Kleriker, hatten daran Interesse, die lutherischen Lehren mit den indischen Nachbarn zu teilen oder sie aufzufordern, deren Kirche beizutreten. Die ethische, religiöse und moralische Schere zwischen den Europäern und den Indern in Tranquebar blieb weit aufgespannt und schien unüberwindbar.
2 Die Anfänge des Luthertums in Indien Die familiären Unruhen im königlichen Hause, welche durch die außereheliche Beziehung des Königs Friedrich IV. mit Elisabeth Helene von Vieregg (1679 – 1704) hervorgerufen wurden, beunruhigten dessen Mutter Charlotte Amelia, seine Frau, die Königin Louise von Mecklenburg (†1721) und seinen Hofprediger Franz Julius Lütkens (†1712). Dieser Vorfall regte auch die meisten Dänen auf. Bevor der Skandal aber verstummt war, beauftragte der König Lütkens mit der raschen Anwerbung von Lutheranern, die in den dänischen Kolonien außerhalb Europas missionarisch wirken sollten. Gleich daraufhin, bat Lütkens seinen pietistischen Freund, Joachim Lange (†1744) in Berlin, um Hilfe. Dieser überredete schnell seinen einstigen Schüler Bartholomäus Ziegenbalg, welcher sich zufällig zur gleichen Zeit in Berlin befand, die Einladung des Königs anzunehmen. Ziegenbalg überzeugte dann ebenfalls noch seinen sechs Jahre älteren Freund Heinrich Plütschau, ihn zu einem Treffen mit dem führenden Kleriker der dänisch-lutherischen Kirche, Bischof Henrik Bornemann (†1710), in Kopenhagen zu begleiten. Dieser mochte die Pietisten aber nicht und glaubte darüber hinaus, wie viele seiner Kollegen, die auch an der Universität von Wittenberg ausgebildeten worden waren, dass die Apostel Jesu Christi das Evangelium bereits weltweit gepredigt hätten. Deswegen sollte sich seiner Überzeugung nach kein Lutheraner anmaßen, ein Missionar zu werden. Selbst die römisch-katholischen Missionare, die zu dieser Zeit bereits in mehreren Teilen der Erde gearbeitet hatten, wurden für Betrüger gehalten. Dieses falsche apostolische Ideal beeinflusste König Friedrich IV. nicht. Er schritt persönlich ein und bestand auf seinem Entschluss, deutsche lutherische Pietisten zu Missionaren zu ernennen. So hatte der Bischof keine andere Wahl, als diese zu Missionaren zu ordinieren. Allerdings gliederte er sie nicht in die dänisch-lutherische Kirche ein. Als Folge dessen, blieb diese missionarische Unternehmung ein königliches Hoheitsrecht und die dänisch-lutherische Kirche hatte wenig, bis gar nichts damit zu tun.
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Es ist aber erwähnenswert, dass Ziegenbalg und Plütschau ihre Ordination gemäß dem Brauch der dänisch-lutherischen Kirche erhalten haben. Sie schworen, die Inder in nichts weiterem als den Lehren und Praktiken der dänisch-lutherischen Kirche zu unterweisen. Später, im Jahr 1709, dachte Ziegenbalg jedoch über den lutherischen Aspekt seiner missionarischen Arbeit nach und war daraufhin fest entschlossen, diese Arbeit im Geist und Eifer Martin Luthers hochzuhalten. Luther hatte die Bibel mit der Sicht seiner grundsätzlichen Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben interpretiert. Demzufolge zerstörte die Sünde der ersten Menschen Adam und Eva ihre Ebenbildlichkeit mit Gott. Das Heil, welches Jesus Christus durch seinen stellvertretenden Tod am Kreuz errungen hatte, würde dieses Abbild in seinen originalen Zustand nur in denen wiederherstellen, die durch die Gnade Gottes und durch ihren Glauben die Lehren Christi annahmen. Menschliche Leistungen, so gut und tugendhaft sie auch sein mögen, würden ihnen kein Heil garantieren. Schließlich ist das Heil ein Geschenk Gottes an jede büßende Person. Der kombinierte Effekt der vierfachen Maxime von Christus allein, der Schrift allein, der Gnade allein und dem Glauben allein, blieb ein immerwährendes Kennzeichen des Luthertums. Luthers Lehren über Gesetz und Evangelium, über die Zwei Reiche, über die guten Werke als Ausdruck der Dankbarkeit, von Gottes Gnade errettet worden zu sein, und Luthers Liebe für gemeinschaftliches Singen und die Musik, seine Befürwortung der Freiheit des Gewissens einer Person, seine hohe Achtung nicht-geistiger Werke, seine Lehre vom Priestertum aller Gläubigen und seine Befürwortung der Bildung für alle Menschen, faszinierten Ziegenbalg und seine Nachfolger in Tranquebar. Sie fanden den kleinen und den großen Katechismus wertvoll und benutzten ihn in ihrem Predigtamt. Ihrer Meinung nach fassten diese Katechismen Luthers Lehren zutreffend zusammen. Ziegenbalg und Plütschau, kannten zwar Luthers Theologie, lernten dann aber erst von lutherischen Pietisten wie Philipp Jacob Spener (†1705), August Hermann Francke (†1727), Johann Anastasius Freylinghausen (†1739) und anderen, die theologischen Prinzipien in wohltätige Werke umzuwandeln. Spener förderte die tief gefühlte Spiritualität und ihre greifbare Manifestation in der christlichen Gemeinschaft innerhalb der lutherischen Kirchen, ein bibelzentriertes Theologiestudium an der Universität und die verständliche Kommunikation der biblischen Botschaft für die normalen Menschen. Francke ging sogar einen Schritt weiter und verwirklichte die lutherische Theologie und Speners Lehren in anhaltenden Projekten, die das Leben der sozial benachteiligten Menschen seiner Zeit verbesserten. 1698 errichtete er ein Waisenhaus in Halle an der Saale, welches Straßenkinder aufnahm und diese an seiner Schule ausbildete und sie später auf die Universität schickte. Seine frei zugängliche Bibliothek und sein Kuriositätenkabinett ermöglichten es den Schülern, in ihren Studien voranzuschreiten und ihre Forschungen zu vertiefen. Er nutzte auch seine Kenntnis der biblischen Sprachen, um das Studium der Bibel zu fördern. Seine „tätige Nächstenliebe“ brachte Schulen, Herbergen, Krankenhäuser, eine Druckerei und eine Apotheke hervor. Er pflegte einen europaweiten Freundeskreis und verteilte unter diesem seine Publikationen. Seine Stiftungen wurden nicht nur zu einem wichtigen Zentrum für das Studium der Bibel und dem intellektuellen Streben nach Wissen,
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sondern auch für kulturelles Lernen, ebenso ein Zentrum der Philanthropie und der Unterstützung der Mission. Francke entschied sich aber weder wegen Ziegenbalg noch wegen Plütschau für die missionarische Arbeit in Indien. Diese waren auch bereits am Kap der Guten Hoffnung, als sie ihn über ihre missionarische Reise nach Tranquebar informierten. Er ergriff diese Gelegenheit und unterstützte sie und ihre Nachfolger, indem er alle missionarischen Korrespondenzen systematisch sammelte und in seinen Archiven aufbewahrte. Ab 1710 veröffentlichte er regelmäßig Auszüge aus missionarischen Schriften, welche als „Hallesche Berichte“ (1710 – 1770) bekannt wurden. Freylinghausen trat dann nach Franckes Tod die Nachfolge für die Leitung der Franckeschen Stiftungen an. Mit seinen Fähigkeiten als Pastor und Lehrer dichtete er Hymnen, welche den lutherischen Pietismus betonten und verfasste systematische Theologien (Grundlegung der Theologie, 1703, 1705). Die Zusammenfassungen und Übersetzungen seiner Hymnen und theologischen Lehren sollten letztendlich den Lutheranismus der Tamilen beeinflussen. Ziegenbalg und Plütschau kannten diese lutherischen Pietisten persönlich und auch ihre Schriften und ihre Art, arme Kinder zu erziehen. Deswegen konnten sie sich an ihnen als ihre Vorbilder orientieren. Nach ihrer Ordination in Kopenhagen erhielten sie zusätzliche Anweisungen, die ihre zukünftige Arbeit in Indien beeinflussen sollten. König Friedrich