Die Ära Adenauer: Herausgegeben:Puschner, Uwe [4 ed.] 9783534273652, 9783534274406, 9783534274413, 3534273656

Die Bundesrepublik, ein Kind des Kalten Krieges, wurde in den ersten beiden Jahrzehnten ihres Bestehens vom wirtschaftli

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German Pages 171 [173] Year 2022

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Table of contents :
Cover
Titel
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Geschichte kompakt
I. Die Gründung der Bundesrepublik 1949
1. Deutschland und der Kalte Krieg
2. Die Anfänge von Adenauers Kanzlerdemokratie
3. Ludwig Erhard und das Wagnis der Marktwirtschaft
4. Kurt Schumacher und die Grundlegung der parlamentarischen Opposition
II. Außen- und Deutschlandpolitik 1949–1955
1. Außenpolitische Alternativen
2. Adenauer und die Alliierten
3. Die Verteidigung Westeuropas
4. Die Sowjetunion und die deutsche Frage
III. Wirtschaft und Innenpolitik 1949–1955
1. Die Anfänge des Wirtschaftsbooms
2. Die Rückgewinnung wirtschaftlicher Souveränität
3. Innenpolitische Konsolidierung
4. Der politische Umgang mit der NS-Vergangenheit
IV. Gesellschaft und Kultur 1949–1963
1. Eine Gesellschaft im Umbruch
2. Mentalitäten im Wandel
3. Ideen und Ideologien im Zeitalter des Kalten Krieges
4. Gesellschaftlicher Protest
V. Außen- und Deutschlandpolitik 1955–1963
1. Erfolge im Westen
2. Berlin-Krise und Mauerbau
3. Die Verständigungskrise mit den Vereinigten Staaten
4. Die Anlehnung an Frankreich
VI. Innen- und Sozialpolitik 1955–1963
1. Der Ausbau des Sozialstaates
2. Verschiebungen in der Parteienlandschaft
3. Innenpolitische Rückschläge für Adenauer
4. Ein Abschied auf Raten
VII. Schlussbetrachtung
Auswahlbibliographie
Personen- und Sachregister
Rückcover
Recommend Papers

Die Ära Adenauer: Herausgegeben:Puschner, Uwe [4 ed.]
 9783534273652, 9783534274406, 9783534274413, 3534273656

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Studienwissen kompakt Übersichtlich, fundiert, verständlich ● Ideal zur Seminar-, Referats- und Prüfungsvorbereitung ● Kommentiertes Literaturverzeichnis ●

Geschichte kompakt

Geschichte kompakt

Dominik Geppert

Die Ära Adenauer

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Geppert · Die Ära Adenauer

Die Bundesrepublik, ein Kind des Kalten Krieges, wurde in den ersten beiden Jahrzehnten ihres Bestehens vom wirtschaftlichen Wiederaufbau, von der Etablierung der parlamentarischen Demokratie, den Anfängen einer zivilen Kultur und dem Ausgleich mit den Westmächten geprägt. Der renommierte Zeithistoriker Dominik Geppert entwirft ein klares Bild der jungen Republik von 1949 bis 1963: Gründung der Bundesrepublik, Außen- und Deutschlandpolitik, Wirtschafts-, Innen- und Sozialpolitik sowie Gesellschaft und Kultur. Sein grundlegender Überblick liegt endlich in einer vollständig überarbeiteten und aktualisierten Neuausgabe vor.

wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-27365-2

4. Auflage

B 27365-2 StL Geppert Cover PRINT 2022_02_10.indd 1

10.02.22 11:03

Dominik Geppert

Die Ära Adenauer

GESCHICHTE KOMPAKT Herausgegeben von Kai Brodersen, Martin Kintzinger, Uwe Puschner, Volker Reinhardt Herausgeber für den Bereich 19./20. Jahrhundert: Uwe Puschner Beratung für den Bereich 19./20. Jahrhundert: Walter Demel, Merith Niehuss, Hagen Schulze (†)

GESCHICHTE KOMPAKT

Dominik Geppert

Die Ära Adenauer

4., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg Academic ist ein Imprint der wbg. 4., vollständig überarbeitete und aktualisierte Ausgabe 2022 i 2022 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt (1. Auflage 2002) Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Einbandgestaltung: schreiberVIS, Seeheim Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach Covermotiv: Konrad Adenauer beim Boccia-Spielen, Sueddeutsche Zeitung Photo / Alamy Stock Foto Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-27365-2 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-27440-6 eBook (epub): 978-3-534-27441-3

Inhaltsverzeichnis Geschichte kompakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Die Gründung der Bundesrepublik 1949 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Deutschland und der Kalte Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Anfänge von Adenauers Kanzlerdemokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ludwig Erhard und das Wagnis der Marktwirtschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kurt Schumacher und die Grundlegung der parlamentarischen Opposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Außen- und Deutschlandpolitik 1949–1955 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Außenpolitische Alternativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Adenauer und die Alliierten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Verteidigung Westeuropas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Sowjetunion und die deutsche Frage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Wirtschaft und Innenpolitik 1949–1955 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Anfänge des Wirtschaftsbooms. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Rückgewinnung wirtschaftlicher Souveränität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Innenpolitische Konsolidierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der politische Umgang mit der NS-Vergangenheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Gesellschaft und Kultur 1949–1963. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 1. Eine Gesellschaft im Umbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 2. Mentalitäten im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 3. Ideen und Ideologien im Zeitalter des Kalten Krieges. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 4.Gesellschaftlicher Protest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 V. Außen- und Deutschlandpolitik 1955–1963 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Erfolge im Westen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Berlin-Krise und Mauerbau. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Verständigungskrise mit den Vereinigten Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Anlehnung an Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VI. Innen- und Sozialpolitik 1955–1963. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Ausbau des Sozialstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.Verschiebungen in der Parteienlandschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Innenpolitische Rückschläge für Adenauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ein Abschied auf Raten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

140 141 145 151 155

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Inhaltsverzeichnis

VII. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Auswahlbibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Personen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

Geschichte kompakt Das Interesse an Geschichte wächst in der Gesellschaft unserer Zeit. Historische Themen in Literatur, Ausstellungen und Filmen finden breiten Zuspruch. Immer mehr junge Menschen entschließen sich zu einem Studium der Geschichte, und auch für Erfahrene bietet die Begegnung mit der Geschichte stets vielfältige, neue Anreize. Die Fülle dessen, was wir über die Vergangenheit wissen, wächst allerdings ebenfalls: Neue Entdeckungen kommen hinzu, veränderte Fragestellungen führen zu neuen Interpretationen bereits bekannter Sachverhalte. Geschichte wird heute nicht mehr nur als Ereignisfolge verstanden, Herrschaft und Politik stehen nicht mehr allein im Mittelpunkt, und die Konzentration auf eine Nationalgeschichte ist zugunsten offenerer, vergleichender Perspektiven überwunden. Interessierte, Lehrende und Lernende fragen deshalb nach verlässlicher Information, die komplexe und komplizierte Inhalte konzentriert, übersichtlich konzipiert und gut lesbar darstellt. Die Bände der Reihe „Geschichte kompakt“ bieten solche Information. Sie stellen Ereignisse und Zusammenhänge der historischen Epochen der Antike, des Mittelalters, der Neuzeit und der Globalgeschichte verständlich und auf dem Kenntnisstand der heutigen Forschung vor. Hauptthemen des universitären Studiums wie der schulischen Oberstufen und zentrale Themenfelder der Wissenschaft zur deutschen, europäischen und globalen Geschichte werden in Einzelbänden erschlossen. Beigefügte Erläuterungen, Register sowie Literatur- und Quellenangaben zum Weiterlesen ergänzen den Text. Die Lektüre eines Bandes erlaubt, sich mit dem behandelten Gegenstand umfassend vertraut zu machen. „Geschichte kompakt“ ist daher ebenso für eine erste Begegnung mit dem Thema wie für eine Prüfungsvorbereitung geeignet, als Arbeitsgrundlage für Lehrende und Studierende ebenso wie als anregende Lektüre für historisch Interessierte. Die Autorinnen und Autoren sind in Forschung und Lehre erfahrene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Jeder Band ist, trotz der allen gemeinsamen Absicht, ein abgeschlossenes, eigenständiges Werk. Die Reihe „Geschichte kompakt“ soll durch ihre Einzelbände insgesamt den heutigen Wissensstand zur deutschen und europäischen Geschichte repräsentieren. Sie ist in der thematischen Akzentuierung wie in der Anzahl der Bände nicht festgelegt und wird künftig um weitere Themen der aktuellen historischen Arbeit erweitert werden. Kai Brodersen Martin Kintzinger Uwe Puschner Volker Reinhardt

In der Geschichte, wie auch sonst, dürfen Ursachen nicht postuliert werden, man muss sie suchen. (Marc Bloch)

I. Die Gründung der Bundesrepublik 1949 Überblick

D

ie zweite deutsche Republik unterschied sich in wesentlichen Punkten von der ersten: Bonn war nicht Weimar. Das lag sowohl an den internationalen Rahmenbedingungen wie an den politischen Richtungsentscheidungen der ersten Bundesregierung. Konrad Adenauer legte den Grundstein der Kanzlerdemokratie. Wirtschaftspolitische Schlüsselentscheidungen waren die von Ludwig Erhard forcierte Aufhebung der Preisbindung wichtiger Güter und Dienstleistungen, die von den Ame-

rikanern durchgesetzte Währungsreform und die Einbindung der Bundesrepublik in den Marshallplan, die wichtige psychologische Effekte hatte. Sie legten die Fundamente für das sogenannte Wirtschaftswunder. Die SPD bestimmte die Geschicke der frühen Bundesrepublik unter ihrem charismatischen Parteichef Kurt Schumacher aus der Opposition heraus mit, indem sie einen demokratischen Gegenentwurf zur Regierungspolitik formulierte.

3.–11.2.1945

Konferenz von Jalta (Roosevelt, Churchill, Stalin)

7./8.5.1945

Deutsche Kapitulation in Reims und in Berlin-Karlshorst

17. 7.–2.8.1945

Potsdamer Konferenz (Truman, Churchill/Attlee, Stalin)

6.9.1946

Byrnes-Rede in Stuttgart

1.1.1947

Offizieller Beginn der Bizone

12.3.1947

Verkündung der „Truman-Doktrin“

20.6.1948

Währungsreform in den drei Westzonen

3.4.1948

Inkrafttreten des Marshallplans

20.4.–2.6.1948

Londoner Sechs-Mächte-Konferenz über Deutschland

21.6.1948–12.5.1949 Berlin-Blockade 1.9.1948

Konstituierung des Parlamentarischen Rats in Bonn

23.5.1949

Verkündung des Grundgesetzes: Konstituierung der Bundesrepublik Deutschland

14.8.1949

Wahlen zum 1. Bundestag

7.9.1949

Konstituierende Sitzungen von Bundestag und Bundesrat

15.9.1949

Wahl Adenauers zum 1. Bundeskanzler

21.9.1949

Inkrafttreten des Besatzungsstatuts für die Bundesrepublik

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I.

Die Gründung der Bundesrepublik 1949

1. Deutschland und der Kalte Krieg a) Von der Potsdamer Konferenz zur Bizone Die Wurzeln des amerikanisch-sowjetischen Gegensatzes reichten bis zur russischen Oktoberrevolution zurück. Erst nach dem gemeinsamen Sieg über Nazi-Deutschland jedoch spitzte sich der Antagonismus derart zu, dass er alle anderen politischen Erwägungen überlagerte. In der zweiten Hälfte der vierziger Jahre wurde immer deutlicher, dass die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion unvereinbare Schlussfolgerungen aus der neuen Lage in Europa zogen. Die Amerikaner hatten im Verlauf des Zweiten Weltkriegs ihre traditionelle außenpolitische Strategie aufgegeben, sich nicht in europäische Angelegenheiten einzumischen. An die Stelle des Isolationismus trat die Überzeugung, jede Macht, die ganz Europa dominiere, bedrohe auch die USA tödlich. 1941 führte diese Überlegung zu einem informellen, später zu einem förmlichen Bündnis mit Großbritannien und Russland gegen das nationalsozialistische Deutschland. Nach dem Sieg über Hitler zog die US-Führung aus den gleichen Prinzipien andere Konsequenzen. Nun sah sie in der Eindämmung des ehemaligen sowjetischen Verbündeten zunehmend das wichtigste Ziel amerikanischer Politik. Die Bedrohung, die man in den USA wahrnahm, ging freilich nicht allein von der Sowjetunion aus, sondern ebenso sehr von den Folgen des Krieges in Europa. Die Vertreibung ganzer Bevölkerungsgruppen, die Zersplitterung von Familien und andere soziale Auflösungserscheinungen bereiteten nach amerikanischer Ansicht den Boden für eine Ausbreitung des Sozialismus nicht nur in Ost-, sondern auch in Mittel- und Westeuropa. Dem galt es durch die Errichtung stabiler politischer und ökonomischer Verhältnisse entgegenzuwirken. Die bolschewistische Führung unter Stalin leitete aus dem Sieg über Deutschland andere Schlussfolgerungen ab. In ihrer Sicht hatte die UdSSR den größten Beitrag zum Sieg über den Nationalsozialismus geleistet. Sie hatte allein in der Schlacht um Stalingrad so viele Soldaten verloren, wie die USA im gesamten Kriegsverlauf. Insgesamt waren etwa 27 Mio. sowjetische Soldaten und Zivilisten im Krieg ums Leben gekommen. Das verlangte nach Schutzmaßnahmen für die Zukunft und nach Zeit zum Wiederaufbau. Hinzu kam, dass den westlich-kapitalistischen Verbündeten in Stalins ideologischer Weltsicht langfristig nicht zu trauen war. Der Gegensatz zwischen Kommunismus und Kapitalismus bestimmte seiner Meinung nach weiterhin die Außenpolitik der Staaten. Dies legte den Gedanken nahe, nicht nur die Gebietsverluste, die Russland im Ersten Weltkrieg vom Baltikum bis Bessarabien erlitten hatte, rückgängig zu machen, sondern auch eine eigene Einflusszone in Ost- und Ostmitteleuropa zu schaffen und sie mit Hilfe pro-sowjetischer Regime abzusichern. Eine sowjetisch dominierte Zone im europäischen Osten würde nicht nur Sicherheit vor Deutschland gewähren, sondern langfristig, nach dem erwarteten Abzug der USA, auch Einflussmöglichkeiten in Mittel- und Westeuropa eröffnen. Die Spannungen zwischen den Siegermächten hatten Auswirkungen auf ihre Deutschlandpolitik. Zunächst überwog die Auffassung, das besiegte Deutschland aufzuteilen, unter strikte Kontrolle zu stellen und als machtstaatliches Zentrum auszuschalten. Auf der Konferenz von Teheran 1943 sprachen sich sowohl Stalin als auch US-Präsident Franklin D. Roosevelt (1882–1945) und der britische Premierminister Winston Churchill (1874–1965) für eine Zerstückelung des Landes aus. Frankreich unter Charles de Gaulle (1890–1970), das zu diesem Zeitpunkt noch nicht

1. Deutschland und der Kalte Krieg

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dem Kreis der Siegermächte angehörte, machte sich für eine Abtrennung der Rheinlande und des Ruhrgebiets sowie für eine Dezentralisierung Restdeutschlands stark. Nicht zuletzt aufgrund des zunehmenden Misstrauens unter den Alliierten wurden diese Pläne in den Folgejahren revidiert. V.a. Churchill und die britische Regierung begannen schon 1944 von den Aufteilungsplänen Abstand zu nehmen, weil sie zu der Einsicht gelangt waren, dass ein einheitliches Deutschland vonnöten sei, um das zu erwartende Übergewicht der Sowjetunion auf dem Kontinent auszubalancieren. Auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 hintertrieb Großbritannien die von Stalin vorgeschlagene Diskussion über eine Zerstückelung des Kriegsgegners. Der sowjetische Diktator selbst schwenkte wenig später ebenfalls auf eine gesamtdeutsche Lösung um. Auf diese Weise wollte er vermeiden, dass die Westmächte einen dominierenden Einfluss in der Mitte Europas gewännen. Zugleich galt es aus seiner Sicht, den Zugriff auf das Ruhrgebiet und dessen Industrie zu sichern, was für die Lösung der enormen sowjetischen Wiederaufbauprobleme wichtig war. Stichwort Stalin (1878–1953), eigentlich Iossif Wissarionowitsch Dschugaschwili, stammte aus Georgien und gehörte seit 1917 dem Politbüro der russischen Bolschewiki an. Nach Lenins Tod gelang es ihm, seine Konkurrenten einen nach dem anderen auszuschalten und unumschränkte Macht als Diktator zu gewinnen. Er sicherte seine Position durch rücksichtslose Vernichtung tatsächlicher und vermeintlicher Gegner in allen Bereichen der Gesellschaft. Diese fand ihren Höhepunkt im Ausbau eines verzweigten Netzes von Straf- und Arbeitslagern und in den „Säuberungen“ der dreißiger Jahre, in deren Verlauf Millionen Menschen ermordet wurden. Stalins erbarmungloser Industrialisierungspolitik fielen ebenfalls Millionen Sowjetbürger zum Opfer. In der Außenpolitik schloss er im Sommer 1939 einen Nichtangriffspakt mit Hitler ab, der auf der Aufteilung Polens beruhte und den deutschen Angriff im September 1939 erleichterte. Nach dem deutschen Überfall auf die UdSSR 1941 ging er ein Bündnis mit Großbritannien ein und kämpfte im Verein mit den Westmächten gegen Deutschland. Der Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ ermöglichte Stalin den weiteren Ausbau des Kults um seine Person. In den Jahren 1945 bis 1953 befand er sich auf dem Höhepunkt seiner Macht.

Im Sommer 1945 vereinbarte man auf der Konferenz von Potsdam eine Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen und einigte sich mühsam auf Grundregeln einer gemeinsamen Besatzungspolitik. Die Ansichten über die Konkretisierung dieser Bestimmungen sowie die generelle Ausrichtung der Politik im besetzten Deutschland liefen jedoch in der Folgezeit immer weiter auseinander. Anfangs schien Frankreich, das an der Konferenz nicht teilgenommen, den Potsdamer Beschlüssen aber im Nachhinein zugestimmt hatte, der größte Störfaktor zu sein. Es hielt an der Idee einer Aufteilung Deutschlands fest, beharrte auf Grenzkorrekturen im Westen, die Abtrennung des Rheinlands, Westfalens sowie des Ruhrgebietes und arbeitete auf eine Angliederung des Saargebiets an Frankreich hin. Die französischen Vertreter widersetzten sich zunächst konsequent der Errichtung zentraler deutscher Verwaltungsstellen. Der eigentliche Bruch verlief jedoch zwischen den drei Westmächten und der Sowjetunion. Diese nutzte den Hinweis auf die französische Obstruktionspolitik, um in ihrer eigenen Zone Veränderungen durchzusetzen, auf die man deutsche Exil-Kommunisten in Moskau vorbereitet hatte. Im September 1945 führte die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) mit Hilfe der deutschen Kommunistischen Partei (KPD) eine Bodenreform durch, die allen Groß-

I.

12

Die Gründung der Bundesrepublik 1949

grundbesitz über hundert Hektar entschädigungslos enteignete. Es folgten der Aufbau einer bewaffneten „Volkspolizei“, die Verstaatlichung der Schwer- und Schlüsselindustrien, eine Schulreform zur „Brechung des bürgerlichen Bildungsprivilegs“ sowie schließlich im April 1946 die Zwangsfusionierung der KPD mit der sozialdemokratischen Partei (SPD) zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Obwohl ein Mehrparteiensystem, das demjenigen in den Westzonen ähnelte, offiziell erhalten blieb, erfolgte unter dem Deckmantel der antifaschistischen Einheitsfront eine allmähliche Gleichschaltung der Parteien und die Etablierung einer Parteidiktatur der SED. Diese Entwicklung erschien den USA und Großbritannien umso bedrohlicher, als sie zum Verhalten der Sowjetunion in Ost- und Südosteuropa zu passen schien. Besonders wichtig für die beginnende strategische Umorientierung der Vereinigten Staaten wurde das Lange Telegramm, das der Botschaftsrat an der US-Botschaft in Moskau, George F. Kennan (1904–2005), im Februar 1946 an das amerikanische Außenministerium schickte. Stichwort

Langes Telegramm In seinem Langen Telegramm beschrieb Kennan, der sich seit Anfang 1945 für ein Ende der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion ausgesprochen hatte, die UdSSR als eine von ihrer polizeistaatlichen Struktur und ihrer asiatischen Tradition her notwendigerweise misstrauische und aggressive Macht. Sie sei darauf aus, „die innere Harmonie unserer Gesellschaft, unsere traditionellen Lebensgewohnheiten und das internationale Ansehen unseres Staates zu zerstören“. Moskau bediene sich dabei sowohl militärisch-politischen Drucks als auch der subversiven Agitation kommunistischer Parteien oder – wenn die Aussichten auf Erfolg groß genug erschienen – offener militärischer Intervention. Kennans Schlussfolgerung lautete, dass Kompromissbereitschaft von der Sowjetführung als Einladung zur weiteren Ausdehnung ihrer Macht verstanden werde. Nur eine Politik der Stärke würde respektiert. Die westliche Welt müsse deswegen unter amerikanischer Führung stabilisiert werden. Zwei Wochen später dehnte der Diplomat seine Analyse in einem zweiten Telegramm auf die sowjetische Deutschlandpolitik aus. Als deren Ziel glaubte er den Aufbau einer „antifaschistischen deutschen Republik“ und langfristig eines sozialistischen deutschen Staates nach sowjetischem Vorbild zu erkennen.

Kennans Ausführungen legten den Grundstein zur amerikanischen Politik der Eindämmung der UdSSR, die unter der Bezeichnung containment policy bekannt wurde. Auch in Großbritannien bereitete man sich inzwischen auf die Möglichkeit einer Teilung Deutschlands in eine sowjetisch dominierte und eine westliche Zone vor. Lediglich US-Außenminister James F. Byrnes (1897–1972) hielt zunächst an der Idee einer gemeinsamen Besatzungspolitik fest und bemühte sich, Kompromisslösungen mit der UdSSR zu erreichen. Erst nach dem Scheitern dieser Pläne auf der Pariser Außenministerkonferenz im Frühjahr 1946 schwenkte auch er auf die neue Linie ein. Bestärkt wurde dieser Entschluss durch eine Denkschrift, die der stellvertretende US-Militärgouverneur in Deutschland, Lucius D. Clay (1897–1978), in Paris vorlegte. Darin hieß es, nach einjähriger Besatzung seien die verschiedenen Zonen „zu luftdichten Territorien geworden, nahezu ohne jeden Austausch von Waren, Personen und Ideen“. Es könne jeden Moment „zu einer galoppierenden Inflation mit einer Lähmung des Wirtschaftslebens kommen“. Als Ausweg schlug Clay die wirtschaftliche Vereinigung der amerikanischen mit der britischen Zone vor.

1. Deutschland und der Kalte Krieg

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Der US-Vorschlag zur wirtschaftlichen Vereinigung der Besatzungszonen, den Byrnes noch vor Ende der Konferenz unterbreitete, richtete sich formal gesehen an alle Besatzungsmächte – in der Praxis kam jedoch nur eine Fusion mit der britischen, später womöglich auch mit der französischen Zone in Betracht. Ende Juli nahm die britische Regierung das amerikanische Angebot an. Zum 1. Januar 1947 trat die Bizone, die Keimzelle der späteren Bundesrepublik, ins Leben. In einer programmatischen Rede in Stuttgart im September 1946 legte der US-Außenminister dar, welche Implikationen die Gründung der Bizone mit sich brachte: die baldige Bildung einer „vorläufigen deutschen Regierung“ und den Aufbau der „notwendigen deutschen Zentralverwaltungskörper“. Das amerikanische Volk wolle dem deutschen Volk die Regierung seines Landes zurückgeben, schloss Byrnes: „Das amerikanische Volk will dem deutschen Volk helfen, seinen Weg zurückzufinden zu einem ehrenvollen Platz unter den freien und friedliebenden Nationen der Welt.“

b) Blockbildung und Berlin-Blockade Das Scheitern der Zusammenarbeit der Weltkriegsalliierten in Deutschland verdeutlichte, dass die Spannungen zwischen der Sowjetunion und den Westmächten eine neue Qualität erreicht hatten. An die Stelle des latenten Konflikts trat die offene Konfrontation. Das traditionelle europäische Staatensystem, dies wurde immer deutlicher, war im Zweiten Weltkrieg untergegangen und wurde zunehmend durch die neue weltpolitische Konstellation zweier antagonistischer Blöcke in Ost und West ersetzt. Stalin konnte nicht nur seine Position in Ostdeutschland absichern, sondern brachte darüber hinaus kommunistische Regimes in Polen, Rumänien und Bulgarien an die Macht. In Ungarn und der Tschechoslowakei arbeitete er auf kommunistische Staatsstreiche hin, die 1948 stattfanden. Gleichzeitig versuchte der Diktator die sowjetische Einflusszone in Richtung der Türkei und Griechenlands auszudehnen. Er meldete Ansprüche auf die Grenzgebiete um die Städte Ardahan und Kars im armenischen Hochland der Nordost-Türkei an, die bis 1917 bzw. 1920 zu Russland gehört hatten. Im griechischen Bürgerkrieg kämpften kommunistische Partisanen gegen die zurückgekehrte Exilregierung, die von britischen Verbänden unterstützt wurde. Die Blockbildung von westlicher Seite verlief auf mehreren Ebenen. Die kommunistischen Parteien schieden aus den breit gefächerten Koalitionen aus, die sich nach Kriegsende in Frankreich, Italien und Belgien gebildet hatten. Nachdem klar geworden war, dass Großbritannien seine Positionen in Griechenland und der Türkei nicht halten konnte, entschloss sich die US-Regierung zu einem direkten Engagement jenseits des Atlantiks. Die kommunistische Bürgerkriegspartei in Griechenland wurde mit US-Unterstützung schärfer bekämpft, und der türkischen Regierung wurden in einem Hilfsabkommen amerikanische Waffenlieferungen und Kredite gewährt. Im März 1947 verkündete Präsident Truman vor dem US-Kongress, die weltpolitische Landschaft sei in zwei Lager aufgeteilt: in die freie Welt und die totalitäre Welt. Jede Nation müsse wählen, zu welchem Lager sie gehören wolle, lautete seine als „Truman-Doktrin“ bekannt gewordene Botschaft. Die Aufgabe der USA sei es, die freien Völker – vorwiegend wirtschaftlich und finanziell – zu unterstützen, damit das von der Sowjetunion geführte totalitäre Lager den Status quo nicht erschüttere.

I.

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Stichwort Harry S. Truman (1884–1972) war soeben erst amerikanischer Vize-Präsident unter Roosevelt geworden, als er nach dessen Tod am 12. April 1945 unerwartet zum 33. Präsidenten der USA avancierte. Zu diesem Zeitpunkt war der Demokrat aus Missouri, der seinen Heimatstaat zwischen 1934 und 1944 im US-Senat vertreten hatte, ein weitgehend unbeschriebenes Blatt. Viele unterschätzten ihn zunächst wegen seiner schlichten Sprache und seines einfachen Auftretens, die gegenüber der Eloquenz und Eleganz seines Vorgängers abzufallen schienen. Doch Truman strafte die Skeptiker Lügen. Er ging als einer der bedeutendsten und tatkräftigsten US-Präsidenten des 20. Jahrhunderts in die Geschichte ein und bewies vor allem in der Außenpolitik, dass er umstrittene Entscheidungen nicht scheute. Im August 1945 beendete er durch den Einsatz der Atombombe den Krieg mit Japan im Pazifik und damit den Zweiten Weltkrieg, in dem er bis zum Schluss die Zusammenarbeit mit der UdSSR fortsetzte. 1946/47 entschied er, der Sowjetunion in Europa entgegenzutreten, und suchte zu diesem Zweck ein Bündnis mit den demokratischen Staaten Westeuropas . Auf diese Weise wurde er zum Vater der NATO und zum Begründer eines dauerhaften Engagements der USA in Europa. In der Innenpolitik bemühte sich der 1948 wiedergewählte Truman, der bis 1953 Präsident blieb, Roosevelts Erbe durch eine Fortführung der moderat staatsinterventionistischen, auf sozialen Ausgleich bedachten Wirtschaftspolitik fortzusetzen.

Trumans Erklärung blieb von sowjetischer Seite nicht unbeantwortet. Sechs Monate später teilte Andrej Shdanow (1896–1948), ein Vertrauer Stalins, die Welt ebenfalls in zwei antagonistische Lager ein: das imperialistische unter Führung der USA und das antiimperialistische der sozialistischen Staaten. Shdanow hielt seine Rede auf der Gründungskonferenz des Kominform (Informationsbüro der kommunistischen und Arbeiterparteien), das im September 1947 auf Stalins Initiative in Schreiberhau im Erzgebirge ins Leben gerufen wurde. Es war die Nachfolgeorganisation der Kommunistischen Internationale (Komintern), die Stalin 1943 im Interesse seines Bündnisses mit den Westmächten aufgelöst hatte. Beide Organisationen dienten in der Praxis dazu, die Hegemonie und Kontrolle der sowjetischen kommunistischen Partei (KPdSU) gegenüber den kommunistischen Parteien anderer Länder sicherzustellen. Sowohl Truman als auch Shdanow zogen aus ihrer Analyse der weltpolitischen Situation den Schluss, das eigene Lager müsse sich fester zusammenschließen, um den bedrohlichen Einfluss der anderen Seite einzudämmen. Die US-Regierung entschloss sich, den Wiederaufbau Europas durch amerikanische Hilfsmaßnahmen zu unterstützen und voranzutreiben. „Ohne schnelle und gründliche Hilfe der Vereinigten Staaten“, schrieb ein Unterstaatssekretär im State Department 1947, „wird Europa von wirtschaftlicher, sozialer und politischer Auflösung überwältigt werden.“ Das wichtigste Mittel, mit dessen Hilfe die USA diesen Auflösungserscheinungen entgegenarbeiten und eine Weltwirtschaftskrise mit ihren unberechenbaren Auswirkungen auf Europa und Amerika verhindern wollten, war der Marshallplan. Er trug dazu bei, die Zusammenarbeit zwischen den Staaten Westeuropas zu stärken und die Anfänge der westeuropäischen Integration zu beschleunigen. Die Amerikaner hatten Wert darauf gelegt, ihre Wirtschaftshilfe nicht jedem Land einzeln zu gewähren. Vielmehr forderten sie als europäische Vorleistung die Einigung auf ein gemeinsames Wirtschaftsprogramm sowie das fortgesetzte Bemühen um wirtschaftspolitische Kooperation. Die Staaten, die am Marshallplanprogramm teilnehmen wollten, griffen diese Initiative auf und gründeten nach längeren Querelen im Frühjahr 1948 die „Organization for European Economic Cooperation“. Die OEEC hatte drei Aufgaben: Sie sollte erstens – als Gegenstück zur amerika-

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nischen Marshallplan-Behörde – das Programm in Europa koordinieren und durchführen. Zweitens diente sie der Beseitigung von Handelsschranken, der Herabsetzung von Zöllen und der Abschaffung anderer Hindernisse für einen freien Handel innerhalb Westeuropas. Die dritte Aufgabe bezog sich auf die Liberalisierung des Zahlungsverkehrs in Europa. Die OEEC sollte dafür sorgen, dass Währungen konvertibel und stabile Wechselkurse eingerichtet wurden. In Bezug auf die Entwicklung in Deutschland hatte der Marshallplan einen weiteren – indirekten – Effekt. Die Amerikaner gingen davon aus, dass wirtschaftliche Hilfe nicht genüge, um den ökonomischen Wiederaufbau der deutschen Westzonen zu erreichen. Ebenso wichtig war ihrer Meinung nach eine Währungsreform als flankierende Maßnahme (siehe unten Kap. I.3.b)), wenn der zu gründende Weststaat auf einer soliden Basis stehen sollte. Gegen sowjetischen Widerstand fochten sie die Reform im Juni 1948 durch und ersetzten in den Westzonen die Reichsmark durch ein neues Zahlungsmittel: die D-Mark. Moskau reagierte, indem es seinerseits eine Währungsreform für die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) und ganz Berlin anordnete. Nachdem Verhandlungen der Vier Mächte über eine gemeinsame Währung in Berlin – die sog. Bären-Mark – gescheitert waren, führten die Westalliierten die DM auch in Berlin ein. Stichwort

Marshallplan Über die Marshallplanhilfe ließen die USA Westeuropa bis Ende 1952 insgesamt 14 Mrd. $ zukommen – meist in Form von Warenlieferungen. Den größten Anteil erhielten Großbritannien (3,4 Mrd.), Frankreich (2,8 Mrd.) und Italien (1,5 Mrd.); die deutschen Westzonen und Berlin erhielten insgesamt 1,4 Mrd. Für die Westintegration der deutschen Westzonen war der Marshallplan von entscheidender Bedeutung, basierte er doch auf der Erkenntnis, dass die europäische nicht ohne die deutsche Wirtschaft – insbesondere nicht ohne das Ruhrgebiet – wieder aufgebaut werden konnte. Westdeutschland wurde deswegen ganz bewusst in das Programm einbezogen. Seinen Namen verdankte der Plan seinem Initiator George C. Marshall (1880–1959), der 1947 als Nachfolger von Byrnes Außenminister geworden war. Zuvor hatte Marshall von 1939 bis 1945 als Generalstabschef den Ausbau der amerikanischen Streitkräfte und die strategischen Planungen der USA geleitet. Nach seinem Abschied vom State Department 1949 war Marshall, der 1953 den Friedensnobelpreis erhielt, von 1951 bis 1952 Verteidigungsminister. Clay, der voller Bewunderung für ihn war, sagte später einmal, die Größe Marshalls habe darin bestanden, dass er in Milliarden dachte, wo das übrige Washington nur in Millionen rechnete, um Europa zu sanieren.

Dies wiederum veranlasste die Sowjetunion im Juni 1948, den Westteil Berlins von der Außenwelt abzuschnüren. Ab dem 21. Juni blockierte sie alle Eisenbahn-, Straßen- und Schiffsverbindungen zwischen Berlin und den Westzonen. Die Stromversorgung wurde ebenfalls gekappt. Nur die Luftverkehrswege blieben unangetastet. Zunächst begründeten die sowjetischen Stellen die Unterbrechung mit „technischen Schwierigkeiten“. Wenig später ließen sie jedoch durchblicken, die technischen Probleme würden so lange anhalten, bis der Westen seine Pläne für eine westdeutsche Regierung begraben hätte. Die Sowjetunion verfolgte mit der Blockade West-Berlins zwei Ziele: Zunächst sollten die USA und Großbritannien gezwungen werden, zu den Potsdamer Vereinbarungen über eine gemeinsame Vier-Mächte-Verantwortung für ganz Deutschland zurückzukehren. Sollte sich dies als nicht durchsetzbar erweisen, wollte man den Westen wenigstens zwingen, West-Berlin aufzuge-

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ben, das als Insel mitten in der SBZ lag. Die Amerikaner, für die nicht nur ihre Rechte in Berlin, sondern auch ihre Glaubwürdigkeit in Deutschland und Europa auf dem Spiel standen, erwogen zwei verschiedene Reaktionen auf die sowjetische Herausforderung. Der politische Planungsstab im State Department entwickelte unter der Leitung Kennans ein Konzept, demzufolge die UdSSR und der Westen einen beiderseitigen Truppenabzug aus Deutschland vereinbaren und die Wiederherstellung eines unabhängigen gesamtdeutschen Staates aushandeln sollten. „Wir könnten dann ohne Prestigeverlust aus Berlin abziehen“, hieß es in einem Memorandum vom August 1948, „und die Bevölkerung der Westsektoren würde nicht unter sowjetische Herrschaft fallen, weil die Russen die Stadt ebenfalls verlassen würden.“ Eine entgegengesetzte Position vertrat General Clay, der davor warnte, in Berlin Nachgiebigkeit zu zeigen. „Nach Berlin wird Westdeutschland kommen, und unsere Machtstellung ist dort nicht größer und unsere Position nicht haltbarer als in Berlin“, hatte er bereits im April düster bemerkt. „Wenn wir der Ansicht sind, dass wir Europa gegen den Kommunismus halten müssen, dann dürfen wir uns nicht vom Fleck rühren.“ Statt einer Neutralisierung Deutschlands, wie das Außenministerium sie erwog, befürwortete Clay ein Festhalten an den Weststaatsplänen und eine Versorgung der Stadt über eine Luftbrücke – eine Position, mit der er sich schließlich bei Präsident Truman durchsetzte. Stichwort

Luftbrücke Fast ein Jahr lang – vom Juni 1948 bis zum Mai 1949 – hing das Schicksal der Berliner Bevölkerung von der sog. Luftbrücke der Westmächte und den Flügen der alliierten „Rosinenbomber“ ab. Diese brachten in mehr als 270000 Flügen fast zwei Mio. Tonnen Versorgungsgüter nach Berlin: Kohle, Lebensmittel, Industriegüter, sogar Bauteile für ein Kraftwerk. Während dieser Zeit veränderte sich nicht nur das Image der Westmächte in Deutschland. Auch das amerikanische Bild, wenn nicht von den Deutschen insgesamt, so doch von Berlin und den Berlinern wandelte sich: Aus der Hauptstadt des „Dritten Reiches“ wurde ein „Bollwerk der Freiheit“, ein Symbol des Selbstbehauptungswillens der „freien Welt“ im Kampf gegen die Sowjetunion.

Während die Sowjetunion versuchte, die Westmächte in Berlin zur Aufgabe zu zwingen, liefen in den deutschen Westzonen die Vorbereitungen für die Gründung der Bundesrepublik auf Hochtouren. Schon im März 1948 hatten die USA und Großbritannien auf der Londoner SechsMächte-Konferenz die zunächst widerstrebenden Benelux-Staaten und Frankreich dazu gebracht, einer Umwandlung der westdeutschen Wirtschaftszone in einen regelrechten Staat zuzustimmen. Vier Monate später riefen die Besatzungsmächte in Frankfurt am Main die elf westdeutschen Ministerpräsidenten zusammen – zu diesem Zeitpunkt die einzigen demokratisch legitimierten Vertreter des deutschen Volkes –, um ihnen die Beschlüsse von London mitzuteilen. Jeder der drei Militärgouverneure verlas in seiner Muttersprache ein Dokument. Clay gab Richtlinien für die Verfassung des künftigen Staates bekannt, die die Deutschen selbst ausarbeiten sollten. Sir Brian Robertson (1896–1974), der Brite, verkündete die Prinzipien einer Neuordnung der Länder. Der Franzose Pierre Koenig (1898–1970) trug Grundzüge eines Besatzungsstatuts vor, das die Rechte der Siegermächte in Deutschland regeln würde. Alle drei machten deutlich, dass sie diese „Frankfurter Dokumente“ für ein großzügiges Angebot hielten.

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Die Ministerpräsidenten waren jedoch keineswegs nur erfreut. Zwar boten die Dokumente den Deutschen die Chance, ihre Zukunft selbst mitzugestalten – freilich unter strikter Aufsicht der Alliierten. Zugleich fürchteten die deutschen Politiker aber, die Teilung des Landes zu zementieren, wenn sie das in den Dokumenten Festgeschriebene umsetzten. Entsprechend hinhaltend reagierten sie zunächst. Die Bedenkenträger setzten sich aber nicht durch. V.a. amerikanischer Druck sorgte dafür, dass noch im August ein Sachverständigenausschuss, der sog. Herrenchiemseer Verfassungskonvent, zusammentrat, um im Auftrag der Ministerpräsidenten den Entwurf einer provisorischen Verfassung – des „Grundgesetzes“ – zu erarbeiten. Am 1. September kam dann in Bonn der Parlamentarische Rat zusammen, dem die weitere Verfassungsarbeit oblag. Der Rat tagte und beriet neun Monate lang – immer wieder unterbrochen von den Besatzungsmächten, die durch Memoranden und Verbindungsoffiziere eingriffen. Am 12. Mai 1949 genehmigten die drei alliierten Militärgouverneure das Grundgesetz. Am selben Tag gab die Sowjetunion nach elf Monaten die Zufahrtswege nach Berlin wieder frei. Stalin gestand damit sein Scheitern ein. Die sowjetische Aktion hatte die Gründung des Weststaates verhindern oder zumindest die Westmächte aus Berlin vertreiben sollen. Stattdessen hatte sie das Gegenteil bewirkt. Die Gründung der Bundesrepublik war nicht mehr aufzuhalten, und die Präsenz der westlichen Alliierten in Berlin bestand fort. Es wäre ein Fehler anzunehmen, dass 1949 die dauerhafte Teilung Deutschlands absehbar gewesen sei. Viele rechneten mit kurzlebigen Provisorien. Wer glaube, von nun an würden die beiden Teile Deutschlands getrennte Wege gehen, sitze einem gefährlichen Irrtum auf, konnte man anlässlich der Gründung der DDR am 7. Oktober in der britischen Zeitschrift Observer lesen: „Niemand hat zu irgendeinem Zeitpunkt einer Teilung Deutschlands zugestimmt oder sie stillschweigend akzeptiert, weder die Westalliierten noch die Russen noch die Deutschen. Die Bonner Regierung betrachtet sich nicht als Regierung Westdeutschlands, und die von den Russen geförderte Regierung, die sich nun in Ost-Berlin formiert, versteht sich auch nicht als Regierung Ostdeutschlands. Beide erheben den Anspruch Gesamtdeutschland zu vertreten. … Auch die Masse des deutschen Volkes, das sich rapide aus der Erstarrung nach der Niederlage erholt, denkt keinen Moment daran, sich mit dem Gedanken an eine geteilte Nation abzufinden.“

c) Bonn ist nicht Weimar Nationen, deren Geschichte durch Umbrüche, Verfassungswechsel und den Sturz politischer Regimes gekennzeichnet ist, stehen vor der Notwendigkeit, mit Namen und Begriffen Ordnung zu schaffen. In Frankreich, wo man die Republiken nummeriert, begann 1958 die fünfte. In Deutschland setzte sich die Verbindung mit Städtenamen durch. Das thüringische Weimar, von Februar bis September 1919 Tagungsort der verfassunggebenden Nationalversammlung, verschaffte der ersten deutschen Republik ihren Namen. Das Universitätsstädtchen Bonn, wo der Parlamentarische Rat zusammenkam und später Regierung und Parlament des westdeutschen Teilstaates ihren Sitz nahmen, avancierte zum Synonym für die Bundesrepublik zwischen 1949 und 1990. Die Bezeichnung „Bonner Republik“ wurde zwar erst im Rückblick populär – nach der Wiedervereinigung, dem Umzug der Bundesregierung an die Spree und dem Beginn der „Berliner Republik“. Der Begriff ist jedoch mehr als ein bloßes Konstrukt von Historikern. Bereits Zeitgenossen spra-

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chen von „Bonn“, wenn sie das westdeutsche Staatswesen insgesamt meinten. „Bonn ist nicht Weimar“, lautete zum Beispiel der Titel eines 1956 erschienen Buches des Schweizer Publizisten Fritz René Allemann (1910–96). Darin behauptete dieser, die Entwicklung der zweiten deutschen Demokratie unterscheide sich in wesentlichen Punkten positiv von der 1933 untergegangenen ersten. Allemanns These überzeugte nicht alle Leser. Fielen nicht auf den ersten Blick wichtige Gemeinsamkeiten ins Auge? Beide Male wurde die Republik aus Krieg und Niederlage geboren. Beide Male markierte sie das Ende eines deutschen Reiches – im einen Fall des Kaiserreichs der Hohenzollernmonarchie, im anderen Fall des angeblich tausendjährigen „Dritten Reichs“ der Nationalsozialisten. Im Hinblick auf die privatkapitalistische Wirtschaftsverfassung und die politische Grundordnung einer repräsentativen parlamentarischen Demokratie ähnelten sich Bonn und Weimar ebenfalls. Zudem fiel auf, dass große Teile der politischen Elite Nachkriegsdeutschlands jener Generation angehörten, die bereits in der Weimarer Republik aktiv gewesen war. Der CDUPolitiker Konrad Adenauer (1876–1967), der Sozialdemokrat Kurt Schumacher (1895–1952) und der Liberale Theodor Heuss (1884–1963), um nur drei prominente Beispiele zu nennen, hatten allesamt zum politischen Establishment der ersten deutschen Republik gehört – der erste als Kölner Oberbürgermeister und Präsident des preußischen Staatsrats, die beiden anderen als Reichstagsabgeordnete der SPD bzw. der Deutschen Demokratischen Partei (DDP). Angesichts derartiger personeller Verbindungslinien verwundert es kaum, wenn sozialistische und linksliberale Intellektuelle den konservativen Geist der Epoche kritisierten. „Unser Traum von einer Erneuerung Deutschlands ist zu Ende“, schrieb im Oktober 1949 der damals noch in Ost-Berlin lebende Schriftsteller Alfred Kantorowicz (1899–1979). „Die Politiker von gestern haben das Heft nun wieder fest in der Hand, drüben und hüben.“ Der Publizist Walter Dirks (1901–91) sprach ein Jahr später in einem Aufsatz in den „Frankfurter Heften“ von einer regelrechten „Restauration“, die Formen, Symbole und Mächte der Vergangenheit heraufbeschwöre. Männern wie Kantorowicz und Dirks schien der Gedanke abwegig, in Bonn könne gelingen, was in Weimar gescheitert war. Tatsächlich sprach manches dafür, dass die Ausgangslage nach dem Zweiten Weltkrieg schlechter war als nach dem Ersten. Zwischen 1914 und 1918 hatten deutsche Soldaten bis zum Schluss auf fremdem Boden gekämpft. Seit 1942 kam der Krieg nach Deutschland. Zuerst durch die Luftangriffe, später mit den Soldaten der Alliierten. Allein in den letzten vier Monaten des Krieges wurden 7 Mio. Deutsche durch Bombardements obdachlos. Rund die Hälfte des Wohnraums lag in Trümmern, 20% der Industrieanlagen, 40% der Straßen und Eisenbahnlinien waren zerstört. Entsprechend groß war die Not – besonders in den Städten. Das Durchschnittsgewicht von männlichen Erwachsenen lag Mitte 1946 in der amerikanischen Besatzungszone bei 51 Kilogramm. In Köln erreichten Ende 1945 nur 12% der Kinder das ihrem Alter entsprechende Normalgewicht. Besonders schlecht ging es den Vertriebenen, die aus den Ostgebieten des untergegangenen Deutschen Reiches, aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn flohen und in langen Trecks nach Westen strömten. Ende 1946 waren es 5,6 Mio., bis 1950 stieg ihre Zahl im Gebiet der Bundesrepublik auf mehr als 8 Mio. Ihre auch nur notdürftige Unterbringung und Versorgung stellte die Verwaltungen vor enorme Probleme. „Rein praktisch“, hieß es im August 1945 pessimistisch in einer britischen Sonntagszeitung, „kann Deutschland, zur Zeit eher ein Land von Höhlenbewohnern, nicht sieben Millionen Neuan-

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kömmlinge aufnehmen. Ökonomisch kann es sie auf keinen Fall integrieren – schon gar nicht in eine Wirtschaft, die durch die Demontage von Industrieanlagen, Reparationszahlungen und den Verlust einiger ihrer reichsten Provinzen drastisch reduziert ist. Die Zuwanderer würden für immer arbeitslos, für immer Not leidend und – für immer politischer Sprengstoff sein. Die Ankunft dieser sieben Millionen könnte für ein schwer ausgeblutetes, schwaches, auf dem Weg der Erholung befindliches Land tödlich sein. Ähnliche Sorgen lösten die gewaltigen Gebietsverluste aus, die Deutschland nach 1945 hinnehmen musste. Pommern, Schlesien und das südliche Ostpreußen fielen an Polen. Der nördliche Teil Ostpreußens mit Königsberg wurde in die Sowjetunion eingegliedert. Auch nach dem Ersten Weltkrieg hatte Deutschland Provinzen verloren, war jedoch ein einheitlicher Staat geblieben. 1949 hingegen war es bereits vor der Gründung der Bundesrepublik und der DDR de facto zweigeteilt. Vorpommern, Mecklenburg, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Thüringen und Sachsen bildeten einen separaten, von der kommunistischen SED dominierten Staat unter sowjetischer Oberhoheit. Alles in allem bedeckte das Territorium der Bundesrepublik nicht mehr als die Hälfte des früheren Deutschen Reiches – 53% des Staatsgebietes von 1937, 46% des Territoriums von 1871. Der verbliebene Rest umfasste im Verhältnis deutlich weniger landwirtschaftliche Nutzfläche als die Weimarer Republik. Nicht wenige Ökonomen sorgten sich, wie die westdeutsche Bevölkerung, geschweige denn die Flüchtlinge aus dem Osten ernährt werden könnten. Auch im Hinblick auf den völkerrechtlichen Status war Bonns Ausgangssituation ungünstiger als diejenige Weimars. Als die Nationalversammlung im Februar 1919 erstmals zusammentrat, war nur das Rheinland von französischen und britischen Einheiten besetzt. Nach der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht im Mai 1945 hingegen standen Truppen der Alliierten im ganzen Land und herrschten dort mit der uneingeschränkten Macht der Sieger. Diese Situation änderte sich erst, als der amerikanische, britische und französische Militärgouverneur im Mai 1949 ein Besatzungsstatut verkündeten, das mit der Konstituierung der ersten Bundesregierung im September wirksam wurde. In diesem Statut, das Vorrang vor dem Grundgesetz hatte, definierten und begrenzten die Westmächte ihre Befugnisse, behielten sich aber wichtige Zuständigkeiten und Vetorechte vor: für Abrüstungsfragen und wirtschaftliche Entflechtung, für Restitutionen und Reparationen, für Auswärtige Angelegenheiten im Allgemeinen, für die Überwachung des Außenhandels und der Devisenwirtschaft im besonderen. In erster Linie aber sicherten sie sich in der sog. Notfallklausel das Recht, „die Ausübung der vollen Gewalt ganz oder teilweise wieder zu übernehmen, wenn sie zu der Auffassung gelangen, dass dies für die Sicherheit, zur Bewahrung einer demokratischen Regierung in Deutschland und in der Verfolgung der internationalen Verpflichtungen ihrer Regierungen nötig ist“. Rechtlich betrachtet, war die Bundesrepublik zunächst nicht viel mehr als ein gemeinsames Protektorat der drei Westmächte.

d) Die Chancen des Neuanfangs Der Zustand der Machtlosigkeit barg für die künftige politische Führung der Bundesrepublik aber auch Vorteile, die erst im Rückblick richtig deutlich wurden. So war die Frage der Kriegsschuld diesmal unstrittig. Das NS-Regime hatte 1939 einen Eroberungskrieg in Europa begonnen und 1941 zum Weltkrieg ausgeweitet, der sich durch nichts rechtfertigen ließ. Im Unterschied zu

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1918 erlaubten die alliierte Forderung nach bedingungsloser Kapitulation sowie Hitlers wahnwitzige Weigerung aufzugeben keinen Zweifel am Ausmaß und an der Unausweichlichkeit der Niederlage. Anders als nach dem Waffenstillstand 1918 konnte im Mai 1945 niemand behaupten, die deutsche Armee sei im Felde unbesiegt geblieben und nur einem angeblichen Verrat durch die Heimatfront zum Opfer gefallen. Es gab keine Vorwürfe gegen irgendwelche „Novemberverbrecher“ und keine zweite Dolchstoßlegende. Das Problem einer Neuauflage der „Schmach von Versailles“ stellte sich nicht, weil aufgrund der Uneinigkeit der Sieger und wegen des Kalten Kriegs überhaupt kein Frieden ausgehandelt wurde. Langfristig noch wichtiger war die Monstrosität der nationalsozialistischen Verbrechen, die nach Kriegsende immer deutlicher zutage trat. Die organisierte Ausrottung des größten Teils der europäischen Juden, die systematische Vernichtungspolitik gegen Polen, Russen, Zigeuner, Homosexuelle und andere als rassisch minderwertig Erachtete war derart ungeheuerlich, dass eine unverhüllt positive Bezugnahme auf das „Dritte Reich“ in der deutschen Öffentlichkeit fortan unmöglich war. Zwar mochte das hinter verschlossenen Türen, in Privatgesprächen noch längere Zeit hindurch anders sein (siehe Kap. IV.2.c)). Dennoch konnte es kein deutscher Politiker, der ernst genommen werden wollte, nach 1945 wagen, Hitler und den Nationalsozialismus gegen die bestehende Ordnung auszuspielen, wie das mit Kaiser Wilhelm II. und der Hohenzollernmonarchie in der Weimarer Republik möglich gewesen war. Hinzu kam, dass nach dem Zweiten Weltkrieg anders als nach 1918 die Siegermächte die Aburteilung der Protagonisten des untergegangenen Regimes übernahmen. Weder in den Hauptkriegsverbrecherprozessen in Nürnberg noch in den insgesamt 5035 anderen Prozessen, die bis 1949 unter alliierter Regie stattfanden, spielten Deutsche als Ankläger oder Richter eine herausgehobene Rolle. Auf diese Weise blieb es dem westdeutschen politischen Establishment der Nachkriegszeit erspart, sich gegen Vorwürfe des „Vaterlandsverrats“ zu Wehr setzen zu müssen, wie sie gegen die Protagonisten der Weimarer Republik erhoben worden waren. Ein weiterer Vorteil der Besatzungsherrschaft bestand darin, dass die schlimmen Jahre des Hungers, der Zerstörung, der rationierten Lebensmittel und Hamsterfahrten zwischen 1945 und 1948 nicht mit der neuen westdeutschen Regierung, sondern mit den Siegermächten assoziiert wurden. Die Alliierten trafen die meisten der harten, häufig unpopulären Entscheidungen, die für den wirtschaftlichen Neuanfang notwendig waren. Die Währungsreform fand auf ihre Initiative und unter ihrer Kontrolle statt ebenso wie im März 1948 die Gründung der „Bank deutscher Länder“, die 1957 in „Bundesbank“ umbenannt wurde. Ein zonenübergreifendes, westdeutsches Parlament existierte bis zum Sommer 1949 nicht. Am nächsten kam der Idee einer repräsentativen Volksvertretung noch der Wirtschaftsrat der Bi-, später der Trizone, der seit Juni 1947 in Frankfurt tagte und dessen Mitglieder von den Landesparlamenten gewählt wurden. Auch wenn die Tätigkeit des Wirtschaftsrats in der Praxis bald von den deutschen Parteien bestimmt wurde, sollte er doch nach dem Willen der Besatzungsmächte bewusst ein unpolitisches, lediglich mit Verwaltungsaufgaben betrautes Gremium sein. So kam es, dass die Westdeutschen die heftigsten Geburtswehen der wirtschaftlichen Erholung hinter sich hatten, als der erste Bundestag zusammentrat. Die Weimarer Parlamente und Regierungen hingegen hatten selbst mit schwierigen Problemen wie der Demobilmachung, einer galoppierenden Inflation sowie allgegenwärtigen Kohleund Lebensmittelengpässen kämpfen müssen, was die Legitimation der jungen Republik von Anfang an schwer beeinträchtigt hatte.

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Ein weiterer Vorteil bestand darin, dass die 61 Väter und vier Mütter des Grundgesetzes aus dem lernen konnten, was sie rückblickend als die Fehler Weimars erachteten. Den meisten Abgeordneten des Parlamentarischen Rates, deren Durchschnittsalter 56 Jahre betrug, war das Scheitern der ersten deutschen Republik aus persönlichem Erleben bekannt. Viele führten den Untergang v.a. auf das Versagen der Verfassung zurück, die es zu verbessern galt, wollte man eine Wiederholung der deutschen Katastrophe verhindern. Ob eine optimierte Verfassung tatsächlich den Mangel an überzeugten Demokraten hätte wettmachen können, an dem Deutschland in der Zwischenkriegszeit litt, erscheint fraglich. Entscheidend ist aber, dass man die Entstehung des Grundgesetzes ohne den Hintergrund der „Lehren von Weimar“ nicht verstehen kann. Die wichtigste dieser Lehren lautete, dass sich die Demokratie rechtzeitig vor ihren Feinden schützen müsse. Sie müsse „den Mut zur Intoleranz denen gegenüber haben, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie selbst umzubringen“, wie der Sozialdemokrat Carlo Schmid (1896–1970), der spätere Vorsitzende des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates, am Beginn der Verfassungsberatungen erklärte. Schmid drückte aus, was die meisten dachten. Über den Grundsatz der „streitbaren“ oder „wehrhaften“ Demokratie, der das Grundgesetz von der Weimarer Verfassung unterschied, herrschte weitgehend Einvernehmen. Konkret bedeutete dies dreierlei: Erstens durften die klassischen Grundrechte auch von einer Zweidrittelmehrheit des Bundestages in ihrem Wesensgehalt nicht verändert werden. Sie wurden dem Grundgesetz vorangestellt und hatten den Status unmittelbar geltenden Rechts – anders als in Weimar, wo sie als bloße „Programmsätze“ vom Reichstag prinzipiell verändert werden konnten. Zweitens sah das Grundgesetz die Möglichkeit vor, politische Parteien zu verbieten, wenn diese nach ihren Zielen oder dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgingen, die freiheitlich demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen, zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik zu gefährden (Art. 21 II). Drittens wurden die Grundsätze wie Demokratie, Gewaltenteilung, Föderalismus, Sozial- und Rechtsstaatlichkeit für unabänderlich erklärt (Art. 79 III). Stichwort

Föderalismus Auch im Hinblick auf die ausgeprägt föderalistische Struktur unterschied sich die Bonner von der Weimarer Republik. Es war nicht ohne Bedeutung, dass die Bildung der Länder durch die Siegermächte der Gründung der Bundesrepublik zeitlich vorausgegangen war. Im Parlamentarischen Rat herrschte Konsens über die – ohnehin von den Alliierten nachdrücklich verlangte – Errichtung eines Bundesstaates. Nicht nur der Zentralstaat, sondern auch die Gliedstaaten sollten legislative, exekutive und judikative Kompetenzen und Institutionen besitzen; Art. 30 des Grundgesetzes bestimmte sogar, dass die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben den Ländern obliegen, soweit keine anderen Regelungen getroffen würden. Umstritten war im Parlamentarischen Rat die Frage, in welcher Form die Bundesländer an der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes mitwirken sollten. Schließlich setzte sich die von Sozialdemokraten und der CSU befürwortete „Bundesratslösung“ durch. Diese sah eine aus Vertretern der Landesregierungen gebildete Länderkammer vor, während die CDU eine „Senatslösung“ mit einer nach dem Vorbild des US-Senats gewählten Zweiten Kammer favorisiert hatte. Die Sozialdemokraten erhofften sich von dieser Regelung v.a. eine relative Stärkung der Zentralgewalt, weil der Bundesrat über weniger verfassungsmäßige Befugnisse verfügen würde als der amerikanische Senat. Die CSU versprach sich von der

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Bundesratslösung einen stärkeren Einfluss der Länder auf die Bundespolitik. Der bundesdeutsche Föderalismus profitierte von dem Umstand, dass nach der Auflösung Preußens durch die Alliierten 1947 das Verhältnis der verschiedenen Regionen zueinander ausgeglichener und spannunsgfreier war als im Reich, wo mehr als 60% der Bevölkerung in Preußen gelebt hatten. Zudem erwiesen sich die ‚künstlich‘ neugebildeten Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen oder Rheinland-Pfalz als stabil und dauerhaft. Nur einmal wurde von der im Grundgesetz eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht, per Volksabstimmung die Ländergrenzen zu verändern. Das war im Dezember 1951, als die Südwestdeutschen dafür votierten, die Länder Württemberg-Baden, Württemberg-Hohenzollern und Baden zum neuen Bundesland Baden-Württemberg zusammenzufassen.

Eine weitere Konsequenz aus dem Scheitern der Weimarer Republik bestand in dem Verzicht auf die plebiszitären Elemente der Weimarer Reichsverfassung. Man fürchtete, dass Volksbegehren und Volksentscheid zu einer Wiederholung jener politischen Radikalisierung führen könnten, an der Weimar zugrunde gegangen war. Das Grundgesetz sah sie lediglich im Falle einer Neugliederung von Bundesländern vor. Ähnliche Überlegungen lagen der Veränderung der Befugnisse des Staatsoberhauptes zugrunde, die das Grundgesetz vornahm. Zwar wurde das Amt nicht völlig abgeschafft, wie die Sozialdemokraten zeitweise gefordert hatten. Der Bundespräsident büßte aber im Vergleich zum Reichspräsidenten Rechte und Befugnisse ein. Er wurde weitgehend auf Repräsentationsaufgaben beschränkt, war nicht mehr der direkt vom Volk gewählte „Ersatzkaiser“, der in Krisensituationen mit Hilfe von Notverordnungen am Parlament vorbei regieren konnte. Das Staatsoberhaupt erhielt in der Bundesrepublik nur wenige, eingeschränkte und zeitlich befristete Funktionen für Krisenfälle. Es wurde nicht mehr direkt vom Volk gewählt, sondern von der Bundesversammlung (bestehend aus den Abgeordneten des Bundestages und einer gleichen Anzahl von den Länderparlamenten bestimmter Personen). Es verlor überdies den Einfluss auf die Regierungsbildung und die Berufung des Kanzlers, die der Reichspräsident besessen hatte. Damit knüpfte das Grundgesetz bewusst nicht an den Weimarer Dualismus in der Staatsführung an, der auf einer sorgfältig austarierten Balance zwischen Parlament und Präsident beruht und im Notverordnungsparagraphen gleichsam eine „Reserveverfassung“ (Hagen Schulze) vorgesehen hatte. Im gleichen Maße wie der Parlamentarische Rat das Amt des Präsidenten schwächte, stärkte er dasjenige des Kanzlers. Dieser erhielt das Recht zur Ernennung und Entlassung der Minister. Er bestimmt die „Richtlinien der Politik“ (Art. 65), legt den Zuschnitt der Ministerien fest und hat bei Unstimmigkeiten zwischen den Ressorts die ausschlaggebende Stimme. Anders als der Reichsist der Bundeskanzler vom Präsidenten weitgehend unabhängig, und auch gegenüber dem Parlament befindet er sich in einer günstigeren Position. Der Bundestag wählt ihn zu Beginn jeder vierjährigen Sitzungsperiode auf Vorschlag des Bundespräsidenten, und kann ihn nur dann stürzen, wenn er zugleich einen Nachfolger bestimmt. Die Einrichtung dieses konstruktiven Misstrauensvotums (Art. 68) soll instabile, kurzlebige Regierungen, wie sie in Weimar üblich waren, verhindern und die Parteien zu Kooperation und Kompromissbereitschaft zwingen. Hatten in Weimar viele im Reichspräsidenten den „Hüter der Verfassung“ (Carl Schmitt) gesehen, so kam diese Aufgabe in der Bundesrepublik dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe zu, dessen Mitglieder von Bundesrat und Bundestag bestimmt wurden. Anders als der Staatsgerichtshof der Weimarer Republik, der v.a. für Streitigkeiten zwischen Reich und Ländern sowie

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zwischen einzelnen Ländern zuständig gewesen war, sollte das Verfassungsgericht das Grundgesetz verbindlich auslegen und alle von der Legislative verabschiedeten Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin prüfen. Die Einrichtung einer gerichtlichen Kontrollinstanz über der Politik wurzelt in der Tradition deutscher Rechtsstaatlichkeit. Sie steht aber quer zu dem Grundgedanken einer demokratischen Verfassungsordnung und den Prinzipien souveräner Parlamentsherrschaft, wie sie etwa im britischen Vorbild der Westminsterdemokratie verwirklicht sind. Am 8. Mai 1949, auf den Tag genau vier Jahre nach der deutschen Kapitulation, nahm der Parlamentarische Rat das Grundgesetz mit großer Mehrheit an. Nur die beiden Delegierten des Zentrums, zwei Abgeordnete der Deutschen Partei, die beiden Kommunisten sowie sechs von acht CSU-Vertretern stimmten dagegen. Den Bayern und der DP ging der Föderalismus nicht weit genug, die Vertreter des katholischen Zentrums waren mit der Regelung des Elternrechts unzufrieden, während die KPD das Unterfangen insgesamt ablehnte. Vier Tage später genehmigten die drei Militärgouverneure das Grundgesetz. Am 18., 20. und 21. Mai billigten es die Landtage von zehn Bundesländern. Lediglich der bayrische Landtag stimmte mit 101 zu 63 dagegen, votierte aber auf Antrag der Landesregierung gleichzeitig dafür, das Grundgesetz für Bayern als rechtsverbindlich anzuerkennen, wenn zwei Drittel der übrigen Länder es annähmen. Am 23. Mai konnte das Grundgesetz in der ersten Nummer des Bundesgesetzblatts veröffentlicht werden. Damit waren die Grundkoordinaten des politischen Systems in Westdeutschland festgelegt. Auch in der Frage, wo die Bundesregierung ihren Sitz nehmen würde, zeichnete sich eine Vorentscheidung ab. Man hatte keineswegs von Anfang an geplant, Bonn zum Regierungssitz zu machen. Die Stadt war v.a. deshalb als Versammlungsort des Parlamentarischen Rats gewählt worden, weil sie zur britischen Zone gehörte und andere Interzonenkonferenzen zuvor in der amerikanischen bzw. französischen Zone stattgefunden hatten. Hinzu kam, dass Bonn recht bequem mit der Eisenbahn zu erreichen und im Krieg relativ unzerstört geblieben war. Noch im Herbst 1948 jedoch erschien Frankfurt – traditionsreiche Krönungsstadt der deutschen Kaiser, im 19. Jahrhundert Sitz des Deutschen Bundestags und 1848/49 Tagungsort der ersten deutschen Nationalversammlung – als erster Anwärter für den Regierungssitz, nicht zuletzt weil viele Sozialdemokraten die Stadt bevorzugten. Andere SPD-Politiker fürchteten aber, gerade Frankfurts Prestige würde einen späteren Umzug nach Berlin erschweren, sobald die Vereinigung mit der sowjetischen Besatzungszone erreicht war. Die CSU sprach sich ebenfalls gegen die Mainmetropole aus, denn sie fürchtete, eine große Stadt als Sitz der Regierung könne den Föderalismus schwächen. Andere Politiker blickten skeptisch auf die starke Präsenz der USA in Frankfurt, wo die amerikanische Miliäradministration ihren Sitz hatte. Eine ausschlaggebende Rolle spielte der Präsident des Parlamentarischen Rates, der CDUPolitiker Adenauer. Er hatte sich nicht von Beginn an für Bonn stark gemacht, sondern zunächst ebenfalls Frankfurt favorisiert. Selbst den Parlamentarischen Rat hätte er anfangs lieber in der französischen Zone tagen sehen – etwa in Koblenz oder in Bad Ems. Erst im Verlauf der Grundgesetzberatungen im Herbst 1948 erkannte er, welche Chancen sich für Bonn boten und wie angenehm es für ihn persönlich sein würde, den Regierungssitz in bequemer Nähe zu seinem Haus in Rhöndorf zu wissen. Auch politisch gesehen schien die bürgerlich-katholisch geprägte Universtätsstadt Bonn für die Christdemokraten attraktiver zu sein als die Industriestadt am Main mit ihrer starken Sozialdemokratie. Adenauer setzte sich an die Spitze der Bonn-Lobby, warb geschickt

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und letztlich erfolgreich für einen Regierungssitz am Rhein. Am 10. Mai 1949 sprach sich der Parlamentarische Rat mit knapper Mehrheit für Bonn aus. Am 1. November bestätigte der neugewählte Bundestag die Entscheidung.

2. Die Anfänge von Adenauers Kanzlerdemokratie a) Adenauers Weg an die Macht „Im Anfang war Adenauer.“ Mit diesem Satz begann der Historiker Arnulf Baring seine 1969 erschienene Studie über die Außenpolitik in Adenauers Kanzlerdemokratie. Baring und andere, die die Rolle des ersten Bundeskanzlers und die Radikalität des politischen Neuanfangs in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg betonten, sind später kritisiert worden, ihre Interpretation sei allzu sehr auf die Person Konrad Adenauers fixiert und vernachlässige wichtige Kontinuitätslinien, welche die Bundesrepublik mit der deutschen Geschichte vor 1945 verbänden. Man verwies auf den Faktor der „Volkskontinuität“ (Lutz Niethammer) und den Umstand, dass nach 1945 das Leben der Deutschen nicht bei null begann, sondern dass zahlreiche Einstellungen, Vorurteile und Werthaltungen den Zusammenbruch überlebt hätten. Diese Einwände sind bedenkenswert, zumal wenn man wirtschafts-, sozial- und kulturhistorische, alltags- und mentalitätsgeschichtliche Entwicklungen in den Blick nimmt. Betrachtet man jedoch den engeren Bereich der Politik, so kommt man bis heute nicht an Barings Befund vorbei. Stichwort Konrad Adenauer (1876–1967) war 72 Jahre alt, als er 1948 zum Präsidenten des Parlamentarischen Rats gewählt wurde – schwerlich eine gute Ausgangsposition für eine große politische Karriere im neuen Staat. Adenauer, der 13 Jahre älter war als Adolf Hitler (1889–1945) und 19 Jahre älter als der SPD-Vorsitzende Schumacher, galt vielen als Mann von gestern, ja von vorgestern. Er verkörpere nicht das zukünftige, immer noch rätselhafte Deutschland der Nach-Hitler-Generation, schrieb im August 1949 der Publizist Sebastian Haffner (1907–99) im britischen Observer, sondern das alte Deutschland der Vor-Hitler-Zeit, dessen überlebende Tugenden und auch dessen Beschränkungen. Haffner hielt den Rheinländer für den besten „Taktiker auf der politischen Bühne Deutschlands. Er besitzt zwei bei deutschen Politikern seltene Vorzüge: Er ist offen für Kompromisse und er hat Humor. Er weiß, wie man aus festgefahrenen Situationen herauskommt und peinlichen Prinzipienfragen aus dem Weg geht.“ Adenauer hatte seine politische und weltanschauliche Prägung im Kaiserreich erfahren, als er aus kleinen Verhältnissen durch harte Arbeit und eine reiche Heirat ins rheinische Großbürgertum aufgestiegen war und es 1917 zum Kölner Oberbürgermeister gebracht hatte. Er war gläubiger Katholik, ohne ein Klerikaler zu sein. Das katholische Milieu und der Kölner Klüngel wirkten nachhaltiger auf seine Weltsicht als päpstliche Enzykliken oder der Gehorsam gegenüber der Amtskirche. In der Weimarer Republik erwies er sich als energischer und ideenreicher Stadtvater, der 1926 von seiner Partei, dem Zentrum, einmal gar als möglicher Reichskanzler ins Gespräch gebracht wurde. Gleich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten verlor er sein Amt als Bürgermeister und musste kurzfristig fürchten, dass man ihm den Prozess machte. Später lebte er bis Kriegsende zurückgezogen in seinem Haus in Rhöndorf in der inneren Emigration, ohne sich mit dem NS-Regime einzulassen, aber auch ohne Kontakte zu Widerstandskreisen. 1945 setzten ihn die Amerikaner wieder als Kölner Oberbürgermeister ein. Die Briten enthoben

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ihn jedoch wenig später unter etwas verworrenen, für Adenauer demütigenden Umständen wieder seines Amtes. Das gab Adenauer den Freiraum, sich in den folgenden Monaten und Jahren dem Aufbau der CDU in der britischen Besatzungszone zu widmen und seine politische Karriere vorzubereiten, die über alles Erwarten hinaus erfolgreich werden sollte: von 1950 bis 1966 war er Vorsitzender der CDU, von 1949 bis 1963 amtierte er als Bundeskanzler.

Noch ehe es das Grundgesetz oder eine Bundesregierung gab, hatte sich Adenauer bereits in eine Schlüsselposition in der deutschen Politik manövriert. Als Präsident des Parlamentarischen Rates übte er nicht bloß, wie die meisten vermuteten, ein machtloses Ehrenamt aus. Er repräsentierte vielmehr den entstehenden westdeutschen Staat nach außen. Auf die eigentliche Verfassungsarbeit, die in den Ausschüssen geleistet und von dem SPD-Politiker Carlo Schmid dominiert wurde, nahm Adenauer kaum Einfluss. Doch nutzte er sein Amt, um Kontakte mit den führenden Militärs und Zivilisten der Siegermächte anzuknüpfen. Als einziger Deutscher konnte er von sich behaupten, für die Gesamtheit seiner Landsleute in den Westzonen zu sprechen, während etwa die Ministerpräsidenten jeweils nur die Bevölkerung eines Landes repräsentierten und meist lediglich Kontakte zu den Befehlshabern ihrer eigenen Besatzungszone pflegten. Adenauers herausgehobene Stellung gegenüber den Alliierten wirkte auch auf seine innenpolitische Position zurück. Er wurde zur Anlaufstelle für viele, die hofften, im kommenden, von den Besatzungsmächten maßgeblich geprägten Staat Einfluss auszuüben. Zum Zeitpunkt der ersten Wahlen auf Bundesebene am 14. August 1949 war Adenauer zu einem der einflussreichsten deutschen Politiker avanciert. Er hatte im Wahlkampf eine wichtige Rolle gespielt und war Parteivorsitzender in der britischen Zone, wo er über eine starke Hausmacht verfügte. Er war jedoch nicht der einzige, ja nicht einmal der nächstliegende Kandidat seiner Partei für das Amt des Kanzlers. Viele vermuteten, er strebe eher das repräsentative Amt des Bundespräsidenten an, das besser zu seinem Alter und seiner Position im Parlamentarischen Rat zu passen schien. CDU-Politiker wie Karl Arnold (1901–58), der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Erich Köhler (1892–1958), der Präsident des Frankfurter Wirtschaftsrats, oder Friedrich Holzapfel (1900–69), Fraktionschef der CDU/CSU im Wirtschaftsrat, konnten sich ebenfalls Hoffnungen auf das Kanzleramt machen. Zusätzlich kompliziert wurde die Lage dadurch, dass das Wahlergebnis selbst keine endgültige Entscheidung über die Ausrichtung der Regierung vorgab. Zwar hatte die CDU/CSU mit 31% der Stimmen und 139 Mandaten ein etwas besseres Ergebnis erzielt als die SPD, die 29,2% und 131 Sitze erreichte. Daneben jedoch gab es eine ganze Anzahl kleinerer Parteien, die für die Mehrheitsbeschaffung wichtig waren: die FDP kam auf 52, die DP auf 17, die Kommunisten auf 15, die Bayernpartei auf 17, das Zentrum auf zehn und die nationalsozialistische DRP auf fünf Mandate. Selbst die auf Bayern beschränkte Wirtschaftliche Aufbau-Vereinigung, die bei den nächsten Wahlen 1953 nicht mehr antrat, stellte zwölf Abgeordnete. Diese Verteilung ließ mehrere Koalitionsmöglichkeiten zu. Die beiden wahrscheinlichsten Varianten waren eine Große Koalition aus Union und Sozialdemokraten oder eine bürgerliche Regierung, die CDU, CSU und Liberale umfasste. Für beide Möglichkeiten gab es in der Union, der als Wahlsiegerin die Regierungsbildung oblag, Fürsprecher. Viele CDU-Ministerpräsidenten, unter ihnen Arnold, machten sich für eine Koalition mit den Sozialdemokraten stark, wie sie auf Länderebene schon mehrfach zustande gekommen war. Ihr Vorbild war die Wei-

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marer Koalition von 1919. Politiker wie Köhler und Holzapfel plädierten für ein Bündnis von Union und Liberalen, wie sie es im Frankfurter Wirtschaftsrat bereits praktizierten. Stichwort

CDU/CSU Zur dominierenden politischen Kraft während der Adenauer-Ära wurde die Christlich-Demokratische Union (CDU). Sie war als Neugründung nach 1945 an mehreren Orten beinahe gleichzeitig entstanden. Den Gründungsvätern ging es darum, eine überkonfessionelle christliche Partei zu schaffen und auf diese Weise die Schwäche des katholisch ausgerichteten Zentrums in der Weimarer Republik zu überwinden. Bereits die Bezeichnung „Union“ deutete auf den Charakter der CDU als „Sammlungspartei“ (Frank Bösch) hin. Im Dezember 1945 fand in Bad Godesberg ein erstes „Reichstreffen“ statt, auf dem sich die verschiedenen Landesorganisationen auf den gemeinsamen Parteinamen einigten. Eine einheitliche Parteiorganisation im Gebiet der drei Westzonen gab es noch nicht. Anfang 1946 vereinigte sich die CDU in der britischen Zone. Da in der amerikanischen und französischen Zone ein Zusammenschluss zunächst verboten blieb, entschloss man sich Anfang 1947, wenigstens eine „Arbeitsgemeinschaft“ zu bilden und so eine gewisse organisatorische Verbindung zu erreichen. Erst im Oktober 1950 schlossen sich die einzelnen Landesverbände auf dem 1. Bundesparteitag in Goslar zu einer Bundespartei zusammen. Eine ähnliche, aber gesonderte Entwicklung gab es in Bayern, wo 1945 unter dem Einfluss von Adam Stegerwald (1874–1945), dem ehemaligen Generalsekretär der christlichen Gewerkschaften, und Josef Müller (1898–1979), dem späteren ersten Parteivorsitzenden, die Christlich-Soziale Union (CSU) gegründet wurde. Sie beschränkte ihren Wirkungsbereich auf Bayern, wo die CDU nicht antrat. Auch die Gründer der CSU wollten vermeiden, dass sich eine Entwicklung wie nach dem Ersten Weltkrieg wiederholte, als die Bayrische Volkspartei fast ausschließlich auf den katholischen Bevölkerungsteil orientiert gewesen war. Obwohl die CSU eine stärkere Betonung föderalistischer Elemente wünschte als die CDU, bildeten beide Parteien im Deutschen Bundestag eine gemeinsame Fraktion.

In dieser Situation ergriff Adenauer die Initiative. Er machte sich den Umstand zunutze, dass die CDU im August 1949 noch keine normale Partei mit innerem Zusammenhalt, einer die drei Westzonen umfassenden Parteiorganisation und einem dominierenden Parteiführer war. Eingespielte Prozesse innerparteilicher Meinungsbildung auf der Führungsebene gab es ebenso wenig wie routinemäßige Verständigung über Sach- und Personalfragen. Die CDU-Bundestagsfraktion, der satzungsgemäß die Entscheidung über die Koalitionsbildung und den Kanzlerkandidaten oblag, konstituierte sich erst am 1. September. Eine derartige Situation bot ideale Voraussetzungen für Ränke und taktische Winkelzüge, auf die sich Adenauer wie kein Zweiter verstand. Er verfolgte zwei Ziele: Zum einen wollte er seine Partei auf einen anti-sozialdemokratischen Kurs und ein Bündnis mit der FDP festlegen; zum anderen strebte er nach dem Amt des Bundeskanzlers. Um dies zu erreichen, traf er eine Woche nach der Wahl zunächst mit dem bayrischen Ministerpräsidenten und CSU-Vorsitzenden Hans Ehard (1887–1980) in Frankfurt zusammen. Es gelang ihm, den Bayern davon zu überzeugen, dass die CSU unmöglich einen eigenen Kanzlerkandidaten aufstellen könne, da sie gegen das Grundgesetz votiert hatte. Ehard stimmte stattdessen der Bildung einer bürgerlichen Koalition unter Adenauer zu. Auch in weiteren Personalfragen war man sich einig. Der Liberale Theodor Heuss sollte Bundespräsident werden, um das Bündnis mit der FDP abzustützen, Erich Köhler war als Bundestagspräsident vorgesehen, während Ehard für sich und die CSU das Amt des Bundesratspräsidenten erhalten sollte.