IV. gab Ziegenbalg und Plütschau am 17. November 1705 eine genaue Beschreibung über ihre zu leistende Arbeit. So sollten sie während ihrer Seereise von Menschen lernen und instruiert werden, die schon in Indien gewesen waren. Und kurz nach ihrer Ankunft in Tranquebar sollten sie die bestehende Situation vor Ort einschätzen und so früh wie möglich anfangen, unter den Nicht-Christen zu arbeiten. Als drittes sollten sie sich über die rückständige Kenntnis über Gott bei den Nicht-Christen informieren und den vorhandenen Kenntnisstand für die Heranführung des Inhalts der Bibel benutzen. Sie sollten die Gewissheit haben, dass die mit dem Wort Gottes wirkende Macht diejenigen bekehren würde, die Gottes Wort hören sollten. Viertens sollten sie nur die Lehren der Bekenntnisschriften der Lutheraner predigen, die in Dänemark anerkannt waren. Genauso wie Jesus Christus seine Mission begann, indem er seine Zuhörer zur Buße aufrief und ihnen die Vergebung ihrer Sünden anbot, sollten die Missionare ihre Mission unter den Indern starten. Als fünften Punkt sollten sie die lutherischen Lehren in vereinfachter Form lehren. Sechstens sollten die Missionare diese Lehren selbst verkörpern und mit ihrem eigenen Leib vorbildhaft vorleben. Die nächsten drei Punkte der Anweisung legten den Missionaren dann noch nahe, für Gottes Segen für das dänische Königshaus zu beten, welches ihre Mission mit einem jährlichen Gehalt unterstützte. Der zehnte Punkt wies die Missionare an, ihren jährlichen Bericht direkt zum König zu schicken. Diese Berichte sollten ihre Bemühungen und Erfolge in ihrem Priesteramt schildern. Außerdem sollten sie Vorschläge für weitere Verbesserungen enthalten. König Friedrich IV. heftete außerdem noch einen separaten Brief an, in welchem er die Missionare aufforderte, sowohl mit den Nicht-Christen in Tranquebar als auch mit denen, die an der Grenzen lebten, zu arbeiten und ihnen die heiligen Lehren von Gottes Wort zu lehren, wie sie im Konkordienbuch und vor allem in der
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„Confessio Augustana“ ausgeführt wurden. Diese Anweisungen bildeten die Basis für jede folgende lutherische Mission in Indien. Am 9. Juli 1706 erreichten Ziegenbalg und Plütschau, mit den königlichen Briefen mit den Anweisungen für ihre Mission ausgestattet, Tranquebar. Die dänischen Verwalter hießen sie aber nicht willkommen und ließen sie im Hafen festsetzen. Zuvor hatten die Verwalter geheime Befehle des Direktors der zweiten Danish East India Company erhalten, den missionarischen Versuchen der deutsch-lutherischen Pietisten entgegenzuwirken. Der Leiter fürchtete sich zu Recht davor, dass die Arbeit der Missionare die unterdrückten Menschen von Tranquebar befreien würde, die Gefühle der muslimischen und „hinduistischen“ Handelspartner verletzen und zu guter Letzt die Handels- und kolonialen Bestrebungen der Kompanie gefährden würden. Friedrich IV., der absolute Herrscher Dänemarks und seiner in Übersee liegenden Kolonien, hielt es nicht für notwendig, sich mit dem Leiter der Handelsgesellschaft zu beraten. Er erwartete aber von ihm, dass er seine Befehle befolgte, worüber sich der Direktor ärgerte. Und auch die Verwalter der Kolonie von Tranquebar, konnte die Macht des absoluten Herrschers nicht beeindrucken, und so stellten sie sich auf die Seite ihres Direktors. Dieses gestörte Verhältnis zwischen den Zielen der wirtschaftlichen Kompanie und der christlichen Mission blieb eine dornige Angelegenheit, aber deren Unvereinbarkeit stellte sich dann doch als Segen heraus. Die lutherischen Missionare konnten zum Glück nicht das Ziel anstreben, kolonialistisches Luthertum umzusetzen. Stattdessen konzentrierten sie sich darauf, ein indigenes tamilisch-lutherisches Christentum zu entwickeln. Sie entwickelten, experimentierten mit ihnen und verfeinerten im Laufe der Zeit die folgenden wesentlichen Grundsätze.
3 Methoden der Mission der Lutheraner Zuerst entwickelte sich zwischen den Missionaren und den Indern allmählich ein gegenseitiges Verständnis. Als Kinder ihrer Zeit und Verhältnisse, drehte sich die Identität der Missionare um ihre erklärte Loyalität zu dem Gott der Bibel, dem König von Dänemark, den lutherischen Kirchen in Dänemark und Deutschland, zu den Pietisten in Halle an der Saale, deren engen Freunden und Familien, den Verwaltern der Kolonie von Tranquebar und zuletzt zu den Tamilen. Vor ihrer Ankunft in Tranquebar, und bevor sie die Tamilen persönlich getroffen hatten, unterstellten sie ihnen, wie andere deutsche Landsleute auch, dass diese „Barbaren“ waren, die unorganisiert lebten, und deren Sprache keinerlei Grammatik habe, und deren „pagane“ Religion völlig verworren war; in anderen Worten, dass diese weniger als menschliche Wesen seien. In den Augen der Missionare brauchten diese den lutherischen Pietismus für ihr Leben auf der Erde und dann im Jenseits. Gleichermaßen hatten die Tamilen vorgefasste Meinungen über die Europäer, mit denen sie schon in Hafenstädten aufeinander getroffen waren. Denn daneben lebten die römisch-katholischen Christen aus Portugal, Frankreich und Italien in Puducherry, und die zur Madurai-Mission gehörenden jesuitischen Missionare kümmerten sich um ihre Anhänger in jeder größeren Stadt
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und Großstadt im tamilischen Gebiet. Protestantische Christen der britischen Inseln, der Niederlande und Dänemark hatten ihre und kolonialen Handels-Zentren in Chennai, Cuddalore, Nagapatnam und anderen Küstengebieten. Während die Inder diese europäischen Christen beobachteten, die ursprünglich für den Handel gekommen waren, begriffen sie, dass sie sich zunehmend zu Kolonialmächten entwickelten. Sie beschäftigten die Inder mit niedrigen Gehältern und misshandelten sie. Ihre Habsucht und Grausamkeit gegenüber den Indern verschaffte ihnen den Ruf, ungläubige, boshafte Menschen (adharmins) und Menschenfresser (rākṣasas) zu sein. Sie aßen Rindfleisch, tranken Alkohol und hatten ein sehr lockeres Verständnis von der Ehe und der Familie – und dies lief auf Untreue hinaus. Ihre Religion unterschied sich deutlich von den tamilischen bhakti Religionen, wie dem Saivismus und Vaishnavismus. Deswegen sahen die Tamilen keine gemeinsame Basis für einen interreligiösen Dialog. Inmitten all dieser scheinbar unvereinbaren Sichtweisen brauchten sowohl die lutherischen Missionare als auch die Inder einen Gesinnungswandel, wechselseitige Kommunikation und Vertrauen. So stellte Ziegenbalg einen blinden tamilischen Schullehrer ein und überredete ihn, seine Schüler zu ihm nach Hause zu bringen. Auf diese Weise erlernte er die Grundlagen der tamilischen Sprache. Auf der anderen Seite waren auch einige andere Inder zu ihm gastfreundlich und führten ihn auf diese Weise in die verschiedenen Aspekte der tamilischen Kultur und Literatur ein. Im Laufe der Zeit ließ Ziegenbalg seine Geringschätzung gegenüber den Tamilen fallen und begann, sie als Freunde zu betrachten. Und als die Tamilen verstanden, dass er nicht ein Kolonial-Europäer war und den Tamilen durch eine Näherbringung der lutherischen Lehren dienen wollte, fingen sie an, ihm langsam zu vertrauen. Diese Annäherung brachte beiden Seiten ihren Nutzen. Zweitens lernten die lutherischen Missionare durch den Alltag den sozio-kulturellen Kontext der Inder zu verstehen, weil sie sich bei deren Lebensorten und Arbeitsplätzen trafen. Sie empfingen Besucher, die entweder zur Diskussion wichtiger Themen oder zur Stillung ihrer eigenen Neugierde zu ihnen kamen. Darüber hinaus sammelten, lasen und bewahrten sie gezielt und systematisch tamilische Werke über verschiedene Themen und verschiedener Gattungen auf. Diese Beschäftigung gab ihnen die Möglichkeit, den raffinierten Charakter der tamilischen Sprache, der sozialen Bräuche, religiösen Lehren und Geschichten, moralischen Werte und Sehnsüchte der Tamilen nachzuvollziehen. Interessanterweise zögerten die Missionare nicht, die tamilischen Schriften der jesuitischen Missionare zu lesen, die seit Franz Xaver († 1552) unter den Tamilen gearbeitet hatten. Während in Europa die römischkatholischen Christen und die Lutheraner auf Kriegsfuß waren, war in Indien, zumindest während der Anfänge des Luthertums, die Situation eine andere. Ziegenbalg profitierte zum Beispiel davon, Henrique Henriques tamilische Grammatik zu lesen. Er übersetzte sogar Teile dieses Buches für seine Grammatica Damulica (1716). Er las auch einige jesuitische Schriften über die Moral und integrierte deren Ideen in seine Tanmavali („Weg zum Heil“) (1708). Darüber hinaus verschaffte er sich jesuitische Übersetzungen zu mehreren Bibelstellen und Geschichten und benutzte sie in seiner
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eigenen Übersetzung des Neuen Testaments. Die hierbei erfolgte Entdeckung des literarischen, sozialen und religiösen Erbes der Inder brachte die Missionare dazu, die Hintergründe, verfolgten Ziele und Abläufe zu ermitteln, nach welchen die Inder den Sinn, ihre Überzeugungen und Bräuche konstruierten und Hoffnungen für die Zukunft aussprachen. Dadurch wurden die Missionare fähig, das zu bewahren, was gut und unverzichtbar war, z. B. Gott-Bewusstsein, eine enge Bindung innerhalb der Familien, der Respekt für die Alten, die Essgewohnheiten und die indigene Medizin. Umgekehrt lehnten sie all das ab, was mit dem Evangelium von Jesus Christus und einer vollkommenen Verwirklichung des menschlichen Lebens unvereinbar war, z. B. die Anbetung von Bildern, die Mädchentötung, die Verbrennung von Witwen auf dem Scheiterhaufen ihrer verstorbenen Ehemänner, teure Rituale und Pilgerreisen. Die Missionare entwickelten auch viele sozio-kulturelle und religiöse Elemente weiter und benutzten diese, um christliche Inhalte zu vermitteln, z. B. Taufworte mit einer neuen Bedeutung und Implikation, die Kleiderordnungen, Melodien zum Singen und kīrtans. Diese sozio-kulturellen und religiösen Kompromisse waren dafür da, den christlichen Glauben in der indischen Gesellschaft zu festigen; sie waren teilweise erfolgreich. Drittens sahen die Lutheraner wie Luther die Bibel als den größten Reichtum an, den ein Mensch überhaupt irgendwie besitzen könnte. Sie waren auch der Überzeugung, dass ein Individuum die Möglichkeit haben sollte, die Bibel in seiner Muttersprache zu lesen, zu interpretieren und auszuführen. Wo auch immer sie aufgrund ihrer Arbeit hinkamen, fanden sie die Spuren der vor ihnen dort gewesenen römischkatholischen Christen vor. Diese hatten in ihrer sonntäglichen Messe übersetzte Stellen der Bibel vorgelesen und biblische Geschichten erzählt. Auf diese Weise bestimmten oder prägten sie Begriffe und Sätze, um christliche Lehren zu vermitteln. Die Lutheraner übernahmen ohne weiteres diese Begriffe, änderten aber ihre Bedeutungen. Ziegenbalg entdeckte auch eine ganze Bibliothek an jesuitischen Schriften, die er dann las, weiterentwickelte und für seine Übersetzungsarbeiten benutzte. Er verwendete dieselben Begriffe und Phrasen, welche Roberto de Nobili vor ihm eingeführt hatte: Der unoffenbarte Gott als Parāparavastu („Das höchste Sein“); Der Herr als Sarveśvara („der Herr von Allem“); der Heilige Geist als spirinthu Sāntu (dies ist die Übersetzung der portugiesischen Wendung: Espírito Santo) und die Mutter Maria als Mātā („Mutter“). Die Missionare arbeiteten auch mit Muttersprachlern, um sinnvolle Übersetzungen auszuarbeiten. Es war für sie aber nicht einfach, die Bedeutungen, Emotionen und Wirkungen der hebräischen, griechischen und aramäischen Begriffe und Ausdrücke in die indische Volkssprache zu übertragen. Die Inder fassten zum Beispiel die Sünde (pāpā) nicht als die Verletzung festgelegter Prinzipien eines heiligen und gerechten Gottes auf, sondern stattdessen als unangebrachten Gedanken, der aus einer Vernachlässigung von Ritualen oder religiösen Pflichten zu Hause oder im Tempel resultierte. Sie fürchteten sich mehr vor der allmächtigen Kraft des karma und seiner Nachwirkungen. Der Erfolg der Lutheraner hing also davon ab, den Indern beizubringen, dass Gott in Jesus Christus die schlimme Auswirkung des karma gebrochen hatte und Vergebung und bereitstellte. Erlösung war für die Christen nicht, erfolgreich den Ozean der Vögel und des Todes (piṟva-p peruṅkadal) zu durch-
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schwimmen, sondern die Vergebung Christi zu erhalten. Deshalb veränderten die Missionare und indischen Lutheraner die Bedeutungen verbreiteter indisch-religiöserBegriffe und füllten diese mit christlichen Bedeutungen. Die Bibelübersetzungen brachten viele weitere Vorteile: Dialekte, die zuvor nicht verschriftlicht waren, wurden verschriftlicht und erhielten so die gleiche Stellung wie eine niedergeschriebene Sprache. Diejenigen, welche die Dialekte sprachen, waren begeistert, als sie hörten, dass Gott, die Propheten und die Apostel auch ihren Dialekt sprachen, und so wurde ihr Selbstwertgefühl gestärkt und eine neue Identität gegründet. Auch ihre Fähigkeit zu denken und zu sprechen wurde verbessert. Sie wurden literarische Personen. Die Bibelübersetzungen verjüngten dazu die geschriebenen Sprachen. Ihre Schriften wurden vereinheitlicht, und einige Sprachen bekamen neue Wörterbücher und Grammatiken. Die Menschen akzeptierten Prosa als eine legitime Art, religiöse Wahrheiten zu kommunizieren. Früher waren metrische Reime hierfür verwendet worden, deren Inhalt aber nur wenige ausgebildete Personen verstehen konnten. Die Einführung der mechanisierten Druckmaschine in Tranquebar 1712 regte einen Wendepunkt bei der Verbreitung des Wissens unter allen Menschen und eine steigende Alphabetisierung der Bevölkerung an. Dadurch wurde die Bibel von gewöhnlichen Menschen gelesen, interpretiert und angewendet und der Grundstein für eine soziale Veränderung durch neue Ideen über die Bibel gelegt. Viertens übernahmen die lutherischen Gemeinden die sozio-kulturellen Charakteristika eines einzelnen Ortes. Die Missionare verstanden, dass sie vielleicht die Architektur der Kirchen und die Melodien übersetzter Hymnen aus dem Deutschen, Englischen oder den skandinavischen Sprachen, aber nicht die dazugehörigen soziokulturellen Zusammenhänge dort einführen konnten. Indigene lutherische Gemeinden reflektierten wiederum „das Indische“ nach seinen Hintergründen. Eine wichtige Stellung hatte das Verhalten der Lutheraner zur Kaste und deren Handhabung. Im Gegensatz zu den jesuitischen Missionaren der Madurai Mission, die das Kastensystem als eine Ehre und Status garantierende soziale Institution ansahen, sah Ziegenbalg die Kaste als eine schädliche religiöse Einrichtung, die man beheben sollte. Er zitierte deshalb biblische Erzählungen von der Schöpfung, das Angebot Christi der Erlösung, dass alle Menschen gleich geschaffen worden waren und Christus für alle gestorben und auferstanden sei. Ihm war vollkommen bewusst, dass zu dieser Zeit das an die Geburt gebundene feudale System in der europäischen Gesellschaft am Verschwinden war. Er wollte es so auch nicht unter den Christen akzeptieren. Sein Nachfolger, Christoph Theodosius Walther (†1741) erlaubte hingegen die Einhaltung der Kaste unter den lutherischen Christen. Selbst der großherzige Christian Friedrich Schwartz (†1798) tolerierte es in Tanjore. Fünfzig Jahre später, stellte sich Karl Graul († 1864) englischen Missionaren wie G.U. Pope entgegen, die die Kastenunterscheidung unter den Christen aufheben wollten. Zu dieser Zeit begann aber auch die dänischlutherische Kirche, Ernest Ochs zu unterstützen, der die lutherische Arcot Kirche als eine kastenlose Kirche gegründet hatte, welche in Wirklichkeit die Kirche für die Ādidravida Community war. Die Gegner der Kaste wiesen auf die ungleiche Verteilung von Hilfsmitteln und Chancen und die Unantastbarkeit von Mitmenschen als Gründe