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Durch diese Absprache sprengte Adenauer ein mögliches Bündnis der CDU/CSU-Ministerpräsidenten für eine große Koalition mit der SPD und sicherte sich Rückendeckung für seinen zweiten Schachzug, zu dem er am folgenden Tag ansetzte. Er bat eine Reihe von Gästen in sein Privathaus nach Rhöndorf, um informell über die Verhandlungsstrategie der Union zu beraten. Unter den Eingeladenen, die Adenauer auf eigene Kosten bewirtete, befanden sich die Vorsitzenden einiger Landesverbände der Union, Landesminister, Abgeordnete des Frankfurter Wirtschaftsrats sowie einige Freunde und Verbündete des Gastgebers. Aufschlussreich ist, dass Adenauers wichtigste potentielle Konkurrenten um das Kanzleramt nicht anwesend waren. Arnold war nicht eingeladen worden, Köhler fehlte ebenso wie Holzapfel, der Urlaub in der Schweiz machte. Adenauer nutzte seine Rolle als Gastgeber, um gleich zu Beginn seine Interpretation des Wahlergebnisses darzulegen: Der Wähler habe sich gegen die Sozialdemokratie und für die Fortsetzung der bürgerlichen Koalition des Wirtschaftsrates entschieden. Zunächst regte sich heftiger Widerspruch gegen diese Deutung, doch setzte sich Adenauers Konzeption im Laufe des Tages durch, so dass er später seinen Gästen erklären konnte, man habe ihn „dazu vermocht, [sich] für die Stellung des Bundeskanzlers zur Verfügung zu stellen“. Da keiner der Anwesenden widersprach, fiel an diesem Tage eine Vorentscheidung für die Besetzung des Kanzleramtes. Zwar blieb der förmliche Entschluss der Bundestagsfraktion der Union vorbehalten, aber seit der Zusammenkunft in Rhöndorf hielt Adenauer alle Fäden in der Hand. Wie selbstverständlich wurde er zum Fraktionsvorsitzenden gewählt, leitete die Sitzungen, dominierte die Fraktionsverhandlungen und wurde schließlich offiziell zum Kanzlerkandidaten seiner Partei gekürt.

b) Regierungsbildung und Aufbau des Kanzleramtes Die Kanzlerwahl im Bundestag gewann Adenauer mit nur einer Stimme Mehrheit – seiner eigenen, wie er später gern hervorhob. Zwar hätte ein Scheitern kaum gravierende Folgen gehabt, da sich Adenauers Chancen im zweiten oder dritten Wahlgang eher verbessert als verschlechtert hätten. Dennoch bleibt der Umstand bemerkenswert, dass immerhin fünf Abgeordnete aus dem eigenen Lager gegen ihn gestimmt hatten – ein Indiz dafür, dass Teile der Union keineswegs begeistert von ihrem Kanzler waren. Hier deutete sich bereits an, wie schwierig die Bildung der Regierung und die Besetzung der anderen obersten Staatsämter zu werden drohte. Adenauer musste auf vielfältige Empfindlichkeiten und Ansprüche Rücksicht nehmen. Es galt nicht nur, die Forderungen der kleineren Koalitionspartner FDP und DP zu bedenken, sondern auch die Balance zwischen den verschiedenen Flügeln der CDU zu wahren, das konfessionelle Gleichgewicht zwischen Katholiken und Protestanten im Auge zu behalten und regionale Aspekte, insbesondere die Empfindlichkeiten der bayrischen Schwesterpartei CSU, einzuberechnen. Stichwort

FDP Adenauers wichtigster Koalitionspartner neben der CSU war die Freie Demokratische Partei (FDP), die im Dezember 1948 als ein Zusammenschluss liberaler Landesverbände in Heppenheim gegründet worden war. Damit war es den deutschen Liberalen – anders als im Kaiserreich und während der Weimarer Republik – gelungen, in einer einzigen Partei zusammenzufinden. Das bedeutete freilich nicht, dass die verschie-

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denen Strömungen des Liberalismus ihre Richtungskämpfe aufgegeben hätten. Die traditionellen Unterschiede zwischen Nationalliberalismus und Linksliberalismus bestanden weiter. Ihren Ausdruck fanden sie im Gegensatz zwischen den eher „fortschrittlich-linksliberalen“ Landesverbänden v.a. im Süden und den stärker „nationalliberal-konservativ“ geprägten Gruppierungen in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein. Es ist deswegen nicht immer leicht die FDP in das Links-rechts-Schema der Parteipolitik einzuordnen, zumal sie in kulturpolitischen Fragen traditionell links von der Union stand, während sie wirtschafts- und sozialpolitisch mehrheitlich rechts von CDU/CSU anzusiedeln war.

Mehrmals wurde Adenauers Personalplanung durchkreuzt. Nur mit Mühe setzte er Heuss’ Wahl zum Bundespräsidenten durch. Ehards Ambitionen auf das Amt des Bundesratspräsidenten scheiterten, weil sich kurzfristig eine große Koalition aus Sozialdemokraten und CDU-Ministerpräsidenten zusammenfand, die Arnold zur Mehrheit verhalf. Sowohl im Arbeitswie im Landwirtschaftsministerium musste der Kanzler ungeliebte Kandidaten für die Ministerposten akzeptieren. Am schwersten aber fiel ihm die Ernennung des Essener Oberbürgermeisters und Präses der Evangelischen Kirche Deutschlands Gustav Heinemann (1899–1979) zum Innenminister. Sie erfolgte auf Drängen des evangelischen Teils der Union, um das konfessionelle Ungleichgewicht zugunsten der Katholiken nicht allzu augenfällig werden zu lassen. Stichwort Theodor Heuss (1884–1963) war anders als Adenauer ein Mann des Wortes und nicht der Tat: gebildet, im persönlichen Umgang gutmütig-zurückhaltend, ein würdiger hommes de lettres. In vielerlei Hinsicht schien der Schwabe schlecht in eine Welt der Massendemokratie, der Berufspolitiker und des beginnenden Medienzeitalters zu passen. Er ähnelte eher dem Typus des bürgerlichen Honoratiorenpolitikers, den das „Professorenparlament“ der Frankfurter Paulskirche von 1848/49 hervorgebracht hatte. Es war kein Zufall, dass Heuss im September 1949 bei seiner Antrittsrede als Bundespräsident den liberalen Gedanken der Männer von 1848 seine Reverenz erwies und erklärte, diese Ideen müssten in Deutschland erst noch verwirklicht werden: „Damals wäre es eine geschichtliche Leistung gewesen. Heute ist es die Voraussetzung für eine lebendige Demokratie.“ Heuss wusste, wovon er sprach. Er hatte von 1924 bis 1928 und von 1930 bis 1933 für die DDP im Weimarer Reichstag gesessen und die Selbstaufgabe der ersten deutschen Republik aus nächster Nähe erlebt. Zusammen mit seiner gesamten Fraktion hatte er sich im März 1933 dem nationalsozialistischen Druck gebeugt und dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt, ohne je ein Anhänger des NS-Regimes gewesen zu sein. Danach beschränkte er sich auf seine Tätigkeit als Publizist und historischer Schriftsteller. Er arbeitete an Biographien, vor allem am Lebensbild seines politischen Mentors Friedrich Naumann (1860–1919). Nach 1945 gehörte Heuss zu den Begründern der FDP und wirkte im Parlamentarischen Rat an der Ausarbeitung des Grundgesetzes mit. Als Bundespräsident widmete er sich vor allem den repräsentativen Aufgaben des Amtes. Es lag ihm daran, über den Parteien stehend, durch sein Beispiel einen neuen politischen Stil und bessere Umgangsformen im öffentlichen Leben zu schaffen. Welche Möglichkeiten sein Amt bot, inhaltlich auf die Innenund Außenpolitik Einfluss zu nehmen, lotete Heuss nie ernsthaft aus – teils weil er mit der von Adenauer vorgegebenen Richtung übereinstimmte, teils weil er selbst keine ausgeprägten Ansichten oder eigene konkrete Konzeptionen besaß. Dennoch – oder vielleicht gerade deswegen – genoss er über die eigene Partei hinaus hohes Ansehen, so dass er nach Ablauf seiner ersten Amtszeit 1954 von einer Mehrheit der Bundesversammlung wiedergewählt wurde.

Die Freien Demokraten, die mit Heuss bereits den Bundespräsidenten stellen durften, konnte der Kanzler bei der Postenvergabe härter anfassen als die eigene Partei, zumal Heuss’ Nachfolger

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als FDP-Vorsitzender, Franz Blücher (1896–1959), keine großen Schwierigkeiten bereitete und sich mit dem Amt des Ministers für Angelegenheiten des Marshall-Plans und dem folgenlosen Titel des Vizekanzlers zufrieden gab. Potentiell konfliktträchtiger war die Ernennung des kämpferischen Thomas Dehler (1897–1967) zum Justizminister. Das Kabinett war noch nicht vereidigt, da begann Adenauer bereits mit dem Aufbau seines persönlichen Stabs. Seit längerem war Herbert Blankenhorn (1904–91) sein engster Mitarbeiter und Berater. Ihn hatte Adenauer erst zum Generalsekretär der CDU in der britischen Zone gemacht und später, als Präsident des Parlamentarischen Rats, zu seinem persönlichen Assistenten ernannt. Blankenhorn entstammte einer wohlhabenden Weinhändler- und Winzerfamilie aus dem Badischen. Er war mit 25 Jahren, noch zu Weimarer Zeiten, in den diplomatischen Dienst eingetreten und hatte während des „Dritten Reiches“ in den Botschaften in Athen, Washington, Helsinki und Bern eine unauffällige, aber ungebrochene Karriere gemacht. Als ehemaliges NSDAP-Mitglied und als Diplomat in Hitlers Außenministerium war Blankenhorn politisch angreifbar, was jedoch der späteren diplomatischen Karriere des tüchtigen und kontaktbegabten Badeners u.a. als Botschafter bei der NATO, in Paris, Rom und London nicht im Wege stand. In den Anfangsjahren war Blankenhorn für Adenauer ein unverzichtbarer Helfer. Er machte den Politiker nicht nur mit den Feinheiten des diplomatischen Geschäfts vertraut, sondern half auch, wertvolle Verbindungen zu den Besatzungsmächten zu knüpfen. Zur Machtzentrale Adenauers wurde das Kanzleramt, das ihn über die aktuellen Probleme der allgemeinen Politik und über die Arbeit der einzelnen Ministerien auf dem Laufenden halten sollte. Um möglichst effiziente Kontrolle zu gewährleisten, wurde jedem Ministerium und jeder Bundesbehörde ein Referat im Kanzleramt zugeordnet. Zum Leiter der im Mai 1950 ins Leben gerufenen „Dienststelle für Auswärtige Angelegenheiten“ ernannte Adenauer Walter Hallstein (1901–82). Dieser hatte als Rechtsprofessor in Rostock und Frankfurt gelehrt, ehe er Staatssekretär wurde – zunächst im Bundeskanzleramt, von 1951 bis 1958 im Auswärtigen Amt. Wie Blankenhorn war Hallstein überzeugt, dass die Zukunft der Bundesrepublik – und später vielleicht einmal des wieder vereinigten Deutschlands – nur in Verbindung mit Westeuropa gesichert werden konnte. Dennoch unterschieden sich die Ansätze des außenpolitischen Beraters und des Staatssekretärs voneinander. Der Diplomat war der pragmatischere, flexiblere der beiden. Der Jurist legte mehr Wert darauf, einmal gefundene Regelungen in feste rechtliche Formen zu gießen. „Blankenhorn sieht Kraftfelder“, hat der Historiker Hans-Peter Schwarz treffend bemerkt, „Hallstein Institutionen und Paragraphen“. Beides sollte sich für Adenauers Außenpolitik als wichtig und hilfreich erweisen. Im Februar 1952 kam Felix von Eckardt (1903–79) als Leiter des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung hinzu, nachdem sich herausgestellt hatte, dass in den ersten Regierungsjahren die Kontakte zu den Medien nicht genügend gepflegt worden waren. Der charmante und schlagfertige von Eckardt erwies sich als der richtige Mann, um dem Missstand abzuhelfen. Mit einer kurzen Unterbrechung leitete er das Presseamt bis 1962, ehe er zum Bundesbevollmächtigten für Berlin ernannt wurde und 1965 als Abgeordneter in den Bundestag einzog. Adenauers verlässlichster Helfer innerhalb der Bundestagsfraktion war Heinrich Krone (1895–1989), der wie der Kanzler vor 1933 der Zentrumspartei angehört hatte und deren stellvertretender Generalsekretär gewesen war. Im Bundestag vertrat er zunächst den Fraktionschef Heinrich von Brentano (1904–64), der aus der hessischen CDU kam, während dessen häufiger Aus-

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landsreisen. Bald avancierte Krone zur Schaltstelle der Fraktionsarbeit. 1951 wurde er Parlamentarischer Geschäftsführer und 1955 als Brentanos Nachfolger Vorsitzender der Unionsfraktion. Der wichtigste Mitarbeiter und Vertraute des Kanzlers war jedoch Hans Globke. Adenauer hatte ihm schon im Herbst 1949 die Aufgabe übertragen, für den Aufbau und das reibungslose Funktionieren des Kanzleramtes zu sorgen. Wegen dessen Verstrickung ins NS-Regime berief er Globke zunächst lediglich als Ministerialdirektor ins Kanzleramt. Staatssekretär wurde nach längerem Suchen Anfang 1951 der Rechtsanwalt Otto Lenz (1903–57). Wie Globke und Krone hatte auch Lenz zu Weimarer Zeiten dem Zentrum angehört, war in jungen Jahren Pressereferent und persönlicher Referent des Ministers im preußischen Justizministerium geworden, ehe er im „Dritten Reich“ Verbindung zu katholischen Widerstandskreisen aufnahm. Anders als der trockene, akkurate Administrator Globke war der quirlige, finten- und ideenreiche Lenz kein Beamtentyp, sondern ein Macher mit Organisationstalent. Als Lenz 1953 ausschied, avancierte Globke auch nominell zum Staatssekretär. Stichwort Hans Globke (1898–1973) war von 1932 bis 1945 Ministerialrat im Reichsinnenministerium. Dem Bundeskanzler war schon 1949 bekannt, dass Globke in dieser Funktion 1936 am Kommentar zu den Nürnberger Rassegesetzen mitgearbeitet hatte, der Juden diskriminierte und zu Bürgern minderen Rechts herabwürdigte. Wichtiger scheinen jedoch in Adenauers Augen die fachliche Kompetenz und Effizienz Globkes, seine Loyalität gegenüber dem Kanzler sowie die Fürsprache geachteter Hitler-Gegner gewesen zu sein, die versicherten, Globke sei ein Mann des inneren Widerstands und eine Stütze der katholischen Kirche im Innenministerium gewesen. Obwohl sich Globke von Anfang an mit heftiger Kritik wegen seiner Vergangenheit konfrontiert sah, hielt Adenauer bis zum Ende seiner Regierungszeit an ihm fest.

Der entscheidende Faktor bei Globkes Ernennung war aus Adenauers Sicht nicht der innenpolitische Protest, sondern die Haltung der Besatzungsmächte. Nur weil diese nichts gegen Globke einzuwenden hatten, konnte der Kanzler dessen Bestallung wagen. Denn die Hohen Kommissare übten weiterhin die Ober-Regierung in der Bundesrepublik aus, auch wenn die Generäle Lucius D. Clay, Pierre Koenig und Brian Robertson bald von den Zivilisten John J. McCloy (1895–1989), André François-Poncet (1887–1978) und Sir Ivone Kirkpatrick (1897–1964) abgelöst wurden. Atmosphärisch war die Erinnerung an den Krieg in der Anfangszeit allgegenwärtig. Symbole spielten eine wichtige Rolle. So hatte die Alliierte Hohe Kommission im oberhalb Bonns gelegenen Hotel Petersberg ihren Sitz genommen, wo der britische Premierminister Neville Chamberlain (1869–1940) bei seinem Bittgang zu Hitler im September 1938 abgestiegen war, um einen europäischen Krieg zu verhindern. Ganz selbstverständlich nahmen die Vertreter der Besatzungsmächte zunächst oft die Pose der Sieger ein, wenn sie mit deutschen Politikern zu tun hatten. Berühmt geworden ist die Zeremonie anlässlich der Übergabe des Besatzungsstatuts am 21. September 1949: Die Hohen Kommissare standen auf einem Teppich und erwarteten, dass der Bundeskanzler und sein Kabinett protokollgemäß davor stehen blieben. Adenauer berichtete später, wie er selbstbewusst auf den Teppich getreten sei, um auf diese Weise die Gleichrangigkeit mit den Vertretern der Siegermächte zu betonen. Wenn die Hohen Kommissare diesen Protokollbruch bemerkten, so gingen sie schweigend darüber hinweg. Aus Adenauers Sicht handelte es sich jedoch um einen Triumph, um einen ersten kleinen Schritt auf dem Weg zur deutschen Souveränität.

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c) Die Grundlagen der Kanzlerdemokratie Schon in den ersten Tagen und Wochen lassen sich im Rückblick prägende Merkmale von Adenauers Regierungssystem erkennen, das später häufig als „Kanzlerdemokratie“ bezeichnet wurde. Aufgrund seiner im Grundgesetz verankerten starken Stellung und dank des Aufbaus eines mächtigen Kanzleramts verfügte Adenauer über ungleich größere politische Handlungsmöglichkeiten als etwa seine Vorgänger in der Weimarer Republik oder ein Ministerpräsident der vierten französischen Republik. In dieser Hinsicht ähnelte seine Position eher derjenigen eines britischen Premierministers, der eine vergleichbar dominante Stellung im Kabinett besaß. Zugleich musste Adenauer jedoch innerhalb einer Konstellation agieren, die sich grundlegend von den Verhältnissen unterschied, wie sie im britischen Unterhaus üblich sind. Er stand an der Spitze einer bunt gescheckten Koalition aus vier verschiedenen Parteien, die im Bundestag nur eine knappe Mehrheit besaß. Anders als ein britischer Premierminister konnte er sich nicht allein auf die Parteidisziplin verlassen, wenn er erfolgreich regieren wollte. Vielmehr gingen jeder wichtigen politischen Entscheidung zahllose Sondierungen voraus. Absprachen und Kompromisse mit den verschiedenen Flügeln und Gruppierungen, aus denen sich die Regierungsparteien zusammensetzten, waren nötig. Das Kabinett besaß gerade in der ersten Regierung Adenauer erheblichen Einfluss auf die Politikgestaltung. Es diskutierte lebhaft und beschränkte sich nicht darauf, einsame Entschlüsse Adenauers abzusegnen. Eine weitere Beschränkung der Macht des Kanzlers bestand, wenn auch in abnehmendem Maße, in den Sonderrechten der Alliierten, die bis zur Aufhebung des Besatzungsstatuts 1955 nominell die oberste Souveränität im Land innehatten und vor allen wichtigen Entscheidungen konsultiert werden mussten. In dieser Situation kamen der Persönlichkeit des Regierungschefs, seinem Verhandlungsgeschick, seinem Durchsetzungsvermögen und seiner taktischen Raffinesse besondere Bedeutung zu. Adenauer legte von Anfang an eine Mischung aus Schläue, Flexibilität, Härte und Unbedenklichkeit in der Wahl der Mittel an den Tag. Gegenüber den Besatzungsmächten erwies er sich als verlässlicher, durchsetzungsstarker Partner. Im Umgang mit dem Parlament wie mit seinem Kabinett dagegen pflegte er zunehmend einen patriarchalisch-autoritären Stil, wie er ihn als junger Mann im Kaiserreich kennen gelernt und als Kölner Oberbürgermeister zwischen 1917 und 1933 mit Erfolg praktiziert hatte. Bereits am Tag vor seiner Wahl zum Bundeskanzler verkündete er in einer Fraktionssitzung, er sei „diktatorisch nur mit starkem demokratischen Einschlag“. Dass diese Bemerkung nur halb im Scherz gemeint war, bekamen Freund und Feind bald zu spüren.

3. Ludwig Erhard und das Wagnis der Marktwirtschaft a) Erhard und der Neo-Liberalismus Adenauer war vor seiner Wahl zum Bundeskanzler keineswegs der bekannteste Politiker des bürgerlichen Lagers. Er beschränkte sich zunächst auf das, was Heuss später einmal seine „Hintergrundfunktion“ genannt hat: Er knüpfte Kontakte, pflegte Verbindungen, zog Drähte. Die meisten Deutschen, so sie sich überhaupt für Politik interessierten, verbanden die christlich-liberale Koali-

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tion mit einem anderen Namen: Ludwig Erhard, dem Direktor der Frankfurter Wirtschaftsverwaltung. Dieser exponierte sich als Befürworter einer Währungsreform sowie radikaler Wirtschaftsreformen, insbesondere einer weitgehenden Aufhebung der Zwangsbewirtschaftung. Nur wenn die Preise sich, den Marktgesetzen gehorchend, wieder dem Warenangebot anpassten, könne eine Währungsreform dauerhaften Aufschwung bewirken, argumentierte er in seiner Antrittsrede vor dem Wirtschaftsrat im April 1947. Erhards Ideen waren weder neu noch originell. Sie lagen auf der Linie dessen, was Wirtschaftswissenschaftler wie Walter Eucken (1891–1950), Franz Böhm (1895–1977) oder Wilhelm Röpke (1899–1966) seit den dreißiger Jahren dachten und schrieben. Stichwort Ludwig Erhard (1897–1977) war im Gegensatz zu Adenauer und Heuss ein Seiteneinsteiger, der über keine politischen Erfahrungen aus der Zwischenkriegszeit verfügte. Der parteilose Franke mit der sonoren Bass-Stimme, der 1948 die fünfzig bereits überschritten hatte, konnte lediglich auf eine wenig bemerkenswerte Laufbahn als Wirtschaftswissenschaftler zurückblicken. Er verdankte seinen rasanten Aufstieg vom unbekannten Ökonomen zum Spitzenpolitiker, Bundeswirtschaftsminister (1949–63) und Bundeskanzler (1963–66) vor allem seinem massenwirksamen Eintreten für eine privatkapitalistische Ordnung. Nur die Kräfte des Marktes konnten nach Erhards Überzeugung den wirtschaftlichen Wiederaufstieg Deutschlands, soziale Stabilität und „Wohlstand für alle“ (so der Titel seines Bestsellers von 1957) herbeiführen. Vor 1945 hatte wenig darauf hingedeutet, dass Erhard einmal zur Gallionsfigur der marktwirtschaftlichen Kräfte in Deutschland werden könnte. Er hatte es 1925 irgendwie geschafft, nur mit einem Realschulabschluss und einem Fachhochschulstudium versehen zu promovieren. Eine spätere Habilitation scheiterte. Stattdessen erstellte Erhard seit 1934 am Institut für Wirtschaftsbeobachtung in Nürnberg empirische Studien über den Zusammenhang von Produktion, Absatz und Vertrieb von Konsumgütern. 1942 gründete er sein eigenes, mäßig erfolgreiches „Institut für Industrieforschung“. Erst nach Kriegsende begann Erhards eindrucksvolle politische Laufbahn – wenn auch mit Schwierigkeiten. Mehr oder weniger zufällig übertrug ihm die US-Militäradministration in Bayern das Wirtschaftsamt der Stadt Fürth. Wenig später wurde er ökonomischer Berater des amerikanischen Stadtkommandanten in Nürnberg und kurz darauf bayrischer Wirtschaftsminister. Im Dezember 1946 musste er allerdings nach gut einem Jahr wieder zurücktreten – teils wegen eigener organisatorischer und personalpolitischer Fehler, teils weil ihm die Unterstützung durch eine politische Partei fehlte. Das sollte sich erst ändern, als Erhard im März 1948 auf Vorschlag der FDP und mit den Stimmen der Union zum Direktor der Frankfurter Wirtschaftsverwaltung gewählt wurde und Adenauer rasch erkannte, welch idealer Verbündeter ihm in Erhard erwachsen könnte.

Diese sog. Neoliberalen forderten keine schlichte Rückkehr zur Doktrin eines laissez-faire-Kapitalismus aus dem 19. Jahrhundert. Sie räumten ein, dass eine funktionierende Marktwirtschaft staatlicher Regelungen bedürfe, um Monopolbildungen und Kartellabsprachen zu verhindern. Außerdem befürworteten sie bestimmte sozialpolitische Maßnahmen zugunsten derjenigen, die wegen Alter, Krankheit oder Invalidität im freien Spiel der Marktkräfte nicht bestehen konnten. Der Nachtwächterstaat des Manchesterkapitalismus, dessen Aufgaben sich nur auf den Schutz der Person und des Eigentums erstreckten, war nicht das Ziel der Neoliberalen. Vielmehr setzten sie sich für einen innerhalb klar definierter Grenzen starken und effizienten Staat ein, der die marktwirtschaftliche Ordnung gegen die ihr innewohnenden selbstzerstörerischen Kräfte verteidigen sollte. Es ging ihnen nicht nur um die Überwindung der Planwirtschaft, sondern auch der „freien Markt-

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wirtschaft des liberalistischen Freibeutertums einer vergangenen Ära“, wie Erhard formulierte. Der Münsteraner Ökonom Alfred Müller-Armack (1901–78), Freund und Berater Erhards, prägte den Begriff „soziale Marktwirtschaft“, unter dem die ordnungspolitischen Vorstellungen der neoliberalen Schule bald bekannt wurden. Nicht nur die FDP begrüßte Erhards Vorstoß, auch in Teilen der Union stieß er auf Zustimmung. Insbesondere Adenauer erkannte, welche Chance ihm das Konzept einer „Sozialen Marktwirtschaft“ bot, von dem ungeliebten „Ahlener Programm“ aus dem Jahr 1947 abzurücken. Die CDU der britischen Zone hatte sich darin unter dem Eindruck der Notlage der unmittelbaren Nachkriegszeit für die Abkehr von der „kapitalistischen Wirtschaftsordnung“ ausgesprochen. Mit Erhards Hilfe gelang es Adenauer, seine Partei im Juli 1949 auf die „Düsseldorfer Leitsätze“ festzulegen, die eine privatwirtschaftliche Ordnung nach den Grundsätzen der „Sozialen Marktwirtschaft“ proklamierten. Der Arbeitnehmerflügel der Christdemokraten reagierte auf derartige Forderungen ähnlich skeptisch wie Sozialdemokraten und Gewerkschaften. Man fürchtete, Erhards Programm bedeute die Rückkehr zum ungezügelten Kapitalismus der Zwischenkriegszeit, und glaubte, nur durch Beibehaltung planwirtschaftlicher Methoden könne ein allmählicher Übergang zur Normalität ohne Versorgungskrisen und Produktionsengpässe bewerkstelligt werden. Die Kritiker Erhards hatten Grund anzunehmen, dass ihre Bedenken von den Alliierten geteilt würden. In Großbritannien war erst knapp zwei Jahre zuvor eine Labour-Regierung gewählt worden, deren Modernisierungsprogramm die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien und den Aufbau eines steuerfinanzierten staatlichen Gesundheitssystems umfasste. Auch die Amerikaner zeigten kein Interesse an einer eiligen Aufhebung der Bewirtschaftung, die in ihren Augen zu unkalkulierbaren Risiken führen konnte.

b) Währungsreform und Marshallplan Einig waren sich die Westalliierten mit Erhard in einem anderen Punkt. Auch sie hielten eine rasche Reform der Währung für notwendig, um die Inflation zu stoppen und die deutsche Wirtschaft auf eine tragfähige Grundlage zu stellen. Das NS-Regime hatte Aufrüstung und Krieg mit Hilfe der Notenpresse finanziert, und nach Kriegsende ließen sich die Folgen der Geldvermehrung nicht mehr verbergen. Deutschland wurde zu einem Land mit vielen Währungen: Löhne und Steuern zahlte man weiter in Reichsmark, zwischen deutschen und alliierten Instanzen gab es das „Besatzungsgeld“, im Übrigen herrschte Natural- und Tauschwirtschaft. Für Reichsmark bekam man so gut wie nichts, für amerikanische Zigaretten fast alles. „Mit einer Packung Chesterfield machst du meine Schwester wild“, lautete ein geflügeltes Wort. Das Chaos störte die Besatzer wenig, solange sie an einer wirtschaftlichen Gesundung Deutschlands nicht interessiert waren. Die Lage änderte sich jedoch, als nach dem Debakel der Moskauer Außenministerkonferenz im März und April 1947 der Bruch der Siegerkoalition offen zutage trat und die Bedeutung der Westzonen als Verbündete wuchs. In amerikanischen Besatzungsdirektiven war jetzt weniger von Strafe und mehr vom deutschen Beitrag zum Wohlstand Europas zu lesen. Im Oktober 1947 ließ die US-Regierung in Washington und New York heimlich Deutsche Mark produzieren und nach Frankfurt schaffen. Dort lagerte man das Geld im Keller der Reichsbankhauptstelle, bis es Anfang Juni unter militärischer Bewachung auf Lastwagen zu 200 Zweig-

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stellen der westdeutschen Landesbanken transportiert wurde. Obwohl die Vorbereitungen streng geheim abliefen, sickerten Gerüchte über eine Währungsreform durch. Die Industrie produzierte auf Halde. Händler horteten ihre Waren, um sie später für hartes Geld verkaufen zu können. Gleichzeitig versuchte jeder, der Reichsmark besaß, sie loszuwerden. In den Apotheken verlangten Kunden für Hunderte von Mark Kopfwehpulver, Badesalz oder Rattengift. Am 20. Juni 1948 war es so weit. Die Reichsmark wurde ungültig. Jeder konnte 40 DM im Verhältnis 1:1 umtauschen. Im August gab es noch einmal 20 DM. Erhard wirkte bei der Aktion nur am Rande mit. Zwar hatte er vor seiner Berufung zum Wirtschaftsdirektor seit Herbst 1947 die „Sonderstelle Geld und Kredit“ beim Wirtschaftsrat geleitet, die helfen sollte, die Währungsreform vorzubereiten. Seine Kompetenzen auf diesem Posten waren jedoch begrenzt. Die Alliierten wollten die Fäden in der Hand behalten und erwarteten von den Deutschen lediglich Zuträgerdienste. Nicht einmal den Termin für den Tag X wollte man preisgeben. Auf dem Feld der Preispolitik verfügte der Wirtschaftsdirektor über größeren Spielraum. Er erarbeitete in aller Stille mit einem kleinen Kreis von Vertrauten ein Gesetz über die „Leitsätze für die Bewirtschaftung und Preispolitik nach der Geldreform“. Diese Bestimmung gestattete es ihm, Produkte und Dienstleistungen von den bislang herrschenden Preisvorschriften freizustellen. Nachdem der Termin der Währungsreform durchgesickert war, paukte Erhard alle drei parlamentarischen Lesungen seines Gesetzes am 17. und 18. Juni innerhalb von 18 Stunden durch den Wirtschaftsrat. Nach einer spannungsgeladenen Nachtsitzung wurde das Gesetz in namentlicher Abstimmung mit den 50 Stimmen von Union, FDP und DP gegen die Voten von SPD und KPD verabschiedet. Außer dem Wirtschaftsdirektor hatte diesem Gesetz zufolge nur dessen für die Landwirtschaft zuständiger Kollegen Hans Schlange-Schöningen (1886–1960) bei der Preispolitik ein Wort mitzureden. Da Schlange-Schöningen aber ein Gegner der Liberalisierungspolitik war und von den Möglichkeiten, die das Gesetz ihm bot, keinen Gebrauch machte, oblag es in der Praxis allein Erhard, die Umstellung von der Plan- auf eine weitgehend freie Marktwirtschaft vorzunehmen. Noch am Tag der Währungsreform verkündete er im Rundfunk, die Bewirtschaftung von 400 Produkten und die Preisbindung für 90% aller Waren werde aufgehoben. Der einzige Bezugsschein, so Erhard, sei jetzt die Deutsche Mark. Allerdings war die Maßnahme von den Besatzungsmächten noch gar nicht genehmigt worden. Entsprechend verärgert reagierten sie. Erhard wurde zu Clay zitiert, der ihm vorwarf, er habe alliierte Vorschriften eigenmächtig abgeändert. Der Wirtschaftsdirektor antwortete: „Ich habe sie nicht abgeändert, ich habe sie aufgehoben.“ Auf Clays Hinweis, alle seine Ratgeber hätten Erhards radikale Vorgehensweise kritisiert, entgegnete der Franke entwaffnend offenherzig: „Sie stehen nicht allein da. Meine Berater sind auch dagegen.“ Zunächst schien es, als behielten die Kritiker Recht. In den Monaten und Jahren nach der Währungsreform herrschte weiterhin bittere Not. Die Misere verschärfte sich zum Teil sogar noch. Die Lebenshaltungskosten stiegen bis Ende 1948 um 18%, die Löhne dagegen nur um 4,5%. Nahrungsmittel wurden um ein Fünftel teurer. Für Eier musste man das Fünffache zahlen, Schuhe kosteten einen Wochenlohn. Dies traf die breite Masse der Bevölkerung hart, die wenig besaß und jeden Pfennig zweimal umdrehen musste, während gleichzeitig eine kleine Zahl Gutbetuchter von der Warenvielfalt profitierte und sich einen beträchtlichen Luxus leisten konnte. Sozialdemokraten und Gewerkschaften warfen Erhard vor, seine Politik begünstige die Reichen und stürze die Armen ins Elend. Ein anderer Vorwurf lautete,

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die Anreize, die von der Preisliberalisierung ausgingen, zielten in die falsche Richtung: Sie kurbelten die Konsumgüterproduktion an, während Investitionen in die Schwerindustrie oder in den Aufbau der Infrastruktur ausblieben. Derartige Klagen mögen aus damaliger Sicht berechtigt erscheinen – in Wirklichkeit war Erhards Politik langfristig erfolgreicher, aber auch weniger radikal, als seine Kritiker wahrhaben wollten. Verglichen mit heutigen Standards verfügte Westdeutschland weiterhin über eine regulierte Volkswirtschaft. Die Preise für einige Hauptnahrungsmittel sowie für Kohle, Gas, Elektrizität, Eisen und Stahl blieben ganz oder teilweise unter staatlicher Kontrolle, um Hungersnöte und Massenelend zu vermeiden. Zudem konnte Erhard Erfolge vorweisen, die sich mit Händen greifen ließen. Die Schaufenster der Geschäfte füllten sich, die Schwarzmärkte verschwanden. Fehlzeiten in den Fabriken nahmen spürbar ab, weil die Arbeiter für das Geld, das sie verdienten, wieder etwas kaufen konnten. Die Produktionsziffern stiegen zunächst ebenso wie die Investitionen. Am besten kann man die positiven Auswirkungen der Reformmaßnahmen studieren, wenn man die Wirtschaftsentwicklung in der amerikanischen und britischen Besatzungszone mit derjenigen in der französischen Zone vergleicht, wo der Chef der Militärverwaltung, Koenig, sich einer Abschaffung der Preisbindungen zunächst verweigerte. Der deutsche Südwesten wurde zum Versuchsfeld für die Effekte einer Währungsreform ohne begleitende Liberalisierung – mit eindeutigen Folgen. Da die Produktion nicht annähernd so schnell wuchs wie in der Bizone, sahen sich die französischen Besatzungsbehörden bald gezwungen, dem Beispiel der beiden anderen Zonen zu folgen. Ein wichtiger Grund für den Erfolg von Erhards Liberalisierungspolitik war das im Sommer 1947 verkündete und ab April 1948 in die Tat umgesetzte Marshallplanprogramm. Zu den 1,4 Mrd. $, die im Rahmen des Programms bis 1952 in die Westzonen und nach West-Berlin flossen, kamen noch einmal weitere 1,9 Mrd. $ für Lebensmittelzufuhren hinzu, die nicht Teil des Marshallplans waren und nicht zurückgezahlt werden mussten. Sie trugen dazu bei, die schlimmsten Hungerkatastrophen zu vermeiden und die Versorgungslage allmählich zum Besseren zu wenden. Insgesamt belief sich die amerikanische Gesamthilfe für Deutschland somit auf 3,2 Mrd. $. Einige Historiker haben die Bedeutung dieser Hilfe später relativiert, indem sie darauf hinwiesen, dass die US-Kredite spät anliefen und nur einen geringen Teil des westdeutschen Bruttosozialprodukts ausmachten. Dies ist insofern richtig, als der westdeutsche Wirtschaftsaufschwung bereits Ende 1947 einsetzte, noch vor der Währungsreform und ehe die ersten Marshallplan-Lieferungen eintrafen. Dennoch bleibt festzuhalten, dass der Marshallplan in Deutschland seinen wirtschaftlichen Zweck erfüllte. Die Gelder aus Amerika beschleunigten den begonnenen Rekonstruktionsprozess und stellten in einigen Schlüsselbereichen die entscheidenden Anschubfinanzierungen bereit. Wenn die bereitgestellten Summen für andere Länder auch größer waren, im deutschen Fall, wo die USA als Besatzungsmacht direkt eingreifen konnte, wurden sie von Reformmaßnahmen und Interventionen begleitet, die ihre Wirkung multiplizierten. Wichtiger noch war der psychologische Effekt. Der Marshallplan signalisierte den Deutschen, dass sie weiterhin mit amerikanischem Engagement rechnen konnten und in Zukunft wirtschaftspolitisch nach den gleichen Maßstäben behandelt werden würden wie die anderen Westeuropäer. Außerdem konnten sie hoffen, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis alle Kontrollen und Einschränkungen abgeschafft würden, die Deutschlands Wirtschaft behinderten.

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c) Die Marktwirtschaft in der Krise Nach der Bundestagswahl behielt die Regierung Adenauer die von Erhard in Frankfurt eingeschlagene Richtung in der Wirtschaftspolitik bei. Man setzte auf mittelfristige Erfolge statt auf kurzfristige Verbesserungen oder Verteilungsgerechtigkeit. Die Liberalisierung im Außen- und Binnenbereich hatte Vorrang vor planwirtschaftlichen Maßnahmen und der Stimulierung des Binnenkonsums. Arbeitslosigkeit wurde in Kauf genommen, um die Erhöhung der Produktionskapazität und die Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit nicht zu gefährden. Das Ziel, an dem man sich orientierte, war eine auf hoch qualifizierte Fertigwarenindustrien gestützte Exportwirtschaft und ein freier Welthandel. Allerdings blieb der wirtschaftspolitische Kurs umstritten – zumal bereits wenige Wochen nach der Wahl die wirtschaftliche Aufbruchsstimmung nachließ, die auf die Währungsreform gefolgt war. Seit November 1949 waren die Produktionsziffern wieder rückläufig. Der Index der Industrieproduktion fiel in den folgenden drei Monaten um elf Punkte. Hatte es im Juni 1948 in den drei Westzonen 442000 Arbeitslose gegeben, so waren es sechs Monate später 937 000 und im Januar 1950 rund 2 Mio. – 13,5%. Die Schwierigkeiten, denen Erhard sich gegenübersah, hatten sowohl strukturelle als auch konjunkturelle Gründe. Zu den strukturellen Ursachen gehörten v.a. die vielfältigen Folgen des Krieges, die noch lange nicht überwunden waren. Die Produktivität stieg nicht rasch genug, um den Wiederaufbau entscheidend voranzutreiben. Kapital war knapp. Zahlreiche von den Besatzungsmächten verhängte Produktionsbeschränkungen bestanden fort. Ferner blieb unklar, welche Zukunft die Alliierten den deutschen Grundstoffindustrien, insbesondere der Kohle- und Stahlindustrie im Ruhrgebiet, zudenken würden. Das Verhältnis von Exporten und Importen war aus dem Gleichgewicht geraten, die Zahlungsbilanz ins Negative gekippt. So musste die Bundesrepublik den Verlust der agrarisch geprägten Ostgebiete durch erhöhte Lebensmitteleinfuhren wettmachen, während traditionelle deutsche Exportstärken wie die Fertigwarenindustrie erst langsam wieder Fuß fassten. Hinzu kam die relative Abschwächung der Konjunktur. Auf die Kaufwelle der ersten Monate nach der Währungsreform folgte eine Phase zurückgehender Inlandsnachfrage. Das lag zum einen an der Kapitalknappheit der Unternehmen, zum anderen an dem Mangel, der weiterhin in vielen Haushalten herrschte. Solange ein Industriearbeiter im Durchschnitt wöchentlich nur etwa 55 DM verdiente, solange das Bruttoeinkommen von Beamten immer noch deutlich unter demjenigen des Jahres 1938 lag und viele Rentner lediglich 100 DM im Monat erhielten, konnten vom privaten Konsum keine belebenden Impulse für die Volkswirtschaft ausgehen. Vor diesem Hintergrund geriet Erhard unter Druck, durch eine Steigerung der öffentlichen Ausgaben Arbeitsplätze zu schaffen, die Binnennachfrage anzukurbeln und auf diese Weise dem Wirtschaftsaufschwung von staatlicher Seite auf die Beine zu helfen. Die Gewerkschaften forderten eine Vollbeschäftigungspolitik nach britischem Vorbild. Die SPD verlangte die Aufgabe der von der „Bank deutscher Länder“ betriebenen restriktiven Geldpolitik, Regierungsprogramme zur Konjunkturbelebung, staatliche Investitionsplanung und verschärfte Importkontrollen als kurzfristige Instrumente zur Krisenbekämpfung – Vorschläge, die bis in die CDU hinein auf eine gewisse Sympathie stießen. Wichtiger war, dass sich auch die Besatzungsmächte einige dieser Forderung zu eigen machten. Nicht nur die britische Labour-Regierung und ihre Wirtschaftsberater,

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auch einige US-Ökonomen in der Marshallplanverwaltung befürworteten Arbeitsbeschaffungsprogramme und andere staatliche Maßnahmen zur Ankurbelung der Konjunktur. Die Bundesregierung sah in dieser Situation keinen anderen Ausweg, als tatsächlich ein – relativ bescheidenes – Arbeitsbeschaffungsprogramm von etwa 2 Mrd. DM einzurichten. Es gelang der Regierung zwar trotz derartiger Zugeständnisse, im Großen und Ganzen an ihrem wirtschaftspolitischen Kurs festzuhalten. Sie wusste aber, dass sie einen Wettlauf mit der Zeit begonnen hatte. Die dirigistischen Eingriffe durften nicht von Dauer sein, wenn man am Konzept des wirtschaftlichen Liberalismus festhalten wollte. Der Regierung blieb nichts übrig, als die Interventionen so gering wie möglich zu halten und auf bessere Zeiten zu hoffen, die ihre Strategie im Nachhinein rechtfertigen würden.

4. Kurt Schumacher und die Grundlegung der parlamentarischen Opposition a) Der Weg der SPD in die Opposition Während Adenauer und Erhard in der Regierung wichtige Fundamente der Bonner Republik legten, prägte der sozialdemokratische Parteivorsitzende Kurt Schumacher den jungen Staat aus der Opposition heraus – ja man kann sagen, er erfand die parlamentarische Opposition, die es in Deutschland in dieser Form zuvor nicht gegeben hatte. In seiner Biographie über Kurt Schumacher hat der amerikanische Historiker und Soziologe Lewis Edinger den ersten Bundeskanzler mit einem Fuchs und den SPD-Parteivorsitzenden mit einem Löwen verglichen. Daran ist viel Wahres. Anders als Adenauer war Schumacher kein Mann taktischer Winkelzüge und kluger Kompromisse. Er verstand sich nicht aufs Brückenbauen und das Spinnen feiner Netze. Stattdessen pflegte er innerhalb seiner Partei einen autoritären Führungsstil. In der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner bevorzugte er die aggressive, mitunter schroff wirkende Frontalkonfrontation. Schumachers politischer Stil wie auch die Bereitwilligkeit, mit der sich seine Partei von ihm führen ließ, kann man nur vor dem Hintergrund seines Lebens- und Leidensweges verstehen. Stichwort Kurt Schumacher (1895–1952), im westpreußischen Kulm geboren, meldete sich gleich nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges als Freiwilliger und wurde wenig später schwer verwundet. Er verlor seinen rechten Arm, wurde aus dem Heeresdienst entlassen und konnte sich seinem politikwissenschaftlichen Studium widmen, das er mit einer Doktorarbeit zum Thema „Der Kampf um den Staatsgedanken in der deutschen Sozialdemokratie“ abschloss. Dieser Gegenstand war für Schumacher nicht nur von akademischem, sondern mehr noch von politischem Interesse. Er war seit 1918 Mitglied der SPD, seit 1924 Abgeordneter des Württembergischen Landtages, seit 1930 des Reichstages und gehörte zusammen mit Carlo Mierendorff (1897–1943), Julius Leber (1891–1945) und Theodor Haubach (1896–1945) zur Garde junger Sozialdemokraten, die Staat, Nation und die Republik von Weimar emphatisch bejahten und kämpferisch verteidigten. Die Nationalsozialisten hielten ihn deswegen unter grässlichsten Bedingungen zehn Jahre in Haft. Im Sommer 1943 wurde er entlassen, doch nach dem 20. Juli 1944 erneut für mehrere Wochen eingesperrt. Danach war Schumacher ein körperliches Wrack. Eine englische Zeitung schrieb im November 1946 über ihn: „Dünn wie ein Skelett, mit brennenden Augen in einem ausgemergelten Gesicht, scheint er das doppelte Leiden derer zu verkörpern, die zuerst Hitlers Opfer waren und

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nun für Hitlers Taten mitbezahlen müssen.“ Schumachers Willen jedoch hatten die Nationalsozialisten nicht brechen können. Bereits am 19. April 1945, Monate bevor die Militärregierungen offiziell deutsche Parteien zuließen, beschlossen er und eine Reihe anderer Sozialdemokraten bei einem Treffen in Hannover, ihre Partei neu aufzubauen und sich an die Spitze des demokratischen Neuanfangs in Deutschland zu stellen. Niemand konnte diesen Neuanfang glaubhafter verkörpern als Schumacher, der bis zu seinem Tod am 20. August 1952 Partei- und Fraktionschef der SPD blieb.

Während Sozialdemokraten im Parlamentarischen Rat, allen voran Carlo Schmid, großen Anteil an der Formulierung des Grundgesetzes hatten, verweigerte sich die Partei oberhalb der Länderebene der Zusammenarbeit in Regierungskoalitionen. Mit dem maßgeblich von Schumacher herbeigeführten Entschluss vom Sommer 1947, im Frankfurter Wirtschaftsrat keine Koalition mit Union und FDP einzugehen, sondern sich in die Opposition zu begeben, war eine Weiche für die spätere Konstellation im Bundestag gestellt: einer bürgerlich-liberalen Regierungskoalition stand eine „intransigente Opposition“ (Theo Pirker) gegenüber, die in zentralen wirtschafts- wie außenpolitischen Fragen fundamentale Kritik an der Regierung übte und, bei Anerkennung eines gemeinsamen verfassungspolitischen Rahmens, für eine grundsätzlich andere Politik stritt. Damit verfügte das Land erstmals über eine demokratische Alternative, über eine Regierung im Wartestand, die eine grundlegende, gleichwohl jedoch systemkonforme Oppositionspolitik betrieb – ein wichtiger Stabilitätsfaktor und ein weiterer fundamentaler Unterschied zwischen Bonn und Weimar. Schon Anfang Oktober war die Parteiorganisation der SPD in weiten Gebieten des untergegangenen Deutschen Reiches wiederhergestellt – zunächst v.a. in den Großstädten, zögerlicher in kleinstädtischen und agrarisch geprägten Regionen. Ein Jahr später zählte die SPD in den drei Westzonen und Berlin über 600000 Mitglieder, bis zum Jahresende kamen weitere 70000 hinzu. Anders als Adenauer in der CDU oder Heuss in der FDP hatte Schumacher sich früh, schon 1945, eine unanfechtbare Position an der Spitze der Parteiorganisation gesichert. Im Einklang mit der Tradition der SPD hatte er einen zentralistisch auf ihn als Parteichef ausgerichteten Apparat aufgebaut – oder vielmehr wiedererrichtet. Viel stärker als Adenauer konnte er von sich behaupten, für seine Partei zu sprechen. Seine ideologischen Überzeugungen bestimmten die weltanschauliche Ausrichtung der SPD. Seine strategischen Grundentscheidungen gaben ihr die politische Marschrichtung vor.

b) Die antikommunistische Ausrichtung der SPD Schumacher richtete die SPD in den Westzonen strikt antikommunistisch aus. Neigungen eines beträchtlichen Teils der sozialdemokratischen Basis und rivalisierender Parteigrößen wie Otto Grotewohl (1894–1964) vom SPD-Zentralausschuss in Berlin zu einer Einheitsfront mit den Kommunisten, hintertrieb er von Hannover aus in jeder Form. In seinen Augen schied die KPD sowohl wegen ihrer destruktiven Haltung in der Weimarer Republik als auch wegen ihrer vollständigen Unterwerfung unter den Willen Moskaus als politischer Partner aus. Schon im Mai 1945 erklärte Schumacher öffentlich, eine Kooperation mit den Kommunisten komme für seine Partei nicht in Frage, da die KPD keine demokratische Partei sei, sondern lediglich den Interessen einer

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ausländischen Macht, nämlich der Sowjetunion, diene. Die erzwungene Zusammenfassung aller Parteien in der „Einheitsfront der anti-faschistisch-demokratischen Parteien“ (dem sog. EinheitsBlock), aber auch die Absetzung der beiden CDU-Vorsitzenden in der sowjetischen Zone, Andreas Hermes (1878–1964) und Walter Schreiber (1884–1958) im Dezember 1945 – wegen ihrer Ablehnung der entschädigungslosen Enteignungen bei den Bodenreformen – deutete Schumacher als Belege dafür, dass man weder mit der Sowjetunion noch den deutschen Kommunisten kooperieren könne. Die KPD verweigerte sich freilich zunächst selbst einer Vereinigung mit der SPD. Die kommunistischen Führer wollten ihre eigene Partei aufbauen und stärken. Sie fürchteten, in einer Einheitspartei werde die SPD mit ihrer weitaus größeren Mitgliederzahl zur bestimmenden Kraft. Erst als deutlich wurde, dass die KPD auf sich allein gestellt trotz der Unterstützung durch die sowjetische Besatzungsmacht keine Chance hatte, Wahlen zu gewinnen, schwenkten die UdSSR und der starke Mann der deutschen Kommunisten, Walter Ulbricht (1893–1973), im September 1945 um. Nun waren sie es, die auf eine rasche Fusion beider Parteien drängten. Die SPD in der SBZ sah sich einer Vereinigungskampagne aus KPD-Propaganda und sowjetischen Drohgebärden ausgesetzt, die Grotewohl und den Berliner Zentralausschuss in die Defensive drängten. Bei einem Treffen in Wennigsen bei Hannover Anfang Oktober traten die Gegensätze zwischen Grotewohl und Schumacher offen zutage. Letzterer weigerte sich, gesamtdeutsche Parteistrukturen zu schaffen, weil er fürchtete, diese könnten von der Sowjetunion instrumentalisiert und zur Herbeiführung einer Zwangsvereinigung mit der KPD auf nationaler Ebene genutzt werden. Bei der Suche nach einem Kompromiss einigte man sich schließlich darauf, zwei provisorische Parteiführungen nebeneinander bestehen zu lassen – eine unter Grotewohl in Berlin, die andere unter Schumacher mit Sitz in Hannover. Kritiker Schumachers behaupteten rückblickend, dieser habe die Parteifreunde in der SBZ im Stich gelassen und auf diese Weise die Zwangsvereinigung von KPD und SPD erleichtert, die im April 1946 zustande kam. Das war ungerecht. Schumacher hatte früher als die meisten erkannt, dass die Ost-SPD – ob mit oder ohne Unterstützung der westlichen Parteigliederungen – der Willkür der sowjetischen Besatzungsmacht und ihrer ostdeutschen Helfer ausgeliefert war. Er sah keine Alternative zu einer unnachgiebigen Haltung, um wenigstens die Unabhängigkeit und Integrität der West-SPD zu bewahren.

c) Der historisch-moralische Führungsanspruch der SPD Die politische Integrität der SPD, ja ihre moralische Überlegenheit gegenüber allen anderen Parteien im Nachkriegsdeutschland, seien sie kommunistisch oder bürgerlich, war in Schumachers Augen ihr größtes Kapital. Die Sozialdemokratie war die Partei mit der ältesten ungebrochenen historischen Tradition. Sie war die einzige politische Kraft, die sich bis zum Schluss der nationalsozialistischen Tyrannei widersetzt und als einzige im März 1933 im Reichstag gegen das Ermächtigungsgesetz gestimmt hatte. Für Schumacher repräsentierte sie das „andere Deutschland“, den Widerstand gegen Hitler, die positiven Aspekte preußisch-deutscher Tradition. Nach dem Untergang des „Dritten Reiches“ kam der SPD in seinen Augen daher ein moralisch und historisch legitimierter Führungsanspruch zu. Diese Überzeugung hilft, den Rigorismus und das Selbstbe-

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wusstsein zu erklären, mit dem sich Schumacher der Kooperation mit anderen Parteien verweigerte, den Führungsanspruch der SPD formulierte und Forderungen im Namen eines neuen, demokratischen Deutschland gegenüber den Siegermächten anmeldete. Die dreifache Frontstellung gegen den bolschewistischen Kommunismus, gegen die bürgerlich-marktwirtschaftlichen Vorstellungen der Bonner Regierungskoalition und gegen die westlichen Siegermächte beschnitt aber zugleich die politischen Handlungsmöglichkeiten der SPD. Schumacher versuchte auf doppelte Weise, diesem Dilemma zu entkommen. Zum einen wartete er auf das Scheitern von Erhards marktwirtschaftlichem Experiment, das sehr rasch seinen unsozialen Charakter sowie seine Ineffizienz enthüllen und zum Einsturz kommen würde. Dann, so glaubte er, sei die Zeit für eine populäre sozialistische Wirtschaftspolitik gekommen – ähnlich derjenigen, welche die Labour-Partei in Großbritannien seit 1945 verwirklichte. Kernstück dieser Politik war die Sozialisierung weiter Teile der Wirtschaft. Der Katalog reichte von den Schlüsselindustrien des Bergbaus, über Eisen und Stahl, die Energiewirtschaft, die Großchemie, die großen Versicherungsgesellschaften bis hin zu denjenigen Monopolbetrieben, bei denen die Überführung in Gemeineigentum der Monopolkontrolle vorzuziehen sei, wie es der zuständige Referent auf dem SPD-Parteitag 1950 formulierte. Zum anderen setzte Schumacher auf die Bedeutung der Außenpolitik. Hier präsentierte er die SPD als Kämpferin für die deutsche Einheit. Die nationale Haltung des SPD-Chefs hatte mehrere Gründe. Sie stand zum einen in der patriotischen Tradition der rechten Sozialdemokratie. Zudem wollte er national-kommunistischer Propaganda aus der SBZ entgegenwirken. Schumachers Nationalismus entsprach aber auch seiner preußischen Prägung sowie einer Weltsicht, die stark von den Weimarer Erfahrungen bestimmt war. Der Politiker mochte glauben, einen geschickten Rollenwechsel vollzogen zu haben. Nach 1918 war der SPD als Regierungspartei in der Weimarer Koalition von der politischen Rechten vorgeworfen worden, eine demütigende „Erfüllungspolitik“ gegenüber den Siegermächten betrieben zu haben. Nun sollte die CDU diese Last schultern und darunter zusammenbrechen. In Wirklichkeit unterschied sich die Situation jedoch derart grundlegend von der Weimarer Konstellation, dass Schumachers Rechnung nicht aufging. Jetzt, da sich die bürgerliche Rechte internationalistisch und die gemäßigte Linke nationalistisch gebärdete, profitierte das bürgerliche Lager von dem Rollentausch. Adenauer hatte es nicht mehr mit einer nationalen, antidemokratischen Opposition von rechts, sondern mit einer demokratischen, antikommunistischen, nationalen Opposition von links zu tun. Das war eine geradezu ideale Konstellation für den Bundeskanzler, der sich gegenüber den Siegermächten als gemäßigter, vertrauenswürdiger Partner profilieren konnte und zugleich skrupellos genug war, die Sozialdemokratie als marxistische Bedrohung mit den Kommunisten in einen Topf zu werfen – wohlwissend, dass Schumachers Antikommunismus seinem eigenen in nichts nachstand. Auf einen Blick

Die Bundesrepublik war ein Geschöpf des Kalten Krieges. Sie entstand, als der Ost-West-Konflikt in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre seinem ersten Höhepunkt entgegenstrebte. Das erstaunliche Wachstum einer vom Krieg zerrütteten Volkswirtschaft und die Wiedererrichtung einer parlamentarischen Demokratie mit einer bestenfalls apathischen und politisch orientierungslosen, schlimmstenfalls tief in das NS-Regime verstrickten Bevölkerung wären unter anderen weltpolitischen Rahmen-

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bedingungen ebenso wenig denkbar gewesen wie die Anfänge einer zivilen Kultur und die beginnende Verständigung mit den Nachbarn in Westeuropa, welche die Anfangsjahre des westdeutschen Staates prägten. Der Kalte Krieg definierte auch die Grenzen der Bundesrepublik: im wörtlichen wie im metaphorischen Sinne. Wo der Regierungsbereich der neuen Republik endete, entsprang keiner freien Entscheidung der Deutschen, sondern war Ergebnis des amerikanisch-sowjetischen Gegensatzes. Was in Westdeutschland gesellschaftlich akzeptabel und politisch möglich war, was öffentlich diskutiert werden konnte und was mit Tabus belegt war, wurde nicht nur von den Überhängen älterer deutscher Traditionen und Denkmuster bestimmt, sondern in hohem Maße auch durch die weltpolitischen Rahmenbedingungen des Systemgegensatzes.

Literatur Abelshauser, W.: Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Von 1945 bis zur Gegenwart, 2., überarb. u. erw. Auflage, München 2011. Profunde Überblicksdarstellung von einem der besten Kenner der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Bösch, F.: Die Adenauer-CDU. Gründung, Aufstieg und Krise einer Erfolgspartei 1945 – 1969, Stuttgart 2001. Fundierte Gesamtdarstellung der CDU-Geschichte bis zum Verlust des Kanzleramtes. Echternkamp, J.: Nach dem Krieg. Alltagsnot, Neuorientierung und die Last der Vergangenheit 1945–1949, Zürich 2003. Beschreibt anschaulich die Nöte der unmittelbaren Nachkriegszeit. Geppert, D./Schwarz H.-P. (Hrsg.): Adenauer, Erhard und die soziale Marktwirtschaft (= Adenauer Rhöndorfer Ausgabe 20), bearb. v. H. Löttel, Paderborn 2019. Dokumentiert den Austausch von Bundeskanzler und Wirtschaftsminister über Schlüsselfragen der Wirtschaftspolitik, Einleitung des Bearbeiters bietet exzellenten Einstieg in das Thema. Stöver, B.: Der Kalte Krieg. Geschichte eines radikalen Zeitalters 1947–1991, München 2007. Guter Überblick über alle wichtigen Facetten des Ost-West-Gegensatzes. Walter, F.: Die SPD. Biographie einer Partei von Ferdinand Lassalle bis Andrea Nahles, Reinbek bei Hamburg 2018. Ordnet die Ära Schumacher in die Gesamtgeschichte der SPD ein.

II. Außen- und Deutschlandpolitik 1949–1955 Überblick

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m Anfang deutscher Außenpolitik nach 1945 stand Adenauers Überzeugung, dass Westeuropa ohne amerikanischen Schutz sowjetischem Expansionsstreben ohnmächtig ausgeliefert wäre. Er wusste um die militärische wie wirtschaftliche Macht der USA und hielt ihre Unterstützung für die Grundvoraussetzung erfolgreicher Politik. Dabei akzeptierte er die Machtlosigkeit der Deutschen als Ausgangsbasis seiner Politik. In der Konstellation des Ost-West-Konflikts erblickte Adenauer die Chance, diese Position zu verbessern. Indem der Kalte Krieg die Anti-Hitler-Koalition der Kriegszeit aufbrach,

hatte der deutsche Westen die Möglichkeit, sich als verlässlicher Verbündeter der USA zu erweisen und aus der Isolierung herauszukommen. Auf diesem Wege wollte er die Fesseln des Besatzungsstatuts abstreifen, möglichst viel staatliche Souveränität für die Bundesrepublik gewinnen und das Land als ebenbürtigen Partner in den Kreis der europäischen Mächte zurückführen. War dies erreicht, würde die Bundesrepublik mit westlicher Hilfe politisch und wirtschaftlich so stark werden, dass die Sowjetunion zur Aufgabe ihrer Zone genötigt werden konnte.

4.4.1949

Gründung der NATO in Washington

22.11.1949

Petersberger Abkommen

9.5.1950

Erklärung der französischen Regierung über eine gemeinsame deutsch-französische Montanbehörde (Schuman-Plan)

25.6.1950

Beginn des Korea-Krieges

24.10.1951

Plevenplan

18.4.1951

Unterzeichnung des Vertrags über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS)

10.3.1952

Stalin-Note

26.5.1952

Unterzeichnung des Deutschlandvertrages in Bonn

27.5.1952

Unterzeichnung des Vertrages über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) in Paris

25.7.1952

Vertrag über die EGKS tritt in Kraft

5.3.1953

Tod Stalins

30.8.1954

Scheitern des EVG-Vertrags in der französischen Nationalversammlung

19.–23.10.1954 Unterzeichnung der Pariser Verträge 5.5.1955

Pariser Verträge treten in Kraft

9.–13.9.1955

Moskau-Reise Adenauers

1. Außenpolitische Alternativen

43

1. Außenpolitische Alternativen a) Jakob Kaiser und der „Dritte Weg“ Während sich der weltpolitische Gegensatz zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion in den Jahren vor 1949 zuspitzte, mussten die Deutschen ihrerseits versuchen, sich auf die neue außenpolitische Situation einzustellen. Abgesehen von der bedingungslosen Bindung an die UdSSR, wie die deutschen Kommunisten sie verfochten, wurden in den ersten Nachkriegsjahren drei Grundoptionen deutscher Außenpolitik verfochten: erstens eine Mittlerfunktion für Deutschland zwischen Ost und West, zweitens die Bildung eines anti-sowjetischen Blocks sozialistischer Staaten in Mittel- und Westeuropa, dem auch ein sozialistisches Gesamtdeutschland angehören sollte, und drittens ein aus den drei Westzonen bestehendes, fest an die westlichen Demokratien gebundenes Rumpfdeutschland als Gravitationszentrum einer späteren Wiedervereinigung. Die erste Option zielte auf einen Ausgleich mit der UdSSR. Bevor sich seit 1947 der Kalte Krieg verschärfte, dachten viele darüber nach, wie man mit sowjetischer Zustimmung ein geeintes Deutschland bewahren bzw. wiederherstellen könnte. Naturgemäß beschäftigte diese Frage besonders Politiker, die in der SBZ wirkten und darauf angewiesen waren, sich mit der Besatzungsmacht zu arrangieren. Der profilierteste unter ihnen war Jakob Kaiser, zusammen mit Ernst Lemmer (1898–1970) als CDU-Vorsitzender in der SBZ Nachfolger der abgesetzten Hermes und Schreiber. Stichwort Jakob Kaiser (1888–1961), schrieb 1948 ein britischer Journalist, sehe beim ersten Eindruck aus wie ein russischer General und rede wie ein Laienprediger. „Buschige Augenbrauen, hohe Wangenknochen und eine breite mächtige Nase verleihen seinem Gesicht eine gewisse Strenge. Doch seine mittlerweile sehr müden Augen und sein Mund verraten tiefe Menschlichkeit. Im Grunde ist er ein einfacher, offener und ungeheuer mutiger Mann.“ Im „Dritten Reich“ hatte der im unterfränkischen Hammelburg als erstes von zehn Kindern einer Arbeiterfamilie Geborene in der Tat großen Mut bewiesen. Kaiser, der über die christliche Gewerkschaftsbewegung schon vor dem Ersten Weltkrieg in die Politik gekommen war und 1933 kurz für die Zentrumspartei im Reichstag gesessen hatte, gehörte zum Kreis der aktiven Gegner des NSStaates. Er stand mit den Verschwörern des 20. Juli 1944 in Kontakt und überlebte die Hinrichtungswelle, die dem gescheiterten Attentat auf Hitler folgte, im Versteck. Nach dem Krieg war der Katholik Kaiser einer der Mitbegründer der CDU in der SBZ und wurde im Dezember 1945 zu deren Vorsitzendem gewählt. Nachdem ihn die SMAD knapp zwei Jahre später abgesetzt und seine politische Tätigkeit in der SBZ unmöglich gemacht hatte, saß er für die CDU im Parlamentarischen Rat und später von 1949 bis 1957 im Bundestag. Als Vorsitzender der CDU-Sozialausschüsse war er ein führender Vertreter des linken Parteiflügels. In den ersten beiden Kabinetten Adenauer war Kaiser Minister für gesamtdeutsche Fragen. Nach dem Ausscheiden aus Parlament und Regierung blieb er bis 1958 stellvertretender Vorsitzender der CDU, danach bis zu seinem Tode Ehrenvorsitzender.

Kaiser bezweifelte, dass sich die UdSSR aus Ostdeutschland würde vertreiben lassen. Wollte man sich nicht selbst von dort zurückziehen, musste man seiner Ansicht nach zu einem Einvernehmen mit Moskau gelangen. Er hoffte, dieses Einvernehmen könnte hergestellt werden, indem Deutschland eine Mittlerfunktion einnahm. Es sei die Bestimmung seines Landes, formulierte er 1946, „Brücke zu sein zwischen Ost und West“. Kaiser dachte dabei gleichsam an eine doppelte

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II.

Außen- und Deutschlandpolitik 1949–1955

Brückenfunktion Deutschlands – eine politische, welche die östliche und die westlichen Siegermächte miteinander verbinden sollte, und eine geistige, wobei der deutsche christliche Sozialismus das Christentum des Westens mit dem Marxismus des Osten vereinigen würde. Kaisers Ansicht nach durfte Deutschland weder im Westen vollständig aufgehen, noch vom Osten beherrscht werden. Auch wenn es seine Großmachtstellung verloren hatte, bestehe seine mitteleuropäische Sendung fort. Wer die Gesundung Deutschlands wolle, schrieb Kaiser im Januar 1947, könne nur von der Tatsache ausgehen, dass Deutschland zwischen Ost und West gelagert ist. „Die Konsequenz dieser schicksalhaften, aber auch aufgabenreichen Lage ist nicht das Entweder-oder eines West- oder Ostblocks, sondern das Sowohl-als-auch der Verständigung und des Ausgleichs zwischen den Völkern und die Gesundung aus eigenem Geist heraus.“ Kaiser hoffte, dass eine gewisse Distanz zum Westen sowie die Verbindung von christlichem Sozialismus und Freiheitsgedanken eine tragfähige Grundlage für den Ausgleich mit Moskau darstellen und die Loslösung Ostdeutschlands aus dem sowjetischen Machtbereich ermöglichen würde. Eine sozialistische Gesellschaftsstruktur, verbunden mit einer freiheitlichen politischen Ordnung, würde nicht nur soziale Gerechtigkeit, Wohlstand und politische Stabilität gewährleisten. Sie würde auch die Einigung der Siegermächte über Deutschland erleichtern, die Reichseinheit retten und eine Fortexistenz Deutschlands als unabhängige, friedliche Macht in der Mitte Europas ermöglichen. Kaiser war nicht der einzige Protagonist des „Brücke“-Gedankens. Seine Berliner Parteifreunde Lemmer, Ferdinand Friedensburg (1886–1972) und Georg Dertinger (1902–68), aber auch Sozialdemokraten wie Paul Löbe (1875–1967) und Ernst Reuter (1889–1953) traten zeitweise für ähnliche Ideen ein. Viele Anhänger der Konzeption waren Protestanten, deren Bindung an das Deutsche Reich von 1871 in der Regel stärker ausgeprägt war. Aber auch unter Katholiken gab es Anhänger. Eugen Kogon (1903–1987) und Walter Dirks, die aus dem Linkskatholizismus stammten, verliehen ihnen in der Zeitschrift „Frankfurter Hefte“ eine publizistische Stimme. Sie sprachen sich dafür aus, Distanz zur östlichen wie westlichen Supermacht zu halten. Freilich war Kogons und Dirks Denken weniger nationalstaatlichen Kategorien verhaftet als die Konzeption Kaisers. Sie sahen nicht in Deutschland den Mittler zwischen Ost und West, sondern in einem vereinigten sozialistischen Europa. Ähnliche Ansichten vertraten Alfred Andersch (1914–80) und Hans Werner Richter (1908–93) in ihrer Zeitschrift „Der Ruf“ und später in der Nachfolgezeitschrift „Neues Europa“, auch wenn sie ihr Engagement nicht christlich, sondern sozialistisch-humanistisch begründeten. Die deutsche Jugend, stand im Oktober 1946 im „Ruf“ zu lesen, habe die Aufgabe, „den Sozialismus des Ostens und die Demokratie des Westens“ in ihrem Land miteinander zu verbinden. Sie müsse gleichsam den Sozialismus demokratisieren und die Demokratie sozialisieren. „Europa kann weder ohne Russland noch in einer Blockbildung gegen Russland leben. Deutschland ist nur ein Vorland Russlands. Es liegt in der Mitte zwischen dem Westen und dem Osten und muss mit beiden leben. Indem es aber die sozialistische Ideologie des Ostens und die demokratische Ideologie des Westens in sich aufnimmt, kann es auf einer höheren Ebene beide in sich vereinen.“ Die Realisierung derartiger Konzepte wurde in einer von der Blockkonfrontation geprägten internationalen Lage zunehmend schwierig. Kaiser geriet als CDU-Vorsitzender in der SBZ mit der Verschärfung der Ost-West-Konfrontation immer weiter in die Defensive, bis die sowjetische Militäradministration ihn und Ernst Lemmer am 20. Dezember 1947 schließlich für abgesetzt er-

1. Außenpolitische Alternativen

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klärte. Dennoch stieß die „Brücke“-Konzeption in der westdeutschen Bevölkerung lange Zeit auf beträchtliche Zustimmung. Für viele Bundesbürger rangierte die Einheit der Nation vor dem Ziel einer Verankerung des neuen Staates im Westen. Beileibe nicht alle sahen Deutschland wenige Jahre nach Kriegsende politisch, wirtschaftlich, kulturell als Bestandteil der westlichen Welt.

b) Schumacher und der Primat der Wiedervereinigung Schumacher hielt Kaisers Idee für illusionär, mit der UdSSR zu irgendeiner Form von Ausgleich kommen zu können. Seiner Auffassung nach verfolgte Stalin keine internationalistisch-sozialistische Politik, sondern eine traditionelle russische Hegemonialpolitik, die keine Rücksicht auf deutsche Interessen nahm. Trotz aller Kritik an den wirtschaftspolitischen Plänen der USA lief Schumachers Antikommunismus auf eine Option für die Westorientierung der SPD hinaus. Zwar hoffte er noch bis 1947, eine Parteinahme für die Vereinigten Staaten vermeiden und die Möglichkeit eines neutralisierten Gesamtdeutschlands offen halten zu können. Doch im Zuge der sich verschärfenden Spannungen zwischen den Supermächten schwand diese Chance, und Schumacher wandte sich der Konzeption eines westeuropäischen Blocks sozialistischer Staaten unter Einschluss der deutschen Westzonen zu. Er stimmte mit den Ideen anderer sozialistischer Parteien in Westeuropa überein, die sich ebenfalls um eine Integration der Nationalstaaten unter sozialistischen Vorzeichen bemühten. Der westeuropäisch-sozialistische Block, so hoffte Schumacher, würde dem Osten ökonomisch derart überlegen sein, dass von ihm eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf die SBZ ausgehen müsste. Auf dieser „Magnet-Theorie“ ruhte Schumachers Hoffnung, eine langfristige Spaltung Deutschlands verhindern zu können. Aus dieser Sicht der Dinge heraus begrüßte er den Marshallplan, der helfen werde, den Magnetismus zu bewirken. Drei Faktoren standen einem Erfolg dieser außenpolitischen Konzeption im Wege. Erstens nahm mit der Verschärfung der Ost-West-Konfrontation der amerikanische Druck auf Westeuropa zu, sozialistische Neuordnungsvorstellungen aufzugeben und zu privatwirtschaftlichen Ordnungsformen zurückzukehren. Insbesondere der Marshallplan wirkte in diese Richtung. Zweitens begann der Integrationsimpuls der westeuropäischen Sozialisten 1947/48 nachzulassen. Dies hing nicht zuletzt mit der Enttäuschung über die zunehmende Dominanz des von den USA verkörperten marktwirtschaftlichen Wirtschaftskonzepts zusammen. Gerade die britische Labour-Partei, auf die Schumacher große Hoffnungen gesetzt hatte, zog sich zunehmend vom Kontinent zurück. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums hingegen machten die Vernetzungsbemühungen christdemokratischer Parteien Fortschritte. Ihr Projekt einer vom Geist katholischer Gemeinsamkeiten getragenen und marktwirtschaftlichen Prinzipien verpflichteten Föderation Westeuropas gewann an Schwung. Drittens verhinderte auch Schumachers aggressiver politischer Stil, sein moralischer Anspruch auf gleichberechtigte Behandlung sowie seine häufigen an die Adresse der westlichen Siegermächte gerichteten Vorwürfe eine unkomplizierte Zusammenarbeit mit den Besatzungsmächten. Schumacher trat in dem Bewusstsein auf, den Nationalsozialismus bereits bekämpft und für seine Überzeugungen gelitten zu haben, als die Westmächte wie die Sowjetunion Hitler noch hofiert und mit ihm paktiert hätten. Er warf den USA vor, sie hintertrieben alle sozialistischen Reformen. Großbritannien griff er wegen dessen Demontagepolitik an. Frankreich machte er zum Vorwurf, seine antideutsche Sicherheitspolitik unterscheide sich kaum von den

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II.

Außen- und Deutschlandpolitik 1949–1955

verhängnisvollen Methoden der Zwischenkriegszeit. Es verwundert kaum, dass die Vertreter der Alliierten auf derartige Vorwürfe und auf die betont nationale Haltung des SPD-Chefs misstrauisch reagierten. Als 1949 die Bundesrepublik gegründet wurde, befand sich Schumacher außenpolitisch in einer Zwickmühle. Auf der einen Seite ließ er sich in seinem Antikommunismus von niemandem übertreffen und stand der Westorientierung des Landes prinzipiell positiv gegenüber. Auf der anderen Seite waren seine Beziehungen zu den Westmächten gespannt. Er erwartete von ihnen nicht viel Gutes, schätzte die Chancen auf eine gerechte Behandlung gering ein und schrieb das Ende seiner Hoffnungen auf eine sozialdemokratische Führung Deutschlands nicht zuletzt alliierten Intrigen zu. Seine Hoffnungen auf ein sozialistisches Westeuropa hatten sich zerstört. Die bürgerlich-konservative Westintegration, wie die Regierung Adenauer sie im Einklang mit amerikanischen Wünschen und Vorstellungen betrieb, lehnte er als „konservativ, klerikal, kapitalistisch, kartellistisch“ ab. Die außenpolitische Grundhaltung, die sich aus diesem Dilemma ergab, bestand darin, die Westintegration im Grundsatz zu begrüßen, aber Adenauers Methoden als unnötiges Entgegenkommen gegenüber alliierten Forderungen zu kritisieren. Demgegenüber beharrte Schumacher darauf, die Westmächte müssten den Deutschen Gleichberechtigung und Selbstbestimmung gleichsam als Vorleistung gewähren, ehe an eine politische Zusammenarbeit gedacht werden könne. Auf der gleichen Linie lag der gesamtdeutsche Vorbehalt, den Schumacher erhob. Keine Maßnahme durfte seiner Ansicht nach den provisorischen Charakter der Bundesrepublik verändern, damit die Möglichkeit einer Wiedervereinigung nicht gefährdet würde. Nach dem Tod des Parteivorsitzenden verstärkte die SPD unter Schumachers Nachfolger Erich Ollenhauer (1901–63) ihren Widerstand gegen die Politik der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Westintegration. Da gleichzeitig pazifistische Strömungen an der Parteibasis zunahmen, näherte sich die Sozialdemokratie pazifistisch-neutralistischen Positionen an, wie sie gerade im deutschen Protestantismus in der Nachfolge der „Brücke“-Konzeptionen vertreten wurden.

c) Adenauers Politik der Westintegration Die außenpolitische Grundorientierung Adenauers hatte durchaus Berührungspunkte mit den Ideen der Anhänger von „Brücke“-Konzeptionen. Wie diese war er der Ansicht, dass nur durch eine europäische Integration das Sicherheitsbedürfnis der deutschen Nachbarn – insbesondere Frankreichs – befriedigt werden konnte. Gemeinsam erblickte man in der europäischen Einigung ein geeignetes Mittel, die Einmischung der Siegermächte in deutsche Angelegenheiten zu begrenzen und gleichzeitig mit den Machtstaatstraditionen des Bismarckreiches zu brechen. Auch mit Schumacher war sich Adenauer in zentralen Punkten einig. Beide waren überzeugt, dass die Spaltung Deutschlands eine feststehende Tatsache war, mit der man für absehbare Zeit rechnen musste. Nur die Einbeziehung der Westzonen in das Marshallplanprogramm, eine rasche Staatsgründung sowie die Anlehnung an die Westmächte kamen zur Abwehr der sowjetischen Bedrohung in Frage. Diese Ansichten bildete im Wahlkampf des Sommers 1949 den Grundkonsens aller Parteien mit Ausnahme der KPD. Dennoch bestanden zwischen Adenauers Außenpolitik und den von Männern wie Schumacher oder Kaiser verfochtenen Konzepten wichtige Unterschiede. Dem Kölner Adenauer fiel die

1. Außenpolitische Alternativen

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Erkenntnis, den Ostteil des Vaterlandes zunächst verloren zu geben, leichter als dem in Westpreußen geborenen Sozialdemokraten oder dem Christdemokraten Kaiser, der immerhin eine Zeit lang Vorsitzender seiner Partei in der SBZ war. Alles, was östlich der Weser lag, blieb Adenauers rheinisch-katholisch geprägtem Temperament letztlich fremd oder war ihm unheimlich. Er habe sich in Berlin immer wie in einer heidnischen Stadt gefühlt, gestand er nach dem Zweiten Weltkrieg. Und schon in den zwanziger Jahren hatte er Freunden anvertraut, hinter Braunschweig beginne für ihn die asiatische Steppe. Die meisten deutschen Fehler und Untugenden entsprangen in Adenauers Sicht der preußischen Tradition. Zentralismus, Militarismus, Nationalismus, ja sogar der Marxismus und Materialismus – sie alle hatten seiner Meinung nach ihre Wurzeln in Preußen. Adenauer hatte weniger Schwierigkeiten als Schumacher und Kaiser, nicht nur die Gefahren, sondern auch die Chancen der neuen Lage für die deutschen Westzonen zu erfassen. Bereits im Herbst 1945 war er zu der Erkenntnis gelangt, der Osten Deutschlands bis zu Elbe und Werra sei bis auf weiteres verloren. Lediglich die Kooperation mit den Westmächten könne den Rest des Landes vor der Übernahme durch den Bolschewismus retten. Die Herkunft aus dem Rheinland mit seinen traditionsreichen Verbindungen ins katholische Westeuropa gestattete es ihm, die Möglichkeiten politischer wie wirtschaftlicher Verflechtungen mit anderen westeuropäischen Staaten positiver einzuschätzen als sein sozialdemokratischer Gegenspieler. In den Ländern des deutschen Westens lebe eine natürliche Sehnsucht aus der Enge nationaler Beschränktheit in die Weite gesamteuropäischen Bewusstseins auszubrechen, hatte er drei Jahre nach Kriegsende in einem Interview mit dem „Rheinischen Merkur“ bemerkt. Entsprechend intensiv waren seit Anfang 1948 seine persönlichen Kontakte zu verschiedenen westeuropäischen Europabewegungen. Im Mai 1948 nahm er am Kongress der Europäischen Bewegung in Den Haag teil, wo er mit 800 Abgesandten aus ganz Westeuropa zusammentraf – darunter die beiden früheren Ministerpräsidenten Léon Blum (1872–1950) und Edouard Herriot (1872–1957) aus Frankreich, Paul-Henri Spaak (1899–1972) aus Belgien, Alcide de Gasperi (1881–1954) aus Italien und Winston Churchill, inzwischen nicht mehr Regierungschef, sondern Oppositionsführer, an der Spitze einer 140 Personen umfassenden britischen Delegation. Vertrauliche Treffen mit französischen Christdemokraten in Genf folgten. Bald war Adenauer überzeugt, die föderalistische Idee biete Deutschland langfristig Gelegenheit, der außenpolitischen Isolierung zu entkommen. Nur supranationale, europäische Strukturen könnten legitime französische Sicherheitsinteressen befriedigen, ohne Deutschland zu beschädigen. „Organische Verflechtungen“ zwischen den Volkswirtschaften beider Länder sollten die alles entscheidende Aussöhnung von Deutschland und Frankreich ermöglichen, weil parallel laufende ökonomische Interessen das dauerhafteste Fundament für gute politische Beziehungen der Völker seien. Auch mit den Amerikanern pflegte Adenauer gute Beziehungen. Als Präsident des Parlamentarischen Rats hatte er die Achtung der Truman-Administration gewonnen, die ihn seinem unberechenbareren Rivalen Schumacher vorzog. Adenauer vertraute den USA nicht blind, aber er wusste um ihre Macht und hielt amerikanische Unterstützung für die Grundvoraussetzung erfolgreicher deutscher Politik. Anders als der SPD-Chef akzeptierte er die Machtlosigkeit der Deutschen infolge der bedingungslosen Kapitulation als Ausgangsbasis seiner Politik. „Wir sind einstweilen Objekt und weiter nichts“, erklärte er Anfang 1949. „Wir können verschachert werden von den Amerikanern an die Russen. Es kann auch sein, dass die Amerikaner uns brauchen als Stein

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II.

Außen- und Deutschlandpolitik 1949–1955

im Spiel, aber wir haben außenpolitisch zurzeit noch ganz außergewöhnlich wenig Bedeutung.“ In der Konstellation des sich verschärfenden Ost-West-Konfliktes erblickte Adenauer die Chance, diese Position zu verbessern. Indem der Kalte Krieg die Anti-Hitler-Koalition der Kriegszeit aufbrach, hatte der deutsche Westen die Möglichkeit, sich als verlässlicher Verbündeter der USA zu erweisen und sich allmählich aus der Isolierung zu befreien. Während Schumacher alliierte Vorleistungen erwartete, ehe er zur Zusammenarbeit bereit war, entsprach es Adenauers pragmatischem Politikverständnis, Diskriminierungen zunächst in Kauf zu nehmen und selbst Vorleistungen zu erbringen, um Stück für Stück auf dem Weg zur Gleichberechtigung voranzukommen. War dies erreicht, musste die Bundesrepublik mit westlicher Hilfe politisch und ökonomisch so stark werden, dass die Sowjetunion zur Preisgabe ihrer Zone genötigt werden konnte. Die Wiedervereinigung blieb auch für Adenauer ein zentrales Ziel deutscher Politik, das letztlich nur durch eine Politik der Stärke zu erreichen war. Je länger freilich die Bundesrepublik bestand, umso mehr war er davon überzeugt, dass die Einheit nicht um den Preis westdeutscher Freiheit oder der Bindung an den Westen erkauft werden durfte.