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hin, das Kastensystem abzuschaffen. Diejenigen Christen, die die Unterscheidungen durch das Kastensystem duldeten, sahen es als eine Basis für Würde und als eine Absicherung in schwierigen Zeiten, besonders in Bezug auf alle Übergangsrituale wie Eheschließung, Essgewohnheiten, Begrüßungsrituale und Ähnliches. In diesem Zusammenhang mussten die Lutheraner die sozialen, kulturellen und religiösen Konflikte überwinden, welche durch die verschiedenen Arten des Denkens und der Lebensart entstanden. Neben der Kaste mussten sie auch ihren Zugriff zu öffentlichen Brunnen, Straßen und anderen Ressourcen, wie Chancen zur modernen Bildung, neuen Beschäftigungsmöglichkeiten, dem Wegzug aus angestammten Dörfern, die Anhäufung von Reichtum und sozialen Aufstieg verhandeln. Lutherische Schulen, Herbergen und Institutionen für die Berufsausbildung (Tischlereien, Nähereien, Webereien, Schneidereien, Ziegeleien usw.) schafften neue Möglichkeiten für diese unterdrückten Gruppen. Ziegenbalg verstand seine Mission als eine ganzheitliche und umschrieb sie als einen „Dienst für die Seele“ und einen „Dienst für den Körper“. Er stellte deshalb eine schulische Ausbildung, zinsfreie Kredite, um ein kleines Unternehmen zu starten, und eine Ausbildung im Lesen, Schreiben, der Buchhaltung und der Medizin zur Verfügung. Außerdem eröffnete Ziegenbalg zum ersten Mal in der Geschichte Indiens 1707 eine Schule für Mädchen und legte somit den Grundstein für die weibliche Bildung. Er und seine Kollegen entwickelten Lehrpläne, welche die Lehrmethoden der Pietisten in Halle widerspiegelten, aber auch für die lokalen Bedürfnisse genügend Platz ließen. Folglich studierten seine Schüler die Bibel, den Katechismus, Theologie und Alltagskompetenzen. Schwartz dehnte dieses Vorgehen, der Öffentlichkeit zu dienen, weiter aus. Er entwarf bessere Gesetzesbücher für Tanjore und überredete die Menschen, Güter zu kaufen und zu verkaufen und sie nicht in schwierigen Zeiten anzuhäufen. Darüber hinaus arbeitete er darauf hin, emigrierte Arbeiter aus Tanjore wieder anzusiedeln, schlichtete zwischen den Engländern und Hyder Ali und sicherte endlich eine Zeit lang den Frieden, und Christian Wilhelm Gericke rettete die Bewohner von Nagapatnam und Cuddalore von der vom Krieg verursachten Armut. Missionare wie Christoph Samuel John (†1812) und Johann Philip Rottler (†1836) strebten nach naturwissenschaftlichem Wissen in Astronomie, Zoologie, Botanik, Fischerei, Lexikographie und Ähnlichem und öffneten auf diese Weise neue Ausbildungswege. Die kombinierte Auswirkung dieser Bemühungen verschaffte den Lutheranern in einem geringen Maße Toleranz unter den Indern. Fünftens strebten die Lutheraner in Indien die Einrichtung von indisch geführten christlichen Gemeinden und Einrichtungen an. Sie sahen in der Kirche eine Versammlung von christlichen Glaubensbrüdern, in welcher Gottes Wort korrekt verkündet wird und die Sakramente richtig verabreicht werden, also gemäß den Lehren des Konkordienbuches. Allerdings benötigten die Verhältnisse in Indien, vor allem das Kastensystem, eine besondere Berücksichtigung bei der Sitzordnung, insbesondere in der Bethlehem Church in Poraiyār (1745 gebaut). Während der Eucharistie verweigerten Christen aus einer höheren Kaste, den gleichen Kelch zu nehmen, aus welchem Christen aus einer niedrigeren Kaste getrunken hatten. In Tanjore, der Zitadelle des Kastensystems, erlaubte Schwartz zwei Kelche und wahrte somit eine oberflächliche
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Harmonie. Hingegen lehnten andere Lutheraner in Tanquebar und Trichy diese Vorgehensweise ab. Zudem hatten Christen große Schwierigkeiten, Ehepartner für kastenübergreifende Ehen zu finden. Sie befragten einheimische Astrologen nach günstigen oder ungünstigen Zeitpunkten, eine Ehe zu schließen, Kindern Namen zu geben, die Toten zu begraben und irgendwelche Geschäfte zu machen. Sie waren also unfähig, sich von früheren religiösen und kulturellen Praktiken zu distanzieren. An sich drang die lutherische Identität nicht in die tieferen Ebenen des indischen Bewusstseins ein. Die meisten Inder, die das Luthertum annahmen, kamen aus der niedrigeren Bevölkerungsschicht. Die ersten fünf Konvertierten, die am 12. Mai 1707 getauft wurden und den Kern der Jerusalem Kirche in Tranquebar bildeten, waren Diener von Europäern. Ihr vorbildhaftes Leben als Tamil und als Christen, welches dann durch das neue Verständnis der Menschenwürde angespornt wurde, zog weitere Tamilen an, das Luthertum als ihre „Lebensart“ anzunehmen. Viele der tamilischen Lutheraner waren zuvor römisch-katholische Christen gewesen. Nachdem der Papst die Madurai Mission 1773 abgeschafft hatte, traten mehrere römisch-katholische Christen den lutherischen Gemeinden in Tranquebar, Trichy, Tranjore Chennai und anderen Orten bei. Die Kinder lutherischer Eltern wurden in den Missionsschulen im künstlerischen und mehreren anderen Wissenschaften gebildet. Nachdem sie so aufgewachsen waren, nahmen sie eine Beschäftigung in vielen verschiedenen Orten an und verbreiteten so das Luthertum auch anderswo. Sowohl Ziegenbalg als auch andere Missionare wie Christoph Theodosius Walther (†1741) verstanden ihre Arbeit als zeitlich begrenzt. Sie waren nämlich der Überzeugung, dass die indische Kirche indische Leiter haben sollte. Hierfür gründetet Ziegenbalg 1716 das erste theologische Seminar und bildete intelligente tamilisch-lutherische Studenten aus, damit sie Führungsrollen in der Kirche und in kirchlichen Institutionen übernehmen konnten. Walther drängte zudem auf die Ordination von lutherischen Indern als Pastoren. Die Ordination von Aaron alias Ārumugam Pillay im Dezember 1733, dem ersten tamilisch-lutherischen Pastor, der in seiner Position mit dem europäischen Klerus gleichgestellt war, eröffnete ein neues Kapitel in der Geschichte des Luthertums in Indien. Andere tamilisch-lutherische Pastoren waren Diago (1741 ordiniert, †1781), Ambrose (1749 ordiniert, †1777), Philip (1772 ordiniert, †1788), Rājappan (1778 ordiniert, †1796/7), Sattiyanātan (1790 ordiniert, †1815), Abraham, Ñānapirakācam, Adaikkalam, Vētanāyakam und Savarirājan (alle fünf 1811 ordiniert), Vicuvāci and Nallathambi (1817 ordiniert). Diese und andere indisch-lutherische Pastoren, Katecheten und deren Helfer schmälerten die Lücke zwischen deutschem Luthertum und dem Pietismus der tamilischen Lutheraner. Sie fungierten als Mittler zwischen den europäisch-lutherischen Missionaren und den Tamilen. Allmählich gingen die indischen Lutheraner nicht mehr zu den öffentlichen HinduFesten und befolgten auch nicht mehr die religiösen Hindu-Zeremonien.