2. Adenauer und die Alliierten a) Demontagen und die Kontrolle der Ruhrindustrie Adenauers wichtigstes Ziel in der Außenpolitik bestand zunächst darin, durch Kooperation mit den Alliierten schrittweise staatliche Souveränität für die Bundesrepublik zu gewinnen und sie zum gleichberechtigten Partner aufrücken zu lassen. Seine Politik sei darauf gerichtet, schrieb er Ende August 1949 in einem Privatbrief, „ein enges Verhältnis zu den Nachbarstaaten der westlichen Welt, insbesondere zu den Vereinigten Staaten herzustellen. Es wird von uns mit aller Energie angestrebt werden, dass Deutschland so rasch wie möglich als gleichberechtigtes und gleichverpflichtetes Mitglied in die europäische Föderation aufgenommen wird.“ Wie weit die Gleichberechtigung anfangs noch entfernt war, wie sehr die Bundesregierung gerade in der Außenpolitik den Siegermächten untergeordnet blieb, spiegelte sich institutionell darin wider, dass es zunächst keinen westdeutschen Außenminister und nur Rudimente eines Außenministeriums gab. So demütigend diese Situation war, kam sie Adenauer doch zupass, weil er als Kanzler die Außenpolitik mitübernahm. Es gebe nur einen Minister in seinem Kabinett, dem er vertrauen könne, sagte er einmal: dem Außenminister – also sich selbst. Zwar gestatteten die Westmächte 1951 die Einrichtung eines Außenministeriums. Aber es dauerte bis 1955, ehe Adenauer mit Heinrich von Brentano einen Außenminister bestimmte. Dieser hatte es schwer, eigenes Profil zu gewinnen. Die wichtigen außenpolitischen Entscheidungen blieben bis zum Ende seiner Kanzlerschaft Adenauer vorbehalten. Die beiden konfliktreichsten Aspekte der Beziehungen zu den Westmächten waren die eng miteinander verwobenen Fragen der Demontagen und der Entsendung deutscher Vertreter in die Ruhrbehörde. Schon vor Gründung der Bundesrepublik hatten sich deutsche Politiker dafür eingesetzt, die Demontage deutscher Industrieanlagen zu beenden oder wenigstens einzuschränken. Tatsächlich hatten die Alliierten die Zahl der betroffenen Betriebe stetig gesenkt – von 1546 im

2. Adenauer und die Alliierten

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Frühjahr 1946 auf 744 im April 1949. Der Marshallplan und die erklärte Absicht des Westens, die westdeutsche Wirtschaft wiederaufzubauen, hatten in Deutschland aber die Hoffnung auf ein vollständiges Ende der Demontagen geweckt. Die Alliierten verweigerten dies mit dem Argument, bei den zur Zerlegung bestimmten Betrieben handele es sich um das Rückgrat der deutschen Rüstungsindustrie. Der Abbau sei für die Sicherheit der Nachbarn wichtig. Die Deutschen hingegen beharrten darauf, die meisten der fraglichen Werke würden für die Friedenswirtschaft dringend benötigt. Viele vermuteten, Rache oder Angst vor deutscher Konkurrenz seien die treibenden Motive auf Seiten der Westmächte. In einigen Städten, die besonders betroffen waren, entstand bereits Widerstand. Die Amerikaner, die offenen Aufruhr und die Vergiftung der Beziehungen fürchteten, drängten die Regierungen in London und Paris zur Beendigung der Demontagepolitik. Auch aus Adenauers Sicht war ein Erfolg in dieser Frage zentral. Die deutsche Bevölkerung maß seine Regierung nicht zuletzt daran, welche Fortschritte sie in diesem Punkt erzielte. Die Westintegration der Bundesrepublik würde kaum Zustimmung finden, wenn schon hierbei keine Einigung mit den Alliierten zu erzielen war. Nachdem der britische Außenminister Ernest Bevin (1881–1951) auf die amerikanische Linie eingeschwenkt war, einigte man sich auf einen Kompromiss: Die Demontagen wurden nicht völlig beendet, aber drastisch reduziert. Wichtige Betriebe wie die August-ThyssenHütte, die Klöckner-Werke in Düsseldorf, die Ruhrstahl A.G., die Borsig-Stahlwerke in Berlin, die Farbenfabriken in Ludwigshafen oder Bayer in Leverkusen wurden von den Listen gestrichen. Im Gegenzug verpflichtete sich die Bundesregierung mit dem neu errichteten Militärischen Sicherheitsamt zusammenzuarbeiten, das für die Kontrolle der Demilitarisierung zuständig war. Außerdem erklärte sie sich bereit, deutsche Vertreter in die Ruhrbehörde zu entsenden. Die deutsche Öffentlichkeit hatte stürmisch gegen die Einrichtung der Ruhrbehörde protestiert, weil man fürchtete, einige der wichtigsten Sektoren der Wirtschaft würden auf diese Weise dauerhaft deutscher Kontrolle entzogen und ausländischer Lenkung unterstellt. Selbst Adenauer hatte geäußert, dagegen sei der Versailler Vertrag ein Apfelgarten, und sich zunächst geweigert, deutsche Vertreter in die Behörde zu entsenden. Der Verbindung von eingeschränkter Demontage und Ruhrkontrolle stimmte er schließlich aber zu. Stichwort

Ruhrbehörde Sie war 1948 von den westlichen Alliierten als internationale Kontrollbehörde eingesetzt worden, um die Produktion des Ruhrgebiets an Kohle, Koks und Stahl auf dem deutschen und internationalen Markt zu verteilen und übermäßige wirtschaftliche Konzentration zu verhindern. Ziel war es, das wirtschaftliche Potential des Ruhrgebiets zu kontrollieren, wo etwa 40% der westdeutschen Industriegüter hergestellt wurden. Die drei Westmächte sowie die Benelux-Staaten, die der Behörde ebenfalls angehörten, hatten sich eine dominierende Position in der Institution gesichert. Sie drängten die Deutschen zwar zum Beitritt, sollten aber bei Abstimmungen über insgesamt zwölf Stimmen verfügen, die deutschen Vertreter nur über drei.

Zusammen mit Erhard setzte Adenauer im Kabinett die Zustimmung zu der Kompromisslösung durch. Sie wurde am 22. November 1949 im Petersberger Abkommen zwischen der Bundesre-

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Außen- und Deutschlandpolitik 1949–1955

publik und den westlichen Siegermächten festgeschrieben. Das vertragsartige Protokoll regelte nicht nur die Demontagefrage und die Ruhrkontrolle, sondern lockerte auch die Restriktionen für den deutschen Schiffbau und gestattete die Einrichtung konsularischer Beziehungen zu einigen ausgesuchten Ländern. Dennoch kritisierte die Opposition den Kanzler scharf für das Abkommen, das sie als „Sieg französischer Hegemonialpolitik“ bezeichnete. Adenauer hatte das Parlament bei den Verhandlungen nicht eingeschaltet, und alle Fäden selbst in der Hand behalten. Nun wurde ihm vorgeworfen, er habe hinter dem Rücken des Bundestags agiert und sei den Siegermächten bei der Frage der Ruhrkontrolle unnötig weit entgegengekommen. Schumacher beschimpfte Adenauer in einem wütenden Zwischenruf in der Bundestagsdebatte vom 24. November als „Kanzler der Alliierten“, was ihm eine mehrtägige Verbannung aus dem Parlament einbrachte. Der Vorwurf war ungerecht und überzogen, völlig Unrecht hatte der Oppositionsführer aber nicht. Tatsächlich musste Adenauer von einer Position der Schwäche aus verhandeln und erreichte kaum Zugeständnisse, die über das hinausgingen, was die westlichen Außenminister zuvor unter sich vereinbart hatten. Langfristig betrachtet, schadete das Abkommen der Bundesrepublik jedoch nicht. Der Wiederaufbau wurde durch die Demontagen, die sich am Ende auf einen Wert von rund 2 Mrd. DM beliefen, nicht entscheidend gebremst. Rückblickend meinten manche Beobachter sogar, die deutsche Wettbewerbsfähigkeit habe davon profitiert, weil die demontierten veralteten Maschinen durch moderne Geräte ersetzt worden seien. Aus Sicht der Bundesregierung bedeutete das Abkommen jedenfalls einen entscheidenden Schritt vorwärts. Es hob nicht nur die Siegerrechte hervor, sondern betonte auch den partnerschaftlichen Aspekt der Beziehungen. Von der „Entschlossenheit beider Parteien“ war die Rede, „ihre Beziehungen auf der Grundlage gegenseitigen Vertrauens fortschreitend zu entwickeln“. Gleichzeitig versprach man, „die Zusammenarbeit Deutschlands mit den westeuropäischen Ländern auf allen Gebieten“ zu fördern.

b) Der Beitritt zum Europarat und die Saar-Frage Die im Petersberger Abkommen geäußerten guten Absichten blieben zunächst leere Floskeln, die erst noch mit Inhalt gefüllt werden mussten. Wie schwierig das war, zeigte sich an den Hindernissen, die einem deutschen Beitritt zum Europarat im Wege standen. Im Petersberger Abkommen war von einer deutschen Aufnahme als „assoziiertes Mitglied“ die Rede gewesen. Vollmitglied konnte die Bundesrepublik schon deshalb nicht werden, weil sie außenpolitisch nicht selbständig handeln durfte und auch keinen Außenminister besaß, der das Land im Ministerrat des Europarates, dem nur Außenminister angehörten, vertreten konnte. Doch selbst zu den Konditionen eines assoziierten Mitglieds konnte die Bundesrepublik dem Europarat zunächst nicht beitreten. Der Grund dafür war der deutsch-französische Streit über die Zukunft des Saargebiets, in dem knapp eine Million Deutsche lebten, das aber wirtschaftlich eng mit Frankreich verbunden war. Zahlungsmittel war der Franc. Seit 1947 gab es eine Wirtschafts- und Währungsunion. Das Gebiet war aus der französischen Besatzungszone herausgelöst worden. Es gehörte somit nicht zum Geltungsbereich des Grundgesetzes, sondern genoss eine Art Autonomiestatus. Zugleich sorgte der französische Hohe Kommissar im Saargebiet, Gilbert Grandval (1904–81), dafür, dass die politische Ausrichtung der saarländischen Regierung pro-französisch blieb.

2. Adenauer und die Alliierten

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Seine Ursache hatte dieser seltsame Zustand in der französischen Deutschlandpolitik, die usprünglich auf langfristige Reparationszahlungen, eine Zerteilung Deutschlands und die Errichtung einer sicherheitspolitischen Pufferzone unabhängiger westdeutscher Kleinstaaten angelegt gewesen war. Von den meisten dieser Forderungen hatte Paris unter amerikanischem Druck abrücken müssen. Was blieb, war der Versuch, wenigstens das Saargebiet dauerhaft von Deutschland abzutrennen und in den französischen Einflussbereich hinüberzuziehen. Östlich des Rheins hingegen waren sich alle politischen Parteien und Lager einig, dass die Saar zu Deutschland gehöre, solange ein Friedensvertrag nichts anderes bestimme. Die französische Regierung versuchte in dieser Situation, den deutschen Wunsch, dem Europarat beizutreten, zu einer Lösung der Saarfrage zu nutzen. Sie verlangte, dass zugleich mit der Bundesrepublik auch das Saargebiet in den Europarat aufgenommen werde. Dabei blieb es nicht. Im März 1950 schloss Paris mit der Regierung in Saarbrücken die sog. Saarkonventionen ab. Diese stärkten die politische und wirtschaftliche Verflechtung mit Frankreich weiter. Militärischer Schutz, diplomatische Vertretung und ökonomische Kontrolle des Saarlands wurden offiziell an Frankreich übertragen, die Saargruben – formell deutsches Staatseigentum – in einem 50-jährigen Pachtvertrag an Frankreich übergeben. Adenauer, der sich als Verfechter einer deutsch-französischen Aussöhnung exponiert hatte, geriet durch diese Schachzüge in eine schwierige Lage. Zwar versicherten auf sein Betreiben hin die Regierungen in Washington und London, schließlich sogar diejenige in Paris, dass erst ein Friedensvertrag endgültige Regelungen in der Saarfrage treffen könne. Doch an den Bedingungen für einen deutschen Beitritt zum Europarat änderte dies nichts. Im Gegenteil, auf Betreiben Frankreichs forderten die Westmächte nun sogar ein formelles deutsches Aufnahmegesuch, obwohl die Statuten des Europarates normalerweise die Einladung neuer Mitglieder vorsahen. All dies stärkte die Position der Kritiker des Bundeskanzlers. Schumacher hatte bereits im Januar 1950 auf die völkerrechtlichen Folgen eines deutschen Beitritts unter diesen Konditionen hingewiesen. Wenn das Saargebiet gesondert von der Bundesrepublik dem Europarat beitrete, erkenne man es als völkerrechtliche Persönlichkeit an und stimme somit „einer Herauslösung eines Stücks deutschen Staatsgebiets“ zu. Der Sozialdemokrat blieb mit seinem Tadel nicht allein. Selbst im Bundeskabinett vertraten Minister wie Kaiser, Heinemann, Blücher und Dehler die Ansicht, die Rettung des Saargebiets für die Bundesrepublik müsse Vorrang vor der Aussöhnung mit Frankreich haben, zumal die Aufgabe der Saar auch Bonns Position gegenüber der Sowjetunion und Polen hinsichtlich der deutschen Ostgebiete und der Oder-Neiße-Grenze schwäche. Adenauer reagierte auf die Vorwürfe auf dreifache Weise. Zunächst erhob er seinerseits Vorwürfe gegen Frankreich, das mit den Saarkonventionen, wie er sagte, „eine Entscheidung gegen Europa“ getroffen habe und hinsichtlich der Saargruben vom „Hunger nach Gold“ getrieben sei. Gleichzeitig drängte er die Alliierten zu einer Geste des Entgegenkommens, um seine innenpolitische Position zu stärken. Die Westmächte waren dazu bereit, und so konnte die Bundesregierung am 31. März die ausdrückliche Einladung des Europarats, assoziiertes Mitglied zu werden, in Empfang nehmen. Drittens lancierte Adenauer in mehreren Interviews und Ansprachen den Gedanken, eine Lösung der Saarfrage könne nur auf europäischem Wege, durch eine deutsch-französische Verständigung erreicht werden. Er ging so weit, eine „vollständige Union zwischen Deutschland und Frankreich mit einem einzigen Parlament“ vorzuschlagen, die zur Keimzelle einer um die Benelux-Staaten und Großbritannien erweiterten Europäischen Union werden

II.

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Außen- und Deutschlandpolitik 1949–1955

könne. Dennoch gelang es ihm nur mit Mühe, sein Kabinett zur Zustimmung zu bewegen. Insbesondere Heinemann und Kaiser blieben skeptisch.

c) Der Schuman-Plan Adenauer konnte freilich in der entscheidenden Kabinettsitzung am 9. Mai guten Mutes für eine versöhnliche Haltung gegenüber Frankreich werben. Er hatte am Vortag auf vertraulichem Wege von einer französischen Initiative erfahren, die auf der Linie seiner eigenen, vagen Vorschläge lag und seine Position entscheidend verbessern sollte – dem Schuman-Plan. Der Plan verdankte seinen Namen dem französischen Außenminister Robert Schuman (1886–1963). Der lothringische Politiker war im deutschen Kaiserreich aufgewachsen, hatte an deutschen Universitäten Rechtswissenschaft studiert und im Ersten Weltkrieg zwischenzeitlich als Soldat in der deutschen Armee gedient. Er kannte die Nachbarn östlich des Rheins hervorragend. Noch Jahrzehnte später warfen ihm politische Gegner vor, er spreche französisch mit deutschem Akzent. Von Beruf Anwalt, gehörte Schuman dem 1944 gegründeten Mouvement Républicain Populaire (MRP) an, war 1947 und 1948 kurzfristig Ministerpräsident, danach bis 1952 Außenminister. Der Plan, mit dem er am 9. Mai an die Öffentlichkeit trat, zeichnete sich durch eine Mischung aus visionärem Pathos und pragmatischen Vorschlägen aus. Schuman sprach von der Sicherung des Friedens in Europa, vom Jahrhunderte alten Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland, der endlich einer Verständigung weichen müsse, und von der Vereinigung der europäischen Nationen. Im Kern ging es in seiner Erklärung darum, die deutsche und französische Montanindustrie unter eine gemeinsame „Oberste Aufsichtsbehörde“ zu stellen und gleichzeitig den anderen europäischen Nationen den Beitritt zu dieser Organisation anzubieten. Die wirtschaftliche Kooperation auf dem Sektor von Kohle und Stahl sollte dazu dienen, künftige Kriege zu verhindern, für deren Vorbereitung und Ausfechtung Kohleförderung und Stahlproduktion Schlüsselbereiche darstellten. Eine gemeinsame Behörde würde Aufrüstungsabsichten in den beteiligten Ländern frühzeitig erkennen, so die Idee, und geheime Kriegsplanung unmöglich machen. Außerdem zielte der von Schuman unterbreitete Vorschlag darauf, die Produktion im Montansektor zu modernisieren, die Qualität der Erzeugnisse zu verbessern, Wettbewerbsverzerrungen zwischen den beteiligten Staaten abzubauen, die Exporte zu steigern und die Lebensbedingungen der Arbeiter einander anzugleichen. Der zentrale Gedanke bestand im Prinzip der Supranationalität der Aufsichtsbehörde. Deren Mitglieder würden zwar von den Einzelstaaten bestimmt. Ihre für alle Teilnehmerstaaten bindenden Entscheidungen sollte sie aber ohne weitere Beteiligung der nationalen Regierungen und Parlamente treffen. Der eigentliche Vater des Schuman-Planes war nicht der Außenminister, sondern Jean Monnet, damals als Commissaire au Plan mit der Modernisierung der französischen Wirtschaft betraut. Stichwort Jean Monnet (1888–1979) gehört zu den schillerndsten Figuren der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Von Beruf Bankier, hatte er in beiden Weltkriegen eine wichtige Rolle bei der Organisation der alliierten Rüstungsmaßnahmen gespielt. 1919 bis 1923 war er stellvertretender Generalsekretär des

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Völkerbunds. Später arbeitete er in Polen, auf dem Balkan, in San Francisco und am Jangtse in China. Während des Zweiten Weltkriegs und danach diente er General de Gaulle als Wirtschaftsberater, pflegte v.a. die Beziehungen zu Großbritannien und den USA. Zwischen 1946 und 1950 war er als Leiter des Amts für wirtschaftliche Planung maßgeblich an der Ausarbeitung eines großen Modernisierungsprogramms für die französische Wirtschaft beteiligt. In all diesen Funktionen stellte Monnet unter Beweis, dass er ein raffinierter, erfindungsreicher und durchsetzungsfähiger Kopf war, der seine vielfältigen Verbindungen und Beziehungen geschickt zu nutzen verstand.

Ende der vierziger Jahre wandte Monnet seine Energie dem französisch-deutschen Verhältnis zu. Er entwickelte den Plan, das Misstrauen und die Feindseligkeit auf beiden Seiten abzubauen, indem man die Verflechtung der für die Waffenproduktion zentralen und psychologisch wichtigen Montanindustrie in Angriff nahm. Es gelang ihm innerhalb weniger Monate, einen entsprechenden Plan auszuarbeiten und den französischen Außenminister dafür zu gewinnen. Die Mythologie der Europäischen Integration, in der er deswegen zum idealistischen Schöpfer des europäischen Einigungsprozesses stilisiert wurde, tendiert dazu, zweierlei zu übersehen: Erstens war der Gedanke einer Verflechtung der Montanindustrie zwischen Frankreich, Deutschland, Luxemburg und Belgien nicht neu. Als große Teile Lothringens vor 1918 zum Deutschen Reich gehörten, hatte es naturgemäß enge Verflechtungen zwischen der Kohleförderung im Ruhrgebiet und der lothringischen Stahlproduktion gegeben. 85% des Koks’, der in Deutsch-Lothringen verwendet wurde, kam 1913 aus dem Ruhrgebiet, Frankreich bezog immerhin 40% seines Koks’ von dort. Gleichzeitig stammte mehr als ein Viertel des Stahls für das Ruhrgebiet aus den deutschen und französischen Gebieten Lothringens. Nach dem Ersten Weltkrieg war dieses Netz zerrissen worden; es mangelte aber nicht an Gedankenspielen, wie die Verbindungen wiederherzustellen seien. In Deutschland setzten sich nicht nur Außenminister Gustav Stresemann (1878–1929) und der Industrielle Hugo Stinnes (1870–1924) dafür ein, sondern auch der damalige Kölner Oberbürgermeister Adenauer. Zweitens war Monnet kein weltfremder Idealist. Der Plan, den er ausgearbeitet hatte, entsprach den nationalen Interessen seines Heimatlandes. Er reagierte auf den Umstand, dass die überkommene französische Deutschlandpolitik im Frühjahr 1950 gescheitert war. Frankreich hatte auf Druck Großbritanniens und der USA nicht nur seine Zerstückelungspläne aufgeben und der Gründung des deutschen Weststaats zustimmen müssen. Es war auch gezwungen einzusehen, dass es langfristig nicht viel gegen eine Einbeziehung der Ruhr in den wirtschaftlichen Wiederaufbau Deutschlands unternehmen konnte. Insbesondere Monnet selbst drohte als Plankommissar in Bedrängnis zu geraten, wenn es nicht gelang, die deutsche Montanindustrie auf die französischen Bedürfnisse auszurichten. Vor diesem Hintergrund diente der Schuman-Plan dazu, französischen Einfluss im Ruhrgebiet wenigstens teilweise aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig gewann Paris die politische Initiative zurück und verbesserte die existentiell wichtigen Beziehungen zu den USA, die moralischen Druck auf Paris ausübten, sich der Westintegration Deutschlands nicht länger in den Weg zu stellen. Der Schuman-Plan war ein Mittel, dem amerikanischen Wunsch zu entsprechen und dennoch den französischen Sicherheitsinteressen Rechnung zu tragen. Der supranationale Charakter der Hohen Behörde bot nach französischer Ansicht die Chance, Deutschland auf Dauer an der Wiederaufnahme einer aggressiven anti-französischen Politik zu hindern. Zu diesen

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außen- und sicherheitspolitischen kamen ökonomische Überlegungen. Die Regierung in Paris fürchtete, die europäische Stahlindustrie treibe, ähnlich wie in der Zwischenkriegszeit, auf eine Überproduktionskrise zu. Über eine gemeinsame Hohe Behörde wollte man Zugriffsmöglichkeiten auf die deutsche Montanindustrie behalten. Die französischen Planer glaubten überdies, Lothringen verfüge gegenüber der Ruhr über natürliche Standortvorteile. Diese seien bisher nur deswegen nicht zum Tragen gekommen, weil sich die Deutschen mit diskriminierenden Kohlepreisen und Lohndumping Wettbewerbsvorteile verschafft hätten, die es in Zukunft in der Montanunion nicht mehr geben würde. Dennoch darf man im Schuman-Plan nicht nur den Versuch erblicken, die Bundesrepublik zu übervorteilen. Sein Erfolgsgeheimnis bestand vielmehr darin, dass in ihm die nationalen Interessen Frankreichs mit deutschen Zielen nicht im Widerspruch standen, sondern korrelierten. Aus deutscher Sicht war die Hohe Behörde der Montanunion dem Status quo der Ruhrbehörde mit ihren weitreichenden Eingriffsmöglichkeiten, in der sich die Bundesrepublik in einer hoffnungslosen Minderheitsposition befand, eindeutig vorzuziehen. Bonn hatte sich schon seit einiger Zeit erfolglos bemüht, die Ruhrbehörde „zu einem Organ der europäischen wirtschaftlichen Arbeitsteilung zu entwickeln“, wie es Minister Blücher im November 1949 formulierte. Es war daher nicht verwunderlich, dass Adenauer den französischen Vorschlag, der ein Ende der deutschen Diskriminierung in der Ruhrbehörde möglich machte, nach anfänglichem Misstrauen aufgriff. Da der westdeutsche Staat noch keine Souveränität besaß, bedeutete der supranationale Charakter der Hohen Behörde für die Bundesrepublik keinen wirklichen Verzicht. Man gab nicht Souveränität auf, sondern gewann ein Stück Gleichberechtigung hinzu. Aus der Sicht des Kanzlers hatte die französische Initiative außerdem den Vorteil, dass sie auf der Linie der von ihm in der Vergangenheit vorgebrachten europapolitischen Projekte zu liegen und weitreichende Erfolgsperspektiven für seine Versöhnungspolitik mit Frankreich sowie die Politik der Westintegration zu versprechen schien. Der Schuman-Plan wurde insbesondere in der Bundesrepublik und in den USA begeistert aufgenommen. Er hatte jedoch nicht nur Freunde. Im französischen Kabinett gab es Widerstände. Selbst Ministerpräsident Georges Bidault (1899–1983) neigte anfangs dazu, das Projekt scheitern zu lassen. In Deutschland verspottete Schumacher das Vorhaben als „Europa-AG“ und sah in ihm die Fortsetzung einer anti-deutschen Hegemonialpolitik Frankreichs. Großbritannien, das in Monnets und Schumans Überlegungen eine untergeordnete Rolle gespielt hatte, weigerte sich nicht unerwartet, an den Verhandlungen teilzunehmen. In London hielt man die Erfolgsaussichten des Unternehmens für gering. Die Briten lehnten die Abgabe nationaler Souveränität an eine supranationale Behörde ab. Die Labour-Regierung war im Übrigen gerade dabei, die britische Kohle- und Stahlindustrie zu verstaatlichen – ein Schritt, der im Widerspruch zu den Grundprinzipien des Schuman-Plans stand und durch die Teilnahme an den Verhandlungen in Frage gestellt worden wäre. So kam es, dass neben Frankreich und der Bundesrepublik lediglich Italien, die Niederlande, Belgien und Luxemburg unter dem Vorsitz Monnets den Vertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) aushandelten. Zum deutschen Delegationsführer hatte Adenauer seinen Staatssekretär Hallstein bestimmt. Dieser sorgte dafür, dass Monnets ursprüngliches, stark von der technokratischen Tradition Frankreichs geprägtes Konzept im Verlauf der Ver-

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handlungen um einige Institutionen ergänzt wurde, die Deutschlands föderalistische Erfahrungen zur Geltung brachten: eine Gemeinsame Versammlung, ein Ministerrat und ein Gerichtshof. Auf diese Weise enthielt der am 18. April 1951 unterzeichnete Vertrag über die EGKS bereits Elemente, die Anhänger einer europäischen Föderation als Keimzelle einer europäischen Wirtschaftsgemeinschaft oder gar eines künftigen europäischen Bundesstaates ansehen konnten. Die Wirklichkeit am Anfang der fünfziger Jahre sah jedoch nüchterner aus. Die ökonomische Integration kam nicht so voran, wie viele gehofft hatten. Früh wurden Klagen über Wettbewerbsverzerrungen – insbesondere über von Frankreich gezahlte Subventionen – laut, die von der Hohen Behörde nicht unterbunden würden. V.a. aber erwies sich die Übertragung des Konzepts wirtschaftlicher Teilintegration auf den militärischen Bereich als äußerst schwierig, wie die Entwicklung der folgenden Jahre zeigen sollte.

3. Die Verteidigung Westeuropas a) Der Korea-Krieg und die Frage der Wiederbewaffnung Als am 25. Juni 1950 Nordkoreas kommunistische Streitkräfte Südkorea angriffen, trat der Kalte Krieg nach der Berlin-Blockade in seine zweite heiße Phase. Für die Lage in Europa war der Konflikt in Fernost in doppelter Hinsicht bedeutsam. Zum einen bestärkte er die westlichen Staaten in ihrer Einschätzung der aggressiven Absichten des von der UdSSR angeführten Weltkommunismus. Das sowjetische Vordringen in Ost- und Ostmitteleuropa bis 1948, die kommunistische Revolution in China 1949 und der Korea-Krieg 1950 erschienen als logische Konsequenz einer auf weltweite Expansion angelegten sowjetischen Politik. Zum anderen stellte sich die Frage, wie Westeuropa gegen diese Expansion verteidigt werden könne, in neuer Dringlichkeit. Die Militärbündnisse, die Westeuropas Staaten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges abgeschlossen hatten, waren noch stark vom Gedanken einer Eindämmung der deutschen Gefahr bestimmt gewesen. Sowohl der Vertrag von Dünkirchen zwischen Frankreich und Großbritannien im März 1947 als auch der Brüsseler Fünf-Mächte-Vertrag zwischen Frankreich, Großbritannien und den Benelux-Staaten vom März 1948 waren v.a. auch gegen die Gefahr „eines Wiederauflebens der deutschen Aggressionspolitik“ gerichtet, wie es im Brüsseler Vertrag explizit hieß. Die ein Jahr später in Washington gegründete NATO hatte schon eine stärkere antisowjetische Stoßrichtung. Aber auch sie erfüllte in den Augen der Europäer neben dem Schutz vor der UdSSR den Zweck, sich amerikanischer Unterstützung gegen ein potentielles Wiedererstarken Deutschlands zu versichern. Noch im Petersberger Abkommen musste die Bundesregierung versprechen, dass sie „mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln die Neubildung irgendwelcher Streitkräfte“ verhindern werde. Schon früh begann man in militärischen Kreisen der NATO, über einen möglichen Beitritt der Bundesrepublik nachzudenken. Besonders amerikanische und britische Militärs waren überzeugt, dass man ohne einen deutschen Beitrag der Sowjetunion in Mitteleuropa hoffnungslos unterlegen sei. Nicht einmal die Rheinlinie, geschweige denn die Elbe, sei bei den gegenwärtigen Kräfteverhältnissen zu halten.

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Stichwort

NATO (North Atlantic Treaty Organization) Der NATO gehörten außer den Staaten des Brüsseler Pakts als Gründungsmitglieder die USA, Kanada, Italien, Portugal, Dänemark, Norwegen und Island an. 1952 traten Griechenland und die Türkei bei. Anders als die EGKS war die NATO unter strikter Berücksichtigung der Souveränität ihrer Mitgliedstaaten konzipiert worden, worauf insbesondere die USA Wert gelegt hatten. Sie setzten auch durch, dass gemäß Art. 5 des NATO-Vertrags jedes Land autonom entscheiden sollte, mit welchen Mitteln es seiner Beistandspflicht nachkommen würde. Trotz dieser Einschränkungen war das durch den Nordatlantikpakt garantierte militärische Engagement der USA in Europa der Grundpfeiler westeuropäischer Sicherheit während des Kalten Krieges. Jeder bewaffnete Fremdangriff gegen einen Mitgliedstaat, gegen dessen in Europa stationierte Truppen sowie gegen die einem Mitglied unterstehenden Inseln, Streitkräfte und Flugplätze im Mittelmeer oder Nordatlantik galt (und gilt bis heute) als Bündnisfall.

Die Vereinigten Stabschefs der USA plädierten im Mai 1950, also schon vor Ausbruch des Korea-Kriegs, dafür, „bei den westeuropäischen Staaten, v.a. Frankreich, die Einsicht herbeizuführen, die gegenwärtige Abrüstungs- und Entmilitarisierungspolitik im Hinblick auf Westdeutschland zu ändern, so dass Westdeutschland wirkungsvoll zur Sicherheit Westeuropas beitragen kann“. Auf deutscher Seite hatte Adenauer hinter den Kulissen seit längerer Zeit, bereits vor seiner Kanzlerschaft, auf eine deutsche Wiederbewaffnung gedrängt. Zunächst ohne Erfolg. Die Regierung in Washington, aber auch McCloy hielten noch Mitte Juni 1950 an der Überzeugung fest, ein westdeutscher Wehrbeitrag sei politisch nicht durchzusetzen. Zu groß seien die Widerstände, nicht nur in Frankreich, sondern auch bei den anderen ehemaligen Kriegsgegnern Deutschlands sowie in der westdeutschen Innenpolitik. Diese Einschätzung änderte sich mit dem Ausbruch des Korea-Kriegs. Die US-Regierung machte sich unter dem Eindruck des Krieges innerhalb weniger Wochen die Forderungen der Militärs zu eigen. Gleichzeitig drängte Adenauer, der in diesen Tagen ernsthaft mit einem Angriff aus der DDR nach dem Vorbild der nordkoreanischen Offensive rechnete, die Alliierten, ihre Besatzungstruppen in Deutschland zu stärken und der Aufstellung einer westdeutschen Bundespolizei zuzustimmen. Darüber hinaus erklärte er sich bereit, im Falle der Bildung einer internationalen westeuropäischen Armee einen Beitrag in Form eines deutschen Kontingents zu leisten, wie er am 30. August in einem umfangreichen Memorandum an die Hohen Kommissare feststellte. In einem zweiten Memorandum vom selben Tag knüpfte Adenauer dieses Angebot an eine Bedingung: „Wenn der deutsche Mensch Opfer jeder Art bringen soll, so muss ihm wie allen anderen westeuropäischen Völkern der Weg zur Freiheit offen sein.“ Konkret bedeutete dies die Revision des Besatzungsstatuts und dessen Ersetzung durch Verträge, die Souveränität der Bundesrepublik, die Aufhebung des Kriegszustands, die Umwandlung der Besatzungstruppen in Verteidigungstruppen sowie eine umfassende Umgestaltung des Rechtszustands zwischen Alliierten und Deutschen. Allerdings gab es weiter Widerstände gegen die Wiederbewaffnungspläne. In der westdeutschen Bevölkerung war die Idee nicht populär. Manche fürchteten ein Wiederaufflackern des deutschen Militarismus oder eine weitere Zuspitzung des Ost-West-Konflikts. Andere waren besorgt, eine westdeutsche Armee werde die Spaltung der Nation vertiefen. Insbesondere an der SPD-Basis herrschten pazifistische, antimilitaristische Stimmungen vor, die sich auf die Haltung

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der Parteiführung auswirkten. Obwohl Schumacher kein prinzipieller Gegner eines deutschen Verteidigungsbeitrags war, schwenkte er nicht auf Adenauers Linie ein. Vielmehr beharrte er darauf, dass es Sache der Westmächte sei, Deutschland zu verteidigen, solange das Land besetzt und geteilt sei und ihm die Gleichberechtigung verweigert werde. „Gleiches Risiko, gleiche Opfer, gleiche Chancen“, lautete die Formel. Bis hinein ins Bundeskabinett löste Adenauers Vorstoß Irritationen aus, zumal der Kanzler seine Minister nicht vorab informiert hatte. Innenminister Heinemann weigerte sich, dem fait accompli nachträglich zuzustimmen, und schied wenig später im Streit aus der Regierung aus. Wichtiger war, dass auch Frankreich nicht bereit schien, dem amerikanischen Drängen nachzugeben und die Wiederbewaffnung zu akzeptieren. Gerade weil viele in Paris glaubten, dass man den Deutschen mit dem Schuman-Plan eben erst weit entgegengekommen sei, war das politische Establishment nicht bereit, nun auch noch – fünf Jahre nach Kriegsende – dem Aufbau einer westdeutschen Armee zuzustimmen.

b) Vom Pleven-Plan zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft Das Thema blieb jedoch auf der Tagesordnung. Weil nicht nur der amerikanische Druck fortbestand, sondern sich nach und nach auch andere europäische Länder – Großbritannien, die Benelux-Staaten, die Skandinavier – für einen westdeutschen Wehrbeitrag aussprachen, musste Frankreich einen Vorschlag machen, wie das Problem zu lösen war. Die Zeit drängte, denn schon am 28. Oktober sollte auf einer Konferenz der NATO-Verteidigungsminister weiter verhandelt werden. Prinzipiell gab es zwei mögliche Lösungen. Die Bundesrepublik konnte im Rahmen der NATO wiederbewaffnet werden. Dies würde auf eine eigenständige deutsche Armee hinauslaufen, da der Nordatlantikpakt auf amerikanischen Wunsch hin als klassisches Militärbündnis souveräner Einzelstaaten konzipiert war. Die Alternative bestand in einer supranationalen Europa-Armee, in die deutschen Truppenkontingente integriert würden – gleichsam das militärische Gegenstück zur Montanunion. In der US-Administration wurden beide Konzepte diskutiert. Das Verteidigungsministerium bevorzugte die NATO-Lösung, weil es eine gemeinsame europäische Armee für unpraktikabel hielt und eine Einschränkung der amerikanischen Handlungsfähigkeit durch eine supranationale Organisation ablehnte. Das State Department und McCloy hielten eine Europa-Armee für sinnvoller, weil sie annahmen, diese Variante sei für Frankreich akzeptabler als die Aussicht auf eine traditionelle deutsche Nationalarmee. Im September verständigten sich Pentagon und Außenministerium auf einen Kompromiss: eine europäische Verteidigungsstreitmacht unter Führung der NATO, die sich aus nationalen Kontingenten – darunter ein westdeutsches – zusammensetzte und so bald wie möglich aufgebaut werden sollte. Für Frankreich war diese Form eines deutschen Verteidigungsbeitrages nicht annehmbar. Schuman lehnte bei einem Treffen mit seinen amerikanischen und britischen Amtskollegen in New York Mitte September die US-Pläne ab. Der einzige Weg, der in Paris überhaupt für möglich gehalten wurde, war die supranationale Lösung. Fieberhaft arbeitete man an einem eigenen Vorschlag. Monnet, der besorgt war, ein Streit mit Deutschland in der Wehrfrage würde die noch nicht abgeschlossenen Verhandlungen über die Montanunion scheitern lassen, spielte wieder eine zentrale Rolle, nicht nur als treibende Kraft bei der Formulierung des Konzepts, sondern auch als Vermittler zwischen Paris und Washington. Am Ende der schwierigen Verhandlungen trat der

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französische Ministerpräsident René Pleven (1901–93) am 24. Oktober mit einem als Pleven-Plan bekannt gewordenen Konzept vor die französische Nationalversammlung. Stichwort

Pleven-Plan Der Pleven-Plan sah vor, eine integrierte europäische Armee unter Beteiligung der Bundesrepublik zu schaffen. Die einheitliche Organisation und Ausrüstung würde aus einem gemeinsamen Budget finanziert werden. Wie bei der Montanunion sollte es eine oberste Behörde geben – an der Spitze ein europäischer Verteidigungsminister, der einer europäischen parlamentarischen Versammlung gegenüber verantwortlich und einem Rat der nationalen Verteidigungsminister untergeordnet sein würde. Zusätzlich war ein integrierter Generalstab vorgesehen, dem ein französischer General vorstehen sollte. Entscheidend war die Formel, die Mannschaften würden auf der Basis der kleinsten militärischen Einheit verschmolzen. Da die französische Regierung zu verstehen gab, dass dies im Fall des deutschen Beitrags die Bataillonsebene sein müsse, war erkennbar, welche Absicht hinter dem Konzept stand: Man wollte die Aufstellung deutscher Soldaten ermöglichen, aber eine deutsche Kommandostruktur und den Aufbau einer deutschen Armee verhindern. Diesem Ziel diente auch eine weitere Benachteiligung der Bundesrepublik, die darin bestand, dass alle anderen Partner die Möglichkeit haben sollten, Teile ihrer Armeen außerhalb der Europa-Armee zu halten.

Erwartungsgemäß waren weder die US-Administration noch die Bundesregierung von dem französischen Konzept angetan. Militärische Fachleute hielten es für unpraktikabel, Politiker für unnötig diskriminierend gegenüber den Deutschen. Die Einwände trafen die französische Regierung nicht unerwartet, ja sie kamen ihr durchaus gelegen. Ein wichtiger Zweck des Pleven-Plans hatte von Anfang an darin bestanden, die westdeutsche Aufrüstung zu verzögern und auf Zeit zu spielen. Deswegen hatte Pleven vorgeschlagen, über die europäische Armee erst dann zu verhandeln, wenn der Vertrag über die Montanunion unterzeichnet war. Diese Abfolge sollte gewährleisten, dass sich Bonn nicht aus den Schuman-Plan-Verhandlungen zurückzog. So kam es, dass im Winter 1951 auf zwei Ebenen über den westdeutschen Wehrbeitrag verhandelt wurde. Auf dem Petersberg bei Bonn ging es zwischen der Bundesregierung und den Hohen Kommissaren um eine NATO-Mitgliedschaft. Gleichzeitig stand in Paris die Europa-Armee auf dem Verhandlungsplan. Beide Runden kamen bis zur Unterzeichnung des Schuman-Planes im April 1951 nicht recht vom Fleck. Danach setzte sich in Washington, nicht zuletzt auf Betreiben McCloys und des NATO-Oberbefehlshabers General Dwight D. Eisenhower (1890–1969), die Einschätzung durch, dass sich nur mit Hilfe des supranationalen Konzepts, nicht aber mit der NATOLösung französische und deutsche Interessen vereinbaren ließen. Der Sinneswandel bedeutete einen Erfolg für Frankreichs Außenpolitik und einen Durchbruch in den Verhandlungen über die Form der deutschen Wiederbewaffnung. Nun konnten in Paris die eigentlichen Verhandlungen über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) beginnen, an denen die sechs Mitgliedstaaten der Montanunion beteiligt waren. Das weitere Vorgehen war von einem doppelten Junktim geprägt. Die Bonner Regierung forderte im Tausch für den Wehrbeitrag weitgehende Souveränität und Gleichberechtigung – insbesondere die Einrichtung eines Verteidigungsministeriums und die Ablösung des Besatzungsstatuts. Frankreich achtete darauf, dass erst dann Souveränitätsrechte an die Bundesrepublik übertra-

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gen würden, wenn alle Fragen der militärischen Integration festgeschrieben waren. Wiederum fanden die Verhandlungen auf zwei Ebenen in Paris und Bonn statt. In der französischen Hauptstadt verhandelten die Staaten der Montanunion über die EVG. Am Rhein konferierten Bonn und die Siegermächte über den (oft auch als „Generalvertrag“ bezeichneten) „Deutschlandvertrag“, in dem die Modalitäten für ein Ende des Besatzungsstatuts geregelt wurden. Beide Verhandlungen waren im Mai 1952 abgeschlossen, so dass am 26. Mai in Bonn der Deutschlandvertrag und am 27. Mai in Paris der EVG-Vertrag unterzeichnet werden konnten. Da es der französischen Regierung gelungen war, an ihrem Junktim festzuhalten, sollte der Deutschlandvertrag erst mit der Ratifizierung des EVG-Vertrags durch die nationalen Parlamente Frankreichs, Italiens, der Benelux-Staaten und der Bundesrepublik in Kraft treten.

c) Das Scheitern der EVG und der NATO-Beitritt der Bundesrepublik Damit lag das Schicksal des deutschen Verteidigungsbeitrags und der Souveränität der Bundesrepublik in den Händen der Parlamente der westlichen Siegermächte und der Montanunions-Staaten. In den meisten Fällen verliefen die Abstimmungen relativ reibungslos. Schwierigkeiten gab es nur in Deutschland und Frankreich. Die westdeutschen Politiker rangen monatelang um die Ratifizierung der Verträge in Bundestag und Bundesrat. Der Frontverlauf zwischen Befürwortern und Gegnern verlief nicht immer entlang der Parteigrenzen. Die SPD lehnte die Westverträge mit dem Hinweis auf die Priorität der deutschen Wiedervereinigung ab. Schumacher argumentierte, Deutschland müsse an der Oder, nicht an der Elbe verteidigt werden. „Wer diesem Generalvertrag zustimmt“, erklärte er im Mai 1952, „der hört auf, ein Deutscher zu sein.“ Der nationalliberale, gesamtdeutsch ausgerichtete Flügel der FDP äußerte in weniger drastischer Form ebenfalls Bedenken. Der Berliner CDU-Bundestagsabgeordnete Lemmer hatte bereits vor der Unterzeichnung der Verträge seine Vorbehalte vorgebracht: Er vertraue nicht darauf, dass die Westalliierten die Deutschen in Zukunft in der Frage der Wiedervereinigung unterstützen würden; der Preis für die Integration Westeuropas werde von den Ostdeutschen und möglicherweise den Berlinern gezahlt. Eine ähnliche Position vertrat Kaiser. Hinzu kam, dass einige Ministerpräsidenten wie Reinhold Maier (1889–1971) aus Baden-Württemberg und der Bayer Ehard auf ihre Rechte als Landesfürsten pochten und die Ratifizierung im Bundesrat zusätzlich komplizierten. Sowohl Adenauer als auch die SPD riefen im Verlauf der mit Tricks und Intrigen geführten Auseinandersetzung das Verfassungsgericht an, um feststellen zu lassen, ob der Wehrbeitrag mit dem Grundgesetz vereinbar sei oder ob man eine Verfassungsänderung mit Zweidrittelmehrheit im Bundestag benötige, was der SPD ein Vetorecht eingebracht hätte. Nachdem die Sozialdemokraten in Karlsruhe gescheitert waren, wurden die Westverträge schließlich am 19. März 1953 vom Bundestag mit deutlicher Mehrheit ratifiziert. Zwei Monate später stimmte auch der Bundesrat zu. Noch größere Schwierigkeiten gab es in der französischen Nationalversammlung. Sie hatte dem Pleven-Plan im Oktober 1950 zwar zugestimmt. Am 30. August 1954 scheiterte das EVG-Gesetz jedoch an ihrem Veto. Mit 319 zu 264 Stimmen lehnten es die Parlamentarier ab, sich mit der Gesetzesvorlage überhaupt zu befassen. Für diesen Sinneswandel gab es verschiedene Ursachen. Schon 1950 hatten viele Abgeordnete nur aus taktischen Gründen für den Pleven-Plan votiert. Sie

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hatten in dem Konzept ein Mittel gesehen, die deutsche Wiederbewaffnung hinauszuzögern oder ganz zu verhindern. Zudem war die Nationalversammlung vom August 1954 nicht mehr dieselbe wie im Oktober 1950. Wahlen hatten die Gegner der Europa-Armee gestärkt. Die Opposition gegen die EVG wurde von einer bunten Koalition getragen, die von links bis rechts reichte und der neben der Kommunistischen Partei (PCF) auch der Rassemblement du Peuple Français (RPF) de Gaulles sowie zahlreiche Gegner der deutschen Wiederbewaffnung aus anderen Parteien angehörten. Bedenken über die weltanschaulichen Differenzen innerhalb dieses Zweckbündnisses traten hinter der gemeinsamen Fundamentalopposition gegen das Vertragswerk zurück. De Gaulle erklärte, für ihn komme die Zustimmung zur EVG einer „Auslöschung Frankreichs als Nation gleich“. Gleichzeitig wurde die Zahl der Befürworter um den neuen Ministerpräsidenten Pierre Mendès-France (1907–82) immer kleiner. Dies hing auch damit zusammen, dass sich der EVG-Vertrag, wie er der Nationalversammlung 1954 zur Abstimmung vorgelegt wurde, erheblich von den Grundzügen des Pleven-Plans unterschied. Letzterer hatte eine strukturelle Benachteiligung der Bundesrepublik in der Europa-Armee vorgesehen, die sich in den folgenden Verhandlungen nicht hatte aufrechterhalten lassen. Vielmehr hieß es im Art. 6 des EVG-Vertrages nunmehr, dass „keinerlei unterschiedliche Behandlung der Mitgliedstaaten“ zulässig sei. Die wichtigste Modifikation bezog sich auf die Ebene der militärischen Integration. Diese sollte nicht mehr, wie von Pleven vorgesehen, auf Batallions-, sondern de facto auf Divisionsebene vollzogen werden. Das würde den Westdeutschen ermöglichen, eigene Kontingente von 6000 Mann aufzustellen und zu befehligen. Schließlich glaubten viele französische Politiker, dass sich die Gewichte innerhalb Westeuropas in den zurückliegenden Jahren zu Gunsten der Bundesrepublik und gegen Frankreich verschoben hatten, das einen kostspieligen und verlustreichen Kolonialkrieg in Indochina führte, während die westdeutsche Wirtschaft immer stärker wurde. Mancher fürchtete, langfristig werde die Führung in einem politisch, wirtschaftlich und militärisch integrierten Westeuropa nicht Paris, sondern Bonn zufallen. Mit dem Veto der französischen Nationalversammlung war das EVG-Projekt gescheitert. Die Vision einer militärischen Integration Westeuropas, auf die eine politische Union folgen würde, stürzte in sich zusammen. Adenauer sprach von einem „schwarzen Tag für Europa“. Aus deutscher Sicht kam hinzu, dass wegen des Junktims zwischen Wehrbeitrag und dem Inkrafttreten des Deutschlandvertrags auch die völker- und verfassungsrechtliche Lage der Bundesrepublik wieder offen war. Die alliierte Hohe Kommission hatte sich zwar seit der Unterzeichnung des Deutschlandvertrages auf ihre Abwicklung vorbereitet und ihre Tätigkeitsfelder immer weiter eingeschränkt. Rechtlich gesehen galt das Besatzungsstatut jedoch fort. Die Siegermächte übten immer noch die oberste Gewalt in der Bundesrepublik aus. Mit dem Scheitern der EVG verzögerte sich die Übertragung von Souveränitätsrechten an den westdeutschen Staat. Gleichzeitig eröffnete die neue Lage der Bundesregierung freilich auch Chancen. Bei der Neuverhandlung des komplexen Vertragsgeflechts, die notwendig wurde, befand sie sich in einer stärkeren Position als zwei Jahre zuvor. Dies hatte u.a. mit Adenauers Wahlsieg vom September 1953 zu tun (siehe II.3.c)), der dessen innenpolitische Stellung festigte, aber auch mit dem Regierungswechsel in den USA von Truman zu Dwight D. Eisenhower, dessen republikanische Administration der Bundesrepublik den Rücken stärkte.

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Stichwort General Dwight D. Eisenhower (1890–1969) siegte als republikanischer Kandidat im Präsidentschaftswahlkampf 1952 gegen seinen demokratischen Konkurrenten Senator Robert Taft, der einen neo-isolationistischen Kurs in der Außenpolitik verfocht. Eisenhower hingegen knüpfte als 34. Präsident der USA (1953–61) weitgehend an den europa- und deutschlandpolitischen Kurs seines Vorgängers Truman an. Entscheidend zu Eisenhowers Wahlsieg beigetragen hatte sein Renommee als Kriegsheld im Zweiten Weltkrieg, den er zunächst – seit 1942 – als Oberbefehlshaber der US-Truppen in Europa und ab Dezember 1943 als Chef der alliierten Invasionstruppen führte. Nach dem Krieg amtierte Eisenhower zunächst als US-Oberbefehlshaber in Deutschland, danach bis 1948 als Generalstabschef und von 1950 bis 1952 als NATO-Oberbefehlshaber.

Die verbesserte Verhandlungsposition der Bundesregierung spiegelte sich in den Ergebnissen der beiden Verhandlungsrunden wider, die im Herbst 1954 erst in London und dann in Paris stattfanden. Am Ende der beiden Konferenzen standen die sog. Pariser Verträge, welche die Fragen nach der Form des deutschen Wehrbeitrags und der Übertragung der Souveränität an die Bundesrepublik abschließend beantworteten. In der Frage der militärischen Integration griff man auf die NATO-Lösung zurück, die anfangs ohnedies von den USA bevorzugt worden war. Die französische Delegation unter Mendès-France beharrte auf den bekannten sicherheitspolitischen Bedenken und verlangte neben der Lösung der immer noch ungeklärten Saarfrage (siehe V.1.a)) weitergehende Garantien und Kontrollen als Gegenleistung für ihre Zustimmung zu einem NATO-Beitritt der Bundesrepublik. Als die Verhandlungen bereits kurz vor dem Scheitern standen, wurden die französischen Vorbehalte durch Zugeständnisse der Amerikaner, Briten und Deutschen ausgeräumt. Die USA und Großbritannien verpflichteten sich, dauerhaft Streitkräfte auf dem europäischen Festland zu stationieren, während Adenauer im Namen der Bundesrepublik auf die Herstellung atomarer, biologischer und chemischer Waffen (sog. ABCWaffen) verzichtete. Diese Regelung wurde vertraglich dadurch abgesichert, dass Westdeutschland, einem Vorschlag des britischen Außenministers Anthony Eden (1897–1977) folgend, nicht nur der NATO, sondern auch dem Brüsseler Pakt beitrat, der aus diesem Anlass zur Westeuropäischen Union (WEU) erweitert und zu einem System der Rüstungskontrolle und -begrenzung ausgebaut wurde. Obwohl Adenauer im Rückblick erklärte, der einseitige Verzicht auf ABC-Waffen sei der einzige wirklich „einsame Entschluss“ seiner Amtszeit gewesen, war die NATO-Lösung nicht nur militärisch effizienter als die EVG, sondern aus Sicht der Bundesrepublik auch politisch günstiger. Bei der Nachverhandlung des Deutschlandvertrags setzte Bonn ebenfalls Verbesserungen durch. In der ursprünglichen Vertragsfassung war der Terminus ‚Souveränität‘ bewusst vermieden worden. Die neue Version vom 23. Oktober 1954 beinhaltete die Feststellung, die Bundesrepublik werde „die volle Macht eines souveränen Staates über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten haben“. Die Anwesenheit alliierter Truppen auf Bundesgebiet beruhte nicht länger auf ihrem Recht als Besatzer, sondern auf der Grundlage eines Vertrags mit der Bundesrepublik. Art. V der Fassung von 1952 wurde gestrichen, so dass die Westmächte nicht mehr das Recht besaßen, einen förmlichen Notstand in der Bundesrepublik zu verhängen. Die sog. Bindungsklausel (Art. VII, Abs. 3 des Vertragstextes von 1952) verschwand ebenfalls. An ihr hatten die

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Kritiker des Vertrages besonderen Anstoß genommen, weil sie zu bedeuten schien, dass auch ein wiedervereinigtes Deutschland an die Westverträge gebunden war. Eine wichtige Einschränkung westdeutscher Souveränität blieb freilich bestehen. Die westlichen Alliierten behielten ihre Rechte und Pflichten in Bezug auf Gesamtdeutschland und Berlin, die sich aus den Vier-Mächte-Vereinbarungen von 1945 ergaben. Zusätzlich verpflichteten sie sich nun aber, mit friedlichen Mitteln auf eine Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit hinzuarbeiten. Gleichzeitig bekräftigten sie, die Klärung der Frage nach den Grenzen Deutschlands sei weiterhin einem Friedensvertrag vorbehalten. Diese Festlegungen ermöglichten es der Bundesregierung zu behaupten, bis zum Abschluss eines Friedensvertrages bestehe Deutschland rechtlich in den Grenzen von 1937 fort. Das Ziel der Wiedervereinigung, auf das sich die Westmächte im Deutschlandvertrag festlegten, hatte damals eher deklamatorische Bedeutung. 1989/90 jedoch erlaubte es den Deutschen, die USA, Frankreich und Großbritannien an ihr Versprechen zu erinnern. Ähnlich wie beim EVG-Vertrag kam es auch bei der Ratifizierung der Pariser Verträge in der französischen Nationalversammlung und im Bundestag zu Auseinandersetzungen. Die Nationalversammlung ließ die Verträge schließlich am 30. Dezember 1954 passieren. In Bonn leistete die SPD weiter Widerstand gegen das Vertragswerk. Sie forderte, Verhandlungen mit der Sowjetunion über die Wiedervereinigung sollten Vorrang vor dem Abschluss der Westverträge genießen. Es nützte nichts. Nach vierzehnstündiger Debatte stimmte der Bundestag gegen die Stimmen der SPD den Pariser Verträgen zu. Am 18. März wurden diese auch vom Bundesrat gebilligt, so dass der Deutschlandvertrag am 5. Mai 1955 in Kraft treten konnte. Am Tag darauf wurde die Bundesrepublik Mitglied von WEU und NATO. Stichwort

Aufbau der Bundeswehr Die verschlungene Entstehungsgeschichte des westdeutschen Wehrbeitrages blieb nicht ohne Auswirkungen auf den Aufbau der Bundeswehr. Während des Korea-Krieges hatte man zunächst daran gedacht, aus kriegserfahrenen Soldaten in kürzester Zeit eine „Mobilmachungsarmee“ aus dem Boden zu stampfen. Dann richteten sich die Überlegungen vier Jahre lang auf die Integration deutscher Verbände in eine europäische Armee im Rahmen der EVG. Erst nach deren Scheitern machte man sich seit Ende 1954 daran, innerhalb der NATO eine komplette deutsche Wehrmacht mit Heer, Luftwaffe und Marine aufzubauen. Der erste Verteidigungsminister Theodor Blank (1905–72) kündigte im Frühjahr 1955 an, bis zum 1. Januar 1959 zwölf Heeresdivisionen auszurüsten. Luftwaffe und Marine sollten zwei Jahre darauf folgen. Rasch erwies sich, dass Blank den Zeitplan nicht einhalten konnte. Es fehlte an Personal; der Kasernenbau kam langsamer voran als geplant. Angesichts derartiger Engpässe setzte der militärische Experte der Unionsfraktion Franz Josef Strauß (1915–88), der auf Blanks Ablösung drängte und im Herbst 1956 dessen Ministersessel im Verteidigungsministerium einnahm, statt auf die Einhaltung der ursprünglichen Zahlen und Zeiträume lieber auf einen hohen Standard und modernste Ausrüstung der Truppe bis hin zu Atomwaffen. Ein weiteres Problem ergab sich aus der deutschen Vergangenheit und der Tatsache, dass in der zu schaffenden Armee anfangs etwa 10000 Offiziere und knapp 50 Generale und Admirale der früheren Wehrmacht dienen würden. Der Frage, wie die Bundeswehr in Staat und Gesellschaft integriert, wie eine Wiederholung der katastrophalen Erfahrungen der Weimarer Republik und des „Dritten Reiches“ verhindern werden konnte, wurde große Aufmerksamkeit geschenkt. In diesem Punkt herrschte Einigkeit zwischen der SPD und weiten Teilen der Union, die beide mehrheitlich

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einen grundlegenden Neuanfang wünschten. Zwei Neuerungen symbolisierten die Abkehr von preußisch-militaristischen Traditionen. Die erste war die Ernennung eines „Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestags“, der für eine strenge parlamentarische Kontrolle des Militärs sorgen sollte. Die zweite Reform betraf die innere Struktur der Bundeswehr. Das wesentlich von Wolf Graf Baudissin (1907–93) entwickelte, bei Militärs wie Politikern nicht unumstrittene Konzept der „Inneren Führung“ zielte darauf, im Soldaten den „Staatsbürger in Uniform“ zu sehen und die Wertvorstellungen der Demokratie auf Ausbildung und Menschenführung innerhalb der Bundeswehr zu übertragen.

4. Die Sowjetunion und die deutsche Frage a) Die Stalin-Note Die wirtschaftliche, politische und militärische Verbindung der Bundesrepublik mit Westeuropa und den USA konnte der Sowjetunion nicht gleichgültig sein. Mit Gelingen der Westintegration kam das ökonomische Potential der Bundesrepublik dem Kapitalismus zugute. Zugleich verschob sich mit einer Wiederbewaffnung Westdeutschlands die Militärgrenze des westlichen Bündnisses mehrere hundert Kilometer weiter nach Osten, vom Rhein an die Elbe. Vor diesem Hintergrund musste es Stalin darum zu tun sein, seinen Einfluss in Gesamtdeutschland aufrechtzuerhalten und die Einbindung der Bundesrepublik ins westliche Lager zu verhindern, solange dies möglich war. Die ersten Vorstöße in diese Richtung unternahm das SED-Regime in Ost-Berlin. Bereits im November 1950 schlug Ministerpräsident Grotewohl in einem Schreiben an Adenauer vor, einen paritätisch besetzten Rat zu bilden, der gesamtdeutsche Wahlen vorbereiten solle. Da die Bundesrepublik das SED-Regime nicht als Gesprächspartner anerkannte, antwortete Adenauer nicht direkt. Im Januar 1951 forderte er auf einer Pressekonferenz freie Wahlen als Grundvoraussetzung für alle weiteren Schritte. Neun Monate später bot Grotewohl erneut an, Repräsentanten Ost- und Westdeutschlands sollten sich zusammensetzen und gesamtdeutsche Wahlen vorbereiten. „Deutsche an einen Tisch!“, lautete das Motto. Die Bundesregierung griff den Vorschlag auf, verlangte aber, Vorbereitung und Durchführung der Wahlen müssten von einer Kommission der Vereinten Nationen (United Nations Organization – UNO) überwacht werden. Das SED-Regime lehnte dies mit dem Hinweis ab, die UNO besitze keine Rechtsgrundlage für einen derartigen Eingriff in die inneren Angelegenheiten Deutschlands, und verweigerte der UN-Kommission im Januar 1952 die Einreise. Die Grundpositionen in Ost-Berlin und Bonn waren klar: Die DDR verlangte deutsch-deutsche Verhandlungen, ehe es zu gesamtdeutschen Wahlen kam. Sie versprach sich von derartigen Konferenzen eine Verzögerung der Westintegration und Prestigegewinn, weil Kommunisten ohne demokratische Legitimation gleichberechtigt mit gewählten Repräsentanten der Bundesrepublik verhandeln würden. Beides wollte die Bundesregierung vermeiden, indem sie die Abhaltung freier Wahlen vor allen Verhandlungen zur Grundbedingung erklärte, und zugleich die Gespräche mit den Westmächten über den deutschen Verteidigungsbeitrag und den Generalvertrag vorantrieb. Im Frühjahr 1952 schaltete sich die Sowjetunion ein. In einer diplomatischen Note an die Regierungen der USA, Großbritanniens und Frankreichs regte sie an, so rasch wie möglich einen

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Friedensvertrag mit Deutschland auszuhandeln. Die beigefügten Vorschläge, wie ein derartiger Friedensvertrag auszusehen habe, liefen auf ein neutrales Gesamtdeutschland zwischen Rhein und Oder-Neiße hinaus, das keinem der beiden Blöcke angehören, dafür aber über eine eigene Nationalarmee verfügen sollte. Seit der Öffnung einiger russischer Archive in den neunziger Jahren ist bekannt, dass man im sowjetischen Außenministerium seit Februar 1951 mit der Ausarbeitung des als „Stalin-Note“ bekannt gewordenen Texts beschäftigt war und dass der sowjetische Diktator im Februar 1952 der Endfassung seine formelle Zustimmung gab. Stalins Motive sind bis heute umstritten. Meist dreht sich die Diskussion um die Frage, ob das Angebot ernst gemeint war oder ob es sich um einen Bluff handelte, um die bevorstehende Unterzeichnung der Westverträge im letzten Moment zu verhindern. Manches spricht dafür, dass eine derartige Gegenüberstellung die Absichten, die Moskau mit seiner Initiative verfolgte, nicht voll erfasst. Aus Stalins Sicht ging es weder darum, lediglich wie ein Spieler zu bluffen, noch um eine Preisgabe der DDR aus Angst vor der westdeutschen Wiederbewaffnung. Der Vorteil der Note bestand aus sowjetischer Perspektive darin, dass sie ein mehrstufiges Vorgehen erlaubte und verschieden weit gesteckte Ziele miteinander in Einklang brachte. Das Nahziel war eine Verzögerung der Verhandlungen über die EVG und den Deutschlandvertrag, die kurz vor dem Abschluss standen. Das einzige Druckmittel, über das die UdSSR verfügte, um die Wiederbewaffnung zu verhindern, war ihre Kontrolle über den ostdeutschen Teilstaat. Sie konnte die Aufgabe der DDR als Tauschobjekt für die Verhinderung der Westintegration anbieten und gleichzeitig als Lockmittel die deutsche Wiedervereinigung zu sowjetischen Konditionen anbieten. Die geplante Note, schrieb der stellvertretende Außenminister Andrej Gromyko (1909–89) im Januar 1952 an Stalin, „hätte große politische Bedeutung für die Verstärkung des Kampfes für den Frieden und gegen die Remilitarisierung Westdeutschlands“. Obwohl sie formell an die drei Westmächte adressiert war, richtete sie sich propagandistisch in erster Linie an die westdeutsche Bevölkerung. Sie würde „den Befürwortern der Einheit Deutschlands und des Friedens helfen, die aggressiven Absichten der drei Westmächte zu entlarven, die sich mit dem ‚Generalvertrag‘ verbinden“, so Gromyko in seinem Brief. Die sowjetischen Hoffnungen richteten sich weniger auf die SPD-Führung um Schumacher, die man dem anti-kommunistischen Lager zurechnete, sondern eher auf Vertreter der „oppositionellen Bourgeoisie“ wie Heinemann und Kaiser. Ein Sturz Adenauers nach einem Scheitern seiner Politik der Westintegration war nicht ausgeschlossen, ja wahrscheinlich. Die Bildung einer „nationaleren“ Regierung in Bonn war ein weiteres Ziel der Stalin-Note. Eine derartige Regierung hätte den westlichen Alliierten größere Schwierigkeiten bereitet, wäre der UdSSR vielleicht stärker entgegengekommen und hätte unter Umständen eine Schaukelpolitik zwischen Ost und West wie in der Ära Stresemann aufgenommen. Dass die Westmächte positiv auf die sowjetische Initiative reagierten, war unwahrscheinlich. Allzu groß mussten ihnen die damit verbundenen Risiken erscheinen – nicht nur aufgrund der von ihnen wahrgenommenen militärischen Bedrohung durch die UdSSR, sondern auch hinsichtlich der Neuauflage einer ungebundenen deutschen Großmacht- und Schaukelpolitik in Europa. Und selbst wenn der Westen Verhandlungen aufgenommen hätte, wären der Sowjetunion genug Möglichkeiten verblieben, die Gespräche beliebig in die Länge zu ziehen. Adenauer und die Westmächte ließen sich auf keine diplomatischen Sondierungen ein, sondern hielten am Zeitplan ihrer Verhandlungen fest. Der Bundeskanzler drängte darauf, sich nicht

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irre machen zu lassen. Er fürchtete, die sowjetische Initiative könne seine Politik der Westintegration verzögern, wenn nicht gar zum Stillstand bringen. Eine deutsche Wiedervereinigung ohne Einbindung ins westliche Lager schien ihm unannehmbar. Er wollte der Sowjetunion die Wiedervereinigung im Bündnis mit dem Westen abtrotzen, nicht durch Verzicht auf die Westbindung abkaufen. Die Note habe ihn nicht überrascht, erklärte er im April 1952 im Gespräch mit Journalisten. Er sei immer davon ausgegangen, dass „Sowjetrusslands“ Ziel darin bestehe, „im Wege der Neutralisierung Deutschlands die Integration Europas zunichte zu machen … und damit die USA aus Europa wegzubekommen und im Wege des Kalten Krieges Deutschland, die Bundesrepublik, und damit auch Europa in seine Machtsphäre zu bringen“. Für die USA war die Befürchtung ausschlaggebend, dass die NATO ohne Einbeziehung der Bundesrepublik kaum lebensfähig sein würde. Man gab dem öffentlichen Druck in der Bundesrepublik, die Chancen auf eine Wiedervereinigung auszuloten, nur insoweit nach, als die Westmächte in einen Notenwechsel mit der Sowjetunion eintraten. Dabei ging es nicht darum, konkrete Fortschritte zu erzielen, sondern lediglich den Vorwurf abzuwehren, das Gespräch verweigert zu haben. Die Westmächte forderten in ihrer Antwortnote vom 25. März erneut freie Wahlen und eine Untersuchungskommission der UNO. Moskaus Replik vom 9. April brachte nichts substantiell Neues, so dass der Notenwechsel, der sich offiziell noch bis in den Herbst hinzog, ergebnislos endete. Die wichtigen Entscheidungen waren in Ost und West schon Monate zuvor gefallen – mit der termingerechten Unterzeichnung von EVGund Deutschlandvertrag Ende Mai und mit der Verkündung der II. SED-Parteikonferenz im Juli, dass „der Aufbau des Sozialismus zur grundlegenden Aufgabe“ in der DDR geworden sei. Stichwort

These von der versäumten Chance Adenauer setzte sich 1952 mit seiner Forderung durch, keine ernsthaften Verhandlungen mit der Sowjetunion über die Stalin-Note zu beginnen. Er nährte damit langfristig den Vorwurf, seine Bundesregierung habe im Frühjahr 1952 eine Gelegenheit zur Wiedervereinigung verpasst. Einer der ersten, der die These von der versäumten Chance vertrat, war der Publizist Paul Sethe (1901–67), zwischen 1949 und 1955 Mitherausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, in seinem 1956 erschienen Buch „Zwischen Bonn und Moskau“. Knapp zwei Jahre später erhoben Heinemann und Dehler in einer turbulenten Nachtsitzung des Bundestags ähnliche Vorwürfe. In den achtziger Jahren wurde die These von einigen Historikern erneut aufgegriffen. Rolf Steininger etwa kam nach Durchsicht westlicher Archive zu dem Schluss, Stalin sei 1952 im Tausch gegen ein blockfreies Deutschland zur Preisgabe der SED-Herrschaft bereit gewesen. Auch nach der Wiedervereinigung wird weiter über die Stalin-Note und Adenauers Haltung zur deutschen Einheit diskutiert, obwohl sich bislang in den DDR-Archiven kaum Dokumente fanden, die die These von der verpassten Chance erhärten.

b) Enttäuschte Entspannungshoffnungen In der Nacht zum 5. März 1953 starb Stalin. Sein Tod verschärfte die latente Krise, in der sich die Sowjetunion befand. Schon zu Lebzeiten des Diktators hatten ökonomische Schwierigkeiten

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aufgrund der einseitigen Forcierung der Schwer- und Rüstungsindustrie und die militärisch-strategische Überspannung der Kräfte in der globalen Konfrontation mit den USA der bolschewistischen Führung Sorgen bereitet. Hinzu kam nach Stalins Tod die ungeklärte Nachfolgefrage. An die Stelle des allmächtigen Diktators trat eine mehrköpfige Führungsgruppe, welche die verschiedenen Machtcliquen und Interessenzirkel des Sowjetregimes repräsentierte und deren Mitglieder sich misstrauisch belauerten. All dies veranlasste die neuen Machthaber zu dem Versuch, durch Entspannungssignale an den Westen außenpolitische Spannungen abzubauen und eine Atempause im Systemkonflikt zu gewinnen. Bereits Mitte März sprach der neue Ministerpräsident Georgij M. Malenkow (1902–88) von einer sowjetischen „Friedensoffensive“. Im August erklärte er, es gebe keine strittige Frage, „die nicht auf friedlichem Wege aufgrund gegenseitiger Verständigung der Beteiligten gelöst werden könnte“. Im westlichen Lager herrschte Uneinigkeit, wie man auf die Signale reagieren sollte. In Großbritannien setzte sich Churchill, seit 1951 wieder Premierminister, dafür ein, den Gesprächsfaden aufzunehmen. Er wollte mit Hilfe eines Gipfeltreffens der Staats- und Regierungschefs zu einem Einvernehmen mit der UdSSR über Mitteleuropa gelangen und auf diese Weise versuchen, die deutsche Teilung zu überwinden. Im britischen Außenministerium sah man Churchills Enthusiasmus mit Sorge. Hier galt die Teilung Deutschlands und die Einbindung der Bundesrepublik in das westliche Bündnis als Grundvoraussetzung für den Frieden in Europa. „Deutschland wieder zu vereinigen, solange Europa geteilt ist“, schrieb Selwyn Lloyd (1904–78), Staatsminister im Foreign Office an den Premier, „ist – selbst wenn dies machbar wäre – gefahrvoll für uns alle. Deshalb fühlen alle – Dr. Adenauer, die Russen, die Amerikaner, die Franzosen und wir selbst – im Grunde ihres Herzens, dass ein geteiltes Deutschland zurzeitdie sicherste Lösung ist.“ Die neue US-Administration mit Präsident Eisenhower und Außenminister John F. Dulles an der Spitze teilte die Vorbehalte gegen eine Gipfelkonferenz. Stichwort John Foster Dulles (1888–1959) war Rechtsanwalt und vertrat die USA zwischen 1945 und 1950 bei der UNO. Als Außenminister unter Eisenhower von 1953 bis zu seinem Krebstod 1959 baute er ein enges Verhältnis mit Adenauer auf. Das außenpolitische Programm, mit dem Dulles und Eisenhower antraten, ersetzte – zumindest rhetorisch – die defensive containment policy der Truman-Ära durch das offensive Konzept des roll back. Unter dieser Bezeichnung wurde ein Konzept bekannt, das Dulles bereits 1950 in seinem Buch „War or Peace“ entworfen hatte. Darin schrieb er, es sei an der Zeit, „in der weltweiten Auseinandersetzung um die Freiheit in die Offensive zu gehen und die drängende Flut des Despotismus zurückzudrängen“. Diese Rhetorik zielte darauf, die kommunistische Machtübernahme in verschiedenen Staaten Mittel- und Osteuropas wieder rückgängig zu machen. In der Praxis unterschied sich die Politik der Eisenhower-Administration in dieser Hinsicht jedoch kaum von ihrer Vorgängerin.

Die Gegner von Verhandlungen mit der Sowjetunion konnten sich am 17. Juni 1953 in ihrer Haltung bestätigt sehen, als die Rote Armee einen Aufstand der Ost-Berliner Bevölkerung, der auf große Teile der DDR übergriff, blutig niederschlug. Über 50 Protestierende wurden von sowjetischen Soldaten bzw. von der kasernierten Volkspolizei der DDR getötet, mindestens 20 standrechtlich erschossen. Außerdem wurden ungefähr ebenso viele sowjetische Soldaten hingerichtet, die sich weigerten, auf die Demonstranten zu schießen. Das SED-Regime bezeichnete die Unru-

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hen als „das Werk von Provokateuren und faschistischen Agenten ausländischer Mächte und ihrer Helfershelfer aus den deutschen kapitalistischen Monopolen“. Die wirkliche Ursache war die verschärfte Klassenkampfpolitik (zum Beispiel die beginnende Kollektivierung der Landwirtschaft, das Vorgehen gegen die evangelische Kirche und deren Jugendorganisation oder die Enteignung der noch verbliebenen Privatindustrie), die das Regime im Anschluss an die Verkündung des „Aufbaus des Sozialismus“ verfolgte. Nach Stalins Tod erkannte die Moskauer Führung die verheerenden Folgen dieser Politik und verordnete der DDR einen – vorsichtigeren – „Neuen Kurs“. Dies löste eine Orientierungslosigkeit in der SED-Führung aus und weckte in der Bevölkerung Hoffnungen auf weitergehende Veränderungen, die zu den Aufständen führten. Entgegen der SED-Propaganda agierte der Westen während des Aufstands vorsichtig. Der Rundfunk im amerikanischen Sektor (RIAS), das wichtigste westliche Propaganda-Medium für die DDR, wurde angewiesen, zurückhaltend über die Unruhen zu berichten und insbesondere den Generalstreik nicht zu erwähnen, zu dem Ost-Berliner Arbeiter aufgerufen hatten. In West-Berlin sperrte amerikanisches Militär die Zufahrtsstraßen zur innerstädtischen Grenze ab, damit keine empörten West-Berliner in das Geschehen im Ostsektor eingriffen. Dem Regierenden Bürgermeister Ernst Reuter, der sich in Wien aufhielt, verweigerten die USA einen Platz in einer Militärmaschine nach Berlin – aus Sorge, seine Anwesenheit könnte die Situation verschärfen. Nicht einmal Reuters in russischer Sprache vorbereitete Rede, die sowjetische Soldaten aufforderte, nicht auf wehrlose deutsche Arbeiter zu schießen, wurde ausgestrahlt. Stichwort Ernst Reuter (1889–1953) gehörte in der SPD nicht zuletzt unter dem Eindruck der Lage in Berlin zu den Kritikern des Schumacher-Kurses. Stattdessen setzte er sich für eine stärkere Bindung an die USA ein und befürwortete prinzipiell Adenauers Politik der Westintegration. Als junger Mann war er 1912 der SPD beigetreten und im Ersten Weltkrieg in russische Gefangenschaft geraten. Im Frühjahr 1918 stand er an der Spitze einer bolschewistischen Organisation von rund 30 000 ehemaligen deutschen Kriegsgefangenen, ehe ihn Lenin (1870–1924) zum Volkskommissar in der Wolgadeutschen Republik machte. Nach Kriegsende ging Reuter nach Deutschland zurück und baute die Berliner Organisation KPD auf. Kurzzeitig war er Generalsekretär, ehe er 1922 aus der Partei ausgeschlossen wurde und zur SPD zurückkehrte. Anfang der dreißiger Jahre war er Oberbürgermeister von Magdeburg und saß für die SPD im Reichstag. Unter der NS-Herrschaft wurde er zweimal in Konzentrationslagern inhaftiert, bevor er 1935 in die Türkei floh. Nach Kriegsende kehrte er nach Berlin zurück, wurde 1947 zum Oberbürgermeister gewählt, aber bis 1948 durch sowjetisches Veto am Amtsantritt gehindert. Während der Blockade avancierte er zur Symbolgestalt des freien West-Berlins, dem er von 1950 bis zu seinem Tod 1953 als Regierender Bürgermeister vorstand.