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4 Die lutherische Expansion im Indien des 18. Jahrhunderts Die inländische Migration von Tamil-Lutheranern, die Ankunft neuer europäischer Missionare, Streitigkeiten, Abfahrten oder plötzliche Todesfälle, die Nichtverfügbarkeit von europäischen Missionaren und die Arbeitsmöglichkeiten für Christen an anderen Orten führten dazu, dass das Luthertum in verschiedenen Gebieten Indiens wuchs. 1710 nahm die Society for Promoting Christian Knowledge (SPCK) aus London Ziegenbalg und seinen Kollegen Johann Ernst Gründler (†1720) als korrespondierende Mitglieder auf. Dies gab den Engländern in Indien die Möglichkeit, mit den Lutheranern in Kontakt zu treten. 1717 gründete der Katechet Savarimuthu aus Tranquebar die erste lutherische Schule in Cuddalore, der Garnisonsstadt der englischen East India Company (EIC). Deren Geistliche, George Lewis und William Stevenson, und die Gouverneure der Stadt, Edward Harrison und Joseph Collet, genehmigten die Errichtung der Schule. Bis die französische Ost Indien Kompanie 1758 Cuddalore besetzte, dienten Johann Anton Sartorius (†1738), Johann Ernst Geister (†1750) und Johann Zecharia Kiernander (†1799) den Lutheranern dort. Kiernanders Kollege Georg Heinrich Conrad Hüttemann (†1781) sah die Inder als Sklaven, Vagabunden, Schurken und Bettler an und konnte deswegen (logischerweise) nicht mit ihnen arbeiten. Gericke aber diente den Lutheranern von Cuddalore später von 1767 bis 1782. Im 19. Jahrhundert wurde Cuddalore dann zum Sitz der lutherischen Arcot-Kirche.
4.1 Lutheraner in Chennai 1726 wurden die „Black Town“ von Chennai und die modernen Regionen Vepery und Purasawalkam zum Zentrum der lutherischen Aktivität. Ziegenbalg hatte Chennai schon 1710 und 1711 besucht, konnte damals dort aber keine Dienststelle errichten. Benjamin Schultze, der mit Walther über die Qualität der in der Übersetzung des Neuen Testaments verwendeten Sprache uneinig war, zog jedoch von Tranquebar nach Chennai und gründete dort eine Kirche und eine Schule. Dort erkannte er die Wichtigkeit der Telugu-Sprache. Deshalb übersetzte er die „Nachfolge Christi“ von Thomas von Kempen (†1471) sowie „Von wahrem Christenthum“ und „Paradiesgärtlein“ von Johannes Arndt (†1621) in die tamilische und telugische Sprache. Er stellte auch eine Grammatik für Hindustani zusammen. Nach seiner Abreise nach Halle an der Saale leitete ab 1742 Johann Philip Fabricius (†1791) die Lutheraner. Fabricius überarbeitete Übersetzung der Bibel ist als „Golden Version“ bekannt. Sein Hymnenbuch wurde unter den Menschen das „Herz-schmelzendeBuch“ (neñcurukkinūl) genannt. Sein Malabar-English Dictionary (1799) trug zur tamilischen Lexikographie bei. Aber als Fabricius die Gelder schlecht verwaltete und große, unwiederbringliche Schulden verursachte, übernahm Gericke die Führung (1788). Sein Nachfolger, Carl Wilhelm Paroled (†1817), setzte die Arbeit fort, bis er 1802
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nach Kolkata aufbrach, um dort am William College Tamil zu lehren. Bis heute erinnert die Rotler Street in Vepery in Chennai, die Menschen an den beachtenswerten Dienst J.P. Rottlers für die Bildung und die Wissenschaft in Indien.
4.2 Lutheraner in Tanjore 1728 gründete der römisch-katholische Soldat Rājanāyakkan aus einer Pariah-Gemeinschaft eine lutherische Gemeinde in Tanjore, der Hauptstadt der Tanjore Königreichs. 1727 hatte dieser Ziegenbalgs Neues Testament in Tamil (1714) gelesen und die lutherischen Missionare in Tranquebar um Rat aufgesucht. Diese Missionare hatten ihn als ihren Katecheten angenommen und ihn wieder fortgesandt, um unter den Menschen seiner Gemeinschaft in Tanjore zu arbeiten, die infolgedessen zu einer kleinen Gemeinde anwuchs. Die römisch-katholischen Christen stellten sich ihm aber entgegen und griffen ihn sogar an. Im selben Jahr (1728) besuchte ihn Christian Friedrich Pressier (†1738) und nahm an der Hochzeit der Prinzessin von Tanjore teil. Der Besuch dürfte für die dortigen Lutheraner von Vorteil gewesen sein. Rājanāyakkan wollte mehr über das Christentum in Europa, Afrika und den amerikanischen Kontinenten wissen und forderte Walther auf, ihm darüber auf Tamil zu schreiben. Daraus folgte 1735 die Veröffentlichung von Walthers bedeutendem historischen Buch (caritira postakam auch Historia Sacra genannt). In diesem Buch geht er den Spuren der Geschichte der „christlichen“ Kirche nach, von der Schöpfungsgeschichte in der Genesis über das Alte Testament, das Neue Testament und die europäische Geschichte; es endet im Jahr 1735. Dessen gregorianische Daten stimmen übrigens mit dem tamilischen Kalender überein. Außerdem beschreibt es, wie verschiedene christliche Bräuche und Rituale ihren Einzug in die Kirche fanden, z. B. die Ankündigung einer bevorstehenden Hochzeit in der Kirche oder der Rosenkranz. Zudem enthält es detaillierte Abschnitte zu der Missionsgeschichte der Portugiesen, Franzosen, Holländer, Engländer und Dänen in Asien und Indien. 1739 veröffentlichte Walther die lateintamilische Grammatik von Costanzo G. Beschi (†1747) mit dem Titel Grammatica Latino-Tamulica und fügte einen großen Anhang mit dem Titel Observationes Grammaticae quibus Linguae Tamulicae („Grammatische Beobachtungen zur tamilischen Sprache“) hinzu. Beschi gefiel dieser Anhang aber nicht, weshalb nachfolgende Übersetzer der Beschi Grammatik Walthers „Beobachtungen“ nicht übersetzten. Derweil führten diverse Probleme Rājanāyakkans dazu, dass er bedauerlicherweise als Kremator endete. Andererseits kennzeichnete die Ankunft von Christian Frederick Schwartz (†1798) 1772 das Gedeihen der lutherischen Gemeinde in Tanjore. Schwartz wurde von Wilhelm Berg, dem deutschen Befehlshaber über die Armee des Königs Tulaji von Tanjore, dem König vorgestellt, der dann später Schwartz seinen Adoptivsohn Serfojee II. zur Sorge und zum Schutz anvertraute. Die diplomatischen Beziehungen von Schwartz nicht nur zu Hyder Ali, sondern auch zu dem Gouverneur der East India Company (EIC) in Chennai und dem Navab von Arcot und vor allem das Vertrauen, dass er unter dem gemeinem Volk genoss, machten ihn zu einem außer-
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gewöhnlichen Missionar. Obwohl er etwas Unterstützung durch Anglikaner erhielt, die mit der SPCK verbunden waren, blieb er ein Lutheraner. Er zahlte fünf Katecheten und mehrere Assistenten von seinem Gehalt. Darüber hinaus gründete er Schulen, für deren Finanzierung er bei den lokalen Herrschern anfragte. Nur kurze Zeit später, nachdem Edward Jenner die Pockenimpfung 1796 entdeckt hatte, wies Schwartz die Menschen von Tanjore darin ein. Seine Integrität und Aufrichtigkeit wurde von den Menschen hoch geschätzt, und sein vorbildhaftes Leben verschaffte ihm den Namen Rajaguru („königlicher Lehrer“). Einer seiner berühmten Schüler war der weltbekannte Komponist der tamilischen Liedtexte Vētanāyakam Sāstriyār (†1864). Sein Buch zur tamilisch-christlichen Moral und seine Ansichten zur Kaste als ein notwendiges Symbol der sozialen Würde verdienen Beachtung. Schwartz’ anderer Schüler, König Serfojee II., gründete die Saraswathi Mahal Bibliothek in Tanjore und sammelte wertvolle Manuskripte in Sanskrit, Tamil und anderen Sprachen.
4.3 Lutheraner in Kolkata und Serampore Lutherische Händler, die aus Deutschland, Norwegen, Dänemark oder Schweden kamen und in Kolkota, der Hauptstadt der East India Company (EIC) lebten, wollten schon länger einen lutherischen Pastor haben. 1758 kamen deswegen J.Z. Kiernander, der in Cuddalore gearbeitet hatte, und seine Frau Wendela Kiernander dahin. Am Anfang wurden sie von Robert Clive, dem Sieger der Schlacht von Passy (1757), unterstützt. Als Wendela starb, heiratete Kiernander die Seeoffizierswitwe Ann Wolley (1762). Zusammen bauten sie die erste protestantische Kirche und weihten sie 1770 als Beth Tephilla („Gebetshaus“) ein, die heute unter dem Namen Lal Girja „die rote Kirche“ oder die „alte Missionskirche“ bekannt ist. Nach Anns Tod verkaufte Kiernander ihren Schmuck und baute eine Schule für bengalische, armenische und portugiesische Kinder. Dann fing aber im März 1774 sein Gesundheitszustand an, sich zu verschlechtern. Als dann auch noch sein Sohn Robert William Immobiliengeschäfte unternahm, verlor er fast alles. So sandte die SPCK 1775 auf die Anfrage Kiernanders den Engländer John Christmann Diemer (†1792), der in der Schule arbeiten sollte. Diemer konnte Kiernander aber nicht ausstehen, heiratete die wohlhabende Mary Weston und verließ die Schule. 1778 sandte die SPCK dann Johann Wilhelm Gerlach (†1791), der dann aber in die East India Company (EIC) eintrat. Als die Gläubiger von Kiernander Geld forderten, verkaufte er seinen Besitz. So kauften 1787 Charles Grant, der spätere Leiter der East India Company (EIC) und der anglikanische Geistliche David Brown die Kirche, und beide kümmerten sich um sie. 1799 überredete die SPCK William Tobias Ringeltaube (†1816), den kränkelnden Kiernander zu unterstützten. Ringeltaube kehrte aber bald wieder zurück, weil sein Gehalt nicht einmal ausreichte, um die Lebensunterhaltskosten in Kolkata zu decken. Etwa vierzig Jahre zuvor, im Jahr 1757, war der am 26. Juli 1719 den Eltern Bartholomäus und Maria Dorothea Ziegenbalg geborene Bartholomäus Leberecht Ziegenbalg zum Leiter der dänischen Kolonie Friedrichsnagar (Serampore) in der Nähe
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von Kolkata geworden. Auf seine Einladung kam Kiernander dorthin, um lutherische Anbetungsgottesdienste durchzuführen. 1800 nahm diese Kolonie den ersten baptistischen Missionar William Carey auf und erlaubte ihm und seinen Begleitern, dort zu bleiben und zu arbeiten. Der Oberst Ole Bie, der in Tranquebar drei Mal gearbeitet hatte und Schwartz kannte, hieß Carey in Seampore willkommen. Nach dem Tod seiner ersten Frau 1808, heiratete Carey Charlotte Rumohr aus Schleswig, damals auf dänischem Gebiet. Dort errichtete er 1818 die Serampore Hochschule. Die theologische Abteilung der Hochschule verlieh Pastoren aller Hauptkirchen in Indien theologische Abschlüsse. Die Leistungen Careys und seiner Freunde William Ward und Joshua Marsham spielten eine bedeutende Rolle bei der Übersetzung der Bibel in mehrere asiatische Sprachen, bei der Errichtung eines Instituts für Gartenbau, bei der Herausgabe einer Zeitung und bei der Abschaffung sozialer Gräueltaten wie der Satī („Witwenverbrennung“).
4.4 Lutheraner in Tirucirāppalli Als der Nawab von Arcot für einige Zeit in der Stadt Tirucirāppalli wohnte, bemerkte er, dass er die Einkünfte seiner untergeordneten Herrscher nicht einsammeln konnte. Deswegen fragte er bei der East India Company (EIC) von Chennai an, Soldaten zur Unterstützung seiner Steuerbeamten zu schicken. Einige dieser Soldaten waren Lutheraner aus Tranquebar. 1762 begleitete Schwartz diese nach Tirucirāppalli und kümmerte sich zehn Jahre lang um sie. Seine Amtszeit war so erfolgreich, dass er die Christ Church (1766) baute. Durch eine Explosion eines Munitionsdepots 1771 starben zahlreiche Soldaten, wodurch viele Kinder vaterlos wurden. Deswegen errichtete Schwartz ein Waisenhaus und versorgte 146 Lutheraner. Nachdem er 1772 nach Tanjore gezogen war, unterstütze die SPCK Johann Jakob Schöllkopf (†1777) und Christian Pohle (†1818) für eine weitere Betreuung der Lutheraner in Tirucirāppalli. Pohle beschützte diese sowohl während der Invasion durch Hyder Ali, der darauffolgenden Hungersnot als auch während der Revolte der Soldaten (1782– 1790). 1793 schloss sich ihm Joseph Daniel Jänike an, mit dem er dann ungefähr zweitausend Lutheraner in Tirucirāppalli betreute.