Adenauer dachte nicht daran, wegen des Aufstandes nach Berlin zu fliegen; selbst zur Teilnahme an der späteren Trauerfeier für die Opfer mussten seine Berater ihn überreden. Insgesamt machte der Aufstand nicht nur deutlich, wie verhasst das SED-Regime war. Er zeigte auch, dass trotz vieler Worte über ein roll back und eine „Politik der Stärke“ der Einfluss des Westens an der Grenze zum Ostblock endete und kein führender Politiker gewillt war, eine offene Konfrontation mit der UdSSR zu provozieren. Vielmehr setzte sich drei Wochen später der Kanzler selbst, der bislang zu den entschiedensten Gegnern einer Vier-Mächte-Konferenz gezählt hatte, für ein Au-

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ßenministertreffen der Siegermächte ein und sandte zu diesem Zweck seinen persönlichen Referenten Blankenhorn nach Washington. Der Schachzug war aus verschiedenen Gründen geschickt. Erstens sammelte Adenauer damit im bevorstehenden Bundestagswahlkampf (siehe III.3.c)) Punkte gegen eine SPD, die ihm stets vorgeworfen hatte, Sondierungen über die Wiedervereinigung zu verhindern. Zweitens war mittlerweile klargeworden, dass die französischen Gegner des EVG-Vertrages darauf bestehen würden, vor der Ratifizierung die Möglichkeiten einer einvernehmlichen Regelung der deutschen Frage auszuloten. Drittens bedeutete eine Konferenz auf Außenministerebene, dass es nicht zu dem von Churchill gewünschten Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs kommen würde, von dem Adenauer unangenehmere Überraschungen zu befürchten hatte. Viertens schließlich hoffte der Kanzler, durch seinen Vorstoß die Agenda der Konferenz mitbestimmen zu können. Er wiederholte in einem Brief an Dulles die bekannte Forderung, freie Wahlen in ganz Deutschland müssten der Bildung einer gesamtdeutschen Regierung und den Verhandlungen über einen Friedensvertrag vorausgehen. Tatsächlich sandten die Westmächte am 15. Juli drei gleichlautende Noten an die Sowjetunion, die ganz auf der von Adenauer anvisierten Linie lagen. Der folgende Notenwechsel, der sich über mehrere Monate hinzog, ließ aber bereits erkennen, wie weit die Positionen auseinanderklafften. Das lag nicht zuletzt daran, dass die UdSSR seit dem Berliner Aufstand nicht mehr wirklich an einer Veränderung des Status quo in Deutschland interessiert war. Stattdessen konzentrierte man sich auf die Konsolidierung der DDR. Deutlich wurde dies in der Anklageschrift gegen den Ende Juni verhafteten mächtigen Innenminister Lawrentij Berija (1899–1953), dem seine Kontrahenten unter anderem den – nie restlos geklärten – Vorwurf machten, er habe die Wiedervereinigung Deutschlands und die Preisgabe der DDR betrieben. Dennoch einigte man sich darauf, für Ende Januar 1954 eine Außenministerkonferenz nach Berlin einzuberufen. Im Mittelpunkt der Meinungsunterschiede, die auf der Konferenz zu Tage traten, stand die Frage der Reihenfolge von freien Wahlen und der Bildung einer gesamtdeutschen Regierung. Die Westmächte legten im „Eden-Plan“ (benannt nach dem britischen Außenminister, der das Konzept in Berlin präsentierte) Wert darauf, zuerst freie Wahlen abzuhalten, ehe an die Einberufung einer Nationalversammlung, die Ausarbeitung einer Verfassung und die Bildung einer Regierung zu denken sei. Die UdSSR beharrte auf dem umgekehrten Verfahren. Außenminister Wjatscheslaw Molotow (1890–1986) fasste die sowjetische Position mit der Bemerkung zusammen, „dass Hitler als Ergebnis freier Wahlen an die Macht gekommen sei und deshalb der springende Punkt darin gesehen werden müsse, über die Art der Regierung zu entscheiden, noch ehe diese stattgefunden hätten“. Da keine der beiden Seiten sich entscheidend bewegte, endete die Konferenz ohne Ergebnis. Die Weichen für eine getrennte Entwicklung in West- und Ostdeutschland waren endgültig gestellt.

c) Adenauers Reise nach Moskau Nachdem die Bundesrepublik im Frühjahr 1955 außenpolitisch souverän geworden war, stellte sich die Frage, wie sie ihre diplomatischen Beziehungen zu Staaten gestalten sollte, die nicht der Montanunion oder der NATO angehörten. Das größte Fragezeichen stand hinter dem Um-

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gang mit der Sowjetunion. Diese hatte als Siegermacht des Zweiten Weltkrieges und durch ihre Machtstellung in Ostdeutschland ein entscheidendes Wort in deutschen Angelegenheiten mitzureden. Zudem wurden immer noch viele tausend deutsche Kriegsgefangene und zivile Verschleppte in der Sowjetunion vermisst, deren Schicksal jeder deutschen Regierung am Herzen liegen musste. Beides sprach dafür, dass die Bundesregierung ihre gewonnene außenpolitische Handlungsfähigkeit nutzen musste, um mit der UdSSR ins Gespräch zu kommen und diplomatische Beziehungen mit ihr aufzunehmen. Auf der anderen Seite hatte Moskau nach der förmlichen Einbeziehung der Bundesrepublik ins westliche Bündnis die DDR als Gründungsmitglied in das Militärbündnis des Warschauer Pakts einbezogen, der Mitte Mai 1955 ins Leben trat. „Ich habe lieber 20 Millionen Deutsche auf meiner Seite als 70 Millionen gegen uns“, soll Parteichef Nikita Chruschtschow (1894–1971) wenig später gesagt haben. Die Sowjetunion stellte sich von nun an auf den Standpunkt, es gebe zwei Staaten in Deutschland, die selbst miteinander ins Reine kommen müssten. Die „politischen und sozialen Errungenschaften“ der DDR könnten nicht preisgegeben werden. Eine Wiedervereinigung sei nur über ein „System der kollektiven Sicherheit in Europa“ und eine „Entwicklung wirtschaftlicher und politischer Kontakte zwischen beiden Teilen Deutschlands“ zu erreichen. Wenn Bonn diplomatische Beziehungen mit Moskau aufnahm, trat es somit in Kontakt zu einem Staat, der auch Beziehungen zu der aus westdeutscher Sicht illegitimen DDR unterhielt. Eine Botschaft in Moskau einzurichten, lief implizit darauf hinaus, die Existenz der DDR anzuerkennen. Dies konnte als Legalisierung der deutschen Spaltung und schleichende Aufgabe des Anspruchs betrachtet werden, nur die Regierung in Bonn, nicht das Regime in Ost-Berlin sei die legitime Interessenvertretung des deutschen Volkes. Adenauer war bereit, dieses Risiko einzugehen. Ihm war von den Westmächten bedeutet worden, dass sie keine Einwände gegen deutsch-sowjetische Gespräche hätten. Allerdings bat man den Kanzler, damit zu warten, bis das Gipfeltreffen der vier Mächte vorüber war, das im Juli 1955 in Genf stattfand. Die Gipfelkonferenz, über die man zwei Jahre lang vergeblich diskutiert hatte, war nach der Ratifizierung der Pariser Verträge im Frühjahr 1955 erstaunlich unkompliziert zustande gekommen. Sobald die Weichenstellungen in Mitteleuropa erfolgt waren, wollte sich keine Macht nachsagen lassen, sie hätte sich Gesprächen verweigert. So kam es, dass sich zehn Jahre nach den Konferenzen von Jalta und Potsdam die ehemaligen Weltkriegsalliierten erstmals wieder auf höchster Ebene zu Gesprächen an einen Tisch setzten. Das Treffen war atmosphärisch erfolgreich, brachte aber kaum sachliche Fortschritte. Man sprach vom „Geist von Genf“, konnte die Interessengegensätze jedoch nicht überwinden. Stichwort

Genfer Gipfeltreffen Die Bedeutung des Genfer Gipfeltreffens für die Bundesrepublik war dreifacher Natur. Erstens fürchtete der Bundeskanzler, die vier Mächte könnten sich wie zehn Jahre zuvor in Potsdam über die Köpfe der Deutschen hinweg auf eine gemeinsame Politik in Mitteleuropa verständigen. Adenauers „PotsdamKomplex“ ließ ihn wachsam und misstrauisch bleiben, auch wenn sich seine Sorgen nicht bestätigten. Zweitens wurde in Genf deutlich, dass die deutsche Frage nicht mehr allein im Zentrum der Diskussionen stand. Sowohl die Westmächte als auch die UdSSR versuchten, die deutsche Problematik mit der

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Frage der europäischen Sicherheit insgesamt zu verknüpfen. Die Wiedervereinigung galt nicht mehr als notwendige Voraussetzung der Entspannung. Vielmehr schien sie jetzt eher als Folge gelungener Entspannungsbemühungen an anderen Fronten denkbar. Drittens war bei dem Treffen nicht nur die Bundesrepublik mit einer Beobachterdelegation vertreten (wie schon bei der Berliner Außenministerkonferenz), sondern erstmals auch die DDR. Die beiden Abordnungen arbeiteten gleichsam Tür an Tür, nahmen einander aber demonstrativ nicht wahr. Insbesondere die Westdeutschen waren peinlich bemüht, jedem Kontakt aus dem Weg zu gehen und alle Anzeichen einer praktischen Anerkennung des SED-Regimes zu vermeiden. Hier wurde ein Grunddilemma von Adenauers Außenpolitik deutlich: Die von ihm betriebene Westintegration hatte die Etablierung eines kommunistischen Staates in Ostdeutschland sehenden Auges in Kauf genommen, gleichzeitig weigerte sich Bonn jedoch, die Tatsachen, die dadurch entstanden waren, offiziell zur Kenntnis zu nehmen.

Nicht nur wegen des ungeklärten Status’ der DDR war die Moskau-Reise, zu der Adenauer zwei Monate nach dem Genfer Treffen im September aufbrach, ein riskantes und in mancher Hinsicht improvisiertes Unterfangen. Im Auswärtigen Amt hatte es personelle Veränderungen gegeben. Brentano war erst seit wenigen Wochen Außenminister, und Adenauers wichtigster außenpolitischer Berater Blankenhorn war als NATO-Botschafter nach Paris gewechselt. Eine Ostabteilung im Auswärtigen Amt, um den Besuch vorzubereiten, gab es noch nicht, ebensowenig eine deutsche Botschaft in Moskau, die dabei hätte helfen können. Stattdessen brachte man einen Sonderzug der Bundesbahn mit angeblich abhörsicherem Konferenzraum in die sowjetische Hauptstadt, wo die deutsche Delegation in Ermangelung eines Botschaftsgebäudes vertrauliche Beratungen im kleinen Kreis abhalten wollte. Nicht einmal über die Tagesordnung des Treffens hatte man sich mit der UdSSR einigen können. Die Bundesregierung wollte über die Wiedervereinigung und die Kriegsgefangenenfrage sprechen, die sowjetische Seite beharrte darauf, es gehe lediglich um die Aufnahme diplomatischer Beziehungen ohne alle Vorbedingungen. Gleichzeitig löste der Besuch einen hohen Erwartungsdruck in der deutschen Öffentlichkeit aus, der durch die Größe und Zusammensetzung der Bonner Delegation noch verstärkt wurde. Insgesamt reisten 141 Personen, darunter neben Adenauer und Brentano auch Karl Arnold und Kurt Georg Kiesinger (1904–88), die Vorsitzenden der Auswärtigen Ausschüsse von Bundesrat und Bundestag, sowie Carlo Schmid als Vertreter der SPD-Opposition. Entsprechend schwierig begannen die Verhandlungen. Chruschtschow, Molotow und Ministerpräsident Nikolai Bulganin (1895–1975) ließen kein Entgegenkommen in der deutschen Frage erkennen und erklärten, es gebe keine deutschen Kriegsgefangenen mehr in der UdSSR, nur 9626 verurteilte Kriegsverbrecher. Die Gespräche standen mehrfach kurz vor dem Abbruch. Adenauer beorderte an einem Punkt die beiden Lufthansa-Maschinen für die Rückreise vorzeitig nach Moskau, um für alle Fälle gerüstet zu sein. Erst nach diesem Schritt, der den sowjetischen Gastgebern nicht verborgen blieb, ging es mühsam voran. Am Ende einigte man sich auf ein Tauschgeschäft: die Aufnahme diplomatischer Beziehungen gegen die mündliche Zusicherung der sowjetischen Seite, alle noch in Haft befindlichen deutschen Gefangenen unverzüglich ausreisen zu lassen. Zusätzlich bekräftigte der Kanzler in einem Brief an Bulganin noch einmal ausdrücklich den Bonner Rechtsstandpunkt in der deutschen Frage. Adenauers juristisch geschulte Berater – Hallstein und Grewe, aber auch Brentano – warnten davor, sich nur auf ein mündliches Versprechen zu verlassen. Aber da eine schriftliche Garantie nicht zu erhalten war, setzte sich der Kanzler durch.

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Die sowjetische Führung hielt sich an ihre Zusage. Vier Wochen später trafen die ersten Russlandheimkehrer in der Bundesrepublik ein. Insgesamt kamen 9626 Kriegsgefangene und rund 20000 Zivilisten frei. Freilich blieben über 1,1 Mio. Soldaten und rund 10000 verschleppte Zivilpersonen für immer in der UdSSR verschollen. Von den 150000 Mann der Stalingrad-Armee kehrten ganze 6000 nach Deutschland zurück. Dennoch wurde Adenauer als Held gefeiert. Niemals zuvor und später erreichte seine Popularität ein solches Ausmaß. Viele Jahre lang sahen die meisten Westdeutschen in der Rückführung der Kriegsgefangenen die größte Leistung des ersten Bundeskanzlers. Stichwort

Hallstein-Doktrin Der Preis für den Erfolg in der Kriegsgefangenenfrage bestand in der indirekten völkerrechtlichen Aufwertung der DDR, die mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur UdSSR verbunden war. Um den Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik aufrechtzuerhalten und Moskaus „Zwei-StaatenTheorie“ entgegenzuwirken, entwarf die politische Abteilung des Auswärtigen Amtes und v.a. der Völkerrechtsprofessor Wilhelm Grewe (1911–2000) eine Verteidigungsstrategie, die als sogenannte Hallstein-Doktrin bekannt wurde, obwohl sich ihr Namenspatron – damals Staatssekretär im Auswärtigen Amt – stets gegen die Bezeichnung wehrte. Ihr Grundgedanke bestand darin, einen internationalen Anerkennungsboykott und somit eine Ächtung der DDR zu erreichen, indem jedem Staat, der diplomatische Beziehungen zum SED-Regime unterhielt, der Abbruch der Verbindungen mit Bonn angedroht wurde. Gemäß dieser Strategie beendete die Bundesrepublik 1957 die diplomatischen Beziehungen mit Jugoslawien und 1963 mit Kuba, nachdem beide Staaten die DDR anerkannt hatten. Komplizierter war es, auf die implizite Anerkennung der DDR unterhalb offizieller, diplomatischer Beziehungen – etwa durch die Einrichtung von Handelsvertretungen – zu reagieren. Obwohl derartige Grauzonen Probleme bargen, hielt die Doktrin insbesondere Staaten der Dritten Welt, die es sich mit der ökonomisch erstarkenden Bundesrepublik nicht verderben wollten, eine Zeitlang von der Anerkennung der DDR ab.

Auf einen Blick

Als Frontstaat des Kalten Krieges war die Bundesrepublik von Spannungsverschärfungen im Ost-West-Konflikt besonders betroffen. Sie litt darunter, weil sie militärischen Bedrohungen unmittelbar ausgesetzt war und im Falle eines Krieges in Europa zum Schlachtfeld zu werden drohte; sie profitierte andererseits aber auch insofern davon, als mit Ausbruch des Korea-Krieges die Frage eines westdeutschen Beitrags zur Verteidigung Westeuropas nur fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf die politische Tagesordnung rückte und somit einen weiteren Souveränitätszuwachs der Bundesrepublik möglich machte. Die Wiedervereinigung blieb zentrales Ziel deutscher Politik. Adenauer war überzeugt, die Einheit dürfe nicht um den Preis westdeutscher Freiheit oder der Verankerung im Westen erkauft werden. Daher stand er sowjetischen Angeboten, durch Neutralisierung ein entmilitarisiertes Gesamtdeutschland zu schaffen ablehnend gegenüber. Die Bundesrepublik beharrte darauf, die Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches angetreten zu haben. Um ihren Alleinvertretungsanspruch für ganz Deutschland durchzusetzen und das SED-Regime außenpolitisch zu isolieren, formulierte die Regierung eine nach dem damaligen Staatssekretär im Auswärtigen Amt Walter Hallstein benannte Doktrin. Ihr zufolge wurde die Aufnahme diplomatischer Beziehungen anderer Staaten zur DDR als „unfreundlicher Akt“ gewertet. Die Hallstein-Doktrin war für notwendig befunden worden, nachdem Adenauer 1955 diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion angebahnt hatte, weil ohne Moskau keine Fortschritte bei der Wiedervereinigung erzielt werden konnten. Vor allem aber wurden immer noch tausende deutsche Kriegsgefangene

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in der Sowjetunion vermisst. Nach einem zähen Verhandlungspoker erlaubte die Moskauer Führung knapp zehntausend Kriegsgefangenen sowie rund 20000 Zivilisten die Rückkehr.

Literatur Baring, A.: Außenpolitik in Adenauers Kanzlerdemokratie. Bonns Beitrag zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, München, Wien 1969. Die klassische Darstellung über Adenauer und die EVG. Creuzberger, S.: Westintegration und Neue Ostpolitik. Die Außenpolitik der Bonner Republik, Berlin 2009. Exzellenter Überblick über die Außenpolitik der Bundesrepublik. Kilian, W.: Die Hallstein-Doktrin. Der diplomatische Krieg zwischen der BRD und der DDR 1955–1973, Berlin 2001. Rekonstruiert den diplomatischen Kampf um die (Nicht-)Anerkennung der DDR aus den Akten der beiden deutschen Außenministerien. Schwarz, H. P.: Deutschland im Widerstreit der außenpolitischen Konzeptionen in den Jahren der Besatzungsherrschaft 1945–1949, 2. Aufl. Stuttgart 1980 (EA 1966). Immer noch die beste Zusammenschau der außen- und deutschlandpolitischen Konzeptionen vor Gründung der Bundesrepublik – ein Klassiker. Zarusky, J. (Hrsg.): Die Stalin-Note vom 10. März 1952. Neue Quellen und Analysen, München 2002. Versammelt Forschungsmeinungen zu dem immer noch kontrovers diskutierten Thema.

III. Wirtschaft und Innenpolitik 1949–1955 Überblick

A

uf außenwirtschaftlichem Gebiet gewannen die Westdeutschen ebenfalls bereits vor der Erlangung völkerrechtlicher Souveränität im Mai 1955 ihre Handlungsfreiheit sukzessive zurück. Zunächst wurden sie in internationalen Organisationen wie der für die Verwaltung der Marshallplanhilfe zuständigen OEEC noch von den Militärgouverneuren der Siegermächte vertreten. Mit dem Petersberger Abkommen (1949) und dem Beitritt zum Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (1951) sowie dem Londoner Schuldenabkommen (1953) wuchsen die Handlungsspielräume der Bundes-

regierung. Adenauer nutzte sie, um Rückerstattungen und Entschädigungen für deutsche Verbrechen an Juden während des „Dritten Reiches“ zu vereinbaren. Die Siegermächte wachten bis 1949 (und auch später) darüber, dass sich keine neonazistischen Gruppierungen und Netzwerke in Westdeutschland bildeten. Ihre Entnazifizierungspolitik verschaffte den demokratischen Kräften in Westdeutschland einen Startvorteil beim Aufbau von Parteien, Länderregierungen, Presse und Rundfunk, den sie in der Weimarer Republik nicht besessen hatten.

15.12.1949

Unterzeichnung des deutsch-amerikanischen Wirtschaftsabkommens

11.4.1951

„131er“-Gesetz

21.5.1951

Mitbestimmungsgesetz

1.10.1951

Beitritt zum Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT)

14.8.1952

Lastenausgleichsgesetz

23.10.1952

Verbot der Sozialistischen Reichspartei (SRP)

27.2.1953

Unterzeichnung des Londoner Schuldenabkommens

18.3.1953

Ratifizierung des Wiedergutmachungsabkommens mit Israel

15. 9. 1953

Zweite Bundestagswahl, Wahlsieg der bürgerlichen Koalition

1. Die Anfänge des Wirtschaftsbooms a) Die Korea-Krise Der Beginn des Wirtschaftsaufschwungs in der Bundesrepublik wird häufig mit dem „KoreaBoom“ assoziiert. In der Tat trieb der Krieg im Fernen Osten die Nachfrage nach Investitionsgütern und Rohstoffen in die Höhe. Und da die Bundesrepublik als einziger großer Industriestaat über freie Kapazitätsreserven verfügte, spürte die westdeutsche Wirtschaft einen beträchtlichen

III.

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Wirtschaft und Innenpolitik 1949–1955

Wachstumsschub. Zunächst machte sich der Krieg jedoch als „Korea-Krise“ bemerkbar, in deren Folge Erhards soziale Marktwirtschaft erneut zu scheitern drohte. Weil die Bundesrepublik kein Rohstoffexporteur war, vielmehr rund ein Viertel ihrer Rohstoffe sowie die Hälfte der Lebensmittel importierte, war sie von den weltweit steigenden Rohstoffpreisen stark betroffen. Es gab Versorgungsmängel, insbesondere Kohle war knapp. Die Regierung musste Stromsperren und Bewirtschaftungsmaßnahmen verhängen. Ganzen Industriezweigen stand die Schließung bevor, während gleichzeitig die sprunghaft gewachsene Produktion zu Engpässen in der Grundstoff- und Schwerindustrie führte. Außerdem wurde die Handelsbilanz passiv, und die Bundesrepublik häufte innerhalb kürzester Zeit bei der eben erst gegründeten Europäischen Zahlungsunion Schulden in Höhe von 300 Mio. $ an. Auch wenn der Bundesrepublik durch einen Kredit über 120 Mio. $ zunächst aus ihren Zahlungsschwierigkeiten geholfen wurde, geriet die Wirtschaftspolitik der Regierung unter Druck. Die Sozialdemokraten forderten im Bundestag erneut eine interventionistischere Wirtschaftspolitik nach dem Vorbild Großbritanniens oder Skandinaviens. Auch in der Union fanden sich Befürworter staatlicher Interventionen. Hinzu kam, dass die US-Regierung, die den amerikanischen Bürgern wegen des beginnenden Korea-Krieges höhere Steuern zumuten musste, von den Westdeutschen erwartete, ihren Teil der Lasten zu tragen, zumindest aber wirtschaftliche Selbstdisziplin zu üben. Es ging ihrer Meinung nach nicht an, dass Westdeutschland an der Konsumgüterproduktion festhielt, während die Westmächte Opfer brachten und verstärkte Verteidigungsanstrengungen unternahmen. McCloy verlangte im März 1951 in einem Schreiben an Adenauer „eine bedeutsame Modifizierung der freien Marktwirtschaft“. Stichwort

Europäische Zahlungsunion (EZU) Die EZU wurde im September 1950 auf amerikanische Initiative gegründet, um nach dem Zweiten Weltkrieg die Rückkehr zur vollen Multilateralität des Handels zu erleichtern und zur Wiedereinführung der allgemeinen Konvertibilität der Währungen aller Mitgliedsländer der OEEC beizutragen. Aufgrund der sog. Dollarlücke, dem chronischen Zahlungsbilanzdefizit Europas gegenüber den USA, war es für die westeuropäischen Staaten schwierig, ihren Handel in Dollar abzuwickeln. Die EZU ermöglichte es ihren Mitgliedsländern durch Bereitstellung begrenzter Kredite, miteinander Handel zu treiben, ohne auf Gold oder Dollar als Zahlungsmittel angewiesen zu sein. Die technischen Arbeiten der EZU wurden von der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) ausgeführt. Nach Abschluss der Römischen Verträge wurde die EZU 1958 durch das Europäische Währungsabkommen ersetzt.

Die US-Forderungen nach staatlicher Wirtschaftslenkung, Preis- und Devisenkontrollen und anderen Planungsmaßnahmen standen in direktem Widerspruch zu den von Erhard vertretenen marktwirtschaftlichen Prinzipien. Weil die USA so weit gingen, mit der Einstellung der Marshallplanhilfe und einem Rohstoffembargo zu drohen, musste die Bundesregierung einlenken. Erhard war gezwungen, im Bundestag einzuräumen, „dass manche Freizügigkeit und manche Freiheit durch bewusste, planvolle und sinnvolle Regelung ersetzt werden müsse“. Dieses Eingeständnis wurde von den sozialdemokratischen Abgeordneten mit Hohngelächter aufgenommen. Ihr wirtschaftspolitischer Sprecher erklärte triumphierend: „Herr Professor Erhard, was Sie heute auf die-

1. Die Anfänge des Wirtschaftsbooms

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ses Podium brachten, das war die Mumie Ihrer Marktwirtschaft. Wenn Sie in den Spiegel schauen, möchte ich Sie fragen: Erkennen Sie sich selbst dann eigentlich noch wieder?“ In dieser Situation kamen Erhard die Wirtschaftsverbände zu Hilfe. Sie erboten sich, die verlangten Steuerungsmaßnahmen in einem privatwirtschaftlichen Rahmen durchzuführen. Erhard hatte noch zur Jahreswende 1949/50 Forderungen der Verbände, die Wirtschaftspolitik stärker mitzugestalten, als Rückfall in die alte „Kartellherrlichkeit“ zurückgewiesen. Nun aber bot sich die Chance, durch Einbeziehung der Wirtschaftsverbände den alliierten Forderungen Rechnung zu tragen und zugleich eine förmliche Lenkungspolitik des Staates zu vermeiden. So übernahm der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) die Aufgabe, knappe Rohstoffe zu verteilen und Exporte zu steuern. Die Verbände organisierten auch ein von den USA gefordertes Projekt zur Förderung von Investitionen in die Schwerindustrie, das „Gesetz über die Investitionshilfe der gewerblichen Wirtschaft“ vom Januar 1952. Mit Hilfe des Gesetzes wurden bis 1955 insgesamt 5,7 Mrd. DM von der Konsumgüter- in die Schwerindustrie umgelenkt. Durch die Unterstützung der Wirtschaftsverbände konnte es die Bundesregierung vermeiden, sich allzu deutlich von ihren marktwirtschaftlichen Prinzipien zu verabschieden. Gleichzeitig wurden freilich in die freie Marktwirtschaft traditionelle Elemente eines deutschen Korporatismus eingeführt. „Korporative Selbstverwaltung und Interessenpolitik“, so der Historiker Werner Abelshauser, „im Kaiserreich entstanden, in der Weimarer Republik voll ausgebildet und während des NS-Regimes autoritär verformt, gaben auch der Marktwirtschaft der fünfziger Jahre ihr Gepräge“. Stichwort

Wirtschaftsverbände Die wichtigsten waren neben dem Bundesverband der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) der Deutsche Industrie- und Handelstag (DIHT), die zentrale Organisation der Industrie- und Handelskammern, v.a. aber der im Januar 1950 gegründete Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). Dieser avancierte bald zum Sprachrohr der deutschen Großindustrie und zum wichtigsten Partner Adenauers im Arbeitgeberlager. Sein langjähriger Präsident, der Unternehmer Fritz Berg (1901–79), entwickelte ein enges Verhältnis zum Kanzler, der nicht selten den Rat „praktischer“ Geschäftsleute und Wirtschaftsführer den „akademischen“ Ansichten Erhards und seiner Berater vorzuziehen schien. Nicht ganz zu Unrecht brüstete Berg sich damit, er könne jeden Gesetzentwurf des Wirtschaftsministers, den die Industrie nicht billige, durch ein persönliches Gespräch mit dem Bundeskanzler aus dem Weg schaffen. Wichtiger als diese persönlichen Beziehungen waren handfeste Interessenübereinstimmungen, etwa in Fragen der Westintegration und der Europapolitik, die vom BDI unterstützt wurden. Das hinderte Adenauer nicht daran, in Einzelfragen wie der paritätischen Mitbestimmung in der Montanindustrie (siehe Kap. II.1.c)) den Ausgleich mit den Gewerkschaften zu suchen.

Der EZU-Kredit und die Kooperation der Wirtschaftsverbände halfen der Regierung, die schwierigen Monate der Korea-Krise zu überstehen, ehe sich im Frühsommer 1951 das Blatt wendete. Schon im Mai konnte der Kredit an die EZU zurückgezahlt werden. Die Rohstoffpreise sanken, und die Exportwirtschaft kam immer mehr auf Touren. Anfang 1952 wurden die Importbeschränkungen zurückgenommen. Produktion und Export wuchsen nunmehr jährlich um 10 bis 20%. Gleichzeitig sammelten sich immer größere Devisenreserven an, die eine Wiederholung der Zahlungsbilanzkrise vom Winter 1950/51 zunehmend unwahrscheinlich machten. Im Dezember

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Wirtschaft und Innenpolitik 1949–1955

1951 betrug die Nettodevisenreserve schon 1,5 Mrd. DM, im Oktober 1952 waren es 4,1 Mrd. und im Juni 1953 5 Mrd. DM. Der Wirtschaftsaufschwung, dessen Wurzeln bis in die späten vierziger Jahre zurückreichten, war nun für alle spürbar.

b) Die Ursachen des Wirtschaftsaufschwungs Nur wenige Ökonomen hatten nach 1945 mit einem langanhaltenden Wirtschaftsaufschwung gerechnet. Viele erinnerten sich an die Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg und erwarteten, dass sich die Geschichte wiederholen würde. Sie prophezeiten einen kurzen Nachkriegsboom, auf den bald eine Rezession folgen werde. Die Krisenphänomene, mit denen Erhard seit Ende 1949 zu kämpfen hatte, schienen den Pessimisten recht zu geben. In ganz Westeuropa ließ das Wachstum der industriellen Produktion nach. Hatte es 1947/48 im Jahresdurchschnitt 12% betragen, so wurden 1949/50 nur 5% erreicht. 1951 bemerkte die britische Zeitschrift „Economist“, nirgendwo in Europa gebe es derzeit einen positiven Glauben an die Chancen des Fortschritts, wie er sowohl in Amerika als auch in der Sowjetunion zu finden sei. Die düsteren Prognosen bewahrheiteten sich langfristig nicht. Im Gegenteil, nicht nur die Bundesrepublik, sondern der gesamte Westen erlebte in den fünfziger und sechziger Jahren eine ökonomische Boomphase, die im Rückblick als „goldenes Zeitalter“ (Eric Hobsbawm) bezeichnet worden ist. Selbst im eher mäßig erfolgreichen Großbritannien betrug das wirtschaftliche Pro-Kopf-Wachstum zwischen 1950 und 1970 durchschnittlich 4%, während es von 1913 bis 1950 bei 1% im Jahr gelegen hatte. Die Arbeitslosenrate fiel im westeuropäischen Schnitt von rund 7,5% in den dreißiger auf unter 3% in den fünfziger und ganze 1,5% in den sechziger Jahren. Die Ursachen für diese Entwicklungen sind im Detail bis heute umstritten. Fest steht, dass verschiedene Faktoren zusammenkamen, um sie zu ermöglichen. Das Massenheer der Flüchtlinge – mancherorts ergänzt um arbeitslose Landarbeiter, die in die Städte strömten – stellte ein Reservoir billiger Arbeitskräfte zur Verfügung. In der Bundesrepublik etwa vergrößerten heimkehrende Soldaten, Flüchtlinge aus Ostpreußen, Schlesien und Pommern, später auch aus der DDR, die Zahl der Arbeitsuchenden. Die allermeisten waren bereit, niedrige Löhne in Kauf zu nehmen und hart zu arbeiten. Das setzte Kapital für Investitionen frei. Außerdem kontrollierten viele Regierungen auch nach Kriegsende strikt den Kredit- und Investitionssektor. Manche beharrten noch einige Zeit auf den im Krieg eingeführten Rationierungen, welche die Bevölkerung zum Sparen zwangen und die Konsumausgaben niedrig hielten. Oft verzichteten die Bürger freiwillig auf privaten Verbrauch in der Gegenwart und sparten für eine bessere Zukunft. All dies sorgte dafür, dass die Konsumptionsraten niedrig, die Kapitalanlageraten hoch waren – 16,8% des Bruttosozialprodukts flossen zwischen 1950 und 1970 in Investitionen, verglichen mit nur 9,6% im Zeitraum von 1928 bis 1938. Kapital für den wirtschaftlichen Wiederaufbau stand somit in ausreichendem Maße zur Verfügung, zumal die Zerstörung von Industrieanlagen oft geringer ausgefallen war als befürchtet. Hinzu kam die Aufbauhilfe durch die Vereinigten Staaten. Die Hilfsleistungen, die über den Marshallplan nach Westeuropa flossen, mochten zwar in absoluten Zahlen gemessen selten ausschlaggebend gewesen sein. Sie spielten aber trotzdem eine wichtige unterstützende Rolle. Sie halfen Wechselkursengpässe zu überbrücken, stellten begehrte Dollars für Anschubfinanzierungen bereit und dokumentierten – psychologisch wichtig – das auf Dauer angelegte Engagement

1. Die Anfänge des Wirtschaftsbooms

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der USA in Europa. Mindestens ebenso entscheidend war die amerikanische Hilfe im Hinblick auf die Wiederbelebung und Ausweitung des Handels, sei es durch die Förderung der Kooperation innerhalb Westeuropas, sei es durch die Propagierung globalen Freihandels. Insbesondere die traditionell auf Export ausgerichteten Volkswirtschaften profitierten vom ungehinderten Zugang zu den Märkten Westeuropas und der Welt, der ihnen in der von Autarkiebestrebungen und Handelsblöcken dominierten Zwischenkriegszeit gefehlt hatte. Parallel hierzu begriffen die Amerikaner ihren Einsatz in Europa als Erziehungsaufgabe. Sie bemühten sich, den in ihren Augen rückständigen Kapitalismus europäischer Prägung effizienter zu gestalten und stärker dem Vorbild der Marktwirtschaft in den USA anzugleichen. Amerikanische Experten halfen, Arbeitsabläufe und Ausstattung in europäischen Unternehmen zu modernisieren. Sie predigten den Wert einvernehmlicher Konfliktregelungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sowie die Bedeutung wissenschaftlicher Managementmethoden. Zu diesem Zweck rief man Austauschprogramme für Gewerkschafter und Manager ins Leben, organisierte Ausstellungen und Publikationen, veranstaltete sog. Productivity Councils. Durch Steigerung der Produktivität, so die Überzeugung, die all diesen Initiativen zugrunde lag, konnte man gleichzeitig Lohnerhöhungen für die Arbeitnehmer und wachsende Gewinne für die Unternehmen bewerkstelligen und auf diese Weise das verheerende Klassenkampfdenken der Vergangenheit aufbrechen. Die Bundesrepublik profitierte gerade in den fünfziger Jahren mehr als andere Industriestaaten (mit Ausnahme Japans) vom allgemeinen Wirtschaftsboom, der von Deutschen wie Ausländern nicht einfach als Aufschwung, sondern als „Wirtschaftswunder“ empfunden wurde. In der Bundesrepublik spielte nicht nur der Nachholbedarf infolge des Krieges eine Rolle, sondern v.a. das rasche Erstarken der westdeutschen Exportwirtschaft, das auf ein Zusammenwirken verschiedener Faktoren zurückzuführen war. Als Konsequenz der durch den Korea-Krieg angekurbelten Auslandsnachfrage („Korea-Boom“) bestand weltweit großer Bedarf an jenen Produkten, auf die sich die deutsche Industrie seit langem spezialisiert hatte: Fahrzeuge, Werkzeugmaschinen sowie Erzeugnisse der Elektro- und Chemieindustrie. Hinzu kam, dass die Unterbewertung der D-Mark den Absatz deutscher Güter im Ausland erleichterte, während gleichzeitig die Politik des knappen Geldes, welche die Bank deutscher Länder betrieb, dafür sorgte, dass die deutschen Unternehmen weitere Exportsteigerungen anstrebten, statt auf eine von staatlicher Seite stimulierte Inlandsnachfrage zu vertrauen. Die Investitionen in die einheimische Wirtschaft wuchsen in der Bundesrepublik schneller als anderswo, zum Teil wegen bewusster steuerlicher Anreize, teilweise weil in Deutschland Kapitalanlagen in anderen Ländern traditionell weniger beliebt waren als etwa in Großbritannien. Zudem war der amerikanische Einfluss in Westdeutschland stärker als in anderen Ländern Westeuropas. In der Bundesrepublik brauchten sich US-Wirtschaftsexperten nicht aufs Predigen zu beschränken. Hier konnten sie als Angehörige der Besatzungsmacht ihre Vorstellungen von effizienter Marktwirtschaft direkt in die Tat umsetzen. Außerdem kam das von den USA propagierte Freihandelsregime und der von den Amerikanern ermunterte und vorangetriebene Abbau der Handelsschranken innerhalb Westeuropas einer Exportwirtschaft wie der westdeutschen natürlich besonders zugute. Die Bundesrepublik verfügte über weitere entscheidende Wettbewerbsvorteile: Zum einen gab es bis weit in die fünfziger Jahre hinein keine westdeutsche Armee. Die Bundesrepublik focht

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keine teuren Kolonialkriege wie Frankreich, sie hatte keine weltweiten militärischen Verpflichtungen wie die USA oder Großbritannien. Selbst wenn man die Zahlungen für die Stationierung alliierter Truppen zwischen Rhein und Elbe einbezieht, fiel der Anteil des Bruttoinlandsprodukts, den die Bonner Regierung für militärische Zwecke bereitstellte, geringer aus als in anderen Ländern. Zum anderen profitierte die Bundesrepublik von der Tatsache, dass ihre exportorientierte Wirtschaftspolitik auf ein weltwirtschaftliches Umfeld traf, das ebenfalls von kräftigem Wachstum geprägt war, aber anderen Spielregeln gehorchte. Wären alle Länder Erhards Beispiel gefolgt und hätten vorrangig auf die Exportwirtschaft gesetzt, hätte eine weltweite Rezession gedroht. Die andernorts vorherrschende Kombination von steigenden Militärausgaben, keynesianischer Nachfragestimulierung und Vollbeschäftigungspolitik minimierte jedoch die Gefahr eines Konjunktureinbruchs und ermöglichte es der Bundesrepublik, an der ausgabenfreudigen Politik anderer Staaten gleichsam mitzuverdienen.

c) Die Gewerkschaften und das Mitbestimmungsgesetz Ein weiterer ausschlaggebender Faktor für den wirtschaftlichen Aufschwung und ein stabilisierendes Element im westdeutschen Wiederaufbau war die Haltung der Gewerkschaften. Sie übten lohnpolitische Zurückhaltung und verschrieben sich einer auf Konsensfindung angelegten Konfliktaustragung mit den Arbeitgebern. Es gab begrenzte Auseinandersetzungen über Löhne und Arbeitszeiten, aber keine Grundsatzkonflikte wie in anderen westeuropäischen Staaten. Im Endeffekt profitierten sowohl das Arbeitnehmer- als auch das Arbeitgeberlager von derartigen Kompromissen. Segensreich wirkte sich auch die Neuordnung des Tarifvertragswesens aus, das auf der Autonomie der Sozialpartner beruhte und anders als zu Weimarer Zeiten keine Zwangsschlichtung durch den Staat kannte. Auf diese Weise sollten die Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern von der Sphäre der Politik abgetrennt werden. Damit wollte man verhindern, dass der Staat in Arbeitskämpfe hineingezogen, seine Autorität in den Konflikten zwischen Arbeit und Kapital unterminiert würde. Für die Gewerkschaften bedeutete die Neuordnung eine Stärkung ihrer Position innerhalb des politischen Systems. Die Wurzeln dieser relativ mächtigen Stellung reichten vor die Gründung der Bundesrepublik zurück. Im Potsdamer Abkommen hatten sich alle vier Besatzungsmächte dazu verpflichtet, den Aufbau von Gewerkschaften zu unterstützen. Die Sowjetunion hatte bereits vor der Konferenz den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) unter kommunistischer Führung gegründet. Im Westen verlief die Entwicklung langsamer, nicht zuletzt, weil sich die Westmächte vor der kommunistischen Unterwanderung der Gewerkschaften fürchteten. Dennoch entstanden auch in Westdeutschland nicht nur Betriebsräte auf Unternehmensebene, sondern auch Gewerkschaftsbünde, die zunächst auf Zonenebene organisiert waren. Vier Ziele bestimmten ihre Programme in dieser Zeit: erstens die Vergesellschaftung der Großbetriebe, zweitens die Einführung planwirtschaftlicher Methoden, drittens betriebliche und überbetriebliche Mitbestimmung und viertens die Gründung einer Einheitsgewerkschaft anstelle der früheren sozialdemokratischen, christlichen und liberalen Richtungsgewerkschaften. Während die beiden ersten Forderungen v.a. am Widerstand der Amerikaner scheiterten, ließen sich die beiden letzten Punkte – wenn auch nicht vollständig – durchsetzen.

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In der britischen Zone erwirkten die Gewerkschaften die Zustimmung der britischen Besatzungsverwaltung zur Mitbestimmung in den großen Montanunternehmen der Ruhr. Seitdem saßen in den Aufsichtsräten der unter britischer Verwaltung stehenden Großbetriebe neben fünf Vertretern der Aktionäre fünf Arbeitnehmersprecher und ein Neutraler. Zu den Vorständen gehörte jetzt außer dem kaufmännischen und dem technischen Direktor auch ein Arbeitsdirektor, der hauptsächlich für die Personalverwaltung zuständig war und von Betriebsräten und Gewerkschaften bestimmt wurde. Mit der betrieblichen Mitbestimmungsregelung im Montanbereich hatten die Gewerkschaften ein erstes Teilziel auf dem Weg zu der von ihnen propagierten Wirtschaftsdemokratie verwirklicht. Nach Gründung der Bundesrepublik erreichten die Gewerkschaften auch ihr Ziel des Aufbaus einer starken Einheitsgewerkschaft. Durch den Zusammenschluss der Gewerkschaftsbünde der drei Westzonen entstand 1949 als Dachverband von sechzehn Einzelgewerkschaften der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) mit Sitz in Düsseldorf. Er war nicht nach weltanschaulichen Präferenzen, sondern gemäß dem Industrieverbandsprinzip organisiert, wonach jeder größere Wirtschaftszweig durch eine Einzelgewerkschaft repräsentiert wurde. In jedem Betrieb war nur eine Gewerkschaft vertreten, so dass innerbetriebliche Konkurrenz von Einzelgewerkschaften vermieden wurde. Im Hinblick auf die Angestellten und Beamten ließ sich das Prinzip der Einheitsgewerkschaft freilich nicht vollständig durchsetzen. Beide Gruppen riefen ihre eigenen, nicht zum DGB gehörenden Interessenvertretungen ins Leben – die Deutsche Angestelltengewerkschaft (DAG) und den Deutschen Beamtenbund (DBB). Parteipolitisch war der DGB unabhängig. Auch wenn er naturgemäß der SPD nahestand, war auch der linke Flügel der Union in ihm stark vertreten. Oft wurde der Posten des Vorsitzenden von einem Sozialdemokraten eingenommen, während der Stellvertreter der CDU angehörte. Zum ersten Vorsitzenden wurde Hans Böckler (1875–1951) gewählt, der von 1928 bis 1933 Reichstagsabgeordneter der SPD und in der NS-Zeit als führender Kopf der illegalen Gewerkschaftsbewegung zeitweise in Haft gewesen war. Die Einheitsgewerkschaft war 1949 erreicht. Eine umfassende Sozialisierungspolitik und der Übergang zur Planwirtschaft erschienen aufgrund der Haltung der Besatzungsmächte und der Mehrheitsverhältnisse im Bundestag unmöglich. Daher reduzierte sich das Konfliktpotential zwischen Gewerkschaften und Bundesregierung auf die Mitbestimmungsfrage. Der DGB wollte die für den Montanbereich gefundene Lösung auf die gesamte Großindustrie übertragen, während insbesondere die FDP und die Arbeitgeberorganisationen Druck auf die Regierung ausübten, die von den Alliierten erlassene Mitbestimmungsregelung einer grundlegenden Überprüfung und Änderung zu unterziehen. Im Kabinett neigte Arbeitsminister Anton Storch (1892–1975) den Gewerkschaften zu, andere, v.a. Erhard, sympathisierten mit der Arbeitgeberseite. Der Kanzler wollte eine Kampfabstimmung im Parlament vermeiden. Ihm schien die Regierungsmehrheit zu schmal, die Sympathien des linken Unionsflügels für die Gewerkschaften zu stark. Hinzu kam, dass sich Adenauer mitten in den komplizierten Verhandlungen mit den Alliierten über den Schuman-Plan und die Zukunft der Ruhrindustrie befand. Er war auf die Kooperation der Gewerkschaften angewiesen, wenn er den Siegermächten mit einer geschlossenen deutschen Position entgegentreten wollte. Einen Streik der Berg- und Hüttenarbeiter im Ruhrgebiet, wie ihn der DGB Anfang Januar 1951 androhte, wollte der Regierungschef angesichts der Versorgungsnöte auf dem Höhepunkt der Korea-Krise nicht riskieren.

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Wirtschaft und Innenpolitik 1949–1955

Aber auch DGB-Chef Böckler war eher an einer Einigung als an einer Kraftprobe gelegen. Am 11. Januar 1951 trafen sich die beiden alten Herren, die sich seit den zwanziger Jahren kannten, und verabredeten einen Kompromiss, der auf die gesetzliche Festschreibung der bisherigen Regelung hinauslief. Am 21. Mai 1951 verabschiedete der Bundestag mit den Stimmen von Union und SPD, gegen den Widerstand der FDP, der DP und der Bayernpartei das entsprechende „Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten und Vorständen der Unternehmen des Bergbaus und der eisen- und stahlerzeugenden Industrie“, das sog. Mitbestimmungsgesetz. Weniger zufrieden waren die Gewerkschaften mit dem Betriebsverfassungsgesetz, das ein Jahr später im Parlament diskutiert und im Oktober 1952 verabschiedet wurde. Zwar wurde gesetzlich festgeschrieben, dass in allen Kapitalgesellschaften ein Drittel der Aufsichtsratsitze mit Arbeitnehmervertretern zu besetzen war, womit erstmals auch in anderen Wirtschaftszweigen Gewerkschafter Zugang in die Aufsichtsräte fanden. Hinzu kamen weitgehende Informationsrechte für den Betriebsrat in Unternehmen mit mehr als 100 Beschäftigten sowie Mitsprache- und Mitbestimmungsrechte in Personal- und sozialen Angelegenheiten. Dennoch blieb das Betriebsverfassungsgesetz hinter den Erwartungen der Gewerkschaften zurück. Es machte deutlich, dass die Bundesregierung die Mitbestimmung im Montanbereich eher als Ausnahmeregelung ansah und nicht, wie von den Gewerkschaften erhofft, als Auftakt zu einer grundlegenden Demokratisierung der Arbeitsbeziehungen. Die Versuche der Gewerkschaften, eine günstigere Regelung durchzusetzen, scheiterten. Streikdrohungen hatten keinen Erfolg. Nachdem die Korea-Krise überwunden war und der Aufschwung eingesetzt hatte, war die Regierung – nicht zuletzt unter dem Einfluss der Wirtschaftsverbände – weniger kompromissgeneigt als noch ein Jahr zuvor.

2. Die Rückgewinnung wirtschaftlicher Souveränität a) Erste Schritte auf dem Weg zur wirtschaftlichen Handlungsfreiheit Als die Bundesrepublik 1949 ins Leben trat, war sie schon in ein Netz ökonomischer Beziehungen eingesponnen. Zwar war sie noch nicht Mitglied in der OEEC. Doch wurde sie dort durch die drei alliierten Militärgouverneure vertreten, die in ihrem Namen agierten. Ab dem Herbst 1949 übernahm die Bundesregierung diese Funktionen selbst. Am 31. Oktober vertrat der Minister für Angelegenheiten des Marshallplans die Bundesrepublik erstmals auf einer Ministerratssitzung der OEEC. Auch in die Marshallplanhilfe waren die deutschen Westzonen einbezogen, freilich ohne bislang jenes bilaterale Wirtschaftsabkommen mit den USA abzuschließen, das Washington zur Teilnahmebedingung erklärt hatte. Am 15. Dezember 1949 wurde dies mit dem deutsch-amerikanischen Abkommen über wirtschaftliche Zusammenarbeit nachgeholt: dem ersten völkerrechtlichen Vertrag der Bundesrepublik. Das Abkommen erlaubte es der Regierung, mehr Einfluss auf die Güter zu nehmen, die im Rahmen des Marshallplans nach Deutschland flossen, so dass die Hilfsleistungen besser auf die Wünsche deutscher Importeure abgestimmt und Planungsfehler vermieden werden konnten.

2. Die Rückgewinnung wirtschaftlicher Souveränität

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Hinzu kam das Petersberger Abkommen, das unter anderem die Einrichtung von Konsulatsund Handelsbeziehungen mit einigen westlichen Ländern ermöglichte – neben Frankreich, den USA und Großbritannien mit den Benelux-Staaten, Dänemark, Griechenland, Italien, Norwegen und der Türkei. Freilich behielt sich die Alliierte Kommission zunächst beträchtliche Kontrollrechte vor: die Bundesregierung musste über alle Verhandlungen laufend berichten und mögliche Verträge vor Abschluss genehmigen lassen. Am 1. Oktober 1951 trat die Bundesrepublik auch dem Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen bei, das satzungsgemäß eigentlich nur souveräne Mitgliedsländer aufnehmen durfte – ein deutliches Zeichen dafür, wie weitreichend die außenwirtschaftlichen Handlungsmöglichkeiten des westdeutschen Staates inzwischen waren. Stichwort

Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen, GATT GATT (General Agreement on Tariffs and Trade) wurde am 30. Oktober 1947 von 23 Staaten in Genf abgeschlossen und trat am 1. Januar 1948 in Kraft. Sein Hauptziel ist es bis heute, durch Senkung der Zölle und durch den Abbau sonstiger Außenhandelsbeschränkungen den freien Welthandel zu fördern. Zollvergünstigungen müssen allen Handelspartnern eines Landes gleichermaßen gewährt werden („Meistbegünstigung“); Ausnahmen vom Verbot mengenmäßiger Beschränkungen sind nur dann erlaubt, wenn sie auf alle Partner Anwendung finden („Nichtdiskriminierung“).

b) Das Londoner Schuldenabkommen 1951 begannen Verhandlungen zwischen der Bundesregierung und den Westmächten über die Regelung der deutschen Auslandsschulden. Ein großer Teil dieser Verbindlichkeiten stammte aus der Zeit vor der Gründung der Bundesrepublik. Dabei ging es nicht nur um Schulden aus wirtschaftlichen Hilfeleistungen der Nachkriegszeit, v.a. der Marshallplan-Hilfe, sondern auch um die Vorkriegsschulden des Deutschen Reiches und die von den USA gewährten Anleihen aus der Zwischenkriegszeit. Wollte die Bundesrepublik neue Kreditfähigkeit erwerben und ihren Anspruch auf staatsrechtliche Identität mit dem Deutschen Reich international durchsetzen, musste sie die aufgelaufenen Auslandsschulden prinzipiell anerkennen. Hinzu kam, dass die Westmächte im September 1950 weitere Souveränitätsübertragungen an die Bundesrepublik mit der Bedingung verknüpft hatten, dass diese Fragen geregelt würden. Auch deutsche Banken und Teile der Privatwirtschaft drängten auf eine Regelung, von der sie sich verbesserte Möglichkeiten versprachen, dringend benötigte Auslandsanleihen aufzunehmen. Nicht nur aus diesem Grund erschien aus westdeutscher Sicht ein rascher Beginn der Verhandlungen wünschenswert. Solange die Gläubigerstaaten noch unter dem Eindruck der deutschen Zahlungsbilanzkrise in der Folge des Korea-Kriegs standen, hoffte man, günstigere Rückzahlungsbedingungen aushandeln zu können. Zwar warnten Finanzminister Fritz Schäffer (1888–1967) und Zentralbankpräsident Wilhelm Vocke (1886–1973) davor, den Bundeshaushalt schon jetzt mit hohen Tilgungszahlungen zu belasten. Doch die Gruppen, die auf eine baldige Regelung drängten, setzten sich durch. Ihren wichtigsten Vertreter, den Bankier Hermann Josef Abs,

III.

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Wirtschaft und Innenpolitik 1949–1955

entsandte Adenauer als Leiter der deutschen Delegation zu der Schuldenkonferenz, die nach langwierigen Vorverhandlungen im Februar 1952 in London stattfand. Stichwort Hermann Josef Abs (1901–94), ein gebürtiger Bonner, avancierte zu Adenauers wichtigstem Berater in allen Finanz- und Währungsfragen. Er war bereits in den zwanziger Jahren in England und den Niederlanden im Bankgeschäft tätig gewesen, ehe er 1938 Vorstandsmitglied der Deutschen Bank wurde, deren Vorstandssprecher er zwischen 1957 und 1967 war und deren Aufsichtsrat er von 1967 bis 1976 vorsaß. In der Nachkriegszeit war er zusätzlich Stellvertretender Vorsitzender der Kreditanstalt für Wiederaufbau.

Abs’ Delegation kehrte mit einem günstigen Ergebnis nach Hause zurück. Es war im Verlauf der Verhandlungen gelungen, die zu tilgende Gesamtsumme von 29,3 auf 14,5 Mrd. DM zu drücken. Die USA senkten ihre Nachkriegsforderungen von 3,2 auf 1,2 Mrd. $, Großbritannien und Frankreich zeigten sich ähnlich entgegenkommend. Auch die deutschen Vorkriegsschulden wurden beträchtlich gekürzt: von 8,3 auf 6 Mrd. DM. Bis 1957 wurden jährliche Transferleistungen von 567 Mio. DM festgesetzt, die danach auf 765 Mio. DM steigen sollten. Das war zwar mehr als das ursprüngliche Höchstangebot der Bundesregierung von 0,5 Mrd. DM pro Jahr, aber durch die vergleichsweise lange Streckung der Rückzahlungen und durch den anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwung blieben die Belastungen im erträglichen Rahmen. Nach einigen Jahren ging die Bundesregierung sogar dazu über, vorzeitige Tilgungszahlungen zu leisten, um ihren zwischenzeitlich bedenklich hohen Devisenstand abzutragen. Die Frage deutscher Reparationen wurde in London nicht offiziell behandelt. Doch gab Abs zu Protokoll, dass weitere Forderungen an Deutschland unter dem Titel „Reparationen“ nicht erhoben werden sollten. Von Seiten der Westmächte erhob sich kein Widerspruch.

c) Das Luxemburger Abkommen mit Israel Politisch wie psychologisch viel schwieriger war die Regelung von sog. Wiedergutmachungsleistungen an Israel. Schon 1941 hatte der Jüdische Weltkongress Forderungen nach Entschädigungsleistungen erhoben, die jedoch weder von Deutschland noch von den Alliierten anerkannt worden waren. Vier Jahre später verlangte Chaim Weizmann (1874–1952) im Namen der Jewish Agency von den Siegermächten, sie sollten jüdisches Eigentum im besiegten Deutschland wieder auffinden und zurückgeben sowie Schadensersatzleistungen für die an Juden begangenen Verbrechen in die Wege leiten. Allein die materiellen Verluste wurden auf 8 Mrd. $ geschätzt. Nach der Gründung des westdeutschen und des israelischen Staates stand die Frage mit erhöhter Dringlichkeit auf der Tagesordnung. Die israelische Regierung forderte in einer Note vom März 1951 an die vier Siegermächte, Deutschland müsse 1,5 Mrd. $ an den Staat Israel zahlen. Als Begründung führte die Note an, dass 450000 Juden aufgrund der nationalsozialistischen Verbrechen direkt oder auf Umwegen nach Israel gelangt seien. Als Eingliederungskosten wurden pro Einwanderer 3000 Dollar veranschlagt. Wieder schien der Initiative kein Erfolg beschieden. Die UdSSR antwortete gar nicht. Die Westmächte reagierten ausweichend. Sie sahen, dass Israel keine völker-

3. Innenpolitische Konsolidierung

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rechtlichen Ansprüche auf Reparationen geltend machen konnte. Sie waren zudem besorgt, dass Zahlungen an ein Land die Reparationsfrage insgesamt wieder aufrollen und Forderungen von allen möglichen Seiten folgen lassen würden. Das wollte man aus Rücksicht auf Westdeutschlands Stabilität und wirtschaftlichen Wiederaufbau vermeiden. Außerdem fürchteten Amerikaner, Briten und Franzosen, dass Wiedergutmachungszahlungen an die jüdischen Opfer des NS-Regimes sich negativ auf die Fähigkeit der Bundesrepublik auswirken würden, ihre Schulden bei den Westmächten zu begleichen. Es war der Bundeskanzler, der die Angelegenheit vorantrieb. Schon anlässlich des 11. Jahrestages der Reichspogromnacht hatte er im November 1949 den Willen der Bundesrepublik betont, eine gewisse „Wiedergutmachung“ an Israel zu leisten. Im April 1950 traf er am Rande eines Staatsbesuchs in Paris unter höchster Geheimhaltung mit dem Ministerialdirektor im israelischen Finanzministerium zusammen und ließ wissen, ihm sei an einer raschen Vereinbarung gelegen. Im Bundestag gab er im September 1951 in einer – zuvor mit Israel sorgfältig abgestimmten – Regierungserklärung zu Protokoll, die deutsche Nation als Ganzes sei nicht schuld an den nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Juden, es gebe aber eine deutsche Verantwortung zur Wiedergutmachung. Weder in Deutschland noch in Israel stieß diese Erklärung auf große Zustimmung. Die folgenden Verhandlungen im niederländischen Wassenaar, die auf deutscher Seite der Nationalökonom Franz Böhm führte, wurden deswegen in aller Stille vorangetrieben und drohten mehrfach zu scheitern. Schließlich einigte man sich auf Sachlieferungen und Kapitalleistungen in Höhe von 3 Mrd. DM an den Staat Israel sowie 450 Mio. DM an jüdische Organisationen. Ein für Adenauer angenehmer Nebeneffekt bestand darin, dass die aus Steuermitteln bezahlten Sachlieferungen überwiegend aus deutscher Produktion stammten und die „Wiedergutmachungsleistungen“ somit einer Subvention für deutsche Unternehmen gleichkamen. Hinzu kam, dass großzügige Entschädigungszahlungen an Israel halfen, das deutsche Ansehen in der Welt, insbesondere in den USA, zu heben. Dennoch entsprangen Adenauers Motive in erster Linie moralischen Überlegungen. Ohne sein persönliches Engagement wäre es nicht zu den Verhandlungen, jedenfalls nicht zu einem für beide Seiten befriedigenden Abschluss gekommen. Wie unpopulär die Position des Bundeskanzlers in dieser Frage gerade in seinem eigenen Lager war, wurde deutlich, als der Bundestag im März 1953 über das Luxemburger Abkommen abzustimmen hatte. Mehr als 40 Parlamentarier entzogen sich durch Abwesenheit einem Votum. Nur weniger als die Hälfte der 239 Ja-Stimmen kamen aus dem Regierungslager. Während die Sozialdemokraten geschlossen für das Abkommen votierten, enthielten sich 86 Abgeordnete von Union, FDP und DP der Stimme – unter ihnen Finanzminister Schäffer und Franz Josef Strauß von der CSU.

3. Innenpolitische Konsolidierung a) Die Vertriebenenproblematik Eines der größten innenpolitischen Probleme, mit dem sich die Bundesrepublik konfrontiert sah, war das Schicksal der vielen Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen. Der Volkszählung von

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1950 zufolge waren von den knapp 48 Mio. Einwohnern des Bundesgebietes 9,6 Mio. erst während oder nach Beendigung des Krieges zugewandert. Der Großteil von ihnen – rund 8 Mio. – war aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn verjagt worden. 16,6% der westdeutschen Bevölkerung waren Vertriebene. Ihr Anteil an der Zahl der Beschäftigten lag bei knapp 20%. Hinzu kamen noch einmal ca. 1,5 Mio. Flüchtlinge aus der SBZ bzw. der DDR. Jeder fünfte Westdeutsche war neu im Land, sozial entwurzelt und musste sein Leben von Grund auf neu beginnen. Die meisten hatten ihr Vermögen verloren. Viele litten existentielle Not. 1951 wurden 400000 Vertriebene als Empfänger staatlicher Fürsorgeleistungen registriert. Beinahe jeder Dritte war ohne Arbeit, nicht einmal jeder Vierte besaß eine eigene Wohnung. Die meisten hausten in Notunterkünften und Barackenlagern oder lebten als Untermieter in beengten Verhältnissen. Kaum einer konnte weiter in seinem früheren Beruf arbeiten. Die meisten mussten froh sein, wenn sie irgendeine Beschäftigung fanden. Die „Stunde Null“ war für diese Bevölkerungsgruppe keine abstrakte Idee, sondern harte, bittere Realität. Die regionale Verteilung der Vertriebenen innerhalb Deutschlands fiel unterschiedlich aus. Frankreich hatte während der Besatzungszeit seine Zone dem Zuzug von Flüchtlingen weitgehend verschlossen, die SBZ bot den meisten keine erfreulichen Zukunftsperspektiven, so dass die amerikanische und britische Zone die Hauptlast zu tragen hatten. Die Militäradministrationen siedelten die Neuankömmlinge meist in den weniger dicht bevölkerten agrarischen Gebieten Bayerns, Niedersachsens und Schleswig-Holsteins an. Diese drei Länder nahmen anfangs 66% aller Flüchtlinge auf. In Bayern und Niedersachsen gehörte jeder Fünfte zur Gruppe der Vertriebenen, in Schleswig-Holstein zeitweilig sogar jeder Dritte. Im industrialisierten Nordrhein-Westfalen hingegen, wo Wohnraum besonders knapp war, lag ihr Anteil deutlich unter 10%. Schon bald bildeten sich Vertriebenenorganisationen, die sich der Interessenwahrung der Flüchtlinge verschrieben. Es gab zwei Dachverbände: den Bund der vertriebenen Deutschen (BvD) und den Verband der Landsmannschaften (VdL). Der etwa 1,7 Mio. Mitglieder umfassende BvD verstand sich als eine Art „Vertriebenengewerkschaft“, die als Lobbygruppe die sozialen Interessen ihrer Mitglieder gegenüber Regierung und Parteien vertrat. Der VdL konzentrierte sich eher auf die Wahrung landsmannschaftlicher Traditionen und auf die außenpolitischen Anliegen der Vertriebenen. Am 5. August 1950 verabschiedeten die Vertriebenenverbände in Stuttgart eine „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“, in der sie auf Rache und Vergeltung verzichteten, jedoch ausdrücklich forderten, das Heimatrecht müsse als Grundrecht weltweit anerkannt werden. Außenpolitisch mündete dies in die Forderung, den deutschen Rechtsanspruch auf die verlorenen Gebiete östlich von Oder und Neiße unter allen Umständen aufrechtzuerhalten. Parteipolitisch waren die Vertriebenenverbände nicht gebunden. Vielmehr versuchten sie, über Abgeordnete in den verschiedenen Parteien die Politik in ihrem Sinne zu beeinflussen. 61 Abgeordnete stammten im ersten Bundestag aus den Reihen der Vertriebenen; im zweiten Bundestag waren es 86. Einer der prominentesten unter ihnen war der in Oberschlesien geborene Hans Christoph Seebohm (1903–67), von 1949 bis 1966 Verkehrsminister, der erst der DP und seit 1960 der CDU angehörte und seit 1959 als Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft hervortrat. Erst relativ spät wurde mit dem BHE eine eigene Vertriebenenpartei gegründet.

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Stichwort

Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) Der BHE, der 1950 in Schleswig-Holstein als politische Interessenvertretung der Vertriebenen und Kriegsgeschädigten ins Leben gerufen wurde, konstituierte sich 1951 auf Bundesebene. Er nahm 1952 den Namen „Gesamtdeutscher Block“ an und firmierte seitdem unter dem Kürzel GB/BHE. Nachdem er Anfang der fünfziger Jahre in verschiedene Landesparlamente eingezogen war, gelang ihm 1953 der Sprung in den Bundestag, aus dem er 1957 wieder verschwand. 1961 fusionierte er mit der Deutschen Partei (DP) zur „Gesamtdeutschen Partei“ (GDP/BHE).

b) Die Eingliederung der Vertriebenen Von Beginn an setzte man alles daran, durch politische, administrative und karitative Maßnahmen die Eingliederung der Vertriebenen in die westdeutsche Gesellschaft zu erleichtern. Das „Soforthilfegesetz“ vom August 1949 (das in der französischen Besatzungszone erst ein Jahr später in Kraft trat) ersetzte die bisherigen Fürsorgeleistungen durch eine bescheidene Unterhaltshilfe, die aus einer Sonderabgabe auf Altvermögen finanziert wurde. Zwischen 1950 und 1956 gab man für Arbeitsbeschaffungsprogramme insgesamt 286 Mio. DM aus und schuf 58000 Arbeitsplätze, 48000 davon für Vertriebene. Umsiedlungsprogramme entlasteten die Zentren der Vertriebenenansiedlung und verteilten Flüchtlinge auf Gebiete, in denen die Aussichten auf einen Arbeitsplatz besser waren. Bis 1960 wurden ca. 1 Mio. Menschen umgesiedelt, rund die Hälfte von ihnen in die Ballungszentren Nordrhein-Westfalens mit ihrer Kohlebergbau-, Textil-, Eisen- und Stahlindustrie. Das Wohnungsbaugesetz vom April 1950 bildete den Auftakt einer gezielten Wohnungsbaupolitik. Mit Hilfe öffentlicher Wohnungsbauprogramme, subventionierter Bausparprogramme und steuerlicher Anreize zum Bau von Eigenheimen sollte die schlimmste Wohnungsnot behoben werden. Zwischen 1950 und 1957 konnten so rund 4 Mio. Wohnungen gebaut werden, mehr als die Hälfte davon Sozialwohnungen für Bedürftige. Von 1955 bis 1957 wurden in der Bundesrepublik 99 Wohnungen pro 10 000 Einwohner gebaut, in Großbritannien waren es 57, in Frankreich 35. Das wichtigste staatliche Instrument der Eingliederungspolitik war der sog. Lastenausgleich – eine Vermögensabgabe der Besitzenden, die den Opfern von Kriegsschäden und Vertreibung zugutekommen sollte. Auf den Lastenausgleich richteten nicht nur Vertriebenenpolitiker, sondern auch Sozialdemokraten große Hoffnungen. Die Diskussionen reichten bis in die unmittelbare Nachkriegszeit zurück. Damals hatten viele als Begleitmaßnahme zur Währungsreform einen umfassenden Lastenausgleich vorgeschlagen, mit dessen Hilfe die beträchtlichen Vermögenswerte, die den Krieg überdauert hatten, umverteilt werden und denjenigen zugutekommen sollten, die am schwersten unter den Kriegsfolgen litten. Die alliierten Militärregierungen hatten sich derartige Forderungen nicht zu eigen gemacht, um die Währungssanierung nicht zu gefährden. Eine massive Umverteilung durch steuerliche Belastung der Vermögenden lag auch nicht im Interesse der Bundesregierung, die verhindern wollte, dass unternehmerische Initiative gehemmt und der wirtschaftliche Wiederaufbau verzögert würden. Bereits in seiner ersten Regierungserklärung hatte Adenauer verkündet: „Der Wiederaufbau unserer Wirtschaft ist die vornehmste, ja einzige

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Grundlage für jede Sozialpolitik und für die Eingliederung der Vertriebenen. Nur eine blühende Wirtschaft kann die Belastungen aus dem Lastenausgleich auf die Dauer tragen.“ Auf der anderen Seite mobilisierten die Vertriebenenverbände alle Kräfte, um einen umfassenden Lastenausgleich durchzusetzen. Der Vorsitzende des BdV Linus Kather (1893–1983), zugleich Bundestagsabgeordneter der CDU, organisierte im Mai 1952 eine Massendemonstration von 60000 Vertriebenen auf dem Bonner Rathausplatz und drohte, mit seinen Anhängern zum BHE überzuwechseln, wenn die Regierung nicht einlenkte. Am Ende setzte sich Adenauer, der um seine Parlamentsmehrheit zur Ratifizierung des Deutschlandvertrags fürchtete, für einen Kompromiss ein. Stichwort

Lastenausgleichsgesetz Die Endfassung des Lastenausgleichsgesetzes vom 14. August 1952 sah neben Hypothekengewinnund Kreditabgaben eine Abgabe auf Vermögen in Höhe von 50% (in der Landwirtschaft 25%) vor. Diese musste nicht auf einen Schlag gezahlt, sondern konnte über 30 Jahresraten, rückwirkend von 1949, zahlbar bis 1979 gestreckt werden. Die Umverteilung, auf die SPD und Vertriebene gehofft hatten, wurde nicht verwirklicht. Die Berechnungsmethoden, großzügige Freibeträge und Abzüge für selbst erlittene Schäden führten dazu, dass aus der Vermögensabgabe de facto eine jährlich zu entrichtende Steuer wurde, die aus den laufenden Vermögenserträgen bestritten werden konnte.

Das Gesamtvolumen des Lastenausgleichs lag 1995 bei fast 140 Mrd. DM, während man die privaten Vermögensverluste der Vertriebenen auf knapp das Doppelte geschätzt hat. Die meisten Vertriebenenfamilien erhielten lediglich eine kleine Rente und bescheidene Hausratsentschädigungen. Dennoch sollte man die psychologische Wirkung des Lastenausgleichs nicht unterschätzen. Der demonstrative Solidaritätsbeitrag der Gesellschaft band die Vertriebenen ein. Er half, ihr Vertrauen in die Institutionen des neuen Staates zu stärken, und trug dazu bei, radikale und systemfeindliche Strömungen innerhalb der Vertriebenenverbände nicht entstehen zu lassen. Letztlich war es aber nicht der Lastenausgleich, der die Eingliederung ermöglichte, sondern der wirtschaftliche Aufschwung der fünfziger Jahre, an dem auch die Vertriebenen Teil hatten. Mehr als alle Arbeitsbeschaffungsprogramme sorgte der Boom dafür, dass Vertriebene zunehmend gut bezahlte Arbeit fanden und für sich und ihre Familien allmählich eine neue Existenz aufbauen konnten. Umgekehrt profitierte die westdeutsche Wirtschaft gerade in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre, als in anderen westeuropäischen Ländern die Vollbeschäftigung erreicht war und die Löhne stiegen, vom Arbeitskräfte-Reservoir der Vertriebenen, das durch Flüchtlinge aus der DDR immer wieder aufgefüllt wurde.

c) Der Wahlsieg der Union 1953 Trotz der unbestreitbaren Erfolge muss man sich hüten, den Wahlsieg der bürgerlichen Koalition 1953 rückblickend als Selbstverständlichkeit anzusehen. Das Schicksal der Regierung war lange Zeit offen. 1950 und 1951 musste die Union herbe Verluste bei Landtagswahlen hinnehmen. Die wirtschaftlichen Turbulenzen der ersten beiden Regierungsjahre brachten das Kabinett mehr als einmal in Schwierigkeiten. Spürbare Auswirkungen des ökonomischen Aufschwungs ließen

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auf sich warten. Die Verhandlungen mit den Westmächten waren auf alliierter Seite anfangs von Misstrauen und Zurückhaltung geprägt, außenpolitische Erfolge blieben zunächst rar. Die Ratifizierung der Westverträge war im Bundestag heftig umstritten. Erst in der zweiten Jahreshälfte 1952 begann sich die Lage für die Regierung zu bessern. Die deutsche Wirtschaft befand sich erkennbar im Auftrieb. Export und Produktion stiegen, und – was wichtiger war – allmählich konnten die Westdeutschen sich einige Konsumwünsche erfüllen, wenn auch die Auswirkungen des Wirtschaftswunders beileibe noch nicht für alle spürbar wurden. Der Korea-Krieg, der „Aufbau des Sozialismus“ in der DDR, später die Niederschlagung des Aufstandes am 17. Juni 1953 in Berlin und anderswo in Ostdeutschland ließen Hoffnungen auf eine Verständigung mit dem Ostblock und eine baldige Wiedervereinigung verdorren. Vor diesem Hintergrund leuchteten Adenauers Politik der Westbindung und die Anlehnung an die USA immer mehr Bundesbürgern ein. Außerdem schien der Kanzler auf seinen zahlreicher werdenden Auslandsreisen von den westlichen Staats- und Regierungschefs inzwischen fast als gleichrangiger Partner akzeptiert zu werden. Hatte man ihn im April 1951 in Paris und im Dezember 1951 in London höflich, aber reserviert begrüßt, so war der Empfang in Italien im Juni desselben Jahres bereits deutlich herzlicher. Insbesondere die USA-Reise im April 1953, der Empfang durch Eisenhower im Weißen Haus und die militärische Zeremonie auf dem Heldenfriedhof in Arlington, wo Adenauer zum Klang des Deutschlandlieds einen Kranz niederlegte, festigten den Eindruck, dass die Politik der Regierung Früchte zu tragen begann. Zu derselben Zeit fand auch ein Umschwung in den Meinungsumfragen statt. Die Zustimmungsraten Adenauers stiegen von 34% (im November 1952) auf 57% zum Zeitpunkt der Wahl im September 1953. Der Wahlkampf der Koalitionsparteien hob nicht nur die wirtschaftliche Aufbauleistung hervor. Er appellierte auch an Bedrohungsgefühle in der Bevölkerung. Wieder und wieder warnte der Kanzler davor, einer marxistischen Partei wie der SPD die Stimme zu geben. Für die Sozialdemokraten zu stimmen, hieß kommunistischer Subversion Tür und Tor zu öffnen, lautete der Tenor, der antikommunistischen Ausrichtung der SPD zum Trotz. „Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau“, hieß es auf einem Wahlplakat der CDU. „Wo Ollenhauer pflügt, sät Moskau“, warnte ein Poster der FDP. Die Kombination von Antikommunismus und ökonomischer Kompetenz – verbunden mit einem gekonnt inszenierten Wahlkampf und zahlreichen Wahlgeschenken für verschiedene Bevölkerungsgruppen – zahlte sich für die Christdemokraten aus. In einem Wahlsieg, der einem Erdrutsch gleichkam, eroberten die Unionsparteien 45,2% der Stimmen und mehr als die Hälfte der Parlamentssitze. Die SPD kam auf 28,8%, die FDP auf 9,5% – in beiden Fällen etwas weniger als vier Jahre zuvor. Den Christdemokraten war es mit ihrem polarisierenden, auf die Person Adenauers und Erhards zugeschnittenen Wahlkampf gelungen, Jungwähler und Nichtwähler zu mobilisieren und ihre Attraktivität für Wählerinnen, die aufgrund der Kriegsverluste den größten Teil der Bevölkerung ausmachten, zu bewahren bzw. auszubauen. Das wichtigste Ergebnis der Wahl von 1953 war neben dem deutlichen Vertrauensvotum für Adenauer die Reduzierung der im Bundestag vertretenen Parteien. 1949 hatten die kleineren Parteien 80 von 402 Abgeordneten gestellt. 1953 waren es nur noch 45, und 18 davon – drei Zentrumsund 15 DP-Parlamentarier – verdankten ihren Sitz Listenabsprachen mit der CDU. Weder den Kommunisten noch der Bayernpartei gelang der Wiedereinzug ins Parlament, die Rechtsradikalen

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brachten es auf ganze 1,1%. Der BHE zog zwar mit 5,9% in den Bundestag ein. Aber auch er hatte nur einen Teil der Wählerstimmen aus dem großen Lager der Vertriebenen erhalten. Die Mehrzahl von ihnen hatte für Adenauer und den Fortbestand der bürgerlichen Regierung votiert – ein Zeichen für die innenpolitische Konsolidierung und Stabilität, welche die Bundesrepublik 1953 erreicht hatte.

4. Der politische Umgang mit der NS-Vergangenheit a) Die Entnazifizierungspolitik der Alliierten Neben den Vertriebenen und Flüchtlingen gab es eine weitere Bevölkerungsgruppe, deren Position in der westdeutschen Gesellschaft offen und deren Einstellung gegenüber den neuen Verhältnissen prekär war: die ehemaligen Funktionäre und Mitglieder der NSDAP sowie andere Anhänger des Nationalsozialismus. Viele von ihnen stammten aus den gehobenen Mittelschichten, hatten zur politischen und wirtschaftlichen Elite des „Dritten Reiches“ gehört und bildeten trotz der verheerenden Niederlage des NS-Regimes ein latentes Bedrohungspotential für die neue demokratische Ordnung. Die Siegermächte reagierten auf diese Gefahr, indem sie in den ersten vier Jahren nach Kriegsende eine entschiedene Politik der Entnazifizierung vorantrieben. In Nürnberg, der Stadt der NSReichsparteitage, richteten sie ein internationales Militärtribunal ein, vor dem hochrangigen Repräsentanten des NS-Staates der Prozess gemacht wurde. Im Prozess gegen die „Hauptkriegsverbrecher“ wurden zwölf Todesurteile verhängt, von denen man elf vollstreckte. Hermann Göring (1893–1946) beging vor der Hinrichtung Selbstmord. Der Leiter der Parteikanzlei der NSDAP Martin Bormann (1900–45), von dem damals niemand wusste, ob er noch lebte, wurde in Abwesenheit verurteilt. Sieben Angeklagte erhielten Haftstrafen. Drei wurden freigesprochen. Bis 1949 fanden in Nürnberg zwölf weitere Prozesse statt: gegen Ärzte, Juristen, Industrielle, Angehörige des Auswärtigen Amtes, das Oberkommando der Wehrmacht und hochrangige Funktionäre der SS. Hinzu kamen weitere Verfahren in alliierter Regie in allen Besatzungszonen und in Ländern, in denen Deutsche während des Kriegs Verbrechen begangen hatten. Bei Prozessen in den drei Westzonen wurden 5025 Personen verurteilt. 806 Todesurteile wurden ausgesprochen, 486 davon vollstreckt. Über die Bestrafung hochrangiger Funktionäre hinaus standen die Siegermächte vor dem Problem, wie sie mit den vielen Millionen Deutschen verfahren sollten, die als einfache Mitglieder der NSDAP oder verschiedenen ihr zugeordneten Organisationen wie der SA, den Jugendorganisationen, den Frauen- oder Berufsverbänden angehört oder in anderer Funktion mit dem Regime sympathisiert, es unterstützt und funktionsfähig gemacht hatten. V.a. Franzosen und Briten, aber auch die Amerikaner beschränkten sich zunächst darauf, Führungspositionen in Wirtschaft und Gesellschaft von NS-Funktionären zu säubern und besonders stark Belastete aus ihren Stellungen zu vertreiben. Nicht zuletzt unter dem Druck der amerikanischen Öffentlichkeit, eine gründlichere Umerziehung der Deutschen einzuleiten, initiierte Clay in seiner Besatzungszone Anfang 1946 zusätzlich ein umfassendes Entnazifizierungsprogramm, das darauf zielte, die deutsche Ge-

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sellschaft insgesamt von nationalsozialistischem Gedankengut zu befreien. Jeder Deutsche über 18 Jahren sollte einen 133 Punkte umfassenden Fragebogen ausfüllen, in dem er über seinen Lebenslauf und über seine Mitgliedschaft in NS-Organisationen Auskunft zu geben hatte. Gemäß dieser Angaben wurden die Befragten in verschiedene Kategorien eingeteilt: Hauptschuldige, Belastete, Minderbelastete, Mitläufer und Entlastete. Man richtete Spruchkammern ein, in denen unbelastete Deutsche darüber zu entscheiden hatten, was mit ihren belasteten Landsleuten geschehen sollte. Die Sanktionen reichten von Geldstrafen über die Einziehung des Vermögens und die Beschränkung der Arbeitsmöglichkeiten bis zur Einweisung in Arbeitslager. Auf amerikanischen Druck hin schlossen sich die Briten dem Entnazifizierungsprogramm an, das sie freilich weniger rigoros handhabten. Die alliierte Entnazifizierungspolitik zwang überzeugte Nationalsozialisten, sich in den ersten Jahren nach Kriegsende in der Öffentlichkeit zurückzuhalten. Dies gab den demokratischen Kräften beim Aufbau von Parteien, Länderregierungen, Presse und Rundfunk einen Startvorteil, den sie in der Weimarer Republik nicht genossen hatten.

b) Amnestierung und Integration ehemaliger NS-Anhänger In der westdeutschen Gesellschaft stieß die Politik der Siegermächte auf beinahe einhellige Ablehnung. Hatte man den Unmut über die Entnazifizierung anfangs nur halblaut, hinter vorgehaltener Hand geäußert, so wurde die Kritik schon wenige Jahre nach Kriegsende lauter und dominierte seit etwa 1948 die öffentlichen Diskussionen. Dabei spielten zum Teil berechtigte Einwände gegen das aufwendige bürokratische Verfahren der alliierten Entnazifizierungspolitik eine Rolle, das nicht immer gerechte Ergebnisse hervorzubringen schien. So hatte man, weil das einfacher war und schneller ging, gering Belastete oft zuerst abgeurteilt, während die schweren Fälle auf die lange Bank geschoben und häufig gar nicht verhandelt wurden. Hinzu kam, dass viele Mitläufer ihre Posten verloren und erhebliche Lücken im Verwaltungsapparat und im Bildungswesen hinterließen, die kaum zu füllen waren. Ehemalige Nationalsozialisten, die zwischen 1945 und 1949 ihre Posten verloren hatten und sich nun gern als „Entnazifizierungsopfer“ bezeichneten, begannen sich zu organisieren und zum Teil ausgesprochen effiziente pressure groups zu bilden. Insbesondere in den kleinen Parteien der bürgerlichen Rechten wie der DP und der FDP, später auch im BHE, fanden sie Fürsprecher. Mindestens ebenso wichtig war, dass nicht nur beim Kreis der tatsächlich Betroffenen, sondern weit darüber hinaus das Bedürfnis wuchs, sich von der „schlimmen Zeit“ alliierter Fremdherrschaft abzugrenzen und einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen. Man sehnte sich nach Ruhe und einem Neuanfang, wollte nicht mehr mit unerfreulichen Erinnerungen an eine schreckliche Vergangenheit behelligt werden. Aufmerksame Zeitgenossen wie der Politikwissenschaftler und Publizist Dolf Sternberger (1907–89) haben dieses Phänomen als „vitale Vergesslichkeit“ bezeichnet. Historiker haben es später mit dem „Nachwirken der volksgemeinschaftlichen Bindung“ (Norbert Frei) erklärt. Fest steht, dass man in den Jahren von 1949 bis etwa 1955 gegenüber ehemaligen Funktionsträgern des NS-Staates eine Politik verfolgte, die den Intentionen und Methoden der alliierten Denazifizierung entgegengesetzt war. Diese Politik wurde nicht nur von der CDU und ihren rechtsbürgerlichen Koalitionspartnern betrieben, sondern auch von den oppositionellen Sozialdemokra-

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ten mitgetragen. Ihre Hauptmerkmale waren großzügige Amnestierung und die Integration vormaliger Anhänger des „Dritten Reiches“ in die westdeutsche Gesellschaft. Schon in seiner ersten Regierungserklärung vom 20. September 1949 kündigte Adenauer an: „Der Krieg und auch die Wirren der Nachkriegszeit haben eine so harte Prüfung für viele gebracht und solche Versuchungen, dass man für manche Verfehlungen und Vergehen Verständnis aufbringen muss.“ Kurz darauf verabschiedete der Bundestag als eine seiner ersten Maßnahmen überhaupt – über alle Parteigrenzen hinweg, aber gegen erhebliche Bedenken der Alliierten Hohen Kommission – das „Straffreiheitsgesetz“. Er amnestierte damit alle vor dem 15. September 1949 begangenen Straftaten, die mit bis zu sechs Monaten Gefängnis bzw. bis zu einem Jahr auf Bewährung geahndet worden wären. Die meisten der 800000 Personen, die von dem Gesetz profitierten, hatten sich während der Besatzungszeit Schwarzmarktdelikte zuschulden kommen lassen. Es waren aber auch viele, möglicherweise Zehntausende, darunter, die zuvor wegen während der NS-Zeit begangener Straftaten mit Verfolgung hatten rechnen müssen. Manche hatten eine falsche Identität angenommen, um sich den Alliierten zu entziehen. Im Dezember 1950 verabschiedete der Bundestag Empfehlungen zum Abschluss der Entnazifizierung, die sich an die seit 1949 mit der Fortführung der Denazifizierung betrauten Bundesländer richteten. In diesen Empfehlungen wurde zwar gefordert, „strafrechtlich schuldig gewordene nationalsozialistische Aktivisten“ wirksam zur Rechenschaft zu ziehen. Gleichzeitig fand mit ihnen jedoch die von den Alliierten begonnene Entnazifizierungspolitik de facto ein Ende. Im April 1951 folgte das – ebenfalls einstimmig verabschiedete – „131er“-Gesetz. Stichwort

„131er“-Gesetz Das „131er“-Gesetz verdankte seinen Namen dem Grundgesetzartikel 131, der eine Regelung der Rechtsverhältnisse ehemaliger Berufsbeamter und Soldaten „durch Bundesgesetz“ forderte. Betroffen waren mehr als 300000 Beamte und Soldaten, die von den Siegermächten nach 1945 aus ihren Stellungen entfernt worden waren. Eine beträchtliche Minderheit von ihnen war durch Verstrickung mit NSVerbrechen belastet. Das Gesetz vom April 1951 sorgte dafür, dass an die Stelle der von den Alliierten zwischenzeitlich vorgesehenen Abschaffung des Berufsbeamtentums die beinahe vollständige Wiedereingliederung der „131er“ und die Fortführung der deutschen Tradition des Berufsbeamtentums trat. Auf der einen Seite wurde dadurch der Wiederaufbau eines effizienten, leistungsfähigen Verwaltungsapparates erleichtert, die Stabilität des neuen Staatswesens vergrößert und letztlich sogar eine loyale, dem demokratischen Rechtsstaat verpflichtete Beamtenschaft geschaffen. Auf der anderen Seite brachte die Wiedereingliederung vieler Zehntausender ehemaliger Nationalsozialisten in den öffentlichen Dienst der Bundesrepublik (darunter eine Vielzahl von Gestapoleuten) zweifelsohne einen moralischen Makel mit sich und eine erhebliche Behinderung aller späteren Versuche, nationalsozialistisches Unrecht aufzuarbeiten und zu sühnen.