4.5 Lutheraner in Pālayamkōttai Nachdem Schwartz Clarinda, eine Marāthi Brahmin Witwe, getauft hatte, die der englische Soldat Harry Lyttelton vor der Satī gerettet hatte, begleitete diese ihn nach Pālayamkōttai und lernte christliche Leitsätze von ihm. Nach seinem Tod verkündigte sie das Evangelium unter ihren Nachbarn, und so entstand eine Gemeinde von 40 Mitgliedern mit ganz verschiedenen Hintergründen. 1785 hatte Schwartz für sie eine Kirche eingeweiht, die heute Clarinda Church genannt wird. Schwartz sandte auch die Katecheten Sattiyanāthan und Rāyappan, um ihr zu helfen. Ein durch sie Konvertierter
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war David Sundaranandam. Durch seine Berichte in seinem Nādār Umfeld nahmen viele Nādārs den lutherischen Glauben an. Bald darauf sandte die Church Missionary Society (CMS) den deutschen Missionar C.T.E. Rhenius nach Pālayamkōttai, und dieser wurde der Apostel von Tirunelvēli. Die Society for the Promotion of the Gospel sandte G.U. Pope und R. Caldwell, um unter den Nādārs von Tirunelvēli zu arbeiten. 1820 eröffnete Ludwig Bernhard Ehregott Schmid von der CMS sogar eine theologische Ausbildungsstätte in Pālayamkōttai: Studenten, die erfolgreich Tamil, Englisch, Mathematik, Geometrie, Geschichte und Geographie studiert hatten, konnten Schullehrer werden. Katecheten-Anwärter studierten die zusätzlichen Fächer Sanskrit, indische Religionen und die Geschichte der Religion. Diejenigen, die biblische Sprachen studierten, konnten später Pastoren werden. Der Widerstand gegen die Christen wuchs aber, und deswegen gründete Rhenius Dörfer zur Zuflucht, von denen Muthalūr, Meygnānapuram (1825), Idayankulam (1827), Āsirvāthapuram (1828), und Nazareth wichtig wurden. Diese Lutheraner wurden aber schrittweise zum Anglizismus geführt.
5 Das Anwachsen des Luthertums im Indien des 19. Jahrhunderts Das 19. Jahrhundert veränderte die Lutheraner in Indien in vielerlei Hinsicht. Die Arbeiten der Orientalisten, die mit der Asiatic Society (1784) verbunden waren, aber vor allem deren englische Übersetzungen von Sanskrit Schriften (z. B.: William Jones’ Übersetzung von Shakuntala und Charles Wilkins Übersetzung von Bhagavad Gita), ermöglichten es den Europäern, den Sanskrit Hinduismus neu zu entdecken und wertzuschätzen. Politisch gesehen, führte der britische Angriff auf Kopenhagen (1807– 1814) während der napoleonischen Kriege (1799 – 1815) dazu, dass die EIC in Chennai Tranquebar besetzte (1808 – 1816). Dadurch verschlechterte sich die Situation für die Lutheraner in Tranquebar. Mangelnder Enthusiasmus in Deutschland für die Mission, angetrieben durch die historische Kritik an der Bibel als einem Fabelbuch und den Ideen der Romantik (durch Johann Gottfried von Herder), die (Malaria‐) Epidemie in den dänischen Territorien Seeland und Lolland (1831) und die dänischen Kriege mit Schleswig (1848 – 1850) ließen keinerlei Ressourcen für eine lutherische Missionsarbeit in Indien. So war Frederick Cämmerer (†1837) der letzte dänisch-hallische Missionar in Tranquebar. Allmählich verband die dänische Regierung dann die Missionsämter mit denen des Klerikers. Hans Knudsen war schließlich der letzte dänische Kleriker-Missionar. Er verbrachte sechs Jahre in Tranquebar, bevor er 1843 nach Dänemark zurückkehrte. 1821 gründete die dänisch lutherische Kirche ihre eigene nicht-staatliche dänische Missions- Gesellschaft und hielt nach Möglichkeiten Ausschau, in Indien zu arbeiten. Zur gleichen Zeit setzte die Pious Clause der EIC 1813 einen anglikanischen Bischof in Kolkata fest ein. Die ausgeweitete Pious Clause von 1833, welche aufgrund des freien britischen Handels und der freien Wahl des Wohnsitzes von europäisch-amerikani-
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schen Händlern in Indien notwendig wurde und dazu noch der Wunsch der Inder, europäisch-amerikanische Technik, Fähigkeiten und Bildung zu erwerben, öffnete die britischen Territorien in Indien für die missionarische Arbeit aller protestantischen Glaubensgemeinschaften sowohl Europas, Nordamerikas als auch Australiens. Schlussendlich kamen mehr Missionare aus Großbritannien und den Vereinigten Staaten von Amerika als von anderen Ländern. Die Dänen ergriffen diese Gelegenheit und verkauften ihre Gebiete in Indien, einschließlich Tranquebar und Serampore an die EIC (1845). Nur zögernd verlegten sie aber dann ihre Kirchen und Besitze aus Tranquebar und ein paar anderen Orten zu der Evangelisch Lutherischen Mission Leipzig (1819/1836). Die verbleibenden lutherischen Gemeinden in Tanjore, Tiruccirāppalli, Tirunelvēli, Chennai, und Kolkata wurden anglikanisch.
5.1 Deutsche und Skandinavische Lutheraner im Indien des 19. Jahrhunderts Der erste Direktor des Evangelisch-Lutherischen Missionswerks Leipzig (ELM, 1844– 1861), Karl Graul (†1864), schickte Johann Heinrich Karl Cordes (1813 – 1892) nach Tranquebar, um nach den dortigen Lutheranern zu schauen und die Gemeinden neu zu beleben. Cordes schaffte es, die lutherische Identität trotz der anglikanischen Einmischung zu erhalten und verbreitete seine Weltanschauung. Graul, der kurz die tamilische Gegend besuchte (1849 – 1853), war währenddessen von einem bitteren Streit über das Kastensystem mit den anglikanischen Missionaren Georg Uglow Pope und Robert Caldwell in Anspruch genommen. Er wünschte das System unter den Christen zu dulden, weil diese aber den Anweisungen ihrer Bischöfe in Kolkata folgten, versuchten sie es abzuschaffen. Grauls Einstellung zum Kastensystem widersprach der einer seiner Missionare. Ernst Ochs’ Entschluss eine kastenlose Kirche zu gründen, trennte ihn grundlegend von der Auffassung der ELM (1863), so dass ihn dann die Danish Mission Society als deren Missionar aufnahm. Ochs legte daraufhin den Grundstein für die Arcot Lutheran Church (1864). Deren wichtige Zentren wurden im Laufe der Jahre Mēlpattampākkam, Tirukkōvilūr, Tiruvannāmalai, Nellikuppam, Viruttāccalam und Chennai. Sie waren darauf zugeschnitten, den spirituellen Bedürfnissen der sozial ausgeschlossenen Ādidrāvidas entgegenzukommen. Auf der anderen Seite beschäftigten sich die ELM Missionare Hugo Schanz (†1892), Wilhelm Germann (†1902) und Hilko Wiardo Schomerus (†1945) mit der tamilischen bhaktiLiteratur und den Hinterlassenschaften der Lutheraner in Indien. Anders als ihr Direktor Graul, der die wissenschaftliche Unterstützung von N. Samuel für seine Bibliotheca Tamulica nicht anerkannte, konnten diese Schüler die Wichtigkeit der tamilischen Beiträge bei ihren intellektuellen Errungenschaften wertschätzen. Germann veröffentlichte auch Biographien über Ziegenbalg, Plütschau, Fabricius und Schwartz. Carl Jacob Sandegren, vertrat die Church of Sweden Mission und arbeitete von 1868 in Chennai, Coimbatore, Madurai und anderen Orten. Seine Heirat mit Johanne Kremmer, der Tochter des ELM Missionar Carl Friedrich Kremmer (er war seit 1848 an der