Das Zweite Straffreiheitsgesetz vom Sommer 1954 ging insoweit über die Bundesamnestie von 1949 hinaus, als auch eine Strafbefreiung für „Taten während des Zusammenbruchs“ ausgesprochen wurde. Gemeint waren damit all jene, die zwischen dem 1. Oktober 1944 und dem 31. Juli 1945 vermeintlich in Ausübung ihrer Amtspflicht oder aufgrund eines Befehls schweres Unrecht begangen und bei Anklage mit Strafen bis zu drei Jahren zu rechnen hatten. Parallel zu diesen legislativen Maßnahmen setzte sich nicht nur die Bundesregierung, sondern die gesamte

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westdeutsche Politik, die evangelische und katholische Kirche, große Teile der Medien sowie der militärischen, ökonomischen und bürokratischen Eliten für die Begnadigung deutscher Kriegsund NS-Verbrecher ein, die in Gefängnissen der Siegermächte und anderswo inhaftiert waren. Nicht immer handelte es sich um Wehrmachtssoldaten, betroffen waren auch SS-Leute, nationalsozialistische Parteifunktionäre, KZ-Personal, Kommandeure von Einsatzgruppen und Rüstungsindustrielle.V.a. gegenüber den USA hatte die Regierung Erfolg. 1951 befanden sich nur noch 1800 Personen bei den Westmächten in Haft. Selbst für diese erwirkte Adenauer bei der Aushandlung der Westverträge gegen erhebliche Widerstände seiner Verhandlungspartner eine Begnadigungsregelung, die ihre Freilassung bis spätestens 1958 erwirkte. Es gibt keine Hinweise darauf, dass Adenauer sich aufgrund persönlicher Neigungen um die Integration ehemaliger Nazis und um die Freilassung deutscher Kriegsverbrecher bemühte. Den Nationalsozialismus hatte er stets abgelehnt, Militärs stand er skeptisch gegenüber. Entscheidend war für ihn zweierlei: Erstens war er, um seine dezidiert nicht-nationale Außenpolitik der Westintegration durchzusetzen, auf die Zusammenarbeit mit nationalen Parteien wie der FDP und der DP, später auch dem BHE, angewiesen. Wenn diese Kooperation nur um den Preis der Rehabilitierung vormaliger NS-Anhänger zu haben war, dann musste er in Adenauers Augen gezahlt werden. Zweitens darf man nicht übersehen, dass die Integrationspolitik der Regierung in der Bevölkerung populär war, ja einen Grundkonsens der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft widerspiegelte. Unter wahltaktischen Gesichtspunkten konnte es sich keine Volkspartei – weder die Union noch die SPD – leisten, den virulenten Nationalismus zu ignorieren, der in der Forderung nach einem Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit, nach Integration ehemaliger Nationalsozialisten und Pardonierung ihrer Verbrechen zum Ausdruck kam.

c) Die politische Distanzierung vom NS-Regime Es wäre ein Fehler, würde man in der Politik von Amnestie und Wiedereingliederung ehemaliger Nazis eine Rehabilitierung des NS-Regimes in der Bundesrepublik erblicken. Die „Vergangenheitspolitik“ (Norbert Frei) in der ersten Hälfte der Adenauer-Ära hatte vielmehr eine wichtige Kehrseite: die politische Distanzierung vom Nationalsozialismus. Die politische Rhetorik und das demokratische Selbstverständnis der Bonner Republik wurden von einer entschiedenen Abgrenzung gegenüber der NS-Diktatur geprägt. Vormalige Anhänger der Hitler-Herrschaft konnten nach 1949 zwar zumeist wieder in ihre gesellschaftlichen und beruflichen Stellungen zurückkehren. Sie genossen dieselben staatsbürgerlichen Rechte wie alle anderen Bundesbürger. Aber das öffentliche Bekenntnis zu Nationalsozialismus und Antisemitismus war tabuisiert. Verstöße wurden geahndet. Deutlich wurde dies am Schicksal der neo-nazistischen Sozialistischen Reichspartei.

Stichwort

Sozialistische Reichspartei (SRP) In der SRP, die sich im Herbst 1949 gebildet hatte, gaben ehemalige NSDAP-Funktionäre den Ton an. Führungsgestalt war Otto-Ernst Remer (1912–97), Kommandeur des Berliner Wachbataillons, das bei

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der Niederschlagung des Umsturzversuchs am 20. Juli 1944 eine Rolle gespielt hatte. Schwerpunkt der SRP-Aktivitäten waren wirtschafts- und strukturschwache Regionen Norddeutschlands, wo sich der ökonomische Aufschwung spät bemerkbar machte. In Niedersachsen zog die Partei im Mai 1951 mit 11% der Stimmen und 16 Mandaten in den Landtag ein. Fünf Monate später gelang ihr in Bremen mit 7,7% der Stimmen und 8 Mandaten der Sprung ins Stadtparlament. Auf dem Höhepunkt ihrer Erfolge hatte die SRP 40 000 Mitglieder, immerhin halb so viele wie die FDP.

Die Bundesregierung reagierte besorgt auf die Rekrutierungserfolge der SRP – gerade mit Blick auf das Ausland, wo man vielfach ein Wiederaufleben des Rechtsradikalismus in Deutschland befürchtete und die Entwicklungen argwöhnisch betrachtete. Schon im Mai 1950 erwog Innenminister Heinemann ein Versammlungsverbot. Im September beschloss das Kabinett die Entfernung aller Anhänger rechtsradikaler Organisationen aus dem öffentlichen Dienst. Nach den Wahlerfolgen der SRP in Niedersachsen und Bremen und der anti-israelischen Hetzrede eines rechtsradikalen Abgeordneten im Bundestag entschloss sich die Regierung im Herbst 1951 zu härterem Durchgreifen. Sie rief das gerade erst ins Leben getretene Verfassungsgericht an und beantragte das Verbot der SRP. Gleichzeitig stellte sie auch einen Bundesverbotsantrag gegen die KPD. Während sich der Prozess gegen die KPD noch bis 1956 hinzog, fällte das Gericht im Fall der SRP schon im Oktober 1952 sein Urteil. Die Partei wurde verboten, nachdem sie sich, das Urteil vorhersehend, einen Monat zuvor bereits selbst aufgelöst hatte. Ähnlich erfolglos verliefen Versuche versprengter Nationalsozialisten, die FDP zu unterwandern und zum Sammelbecken nationalistischer Gegner der neuen Ordnung auszubauen. Zwar liebäugelten die dezidiert rechten Landesverbände Nordrhein-Westfalens, Hessens und Niedersachsens mit der Idee, die FDP in eine große Rechtspartei zu verwandeln. Der nordrhein-westfälische Landesvorsitzende Friedrich Middelhauve (1896–1966) – selbst kein Alt-Nazi – sprach von der Bildung eines „dritten Blocks“ und einer „nationalen Sammlungsbewegung“ aller Kräfte rechts von der Union. Doch scheiterten er und seine Gesinnungsgenossen schon in der Phase der innerparteilichen Willensbildung am Widerstand der moderateren Landesverbände in Süddeutschland, Berlin und Hamburg. Die britische Besatzungsmacht verhaftete im Januar 1953 wichtige Rädelsführer nationalsozialistischer Unterwanderungsversuche um den ehemaligen Staatssekretär im Propagandaministerium, Werner Naumann (1909–82). Auch wenn die deutsche Justiz, die von den Briten mit den weiteren Ermittlungen betraut wurde, keinen großen Eifer an den Tag legte und die Verfahren bald einstellen ließ, waren die nationalistischen Kräfte in der FDP in der entscheidenden Vorwahlkampfphase im Frühjahr 1953 empfindlich geschwächt. Die Freien Demokraten mussten bei der Bundestagswahl vom September 1953 ebenso Verluste hinnehmen wie die DP. Die Deutsche Reichspartei – nach dem Verbot der SRP Hoffnungsträgerin der Anhänger des NS-Regimes – kam auf ganze 300000 Stimmen (1,1%). Der Wahlsieg der Union machte deutlich, dass Adenauers Konzept der Integration ehemaliger Nationalsozialisten aufgegangen war. Anders als zu Weimarer Zeiten bildete sich auf der politischen Rechten keine nationalistische, undemokratische Partei, die Unzufriedene sammelte und die neue Ordnung schmähte. Ein großer Teil früherer NSDAP-Anhänger sah seine Interessen 1953 von den Christdemokraten gut vertreten. Dolf Sternberger hat in diesem Zusammenhang von einem „Wahlwunder“ gesprochen, das zu dem „Wirtschaftswunder“ hinzugekommen

Literatur

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sei. Dieselben Deutschen, die noch wenige Jahre zuvor in ihrer Mehrheit dem Diktator Hitler zu Füssen gelegen hatten oder ihm zumindest ohne Murren gefolgt waren, stimmten auf einmal massenweise für demokratische Parteien. Selbst der Bundeskanzler, der sich Zeit seines Lebens eine gewisse Skepsis gegenüber der demokratischen Wandlung seiner Landsleute bewahrte, jubelte. Es freue ihn besonders, schrieb er an Freunde in den USA, „dass der Wegfall der rechtsund linksradikalen Parteien dem Auslande doch zeigt, dass Deutschland politisch nicht mehr gefährdet ist“. Auf einen Blick

Mit ihrer Vorliebe für liberale Ordnungspolitik verhielten sich die westdeutschen Wirtschaftslenker um Ludwig Erhard antizyklisch. Nach anfänglichen Problemen profitierten sie von der Tatsache, dass ihre exportorientierte Politik auf ein weltwirtschaftliches Umfeld traf, das nicht zuletzt wegen des Korea-Krieges von 1950 bis 1953 zwar ebenfalls von kräftigem Wachstum geprägt war, aber anderen Spielregeln gehorchte. Hätten alle Länder auf Exportwirtschaft gesetzt, wäre eine weltweite Rezession die Folge gewesen. Die andernorts vorherrschende Kombination von steigenden Militärausgaben, Nachfragestimulierung und Vollbeschäftigungspolitik minimierte jedoch die Gefahr eines Konjunktureinbruchs und ermöglichte es der Bundesrepublik, an der ausgabenfreudigen Politik anderer Staaten gleichsam mitzuverdienen. Dabei half die konstruktive Haltung der westdeutschen Gewerkschaften, die Lohnzurückhaltung übten und zur Kooperation mit den Arbeitgebern bereit waren. Die Integration der rund acht Millionen Vertriebenen aus den ehemaligen Ostgebieten gehörte zu den größten Leistungen der frühen Bundesrepublik, gerade in den ländlichen Gebieten Bayerns, Niedersachsens und Schleswig-Holsteins, wo besonders viele Flüchtlinge angesiedelt wurden. Ihre Eingliederung verlief insgesamt erfolgreich – teils wegen gezielter Wohnungsbauprogramme und politischer Solidarmaßnahmen wie dem Lastenausgleichsgesetz, vor allem aber aufgrund des anhaltenden Wirtschaftsaufschwungs; die Akzeptanz durch die alteingesessene Bevölkerung geschah aber beileibe nicht immer rasch oder problemlos – oft galten die Neuhinzugezogenen und ihre Nachkommen noch Jahre und Jahrzehnte später als „Zugereiste“. Dennoch war der Wahlerfolg der CDU/CSU 1953 ein Hinweis darauf, dass es den Westdeutschen zunehmend gut ging und sie sich in den neuen Verhältnissen einzurichten begannen.

Literatur Frei, N.: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, 3. Aufl. München 2012. Standardwerk zum politischen Umgang mit der NS-Vergangenheit. Goschler, C.: Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945, Göttingen 2005. Vorzügliche Gesamtdarstellung der deutschen „Wiedergutmachungspolitik“. Kossert, A.: Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, Berlin 2008. Gut lesbare Darstellung der Geschichte der deutschen Vertriebenen, die auch die Grenzen und Schwierigkeiten der Integration und die Erinnerung daran betont. Niethammer, L.: Die Mitläuferfabrik: die Entnazifizierung am Beispiel Bayerns, Berlin, Bonn 1982. Pionierstudie zum Thema Entnazifizierung. Plumpe, W./Scholtyseck, J. (Hrsg.): Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft. Vom Kaiserreich bis zur Weimarer Republik, Stuttgart 2012. Darin v.a. der Aufsatz von J. Scholtyseck über die Soziale Marktwirtschaft als „radikale Ordnungsinnovation“. Vollnhals, C.: Entnazifizierung. Politische Säuberung und Rehabilitierung in den vier Besatzungszonen 1945–1949. München 1991. Sehr guter Überblick über die Entnazifizierung in allen vier Besatzungszonen.

IV. Gesellschaft und Kultur 1949–1963 Überblick

D

ie westdeutsche Gesellschaft blieb anfangs von den Folgen des Krieges gezeichnet. Zu den insgesamt acht Millionen Vertriebenen kamen Hunderttausende von Kriegsgefangenen. Wegen der überproportionalen Verluste unter den jungen Männern gab es viele Frauen, die sich und ihre Kinder allein durchbringen mussten. Ab dem zweiten Drittel der 1950er Jahre erlebte die westdeutsche Gesellschaft dann einen Prosperitätsschub. Eine Umverteilung von Reichtum fand nicht statt, es gab aber eine spürbare Anhebung des Lebensstandards aller Schichten durch den ökonomischen Aufschwung. In

den Wissenschaften und Künsten wirkten ältere Traditionen fort oder wurden nach dem Nationalsozialismus wiederaufgenommen. Jüngere Akademiker oder Künstler, die selbst Soldaten gewesen waren und ihr Schicksal in Krieg und Gefangenschaft wissenschaftlich, literarisch oder filmisch zu verarbeiten suchten, konnten sich gegen die Dominanz der Alten nur langsam durchsetzen. Seit Ende der 1950er Jahre wurde die justizielle Aufarbeitung von NS-Verbrechen von deutschen Richtern und Staatsanwälten aufgenommen, nachdem sie davor fast völlig zum Erliegen gekommen war.

10.6.1950

Gründung der Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten Deutschlands (ARD)

26.–30.6.1950

„Kongress für kulturelle Freiheit“ in Berlin

16.11.1951

Verbotsantrag der Bundesregierung gegen SRP und KPD

24.6.1952

Erste Ausgabe der „Bild“-Zeitung

4.7.1954

Sieg der deutschen Nationalmannschaft über Ungarn (3:2), Gewinn der Fußballweltmeisterschaft

1.10.1954

Beginn des gemeinsamen Fernsehprogramms der ARD

29.1.1955

Verkündung des „Deutschen Manifests“ in der Frankfurter Paulskirche

12.8.1955

Tod Thomas Manns

Oktober 1955

„Halbstarken“-Proteste in Hamburg

14.8.1956

Tod Bertolt Brechts

17.8.1956

Verbot der KPD durch das Bundesverfassungsgericht

1.10.1956

Beginn der Fünf-Tage/45-Stunden-Woche in der Metallindustrie

12.4.1957

„Göttinger Erklärung“ von 18 deutschen Wissenschaftlern, die den Verzicht auf eine Atombewaffnung der Bundeswehr fordern

1.4.1963

Sendebeginn des Zweites Deutsches Fernsehens (ZDF)

1. Eine Gesellschaft im Umbruch

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1. Eine Gesellschaft im Umbruch a) Soziale Verwerfungen Die westdeutsche Gesellschaft wurde zunächst maßgeblich von den Folgen des Krieges geprägt. Zu den Millionen Vertriebenen kamen Hunderttausende von häufig traumatisierten, innerlich gebrochenen, halb verhungerten Kriegsgefangenen, die in ihre Heimat zurückkehrten, viele von ihnen versehrt oder verstümmelt. Insgesamt lebten in der Bundesrepublik damals 2 Mio. Kriegsbeschädigte aus beiden Weltkriegen. Rund 1 Mio. Wehrmachtsangehörige blieben zunächst vermisst; im Radio wurden noch jahrelang mehrmals täglich Suchmeldungen des Deutschen Roten Kreuzes ausgestrahlt. In der letzten Kriegsphase waren mehrere Millionen Mütter mit ihren Kindern aus den Städten aufs Land verschickt worden, um sie vor Luftangriffen in Sicherheit zu bringen. Auch sie fanden sich, so sie überlebt hatten, erst allmählich wieder an ihren früheren Wohnstätten ein, da sie auf Zuzugsgenehmigungen in ihre schwer zerstörten und übervölkerten Heimatorte oft lange warten mussten. Häufig erwartete die Zurückkehrenden kein glückliches Wiedersehen im Kreis der Familie. Vielmehr bestimmten Hamsterfahrten und die Verpflegung aus amerikanischen CARE-Paketen das Alltagsleben vieler Rumpffamilien, denen oft der Vater, manchmal auch die Mutter fehlte. Die traditionelle aus zwei Eltern und mehreren Kindern bestehende Kleinfamilie blieb für zahlreiche Deutsche nach 1945 eine Erinnerung an vergangene Zeiten bzw. eine vage Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Allerdings standen die Aussichten für Kriegerwitwen oder andere Alleinstehende, einen neuen Ehepartner zu finden, nicht gut: 1950 kamen auf hundert Frauen zwischen 25 und 45 Jahren im Schnitt nur 77 Männer. Wer einen neuen Partner fand, lebte mit ihm oft in einer sog. „Onkel-Ehe“, bei der man einander nicht förmlich heiratete, damit die schmale Hinterbliebenenrente nicht verloren ging. All dies hinterließ in der Gesellschaft der frühen Bundesrepublik ebenso tiefe Spuren wie die Folgen der Gebietsverluste und der enormen Wanderungs- und Fluchtbewegungen, die in den vierziger Jahren ganz Mittel- und Osteuropa erfassten. In der Konsequenz war die Bundesrepublik nicht nur geographisch gesehen ‚westlicher‘ als das Reich, sondern zugleich auch katholischer, städtischer und stärker industriell geprägt. Wegen der Gebietsverluste im Osten betrug der Anteil der Katholiken an der Bevölkerung der Bundesrepublik rund 44%, gegenüber gut 50% Protestanten. Im Deutschen Reich war das Verhältnis 33 zu 62% gewesen. Damit war erstmals die Minderheitensituation der westdeutschen Katholiken weitgehend überwunden, die fortan nicht nur zu einer gleichberechtigten, sondern in mancher Hinsicht zur prägenden Konfession der Bonner Republik avancierten. Stichwort

Soziale Revolution Immer wieder ist unter Historikern und Sozialwissenschaftlern die Frage diskutiert worden, ob in Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine soziale Revolution stattgefunden habe. Während anfangs v.a. die Umschichtungen der unmittelbaren Nachkriegszeit in den Vordergrund gerückt

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IV.

Gesellschaft und Kultur 1949–1963

wurden, lenkten in den sechziger und dann wieder in den achtziger Jahren Forscher ihr Augenmerk auf die sozial-revolutionierenden Auswirkungen des Nationalsozialismus. Der Soziologe Ralf Dahrendorf behauptete, das NS-Regime habe bereits vor 1945 einen tief greifenden gesellschaftlichen Wandel ausgelöst, indem es – wenn auch unbeabsichtigt – traditionelle Sozialstrukturen und Milieus zerbrochen und eine rückständige deutsche Gesellschaft brutal ins 20. Jahrhundert gezerrt habe. Wenig später unterstrich David Schoenbaum in seiner Sozialgeschichte des „Dritten Reiches“, der Nationalsozialismus habe zum Zusammenbruch der traditionellen Klassenstruktur in Deutschland geführt und das Land in „eine klassenlose Wirklichkeit“ vorangetrieben. Ende der achtziger Jahre wurden Dahrendorfs und Schoenbaums Thesen wieder aufgegriffen, als Sozialhistoriker wie Detlev Peukert die relative Modernität der deutschen Gesellschaft im Vergleich zu anderen westlichen Industriegesellschaften hervorhoben. Wenig später behauptete Rainer Zitelmann in einer umstrittenen Studie, der Modernisierungsschub durch den Nationalsozialismus sei nicht unbeabsichtigt, sondern vom Erneuerer und „Revolutionär“ Hitler intendiert gewesen. Eine groß angelegte Regionalstudie über Bayern kam etwa zeitgleich zu dem Ergebnis, die soziale Revolutionierung habe erst in der deutschen Zusammenbruchsgesellschaft zwischen Stalingrad 1943 und der Währungsreform von 1948 stattgefunden. Im Gegensatz zu diesen Thesen tendiert die neuere Forschung dazu, das Tempo des sozialen Wandels in Deutschland während der dreißiger, vierziger und frühen fünfziger Jahre für vergleichsweise langsam zu halten. Man betont gesellschaftliche Kontinuitäten, die Langlebigkeit sozialer Formierungen und die Beharrungskraft traditioneller, v.a. ökonomischer Eliten.

In der Landwirtschaft endete das traditionelle Spannungsverhältnis zwischen ostdeutscher Gutswirtschaft auf der einen und süd- bzw. westdeutscher Familienwirtschaft auf der anderen Seite. Damit war in der Bundesrepublik jenem Agrarkonservatismus der großen ostelbischen Gutsbesitzer die Grundlage entzogen, der das Kaiserreich geprägt und der sich noch in der Weimarer Republik politisch destabilisierend ausgewirkt hatte. Hinzu kam, dass die Bedeutung der Landwirtschaft im Verhältnis zur Industrie und zu den Dienstleistungen in der Folgezeit weiter abnahm – nicht nur in Deutschland, sondern in allen kapitalistischen Industrienationen. Im Verlauf des Jahrzehnts zwischen 1950 und 1960 schrumpfte der Anteil der im Agrarbereich Beschäftigten in Westdeutschland von einem Viertel auf ein Achtel. Der Beitrag der Land- und Forstwirtschaft am Sozialprodukt ging von 9,7 auf 5,7% zurück. Zwei parallele Wanderungsbewegungen lassen sich in dieser Zeit ausmachen: Zum einen zog es viele Menschen in die Städte, insbesondere in die Großstädte, die zwischen 1950 und 1956 eine jährliche Zuwachsrate von 2,4% zu verzeichnen hatten. Zum anderen übersiedelten zahlreiche Städter ins Umland, wo sie billigere Wohnungen oder Bauplätze fanden. Berufspendler, die im Dorf wohnten, aber in der nächsten Stadt oder in einem nahe gelegenen Industriebetrieb arbeiteten, traten an die Stelle von Bauern und Landarbeitern. Das veränderte nicht nur das Berufsleben vieler Menschen, sondern auch die soziale Struktur und Funktion der Dörfer, in denen sie lebten. Mit der stärkeren Ausrichtung der Dorfbevölkerung auf die Städte und dem Ausgreifen der Städte aufs Land verlor der Gegensatz zwischen Stadt und Land an Bedeutung.

b) Eine „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“? Parallel zu diesen Umschichtungen erlebte die westdeutsche Gesellschaft zwischen 1949 und 1963 einen Prosperitätsschub von bis dahin unbekannten Ausmaßen. Als Folge des ökonomischen

1. Eine Gesellschaft im Umbruch

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Aufschwungs, v.a. des Exportbooms seit dem Korea-Krieg, verdoppelten sich zwischen 1950 und 1963 die Nettoreallöhne der Bundesbürger. Dafür arbeitete man hart. Die durchschnittliche Arbeitswoche in der Industrie dauerte sechs Tage und hatte knapp fünfzig Stunden, oft auch mehr, wenn man die Überstunden mitrechnete. Das änderte sich erst Mitte der fünfziger Jahre mit der Einführung der Fünf-Tage-Woche und des „langen Wochenendes“. Anfangs musste für diese Änderung an den übrigen Tagen länger gearbeitet werden. Aber bereits gegen Ende des Jahrzehnts rückte das Ziel der 45-Stunden-Woche für die meisten Branchen in greifbare Nähe. Im Juli 1960 vereinbarte die IG Metall mit dem Arbeitgeberverband „Gesamtmetall“ im sog. Bad Homburger Abkommen sogar die stufenweise Einführung der 40-Stunden-Woche. Anfang 1963 legte das Bundesurlaubsgesetz einen (bezahlten) Mindesturlaub von 18 Tagen fest. Der Weg einvernehmlich zwischen Arbeitgebern und -nehmern ausgehandelter Reformen zahlte sich aus. Ähnliches galt für die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen. Nachdem die Rate nach der Währungsreform zunächst bedrohlich angeschwollen war, nahm sie seit 1951 ab. Gleichzeitig wuchs die Zahl der Erwerbstätigen von 20,4 Mio. 1950 auf 26,7 Mio. zehn Jahre später. Ein Zustand dauernder „Vollbeschäftigung“ mit Arbeitslosenquoten unter 1% schien in den Bereich des Möglichen zu rücken. Die Erfahrung kontinuierlichen Wirtschaftswachstums, ständig steigender Einkommen, sicherer Jobs und zunehmenden Wohlstands als Lohn harter Arbeit prägte eine ganze Generation. Ein großer Teil des erarbeiteten Wohlstands wurde nicht direkt ausgegeben, sondern beiseitegelegt. Die Gesellschaft der frühen Bundesrepublik war noch nicht die Konsumgesellschaft späterer Jahrzehnte, sondern von eisernem Sparwillen geprägt. Schon nach wenigen Jahren war die Mehrzahl der westdeutschen Haushalte praktisch schuldenfrei. Die Ersparnisse wuchsen in den fünfziger Jahren viermal so schnell wie die Einkommen, die Sparquote stieg von 3% 1950 auf 9% im Jahr 1960. Wenn man Geld ausgab, dann für praktische Dinge, etwa für Haushaltsgeräte wie Kühlschränke, Staubsauger oder Waschmaschinen. Viele sparten auch für „die eigenen vier Wände“ (das von der Regierung geförderte Bausparen war extrem beliebt), für ein Auto oder ein Motorrad. 1953 hatten die Demoskopen ermittelt, dass nur 9% aller westdeutschen Haushalte einen Kühlschrank und 26% einen Staubsauger besaßen. Knapp zehn Jahre später war der Anteil auf über 50% bzw. mehr als zwei Drittel angestiegen. Der Soziologe Helmut Schelsky (1912–84) interpretierte die gesellschaftlichen Veränderungen in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg 1953 als Übergang von einer Klassengesellschaft zu einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“, die „ebenso wenig proletarisch wie bürgerlich“, sondern „kleinbürgerlich-mittelständisch“ sei. Zu seiner These angeregt wurde Schelsky nicht zuletzt durch die sozial egalisierenden Dimensionen von Krieg und Zusammenbruch, denen sich Arme wie Reiche gleichermaßen hilflos ausgesetzt sahen. Hatte nicht der Adel nach 1945 seine dominierende Stellung in Politik und Gesellschaft eingebüßt? Hatten nicht weite Teile des Bürgertums ihr Vermögen verloren? Symbolisierte nicht das einheitliche „Kopfgeld“ von 40 DM, das jeder bei der Währungsreform erhalten hatte, einen Schlussstrich unter alle Statusunterschiede und ermöglichte Chancengleichheit beim Start in die neue Zeit? Hinzu kam die Erfahrung überraschender Prosperität der Wirtschaftswunderjahre, an der wiederum alle Schichten ihren Anteil hatten und die breiten Bevölkerungskreisen erstmals die Anschaffung von Konsumgütern ermöglichte. Außerdem ließ sich feststellen, dass die Zahl der Angestellten, der Facharbeiter, des neuen Mittelstandes überhaupt, im Verlauf der fünfziger Jahre wuchs, während man gleichzeitig, spätestens seit dem

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IV.

Gesellschaft und Kultur 1949–1963

letzten Drittel des Jahrzehnts, den „Abschied von der Proletarität“ (Josef Mooser) konstatieren konnte. Dennoch hat Schelskys These Kritik erfahren. Mancher verstand sie als ideologisch begründete Rechtfertigung des Kapitalismus im Zeitalter des Kalten Krieges. Eine Angleichung von reich und arm in der Bundesrepublik ließ sich empirisch nicht verifizieren. Zahlreiche Studien belegen, dass von einer „Nivellierung“ der Gesellschaft allenfalls im Hinblick auf das subjektive Empfinden, aber nicht im Bezug auf die tatsächliche Einkommens- und Vermögensverteilung oder mit Blick auf die Zusammensetzung der politischen und wirtschaftlichen Eliten gesprochen werden konnte. Das Einkommensverhältnis zwischen abhängig Beschäftigten und Selbstständigen (etwa 1:3) blieb ähnlich unverändert wie die Relation von Arbeiterlöhnen und Angestelltengehältern. Die gesellschaftlichen Führungsschichten rekrutierten sich weiterhin überproportional aus den bürgerlichen Schichten und – von wenigen SPD-Politikern und Gewerkschaftsführern abgesehen – kaum aus der Arbeiterschaft. Eine Umverteilung von Reichtum in nennenswertem Umfang fand in der Adenauer-Ära ebenso wenig statt wie ein breiter Elitenaustausch. Was es gab, war eine spürbare Anhebung des Lebensstandards aller Schichten aufgrund des wirtschaftlichen Aufschwungs, eine stärkere Durchlässigkeit sozialer Hierarchien für gesellschaftliche Aufsteiger und eine Erosion traditioneller Milieus, v.a. der Arbeiterschaft, aber auch der Landbevölkerung oder der Katholiken. Dies führte zu einer allmählichen Angleichung der Lebensgewohnheiten, des Freizeitverhaltens, ja selbst des Kleidungsstils breiter Bevölkerungskreise.

c) Motorisierung und Massenmedien Ein wichtiges Kennzeichen des rasanten Wandels der westdeutschen Gesellschaft in den fünfziger Jahren war der Grad ihrer Motorisierung. In den Anfangsjahren der Republik stellten Bus, Bahn und das Fahrrad die gebräuchlichsten Fortbewegungsmittel dar. Nur wer wirklich reich war oder über exzellente Verbindungen verfügte, konnte sich ein Auto leisten. Der größte Teil der damals zugelassenen Personenwagen stammte aus der Vorkriegszeit. Nur knapp ein Viertel der 1949 registrierten 355000 Autos waren Neuzulassungen. Im internationalen Vergleich lag die Bundesrepublik weit zurück: 1953 besaß jeder vierte US-Amerikaner ein Auto, in Großbritannien waren es fünf, in Frankreich vier und in Westdeutschland zwei von hundert Personen. Die Motorisierungswelle in der Bundesrepublik, die in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre einsetzte, begann mit dem Motorrad, das in Anschaffung und Unterhalt billiger war als ein Pkw und seinen wichtigsten Zweck – die Fahrt zum Arbeitsplatz – ebenso erfüllte. Erst 1957 überstieg die Zahl der neuzugelassenen Personenwagen erstmals diejenige der Neuzulassungen bei Krafträdern. Beliebt waren auch Kleinstwagen wie die Isetta oder das Goggomobil. Mit steigendem Wohlstand wurde ein eigenes Auto für immer mehr Menschen erschwinglich, zumal mit dem „Käfer“ ein „Volkswagen“ in die Massenproduktion ging, der bereits in den dreißiger Jahren von der NS-Propaganda angekündigt worden war, aber erst in den fünfziger Jahren verspätet und unter anderen Vorzeichen realisiert werden konnte. Insgesamt verachtfachte sich zwischen 1950 und 1960 der Pkw-Bestand in der Bundesrepublik, und das war erst der Anfang jenes „Autobooms“, der im Verlauf der sechziger Jahre voll einsetzte. Schon früh etablierte sich die Automobilproduktion jedoch als wichtige Triebkraft der westdeutschen Wirtschaft- und

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als Quelle kollektiven Stolzes, wenn eine Nation von Autobegeisterten bei den vielbeachteten Grand Prix-Rennen der fünfziger Jahre erleben konnte, wie die deutschen Wagen, wie die Mercedes-Silberpfeile, vordere Plätze belegten. Auf dem Gebiet der Massenmedien machte sich der gesellschaftliche Umbruch durch den Übergang vom Radio zum Fernsehzeitalter bemerkbar. Das Radio als „Leitmedium des Wiederaufbaus“ wurde seit Ende der fünfziger Jahre zunehmend vom rasch aufkommenden Fernsehen als führendes Medium „in der beginnenden postindustriellen Wohlstandsgesellschaft“ ersetzt (Axel Schildt). In der unmittelbaren Nachkriegszeit hingegen und auch noch in den Anfangsjahren der Bundesrepublik war das bereits in der Zwischenkriegszeit verbreitete und unter nationalsozialistischer Herrschaft durch den „Volksempfänger“ weiter popularisierte Radio unangefochten das Lieblingsmedium der Deutschen. Während Zeitungen und Zeitschriften unter der allgemeinen Papierknappheit litten, Druckereien erst wieder funktionstüchtig gemacht, Vertriebswege etabliert werden mussten, Kinos und Theater vielfach noch in Schutt und Asche lagen, hatten es die Rundfunkmacher leichter. Viele Radiogeräte hatten in den Luftschutzkellern den Krieg überdauert. Seit 1946 lief überdies die Produktion neuer Apparate schon auf Hochtouren, so dass bereits Anfang der fünfziger Jahre der bisherige Höchststand der Rundfunkdichte übertroffen wurde. Die Mischung aus Volksmusik, deutschem Schlager, Kriminalhörspielen und anderer leichter Unterhaltung, welche die Rundfunkprogramme auszeichnete, kam einer Stimmung im Lande entgegen, der – zumal nach Feierabend – weniger an politischer Information oder bildungsbürgerlich Erbaulichem gelegen war als an Zerstreuung und Entspannung. Stichwort

Zeitungen und Zeitschriften War die zweite Hälfte der vierziger Jahre eine Blütephase anspruchsvoller politisch-kultureller Periodika wie der „Frankfurter Hefte“, „Der Ruf“ oder „Die Gegenwart“ gewesen, so wurden die fünfziger Jahre zur „Goldgräberzeit der Yellow Press“ (Norbert Frei). Besonders erfolgreich waren Produkte aus dem Haus des Verlegers Axel Springer (1912–85) – etwa die Funk-und-Fernseh-Illustrierte „Hörzu“ („die größte illustrierte Zeitschrift auf dem europäischen Kontinent“, wie es in der Eigenwerbung hieß) und die „Bild“-Zeitung. Das überregionale Massenblatt, das im Sommer 1952 erstmals erschien, avancierte innerhalb kurzer Zeit zur größten deutschen Tageszeitung mit einer Auflage in Millionenhöhe.

Der Siegeszug des Fernsehens setzte in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre mit großer Geschwindigkeit und Gründlichkeit ein. Den Erfolg der deutschen Fußballnationalmannschaft im Weltmeisterschaftsfinale von 1954 – „das Wunder von Bern“ war neben dem Wirtschaftswunder das zweite große Mirakel der fünfziger Jahre und trug ebenso sehr zur Hebung des deutschen Selbstbewusstseins bei – hatten die meisten noch am Radio miterlebt, allenfalls vor einem Bildschirm in der nächsten Kneipe oder bei einem der wenigen Freunde, die damals schon einen Fernsehapparat besaßen. Aber bereits drei Jahre später wurde das einmillionste TV-Gerät angemeldet, und den Beginn der Fußball-Bundesliga im Herbst 1963 konnten schon ca. 25% aller Haushalte am eigenen Fernseher verfolgen. Die zunehmende Zeit, die Bundesbürger vor den Bildschirmen verbrachten, ging weniger auf Kosten von Lektüre, wie Kulturpessimisten argwöhnten, sondern eher zu Lasten des Radiokonsums und v.a. der Kinobesuche. Diese gingen nach einer Blütephase

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Gesellschaft und Kultur 1949–1963

in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre zwischen 1956 und 1970 von 800 Mio. auf jährlich 160 Mio. zurück. Der Durchbruch zur Kommunikationsgesellschaft und der Übergang ins Zeitalter der Großmedien blieb nicht ohne Rückwirkungen auf die Politik. Der geschickte Umgang mit Presse, Funk und Fernsehen wurde in dieser Zeit zu einer immer wichtigeren Fähigkeit von Berufspolitikern. Adenauers CDU erkannte das früh und spielte schon in ihren Wahlkämpfen in den fünfziger Jahren gekonnt auf der Klaviatur der Medien. Sie ließ den Kanzler nicht nur auf seinen Auslandsreisen als weltgewandten Staatslenker filmen, sondern sorgte auch dafür, dass Bilder des Privatmanns in Umlauf kamen: Adenauer als Rosenzüchter im Rhöndorfer Garten, beim Boule-Spiel im Urlaub oder im Kreise der Kinder und Enkel. Auch der neue Stern am Himmel der deutschen Sozialdemokratie, Willy Brandt (1913–92), verdankte seine Karriere unter anderem der Tatsache, dass er nicht nur fotogen und telegen war, sondern sich und seine politische Botschaft medial ungleich besser in Szene zu setzen verstand als die verstaubt und hölzern wirkenden Funktionäre der alten SPD-Garde.

2. Mentalitäten im Wandel a) Desinteresse an der Politik und Rückzug ins Private Der Rückzug ins Private, die Konzentration auf den eigenen engen Bereich und aufs eigene Fortkommen war ein grundlegendes Merkmal der westdeutschen Mentalität jener Jahre. In den ersten Jahren der Bundesrepublik richteten die Westdeutschen ihre Energie darauf, der Misere von Kriegs- und Nachkriegszeit zu entkommen. Weniger der Aufbau einer neuen, besseren Gesellschaft war ihr Ziel als vielmehr die Wiedererrichtung dessen, was man vor dem Krieg, in den Friedensjahren des „Dritten Reiches“, schon einmal erreicht zu haben glaubte. Nicht zufällig weisen die ästhetischen Vorlieben jener Jahre – von der Wohnungseinrichtung über das Möbeldesign bis zu Kinoplakaten und dem für heutige Ohren merkwürdig heldisch-klirrenden Sprachduktus der Rundfunk- und Fernsehsprecher – Ähnlichkeiten mit den dreißiger Jahren auf. Zugespitzt könnte man sagen, die Westdeutschen wollten nach der Währungsreform und der Gründung der Bundesrepublik die Zeit zurückdrehen und die dreißiger Jahre noch einmal durchleben – nur besser. Besser machen bedeutete für die meisten in diesem Zusammenhang, sich von der Politik fern zu halten – nicht nur von nationalsozialistischer, sondern von Politik überhaupt. Aufmerksamen Zeitgenossen fiel die rückwärtsgewandte, nostalgische und aufs Private gerichtete Grundstimmung jener frühen Jahre der Bundesrepublik schon damals auf. Das Wort „wieder“ sei zum Leitmotiv deutschen Lebens geworden, schrieb der Publizist Norbert Muhlen (1909–81) 1953 in der Zeitschrift „Der Monat“. Das Ziel der Westdeutschen sei die Wiederkunft des Zerstörten: „ein Ziel, geboren aus dem Heimweh nach der verlorenen guten alten Zeit und aus der Sehnsucht nach der verschwundenen Sicherheit“. Mit dem gleichen sprachlichen Instinkt, der den Neuaufbau lieber Wiederaufbau nenne, bezeichne man die gegenwärtige Staatsordnung lieber als Rechtsstaat statt als Demokratie, so Muhlen, da sie mehr Elemente des ersteren als der letzteren in sich trage. Während die Demokratie auf der Gemeinschaft der Bürger beruhe, die tätig am öf-

2. Mentalitäten im Wandel

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fentlichen Leben teilnähmen und sich für den Gang ihres öffentlichen Lebens verantwortlich fühlten, habe eine große Zahl von Deutschen ein anderes, älteres Verhältnis zu Staat und Politik. Sie betrachteten sich als „Unpolitische“ und seien es auch. „Es charakterisiert den Unpolitischen, dass er sozusagen den Totalitätsanspruch seines Privatlebens aufrechterhält. Er ist ein totaler Privatmann, er will seine absolute Ruhe haben, um am Tag seiner Arbeit, am Abend seinem Behagen zu leben und die öffentlichen Dinge den Politikern zu überlassen.“ Zu ähnlichen Schlussfolgerungen kam 1954 Fritz René Allemann in seinem Essay „Restauration im Treibhaus“, der ebenfalls im „Monat“ erschien. Allemann machte das spontane Drängen zurück in die „Normalität“ als Hauptmerkmal der westdeutschen Nachkriegsmentalität aus. „Ein Volk, das hungert, strebt zuallererst einmal danach, satt zu werden, nicht die Welt umzugestalten; eines, das friert, entwickelt mehr Interesse an Kohlen als an neuen Gemeinschaftsformen; eines, das kein Dach über dem Kopf hat, wendet seine Energien dem Bau von Häusern und nicht dem sozialer Systeme zu.“ Ebenso charakteristisch fand der Schweizer Publizist das deutsche „Ruhebedürfnis, die Sehnsucht, sich nach Jahrzehnten der erzwungenen Überspannung endlich entspannen zu können, der Drang zur Reprivatisierung des Daseins.“ Den nachhaltigsten Effekt des Nationalsozialismus erblickte auch er in der Abkehr breiter Schichten vom öffentlichen Leben: „eine fast aggressive Abneigung gegen das Politische, das zwölf Jahre (und was für Jahre!) überstrapaziert worden war“. Die Ergebnisse der zeitgeschichtlichen Forschung untermauern heute, was in Muhlens und Allemanns Texten auf essayistische Art anklang: Die ersten beiden Drittel der fünfziger Jahre sahen eine deutsche Gesellschaft, die sich so stark auf den familiären und häuslichen Bereich zurückzog wie in keinem anderen Zeitraum des 20. Jahrhunderts. Nur jeder vierte Bundesbürger traf, einer Umfrage von 1953 zufolge, einmal wöchentlich mit Freunden oder Bekannten zusammen. Die meisten verbrachten die Freizeit zu Hause. Im Zentrum des Lebens stand die Arbeit, weiter unten auf der Prioritätenliste rangierten die Pflege von Hobbys wie Lesen, Gartenarbeit, Radiohören oder Spazierengehen. Auf die Frage: „Glauben Sie, es wäre am schönsten zu leben, ohne arbeiten zu müssen?“, antworteten während der Adenauer-Ära konstant über 80% der Befragten mit „Nein“. Meinungsumfragen bestätigten eine beträchtliche Gleichgültigkeit gegenüber der Politik. Zwei Drittel der Bevölkerung zeigten sich desinteressiert, meist verbunden mit dem Hinweis, man habe genug mit privaten Sorgen zu tun. Hinzu kam schiere Unkenntnis. Ein großer Teil der Westdeutschen machte sich nicht die Mühe, die Grundelemente des neuen politischen Systems kennen zu lernen. Demoskopische Umfragen ermittelten einen hohen Grad von Uninformiertheit, sei es über die Grundregeln des Gesetzgebungsverfahrens, die Arbeitsweise des Parlaments oder die Aufgaben des Bundesrats. Man darf diese Gleichgültigkeit allerdings nicht für ein Symptom offener Ablehnung halten. Eher war das Gegenteil der Fall. Eine Mehrheit der Bundesbürger mochte zwar wenig über das parlamentarisch-demokratische Regierungssystem wissen – vielleicht auch insgeheim wenig von ihm halten – und war dennoch mit Adenauer und seinem Regierungsstil einverstanden. Gerade weil dessen Demokratieverständnis eine gehörige Portion patriarchalischen Autokratismus enthielt, stellte er für viele seiner Zeitgenossen einen akzeptablen Übergang zur Demokratie dar. Er war, wie Sebastian Haffner es später einmal formuliert hat, „ein demokratischer Patriarch, ein demokratischer Autokrat. Er gewöhnte die Deutschen an den Gedanken, dass Autorität und Demokratie nicht unvereinbar sind.“

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Gesellschaft und Kultur 1949–1963

b) Der Umbruch am Ende der fünfziger Jahre Veränderungen in der öffentlichen Meinung eines Landes, Umbrüche kollektiver Stimmungen und Geisteshaltungen sind schwierig nachzuweisen und erst recht kaum exakt zu datieren – schwieriger jedenfalls als politische Zäsuren oder Wendepunkte der wirtschaftlichen Entwicklung. Oft sind es scheinbar zusammenhanglose Ereignisse und Entwicklungen in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen, die aus der Vogelperspektive ein Bild tief greifenden Wandels ergeben. Vieles spricht dafür, dass im letzten Drittel der fünfziger Jahre zahlreiche derartige Tendenzen kulminierten. In der Folge begann sich die Nachkriegsmentalität der bundesrepublikanischen Gesellschaft aufzulösen und machte sukzessive anderen – pluralistischeren, individualistischeren, stärker konsum- und freizeitorientierten, auch zukunftsfreudigeren – Einstellungen und Werthaltungen Platz. Das hatte zunächst damit zu tun, dass der Krieg in weitere Ferne rückte – und zwar sowohl die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg als auch die Sorge vor dem Ausbruch eines Dritten Weltkriegs, die angesichts weltpolitischer Entspannungstendenzen und eines sich langsam abzeichnenden Arrangements der beiden Supermächte allmählich nachließ. Im Wissen um das atomare Patt zwischen den USA und der Sowjetunion richtete man sich inzwischen eher auf einen langfristigen Wettstreit der Systeme ein als auf einen baldigen Krieg. Eine zweite Entwicklung, die sich in den Meinungsumfragen gegen Ende der fünfziger Jahre abzeichnete, war das langsame Verblassen autoritärer Führungsideale. Das galt für die Familie, wo die Ehen allmählich etwas gleichberechtigter und partnerschaftlicher wurden und wo Kinder nicht mehr nur gehorchen – „parieren“ – mussten, sondern dann und wann auch Erklärungen und Argumente der Eltern einfordern konnten. Immer mehr Erwachsene tendierten dazu, jugendlichen Ungehorsam psychologisch zu erklären, vielleicht sogar zu tolerieren, anstatt ihn als Aufsässigkeit zu bekämpfen. Die nachlassende Attraktivität autoritären Führungsstils machte sich auch in der politischen Arena bemerkbar, wo Adenauers einsame Entschlüsse zunehmend heftige Proteste hervorriefen. Nicht zufällig trug ein polemischer Essay in der Illustrierten „Stern“ aus dem Herbst 1963, der besonders scharf mit dem Kanzler ins Gericht ging, den Titel „Die Deutschen brauchen keine großen Männer“. Auf breitere Bevölkerungskreise wirkte, was sich gleichzeitig – und unabhängig von der sog. Hochkultur – in der Populärkultur veränderte. Einflüsse der amerikanischen Kulturindustrie waren zwar kein völlig neues Phänomen in Deutschland. Sie nahmen jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere mit der Besatzungsherrschaft und Umerziehungspolitik deutlich zu. Nun gab es in beinahe allen Kinos amerikanische Filme zu sehen. Radiostationen spielten Jazz-Musik, später auch Rock ’n’ Roll. Filmstars wie James Dean (1931–55) und Musiker wie Elvis Presley (1935–77) avancierten für viele junge Männer zu Vorbildern, was Haarschnitt, Kleidung und lässiges Benehmen anging. Junge Frauen orientierten sich an Marilyn Monroe (1926–62) oder Audrey Hepburn (1929–93). Im Hinblick auf den mentalitätsgeschichtlichen Umbruch am Ende der fünfziger Jahre sind in diesem Zusammenhang zwei Aspekte interessant. Zum einen haben neuere Forschungen gezeigt, dass man sich davor hüten sollte, den amerikanischen Einfluss auf die Sozialkultur der fünfziger Jahre überzubewerten. Lange Zeit dominierten der Heimatfilm und deutsche Schlagermusik. Sonja Ziemann (1926–2020) und Rudolf Prack (1905–81) waren der Deutschen bevorzugtes Leinwandliebespaar, (noch) nicht Grace Kelly

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(1929–82) und Gary Grant (1904–86). Der Schlagersänger Freddy Quinn (geb. 1931) verkaufte in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre mit seinen Heimatschnulzen und Seemannsliedern in Deutschland ungleich mehr Langspielplatten als Jazz-Musiker wie Louis Armstrong (1900–71). Selbst der Rock ’n’ Roll eines Bill Haley (1927–81) wurde bei weiteren Kreisen in der Bundesrepublik erst populär, nachdem Interpreten wie Peter Kraus (geb. 1939) ihn gleichsam gezähmt und den deutschen Verhältnissen angepasst hatten. Erst gegen Ende der Dekade und v.a. in den sechziger Jahren kann man – nicht zuletzt dank der raschen Verbreitung des Fernsehens – von einer „Amerikanisierung“ der deutschen Populärkultur sprechen. Stichwort

Dichter und Schriftsteller Im literarischen Betrieb hatten sich nach dem Ende des Krieges zunächst noch einmal die aus der Zwischenkriegszeit bekannten Dichter und Schriftsteller ihre Führungsplätze behauptet. Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre wurde auf deutschen Bühnen – neben amerikanischen, französischen und einigen britischen Dramatikern – vor allem deutsche Klassiker gegeben; auch Autoren wie Carl Zuckmayer (1896–1977) und Bertolt Brecht (1898–1956) waren beliebt. Man las Franz Kafka (1883–1924), Robert Musil (1880–1942) und Thomas Mann (1875–1955), Rainer Maria Rilke (1875–1926), Hugo von Hofmannsthal (1874–1929) und Gottfried Benn (1886–1956). Diese letzte Blütephase bürgerlicher Hochkultur ging Mitte der fünfziger Jahre zu Ende. Seinen symbolträchtigen Ausdruck fand der Epochenwechsel in der Literatur, als innerhalb von weniger als einem Jahr nacheinander erst Mann, dann Benn und Brecht starben. Die drei hatten – obwohl künstlerisch und weltanschaulich völlig verschieden – doch gemeinsam die Literatur der „Klassischen Moderne“ (Detlev Peukert) der Zwischenkriegszeit repräsentiert, die bis in die Frühzeit der Bundesrepublik hineinragte. An ihre Stelle traten jene Nachkriegsautoren, die zwar selbst oft schon seit Kriegsende – zuweilen auch davor – publiziert, bislang aber im Schatten der großen Alten gestanden und sich in der Gruppe 47 zusammengeschlossen hatten: Männer wie Wolfgang Koeppen (1906–96), Günter Eich (1907–72), Heinrich Böll (1917–85), Siegfried Lenz (1926–2014) und Günter Grass (1927–2015). Deren künstlerisches Schaffen wurzelte in einer Vorstellungswelt, die nicht mehr vom Kaiserreich, dem Ersten Weltkrieg oder den zwanziger Jahren geprägt war, sondern vom „Dritten Reich“ und dem Zweiten Weltkrieg, von den Zusammenbruchs- und Wiederaufbaujahren. Das Menschheitspathos des Großbürgers Thomas Mann war ihnen ebenso fremd wie der Brecht’sche Marxismus oder Benns elitärer Nihilismus. Stattdessen mischten sich viele von ihnen Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre mit zumeist linksliberalen Positionen in die Bonner Politik ein.

Zum anderen ist die Reaktion deutscher Politiker, Kirchenführer und Intellektueller auf die amerikanische Konsumkultur von Interesse. Bis weit in die fünfziger Jahre hinein überwogen Abwehrreflexe, häufig gespeist aus tief verwurzelten antiamerikanischen Ressentiments und dem kulturellen Überlegenheitsgefühl des alten, bürgerlichen Europa gegenüber der angeblich geschichtsund kulturlosen USA. Modetänze wie der Boogie-Woogie oder Rock ’n’ Roll galten, wie schon der Jazz der Zwischenkriegszeit, als primitiv oder schlicht als „Negermusik“. Von den sog. Halbstarkenprotesten des Jahres 1955, als Jazz-Fans in Hamburg einen Konzertsaal demolierten und sich Straßenschlachten mit der Polizei lieferten, fühlten sich viele in ihrer Einschätzung bestätigt. Erst gegen Ende des Jahrzehnts setzte sich, wenn auch beileibe nicht allerorten, eine tolerantere Haltung durch. Kulturkonservative verloren gegenüber jenen Liberalen an Boden, die gerade in der kulturellen Viel-

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falt und Offenheit den entscheidenden Vorzug des Westens gegenüber dem Ostblock erblickten und keine prinzipiellen Einwände gegen die Massenkultur aus den USA hatten.

c) Ein veränderter Umgang mit der NS-Vergangenheit Ein weiteres Indiz für einen tief greifenden Mentalitätswandel am Ende der Dekade kann man in der sich ändernden Einstellung gegenüber der nationalsozialistischen Vergangenheit erblicken, die bis weit in die fünfziger Jahre hinein ein Tabuthema gewesen war. Das bedeutete nicht, dass deutsche Untaten während des „Dritten Reiches“ offiziell bestritten oder geleugnet worden wären. Bundespräsident Heuss etwa wandte sich anlässlich der Einweihung eines Mahnmals für die Opfer des Konzentrationslagers Bergen-Belsen im November 1952 ausdrücklich gegen all jene, die beteuerten, sie hätten von nichts gewusst. „Wir haben von den Dingen gewusst. … die Deutschen dürfen nie vergessen, was von Menschen ihrer Volkszugehörigkeit in diesen schamreichen Jahren geschah.“ Aber das war die Ebene hoher Politik und offizieller Rhetorik – einer Rhetorik, die sich zumeist mit allgemein ausweichenden Vokabeln wie „Kollektivscham“ (Theodor Heuss) begnügte und es vermied, Namen zu nennen oder konkrete Verantwortlichkeiten anzusprechen. Ein großer Teil der Deutschen nahm die abstrakte Verurteilung des Nationalsozialismus eher achselzuckend hin als ihr zuzustimmen. In der persönlichen Erinnerung der Zeitgenossen waren die Friedensjahre des „Dritten Reiches“ eine „gute Zeit“. Als das Allensbacher Institut für Meinungsforschung Ende 1951 im Auftrag der Bundesregierung fragte, wann es Deutschland am besten gegangen sei, nannten 44% der Befragten das „Dritte Reich“, 43% das Kaiserreich, 7% die Weimarer Republik und lediglich 2% die Gegenwart. Was die nationalsozialistischen Verbrechen anbetraf, so tendierte man dazu, sie mit dem am eigenen Leibe erfahrenen Leid – an der Front, im Bombenkrieg oder auf der Flucht vor der Roten Armee – aufzurechnen. Angesichts der Schwierigkeiten vieler Deutscher, sich oft buchstäblich aus Trümmern eine neue Existenz aufzubauen, verschwendeten nur wenige einen Gedanken an die Opfer des NS-Regimes, zumal bei vielen alte Vorurteile gegen Juden, „Zigeuner“, Polen, Russen oder Homosexuelle insgeheim fortbestanden. Die publizistische Auseinandersetzung mit dem „Dritten Reich“ wurde von der Rechtfertigungsliteratur der überlebenden NS-Größen und der zahlreichen Mitläufer sowie den Erinnerungs- und Tagebüchern von Wehrmachtsoffizieren bestimmt, in denen die nationalsozialistische Vernichtungspolitik so gut wie nicht vorkam und alle Schuld auf Hitler und sein engstes Umfeld abgewälzt wurde. Soweit Gräueltaten zur Sprache kamen, behaupteten die Autoren meist, entweder nichts gewusst, als Befehlsempfänger keine Wahl gehabt oder im Rahmen der eigenen Möglichkeiten Schlimmeres verhindert zu haben. Dass derartige Argumentationsmuster gegen Ende der fünfziger Jahre seltener widerspruchslos hingenommen wurden als zu Beginn des Jahrzehnts, hatte verschiedene Gründe. Die spürbare Stabilisierung der Bundesrepublik und die Entspannungsphase im Kalten Krieg ließen das Gefühl innerer und äußerer Gefährdung schwinden, das dazu beigetragen hatte, die Vergangenheit unter eine Art Quarantäne zu stellen und sich mit größtmöglicher Geschlossenheit der Sicherung der Gegenwart zuzuwenden. Die Integration ehemaliger Nationalsozialisten in die bundesrepublikanische Gesellschaft war inzwischen weitgehend abgeschlossen, und eine jüngere Generation, die

2. Mentalitäten im Wandel

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selbst nicht mehr in das nationalsozialistische Herrschaftssystem verstrickt gewesen war, begann, bohrende Fragen zu stellen. Gleichzeitig machte die historische Erforschung des „Dritten Reiches“ Fortschritte, die in den Anfangsjahren der Bundesrepublik nur zögerlich betrieben worden war. Die Ergebnisse der Zeithistoriker stießen nicht nur im Kreis der Fachkollegen auf Interesse, sondern fanden erstmals auch Eingang in Dokumentationsserien im Fernsehen oder – mit entsprechender zeitlicher Verzögerung – in den Schulunterricht. Ein großes Echo in der Öffentlichkeit fanden auch eine Reihe spektakulärer Gerichtsverfahren, in denen Historiker als Gutachter auftraten: zum Beispiel der „Ulmer Einsatzgruppenprozess“ von 1958, in dem es um die Massenmordaktionen der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD) hinter den Frontlinien im Baltikum, in Weißrussland und der Ukraine ging; der Prozess gegen Adolf Eichmann, der 1961/62 in Jerusalem stattfand; oder der Frankfurter Auschwitz-Prozess, der 1963 begann. Stichwort Adolf Eichmann (1906–62), der die Philosophin Hannah Arendt (1906–75) zu ihrem Essay über die „Banalität des Bösen“ anregte, war von Beruf Handelsvertreter. Seit 1939 leitete er als SS-Obersturmbannführer das Judenreferat im Reichssicherheitshauptamt und war seit 1941 für die Organisation der Transporte von Juden in die Massenvernichtungslager der besetzten Ostgebiete verantwortlich. In den Wirren des Kriegsendes gelang es ihm, über Italien nach Argentinien zu entkommen, wo er 1960 vom israelischen Geheimdienst aufgegriffen und nach Israel entführt wurde. Dort klagte man ihn wegen Verbrechen gegen das jüdische Volk, gegen die Menschheit und Kriegsverbrechen an. Er wurde für schuldig befunden und am 1. Juni 1962 hingerichtet.

Die juristische Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit, die nach 1945 von den Alliierten begonnen worden und in der Frühphase der Bundesrepublik fast völlig zum Erliegen gekommen war, setzte wieder ein. In der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre fanden vor westdeutschen Gerichten im Schnitt jährlich 13 Hauptverhandlungen gegen NS-Straftäter statt, zwischen 1961 und 1965 stieg die Zahl auf 21 – ein Verdienst nicht zuletzt der Zentralstelle für die Verfolgung von NSVerbrechen in Ludwigsburg, deren Gründung auf den Ulmer Einsatzgruppenprozess zurückging. Die Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit wurde zu einem Thema, an dem die deutsche Öffentlichkeit zunehmend Interesse gewann. Zusätzlich zu der apologetischen Erinnerungsliteratur fanden jetzt auch kritische literarische Auseinandersetzungen mit der Hitlerzeit ihre Leser, wie Alfred Andersch’ „Sansibar oder der letzte Grund“ (1957) und Günter Grass’ „Blechtrommel“ (1959). Die deutschen Bühnen erlebten einen regelrechten Boom dokumentarisch angelegter NS-Dramen, zum Beispiel „Die Ermittlung“ von Peter Weiss (1916–82) oder Rolf Hochhuths (1931–2020) „Stellvertreter“, der 1963 an der Freien Volksbühne in Berlin uraufgeführt wurde. Vor dem Hintergrund des sich wandelnden Klimas in der Bundesrepublik und erhöhter Sensibilitäten im Ausland geriet die Bonner Regierung in die Defensive, als zur Jahreswende 1959/60 die Kölner Synagoge geschändet wurde und im ganzen Land Hakenkreuzschmierereien auftauchten, für die – wie man heute weiß – das ostdeutsche Ministerium für Staatssicherheit (MfS) verantwortlich war. Gleichzeitig ging die Presse, vom MfS mit echtem und gefälschtem Belastungsmaterial versorgt, zunehmend scharf mit der „braunen Vergangenheit“ von Mitgliedern der Regierung

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wie Vertriebenenminister Theodor Oberländer (1905–98) und Verkehrsminister Seebohm ins Gericht. Den Sturm abflauen und die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen, reichte nicht mehr aus, zumal das SED-Regime den Vorwürfen unter anderem mit einem Schauprozess gegen Oberländer größtmögliche Publizität verschaffte. Die Institutionen der Bonner Republik zeigten sich der Herausforderung jedoch gewachsen. Der antisemitische Vandalismus wurde Anfang 1960 ausführlich im Bundestag diskutiert. Die Justiz handelte rasch und verurteilte die jugendlichen Täter zu vergleichsweise harten Strafen bis zu 22 Monaten Gefängnis. Auch innerhalb des Bundeskabinetts wurden Konsequenzen gezogen: Oberländer beugte sich zum Jahreswechsel 1959/60 dem öffentlichen Druck und trat von seinem Amt zurück.

3. Ideen und Ideologien im Zeitalter des Kalten Krieges a) Ein antitotalitärer Grundkonsens und seine antikommunistische Stoßrichtung Die prägende politische Ideologie im Zeitalter des Kalten Krieges war der Antitotalitarismus. Er bildete während des Kalten Krieges die große mobilisierende und integrierende Kraft innerhalb des westlichen Lagers. Mit seiner Hilfe interpretierte und analysierte man die machtpolitische, wirtschaftliche und kulturelle Herausforderung durch die Sowjetunion, die in der Regel als Kampf der „Freiheit“ gegen „Tyrannei“ und „Kollektivismus“ gedeutet wurde. Das Konzept des Totalitarismus erlaubte es den USA, die für den Kampf gegen das NS-Regime gesammelten Energien in die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus umzulenken. Man bekämpfte einen neuen Gegner, ohne das manichäische Weltbild der Kriegszeit mit seinen klaren Frontlinien zwischen Gut und Böse entscheidend zu verändern. Stichwort

Totalitarismus Die Bezeichnung „totalitär“, auf die man zur Beschreibung des Bolschewismus zurückgriff, wurde erstmals im Italien der Zwischenkriegszeit von Gegnern und Anhängern Benito Mussolinis (1883–1945) zur Charakterisierung des italienischen Faschismus verwendet. Eine elaborierte Theorie des Totalitarismus’, die auf gemeinsamen Kennzeichen des NS-Regimes in Deutschland und der bolschewistischen Sowjetunion aufbaute, entstand erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Zentrum standen die Beseitigung eines freiheitlich-demokratischen Verfassungssystems, insbesondere der Gewaltenteilung, der freien Parteienbildung, freier Wahlen, der Grundrechte und der richterlichen Unabhängigkeit; des Weiteren die Zusammenfassung der gesamten Staatsgewalt in der Hand einer einzigen Machtgruppe; die ideologische Manipulation und physische Unterdrückung der Bevölkerung durch eine terroristische Geheimpolizei; sowie das Gewalt- und Informationsmonopol der herrschenden Gruppe.

Auch in Westdeutschland war das Klima in den fünfziger Jahren von der Ablehnung des Totalitarismus geprägt. Seinen sinnfälligen Ausdruck fand der antitotalitäre Grundkonsens der Bundesrepublik am 16. November 1951, als die Bundesregierung beim Karlsruher Verfassungsgericht gleichzeitig zwei Verbotsanträge stellte: gegen die neonazistische Sozialistische Reichspartei und

3. Ideen und Ideologien im Zeitalter des Kalten Krieges

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gegen die Kommunistische Partei. Freilich wäre es verfehlt anzunehmen, der Kampf gegen Rechtsund Linksextreme wäre in der Frühzeit der Bonner Republik mit gleicher Energie in beide Richtungen geführt worden. Das verbot sich schon deshalb, weil auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges von den Kommunisten eine größere Gefahr ausging als vom Nationalsozialismus, zu dem sich nur noch eine verschwindende Minderheit offen bekannte. Außerdem konnte der Antikommunismus der westdeutschen Gesellschaft, anders als der Antinazismus, nahtlos an verbreitete Einstellungen und Ansichten aus der Zeit vor 1945 anknüpfen. Dementsprechend war die deutsche Spielart des Antitotalitarismus von einer charakteristischen Mischung aus still akzeptiertem Antinazismus und lautstarkem, mitunter schrillem Antikommunismus bestimmt. Zu einer Zeit, als kaum ein NS-Verbrecher fürchten musste, vor einem deutschen Gericht angeklagt zu werden, wurden zehntausende von Verfahren gegen Kommunisten wegen Hoch- und Landesverrats angestrengt. Trotz – oder vielmehr gerade wegen – dieser Schieflage erfüllte der Antitotalitarismus in der Frühphase der Bonner Republik eine wichtige stabilisierende Funktion. Er diente in der Form des Antikommunismus als weltanschauliche Kontinuitätslinie, die das „Dritte Reich“ mit dem neuen politischen Regime verband und Orientierung in einer ansonsten radikal veränderten Lage ermöglichte. Darüber hinaus verlangte er von den politikmüden Deutschen kein aktives Engagement. Er kam dem Ruhe- und Sicherheitsbedürfnis der Nachkriegsmentalität entgegen und vertrug sich hervorragend mit dem verbreiteten Rückzug ins Private. Entscheidend war, dass der antitotalitäre Grundkonsens der Bonner Republik bis auf Kommunisten und bekennende Nationalsozialisten keine politische Kraft ausschloss. Er umfasste Konservatismus, Liberalismus und Sozialdemokratie gleichermaßen, wenn er auch letztere benachteiligte, da sie von ihren innenpolitischen Gegnern propagandistisch immer wieder in die Nähe des Kommunismus gerückt werden konnte. Dennoch bahnte sich im Zeichen des Antitotalitarismus ein Mindestmaß an Übereinstimmung zwischen Parteien und Richtungen an, die sich noch in der Zwischenkriegszeit bis aufs Messer bekämpft hatten. Die Formel von der „Verteidigung der Freiheit“ erwies sich als spezifisch genug, um in einer bipolaren Welt eindeutige Zuordnungen zu erlauben, und gleichzeitig als weit genug für die Integration inhaltlich unterschiedlich gefüllter Freiheitsbegriffe.

b) Die Mission eines christlichen Abendlands Unter dem breiten Dach des Antitotalitarismus fanden in den fünfziger Jahren ganz unterschiedliche Weltanschauungen mit zum Teil gegensätzlichen Ideen vom Wesen des Menschen, des Staates und der Gesellschaft Platz. Einflussreich in christlich-konservativen Kreisen war die Vorstellung von einer besonderen Mission des „christlichen Abendlandes“ im Kampf gegen den „asiatisch-atheistischen“ Kommunismus. Die Wurzeln der Abendlandsideologie reichten vor die Jahrhundertwende, ja bis zur Romantik zurück. Virulent wurden sie in der von nationalistischen Spannungen geprägten Zwischenkriegszeit, als sich katholische Intellektuelle an die gemeinsamen kulturellen Ursprünge der europäischen Nationen in der mittelalterlichen Kirche und im Heiligen Römischen Reich erinnerten. Die Zeit seit der Reformation und insbesondere seit der Französischen Revolution erschien ihnen als Abkehr von der wahren christlich-europäischen, ständisch

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geprägten Kultur. In der Verlängerung dieser Analyse interpretierte man später auch den Nationalsozialismus oft als Endprodukt des Irrwegs abendländischer Säkularisierung. Nach 1945 erlebte der Abendlandsbegriff eine Renaissance. Er hatte den Vorzug, anders als Termini wie „Reich“ oder „Mitteleuropa“, nicht vom Nationalsozialismus diskreditiert worden zu sein. Zudem fügte er sich mit seiner Frontstellung gegen „Säkularisierung“ und „Atheismus“ nahtlos in das Blockdenken des Kalten Krieges ein. Gleichzeitig entsprach das an übernationalen Kategorien orientierte, auf die Überwindung des Nationalstaatsprinzips gerichtete Weltbild der Abendlandsideologie jenen politischen Tendenzen, die in Richtung einer westeuropäischen Integration drängten. Die „Mission des Abendlandes“ diente nicht nur als ideologische Bemäntelung politischer und ökonomischer Realitäten, sondern wirkte als eigenständig motivierende und vorwärtstreibende Kraft bei der europäischen Einigung. Der Gedanke an das Reich Karls des Großen schien einem im katholischen Milieu aufgewachsenen Politiker wie Adenauer keineswegs abwegig, sondern durchaus vertraut. Die Wirkung blieb aber nicht auf katholische Kreise beschränkt. Protestantische Wochenzeitungen wie das „Sonntagsblatt“ oder „Christ und Welt“, deren Redakteure nicht selten aus dem Umkreis der sog. Konservativen Revolution der Weimarer Zeit stammten, machten sich die abendländische Mission ebenfalls zu Eigen. Allerdings spielte in ihrem Weltbild (West-)Deutschland als geistige Vormacht Europas eine größere Rolle, während der in Jahrtausenden rechnende historische Optimismus katholischer Intellektueller bei ihnen von kulturkritischeren, geschichtspessimistischeren Tönen überlagert wurde. Katholiken wie Protestanten identifizierten den Westen mit der „Partei Gottes“ und den Osten mit der „Partei des Teufels“. Sie propagierten nicht selten einen „Kreuzzug gegen den Kommunismus“ als Notwendigkeit der Stunde. Solange man von der anderen Seite des Atlantiks, insbesondere von Außenminister Dulles, ähnliche Töne vernahm, bereitete das Verhältnis zu den USA keine Schwierigkeiten. Die Einbindung ins westliche Militärbündnis wurde begrüßt, der Schutz amerikanischer Atomraketen gegen die Bedrohung aus dem Osten geschätzt. Je deutlicher aber die Auswirkungen der Massenkultur und des Konsumdenkens amerikanischer Prägung in Westdeutschland spürbar wurden, desto schwieriger wurde der „Drahtseilakt zwischen Westoption und Antiliberalismus“ (Axel Schildt). Die elitär-ständischen, im Grunde vormodernen Gesellschaftsideale der „Abendländer“ gerieten seit der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre immer deutlicher in Widerspruch zu den individualistischen, pluralistischen und sozial nivellierenden Tendenzen amerikanischer Massenkultur.

c) Der Konsensliberalismus des Kalten Krieges Verweise auf die Traditionen des Abendlandes, Appelle zu einem Kampf der Freiheit gegen Totalitarismus und Tyrannei, die Hoffnung auf eine Überwindung der Nationalismen in einem vereinigten Europa gab es nicht nur im konservativen Lager. Liberale Denker wie Karl Jaspers (1883–1969) benutzten ähnliche Begrifflichkeiten. Auch die Zeitschrift „Der Monat“, die sich v.a. an ein linksliberales Publikum wandte, stellte ihr erstes Editorial im Oktober 1948 unter die Überschrift „Das Schicksal des Abendlandes“. Freilich unterschieden sich das Weltbild und die gesellschaftspolitischen Vorstellungen von Männern wie dem „Monat“-Herausgeber Melvin J. Lasky (1920–2004), der als Sohn jüdisch-russischer Einwanderer in New York geboren und vom dortigen

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linken Intellektuellenmilieu geprägt worden war, ehe er 1945 nach Deutschland kam, grundlegend von den Ideen christlich-konservativer ‚Abendländer‘. Für die politische Philosophie, die ihrem Denken zugrunde lag, hat sich die Bezeichnung „Konsensliberalismus“ (consensus liberalism) eingebürgert. In dessen Mittelpunkt stand eine aus der angelsächsischen liberalen Tradition stammende Mischung aus Pragmatismus, Fortschrittsoptimismus, persönlichen Freiheitsrechten und Privateigentum. Im Gegensatz zum laisser faireLiberalismus des 19. Jahrhunderts vertrauten Konsensliberale nicht auf den Nachtwächterstaat. Wie die Neoliberalen um Erhard waren sie überzeugt, dass zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Kapitalismus und zur Bewahrung der Freiheit des Individuums ein starker Staat notwendig sei. In der Frage, wie viel staatliche Planung Wirtschaft und Gesellschaft vertrugen bzw. benötigten, gingen sie jedoch weiter als die Anhänger der klassischen sozialen Marktwirtschaft und befürworteten sozialreformerische Maßnahmen sowie das keynesianische Instrumentarium der Wirtschaftssteuerung mit Hilfe von Nachfragemanagement und Fiskalpolitik. Ebenso neu war, dass die Überwindung von Klassengegensätzen und Schichtgrenzen nicht mehr der unsichtbaren Hand des Marktes überlassen bleiben, sondern Ziel und Aufgabe staatlicher Reformpolitik werden sollte. Der Konsensliberalismus war in der Bundesrepublik v.a. für undogmatische, reformorientierte Sozialdemokraten attraktiv. Nicht zufällig fand Lasky seine ersten Weggefährten Ende der vierziger Jahre unter Berliner SPD-Politikern, die vielfach eben erst selbst aus dem Exil zurückgekehrt waren: Männer wie Reuter, Otto Suhr, Brandt und Richard Löwenthal (1908–91) waren Vertreter einer demokratischen Linken, die wie Lasky entschiedenen Antikommunismus mit einer pro-amerikanischen Grundeinstellung verbanden. Mit Laskys Hilfe und verdeckter finanzieller Unterstützung durch die US-Regierung woben sie und andere über die Jahre ein engmaschiges Netz persönlicher Beziehungen und intellektuellen Austausches über den Atlantik, das auf die Dauer zu einer amerikafreundlicheren Haltung sozialliberaler Kreise nicht nur in der Bundesrepublik, sondern in ganz Westeuropa beitrug. Der Konsensliberalismus ist nicht zu Unrecht als „Steuerungsideologie im Kalten Krieg“ (Anselm Doering-Manteuffel) bezeichnet worden, um Westeuropa auf die amerikanische Werteordnung zu orientieren und den Westen über die ökonomische, politische und militärische Kooperation hinaus enger zusammenzubinden. Ein wichtiger Knotenpunkt im konsensliberalen Netzwerk war der Kongress für kulturelle Freiheit. Stichwort

Kongress für kulturelle Freiheit Der Kongress für kulturelle Freiheit (1950–67) tagte erstmals im Juni 1950 in Berlin. Er war als westliche Antwort auf die „Friedenskongresse“ konzipiert worden, die Ende der vierziger Jahre im Rahmen der Neutralitätskampagne des Kominform Unterstützung von Schriftstellern und Intellektuellen in Europa und den USA gefunden hatten. Das internationale Komitee, das den Gegenkongress in Berlin organisierte, setzte sich aus antikommunistischen Intellektuellen aus Westeuropa und den Vereinigten Staaten zusammen. Deutschland war durch Jaspers, Schmid, Kogon und den Soziologen Alfred Weber (1868–1958) vertreten. Nach dem Erfolg der Berliner Veranstaltung setzte der Kongress bis in die zweite Hälfte der sechziger Jahre hinein seine Arbeit nicht nur mit zahlreichen Tagungen, Ausstellungen und Seminaren fort, sondern betätigte sich auch als Herausgeber meinungsbildender Zeitschriften: neben dem „Monat“ in der Bundesrepublik v.a. „Encounter“ in Großbritannien, „Preuves“ in Frankreich, „Tempo

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Presente“ in Italien und das von Friedrich Torberg (1908–79) geleitete „Forum“ in Österreich. Nur wenige Eingeweihte wussten, dass die Finanzmittel für diese teuren und weit verzweigten Aktivitäten vom amerikanischen Geheimdienst CIA beigesteuert wurden. Dessen Engagement wurde Ende der sechziger Jahre bekannt und trug dazu bei, dass der Kongress 1967 seine Arbeit einstellte.

4. Gesellschaftlicher Protest a) Die „Ohne mich“-Welle und die Opposition gegen den deutschen Wehrbeitrag Adenauers Vorschlag, angesichts der im Korea-Krieg manifest werdenden kommunistischen Bedrohung im Rahmen der westeuropäischen Verteidigung auch deutsche Truppenkontingente aufzustellen, stieß gerade bei der Kriegsgeneration, die fürchten musste, noch einmal eingezogen und ins Feld geschickt zu werden, auf Ablehnung. Dabei dürften pazifistische Einstellungen ebenso eine Rolle gespielt haben wie der Rückzug ins Private und jene „Ohne mich“-Stimmung, die sich nicht nur aufs Militärische, sondern auf alle politischen Fragen erstreckte. Meinungsumfragen ergaben, dass im November 1950 nur 40% der Bundesbürger einen deutschen Wehrbeitrag guthießen, während ihn 45% ablehnten. Rational begründet wurde die Ablehnung in der Regel mit zwei Argumenten. Zum einen hieß es, eine Remilitarisierung der Bundesrepublik bedrohe den Aufbau einer friedlichen, zivilen Gesellschaft. Zum anderen wurde argumentiert, die Aufrüstung Westdeutschlands mache eine baldige Wiedervereinigung unmöglich. Politisch brisant wurde die Wehrdiskussion für den Kanzler nicht so sehr aufgrund der Opposition der SPD, mit der man rechnete, als vielmehr wegen des Widerhalls, den die „Ohne mich“Stimmung im protestantischen Bürgertum fand. Hier galt die interkonfessionelle Sammlungspartei CDU vielfach immer noch als Gründung der Katholiken, während zugleich Vorbehalte gegen Adenauers Westoption ebenso weit verbreitet waren wie nationalneutralistische und pazifistische Strömungen. Bei Wahlen hatte die Union in evangelisch dominierten Regionen deutlich schlechter abgeschnitten als in katholischen Gegenden. Ein bedeutender Teil der deutschen Protestanten stand zu Beginn der fünfziger Jahre den verschiedenen bürgerlichen Rechtsparteien, die mit der Union in der Bonner Koalition verbunden waren, näher als der Partei des Rheinländers Adenauer. Es war kein Zufall, dass mit Martin Niemöller ein prominenter Protestant zum wichtigsten Sprecher der Wehrbeitrags-Gegner avancierte. Ähnlich wie Kaiser Ende der vierziger Jahre hoffte Niemöller, Deutschland könne einen dritten Weg zwischen den Blöcken einschlagen. Noch unangenehmer wurde die Lage für Adenauer, als die Gegner des Wehrbeitrags nach dem Rücktritt Heinemanns einen weiteren führenden Protestanten, noch dazu einen Ex-Minister und Präses der Synode der EKD, in ihre Reihen aufnehmen konnten. Stichwort Martin Niemöller (1892–1984) gründete 1933 den „Pfarrernotbund“, wurde zu einem führenden Vertreter der „Bekennenden Kirche“ und mutigen Gegner des Nationalsozialismus, nachdem er im Ersten Weltkrieg U-Boot-Kommandant und danach Freikorpskämpfer gewesen war. 1937 verhaftet, verbrachte der

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evangelische Theologe die Jahre bis 1945 als Häftling in verschiedenen Konzentrationslagern. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er als Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau (1947–64) zum Pazifisten, Gegner der Wiederbewaffnung und bis zu seinem Tod zu einem aktiven Anhänger der Friedensbewegung. Die Entstehung der Bonner Republik, die er für einen katholisch dominierten Teilstaat hielt, kritisierte Niemöller scharf. „Die gegenwärtige westdeutsche Staatsform“, sagte er 1949 zu einer amerikanischen Journalistin, „wurde in Rom gezeugt und in Washington geboren.“ In seinen Augen trug der deutsche Protestantismus die schwerste Bürde der Niederlage im Weltkrieg: Ostdeutschland sei seitdem polnisch und katholisch, Mitteldeutschland von den Russen neutralisiert und Westdeutschland unter Adenauers CDU zu einem katholischen Staat geworden.

Dass die Opposition gegen den Wehrbeitrag schließlich fast folgenlos versandete, hatte drei Gründe. Erstens blieb die organisatorische Basis der „Ohne mich“-Bewegung schwach. Der Protest war mehr von spontanen Gesten als von langfristigem politischem Kalkül bestimmt. Heinemann versäumte es, unmittelbar nach seinem Ausscheiden aus dem Kabinett eine eigene Partei zu gründen. Die „Notgemeinschaft für den Frieden Europas“, der er sich im November 1951 anschloss, blieb ohne größere Wirkung; und als der Politiker 1952 die Gesamtdeutsche Volkspartei (GVP) aus der Taufe hob, war es zu spät. Die Protestwelle war abgeebbt. Zweitens gelang es der Union, ihre Reihen zu schließen und im evangelischen Lager Fuß zu fassen. Mit dem Oberkirchenrat Hermann Ehlers (1904–54) wurde im Oktober 1950 ein protestantischer CDU-Vertreter und Befürworter der Westpolitik zum Bundestagspräsidenten gewählt. Ehlers bemühte sich erfolgreich darum, innerhalb der Union das protestantische Element zu stärken – etwa durch gezielte Personalpolitik, aber auch durch die Gründung des Evangelischen Arbeitskreises (EAK) der Partei. Drittens verhinderte die traditionell kirchenfeindliche Haltung der SPD, die noch stark einem marxistischen Atheismus verhaftet war, eine einheitliche Front von Arbeiterschaft und den kritisch gestimmten Teilen des Bürgertums gegen die Aufrüstungspolitik der Regierung. Erst gegen Ende der fünfziger Jahre sollten die Sozialdemokraten im Rahmen ihrer umfassenden Erneuerung das Verhältnis zu den Kirchen überdenken. Einen Vorgeschmack auf diese Entwicklung bekam die deutsche Öffentlichkeit am 29. Januar 1955, als der SPD-Vorsitzende Ollenhauer zusammen mit dem evangelischen Theologieprofessor Helmut Gollwitzer (1908–93) und dem Heidelberger Soziologen Alfred Weber zu einer Kundgebung in die Frankfurter Paulskirche lud. Dort wurde vor etwa 1000 Gästen ein von SPD und DGB initiiertes „Deutsches Manifest“ verkündet. Es protestierte gegen den NATO-Beitritt der Bundesrepublik, wie er im Oktober 1954 in den Pariser Verträgen festgeschrieben worden war, und rief „zu entschlossenem Widerstand“ gegen die Ratifizierung der Verträge im Bundestag auf. Es wurde vor verstärkten Ost-West-Spannungen als Folge der westdeutschen Aufrüstung gewarnt und darauf hingewiesen, „dass durch die Ratifizierung der Pariser Verträge die Tür zu Viermächteverhandlungen über die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands in Freiheit zugeschlagen wird“. Der außerparlamentarische Protest in der sog. Paulskirchenbewegung konnte allerdings nicht verhindern, dass drei Monate später die Verträge im Bundestag ratifiziert wurden. Dennoch war das erste Bündnis von Sozialdemokratie und pazifistisch-nationalneutralistisch gestimmtem Bürgertum kein völliger Fehlschlag. Über den gemeinsamen Widerstand gegen den Wehrbeitrag fanden Teile des regierungskritischen Bürgertums den Weg zur SPD. Insbesondere führende Mitglieder

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der GVP wie Heinemann, Johannes Rau (1931–2006) und Erhard Eppler (1926–2019) gelangten nach der Auflösung ihrer Partei im Jahr 1956 zur Sozialdemokratie.

b) Der Widerstand gegen die Atombewaffnung der Bundeswehr Gut zwei Jahre später kam es bei der Diskussion um die Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomraketen zu einer Neuauflage der Paulskirchen-Konstellation. Wieder suchte die SPD das Bündnis mit einer außerparlamentarischen Opposition, die sich vorwiegend aus bürgerlichen Kreisen rekrutierte und neben engagierten Intellektuellen und Kirchenleuten diesmal auch zahlreiche Wissenschaftler und Ärzte umfasste. Im Vergleich zur „Ohne mich“-Welle der frühen fünfziger Jahre zeichnete sich der Widerstand gegen die Atombewaffnung durch eine zeitweise verbesserte Organisation und Konzertierung des Protests aus. Zwischenzeitlich genoss die Anti-Atombewegung recht breiten Rückhalt in der Bevölkerung. Einer Umfrage vom April 1958 zufolge hießen 52% der Westdeutschen Streikmaßnahmen gut, um die Atombewaffnung zu verhindern. Konkreter Anlass für die Entstehung des Massenprotests war eine Pressekonferenz im Frühjahr 1957, auf der sich Adenauer dafür ausgesprochen hatte, die Bundeswehr mit atomaren Waffen auszustatten (siehe Kap. V.3.a)). Daraufhin gingen 18 prominente Atomwissenschaftler – unter ihnen vier Nobelpreisträger – am 12. April 1957 mit ihrer „Göttinger Erklärung“ an die Öffentlichkeit, in der sie auf die verheerenden Auswirkungen taktischer und strategischer Atomraketen hinwiesen und die Regierung aufforderten, auf die Ausrüstung der Bundeswehr mit derartigen Waffen zu verzichten. Die Erklärung stieß auf breite Resonanz in der Öffentlichkeit. Gewerkschaften, Kirchen, Hochschullehrer, Studentenverbände, Schriftsteller und Intellektuelle machten sich die Argumente der Wissenschaftler zu eigen. Vielerorts wurden spontan Bürgerkomitees gebildet. Ein knappes Jahr später erhielten die vielfältigen Komitees und Initiativen mit der von SPD-Politikern, Gewerkschaftern, evangelischen Theologen und Wissenschaftlern ins Leben gerufenen Aktion „Kampf dem Atomtod“ ein organisatorisches Zentrum. Ziel der Kampagne war es, eine Volksbefragung durchzusetzen, mit deren Hilfe man die Regierungspläne zu durchkreuzen hoffte. Da zwar einzelne Gewerkschaften wie die ÖTV Streiks befürworteten, sich aber sowohl die SPD-Führung als auch die Spitze des DGB dem Ansinnen verweigerten, blieb als wichtigstes Kampfmittel die Organisation von Massendemonstrationen. Den Höhepunkt bildete eine Kundgebung am 17. April 1958 in Hamburg, an der bis zu 150000 Menschen teilnahmen. Wenig später versickerte der Protest. Vier Gründe waren dafür ausschlaggebend. Erstens verlor die Kampagne an Schwung, nachdem der Bundestag im März 1958 für die Atombewaffnung der Bundeswehr gestimmt und damit vollendete Tatsachen geschaffen hatte. Zweitens gelang es der Regierung, antikommunistische Ängste der Bevölkerung gegen die Atomgegner zu mobilisieren. „Der Mob ist los in Deutschland“, rief etwa Arbeitsminister Blank im Juni 1958 im Bundestag. „Die KPD kommt aus ihren Löchern gekrochen.“ Da das SED-Regime die Initiative nach Kräften unterstützte, so lautete die implizite Argumentation, konnte man davon ausgehen, dass die Proteste auch von Ost-Berlin gesteuert wurden. Drittens nahm das Verfassungsgericht, das am 30. Juli 1958 eine Volksbefragung in der Angelegenheit verbot, dem Widerstand den Wind aus den Segeln. Viertens stand auch die SPD bald nicht mehr voll hinter der Strategie der außerparlamentarischen Opposition. Vielmehr begann sie auf ihrem Stuttgarter Parteitag vom Mai 1958 mit jenem Erneuerungskurs

4. Gesellschaftlicher Protest

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Ernst zu machen, der nicht mehr in der Fundamentalopposition den Erfolg suchte, sondern sich um weitgehende Gemeinsamkeiten mit der Regierung bemühte (siehe Kap. VI.2.b)). Bei dieser Annäherung passte den Reformern ein schwer kontrollierbarer Massenprotest nicht ins Konzept. Die ehemals nach hunderttausenden zählende Protestbewegung schmolz seit Mitte 1958 immer mehr zusammen. Sie reduzierte sich in den folgenden Jahren auf einen harten Kern v.a. jüngerer Aktivisten, die sich in der „Ostermarschbewegung“ zusammenfanden. Nach dem Vorbild der britischen „Campaign for Nuclear Disarmament“ (CND) stapfte man jährlich durch Wind und Wetter, um gegen die Atomrüstungspolitik der Regierung und der NATO zu protestieren. Trotz des Verlustes einer Massenunterstützung waren die Ostermärsche nicht unbedeutend. In manchem nahmen sie spätere Protestformen vorweg, die in den sechziger und siebziger Jahren im Zuge der Studentenbewegung populär wurden: „Plaketten, Embleme, Luftballons, Tücher mit Ostermarschabzeichen, Unterschriftensammlungen, Mahnwachen usf.“ (Christoph Kleßmann).

c) Die Unzufriedenheit der Intellektuellen Der Schriftsteller Horst Krüger (1919–99) sprach für viele, wenn er die Adenauer-Ära rückblickend als eine Zeit charakterisierte, in der „der Geist lahm, das Klima schlaff, die Moral zweideutig, die Mentalität provinziell geblieben“ sei. Man habe in einer „Epoche schrecklicher Vereinfachungen, Verkürzungen, ja Verödungen“ gelebt. Krüger und andere fürchteten, der westdeutsche Staat würde zu einer „klerikal-autoritären Rhein-Republik, sozusagen zu einem MiniFranco-Spanien missraten“. Man kritisierte den „schrecklich-betuliche[n] Ungeist sog. abendländischer Ideologien …, die der aufstrebenden Wirtschaftsrepublik den Heiligenschein carolingischer Traditionen überstülpen sollten“. Vertieft wurde die Verdrossenheit vieler Intellektueller durch den Umstand, dass sie sich von einem Kanzler zur politischen Einflusslosigkeit verdammt sahen, der zwar einige bildungsbürgerliche Züge besaß, aber keine erkennbare Ader für Kunst und Kultur hatte. Adenauer scherte sich nicht um den Unmut von Intellektuellen, deren Denkweisen und Ansichten ihm unverständlich waren, oft genug auch naiv bis gefährlich dünkten. Ihr Urteil bedeutete ihm nichts. Für den Erfolg seiner Politik schienen sie ohne Belang zu sein. Neben Adenauers autoritärem Regierungsstil, seiner gelegentlich allzu deutlich werdenden Missachtung des Parlaments und der Entpolitisierung weiter Bevölkerungskreise richtete sich das Unbehagen der Intellektuellen in erster Linie gegen das, was sie für den geistlosen Materialismus des Wirtschaftswunders und den rücksichtslosen Egoismus einer Ellenbogengesellschaft hielten. Man esse statt zu denken, bemerkte 1960 der Schriftsteller Wolfgang Weyrauch (1904–80). Hinzu trat vielfach die Frustration über das Freund-Feind-Denken und die Festungsmentalität, die im Zeichen des Kalten Krieges das geistige Klima bestimmten. Nicht wenige Intellektuelle sehnten sich nach der scheinbaren Offenheit der unmittelbaren Nachkriegsjahre, als es vor der Eskalation des Ost-West-Konflikts inmitten von Not und Trümmern noch möglich schien, von einer neuen Gesellschaft zu träumen und an die Vision eines demokratischen Sozialismus zu glauben. Der später überhand nehmende intolerante Antikommunismus, so meinten manche, habe den antifaschistischen Konsens der Jahre 1945 und 1946 zerstört und zur Spaltung Deutschlands beigetragen, während die Bonner Regierung gleichzeitig mit ihrer Politik der Westintegration und Wiederbewaffnung eine Rückkehr zu den verhängnisvollen militaristischen Traditionen Preußens einleitete.

IV.

114

Gesellschaft und Kultur 1949–1963

Derartige Sorgen veranlassten Hans Werner Richter dazu, 1956 den „Grünwalder Kreis“ ins Leben zu rufen – gleichsam als politischen Ableger der literarischen „Gruppe 47“. In ihm versammelten sich regierungskritische Publizisten, Schriftsteller, Wissenschaftler wie Ernst Nolte (1923–2016) und auch einige Politiker, etwa Hans-Jochen Vogel (1926–2020). „Es war eine Adhoc-Gründung gegen auftretende Refaschistisierungstendenzen, die sich mit der Entstehung der Bundeswehr zeigten“, schrieb Richter, der im Rückblick selbst zweifelte, ob damals solche Gefahren wirklich bedrohlich groß waren. „Auf jeden Fall vermuteten wir sie überall und glaubten sie überall zu finden, nicht nur bei der diskutierten Möglichkeit einer Aufnahme ehemaliger SS-Offiziere in die Bundeswehr, sondern auch in der Gründung eindeutig nationalsozialistischer Verlage. Wir wandten uns geschlossen gegen solche Tendenzen mit großen Tagungen, mit Verbotsforderungen, mit Anzeigen und natürlich mit unseren publizistischen Möglichkeiten.“ Gerade jüngere, selbst nicht mehr durch Verstrickungen in das NS-Regime belastete Intellektuelle forderten eine intensivere Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Sie kritisierten die personellen Kontinuitäten in der Beamtenschaft, unter den Richtern, Industriellen und Militärs. Im Mythos von der „Stunde Null“, in der Tabuisierung von Fragen persönlicher Schuld und der daraus resultierenden Geschichtslosigkeit erblickten sie einen entscheidenden Makel der Bonner Republik. „Die Catcher beherrschen das Feld“, schrieb Heinrich Böll 1958, „die Primitiv-Taktiker, Männer ohne Erinnerungsvermögen, die Vitalen, Gesunden, die nicht ‚rückwärts blicken‘ und nicht jenem verpönten Laster frönen, das Nachdenken heißt.“ Quelle

Kritik am Geist der fünfziger Jahr Hans Werner Richter, Bestandsaufnahme, München u.a. 1962, S. 566.

Wirklichkeitssinn bewies man dort, wo es unmittelbar um das Geschäft ging. Ihm ordnete man alles unter … auch den guten Geschmack, auch den Film, die Kunst, das Buch. Nichts blieb von diesem neuen Gewinnstreben unberührt, nichts erwies sich als unangreifbar. … Als ungeheure dynamische Triebkraft der industriellen Produktion und damit des Wirtschaftswunders, aber gleichzeitig als Zerstörer geistiger Werte trägt dieses Gewinnstreben einen Januskopf. Es baut auf und vernichtet zur gleichen Zeit. Wie aber konnte ein solches Gewinnstreben in dieser auf nichts Rücksicht nehmenden Form entstehen? Nach der totalen Niederlage, die man heute ausweichend ‚Zusammenbruch‘ nennt, in den ausgebombten Städten, im Hungerzustand der ersten Jahre glaubten viele, ein neuer Gemeinsinn müsse entstehen, der das ganze Volk umfasste und der sich in sozialistischen Praktiken, wie auch immer, niederschlagen werde. In Wirklichkeit, so müssen wir heute feststellen, schwor anscheinend ein ganzes Volk am Grab seiner Väter und Vorväter und vor den Ruinen seiner Wohnstätten den … berühmten Scarlett-Schwur aus Vom Winde verweht: Nie wieder arm, nie wieder Hunger, nie wieder Niederlage. Von jetzt ab und für immer und ewig wollte dieses Volk auf der Seite der Erfolgreichen, der Glücklichen, der Satten, der Reichen stehen. So wurde gearbeitet, so wurde Geld zum Sinnbild des Glücks, so wurde der Erfolg – nicht Bildung, Wissen, Kenntnisse – zum Leitsatz der neuen Gesellschaft. Schon nach wenigen Jahren gab es den Erfolgsmanager, den Erfolgsautor, den Erfolgsregisseur, kurz den Erfolgsmenschen, dessen Gemeinsinn mehr und mehr verkümmerte.

Man muss die Missstimmung der Intellektuellen in der Adenauer-Ära freilich im rechten Maßstab sehen. Sie erreichte nie die unversöhnliche Schärfe, mit der die rechte und die kommu-

Literatur

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nistische Intelligenz die Weimarer Republik bekämpft und in den Untergang getrieben hatten. Allen – teils berechtigten, teils überzogenen – Vorwürfen zum Trotz konnte selbst der kritischste Geist schlecht übersehen, dass die Bundesrepublik von ihrer Anlage her und in der Grundrichtung ihrer politischen wie gesellschaftlichen Entwicklung allen anderen Formen deutscher Staatlichkeit in Vergangenheit und Gegenwart überlegen war. So arrangierte man sich mit den Verhältnissen, fand sie zwar „nicht gerade lobenswert, aber auch nicht besonders schlimm und aufregend“ (Kurt Sontheimer). Auf einen Blick

Die Mentalität der frühen 1950er-Jahre war noch von einer Konzentration auf den engeren privaten Bereich geprägt gewesen. Seit dem letzten Drittel der 1950er-Jahre wurde jedoch aus der vom Nationalsozialismus totalitär überformten, desorientierten, durch Krieg und Niederlage traumatisierten Wiederaufbaugesellschaft allmählich eine stärker pluralistische, individualistische, freizeitorientierte und im Ausland zunehmend als gleichberechtigt akzeptierte westliche Konsumgesellschaft, die sich selbstkritisch mit der NS-Vergangenheit auseinanderzusetzen begann. Die sozialpolitischen Reformen der ersten beiden Adenauer-Regierungen trugen zu diesem Wandel ebenso bei wie der anhaltende wirtschaftliche Aufschwung, die schrittweise Eingewöhnung in demokratische Verfahren und die Ausprägung einer zivilen Kultur. Der Antikommunismus bildete dabei für viele Deutsche in der jungen Bundesrepublik eine mentale Brücke über die ideologische Zäsur von 1945. Angesichts der Stabilisierung der Bundesrepublik und nachlassender Spannungen im Kalten Krieg schwand seit Ende der 1950er Jahre das Gefühl innerer und äußerer Bedrohung, das dazu beigetragen hatte, die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus unter eine Art Quarantäne zu stellen. Zugleich war die Integration ehemaliger Nationalsozialisten in die bundesrepublikanische Gesellschaft mittlerweile weitgehend abgeschlossen. Die gesellschaftliche Integrationsfunktion der Abendlandsideologie wurde schwächer; der von den USA protegierte Konsensliberalismus trat als neue Steuerungsideologie im Ost-West-Konflikt an dessen Stelle.

Literatur Dahrendorf, R.: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1968. Klassische Interpretation der Entwicklung von Demokratie und Gesellschaft in Deutschland aus Sicht eines liberalen Soziologen. Gassert, P.: Bewegte Gesellschaft. Deutsche Protestgeschichte seit 1945, Stuttgart 2018. Guter Überblick über die Geschichte des Protests in Bundesrepublik, DDR und vereinigtem Deutschland. Geppert, D./Hacke, J. (Hrsg.): Streit um den Staat. Intellektuelle Debatten in der Bundesrepublik, 1960–1980, Göttingen 2008. Versammelt Beiträge zu wichtigen Debatten seit der späten Adenauer-Ära, um zu zeigen, dass die Bundesrepublik erst auf dem Umweg über ihre intellektuelle Infragestellung zur Selbstanerkennung fand. Hochgeschwender, M. (Hrsg.): Epoche im Widerspruch: Ideelle und kulturelle Umbrüche der Adenauerzeit, Bonn 2011. Sammelband mit Schlaglichtern auf die 1950er Jahre als Epoche kulturellen Wandels. Schildt, A.: Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und „Zeitgeist“ in der Bundesrepublik der 50er Jahre, Hamburg 1995. Maßgebliche Studie zur Kulturgeschichte der 1950er Jahre. Sywottek, A./Schildt, A. (Hrsg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993. Maßgeblicher Sammelband; betont Zäsur am Ende der 1950er Jahre.

V. Außen- und Deutschlandpolitik 1955–1963 Überblick

I

n der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre wurde die Politik der Bundesrepublik von einer Vertiefung der europäischen Integration und einer neuerlichen Verschärfung des Kalten Krieges bestimmt. Im Westen wurde mit den Römischen Verträgen eine europäische Zollunion und ein gemeinsamer Markt geschaffen. Im Osten ging die UdSSR Ende der 1950er Jahre in die Offensive. Wie Stalin bei der Berlin-Blockade nutzte Nikita Chruschtschow die exponierte Lage West-Berlins als Druckmittel. Der neue Parteichef der KPdSU riegelte die Teilstadt nicht selbst ab wie

Stalin, sondern drohte, die Kontrolle über die Verbindungswege nach Berlin in die Hände der DDR zu legen. Wie 1948 zielte die Aktion auf die Präsenz der Westmächte in Berlin. Anders als damals ging es jedoch nicht darum, eine gesamtdeutsche Perspektive offen zu halten, sondern die Westalliierten zur Anerkennung des Status quo der Teilung zu zwingen. Im August 1961 gestattete Chruschtschow dem schon länger drängenden SED-Chef Walter Ulbricht, West-Berlin mit einer Mauer abzuriegeln.

4.11.1956

Niederschlagung des ungarischen Aufstandes durch sowjetische Truppen

5./6.11.1956

Eingreifen britischer und französischer Truppen am Suezkanal (Suezkrise)

1.1.1957

Eingliederung des Saarlandes in die Bundesrepublik als elftes Bundesland

25.3.1957

Unterzeichnung der Römischen Verträge

14./15.9.1958

Adenauers erstes Treffen mit de Gaulle

27.11.1958

Erstes Berlin-Ultimatum Chruschtschows

19.3.1959

Veröffentlichung des „Deutschlandplans“ der SPD

11.5.–5.8.1959 Genfer Außenministerkonferenz, Herter-Plan 29.–30.7.1960 Treffen Adenauers mit de Gaulle in Rambouillet 13.8.1961

Bau der Berliner Mauer

2.–8.7.1962

Staatsbesuch Adenauers in Frankreich

4.–9. 9.1962

Staatsbesuch de Gaulles in der Bundesrepublik

22.1.1963

Unterzeichnung des Vertrages über deutsch-französische Zusammenarbeit im Pariser Elysée-Palast (Elysée-Vertrag)

16.5.1963

Ratifizierung des Elysée-Vertrags durch den Bundestag 23.–26. 6. 1963 Kennedys Deutschland-Besuch

1. Erfolge im Westen

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1. Erfolge im Westen a) Die Lösung der Saarfrage Eine wichtige Frage harrte noch der Lösung, nachdem die Bundesrepublik ihre Souveränität erlangt hatte: die Zukunft des Saarlandes. Die französische Regierung hatte im Zuge der Verhandlungen über den Deutschlandvertrag darauf bestanden, die Saarfrage in ihrem Sinne zu lösen. Zwar verzichtete Paris darauf, die Abtrennung vertraglich festschreiben zu lassen. Man bestand jedoch auf einer Volksabstimmung über das Saar-Statut. Dieses war im Rahmen der Pariser Verträge zwischen der Bundesrepublik und Frankreich ausgehandelt worden und sah eine „Europäisierung“ der Region vor, die auf eine enge Bindung an Frankreich hinauslief. In einem Plebiszit sollte die saarländische Bevölkerung die Wahl haben, das Statut entweder anzunehmen oder abzulehnen; Alternativen waren nicht vorgesehen. Drei Monate nach der Volksabstimmung sollten Landtagswahlen abgehalten werden. Da die vorangegangenen Wahlen im November 1952 eine Mehrheit für die pro-französischen Parteien ergeben hatten, war man in Paris zuversichtlich, dass die Volksabstimmung und die Landtagswahlen zu dem gewünschten Ergebnis führen und die Loslösung des Gebiets von Deutschland besiegeln würden. Adenauer sah das ähnlich. Er betrachtete den Verlust der Saar aber als akzeptablen Preis für die deutsch-französische Zusammenarbeit und die Souveränität der Bundesrepublik. Mit dieser Haltung traf der Kanzler nicht nur bei der SPD auf Widerspruch, sondern auch in der FDP. Sogar im Parteivorstand der CDU wurde Kritik laut. Das Ergebnis der Volksabstimmung ersparte es Adenauer jedoch, den Verlust der Saar im Bundestag verteidigen zu müssen. Schon im Frühjahr 1955 war deutlich geworden, dass die Opposition in der saarländischen Bevölkerung gegen das Statut wuchs. Der Wirtschaftsaufschwung in Frankreich blieb hinter dem westdeutschen zurück. Es wurde immer schwieriger, saarländische Produkte auf dem französischen Markt zu platzieren. Schon deswegen versprachen sich die Saarländer immer weniger von Paris und mehr von Bonn. Das Plebiszit im Oktober ergab dann, bei einer Wahlbeteiligung von 97,5%, eine Zweidrittelmehrheit gegen das Statut. In den anschließenden Landtagswahlen erhielten die Parteien, die sich für die Annahme ausgesprochen hatten, nur 28% der Stimmen. Eine klar auf die Bundesrepublik ausgerichtete Koalition löste Johannes Hofmanns pro-französische Administration ab. Vor diesem Hintergrund war es fast unmöglich geworden, eine Eingliederung des Saarlandes in den westdeutschen Staat zu verhindern. Die Regierung in Paris fügte sich dem Mehrheitswillen. Zum 1. Januar 1957 trat die Saar als elftes Land der Bundesrepublik bei. Zwei Gründe erleichterten Frankreich die Aufgabe seiner Pläne für das Saargebiet. Zum einen erschien die Montanindustrie der Region nicht mehr als derart zentraler Wirtschaftszweig wie noch zehn Jahre zuvor. Vielmehr war deutlich geworden, dass gerade der saarländischen Stahlindustrie Umstrukturierungen bevorstanden. Statt der Aussicht, Zugriff auf ein prosperierendes Herzstück des wichtigsten europäischen Wirtschaftssektors zu erhalten, eröffnete sich der französischen Regierung die weniger erfreuliche Perspektive, ein wirtschaftliches Zuschussgebiet, noch dazu gegen den Willen von dessen Bevölkerung, unterhalten zu müssen. Zum anderen begann die europäische Integration, die nach dem Scheitern der EVG zu stagnieren schien, Mitte der fünfziger

118

V.

Außen- und Deutschlandpolitik 1955–1963

Jahre wieder Fortschritte zu machen, so dass ein Verlust des Saargebiets nicht mehr als unzumutbare sicherheitspolitische Bedrohung erschien.

b) Der Weg zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) Nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft im Sommer 1954 schien die Zeit der supranationalen Integration abgelaufen zu sein. Die Idee einer politischen Union, die im EVG-Projekt angelegt war, und der damit verbundene Gedanke eines gemeinsamen Marktes wirkten ebenso unrealisierbar wie die Europa-Armee. Auch von der Montanunion hatte man sich mehr versprochen. Selbst Anhänger des Integrationsgedankens wie Franz Etzel (1902–70), von 1952 bis 1957 Vizepräsident der Hohen Behörde, meinten, die Zusammenarbeit in der Montanunion habe oft eher zu Spannungen zwischen den beteiligten Ländern geführt als zu weitergehenden Integrationsbemühungen. Die Entwicklung in Westeuropa, so Etzel, wäre ohne die EGKS nicht wesentlich anders verlaufen. Der frische Wind in der Europapolitik, der Mitte der fünfziger Jahre spürbar wurde, blies aus zwei Richtungen. Zum einen wollte sich Monnet nicht damit abfinden, dass sein Konzept der sektoralen Integration, das der Montanunion zugrunde lag, scheitern könnte. Er versprach sich immer noch viel vom sog. spill over-Effekt: dem Übergreifen der Integration von einem Wirtschaftsbereich auf den nächsten. Monnet verzichtete 1955 auf eine zweite Amtszeit als Präsident der Hohen Behörde und konzentrierte sich auf die Ausarbeitung entsprechender Konzepte für den Energie- und Verkehrssektor. Parallel dazu wurden insbesondere in Belgien und den Niederlanden, aber auch in der Bundesrepublik umfassendere Projekte einer Zoll- und Wirtschaftsunion diskutiert. Besonders der belgische Außenminister Paul-Henri Spaak engagierte sich für die Herstellung eines gemeinsamen Marktes auf dem Wege des Abbaus innereuropäischer Zoll- und Handelsschranken. Auf einer turnusmäßigen Außenministerkonferenz der Montanunion in Messina im Juni 1955 wurde deutlich, dass neben den Benelux-Staaten auch die Bundesrepublik und Italien die Idee eines gemeinsamen Marktes unter Einschluss Großbritanniens begrüßten. Die französische Abordnung dagegen lehnte den Gedanken ab und neigte Monnets Konzept zu. Aufgrund der Meinungsunterschiede kam es zu keiner Entscheidung, sondern nur zur Verabschiedung einer allgemein gehaltenen Resolution und der Einsetzung eines Sachverständigenausschusses unter Spaak, der in Brüssel tagen und weitere Vorschläge ausarbeiten sollte. Zwei Entwicklungen erleichterten Spaaks Arbeit. Zuerst zogen sich die Briten, die in Brüssel durch eine Beobachterdelegation vertreten waren, wegen ihrer Commonwealth-Verpflichtungen und aus Sorge vor möglichen Souveränitätsverlusten von den Gesprächen zurück. Damit schied die einzige Abordnung aus, die sowohl gegen die sektorale Integration als auch gegen den gemeinsamen Markt eingestellt war. In Frankreich stürzte die Regierung von Edgar Faure (1908–88), und die Nachfolger-Administration unter Guy Mollet (1905–75) stand einer Zoll- und Wirtschaftsunion aufgeschlossener gegenüber. Da sich der belgische Außenminister zudem als taktisch gewiefter Verhandlungsleiter erwies, konnte er im Frühjahr 1956 einen Abschlussbericht vorlegen, der beide Integrationsgedanken miteinander verband und als Grundlage für die weiteren Besprechungen diente. Auf der einen Seite sah der Spaak-Bericht vor, innerhalb von zwölf Jahren schrittweise eine Zollunion zu schaffen, den Binnenhandel einschließlich der Landwirtschaft zu liberali-

1. Erfolge im Westen

119

sieren und freien Kapitalverkehr sowie Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu ermöglichen. Auf der anderen Seite skizzierte er das Projekt einer gemeinsamen Atomenergiebehörde der sechs Staaten. Die neue Behörde sollte eine koordinierte Forschungs- und Informationspolitik betreiben, Investitionen fördern, gemeinsame Anlagen schaffen und die Atomindustrie mit Erzen und Kernbrennstoffen versorgen. Im Zentrum der folgenden Verhandlungen auf Regierungsebene stand einmal mehr das deutsch-französische Verhältnis. Beide Seiten hatten 1956 ein Interesse daran, die europäische Integration zu intensivieren. Der Kanzler befürwortete den gemeinsamen Markt v.a. aus politischen Erwägungen, während Erhard ihn für „volkswirtschaftlichen Unsinn“ hielt. Adenauer jedoch sah in einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft eine Vertiefung der Westintegration, die über seine Amtszeit hinaus Bestand haben und die deutsch-französische Aussöhnung besiegeln würde. Hinzu kam, dass die wettbewerbsfähige westdeutsche Industrie im gemeinsamen Markt beträchtliche Möglichkeiten erblickte. Aus französischer Sicht setzte eine ökonomische Integration die Strategie der Eindämmung Deutschlands durch Einbindung in europäische Strukturen fort. Der gemeinsame Markt bot zudem einen Ausweg aus der außenpolitischen Isolierung, in die sich das Land durch die Kolonialkriege in Indochina und Nordafrika manövriert hatte. Wirtschaftspolitisch erblickten viele in der europäischen Integration eine Chance, die französische Volkswirtschaft einem verschärften Wettbewerb auszusetzen und zu modernisieren. Es blieben eine Reihe handfester Gegensätze. In Frankreich lehnte man nach den Erfahrungen mit dem EVG-Vertrag die Errichtung supranationaler Organisationen ab. Zudem fürchtete die französische Industrie die deutsche Konkurrenz. Als Ausgleich für die Öffnung des französischen Marktes gegenüber deutschen Industriegütern forderte Paris, die Bundesrepublik müsse sich ihrerseits für Agrarprodukte aus Frankreich öffnen. Das war aus deutscher Sicht problematisch, zumal man in Bonn auch den französischen Atomplänen ablehnend gegenüberstand. Hier witterte man Schwierigkeiten für die eigenen Nuklearprogramme, die soeben mit US-Unterstützung entwickelt wurden. Hinzu kamen Bedenken wegen einer militärischen Nutzung der Atomenergie durch Frankreich. Dies drohte auf eine erneute Diskriminierung der Bundesrepublik hinauszulaufen, die sich in den Pariser Verträgen verpflichtet hatte, keine eigenen Nuklearwaffen herzustellen. In dieser verfahrenen Situation half die Suezkrise aus der diplomatischen Sackgasse. Stichwort

Suezkrise Die Suezkrise vom Herbst 1956 wurde durch den Abzug der britischen Truppen aus der Suezkanalzone im Juni 1956 und durch die einen Monat später erfolgende Verstaatlichung der Suezkanalgesellschaft durch die ägyptische Regierung General Nassers (1918–70) ausgelöst. Aufgrund einer geheimen Absprache mit Israel, das am 29. Oktober den zweiten israelisch-arabischen Krieg begann, intervenierten Großbritannien und Frankreich Anfang November in Ägypten. Sie bombardierten die Kanalzone und landeten Truppen nahe der Hafenstadt Port Said. Schon nach wenigen Tagen mussten sie ihre Aktion abbrechen. Das lag nicht nur an Chruschtschows Drohung mit einem Raketenangriff, sondern v.a. daran, dass die USA den beiden Kolonialmächten demonstrativ ihre Unterstützung versagten und sich stattdessen für ein Eingreifen der UNO aussprachen. Im Dezember zogen sich die letzten britisch-französischen Soldaten zurück und wurden durch UN-Truppen ersetzt.

V.

120

Außen- und Deutschlandpolitik 1955–1963

Die britische Regierung zog aus dem Debakel die Schlussfolgerung, in Zukunft keine großen außenpolitischen Initiativen mehr ohne Rückendeckung der Vereinigten Staaten zu ergreifen. London suchte in der Folgezeit den Schulterschluss mit den USA. In Paris hingegen verstärkte die demütigende Niederlage das Misstrauen gegenüber Amerika. Ein westeuropäischer Zusammenschluss erschien dringender als je zuvor, zumal die französische Regierung sich von der loyalen Haltung Adenauers beeindruckt zeigte, der auf dem Höhepunkt der Krise nach Paris gereist war und keinen Zweifel an seiner Solidarität gelassen hatte. Vor diesem Hintergrund gelang es den deutschen und französischen Unterhändlern, jene Kompromisse auszuhandeln, um die man sich in den Wochen und Monaten zuvor vergeblich bemüht hatte.

c) Die Römischen Verträge Am 25. März 1957 wurden in Rom der „Vertrag über die Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft“ (Euratom) und der „Vertrag über die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ (EWG) feierlich unterzeichnet. Der erste Vertrag war das Ergebnis des Monnet-Ansatzes, der zweite das Produkt der belgisch-niederländischen Initiative. Langfristig folgenreich ist nur die EWG gewesen. Euratom hat kaum greifbare Erfolge erzielt. Das lag zum Teil daran, dass sich Frankreich mit seiner Forderung durchgesetzt hatte, unabhängig von Euratom freie Hand für die militärische Nutzung der Nukleartechnik zu behalten. Gleichzeitig entzog sich die Bundesrepublik weitgehend einer europäischen Atomorganisation. Hinzu kam, dass entgegen den Erwartungen, die sich damals auf die Atomtechnik richteten, die Nuklearenergie nur einer von verschiedenen Sektoren der Energiewirtschaft blieb und die Abhängigkeit Westeuropas von Erdölimporten und Kohlekraftwerken fortbestand. Die EWG dagegen hatte langfristig enorme Konsequenzen und trieb den Einigungsprozess in Westeuropa entscheidend voran. Es sei ihre Aufgabe, hieß es in Art. 2 des Vertrags, „durch die Errichtung eines gemeinsamen Marktes und die schrittweise Annäherung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten eine harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft, eine beständige und ausgewogene Wirtschaftsausweitung, eine größere Stabilität, eine beschleunigte Hebung der Lebenshaltung und engere Beziehungen zwischen den Staaten zu fördern“. Die Kernidee bestand darin, die institutionelle Struktur der Montanunion auf die Wirtschaftsgemeinschaft zu übertragen. Stichwort

Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) Die zentrale Einrichtung der EWG war der Ministerrat. Er hatte für die Abstimmung der Wirtschaftspolitik zu sorgen und setzte sich aus je einem Vertreter der Mitgliedsländer zusammen. Seine Entscheidungen erfolgten durch Mehrheitsbeschluss, nur in Ausnahmefällen war eine qualifizierte Mehrheit nach dem „Gewicht der Länder“ vorgesehen. Der Ministerrat stand in der Tradition intergouvernementaler Zusammenarbeit der Regierungen unabhängiger Nationalstaaten. Überhaupt verwendete man den Begriff der „Supranationalität“ aus Rücksicht auf die französischen Bedenken nicht mehr. De facto setzte sich jedoch der Gedanke supranationaler Organe und eines Rechtssystems oberhalb der nationalen Ebene durch. Es wurde eine – weitgehend machtlose, lediglich mit einigen Beratungs- und Kontrollrechten ausgestattete – Versammlung als parlamentarisches Organ ins Leben gerufen, außerdem ein Europäi-

1. Erfolge im Westen

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scher Gerichtshof zur Interpretation und Anwendung des Vertragsrechts und eine aus neun Mitgliedern bestehende Kommission als ausführendes Organ. Sie sorgte für die Durchführung der von den anderen Organen erlassenen Bestimmungen und besaß die Möglichkeit, eigene Vorschläge und Initiativen zur Fortentwicklung der Gemeinschaft zu erarbeiten.

Die verbleibenden deutsch-französischen Differenzen räumte man durch Kompromisse aus dem Weg. Am deutlichsten wurde dies in der Frage, ob die überseeischen Kolonialgebiete Frankreichs in den gemeinsamen Markt einzubeziehen seien. Die Bundesregierung stimmte dem zu und durfte im Gegenzug die innerdeutsche Handelsgrenze zur DDR offenhalten, die es seit 1951 in Form des „Interzonenhandels“ gab. Damit wurde dem Vorwurf entgegengewirkt, die europäische Integration unterminiere die deutsche Einheit. Das SED-Regime profitierte weiterhin von der Möglichkeit zollfreien Handels mit dem Westen, die kein anderes Ostblockland besaß. Als folgenreicher erwies sich die Ausdehnung des gemeinsamen Marktes auf die Landwirtschaft, auf die Paris bestanden hatte. In diesem Bereich triumphierten protektionistische Lösungen über den Liberalisierungsgedanken. Im Agrarbereich blieb es weiter möglich, die Preise für Produkte festzusetzen und heimische Erzeugnisse durch Subventionen gegen Konkurrenz aus Übersee zu schützen. Innenpolitisch bereitete die Ratifizierung der Römischen Verträge in der Bundesrepublik keine Schwierigkeiten. Erstmals war sich die SPD mit der Union über einen Europavertrag einig. In der Schlussabstimmung im Juli 1957 fand sich eine große Mehrheit für die Ratifizierung der Verträge. Nur die FDP und der BHE votierten dagegen: erstere hätten aus wirtschaftspolitischen Gründen eine gesamteuropäische Freihandelszone dem kleineuropäisch-protektionistischen „Spaakistan“ vorgezogen, wie es in einem Flugblatt hieß. Der BHE fürchtete negative Auswirkungen auf die Wiedervereinigung. Die seltene Einmütigkeit führte dazu, dass die Gründung der EWG von der bundesdeutschen Öffentlichkeit kaum beachtet wurde. Dramatischer verliefen die Auseinandersetzungen mit Großbritannien. Die Briten hatten sich im Spätherbst 1955 von den Verhandlungen der Spaak-Kommission in der Erwartung zurückgezogen, das Unternehmen sei ebenso zum Scheitern verurteilt wie die EVG im Jahr zuvor. Erst zehn Monate später, als sich ein Erfolg der Verhandlungen abzuzeichnen begann, legten die Briten einen Alternativ-Vorschlag auf den Tisch, „Plan G“, der ihren Interessen besser entsprach. Drei Punkte missfielen London: erstens die wirtschaftliche Zweiteilung Westeuropas in Mitglieder und Nicht-Mitglieder der EWG sowie eine mögliche Entfremdung des Sechser-Europa von den USA und Kanada; zweitens der einheitliche Außenzoll der Wirtschaftsgemeinschaft, der im Widerspruch zu den Ideen eines weltweiten Freihandels stand und mit den Commonwealth-Interessen Großbritanniens kollidierte; drittens der Protektionismus des Agrarmarkts. „Plan G“ sah daher die Bildung einer Freihandelszone vor, der neben den EWG-Staaten auch alle Mitglieder der OEEC angehören sollten, die wie Großbritannien ein Interesse daran hatten. Da sich kein EWGStaat ernsthaft interessiert zeigte, scheiterte der Plan. Die Briten betrieben fortan die Errichtung einer Konkurrenzorganisation, der European Free Trade Association (EFTA). Diese wurde 1960 in Stockholm gegründet und hatte ihren Sitz in Genf. Neben Großbritannien gehörten ihr Norwegen, Österreich, Schweden und die Schweiz (später auch Island und Finnland) an. Man sollte sich hüten, aus dem eher unrühmlichen Schicksal der EFTA und dem späteren EWG-Beitritt Großbritanniens den Schluss zu ziehen, die EWG habe von Beginn an den Königs-

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V.

Außen- und Deutschlandpolitik 1955–1963

weg zum Erfolg der europäischen Integration dargestellt, der einer inneren Gesetzmäßigkeit folgend zwangsläufig von Rom nach Maastricht geführt habe. Aus der Perspektive der Zeitgenossen nahm sich die Entwicklung zunächst anders aus. Der Zusammenschluss in der EWG blieb Stückwerk. Die meisten westeuropäischen Staaten standen abseits oder schlossen sich dem britischen Konkurrenzunternehmen an. Die Zusammenarbeit auf dem Atomsektor kam nur stockend, die Koordination der Verkehrs- und Energiepolitik gar nicht voran. Ein politisch und militärisch vollintegriertes Westeuropa, wie man es mit der EVG anvisiert hatte, gab es nicht.

2. Berlin-Krise und Mauerbau a) Die Sowjetunion in der Offensive Im Verhältnis der Bundesrepublik nach Osten markierte das Jahr 1955 ebenfalls einen Einschnitt. Der Preis, den die Bonner Republik für die Erlangung ihrer Souveränität zahlen musste, bestand darin, dass auch die Sowjetunion ihren Teil Deutschlands rasch und vollständig in ihr Bündnissystem integrierte. Eine Vereinigung von Bundesrepublik und DDR, erst recht die Rückgewinnung der ehemals deutschen Gebiete östlich von Oder und Neiße rückten in immer weitere Ferne. Es ging in der Deutschlandpolitik nicht mehr vorrangig um den Ausbau der eigenen Stellung, sondern darum, das Erreichte zu festigen und zu verteidigen. Die Realisten unter den westdeutschen Politikern waren sich dessen bewusst, auch wenn sie öffentlich an der Wiedervereinigungsrhetorik festhielten und weiter eine Politik der Stärke predigten. Adenauer selbst vertraute dem SPD-Vorsitzenden Ollenhauer 1955 seine Erkenntnis an: „Oder-Neiße, Ost-Gebiete usw., die sind weg! Die gibt es nicht mehr! Wer das mal aushandeln muss, na ich werde es nicht mehr sein müssen.“ Der Fatalismus, der aus diesen Worten sprach, erstreckte sich zunächst lediglich auf die Ostgebiete. Hinsichtlich der DDR ergriff der Kanzler Anfang 1958 noch einmal die Initiative. In einem Gespräch mit dem sowjetischen Botschafter in Bonn, Andrej A. Smirnow (1905–82), am 19. März ließ er die Frage fallen, ob die UdSSR bereit sei, der DDR den Status Österreichs zu geben. Adenauer spielte auf den Staatsvertrag für Österreich vom 15. Mai 1955 an, mit dem nach jahrelangen Verhandlungen das Besatzungsstatut und die Vier-Mächte-Herrschaft in Österreich beendet worden waren. Das Land erhielt seine Unabhängigkeit und die – teilweise eingeschränkte – Souveränität. Gleichzeitig wurde das wirtschaftliche und politische Anschlussverbot an Deutschland erneuert, Österreich zur militärischen Neutralität und Blockfreiheit verpflichtet. In Adenauers Vorschlag einer „Österreich-Lösung“ war nicht mehr die Rede von freien Wahlen in Gesamtdeutschland oder einer Vereinigung zu den Konditionen des Westens. Stattdessen ging es um konkrete Verbesserungen für die Menschen in der DDR. Implizit gestand der Kanzler ein, dass seine bisherige Deutschlandpolitik vorläufig gescheitert war und die Hoffnungen auf eine Wiedervereinigung bis auf weiteres begraben werden mussten. Dennoch erschien Moskau Adenauers Vorstoß wenig attraktiv. Er lief aus Sicht der Sowjetführung darauf hinaus, dass sie ihren Teil Deutschlands aufgeben musste, während der Westen seinen Teil behielt. Die Initiative verlief im Sand. Sie war jedoch ein Indiz für das Ausmaß der Desillusionierung, das sich in der Wieder-

2. Berlin-Krise und Mauerbau

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vereinigungsfrage in Bonn breitgemacht hatte. Zugleich ging die Sowjetunion aus der außenpolitischen Defensive, in der sie sich seit Stalins Tod befunden hatte, in die Offensive über. Voraussetzung dafür war, dass Nikita Chruschtschow den lange Zeit schwelenden Machtkonflikt in der KPdSU für sich entschieden und seine Rivalen ausgeschaltet hatte. Der Staats- und Parteichef konnte nun von einer sicheren Machtbasis aus agieren. Stichwort Nikita Chruschtschow (1894–1971), ein dynamischer, sprunghafter Bauernsohn aus Dnjepopetrowsk, versuchte seinem Land sowohl innenpolitisch mit der Entstalinisierung nach seiner „Geheimrede“ auf dem XX. Parteitag der KPdSU als auch außenpolitisch neue Impulse zu geben. Im Gouvernement Kursk als Sohn eines russischen Bauern geboren, machte er als Vertrauter Stalins, zu dessen engerem Führungskreis er 20 Jahre lang gehörte, in der KPdSU Karriere, zunächst als Parteisekretär der Stadt Moskau, dann der Ukraine und später des Moskauer Gebietes. Zwischen 1939 und 1964 gehörte er dem Politbüro an. 1953 avancierte er zum Ersten Sekretär des ZK und nach Ausschaltung seiner Konkurrenten 1958 auch zum Ministerpräsidenten. 1964 wurde Chruschtschow aufgrund wirtschaftlicher Misserfolge und des sich verschärfenden Konflikts mit China gestürzt.

Hinzu kam, dass es der Sowjetunion am 4. Oktober 1957 als erstem Staat gelungen war, einen Nachrichtensatelliten, den „Sputnik“, ins Weltall zu senden. Der „Sputnik-Schock“ erschütterte das technologische Überlegenheitsgefühl des Westens. Die als hoffnungslos rückständig angesehene UdSSR avancierte zum ernsthaften Gegner, ja zum potentiell überlegenen Rivalen. Der amerikanische Kontinent rückte – wenn auch vorerst nur theoretisch – in die Reichweite sowjetischer Interkontinentalwaffen. Voller Zuversicht sprach Chruschtschow vom „Wettbewerb der Systeme“, den es für die UdSSR zu gewinnen gelte. 1961 verkündete der XXII. Parteitag der KPdSU, innerhalb von 20 Jahren solle die sowjetische Industrie um das sechsfache, die Landwirtschaft um das dreieinhalbfache wachsen. So vermessen derartige Pläne im Rückblick erscheinen, damals nahm man sie ernst – nicht nur im Osten, sondern auch im Westen. Auf der anderen Seite führte die Massenabwanderung Hunderttausender, die über die offene innerstädtische Grenze in Berlin aus der DDR flohen, um im Westen einen höheren Lebensstandard und größere politische Freiheit zu finden, der Welt eine fundamentale Schwäche des Ostens vor Augen. Seit 1955 kehrten jährlich etwa 250000 Menschen dem SED-Regime den Rücken. Das bedeutete einen ständigen Aderlass qualifizierter Fachkräfte, die zum Teil in Ostdeutschland eine teure Ausbildung genossen hatten, um später ihre Arbeitskraft dem Klassenfeind im Westen zur Verfügung zu stellen. Im Vollgefühl seiner neuen Stärke entschied sich Chruschtschow, das BerlinProblem offensiv anzugehen und die Phase der zögerlichen Entspannung seit Stalins Tod zu beenden. Am 10. November 1958 forderte er, die „Überreste des Besatzungsregimes in Berlin“ müssten beseitigt werden. Knapp drei Wochen später bekräftigte er seine Drohung in diplomatischen Noten an die drei Westmächte. Das Chruschtschow-Ultimatum besaß zwei Stoßrichtungen. Zum einen zielte es darauf, den Status quo in Berlin zugunsten der UdSSR und der DDR zu verändern. Wären die Westmächte abgezogen und wäre die Idee einer „Freien Stadt“ unter UN-Hoheit verwirklicht worden, hätte West-Berlin seinen einzigen Schutz verloren. Als „selbstständige politische Einheit“, abhängig von wenig verlässlichen Mehrheitsverhältnissen in der UNO hätten die Berliner ihre Stadt in Scharen

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verlassen. Der Rest wäre in immer größere Abhängigkeit von der DDR geraten und ihr über kurz oder lang wie eine reife Frucht in den Schoß gefallen. Zum anderen richtete sich Chruschtschows Vorstoß auf Deutschland als Ganzes. Wie Stalin 1948 bei der Berlin-Blockade nutzte er die exponierte Lage der Stadt als Druckmittel, um seine deutschlandpolitischen Vorstellungen durchzusetzen. Freilich hatte sich die Situation im Vergleich zur Lage zehn Jahre zuvor verändert. Erstens blockierte Chruschtschow nicht wie Stalin einfach die Zufahrtswege nach Berlin. Er ging subtiler vor und drohte, die sowjetische Kontrolle des Berlin-Verkehrs in die Hände der DDR zu übergeben. Zweitens ging es der UdSSR nicht mehr darum, eine gesamtdeutsche Perspektive offen zu halten. Vielmehr wollte sie den Status quo der deutschen Teilung durch die Westmächte förmlich anerkannt sehen.

b) Das Tauziehen um Berlin Der sowjetische Schachzug konfrontierte die Westmächte mit einem Dilemma. Wenn sie in Verhandlungen über den Status West-Berlins einstiegen, beugten sie sich sowjetischem Druck, untergruben ihre eigene Position in Berlin und werteten die DDR auf. Zeigten sie sich unbeugsam, mussten sie damit rechnen, sich eher den Weg nach Berlin freizukämpfen als Transitpapiere von DDR-Grenzern abstempeln zu lassen. Das Szenario eines wegen Berlin begonnenen Nuklearkrieges schwebte über der Situation. Vor diesem Hintergrund entschieden sich die westlichen Alliierten für eine hinhaltende Verhandlungstaktik. Man ließ die gesetzte Frist von sechs Monaten verstreichen und begann auf verschiedenen Ebenen langwierige, wenig Erfolg versprechende Gespräche, in denen man der UdSSR schrittweise entgegenkam, den Maximalforderungen des Staatsund Parteichefs jedoch nicht entsprach. So erklärten sich die Westmächte auf der Genfer Außenministerkonferenz, die im Mai 1959 zusammentrat, bereit, das Berlin-Problem losgelöst von den Fragen von Wiedervereinigung und Abrüstung zu verhandeln. Adenauer nahm diese Entwicklung mit großer Sorge zur Kenntnis, zumal sie zeitlich mit der Ablösung des todkranken Dulles durch den neuen US-Außenminister Christian Herter (1895–1967) zusammenfiel. Der „Herter-Plan“ bedeutete ein beträchtliches Zugeständnis und eine Korrektur der bisherigen Position der Westmächte. Dennoch wurde der Plan vom sowjetischen Außenminister Gromyko brüsk zurückgewiesen, weil er trotz aller Konzessionen an der alten Idee freier Wahlen in ganz Berlin und Deutschland festhielt. Stattdessen beharrte Gromyko auf der Unterzeichnung eines Friedensvertrages durch beide deutschen Staaten als Voraussetzung weiterer Verhandlungen. Ansonsten, so hieß es seit März 1959, werde die UdSSR einen separaten Friedensvertrag mit der DDR abschließen, wodurch dem SED-Staat alle sowjetischen Kontrollrechte zufielen. Die UdSSR wähnte sich in der stärkeren Position und glaubte, durch Abwarten größere Zugeständnisse erreichen zu können. Dementsprechend ergebnislos verlief das Treffen zwischen Eisenhower und Chruschtschow im September 1959 auf dem Landsitz des Präsidenten in Camp David. Ein für Mitte Mai 1960 geplantes Gipfeltreffen, an dem neben dem Amerikaner und dem Sowjetführer auch der französische Präsident de Gaulle und der britische Premierminister Harold Macmillan (1894–1986) teilnehmen sollten, ließ Chruschtschow kurzfristig platzen, indem er den Abschuss eines US-Aufklärungsflugzeugs über sowjetischem Territorium zum Anlass nahm, eine

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förmliche Entschuldigung der USA einzufordern. Inzwischen hatte man sich in Moskau vorgenommen, zunächst die im Herbst bevorstehenden amerikanischen Präsidentschaftswahlen abzuwarten, ehe man die Berlinkrise einer Lösung zutrieb. Die Bundesregierung sah sich durch die sowjetische Offensive und die Verhandlungsbereitschaft der Westmächte in die Defensive gedrängt. Schadensbegrenzung war das Einzige, was ihr zu tun blieb. Zwei Entwicklungen galt es zu verhindern: eine sichtbare Aufwertung oder gar eine internationale Anerkennung der DDR und eine Einigung der Siegermächte über die Köpfe der Deutschen hinweg. Adenauer war sich bewusst, dass es nicht ausreichte, die sowjetischen Ultimaten schlicht zurückzuweisen. Die westdeutsche Seite musste konstruktive Vorstellungen entwickeln. Daher ließ der Kanzler um die Jahreswende 1958/59 von Globke ein Konzept entwerfen, das später zu einem vollständigen Vertragsentwurf ausgearbeitet wurde – der sog. Globke-Plan. Stichwort

Globke-Plan Der Globke-Plan sah vor, dass sich Bundesrepublik und DDR in einem ersten Schritt gegenseitig als „souveräne Staaten“ anerkannten und diplomatische Beziehungen aufnahmen. Gleichzeitig sollten beiderseits der Elbe Grund- und Menschenrechte gewährt, ein unbeschränkter Reiseverkehr ermöglicht werden, ehe ein Jahr später in einem zweiten Schritt in beiden Staaten demokratische Wahlen stattfinden würden. Weitere fünf Jahre darauf sollten die Ost- und Westdeutschen in getrennten Referenden über eine Wiedervereinigung entscheiden. Eine dann gegebenenfalls zu bildende gesamtdeutsche Regierung würde in einem letzten Schritt über die Zugehörigkeit des Landes zur NATO oder zum Warschauer Pakt entscheiden müssen; die Option eines blockfreien Status sollte nicht zur Wahl stehen. Der Plan hielt zwar an den zentralen Elementen der westdeutschen Wiedervereinigungspolitik (über freie Wahlen zur Einheit) fest, beinhaltete jedoch das stillschweigende Eingeständnis, dass man sich mit dem Regime in Ost-Berlin werde arrangieren müssen.

Adenauers Besorgnis wuchs weiter, nachdem die Amerikaner im November 1960 einen neuen Präsidenten gewählt hatten, den demokratischen Senator John F. Kennedy aus Massachusetts. Für die amerikanische Deutschlandpolitik unter Kennedy lautete das Ziel nicht mehr Wiedervereinigung und Korrektur der Oder-Neiße-Grenze; stattdessen war in Washington jetzt nur mehr von der „Lösung der deutschen Frage“ oder vom „Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes“ die Rede. Die Bonner Regierung sollte nicht nur dazu bewegt werden, die Oder-Neiße-Linie zu akzeptieren, sondern auch die DDR de facto, wenn auch nicht unbedingt förmlich anzuerkennen. Chruschtschow interpretierte die Gesprächsbereitschaft des Präsidenten, der auf ein rasches Treffen mit dem sowjetischen Staats- und Parteichef drängte, als Schwäche. Bei ihren ersten Gesprächen in Wien am 3. und 4. Juni 1961 setzte er John F. Kennedy in der Berlin-Frage unter Druck. Abermals drohte er in ultimativer Form, einen Separatfriedensvertrag mit der DDR abzuschließen und ihr die Kontrolle über die Transitwege nach West-Berlin zu übertragen. Kennedy reagierte am 25. Juli in einer Rundfunk- und Fernsehansprache, in der er seine Position bezüglich der geteilten Stadt deutlich machte. Die drei Grundbedingungen, die „three essentials“, amerikanischer BerlinPolitik seien die Anwesenheit alliierter Truppen, der freie Zugang zur Stadt durch ostdeutsches Territorium sowie die Freiheit und Lebensfähigkeit West-Berlins.

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Stichwort John F. Kennedy (1917–63) wollte sich aus überkommenen außenpolitischen Verhaltensmustern lösen und neuen Herausforderungen, den „new frontiers“, zuwenden, die seiner Ansicht nach vor allem in den Entwicklungsländern auf der Südhalbkugel lagen. Bestandteil der Strategie war es, mit der Sowjetunion in Europa zu einem Einvernehmen auf der Grundlage des Status quo zu kommen. Kennedy stammte aus einer wohlhabenden Familie irischer Herkunft. Zwischen 1947 und 1953 hatte der jugendliche, charismatische und fotogene Politiker die Demokraten im Repräsentantenhaus, von 1953 bis 1961 seinen Heimatstaat Massachusetts im Senat vertreten. 1960 gewann er die Präsidentschaftswahlen denkbar knapp gegen den Republikaner Nixon und wurde im Januar 1961 als erster Katholik amerikanischer Präsident. Nach nur knapp 1000 Tagen im Amt wurde er am 22. November 1963 im texanischen Dallas ermordet.

Um jeden Zweifel auszuräumen, dass die USA sich zur Verteidigung der westlichen Stadthälfte bekannten, ihre Garantie aber an der Sektorengrenze endete, entsandte Kennedy den ehemaligen US-Hochkommissar in Deutschland McCloy unmittelbar nach seiner Ansprache zu einem persönlichen Gespräch mit Chruschtschow. Das gab Chruschtschow die Möglichkeit, sich aus einer Zwangslage zu befreien, in die er sich nicht zuletzt durch die Dynamik seiner Berlin-Ultimaten selbst manövriert hatte. Zunächst hatte sich die Zahl der Flüchtlinge aus der DDR aufgrund der Spannungen um Berlin kaum verändert. Sie war sogar von über 204000 im Jahr 1958 auf knapp unter 144000 im Folgejahr zurückgegangen. Unter dem Eindruck der forcierten Kollektivierungspolitik des SED-Regimes und der immer wieder erneuerten sowjetischen Drohungen schwoll die Fluchtwelle danach jedoch in bedrohlichem Ausmaß an. Mit 30000 Flüchtlingen im Juli und fast 50000 im August nahm sie im Sommer 1961 Formen eines Massenexodus an. SED-Chef Ulbricht drängte schon seit Längerem, die Grenze innerhalb Berlins noch vor Abschluss eines Separatvertrages mit der DDR zu schließen. Im März 1961 wurde sein Ansinnen auf einer Tagung der Warschauer-Pakt-Staaten abgelehnt. Chruschtschow setzte zu diesem Zeitpunkt noch darauf, den unerfahrenen amerikanischen Präsidenten überrumpeln und seine Forderung nach einer „Freien Stadt“ durchsetzen zu können. Erst als er nach dem gescheiterten Gipfeltreffen mit Kennedy in Wien und der Verkündung der „three essentials“ erkannte, dass eine Freie-StadtRegelung Krieg mit den USA bedeuten konnte, stimmte er der Abriegelung West-Berlins zu. Ulbricht, der Mitte Juni öffentlich verkündet hatte, niemand besitze die Absicht, eine Mauer zu errichten, hatte hinter den Kulissen auf eine Schließung der Grenze hingearbeitet und schon seit Wochen unter größter Geheimhaltung mit den Planungen zum Mauerbau beginnen lassen. Der für Sicherheitsfragen zuständige Sekretär im Zentralkomitee der SED, Erich Honecker (1912–94), war von der Parteiführung beauftragt worden, einen entsprechenden „Reserveplan“ auszuarbeiten. Dieser wurde am 13. August 1961 in die Tat umgesetzt. Die Volksarmee der DDR fing an, die 46 Kilometer lange innerstädtische Grenze mit Stacheldraht abzuriegeln. Drei Tage später begann der Bau der Mauer.

c) Die Folgen des Mauerbaus In West-Berlin reagierte man entsetzt und verstört – nicht nur auf die Teilung der Stadt, sondern auch auf die Gelassenheit, mit welcher die Westmächte und die Bundesregierung den Maß-

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nahmen der östlichen Seite zuzuschauen schienen. Es vergingen 20 Stunden, bis die erbetenen Militärstreifen der westlichen Schutztruppen an der innerstädtischen Grenze erschienen. 40 Stunden verstrichen, bis eine Rechtsverwahrung beim sowjetischen Stadtkommandanten auf den Weg gebracht wurde. Es dauerte 72 Stunden, „bis – in Wendungen, die kaum über die Routine hinausreichten – in Moskau protestiert wurde“, wie sich Willy Brandt später erinnerte. Stichwort Willy Brandt (1913–92), der Regierende Bürgermeister von Berlin, war in den fünfziger Jahren als Zögling Reuters in der SPD ein Kritiker des gegen die Adenauersche Westintegration gerichteten Kurses der Parteiführung. Brandt, der als Herbert Ernst Karl Frahm in Lübeck geboren worden war, gehörte zu den Befürwortern innerparteilicher Reformen. 1933 war er nach Norwegen emigriert, wo er unter dem Namen Willy Brandt als Journalist arbeitete. 1940 floh Brandt, der nach seiner Ausbürgerung durch die Nationalsozialisten 1938 die norwegische Staatsbürgerschaft angenommen hatte, vor der deutschen Besetzung Norwegens nach Schweden. 1945 kehrte er als Korrespondent skandinavischer Zeitungen nach Deutschland zurück. Zwei Jahre später nahm er die deutsche Staatsbürgerschaft wieder an und trat der SPD bei, der er 1930/31 schon einmal angehört hatte. Von 1949 bis 1957 war er SPD-Bundestagsabgeordneter, ehe er Regierender Bürgermeister von Berlin wurde. 1961 stellte ihn seine Partei, deren Vorsitzender er 1964 wurde, erstmals als Kanzlerkandidaten auf. Zwar erreichte die SPD unter Brandts Führung bei den Wahlen 1961 und 1965 jeweils Stimmengewinne, verpasste aber die Ablösung der regierenden CDU. 1966 trat Brandt als Außenminister und Vizekanzler in die Große Koalition ein, ehe er 1969 in einer Koalition mit der FDP zum ersten sozialdemokratischen Kanzler der Bonner Republik gewählt wurde. 1974 trat er als Bundeskanzler zurück, blieb aber bis 1987 Parteivorsitzender der SPD.

Am 19. August besuchte US-Vizepräsident Lyndon B. Johnson (1908–73) in Begleitung von Clay West-Berlin – eine solidarische, aber folgenlose Geste, die durch die demonstrative Entsendung einer alliierten Kampftruppe über die Transitautobahn von Niedersachsen nach West-Berlin ergänzt wurde. Spätestens jetzt wurde den Verantwortlichen in Bonn und West-Berlin klar, dass die Bewahrung des Friedens für die US-Regierung Priorität vor der Einheit und Freiheit Berlins genoss. Tatsächlich ließen die Spannungen um Berlin nach dem Mauerbau nach, auch wenn Chruschtschow seine Forderung nach einer „Freien Stadt“ noch eine Weile aufrechterhielt und weiter drohte, einen Separatfriedensvertrag mit der DDR abzuschließen. Erst Ende 1962, nachdem der sowjetische Versuch, Mittelstreckenraketen auf Kuba zu stationieren, gescheitert war und die Welt im Oktober in der Kuba-Krise am Rand eines Atomkriegs gestanden hatte, beendete die UdSSR stillschweigend die Berlin-Krise. Nun löste Moskau die sowjetische Stadtkommandantur auf und übertrug ihre Befugnisse einer DDR-Behörde. Insoweit machte Chruschtschow seine Drohung wahr, sowjetische Rechte an das ostdeutsche Regime zu übergeben. Gleichzeitig hielt Moskau jedoch an seinen Rechten und Verantwortlichkeiten für Berlin und Gesamtdeutschland fest, wie sie sich aus dem Potsdamer Abkommen ergaben. Der sowjetische Botschafter in Ost-Berlin fungierte weiterhin auch als Hoher Kommissar für ganz Deutschland. Einen separaten Friedensvertrag mit der DDR, auf den die SED-Führung gehofft hatte, schloss Chruschtschow nicht ab. Die Teilung Deutschlands war durch den Mauerbau zwar vertieft und de facto vollendet worden. Juristisch betrachtet blieben die Dinge aber weiterhin in der Schwebe, nicht zuletzt deshalb, weil die Sowjetunion kein Interesse daran hatte, ihre gesamtdeutschen Mitspracherechte aufzugeben. Die USA ihrerseits sahen die Berlin-Krise mit dem Mauerbau als beendet an. Kennedy war zufrieden, dass Chruschtschow, wenn auch auf brutale

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Weise, ein lange schwelendes Problem aus der Welt geschafft hatte. Der US-Präsident war nun entschlossen, mit der UdSSR zu einem friedlichen Ausgleich zu kommen. Die Politik der Konfrontation war spätestens in der Kuba-Krise an ihre Grenzen gestoßen, die Rhetorik des Kalten Kriegs zunehmend unglaubwürdig geworden. Das Zeitalter der Entspannung brach an. Stichwort

Kuba-Krise Kuba, das seit dem Sturz des von den USA tolerierten Diktators Batista y Zaldivar (1901–73) im Jahr 1958 von dem kommunistischen Revolutionär Fidel Castro Ruz (1926–2016) beherrscht wurde, stand schon seit einiger Zeit im Brennpunkt des Ost-West-Konflikts. Im April 1961 war eine vom amerikanischen Geheimdienst geplante und unterstützte Landung von Exilkubanern in der Schweinebucht gescheitert. Im Oktober des folgenden Jahres spitzte sich die Konfrontation in der Karibik zur Kuba-Krise zu, als Chruschtschow versuchte, sowjetische Atomraketen auf der Insel zu stationieren, die Amerika in den Einzugsbereich sowjetischer Nuklearwaffen gebracht hätten. Kennedy verhängte eine Seeblockade und verlangte den Abbau und die Rückführung aller sowjetischen Raketen. Ehe Chruschtschow am 28. Oktober 1962 einlenkte, stand die Welt dichter am Rande eines Atomkrieges als je zuvor oder danach.

Auch in der Bundesrepublik konnte man die veränderten weltpolitischen Vorzeichen nicht ignorieren. Bei allen Parteien beschleunigte der Mauerbau die Umorientierung ihrer Deutschlandund Ostpolitik. Besonders radikal war der Neuansatz bei den Berliner Sozialdemokraten um Brandt und seinen Berater Egon Bahr (1922–2015). Nicht zufällig gehörten sie, die in Berlin die veränderte Lage und ihre Auswirkungen hautnah miterlebten, zu den Ersten, die Konsequenzen zogen. Am Tag des Mauerbaus hatte Brandt trotzig verkündet, man dürfe sich „niemals mit der brutalen Spaltung dieser Stadt, mit der widernatürlichen Spaltung unseres Landes abfinden, und wenn die Welt voll Teufel wär!“. Ein gutes Jahr später erklärte er bei einem USA-Besuch: „Wir müssen mit der Mauer leben!“ Den markantesten Ausdruck fanden die neuen ostpolitischen Denkansätze in der SPD in einem Redebeitrag Bahrs am 15. Juli 1963 in der Evangelischen Akademie im oberbayrischen Tutzing, der inhaltlich, aber nicht im Wortlaut mit Brandt abgestimmt war. Bahr erteilte darin dem Gedanken an eine baldige Wiedervereinigung eine Absage. Diese werde allenfalls als Ergebnis eines langen Prozesses erreichbar sein. Den Mauerbau interpretierte er als Zeichen der Schwäche und der Angst der östlichen Seite: „Die Frage ist, ob es nicht Möglichkeiten gibt, diese durchaus berechtigten Sorgen dem Regime graduell so weit zu nehmen, dass auch die Auflockerung der Grenzen und der Mauer praktikabel wird, weil das Risiko erträglich ist. Das ist eine Politik, die man auf die Formel bringen könnte: Wandel durch Annäherung.“ In der FDP hatten ähnliche Gedanken schon über ein Jahr zuvor die Runde gemacht. In einer als „geheim“ eingestuften Denkschrift hieß es, die Wiedervereinigung sei ein Fernziel, das nur über zahlreiche Zwischenstationen erreichbar sei. Nahziel könne nur eine „Entstalinisierung Mitteldeutschlands“ und eine Wiederannäherung der beiden Teile Deutschlands sein. Dafür müsse der Westen die Zweistaatlichkeit anerkennen und „die Souveränität der DDR bis zur Wiedervereinigung respektieren“. Zwar schreckte die Parteiführung um Erich Mende (1916–98) davor zurück, derartige Überlegungen zur offiziellen Politik der FDP zu erheben. Das Strategiepapier deutete jedoch an, in welche Richtung sich die Überlegungen der Liberalen zu entwickeln begannen.

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Selbst in Adenauers CDU, die offiziell an der Politik und den Sprachregelungen des Kalten Krieges festhielt, gerieten die außenpolitischen Konzepte in Bewegung. Auch für die Christdemokraten war der Mauerbau die „Stunde der großen Desillusion“ (Heinrich Krone). Eine Anerkennung der DDR kam für sie zwar weiterhin nicht in Frage. Doch östlich von Oder und Neiße sahen der neue Außenminister Gerhard Schröder (1910–89) und sein Staatssekretär Karl Carstens (1914–92) diplomatische Spielräume. Im März 1963 wurde mit Polen ein Abkommen über den Handels- und Seeschifffahrtsverkehr unterzeichnet, das auch die Einrichtung einer Handelsvertretung in Warschau vorsah. Es folgten Vereinbarungen über Handelsvertretungen in Rumänien und Ungarn. Dies blieb unterhalb der Schwelle förmlicher diplomatischer Beziehungen, läutete aber dennoch die allmähliche Abkehr von der Hallstein-Doktrin ein, da alle drei Staaten diplomatische Beziehungen mit der DDR pflegten. Der Kanzler selbst hatte bereits im Sommer 1962, an die Grundgedanken seiner „Österreich-Lösung“ von 1958 anknüpfend, einen geheimen diplomatischen Vorstoß unternommen, um menschliche Erleichterungen und größere politische Freizügigkeit für die Bewohner der DDR zu erreichen. Sein durch den deutschen Botschafter in Moskau vermittelter „Burgfriedens-Plan“ sah vor, zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion „für zehn Jahre eine Art Waffenstillstand, natürlich im übertragenen Sinne, zu schließen. Dies würde bedeuten, die Dinge während dieser Zeitspanne so zu lassen wie sie sich jetzt darböten. Allerdings müsse dafür gesorgt werden, dass die Menschen in der DDR freier leben könnten, als es jetzt der Fall sei.“ Weder Schröders „Politik der Bewegung“ noch Adenauers Geheimdiplomatie führten einen diplomatischen Durchbruch herbei. Die UdSSR sorgte dafür, dass in ihrem Machtbereich ohne sie und ohne förmliche Einbeziehung der DDR keine tief greifenden Veränderungen stattfanden. Zugleich zeigten sich die westlichen Verbündeten irritiert, als ihnen die geheimen Ostkontakte Adenauers zu Ohren kamen. Sie befürworteten zwar eine Beendigung des westdeutschen „Sonderkonflikts“ mit dem Ostblock (Richard Löwenthal), blieben aber misstrauisch gegenüber selbstständigen ostpolitischen Initiativen der Bonner Diplomatie, die nur allzu leicht Erinnerungen an die Schaukelpolitik der Weimarer Zeit weckten.

3. Die Verständigungskrise mit den Vereinigten Staaten a) Diskussionen über die Entspannungspolitik Die Sorge vor ostpolitischen Alleingängen der Bundesrepublik war nicht das einzige Problem, das die deutsch-amerikanischen Beziehungen belastete. Die Vertrauenskrise reichte bis zur Genfer Gipfelkonferenz von 1955 zurück. Seit damals argwöhnte Adenauer, die USA und UdSSR könnten sich über die Köpfe der Deutschen hinweg verständigen und auf ihre Kosten einen Ausgleich suchen. Wie hohl die Rhetorik des roll back geworden war und wie weitgehend der Status quo in Europa von beiden Seiten akzeptiert wurde, zeigte die gewaltsame Niederschlagung des Volksaufstands in Ungarn durch die UdSSR im November 1956. Die USA protestierten zwar, machten aber keine Anstalten, in den sowjetischen Machtbereich einzugreifen. Besorgt registrierte die Bundesregierung Diskussionen über Abrüstungspläne in Mitteleuropa wie sie von George F. Kennan in den USA, dem Führer der britischen Labour-Partei Hugh Gaits-

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kell (1906–63) oder vom polnischen Außenminister Adam Rapacki (1909–70) angeregt und in der Bundesrepublik von der SPD aufgegriffen wurden. Kennan erklärte im November 1957, der Westen überschätze die Wahrscheinlichkeit, dass die Russen Westeuropa zu überrennen suchten. Die Russen zum Rückzug aus Mitteleuropa zu bewegen, sei grundsätzlich besser als eine neue (west)deutsche Armee gegen sie aufzustellen. Gaitskell schlug ebenfalls vor, eine militärisch verdünnte Zone in Mitteleuropa zu schaffen, in der die beteiligten Staaten auf Souveränitätsrechte wie den Besitz von Atomwaffen verzichteten. In die gleiche Richtung zielte der nach dem polnischen Außenminister benannte Rapackiplan, der anregte, Polen, die Tschechoslowakei und die beiden deutschen Staaten sollten eine nuklearwaffenfreie Zone bilden, in der Atomraketen weder hergestellt noch gelagert werden dürften. Die sozialdemokratische Variante derartiger Disengagement-Pläne war der im März 1959 vorgelegte Deutschlandplan. Stichwort

Deutschlandplan Der maßgeblich vom damaligen stellvertretenden SPD-Parteivorsitzenden Herbert Wehner (1906–90) ausgearbeitete Plan war die sozialdemokratische Reaktion auf das Chruschtschow-Ultimatum. Ihm lag die Überzeugung zugrunde, dass die Teilung Deutschlands den Weltfrieden bedrohe. Die SPD schlug daher vor, eine Entspannungszone zu vereinbaren, „die vorerst beide Teile Deutschlands, Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn“ umfassen und als erster Schritt auf dem Weg zur Überwindung der Blockkonfrontation angesehen werden sollte. Ergänzt wurde dies durch einen Stufenplan, der vorsah, über eine Konföderation beider Staaten mit paritätisch besetzten Entscheidungsorganen die deutsche Einheit zu erreichen.

Auch Adenauer erkannte, dass in der atomaren Aufrüstung der zurückliegenden Jahre und in der gegenseitigen nuklearen Vernichtungskapazität der Supermächte ein wichtiger Anreiz für eine auf Entspannung gerichtete Politik angelegt war. Im Gegensatz zur SPD hielt er diese Tendenzen jedoch nicht für nützlich, sondern für potentiell bedrohlich. Entsprechend alarmiert reagierte er im Sommer 1956 auf den sog. Radford-Plan, der durch eine Indiskretion der „New York Times“ publik geworden war. Der Plan des Chefs der Vereinigten Generalstäbe der USA, Admiral Arthur W. Radford (1896– 1973), sah eine drastische Verringerung der US-Streitkräfte um 800000 Mann vor, die durch einen Ausbau der nuklearen Kapazität kompensiert werden sollte. Dieses Vorhaben lag in der Logik der geltenden Nuklear-Doktrin der NATO, der sog. massiven Vergeltung (massive retaliation). Ihr zufolge sollten die konventionellen Streitkräfte des Bündnisses als eine Art Abwehrschild dienen, um einen sowjetischen Angriff zurückzuschlagen oder wenigstens aufzuhalten, ehe der Gegenschlag mit Hilfe amerikanischer Nuklearwaffen erfolgte – eine Strategie, die als „Schild-Schwert-Konzept“ bekannt wurde. Der Kanzler fürchtete, durch die Verwirklichung der Pläne könne es zu einer Lockerung der Bündnisse mit den USA kommen. Nicht wenige westdeutsche Politiker erblickten wie Adenauer in Radfords Konzeption eine potentielle Gefahr für die noch im Aufbau befindliche Bundeswehr. Sie drohte zu einer Armee zweiter Klasse herabgestuft zu werden. Ohne eigene Nuklearwaffen wäre sie von der Entscheidung der US-Regierung abhängig, Atomraketen zum Schutz der europäischen Verbündeten einzusetzen. Dies wog umso schwerer, als die USA signalisiert hatten, Frank-

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reich und Großbritannien gegebenenfalls mit taktischen Atomwaffen auszustatten, während die Bundesrepublik sich in den Pariser Verträgen verpflichtet hatte, Nuklearwaffen weder herzustellen noch zu kaufen. Nicht zuletzt Verteidigungsminister Strauß drängte hinter den Kulissen darauf, auch die Bundeswehr müsse mit atomaren Trägerwaffen ausgerüstet werden. Im April 1957 machte sich der Kanzler Strauß’ Position öffentlich zu Eigen. Auf der Bundespressekonferenz erklärte er, man müsse zwischen taktischen und den großen atomaren Waffen unterscheiden. Den Besitz von letzteren strebe die Bundesregierung nicht an, erstere jedoch seien „im Grunde nichts anderes als eine Fortentwicklung der Artillerie“. Es sei daher notwendig, „dass auch unsere Truppen … die neuesten Typen haben und die neueste Entwicklung mitmachen“. Adenauers Bemerkung löste in der Öffentlichkeit einen Proteststurm aus (siehe Kap. IV, 4, b). Erst nachdem der NATO-Rat in Paris Ende 1957 der Ausrüstung der Partnerstaaten mit taktischen Atomwaffen unter amerikanischer Aufsicht zugestimmt hatte, votierte die CDU/CSU im März 1958 mit ihrer neu gewonnenen absoluten Mehrheit im Bundestag dafür, die westdeutschen Streitkräfte mit US-Kurzstreckenraketen auszustatten.

b) Adenauers Misstrauen gegenüber den USA Adenauers Misstrauen gegenüber den USA war mit der Entscheidung für die Atombewaffnung der Bundeswehr nicht aus der Welt geräumt. Es erhielt neue Nahrung, als Dulles im April 1959 durch Christian Herter als US-Außenminister ersetzt wurde. „Keine starken Ellenbogen, kein Stehvermögen“, urteilte der Kanzler über den neuen Mann. Auch Präsident Eisenhowers Gesprächsbereitschaft angesichts von Chruschtschows Berlin-Ultimaten verdross Adenauer. Noch mehr Sorgen machte er sich wegen des für Mai 1961 geplanten Gipfeltreffens der vier Siegermächte. Wieder einmal befürchtete er, es könnte zu einer Einigung der Kriegskoalition über Deutschland und Berlin kommen. Als Chruschtschow das Treffen kurzfristig absagte, bemerkte der Kanzler zu seinem Pressesprecher: „Wir haben nochmals fies Jlück jehabt!“ Adenauers Glück wendete sich nach Kennedys Wahl zum Präsidenten. Die amerikanische Politik gegenüber der Bundesregierung nahm jetzt robuste Formen an. Zu den Interessendifferenzen traten Verständigungsschwierigkeiten zwischen zwei Politikern, die verschiedenen Generationen und sozialen Umfeldern entstammten. Im Gespräch mit dem 84-jährigen Kanzler hatte der vierzig Jahre jüngere US-Präsident das Gefühl, wie er einmal bemerkte, dass er nicht nur zu einer anderen Generation spreche, sondern zu einer anderen Epoche, zu einer anderen Welt. Entsprechend groß waren die Missverständnisse und Ressentiments auf beiden Seiten. Die Verstimmungen wurden nach dem Mauerbau so groß, dass Brandt in einem Brief an Kennedy offen von einer drohenden „Vertrauenskrise“ sprach. Als die Amerikaner in den folgenden Monaten den Eindruck gewannen, die Bundesregierung hintertreibe durch gezielte Hinweise an die Presse Verständigungsversuche zwischen der USA und der UdSSR, wuchsen die Spannungen weiter. Sie gipfelten darin, dass Adenauer im Mai 1962 Grewe abberief, der seit 1958 Botschafter in Washington war und den Amerikanern als Exponent einer harten deutschen Linie galt. Danach blieben die Beziehungen kühl. Die Bonner Regierung fühlte sich – wie andere europäische Verbündete auch – in der Kuba-Krise ungenügend informiert, was man als umso prekärer empfand, als Mitteleuropa im

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Falle einer Eskalation des Konflikts das wahrscheinlichste Schlachtfeld eines möglicherweise atomar geführten Kriegs mit der Sowjetunion darstellte. Auch die neue amerikanische Nukleardoktrin, die 1962 die Strategie der „massiven Vergeltung“ ablöste, wurde von der Bundesregierung mit Skepsis aufgenommen. In der Doktrin der „flexiblen Reaktion“ (flexible response), über die Verteidigungsminister Robert McNamara (1916–2009) die europäischen Verbündeten im Mai 1962 erstmals im Zusammenhang informierte, wurde das aus dem Radford-Plan hervorgegangene „Schild-Schwert-Konzept“ auf den Kopf gestellt. Nun sollte der „nukleare Schild“ der amerikanischen Atomwaffen die sowjetischen Nuklearwaffen neutralisieren, während abgestufte Gegenschläge mit einem „konventionellen Schwert“ geführt werden sollten. Auf diese Weise sollte die NATO in die Lage versetzt werden, angemessen auf verschiedenartige Angriffe des Ostblocks reagieren zu können, ohne zum Beginn eines Atomkriegs gezwungen zu sein. Die Westeuropäer fürchteten, sie sollten in Zukunft die Hauptlast eines konventionell geführten Krieges tragen, während sich die USA jenseits des Atlantiks hinter der Sicherheit ihrer Atomwaffen verschanzten. Manche sahen in der Konzeption ein erstes Anzeichen für einen möglichen Rückzug der Vereinigten Staaten vom europäischen Kontinent oder zumindest einen starken Trend zur Entkoppelung amerikanischer und westeuropäischer Sicherheit. Interessendifferenzen in Handelsfragen trugen nicht dazu bei, die Beziehungen zu verbessern. Auch der Lastenausgleich im Zusammenhang mit der Stationierung von US-Truppen in Deutschland („offset“), wie er im auf zwei Jahre angelegten deutsch-amerikanischen Ausgleichsabkommen vom Oktober 1960 erstmals vertraglich geregelt wurde, blieb eine ständige Quelle von Spannungen. Die Idee, die dem Abkommen zugrunde lag, bestand darin, dass die Bundesrepublik amerikanische Waffen in einem Umfang kaufte, der den Kosten für die Stationierung von Truppen in Westdeutschland entsprach. Die deutsche Seite fürchtete, in vollständige Abhängigkeit von USWaffensystemen zu geraten, während die Amerikaner nicht selten durchblicken ließen, sie könnten sich beim Scheitern der Verhandlungen gezwungen sehen, ihre Soldaten ganz oder teilweise aus Deutschland abzuziehen.

c) Kennedys Berlin-Besuch und das Atomteststoppabkommen Kennedys Deutschlandbesuch im Juni 1963 diente neben der atmosphärischen Verbesserung der Beziehungen v.a. dazu, sein Image in der deutschen Öffentlichkeit aufzupolieren. Schon bei seiner Ankunft auf dem Flughafen Köln-Bonn am 23. Juni versicherte er, die US-Streitkräfte würden solange im Lande bleiben, wie sie erwünscht seien. Er lobte die Westintegration der Bundesrepublik, den Ausgleich mit Frankreich und die deutsche Rolle in der NATO. Den Höhepunkt der Reise bildete der Abstecher nach Berlin am 26. Juni, mit dem es ihm gelang, sein umstrittenes Krisenmanagement zwei Jahre zuvor nachträglich in einen Erfolg umzumünzen: Kennedy war das erste westliche Staatsoberhaupt, das seit 1945 die Stadt besuchte. Sein auf Deutsch gesprochener Satz „Ich bin ein Berliner“ eroberte die Herzen und legte den Grundstein für die Mythologisierung, die unmittelbar nach seiner Ermordung am 22. November 1963 einsetzte. Drei Tage später wurde der Platz vor dem Rathaus Schöneberg, auf dem der Politiker gesprochen hatte, in John-F.Kennedy-Platz umbenannt. Lediglich Adenauer konnte der Begeisterung für den Ermordeten nichts abgewinnen. Im Juni 1965 bemerkte er, inzwischen als Kanzler zurückgetreten, im Ge-

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spräch mit dem US-Nuklearexperten Henry Kissinger (geb. 1923), die ganze Dummheit und Sentimentalität der Deutschen spiegele sich in der Tatsache wider, dass sie Brücken und Straßen nach jemandem benannten, der ihnen derart geschadet und fast alles „ausverkauft“ habe. In Adenauers Urteil klang nicht zuletzt die Verbitterung über den neuen Tiefpunkt nach, den das deutsch-amerikanische Verhältnis kurz nach Kennedys Berlin-Besuch erreicht hatte. Ursache für die Verstimmungen war diesmal das Atomteststoppabkommen. In diesem Abkommen, das die Außenminister der Sowjetunion, der USA und Großbritanniens am 5. August in Moskau unterzeichneten, verpflichteten sich die drei Staaten, in Zukunft keine Kernwaffenversuche mehr zu unternehmen, weder in der Erdatmosphäre noch im Weltall oder unter Wasser. Sie reagierten damit auf die sprunghaft gestiegene Zahl solcher Tests und die wachsende Angst vor einer Eskalation des Wettrüstens. Unter den mehr als hundert Staaten, die dem Abkommen beitraten, waren zwar nicht die beiden neuen Atommächte Frankreich und China, dafür aber die Bundesrepublik – und die DDR. Die Bonner Regierung erblickte in diesem Umstand eine gefährliche diplomatische Aufwertung des SED-Regimes, die den westdeutschen Alleinvertretungsanspruch untergrub. Hinzu kam, dass man sich am Rhein von der US-Regierung wieder einmal unzureichend informiert fand. Mit der „special relationship“, über die ein amerikanischer Publizist anlässlich des Kennedy-Besuches geschrieben hatte, war es nicht weit her, meinte man, wenn Außenminister Dean Rusk (1909–94) erst am 10. August, fünf Tage nach Unterzeichnung des Abkommens, zu „Konsultationen“ nach Bonn kam. Umgekehrt wurde die Bundesregierung ihrem Ruf als Störfaktor einer auf Entspannung gerichteten Politik gerecht, als sie sich in der Folgezeit hartnäckig weigerte, zusammen mit dem Atomteststoppabkommen einen Gewaltverzichts- bzw. Nichtangriffsvertrag zu unterschreiben, der sich auch auf die deutsche Ostgrenze sowie die innerdeutsche Grenze erstreckte. Die Regierung beharrte darauf, dass ein derartiger Vertrag einen Friedensvertrag vorwegnehme und die deutsche Spaltung und die Teilung Berlins zementiere.