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Adaikalanātar Church in Chennai), ebnete den Weg für eine freundschaftliche Beziehung mit der ELM. Ihre Söhne, Johannes, Hermann und Paul Sandegren wurden alle im tamilischen Land geboren, wuchsen dort auf und leisteten den Tamil-Lutheranern große Dienste. 1863 wurde Arunōtayam (‚Morgendämmerung‘) die offizielle Zeitung der Tamil sprechenden Lutheraner. Nach dem ersten Unabhängigkeitskrieg (1857) und der Proclamation of Queen Victoria (im November 1858) galten die britischen Rechtsvorschriften für „British India“. Religionsfreiheit hieß in diesem Zusammenhang eigentlich die Bevorteilung von Hindus bei der Einstellung in hohen Regierungsstellen und Hass und Diskriminierung gegenüber Christen. Außerdem verlangte das indische Ehegesetz von 1865 nun von den lutherischen Missionaren, einen Antrag vor einer Eheschließung zu stellen, um dafür eine Lizenz zu erhalten. Viele lutherische Missionare konnten dies nicht hinnehmen und kehrten nach Europa zurück. Und diejenigen, die in Indien geblieben waren, mussten die europäischamerikanisch dominierten Konferenzen in Allahabad (1872), Kolkata (1882/3), Mumbai (1892/3) und in Chennai (1902) über sich ergehen lassen. Dennoch sandten sowohl die Gossner Evangelisch-Lutherische Mission (GELM, 1845), die Hermansburger Mission (HELM, 1865), die schleswig-holsteinische evangelisch-lutherische Breklumer Mission (1876), als auch die Dänische Mission in Ost Jeypor (1890) weiterhin lutherische Missionare nach Indien. Die Missionare der GELM führten unter den Kols und den Santals große Veränderungen herbei. Langsam bewirkte die lutherische Arbeit auch unter den anderen Ādivāsi Gruppen (den Mundas, Uraons und anderen) und unter Gastarbeitern in Assam und Bihar eine Veränderung und Steigerung ihrer Lebensqualität. Schwedische Missionare begannen dann auch unter den Ghonds (1877) zu arbeiten und lebten in der modernen Region Madhya Pradesh. Die tamilischen Lutheraner Daniel Pillay (†1802), John Lazarus und N. Samuel verfassten mit reformatorischen Ideen gefüllte Schriften. Einige der tamilischen Lutheraner immigrierten sogar nach Bangalore (1893), auf die Fiji Inseln, nach Yangon in Myanmar, nach Natal in Süd Afrika und nach Kilimanjaro in Kenia. Die meisten von diesen Migranten waren Händler, Zimmerer und Maurer. Daneben bezeugten sie, wo auch immer sie hinkamen, den lutherischen Glauben.
5.2 Amerikanische Lutheraner im Indien des 19. Jahrhunderts Benjamin Schultze kannte Telugu sprechende Christen in Chennai und dem Telugu Land. Der Pietist der Franckeschen Stiftungen, Heinrich Melchior Mühlenberg (†1787) diente in Pennsylvania und Georgia ab 1742 den deutschen Diaspora Lutheranern/ Salzburger Emigranten als Pastor. Auf diese Weise erfuhren die deutschsprechenden Lutheraner aus Pennsylvania von den Lutheranern in Indien. Und als John Christian Frederick Heyer (†1873) dem Aufruf um finanzielle Hilfe von C. Rhenius folgte, kam er (1842) als erster lutherischer Missionar aus Pennsylvania nach Guntur. Als professioneller Schullehrer und Theologe legte er den Grundstein für die Andhra Evangelical Lutheran Church. Ein großer Anteil der Mala-Gemeinschaft nahm die lutherischen
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Lehren auf und profitierte von den lutherischen Bildungs-, Medizin- und Berufseinrichtungen. Andere lutherische deutschsprechende Missionare der ELM und der HELM der Nachbarschaftsorte kooperierten mit Heyer. Der berühmte Missionar, August Mylius der HELM begann 1865 mit seiner Arbeit in den südlichen Regionen (Nellore, Cittūr, etc.) des Telugu-Landes. 1894 akzeptierte die Missouri Evangelical Lutheran Church die regimekritischen deutschen Missionare der ELM, Theodor Naether und Thomas Mohn, und half ihnen ein neues Zentrum in Āmbūr aufzubauen. Deren Concordia Schulen bildeten eine Vielzahl an indischen Studenten aus, und aus deren Arbeit entstand dann die Indian Evangelical Lutheran Church. Das amerikanische Konzept des Manifest Destiny, die Trennung von Staat und Kirche, die Gleichheit von allen Menschen vor dem Recht und der Entschluss, das physische, mentale und soziale Leben der Menschen zu verbessern, beeinflussten die indischen Lutheraner.
6 Der internationale Einfluss der Lutheraner aus Indien 1708 veröffentlichte Lange Ziegenbalgs Missionsreport in Berlin. Diese Publikation leitete das neue Genre von lutherischen Missionszeitungen in Deutschland ein. Die Franckeschen Stiftungen veröffentlichten Teile der Missionsreporte aus Indian als „Hallesche Berichte“ (1710 – 1772), „Neuere Geschichte der evangelischen Missionsanstalten zur Bekehrung der Heiden in Ostindien“ (1772– 1848) und „Missionsnachrichten der ostindischen Missionsanstalt zu Halle“ (1849 – 1880). Europäische Leser erhielten auf diese Weise zentrale Informationen über Indien, wovon pietistische Verbände in Europa profitierten. Anton Wilhelm Böhme übersetzte einige dieser deutschen Berichte für den englischen Raum als Propagation of the Gospel in the East (1709 – 1718). Sowohl der Puritaner Cotton Mather aus New England als auch die Eltern John Wesleys, lasen diese englischen Übersetzungen und erhielten durch die Lektüre missionarische Inspirationen. Daraus entstand eine internationale ökumenische Kooperation der Christen in Indien, Deutschland, Dänemark und England. Auch mehrere missionarische Gemeinschaften in Leipzig, Basel, Kopenhagen, London und Boston konnten von dem Vorbild der Lutheraner in Indien lernen. Graf Nikolaus von Zinzendorf (†1760) hörte die Geschichte der Tranquebar Mission sowohl in Berlin als auch in Halle an der Saale und entwickelte so seine missionarischen Ideen und eignete sich die nötige Kompetenz zur Umsetzung an. Hans Egede (†1758) las ebenfalls die „Halleschen Berichte“ und wurde der erste dänische Missionar der Eskimos. Die Geschichte der Lutheraner in Indien verbesserte unter gewissen Gruppen der Christen die internationale Kommunikation, Unterstützung und Verständigung.
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7 Fazit Die reformatorischen lutherischen Ideen schafften eigenständige indisch-lutherische Gemeinden. Durch ihre eigene Kraft setzten sie sich von ihren üblichen traditionellen Lebenswirklichkeiten der bloßen Existenz und des Überlebens hinweg. Trotz der festen Verankerung in Indien und der Auseinandersetzung mit umstrittenen Themen wie dem Kastensystem, dem Geschlechterverhältnis, der Armut und der Gerechtigkeit hielten diese lutherischen Gemeinden die weltweiten Ansichten der Christlichkeit und Menschlichkeit aufrecht. Sie verbreiteten ihre neuen Werte, Identitäten, Chancen, Bedeutungen, Literatur (Bibel, Theologien, Katechismen und Sachbücher über zahlreiche akademische Disziplinen) in Indien durch ihre Einrichtungen (Kirchen, Schulen, Berufsausbildungen, rechtliche Einrichtungen und Krankenhäuser). Sie errichteten unzählige indische Gemeinden und trugen auf diese Weise zur Staatsbildung bei. Ihr Vermächtnis wird darüber hinaus weiter und tiefer in den indischen soziokulturellen Kontext hineinwachsen.
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