4. Die Anlehnung an Frankreich a) Charles de Gaulle, Deutschland und Europa Je größer die Spannungen in den Beziehungen zu den USA wurden, desto wichtiger wurde für Adenauers Außenpolitik das Verhältnis zu Frankreich. In Paris hatte seit 1958 ein Politiker das Sagen, der entschiedene Ansichten über Deutschland und die deutschfranzösischen Beziehungen hatte. Charles de Gaulle hatte sich von Jugendjahren an mit dem Nachbarn östlich des Rheins beschäftigt. In vielem bewunderte er die Deutschen und stand ihnen zugleich misstrauisch gegenüber. Als Schüler hatte er Deutsch gelernt, um sich auf den unausweichlich scheinenden nächsten Konflikt mit dem „Erbfeind“ vorzubereiten. Im Ersten Weltkrieg war er in deutsche Gefangenschaft geraten und entflohen. In der Zwischenkriegszeit – seit 1937 als Stabsoffizier – hatte er Pläne zur Eindämmung des Nachbarstaates entworfen. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte er sich zunächst für eine Zerschlagung Deutschlands, die Loslösung des Rheinlands, des Ruhr- und des Saargebiets ein. Die Gründung des deutschen Weststaates 1949 kommentierte er mit den Worten: „Machen wir uns nichts vor: Die Lösung von Bonn bedeutet

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die Wiederherstellung des Reiches.“ Fortan sprach er beharrlich vom „Reich“, wenn er die Bundesrepublik meinte. Freilich war de Gaulle Realist genug, um zu erkennen, dass an eine Lösung der deutschen Frage durch Zerstückelung im Zeitalter des Kalten Krieges nicht mehr zu denken war. Die einzige für Frankreich akzeptable Alternative sah er in der Einbindung der Bundesrepublik in europäische Strukturen: „Sobald Deutschland, selbst in der Form des Reichs, organischer Bestandteil einer europäischen Konföderation und mit Bindungen und Verpflichtungen in diese eingeordnet wäre, würde es viel weniger zur Hegemonie streben, als wenn man es abdriften ließe.“ Stichwort Charles de Gaulles (1890–1970) verkörperte Frankreich wie kein anderer französischer Politiker des 20. Jahrhunderts. Nach der Niederlage gegen Hitler 1940 war der im nordfranzösischen Lille geborene Berufssoldat ins Exil gegangen, hatte in einer Rundfunkrede von London aus zur Fortführung des Krieges aufgerufen und sich selbst zum legitimen Repräsentanten Frankreichs erklärt. Nach Kriegsende wurde er 1945/46 zum Ministerpräsidenten und provisorischen Staatsoberhaupt gewählt, zog sich jedoch später aus der Tagespolitik zurück, nachdem es ihm nicht gelungen war, für seine Neuordnungspläne und den von ihm gegründeten RPF eine Massenbasis zu finden. Erst unter dem Eindruck einer ausweglosen innenpolitischen Situation angesichts des Kolonialkrieges in Algerien kehrte de Gaulle 1958 als Ministerpräsident an die Macht zurück. Es gelang ihm, die Anerkennung der Unabhängigkeit Algeriens durchzusetzen, die Staatskrise zu überwinden und eine Verfassung ausarbeiten zu lassen, die ganz auf seinen patriarchalischen Regierungsstil zugeschnitten war. Im Dezember 1958 wurde er zum ersten Präsidenten der französischen Fünften Republik gewählt – ein Amt von dem er 1969, eineinhalb Jahre vor seinem Tod, zurücktrat.

De Gaulle erblickte in einem starken Westeuropa ein unverzichtbares Gegengewicht gegen die Übermacht der USA und der Sowjetunion. Die Abhängigkeit der Westeuropäer von amerikanischen Nuklearwaffen empfand er als unwürdig und unsicher. Seiner Meinung nach machte die atomare Bedrohung des amerikanischen Kontinents durch sowjetische Langstreckenbomber die Einlösung von Washingtons Sicherheitsgarantien fragwürdig. Dagegen erschien de Gaulle ein wie auch immer gearteter Zusammenschluss der westeuropäischen Nationen unter französischer Führung wünschenswert. Nur im Verbund konnten Frankreich und seine Nachbarn ihre Unabhängigkeit gegenüber den beiden Hauptsiegern des Zweiten Weltkriegs behaupten. Gleichzeitig würde Frankreich als Führungsmacht Europas eine weltpolitische Rolle spielen, die es mit nationalstaatlichen Mitteln allein nicht mehr behaupten konnte. Zentrales Element dieser Führungsrolle war die Verfügungsgewalt über Atomwaffen, die de Gaulle zunächst über ein Dreierdirektorium innerhalb der NATO – bestehend aus den USA, Frankreich und Großbritannien – zu erreichen suchte. Nachdem dieser Versuch gescheitert war, machte sich Frankreich an den Aufbau einer eigenen Nuklearstreitmacht, der „force de frappe“. Mit der Bildung eines von den USA unabhängigeren Westeuropas hoffte der General, langfristig zur Auflösung der Militärblöcke beizutragen. Wenn der amerikanische Einfluss im Westen Europas nachließ, fiele ein wichtiges Element der Blockbildung fort. Die Osteuropäer mochten irgendwann dem westeuropäischen Beispiel folgen und sich von ihrer Vormacht emanzipieren, wenn durch den Wegfall der US-Präsenz das sowjetische Interesse an einem Sicherheitsgürtel ost-

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europäischer Satellitenstaaten nachließ. Ein freies „Europa vom Atlantik zum Ural“, wie es de Gaulle vorschwebte, würde nicht nur eine Einigung der Supermächte über die Köpfe und auf Kosten der Europäer verhindern oder wenigstens erschweren. Es würde auch den Deutschen eine Perspektive eröffnen, wie sie die Spaltung des Landes im Einvernehmen mit ihren Nachbarn überwinden konnten. Unausgesprochen blieb, dass der General eine derartige Entwicklung auf absehbare Zeit für unwahrscheinlich, eine staatliche Vereinigung der Bundesrepublik mit der DDR aus französischer Sicht auch nicht für wünschenswert hielt.

b) Der Plan einer „Europäischen Politischen Union“ De Gaulles außenpolitische Vision enthielt eine Reihe von Gemeinsamkeiten mit Adenauers Ansichten, an die beide Staatsmänner bei ihrem ersten Treffen im September 1958 anknüpfen konnten. Die Begegnung fand auf dem Landsitz des Präsidenten in Colombey-les-deux-Églises statt, wo de Gaulle weder vorher noch hinterher je einen Staatsgast empfing. Was genau bei diesem ersten Gespräch besprochen wurde, ist aufgrund der divergierenden Berichte der beiden Beteiligten nicht mehr zu klären. Man war sich aber offenkundig einig über die expansiven Absichten und die aggressive Grundausrichtung der UdSSR, der es in Berlin und anderswo entgegenzutreten galt. Hinzu kam die Skepsis über die Verlässlichkeit amerikanischer Sicherheitsgarantien. Auch eine gemeinsame, wenn auch bewusst vage gehaltene, europäische Perspektive verband sie. Dem standen erhebliche Interessendifferenzen und Einschätzungsunterschiede gegenüber, wenn es um die konkrete zukünftige Gestalt von EWG und NATO ging. Der Kanzler konnte und wollte die Distanzierung von den USA nicht so aktiv betreiben wie de Gaulle. Umgekehrt machte der Franzose dem Deutschen unmissverständlich klar, an welche Grundbedingungen er jede weitere Zusammenarbeit knüpfte: „die Hinnahme der vollendeten Tatsachen hinsichtlich der Grenzen, eine Haltung des guten Willens in den Beziehungen mit dem Osten, der vollständige Verzicht auf Atomwaffen, absolute Geduld bei der Wiedervereinigung“. Allen inhaltlichen Differenzen zum Trotz gelang es Adenauer und de Gaulle in Colombey, ein Vertrauensverhältnis herzustellen, das die Beziehungen zwischen beiden Ländern und die Entwicklung des europäischen Einigungsprozesses in den folgenden Jahren prägte. Es überrascht nicht, dass de Gaulle seine Pläne für die zukünftige Zusammenarbeit in Westeuropa erstmals bei einem Treffen mit Adenauer im September 1960 auf Schloss Rambouillet enthüllte. Der Präsident war bekanntermaßen ein Gegner supranationaler, auf europäische Behörden gestützter Integrationspolitik. Der von Hallstein geleiteten EWG-Kommission stand er misstrauisch gegenüber. Der Plan einer „Europäischen Politischen Union“ (EPU), den der General dem Kanzler in Rambouillet unterbreitete, war der Versuch, die Sechser-Gemeinschaft so umzugestalten, dass sie besser mit seinen europapolitischen Konzeptionen übereinstimmte und der politischen Machtstellung Frankreichs nutzbar gemacht werden konnte. Im Kern ging es darum, den Aufgabenbereich der EWG über die wirtschaftliche Integration hinaus auf die Felder von Kultur, Politik und Militär auszudehnen. Die Kommission sollte zugunsten regelmäßiger Konsultationen auf Regierungsebene entmachtet und ein politisches Gegengewicht gegen den Einfluss der USA geschaffen werden. Für Großbritannien, das sich inzwischen erkennbar an die Gemeinschaft annäherte und im Sommer 1961 einen förmlichen Antrag auf Mitgliedschaft stellen sollte, war in de Gaulles Konzeption kein Platz.

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Der gegen die USA, Großbritannien und supranationale Integrationsmechanismen gerichtete Charakter der „Politischen Union“ machte sie für andere Mitglieder der EWG wie Italien oder die Benelux-Staaten unattraktiv. Für diese Länder war der amerikanische Schutz unverzichtbar, der Beitritt Großbritanniens als Gegengewicht gegen die französische und deutsche Vorherrschaft wünschenswert. Der supranationale Charakter der EWG bot ihnen bessere Aussichten, die eigene Meinung zu Gehör zu bringen, als Konsultationen auf Regierungsebene, die dazu tendierten, von den großen Mitgliedstaaten Frankreich und der Bundesrepublik dominiert zu werden. Nur beträchtlichem deutsch-französischen Druck war es zu verdanken, dass überhaupt eine Kommission – unter dem französischen Botschafter Christian Fouchet (1911–74) – eingesetzt wurde, um die Pläne zu beraten. Selbst in Bonn regten sich Bedenken. Mit der EPU setze man den Amerikanern den Stuhl vor die Tür, hieß es im Außenministerium. „Wir sind es“, meinte Brentano, „die auf Amerika angewiesen sind, und nicht die Amerikaner auf uns.“ Vor diesem Hintergrund verwundert es kaum, dass die beiden „Fouchetpläne“, welche die Kommission 1961 und 1962 vorlegte, zu nichts führten. Allzu groß waren die Interessenunterschiede, zu widersprüchlich die Positionen: Die Benelux-Staaten machten sich für supranationale Strukturen und den Beitritt Großbritanniens stark – ungeachtet der Tatsache, dass London weiterhin jeder Form der Supranationalität skeptisch gegenüberstand. Die Franzosen standen allein mit ihrem Vorhaben, die EWG zur stärkeren Abgrenzung von den USA zu benutzen. In der Bundesregierung rangen verschiedene außenpolitische Denkrichtungen miteinander. Die „Gaullisten“ um den Kanzler setzten auf Paris, weil sie in dem General den einzigen Verbündeten in ihrem Kampf gegen amerikanische Entspannungstendenzen sahen. Die „Atlantiker“ wie Erhard, der neue Außenminister Schröder oder Verteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel (1913–97) hingegen erblickten in der Anlehnung an Frankreich den Anfang vom Ende des Bündnisses mit den USA. De Gaulle seinerseits reagierte auf das Scheitern seines Vorstoßes, indem er in einer Pressekonferenz im Januar 1963 einem Beitritt Großbritanniens zur EWG eine Absage erteilte. Mit dem französischen Veto war den britischen Beitrittsplänen bis auf weiteres ein Riegel vorgeschoben. Am 29. Januar wurden die Verhandlungen offiziell abgebrochen. Die EPU-Initiative endete in allgemeiner Erbitterung und mit europapolitischem Stillstand.

c) Der Elysée-Vertrag von 1963 Mit dem Scheitern der Politischen Union gewannen die bilateralen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Frankreich an Bedeutung. Die Wurzeln einer special relationship zwischen Bonn und Paris reichten bis zum Treffen in Colombey 1958 zurück, bei dem sich Adenauer und de Gaulle einig gewesen waren, wie wichtig regelmäßige Konsultationen und Kontakte zwischen beiden Regierung seien. Zunächst war der General, der stärker als Adenauer in den Kategorien bilateraler Großmachtpolitik des 19. Jahrhunderts dachte, die treibende Kraft. Beim Treffen in Rambouillet 1960 soll er sogar den spektakulären Vorschlag einer Zweier-Union innerhalb eines Bundesstaates – mit fusionierten Außen-und Verteidigungsressorts sowie einer gemeinsamen Staatsbürgerschaft – gemacht haben. Nach allem, was wir wissen, hat der Kanzler den Vorschlag abgelehnt. Doch rückte auch in seinen Plänen, unter dem Druck der Chruschtschow-Ultimaten

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und der Angst vor schwindender amerikanischer Rückendeckung, der Gedanke einer engeren Verbindung mit Frankreich stärker in den Mittelpunkt. Ihn trieb nicht zuletzt die Sorge um, wie er de Gaulle bei einem Paris-Besuch im Dezember 1959 erläuterte, „ob und wie es möglich sei, das gute Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland auch für die Zeit zu sichern, während der ich nicht mehr im Amte sei“. Adenauer war skeptisch, ob seine Nachfolger den Beziehungen zu Frankreich ebenso große Bedeutung zumessen würden wie er, und wollte vorbauen. Die Idee einer engeren politischen und militärischen Kooperation sowie eines intensivierten Kultur- und Jugendaustausches verfestigte sich bei den sorgfältig inszenierten Staatsbesuchen Adenauers in Frankreich Anfang Juli und de Gaulles in der Bundesrepublik im September 1962. Bei beiden Gelegenheiten demonstrierten der Präsident und der Bundeskanzler, wie weit die Aussöhnung der „Erbfeinde“ 17 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gediehen war. Sie gingen gemeinsam zur Heiligen Messe in der Krönungskathedrale der französischen Könige in Reims, nahmen eine Parade deutscher und französischer Truppen ab und umarmten einander vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Freilich dachten beide zunächst nicht daran, einen regelrechten Vertrag abzuschließen. Man hatte eher einen Briefwechsel, ein Protokoll oder ein Regierungsabkommen im Sinn, das nicht der Zustimmung der Parlamente bedurfte. Erst Anfang Januar 1963 gelangte das Auswärtige Amt in Bonn zu der Überzeugung, ein völkerrechtlicher Vertrag sei notwendig, um eine Verfassungsklage von Abgeordneten auszuschließen, die sich in einer derart wichtigen Frage übergangen fühlten. Der Kanzler, der anfangs skeptisch auf den Vorschlag reagierte, erwärmte sich rasch dafür, auch weil er sich von einem durch den Bundestag ratifizierten Vertrag eine größere Bindewirkung auf seine Nachfolger versprach. Am 22. Januar 1963 wurde im Pariser Elysée-Palast der Vertrag über deutsch-französische Zusammenarbeit unterzeichnet. Stichwort

Vertrag über deutsch-französische Zusammenarbeit Der Vertrag sah vor, dass sich die Staats- bzw. Regierungschefs beider Länder mindestens zweimal jährlich zu Konsultationen treffen sollten, ihre Außen- und Verteidigungsminister viermal. Man vereinbarte, sich vor allen wichtigen außenpolitischen Entscheidungen zu konsultieren und in Fragen „von gemeinsamem Interesse“ zu einer koordinierten Politik zu gelangen. Auch die Zusammenarbeit in den Kulturbeziehungen, dem Erziehungswesen und Jugendaustausch sollte intensiviert werden. „Der deutschen und französischen Jugend“, hieß es, „sollen alle Möglichkeiten geboten werden, um die Bande, die zwischen ihnen bestehen, enger zu gestalten und ihr Verständnis füreinander zu vertiefen.“

Obwohl die USA über den Fortgang der deutsch-französischen Verhandlungen fortlaufend unterrichtet worden waren, wurde der Elysée-Vertrag in Washington mit Missbilligung aufgenommen. Vor dem Hintergrund der Absage, die de Gaulle nur eine Woche zuvor den britischen Plänen zum EWG-Beitritt erteilt hatte, interpretierte Kennedys Unterstaatssekretär George Ball (1909–94) den Vertrag als Teil einer deutsch-französischen Verschwörung. Der ehemalige Außenminister Dean Acheson (1893–1971) erklärte, für ihn sei die Unterzeichnung „einer der schwärzesten Tage der Nachkriegszeit“. Die „Atlantiker“ in Bonn sahen die amerikanische Verstimmung mit Sorge, zumal auch sie fürchteten, Frankreich könne den Vertrag instrumentalisieren, um die Bundesrepublik gegen die

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USA, Großbritannien, die NATO, den weltweiten Freihandel oder die europäische Integration in Stellung zu bringen. Sie drängten darauf, der deutschen Fassung eine Präambel voranzustellen, die nicht nur ein explizites Bekenntnis zur „engen Partnerschaft zwischen Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika“ enthielt, sondern auch zur „gemeinsamen Verteidigung im Rahmen des nordatlantischen Bündnisses“, zur „Schaffung der Europäischen Gemeinschaften … unter Einbeziehung Großbritanniens und anderer zum Beitritt gewillter Staaten“ sowie zum Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen. Mit dieser Einschränkung versehen ratifizierte der Bundestag am 16. Mai 1963 den Vertrag. Damit nahm er ihm nicht nur den exklusiven Charakter, den de Gaulle und Adenauer angestrebt hatten. Er interpretierte ihn auch in einem Sinne, der den Absichten des französischen Präsidenten diametral entgegenlief. Entsprechend sperrig sollte sich der General während der folgenden Jahre gegenüber Adenauers Nachfolgern im Kanzleramt verhalten. Langfristig ist der Elysée-Vertrag jedoch durchaus erfolgreich gewesen. Er besiegelte nicht nur die Aussöhnung der beiden Nationen nach dem Krieg, sondern schuf auch die Grundkonstruktion jener deutsch-französischen Zusammenarbeit, die im Verlauf der nächsten Jahrzehnte immer wieder zum Dreh- und Angelpunkt der europäischen Integration wurde. Auf einen Blick

Nachdem die SPD 1960 auf den Kurs der Westintegration eingeschwenkt war, verliefen die Spannungslinien zunächst nicht so sehr zwischen Union und Sozialdemokratie, sondern innerhalb der Christdemokratie bzw. zwischen der Bundesregierung und ihren westlichen Verbündeten. Die „Atlantiker“ um Wirtschaftsminister Ludwig Erhard und Außenminister Gerhard Schröder beharrten darauf, dass für die Sicherheit der Bundesrepublik eine enge Anbindung an die USA unverzichtbar war; in der Anlehnung an Frankreich erblickten sie den Anfang vom Ende des Bündnisses mit Washington. Die „Gaullisten“, zu denen neben Kanzler Adenauer auch Verteidigungsminister Franz Josef Strauß gehörte, sahen im französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle einen Verbündeten in ihrem Kampf gegen amerikanische Entspannungstendenzen und einen Ausverkauf deutscher Interessen. Seit Ende der 1950er Jahre waren bei ihnen die Sorgen über den Kurs der USA gewachsen. Schon angesichts der Genfer Gipfelkonferenz 1955, dem ersten Zusammentreffen aller vier Siegermächte auf höchster Ebene seit Beginn des Kalten Krieges, hatte Adenauer der Alptraum von Potsdam geplagt: die Sorge vor Entscheidungen über Deutschland ohne die Deutschen, wie im Sommer 1945 bei der Konferenz von Potsdam. Der Kanzler erkannte, dass in der atomaren Aufrüstung und in der gegenseitigen nuklearen Vernichtungskapazität der Supermächte ein Anreiz für eine auf Entspannung gerichtete Politik angelegt war, und er hielt diese Tendenzen für bedrohlich. Alarmiert reagierte er auf die neue Nukleardoktrin der Kennedy-Administration, mit der die NATO in die Lage versetzt werden sollte, flexibel auf Angriffe des Ostblocks zu reagieren, um nicht gleich bei den ersten Kampfhandlungen zur Eröffnung des atomaren Schlagabtausches gezwungen zu sein. Die Bundesregierung fürchtete, Deutsche und Westeuropäer sollten künftig die Hauptlast eines konventionell geführten Krieges tragen, während sich die USA hinter der Sicherheit ihrer Atomwaffen verschanzten.

Literatur Geiger, T.: Atlantiker gegen Gaullisten. Außenpolitischer Konflikt und innerparteilicher Machtkampf in der CDU/CSU 1958–1969, München 2008. Quellenreiche Untersuchung einer für die Geschichte der Union zentralen Kontroverse, die Partei- und Außenpolitik gekonnt aufeinander bezieht. Harrison, H.: Driving the Soviets up the Wall. Soviet-East German Relations, 1953–1961, Princeton

Literatur Loth, W.: Europas Einigung. Eine unvollendete Geschichte, Frankfurt a.M./New York 2014. Profunde Gesamtdarstellung von einem der besten Kenner der europäischen Integrationsgeschichte. Milward, A.: The European Rescue of the Nation-State, 2. Aufl. London 2000. Einflussreiche revisionistische Interpretation der europäischen Integrationsgeschichte. Schwabe, K. (Hrsg.): Konrad Adenauer und Frankreich 1949–1963. Stand und Perspektiven der Forschung zu den deutsch-französischen Beziehungen in Politik, Wirtschaft und Kultur, Bonn 2005. Versammelt Beiträge zu verschiedenen Facetten der deutsch-französischen Beziehungen. Wilke, M.: Der Weg zur Mauer. Stationen der Teilungsgeschichte, Berlin 2011. Guter Überblick.

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VI. Innen- und Sozialpolitik 1955–1963 Überblick

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n der CDU begannen Ende der 1950er Jahre viele, über die Zeit nach Adenauer nachzudenken. Den natürlichen Nachfolger sahen die meisten in Wirtschaftsminister Erhard. Der Kanzler hielt seinen Minister jedoch für politisch naiv und nicht besonders fleißig. Zudem misstraute er dessen außenpolitischen Grundorientierungen. Deswegen spielte er 1959 mit dem Gedanken, ins Amt des Bundespräsidenten zu wechseln und von dort die Zügel in der Hand zu behalten. Als ihm klar wurde, dass dies nicht gelingen würde, ruderte er zurück. Noch stärker als die Präsidentschaftskrise schwächte die „Spiegel“-Affäre Ade-

nauers Stellung. Sie begann im Herbst 1962 damit, dass die Bundesanwaltschaft die Redaktionsräume des Hamburger Nachrichtenmagazins durchsuchen und den Herausgeber Rudolf Augstein sowie mehrere Redakteure festnehmen ließ. Ihnen wurde „Landesverrat“ vorgeworfen, weil sie in einem Artikel über die Bundeswehr geheime Informationen veröffentlicht hätten. Der Kanzler geriet dabei derart in die Kritik, dass er sich gezwungen sah, seinen Rücktritt für den Herbst des folgenden Jahres anzukündigen. Seither war das Ende der Ära Adenauer absehbar.

23.2.1957

Verabschiedung der Rentenreform durch den Bundestag

15.9.1957

Absolute Mehrheit der CDU/CSU bei Bundestagswahl

18.–23.5.1958

SPD-Parteitag in Stuttgart; neues Organisationsstatut

1.7.1959

Wahl Heinrich Lübkes zum Bundespräsidenten

13.–15.11.1959 Sonderparteitag der SPD in Bad Godesberg; neues Grundsatzprogramm (Godesberger Programm) 30.6.1960

Wehner-Rede im Bundestag: Angebot einer gemeinsamen Außenpolitik von Regierung und Opposition

28.2.1961

„Fernsehurteil“ des Bundesverfassungsgerichts

26.10.1962

Nächtliche Durchsuchung der Redaktionsräume des „Spiegel“; Verhaftung Augsteins und mehrerer Mitarbeiter

19.11.1962

Rücktritt der FDP-Minister wegen „Spiegel“-Affäre

13.12.1962

Umbildung der Bundesregierung (fünftes Kabinett Adenauer)

23.4.1963

Wahl Erhards zum Kanzlerkandidaten für die Nachfolge Adenauers durch CDU/CSU-Bundestagsfraktion

11.10.1963

Rücktrittsgesuch Adenauers an den Bundespräsidenten

15.10.1963

Abschiedsrede von Bundestagspräsident Gerstenmaier für scheidenden Bundeskanzler

1. Der Ausbau des Sozialstaates

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1. Der Ausbau des Sozialstaates a) Die Grundlagen des westdeutschen Sozialstaates „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“, heißt es in Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes. Freilich hatte der Parlamentarische Rat darauf verzichtet, den Begriff des Sozialstaats näher zu definieren. Vielmehr verwies die Rede vom „sozialen Staat“ zum Zeitpunkt der Entstehung des Grundgesetzes auf traditionelle Errungenschaften und zugleich auf dringende Aufgaben. Die Errungenschaften bestanden in dem überkommenen System der deutschen Sozialversicherung, wie es mit der Unfall-, Kranken- und Rentenversicherung in der Bismarck-Ära in den 1880er-Jahren entstanden und in der Weimarer Republik 1927 durch die Arbeitslosenversicherung ergänzt worden war. Die NS-Herrschaft hatte dieses System verzerrt und dem Führerprinzip unterworfen, aber nicht abgeschafft. Es konnte daher während der ersten Legislaturperiode des Bundestages zwischen 1949 und 1953 in seinen wesentlichen Funktionen wiederhergestellt werden. Entgegen den ursprünglichen Plänen der Besatzungsmächte und den Forderungen der SPD verzichtete die Regierungskoalition auf tiefgreifende Reformen. Insbesondere die Einführung eines Einheitsversicherungssystems, das die bisher selbstständigen und in vielfache Sondersysteme aufgegliederten Zweige der verschiedenen Sozialversicherungen zusammengefasst hätte, unterblieb. Stattdessen orientierte man sich an den rechtlichen Konstruktionen und den Institutionen der Weimarer Zeit. Es blieb bei der Vielfalt der verschiedenen Kranken- und Rentenversicherungsträger. Die von den Nationalsozialisten abgeschaffte Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung wurde als Bundesanstalt wieder ins Leben gerufen. Neu war nur der Aufbau einer eigenen Sozialgerichtsbarkeit, mit der man der vom Grundgesetz geforderten Trennung von Justiz und Verwaltung nachkam. Zur Wiederherstellung des überkommenen Systems trat als dringende Aufgabe die Linderung der durch Krieg und Niederlage entstandenen Probleme: die Unterstützung der Opfer nationalsozialistischer Verfolgung, die Versorgung von Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen, die Hilfe für Vertriebene, Flüchtlinge, Ausgebombte, Evakuierte, Heimkehrer, Angehörige von Kriegsgefangenen und zahllose andere. Um mit der erdrückenden Last drängender Aufgaben fertig zu werden, mussten der zuständige sozialpolitische Ausschuss des Bundestags und die entsprechenden Fachministerien häufig improvisieren und sich mit Behelfslösungen zufriedengeben. Die Folge war eine umfangreiche Sondergesetzgebung, die in dem Bundesversorgungs- und Bundesheimkehrergesetz (beide 1950), dem Lastenausgleich von 1952 und dem Bundesvertriebenengesetz von 1953 gipfelten. Nimmt man noch die Einführung der paritätischen Mitbestimmung im Montanbereich 1951 hinzu, so waren mit diesen unbestreitbaren Leistungen die finanziellen Kapazitäten der erst allmählich in Schwung kommenden Volkswirtschaft ausgeschöpft, die beteiligten Gremien, Ministerien und Behörden bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit belastet. Erst gegen Ende der Legislaturperiode setzte sich die Überzeugung durch, dass man bald die Periode des „Flickwerks“ (Hans Günter Hockerts) beenden und eine umfassende Reform der Sozialleistungen in Angriff nehmen müsse. Die SPD unterbreitete der Regierung 1952 das Angebot, gemeinsam einen entsprechenden Maßnahmenplan zu erarbeiten und zu verabschieden. Die Ini-

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VI.

Innen- und Sozialpolitik 1955–1963

tiative scheiterte nicht nur an taktischen Überlegungen, sondern auch an grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten darüber, wie die soziale Sicherung gestaltet und finanziert werden sollte. Während die SPD ein die gesamte Bevölkerung umfassendes, aus Steuern finanziertes System anstrebte, hielten die Regierungsparteien am Vorrang des Versicherungsprinzips und der Beitragsfinanzierung fest.

b) Die Rentenreform Nicht zuletzt aufgrund des Vorstoßes der SPD sah Adenauer sich veranlasst, 1953 im Regierungsprogramm für seine zweite Amtszeit eine groß angelegte Sozialleistungsreform anzukündigen. Rivalitäten zwischen den beteiligten Ministerien und unterschiedliche Auffassung im Regierungslager über die Ziele einer Reform verhinderten, dass diese umfassende Neugestaltung je verwirklicht wurde. Im Kern ging es darum, dass die CDU-Sozialausschüsse und das Bundesarbeitsministerium unter Anton Storch großzügigere Hilfen anstrebten und unter allen Umständen am Rechtsanspruch der Versicherten auf Sozialleistungen festhalten wollten. Dieses Ziel schien ihnen über schrittweise kleinere Reformen besser erreichbar als durch ein ehrgeiziges Gesamtpaket. Die liberalen Kräfte in der Regierung um Erhard hingegen dachten zusammen mit den Arbeitgeberverbänden und den Vereinigungen der Selbständigen eher daran, den Gedanken der Selbsthilfe zu stärken und steuerfinanzierte Leistungen nur nach Prüfung der individuellen Bedürftigkeit der Empfänger bereitzustellen. Unterstützt wurden sie vom Finanzministerium, das eine Explosion der Sozialausgaben auf sich zukommen sah und staatliche Hilfe auf Bedürftige beschränkt wissen wollte. Dem Kanzler war einerseits an einer Gesamtlösung gelegen, andererseits wollte er nicht den Rücktritt des Arbeitsministers riskieren und die einflussreichen Sozialausschüsse vor den Kopf stoßen. Im Gewirr derartiger Interessenkonflikte blieb die große Sozialreform bis 1955 stecken. Bei den 1957 anstehenden Bundestagswahlen wollte Adenauer jedoch konkrete sozialpolitische Erfolge vorweisen können. Eine Sozialreform sollte die Arbeit seiner Regierung krönen und beweisen, dass der Kanzler nicht nur an Außenpolitik und Aufrüstung dachte, sondern auch an die Armen und Schwachen. Der Druck, konkrete Ergebnisse zu erzielen, wuchs. Da ein Gesamtplan immer noch in weiter Ferne schien, entschied Adenauer im Sommer 1955, man solle vom Gedanken einer großen Reform Abschied nehmen und sich stattdessen auf den wichtigsten Teilbereich konzentrieren. Dies war das Rentensystem, wie die im Frühjahr 1955 abgeschlossene Sozial-EnquÞte des Bundestages noch einmal bestätigt hatte. Alt oder invalide zu sein, war in der Bundesrepublik Mitte der fünfziger Jahre immer noch häufig ein hartes Los. Die durchschnittliche Rentenhöhe eines Arbeiters lag 1950 bei 60,50 DM, die gesicherte Mindestrente bei lediglich 50 DM. Dies wog umso schwerer als mit dem beginnenden Wirtschaftsaufschwung die Löhne und Gehälter seit einigen Jahren spürbar anstiegen, während die Renten weitgehend stagnierten. Altersarmut war nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel. Viele Arbeitnehmer blickten mit berechtigter Sorge auf das Ende ihres Erwerbslebens. Zu Adenauers Glück wurde zu dieser Zeit von dem Kölner Volkswirtschaftler Wilfrid Schreiber (1904–75) ein Vorschlag in die Diskussion gebracht, an den sich anknüpfen ließ. Schreibers Idee einer „dynamischen Rente“ beruhte auf der Überzeugung, das Kapitaldeckungsverfahren, das

1. Der Ausbau des Sozialstaates

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der Rentenversicherung seit Bismarcks Zeiten zugrunde lag, sei durch die Verwerfungen zweier Weltkriege und die ihnen folgenden Geldentwertungen überholt. Kein deutscher Rentner konnte in den fünfziger Jahren von dem leben, was er in den zwanziger und dreißiger Jahren in seine Rentenversicherung eingezahlt hatte – einfach deshalb, weil es von zwei Inflationen aufgezehrt worden war. Stattdessen, schlug Schreiber vor, sollte die erwerbstätige Generation in einer Art „Solidarvertrag“ für die Renten der jeweils vorangegangenen Erwerbsgeneration aufkommen. Die Rente sollte „dynamisiert“, das heißt an die Entwicklung der Löhne angepasst werden, damit auch nicht mehr im Beruf Stehende die Chance hatten, am Wirtschaftsaufschwung teilzuhaben. Das Arbeitsministerium, das diesen Plan begierig aufgriff, ergänzte ihn um den Gedanken, die Rente solle nicht mehr als Zuschuss zum Unterhalt, sondern als „Lohnersatz“ aufgefasst werden, der im Alter in etwa die Fortsetzung des einmal erreichten Lebensstandards gewährleiste. Damit hielt man an dem liberalen Prinzip fest, dass die Rentenhöhe die relative Höhe des Arbeitseinkommens widerspiegeln, also keine Einheits-, sondern eine nach dem Leistungsprinzip gestaffelte Rente sein sollte. Gegner des Plans wie Finanzminister Schäffer und die Bundesbank sahen Mehrausgaben in Milliardenhöhe auf die Bundeskasse zukommen. Sie warnten vor der unsicheren demographischen Entwicklung und wiesen auf mögliche Gefahren für die Geldwertstabilität hin. Die Neo-Liberalen um Wirtschaftsminister Erhard lehnten die Reform auch aus ordnungspolitischen Gesichtspunkten ab, weil sie ihrer Ansicht nach nicht mit den Grundsätzen der Marktwirtschaft in Einklang zu bringen war. Entscheidend war, dass sich der Kanzler, nicht zuletzt aus Wahlkampfüberlegungen heraus, für den Schreiber-Plan begeisterte und ihn mit seiner Richtlinienkompetenz gegen alle Widerstände durchfocht, so dass er im Bundestag am 23. Februar 1957 mit den Stimmen von Union und SPD gegen die FDP und den größten Teil der DP verabschiedet werden konnte.

c) Die Bundestagswahl von 1957 Wenn die SPD gehofft hatte, bei den Bundestagswahlen im September 1957 von ihrer Zustimmung zur Rentenreform zu profitieren, sah sie sich bitter enttäuscht. Obwohl die Sozialdemokraten durch ihre Vorschläge und durch die Kooperation beim Gesetzgebungsverfahren im Bundestag entscheidend zum Zustandekommen der Reform beigetragen hatten, schrieben die Wähler diese allein der Union gut. Listig hatte die Regierung das Gesetz rückwirkend auf den 1. Januar 1957 festgelegt, so dass die Rentennachzahlungen, die vom Mai an in den Portemonnaies vieler Bürger eingingen, rechtzeitig zur Wahl im Herbst ihre Wirkung entfalteten. Die Verbesserungen waren zum Teil beträchtlich. Bei der Arbeiterversicherung stiegen die Renten um 65%, bei der Angestelltenversicherung sogar um fast 72%. Weitere Wahlgeschenke für Gruppen, die der Union am Herzen lagen, kamen hinzu. Insbesondere die Senkung der Preise für Grundnahrungsmittel erwies sich als erfolgreich – wie schon 1953, als die Regierung vor den Wahlen die Kaffee-, Tee- und Tabaksteuer gesenkt hatte. Der fraktionsinterne Arbeitskreis der Union, der die Wohltaten verteilte und die Empfänger bestimmte, wurde treffend als „Kuchen-Ausschuss“ bezeichnet. Finanziert wurden die Gaben zum Teil aus den Überschüssen, die das Finanzministerium seit 1952 erwirtschaftet hatte. Insgesamt beliefen sich dessen Rücklagen Ende 1956 auf 7,2 Mrd. DM – teils Erstattungen für Besatzungs-

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kosten, die von den Alliierten noch nicht eingefordert worden waren, teils Rücklagen für den allmählich beginnenden Aufbau der Bundeswehr. Dieser Sparstrumpf wurde nun gegen den Willen des Finanzministers geplündert. Entsprechend stark expandierte der Bundeshaushalt: von 26,5 Mrd. DM 1955 auf 35,4 Mrd. im Wahljahr. Die Ausgabenexplosion war möglich, weil die Wirtschaft weiter boomte, das Sozialprodukt kräftig wuchs und die Steuereinnahmen reichlich flossen. Dennoch fällt im Rückblick auf, dass die Regierung 1956/57 erstmals mit ihrem Erfolgsrezept der strikten Haushaltsdisziplin brach und die Ausgaben des Bundes mit 40% stärker anwachsen ließ als das Sozialprodukt, das nur um 37% stieg. Langfristig leitete diese Lässigkeit einen bedrohlichen Trend ein. Kurz- und mittelfristig jedoch zahlte sich die Politik der weitgestreuten Wohltaten aus. Stichwort

Die Bundestagswahl vom 15. September 1957 Die CDU/CSU erreichte mit 50,2% der Stimmen die absolute Mehrheit. Die SPD verbesserte sich zwar leicht auf 31,8%, konnte aber keine neuen Wählerschichten erschließen. Sie blieb in ihrem 30%-Turm eingemauert. Für die Freien Demokraten kam das Wahlergebnis einer Katastrophe gleich. Sie verschlechterten sich um fast 2%. Schlimmer noch erging es den anderen kleinen Parteien, die entweder wie der BHE gar nicht mehr im Bundestag vertreten waren oder wie die DP den Einzug ins Parlament nur Wahlabsprachen mit der Union verdankten.

Es wäre falsch, den Sieg der Christdemokraten lediglich mit den Wahlgeschenken zu erklären, die sie verteilt hatten. Andere Ursachen waren mindestens ebenso wichtig. Erstens konnten sie auf unbestreitbare Erfolge in der zurückliegenden Legislaturperiode verweisen. Die Wirtschaft prosperierte, die europäische Integration machte Fortschritte, und der Ausbau des Sozialstaates konnte sich sehen lassen. Zweitens hatten CDU und CSU im Vergleich mit den anderen Parteien wieder den professionellsten Wahlkampf geführt. Ihr Slogan „Keine Experimente“ traf den Nerv der Zeit. Die Union hatte zudem die Fragen, die ihr schaden konnten (Adenauers Alter etwa), geschickt zu umschiffen gewusst, während sie gleichzeitig Themen wie die Wirtschafts- und Sozialpolitik ins Zentrum rückte, bei denen sie stark war. Außerdem gelang es noch einmal, antikommunistische Ängste der Bevölkerung gegen die SPD zu mobilisieren. Adenauers böser Bemerkung, ein Wahlsieg der Sozialdemokraten führe zum „Untergang Deutschlands“, wurde eher Glauben geschenkt als der sozialdemokratischen Warnung, ein Erfolg der Union bedeute „dauernde Einparteienherrschaft, Teuerung und Inflation, endgültige Spaltung unseres Vaterlands, Atombomben und Atomtod“. Drittens schließlich litten die anderen Parteien darunter, dass die Person Adenauers den Wahlkampf dominierte. Die SPD konnte keinen überzeugenden Gegenkandidaten ins Feld führen. Ihr Parteivorsitzender Ollenhauer war redlich, aber blass und wenig charismatisch. Carlo Schmid galt als zu bürgerlich, um für die Stammwähler der Partei akzeptabel zu sein. Andere wie Fritz Erler (1913–67) hielten ihre Zeit für noch nicht gekommen. Trotz dieser früh erkennbaren Schwächen traf die erneute Wahlniederlage die SPD – ähnlich wie die FDP – als herbe Enttäuschung. Beide Parteien machten sich in der Folgezeit daran, ihren Kurs zu überprüfen und nach neuen Wegen zum Erfolg zu suchen.

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2. Verschiebungen in der Parteienlandschaft a) Die FDP zwischen Koalition und Konfrontation mit der Union Im Hinblick auf das Parteienspektrum bildete die Wahl von 1957 einen gewissen Abschluss jenes Schrumpfungsprozesses auf der politischen Rechten, der sich bereits 1953 abgezeichnet hatte und die Union zur Erbin der zahlreichen bürgerlichen Rechtsparteien werden ließ. Die Integration dieser Parteien verlief keineswegs naturwüchsig-automatisch, sondern wurde von den Christdemokraten gezielt vorangetrieben. Dabei spielten Wahlabsprachen und das Angebot von Ministerposten in der Bundesregierung ebenso eine Rolle wie regelrechte Übertrittsverhandlungen mit Spitzenpolitikern der Kleinparteien, die ihrer Basis in den Ländern und Kommunen den Übergang zur CDU schmackhaft machen sollten. Am Ende stärkten die Parteiwechsel von Politikern wie Oberländer vom BHE oder Seebohm von der DP das protestantische, konservative Element in der Union und sorgten zugleich dafür, dass den Christdemokraten im rechten Lager kein ernst zu nehmender Gegner erwuchs. Die einzige Partei, die dem Sog der Union entging, war die FDP. Aber auch sie musste in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre heftige Kämpfe ausfechten, um sich als unabhängige Kraft zu behaupten. Was ihr dabei half, war zum einen ihre gesellschaftliche Verankerung im deutschen Bürgertum mit Wurzeln bis ins Kaiserreich, über die keine der neugegründeten Rechtsparteien verfügte. Zum anderen stellte der traditionelle Antiklerikalismus der Liberalen eine weltanschauliche Trennlinie zur Christdemokratie dar, die innerhalb der eigenen Partei das Zusammengehörigkeitsgefühl stärkte und in der Union Übernahmegedanken unattraktiv erscheinen ließ. Hinzu kam, dass die Führungsriege der FDP frühzeitig auf die Umarmungstaktik der Christdemokraten zu reagieren begann. Schon nach der Wahlschlappe 1953 hatte die Partei aus ihren Stimmenverlusten die Schlussfolgerung gezogen, sie müsse sich innerhalb der Koalition mit der übermächtigen CDU/CSU stärker profilieren. Daher betonte sie seit 1953 nicht mehr, wie noch in der ersten Legislaturperiode, die wirtschaftspolitischen und antisozialistischen Gemeinsamkeiten mit der Union, sondern legte größeres Gewicht auf die Differenzen, die es in der Außen- und Deutschlandpolitik, v.a. aber in der Saarfrage und in der Haltung gegenüber den Kirchen gab. Exponent des Konfrontationskurses war Thomas Dehler, der 1954 den blassen Blücher an der Parteispitze ablöste. Dehler nutzte seine Position als Parteichef außerhalb des Kabinetts, um die CDU nach Kräften zu kritisieren. Insbesondere die Deutschlandpolitik des Kanzlers attackierte er ein ums andere Mal leidenschaftlich. Stichwort Thomas Dehler (1897–1967) hat über seinen Parteifreund Heuss nach dessen Tod einmal gesagt, dieser habe in seinem Leben um nichts wirklich gekämpft. Dehler selbst war aus anderem Holz geschnitzt. Streitbar, Auseinandersetzungen nicht scheuend, sie oft suchend, war er der kämpferischste Liberale in der Geschichte der Bonner Republik. Als junger Mann hatte er 1924 zu den Gründern des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold und im „Dritten Reich“ zu den aktiven Gegnern des Nationalsozialismus gehört. Nach dem Zweiten Weltkrieg wirkte er beim Aufbau der FDP mit und vertrat seine Partei erst im Parlamentarischen Rat, dann von 1949 bis zu seinem Tod im Bundestag (zwischen 1953 und 1956 als Fraktionschef).

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Dem ersten Kabinett Adenauer gehörte er als Justizminister an. Später verwandelte sich Dehler von einem Anhänger Adenauers zu dessen erbitterten Gegner, nicht zuletzt, weil der Kanzler ihm in seinem zweiten Kabinett keinen Posten mehr angeboten hatte.

Adenauer drängte deswegen hinter den Kulissen auf die Ablösung des FDP-Vorsitzenden. Dies erschien umso Erfolg versprechender, als Teile der FDP-Fraktion Dehlers Konfrontationskurs mit wachsender Sorge zusahen. Bei dessen polemischen Reden verließen regelmäßig etliche FDPAbgeordnete demonstrativ den Plenarsaal. Der Konflikt spitzte sich zu, als die Union einen Vorschlag für ein neues Wahlsystem unterbreitete. Das „Grabensystem“ sah vor, in Zukunft 60% der Abgeordneten direkt und nur noch 40% nach dem Verhältniswahlrecht über Listen zu wählen. Direkt gewonnene Mandate sollten nicht auf die Listenmandate angerechnet, Mehrheits- und Verhältniswahl vielmehr durch einen „Graben“ voneinander getrennt bleiben. Für eine kleine Partei wie die FDP, die kaum Aussichten hatte, Direktmandate zu gewinnen, stellte der Vorschlag eine existentielle Bedrohung dar. Ein Wiedereinzug in den Bundestag wäre unter diesen Bedingungen so gut wie unmöglich gewesen. Mit dem Wahlrechtsantrag als Druckmittel arbeitete Adenauer auf einen Wechsel an der FDP-Spitze hin. Die Partei hielt jedoch derart in die Enge getrieben im entscheidenden Moment zu ihrem Vorsitzenden. Statt vor dem Kanzler zu kapitulieren, versuchte sie, ihren Handlungsspielraum zu erweitern und sich nach anderen Koalitionsmöglichkeiten umzusehen. In Nordrhein-Westfalen bemühten sich die sog. Jungtürken um Wolfgang Döring (1919–63), die christlich-liberale Landesregierung von Ministerpräsident Arnold durch ein konstruktives Misstrauensvotum zu stürzen und anstelle dessen ein Bündnis mit der SPD einzugehen. Obwohl die CDU ihren Wahlrechtsantrag im Januar 1956 zurückzog, ließ sich das Manöver nicht mehr stoppen. Im Februar schritten Döring und seine Leute zur Tat. Was als Befreiungsschlag geplant war, führte zu einer Selbstschwächung der Liberalen. Denn als Reaktion auf den Koalitionsbruch in Düsseldorf verließen 16 Bundestagsabgeordnete – darunter Blücher und die drei anderen Minister der Partei – die FDP-Fraktion und gründeten die Freie Volkspartei (FVP). Während die um ein Drittel ihrer Fraktionsmitglieder dezimierte Rest-FDP unter Dehlers Führung in die Opposition ging, blieb die FVP mitsamt ihren Ministern in der Regierung, ehe sie im Jahr darauf sang- und klanglos mit der DP fusionierte. Zwar konnte aufgrund des raschen Endes der FVP eine Parteispaltung vermieden werden. Wer sich jedoch Hoffnungen auf eine grundsätzliche Umorientierung der FDP in der Opposition gemacht hatte, sah sich enttäuscht. Dazu kam es schon deshalb nicht, weil die Gemeinsamkeiten mit der SPD zu gering waren, um eine tragfähige Grundlage für ein Bündnis abzugeben. Die sozial-liberale Koalition in Nordrhein-Westfalen brach bereits nach zwei Jahren wieder auseinander. Derart gebeutelt und aus der Bahn geworfen, erlitt die FDP 1957 ihren zweiten Rückschlag bei Bundestagswahlen und sah sich auf weitere vier Jahre in die Opposition verwiesen. Reinhold Maier, der ehemalige Ministerpräsident Baden-Württembergs, der Dehler im Januar 1957 im Parteivorsitz ablöste, verfügte über ein stärker auf Ausgleich bedachtes, weniger polarisierendes Temperament als sein Vorgänger. Aber er war alt und müde, hatte sich nur widerstrebend bereit erklärt, den Parteivorsitz zu übernehmen. Zwar hielt auch er Distanz zur Union und versuchte, seine Partei als „Dritte Kraft“ zwischen Christ- und Sozialdemokraten zu positionieren.

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Doch gleichzeitig fand die FDP unter seiner Führung wieder zurück zu ihrer Rolle als „verlässliche gediegene Honoratiorenpartei des mittelständischen Bürgertums“ (Franz Walter). Unter Erich Mende, der Maier 1960 ablöste, näherten sich die Liberalen wieder stärker der CDU an. Auch wenn sie ihre außenpolitischen Differenzen mit der Union pflegten, als Entspannungspartei und Vorreiter eine neuen, realistischeren Deutschlandpolitik Profil zu gewinnen suchten, steuerten sie unter Mendes Führung doch eine neuerliche Koalition mit der CDU an. Zugleich versuchte die FDP, von dem Überdruss zu profitieren, der dem Kanzler inzwischen in Teilen der Öffentlichkeit entgegenschlug. Mende – jünger, ehrgeiziger und stärker als Maier auf die Bundespolitik ausgerichtet – gelang es, einen dritten Weg zwischen dem Anpassungskurs Blüchers und der Konfrontationsstrategie Dehlers einzuschlagen.

b) Die Erneuerung der SPD und das Godesberger Programm Die SPD hatte anders als die Liberalen bei den Bundestagswahlen 1957 keine Stimmen verloren, sondern um drei Prozentpunkte zugelegt. Doch bei genauerem Hinsehen zeigte sich, dass der Zuwachs fast ausschließlich aus dem Wählerpotential der 1956 vom Bundesverfassungsgericht verbotenen KPD sowie der GVP Heinemanns stammte, die sich im Mai 1957 aufgelöst hatte. Der SPD war es nicht gelungen, neue Wählerschichten zu erschließen. Die innerparteiliche Erneuerungsdiskussion, die nach der Wahlniederlage 1953 begonnen hatte, wurde deswegen mit wachsender Dringlichkeit fortgesetzt. Ursprünglich standen v.a. Fragen der Parteiorganisation, der besseren Präsentation und Vermarktung sozialdemokratischer Politik im Mittelpunkt. Carlo Schmid forderte, man müsse „ideologischen Ballast abwerfen“. Parteisymbole wie die rote Fahne sollten sparsamer verwendet, die Anrede „Genosse“ und das in der Partei übliche Duzen aufgegeben werden. Nach der neuerlichen Wahlenttäuschung 1957 griff die Diskussion auf Personalfragen über. V.a. der Parteivorsitzende und Fraktionschef Erich Ollenhauer sowie der von ihm geleitete „Apparat“ hauptamtlicher Funktionäre gerieten in die Kritik. Einen ersten Schritt zu deren Entmachtung tat die Bundestagsfraktion, als sie Ollenhauer 1957 mit drei neuen stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden – Erler, Schmid und Wehner – gleichsam einrahmte. 1958 bestätigte die Partei Ollenhauer auf dem Stuttgarter Parteitag als Vorsitzenden. Auch in diesem Amt aber wurden ihm mit Wehner und Waldemar von Knoeringen (1906–71) zwei Stellvertreter zur Seite gegeben. Zusätzlich beschloss der Parteitag eine Änderung des Organisationsstatuts: Die Geschäftsführung der Partei sollte nicht mehr von dem mit besoldeten Funktionären besetzten „Büro“ wahrgenommen werden, sondern von einem aus der Mitte des Parteivorstands gewählten Präsidium. Hertha Gotthelf (1902–63) und Fritz Heine (1904–2002), zwei Mitglieder des „Büros“, wurden nicht wieder in den Vorstand gewählt. Mit diesen Personalentscheidungen verband sich weniger ein politischer Richtungswandel „nach rechts“ – Wehner etwa wurde dem linken Parteiflügel zugerechnet – als vielmehr das Signal zur Modernisierung und zum Generationswechsel. Was Erler, Schmid, Wehner und von Knoeringen bei allen sonstigen Unterschieden verband, war die Tatsache, dass keiner von ihnen zur alten Weimarer Garde der SPD gehörte, die bis dahin die Führungsebene der Partei geprägt hatte. Weil ein Großteil der Mitglieder des Parteivorstands auch dem Bundestag angehörte, waren nun erstmals Partei und Fraktion personell miteinander verzahnt.

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Stichwort Erich Ollenhauer (1901–63) war anders als Schumacher kein charismatischer Volkstribun. Er repräsentierte den Typus des redlich-biederen SPD-Funktionärs, der seine Karriere dem Parteiapparat verdankte und geringe persönliche Ausstrahlung besaß. Ollenhauer war als 15-jähriger in die Sozialistische Arbeiterjugend eingetreten, deren Vorsitz er 1928 übernahm, und gleichzeitig in den Vorstand der SPD aufgestiegen. Nach 1933 im Exil bestimmte er das Schicksal der Partei maßgeblich mit, zuerst bis 1938 in Prag, dann in Paris und seit 1940 in London. Nach seiner Rückkehr aus Großbritannien 1946 ordnete er sich dem eisernen Machtwillen und dem moralischen Führungsanspruch Schumachers unter und trat ins zweite Glied zurück. Nach Schumachers Tod setzte er den strikten Oppositionskurs gegen die Politik Adenauers fort. Nach den beiden deutlichen Wahlniederlagen, die die SPD unter seiner Führung erlitt, sah er die Notwendigkeit einer grundsätzlichen Neuorientierung ein. Eine führende Rolle spielte Ollenhauer, der bis zu seinem Tod im Dezember 1963 Partei- und Fraktionschef blieb, bei dem Erneuerungsprozess aber nicht.

Als weitere Konsequenz aus der Wahlniederlage trieb Ollenhauer die Arbeit an dem neuen Grundsatzprogramm voran, an dem eine Kommission unter der Leitung Willi Eichlers (1896–1971) seit 1955 arbeitete. Den Reformern innerhalb der SPD war es recht, dass die Programmkommission anfangs nur mühsam vorankam. Sie fürchteten, programmatische Festlegungen würden der Partei bei künftigen Entscheidungen die Hände binden, und wollten sich lieber auf kurzfristige Aktionsprogramme verlassen. Nach dem Stuttgarter Parteitag belebte sich jedoch die Programmdiskussion in den verschiedenen Gliederungen der Partei, so dass bis zum Herbst 1959 ein Entwurf erarbeitet werden konnte. Dieser wurde einem für November nach Bad Godesberg einberufenen Sonderparteitag zur Beschlussfassung vorgelegt. Das Programm wurde zwar von der überwältigenden Mehrheit der Parteitagsdelegierten – bei nur 16 Gegenstimmen – angenommen. Doch die Opposition war alles in allem beträchtlich; unzählige Änderungs- und Verbesserungsvorschläge mussten bearbeitet werden. Die Widerstände gegen das Godesberger Programm werden verständlich, wenn man sich das Ausmaß der Veränderungen bewusst macht, die damit vorgenommen wurden. Fast wichtiger als der Programmtext war das, was in ihm nicht enthalten war. Erstens fehlte die weltanschauliche und theoriegeschichtliche Festlegung auf den Marxismus. Zwar wurde Karl Marx (1818–83) und Friedrich Engels (1820–95) bescheinigt, „das Bewusstsein der Arbeiterschaft und die Entwicklung der Arbeiterbewegung … wesentlich beeinflusst“ zu haben. Zugleich wurden jedoch auch die christliche Ethik, der Humanismus und die klassische Philosophie als historische Wurzeln des demokratischen Sozialismus aufgeführt. Ausdrücklich erkannte die Partei den „besonderen Auftrag“ und die „Eigenständigkeit“ der Kirchen an. Zweitens fällt der Verzicht auf den Terminus „Sozialisierung“ auf, der nirgendwo in den von Heinrich Deist (1902–64) formulierten wirtschaftspolitischen Programmteilen vorkam. Stattdessen wurde mit der Formel „Wettbewerb so weit wie möglich – Planung so weit wie nötig!“ die Perspektive einer gemischten Wirtschaftsverfassung eröffnet, die unternehmerischer Initiative ebenso einen Platz einräumte wie der „Investitionskontrolle“. Drittens widmete das Programm einen ganzen Abschnitt dem Thema der „Landesverteidigung“, die grundsätzlich bejaht wurde. Damit distanzierte sich die SPD von pazifistischen Strömungen, auch wenn sie am Ziel der internationalen Entspannung, der Abrüstung und Ächtung von Massenvernichtungswaffen, dem

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Verbot der Herstellung und Verwendung atomarer Waffen in der Bundesrepublik und damit an ihrem prinzipiellen Widerstand gegen Adenauers Außenpolitik festhielt. Das Godesberger Programm versetzte die SPD in die Lage, neue Wählerschichten, etwa aus ihr bisher fernstehenden katholischen Kreisen, zu gewinnen und sich von einer Klassen zu einer Volkspartei zu entwickeln, die zwar weiter in der Arbeiterschaft verwurzelt war, aber auch von anderen Schichten als wählbare Alternative zur Union angesehen wurde. Gleichzeitig spiegelte es soziologische und psychologische Veränderungen unter den westdeutschen Arbeitern wider, die am Wirtschaftsaufschwung partizipiert hatten, sich nicht mehr klassenbewusst als ausgebeutete Proletarier verstanden, sondern vielfach stolz waren, zu einer neuen prosperierenden Mittelschicht zu gehören. Die SPD hatte sich auf den „Weg zur Staatspartei“ (Kurt Klotzbach) begeben, die mit aller Kraft in die Regierungsverantwortung strebte.

c) Die SPD auf Gemeinsamkeitskurs mit der Regierung Mit der Stuttgarter Organisationsreform und dem Godesberger Programm war die Kurskorrektur der SPD nicht abgeschlossen. Ebenso wichtig wie die personelle, organisatorische und programmatische Erneuerung war die Positionierung gegenüber der Regierung in wichtigen Sachfragen. Bisher hatte die SPD lediglich bei vereinzelten sozialpolitischen Reformen – v.a. in der Mitbestimmungsfrage und bei der Rentenreform – den Schulterschluss mit der Union gesucht, ansonsten jedoch eine Politik konsequenter Opposition betrieben. Insbesondere in der Außenund Deutschlandpolitik lagen die Standpunkte weit auseinander, wie im März 1959 noch einmal deutlich wurde, als die SPD ihren Deutschlandplan vorlegte. In der Diskussion über das Konzept prallten die gegensätzlichen Positionen aufeinander, die in den fünfziger Jahren die Haltung von SPD und CDU bestimmt hatten: der Primat der Wiedervereinigung verbunden mit Entspannungshoffnungen und Neutralisierungstendenzen auf sozialdemokratischer Seite, der Vorrang der Westintegration und die Politik der Stärke als Königsweg zur Überwindung der deutschen Teilung bei der CDU. Ausgerechnet der Initiator des Deutschlandplans, Herbert Wehner, führte seine Partei ein gutes Jahr später aus der außen- und deutschlandpolitischen Sackgasse hinaus, in die sie sich manövriert hatte. Wehner unterbreitete der Regierung in seiner Bundestagsrede am 30. Juni 1960 das Angebot einer weitgehenden Zusammenarbeit in der Außenpolitik. Er erklärte, das geteilte Deutschland könne unheilbar miteinander verfeindete Christliche Demokraten und Sozialdemokraten nicht ertragen. Sein Vorschlag zielte auf das „höchsterreichbare Maß an Übereinstimmung bei der Bewältigung der deutschen Lebensfragen“ und schloss ausdrücklich die Akzeptanz der NATO-Mitgliedschaft und die gemeinsame Perspektive der europäischen Integration ein. Mit Wehners Rede, die vorher nicht mit der Partei abgesprochen worden war, sondern „im Stil einer Palastrevolte“ (Gregor Schöllgen) durchgeführt und erst im Nachhinein abgesegnet wurde, stellte sich die SPD auf den Boden von Adenauers Politik der Westintegration. Fortan waren die Grundkoordinaten der Außenpolitik zwischen Regierung und Opposition nicht mehr umstritten. Wehners Rede nahm den Tenor des Bundestagswahlkampfes der SPD im folgenden Jahr vorweg. „Miteinander – nicht gegeneinander“, lautete ihr Slogan. Sie verzichtete auf eine pointierte Auseinandersetzung mit der CDU, klammerte die Außenpolitik aus der Auseinandersetzung aus und konzentrierte sich auf in-

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nenpolitische Reformvorschläge, die darauf hinausliefen, es nicht grundsätzlich anders, aber besser machen zu wollen als die Union. Stichwort Herbert Wehner (1906–90) war Ende der fünfziger Jahre zum starken Mann der SPD avanciert. Er gehörte als stellvertretender Vorsitzender dem Parteipräsidium und der Fraktionsführung an. In beiden Ämtern erwies er sich als überlegener Stratege und Taktiker, der im Hintergrund die Fäden zog, manchmal intrigant und oft mit einem Hang zu konspirativem Vorgehen. Wehner wusste, dass er wegen seiner Lebensgeschichte für eine Rolle in der ersten Reihe, an der Spitze der Partei oder Regierung, nicht in Frage kam: Er war nach einer Zeit bei der Sozialistischen Arbeiterjugend Dresdens und im Kreis der Anarchisten um Erich Mühsam (1878–1934) zur Kommunistischen Partei gestoßen, wo er ab Ende der zwanziger Jahre Karriere machte. Er organisierte den kommunistischen Widerstand gegen das NS-Regime im Untergrund und emigrierte 1935 in die Sowjetunion. Dort unterhielt er, wie viele Exil-Kommunisten, Kontakte zum „Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten“ (NKWD) und denunzierte, nach allem, was wir heute wissen, in der Zeit der Stalin’schen Säuberungen mehrere seiner Genossen – wohl auch, um sich selbst vor den Verleumdungen anderer zu schützen. Im Februar 1941 reiste er unter etwas undurchsichtigen Umständen illegal nach Schweden, wo er im Jahr darauf festgenommen und zu einem Jahr Haft verurteilt wurde. Wenig später schloss ihn die KPD wegen Verrats aus, und Wehner begann, mit der schwedischen Polizei zu kooperieren. Die Hintergründe dieser Geschehnisse bleiben bis heute rätselhaft. Fest steht, dass der Ex-Kommunist 1946 auf Fürsprache Schumachers in die SPD aufgenommen wurde, 1949 in den Bundestag einzog und seit Ende der fünfziger Jahre den Kurs der Partei maßgeblich mitbestimmte. Die Annäherung an die CDU mit dem Ziel einer Großen Koalition setzte er ebenso gegen Widerstände durch wie die Kür Brandts zum Kanzlerkandidaten und später zum Nachfolger Ollenhauers im Parteivorsitz. Zwischen 1966 und 1969 war Wehner Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen. Von 1969 bis zu seinem Ausscheiden aus dem Parlament 1983 leitete er die SPD-Fraktion.

Im Übrigen war der Wahlkampf auf den Spitzenkandidaten zugeschnitten. Die Nominierung von Willy Brandt als Kanzlerkandidat auf dem Parteitag in Hannover im November 1960 schien auf den ersten Blick eine kühne Wahl zu sein. Brandt war erst 1958 in den Parteivorstand gewählt worden, gehörte dem Präsidium nicht an und besaß seine Machtbasis in Berlin, nicht im Bundestag. Bei den Neuwahlen zum Vorstand auf dem Hannoveraner Parteitag 1960 kam er nur auf den 21. Platz. Dennoch lag seine Aufstellung für die SPD nahe. Er war populär, besaß Charisma und hatte sich in der Berlin-Krise seit 1958 weit über Deutschland hinaus einen guten Ruf, internationale Anerkennung und insbesondere die Achtung der USA erworben. Er wirkte im Vergleich zum greisen Kanzler jugendlich-frisch und repräsentierte eine ähnliche Aufbruchs- und Erneuerungsstimmung, wie sie im Jahr zuvor Kennedy ins Amt des amerikanischen Präsidenten getragen hatte – eine Parallele, die Brandts Wahlkampf-Manager, die den US-Wahlkampf genau studiert hatten, nach Kräften hervorzuheben suchten. In den Gemeinsamkeitskurs der SPD fügte sich der Umstand, dass Brandt schon lange vor Wehners außenpolitischer Kurskorrektur für eine engere Anlehnung an die USA eingetreten war. Dass er in Berlin seit 1957 an der Spitze einer Koalitionsregierung aus Sozial- und Christdemokraten stand, schadete ebenfalls nicht. Die junge Generation in Deutschland wolle Gemeinsamkeit, verkündete der frisch gekürte Kanzlerkandidat in Hannover. Er versprach eine „Politik neuen Stils“, deren Grundpfeiler „Gemeinsamkeit“ und „Anstand“ seien. Dem britischen Vorbild folgend nominierte er ein „Schattenkabinett“, mit dem er im Fall eines Wahlsiegs seine Regierung bilden wollte. Ein Blick auf die Zu-

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sammensetzung von Brandts „Mannschaft“ zeigt, dass ihre Mitglieder nicht nur aufgrund fachlicher Befähigung für ein bestimmtes Regierungsamt ausgewählt worden waren, sondern auch im Hinblick auf ihre Popularität und ihre Werbewirkung in den verschiedenen Regionen und gesellschaftlichen Gruppen des Landes. So gehörte etwa Wenzel Jaksch (1896–1966) als führender Repräsentant des Bundes der Vertriebenen ebenso zum Team wie Max Brauer (1887–1973), der Bürgermeister von Hamburg, Georg August Zinn, der hessische Ministerpräsident (1901–76), Alex Möller (1903–85), der „Genosse Generaldirektor“ der Karlsruher Lebensversicherungs-AG, oder der sozialliberale Wirtschaftsexperte Heinrich Deist. Insofern entfernte sich die SPD im Wahlkampf 1961 ein weiteres Stück von ihrer Vergangenheit als Funktionärspartei. Diese Sozialdemokraten „neuen Typs“ (Harold K. Schellenberg) verdankten ihre Stellung weniger dem Parteiapparat als ihrer Sachkompetenz, ihrer persönlichen Ausstrahlung und Popularität in breiteren, über die Arbeiterschaft hinausreichenden Bevölkerungskreisen. Es fällt auf, wie viele der Neuerer durch den Widerstand gegen den Nationalsozialismus geprägt worden sind. Eine ganze Reihe von ihnen hatte Anfang der dreißiger Jahre der SPD aus Protest den Rücken gekehrt und sich sozialistischen Splittergruppen angeschlossen, die entschiedener gegen das Hitler-Regime kämpften. Viele waren später ins Exil gegangen. Das gilt nicht nur für Brandts Zeit bei der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) oder für den früheren Kommunisten Wehner, sondern auch für Eichler, der dem Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK) angehört hatte, oder von Knoeringen bei der Widerstandsgruppe „Neu Beginnen“. Die generationstypischen Erfahrungen aus Widerstand und Exil flossen seit der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre ebenso in die Erneuerungsdiskussionen ein wie die im Gespräch mit angelsächsischen Intellektuellen und Politikern gewonnenen Einsichten, die über die Netzwerke des Konsensliberalismus die SPD erreichten. Beide Faktoren trugen zur Umorientierung am Ende des Jahrzehnts bei. Durch ihre Neupositionierung hatte die SPD ihren Handlungsspielraum vergrößert. Sie war sowohl für die Christdemokraten als auch für die FDP zu einem möglichen Regierungspartner geworden.

3. Innenpolitische Rückschläge für Adenauer a) Die Präsidentschaftskrise 1959 Während sich die SPD reformierte, wuchsen in der CDU die Probleme. Immer mehr Christdemokraten begannen sich, zunächst noch hinter vorgehaltener Hand, zu fragen, wer dem inzwischen weit über achtzig Jahre alten Adenauer im Parteivorsitz und als Bundeskanzler nachfolgen werde. Viele sahen in Erhard den natürlichen „Thronfolger“. Adenauer selbst jedoch, der im Herbst 1955 bereits einmal wegen einer Lungenentzündung über einen Monat lang ausgefallen war, traute dem jovialen Franken nicht die notwendige Härte und Entschlossenheit zu, um einen erfolgreichen Regierungschef abzugeben. Er fürchtete auch, der anglophile Wirtschaftsminister könne den Annäherungskurs an Frankreich beenden und sich wieder stärker den USA zuwenden. Einen ersten Höhepunkt erlebte der lange „Kampf ums Kanzleramt“ (Daniel Körfer) im Frühjahr und Sommer 1959. Da die zweite Amtszeit von Heuss als Bundespräsident 1959 ablief und das Grundgesetz eine dritte ausschloss, galt es in diesem Jahr, das höchste Staatsamt neu zu beset-

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zen. Vielleicht hätten sich Mehrheiten finden lassen, die Wiederwahl des allseits beliebten Präsidenten zu ermöglichen. Doch die Regierung ließ die Angelegenheit zu lange treiben, so dass die Sozialdemokraten im Februar 1959 mit der Nominierung eines eigenen Kandidaten alle Spekulationen um eine dritte Amtszeit für Heuss beendeten. Der moderate, weltgewandte und kultivierte Carlo Schmid, den die SPD aufbot, war ein ernst zu nehmender Kandidat, der bis ins bürgerliche Lager hinein auf Zustimmung stieß. Die Union musste einen eigenen Anwärter benennen, der attraktiv genug war, um die Wahl eines Sozialdemokraten, womöglich mit den Stimmen der oppositionellen FDP, zu verhindern. Zunächst dachte man an den schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten von Hassel, einen der führenden Protestanten in der CDU, der zur konfessionellen Ausgewogenheit beim christdemokratischen Führungspersonal beigetragen hätte. Doch als der Name Erhards in den Diskussionen auftauchte, witterte der Kanzler die Chance, den ungeliebten Nachfolgekandidaten ins Präsidentenamt wegzuloben. Der Wirtschaftsminister, der anfangs nicht abgeneigt schien, erkannte nach Gesprächen mit seinen Beratern, welche Absicht der Kanzler mit seinem Angebot verfolgte, und lehnte ab. Jetzt begann sich Adenauer selbst für das Amt zu interessieren. Nicht zuletzt gefiel ihm die Aussicht, als Bundespräsident den Kanzler ernennen und damit ein gewichtiges Wort in der Nachfolgefrage mitsprechen zu können. Hatte nicht de Gaulle in Frankreich vorgemacht, welche Macht ein Präsident ausüben konnte, wenn er geschickt vorging und entschlossen genug war? Adenauer, dem es im zurückliegenden Jahrzehnt gelungen war, dem Amt des Kanzlers seinen Stempel aufzudrücken, traute sich zu, der Bundesrepublik ein „gaullistisches“ Gepräge zu geben, wenn er Parteivorsitzender blieb, an den Kabinettssitzungen teilnahm und weiter die Leitlinien der Außenpolitik bestimmte. Derartige Gedankenspiele erwiesen sich bald als Luftschlösser. Sobald Adenauer seine Kandidatur für das Präsidentenamt bekannt gegeben hatte, ging die Diskussion um die Kanzlernachfolge los. Es stellte sich rasch heraus, dass Adenauers bevorzugter Kandidat Franz Etzel, inzwischen Finanzminister, wenig Rückhalt in der Partei besaß. Erhard schien das Rennen zu machen. Hinzu kam, dass kaum ein Rechtsexperte des Kanzlers extensive Grundgesetzauslegung im Hinblick auf die Befugnisse des Bundespräsidenten teilte. Der Präsident, so lautete die einhellige Auffassung, müsse zum Kanzler ernennen, wen der Bundestag dazu bestimmte. Adenauer hätte folglich mit seinem Wechsel ins Präsidentenamt das herbeigeführt, was er mit allen Mitteln zu verhindern trachtete: Erhard als Kanzler. Kaum war das klar, vollzog Adenauer eine weitere Kehrtwendung und erklärte, er beabsichtige keineswegs zurückzutreten. In einem Brief an Fraktionschef Krone gab er unumwunden zu: „So ausgezeichnet Herr Erhard als Wirtschaftsminister ist, so gefährlich würde bei den immer stärker werdenden außenpolitischen Gefahren seine Wahl zum Bundeskanzler sein.“ In aller Eile zauberte die Union nun einen neuen Kandidaten für das Präsidentenamt aus dem Hut, den relativ unbekannten Landwirtschaftsminister Heinrich Lübke (1894–1972), einen redlichen, aber ein wenig farblosen Sauerländer, der am 1. Juli 1959 zum Nachfolger von Heuss gewählt wurde. Die Präsidentschaftskrise zeigte noch einmal, welche Machtposition Adenauer in seiner Partei und in der Bundesregierung innehatte. Gleichzeitig brachte sie jedoch eine beträchtliche Schwächung seiner Stellung mit sich. Der Kanzler hatte ohne Not die Diskussion um seine Nachfolge eröffnet, in der Erhard von nun an als Favorit galt. Die öffentliche Kritik an dem Schauspiel um die Heuss-Nachfolge machte deutlich, mit welcher Missbilligung Teile der Presse, aber auch

3. Innenpolitische Rückschläge für Adenauer

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der Bevölkerung inzwischen auf Adenauers autokratischen Regierungsstil reagierten. Die Zeiten der unangefochtenen Kanzlerherrschaft gingen ihrem Ende entgegen.

b) Der Streit um den zweiten deutschen Fernsehsender Gegenwind verspürte der Kanzler auch bei seinen Plänen, einen zweiten Fernsehkanal neben der „Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten Deutschlands“ (ARD) zu etablieren. Adenauer war von der wachsenden Bedeutung des Fernsehens überzeugt, ebenso aber auch von der regierungskritischen Einstellung der meisten Journalisten in den existierenden Rundfunkanstalten. Nicht zuletzt mit Blick auf die 1961 anstehenden Bundestagswahlen wollte er einen zweiten Sender einrichten lassen, der von verschiedenen Gruppen der Industrie und aus der Zeitungsbranche privatwirtschaftlich finanziert werden sollte. Vorbild war Großbritannien, wo unlängst neben der öffentlich-rechtlichen BBC (British Broadcasting Corporation) der kommerzielle Fernsehsender Independent Television ins Leben gerufen worden war. Zwar hatten das Kabinett und die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag ihr Einverständnis signalisiert, aber von anderer Seite regte sich Widerstand. Die Oppositionsparteien fürchteten ein von der Regierung dominiertes, willfähriges Privatfernsehen. Die katholische Kirche warnte vor moralischem Verfall, sinkender Qualität der Sendungen und dem Kommerzialisierungsschub, den ein aus Werbeeinnahmen finanzierter Fernsehsender mit sich bringe. Der heftigste Protest kam von den Bundesländern, in deren Kulturhoheit die Regierung einzugreifen drohte. Bislang hatten sie ihre jeweiligen Landesrundfunkanstalten mit Hilfe von Rundfunkräten kontrolliert, in denen nach einem Proporzsystem verschiedene gesellschaftliche Gruppen vertreten waren. Diese Monopolstellung wollten sich weder die sozialdemokratischen noch die von der CDU geführten Landesregierungen nehmen lassen. Sie schlugen für den neuen Sender eine öffentlich-rechtliche Trägerschaft und einen Verwaltungsrat vor, in dem sie gegenüber den Vertretern des Bundes eine Zweidrittelmehrheit besitzen sollten. Da man keine Kompromisslösung fand, trieb Adenauer seinen Plan ohne Zustimmung der Länder voran. Eine privatrechtliche „Deutschland-Fernsehen-GmbH“ wurde gegründet, die prinzipiell auch den Ländern zum Beitritt offenstand. Da diese sich weigerten, fielen ihre Anteile an den Bund, der auf diese Weise in den Besitz einer eigenen privatrechtlichen Fernsehanstalt kam. Dagegen klagten einige Bundesländer beim Verfassungsgericht und erhielten Recht. Das „Fernsehurteil“ vom 28. Februar 1961 verbot der Bundesregierung, einen Sender in eigener Regie zu betreiben. Das „Zweite Deutsche Fernsehen“ (ZDF) mit Sitz in Mainz, das an die Stelle des Regierungssenders trat, wurde nach ähnlichen Regeln kontrolliert und verwaltet wie die ARD. Damit wurde die Einführung eines kommerziellen Gesetzen gehorchenden Privatfernsehens in der Bundesrepublik um mehr als 20 Jahre vertagt. Über den engeren medienpolitischen Bereich hinaus machte der Streit um den Regierungssender zweierlei deutlich. Zum einen begannen sich Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre erstmals Risse im Bündnis zwischen Christdemokraten und der katholischen Kirche zu zeigen. Das gemeinsame antikommunistische Feindbild begann in den Hintergrund zu treten. Die Kirche fing an, „linken“ Themen größere Aufmerksamkeit zu schenken und zugleich vor möglichen negativen Folgen der Marktwirtschaft zu warnen. Zum anderen wurde deutlich, dass auch eine mit absoluter

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Mehrheit regierende Union weit von jener „Einparteienherrschaft“ entfernt war, vor der die SPD im Bundestagswahlkampf 1957 gewarnt hatte. Die parlamentarische Opposition, das Verfassungsgericht, v.a. aber die föderale Struktur der Bonner Republik und die starke Stellung der Bundesländer hinderten auch den mächtigsten Kanzler an selbstherrlichen Alleingängen.

c) Die Bundestagswahl von 1961 Derartigen Widrigkeiten zum Trotz ging die CDU 1961 als Favoritin in den Bundestagswahlkampf. Da sich die FDP auf ein Bündnis mit der Union festgelegt hatte, bestand kaum ein Zweifel, welche Parteien Regierungsverantwortung übernehmen würden. Die Meinungsumfragen, die lange Zeit Brandt und die SPD vorn gesehen hatten, wiesen seit dem Frühjahr 1961 einen komfortablen Vorsprung für die Unionsparteien aus. Das änderte sich mit dem Bau der Berliner Mauer. Auf einmal stand die Auseinandersetzung im Schatten einer weltpolitischen Krise, und die sorgfältig auf pragmatische Reformen und das Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung ausgerichteten Wahlkampfstrategien aller Parteien gerieten aus den Fugen. Improvisationstalent und Krisenmanagement waren gefragt. Brandt machte dabei eine bessere Figur als der Kanzler. Als Regierender Bürgermeister stand er vor einer schwierigen Aufgabe. Er durfte die Alliierten nicht verprellen, musste aber zugleich seinen Mitbürgern ein Gefühl der Sicherheit und die Zuversicht vermitteln, dass der Westen sie nicht vergessen würde. Als am 16. August Hunderttausende vor das Rathaus Schöneberg strömten, betonte Brandt einerseits die Bedeutung der Westmächte: „Ohne sie wären die Panzer weitergerollt.“ Er nahm sie aber auch in die Pflicht: „Berlin erwartet mehr als Worte.“ Auf diese Weise verhinderte er, dass in der geteilten Stadt der Volkszorn überkochte, und trat den USA gegenüber als entschiedener Verfechter der Berliner Interessen auf. Adenauer sah es als seine wichtigste Aufgabe an, nicht zur Eskalation beizutragen. Er kommentierte die Ereignisse in Berlin zurückhaltend und vermied es, in den Tagen nach dem Mauerbau in die Stadt zu reisen. Stattdessen setzte er scheinbar unbeeindruckt seine Wahlkampfreise fort, änderte auch seine polemische Rhetorik gegenüber dem sozialdemokratischen Spitzenkandidaten nicht. Besonders übel wurde eine Rede aufgenommen, in der er von Herrn „Brandt alias Frahm“ sprach – eine wenig taktvolle Anspielung auf Brandts Exil in Norwegen und Schweden während des „Dritten Reiches“ und zugleich eine geschmacklose Spitze gegen die uneheliche Geburt des SPD-Politikers. Adenauers Bemerkung war kein Einzelfall, sondern Bestandteil einer Kampagne, die aus der Tatsache von Brandts Widerstand gegen Hitler-Deutschland Kapital zu schlagen suchte. Bereits im Februar 1961 hatte der ehemalige Frontoffizier Franz Josef Strauß gehässig bemerkt: „Eines wird man doch Herrn Brandt doch fragen dürfen: Was haben Sie zwölf Jahre draußen gemacht? Wir wissen, was wir gemacht haben.“ Derartige Aktionen verpufften weitgehend wirkungslos. Ende August hatten sich die Umfragewerte aus der ersten Jahreshälfte ins Gegenteil verkehrt. Nun führte die SPD mit 46%, während sich nur 35% für die CDU aussprachen. Drei Viertel der Befragten fanden, Brandt habe sich in der Mauerkrise richtig verhalten, Adenauers Handlungsweise hielt fast die Hälfte für falsch. Wäre Anfang September gewählt worden, hätte die Union wahrscheinlich eine Niederlage erlitten. Wie die Dinge standen, konnte sie sich jedoch bis Mitte September wieder konsolidieren und das Schlimmste vermeiden, wenn sie auch die absolute Mehrheit verlor und nur noch 45,2% der Stim-

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men erreichte – ein Verlust von fast 5%. Die Sozialdemokraten steigerten sich von 31,8 auf 36,3%. Das war zwar kein rauschender Wahlsieg, aber doch das beste Ergebnis der SPD auf nationaler Ebene seit den Reichstagswahlen von 1919. V.a. zeichnete sich ab, dass die Partei neue Wählergruppen, gerade auch Jungwähler für sich gewinnen konnte. Von nun an glaubte die SPD, dass „Genosse Trend“ für sie arbeite. Der größte Gewinner der Wahl war Mendes FDP, die am stärksten von der Schwäche Adenauers und der CDU profitieren konnte und auf einen Stimmanteil von 12,8% kam – über 5% mehr als 1957.

4. Ein Abschied auf Raten a) Eine schwierige Regierungsbildung Unter diesen Umständen erwies sich die Bildung einer Regierung als langwierig und kompliziert. Die Liberalen hatten sich auf ein Bündnis „mit der CDU/CSU ohne Adenauer“ festgelegt und favorisierten Erhard als Kanzler, den sie fast als einen der Ihren betrachteten. Adenauer seinerseits dachte nicht daran, das Kanzleramt aufzugeben, schon gar nicht zugunsten des ungeliebten Wirtschaftsministers. Stattdessen setzte er die FDP unter Druck, indem er nicht nur mit ihr Verhandlungen führte, sondern auch mit der SPD, die mit dem Hinweis auf die nationale Krisenlage nach dem Mauerbau, im Sinne ihres Gemeinsamkeitskurses, die Bildung einer Allparteienregierung anbot. Nach fast zwei Monaten gelang es dem Kanzler auf diese Weise, die Freien Demokraten zum Einlenken zu bewegen. Sie traten noch einmal einer von ihm geführten Bundesregierung bei. Das böse Wort von der „Umfallerpartei“ machte die Runde und haftete der FDP seitdem an. Der Preis, den Adenauer für seinen Erfolg zu zahlen hatte, war hoch. Er musste auf seinen loyalen Außenminister Brentano verzichten und dafür den weniger geschätzten Schröder akzeptieren. Die FDP versprach sich von dem Wechsel eine Stärkung der „atlantischen“ Ausrichtung der Außenpolitik und größere Widerstände gegen Alleingänge des Kanzlers. FDP-Chef Mende blieb dem Kabinett fern, um nicht vollends in den Ruf zu geraten, ein Opportunist zu sein. Damit behielt der kleinere Koalitionspartner, wie zu Zeiten Dehlers, Spielraum für Kritik an der von ihm mitgetragenen Regierung. Das gab immer wieder zu Reibereien Anlass und untergrub das wenige noch verbliebene Vertrauen. Ein Ausdruck der gegenseitigen Skepsis war das schriftlich fixierte Koalitionsabkommen, das erstmals die Regierung in bestimmten Streitfragen vertraglich festlegen sollte. Noch unangenehmer für Adenauer war es, dass er sich bereit erklären musste, vor Ablauf der Legislaturperiode zurückzutreten. Schon nach knapp einem Jahr entlud sich der Zündstoff, der in der ungeliebten Koalition angelegt war, in einer gewaltigen Explosion: der Spiegel-Krise vom Herbst 1962.

b) Die „Spiegel“-Krise Das Hamburger Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ hatte schon seit geraumer Zeit die Karriere von Verteidigungsminister Franz Josef Strauß mit kritischen, vor persönlichen Verunglimpfungen nicht zurückschreckenden Artikeln begleitet. Es prangerte den unverhohlenen, angeblich auf

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das Kanzleramt zielenden Ehrgeiz des Ministers ebenso an wie seine Kontakte zu zwielichtigen Geschäftsleuten und seine Pläne für eine Atombewaffnung der Bundeswehr. In seiner Ausgabe vom 10. Oktober 1962 publizierte der „Spiegel“ einen Artikel mit der Überschrift „Bedingt abwehrbereit“. Darin wurden schwerwiegende Mängel in der Verteidigungsbereitschaft der Bundeswehr aufgelistet und erneut Strauß’ Atombewaffnungspläne kritisiert. Das Material, auf dem der Artikel beruhte, war derart detailliert, dass man in der Umgebung des Ministers mutmaßte, dem Verfasser müssten vertrauliche Dokumente zugänglich gemacht worden sein, was den Tatbestand des „Landesverrats“ erfülle. Ein von der Bundesanwaltschaft in Auftrag gegebenes und im Verteidigungsministerium erstelltes Gutachten bestätigte den Verdacht. Daraufhin begann die Bundesanwaltschaft mit Ermittlungen, die am 26. Oktober zur nächtlichen Durchsuchung der Redaktionsräume in Hamburg und Bonn sowie zur Verhaftung des Herausgebers Rudolf Augstein (1923–2002) und anderer „Spiegel“-Mitarbeiter führten. Der für Bundeswehrfragen zuständige Redakteur, Conrad Ahlers (1922–81), der den Artikel verfasst hatte und sich zum Zeitpunkt der Aktion zum Urlaub in Spanien aufhielt, wurde aufgrund einer persönlichen Intervention von Strauß beim deutschen Militärattaché in Madrid von der spanischen Polizei festgenommen. Stichwort Franz Josef Strauß (1915–88), den sein politischer Gegner Willy Brandt später als „eine der großen Begabungen aus der Kriegsgeneration“, aber auch als einen „Motor mit zu schwacher Bremse, eine seltsame Mischung von Herrscher und Rebell“ bezeichnet hat, gehörte 1945 zu den Mitbegründern der CSU, deren Generalsekretär er zwischen 1949 und 1952 war. 1948/49 vertrat er die CSU im Frankfurter Wirtschaftsrat, ab 1949 im Bundestag. Weder als Minister für besondere Aufgaben 1953 bis 1955 noch als Minister für Atomfragen 1955/56 sah Strauß seinen Ehrgeiz befriedigt. Nachdem der Aufbau der Bundeswehr in Schwierigkeiten geriet, entschied sich Adenauer nach längerem Zögern, Strauß an Stelle von Blank zum Verteidigungsminister zu berufen. 1962 musste der Bayer aufgrund der „Spiegel“-Affäre von seinem Ministerposten zurücktreten. 1966 gelang ihm als Finanzminister der Großen Koalition (bis 1969) der Wiedereinstieg ins Bundeskabinett. 1978 wurde er bayrischer Ministerpräsident. Zwei Jahre später scheiterte er als Kanzlerkandidat der Union. Nach Bildung der christlich-liberalen Bundesregierung unter Helmut Kohl 1982 blieb Strauß als Ministerpräsident in Bayern, entwickelte jedoch insbesondere in der Außen- und Deutschlandpolitik immer wieder Eigeninitiativen, etwa mit der Einfädelung eines Milliardenkredits für die DDR im Jahr 1983.

In der deutschen und auch in der internationalen Öffentlichkeit lösten die Ereignisse einen Aufschrei der Empörung aus. Die Pressefreiheit schien gefährdet, die rechtsstaatliche Ordnung vor der Abschaffung. Erstmals fand die These, es drohe ein autoritärer, ja faschistoider Staat, bei größeren Gruppen Widerhall. Man fragte, wieso ein deutscher Staatsbürger im autoritären, immer noch polizeistaatlichen Spanien General Francos (1892–1975) einfach verhaftet werden konnte. Nicht nur Strauß geriet in die Kritik, sondern auch der Kanzler. Dieser hatte im Parlament den „Spiegel“-Artikel als „Abgrund von Landesverrat“ bezeichnet und Augstein vorgeworfen, er verdiene damit auch noch Geld. Am 27. Oktober erklärten sich acht prominente Schriftsteller, darunter Günter Grass (1927–2015), Uwe Johnson (1934–84) und Hans Magnus Enzensberger (geb. 1929), mit dem Magazin solidarisch. Am Tag darauf schlossen sich 49 weitere Autoren an und forderten Strauß’ Rücktritt. Am 30. Oktober demonstrierten 150 Studenten in Frankfurt mit einem

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Sitzstreik. 29 Kölner Professoren protestierten einen Tag später in einem offenen Brief an den Justizminister. Wenn die deutsche Öffentlichkeit derart mit sich umspringen lasse, meinte der Publizist Sebastian Haffner in der Fernsehsendung „Panorama“, wenn sie nicht nachhaltig auf Aufklärung dringe, „dann adieu Pressefreiheit, adieu Rechtsstaat, adieu Demokratie“. Selbst konservative Zeitungen kritisierten das Vorgehen von Polizei und Staatsanwaltschaft. Was da stinke, hieß es in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, geniere nicht nur den „Spiegel“, „es geniert die Demokratie in unserem Land, die ohne freie Presse … nicht leben kann“. Insofern verweist die „Spiegel“-Affäre auf ein verändertes Verhältnis zur Demokratie in der westdeutschen Öffentlichkeit. Ruhe war nicht mehr oberste Bürgerpflicht. Man war selbstbewusster geworden, weniger obrigkeitshörig und kritischer. Weite Teile der Medien, Intellektuellen, Schriftsteller, Hochschullehrer, Studenten, auch kirchlicher Kreise und der Gewerkschaften reagierten ungehalten und aufgebracht, wenn sie irgendwo autoritäres, undemokratisches Verhalten witterten. Dennoch hätte der Kanzler die öffentliche Erregung gelassen über sich ergehen lassen können, wenn die Affäre nicht Auswirkungen auf parteipolitischer Ebene gehabt hätte. Justizminister Wolfgang Stammberger (1920–82) von der FDP war über die Aktion gegen den „Spiegel“ nicht informiert worden. Stattdessen hatten die Staatssekretäre im Verteidigungs- und Justizministerium, die beide der CDU angehörten, hinter dem Rücken des Ministers gehandelt. Daher forderten die Freien Demokraten deren Entlassung, andernfalls wollten sie die Koalition beenden. Als Adenauer sich weigerte, den Rücktritt hinzunehmen, zog Mende seine Minister aus dem Kabinett zurück und machte deutlich, dass eine neue Regierungsbeteiligung seiner Partei nur ohne Strauß denkbar sei, der das Parlament in der Angelegenheit bewusst falsch informiert habe und untragbar geworden sei. Einige CDU-Minister schlossen sich der Forderung an. Da sich der Verteidigungsminister weigerte zu gehen, saß Adenauer in einer Zwickmühle. Die CSU stand geschlossen hinter Strauß, so dass der Kanzler entweder den einen oder den anderen seiner Koalitionspartner brüskieren musste. In dieser Situation kam unerwartet Wehner zu Hilfe, der anbot, Gespräche über die Bildung einer Großen Koalition zu führen. Gleichzeitig, so Wehner, solle man über eine Wahlrechtsreform sprechen, die das Mehrheitswahlrecht einführen und ein Zweiparteiensystem nach britischem Vorbild etablieren würde. Die Sondierungen scheiterten schließlich, nicht zuletzt an der Weigerung der SPD-Fraktion, Wehners kühnen Sprung mitzutun und seine weitgehenden Festlegungen in der Wahlrechtsfrage zu billigen. Doch genügten sie Adenauer, um die FDP, die sich wieder einmal mit ihrem möglichen Ende bedroht sah, zum Eintritt in ein neuzubildendes Kabinett unter seiner Führung zu bewegen. Zwei Zugeständnisse versüßten den Liberalen die bittere Pille. Zum einen war Strauß mittlerweile bereit, auf eine Rückkehr ins Kabinett zu verzichten. Zum anderen sah sich der Kanzler selbst gezwungen, den Termin seines Rücktritts für das Ende der parlamentarischen Sommerpause 1963 anzukündigen. Auch wenn er nach der „Spiegel“-Krise noch ein knappes Jahr Kanzler blieb, war seit dem Herbst 1962 das Ende der Ära Adenauer abzusehen.

c) Das Ende einer Ära Zwei Ziele verfolgte Adenauer während der letzten zehn Monate, die ihm als Kanzler blieben: die Aussöhnung mit Frankreich zu vollenden und Erhard als seinen Nachfolger zu verhindern.

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Während ihm das erste zumindest in Teilen gelang, scheiterte er beim zweiten. Nach der Unterzeichnung des deutsch-französischen Vertrages erlitten die Christdemokraten bei Landtagswahlen in Berlin und Rheinland-Pfalz im Februar und März Stimmenverluste, die man nicht zuletzt auf die innenpolitischen Turbulenzen, das verfehlte Krisenmanagement nach dem Mauerbau und die ungeklärte Frage der Kanzlernachfolge zurückführte. Schon im Spätherbst hatte man in der Zeitung „Die Welt“ lesen können, die bloße Tatsache, dass der Zeitpunkt von Adenauers Rücktritt Diskussionsthema und die Frage seiner Nachfolge eine ständige Quelle von Intrigen und Spekulationen sei, mache die letzten Monate seiner Kanzlerschaft zu einem traurigen und peinlichen Schauspiel: „Man täte dem Nachruhm Adenauers keinen Gefallen mit dem Versuch, dieses Schauspiel zu verlängern. Auch vom besten Wein lässt man den Bodensatz besser ungetrunken.“ Die Union drängte, die Nachfolgefrage möglichst rasch zu klären. Sowohl die CDU/CSU als auch die FDP-Fraktion im Bundestag favorisierten Erhard, den sie für einen attraktiven Spitzenkandidaten im nächsten Wahlkampf hielten. Alternativen waren dünn gesät. Adenauers ursprünglicher Wunschnachfolger Etzel war zwei Jahre zuvor als Finanzminister ausgeschieden und mittlerweile schwer krank. Außenminister Schröder galt als zu wenig bekannt, besaß überdies kaum Rückhalt in der Fraktion. Auch Brentano, Strauß, Krone und Eugen Gerstenmaier (1906–86) kamen nicht in Frage. Alles lief auf Erhard zu. Dennoch stemmte sich der Kanzler bis zum Schluss gegen die Kür des Wirtschaftsministers – vergeblich. Am 23. April bestimmte die Bundestagsfraktion von CDU und CSU Erhard zum Kandidaten für Adenauers Nachfolge. 149 Abgeordnete votierten für ihn, nur 47 gegen ihn, 19 enthielten sich. Dem scheidenden Amtsinhaber blieb nichts anderes, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen, sich möglichst würdig zu verabschieden – und vorerst am Amt des Parteivorsitzenden festzuhalten, um den Spielraum des Nachfolgers zu begrenzen. Am 15. Oktober trat Adenauer nach über 14 Jahren als Regierungschef zurück, nicht ohne zuvor eine ausgedehnte Abschiedsreise durch die Bundesrepublik sowie zwei letzte Staatsbesuche in Paris und Rom unternommen zu haben. In seiner Abschiedsrede in einer Feierstunde des Bundestages erinnerte er an die gelungene Westintegration und an die Aufbauleistung während seiner Kanzlerschaft. „Wir Deutschen dürfen unser Haupt wieder aufrecht tragen“, erklärte er, „denn wir sind eingetreten in den Bund der freien Nationen und sind im Bund der freien Nationen ein willkommenes Mitglied geworden.“ Bundestagspräsident Gerstenmaier sprach davon, Adenauer könne in der Überzeugung Abschied nehmen, dass sich die von ihm betriebene Politik nicht nur als unvermeidlich, sondern auch als richtig erwiesen habe. Der Kanzler könne auf eine geschichtliche Leistung zurückblicken. Die würdigen Worte konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass man selbst in seiner eigenen Partei froh war, den „Alten“ endlich los zu sein. In den zeitgenössischen Kommentaren wurden der Kanzler und das Erbe, das er hinterließ, kritisch beurteilt. Adenauer habe das Parlament entmachtet und die Regierungspartei zu einem bloßen Instrument des Kanzlers gemacht, fand der konservative Publizist Rüdiger Altmann (1922–2000) in seiner 1963 aufgelegten Schrift über „Das Erbe Adenauers“. Aufs Ganze gesehen sei die Politik des Kanzlers gescheitert, konstatierte er. Der linksliberale Journalist Klaus Bölling (1928–2014) lobte zwar die staatsmännischen Leistungen in der Außenpolitik, kritisierte aber Adenauers herablassenden Umgang mit dem Bundestag, sein fehlendes Engagement in der Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie Mängel im Demokratieverständnis. „Die Ära Adenauer“, lautete Böllings Fazit, „ist nicht so zu Ende gegangen, wie der Mann es verdient hätte.“

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Besonders vernichtend fiel das Urteil aus, das Haffner in der auflagenstarken Illustrierten „Stern“ fällte. Es gehöre viel Wille zur Selbsttäuschung dazu, Adenauers vierzehnjähriges Wirken als Bundeskanzler gelungen zu nennen, schrieb er. Seine Deutschlandpolitik könne man nur als erfolgreich bezeichnen, wenn man ihm den Vorsatz unterstelle, Deutschlands Einheit zu zerstören. „Sonst war sie der Inbegriff des Misserfolgs, denn niemals in tausend Jahren war Deutschland so tief und heillos gespalten wie jetzt.“ Die Beziehungen zu Frankreich und den USA kämen sich immerfort gegenseitig in die Quere, „wie zwei gleichzeitig gegebene Eheversprechen“. Das Verhältnis zu Russland sei bedrohlich schlecht und das mit England so unherzlich, wie es unter Verbündeten gerade noch möglich sei. Auch an den innenpolitischen Errungenschaften des Kanzlers ließ Haffner kein gutes Haar. Seit der „Spiegel“-Affäre gehe es nicht mehr an, die innere Stabilisierung des Landes zu loben, auf die Durchsetzung parlamentarisch-demokratischer Spielregeln zu verweisen, die Zähmung der alten Nazis und das Austrocknen des Neonazismus hervorzuheben und die Wiedergutmachungsleistungen zu preisen. „Damals enthüllte sich grässlich ein heimlicher Staat im Staate, weitgehend mit alten Nazis besetzt, und wenn nicht neonazistisch, so doch neofaschistisch – ‚autoritär‘ – in Gesinnung und Praxis.“ Umgekehrt ist auch Adenauer „nicht frohen Herzens“ gegangen, wie er selbst bei seinem Abschiedsempfang in der Bonner Beethovenhalle bemerkte. Es war ein „Abgang wider Willen und ohne Zuversicht in das Kommende“ (Kurt Sontheimer). Nicht nur um die Eignung seines Nachfolgers sorgte sich der Altkanzler. Die ganze Richtung passte ihm nicht. Der christliche Geist, aus dem sich seine Politik stets gespeist hatte, sei in die Defensive geraten, fand er. Liberalismus und Materialismus prägten die neue Zeit, nicht nur auf der Linken, sondern bis in die Union hinein. Erhard spreche zwar von einer „Politik der Mitte“. Die Ära, die er einleite, werde jedoch „liberal geprägt“ sein. Es war nicht nur die Bitterkeit des gegen seinen Willen aufs Altenteil Geschobenen, die aus diesen Worten sprach. Der scheidende Kanzler hatte sich ein Gespür für gesellschaftliche Veränderungen bewahrt. Anfang der sechziger Jahre war die Bundesrepublik in ein Übergangsstadium eingetreten, in dem sich altbekannte Gewissheiten allmählich auflösten. In der Parteienlandschaft fanden tektonische Verschiebungen statt, die alte Koalitionen brüchig werden ließen und neue Bündnisse ermöglichten. Überkommene Moralvorstellungen und Verhaltenmuster verschwanden. Sie wurden durch neue Werte, Wünsche und Visionen ersetzt. Im Oktober 1963 hörte nicht nur die Kanzlerschaft Adenauers auf; auch die innen- und außenpolitischen Konstellationen, die sozialen Kräfte und ideellen Strömungen, auf denen sie beruht hatte, waren an ihr Ende gelangt. Auf einen Blick

Nach dem Wahlsieg von 1957 büßten die Christdemokraten ihre Vormachtstellung allmählich ein. Die SPD zog Konsequenzen aus ihren Niederlagen. Im Godesberger Programm verabschiedete sie sich vom Marxismus und eröffnete mit der Formel „Wettbewerb so weit wie möglich – Planung so weit wie nötig!“ die Perspektive einer gemischten Wirtschaftsverfassung anstelle umfassender Sozialisierungen. Außerdem bekannte sie sich zur Existenz der Bundeswehr und dem Prinzip der Landesverteidigung. Wenig später schwenkte sie auch auf den Kurs der Westintegration ein und akzeptierte sowohl die NATOMitgliedschaft als auch die europäische Einigung als Grundlagen bundesrepublikanischer Außenpolitik. Allmählich wurde erkennbar, dass die Bundesrepublik jene Stabilität, Sicherheit und Berechenbarkeit einzulösen vermochte, welche die erste deutsche Republik nicht hatte gewährleisten können. In der Bevölkerung stieg die Bereitschaft, sich mit den neuen Verhältnissen nicht nur temporär zu arrangieren, sondern dauerhaft zu identifizieren, zumal spätestens seit dem Bau der Berliner

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Mauer und der vollständigen Abriegelung der DDR eine Wiedervereinigung in weite Ferne rückte. War die Anfangsphase der Ära Adenauer durch die Bildung und Stabilisierung staatlicher Institutionen geprägt, so zeichnete sich ihre Endphase durch gesellschaftliche Dynamisierung und Liberalisierung aus. Der Gründungskanzler begegnete diesen Entwicklungen nicht ohne Sorge und innere Reserve.

Literatur Hockerts, H. G.: Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland. Alliierte und deutsche Sozialversicherungspolitik 1945–1957, Stuttgart 1980. Immer noch unübertroffen. Klotzbach, K: Der Weg zur Staatspartei. Programmatik, praktische Politik und Organisation der deutschen Sozialdemokratie 1945 bis 1965, Berlin, Bonn 1982. Nicht immer leicht zu lesen, aber immer noch eine maßgebliche Studie zur Geschichte der SPD in der Adenauer-Ära. Koerfer, D.: Kampf ums Kanzleramt. Erhard und Adenauer, erw. Neuaufl. Salzburg 2020 (EA Stuttgart 1987). Spannend zu lesende Darstellung des konfliktreichen Zusammenwirkens von Adenauer und Erhard; in der Neuauflage von 2020 um ein ausführliches Kapitel zu Erhards Werdegang vor 1945 ergänzt. Mergel, T.: Propaganda nach Hitler. Eine Kulturgeschichte des Wahlkampfs in der Bundesrepublik. 1949–1990, Göttingen 2010. Kulturhistorische Untersuchung von Wahlkämpfen in Westdeutschland – nicht nur 1957. Schöllgen, G: Willy Brandt. Die Biographie, Berlin 2001. Handliche, gut lesbare Biographie des SPD-Kanzlerkandidaten von 1961 und späteren Bundeskanzlers. Schwarz, H.-P.: Anmerkungen zu Adenauer, München 2004. Ebenso pointierte wie prägnante Kurzbilanz vom womöglich besten Kenner Adenauers und seiner Ära.

VII. Schlussbetrachtung Adenauers Ansehen blieb nicht lange auf dem Tiefstand von 1963. Nach seinem Tod im April 1967 wurde er mit einem Staatsbegräbnis geehrt, wie es die Bundesrepublik noch nicht erlebt hatte. Selbst sein alter Gegenspieler Dehler räumte ein: „Er war ein großer Mann.“ Aus Frankreich schickte de Gaulle ein Telegramm, in dem er die Lebensleistung des Altkanzlers würdigte: „Nach einem schrecklichen Krieg hat Adenauer sein Land erneuert. Er hat ohne Unterlass an der Organisation Europas gearbeitet. Er hat sich zum Vorkämpfer der Versöhnung Frankreichs und Deutschlands gemacht.“ Neun Jahre später, anlässlich seines hundertsten Geburtstags, galt Adenauer unumstritten als der wichtigste Gründungsvater der westdeutschen Republik. Haffner, der den Staatsmann bei dessen Rücktritt noch geschmäht hatte, bezeichnete ihn nun als den „rechten Mann zur rechten Zeit“. Er bescheinigte Adenauers Deutschlandpolitik „innere Logik und Schlüssigkeit“ und fügte hinzu, sie habe „die geschichtliche Erfahrung der letzten hundert Jahre auf ihrer Seite“. Auch ein großer Teil der politischen Linken machte postum ihren Frieden mit dem Rheinländer. Insbesondere nach dem Umbruch der Jahre 1989/90 wollten Kritiker der Wiedervereinigung in ihm den Verfechter einer dezidiert anti-nationalen Politik erblicken, die der Westbindung und der europäischen Integration Vorrang vor der deutschen Einheit eingeräumt habe. Andere behaupteten hingegen, der Zusammenbruch des Ostblocks und die bedingungslose Angliederung der DDR an die Bundesrepublik habe genau jener Magnet-Theorie und der Politik der Stärke entsprochen, auf die Adenauers Deutschlandpolitik stets vertraut hatte. Diese Kontroversen liegen mittlerweile zehn Jahre zurück, und eine jüngere Generation ist aufgefordert, sich ihren Reim auf Adenauer und seine Zeit zu machen. Sie muss eigene Antworten auf die Frage finden, welches die bleibenden Vermächtnisse jener Anfangsjahre der Bundesrepublik sind und was sich als vorübergehendes Phänomen entpuppte. Manches spricht dafür, dass wir seit 1989/90 eine Relativierung der Bedeutung des ersten Bundeskanzlers erleben. Die Zeit der bipolaren Welt und des geteilten Deutschland rückt in immer weitere Ferne. Auch im Osten hat die Bundesrepublik nun westliche Nachbarn. Die Europäische Union hat schon heute nicht mehr viel mit dem karolingischen Westeuropa zu tun, das Adenauer vorschwebte – nach der geplanten Osterweiterung noch weniger. Gleichzeitig scheint die Distanz zu den USA zu wachsen, das atlantische Bündnis an Substanz zu verlieren. Auch im Innern hat sich einiges verändert, nicht nur durch den Beitritt der DDR und seine Folgen. Das Zeitalter der Vollbeschäftigung ist lange vorüber. Die Fundamente des Sozialstaats, der in der Adenauer-Ära ausgebaut wurde, zerbröseln. Die Rentenreform von 1957 erweist sich im Rückblick vielleicht doch nicht als Werk für Jahrhunderte, sondern eher für Jahrzehnte. Die parteipolitische Dominanz der CDU gehört ebenfalls der Vergangenheit an. Das neue Parteiensystem, das sich in den zurückliegenden Jahren ausgeprägt hat, begünstigt strukturell nicht mehr die Christdemokraten, sondern die SPD. Wie einst die CDU, kann heute die SPD zwischen verschiedenen Koalitionspartnern wählen. Dennoch gibt es bleibende Verdienste der Adenauer-Ära. Das wichtigste war die rasche Konsolidierung des Weststaats, von der wir bis heute profitieren. Den Zeitgenossen erschien das weniger

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VII.

Schlussbetrachtung

selbstverständlich als uns Nachgeborenen. Ein Vergleich mit der Zwischenkriegszeit lässt das erstaunliche Ausmaß der Stabilisierung besonders krass hervortreten. Sowohl die erste deutsche Republik als auch die Adenauer-Ära dauerten 14 Jahre. In dieser Zeit verschliss Weimar 13 Reichskanzler und acht Reichstage, die alle vor Ablauf der Legislaturperiode aufgelöst wurden. In der Bundesrepublik gab es zwischen 1949 und 1963 nur einen Kanzler und kein einziges Mal vorgezogene Neuwahlen. Der Wirtschaftsaufschwung, der Ende der vierziger Jahre begann und in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre für die meisten Bundesbürger spürbar wurde, trug entscheidend zur Kräftigung des westdeutschen Teilstaats bei. Ebenso wichtig war die neue außenpolitische Lage. Anders als das Kaiserreich, die Weimarer Republik und NS-Deutschland hatte die Bundesrepublik an ihren Grenzen im Norden, Süden und Westen keine Feinde, dafür jede Menge Verbündete – an der Spitze die alles entscheidende Supermacht jenseits des Atlantiks. Hinzu kam, dass die Westdeutschen im Unterschied zur DDR innerhalb ihres Bündnissystems relativ rasch politische und ökonomische Entscheidungsfreiheit zurückgewannen, was im Westen nicht unerheblich zur inneren Akzeptanz des neuen Staates beitrug und im Osten die Legitimität des SED-Regimes untergrub. In einer von Sicherheit, Selbstbestimmung und Prosperität geprägten Atmosphäre konnten die Institutionen der Bonner Republik Wurzeln schlagen, ohne sogleich den Stürmen politischer oder wirtschaftlicher Krisen ausgesetzt zu sein. Gleichzeitig spielten die politischen Extreme auf der Rechten und auf der Linken, die zum Untergang der Weimarer Republik beigetragen hatten, in der Bundesrepublik keine Rolle mehr. Die kommunistische Bedrohung war gleichsam in die DDR bzw. in die Sowjetunion ausgelagert. Erstaunlicher war das Ausbleiben einer Renaissance rechtsradikaler Strömungen, wenn man bedenkt, welch breite Zustimmung das NS-Regime bis zum bitteren Ende besessen hatte. Die Integration der kleinen und großen Nazis in das neue System hat zweifellos zur Festigung der Bundesrepublik beigetragen und ist eine beachtliche Leistung – eine Leistung freilich, für die ein hoher moralischer Preis gezahlt wurde. Die personellen Kontinuitäten in der Beamtenschaft, der Justiz, bei Ärzten, Journalisten und in anderen Berufsgruppen gehören im Rückblick ebenso eindeutig zu den Schattenseiten jener Jahre wie die Reste autoritärer und obrigkeitsstaatlicher Traditionen, die das „Dritte Reich“ überlebt hatten und das Klima der fünfziger Jahre noch stark prägten. Mit Blick auf die Mentalitäts-, Sozial- und Kulturgeschichte spricht vieles dafür, dass die Wasserscheide zwischen der Vergangenheit und unserer Gegenwart mitten durch die Adenauer-Ära verläuft. Man hat die fünfziger Jahre als „Periode aufregender Modernisierung“ (Hans-Peter Schwarz) bzw. „Modernisierung unter konservativen Auspizien“ (Christoph Kleßmann) beschrieben. Im letzten Drittel des Jahrzehnts kumulieren eine Reihe von Entwicklungen, die auf den Beginn eines tief greifenden Umbruchs hinweisen. Hierzu gehören deutliche Verbesserungen der Lebensverhältnisse westdeutscher Arbeiter ebenso wie der Beginn des Fernsehzeitalters und die Anfänge einer stark von den USA beeinflussten Jugendkultur. Die „Zusammenbruchsgesellschaft“ der unmittelbaren Nachkriegszeit verwandelte sich allmählich in die stärker pluralistische und freizeitorientierte Konsumgesellschaft, die wir heute kennen. Die sozialpolitischen Reformen der Regierung haben zu diesem Wandel ebenso beigetragen wie der anhaltende wirtschaftliche Aufschwung, die schrittweise Eingewöhnung in demokratische Verfahren und die Ausprägung einer zivilen Kultur. So betrachtet, wurden in der Adenauer-Ära tatsächlich die Fundamente der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft gelegt.

Auswahlbibliographie Quellensammlungen, Forschungsberichte und Hilfsmittel Bührer, Werner (Hrsg.): Die Adenauer-Ära. Die Bundesrepublik Deutschland 1949–63, München, Zürich 1993. Vielseitige Quellensammlung. Conze, Eckart: Abschied von der Diplomatiegeschichte? Neuere Forschungen zur Rolle der Bundesrepublik in den internationalen Beziehungen 1949–1969, in: Historisches Jahrbuch 116, 1996, S. 137–54. Überblick über die jüngste Literatur. Doering-Manteuffel, Anselm: Deutsche Zeitgeschichte nach 1945. Entwicklung und Problemlagen der historischen Forschung zur Nachkriegszeit, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 41, 1993, S. 1–29. Maßgeblicher Überblicksaufsatz. Hockerts, Hans Günter: Zeitgeschichte in Deutschland, in: Historisches Jahrbuch 113, 1993, S. 98–127. Maßgeblicher Überblicksaufsatz. Niehuss, Merit/Lindner Ulrike (Hrsg.): Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung. Bd. 10: Besatzungszeit, Bundesrepublik und DDR, 1945–1969, Stuttgart 1998. Preisgünstige, vielseitige, mit knappen Einleitungskapiteln versehene Quellensammlung Schildt, Axel: Nachkriegszeit. Möglichkeiten und Probleme einer Periodisierung der westdeutschen Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg und ihrer Einordnung in die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 44, 1993, S. 567–584. These von sozial- und kulturgeschichtlicher Zäsur Ende der fünfziger Jahre. Vogelsang, Thilo, u.a. (Hrsg.): Bibliographie zur Zeitgeschichte 1953–1980, 3 Bde. München 1982–1983 (Fortsetzung fortlaufend in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 32, 1984ff.). Die wichtigste deutschsprachige Bibliographie zur Zeitgeschichte; wird jährlich ergänzt. Volkmann, Hans Erich: Quellen zur Innenpolitik in der Ära Adenauer 1949–1963. Konstituierung und Konsolidierung der Bundesrepublik, Darmstadt 2005. Umfasst dreihundert Dokumente zur Innenpolitik.

Allgemeine und übergreifende Darstellungen Benz, Wolfgang (Hrsg.): Die Bundesrepublik Deutschland. Geschichte in drei Bänden, Frankfurt a.M. 1983. Unentbehrliches Kompendium. Birke, Adolf M.: Nation ohne Haus. Deutschland 1945–1961, 2. Aufl. Berlin 1994. Ost- und westdeutsche Nachkriegsgeschichte bis zum Mauerbau; nach 1949 Schwerpunkt auf der Bundesrepublik. Conze, Eckart (Hrsg.): Die Herausforderung des Globalen in der Ära Adenauer (Rhöndorfer Gespräche, Bd. 24), Bonn 2010. Verortet die Bundesrepublik der Ära Adenauer in politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungsfeldern jenseits der europäisch-nordatlantischen Welt. Doering-Manteuffel, Anselm: Die Bundesrepublik Deutschland in der Ära Adenauer. Außenpolitik und innere Entwicklung, 2. Aufl. Darmstadt 1988. Wichtige, analytisch-systematisch angelegte Überblicksdarstellung; präsentiert den Forschungsstand der achtziger Jahre. Görtemaker, Manfred: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart, 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2004. Beste und aktuellste Geschichte der Bundesrepublik in einem Band.

Görtemaker, Manfred: Kleine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, München 2007. Bietet die Essenz seiner „Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ mit Schwerpunkt auf den großen politischen Wegmarken, wobei die gesellschaftlichen und kulturellen Dimensionen der Nachkriegsgeschichte nicht ausgespart werden. Grosser, Alfred: Geschichte Deutschlands seit 1945. Eine Bilanz, 15. Aufl. München 1991. Immer noch lesenswerte „Deutschlandbilanz“ des deutsch-französischen Gelehrten. Junker, Detlef (Hrsg.): Die USA und Deutschland im Zeitalter des Kalten Krieges. Ein Handbuch. Bd. 1: 1945–1968, 2. Aufl. Stuttgart 2001. Versammelt den neuesten Forschungsstand nicht nur zur Außen- und Sicherheitspolitik, sondern auch zu gesellschafts- und kulturhistorischen Fragen. Kettenacker, Lother: Germany Since 1945, Oxford, New York 1997. Informative, kompakte Einführung. Kielmansegg, Peter Graf von: Das geteilte Land. Deutsche Geschichte 1945–1990, München 2007. Problemorientierte Gesamtschau der doppelten deutschen Nachkriegsgeschichte. Klessmann, Christoph: Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945–1955, 5. Aufl. Bonn 1991; Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1955–1970, Göttingen 1988. Thematisch umfassende Zusammenschau der west- und ostdeutschen Entwicklungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft; Dokumentenanhang. Morsey, Rudolf: Die Bundesrepublik Deutschland. Entstehung und Entwicklung bis 1969, 5. Aufl. München 2007. Enthält neben präzisem Darstellungsteil Diskussion des Forschungsstands und umfassende Literaturliste auf dem Stand von 1987. Nicholls, Anthony J.: The Bonn Republic. West German Democracy 1945–1990, London, New York 1997. Studienbuch, das informativ und gut lesbar in die Geschichte der Bonner Republik einführt. Schwarz, Hans-Peter: Die Ära Adenauer. 1. Bd.: Gründerjahre der Republik 1949–1957, Stuttgart, Wiesbaden 1981; 2. Bd.: Epochenwechsel 1957–1963, Stuttgart, Wiesbaden 1983. Immer noch maßgebliche Geschichte der Adenauer-Ära; Schwerpunkt Politik, behandelt aber auch wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen. Sontheimer, Kurt: Die Adenauer-Ära. Grundlegung der Bundesrepublik, 4. Aufl. München 2005. Pointiert, gut geschrieben, ausgezeichnet für den Einstieg ins Thema geeignet.

Biographien Barclay, David Edward: Schaut auf diese Stadt. Der unbekannte Ernst Reuter, Berlin 2000. Aktuellste und beste Biographie Reuters. Conze, Werner, u.a.: Jakob Kaiser, Stuttgart u.a. 1967–1972. Auf vier Bände verteiltes, mit Sympathie geschriebenes Lebensbild. Hentschel, Volker: Ludwig Erhard. Ein Politikerleben, München 1996. Bislang umfassendste, extrem kritische Biographie des Wirtschaftsministers und Kanzlers.

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Auswahlbibliographie

Köhler, Henning: Adenauer. Eine politische Biographie, Frankfurt a.M. 1994. Kritischer als die Biographie von Schwarz, aber ähnlich kenntnisreich; betont die tagespolitisch-taktischen, weniger die visionär-staatsmännischen Züge Adenauers. Krieger, Wolfgang: Franz Josef Strauß. Der barocke Demokrat aus Bayern, Göttingen 1995. Gut lesbares Lebensbild, das auf hundert Seiten den Werdegang des bayrischen Politikers skizziert. Lommatzsch, Erik: Hans Globke (1898–1973) Beamter im Dritten Reich und Staatssekretär Adenauers. Frankfurt [u.a.] 2009. Bislang fundierteste Biographie von Adenauers engstem und zugleich auch umstrittenstem Mitarbeiter. Merseburger, Peter: Willy Brandt. 1913–1992. Visionär und Realist, München 2006. Aktuellste Biographie Brandts, umfangreicher und quellengesättigter als Schöllgens Abriss. Merseburger, Peter: Kurt Schumacher. Partriot, Volkstribun, Sozialdemokrat, 1. Aufl. München 2010 (in der Bibliographie unter dem Titel „Der schwierige Deutsche“). Bislang beste Biographie Schumachers, aus der Feder eines historisch versierten Publizisten. Mierzejewski, Alfred C.: Ludwig Erhard. Der Wegbereiter der Sozialen Marktwirtschaft, München 2006. Mit Sympathie geschriebene Biographie, die ihren Schwerpunkt auf Erhards wirtschaftspolitische Ideenwelt legt. Möller, Horst: Theodor Heuss. Staatsmann und Schriftsteller, Bonn 1990. Keine wissenschaftliche Biographie, sondern ein gedankenreicher Essay. Ramscheid, Birgit: Herbert Blankenhorn (1904–1991) Adenauers außenpolitischer Berater, Düsseldorf 2006. Auf breiter Materialbasis beruhende Studie über Adenauers wichtigsten außenpolitischen Berater der späten 1940er und frühen 1950er Jahre. Schöllgen, Gregor: Willy Brandt. Die Biographie, Aufl. Berlin 2003. Knapp, pointiert, mit Kenntnis des Brandt-Nachlasses, aber ohne Anmerkungen geschrieben. Schwarz, Hans-Peter: Adenauer. 1. Bd.: Der Aufstieg 1876–1952; 2. Bd. : Der Staatsmann 1952–1967, Stuttgart 1986–1991. Maßgebliche Adenauer-Biographie des besten Kenners der Aktenlage; wem Schwarz’ Adenauerbild zu positiv ist, der lese die Biographie von Köhler. Schwarz, Hans-Peter: Anmerkungen zu Adenauer, München 2007. Essayistisch gehaltenes, ebenso scharfsinniges wie pointiertes Resümee der Forschungen des maßgeblichen Adenauer-Biographen. Wengst, Udo: Thomas Dehler 1897–1967. Eine politische Biographie, München 1997. Porträtiert den wortgewaltigen Liberalen als charismatischen, aber gescheiterten Politiker.

Regierungssystem, Parteien, Gewerkschaften und Verbände Berghahn, Volker: Unternehmer und Politik in der Bundesrepublik, Frankfurt a.M. 1985. Ausgezeichneter Überblick. Birke, Adolf M./Wengst, Udo: Die Bundesrepublik Deutschland. Verfassung, Parlament und Parteien 1945–1998, 2. Aufl. München 2010. Enthält neben knappem Darstellungsteil und umfangreicher Literaturliste einen Überblick über Grundprobleme und Tendenzen der Forschung. Bösch, Frank: Die Adenauer-CDU. Gründung, Aufstieg und Krise einer Erfolgspartei 1945–1969, Stuttgart 2001. Greift neben traditionellen parteigeschichtlichen auch eher kulturhistorische Fragen auf.

Bösch, Frank: Macht und Machtverlust. Die Geschichte der CDU, Stuttgart 2002. Übersichtliche und facettenreiche, bis in die Gegenwart der Merkel-CDU hineinreichende Gesamtdarstellung. Gutscher, Jörg M.: Die Entwicklung der FDP von ihren Anfängen bis 1961, Neuaufl. Königstein/Ts. 1984. Immer noch wichtig. Hesse, Joachim-Jens/Ellwein, Thomas: Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, 10. Aufl. Baden-Baden 2010. Zweibändiges Standardwerk in neubearbeiteter Auflage; enthält nebenhandbuchartiger Gesamtdarstellung auch Band mit Materialien. Kleinmann, Hans-Otto: Geschichte der CDU 1945–1982, Stuttgart 1993. Mit Sympathie geschriebene, informative Parteigeschichte. Klotzbach, Kurt: Der Weg zur Staatspartei. Programmatik, praktische Politik und Organisation der deutschen Sozialdemokratie 1945 bis 1965, Berlin, Bonn 1982. Nicht immer leicht zu lesen, aber die maßgebliche Studie zur Geschichte der SPD in der Adenauer-Ära. Koerfer, Daniel: Kampf ums Kanzleramt. Erhard und Adenauer, Stuttgart 1987. Spannend zu lesende Darstellung des konfliktreichen Zusammenwirkens von Adenauer und Erhard. Kruke, Anja: Demoskopie in der Bundesrepublik Deutschland. Meinungsforschung, Parteien und Medien 1949–1990. Düsseldorf 2007. Quellenreiche Pionierstudie zu einem Thema, das auch für die Zeitgeschichtsforschung immer wichtiger wird. Lösche, Peter/Walter, Franz: Die SPD. Klassenpartei – Volkspartei – Quotenpartei, Darmstadt 1992. Pointiert, thesen- und ideenreich. Mayer, Tilman: Medienmacht und Öffentlichkeit in der Ära Adenauer (Rhöndorfer Gespräche, Bd. 23), Bonn 2009. Vereinigt sieben Vorträge über die Beziehung von Politik, Politikberatung, Medien und Öffentlichkeit in der Ära Adenauer. Mergel, Thomas: Propaganda nach Hitler. Eine Kulturgeschichte des Wahlkampfs in der Bundesrepublik 1949–1990, Göttingen 2010. Innovative Analyse westdeutscher Wahlkämpfe aus der Perspektive einer Kulturgeschichte der Politik. Mintzel, Alf: Geschichte der CSU. Ein Überblick, Opladen 1977. Immer noch nicht übertroffen. Niclauß, Karlheinz: Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. Paderborn/München/Wien 2002. Kompakte, informative Einführung. Schönhoven, Klaus: Die deutschen Gewerkschaften, Frankfurt a.M. 1987. Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung seit dem Vormärz. Sontheimer, Kurt/Bleek, Wilhelm/Gawrich, Andrea: Grundzüge des politischen Systems Deutschlands, 12., völlig überarb. Aufl. München/Zürich 2007. Überarbeitete und aktualisierte Neuausgabe von Sontheimers Klassiker. Stöss, Richard (Hrsg.): Parteien-Handbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland, 2 Bde., Opladen 1984. Verlässliches Handbuch.

Deutschland-, Außen- und Verteidigungspolitik Altrichter, Helmut (Hrsg.): Adenauers Moskaubesuch 1955. Eine Reise im internationalen Kontext. (Rhöndorfer Gespräche, Bd. 22.) Bonn 2007. Tagungsband auf dem neuesten Forschungsstand; ordnet Adenauers Moskaubesuch in den Kontext der internationalen Beziehungen Mitte der 1950er Jahre ein. Baring, Arnulf: Außenpolitik in Adenauers Kanzlerdemokratie. Bonns Beitrag zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, München, Wien

Auswahlbibliographie 1969. Die klassische Darstellung über Adenauer und die EVG. Buchheim, Hans: Deutschlandpolitik 1949–72. Der politisch-diplomatische Prozess, Stuttgart 1984. Guter Überblick. Gaddis, John Lewis: We Now Know. Rethinking of Cold War History, Oxford 1997. Pointierte Bilanz der Geschichtsschreibung des Kalten Krieges. Geiger, Tim: Atlantiker gegen Gaullisten. Außenpolitischer Konflikt und innerparteilicher Machtkampf in der CDU/CSU 1958–1969, München 2008. Quellenreiche Untersuchung einer für die Geschichte der Union zentralen Kontroverse, die Partei- und Außenpolitik gekonnt aufeinander bezieht. Hacke, Christian: Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Weltmacht wider Willen?, 3. Aufl. Berlin 1997. Verlässlicher, informativer Überblick. Haftendorn, Helga: Deutsche Außenpolitik seit dem 2. Weltkrieg. Zwischen Selbstbeschränkung und Selbstbehauptung, München 2001. Aktuellste Überblicksdarstellung, die auch die Außenpolitik der DDR einschließt. Hanrieder, Wolfram F.: Deutschland, Europa, Amerika. Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland 1949–1994, 2. Aufl. Paderborn 1995. Umfassende Gesamtdarstellung. Herbst, Ludolf: Option für den Westen. Vom Marshallplan bis zum deutsch-französischen Vertrag, München 1989. Ausgezeichneter Überblick über die wichtigsten Stationen der Westintegration. Kipp, Yvonne: Eden, Adenauer und die deutsche Frage. Britische Deutschlandpolitik im internationalen Spannungsfeld 1951–1957, Paderborn 2002. Quellengesättigte Analyse der Intentionen und Interessen britischer Deutschlandpolitik der 1950er Jahre; fragt nach Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen London und Bonn hinsichtlich der Westintegration der Bundesrepublik. Loth, Wilfried/Picht, Robert (Hrsg.): De Gaulle, Deutschland und Europa, Opladen 1991. Sammelband, der einen guten Überblick über de Gaulles Deutschland- und Europapolitik gibt. Nolte, Ernst: Deutschland und der Kalte Krieg, München, Zürich 1974. Immer noch grundlegend. Schöllgen, Gregor: Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 3. Aufl. München 2004. Pointierter, informativer Überblick. Smyser, William Richard: From Yalta to Berlin. The Cold War Struggle Over Germany, Basingstoke 1999. Präzise, gut zu lesende Überblicksdarstellung. Steininger, Rolf: Berlinkrise und Mauerbau 1958 bis 1963. Mit einem Kapitel zum Mauerfall 1989, 4. Aufl. München 2009. Aktuellste und umfassendste Studie zur zweiten Berlinkrise. Stickler, Matthias: „Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch“. Organisation, Selbstverständnis und heimatpolitische Zielsetzungen der deutschen Vertriebenenverbände, 1949–1972, Düsseldorf 2004. Materialreiche, differenzierte Analyse der Organisations-, Ideologie- und Programmgeschichte der deutschen Vertriebenenverbände. Thoss, Bruno: NATO-Strategie und nationale Verteidigungsplanung. Planung und Aufbau der Bundeswehr unter den Bedingungen einer massiven atomaren Vergeltungsstrategie 1952 bis 1960. München 2006. Ordnet den Aufbau der Bundeswehr kenntnisreich in die Entwicklung der Militärstrategie des nordatlantischen Verteidigungsbündnisses ein. Zarusky, Jürgen (Hrsg.): Die Stalin-Note vom 10. März 1952. Neue Quellen und Analysen, München 2002. Versammelt die neuesten Forschungsmeinungen zu dem immer noch kontrovers diskutierten Thema.

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Ziebura, Gilbert: Die deutsch-französischen Beziehungen seit 1945. Mythen und Realitäten, Stuttgart 1997. Ausgezeichneter Überblick.

Innen-, Wirtschafts- und Sozialpolitik Abelshauser, Werner: Die langen Fünfziger Jahre. Wirtschaft und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland 1949–1966, Düsseldorf 1987. Ausgezeichnete Einführung; enthält Dokumentenanhang und Überblick über zentrale Forschungsfragen. Abelshauser, Werner: Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland (1945–1980), 7. Aufl. Frankfurt a.M. 1993. Standardwerk zur westdeutschen Wirtschaftsgeschichte. Buchheim, Christoph: Die Wiedereingliederung Westdeutschlands in die Weltwirtschaft 1945–1958, München 1990. Grundlegend. Conze, Werner und Rainer M. Lepsius (Hrsg.): Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1985. Wegweisender Sammelband. Frei, Norbert: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, 2. Aufl. München 1999. Standardwerk zum politischen Umgang mit der NS-Vergangenheit. Frei, Norbert (Hrsg.): Karrieren im Zwielicht. Hitlers Eliten nach 1945, Frankfurt a.M., New York 2001. Sechs Aufsätze über personelle Kontinuitäten zwischen „Drittem Reich“ und Bundesrepublik. Hockerts, Hans Günter: Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland. Alliierte und deutsche Sozialversicherungspolitik 1945–1957, Stuttgart 1980. Immer noch unübertroffen. Hoffmann, Dierk u.a. (Hrsg.): Vertriebene in Deutschland. Interdisziplinäre Ergebnisse und Forschungsperspektiven, München 2000. Maßgeblicher Sammelband. Löffler, Bernhard: Soziale Marktwirtschaft und administrative Praxis. Das Bundeswirtschaftsministerium unter Ludwig Erhard. Wiesbaden 2002. Analytisch überzeugende und gut lesbare Studie über die Umsetzung des Konzepts der sozialen Marktwirtschaft in die wirtschaftspolitische Praxis – weit mehr als eine Behördengeschichte. Nicholls, Anthony J.: Freedom with Responsibility. The Social Market Economy in Germany 1918–1963, Oxford 1994. Umfassende Darstellung der sozialen Marktwirtschaft durch einen ausgewiesenen Kenner aus Großbritannien. Schulz, Günther: Wiederaufbau in Deutschland. Die Wohnungsbaupolitik in den Westzonen und der Bundesrepublik Deutschland, Düsseldorf 1994. Wichtige Studie zur Wohnungsbaupolitik. Seifert, Jürgen (Hrsg.): Die Spiegel-Affäre, 2 Bde., Freiburg i.Br. 1966. Verbindet Darstellung und Dokumentation.

Gesellschaft, Mentalitäten, Kultur Allemann, Fritz Rene: Bonn ist nicht Weimar, Köln 1956. Immer noch anregend. Dahrendorf, Ralf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1968. Klassische Interpretation der Entwicklung von Demokratie und Gesellschaft in Deutschland aus Sicht eines liberalen Soziologen. Doering-Manteuffel, Anselm: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999. Präsentiert knapp und gedanklich neueste Forschungsergebnisse zur Verwestlichung der politischen Kultur in der Bundesrepublik.

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Auswahlbibliographie

Glaser, Hermann: Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bd. 2: Zwischen Grundgesetz und Großer Koalition 1949–1966, München, Wien 1986. Materialreicher Überblick. Hodenberg, Christina von: Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit, 1945–1973, Göttingen 2006. Überblicksdarstellung zur westdeutschen Medienöffentlichkeit von der Nachkriegszeit bis in die 1970er Jahre, wichtig auch als Beitrag zur Diskussion um politisch-kulturelle Wandlungsprozesse nach 1945. Niehuss, Merith: Familie, Frau und Gesellschaft. Studien zur Strukturgeschichte der Familie in Westdeutschland 1945–1960, Göttingen 2001. Strukturgeschichtlich-demographische Analyse der Familie in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Plichta, Vanessa: Reich – Europa – Abendland. Zur Pluralität deutscher Europaideen im 20. Jahrhundert, in: Vorgänge 40, 2001 (2), S. 60–9. Skizziert Geschichte der Abendlandsideologie von der Zwischenkriegszeit bis in die zweite Hälfte der fünfziger Jahre. Poiger, Uta G.: Jazz, Rock and Rebels. Cold War Politics and American Culture in a Divided Germany, Berkeley u.a. 2000. Anregende Studie über Einfluss amerikanischer Populärkultur.

Richter, Hans Werner (Hrsg.): Bestandsaufnahme, München u.a. 1962. Vermittelt Überblick über Stimmungen und Ansichten linksliberaler Intellektueller am Ende der Adenauer-Ära. Schelsky, Helmut: Auf der Suche nach der Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf 1965. Zeitgenössische Deutung der gesellschaftlichen Entwicklung durch einen einflussreichen konservativen Soziologen. Schildt, Axel: Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und „Zeitgeist“ in der Bundesrepublik der 50er Jahre, Hamburg 1995. Maßgebliche Studie zur Kulturgeschichte der 50er Jahre. Schildt, Axel: Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, München 1999. Wichtig für Frage des ideologie- und mentalitätsgeschichtlichen Wandels in den 50er Jahren. Schildt, Axel/Siegfried, Detlef: Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik von 1945 bis zur Gegenwart, Bonn 2009. Aktuellste, umfassendste Gesamtdarstellung einer Kulturgeschichte der Bundesrepublik aus zeitgeschichtlicher Perspektive, gut lesbar und facettenreich. Sywottek, Arnold und Axel Schildt (Hrsg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993. Maßgeblicher Sammelband; betont Zäsur am Ende der fünfziger Jahre.

Personen- und Sachregister Abelshauser, Werner 75 Abendlandsideologie 107f., 115 Abs, Hermann Josef 81f. Acheson, Dean 137 Adenauer, Konrad 9, 18, 23–33, 36–38, 40, 42f., 46–57, 59–61, 63–72, 73–75, 79, 82f., 85–88, 91f., 98, 100–102, 108, 110–115, 116f., 119f., 122, 124f., 129–133, 135–138, 140, 142, 144, 146, 148, 151–160, 161f. Ahlener Programm der CDU 33 Ahlers, Conrad 156 Alleman, Fritz René 18, 101 Altmann, Rüdiger 158 Amerikanische Besatzungszone 11, 18, 35, 88 Amerikanisierung 103 Andersch, Alfred 44, 105 Arbeitslosigkeit 19, 36, 76, 97, 141, Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten Deutschlands (ARD) 94, 153 Arendt, Hannah 105 Armstrong, Louis 103 Arnold, Karl 25, 27f., 70, 146 Atlantiker 136–138 Atomenergie 119 Atomteststoppabkommen 132f. Atomwaffen 62f., 130–132, 134f., 138 Attlee, Clement 9 Augstein, Rudolf 140, 156 Auswärtiges Amt 29, 70f., 88, 137 Baden-Württemberg 22, 37, 59, 146 Bahr, Egon 128 Ball, George 137 Bank deutscher Länder 21, 36, 77 Baring, Arnulf 24 Batista y Zaldivar, Fulgencio 128 Baudissin, Wolf Graf 63 Bayern 23, 25f., 32, 84, 93, 96, 156 Bayernpartei (BP) 25, 80, 87 Benelux-Staaten 16, 49, 51, 55, 57, 59, 81, 118, 136, Benn, Gottfried 103 Berija, Lawrentij 68 Berlin 9, 13, 15–18, 23, 29, 35, 38f., 47, 49, 55, 59, 62f., 66–70, 87, 91f., 94, 105, 109, 112, 116, 122–128, 131–133, 135, 150, 154, 158–160 Berufsbeamtentum 90 Besatzungsstatut 9, 16, 19, 30f., 42, 56, 58–60, 122 Bevin, Ernest 49 Bidault, Georges 54 Bild-Zeitung 94, 99 Bindungsklausel 61f. Bizone 9f., 13, 35,

Blank, Theodor 62, 112, 156 Blankenhorn, Herbert 29, 68, 70 Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) 84–86, 88f., 91, 121, 144f. Blücher, Franz 29, 51, 54, 145–147 Blum, Léon 47 Böckler, Hans 79f. Böhm, Franz 32, 83 Böll, Heinrich 102, 114 Bölling, Klaus 158 Bonn 9, 17–19, 21, 23f., 30, 38, 40, 42, 51, 54, 58–65, 69–72, 78, 86, 95, 103, 105, 117, 119, 122f., 125, 127, 131–133, 136f., 145, 154, 156, 159, 162 Bormann, Martin 88 Bösch, Frank 26 Brandt, Willy 100, 109, 127f., 131, 150f., 154, 156 Brauer, Max 151 Brecht, Bertolt 94, 103 Brentano, Heinrich von 29f., 48, 70, 136, 155, 158 Britische Besatzungszone 11, 13, 25, 35, 88 British Broadcasting Corporation (BBC) 153 Brüsseler Vertrag 55f., 61 Bulganin, Nikolai 70 Bulgarien 13 Bundesbank 20, 143 Bundeskanzler (Amt, ansonsten siehe Adenauer) 22, 24, 26f. Bundeskanzleramt 29 Bundespräsident (Amt, ansonsten siehe Heuss, Lübke) 22, 152 Bundesrat 9, 21f., 59, 62, 70, 101 Bundestag 9, 20–24, 26–31, 38, 43, 50, 59, 62f., 65, 70, 74, 79f., 83–88, 90, 92, 106, 111f., 117, 131, 137f., 140–147, 149–150, 152–154, 156, 158 Bundestagswahl (1949) 36, (1953) 68, 73, 92, (1957) 142–144, 146f. (1961) 153f. Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) 75 Bundesverfassungsgericht 22, 94, 140, 147 Bundesversammlung 22, 28 Bundeswehr 62f., 94, 112–114, 130f., 140, 144, 156, 159 Burgfriedens-Plan 129 Byrnes, James F. 9, 12f., 15

Carstens, Karl 129 Castro, eig. Fidel Castro Ruz 128 Chamberlain, Neville 30 Christlich-Demokratische Union (CDU) 18, 21, 25–29, 33, 36, 38–40, 43f., 59, 79, 84, 86f., 89, 93, 100, 110f., 117, 127, 131, 140, 142, 144–147, 149–155, 157f., 161 Christlich-Soziale Union (CSU) 21–23, 25–28, 83, 92, 131, 140, 144f., 153, 155–158

168

Personen- und Sachregister

Chruschtschow, Nikita 69f., 116, 123–128, 130f., 136 Churchill, Winston 9–11, 47, 66, 68 Clay, Lucius D. 12, 15f., 30, 34, 88, 127

Dahrendorf, Ralph 96 Dean, James 102 Dehler, Thomas 29, 51, 65, 145–147, 155, 161 Deist, Heinrich 148, 151 Demontagen 19, 45, 48–50 Dertinger, Georg 44 Deutsche Angestelltengewerkschaft (DAG) 79 Deutsche Demokratische Republik (DDR) 17, 19, 56, 63–72, 76, 84, 86f., 116, 121–129, 133, 135, 156, 161f. Deutsche Partei (DP) 23, 25, 27, 34, 80, 83–85, 87, 89, 91, 142–146 Deutsche Reichspartei (DRP) 25 Deutscher Beamtenbund (DBB) 79 Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB) 79f., 111f. Deutschlandplan der SPD 130, 149 Deutschlandpolitik 10, 12, 42–72, 116–139, 145, 147, 149, 156, 159f. Deutschlandvertrag 48–51, 53–54, 99 Die Welt (Tageszeitung) 158 Dirks, Walter 18, 44 Dolchstoßlegende 20 Doering-Manteuffel, Anselm 109 Döring, Wolfgang 146 Dulles, John F. 66, 68, 108, 124, 131 Düsseldorfer Leitsätze 33 Eckardt, Felix von 29 Eden, Anthony 61 Eden-Plan 68 Edinger, Lewis 37 Ehard, Hans 26, 28, 59 Ehlers, Hermann 111 Eich, Günter 103 Eichler, Willi 151 Eichmann, Adolf 105 Eisenhower, Dwight D. 58, 60f., 66, 87, 124, 131 Engels, Friedrich 148 Entnazifizierung 73, 88–90 Entspannungspolitik 129–131 Enzensberger, Hans Magnus 156 Eppler, Erhard 112 Erhard, Ludwig 9, 31–37, 40, 49, 74–76, 78f., 87, 93, 109, 112, 119, 136, 138, 140, 142f., 151f., 155, 157–159 Erler, Fritz 144, 147 Etzel, Franz 118, 152, 158 Eucken, Walter 32 Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) 120 Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) 42, 54–56, 118 Europäische Politische Union (EPU) 135f. Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) 42, 58–64, 68, 117–122 Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 118–122, 135–137 Europäische Zahlungsunion (EZU) 74f. Europarat 50–52

European Free Trade Association (EFTA) 121

Faure, Edgar 118 Fernsehen 99f., 105, 153 Föderalismus 21–23 Fouchet, Christian 136 Franco y Bahamonde, Francisco 156 François-Poncet, André 30 Frankfurt am Main 16, 20, 23, 25–29, 32f., 36, 94, 104, 111, 156 Frankfurter Allgemeine Zeitung 65, 157 Frankfurter Hefte 18, 44, 99 Frankfurter Wirtschaftsrat 25–27, 32, 38, 156 Frankreich 10f., 13, 15–17, 45–47, 50–60, 62f., 78, 81f., 84f., 98, 109, 116–121, 133–139, 151f., 157–159, 161 Französische Besatzungszone 11, 13, 50, 85, 88 Frei, Norbert 89, 91, 99 Freie Demokratische Partei (FDP) 25–29, 32–34, 38, 59, 79f., 83. 87, 89, 91f., 117, 121, 127f., 140, 143–147, 152, 154f., 157f. Freie Volkspartei (FVP) 146 Freier Deutscher Gewerkschaftsbund (FDGB) 78 Friedensburg, Ferdinand 44 Fußballweltmeisterschaft (1954) 94 Gaitskell, Hugh 111–112 Gasperi, Alcide de 47 Gaulle, Charles de 10, 53, 60, 116, 124, 133–138, 152, 161 Gaullisten 136, 138 General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) 73, 81 Generalvertrag, siehe Deutschlandvertrag Genfer Gipfeltreffen 69f., 129, 138 Gerstenmaier, Eugen 140, 158 Gestapo 90 Gewerkschaften 26, 33f., 36, 75, 78–80, 93, 112, 157 Globke, Hans 30, 125 Globke-Plan 125 Godesberger Programm der SPD 140, 147–149, 159 Gollwitzer, Helmut 111 Göring, Hermann 88 Gotthelf, Hertha 147 Grandval, Gilbert 50 Grant, Gary 103 Grass, Günter 103f., 156 Grewe, Wilhelm 70f., 131 Griechenland 13, 56, 81 Gromyko, Andrej 64, 124 Großbritannien 10–16, 33, 40, 45, 51, 53–55, 57, 61–63, 66, 74, 76–78, 81f., 85, 98, 109f., 118f., 121f., 131, 133–136, 138, 148, 153 Grotewohl, Otto 38f., 63 Grundgesetz 9, 17, 19, 21–23, 25f., 28, 31, 38, 50, 59, 90, 141, 151f.

Haffner, Sebastian 24f., 101, 157, 159, 161 Haley, Bill 103 Hallstein, Walter 29, 54, 70–72, 135 Hallstein-Doktrin 70–72, 129 Hamburg 92, 94, 103, 112, 140, 151, 155f.

Personen- und Sachregister Handelsbilanz 74 Hassel, Kai-Uwe von 136, 152 Haubach, Theodor 37 Heine, Fritz 147 Heinemann, Gustav 28, 51f., 57, 64f., 92, 110–112, 147 Hepburn, Audrey 102 Hermes, Andreas 39, 43 Herriot, Edouard 47 Herter, Christian 116, 124, 131 Hessen 92, 111 Heuss, Theodor 18, 26, 28, 31f., 38, 104, 145, 151f. Hitler, Adolf 10f., 20, 24, 29f., 37–39, 42–43, 45, 48, 68, 91, 93, 96, 104f., 134, 151, 154 Hobsbawm, Eric 76 Hochhuth, Rolf 105 Hockerts, Hans Günter 141 Hofmann, Johannes 117 Hofmannsthal, Hugo von 103 Holzapfel, Friedrich 25–27 Honecker, Erich 126 Hörzu (Funk- und-Fernseh-Illustrierte) 99

Inflation 12, 20, 33, 143f. Israel 73, 82f., 92, 105, 119 Italien 13, 15, 47, 54, 56, 59, 81, 87, 105f., 110, 118, 136 Jaksch, Wenzel 151 Japan 14, 77 Jaspers, Karl 108f. Johnson, Lyndon B. 127 Johnson, Uwe 156 Jüdischer Weltkongreß 82 Kafka, Franz 103 Kaiser, Jakob 43 Kalter Krieg 10–24, 40f., 42, 48, 55f., 65, 71, 98, 104, 106–110, 113, 115, 116, 128f., 134, 138 „Kampf dem Atomtod“ 112 Kantorowicz, Alfred 18 Karl der Große 108 Kartelle 32, 46, 75 Kather, Linus 86 Katholizismus 23f., 26f., 30, 44f., 47, 95, 98, 107f., 110f., 148f., 153 Kelly, Grace 102f. Kennan, George F. 12, 16, 129f. Kennedy, John F. 116, 125–128, 131–133, 137f., 150 Kiesinger, Kurt Georg 70 Kirkpatrick, Ivone 30 Kissinger, Henry 133 Kleßmann, Christoph 113, 162 Klotzbach, Kurt 149 Knoeringen, Waldemar von 147, 151 Koenig, Pierre 16, 30, 35 Koeppen, Wolfgang 103

Kogon, Eugen 44, 109 Kohl, Helmut 156 Kohle- und Stahlindustrie 36, 54, 85, 94, 117 Köhler, Erich 25–27 Köln 18, 24, 31, 53, 105, 132, 142, 157 Kominform 14, 109 Komintern 14 Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) 11f., 14, 23, 34, 38f., 46, 67, 92, 94, 112, 116, 147, 150 Kongress für kulturelle Freiheit 94, 109f. Konsensliberalismus 108–110, 115, 151 Konstruktives Misstrauensvotum 22, 146 Korea-Boom 73, 77 Korea-Krieg 42, 55–57, 62, 71, 74, 77, 81, 93, 97, 110 Korea-Krise 73–76, 79f. Körfer, Daniel 151 Korporatismus 75 Kraus, Peter 103 Kriegsgefangene 67, 69–72, 94f., 141 Kriegsverbrecher 20, 70, 88, 91, 105 Krone, Heinrich 29f., 143, 152, 158 Krüger, Horst 113 Kuba-Krise 127f., 131

Landwirtschaft 19, 28, 34, 67, 86, 96, 118, 121, 123, 152 Landwirtschaftspolitik der EWG 120–122 Lasky, Melvin J. 108f. Lastenausgleich 73, 85f., 93, 132, 141 Leber, Julius 37 Lemmer, Ernst 43f., 59 Lenin, eig. Wladimir Iljitsch Uljanow 11, 67 Lenz, Otto 30 Lenz, Siegfried 103 Lloyd, Selwyn 66 Löbe, Paul 44 Londoner Schuldenabkommen 73, 81f. Löwenthal, Richard 109, 129 Lübke, Heinrich 140, 152 Luftbrücke 16 McCloy, John J. 30, 56–58, 74, 126 Macmillan, Harold 124 McNamara, Robert 132 Maier, Reinhold 48, 127 Malenkow, Georgij M. 66 Mann, Thomas 94, 103 Marshall, George C. 14 Marshallplan 9, 14f., 29, 33, 35, 37, 45f., 49, 73f., 76, 80f. Marx, Karl 148 Marxismus 44, 47, 87, 103, 148, 159 Massenmedien 98f. Mauerbau 122–129, 133, 154f., 158 Mende, Erich 128, 147, 155, 157 Mendès-France, Pierre 60f., 147, 155 Messina-Konferenz 118

169

170

Personen- und Sachregister Middelhauve, Friedrich 92 Mierendorff, Carlo 37 Mitbestimmung 73, 75, 78–80, 141, 149 Mittelstand 96–98, 147 Möller, Alex 151 Mollet, Guy 118 Molotow, Wjatscheslaw 68, 70 Monnet, Jean 52–54, 57, 118, 120 Monroe, Marilyn 102 Mooser, Josef 98 Motorisierung 98–100 Muhlen, Norbert 100f. Mühsam, Erich 150 Müller, Josef 26 Müller-Armack, Alfred 33 Musil, Robert 103 Mussolini, Benito 106

Nasser, Gamal Abd-El 119 Nationalsozialismus 10, 20, 45, 88, 91, 94, 96, 101, 104, 107f., 110, 115, 145, 151 Naumann, Friedrich 28 Naumann, Werner 92 Neoliberalismus 32f., 109 Niedersachsen 22, 28, 84, 92f., 127 Niemöller, Martin 110f. Niethammer, Lutz 24 Nixon, Richard 126 Nolte, Ernst 114 Nordrhein-Westfalen 22, 25, 28, 84f., 92, 146 North Atlantic Treaty Organization (NATO) 14, 29, 42, 55–59, 61–63, 65, 68, 70, 111, 113, 125, 130–132, 134f., 138, 149, 159 „Novemberverbrecher“ 20 Nürnberger Gesetze 30 Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesse 20, 88

Oberländer, Theodor 106, 145 Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV, Gewerkschaft) 112 „Ohne mich“-Bewegung 110–112 Ollenhauer, Erich 46, 87, 111, 122, 144, 147f., 150 Österreich 121f. Österreich-Lösung 122, 129 Ostpolitik 128f.

Pariser Verträge 61f., 69, 111, 117, 119, 131 Parlamentarischer Rat 17, 21–25, 28f., 38, 43, 47, 141, 145 Peukert, Detlev 96, 103 Pirker, Theo 38 Pleven, René 58–60 Pleven-Plan 57–60 Polen 11, 13, 18–20, 51, 84, 104, 130 Potsdamer Konferenz, Potsdamer Abkommen 10–13, 15, 78, 127 Prack, Rudolf 102 Präsidentschaftskrise 151–153

Presley, Elvis 102 Preußen 19, 22, 47, 76 Protestantismus 46, 95, 108, 110f., 145, 152

Quinn, Freddy 103 Radford, Arthur W. 130, 132 Rapacki, Adam 130 Rau, Johannes 112 Remer, Ernst-Otto 91 Rentenreform 142f., 149, 161 Reparationen 19, 51, 82f. Reuter, Ernst 44, 67, 109 Richter, Hans Werner 44, 114 Robertson, Brian 16, 30 Roll Back 66f., 129 Römische Verträge 120–122 Roosevelt, Franklin D. 10, 14 Röpke, Wilhelm 32 Rote Armee 66, 104 Ruhrbehörde 48f., 54 Ruhrgebiet 11, 15, 36, 49, 53f., 79 Rumänien 13, 129 Rundfunk 99 Rusk, Dean 133 Saargebiet 11, 50f., 117f., 133 Schäffer, Fritz 81–83, 143 Schellenberg, Harold K. 151 Schelsky, Helmut 97f. Schildt, Axel 99, 108 Schlange-Schöningen, Hans 34 Schleswig-Holstein 28, 84f. Schmid, Carlo 21, 25, 38, 70, 109, 144, 147, 152 Schmitt, Carl 22 Schoenbaum, David 96 Schöllgen, Gregor 149 Schreiber, Walter 39, 43 Schreiber, Wilfrid 142f. Schröder, Gerhard 129, 136, 138, 155 Schulze, Hagen 22 Schumacher, Kurt 9, 18, 24, 37–40, 45–48, 50f., 54, 57, 59, 64, 67, 148, 150 Schuman, Robert 52, 54, 57 Schuman-Plan 52–55, 57f., 79 Schwarz, Hans-Peter 29, 162 Schwarzmarkt 35, 90 Seebohm, Hans Christoph 84, 106, 145 Sethe, Paul 65 Shdanow, Andrej 14 Smirnow, Andrej A. 122 Sontheimer, Kurt 115, 159 Sowjetische Besatzungszone (SBZ) 15f., 23, 39f., 43–45, 47, 84 Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) 11, 43f.

Personen- und Sachregister Sowjetunion (UdSSR) 10–17, 19, 39, 42f., 45, 48, 51, 55, 62–72, 76, 78, 82, 102, 106, 122–124, 126–129, 131–135, 150, 162 Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) 12, 18, 23, 25, 27, 34, 36–40, 45f., 56, 59, 62, 67f., 70, 79f., 86f., 91, 109–112, 117, 121, 127f., 130, 138, 141–144, 146–152, 154f., 159, 161 Soziale Marktwirtschaft 33 Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) 12, 19, 63, 65–67, 70f., 106, 112, 121, 123f., 126f., 133, 162 Sozialistische Reichspartei (SRP) 91f. Sozialpolitik 86, 140–144 Spaak, Paul-Henri 47, 118 Sparquote 97 Spiegel (Nachrichtenmagazin) 155–157 Springer, Axel 99 Stammberger, Wolfgang 157 Stalin, eig. Iossif Wissarionowitsch Dschugaschwili 10f., 13f., 17, 45, 63–67, 116, 123f. Stalin-Note 63–65 Stegerwald, Adam 26 Steininger, Rolf 65 Stern (Illustrierte) 159 Sternberger, Dolf 89, 92 Stinnes, Hugo 53 Storch, Anton 79, 142 Strauß, Franz Josef 62, 83, 131, 138, 154–158 Stresemann, Gustav 53, 64 Suhr, Otto 109

Taft, Robert 61 Totalitarismus 106f. Totalitarismustheorie 106f. Trizone 20 Truman, Harry S. 13f., 16, 47, 60f., 66 Truman-Doktrin 13 Tschechoslowakei 13, 18, 84, 130 Türkei 13

Ulbricht, Walter 39, 116

Ungarn 13, 18, 84, 129

Vereinigte Staaten von Amerika (USA) 10, 12–16, 23, 35, 42, 45, 47f., 53f., 56, 60–63, 65–67, 74–78, 80–83, 87, 91, 93, 102f., 106, 108f., 115, 119–121, 125–138, 150f., 154, 159, 161f. Vertrag von Versailles 20 Vertriebene 18, 83–86 Vertriebenenorganisationen 84f. Vocke, Wilhelm 81 Vogel, Hans-Jochen 114 Volkswagen 98

Wahlrecht 146, 157 Währungsreform 15, 20, 32–36, 96f. Walter, Franz 147 Weber, Alfred 109, 111 Wehner, Herbert 130, 147, 149–150, 157 Wehrmacht 62 Weimarer Republik 18–22 Weizmann, Chaim 82 Weiss, Peter 105 Westeuropäische Union (WEU) 61 Weyrauch, Wolfgang 113 Wiederbewaffnung 55–58, 60, 63f., 110–115 Wiedergutmachungsabkommen 72, 82–84 Wiedervereinigung 45–48, 59, 62, 64f., 68–71, 125, 128 Wirtschaftsaufschwung 35f., 73–78, 162 Wirtschaftspolitik 36f., 74f., 120f. Wilhelm II., dt. Kaiser 20 Wohnungsbaupolitik 85 Zahlungsbilanz 36, 74f., 81 Zentrumspartei 23–26, 29f., 43, 87 Ziemann, Sonja 102 Zitelmann, Rainer 96 Zuckmayer, Carl 103 Zweites Deutsches Fernsehen (ZDF) 94, 153

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Studienwissen kompakt Übersichtlich, fundiert, verständlich ● Ideal zur Seminar-, Referats- und Prüfungsvorbereitung ● Kommentiertes Literaturverzeichnis ●

Geschichte kompakt

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Dominik Geppert

Die Ära Adenauer

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Geppert · Die Ära Adenauer

Die Bundesrepublik, ein Kind des Kalten Krieges, wurde in den ersten beiden Jahrzehnten ihres Bestehens vom wirtschaftlichen Wiederaufbau, von der Etablierung der parlamentarischen Demokratie, den Anfängen einer zivilen Kultur und dem Ausgleich mit den Westmächten geprägt. Der renommierte Zeithistoriker Dominik Geppert entwirft ein klares Bild der jungen Republik von 1949 bis 1963: Gründung der Bundesrepublik, Außen- und Deutschlandpolitik, Wirtschafts-, Innen- und Sozialpolitik sowie Gesellschaft und Kultur. Sein grundlegender Überblick liegt endlich in einer vollständig überarbeiteten und aktualisierten Neuausgabe vor.

wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-27365-2

4. Auflage

B 27365-2 StL Geppert Cover PRINT 2022_02_10.indd 1

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